Max Weber 1864–1920: Politik–Theorie–Weggefährten
 9783412506858, 9783412505318

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HISTORISCHE DEMOKRATIEFORSCHUNG Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 10 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Dian Schefold, Peter Steinbach

Detlef Lehnert (Hg.)

MAX WEBER 1864–1920 Politik – Theorie – Weggefährten

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Grafitto von Max Weber. Entstanden um 2000 von einer Schülerin, zu sehen an der Turnhalle der Max-Weber-Schule (Freiburg). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Schule.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50531-8

Inhalt Detlef Lehnert Max Weber – zwischen den politischen Zeiten und Fachdisziplinen . . . 7 1. POLITIK: ZWISCHEN KAISERREICH UND REPUBLIK Dieter Langewiesche Nation bei Max Weber: soziologische Kategorie und politisches Bekenntnis. Zum Verstummen des Soziologen als homo politicus vor seinem Wertgott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Peter Steinbach Sozialdarwinismus: Der politische Kampf ums Dasein. Ein Leitmotiv der Freiburger Antrittsrede Max Webers – interdisziplinär komplexer interpretiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Tim B. Müller Wirtschaftspolitik als Beruf. Die Verwaltung und der politische „Kampfboden“ der Weimarer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Marcel Rudolph Machtessentialismus als prägendes Element des politischen Denkens Max Webers? Zur Weber-Rezeption bei Raymond Aron und Herfried Münkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. THEORIE: ZWISCHEN UND JENSEITS DER FACHDISZIPLINEN Wolfgang Schluchter Die Antinomien des Rationalismus und der Rationalisierung. Max Webers Skizze einer Entwicklungsgeschichte des Okzidents. . . . . 169 Thomas Sokoll Max Webers Protestantismusthese und die Historiker. Protokoll einer Verdrängung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Harald Bluhm / Katharina Bluhm „Bürokratischer Kältetod“ – Max Webers sozialwissenschaftliche Diagnose und sein anti-progressistischer Dekadenzglaube. . . . . . . . . . . 217

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Inhalt

Uwe Prell Max Webers Stadt – zwischen Politik, Ökonomie und Kultur . . . . . . . . 247 3. WEGGEFÄHRTEN: IN WISSENSCHAFT UND ÖFFENTLICHEM LEBEN Gangolf Hübinger Max Weber, Alfred Weber und Ernst Troeltsch. Kultursoziologie und Demokratieprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Monika Wienfort Max Weber und die Frauenemanzipation. Wissenschaft, öffentliche Stellungnahmen und persönliche Beziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Detlef Lehnert Friedrich Naumann und der Progressismus. Zur politisch-ökonomischen ‚Konfession‘ eines publizistischen Zeitgenossen von Max Weber . . . . . 315 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

DETLEF LEHNERT

Max Weber – zwischen den politischen Zeiten und Fachdisziplinen Auf der Titelseite dieses Bandes 10 der Reihe „Historische Demokratieforschung“ Max Weber mit seinen Lebensdaten 1864 bis 1920 zu präsentieren, soll nicht etwa auf die falsche Spur eines wesentlich biographischen Interesses locken.1 Was in Deutschland und Österreich wohl kaum bekannt ist: Es gab noch einen zweiten prominenten deutschsprachigen Träger dieses Namens, nämlich den Schweizer Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Professor für Finanzwissenschaften an der Berner Universität Max Weber; er lebte, reichlich eine Generation später als sein deutscher Namensvetter, von 1897 bis 1974 und vertrat als vormaliges Regierungsmitglied immerhin von 1961 bis 1968 die Schweiz im Europarat.2 Noch aus einem zweiten Grund – neben der eindeutigen Personenzuordnung – dient vornehmlich 1864 als ein Bezugspunkt: Dieser Sammelband ist, ergänzt um einige zusätzliche Beiträge, aus einer Tagung anlässlich des 150. Geburtstags des interdisziplinären Sozialwissenschaftlers Max Weber hervorgegangen.3 Wer damals an Zeitungsständen vorbei ging, könnte nicht schlecht gestaunt haben, den (von der Haar- bis zur Bartspitze 24 cm hoch) nahezu lebensgroß abgebildeten Kopf Webers auf der „Handelsblatt“-Titelseite zu sehen, mit dem Text darunter: „150 Jahre Max Weber – Wirtschaft braucht Moral.“4 Auch wer nicht unerfreulich findet, dass im „Handelsblatt“ die Wirtschaft an moralische Grundlagen erinnert wird, darf in Kenntnis der Schriften Webers bezweifeln, ob gerade dieser als Kronzeuge dafür taugt. Nach dem (insoweit moralindifferenten) Geldanleger-Teil mit sehr vielen Börsenkursen (S. 37–49) folgte dort 1 Dazu Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005; Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße. Denker, Muttersohn, München 2014; Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014. 2 Über dessen Theorien, Politik und Weggefährten: Erich Gruner u.a. (Hg.), Im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Max Weber zum 70. Geburtstag, Bern 1967. Lexikonartikel: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D4712.php (25.8.2016, wie alle Weblinks dieser Einleitung). Der innovative US-amerikanische Maler jüdisch-polnischer Herkunft Max Weber (1881–1961) sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. 3 Veranstaltung am 25. und 26. April 2014 in Räumen der „Stiftung Topographie des Terrors“ in Berlin. 4 Handelsblatt Nr. 27 v. 7.–9. Februar 2014 (daraus Seitenzahlen dieses Absatzes).

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aber das fast gleich lange Sonderthema Weber (S. 50–59). Neben einer aktuellen Rubrik „Gefallene Vorbilder“ (prominente „Steuersünder“ u. dergl.) und einem davon ausgehenden redaktionellen Beitrag wurde kein wirtschaftspublizistisches Denkmal errichtet, wie ein zweiter Redaktionsartikel sogleich in der Überschrift bekundete: „Der Nationalist. Ökonomisch war Weber liberal – politisch eher rechts“ (S. 53). Auch das erste Interview mit dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Franz Müntefering, der als „bekennender Weber-Fan“ angekündigt wird, lässt diesen nicht verschweigen, dass jener „Wissenschaftler“ zwar „Aufklärer, ein Liberaler“, aber „kein Demokrat nach unseren heutigen Maßstäben“ war (S. 55). Den Abschluss bildet ein ausführlicheres Interview mit dem wenige Monate darauf verstorbenen Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, der – nicht allein – in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ wesentlich auch Webers Konzeptualisierungen nutzen wollte5; dort wird freilich nur eingangs kurz auf Webers durchaus offensive Verwendung des Kapitalismusbegriffs und sonst andere historische und aktuelle Themen eingegangen (S. 59 f.). Max Weber „zwischen den Zeiten“ zu verorten, bezieht sich für sein Erwachsenendasein leicht nachvollziehbar auf die von tiefen gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Umbrüchen erfasste Generationsspanne 1890 bis 1920: Weber stand 1890 mit seiner – gemäß Selbstzeugnis im Unterschied zum liberal votierenden Vater – konservativen Stimmabgabe6 ersichtlich noch unter dem Einfluss der auslaufenden Bismarckära, mit gleichzeitiger Bejahung deren als systemerhaltend konzipierter Sozialpolitik. Zuvor hatte Max Weber „zwischen den Fachdisziplinen“ ein zwar primär juristisches, zugleich jedoch nationalökonomisches, historisches und philosophisches Studium in Heidelberg, Göttingen und Berlin absolviert, wo er 1889 mit einer Arbeit zu italienischen mittelalterlichen Handelsgesellschaften rechtsgeschichtlich promovierte.7 Nach einer Habilitation 1892 zur römischen Agrargeschichte8 erfolgte im Jahr darauf seine Ernennung zum a.o. Prof. für Handelsrecht in Berlin und dann schon 1894

5 Ersichtlich schon bei Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987, in der Einleitung (S. 6–31, bes. S. 6–10, 14 u. 21). 6 Max Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: Max Weber Gesamtausgabe (= MWG), Abt. I/Bd. 15: Zur Politik im Weltkrieg, Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1984, S. 161 mit Anm. 1. 7 MWG, Abt. I/Bd. 1: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, Hg. Gerhard Dilcher, Tübingen 2008. 8 MWG, Abt. I/Bd. 2: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staatsund Privatrecht, Hg. Jürgen Deininger, Tübingen 1986.

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die Berufung zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie in Freiburg i.B. und 1896 im selben Fach nach Heidelberg. Aufgrund eines Nervenleidens musste er bereits 1898 die Lehrtätigkeit aufgeben und schuf nach einer nur teilweisen gesundheitlichen Stabilisierung das weitere, ihn später berühmt machende Lebenswerk als vom Familienvermögen lebender Privatgelehrter.9 Zuletzt trat er 1919 in München, bis zu seinem frühen („Spanische Grippe“-)Tod 1920, auch wegen der inflationären Vermögensaufzehrung wieder eine Professur mit breitem Zuschnitt auf „Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomie“ an.10 Zuvor war bereits mit der Krise des späten Kaiserreichs, hinreichend offenkundig seit einem diplomatisch törichten Daily Telegraph-Interview von Kaiser Wilhelm II. 1908, dem Ersten Weltkrieg und der Revolution 1918/19 ein grundlegender Zeitenumbruch erfolgt. An der Gründung einer „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ 1909 ist Max Weber eher nur am Rande beteiligt gewesen. Zwar engagierte er sich dann einige Jahre sehr intensiv, trat aber 1914 wegen persönlicher Differenzen mit anderen Beteiligten – wesentlich den Werturteilsstreit betreffend – wieder aus.11 Schon deshalb kann es berechtigt erscheinen, in diesem Band Weber nicht als einen der Gründerväter der Fachsoziologie, sondern als interdisziplinären Sozialwissenschaftler zu präsentieren.

1. Max Weber und der (politische) Konfessionalismus Innerhalb der weniger – Max Weber jedoch auch nicht fremden – tagespublizistischen, vielmehr historisch-sozialwissenschaftlichen Perspektiven kommt die ‚moralische‘ Dimension des Gesellschaftlichen ganz anders in den Blick. Was mit den Interpretationskonzepten der „sozialmoralischen Milieus“12 seit 9 Das Schriftenverzeichnis dokumentiert eine hohe Arbeitsintensität bis Anfang 1898 und dann wieder ab 1903/04, dazwischen aber nichts von Bedeutung; https://mwg. badw.de/fileadmin/user_upload/Files/MWG/08_1_MWG-Bibliographie2002.pdf. 10 Einleitung zu: MWG, Abt. III/Bd. 7: Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie), Hg. Gangolf Hübinger, Tübingen 2009, S. 28 f. (Zitat S. 28). – Wo in vorliegender Publikation wie hier Zitate von Weber hervorgehoben werden, sind diese im Original so vorhanden, wenn nicht anders bezeichnet. 11 M. Rainer Lepsius, Max Weber und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Soziologie 40,1 (2011), S. 7–19, nun auch in ders., Max Weber und seine Kreise, Tübingen 2016, S. 79–96 (Austritt: S. 93). 12 Ders., Parteiensystem und Sozialstruktur, in: Ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 25–50, bes. S. 37 ff.; dazu ergänzend auch ders., Extremer Nationalismus, in: Ebd., S. 51–79.

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dem Kaiserreich bzw. der segmentierten „politischen Teilkulturen“13 in der Weimarer Republik verbunden wird, ist über den Begriff „Political Confessionalism“14 zugleich aus Thesen zu unterschiedlicher Resistenz gegenüber der Stimmabgabe für die NSDAP bekannt. Die eher qualitativ orientierte historische Wahlforschung konnte dies sogar dahingehend zuspitzen, dass neben ein stabiles „Katholisches Lager“ und „Sozialistisches Lager“ ein zuvor heterogenes „Nationales Lager“ gestellt wird, das 1932/33 in die NSDAP mündete.15 Die quantitative Wahlforschung hat die behauptete Festigkeit des – parteipolitisch jeweils gespaltenen – sozialistischen und katholischen Stimmenblocks zwar relativiert und Differenzierungen hinzugefügt.16 Doch auch nach solchen Präzisierungen bleibt zutreffend, dass ein vorwiegend urbanisierter sozialistischer und stärker ländlich-kleinstädtischer katholischer Milieukern gegenüber der NSDAP jeweils eine signifikante Resistenz aufwies; diese war in „bürgerlich-protestantischen“ Segmenten zuletzt nicht annähernd derartig vorhanden. So wenig plausibel – nach der evangelischen Orthodoxie der 1820er bis 1850er und der Ära des „Kulturkampfes“ der 1870er und (gemindert) 1880er Jahre – manche Thesen über ein „zweites konfessionelles Zeitalter“17 sein mögen: Lässt sich dann vielleicht solche Problematik treffender im Sinne politischer ‚Konfessionen‘ thematisieren und so auch ein Fragehorizont für die Befassung mit Max Weber gewinnen?18 Neben Zitaten aus „Politik als Beruf“ (1919) und den Legitimationstypen der traditionalen, legal-rationalen und charismatischen Herrschaft dürfte Max Weber mit seinen häufig verkürzt wiedergegebenen Protestantismusthesen am bekanntesten sein. Wenngleich er im Kaiserreich eindeutig zum ‚nationalen Lager‘ gehörte, soll in dieser Einführung nicht über die kaum mehr überschaubare Weber-Literatur hinaus erneut vorrangig seine politische Haltung zu Einzelfragen thematisiert werden. Das Provokative der ursprünglich nur für Österreich 13 Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990. 14 Walter Dean Burnham, Political Immunization and Political Confessionalism: The United States and Weimar Germany, in: The Journal of Interdisciplinary History 3,1 (1972), S. 1–30. 15 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt 1992, S. 258 f. (Abb. 1). 16 Überblick bei Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991. 17 Untertitel und Beiträge in Olaf Blaschke (Hg.), Konfessionen im Konflikt, Göttingen 2002. 18 Ursprünglich sollte die Tagung zu seinem 150. Geburtstag wesentlich zum Anlass genommen werden, nach unterschiedlichen Varianten einer ‚Confessio’, also jeweiligen Grundüberzeugungen und deren geistig-kultureller Fundierung zu fragen, was sich aber nur in Teilbereichen als tragfähig erwiesen hat.

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behaupteten Dreilager-These19 liegt freilich darin: Für Deutschland – mit einem statt 9/10- lediglich 1/3-Katholizismus und seit 1920 tief gespaltener statt weiter sozialdemokratisch alleinbestimmter Arbeiterbewegung – wurde die Verantwortung einer als ‚nationales‘ bzw. als ‚bürgerlich-protestantisches‘ Lager bezeichneten Sammelformation für ‚1933’ deutlich konturiert. Neuere Ansätze haben den kulturgeschichtlichen Deutungshorizont erweitert und vertieft, sind aber noch nicht umfassend bei einer Neuinterpretation der politischen Zeitströmungen angekommen.20 Es geht hier zwar nicht primär um den – vorwiegend eher retrospektiv so verstandenen – Fachsoziologen Max Weber21, eher schon um seine diesbezügliche Bedeutung mit beachtlichem Stichwortrepertoire z.B. für eine Historische Sozial- und Kulturwissenschaft. Zunächst ist aber das auf den ersten Blick unübersichtliche Bezugsfeld der zeitgenössischen Fachdisziplinen für eine auch historisch angemessene Weber-Interpretation abzustecken, die ihn nicht vorrangig als Deutungsreservoir für die Gegenwart heranzieht. An seinem interdisziplinären Klassiker-Status kann über die unterschiedlichen Beurteilungsmöglichkeiten hinweg inzwischen kaum noch gezweifelt werden, zumal seitdem Projektzusammenhänge wie das Journal „Max Weber Studies“22 und die monumentale „Max Weber Gesamtausgabe (MWG)“23 etabliert wurden. Dennoch überhaupt die Frage nach einer sehr zeitgebundenen Verortung und Bekenntnisgehalten auch der im engeren Sinne akademischen Texte Webers aufzuwerfen und seine Historisierung zu betreiben, mag für manche Traditionsüberhänge einer Weber-Orthodoxie fast schon wie ein mit geistigen Sprengsätzen vorbereiteter Denkmalsturz anmuten. Dabei ist es doch sogar bei seinen beiden universitären Qualifikationsarbeiten offensichtlich, wie sie auch von damaligen Zeitverhältnissen inspiriert waren. Indem Weber zunächst über 19 Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1977, S. 289–485. Darauf bezieht sich auch Rohe, Wahlen (wie Anm. 15), S. 21. 20 Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918– 1939, Göttingen 2005; ders., Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007. 21 Anstelle der in Anm. 1 gelisteten Biographien ist systematisch geordnet nützlich: HansPeter Müller, Max Weber. Eine Einführung in sein Werk, Köln 2007. 22 http://mws.quotus.org. 23 https://mwg.badw.de/das-projekt.html, mit der Ankündigung: „Die Edition wird 45 Bände und zwei Registerbände umfassen und in den kommenden zwei bis drei Jahren vollständig vorliegen, also rechtzeitig vor dem 100. Todestag Max Webers abgeschlossen sein.“ Für den 150. Geburtstag galt solches bei weitem nicht, so dass für diesen Band keine Zitierweise vorgegeben oder vereinheitlicht wurde, zumal es auch völlig legitim ist, wenn Beteiligte an einem derartigen editorischen Monument darüber anders denken als Unbeteiligte.

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Handelsgesellschaften des Spätmittelalters promovierte, studierte er zugleich weit zurückliegende Vorläufer neuester Formen des Handelsrechts wie z.B. im Bereich des Börsenwesens, zu dem er umfangreiches Schrifttum hinterließ.24 Wenn er sich ferner mit römischer Agrargeschichte habilitierte und so bereits als Nachfolger eines späteren Nobelpreisträgers, des stets auch gegenwartsbezogenen Althistorikers Theodor Mommsen von diesem in den Blick genommen war25, besteht dabei noch evidenter der auch im Zeitablauf unmittelbare Zusammenhang mit seinen durchaus bahnbrechenden Untersuchungen zu ostelbischen Landarbeiterfragen.26 Während diese Einführung sonst außer der Hinführung auf die im Band versammelten Beiträge einigen zusätzlichen Perspektiven auf die Weber-Rezeption unterschiedlicher Disziplinen und Epochen dienen soll, ist vorab gesondert eine knappe Skizze zu seinem themenübergreifenden Wissenschaftsverständnis erforderlich.

2. Zum Wissenschaftsverständnis: ‚Objektivität‘ und ‚Werturteilsfreiheit‘? Zwei seiner Texte gelten längst als Klassiker in der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion und sollen mit ihren diesbezüglichen wesentlichen Aussagen hier vorgesellt werden.27 Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904)28 ist nicht immer mit den problematisierenden An- und Ausführungszeichen bei der „Objektivität“ zitiert worden, wobei freilich Webers Schreibstil zu diesen ebenso wie zu sehr zahlreichen Worthervorhebungen neigte.29 Unzweifelhaft beklagte er aber in dieser programmatischen Abhandlung im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli24 MWG, Abt. 1/Bd. 5 (1,2): Börsenwesen, Hg. Knut Borchardt, Tübingen 1999/2000. 25 Das berichtet nicht nur Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild (1926), 3. Aufl. Tübingen 1984, S. 121, sondern es gibt dazu in der Einleitung von MWG, Abt. I/Bd. 2, S. 57 f., auch den Quellenbeleg. 26 MWG, Abt. 1/Bd. 3 (1,2): Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (1892), Hg. Martin Riesebrodt, Tübingen 1984. 27 Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919) in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. Tübingen 1973, S. 582–613, bietet zusätzliche Gesichtspunkte vorwiegend nur in der Auseinandersetzung mit institutionellen und personalen Voraussetzungen der Wissenschaft (die innere „Berufung“ zur Wissenschaft ebenfalls hervorhebend). 28 In: Ebd., S. 146–214 (daraus Seitenzahlen in Klammern dieses und weiterer zwei Absätze). 29 Albert Salomon, Max Weber (1926) in: Ders., Werke, Bd. 1, Wiesbaden 2008, S. 135– 156, bemerkt zu solchen gewissermaßen rhetorischen Stileigenheiten Webers: „Oft sind

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tik, die Wissenschaften hätten noch unzureichend die „prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des ‚Seienden‘ und des ‚Seinsollenden‘ vollzogen“ (S. 148). Schon diese Formulierung zeigt Webers Mitprägung aus dem (südwestdeutschen) Neukantianismus. Zu normativen Aussagen könne aus diesem Blickwinkel keine Sozialwissenschaft hinführen: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will“ (S. 151). Er zielte auf „eine Wirklichkeitswissenschaft“, die ohne allzu vordergründige Fixierung auf die jeweiligen Gegenwartsverhältnisse „die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nichtanders-Gewordenseins“ mit reflektiert (S. 170 f.). Trotz für Weber typischer Vermeidung zahlreicher Literaturverweise bemühte er dort ausdrücklich „Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre, daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können“ (S. 208). Das blieb nicht ohne Konsequenz für Webers eben gerade nicht affirmativen „Objektivitäts“-Ansprüche: „Es gibt keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder ... der ‚sozialen Erscheinungen‘ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen‘ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden“ (S. 170). Sich diese Voraussetzungen und Perspektiven bewusst zu machen, ist für ihn der beste Weg zu wenigstens mehr intersubjektivem Verständnis unvermeidlich konfliktbehafteter Perzeptionsmuster. Vor allem gegen die „Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements“ richtete sich Webers Kritik, „nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale ... Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ‚Objektivität‘ haben keinerlei innere Verwandtschaft“ (S. 157). Ohne hier auf eine wohl zu objektivistische Sicht auf die Methodologie der empirischen Naturwissenschaften im Neukantianismus eingehen zu können, war für Weber bei den Kulturwissenschaften ihre Historizität durchaus konstitutiv: „es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt“ (S. 206). Ein normativistisches oder gar affirmatives Kulturverständnis war ihm dabei fremd: „Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld“ (S. 181), oder weniger plakativ und theoretisch vertiefend formuliert: „Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte diese Bücher gar nicht geschrieben, sondern gesprochen wie ein Monolog oder das Plädoyer vor einem unsichtbaren Gerichtshof des Weltgeistes“ (S. 137 f.).

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oder überhaupt irgend eine ‚Kultur‘ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (S. 180). Dabei erschienen ihm auf der einen Seite die „mächtigen Rückwirkungen dieser glaubensfrohen Stimmung des naturalistischen Monismus“ ebenso wie der „Einfluß des Hegelschen Panlogismus auf der anderen Seite“ (S. 186 f.) als zu überwindende Kontrastprogramme des von ihm favorisierten erkenntniskritischen Paradigmas. Die nachvollziehbare Intersubjektivität, was häufig mit der missverständlicheren Beanspruchung sozial- und kulturwissenschaftlicher ‚Objektivität‘ tatsächlich gemeint sein dürfte, einer auf menschliche Handlungen bezogenen Wirklichkeitswissenschaft zielte auf den unhintergehbar angelegten überindividuellen Wertbezug für den Akteur: „Die Wissenschaft kann ihm zu dem Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln, und natürlich auch, je nach den Umständen, das Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen, ist seine Sache“ (S. 150). Etwaiger Fehldeutung im Sinne der Überschätzung eines solchen Wertdezisionismus begegnete Weber zum einen, indem er betonte, es könne die Offenlegung eigener Werthorizonte sogar „geboten sein: in der wissenschaftlichen Kritik von gesetzgeberischen und anderen praktischen Vorschlägen ist die Aufklärung der Motive des Gesetzgebers und der Ideale des kritisierten Schriftstellers in ihrer Tragweite sehr oft gar nicht anders in anschaulich-verständliche Form zu bringen, als durch Konfrontierung der von ihnen zugrunde gelegten Wertmaßstäbe mit anderen, und dann natürlich am besten: mit den eigenen“ (S. 156 f.). Zum anderen wollte er nicht gesellschaftliche Strukturmuster vereinseitigend kulturalistisch dekonstruieren, sondern „als eigenstes Arbeitsgebiet unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung der sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens und seiner historischen Organisationsformen bezeichnen“ (S. 165). Dabei unterschied Weber deutlich zwischen unverkennbar aufgegriffenen Impulsen auch einer marxistischen Politökonomie und deren Ideologisierung, wenn er betonte, „daß die Analyse der sozialen Erscheinungen und Kulturvorgänge unter dem speziellen Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedingtheit und Tragweite ein wissenschaftliches Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit war und, bei umsichtiger Anwendung und Freiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in aller absehbarer Zeit noch bleiben wird. Die sogenannte ‚materialistische Geschichtsauffassung‘ als ‚Weltanschauung‘ oder als Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit ist auf das Bestimmteste abzulehnen, – die Pflege der ökonomischen Geschichtsinterpretation ist einer der wesentlichsten Zwecke unserer Zeitschrift“ (S. 167 f.).

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Gerade weil der beginnende Epochenumbruch gegen Ende des Ersten Weltkriegs und das sich verstärkende publizistische Engagement Webers darin anklingt, ist das im Kontext des „Vereins für Sozialpolitik“ entstandene Gutachten Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917)30 mit heranzuziehen. Wie bei der „Objektivität“ sind auch dabei wiederum die An- und Ausführungszeichen des ihm nicht selten pauschalierend unterstellten „Wertfreiheits“-Postulats in den Text- und Zeitkontext einzuordnen. Zunächst wandte sich nämlich Weber gegen die Auffassung, „daß die Universität eine staatliche Anstalt für die Vorbildung ‚staatstreu‘ gesonnener Beamter sei. Damit würde man die Universität nicht etwa zu einer ‚Fachschule‘ (was vielen Dozenten so degradierend erscheint), sondern zu einem Priesterseminar machen“ (S. 496). Wie deutlich er sich von dem seine viel zitierte Freiburger Antrittsrede von 1895 bestimmenden Primat der vordergründigen Nationalstaatsinteressen als Leitstern auch des Universitätsgelehrten entfernt hatte, zeigte diese – insofern ein ausführliches Zitat verdienende – vorurteilsfreie Argumentation31: „Einer unserer allerersten Juristen erklärte gelegentlich, indem er sich gegen den Ausschluß von Sozialisten von den Kathedern aussprach: wenigstens einen ‚Anarchisten‘ würde auch er als Rechtslehrer nicht akzeptieren können, da der ja die Geltung des Rechts als solchen überhaupt negiere, – und er hielt dies Argument offenbar für durchschlagend. Ich bin der genau gegenteiligen Ansicht. Der Anarchist kann sicherlich ein guter Rechtskundiger sein. Und ist er das, dann kann gerade jener sozusagen archimedische Punkt außerhalb der uns so selbstverständlichen Konventionen und Voraussetzungen, auf den ihn seine objektive Überzeugung – wenn sie echt ist – stellt, ihn befähigen, in den Grundanschauungen der üblichen Rechtslehre eine Problematik zu erkennen, die allen denjenigen entgeht, welchen jene allzu selbstverständlich sind. Denn der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis“ (S. 496).

Sich daran zu orientieren, was heute der Mainstream des jeweiligen Faches zugleich in Denkgewohnheiten der Epoche genannt werden könnte, war für Weber also gerade nicht eines kreativ Forschenden würdig: „Die spezifische Funktion der Wissenschaft scheint mir gerade umgekehrt: daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Problem wird“ (S. 502). 30 In: Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (wie Anm. 27), S. 489–540 (daraus Seitenzahlen in Klammern bis zum Ende dieses Abschnitts 2). 31 Das betrifft nicht allein den zeitweiligen Sozialdemokraten und dann Syndikalisten Robert Michels, auf den einige Beiträge dieses Bandes verweisen, sondern auch später bekannte marxistische Theoretiker: Éva Karádi, Ernst Bloch und Georg Lukács im Max Weber-Kreis, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, S. 682–702.

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Hinsichtlich „des Ausdruckes ‚Wertbeziehung’“, der für sein Konzept von Sozial- als Kulturwissenschaft unverzichtbar blieb, konnte sich Weber im Sinne des Neukantianismus „vor allem auf die bekannten Arbeiten von H. Rickert beziehen“ und daran erinnern, „daß der Ausdruck ‚Wertbeziehung‘ lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ‚Interesses‘ meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht“ (S. 511). Dass Weber zwischen ‚sinnverstehender‘ Kultur- und ‚strukturerklärender‘ Sozialwissenschaft keine methodologische Trennwand errichten, sondern eine Tür zu fruchtbarer wirklichkeits- und handlungswissenschaftlicher Synthese öffnen wollte, bezeugt diese zu selten gebührend beachtete Formulierung: „Jede Wissenschaft von geistigen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen ist eine Wissenschaft vom menschlichen Sichverhalten (wobei in diesem Fall jeder geistige Denkakt und jeder psychische Habitus mit unter diesen Begriff fällt). Sie will dies Sichverhalten ‚verstehen‘ und kraft dessen seinen Ablauf ‚erklärend deuten’“ (S. 532).32 Über rein akademische Zusammenhänge hinaus bekräftigte Weber, was seiner Überzeugung nach „eine berufsmäßigen ‚Denkern‘ besonders nahezulegende Obliegenheit ist: sich gegenüber den jeweilig herrschenden Idealen, auch den majestätischsten, einen kühlen Kopf im Sinn der persönlichen Fähigkeit zu bewahren, nötigenfalls ‚gegen den Strom zu schwimmen’“ (S. 540). Zwar sei es, dieses methodische Prinzip auf die Praxis des Gemeinlebens angewandt, „– richtig verstanden – zutreffend, daß eine erfolgreiche Politik stets die ‚Kunst des Möglichen‘ ist. Nicht minder richtig aber ist, daß das Mögliche sehr oft nur dadurch erreicht wurde, daß man nach dem jenseits seiner liegenden Unmöglichen griff“ (S. 514). Auf sog. Realpolitik im verengten Sinne ist Weber so wenig zu reduzieren, wie seine kategoriale Unterscheidung politischen Handelns in „‘gesinnungsethisch’ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert“ als sich wechselseitig ausschließend gemeint war: „Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik’ haben kann.“33 Jede Ethik, auch wenn ihr wie im kategorischen Imperativ Kants ein Formalprinzip zugrunde lag, benötigte in der Praxis materialen Inhalt mit „Gesinnungs“-Bezügen. 32 Webers Habitusbegriff ist nicht mit dem bekannteren von Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis – auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt 1976, zu verwechseln, obwohl dieser Weber beiläufig erwähnt (S. 178), aber primär Émile Durkheim rezipiert hat. 33 Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 505–560, hier S. 551 u. 559.

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3. Weber als „bürgerlicher Marx“: Ökonomie und Gesellschaftsanalyse Es ist gegenüber der meist nur beiläufigen Verwendung solchen Diktums wenig bekannt, wer jener Albert Salomon war, der 1926 über Max Weber schrieb, „dass man ihn als einen bürgerlichen Marx bezeichnen kann, um das Paradoxe seiner Stellung scharf zu bezeichnen“.34 In Herkunft, Bildungsweg und Lebensstil war Karl Marx durchaus ‚bürgerlich‘, so dass mit dem Paradoxon eine andere pointierte Charakterisierung Webers als „heroischer Bürger im Zeitalter der Bourgeoisie“ (I: 154) gemeint sein dürfte. Salomon kannte autobiographischen Notizen gemäß Max und Marianne Weber aus Gesprächsrunden in Heidelberg an „sunday afternoons in der Ziegelhäuser Landstraße 17“ (I: 17), in deren Villa am Neckar-Ufer. Der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau durch Rechtsradikale 1922 folgte Salomons SPD-Beitritt; sodann wurde er 1926 über den Direktor der Berliner Hochschule für Politik, den auch der SPD zugehörigen Hans Simons, dort hauptamtlicher Dozent, nachdem er im SPD-Theorieorgan „Die Gesellschaft“ den Weber-Aufsatz veröffentlicht hatte (I: 25). In jener Zeitschrift hat Salomon auch ein bald sehr bekanntes Weber-Zitat präsentiert, das seinem Aperçu inhaltliche Substanz verleihen konnte: „Interessen (materielle und ideelle) nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen’ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“35; dies wollte Salomon unmittelbar folgend so kommentieren: „Kein marxistischer Soziologe hätte die Beziehung von Überbau-Unterbau schärfer und plastischer zusammenfassen können“ (I: 146 f.). Dabei hat er natürlich an undogmatische Marxisten gedacht, die nicht einseitig ökonomistisch und objektivistisch argumentieren, sondern den ‚subjektiven Faktor’ motivbezogen handelnder Menschen (Individuen und Kollektivpersonen) gebührend berücksichtigen. Was Salomon mit der Formulierung „heroischer Bürger“ meinte, hat er in einem Text zu „Max Webers Methodologie“ als dessen – im Anschluss an Karl Jaspers36 existenzphilosophisch gedeutetes – Bekenntnis erläutert: „Wir selbst 34 Salomon, Max Weber (wie Anm. 29), S. 148 (nachfolgend sind Zitate im Text mit I für Bd. 1 und Seitenzahl hinter einem Doppelpunkt nachgewiesen). 35 Dieser (nur durch Doppelpunkt hinter „Aber“ unterschiedene) Text bei Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1915ff.), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 6. Aufl. 1972, S. 237–573, hier S. 252. 36 Karl Jaspers, Max Weber. Rede bei der von der Heidelberger Studentenschaft am 17. Juli 1920 veranstalteten Trauerfeier, Tübingen 1921.

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geben unserem Leben Sinn. Als die enterbten Kinder Gottes ... sind wir zu diesem unaufhörlichen Kampf um unsere menschliche Würde gezwungen ... Es steckt eine Art negative Theologie in diesem Heroismus.“37 Ferner könne in dem Wissenschaftsverständnis von Weber die Summe der Idealtypen „kein umfassendes System“ ergeben, weshalb es „müßig“ sei, „Webers Arbeiten mangelnde Systematik vorzuwerfen, ist doch seine Wissenschaftslehre der Ausweis seiner Verweigerung gegen Systematisierungssehnsüchte“.38 Entsprechend dementierte Salomon auch einseitige politisch-weltanschauliche Zurechnungen: „Webers Begriff des Menschen und seiner Freiheit steht daher in keinerlei Verbindung zu irgendeiner historischen Ausprägung des Liberalismus.“39 Vielleicht ist es also kein Zufall, dass Max Weber nur (jeweils mit gewisser Distanz) kurz am Rande von Naumanns Nationalsozialen und später in der DDP mitwirkte. Umgekehrt ist es wohl bezeichnend, dass eine rückblickende Zuschreibung: „Max Weber hat sich später in erster Linie als Erbe der Nationalliberalen gefühlt“40, jenseits der für ihn zutreffenden Hervorhebung des „Nationalen“ (wie er sicher auch die Deutsche Demokratische Partei im Sinne ihrer Strömungen des „demokratischen Nationalismus“41 verstand) im angeführten Quellenverzeichnis keine explizite Grundlage findet.42 Der Publikationskontext des Weber-Aufsatzes von Salomon ist nicht unwichtig, denn er selbst erinnerte die intellektuellen Anregungen der primär von ihm rekrutierten Autoren einer neuen Generation verschiedener Disziplinen: 37 Albert Salomon, Max Webers Methodologie (engl. 1934), in: Ders., Werke, Bd.2, Wiesbaden 2008, S. 13–34, hier S. 33. 38 Ders., Max Webers Soziologie (engl. 1935), in: Ebd., S. 51–63, hier S. 58. 39 Ders., Max Webers politische Ideen (engl. 1935), in: Ebd., S. 65–80, hier S. 77. 40 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 2 (und Belegverweis in dortiger Anm. 2). 41 Für Max Weber trifft diese Bezeichnung zu, die sonst zu pauschal verwendet wird bei Jürgen C. Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978. 42 Es handelt sich um einen Brieftext vom 17.6.1917, in: Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, München 1921, S. 473, wo Weber die historische Bedeutung der (nationalliberalen) „Führer“ in der Periode „1867–1877“ hervorhebt und erst danach eine Zäsur der eigentlichen Bismarckherrschaft setzt: „Alle Institutionen des Reiches, Bismarcks Stellung selbst eingeschlossen, haben sie geschaffen – entgegen der ‚Legende‘. Nein – jeder wußte seit 1878: Es kommt nichts mehr darauf an, was sie reden und tun.“ Das Hinnehmen dieser Entmachtung sah Weber kritisch, was ihn eine andere „nationale Partei der bürgerlichen Freiheit“ im Sinne auch einer „Demokratie“ herbeiwünschen ließ, so Max Weber, Zur Gründung einer national-sozialen Partei (1896), in: Ders., Gesammelte Politische Schriften (wie Anm. 33), S. 26–29, hier S. 28.

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„Es war eine große innere Genugtuung, solche radikalen Denker außerhalb der Partei zu finden und Menschen zu entdecken und zu publizieren, die von da an große Karrieren gemacht haben: vor allem Herbert Marcuse, Eckart Kehr, Walter Benjamin, Hans Speier, Hajo Holborn, Hannah Arendt. Glücklich war ich über die Hilfe, die ich von Ernst Fraenkel und Franz Neumann erfuhr“ (I: 26). Das waren nun wirklich höchst illustre Namen, die allesamt bis heute bekannter als Salomon geblieben sind43 – ein nicht ganz selten anzutreffendes Schicksal eines Talentförderers und mehr im Hintergrund wirkenden Redakteurs. Der entgegen dem Alphabet und der Publikationschronologie erstgenannte Marcuse hielt dann auch 1964 auf dem Soziologentag anlässlich des 100. Geburtstags von Max Weber einen meistbeachteten Vortrag zum Thema „Industrialisierung und Kapitalismus“. Darin wandte sich Marcuse gegen wertfreie Interpretationen von Webers umfassender Rationalisierungsthese: „Der Begriff der technischen Vernunft ist vielleicht selbst Ideologie. Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über den Menschen)“. Doch schloss Marcuse mit einer Deutungsmöglichkeit Webers als gesellschaftskritischer Theoretiker: „Es ist schwer, in dem sich verfestigenden ‚Gehäuse der Hörigkeit’ überhaupt noch Vernunft zu sehen – es sei denn in einem wirklich nur ‚technischen’ Sinn. Oder steckt in Max Webers Vernunftbegriff die Ironie, die versteht und desavouiert? Will er vielleicht sagen: und das nennt ihr Vernunft?“44 Formale Rationalität konnte allerdings bei Weber keineswegs materiale Vernunft immer schon mit beinhalten. Daran hat Jürgen Habermas in einem „Herbert Marcuse zum 70. Geburtstag“ gewidmeten Beitrag die Formulierung von „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’“ geknüpft45 – und dies bis in die spätere These einer „Kolonialisierung“ der sozio-kulturellen Lebenswelt durch Subsysteme zweckrationalen Handelns mit insbesondere ökonomischen und rechtlich-administrativen Steu43 Vor der Redaktionsleitung durch Salomon in Vertretung des Finanzministers Hilferding gab es nur einzelne Artikel (kürzere Rezensionen oder Abdrucke gar nicht und zum Vergleich nur deutsche Autoren berücksichtigend) von republikfreundlichen Gelehrten ohne SPD-Zugehörigkeit wie dem hochbetagten Ökonomen Lujo Brentano (1924/I, S. 217–234). Unter den Nachwuchstalenten nicht erwähnt hat Salomon einerseits trotz Hinweises auf Fraenkel und Neumann den Juristen Otto Kirchheimer (1930/II, S. 166– 179) – ohne hier die größere Anzahl seiner Beiträge 1932/33 aufzuführen –, sowie andererseits die Historikerin Hedwig Hintze (1929/II, S. 73–95) und den Historiker Hans Rosenberg (1929/II, S. 119–136), die von Holborn, Kehr und Speier abzusetzen wenig Sinn machen würde. 44 In: Max Weber und die Soziologie heute, Hg. Otto Stammer, Tübingen 1964, S. 161– 180, hier S. 179 f. 45 In: Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, 5. Aufl. Frankfurt 1971, S. 48–103 (Marcuses Weber-Text zitierend: S. 49 f.).

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erung fortgeschrieben.46 Als intellektueller Zeitzeuge wollte noch vor wenigen Jahren Habermas das „Referat von Herbert Marcuse auf dem Heidelberger Max-Weber-Kongress 1964“ in seiner besonderen Wirkung hervorheben; er charakterisierte so „die Kritische Theorie“ als „eine in den zwanziger Jahren mit Hilfe von Max Webers Bürokratie-Soziologie fortentwickelte Gestalt des Hegel-Marxismus“, auch um „den verschwiegenen Paradigmenkern der alten Kritischen Theorie offenzulegen“, nämlich: „einen Weber-Marxismus, der den Zusammenhang zwischen formaler Rationalität, Herrschaft und Kapitalismus zu enthüllen versprach“.47 Dieser Hinweis war aber keine neue Enthüllung eines inneren Bezugsverhältnisses, denn auch schon drei Jahrzehnte vor dieser publizistischen Traditionsbestimmung schrieb Habermas in seinem akademischen Hauptwerk: „Adornos Formel von der ‚verwalteten Welt‘ ist ein Äquivalent für Webers Vision des ‚stahlharten Gehäuses’“.48 Unter den Autoren, die jene Gedankenbrücke von marxistisch zu weberianisch inspirierter Gesellschaftsanalyse zu schlagen bestrebt waren, darf aber der Stichwort- und intellektuelle Plattformgeber Albert Salomon künftig nicht mehr fehlen.49 Nachdem sicherlich hinreichend erkennbar geworden ist, wie unterschiedlich das geistig-politische, methodisch-fachliche und gesellschaftstheoretische Erbe Max Webers interpretiert und rezipiert werden konnte, ist nun der Blick auf die in diesem Band näher betrachteten Themenfelder anhand der präsentierten Beiträge zu richten.

46 Ohne hier ders., Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt 1981, auch nur mit Kernthesen vorstellen zu können („Kolonialisierung der Lebenswelt“: Bd. 2, S. 522), mag der Hinweis ausreichen, dass im Namenregister 16 Halbzeilen auf M. Weber verweisen, mit deutlichem Abstand folgt É. Durkheim (9) vor K. Marx und G. H. Mead (je 8). 47 Ders., Großherzige Remigranten, in: NZZ v. 2.7.2011 (http://www.nzz.ch/grossherzige-remigranten-1.11143533). 48 Ders., Theorie (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 469. 49 Es passt zum Erinnerungsverlust dieser Rezeptionslinie, dass Marianne Weber in einem Brief an den Betreuer ihrer zunächst beabsichtigten Dissertation während der Lektüre schrieb: „Marx ist doch übrigens ein großartiger Kerl – das kommunistische Manifest ist ja direkt ein ästhetischer Genuß! U. dann der logische Aufbau seiner Werttheorie!“, zit. nach Bärbel Meurer, Marianne Weber. Leben und Werk, Tübingen 2010, S. 146; aber das 1900 erschienene Buch (die Promotion war nicht möglich) überlieferte ein skeptisches Fazit bei Marianne Weber, Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin (1900), 2. Aufl. Tübingen 1925 (photomechanisch textgleich), S. 118 hinsichtlich der Monopolisierungstendenz: „Alle Zeichen der Zeit deuten darauf hin, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung – die Herrschaft der freien Konkurrenz – weit eher durch eine Annäherung an Fichte’s Vernunftstaat, als an Marx’ kommunistische Zukunftsgesellschaft abgelöst werden wird.“

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4. Max Weber und die Politik bis zur Überwindung des wilhelminischen Kaiserreichs Jenseits akademischer Diskurse, in denen auch die Thesen eines Zusammenhangs der kapitalistischen Ökonomie mit bestimmten Formen der protestantischen Kultur und die Typen der traditionalen, rational-legalen und charismatischen Herrschaft sowie die Bürokratieanalysen am meisten nachwirken, gilt für breiteres Publikum: Am bekanntesten ist wohl Max Webers erweitert publizierter Münchener Vortragstext „Politik als Beruf“ aus den ereignisreichen Revolutionsmonaten 1919.50 Aber nicht die bereits erwähnten selektiven Verweisungen auf den angeblich stets unbedingten Vorrang der „Verantwortungs“- gegenüber der „Gesinnungsethik“ oder das vielzitierte (wiederum doppelseitige) Politikmuster „starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ (S. 560) soll hier im Vordergrund näherer Betrachtungen stehen. Ebenso wenig kann nachfolgend Webers vermutlich meistentlehnter Definitionsversuch, „daß der moderne Staat ein anstaltsmäßiger Herrschaftsverband ist, der innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren mit Erfolg getrachtet hat“ (S. 511)51, in den staatstheoretischen Implikationen weiter vertieft werden: „Der Staat ist im Sinne der Soziologie nichts als die Chance, daß bestimmte Arten spezifischen Handelns stattfinden“.52 Erwähnt sei aber noch das Selbstverständnis in jener Spätphase seines Wirkens, „’Gesellschaftswissenschaft‘ (Soziologie)“ und dabei besonderes „die Rechts- und Staats-Soziologie“ zu profilieren „durch eine schärfere und ganz klare Scheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise“.53 Wenn „Politik“ bei Max Weber hier zur Debatte steht, geht es hauptsächlich nicht um seine in den letzten Lebensjahren konzentrierten unmittelbaren tagespolitischen Interventionen, sondern um die Grundauffassungen: Was macht für ihn den Kern des „Politischen“ aus? Als erster Kandidat dafür tritt die eigene deutsche Nationalität und (Staats-)Nation ins Blickfeld, deren Primat über andere Interessen- und Wertbezüge er immer wieder betonte. Die auf breites Textmaterial der Gesamtausgabe bezogene Analyse von Dieter Langewiesche arbeitet jedoch heraus, dass es in der zweiten Hälfte seiner Wirksamkeit (nach 50 Seitenzahlen in Klammern dieses Abschnitts aus dem Weber-Text wie Anm. 33. 51 In Kurzform lautet die Weber-Definition bekanntlich „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ (S. 506). 52 Max Weber an Robert Liefmann 9.3.1920, in: MWG, Abt. II/Bd. 10-2: Briefe 1918– 1920, Hg. Gerd Krumeich/M. Rainer Lepsius, Tübingen 2012, S. 947. 53 Max Weber an Josef Heimberger 5.2.1919, zit. nach MGW, I/22-3: Recht, Hg. Werner Gephart/Siegfried Hermes, Tübingen 2011, S. 130.

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der schweren Gesundheitskrise um die Jahrhundertwende und methodologischer Neuorientierung) gewissermaßen einen doppelten Weber gegeben hat: Als weiterhin hochgradig politisierter Zeitgenosse blieb er unverkennbar bei dieser „nationalen“ Prioritätensetzung. Doch als Sozialwissenschaftler mit zunehmendem Insistieren darauf, eigene Werturteile von empirisch-analytischer Forschung sorgsam zu unterscheiden, näherte sich Weber einer zukunftsweisenden Klärung und tendenziellen Dekonstruktion des Nationsverständnisses. Dass der werdende Soziologe um das Jahr 1910 mit einem diffusen Nationsbegriff analytisch nicht viel anfangen konnte, liegt wesentlich an Webers Distanz zu allen Kollektivbegriffen. Auch über schlechthin „den Staat“ wird man jenseits konkreter Elemente wie der Bürokratie nicht sehr viel mehr als die herrschaftsmonopolistische Globaldefinition bei ihm erfahren, und es lässt sich die nur vordergründig paradoxe These vertreten: „Webers Soziologie ist eine Wissenschaft ohne ‚Gesellschaft’“, da es ihm um jeweils individuell zurechenbare „Handlungswissenschaft“ ging.54 Seine eigene Interpretationsleistung war dann eine wesentlich kritisch-negative, indem Weber vorrangig aufzeigte, was alles (bis hin zu ethnozentrischen Betrachtungen) gerade nicht zu einem sozialwissenschaftlich validen Nationsverständnis führt. Letztlich beschränkte er sich darauf, „nationale“ Komponenten in den Vergemeinschaftungs- und Staatskonstituierungs-Prozessen immer nur in fallbezogenen Konstellationen betrachten zu wollen. In den politisch intervenierenden Schriften hingegen verharrte Weber in einer geradewegs verklärten Bezugnahme auf so etwas wie die „Lebensinteressen der Nation“ in Gestalt des nationalen Machtstaates; er beanspruchte dabei eigene Deutungsautorität mit wenig Duldsamkeit gegenüber „Literaten“ und anderen Vertretern abweichender Sichtweisen. Sobald die Problematik eines – in Webers handlungsorientierter Analyse sich geradewegs „verflüchtigenden“ – Nationsbegriffs erkannt und erfahrbare Realität nur konkreten Elementen der Nationalstaatlichkeit zuerkannt ist, fällt ein zweiter Blick auf den von ihm stets von neuem beschworenen „Kampf ums Dasein“; und zwar gilt dies innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich (um trotz seiner Bedenken verknappend kollektivbegrifflich zu formulieren). Der Beitrag von Peter Steinbach konzentriert sich im erkenntnisleitenden Ausgangspunkt bewusst auf Max Webers Freiburger Antrittsrede von 1895, nach der stichwortprägenden Beurteilung von Wolfgang J. Mommsen „eine politische Konfession voll unorthodoxer Ansichten und radikaler Thesen“, die Weber selbst als Verunsicherung des eigenen kulturprotestantischen Herkunftsmilieus erlebte: „Mit meiner Antrittsvorlesung habe ich Entsetzen über die Brutalität meiner Ansichten erregt, fast am zufriedensten waren die Katholiken, weil ich 54 Müller, Max Weber (wie Anm. 21), S. 117.

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der ‚ethischen Kultur‘ einen festen Tritt versetzt hatte“.55 Dieser Rückgriff auf den frühen Weber geschieht zum einen, um die sozialdarwinistisch eingefasste „Kampf ums Dasein“-Terminologie aus ihrem akademisch-historischen Kontext zu interpretieren. Dabei ist, mit unvermeidlichen interdisziplinären Bezügen auch über das Webersche sozialwissenschaftliche Fächerspektrum hinaus, auf Darwins sich teilweise verlagernde Überlieferung sowie den natur- und eben auch humanwissenschaftlichen „Darwinismus“ intensiver als mit kurzen Formeln einzugehen. Zum anderen lässt sich hinter der zeitgebundenen und auch publikumsorientierten Sprache eines solchen, der Nationalökonomie im akademisch-politischen Doppelsinne gewidmeten Vortrags ein als fortwirkend eingeschätzter Überzeugungskern Webers erkennen. Erst die Weber-Rezeption der 1920er Jahre und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg hat die in der Freiburger Antrittsrede und manchen späteren Wortmeldungen noch bekenntnishaft daherkommende, sozialdarwinistisch imprägnierte Terminologie des politischen Kampfs ums Dasein zu modernen Konflikttheorien ernüchtert, unverfänglichere Formulierungen im Spätwerk Webers fortschreibend: „Denn nicht auszuscheiden aus allem Kulturleben in der Kampf.“56 Doch fanden sich Ansätze dazu schon in jenem vor „Politik als Beruf“ für Weber klassischen Redetext; dort vermochte er – wenn auch seinem Deutungsmuster innerer Nationalitätenkämpfe mit dem „Polentum“ folgend – eigene konkrete wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien zu ostelbischen Agrarverhältnissen einzuflechten. Dies leitet nunmehr zu einer Vertiefung und allmählichen Präzisierung von Webers Politikbegriffen über; schließlich erschienen seine umfangreichen Nachlasstexte schon kurz nach seinem Tod als jener an Typisierungen reiche Klassiker „Wirtschaft und Gesellschaft“, und es wurde bereits die Freiburger Antrittsrede unter dem sachlich-fachlich klingenden Titel „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ publiziert. Die Betrachtungen von Tim B. Müller zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ folgen mit dem auch heute noch plausiblen Stichwort „Wirtschaftspolitik“ insofern genuin Weberschen Motiven. Der seinem Münchener Vortrag von 1919 entlehnte Titelzusatz „als Beruf“ wird historisch ernst genommen, indem ganz in Webers Doppelsinn (nämlich zugleich der inneren „Berufung“) einerseits die politische Beamtenspitze des Reichswirtschaftsministeriums auf ihr spezifisches Berufsprofil im Verwaltungsgefüge hin untersucht wird. Andererseits lässt sich aufzeigen, wie von vornherein wirtschaftspolitische Richtungskämpfe nicht allein vom jeweiligen Minister ausgetragen, sondern von den Staatssekretären und Spitzenbeamten 55 Max Weber an Alfred Weber 17.5.1895, zit. nach Mommsen, Max Weber (wie Anm. 40), S. 39 mit Anm. 6. 56 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“ (wie Anm. 30), S. 517.

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materialbezogen und argumentativ flankiert wurden. Die Pointe der weiteren Argumentation besteht darin, dass für viele „politische Beamte“ – mit Webers Kriterium, anders als „Fachbeamte ... jederzeit beliebig versetzt und entlassen oder doch ‚zur Disposition gestellt’“ werden zu können (S. 519 f.) – jedenfalls in dem exemplarisch untersuchten Reichswirtschaftsministerium letztlich nachgewiesen werden kann: Sie erfüllten zahlreiche bei Weber erwähnte Merkmale des Berufspolitikers, insbesondere auch das Agieren nach festen Überzeugungen, die von ihnen eingeleiteten Handlungen zugleich in deren Wirkungen bedenkend, und den Appell an eine breitere Öffentlichkeit in Reden und Publizistik nutzend. Am intensivsten wird dieses anhand des Staatssekretärs (amtierend 1919 bis 1923) Julius Hirsch aufgezeigt; dieser hat sich, zuvor und danach Ökonomieprofessor, weder durch seine wissenschaftlichen Ambitionen noch die Position als hochrangiger politischer Beamter (seit dem Dissens mit dem „Ruhrkampf“-Minister Becker vom rechten DVP-Flügel 1923 „z.D.“ = zur Disposition) gehindert empfunden, stets „Wirtschaftspolitik als Beruf“ zu betreiben. Nach politikwissenschaftlicher Fachterminologie sind der verfasste Rahmen des nationalen Machtstaats im Denkgefüge Webers als polity und konkrete Handlungsfelder wie die Wirtschaftspolitik als policy einzuordnen. Dazwischen angesiedelt wird „Politik“ im Sinne des Kerngehalts von politics in Webers Schlüsseltext von 1919 verstanden als „Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umfaßt“; dies zielt somit auf die „Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen“ (S. 506). Der Text von Marcel Rudolph widmet sich, nachdem ihm vorausgehend die Problematik der sozialwissenschaftlichen „Kampf“-Dimension mehr innenpolitisch verfolgt wurde, stärker den außenpolitischen Machtaspekten – auch wenn bei Weber durchaus Ansätze einer kritischen Rückbeziehung der wilhelminischen Außen- auf die Innenpolitik zu finden sind.57 Mit dem Stichwort 57 „Nichts aber steht zur Zeit gerade unserer Machtgeltung und Kulturbedeutung mehr im Wege, als wenn wir dauernd, wie es jetzt geschieht, dasjenige Maß von Freiheit in unserem Innern ausschließen, was andere Nationen sich errungen haben. Nichts macht uns so bündnisunfähig als dieser Umstand, als die Verknüpfung unserer sozialen und politischen Entwicklung mit dem in seiner Orientierung beständig wechselnden Einfluß einzelner regierender dynastischer Personen. Das ist es, was unsere Politik in den letzten Jahren hat scheitern lassen, was die Achtung des Auslandes vor uns als Welt- und Kulturmacht von Stufe zu Stufe heruntergesetzt hat in einem Maße, welches heute bereits für unsere Sicherheit gefährlich zu werden beginnt“; Max Weber, Diskussionsrede bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Magdeburg 1907, in: Ders., Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk (1924), Hg. Marianne Weber, 2. Aufl. Tübingen 1988, S. 407–412, hier S. 412.

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„Machtessentialismus“ (einer „Substantialisierung der Macht“ entsprechend) wird eine Neigung charakterisiert, die seiner neukantianisch inspirierten Methodologie der zurechenbaren (hier politischen) Handlungsanalyse eigentlich widerstreben müsste: die Macht als Instrumentarium des inneren Herrschaftsmonopols und der äußeren Souveränitätsentfaltung nicht selten derart zu thematisieren, als habe sie eigene Substanz oder Essenz und sei nicht bloß eine Kategorie der Erkenntnisgewinnung. Webers bekannte Machtdefinition als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“, im Unterschied von institutionalisierter Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“58, verweist dann auch mehr auf das zu beachtende Fragezeichen hinter dem Leitbegriff eines politischen „Machtessentialismus“. Der wesentliche Ertrag liegt in einem Vergleich der Weber-Rezeption und daran anknüpfender eigener Theorieansätze des französischen Soziologen Raymond Aron59 mit dem gegenwärtig viel diskutierten Politiktheoretiker Herfried Münkler. Dabei ergeben sich jenseits des fachwissenschaftlichen Minimums ihrer zutreffenden Textbezüge vorwiegend Unterschiede, für deren nicht zwingend eng mit dem zeitgenössischen Werk von Weber verflochtene Details auf die recht breit gefächerte Darstellung und Interpretation zu verweisen ist.

5. Webers Theorie-Erbe: Rationalisierungs-, Protestantismus-, Bürokratisierungs- und Urbanisierungs-Thesen So wenig Max Webers „Politische Schriften“ theoriearm daherkamen, waren sie eben doch unvermeidlich stets mit unmittelbaren Zeitbezügen versehen und auf deren Hintergrund interpretierbar. Nicht allein für das (im Spätwerk nach 1910 abgeklärtere) Begriffsfeld des Nationalen, sondern auch für den politischen Daseins- und Machtkampf sowie die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gilt: „Max Weber arbeitet Nation/Nationalismus nicht zu Begriffen aus, weil sie universalhistorisch in seiner Sicht keine tragfähigen Konzepte bereitstellen“ (s.u. Text Langewiesche S. 48). Umgekehrt entfielen für Weber bei übergreifenden Fragestellungen nicht einfach die zu erkenntnisleitenden Interessen sublimierten Wertbezüge, wenn er dennoch stärker universalisierbar 58 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. Tübingen 1972, S. 28. 59 Dieser hat auf dem Soziologenkongress zum 100. Geburtstag Webers den Vortrag „Max Weber und die Machtpolitik“ gehalten, in: Max Weber und die Soziologie heute (wie Anm. 44), S. 103–120.

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sozialwissenschaftlich zu analysierenden strukturgeschichtlichen Basisprozessen nachspürte. Der Beitrag von Wolfgang Schluchter widmet sich neben der Entstehungsgeschichte im Gesamtwerk auch inneren Spannungsverhältnissen bis hin zu Paradoxien eines „Rationalisierungs“-Prozesses, der eben nicht mit den Fortschritten der „Vernunft“ gleichzusetzen ist. Auch wäre allein die These von der „Entzauberung“ sozialer Lebenswelt in der Abkehr u.a. von religiösen Deutungsmustern ganz unzureichend, das spezifische „Weber-Paradigma“60 in dieser rationalisierungstheoretischen Hinsicht zu charakterisieren. Denn eine besondere Art der Entzauberungsthesen hatten z.B. schon Marx/ Engels in Bezug auf bürgerliche Radikalität gegenüber den Feudalüberhängen 1848 formuliert: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“61 Einmal mehr wird aber bei intensiverer Betrachtung deutlich, wie sehr Webers letztes Lebensjahrzehnt ab 1910, nach einer 1903/04 zu beobachtenden Phase der methodologischen Neuausrichtung, erst den heute vertrauten Sozialwissenschaftler Weber hervorbrachte. Das bedeutet freilich auch, dass eine „Rekonstruktion“ seines Werks in soziologischer Perspektive hier doppelsinnig erfolgt: Dabei ist zwar textgenau den Spuren seiner (auch wieder doppelseitigen: autoren- und gegenstandsorientierten) Theorie-Entwicklung nachzuspüren. Aber es werden gleichzeitig auch unvermeidliche Inkonsistenzen der in mehreren Arbeitsphasen entstandenen Nachlassfragmente systematisch analysiert und ggf. in einem Webers Forschungsparadigma folgenden Sinne behoben. Es resultieren so differenziertere Rezeptionsmöglichkeiten und aus dem Zeitkontext herauslösbare Interpretationsmuster, was auch zu dem Ergebnis führt: Weber hat zwar den „okzidentalen“ (abendländischen) Rationalismus in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses gerückt, aber damit nicht andere Rationalisierungsformen auch schon methodisch diskriminieren wollen. Die bereits am Nationsverständnis kenntlich gemachte Differenz von Weber-Interpretation primär im damaligen Zeithorizont oder im Hinblick auf epochenübergreifendes systematisches Deutungspotenzial wird ebenso an den – gerade die US-Rezeption beflügelnden – Protestantismusthesen ersichtlich. Der kritischen Bestandaufnahme dieser Forschungsentwicklung seit Webers 60 Gert Albert u.a. (Hg.), Das Weber-Paradigma, Tübingen 2003; ders. u.a. (Hg.), Aspekte des Weber-Paradigmas. FS für Wolfgang Schluchter, Wiesbaden 2006; zur Konzeption https://www.soz.uni-heidelberg.de/?page_id=2656. 61 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Dies., Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 459–493, hier S. 465.

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Studien bis zur Gegenwart von Thomas Sokoll ist zu entnehmen, dass sich die Akzentsetzungen deutlich verlagerten: Wurde seinerzeit über die Verknüpfungen der protestantischen (Lebens- und Berufs-)Ethik mit dem „Geist des modernen Kapitalismus“ teilweise pauschal und heftig gestritten, interessierte sich die Geschichtswissenschaft in Richtung unserer Epoche zunehmend für die Motive und Hintergründe von Webers Religionssoziologie und insbesondere der Protestantismusthesen. Dabei geriet aus dem Blick, dass man Webers Interesse für innerweltliche Konsequenzen von Glaubensaspekten zwar im Spätwerk als ein Fallbeispiel des universalen Rationalisierungsprozesses thematisieren kann, dieses für die Erstfassungen von 1904/05 aber so nicht gilt. Vielmehr demonstrierte er mit den Protestantismusstudien auch die Leistungsfähigkeit des in jener Schaffensperiode herausdestillierten kultursoziologischen Interpretationsansatzes. Vor allem jedoch ging Weber zugleich historischen Fragestellungen nach, die allgemeinen Entstehungsbedingungen von gegenwartsprägenden Strukturelementen wie dem modernen Kapitalismus zu erforschen, der in einem sich auf stets höherer Stufe reproduzierenden System der gewerblichen Produktion und nicht wie in früheren Zeiten auf Beute- und/oder Handelskapital basierte. Dabei wird man Weber aus heutigem Kenntnisstand in den meisten außereuropäischen Bezugnahmen, einschließlich von USA-Darstellungen wie zu Intentionen und Hintergründen seiner dortigen Hauptfigur Benjamin Franklin62, erhebliche Fehler nachweisen können. Über die Epochendistanz eines vollen Jahrhunderts hinweg viel erstaunlicher ist aber das andere Fazit: Jedenfalls aus der Sicht der frühneuzeitlichen Fachhistoriographie bieten nicht allein wesentliche Aspekte seiner Lutherdeutung gerade im Hinblick auf die Berufsethik, sondern auch etliche andere Problemkreise aus der Geschichte des europäischen Protestantismus noch immer sinnvolle Anknüpfungspunkte für längst nicht ausgeschöpfte Ressourcen weiterer Untersuchungen. In der werkgeschichtlichen Abfolge die zweite fundamentale Erscheinungsform des Rationalisierungsprozesses nach dem modernen Kapitalismus und seinen kulturellen Begleitumständen ist bei Weber in seinen Bürokratisierungsthesen zu analysieren. Ihn leitete ganz offenkundig die Ambivalenz, zwar nicht die unvermeidliche Einsicht zu verfehlen: „Die technische Überlegenheit des bureaukratischen Mechanismus steht felsenfest, so gut wie die technische Überlegenheit der Arbeitsmaschinen gegenüber der Handarbeit“, gleichwohl 62 Diesbezüglich ist ein biographischer Interpretationsansatz hilfreich, denn schon als Kind wurde Max Weber eine Franklin-Biographie geschenkt: Guenther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, Tübingen 2001, S. 478. Zur Franklin-Deutung auch Alan Houston, Franklin, Weber and the Spirit of Capitalism, UCSD Political Theory Workshop, Jan. 2008 (http://polisci2.ucsd.edu/ptw/Current_ Schedule_&_Papers_files/Houston.pdf).

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aber die kritische Frage anzuschließen, „was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“.63 Der Text von Harald Bluhm/Katharina Bluhm behandelt ein breites Spektrum der Bürokratieproblematik in den Schriften Webers, die nicht etwa nur oder hauptsächlich als Reflex der zeitgenössischen preußisch-deutschen Staatsorganisation interpretiert werden kann. Dagegen sprechen Rückgriffe auf weit zurückliegende Epochen, die wesentliche Berücksichtigung von Bürokratisierungsprozessen auch in der Privatwirtschaft sowie z.B. in den Parteiorganisationen und das Ausgreifen vornehmlich auf die Befassung mit den beiden großflächigen Ländern USA und Russland als konkrete Studienobjekte. Die bei häufig anklingender Wertschätzung der rational-effektiven Organisationsform moderner Bürokratien vielleicht überraschend erscheinende Lesart eines „Dekadenzglaubens“, den Webers „tragische“ Soziologie mitprägte64, umfasst seine zukunftspessimistische Diagnose: dass die „ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion“ einen spezifischen „Lebensstil“ als „stahlhartes Gehäuse“ hervorbringen, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“.65 Die Ambivalenzen der nicht immer vernunftdurchwirkten Rationalisierungsprozesse gerade anhand der Bürokratisierungstendenzen der Hochmoderne zu thematisieren, hält den Abstand zu jenen recht eindimensionalen Modernisierungstheorien aus den 1960er und frühen 1970er Jahren, denen bestenfalls ein fachpositivistisch halbierter Weber ins Blickfeld kam.66 Ähnliches gilt für historisch-sozialwissenschaftliche Urbanisierungstheorien67 jener vielfach eher technokratisch imprägnierten, linear fortschrittsgläubigen Perioden, die ebenfalls selten zur Tiefenschärfe des vergleichsweise weniger beachteten Nachlasstextes „Die Stadt“ von Weber vorgedrungen sind. Der Überblick bei Uwe Prell ordnet die historisch weit ausholenden Betrachtungen Webers zur Stadt, die er u.a. mit einem qualitativen Kriterium der Mindestgröße (nicht mehr vorwiegend anzutreffender persönlicher Vertrautheitschance 63 Ders., Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909, in: Ders., Aufsätze zur Soziologie (wie Anm. 57), S. 412–416, hier S. 413 f. 64 So das Stichwort bei Stefan Breuer, Max Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven, Tübingen 2006. 65 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (wie Anm. 35), S. 17–206, hier S. 203. 66 Zur Kritik u.a. Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt 2007, S. 23–60. 67 Als Überblick dazu Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt 1985.

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der Bewohnerschaft) definiert, gleichermaßen in den Vergleich mit seinerzeit vertretenen Auffassungen und bis heute geführten Debatten ein.68 Zwar lässt sich bei Weber ein gewisser Vorrang des ökonomischen Stadtverständnisses aus Marktbeziehungen erkennen. Doch berücksichtigt er darüber hinaus außer Rechtsnormierungen auch politisch-herrschaftliche und kulturell-lebensweltliche Dimensionen der Stadtentwicklung. Gerade solche Multiperspektivität, und das gilt sicher nicht allein für die Urbanisierungsprozesse, macht die fortwirkende akademische Strahlkraft der häufig idealtypisch vorgehenden Theoriekonzeption Webers aus. Diese liefert dann aber, wohl auch wegen den vielfach fragmentarischen und jedenfalls unabgeschlossenen Charakters seiner Nachlasswerke, mehr noch Stichwortraster als fertige Interpretationen – und motiviert so zu komplexen Schaubildern der Begriffsbildung (vgl. hinten außer Prell auch Schluchter); diese regen jeweils zu weiteren Untersuchungen an.

6. Weggefährten: fachlich, politisch, familiär Zeitlebens stand Alfred Weber eher im Schatten des vier Jahre älteren Bruders Max; doch zu einer Gesamtausgabe (in zehn Bänden, Marburg 1997–2003) hat immerhin auch er – parallel zur Entstehung derjenigen seines Bruders – es schließlich noch gebracht. Für Alfred Weber galten auch die beiden weiteren Aspekte des hier zugrunde gelegten Verständnisses eines Weggefährten: Er war ebenso mit juristischer Ausbildung gleichermaßen nationalökonomisch und kultursoziologisch orientiert69 und politisch (sogar zunehmend links-)bürgerlich-antikonservativ eingestellt. Man wird ihn richtungspolitisch zwischen Max Weber und (beider Weggefährten) Friedrich Naumann einordnen können. Denn gleich Naumann bekannte sich Alfred Weber entschieden zu den „aufstrebenden Massen“ der Industriearbeiterschaft und einem Nachlasstext zufolge auch dazu, „mit aller Energie die Zahl der Sozialdemokraten vermehren zu helfen“; er teilte aber mit Bruder Max die Sorge, dass im „dadurch kommenden monopolistisch durchsetzten Industrialismus sehr wesentliche, vielleicht die wesentlichsten bisherigen Kulturideale untergehen“.70 Damit ist 68 Nach Manuskriptabschluss – und deshalb hier aufzunehmen – erschien Uwe Prell, Theorie der Stadt in der Moderne. Kreative Verdichtung, Opladen 2016 (M. Weber hat dort im Personenregister S. 294–297 die meisten Seitenverweise, noch vor der „Global Cities“-Theoretikerin S. Sassen). 69 Colin Loader, Alfred Weber and the Crisis of Culture 1890–1933, New York 2012. 70 Alfred Weber, Politische Gedanken (Anfang 1903), in: Ders., Politische Theorie und Tagespolitik (1903–1933), Hg. Eberhard Demm (Gesamtausgabe Bd. 7), Marburg 1999, S. 29–31, hier S. 30 f.

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auch das Spektrum der in seiner weitaus längeren Lebensspanne (bis 1958) vertretenen Überzeugungen markiert; denn Alfred Weber begann national-sozial, engagierte sich bürgerlich-demokratisch (erster DDP-Vorsitzender im Revolutionswinter 1918/19) und wurde nach 1945 Mitglied der SPD. Wie die vergleichenden Betrachtungen von Gangolf Hübinger anhand von Positionsbestimmungen vorwiegend aus dem späten Kaiserreich und der nachfolgenden frühen Republikzeit dies aufzeigen: Es gab trotz früher Einbeziehung der massengesellschaftlichen Realität des großindustriellen Zeitalters und der verwalteten Welt einen gemeinsamen elitendemokratischen Akzent der Weber-Brüder. Die Ansätze zu einer intensiveren „Fachmenschenfreundschaft“ entwickelte Max Weber jedoch mit dem Heidelberger Kollegen Ernst Troeltsch.71 Letzterer war als Theologe ein wichtiger Dialogpartner für Max Webers eigene Studien über Verbindungen des Protestantismus mit der (westlich-kapitalistischen) Moderne72 – und ist wohl ein Grund dafür, warum auch ersterer in (wohl überschätzter) Nähe zu spezifisch „kulturprotestantischen“ Milieuhintergründen und Fragehorizonten eingeordnet wurde.73 Als DDP-Spitzenkandidat zur Preußischen Landesversammlung 1919 und (bis 1921) Staatssekretär im preußischen Kultusministerium blieb Troeltsch am längsten in politischer Funktion tätig.74 Während ein Teil der neueren Max Weber-Literatur zu – notgedrungen auch eher fachfernen – Psychologisierungen der Hintergründe seiner jeweiligen wissenschaftlichen Interessen nicht immer genug Abstand hält, widmet sich der Beitrag von Monika Wienfort den Frauenbeziehungen in doppelt anderer Perspektive. So evident der Einfluss persönlicher Beziehungen zur Pianistin Mina Tobler für Webers Akzentuierung der Musik in den Analysen zum

71 Friedrich Wilhelm Graf, Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, Berlin 2014; auch schon ders., Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘, in: Mommsen/Schwentker (Hg.), Max Weber (wie Anm. 31), S. 313–336. 72 Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist’ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 73 Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. 74 Dass jedoch auch er kein inneres Verhältnis zu moderner Parteipolitik entwickelte, zeigt schon die Tatsache, zum Verdruss des (im Vollsinne Max Webers) Berufspolitikers Naumann sogar den Mitgliedsbeitrag schuldig zu bleiben; Beleg dazu bei Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, S. 303.

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okzidentalen Rationalismus sein mag75 und die frühen Kontakte zum „Evangelisch-sozialen Kongreß“ und damit seine ersten Begegnungen mit Friedrich Naumann über das sozialprotestantische Engagement im Familienzweig der Mutter Helene Weber vermittelt waren76: Nicht allein die wesentliche Bedeutung seiner Ehefrau Marianne für die Nachlasspflege in texteditorischer, diskussionskreisbezogener und biographischer Hinsicht rechtfertigt zum einen, auch ihre eigene Forschungsleistung vor allem mit dem knapp 600 Seiten-Werk zu „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ (Tübingen 1907) eigenständig zu behandeln.77 Zum anderen wurde trotz der vielzitierten „Gefährtenehe“ Max Webers Haltungen gegenüber Frauenemanzipation und Frauenbewegung bislang wenig Beachtung geschenkt. Das liegt zwar überwiegend auch daran, im sozialwissenschaftlichen Werk durchaus zeittypisch wenig zur Rolle der Frauen anzutreffen. Doch zeigt sich bei ergänzendem Rückgriff auf den nun in der monumentalen Gesamtausgabe umfassend zugänglich gemachten Briefnachlass78 immerhin seine Aufgeschlossenheit in Richtung der Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit von Frauen. Max Webers gewiss auch über die Kontaktkreise seiner Ehefrau, die von 1919 bis 1923 sogar zur Vorsitzenden im (überwiegend DDP-nahen) „Bund deutscher Frauenvereine“ avancierte, geförderte Offenheit für das Frauenstimmrecht verhinderte allerdings nicht, dass er gegenüber manchen anderen Forderungen aus und Erscheinungsformen in der Frauenbewegung skeptisch blieb. „Einziger Lichtblick: Naumann“79, so kommentierte Max Weber in einem Brief an Lujo Brentano am 6. Februar 1907 die vom konservativ-liberalen (Reichskanzler) Bülow-Block gewonnenen Reichstagswahlen des Vormonats mit der Ausnahme des Mandats für den langjährigen politisch-publizistischen Dialogpartner beider nationalökonomischen Gelehrten.80 Solche Zeugnisse eines situationsbezogenen und in der antikonservativen Orientierung auch 75 M. Rainer Lepsius, Mina Tobler, die Freundin Max Webers (2004), in: Ders., Max Weber und seine Kreise (wie Anm. 11), S. 210–231, hier S. 222 f. 76 Rita Aldenhoff, Max Weber und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Mommsen/ Schwentker (Hg.), Max Weber (wie Anm. 31), S. 285–295, hier S. 288 f. 77 Insbesondere das V. Kapitel „Das Eherecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches“ (S. 407–505) und damit indirekt auch die historischen Rückgriffe bis vor die Antike dürften ihren Anstoß von der Debatte um das 1900 in Kraft getretene BGB erhalten haben. 78 Insgesamt knapp 3500 Briefe: M. Rainer Lepsius, Die Max-Weber-Edition (2014), in: Ders., Max Weber und seine Kreise (wie Anm. 11), S. 275–287, hier S. 283. 79 Marianne Weber, Max Weber (wie Anm. 25), S. 405. 80 Detlef Lehnert, Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des modernen Sozialliberalismus, in: Ders. (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 111–134.

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grundsätzlicheren Nahverhältnisses können aber nicht über fundamentale Differenzen hinwegtäuschen. Gänzlich abweichend davon, was sich klischeehaft aus der Gegenüberstellung des (sonst eher mit optimistischen Menschen- und Zukunftsbildern verbundenen) Liberalismus in der Lesart Webers zum damaligen Christlichsozialen Naumanns ergeben ‚sollte’, grenzte sich der junge Gelehrte in der Zeitschrift „Christliche Welt“ vom noch als solcher tätigen Pfarrer 1894 ab: „Wir Bourgeois sehen in dem Besitz einen bevölkerungspolitischen Regulator, ein Mittel, das dem einzelnen die Verantwortlichkeit zuschiebt für die Kinder, die er in die Welt setzt ... Daß für Naumann das Problem nicht besteht, ist auch eine Konsequenz seines Glaubens an die unbegrenzte Zukunft des technischen Fortschritts. Auch diesen Glauben teilen wir nicht.“81 Damit hatte Weber frühzeitig erkannt, dass Naumann stets ein geradezu enthusiastischer Vertreter eines fundamentalen Progressismus gewesen ist, wie die Werkbetrachtung von Detlef Lehnert einen Generalnenner der Interpretation zu finden versucht. Webers ebenso grundlegende Skepsis als individualistisch geprägter „Bourgeois“ sah auch später in einem Entwicklungsvertrauen nicht zuletzt ersatzreligiöse Motive: „Der ‚Fortschritts‘-Gedanke stellt sich eben erst dann als notwendig ein, wenn das Bedürfnis entsteht, dem religiös entleerten Ablauf des Menschenschicksals einen diesseitigen und dennoch objektiven ‚Sinn‘ zu verleihen.“82 Für ihn selbst war dem „Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit“ nur durch individualisierbare Wertbezüge zu begegnen, als ein „Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt“.83 Indem Weber 1916, also schon im Jahr vor dem Kriegseintritt der USA und der russischen Februarrevolution, „unserer Verantwortung vor der Geschichte wegen“ verhindert sehen wollte, dass „es auf der Westhälfte unseres Planeten gar nichts mehr geben würde als die angelsächsische Konvention und die russische Bürokratie“, und ein deutsches „Volk von 70 Millionen zwischen solchen Welteroberungsmächten“ somit in der „Pflicht“ gestanden habe, „Machtstaat zu sein“84, lieferte er auch Deutungsmuster im Gefolge von Naumanns auflagenstärkstem und zugleich umstrittenen Buch „Mitteleuropa“ (1915). Ironischerweise hat ein kriegskreditgegnerischer sozialdemokratischer Marxist wie Karl Kautsky die abgelehnte Naumann-Vision als die „Vereinigten Staaten Mitteleuropas“85 81 Zit. nach: Wilhelm Spael, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber, St. Augustin 1985, S. 33. 82 Max Weber, Roscher und Knies (1903–06), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (wie Anm. 27), S. 1–145, hier S. 33/Anm. 2. 83 Weber, „Objektivität“ (wie Anm. 27/28), S. 213 f. 84 Max Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: Ders., Gesammelte Politische Schriften (wie Anm. 33), S. 157–177, hier S. 176. 85 Karl Kautsky, Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas, Stuttgart 1916.

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thematisiert – und so ein Stichwort dafür gegeben, wie der von ihm kritisierte österreichische Parteigenosse Karl Renner dann Naumann gewissermaßen als kerneuropäisch ansetzenden Inter-National-Sozialen lesen wollte.

7. Schlussbemerkungen Eine jüngst erschienene Sammlung von Aufsätzen und Artikeln, Vortrags- und Nachlasstexten des in Webers Jubiläumsjahr 2014 verstorbenen M. Rainer Lepsius bietet abschließend die Chance, die Rezeption durch eine interdisziplinär aufgeschlossene Soziologie86 exemplarisch zu resümieren. In Weber sieht Lepsius über einen „Gründervater der Soziologie“ hinaus auch „den Begründer einer soziologischen Kulturanalyse“87; er sei als sozusagen „Kulturologe“88 mit seiner besonderen Forschungskonzeption noch längst nicht ausgeschöpft, die Lepsius in einem programmatischen Nachlasstext „Kulturliberalismus, Kulturprotestantismus und Kulturfeminismus“ folgendermaßen konturiert: „An die Stelle von deduktiv entworfenen Kultursynthesen und induktiv verallgemeinerten Ereignisschilderungen stellte er eine kategorial fixierte Konstellationsanalyse von sozialen und kulturellen Gestaltungskräften, durch die die historische Entwicklung einerseits auf Ursachen zurechenbar gemacht, andererseits in ihrem Ergebnis empirisch offengelassen werden sollte.“89

Das auf Marianne Weber bezogene Stichwort eines „Kulturfeminismus“ soll besagen, dass es ihr „nicht in erster Linie um instrumentale feministische Ziele“ ging, sondern die Kernbotschaft lautete: „Man müsse das Frauenbild und die Frauenrolle neu definieren“ (S. 208). Max Webers „Kulturliberalismus“ erschien letztlich am unzweifelhaftesten, während er dem väterlichen Herkunftsmilieu nach zwar nationalliberal geprägt wurde, aber nur jenseits der Parteizurechnung ein betont „nationaler“ Liberaler blieb; erst recht ist er nie zum dezidierten Wirtschaftsliberalen geworden, wohl auch weil mütterlicher86 Zu fachhistorischen Bezügen Dieter Langewiesche, M. Rainer Lepsius und die Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 195–207. 87 M. Rainer Lepsius, Max Weber (1864–1920). Begründer der modernen Sozialwissenschaften (2007), in: Ders., Max Weber und seine Kreise (wie Anm. 11), S. 58–75, hier S. 73. 88 Ders., Max Webers soziologische Fragestellungen im biographischen und zeitgeschichtlichen Kontext (postum 2016), in: Ebd., S. 143–158, hier S. 154. 89 In: Ebd., S. 159–209, hier S. 187 (daraus auch die weiteren Seitenzahlen in Klammern).

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seits der familiäre Einfluss und die Zeitumstände (Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre) ihn trotz eigener „Bourgeois“-Identifikation zugleich im primären Sinne der Nationalintegration sozialpolitisch vordisponierten. Sogar Webers Verfassungsliberalismus kann fraglich sein, auch wenn Betrachtungen „Zum Begriff der ‚plebiszitären Führerdemokratie’“90 bei Weber vom politischen Biographen weniger auf das (im Todesjahr 1920 noch gänzlich ferne) Ende der Weimarer Republik, sondern auf des französischen Präsidenten de Gaulles – nicht der liberalen Tradition entspringendes – Modell der V. Republik bezogen werden.91 Die weithin unterschätzte Mitprägung durch einen Heidelberger Rechtspositivismus in der Nachfolge des 1911 verstorbenen Georg Jellinek, dann wesentlich profiliert durch Gerhard Anschütz und Richard Thoma92, ließ Weber das – für manchen Verfassungsliberalismus geradewegs konstitutive – emphatische Verständnis der „Menschenrechte“ sogar als „extrem rationalistische Fanatismen“ bezeichnen.93 Die allzu pauschale These: „Weber gehörte zu einer Minderheit des kulturprotestantischen Bürgertums, zu dem er sich selbst rechnete“94, gehört vielleicht selbst zum „Mythos von Heidelberg“ (S. 184), als der Max Weber auch wegen seiner hintergründigen Privatgelehrten-Existenz bereits zeitgenössisch stilisiert worden ist. Wohl galt sein Onkel Adolf Hausrath berechtigterweise als „ein Vertreter des sogenannten Kulturprotestantismus, dem es darum ging, Christentum und Kultur zu verbinden und der Entkirchlichung durch ein undogmatisches, weltoffenes Christentum zu begegnen“ (S. 179). Auch kann der theologische Kollege Troeltsch, seit 1910 sogar Etagenbewohner der schon erwähnten Villa in der Ziegelhäuser Landstraße, „ein führender Vertreter des sogenannten Kulturprotestantismus“ genannt werden (S. 196 f.) – selbst wenn dieser mit einem Berliner „Lehrstuhl für Philosophie“ seit 1915 die „Endphase des Kulturprotestantismus“ (S. 206) markiert habe. Zwar wird man den (in langer Distanzierung erst 1919 formell vollzogenen) Kirchenaustritt Alfred Webers95 nicht einfach mit dem häufig verkürzt zitierten Bekenntnis „religiös absolut 90 Wolfgang Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt 1974, S. 44–71. 91 Ders., Max Weber (wie Anm. 40), S. 438 f. 92 Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010. 93 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 58), S. 2. 94 Lepsius, Max Webers soziologische Fragestellungen (wie Anm. 88), S. 150. 95 Eberhard Demm, Alfred Weber und sein Bruder Max, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 35 (1983), S. 1–28, hier S. 2; Kaesler, Max Weber (wie Anm. 1), S. 718.

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‚unmusikalisch’“ von Bruder Max gleichsetzen dürfen, zumal er den Zusatz „weder antireligiös noch irreligiös“ machte.96 Doch erklärte Max Weber es zum „Opfer des Intellektes“, wenn akademisch Gebildete den Weg zu „den alten Kirchen zurück“ fanden; allerdings wollte er dieser anderen Wertentscheidung den Respekt nicht versagen: „Denn ein solches Opfer des Intellekts zugunsten einer bedingungslosen religiösen Hingabe ist sittlich immerhin doch etwas anderes als jene Umgehung der schlichten intellektuellen Rechtschaffenheit, die eintritt, wenn man sich selbst nicht klar zu werden den Mut hat über die eigene letzte Stellungnahme“.97 Wenn unter Verweis auf unterschiedliche Einordnungen in der Literatur auf die Frage zugespitzt wird: „Max Weber – ein Kulturprotestant?“98, so ist die Antwort maßgebend vom jeweiligen Begriffsverständnis abhängig. Was Troeltsch in erweiterter Fassung eines Vortrags auf dem Historikertag im April 1906, also kurz nach Erscheinen der Erstversion von Webers Studien zum Protestantismus, anscheinend in ähnlicher Weise herausarbeitete99, zeigte nach dem Urteil seines Heidelberger Kollegen doch eine andere Profilierung. Denn in der Perspektive Webers kam es Troeltsch „dabei mehr auf die Lehre, mir mehr auf die praktische Wirkung der Religion an“.100 Nur wenn auch ein zu modernen Kulturauffassungen säkularisiertes protestantisches Erbe noch unter einen dermaßen weit definierten „Kulturprotestantismus“ subsumiert wird, bleibt solche Zuordnung Webers plausibel. Vielleicht ist es zusätzlich interpretationsanregend, sich mit dem Hinweis von Lepsius und teilweise entgegen seiner Deutung zu vergegenwärtigen, wie hoch unter den Schülern Webers der Anteil der seit 1933 von NS-Repressionen betroffenen Gelehrten jüdischer Herkunft gewesen ist (S. 194). Das galt, wie insoweit nach der Regime-Ideologie zu erwarten, auch für den ausführlicher erwähnten Weber-Interpreten Albert Salomon. Zumal sich also bei näherer Prüfung die Zugehörigkeit von Max Weber zum Kulturprotestantismus als fraglich erweist, kann nicht allzu viel mit Herangehensweisen erschlossen werden, seine akademisch-politische „Konfession“ zum Ausgangspunkt der gesamten Werkinterpretation nehmen zu wollen. Im Sinne einer stärker wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise wird man künftig auch die juristische 96 Max Weber an Ferdinand Tönnies 19.2.1909, in: MWG, Abt. II/Bd. 6: Briefe 1909– 1910, Hg. M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1994, S. 63–66, hier S. 65. 97 Weber, Wissenschaft als Beruf (wie Anm. 27), S. 612 f. 98 Silke Schmitt, Max Webers Verständnis des Katholizismus. Eine werkbiographische Analyse nebst einem Exkurs über Max Webers Romaufenthalte, Rom 2012, S. 78. 99 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München 1911. 100 Weber, Protestantische Ethik (wie Anm. 65), S. 18.

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Ausbildung Max Webers und sein juristisches Umfeld in Heidelberg intensiver einbeziehen müssen, als dies gemeinhin und auch in diesem – mehrere andere Fachdisziplinen zusammenführenden – Band der Fall ist.101

101 Eine Ausnahme bildet das allerdings ebenso weit gefächerte Werk Georg Jellineks, wenn es auch im Verhältnis zu Max Weber von ideengeschichtlicher und nicht juristischer Seite aus behandelt wurde: Stefan Breuer, Georg Jellinek und Max Weber. Von der sozialen zur soziologischen Staatslehre, Baden-Baden 1999; Andreas Anter, Max Weber und Georg Jellinek. Wissenschaftliche Beziehung, Affinitäten und Divergenzen, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 67–86; Peter Ghosh, Max Weber und Georg Jellinek: Two Divergent Conceptions of Law, in: Saeculum 59 (2008), S. 299–347. Der 2017 dann im Berliner Metropol Verlag nachfolgende Band 11 dieser Reihe wird Fragen der Staats- und Verfassungslehre unter wesentlicher juristischer Beteiligung gewidmet sein – zwar ohne nochmals Max Weber ins Zentrum der Betrachtungen zu rücken, aber Bezugnahmen auf ihn bei anderen behandelten Autoren nach Möglichkeit berücksichtigend.

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Nation bei Max Weber: soziologische Kategorie und politisches Bekenntnis Zum Verstummen des Soziologen als homo politicus vor seinem Wertgott*

1. Zweiteilung der Weber-Forschung zum Thema Nation: theoretisch versus historisch-biographisch Die Weber-Forschung zeigt sich in dem Themenfeld Nation – Nationalismus – Nationalstaat strikt zweigeteilt: theoretisch versus historisch-biographisch. Die Biographie muss offensichtlich nicht betrachten, wer Max Webers Weg von der Nationalökonomie zur verstehenden Soziologie theoriegeschichtlich verfolgt. Denn für die Theorie Webers gilt das Biographische als irrelevant, bestenfalls peripher. Als Beispiele seien zwei hier herausragende Namen genannt: Reinhard Bendix und Wolfgang Schluchter. In Bendix’ intellektuellem Portrait Max Webers als Soziologen ist das Thema Nation ganz nebensächlich.1 Schluchters Werk „Grundlegungen der Soziologie“ enthält das Wort nicht einmal im Register. In seinen beiden Bänden „Religion und Lebensführung“, die Webers Religions- und Herrschaftssoziologie gewidmet sind, wird die Fixierung des jungen Weber auf die Nation als politischer Wertmaßstab erwähnt, dann aber als theoretisch unergiebig beiseite gelassen. Als „Sohn einer nationalistisch und imperialistisch geprägten Zeit“ habe Webers „normative Ethik“ sich auf die „Sicherung der Existenz der deutschen Nation“ bezogen. Die heutige „Verantwortung vor der Geschichte“, so Schluchter, ist anderer Art.2 Um diese Deutungslinie der Theoretiker in der Weber-Forschung * Dr. Edith Hanke (Redaktion der Max Weber-Gesamtausgabe) hat für mich alle Briefbände, auch die in Vorbereitung, auf das Themenfeld Nation elektronisch durchsucht. Danke! 1 Reinhard Bendix, Max Weber. An Intellectual Portrait, New York 1960. Das Register nennt vier Einträge zu Nation und Nationalstaat. Auch im späteren Werk von Bendix bleibt das Themenfeld Nation marginal. 2 Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Religionsund Herrschaftssoziologie. 2 Bde., Frankfurt 1988, Zitate Bd. 1, S. 335; ders., Grund-

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scharf zuzuspitzen: Webers Nationalismus ist ein Thema für Historiker des Kaiserreichs, nicht für die Theoriegeschichte der Soziologie. Die Autoren historisch-biographischer Studien sehen das nicht so. Im Nationalismus meinen sie, eine Konstante im Denken Webers zu erfassen; und dies nicht nur im politischen Denken – das bestreitet niemand – sondern auch im wissenschaftlichen. In der Grundlinie bleibe sein Nationalismus trotz aller Änderungen im einzelnen konstant und bedeutsam für seine Soziologie, die „Prozesse der Interaktion von Individuen, sozialen Handlungsstrukturierungen und Sinngebung“3 analysiert. Der maßgebende Autor in der historisch-biographischen Deutungslinie mit dem Anspruch, auch zur Theoriegeschichte gewichtiges zu sagen, ist Wolfgang J. Mommsen mit seiner fulminanten Dissertation von 1959. Damals löste sie bekanntlich eine heftige Kontroverse aus.4 Seine Deutung Webers als eines Nationalisten mit „Augenmaß“5, trotz seiner leidenschaftlichen Interventionen in die Politik, ist im Urteilsspektrum aufgefächert worden, aber wirklich Neues ist in dem halben Jahrhundert seit Mommsens Erstling nicht zu erkennen; jedenfalls nicht bei den empirisch gesicherten Deutungen.6 Die Charakterisierungen Webers oszillieren zwischen kosmopolitischer Nationalist, so Guenther Roth, und nach Innen gerichteter Reformnationalist, zwischen politischer und ökonomischer Nationalist, „national anti-nationalist“ und Literaten-Nationalist.7 In das Wort Literat hatte Weber selbst all seine politische Verachtung gelegt (dazu weiter unten).

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legungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht. 2 Bde., Tübingen 2006/07, S. 225 (Begriff in Synopse zu Webers Dispositionen für „Wirtschaft und Gesellschaft“). Ansonsten gibt es nur Nationalökonomie als Bezeichnung für das Fach. So die konzise Definition von M. Rainer Lepsius, Max Weber (1864–1920). Begründer der modernen Sozialwissenschaften, in: Ders., Max Weber und seine Kreise. Essays, Tübingen 2016, S. 58–75, hier S. 63. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 1974 (1. Aufl. 1959). Hier kommentiert er im Anhang die Kritik. Mommsen, Weber und deutsche Politik, S. 67; ebenso, aber ohne Hinweis auf Mommsen: Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996, S. 202 („ein deutscher Patriot – von mir aus ‚Nationalist’ – aber doch einer mit Augenmaß!“). Von ihnen grenze ich Radkaus Spekulation über die Wirkung der Kriegsniederlage ab. „Als der imaginäre Kollektivkörper der Nation durch die Niederlage und Versailles gleichsam kastriert wird, gelangt Weber dahin, seine eigene Körperlichkeit auf eine Art, die ihn überwältigt, lustvoll zu erfahren.“ Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2013, S. 722. Guenther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950 mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001; „national anti-nationalist“: Kari Palonen,

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Als eine erste Bilanz ist festzuhalten: In den historisch-biographischen Studien gilt es als selbstverständlich, dass die wissenschaftlichen und die politischen Schriften und Reden Webers als gleichrangig betrachtet werden, in der Theorielinie ist die Wertschätzung der politischen Arbeiten unterschiedlich. Doch wer nach Webers Nationsverständnis fragt, kann auf sie nicht verzichten, denn seine politischen Schriften bieten die meisten Informationen dazu. In dieser Studie wird das Gesamtwerk befragt, doch im Unterschied zur gesamten bisherigen Forschung werden die wissenschaftlichen und die politischen Schriften getrennt betrachtet. Warum? Nation ist für Weber ein Wertbegriff, und deshalb sei es oft nur eine „haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet“8. Gleichwohl gilt es, auch in den Äußerungen über Nation „praktisch-politische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse“ klar zu trennen.9 Diese Forderung Webers wird auf seine eigenen Studien angewendet, indem alle Texte, in denen er sich zu Nation äußert, danach unterschieden werden, ob sie einen politischen Handlungsappell enthalten oder nicht. Enthalten sie keinen, werden sie den wissenschaftlichen Texten zugeordnet, ansonsten den politischen. Mit einem weiteren Politikbegriff würde sich eine andere Zuordnung der Texte ergeben. Der hier verwendete engere Begriff entspricht Webers

Was Max Weber a ‚Nationalist’? A Study in the Rhetoric of Conceptual Change, in: Max Weber Studies 1 (2001) S. 196–213; Literaten-Nationalismus: Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014, S. 351; Bernd Estel, Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion, Opladen 2002, S. 346. Vgl. Zenonas Norkus, Max Weber on Nations and Nationalism: Political Economy before Political Sociology, in: Canadian Journal of Sociology 29,3 (2004) S. 389–418. In lange geistesgeschichtliche Linien ordnet Webers Nationsvorstellung ein Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994: „Kein Charisma der Nation …, wohl aber ein Charisma des Krieges“ (S. 141). Siegfried Weichlein, Max Weber, der moderne Staat und die Nation, in: Andreas Anter/Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, Baden-Baden 2007, S. 103–116; Karl-Ludwig Ay, Max Webers Nationenbegriff, in: Uta Gerhard (Hg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft, Stuttgart 2003, S. 80–103; ders., The Meaning of Honour in Weber’s Concept of Nation, in: Max Weber Studies 4,2 (2004), S. 221–233. Immer noch eine der besten Studien zum Thema Nation (mit Weber-Analysen), wenngleich heute wenig beachtet: Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931. 8 Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hg. Johannes Winckelmann (GAWL), 7. Aufl. Tübingen 1988, S. 146–214, hier S. 212. 9 Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, Hg. Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, Tübingen 1992 (MWG I/17), S. 14.

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eigener Unterscheidung zwischen Stellungnahme und Analyse und auch seinem Plädoyer, Nation auf Staat und Staatsbildung zu beziehen. Die Analyse erfolgt in drei Schritten. Im ersten werden die wissenschaftlichen, im zweiten die politischen Texte betrachtet. In beiden Bereichen geht es nicht darum, Webers Nationsverständnis detailliert zu erfassen. Das ist hinreichend geschehen10, und hier ist Weber auch nicht originell im Umfeld seiner Zeit. Die Analyse zielt darauf, jeweils zu bestimmen, welcher Status dem Begriff Nation in Webers soziologischer Theorie und in seinen politischen Stellungnahmen zukommt. Nur so lässt sich angemessen einschätzen, ob überhaupt und, falls ja, wie das Begriffsfeld Nation seine soziologische Theorie mit seinem politischen Denken verbindet. Auf dieser Grundlage wird dann abschließend im dritten Schritt gefragt, ob man Nationalismus als „politische Konfession“ Max Webers bezeichnen kann und was dieser Begriff im Kontext seines wissenschaftlichen und seines politischen Denkens bedeutet.

2. Das Begriffsfeld Nation in den wissenschaftlichen Schriften Im Zentrum stehen drei kurze Texte aus „Wirtschaft und Gesellschaft“11 und die Debatten auf dem zweiten deutschen Soziologentag 1912 in Berlin12. Diese und einige weitere Texte, die zu betrachten sind, stammen alle aus der zweiten und dritten Schaffensphase – es wird Schluchters Gliederung übernommen –, in der Weber seine Begrifflichkeit geklärt und seine Form einer verstehenden Soziologie als Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie entfaltet hat.13 Die wissenschaftlichen Schriften aus der ersten Phase bis zu seiner Krankheit, vornehmlich Texte zur Ökonomie, werden hier zunächst beiseite gelassen. Sie sind noch ohne Arbeit am Begriff Nation, der – gemessen an Webers späterer Begriffsarbeit – noch vor-theoretisch verwendet wird. Zudem vermengen sich 10 Vgl. die Literatur, die in den Anm. 4 bis 7 genannt wird. 11 Entstanden zwischen 1910 und 1912. Kapitel „Ethnische“ und „Politische Gemeinschaften“ sowie das unvollendet gebliebene Kapitel „Machtprestige und Nationalgefühl“, in: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 1: Gemeinschaften, Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 2001 (MWG I/22-1), S. 168–190, 204–215 u. 222–247. 12 Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20. bis 22. Oktober in Berlin. Reden und Vorträge von Alfred Weber, Paul Barth, Ferdinand Schmid, Ludo Moritz Hartmann, Franz Oppenheimer, Robert Michels und Debatten, Tübingen 1913; Max Webers Debattenbeiträge auch in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Hg. Marianne Weber, 2. Aufl. Tübingen 1988 (GASS). 13 Schluchter, Grundlegungen der Soziologie 1 (wie Anm. 2), v.a. S. 210 ff.

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in ihnen wissenschaftliche Analyse und politische Stellungnahme. Es geht ja zunächst darum, die theoretische Position des Begriffsfeldes Nation in der voll entwickelten Soziologie Max Webers zu bestimmen und nicht die Genese seines Nationsverständnisses zu ermitteln. Als erstes ist festzuhalten: In den wissenschaftlichen Schriften bleibt Max Webers Arbeit am Begriff Nation unabgeschlossen, und in seiner „Begriffsstenographie“14, wie er die Aufgabe umschreibt, Idealtypen zu entwickeln, nimmt Nation keinen hohen Rang ein. Die „soziologische Kasuistik“, die erforderlich wäre, um den „empirisch gänzlich vieldeutigen Wertbegriff ‚Idee der Nation‘“ in „alle einzelnen Arten von Gemeinsamkeits- und Solidaritäts-Empfindungen in ihren Entstehungsbedingungen und ihren Konsequenzen für das Gemeinschaftshandeln der Beteiligten“15 aufzufächern, hat Weber nicht entwickelt, einen Idealtypus Nation nicht definiert. Es lassen sich jedoch Begriffsannäherungen feststellen. Dreierlei steht dabei im Mittelpunkt: (1) Nation zielt auf den eigenen Staat; (2) Nation ergibt sich nicht aus gemeinsamen Merkmalen ihrer Mitglieder; (3) aus nationaler Zugehörigkeit folgt kein spezifisches Verhalten. „Nicht nur die Gründe, auf welche der Glaube, eine eigene ‚Nation‘ darzustellen, gestützt wird, sondern auch dasjenige empirische Verhalten, welches aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur ‚Nation‘ in der Realität folgt, ist qualitativ höchst verschieden.“16 Nur in dem, was nicht zur Definition von Nation gehört oder nicht ausreicht, legt sich Weber fest. „,Nation‘ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann.“17 So hatte er auch 1912 auf dem Soziologentag argumentiert: Nation ist keine Abstammungs- und keine Kulturgemeinschaft. Damit votierte er scharf gegen alle Versuche, Rasse in die Definition von Nation einzubeziehen18, doch er verwarf auch jede andere Definition, die nicht auf den Willen zum Staat ausgerichtet ist. So bezog Max Weber im Kontext seiner Zeit eine klare Position, ohne seine Kontrahenten zu benennen. Wovon grenzte er sich ab, mit wem stimmte er überein? Dazu einige Hinweise: Nation zunächst negativ zu bestimmen, war durchaus üblich. Georg Jellinek, mit dem Weber in engerem Kontakt stand und dessen Publikationen er intensiv zur Kennt14 15 16 17 18

„Objektivität“ (wie Anm. 8), S. 195. MWG I/22-1, S. 246. Ebd., S. 245. Ebd., S. 241. Hans-Walter Schmuhl, Max Weber und das Rassenproblem, in: Was ist Gesellschaftsgeschichte. Hg. Manfred Hettling u.a., München 1991, S. 331–342; Karl-Ludwig Ay, Max Weber und der Begriff der Rasse, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 1 (1993), S. 189–218.

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nis nahm, ist in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ auch so verfahren. Es gebe „kein feststehendes, für alle Nationen passendes Merkmal“19 und auch keine für eine Begriffsdefinition hinreichenden Merkmalskombinationen. Nation sei „nichts Objektives“, sondern „etwas wesentlich Subjektives“ (S. 119), sie ist „dynamischer Natur“; je höher die „Kultur eines Volkes“ umso entwickelter die Nation, und es bedarf eines „Nationalgefühls“, das aus dem „Gegensatz gegen andere Nationen“ entstehe (S. 120). Dieses Nationalgefühl bestimmte Jellinek als situations- und raumbezogen. Außerhalb Europas fühle man sich, sofern nicht Interessen des eigenen „Heimatstaates“ betroffen sind, „nicht als Deutscher, Franzose, Italiener usw., sondern als Europäer oder, den Farbigen gegenüber, als Weißer“ (S. 121). Nationen sind, so definierte Jellinek, „nicht natürliche, sondern geschichtlich-soziale Bildungen“ (S. 117). Sie zu fassen, gehöre zu „den schwierigsten wissenschaftlichen Aufgaben“ (S. 117 f.). Er bevorzugte das Ausschlussverfahren, wie Max Weber. Folgende Merkmale reichen nach beider Einschätzung nicht aus, weder allein noch in Kombination miteinander, Nation zu definieren: (1) Ethnische Gemeinschaft. Für Weber könnte sie ohnehin kein taugliches Kriterium bieten, weil Gemeinschaftshandeln ethnischer Gruppen, d. h. bedingt durch „den Glauben an Blutsverwandtschaft“, notorisch unbestimmt sei. Deshalb scheiden auch Begriffe wie „Völkerschaft“, „Stamm“ oder „Volk“ aus, Nation zu definieren20, „Rasse“ ohnehin. Weber erläuterte auf dem Soziologentag 1912 zum Vortrag von Barth: „Jeder Yankee nimmt den zivilisierten Viertels- oder Achtelsindianer als Nationalitätsgenossen an“, nicht aber den „Neger“, „und zwar gerade dann, wenn dieser die gleichen Lebensformen annimmt und damit die gleichen sozialen Prätentionen erhebt“. Diese „Abstoßung“ sei ausschließlich „sozialen Charakters“.21 (2) Alle Kulturmerkmale wie Religion, Sprache, gemeinsame Sitten, selbst wenn daraus die „Gemeinsamkeit eines spezifischen anthropologischen Typs“ hervorgegangen ist.22 19 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Berlin 1914, S. 118 (folgende Zitate im Text nachgewiesen). Zur Bedeutung Jellineks für Weber s. Stefan Breuer, Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 294–325 (unter dem, was Weber von Jellinek übernommen habe, nennt Breuer nicht die Definition von Nation) und die Einleitung von Hübinger: Max Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). Unvollendet. Mit- und Nachschriften 1920, Hg. Gangolf Hübinger, Tübingen 2009 (MWG III/7). 20 MWG I/22-1, S. 181; alle Ausführungen Jellineks zu Nation: Allgemeine Staatslehre, S. 116–125. 21 GASS, S. 484. 22 MWG I/22-1, S. 243, 186, 189 u. 241; GASS, S. 484–487 (Debatte Soziologentag).

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(3) Nicht einmal die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Staat konstituiere notwendigerweise eine Nation. Sie sei nicht identisch mit „Staatsvolk“.23 Doch es sei der Staat, und nur er, der die Nation ermögliche. Jellinek verweist hier auf Teilhabe an staatlicher Herrschaft24, während Weber auf das „Pathos des Macht-Prestiges“25 und die „gefühlsmäßige Gemeinschaft“26 abhebt, wenn er die „Wertsphäre“27 Nation bemisst: „Immer wieder finden wir uns bei dem Begriff ‚Nation’ auf die Beziehung zur politischen ‚Macht‘ hingewiesen, und offenbar ist also ‚national’ – wenn überhaupt etwas Einheitliches – dann eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer durch Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtorganisation verbindet, und zwar je mehr der Nachdruck auf ‚Macht‘ gelegt wird, desto spezifischer.“28

Für Weber gilt mithin: (1) ein „Gemeinschaftsgefühl“ wird erst dann „national“, wenn es auf Macht ausgerichtet ist, und (2) eine „Gemeinschaft“ bildet nur dann eine „Nation“, wenn sie als „politische Machtorganisation“ handelt. In der Neuzeit bedeutet dies, sie muss als „Staat“ organisiert sein. Aus Webers Argumentation ließe sich somit Nation idealtypisch folgendermaßen definieren: „Nation“ ist eine Machtidee, die handlungsrelevant wird, wenn sie als „Staat“ institutionalisiert ist oder diese Institutionalisierung anstrebt. Diese Definition mag eindeutig anmuten, doch sie bleibt innerhalb seiner Soziologie von komplexer Offenheit. Denn Weber bezieht mit „Nation“ und „Staat“ zwei Phänomene aufeinander, die er beide nicht systematisch definiert. In seiner grundlegenden Studie „Max Webers Theorie des modernen Staates“ kommt Andreas Anter zu der Feststellung, Weber habe „unter den wichtigen Gegen23 MWG I/22-1, S. 241; Jellinek, Staatslehre, S. 119. 24 Jellinek, Staatslehre, S. 119: „Der Staat ist ebenfalls kein notwendiges Element der Nation, da nicht alle Nationen staatlich geeint sind und mehrere Nationen oder Teile von Nationen in einem Staate leben können. Andererseits hat gemeinsame staatliche Beherrschung auf Grund räumlicher Gemeinschaft in höchstem Grade zur Ausbildung der Nationen beigetragen.“ 25 MWG I/22-1, S. 240. 26 GASS, S. 484: „Soweit hinter dem offenkundig vieldeutigen Wort überhaupt eine gemeinsame Sache steckt, liegt sie offenbar auf politischem Gebiet. Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur etwa so definieren: sie ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben.“ 27 MWG I/22-1, S. 241. 28 Ebd., S. 190.

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ständen seines Werkes gerade den Staat wohl am wenigsten systematisch erfaßt“.29 Dies gilt stärker noch für Nation. Sie gehört allerdings im Gegensatz zum Staat nicht zu den Phänomenen, denen Weber in den wissenschaftlichen Schriften aus der Zeit seiner voll entwickelten Soziologie einen gewichtigen Ort einräumt. Nation zum Begriff zu verdichten, hielt er für möglich, doch er hat es nicht getan.30 Weber wollte also, das wird man daraus schließen dürfen, in seiner Soziologie dem Begriff Nation keinen theoretischen Status von Bedeutung zumessen. Warum erhebt Max Weber das Wort Nation, das in seinem gesamten Werk allgegenwärtig ist und in seinen politischen Schriften auf Deutschland bezogen seine eigene oberste Wertidee bezeichnet, warum erhebt er dieses Wort nicht zum theoretisch geklärten Begriff? Dazu zwei Thesen – er hat diese Frage selber nicht an sich und sein Werk gerichtet: (1) Es kann nicht daran liegen, dass Nation zur Wertsphäre gehört. Nation als Leitidee für das eigene politische Leben zu wählen, wie es Weber tat, ist eine Wertentscheidung. Sie kann wissenschaftlich nicht begründet werden. Doch warum unter spezifischen Bedingungen Gemeinschaften anderer Art, etwa religiös oder sprachlich oder durch Abstammungsglauben verbundene Gemeinschaften, zu nationalen werden, welche Konsequenzen dies für die Formen von Staatsbildung und Staatszerstörung hat oder was es für die Willensbildungsprozesse, die staatlichem Handeln zugrunde liegen, bedeutet, wenn aus einem Staat ein Nationalstaat wird – all das ist wissenschaftlicher Analyse zugänglich. Wenn Weber solche Prozesse nicht unter dem Gesichtspunkt Nation betrachtet, so muss das nicht als „Folge eines politisch-historischen Risses in seinem Denken“ gedeutet werden, wie es jüngst Siegfried Weichlein getan hat.31 Webers wissenschaftliches Werk legt vielmehr diese These nahe: Max Weber erhebt Nation nicht zu einem soziologischen Grundbegriff, weil er überzeugt ist, dass er sich

29 Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin 1995, S. 232. Anters Deutung gilt jedoch nicht mehr für die letzten Lebensjahre Webers, wie Hübinger in seiner Einleitung zu Webers staatssoziologischen Vorlesungen von 1920 darlegt (MWG III/7). Hübinger zeigt auch detailliert, wie Weber in Auseinandersetzung mit Jellinek und Robert Michels seine Staatstheorie verändert und entwickelt hat und welche Rolle dabei seine Artikel aus der Kriegszeit spielen. Diese Arbeiten an einer Staatssoziologie hat Weber jedoch nicht mehr zu einer systematischen Abhandlung ausarbeiten können. Insofern dürfte Anters Deutung weiterhin gültig sein. 30 S. das Weber-Zitat in Anm. 26. 31 Weichlein (wie Anm. 7), S. 113.

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bei „exakter Begriffsbildung“ ebenso wie der Begriff ethnische Gemeinschaft ‚verflüchtigt‘.32 (Verflüchtigen ist Webers eigenes Wortbild.) Für die Analyse konkreter Handlungszusammenhänge wäre, so Weber, die Kategorie Nation zu unbestimmt, um ihr Handlungsorientierungen und das Handeln von Individuen kausal zurechnen zu können. Und erst recht würden sich in Webers Sicht die historisch-empirisch nachweisbaren Vorstellungen von Nation wegen ihrer Heterogenität nicht zu einem idealtypischen Begriff verdichten lassen, mit der einen, bereits genannten Ausnahme: Wenn der Begriff Nation ausgerichtet wird auf den Staat. Auf dem Berliner Soziologentag führte Weber in der Debatte dazu aus: „Der Sinn von ‚Nation’ und ‚national’ ist absolut nicht eindeutig. Wir können ihn nicht finden von der Seite der gemeinsamen Qualität her, welche die Gemeinschaft erzeugt, sondern nur von der Seite des Zieles her, nach dem etwas drängt, was wir unter dem Sammelnamen Nationalität bezeichnen: Dem selbständigen Staatswesen.“33 Der Begriff Nation würde also nur das Ziel erfassen, das erreicht oder verteidigt werden soll, nicht aber, wer hier handelt und mit welchen Interessen. Deshalb wäre derjenige Nationsbegriff, den Weber allein für möglich hält, für eine handlungstheoretisch orientierte Soziologie nicht nützlich. Er würde dem „Staat“ als „Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen“34 nur ein weiteres Element hinzufügen, das aufgelöst werden müsste, um analytisch brauchbar zu sein, weil sonst die heterogenen Interessen und Akteure nicht sichtbar würden. Ein Begriff von Nation als „gedachte Ordnung“, wie ihn Emerich Francis formuliert und Rainer Lepsius theoretisch weiterentwickelt und für empirische Analysen fruchtbar gemacht hat, lässt sich mithin aus Max Webers wissenschaftlichen Schriften nicht ableiten.35 (2) Seit etwa 1910 weitet Max Weber seine Interessen universalhistorisch.36 Nation jedoch ist in Webers Sicht kein Begriff, der sich universalgeschichtlich verwenden ließe. „Die Eigenart der asiatischen Intellektuellenschichten hat 32 MWG I/22-1, S. 185: „Der bei exakter Begriffsbildung sich verflüchtigende Begriff der ‚ethnischen‘ Gemeinschaft entspricht nun in dieser Hinsicht bis zu einem gewissen Grade einem der mit pathetischen Empfindungen für uns am meisten beschwerten Begriffe: demjenigen der ‚Nation‘, sobald wir ihn soziologisch zu fassen suchen.“ 33 GASS, S. 487. 34 GASS, S. 211 (Objektivitätsaufsatz). 35 Emerich Francis, Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens, München 1957, S. 100–117; M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232 ff. 36 Schluchter, Grundlegungen 1 (wie Anm. 2), S. 290 f.; vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Webers Begriff der Universalgeschichte, in: Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber als Historiker, Göttingen 1986, S. 51–72.

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im wesentlichen verhindert, daß nationale politische Gebilde“ vergleichbar mit denen in Europa seit dem Spätmittelalter entstehen konnten, wenngleich „die volle Konzeption der Idee der Nation auch bei uns erst von den modernen occidentalen Intellektuellenschichten entfaltet“ worden ist.37 Die mangelnde universalhistorische Eignung, die Weber annimmt, wird noch verstärkt, wenn Nation begrifflich auf Staat ausgerichtet wird, wie er vorschlägt. Im Staat, der sich als Nationalstaat versteht, würden die Begriffe Nation und Nationalstaat ineinander aufgehen. „In der Tat ist heute ‚Nationalstaat‘ mit ‚Staat‘ auf der Basis der Spracheinheitlichkeit begrifflich identisch geworden.“38 Auch deshalb sind für den universalhistorisch interessierten Soziologen die Begriffe Nation und Nationalstaat theoretisch unergiebig. Das dürfte auch der Grund sein, warum Wolfgang J. Mommsen in seinem wichtigen Aufsatz „Max Webers Begriff der Universalgeschichte“ gänzlich ohne die Worte Nation und Nationalstaat auskommt.39 Meine zweite These lautet deshalb: Max Weber arbeitet Nation/ Nationalismus nicht zu Begriffen aus, weil sie universalhistorisch in seiner Sicht keine tragfähigen Konzepte bereitstellen. Dieses universalhistorische Defizit, das er für die historischen Phänomene Nation und Nationalstaat annimmt – ein Teil der heutigen Forschung ist anderer Ansicht40 –, könnte auch der Grund sein, warum er nicht danach fragt, ob die Nationalisierung des Staates darauf angelegt ist, diesen in seiner Legitimitätsgrundlage zu verändern. Auf dem Berliner Soziologentag von 1912 hatten zwei Referenten, Paul Barth und Robert Michels, diesen Aspekt angesprochen. Barth 37 Max Weber, Die Wissenschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 1916–1920, Hg. Helwig Schmidt-Glintzer, Tübingen 1996, S. 541 (MWG I/20). 38 MWG I/22-1, S. 186. 39 Mommsen, Universalgeschichte (wie Anm. 36). Das Wort Nationalstaat verwendet Max Weber selten. Die CDROM „Max Weber. Das Werk“ (heptagon, Berlin 2000) zeigt nur 6 Nachweise, davon 4 in seiner Freiburger Antrittsvorlesung. Vermutlich kämen weitere Stellen hinzu, die Nationalstaat umschreiben, doch zahlreich dürften sie nicht sein. So weist MWG I/22-1, der Band mit den ausführlichsten Passagen zum Themenfeld Nation in den wissenschaftlichen Texten, im Sachregister nur eine Textstelle nach. – Der Begriff Nationalstaat in Webers wissenschaftlichen Schriften bedürfte einer eigenen Studie, denn er schreibt dieser Staatsform eine zentrale Bedeutung für den Kapitalismus zu: „Der geschlossene nationale Staat also ist es, der dem Kapitalismus die Chancen des Fortbestehens gewährleistet; solange er nicht einem Weltreich Platz macht, wird also auch der Kapitalismus dauern.“ (MWG III/6, S. 369) Knapp und doch vergleichend zur Bedeutung von Webers Kapitalismusanalyse: Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013, S. 12–15. 40 Vgl. etwa Azar Gat/Alexander Yakobson, Nations. The Long History and Deep Roots of Political Ethnicity and Nationalism, Cambridge 2013; Anthony D. Smith, Chosen Peoples. Sacred Sources of National Identity, Oxford 2003.

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rechnete dem Volk einen „gemeinsamen Willen“ zu, der „im nationalen Staat erscheint“41, und Michels wollte im „Nationalitätenprinzip … eine Erweiterung des Prinzips der Menschenrechte“ erkennen42. Ferdinand Tönnies entnahm den Referaten und Diskussionen jedoch eine konträre Einsicht: die Nation, „ein spezifisch moderner Begriff“, sei ein „Gedanke der obern, führenden Schichten, von denen er dem ‚Volk‘ erst aufoktroyiert“ werde.43 Das dürften Barth und Michels nicht gemeint haben. Sie verbanden mit Nationalisierung eine demokratisierende Wirkung wie auch Ernest Renan, der auf dem Soziologentag erwähnt wurde und den auch Jellinek in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ zitiert. In Max Webers Werk findet sich hingegen keine einzige Erwähnung des berühmten Religionswissenschaftlers, von dessen „Leben Jesu“ in Webers Lebenszeit 31 deutsche Ausgaben erschienen sind.44 In seinem Vortrag „Was ist eine Nation?“45 von 1882 verfährt Renan in der gleichen Weise wie Jellinek und Weber. Er klärt zunächst im Ausschlussver41 Paul Barth, Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung, in: Verhandlungen (wie Anm. 12), S. 48 (das zweite Zitat von mir umgestellt). Barths Vortrag wurde abgebrochen, weil er sich nicht an die Auflage hielt, keine Werturteile zu fällen. Das gilt allerdings auch für andere Redner. Barths Vortrag wurde zudem inhaltlich als „primitiv“ empfunden. So Marie Luise Gothein in ihrer Schilderung aller Vorträge und der Debatteninterventionen durch Max Weber: Im Schaffen genießen. Der Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein (1883–1923), Hg. Michael Maurer u.a., Köln 2006, S. 421–423. Zur damaligen Forderung, Werturteile zu vermeiden: M. Rainer Lepsius, Max Weber und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Ders., Max Weber (wie Anm. 3), S. 79–96, hier S. 83 u. 91 f. Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014, S. 555–562. 42 Robert Michels, Die historische Entwicklung des Vaterlandsgedankens, in: Verhandlungen (wie Anm. 12), S. 161. 43 Ebd., S. 187. 44 Walter Euchner, Einleitung in: Ernest Renan, Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien 1995, S. 7. In seinem Brief vom 15.11.1911 an Heinrich Simon schreibt Weber, bei Couleur- und Verbindungsstudenten grassiere „ein schlechthin hohler und leerer rein zoologischer Nationalismus“. Max Weber, Briefe 1911–1912, Hg. M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen, 1. Halbbd., Tübingen 1998, S. 356 (MWG II/7-1). Dass Nation nichts mit Zoologie zu tun habe, hatte auch Renan in seinem Nation-Vortrag (S. 51) betont; in seinem berühmten Briefwechsel mit David Friedrich Strauss warnte er 1871 vor „,zoologischen‘“ „Vernichtungskriegen“ (S. 131). Dass Weber diese Schriften Renans nicht kannte, ist unwahrscheinlich. Weber hat sich nicht immer, wie noch in seiner protestantischen Ethik, die „Pönitenz einer bösen Fußnotengeschwulst auferlegt“; Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 89. 45 „Qu’est-ce qu’une nation?“ (1882), in: Ernest Renan, Œuvres Complètes de Ernest Renan. 2 Bde. Édition définitive établie par Henriette Psichari, Paris 1947, Bd.  1, S. 887–906. Diese Rede ist online vielfach zugänglich.

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fahren, was eine Nation nicht ist, um schließlich die Nation als eine politische Willensgemeinschaft zu definieren. Auch für ihn ist sie darüber hinaus eine Opfer-, Erinnerungs- und Machtgemeinschaft, doch Renans Metapher ‚ein tägliches Plebiszit‘ – die Weltkarriere dieser Metapher dauert weiterhin an – zielt auf politische Partizipation. Webers Staatsbezug in der Definition von Nation meint hingegen Macht und den freiwilligen Gehorsam des Einzelnen bis zur Bereitschaft, sein Leben einzusetzen. „Es ist der Ernst des Todes“ in der Zumutung gegenüber dem Einzelnen, für die „politische Gemeinschaft“ sein Leben zu opfern, das „dem ‚Nationalitätsbewußtsein‘ erst die letzte entscheidende Note“, „ihr spezifisches Pathos“ gibt.46 Webers Deutung lässt sich universalhistorisch verallgemeinern, Renans ist neuzeitlich begrenzt auf die nach-revolutionäre Willensnation, die auf staatsbürgerliche Gleichheit angelegt ist. Deren Partizipationsgebot ist seit damals auf immer weitere Bereiche des sozialen Lebens ausgeweitet worden, so dass Nation als eine umfassende entwicklungsoffene Ressourcengemeinschaft begriffen werden kann.47 Webers definitorische Sorgfalt, die er auch dem Wortfeld Nation zuwendet, obwohl er mit ihm als Soziologe wenig anfangen kann, wird deutlich, wenn man die Verwendungsgeschichte des Wortes Nationalgefühl betrachtet. Dieses Gefühl gilt, seit man sich mit dem Phänomen Nation befasst bis in die gegenwärtige Forschung, als unverzichtbarer Emotionskern, aus dem die Idee Nation ihre Wirkkraft schöpft und zur politisch verwendbaren Machtressource wird.48 Emil Du Bois-Reymond, einer der bekanntesten deutschen Wissenschaftler im ausgehenden 19. Jahrhundert, hatte 1878 in einer Rede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften das Nationalgefühl des Menschen als Physiologe naturwissenschaftlich-evolutionär erklären wollen. Sein Vortrag geriet jedoch, sobald er in seiner Evolutionsgeschichte den eigenen Kompetenzbereich überschritt, zu einer dilettantischen Geschichtsrevue, in der er die gängigen nationalpolitischen Überzeugungen seiner Zeit in ein pseudowissenschaftliches Gewand hüllte.49 46 MWG I/22-1, S. 208. 47 Dazu genauer Langewiesche: Nation als Ressourcengemeinschaft. Ein generalisierender Vergleich, in: Ders., Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 36–52. 48 Vgl. mit der Literatur Langewiesche, Gefühlsraum Nation. Eine Emotionsgeschichte der Nation, die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Gefühlsraum nicht einebnet, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15,1 (2012), S. 195–215. 49 Emil Du Bois-Reymond, Über das Nationalgefühl. In der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtstagsfeier des Kaisers und Königs am 28. März 1878 gehaltene Rede, in: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden. Erster Band, Hg. Estelle du Bois-Reymond, 2. vervollst. Aufl. Leipzig 1912, S. 654–677. Eine genauere Analyse der Rede bei Langewiesche, Gefühlsraum (wie Anm. 48).

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Max Weber hingegen definierte Nationalgefühl präzise als einen Sammelnamen für „sehr heterogen geartete und verursachte Gemeinschaftsgefühle“, deren „kausale Komponenten“ weder zwischen den Nationen noch innerhalb einer Nation einheitlich seien.50 Nur auf den Staat gerichtet, lasse es sich als etwas Spezifisches erfassen. Über seine nüchterne Feststellung, „welche Konsequenzen eine Menschengruppe aus dem ... mit noch so emphatisch und subjektiv aufrichtigem Pathos verbreiteten ‚Nationalgefühl‘ für die Entwicklung der Art eines spezifischen Gemeinschaftshandelns zu ziehen bereit ist“, sei „grundverschieden“51, ist auch die heutige Forschung nicht hinausgekommen. Meist fällt sie dahinter zurück, denn es ist üblich, Nationalgefühl als eine psychische black box zu nutzen, in die man nicht hineinschauen kann, obwohl ihr die Kraft entstamme, mit der die Idee Nation wirkt.52

3. Nation als oberste Wertidee – Max Webers politische Schriften Wenn Max Weber als nationalpolitisch engagierter homo politicus redete und schrieb, wechselte er seine Rolle. Dies forderte sein Selbstverständnis; „Professoren-Prophetie“ nannte er „ganz und gar unerträglich“53. Der Wissenschaftler wird zum Intellektuellen, wenn er das Katheder verlässt und sich als Kritiker in die politische Arena begibt. Webers Auftreten dort als Redner und Autor lässt sich in der Terminologie von Rainer Lepsius präzise bestimmen: Weber wirkte als Intellektueller, denn er fand mit seiner Kritik Zugang zu den Medien der Öffentlichkeit, und dort trieb er inkompetente Kritik, d. h. er bewegte sich außerhalb des Feldes, für das er beruflich ausgewiesen war. Die Absicherung durch spezifische Professionsnormen, nicht die sachliche Qualität unterscheidet die kompetente von der inkompetenten Kritik.54 Doch diese begriffliche Trennlinie zwischen dem Wissenschaftler, der in seinem Berufsfeld kompetente Kritik äußert, und dem Intellektuellen, der ohne Profession in der Politik notwendigerweise inkompetente Kritik übt, war bei Weber aus zwei Gründen durchlässig. 50 GASS, S. 486 u. 484 (Soziologentag 1912). 51 MWG I/22-1, S. 246. Vgl. zu „Nationalgefühl“ auch ebd., S. 186–189 u. 245 f., sowie Webers Debattenbeiträge auf dem Berliner Soziologentag. 52 Genauer dazu Langewiesche, Gefühlsraum (wie Anm. 48). 53 Der Sinn der „Wertfreiheit“ in der soziologischen und ökonomischen Wissenschaft, 1917, in: GAWL, S. 492. 54 Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Lepsius, Interessen (wie Anm. 35), S. 270–285.

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(1) Weber fand als Intellektueller Zugang zur Öffentlichkeit, weil er als Wissenschaftler sich einen Namen gemacht hatte. Als Intellektueller zehrte er vom kulturellen Kapital des Wissenschaftlers, nicht umgekehrt. Welche Wahrnehmungsprobleme dabei selbst unter theoriekundigen Wissenschaftlern entstehen konnten, lässt ein Brief Eberhard Gotheins erkennen, in dem er seiner Frau von einem Treffen mit Max Weber erzählt: „Bei ihm ist ... eine seltene Vereinigung des theoretischen Denkens und der historischen Bildung vorhanden, wie sie jetzt in solchem Maß überhaupt Niemand besitzt. Seltsam, daß dieser selbe Mensch, wo er praktisch Partei ergreift, ein Fanatiker wird.“55 Gothein unterschied nicht zwischen dem Wissenschaftler und dem Intellektuellen. Das dürfte die übliche Wahrnehmung gewesen sein. Seine Zeitgenossen werden in Max Weber, wenn er als Intellektueller fern des akademischen Katheders politisch intervenierte, weiterhin den renommierten Wissenschaftler gesehen haben. Weber trug, wie noch zu zeigen ist, durch die Art seiner Argumentation zu dieser Rollenvermischung bei. (2) Die fachliche Autonomie der Soziologie war ungesichert. Das lag nicht nur daran, dass sie sich als wissenschaftliche Disziplin erst noch etablieren und Anerkennung verschaffen musste. Ein Fach, das Gesellschaftsanalyse betreibt, hat generell Probleme, „institutionelle Voraussetzungen für die Abweisung von Gesinnungserwartungen“ zu schaffen.56 Lepsius hat das an der Situation des Fachs Soziologie in den 1970er Jahren brillant analysiert. Webers beharrliches Plädoyer für die Werturteilsfreiheit deutet Lepsius als den „Versuch, die Sozialwissenschaften aus den moralischen und politischen Überzeugungssystemen der Zeitkultur und der politischen Ordnung zu lösen“.57 Doch methodologische Grenzpfähle reichen dazu nicht. Die Soziologie müsse, weil sie die Gesellschaft untersucht, stärker als gesellschaftsfernere Fächer versuchen, „den Transfer ihrer Ergebnisse in die Zeitkultur zu reflektieren und durch Selbstkritik zu kontrollieren“. Sonst fördere sie nicht Erkenntnis, sondern werde Partei im „Kampf zwischen Weltanschauungen“. Diese Argumentation lässt erahnen, wie schwer es in der Lebenswelt Webers für ihn selbst und stärker noch in der Wahrnehmung durch seine Umwelt gewesen sein muss, den situativen Rollenwechsel vom Soziologen zum Intellektuellen zu realisieren. Dramatisch erschwert wurde diese ohnehin schwere Aufgabe in den Kriegsjahren, die nun im Mittelpunkt stehen werden. Im Krieg nimmt stets 55 Eberhard an Marie Luise Gothein, 29.8.1908, in: Im Schaffen genießen (wie Anm. 41), S. 238. 56 Gesellschaftsanalyse und Sinngebungszwang, in: Lepsius, Interessen (wie Anm. 35), S. 286–298, hier S. 287. 57 Ebd., S. 298; dort auch die beiden folgenden Zitate.

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der Gesinnungsdruck auf den Einzelnen zu, und erst recht in einem Krieg, der auf beiden Seiten zunehmend als ein Weltanschauungskrieg ausgeflaggt wurde. Ausgehend von dieser Situation ist zu fragen: Mit welchen Mitteln hat Max Weber versucht, seine sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Funktionsweisen politischer Gemeinschaften, die sich als nationale verstehen, in die politischen Debatten seiner Gegenwart zu transferieren? Hat er versucht, die Gesinnungserwartungen seiner Zeitgenossen abzuweisen, wenn er mit dem methodischen Instrumentarium des Sozialwissenschaftlers die politische Situation analysierte und daraus Handlungsempfehlungen auf der Grundlage seiner Wertentscheidung ableitete? An Max Webers Verhalten als Intellektueller im Ersten Weltkrieg wird also nicht die Zumutung gerichtet, in der politischen Arena sein sozialwissenschaftliches Analyseinstrumentarium beiseite zu legen, sondern gefragt wird, wie er als Intellektueller dieses Instrumentarium außerhalb seines professionellen Kompetenzfeldes und der dort geltenden Normen einsetzte, um den Wertideen, denen er folgte, Geltung zu verschaffen. Denn darin besteht die Hauptaufgabe intellektueller Kritik: in der Gesellschaft über Wertideen zu debattieren, für die eigenen zu werben und alternative Deutungsmöglichkeiten zu öffnen.58 Hingegen steht nicht auf dem Programm dieser Studie, ein weiteres Mal in Webers Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen, in seinem Hang „zur politischen Dauereinmischung“, wie es jüngst Jürgen Kaube59 genannt hat, seinen Nationalismus nachzuweisen und dessen Veränderungen im Verlauf des Kriegsgeschehens zu verfolgen. Um Webers soziologische Analysen des Begriffsfeldes Nation auf sein nationalpolitisches Engagement als Intellektueller zu beziehen, bietet sich als Einstieg der Begriff Pathos an. Ein spezifisches Pathos, angelegt auf Kampf, charakterisiert jede Gemeinschaft, so der Soziologe.60 Für den Einzelnen erhält dieses Pathos vor dem „Ernst des Todes“ im Krieg zum Wohle der eigenen Nation seine höchste Ausformung. Im Kern beruhe es auf dem „Prestige-Empfinden“, das „oft tief in die kleinbürgerlichen Massen hinabreicht“, jedoch vorrangig von den Macht-Gruppen entwickelt werde. Doch es sind überall die „Kulturschichten“, die das „nackte Prestige der ‚Macht‘ ... in die Idee der ‚Nation‘“ überführen.61 Das geschah stets vor allem in Zeiten des Krieges. Die zentrale Bedeutung des Krieges für die soziale Dynamik, die von der Idee Nation ausgeht, hat Max 58 Lepsius, Kritik als Beruf (wie Anm. 54), S. 285. Hübinger ordnet Weber in die Geschichte des „Gelehrten-Intellektuellen“ ein: Gangolf Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, Kap. 5. 59 Kaube, Max Weber (wie Anm. 7), S. 374. 60 „Der Kampf durchzieht … potentiell alle Arten von Gemeinschaftshandeln überhaupt.“ In: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: GAWL, S. 463. 61 MWG I/22-1, S. 240 f.

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Weber präzise in seiner Freiburger Antrittsrede charakterisiert. Seine Sicht kann auch vor der heutigen Forschung bestehen: „In großen Momenten, im Fall des Krieges, tritt auch ihnen [den breiten Massen der Nation] die Bedeutung der nationalen Macht vor die Seele, – dann zeigt sich, daß der nationale Staat auf urwüchsigen psychologischen Unterlagen auch bei den breiten ökonomisch beherrschten Schichten der Nation ruht und keineswegs nur ein ‚Überbau‘, die Organisation der ökonomisch herrschenden Klassen ist. Allein in normalen Zeiten sinkt dieser politische Instinkt bei der Masse unter die Schwelle des Bewußtseins.“62 Während „die in der politischen Gemeinschaft Mächtigen die Staatsidee provozieren“, sind die Intellektuellen „in spezifischem Maße dazu prädestiniert …, die ‚nationale’ Idee zu propagieren“. Diese Idee Nation stehe bei ihnen „in sehr intimen Beziehungen zu ‚Prestige‘-Interessen“.63 Diese Charakterisierung klingt wie eine Selbstbeschreibung. Die Rolle des Intellektuellen, die Max Weber hier als Soziologe wissenschaftlich distanziert analysiert – das nackte Macht-Prestige in die Wertidee Nation verwandeln –, nahm er mit Leidenschaft wahr, sobald er das politische Geschehen kritisch kommentierte. Sein Sprache änderte sich. Jürgen Kaubes erhellende Beobachtung, Weber „zog zeit seines Lebens Sätze vor, die man im Deutschen liest, als ob es lateinische wären“64, gilt nicht im gleichen Maße für seine politischen Schriften. Gewiss sind auch seine Zeitungsartikel an eine „elitäre Öffentlichkeit“ gerichtet, doch zahlreiche sind anders geschrieben als seine wissenschaftlichen Texte: kürzere Sätze, die man nicht entflechten muss, und vor allem sind sie pathetisch extrem aufgeladen, unablässig wertend, im Urteil radikal, nicht selten maßlos, rücksichtslos gegen Kontrahenten, und er kannte in der politischen Arena im Grunde nur Kontrahenten. Sein leidenschaftliches politisches Engagement war erfüllt von unerbittlicher Kritik, gerichtet vor allem nach oben, an die Mächtigen, deren Pflicht es ist zu führen, was sie nicht ordentlich tun, und an das Bürgertum, das sich scheute, die Orte der staatlichen Macht zu besetzen. Der Intellektuelle belehrte sie alle, gab Handlungsanweisungen, die er selber nicht durchsetzen konnte, weil er kein Amt hatte.65 Wie legitimierte 62 Max Weber, Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftslehre. Schriften und Reden 1892–1899, Hg. Wolfgang J. Mommsen, 2. Halbbd., Tübingen 1993, S. 566 (MWG I/4-2). 63 Ebd., S. 246 f. 64 Kaube, Max Weber (wie Anm. 7), S. 81; dort auch das folgende Zitat. 65 Nur in den Monaten seines Dienstes als Offizier in der Lazarettverwaltung hatte er ein Amt. Seine Tätigkeit als Sachverständiger in der Beratung für den Entwurf einer neuen Verfassung, zu der Hugo Preuß als Staatssekretär geladen hatte, und als Beobachter in der deutschen Delegation in Versailles wird man nicht als Amt bezeichnen können. S. vor allem Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Mit einer Einleitung von

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er in seinen politischen Reden und Schriften diese Rolle als Intellektueller, vor dessen Kritik niemand bestehen konnte? Als zentrales Legitimationsargument in seinen politischen Reden und Schriften diente Weber die Berufung auf die Nation – auf ihr „Lebensinteresse“, ein Wort, das er immer wieder als Beglaubigungsinstanz in Anspruch nahm. Die deutsche Nation war ihm die oberste Wertidee, zu der er sich dezidiert bekannte. Auf sie bezog er seine politischen Diagnosen und die Handlungsappelle, die er aus ihnen ableitet, mit ihr begründete er seine Kritik und seine politischen Reformprogramme. Er konzedierte, wer nicht das „Lebensinteresse der Nation“ zum obersten Maßstab seines Handelns wählt, könne anders urteilen. Darin unterschied er sich von dem, was im akademischen Milieu üblich war. Wer sich dort auf die Nation berief, beanspruchte, über den Parteiungen und weltanschaulichen Gegensätzen zu stehen. In den Rektoratsreden der deutschen Universitäten wurde dieser Glaube an die Nation als unparteilicher Ort Jahr für Jahr bekundet.66 Weber hingegen legte offen, seine Überzeugung, der Machtstaat sei die historisch einzig angemessene Existenzform für die deutsche Nation, ist eine Wertentscheidung. In seiner schwankte er niemals. Sein Bekenntnis in der Freiburger Antrittsrede, „die weltliche Machtorganisation der Nation … ist für uns der letzte Wertmaßstab“67 – in seinen Schriften zur Landarbeiterfrage und zur Börse hatte er es schon vorweggenommen68 –, blieb für ihn zeit seines Lebens gültig. Die Freiheit jedes Einzelnen, im „Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen“ die eigene zu wählen69, begründete Max Weber als Wertetheoretiker, doch in seiner Rolle als Intellektueller begrenzte er diese Freiheit rigoros, indem

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Günther Roth, München 1989 (1. Aufl. 1926), S. 527–560, 651 f. u. 660–663, sowie Hübinger in MWG III/7, S. 19 f.; vgl. Radkau (wie Anm. 6), S. 657–660 u. 727; Kaesler (wie Anm. 41), S. 737–742. Vgl. Langewiesche, Die ‚Humboldtsche Universität‘ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten in ihren Rektoratsreden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91, hier S. 54. Vgl. auch Hedda Gramley, Propheten des deutschen Nationalismus. Theologen, Historiker und Nationalökonomen (1848–1880), Frankfurt 2001. MWG I/4-2, S. 560. Vgl. etwa: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, 1892, Hg. Martin Riesebrodt, 2. Halbbd., Tübingen 1984, S. 922 f. (MWG I/3); MWG I/4-1, S. 157–207 (Die ländliche Arbeitsverfassung), S. 235 („die Lebensfragen der Nation“), S. 462 („im Lebensinteresse der Nation“); Börsenwesen. Schriften und Reden, 1893–1899, Hg. Knut Borchardt, 2 Halbbde., 1999, 2000 (MWG I/5), S. 614 ff. (Die Börse), S.  589 (Börsenwesen). [Zwischen zwei Gesetzen, 1916] in: Max Weber, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1984, S. 98 (MWG I/15).

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er seine eigene Wertentscheidung mit der Dignität des Urteils der Geschichte ausstattete. Was er theoretisch zugestand – jeder trifft seine Wertentscheidung subjektiv autonom –, dementierte er als Intellektueller. Er wusste sich im Einklang mit dem „Walten der Weltgeschichte“70, wie er generell in seinen politischen Schriften die Geschichte zum Richtstuhl für die Gegenwart erhob. Er sprach von der „unentrinnbaren Verantwortung vor der Geschichte“71, von der „verdammten Pflicht und Schuldigkeit vor der Geschichte, das heißt: vor der Nachwelt“72, und immer ging es bei allen „Zukunftsaufgaben“73, bei jeder „unzweifelhaften Zukunftstatsache“74, die er der Geschichte entnahm, um die Begründung des deutschen Nationalstaates als Machtstaat und der Konsequenzen, die er daraus für das politische Handeln zwingend ableitete; „alles, was an den Gütern des Machtstaates teilnimmt, ist verstrickt in die Gesetzlichkeit des ‚Macht-Pragma’, das alle politische Geschichte beherrscht.“75 Diese auf Eindeutigkeit angelegte Geschichtsdeutung – „unentrinnbar“76 Weber liebte als homo politicus den Gestus der Alternativlosigkeit – räumt keine verantwortbare Möglichkeit ein, einen anderen Wertmaßstab anzulegen und daraus eine andere politische Zukunftsentscheidung zu fällen. Wer das tat, wurde von Weber als „Literat“ diskreditiert. In seinen wissenschaftlichen Religionsstudien nannte er die „Literatenzunft“ „in spezifischem Grade Träger des Intellektualismus“77, in seinen politischen Schriften hingegen sank „Literat“ zum Disqualifikationswort mit denunziatorischem Unterton ab; denn der Literat, wie ihn Max Weber als politischen Gegner entwarf, fühlte sich nicht dem Wertideal deutsche Nation verbunden oder er missdeutete es mit der Gefahr, die deutsche Nation in die Irre zu führen. Bereits die Wortwahl Webers sollte seine Leser auf diese Sicht einstimmen: „das stupide Literatengezeter“78, „kindliche Literatenvorstellung“ mit „Tintenfaßhorizont“79, „dilettantische Literaten“ mit ihrer „Literatenpolitik“80, ihrem „spießerhaften Literatengeschwätz“81 und ihrer 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1916, in: Ebd., S. 194. Ebd., ähnlich S. 192 u. 195. Ebd., S. 96. Ebd., S. 592 (Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1917). MWG I/15, S. 351 (Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, 1917). Ebd., S. 98 (Zwischen zwei Gesetzen). Vgl. etwa MWG I/15, S. 191 u. 194. Vgl. zu dieser Seite Webers Breuer, Soziologie (wie Anm. 19). MWG I/22-2, S. 266. MWG I/15, S. 212 (Die Nobilitierung der Kriegsgewinne, 1917). Ebd., S. 351 (Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, 1917). Ebd., S. 395 u. 435 (Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1917). Ebd., S. 472.

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„literatenhaften Eitelkeit“82. Webers „Literaten“ gehörten denselben sozialen Kreisen an wie er selbst: Bildungsbürger, Akademiker, welche die Lage der deutschen Nation im Ersten Weltkrieg falsch einschätzten, weil sie, so Weber, die nationale Vergangenheit nicht verstanden und deshalb irreführenden Zukunftsbildern folgten. Mit diesen Kontrahenten diskutierte Weber nicht, er diskreditierte ihr Weltbild. Diese Wirkung ging auch von seiner Formel „Interessen“ oder gar „Lebensinteressen der Nation“ aus. Als Soziologe begründete er die inhaltliche Unbestimmtheit der Kategorie Nation, als Intellektueller stellte er seine ZeitDiagnosen in den Dienst an den „Lebensinteressen der Nation“. Sich auf sie zu berufen, sollte gegen Kritik immunisieren. Gegen ihr Gebot konnte es keine Berufungsinstanz geben, denn die Nation bezeichnete in Webers politischem Wertegehäuse die oberste Legitimitätsebene. Darüber gab es für ihn nichts. Er warb für Parlamentarismus und Demokratie, doch über ihnen „stehen selbstverständlich die Lebensinteressen der Nation“, erklärte er in einer Serie von Zeitungsartikeln, die ein großartiges Panorama deutscher Zeitgeschichte seit der Gründung des Nationalstaates bieten.83 „Wem die geschichtlichen Aufgaben der deutschen Nation nicht grundsätzlich über allen Fragen ihrer Staatsform stehen“84, wer also einer anderen Wertidee folge, dem hätten seine Argumente nichts zu sagen. Doch nach dieser „Vorbemerkung“, die auch andere Wertentscheidungen als honorig anzuerkennen schien, wurden diejenigen, die seine eigene nicht teilten, immer wieder aufs neue als „Literaten“ für unglaubwürdig erklärt.85 Lebensinteressen und Machtinteressen der Nation waren für Weber identisch. Beide Worte gebrauchte er synonym.86 Sie verbinden seine politischen Schriften mit den wissenschaftlichen; allerdings nur mit jenen frühen, die aus der empirischen Untersuchung Handlungsvorschläge für die Politik entwickelten87, während sich in den im engeren Sinn soziologisch-fachwissenschaftlichen 82 Ebd., S. 591 (Parlamentarisierung und Föderalismus, 1917). 83 Ebd., S. 435 (Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens; 1917 als Artikelfolge in der „Frankfurter Zeitung“ erschienen, im Mai 1918 als selbständige Publikation). Mitunter definierte er Nation jedoch auch als Partizipationsgemeinschaft: „Nationaler Stolz ist nun einmal Funktion des Maßes, in welchem die Angehörigen einer Nation, wenigstens der Möglichkeit nach, aktiv an der Gestaltung der Politik ihres Landes mitbeteiligt sind“; MWG I/15, S. 593. 84 Ebd., S. 432. 85 Ebd., S. 432 (2x), 433, 435, 441 (2x), 472 (2x) 482, 591 u. 595. 86 Vgl. MWG I/4-2, S. 560, 561, 565 u. 572; I/5-2, S. 653. 87 Vgl. MWG I/3, S. 923 (Lage der Landarbeiter, 1892); I/4-1 (Landarbeiterfrage, 1894), S. 462; I/8, S. 188 (Fideikommißfrage, 1904).

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Studien, in denen er die mangelnde Präzision des Begriffs Nation analysierte, solche Formulierungen nicht finden.88 Die Legitimierungs- bzw. Diskreditierungsformeln „Lebensinteresse der Nation“ und „Literat“ sind eingebaut in scharfsichtig-kluge und auch mutige Analysen, mit denen er trotz des politischen Gesinnungsdrucks, den die Kriegssituation erzeugte, die Mängel der deutschen Herrschaftsordnung schonungslos aufdeckte und die „Erbschaft Bismarcks“ – „eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung“89 – anprangerte, die schnelle Parlamentarisierung Deutschlands forderte und gegen den Ruf nach einer „deutschen Staatsform“ votierte, oder davor warnte, den Kriegseintritt der USA zu provozieren und Annexionisten entgegentrat. Solche Analysen, die Probleme strukturell durchdachten und daraus Handlungsprogramme entwickelten, wären geeignet gewesen, der politischen Öffentlichkeit die Leistungskraft der noch jungen Wissenschaftsdisziplin Soziologie für die Erörterung zentraler politischen Fragen der Gegenwart vor Augen zu führen. Doch der Transfer der Ergebnisse seiner soziologischen Analyse in die Gesellschaft, verbunden mit selbstreflexiv kontrollierter Distanz zu deren „moralischen und politischen Überzeugungssystemen“, wie es Lepsius für die Soziologie fordert, um gesellschaftliche Gesinnungserwartungen abzuwehren, dürfte Weber nicht gelungen sein. Das in der Gesellschaft dominierende „Überzeugungssystem“ Nation teilte er vorbehaltlos, und wenn er daraus politische Handlungsprogramme ableitete, so suchte er sie gegen Kritik zu feien, indem er andere Vorstellungen als wider die „Lebensinteressen“ der Nation abwertete. Dass aus der Wertidee deutsche Nation unterschiedliche politische Strategien entwickelt werden können, ließ er nicht zu. Denn letztlich unterlag auch er der Überparteilichkeitsideologie „Nation“: „Nicht als Parteimann will ich reden. Politik habe ich immer nur unter dem nationalen Gesichtspunkte angesehen, nicht nur die auswärtige, sondern alle Politik überhaupt.“90 Indem er sich zum Exegeten der „Nation“ und ihres „Lebensinteresses“ erhob, trat er im Gestus der Überparteilichkeit selber als Partei auf. Hier unterschied er sich nicht von seinen weniger selbstreflexiven Kollegen auf den Universitätskathedern. Dass Max Weber immer wieder autoritativ den Anspruch erhob, zu wissen, was die „Lebensinteressen“ der deutschen Nation sind und welche Politik zwingend geboten ist, um sie zu wahren, wird man das intellektuelle Debakel des Soziologen nennen dürfen. Als Wissenschaftler verzichtete Weber darauf, 88 Hier vermeidet er auch, Nation zu hypostasieren. Das hatte er Karl Lamprecht vorgeworfen (GAWL, S. 24 f./Fn. 5). In seinen politischen und politiknahen wissenschaftlichen Schriften spricht Weber entgegen seiner soziologischen Konzeption durchaus von Nation wie von einer Kollektivgröße. 89 Ebd., S. 419 (Die Erbschaft Bismarcks, 1917). 90 MWG I/15, S. 161 (Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1916).

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den Begriff Nation zu definieren, weil er notorisch unbestimmt bleiben müsste und deshalb zur soziologischen Analyse nicht tauge; als homo politicus war ihm die deutsche Nation die oberste Wertidee; als Intellektueller erhob er sie zum Maßstab für die gesamte Politik und beanspruchte für sie ein Deutungsmonopol. Den Widerspruch zwischen seiner professionellen Erkenntnis als Soziologe und seiner Wertpräferenz als Staatsbürger und Intellektueller analysierte er auf sich bezogen nicht. Er ließ beides nebeneinander stehen. Als soziologischen Begriff dekonstruierte er „Nation“, als Wertidee glaubte er an sie. „Nation“ war, wie Ernst Troeltsch es nannte, Webers „Wertgott“91. Seinem Glauben an ihn hat seine soziologische Erkenntnis keinerlei Zweifel beigemischt. Als homo politicus war und blieb Max Weber ein Gläubiger, der seinen Letztwert Nation bzw. nationaler Machtstaat vor seiner eigenen soziologischen Analyse abschirmte.

4. Nation als politische Konfession? „Wir sind konfessionell national“. Dieses Bekenntnis des Philosophen Alois Riehl92 kennzeichnet das Selbstbild der deutschen Universität und ihrer Absolventen im 19. Jahrhundert und weit ins zwanzigste hinein. Max Weber ist in dieser Atmosphäre aufgewachsen.93 Aber was bedeutet es in einer nationalpolitisch höchst erregten Zeit, sich konfessionell national zu nennen? Was kann mit Blick auf Weber als Soziologen und als politisch intervenierenden Intellektuellen mit der Formulierung „Nation als politische Konfession“ gemeint sein? Das soll nun erörtert werden. Als Wolfgang J. Mommsen Webers Freiburger Antrittsrede „eine politische Konfession“ nannte, wollte er die Distanz zur Gattung akademische Antrittsrede hervorheben: „voll unorthodoxer Ansichten und radikaler Thesen, die keine Rücksicht auf hergebrachte Auffassungen und herrschende Meinungen nahm“94. 91 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Ges. Schriften, 3), Tübingen 1922, S. 161. 92 Überliefert bei Friedrich Wilhelm Foerster, Erlebte Weltgeschichte, 1869–1953. Memoiren, Nürnberg 1953, S. 83. Riehl wurde in Österreich geboren; zum bekannten Philosophen wurde er in Deutschland, wo er über Freiburg, Kiel und Halle nach Berlin als Nachfolger Wilhelm Diltheys ging. Angaben zu Riehl bei Wilfried Geßner/Oswald Schwemmer, Berliner Philosophie 1885–1945, in: Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Bd. 5, Hg. Heinz-Elmar Tenorth, Berlin 2010, S. 176–183. 93 Vgl. dazu insbes. die Familienbiographie von Guenther Roth (wie Anm. 7), der auch die Beziehungen zwischen Riehls Familie und Weber nennt. 94 Mommsen, Weber (wie Anm. 4), S. 39. Dort auch das folgende Zitat und der Hinweis auf den Brief an seinen Bruder Alfred v. 17.5.1895.

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Max Weber wollte schockieren, wie er seinem Bruder Alfred schrieb, und das war ihm gelungen. Mommsen fragte sich, „ob hier nicht der Gelehrte auf dem Katheder durch das Temperament des politischen Kämpfers allzusehr verdrängt worden sei“. Mag sein. Aber das ist nicht die Frage, die hier erörtert wird. „Politische Konfession“ lediglich mit „politisches Bekenntnis“ zu übersetzen, bekundet an dem Ort, von dem Weber ein solches Bekenntnis auszuschließen forderte, würde dem Soziologen, der die Arbeit am Begriff als den Kern kulturwissenschaftlichen Erkennens verstand95, nicht gerecht. Als Ausgangspunkt wird erneut Webers Begrifflichkeit gewählt. Er definierte auch hier präzise, „der Begriff der ‚Konfession‘ entsteht“ aus den „Beziehungen zwischen politischer Gewalt und religiöser Gemeinde“. Deshalb gehöre er in die „Analyse der ‚Herrschaft‘“.96 Wie der Begriff Nation. Religion kann, so Weber, „auf dem Gebiete nationaler Gemeinschaftsbildung“ eine bedeutsame Rolle spielen.97 Kann, muss aber nicht. Doch wenn sie es tut, wird die Wertidee Nation nicht durch eine religiöse ersetzt. „Religion“ und „Nation“ sind in aller Regel keine Wert-Konkurrenten. Im Alltag leben sie unauffällig nebeneinander, im Krieg hingegen, wenn mit Berufung auf die Nation als Letztwert im gesellschaftlichen Normengefüge der bedingungslose Einsatz jedes Einzelnen gefordert wird, gerät die Religion (und mit ihr alle Konfessionen) in eine dienende Rolle. Ihre Aufgabe ist es nun, die eigene Nation und ihre Politik mit sakralen Elementen aufzuladen, um die Entscheidung zum Krieg religiös zu erhöhen.98 Deshalb stehen sich im Krieg Weltreligionen als Konfessionen auf beiden Seiten der Front oft feindlich gegenüber. Das begrenzt die gesellschaftliche Wirkung religiöser Sakralisierung der Nation im Krieg. Eine schöne hellsichtige Formulierung dazu findet sich in einem Mädchentagebuch aus dem Ersten Weltkrieg: „Wieviel Völkern soll Gott eigentlich den Sieg bescheren!“99 Zu dieser Einsicht einer Fünfzehnjährigen waren nicht alle Konfessionsführer fähig. Doch generell haben alle Religionen gelernt, mit dem Problem umzugehen, dass sie 95 Vgl. GAWL, S. 207 (Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis). 96 MWG I/22-2, S. 199. 97 GASS, S. 487 (Diskussionsbeitrag Soziologentag 1912). In seinem Brief an Graf Keyserling v. 21.6.1911 nennt Weber unter Verweis auf seine „protestantische Ethik ...“ die Reformation einen der „Punkte, wo rein religiöse Differenzen die Nationalitäten gespalten und ihrerseits welthistorische Gegensätze geschaffen haben“. MWG II/7, S. 235. 98 Vgl. dazu Langewiesche, Nation und Religion, in: Europäische Religionsgeschichte, Hg. Hans G. Kippenberg u.a., Göttingen 2009, Bd. 2, S. 525–553. 99 Jo Mihaly, .... da gibt‘s ein Wiedersehn! Kriegstagebuch eines Mädchens 1914–1918, München 1986, S. 178.

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als konfessionelle Organisationen feindlichen Staaten angehören können und dann von ihnen erwartet wird, die Verbundenheit mit dem eigenen Staat über die staatenübergreifende Zugehörigkeit zur selben Religion zu stellen. Max Weber hat weder als Soziologe noch als Intellektueller die Wertidee Nation religiös sakralisiert oder konfessionell ausgerichtet. Religion und Konfession stehen in seinen politischen Schriften aus den Kriegsjahren ganz am Rande. Sie brauchte er nicht, um seinen Dauereinsatz für die „Lebensinteressen“ der deutschen Nation zu begründen. Er fand zwar „an der Haltung der Zentrumspartei in nationalen Dingen manches auszusetzen“100, doch seine Wertidee Nation blieb auch im tagespolitischen Einsatz des Intellektuellen konfessionell und religiös unbestimmt. Darin unterschied sie sich von der Nationsidee, wie sie an den deutschen Universitäten und im Bildungsbürgertum gehegt wurde. Deren Bekenntnis, konfessionell national zu sein, gab sich konfessionsblind, war jedoch durch und durch protestantisch imprägniert.101 Webers Wertidee Nation blieb hingegen konfessionsneutral. Neutral war sie auch gegen die Staatsform. Weber hatte bis zum Kriegsende daran festgehalten, die (parlamentarische) Monarchie sei für Deutschland die geeignete Staatsform, doch als sie durch des Kaisers „Desertion aus der Hauptstadt und Spielen mit dem Staatsstreich“102 nicht mehr zu halten war, stellte er sich entschieden um. Nun spottete er über die Probleme, die „das Bürgertum“ habe, sich darauf einzustellen, „daß der Regenschirm des Gottesgnadentum, der über seine Gottesgnadenportemonnaies ausgespannt war, zugeklappt ist“.103 An den Universitäten mit ihrer spezifischen Bindung an den fürstlichen Landesherrn fiel der Abschied von der Monarchie besonders schwer. Ihr Immediatverhältnis zum Monarchen war entfallen, sie mussten sich nun auf das Parlament als entscheidende staatliche Instanz einstellen. Max Weber hatte eine starke Position des Parlaments gefordert, die meisten Professoren hingegen empfanden sie als eine Entwertung der zentralen Rolle, die sie der Univer100 MWG I/16, S. 467 (Der freie Volksstaat, 1919). Zu den Einstellungen Webers zum Katholizismus und generell zu Religion s. die differenzierte Analyse (mit Diskussion der Literatur) von Silke Schmitt, Max Webers Verständnis des Katholizismus. Eine werkbiographische Analyse, 2012 (Online-Publikationen des DHI Rom). 101 Zur protestantisch gefärbten Konfessionsblindheit s. Langewiesche, Nation und Religion (wie Anm. 98), S. 529; zum Spektrum nationaler Einstellungen im deutschen Protestantismus und Katholizismus s. Heinz-Gerhard Haupt/Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt 2001; in europäischer Perspektive dies. (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 2004. 102 MWG I/16, S. 102 (Deutschlands künftige Staatsform, 1918). 103 MWG I/16, S. 467.

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sität in der Nation zumaßen. In ihrem Weltbild hatte „deutsche Nation“ stets die Monarchie eingeschlossen. „Wir sind konfessionell national“ hieß für sie: protestantisch, dynastisch, föderativ reichsnational unter politischer, nicht aber kultureller Führung Preußens, und männlich. Landespatriotismus und Nation verbanden sie mühelos, Juden und Katholiken galten ihnen in aller Regel nicht als national gleichwertig, Sozialisten ohnehin nicht.104 Und selbstverständlich repräsentierte für sie der Mann die Nation. Max Weber äußerte sich nicht zu allen diesen Bereichen, doch wenn er es tat, schloss er keine Gruppe, die sich zur Nation rechnete, aus ihr aus.105 Sein Disqualifikationskriterium – nicht im „Lebensinteresse der Nation“ – war politisch bestimmt, nicht religiös oder konfessionell. Der „Literat“, wie ihn Weber als staatsbürgerliche Negativfigur entwarf, verstand seine politische Deutung des nationalen Lebensinteresses nicht, er war jedoch nicht durch eine Gruppenzugehörigkeit gekennzeichnet. Damit blieb Weber auch als Intellektueller in der politischen Arena konsequent bei seiner soziologischen Annäherung an den Begriff Nation: Sie kann keine „handelnde Kollektivpersönlichkeit“ sein, es handeln immer Einzelne.106 Und wenn sich „Nation“ überhaupt definieren lasse, dann nur auf den Staat bezogen. Doch sie steht über ihm. Das fand er im Weltkrieg bestätigt.107 „Der Staat ist die höchste Machtorganisation auf Erden“108, sagte er 1915 in seiner Rede „An der Schwelle des dritten Kriegsjahres“, doch er sei auf die Zustimmung der Menschen angewiesen, und diese werde durch das „nationale Selbstgefühl“109 erzeugt. Der Staat brauche also das nationale Bekenntnis. Im Krieg sei es existentiell für ihn. „,Freie Hingabe‘ erzwingt der 104 Vgl. Notker Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt 1995; Andreas D. Ebert, Jüdische Hochschullehrer an preußischen Universitäten (1870–1924). Eine quantitative Untersuchung mit biografischen Skizzen, Frankfurt 2008. Über die Universitäten hinaus: Michael B. Gross, The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor 2004. 105 Dem Frauenstimmrecht stimmte er zu; MWG I/15, S. 701 (Rede 1917 in München), S. 717: wer das Frauenwahlrecht „ablehne, sei kein Mann; er sei es nur vom Standpunkt des Herrenschneiders und der Anatomie“. 106 GAWL, S. 553. 107 Vgl. etwa seine Äußerungen zur österreichischen Armee, MWG I/15, S. 181 u. 670. Vgl. dazu auch seinen Brief an Bernhard Guttmann v. 4.9.1916, MWG II/9, S. 524 (gegen „überhandnehmende ‚Staats’-Vergötterung“ und die Unterschätzung der Nation. „Woher die Minderleistungen der Österreicher? Woher die Sympathie Amerikas mit England? Italiens mit Frankreich?“). 108 MWG I/15, S. 670. 109 MWG I/16, S. 107 (Vergleich mit Holland, England, Amerika und Frankreich, deren „nationales Selbstgefühl“ durch erfolgreiche Kämpfe für Demokratie gestärkt worden

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Staat, der nur Staat ist, nie. Der ‚Nation‘ (Kulturgemeinschaft) wird sie freiwillig geschenkt, selbst gegen das staatspolitische Interesse.“110 Möglicherweise, das könnten diese Äußerungen signalisieren, war Max Weber im Krieg auf dem Weg zu einem Nationsverständnis, das seine Position als Soziologe korrigierte: Nation als gedachte Ordnung, der sich Handlungen von Menschen zurechnen lassen. Denn die Nation erwies sich, so Weber, als eine Kategorie, die die Handlungsmöglichkeiten an der Front beeinflusste. „Der Krieg hat den Nimbus des Staates gewaltig gehoben: ‚Der Staat, nicht die Nation‘, ist die Parole. Ist sie richtig? Erkundigen Sie sich bei österreichischen Offizieren einmal über die fundamentale Schwierigkeit, die dadurch gegeben ist, daß der Offizier nur 50 deutsche Kommandoworte mit seiner Mannschaft gemein hat. Wie soll er im Schützengraben mit ihr Gemeinschaft pflegen? Was soll er tun, wenn etwas Unvorhergesehenes, nicht durch jene Worte Gedecktes, geschieht? Vollends im Fall einer Niederlage? Blicken Sie noch weiter östlich auf das russische Heer, das zahlreichste der Erde: 2 Millionen Gefangene sprechen eine deutliche Sprache dafür, daß der Staat zwar vieles kann, daß er aber nicht die Macht hat, die freie Hingabe des einzelnen an sich zu erzwingen, ohne welche die innere Wiedergeburt Deutschlands zu Beginn dieses Krieges unmöglich gewesen wäre.“111 Doch diese neue Erfahrung als Beobachter des Kriegsgeschehens – das Gefühl nationaler Zugehörigkeit legt individuelles Verhalten fest – hat er nicht mehr als Soziologe theoretisch verarbeitet und in Begriffe gefasst. Der Nation rechnet Weber auch die geschichtliche Verantwortung vor den Nachfahren zu. Eine schwere Bürde für die deutsche Nation, sofern sie sich weiterhin als Machtstaat behaupten will. Denn als Machtstaat, und nur als Machtstaat, nehme sie teil „an der Verantwortung für die Zukunft der Erde“112. Ohne diesen Willen wäre der Weltkrieg „,sinnlos‘ und ein bloßes Gemetzel gewesen, und jeder künftige deutsche Krieg wäre es erst recht“. Es gehe also um der deutschen Nation „Verantwortlichkeit vor der Geschichte“, und deshalb führe sie „einen heiligen Krieg um die ganze Existenz“.113 Weber hatte durch-

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sei, während die Deutschen die Demokratie als „schmachvolle Konkursliquidation des alten Regimes“ empfangen). MWG II/9, S. 525. In seinen theoretischen Schriften hatte er es abgelehnt, Nation als Kulturgemeinschaft zu definieren. So auch 1912 auf dem Soziologentag, auf dem mehrfach auf Otto Bauers Nationstheorie verwiesen wurde, ohne dass Weber darauf eingegangen wäre. In seinem Werk wird, soweit ich sehe, Otto Bauer nicht erwähnt. MWG I/15, S. 181 (Deutschland unter den Weltmächten, 1916/17). Vgl. auch seinen Brief an Guttmann (wie Anm. 107). MWG I/15, S. 595 (Parlament und Regierung, 1917); dort auch das folgende Zitat. MWG I/15, S. 686 (An der Schwelle des dritten Kriegsjahres, 1916).

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aus Verständnis für Jakob Burckhardts Urteil über „die Macht als ein Element des Bösen in der Geschichte“. Doch sich von der Macht fernzuhalten, sei ausschließlich das Recht der Kleinen. „Jeder von uns wird es als eine Fügung des Schicksals preisen, daß einem Teil unseres Volkstums: den Deutsch-Schweizern, es vergönnt ist, die Tugenden der Kleinstaatsexistenz zu pflegen und ihre Blüten hervorzubringen.“ Doch ein „Volk von 70 Millionen zwischen ... Welteroberungsmächten hatte die Pflicht, Machtstaat zu sein“.114 Nur im Machtstaat organisiert, habe die deutsche Nation das Recht zu existieren. Nation und Machtstaat setzte Weber mit Blick auf Deutschland und auf alle großen Staaten ineins.115 „Nation“ als oberste Wertidee bei der Zukunftsgestaltung der eigenen Existenz in der Welt – dies war Max Webers politisches Bekenntnis. Konfession hätte er es anders als Norbert Elias nicht genannt116, denn Webers Bekenntnis war religiös ungebunden. Der Soziologe verstummte vor ihm. Ernst Troeltsch sah das anders. Er hat den Soziologen und den politischen Intellektuellen Weber zusammengedacht und dafür eindrucksvolle Worte gefunden117: „Eisig kalte, rein theoretisch gebändigte, stark soziologisch erleuchtete Seinsforschung auf dem historischen Gebiet, um unsere Lage und Zukunftsmöglichkeit, Spielraum und Art der Mittel klarzumachen, mit denen wir die Zukunft bauen können, und völlig fremd und unvermittelt daneben die Auswahl eines Wertes aus dem unversöhnlichen Polytheismus der Werte, dem man alle Kraft schuldig ist und für dessen Verwirklichung man alle historisch-soziologischen Erkenntnisse in restlosen Dienst stellt. Die Griechen und aller Polytheismus konnten noch viele Werte nebeneinander naiv anbeten. Der durch Judentum und Christentum hindurchgegangene Europäer könne nur einen Wertgott anbeten und aus den unheilbaren Spannungen der Werte herausholen: es ist für Weber die nationale Kraft und Größe. In den Dienst dieses einzigen, unbeweisbaren, nur durch Entschluß und Willen zu schaffenden Wertes tritt die umfassendste und sorgfältigste Geschichtserkenntnis, die für die Gegenwart die entscheidende Bedeutung der demokratisierten, mechanisierten Technik des staatlichen Großbetriebs mit cäsa114 MWG I/15, S. 191 f. (Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1916/17). 115 Es waren vor allem Historiker aus ‚kleinen‘ Nationen wie der Schweizer Werner Kaegi (im Anschluss an Jacob Burckhardt) oder der Niederländer Johan Huizinga, die das Kleine als den Ort bürgerlicher Freiheit priesen; vgl. dazu Langewiesche, Grösse – ein Ideal und seine Widersacher im 19. und 20. Jahrhundert, in: LiechtensteinInstitut (Hg.), 25 Jahre Liechtenstein-Institut (1986–2011), Schaan 2011, S. 253–266. 116 Norbert Elias hat den Nationalismus als „das mächtigste Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts“ bezeichnet (Studien über die Deutschen, 4. Aufl. Frankfurt 1990, S. 194). Für ihn kann deshalb die Nation eine Konfession sein. Webers Soziologie hätte „Nation“ und „Nationalismus“ diesen Status nicht zuerkannt. 117 Troeltsch (wie Anm. 91), S. 161.

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ristischen Führernaturen erweist. Das ist seine Geschichtsphilosophie und deren Verbindung mit Ethik und Wertlehre.“

Dieses Gesamtbild Max Webers, die politische Person und ihr wissenschaftliches Werk umgreifend, gelingt Troeltsch nur, weil er Webers soziologischen Befund, die Nation ist keine analysetaugliche Kategorie, unbeachtet lässt. Das Verstummen des Soziologen Max Weber als homo politicus vor seinem „Wertgott“ und dessen Bekenntnisgebot zur Nation bleibt so unbemerkt.

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Sozialdarwinismus: Der politische Kampf ums Dasein Ein Leitmotiv der Freiburger Antrittsrede Max Webers – interdisziplinär komplexer interpretiert

Sozialdarwinistische Vorstellungen konnten das Zeitgefühl des 19. Jahrhunderts und die Selbstlegitimation der imperialistisch denkenden und handelnden Eliten im Zuge der europäischen Expansion entscheidend beeinflussen. Sie haben weit über die Jahrhundertschwelle hinaus auch die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Sprach- und „Volks“-Gruppen geprägt. „Völkisch“ bestimmte Konflikte beeinflussten in der ausgehenden Bismarckzeit und im Wilhelminismus vor allem Auseinandersetzungen zwischen den polnisch sprechenden „Slawen“ und der deutsch-sprechenden „germanischen“ Bevölkerung. Besonders deutlich wird dies in der geschichtspolitischen Rechtfertigung der aus der mittelalterlichen „Ostkolonisation“ abgeleiteten „Germanisierungspolitik“, die von nationalistischen Kampfverbänden wie dem „Verein für das Deutschtum im Ausland“, dem Gustav-Adolf-Verein oder dem „Alldeutschen Verband“ protegiert wurde. Auch der politisch begründete Antisemitismus, der seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhundert auf immer breitere Resonanz stieß, lässt sich nicht mehr allein als „Judenfeindschaft“ konfessionell, sondern rassenideologisch erklären. Die ethnisch aufgeladenen innergesellschaftlichen Konflikte nahmen nach 1871 an Brisanz in dem Moment zu, als es nicht mehr um die Integration der deutschen „Reichs“-Gesellschaft, sondern um eine Zukunftsperspektive des deutschen „Volkstums“ ging. Lange bevor der angeblich drohende „Untergang des Abendlandes“1 beschworen wurde, beeinflussten negativ gedeutete sozialdarwinistische Zukunftsvisionen die Vorstellungen von Entwicklung und Evolution. Sie spiegelten immer auch Zukunftsängste und bargen deshalb ein politisch wirkungsvolles emotionalisierendes und polarisierendes Potential. In der Tat ließ sich die Innenpolitik des deutschen Kaiserreichs durch einen Begriff

1 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes (zuerst 1919–1922), München 1963.

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wie „innenpolitischer Kampfkurs“2 charakterisieren. Illustrieren lässt sich dieser durch die Ausgrenzung von ethnischen Minderheiten wie Dänen, französisch sprechenden Elsässern („Reichsländern“) und vor allem der in den preußischen Ostprovinzen und im Ruhrgebiet lebenden Polen3, die in den östlichen Provinzen Preußens zum Gegenstand der antipolnischen Germanisierungspolitik wurden. Der von den völkischen Gruppen propagierte angebliche „deutsche Drang nach Osten“4 verkörperte politische Kontinuitätslinien, die das wilhelminische Reich mit dem NS-Staat verbanden.

1. Max Webers Beitrag zwischen dem zeitgenössischen und heutigen Deutungskontext Früh wurde auch Max Weber als einer der Vertreter dieser nationalistischen Übersteigerung benannt. Seine Freiburger Antrittsvorlesung ist aber nicht nur als Beispiel weltmachtbewusster deutscher Denkmuster, sondern im Zusammenhang mit der Akzeptanz und Verbreitung sozialdarwinistischer Denkmuster im innenpolitischen Denken der Kaiserzeit von besonderem Interesse, weil Max Weber zentrale Begriffe und Versatzstücke der Theorie des Darwinismus, etwa „Anpassung“, „Auslese“, „Durchsetzung“, „Verdrängung“ etc. verwendet und in seine soziologischen Untersuchungen integriert hat. In den Arbeiten des Naturforschers Darwins waren diese Begriffe lediglich benutzt worden, um eine besondere Art der „Durchsetzung“ von lebens- und überlebensfähigen Organismen im Zuge ihrer „Anpassung“ an sich verändernde Lebensverhältnisse zu beschreiben. Modifiziert fanden sich diese Begriffe wieder in späteren Arbeiten Max Webers, vor allem in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Im Folgenden wird die Antrittsvorlesung von Max Weber aus dem Jahre 1895 über „Die Nationalität in der Volkswirtschaft“5 im Zusammenhang mit 2 Wolfgang Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaats, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1965, S. 430. 3 Christoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945, Göttingen 1978. 4 Wolfgang Wippermann, Der deutsche Drang nach Osten, Darmstadt 1981. 5 Max Weber, Die Nationalität in der Volkswirtschaft. Akademische Antrittsrede vom 13.5.1895, Freiburg/Br. 1895. Die Seitenangaben der Erstausgabe dieser Vorlesung finden sich als Marginalien auch in vielen Neueditionen, etwa in von Dirk Kaesler herausgegebenen „Schriften 1894–1922“, Stuttgart 2002, S. 22–46. Auf diese ursprünglichen Seitenangaben verzichtete allerdings Johannes Winckelmann in den von ihm herausgegebenen „Gesammelten Politischen Schriften“, 3. Aufl. Tübingen 1971. Die Antrittsrede wird abgekürzt als NuV, die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Erstausgabe,

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dem Versuch in das Zentrum einer Betrachtung gerückt, die Wirkung sozialdarwinistischer Denk- und Argumentationsformen auf die Analyse der damaligen Gegenwart und die Formulierung politischer Ziele zu bestimmen. Sie ist zu einer Zeit konzipiert und publiziert worden, nachdem sozialdarwinistische Vorstellungen in das allgemeine politische Denken eingedrungen waren und sich nicht nur in der Wahrnehmung der Antisemiten mit rassenideologischen Wertvorstellungen und Überzeugungen verbanden. Ernst Nolte sah in Webers Antrittsvorlesung wegen ihrer „Prägnanz und Rücksichtslosigkeit“ sogar einen „Höhepunkt des liberalen Imperialismus“.6 Max Weber hatte ein anderes Ziel, als das Denken seiner Zeit zu spiegeln. Er beanspruchte, mit seiner Vorlesung nichts weniger als den „Schleier der Illusionen“ zu lüften (S. 29). Er bekannte sich dabei als „ein Mitglied der bürgerlichen Klasse“ zu seiner Herkunft und ließ keinen Zweifel daran, dass er „erzogen [worden sei] in ihren Anschauungen und Idealen“. Vorrangig ging es ihm um die Demonstration einer Unerschrockenheit, die sich auf die Befähigung zur wissenschaftlichen Erkenntnis berief, „zu sagen, was ungern gehört wird“ (S. 28). Hannah Arendt hingegen hat in der „politischen Unbestimmtheit“ eine Erklärung des „überwältigenden Erfolgs des Darwinismus“ gesehen. Der Darwinismus hätte „nur ganz im allgemeinen der Stimmung des Zeitalters“ entsprochen und „all seine wesentlichen Elemente irgendwie aufgenommen und verarbeitet“, in der „Anwendung“ hingegen sei er „ganz ungebunden“ geblieben.7 Die Frage ist hier nicht, in welchem Maße sich Zeitvorstellungen in der Freiburger Vorlesung niedergeschlagen haben, sondern wie das Urteils- und Analysevermögen Max Webers, der subjektives Urteil und objektive wissenschaftliche Erkenntnis, der politisch bedingtes Erkenntnisinteresse und interpersonale Überprüfbarkeit als Voraussetzung des wissenschaftlich begründeten Urteils zu trennen suchte, gerade in seinem wissenschaftlichen Entrée von sozialdarwinistischen Vorstellungen bestimmt wurde. Seine Argumentation macht deutlich, durch welch einfache Analogien, Beschwörungen und verallgemeinernde Alltagsbeobachtungen der Darwinismus zum Sozialdarwinismus transformiert werden konnte. Der vorliegende Beitrag soll also nicht damalige zeitgeschichtliche Bezüge herausarbeiten. Das ist immer wieder versucht worden und Wolfgang J. auch: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/weber_nationalstaat_1895?p=3 (Aufruf 24.3.2016). Wegen der Vielzahl wurden Hervorhebungen im Original nicht durchweg übernommen. 6 Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas, Frankfurt 1991, S. 112. 7 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Bd. 2: Imperialismus, Frankfurt 1975, S. 95.

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Mommsen überzeugend gelungen.8 Im Mittelpunkt steht vielmehr die Argumentations- und Denkweise Webers. Die Interpretation des Textes macht deutlich, wie geschickt Weber sein höchst subjektives Werturteil mit dem Anspruch einer sozialwissenschaftlich zumindest plausiblen empirischen Analyse verband. Zugleich aber soll verdeutlicht werden, wie Max Weber, der sich in seinen bis heute grundlegenden Vorlesungen über Politik und Wissenschaft als Beruf9 zur erkenntnistheoretischen Notwendigkeit einer Unterscheidung von Werturteilen und empirischer Bestandsaufnahme geäußert hat10, den Vorurteilen, Denkmustern und Erwartungen seiner Zeit zu erliegen scheint. Kaum ein anderer Text des Nationalökonomen und Soziologen spiegelt den zeitspezifischen Erfahrungs- und rhetorischen Erwartungshorizont so deutlich wie Webers Freiburger Antrittsvorlesung. Dennoch ist sie mehr als nur ein Beleg des von Reinhart Koselleck benannten Erfahrungshorizontes seiner Zeit.11 Dabei steht nicht zur Debatte, ob diese Lektüre „keine Freude“ ist, wie Dirk Kaesler moniert, indem er feststellt, Weber sei Mitte der neunziger Jahre (unkritisch) „ein ‚Kind seiner Zeit‘“, also „Opfer und Weitergeber eines weitverbreiteten Gedankenguts“ gewesen, „das von der Idee des ubiquitären Kampfes ums Dasein, des Kampfes des Menschen mit dem Menschen durchdrungen“ gewesen sei und „Parolen von der Notwendigkeit der territorialen Ausdehnung der politischen Macht Deutschlands nachplapperte“.12 Kaesler wirft Weber fehlende Zeitdistanzierung vor und macht dennoch seine eigenen gegenwärtigen Empfindungen zum Beurteilungskriterium. Er verfehlt so die Bedeutung des Textes. Jürgen Kaube hingegen deutet den Vortrag als Versuch, als „Maß der Politik nicht mehr die alte Sozialstruktur, sondern die ökonomische Konkurrenz“ zu bestimmen. Er sieht in der Vorlesung vor allem einen Versuch Webers, sich von seiner Lehrkanzel aus der Frage nach der Zukunftsfähigkeit des 1871 entstandenen Deutschen Kaiserreiches zu stellen. Weber reflektierte imperialistische Zeitströmungen, aber erlag ihnen nicht, lieferte sich nicht aus, sondern wies dem 8 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 37 ff. 9 Max Weber, Politik als Beruf, in: Max Weber, Politische Schriften, S. 505–559, und ders., Wissenschaft als Beruf, in: Kaesler Hg., Schriften, S. 512–556. 10 Max Weber, Geleitwort [zur Übernahme der Herausgeberschaft des ‚Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘], in: Kaesler Hg., Schriften, S. 69 ff., und ders., Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ebd., S. 77–149; ders., Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ebd., S. 358–394. 11 Reinhart Koselleck, Zeitschichten: Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 27 ff. 12 Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014, S. 410.

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Bürgertum eine politische Funktion im künftigen Strukturwandel zu, der es nicht gewachsen schien. Weber, so konstatiert Kaube, empörte die „Selbstverleugnung des deutschen Bürgertums …, das aus seiner ökonomischen Vorrangstellung keine politischen Folgerungen zieht, sondern am liebsten in Ruhe von seinen Zinsen leben würde“.13 Deshalb plädierte Weber für ein neues Verständnis von Wirtschaft, erkannte er in der so offensichtlichen Wandlung des Wirtschaftsund Erwerbslebens doch „eine andere Form von Politik“, die durch „Kampf, Verdrängung, Ausdehnung von Besitzansprüchen, Verbreitung einer bestimmten nationalen Kultur durch Wachstum“ geprägt sei.14 Kaube würdigte die – wie Weber gesagt hätte – klassenpolitische Bedeutung und Stoßrichtung der Vorlesung, weil sich Weber gegen die Junker wandte, das Bürgertum kritisierte und die Vision einer an Bedeutung zunehmenden Arbeiterschaft bzw. „Arbeiteraristokratie“ entfaltete. Joachim Radkau schließlich hielt die Antrittsvorlesung vor allem für eine Spiegelung von Webers „Lebensgefühl“ und interpretierte den Text ebenso zeitgeschichtlich wie biographisch.15 Die Widersprüchlichkeit und Vielfalt dieser Bewertungen zeigt die Schwierigkeit des Versuchs, die wichtige und für Weber bezeichnende, zugleich methodisch herausfordernde Antrittsvorlesung vor dem Hintergrund der Beleuchtung des politischen Sozialdarwinismus als Ausdruck einer auch konfessionell gefärbten Weltdeutung einzuschätzen. Mochte Weber die Wichtigkeit der Antrittsvorlesung für seine eigene intellektuelle Entfaltung später relativieren, so bedeutete dies nur, dass er die ethnomethodologischen Fallgruben, denen er erlegen war, rückblickend deutlicher sah. Hingegen ist nicht fraglich, dass er ihr zunächst eine besondere Bedeutung zumaß. Warum hätte er sie schon wenige Monate später unter einem zudem veränderten Titel – „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“16 – in einem angesehenen Verlag publizieren sollen? Es kommt, dies sei nochmals betont, im Folgenden nicht darauf an, zu beweisen, in welchem Maße Weber von verbreiteten politischen Leitvorstellungen seiner Zeit abhängig war. Wer wäre das nicht in bestimmter Weise? Jakob Burckhardt behauptet deshalb in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, der Mensch sei seiner Zeit ähnlicher als seinem Vater.17 Viel interessanter als die kategorische oder moralisierende Zuordnung, wie sie Kaesler versucht, ist es, Webers Text in den Zusammenhang einer Theoriebildung zu stellen, die sich als eine empirisch überprüfte Evolutionstheorie verstand, stark ausgebildete 13 14 15 16 17

Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014, S. 115. Ebd., S. 114 f. Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2013. Ursprünglich sprach Weber nicht vom Nationalstaat, sondern von der „Nationalität“. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Hg. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 419. Zur Herkunft verweist Burckhardt auf ein „arabisches Sprichwort“.

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normative Wertbezüge vermittelte und mit der Eugenik und der Vorstellung ethnischer Konflikte das 20. Jahrhundert prägte. Die hier versuchte Auseinandersetzung mit Webers Argumentations- und Denkweise zeigt, dass seine Freiburger Antrittsvorlesung bereits erkennen lässt, was Weber zeit seines Lebens beschäftigte: Die Klärung der Vereinbarkeit von objektiver Erkenntnis und politischer Stellungnahme. Anzudeuten, Max Weber sei wegen der antipolnischen Thesen, die sich in seiner Antrittsrede finden lassen und die irritieren, gleichsam ein Sozialwissenschaftler „vor dem Faschismus“18 gewesen, ist nicht falsch, greift in inhaltlicher Hinsicht aber entschieden zu kurz und verschenkt die Möglichkeit, die Brisanz seiner ersten großen Rede zu verstehen.

2. Darwins Evolutionslehre und die Entwicklung des Sozialdarwinismus Die Entdeckung der Anpassung von Lebewesen an ihre sich wandelnden Umweltbedingungen leitete in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue genetische Weltsicht und damit evolutionäre Weltdeutungen ein. Sie beeinflusste zugleich innerhalb weniger Jahre wie keine andere naturwissenschaftliche Theorie die Wahrnehmung und Rechtfertigung politischer Auseinandersetzungen. Politische Interessengegensätze wurden ebenso wie Klassenauseinandersetzungen als „Lebens“- und „Überlebenskampf“ gleichsam „biologisiert“, die lebenswissenschaftliche Forschung bleibend „politisiert“. Darwinismus und Sozialdarwinismus beeinflussten sich gegenseitig und begründeten nicht nur ein neues Konzept sogenannter Lebenswissenschaften, zu denen Soziologie und Psychologie gehörten, sondern beeinflussten nachhaltig die ideologisch geprägten Vorstellungen von sozialem, politischem und kulturellem Wandel.19 Heftige Konflikte hatte es auch vorher gegeben. Sie gingen im 19. Jahrhundert zunehmend auf die Konstruktion nationaler und ethnischer Unterschiede zurück und lösten ein bis dahin stark konfessionell geprägtes, immer auch territorial bestimmtes Konfliktmuster ab, das seit dem Zeitalter der Kreuzzüge, der konfessionell begründeten Bürgerkriege und der Auseinandersetzungen zwischen der Reformation und dem Frieden von Münster und Osnabrück 1648 prägend war. Seit dem 18. Jahrhundert waren zunehmend innerstaatliche und 18 Ernst Nolte, Max Weber vor dem Faschismus, in: Der Staat 2 (1963), S. 1 ff., dazu auch Mommsen, Max Weber, S. 452 ff. 19 Hannah Arendt, Die vorimperialistische Entwicklung des Rassebegriffs, in: Dies., Elemente und Ursprünge, S. 65 ff.

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zwischenstaatliche Gegensätze verfassungspolitisch aufgeladen worden. Sie prägten seit der Französischen Revolution das 19. Jahrhundert und schienen bis weit in das 20. Jahrhundert die Nationalitäten-Konflikte zu erklären, die durch die imperialistische und nationalsozialistische Expansion zudem intensiviert wurden. Staatliche Machtkämpfe wurden in der Regel als Ausdruck tiefgreifender politisch-kultureller Unterschiede und Gegensätze gedeutet und verbanden sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend mit der von dem entschieden liberal urteilenden britischen Sozialphilosophen Herbert Spencer20 beeinflussten konkurrenzgesellschaftlichen Vorstellung vom „Überlebens-Recht des Stärkeren“ im „Lebenskampf“. Stärker als Charles Darwin beeinflusste Herbert Spencer (1820–1903) die Transformation des bio-evolutionären Darwinismus zum Sozialdarwinismus als einer der neuen Säkularreligionen des 19. Jahrhunderts. Dabei muss bedacht werden, dass das allgemeine Spencer-Bild häufig nicht auf einem Studium seiner soziologischen Schriften, sondern auf nachträglich umgedeuteten Charakterisierungen zweiter Hand beruhte. In der Rezeption seiner politischen Theorie wurden Verbindungen zu den sich abzeichnenden Klassen- und Nationalitäten-Konflikten gezogen. Entscheidend für Spencers Einfluss auf das politische Denken seiner Zeit war die Kombination von Evolution, Fortschritt und einem individualistischen „manchesterlichen“ Liberalismus. In der Vulgarisierung seiner Theorie wurde übersehen, dass Spencer dem Staat konsequent die Aufgabe zuschrieb, nur den Rahmen für eine sozialevolutionäre Entwicklung (sowohl „Development“ als auch „Progress“) zu setzen. Dennoch kündigte sich mit seinem Fortschrittsgedanken eine neue Rechtfertigungsmöglichkeit von Gewalt an. Er entwickelte sich zu dem neuen Grundgefühl des imperialistischen Zeitalters. Nationalitäten-Konflikte, imperialistische Expansion und die sozialdarwinistische Erklärung von „Volkstums-Kämpfen“ und Kriegen verbanden das 19. mit dem 20. Jahrhundert. Die Vorstellungen vom Kampf des Stärkeren und seinem Recht gegenüber den Unterlegenen und Schwächeren radikalisierten im 20. Jahrhundert die Konfliktlinien rassenideologisch und begründeten nicht zuletzt so den Ruf des Säkulums als „Jahrhundert der Extreme“21. Trotz mancher Vorgänger22 bleibt diese Entwicklung mit dem Namen von Charles Darwin (1809–1882) verbunden. Seine 1859 erschienene Untersuchung 20 Vgl. Paul Kellermann, Herbert Spencer, in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 1, München 1976, S. 159–200. 21 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 22 B. Glass u.a. (Hg.), Forerunners of Darwin 1745–1859, Baltimore 1959.

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über „Die Entstehung der Arten“23 leitete nicht nur eine wissenschaftliche Revolution ein, sondern veränderte entscheidend das bis dahin verbreitete „konventionelle Bild“24 des Menschen von sich als Individuum, als Gattungsund als Gesellschaftswesen. Darwin hatte ein zunächst nur augenscheinlich überprüftes, dann experimentell und theoretisch abgesichertes grundlegendes Entwicklungskonzept formuliert, das die Entwicklung des organischen Lebens im Einklang mit der Fortschrittsideologie als Evolution deutete und zunächst nur alle „Arten“ betreffen sollte. Erst mit der 5. Auflage seines Buches deutete der Untertitel sozialdarwinistische Bezüge an. Biblisch geprägte Vorstellungen der Erschaffung der Welt traten in den Hintergrund. Sie waren davon ausgegangen, jedes Lebewesen sei als Individualität „erschaffen“ und hätte seine Eigenarten durch Vererbung über einen langen Zeitraum bewahrt. Mit der Entdeckung geologischer Veränderungen hatte sich das Verständnis von Umwelt und Welt grundlegend gewandelt. Erdgeschichtliche Epochen von langer Dauer warfen die Frage auf, wie sich Lebewesen auf veränderte Lebensbedingungen eingestellt, mithin: wie sie sich angepasst hätten, um ihren Fortbestand zu sichern. Darwin interpretierte die Veränderung der Arten durch Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen zunächst als Ausdruck des Prinzips „natürlicher Auslese“. Bis dahin war in der Nachfolge von Jean Baptiste Lamarck (1744–1829) die Vorstellung bestimmend, Eigenschaften und Verhaltensweisen von Lebewesen ließen sich genetisch erklären.25 Entscheidender als die Anpassung an die Umwelt war für ihn die Vorstellung einer Entwicklung, die vor allem durch Vererbung bestimmt würde. Allerdings hatte Lamarck bereits vermutet, dass Organismen auf ihre Umwelt reagierten. Darwin entwickelte seine Fragestellungen jedoch niemals allein aus seiner Beobachtung von Lebewesen und ihrer Umwelt, sondern, wie er später bekannte, unter dem Einfluss einer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv diskutierten sozialen Theorie. Denn er ließ sich durch Malthus’ Essay on the Principle of Population (1826) schon 1838 anregen, über den zunächst nur hypothetisch angenommenen gesellschaftlichen Mechanismus „natürlicher Auslese“ nachzudenken.26 Bei Malthus rückte der Zusammenhang von Ernährung der Menschheit und Bevölkerungswachstum in das Zentrum. Eine Entschärfung drohender Hungerkrisen sah Malthus in der 23 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1995. 24 Thomas Junker, Charles Darwin, in: Ilse Jahn/Michael Schmitt (Hg.), Darwin & Co.: Eine Geschichte der Biologie in Portraits, Bd. 1, München 2001, S. 369. 25 Wolfgang Lefèvre, Jean Baptiste Lamarck, in: Jahn/Schmitt, Darwin, S. 176–201. 26 Charles Darwin, The Autobiography of Charles Darwin, Hg. N. Barlow, London 1959, S. 120.

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Beeinflussung der Gebürtigkeit – oder in Kriegen, die Menschenleben vernichteten. Letztlich ging es immer um Nahrungsspielräume, um Volk und Raum. Im 19. Jahrhundert verhalf nicht zuletzt die moderne Biologie in Verbindung mit der Erdgeschichte – der Geologie – dem Gedanken der Geschichtlichkeit von Sprache und Kultur, schließlich „allen Naturgeschehens“27, zum Durchbruch. Diese Perspektive der „Verzeitlichung“ und „Entwicklung“ entsprach dem Ansatz einer weiteren Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts, der Geschichte, die seit der Aufklärung einen bemerkenswerten Aufschwung genommen hatte und nicht nur die Geistes- und Kultur-, sondern auch die Naturwissenschaften prägte. Natur- und Geisteswissenschaften schienen durch spezifische Zugangsweisen und Methoden unterschieden – Empirie und Gesetzmäßigkeiten, Quantifizierung und Formelhaftigkeit auf der einen, Verstehen und Deutung auf der anderen Seite. Ihren Schnittpunkt sollte die Naturgeschichte darstellen. Aber es ist nicht zweifelhaft, dass empirische und hermeneutische Wissenschaften in den Erklärungsversuchen von Evolution und Fortschritt eine Verbindung eingingen, die schließlich sozialdarwinistische Erklärungsmuster begünstigte. So entwickelte sich eines der politisch verhängnisvollsten Wandlungs- und Legitimierungskonzepte des 20. Jahrhunderts als Ergebnis einer Übertragung eines auf Beobachtungen beruhenden evolutionsbiologischen28 Entwicklungskonzeptes auf Gesellschaft, Staat und Kultur. Darwin hatte seine Erklärung der Veränderung von Lebewesen im Zuge ihrer Anpassung an ihre Umwelt 1859 veröffentlicht, fünf Jahre vor Max Webers Geburt. Anpassung an Umweltbedingungen galt aber niemals als alleiniges oder gar entscheidendes Kriterium der Evolution, sondern diese Anpassung hatte – und hier wird der Einfluss Lamarcks deutlich – erbbiologische Folgen: Nachwachsende Generationen nutzten die Vorteile gelungener Anpassung und sicherten so die Zukunft ihrer Art – unter Verdrängung und Beseitigung anderer Arten. Entwicklung wurde in der Vulgarisierung als „struggle for existence“, als Überlebenskampf gedeutet. Die naive Schöpfungsgeschichte wurde modifiziert, an ihre Stelle trat die soziale Anthropologie, die soziobiologische Anschauungen beförderte und die Übertragung naturwissenschaftlicher Abstammungs- und Entwicklungskonzepte auf das soziale Leben und das Verhalten von Individuen und Gruppen begünstigte.29 Wenn Darwin die Variabilität der Lebewesen als Folge einer wie auch immer gearteten Selektion erklärt, bedeutet das für den von diesen Vorstellungen beein27 Ilse Jahn/Michael Schmitt, Vorwort, in: Dies., Darwin, S. 7. 28 Vgl. Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, Stuttgart 2008. 29 Heinz-Georg Marten, Sozialbiologismus: biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt 1983.

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flussten und auf politische Mitwirkung und Gestaltung drängenden, also nicht nur um das Verstehen „sozialen Sinns“ bemühten Sozialwissenschaftler eine Aufforderung, über politisch-praktische Handlungsmöglichkeiten nachzudenken.30 In der Folge wurden Konzepte der Eugenik erörtert, um die angebliche „Volksgesundheit“ durch positive oder negative „Rassenpflege“ zu stärken. Auch die „Bevölkerungswissenschaft“ zielte in diese Richtung. In entscheidender Konsequenz zielte die Verbindung von Evolutionstheorie, Geschichte und Politik also nicht nur auf die Transferierung von Wandlungskonzepten, sondern auf eine biopolitische Optimierung von ethnischer und kultureller Anpassung, die Beeinflussung von Anpassungskapazitäten durch politisches Handeln der regierenden Eliten und die Beeinflussung gesellschaftlicher Akzeptanz. Darwinistische und sozialdarwinistische Vorstellungen mündeten in ethnische Forderungen, in politische Programme und Deklarationen. Eine Realisierung der nationalistischen Visionen setzt allerdings eine Beeinflussung von Wahrnehmungen und Zielbestimmungen voraus. Dies ist der Handlungsrahmen meinungsbildender Publizisten und Wissenschaftler, als der sich auch Max Weber zeit seines Lebens empfand. Seine Appelle, Analysen, Artikel und Vorträge verstand er stets als Instrument des Bewusstseinswandelns und der Meinungsbildung. Er formulierte „Bewegungstexte“, provozierte Reaktionen und initiierte Kontroversen, die öffentlich ausgetragen wurden. Die Soziologie bot gute Voraussetzungen, vor allem, wenn sie den Anspruch erhob, Wandlungen nicht nur zu deuten, sondern ihnen deutend eine Richtung zu geben. So entstanden analytisch und ideologisch verschränkte Texte, die ihre mobilisierende Wirkung nicht verfehlten. Die Evolution des Lebendigen wurde bereits vor Darwin in aufgeklärten Kreisen akzeptiert, wenngleich die Anhänger einer biblisch geprägten Schöpfungslehre zunächst und vereinzelt bis heute empört auf Deszendenztheorien reagierten. Darwins Erklärungsmuster waren komplexer, als die vulgarisierte sozialdarwinistische Verengung vermuten lässt.31 Seine Theorie bezog sich zunächst vor allem auf die Vererbung in Verbindung mit einer Selektion der an ihre Umwelt angepassten und deshalb zukunftsfähigen Lebewesen. Die Übertragung 30 „Kampf ums Dasein“ – bei Darwin war im 3. Kapitel der „Ursprünge“ zu lesen: „Ich will vorausschicken, dass ich diesen Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen von einander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch die Sicherung seiner Nachkommenschaft einbegriffen wird.“ 31 Neben der Evolutionstheorie als solcher ging es immer auch um die Erklärung von Abstammungen, um graduelle Differenzierung und Varianz der Arten, um sexuelle Selektion und natürliche Auslese. Vgl. E. Mayr, Darwin’s five theories of evolution, in: D. Kohn (Hg.), The Darwinian Heritage, Princeton 1985, S. 755–772.

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auf menschliche Gesellschaften oder innergesellschaftliche Entwicklungen lag ihm nicht ganz, aber doch zunächst relativ fern. Dies veränderte sich erst im Laufe der zwei Jahrzehnte seit Erscheinen seines Hauptwerkes. Wie fast alle biologischen Evolutionstheorien bezog sich die breitere Rezeption Darwins bald nicht mehr nur auf die „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“, sondern wurde universalisiert und griff geradezu unvermeidlich auf die Deutung des sozialen Lebens über.32 Verknüpfte sich die Vorstellung eines universellen Darwinismus mit der Vorstellung einer von Eliten beeinflussten sozialen Evolution, so zielt dies auf die Präparierung eines breiteren politischen Handlungsrahmens, der Elemente der Evolution präzise verorten, messen und beeinflussen will. Vor allem Auguste Comte (1798–1857) hatte neben der empirischen Grundorientierung sozialer Bestandsaufnahmen eine Systemtheorie vorbereitet, die versuchte, Faktoren des Sozialen in Beziehung zu setzen. Diese Systemtheorie geht davon aus, dass soziale Einheiten im Zuge ihrer Organisierung auch Eigenschaften herausbilden, die ihre Anpassung an ihre Umwelt erleichtern oder begünstigen. Die Elemente eines Systems beeinflussen sich gegenseitig und prägen die allgemeinen Lebensbedingungen. Als Umwelt wird deshalb zunehmend das politisch-kulturelle und soziale System und nicht nur global die Umgebung begriffen. Damit bezieht sich die Fähigkeit zum Überleben und zu kultureller Selbstbehauptung auf andere Systeme. Soziale Beziehungen formieren sich in der Interaktion ihrer Elemente. Dies bedeutet, dass ein Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeit und Beeinflussung entsteht. Es liegt auf der Hand, dass ein derart verallgemeinertes Konzept nicht nur die Potentiale der Veränderung im Blick hat, sondern auf Handlungsoptionen zielt, die aus dem Wunsch resultieren, absehbare soziale, kulturelle und ökonomische Veränderungen zu verlangsamen, zu korrigieren oder gar zu verhindern. Entscheidend ist die Definition der einen Beziehungszusammenhang formierenden Handlungseinheiten des politischen, sozialen und kulturellen Netzgefüges. Geht es um Individuen oder führende Persönlichkeiten, um Clans und Stämme, um Ethnien, geht es um neue Massenorganisationen wie Verbände und Parteien, die Interessen aggregieren und artikulieren, geht es um Kirchen oder Sekten, die Weltsicht und Weltverständnis, Sinn und Werte formulieren, geht es um Klassen, die Machtkämpfe austragen? Was bedeutet es schließlich, wenn Nationen und Staaten als Elemente innerhalb eines sich globalisierenden Netzgefüges definiert werden, zumal sie ihre Durchsetzungsfähigkeit nicht allein durch Erhöhung ihrer Anpassungskapazitäten, sondern durch gewaltsame Auseinandersetzungen beweisen wollen? Welche Rolle kommt dabei den jeweiligen Führungspersonen und politisch 32 Vgl. Kellermann, Herbert Spencer, S. 181.

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einflussreichen Gruppierungen zu, wie formieren sie Gefolgschaft, begründen ihre Herrschafts- und Machtansprüche, genügen den Effizienzkriterien, die Nachfolgebereitschaft und Anerkennung wecken? Im Zuge einer nicht nur metaphorischen, sondern auch praxisbezogenen Biologisierung der Politik gewann Darwins Untersuchung große Bedeutung, weil sie die Wahrnehmung von sozialen Konfliktdimensionen veränderte. Auch Darwin modifizierte sein Konzept und übertrug naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf soziale Entwicklungen. Er sprach von der „Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein“ und bereitete einem biopolitischen Determinismus die Wege, der seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend Anhänger gewann und vor allem auch der imperialistischen Praxis eine wichtige Grundlage der Selbstlegitimierung durch rassistisch begründete Überheblichkeit schuf. Die im Zuge der Evolution von Darwin empirisch nachgewiesene und so evidente Anpassungsfähigkeit der Organismen wurde immer stärker reduziert auf den „Kampf um das Dasein“ und gleichsam unter der Hand rassenideologisch aufgeladen, wenige Jahre später dann auch – dies als eine keineswegs beabsichtigte Ausweitung im Gefolge der Untersuchungen von Johann Georg Mendel (1822–1884)33 – eugenisch instrumentalisiert. Mit der Begründung einer gestuften Wertigkeit angeblicher „Rassen“ wurden im imperialistischen Zeitalter Ausrottungen, Unterwerfungen, Eroberungen und Ausbeutungen angeblich minderwertiger „Rassen“ legitimiert. Als Deutung und Rechtfertigung eines gewaltsam ausgetragenen Kampfs um das Dasein wurde das sozialdarwinistische Konzept seit den achtziger Jahren immer häufiger auf die Auseinandersetzungen in der Innenpolitik übertragen. Dabei geriet die ursprüngliche Vorstellung eines biologisch begründeten Anpassungs-Evolutionarismus und die zunächst durchaus nicht auf Gewaltsamkeit angelegte „natürliche Auslese“ in den Hintergrund. Konflikte endeten mit der Überlegenheit des Stärkeren, die als sein Recht zur Überwältigung und Beherrschung des angeblich Schwächeren im „Lebenskampf“ gedeutet wurde und so dem Obsiegenden das Recht zur Unterwerfung, Unterdrückung und Ausbeutung des jeweils Unterliegenden zuerkannte. Aus der Selbstbehauptung der Lebewesen im „Kampf der Natur“ und „in der Natur“ hatte sich so in einem Jahrzehnt die Vorstellung eines unvermeidlich gegebenen und oftmals gewaltsamen Kampfes um Lebensraum ergeben. Darwins Vision des allgegenwärtigen Überlebenskampfes und die Akzeptierung des „survival of the fittest“ wurde als politische Realität empfunden. Der „Daseinskampf“ bestimmte zwar

33 Johann Georg Mendel, Versuche über Pflanzenhybriden. Zwei Abhandlungen 1865 und 1869, Hg. Erich von Tschermak-Seysenegg, Frankfurt 2000.

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zunehmend die Praxis kolonialer Expansion, hatte insbesondere in Deutschland aber eine innenpolitische Funktion.

3. Anknüpfungspunkte im Frühwerk von Max Weber Zumal sich der Sozialdarwinismus als Denkvorstellung und Sozialtheorie vor allem in den USA um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durchsetzte34, hat sich vermutlich auch Weber intensiv mit dieser speziellen Evolutionstheorie beschäftigt. Im Unterschied zu seinem Bruder Alfred, der sich zur Deszendenztheorie bekannte, beeindruckten Weber als Schüler und jungen Studenten allerdings Darwin und seine Theorie zunächst nicht. Sie hat ihn deshalb auch kaum geprägt. Stichwortverzeichnisse zum Werk von Max Weber lassen den Begriff „Darwinismus“ (oder gar „Sozialdarwinismus“ als kaum zeitgenössisch üblich) vermissen. Allerdings gibt es Komplementärbegriffe, die sich auf Konflikte und soziale, kulturelle und konfessionelle Gegensätze beziehen. In seiner Untersuchung zum Untergang der Antike verweist Weber 1896 auf die von Historikern auf die Geschichte übertragene Theorie Darwins. Er referiert die These eines ungenannten – als „Neuester“ titulierten – Zeitgenossen, der behauptet hatte, „der Ausleseprozeß, der sich durch die Aushebung zum Heere vollzog und die Kräftigsten zur Ehelosigkeit verdammte, habe die antike Rasse degeneriert“.35 Zugleich aber lässt er spüren, dass er der Deutung, durch die Verpflichtung besonders wertvollen menschlichen Erbmaterials als Soldaten im römischen Heer sei die römische Volkskraft entscheidend geschwächt worden, keinen besonderen Glauben schenkt.36 Das bedeutet allerdings nicht, dass Max Weber das Konzept „Kampf ums Dasein“ abgelehnt oder dass er dabei genau jene Schlüsselbegriffe vermieden hätte, die den Sozialdarwinismus charakterisieren. Im Gegenteil – der Begriff „Daseinskampf“ wird in vielen Variationen von ihm benutzt und historisch und kulturell illustriert. So gesehen, waren ihm die Vorstellungen einer aus politischen Gründen dramatisierten, gleichsam kriegerisch-kämpferischen Evolution vertraut. Die Konsequenz lag weniger in der Anerkennung des Konzeptes überhaupt, sondern in der Hoffnung und dem Willen, durch historisch vergleichende Studien die strukturellen Ausgangsbedingungen dieses „Lebenskampfes“ zu 34 Richard Hofstadter, Social Darwinismus in American Thought 1860–1916, Philadelphia 1944. 35 Max Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, in: Kaesler Hg., Schriften, S. 47 ff. 36 Ebd., S. 49 u.ö.

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durchdringen, zu bewerten und auch zu verändern. Diese Absicht gibt vollends seiner Antrittsvorlesung aus dem Mai 1895 eine geradezu exemplarische Bedeutung, weil sich die politisch-praktische Handlungsaufforderung aus seiner angeblich wissenschaftlichen Analyse ableiten lässt, die Evidenz zu erlangen scheint und dennoch Werturteil und Analyse37 in einer höchst problematischen Weise unauflöslich verschränkt. Max Weber interessierten gesellschaftliche Konflikte und deren Lösung durch Institutionen, die Verhaltenssicherheit schaffen und Berechenbarkeit durch Regelhaftigkeit sichern konnten. Zugleich aber interessierte ihn die Durchsetzung von Gehorsam und Folgebereitschaft, die Organisierung von Werte-Gemeinschaften, die sich mit anderen im Werte-Konflikt befanden und unterschiedliche Vorstellungen von „Sinn“ und „Zielen“ hatten.38 Integration der Gesellschaft ist für ihn eine Wert-, eine Macht- und stets eine Herrschaftsfrage. Weber interessierten deshalb Legitimationsmuster, Gefolgschaftsvoraussetzungen, ebenso die Bedingungen von wirtschaftlichem Erfolg als Grundlage von Machtsicherung, also weit mehr als nur die Entstehung von Herrschaft.39 Die Durchsetzung von Macht wurde beeinflusst durch politische Institutionen und Strukturen, aber auch durch Veränderungen der Lebensverhältnisse. Dies hatte wiederum Einfluss auf Lebensstile und Lebensbedingungen und prägte Weltsicht und Weltverständnis, damit auch den „Sinn“40 der Lebensführung. Deshalb versuchte Weber, wandelbare gesellschaftliche Kräfteverhältnisse einzuschätzen und mit dem Versuch einer Prognose künftiger Entwicklungen zu verbinden. Er diagnostizierte Verschiebungen sozialer Kräfteverhältnisse und berücksichtigte neu gebildete Institutionen wie die Presse, die Parteien und die Verbände, aber auch den durch sie auf vielfältige Weise zu beeinflussenden politischen und publizistischen Massenmarkt. Vor allem die „jungen Parteien“ und „Bewegungen“, Schichten und Gruppen bestimmten die Zukunftsfähigkeit eines Systems und rechtfertigten die Absicht, durch politische Interventionen zukünftige Generationen, Gesellschaften und Staatenkonstellationen für den „Lebens“- und „Daseinskampf“ zu stärken.41 37 Vgl. Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Kaesler Hg., Schriften, S. 77 ff. 38 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987; ders., Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996. 39 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd., Kap. IX: „Soziologie der Herrschaft“, Tübingen 1985, S. 541 ff., bes. S. 548 f. 40 Vgl. dazu Max Weber, Wissenschaft, S. 487. 41 So schon bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hg. Marianne Weber, Tübingen 1925.

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Eine der prägendsten Konfliktvorstellungen war die Vorstellung vom Klassenkampf, also die Übertragung innergesellschaftlicher Konflikte und Interessengegensätze auf soziale Klassen, Schichten und Gruppen. Der Klassenkampf bezeichnete zugleich das Ende der Integrationsmöglichkeit einer Gesellschaft durch Konflikte, denn er musste mit dem Aufstieg einer siegreichen Klasse enden. Der Konflikt-Theorie zufolge versuchten Konkurrenten im Neben- und Gegeneinander, ihren Kampf um Einfluss, Macht und Märkte zu entscheiden. Sie rangen um die öffentliche Meinung, gründeten Bewegungsorganisationen wie Parteien und Verbände, beeinflussten durch konflikthaft veränderte Verfassungsnormen die konstitutionellen Rahmenbedingungen, die entscheidend waren für die Erzeugung allgemeiner, gesamtgesellschaftlich akzeptierter Verbindlichkeiten. Das Konzept des Kampfes um Legitimität stellt neben dem Klassenkampf-Konzept die vielleicht wichtigste Konflikttheorie dar, die sich hervorragend eignete, um an Theorien von Macht, Herrschaft und Einfluss anzuknüpfen oder zumindest Verbindungen zwischen diesen Konzepten herzustellen. Denn die Vorstellung vom „Lebenskampf“ und dem „survival of the fittest“ war zugleich eine Theorie des politischen und sozialen Wandels. Sie durchzog das Gesamtwerk Webers, das sich nicht nur auf die Beschreibung von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch auf die Analyse von politischen Durchsetzungschancen bezog.

4. Weltanschauliche und sozioökonomische Faktoren in methodischer Problematisierung So ist es nicht überraschend, dass Webers Freiburger Antrittsrede vom 13. Mai 1895 mit einem argumentativen Paukenschlag begann. An einem Beispiel wollte Weber die Rolle veranschaulichen, welche nach seiner Überzeugung die physischen und psychischen „Rassen“-Differenzen zwischen den Nationalitäten im ökonomischen „Kampf ums Dasein“ spielen sollten. Einer der wichtigen Protagonisten im kaum ein Jahrzehnt zurückliegenden, erst später42 so genannten „Berliner Antisemitismus-Streit“, Wilhelm Marr43 (1819–1904), hat diesen Begriff des Kampfes ums Dasein rassenideologisch 42 Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965. 43 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, 8. Aufl. Bern 1879, S. 38: „Es war von Anfang an kein religiöser, es war ein Kampf um’s Daseins, der mit der Fremdherrschaft des Judenthums geführt wurde“.

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und antisemitisch aufgeladen.44 Heinrich von Treitschke (1834–1896) hatte daran anknüpfend, allerdings stärker als Marr und Adolf Stoecker (1835– 1909) die integrationspolitische Bedeutung betonend, die Akzeptierung einer „reichsdeutschen“ Leitkultur durch die Juden zur Forderung erhoben. Friedrich Nietzsche (1844–1900) hatte 1888 eine Verbindung zwischen dem Konzept des „Lebenskampfes“ und dem Machtkonflikt hergestellt. Kompiliert ließe sich seine aus Fragmenten zusammengefügte Sicht wie folgt skizzieren: „Was den berühmten Kampf ums Leben betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der GesamtAspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungertage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht.“45 Nietzsche korrigierte so die auf nationale Selbstbehauptung zielende Vorstellung der „Antisemiten“ und lenkt den Blick auf die geistigen Verbindungen zwischen Weber und Nietzsche. Offenbar goutierte Weber nicht das vereinfachte Konzept eines Daseinskampfes, wie es Marr propagiert hatte. Dies könnte erklären, weshalb Wolfgang J. Mommsen in seiner ersten grundlegenden Untersuchung des politischen Max Weber nur zweimal das Stichwort „Darwinismus“ aufführt.46 In seinen Arbeiten hat Weber stets den komplexen Zusammenhängen zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur nachgespürt und so die zugleich sozialwissenschaftliche und „verstehende“47, hermeneutisch orientierte, also sinnverstehende48 Soziologie begründet. In diesem Zusammenhang rückt der Versuch, die Mechanismen von Macht und Herrschaft zu analysieren, in das Zentrum seiner Interessen. Sie lassen sich unmittelbar mit der Analyse der Voraussetzungen, Strukturen, Verläufe und Folgen des angeblichen „Daseinskampfs“ verbinden. Dabei geht es immer auch um Begründung und Sicherung von Herrschaft, um die Durchsetzung von Macht, also um die Sicherung von Dominanz, von Überlegenheit, der Möglichkeit, allgemein verbindliche und bindende, als legitim anerkannte Zielvorstellungen durchzusetzen. Das geschieht durch Verhandeln und Überzeugung, aber auch durch politische Auseinandersetzungen und bewusst entfachte intellektuelle Kontroversen. Sie machen den „politischen Kampf“ aus. 44 Karsten Krieger (Bearb.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. 2 Bde., München 2003. 45 Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1888, München 1988. 46 Mommsen, Max Weber, S. 574 mit Verweisen auf S. 43 u. S. 453. Fündig wird der Leser, wenn er nach dem Stichwort „Kampf ums Dasein“ sucht – dem zentralen Begriff des politischen und sozialen Darwinismus. 47 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 4. 48 Ebd., S. 3 f.

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In der Vorbemerkung der Druckfassung seiner Vorlesung erklärt Weber deshalb: „Nicht die Zustimmung, sondern der Widerspruch“, den er bekommen habe, hätte ihn bewogen, seinen Vortrag zu publizieren. Er wolle seinen „subjektiven Standpunkt“ offen darlegen und auch rechtfertigen, und konzedierte zugleich, seine Darstellung „gegenüber der Wirklichkeit vereinfacht“ zu haben. Dieses Verfahren der Vereinfachung wird später weiter entwickelt durch seine Absicht, Idealtypen zu bilden.49 Sein Ziel beschreibt er als den Versuch, „an einem Beispiel die Rolle zu veranschaulichen, welche die physischen und psychischen Rassendifferenzen zwischen Nationalitäten im ökonomischen Kampf ums Dasein“ spielten. Zwar verzichtet er auf eine Bestimmung seines Verständnisses von „Rasse“50; die Absicht, rassische Differenzen „zwischen Nationalitäten“ zu bestimmen, legt jedoch die Vermutung nahe, dass es sich um den Versuch handelt, kulturelle und mentale Differenzen, also im eigentlichen Sinne Nationaleigenschaften, zu bestimmen. Weber, der sich durch seine Untersuchung über die Arbeitsund Lebensverhältnisse der Landarbeiter in den „Ostmarken“ des Deutschen Reiches einen Namen gemacht hatte, begründet sein Interesse nicht nur durch die „Aufmerksamkeit“, die das „platte Land“ Westpreußens bei ihm gefunden hätte, sondern inhaltlich mit den „ungewöhnlich schroffen Unterschieden der sozialen und ökonomischen Existenzbedingungen“. Die dabei vorausgesetzten Gegensätze gingen zum einen auf die „Güte des Ackerbodens“, zum anderen aber auf „Schichtenunterschiede“ zurück, die als Folge der Organisation des Lebens und des Wirtschaftens der Bevölkerung gedeutet wurden. Gutsbezirke waren durch Junker geprägt, die als Gutsherrn ihre Tagelöhner verpflichtet hatten, während die dörflichen Landgemeinden vor allem bäuerlich geprägt wurden. Mehr als ein Jahrzehnt später machte Weber die Konsequenzen dieser Differenzierung deutlich, denn er verwies auf „persönliche Eigenart, berufliches Schicksal und außerberuflichen ,Lebensstil‘“, um die „physischen und psychischen Qualitäten“ der Bevölkerung zu verdeutlichen und so die „Lebensführung“ zu einem wichtigen Kriterium einer Bewertung von Lebenschancen zu machen.51 Den entscheidenden Gegensatz sah Weber allerdings in den Nationalitätsunterschieden. Auch wenn er betonte, es sei „diese Verschiedenheit“, die 49 Ebd., S. 10. 50 Ebd., S. 22, wo die „Gemeinsamkeit“ des „biologischen Erbguts“ als „Rassen-Merkmal“ beschrieben wird. 51 Max Weber, Methodologische Einleitung für die Erhebungen des Vereins für Socialpolitik über Auslese und Anpassung (Berufswahlen und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie, in: Marianne Weber (Hg.), Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 2. Aufl. Tübingen 1988, S. 1 f.

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ihn interessierte, so wurde sehr bald deutlich, dass er sein Hauptaugenmerk auf das „Polentum“ richtete, das er von den „Trägern des Deutschtums“ unterschied und das an Zahl und Dichte „mit abnehmender“ Bodengüte zunähme. Dabei hielt er sich zunächst zurück, die behaupteten Unterschiede in Verbindung mit den Auseinandersetzungen zwischen „Deutsch- und Polentum“ zu sehen. Weber kombinierte vielmehr die Bevölkerungszählung von 1882 mit der Konfessionsstatistik und gelangte zu dem Ergebnis, dass in den früh von Angehörigen der deutschen Sprachgruppe okkupierten „fruchtbaren Kreisen“ in den Gutsbezirken der Anteil der Katholiken überwog, während die Dörfer von deutschsprechenden Protestanten zahlenmäßig dominiert worden waren. Dörfer mit schlechteren Böden waren wiederum katholisch, mithin polnisch dominiert. In Kombination mit der Steuerstatistik gelangte Weber zu einer erklärungsbedürftigen Feststellung, die er allerdings als Problem formulierte: „Warum“, so fragte er, „sind in der Ebene [also in den Gutsbezirken] die Güter, auf der Höhe die [über schlechteren Böden verfügenden] Dörfer die Sammelbecken des Polentums?“ Am Anfang seiner Vorlesung präsentierte Weber den Zuhörern einen empirischen Befund, der überdies durch eine Statistik des Altersaufbaus abgesichert wurde und auf die Aussage hinauslief, Polen hätten „die Tendenz, sich in der ökonomisch und sozial niedrigst stehenden Schicht der Bevölkerung anzusammeln“. Von dieser thesenartig zugespitzten Beobachtung ausgehend, versprach Weber eine „Begründung“ der in seiner Sicht offensichtlichen Konkurrenz „beider Nationalitäten“ und ihrer „Scheidung“ und formulierte eine sozialdarwinistischer Denkweise entsprechende Hypothese, denn „man [sei] alsbald versucht, an eine auf physischen und psychischen Rassenqualitäten beruhende Verschiedenheit der Anpassungsfähigkeit der beiden Nationalitäten an die verschiedenen ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen zu glauben“ (S. 4 f.). Gewiss war es eine Folge der durch den Vortragscharakter gebotenen Kürze, wenn Weber unmittelbar anschließend die in der Hypothese angelegte Erklärung bestätigte und den „Beweis in der Tendenz“ erblickte, „welche in der Verschiebung der Bevölkerung und der Nationalitäten zu Tage tritt“. Weber knüpfte also nicht nur bei seiner einleitenden Problementfaltung an eine verbreitete Vorstellung an, wie die Verwendung der für die durch Darwin entscheidend formulierten Vorstellung der „Anpassung“ beweist. Er benutzte auch den nicht präzisierten Begriff der Rasse und lässt so nur vermuten, dass er diesen Begriff in Verbindung mit dem Konzept unterschiedlicher Nationalitäten kulturell zu füllen suchte, den er später durch die starke Betonung eines „biologischen Erbgutes“52 modifizierte. Interessanter als die verkürzte „Beweis“-Füh52 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 3 u. 22.

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rung ist in diesem Zusammenhang vor allem die Einführung einer Bewertung, die zugleich auch dem Leser eine Entscheidung und Parteinahme für Webers Perspektive abverlangte, denn er glaubte, „zugleich das Verhängnisvolle“ der – seines Erachtens evidenten – unterschiedlichen Anpassungsfähigkeit von bäuerlichen Deutschen und landproletarischen Polen zu erkennen. Diese Bewertung ergibt sich aus der wiederum nicht argumentativ begründeten, sondern vorausgesetzten Verengung des Interesses auf die offensichtlich unterschiedliche Anpassungsfähigkeit des „Deutschtums“, also der deutschsprechenden Bauern und junkerlichen Gutsherren. Aus den statistischen Befunden leitete Weber eine Veränderung der ethnischen Bevölkerungsverteilung ab, die sich vor allem auf die bäuerliche Landbevölkerung bezog, zugleich aber unabhängig von der Qualität des Bodens und damit von der Ertragskraft landwirtschaftlicher Tätigkeit war. Besonders die Güter auf „guten Böden“ verzeichneten einen „besonders starken Abfluß“, während die Bevölkerungszunahme den Dörfern auf schlechtem Boden zugutegekommen sei. Die konstatierte Tendenz – „Abnahme der Tagelöhner der Güter auf den besten Böden, Zunahme der Bauern auf den schlechten“ – zieht die Frage „nach der Verschiebung der Nationalitäten“ (S. 7) nach sich. Weber stützte sich auf eine, wie er wusste, keineswegs über alle Zweifel erhabene Datenlage, die Bevölkerungsstatistiken der Jahre 1871 und 1882. Sie ließen den Beginn der von ihm dann zugespitzten „Entwicklung“ nur „undeutlich“ erkennen. Die problematische Datenlage korrigierte Weber durch den Hinweis auf seinen Augenschein bzw. durch das allgemeine Wissen, denn er behauptet, der anfängliche Trend habe sich „nach allem, was wir wissen, außerordentlich verstärkt fortgesetzt“. Diese seiner Überzeugung nach „bekannte“ Tatsache eines „ebenso langsamen“ wie stetigen „Vordringens“ des „Polentums im Osten“ drückte Weber auch an anderer Stelle aus. Evidenz der Wahrnehmung beruft sich auf Beobachtungen und somit auf interpersonal nicht immer zweifelsfreie Befunde. Weber beschwört also eine Quasi-Plausibilität, um seine Argumentation zu stützen, die im Kern auf eine Hinführung zu einem sozialdarwinistischen Deutungsschema hinausläuft.

5. Nationalpolitische und gesellschaftliche Analyse ostdeutscher Agrarverhältnisse Zugleich machte Weber deutlich, dass sich seine Argumente im Fluss befinden, also keineswegs auf einer sicheren oder auch nur „durchsichtigen“ empirischen Basis gründeten. Er reflektierte in diesem Zusammenhang nicht so sehr sozialdarwinistische Überlegungen, nur weil er den Kampf als Grund-

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element der Politik bezeichnete, denn die Verwendung des Begriffs „Kampf ums Dasein“, „Daseinskampf“ oder „Lebenskampf“ hatte bei ihm keine unmittelbar aktuelle Dimension, wie sie z.B. in erst später so benannten Antisemiten-Parteien deutlich wurde. Er zeichnete sich vielmehr durch eine längerfristige – in der Regel nationalstaatliche – Perspektive aus, die auf kulturelle Integrations- und Assimilationsprozesse verwies. Dabei unterschied Weber kulturelle und ökonomische Ursachen, um nationale Unterschiede zu belegen: „Nun kann die Verschiebung einer Nationalitätengrenze auf zweierlei, grundsätzlich zu scheidende, Arten sich vollziehen. – Einmal so, daß nationalen Minderheiten im national gemischten Gebiet Sprache und Sitte der Mehrheit allmählich oktroyiert wird, daß sie ‚aufgesogen‘ werden“ (S. 8). Die Veränderungen beobachtete Weber an den „Deutschen katholischer Konfession“, weil für sie das „kirchliche Band … stärker als das nationale“ sei und sich „Reminiszenzen aus dem Kulturkampf“ in Verbindung mit einem „Mangel eines deutsch erzogenen Klerus“ dahin auswirkten, dass sie der „nationalen Kulturgemeinschaft verloren“ gingen. Weber erweist sich hier als ein Zeitgenosse der Kulturkampfära, was nur insofern auffällig ist, als Freiburg einen Kern der südbadischen katholischen Landschaft bildete und so durch den Kulturkampf betroffen gewesen war. Weber macht zugleich klar, dass er sich zu einer preußisch-deutschen nationalen Leitkultur bekannte. Insofern ist sein wenig später erfolgter Beitritt zum Alldeutschen Verband nicht erstaunlich, der die Dominanz des Deutschtums vehement vertrat. Als eine von ihm als „wichtiger aber und für uns interessanter“ beschriebene „Form der Nationalitätenverschiebung“ benannte er die „ökonomische Verdrängung“ und erhob sie durch eine knappe verstärkende Behauptung – „Diese liegt hier vor“ – von vornherein zur Tatsache: Es seien „vornehmlich deutsche Tagelöhner, die aus den Gegenden mit hoher Kultur abziehen, es sind vornehmlich polnische Bauern, die in den Gegenden mit tiefem Kulturstand sich vermehren“. Wiederum verwies Weber auf seine Vermutung, die dem Zeitklima entsprach, denn er behauptete, die „niedrigeren Ansprüche an die Lebenshaltung“ seien insbesondere der „slawischen Rasse von der Natur auf den Weg gegeben oder im Verlaufe ihrer Vergangenheit angezüchtet worden“ (S. 8). Damit machte er erneut deutlich, wie sehr er auf dem Boden sozialdarwinistischer Vorstellungen stand. Erklärungsbedürftig blieb in seiner Sicht allerdings das Verhalten der deutschen Tagelöhner, die weniger aus „materiellen Gründen“ die Güter verließen, denn „kaum eine Situation“ sei „materiell gesicherter als die eines Instmanns auf den östlichen Gütern“. Wie aber lässt es sich erklären, dass diese Sicherheit im Zuge des Fortzugs aufgegeben wird? Weber bemüht nun fast schon metaphysisch anmutende Begründungen, denn er sieht in der Neigung zur

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Binnenwanderung der deutschsprachigen Tagelöhner einen Niederschlag des „Zaubers der Freiheit“, denn der Fortgang in die Städte sei ein Versuch, den Unterwerfungsverhältnissen der Gutsbezirke zu entkommen, wo es nur Herren und Knechte gäbe. Deshalb sei im Drang der in die Städte Strömenden, ihrem Wunsch also, der „Gutsglocke“ zu entkommen, sogar ein „Moment eines primitiven Idealismus“ verborgen, den Weber geradezu emphatisch zu teilen vorgab, indem er die Hörer direkt ansprach: „In der Tat: selten berührt uns heute ihr Geist in der Stille der Bücherstube. Verblichen sind die naiv freiheitlichen Ideale unserer frühen Jugend, und manche von uns sind vorzeitig alt und allzu klug geworden und glauben, einer der urwüchsigsten Triebe der Menschenbrust sei mit den Schlagworten einer niedergehenden politischen und wirtschaftspolitischen Anschauung zu Grabe getragen worden“ (S. 9).

Weber deutete die Landflucht als eine massenpsychologisch verständliche Reaktion auf die „sozialen Lebensbedingungen“ in den Gutsbezirken, denen sich die Tagelöhner im Unterschied zu den bäuerlich geprägten Lebensverhältnissen nicht mehr fügen wollten. Mit der Durchdringung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in den Gutsbezirken und der fehlenden Bereitschaft der Landarbeiter, sich den heimatlichen „sozialen Lebensbedingungen“ nicht mehr anzupassen, wandeln sich die östlichen Sozialstrukturen, damit aber auch die Voraussetzungen eines vom „Deutschtum“ zu gewinnenden Kampfes. Dies sei auch eine Folge der kapitalistischen Produktionsweise, die auf den Gütern Einzug gehalten habe. Mit der Lohn- und Saisonarbeit, die sich mit der Produktion von Zuckerrüben ausgebreitet habe, sei das „patriarchalische Gutshintersassen-Verhältnis“ zerstört und damit über die Zukunft der Landarbeiter entschieden. Vor ihnen liege eine „rein proletarische Existenz … ohne die Möglichkeit eines kraftvollen Aufschwungs zur ökonomischen Selbständigkeit“, die den zum großstädtischen Proletariat stoßenden Instleuten eine Zukunftsperspektive eröffne. An deren Stelle rückten polnische Wanderarbeiter. Sie fügten sich den neuen Existenzbedingungen und stellten überdies ein großes Arbeitskräftepotential dar, das nun wie ein „Nomadenzug“ in die Gutsbezirke einströme und keinen Anspruch auf Armenwohnungen, Armenlasten und soziale Verpflichtungen habe. Weber bezeichnete die Arbeitsverhältnisse nicht nur als „prekär“, sondern verschwieg nicht, dass die polnischen Landarbeiter sich in die „Hand“ der Grundbesitzer begäben, die sie täglich entlohnten, also flexible Arbeitskräfte anstelle der Instleute bekämen. In seiner Analyse stellte Weber nicht nur einen Zusammenhang zwischen Mentalität, Produktion und Anpassungsbereitschaft der Tagelöhner und Guts-

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besitzer her, sondern sah in den Veränderungen auch einen Wandel des Verhältnisses zwischen Gutherren und ihrem Grundeigentum. Mit der Lohnarbeit wandelten sich die Junker in „industrielle Geschäftsleute“ – dies aber leite den „ökonomische[n] Todeskampf des alten preußischen Junkertums“ ein (S. 10), der überdies noch durch die Landnot der Dörfer auf schlechterem Boden das „Areal der Güter“ beschneide. Zunehmend entstünden Kolonien von Kleinbauern und Parzellenpächtern, die die ökonomische Machtstellung der alten junkerlichen Elite nachhaltig beschnitten. Diese Analyse schwindender Macht der Junker kombinierte Weber mit der Abwanderung der deutschstämmigen Tagelöhner und der Beobachtung einer Ausbreitung der bäuerlichen polnischen Landbevölkerung, der er bescheinigte, über eine „überlegene ökonomische Intelligenz“ und über Kapitalkraft zu verfügen. Deren Getreide- und Kartoffelproduktion ziele auf den nahegelegenen Markt. Sie begünstige eine große Flexibilität und durch die Deckung eines unmittelbaren, kontinuierlichen Bedarfs an Nahrungsmitteln für lokale Märkte wirtschaftliche Kostenstrukturen; sie begünstige überdies den Eigenbedarf, wobei derjenige besonders effektiv wirtschaften könnte, dessen Bedarf „am niedrigsten bemessen werden“ könne. Geringe Ansprüche an die eigene Lebenshaltung deutet er mithin sozialdarwinistisch als Stärke, die er aber implizit als minderwertig einschätzt, gepaart mit dem Gefühl ethnischer Überheblichkeit: „Der polnische Kleinbauer gewinnt an Boden, weil er gewissermaßen das Gras vom Boden frißt, nicht trotz, sondern wegen seiner tiefstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten.“ Damit konnte Weber erneut das sozialdarwinistische Konzept der „Auslese“ in seiner weniger zeitkritischen als zunehmend zeittypischen Betrachtung einführen. Max Weber erklärte die Genügsamkeit der polnischen Bauern dabei nicht allein durch ökonomische Zwänge, sondern darwinistisch und beschwört wieder seine Augenzeugenschaft53, wenn er den „Ausleseprozeß“ beschreibt, der die soziale Differenzierung vorantrieb: „Die Folge war nicht, daß sie, wie der Vulgärmaterialismus sich vorstellt, die gleichen physischen und psychischen Qualitäten annahmen, sondern daß die eine der andern weicht, daß diejenige siegt, welche die größere Anpassungsfähigkeit an die gegebenen ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen besitzt.“ Die konstatierten unterschiedlichen „Anpassungsfähigkeiten“ deutete Weber wiederum aus dem Kontext eines darwinistischen Evolutionsschemas, als Ergebnis „generationslanger Züchtungspro53 Deshalb betonte er zum einen, den Prozess der Auslese „sich vollziehen zu sehen“, d.h. er sah sich als Beobachter einer geradezu gegenwärtigen Veränderung. Und verstärkend fügte er hinzu, dass seine Überlegungen „für die Erwägungen der Gegenwart“ einfach eine Gegebenheit bezeichneten, „mit der man zu rechnen habe“ (Weber, NuV, S. 11).

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zesse“, der sich „in Jahrtausenden“ bemessen haben könnte. Die Brisanz seiner darwinistisch geprägten Überlegung wurde zum einen in der Gegenüberstellung der Lebensstile „zweier Nationalitäten“ – der deutschen und der polnischen – deutlich, zum anderen aber in der Bewertung der evolutionär entstandenen Veränderung und angeblich auch nationalspezifischen Anpassungsfähigkeiten. „Nicht immer“, so lesen wir, „schlägt, wie die Optimisten unter uns meinen, die Auslese im freien Spiel der Kräfte zugunsten der ökonomisch höher entwickelten oder veranlagten Nationalität aus. Die Menschengeschichte kennt den Sieg von niedriger entwickelten Typen der Menschlichkeit und das Absterben hoher Blüthen des Geistes- und Gemütslebens, wenn die menschliche Gemeinschaft, welche deren Träger war, die Anpassungsfähigkeit an ihre Lebensbedingungen verlor, es sei ihrer sozialen Organisation oder ihrer Rassenqualitäten wegen“ (S. 11 f.).

Zugleich betonte Weber, dass sich die Auslese „nicht im freien Spiel der Kräfte“ allein vollzog, sondern eine Folge der „Umgestaltung der landwirtschaftlichen Betriebsformen und der gewaltigen Krisis der Landwirtschaft sei“, welche die ökonomisch „tiefer stehende Nationalität“ begünstige: „Parallel mit einander wirken der emporgezüchtete Rübenanbau und die Unrentabilität der Absatzproduktion von Cerealien nach der gleichen Richtung: der erstere züchtet die polnischen Saisonarbeiter, die letztere die polnischen Kleinbauern.“ Mit wenigen Sätzen verband Weber die in seinen Augen statistisch evidente Analyse mit einer Warnung und einer pessimistischen Zukunftsvision und leitete zur Erörterung vermuteter oder auch suggerierter politisch-praktischer Konsequenzen über. Zwar fühle er sich „außer Stande“, aus den Beobachtungen „allgemeiner Gesichtspunkte“ die ihm zentral erscheinende Frage „nach der Grenze einer Variabilität physischer und psychischer Qualitäten“ zu beantworten, dies umso mehr, als er vorgab, den „Einfluß der Lebensverhältnisse … nur anzurühren“. Dieses Bekenntnis lässt sich als rhetorische Kunstfigur deuten; vermutlich greift es tiefer, denn in aller Bescheidenheit stellte Weber anschließend die politisch und – in nationalbewusster Perspektive auch – ethisch geprägte Frage: „was kann und soll hier geschehen?“ Weber variierte so die klassische Frage einer pragmatischen Ethik, die im Anschluss an das Wissenkönnen und Wissenwollen das Wollen und das Handeln und Tun berührt. Keinen Zweifel lässt er daran, dass er die Konsequenzen vom „Standpunkt des Deutschtums“ beleuchten wird. Eine Lösung sieht er in der Begrenzung des Zustroms von Polen durch die „Schließung der östlichen Grenzen“, zwar nicht für „Wanderarbeiter“, sondern für diejenigen Polen, die sich dauerhaft niederlassen wollten. Mit dem Rücktritt Bismarcks sei diese

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Abschottung beendet worden. Weber äußert sich tagespolitisch – er knüpft an Bismarck an und setzt sich zugleich von dessen Nachfolger Leo von Caprivi ab. Dessen Öffnungspraxis entspreche objektiv dem Interesse der gutsherrlichen Junker, gegen die sich seine Vorlesung auch richtete. „Ein ‚klassenbewußter‘ Großgrundbesitzer an der Spitze Preußens schloß sie aus im Interesse der Erhaltung unserer Nationalität – und der verhaßte Gegner der Agrarier ließ sie zu im Interesse der Großgrundbesitzer, welche allein von ihrem Zuzug Vorteil haben: nicht immer, das zeigt sich, entscheidet der ‚ökonomische Klassenstandpunkt’ in Dingen der Wirtschaftspolitik, – hier war es der Umstand, daß das Steuerruder des Staates aus einer starken Hand in eine schwächere fiel“ (S. 13).

In unserem Zusammenhang ist aber vor allem von Interesse, dass Weber weitere Prämissen einführte, die aus der Absicht resultieren, entschieden und bewusst den „Standpunkt des Deutschtums“ zu vertreten und zugleich zur „Hemmung der slavischen Flut“ beizutragen. Als probates Mittel empfahl Weber den „systematischen Bodenankauf seitens des Staates“, also eine Vergrößerung des preußischen Domanialbesitzes, um die „systematische Kolonisation deutscher Bauern“ zu forcieren. Weber spitzte auf diese Weise die Zielstellung des Ostmarken-Vereins zu, denn er wendete sich zugleich gegen den kapitalistisch wirtschaftenden und deshalb nationalpolitisch selbstvergessenen Großgrundbesitz, weil dieser gerade durch die Beschäftigung polnischer Tagelöhner der „slavischen Flut“ eine Bahn öffnete. Der Grundbesitz sei „vom Standpunkt der Nation“ nicht wert, dass er erhalten würde. Er möge mithin „zu Grunde gehen“. Max Weber bekannte sich mit diesen Forderungen zur staatlichen Intervention und sah andererseits im Verlangen der Grundbesitzer, etwa das staatliche „Getreidemonopol“54 einzuführen, den Versuch, nicht nur das eigene wirtschaftliche „Risiko“ zu mindern (dessen Last geradezu ein Konstitutivum des Unternehmertums ist), sondern auch die „Selbstverantwortlichkeit für ihren Besitz“ aufzugeben. Die Klasse der Junker gebe sich auf diese Weise selbst auf. Sozialdarwinistisch argumentiert, leisteten die Junker zulasten des „Deutschtums“ dem „Polentum“ Vorschub, weil es ihren wirtschaftlichen Interessen entsprach. Weber bekennt sich zugleich zu dem Recht – und den Zielen – staatlichen Handelns, wenn es nationalstaatlich legitimiert wird. Es sei Folge des Umstands, „daß unser Staatswesen ein Nationalstaat ist, welcher uns das Recht zu dieser Forderung 54 Dazu später Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901, Berlin 1930, Nachdruck Vaduz 1966 (Diss. Berlin 1927); Hannelore Horn, Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals, Köln 1964.

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empfinden läßt“. Überdies wurden im zuvor akzentuierten deutsch-polnischen Siedlungs- und Kulturkonflikt nationalistische Rechtfertigungsmuster aufgegriffen. Deshalb erklärte Weber, an die „Tatsache anknüpfen“ zu wollen, „daß eine solche Frage bei uns Allen überhaupt entsteht, daß wir das Deutschtum des Ostens als solches für etwas halten, das geschützt werden und für dessen Schutz auch die Wirtschaftspolitik des Staates in die Schranken treten soll“ (S. 15). Im Folgenden versuchte Weber aus dem sicheren Wissen heraus, dass er „nationalistische“ Werturteile mit dem „eigenen Wertmaßstab“ verbindet, seine von ihm nicht abgestrittenen persönlichen „Gefühlsreflexe“ mit den von ihm eingangs statistisch belegbaren „ökonomischen Tatsachen“ zu kombinieren oder zu konfrontieren, um die übergeordnete Frage nach dem spezifischen (er spricht vom „eigenen“) „Wertmaßstab der Volkswirtschaftspolitik“ zu behandeln. Sozialdarwinistische Argumente, die nationalistische Gefühle spiegelten, schien er sich nicht gestatten zu wollen, was keineswegs bedeutete, diese nicht doch stillschweigend vorauszusetzen. Im Zusammenhang mit dem Versuch, seine in der Antrittsvorlesung konstatierten bedenklichen Befunde ethnischer Nationalitäten-Konflikte sozialdarwinistisch zu deuten, verwies Weber im weiteren Argumentationsgang auf die Tatsache eines „im Gange“ befindlichen „ökonomischen Kampfes der Nationalitäten“, der sich im Alltag geradezu dramatisch vollzöge. Es hieß: „Nicht im offenen Streit werden die deutschen Bauern und Taglöhner des Ostens durch politisch überlegene Feinde von der Scholle gestoßen: im stillen und öden Ringen des ökonomischen Alltagslebens ziehen sie einer tieferstehenden Rasse gegenüber den Kürzeren, verlassen die Heimat und gehen dem Untertauchen in eine dunkle Zukunft entgegen.“ Geistig machte Weber mobil und kritisierte geradezu sarkastisch die Vorstellung, die Nationalökonomie habe zur „Beglückung der Welt“ und zur „Besserung der ‚Lustbilanz‘ des Menschendaseins“ beizutragen: „Es gibt keinen Frieden auch im wirtschaftlichen Kampf ums Dasein; nur wer jenen Schein des Friedens für die Wahrheit nimmt, kann glauben, daß aus dem Schoße der Zukunft für unsere Nachfahren Frieden und Lebensgenuß erstehen werde“ (S. 16). Weber beschwor den „dunklen Ernst des Bevölkerungsproblems“ und warnte davor, „Frieden und Menschenglück im Schoße der Zukunft verborgen zu wähnen“. Er benutzte also eine geradezu typische Argumentationsfigur der Sozialdarwinisten, wenn dunkle Zukunftsvorstellungen beschworen und zugleich die Verpflichtung betont wurde, „künftigen Generationen“ bessere Lebensbedingungen zu schaffen.55 So wurden Konflikte zwischen Ethnien mit dem Blick 55 Ebd.: „Unsere Arbeit ist und kann, wenn sie einen Sinn behalten soll, nur sein wollen Fürsorge für die Zukunft, für unsere Nachfahren.“ An anderer Stelle (NuV, S. 17) bekannte Weber, das er über „das Grab der eigenen Generation“ hinausdenken wolle.

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in eine – prognostisch höchst unsichere – Zukunft zu einem „Lebenskampf“ überhöht. Agitatorisch kam es in diesem Zusammenhang darauf an, den angeblich unausweichlichen „harten Kampf des Menschen mit dem Menschen“ zu forcieren. Max Weber hob somit ganz offen darauf ab, den „Ellenbogenraum“56 der Deutschen „im irdischen Dasein“ zu vergrößern – es ging ihm um Lebensraum, um Verdrängung der Polen aus den sozialen Räumen, die Deutsche und Polen gemeinsam bewohnen. Damit zielte er auf die Beeinflussung seiner als gegenwärtig empfundenen Kulturkonflikte, denn er wollte – und wieder benutzte er eine darwinistische Denkfigur – „diejenigen Eigenschaften … emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen“. Befindlichkeiten zu betonen, lehnte er hingegen ab. Stattdessen wollte er die soziale Lebensweise (d.h.: wie die Menschen „sein werden“) beeinflussen, indem er gerade nicht die Güterverteilung oder die davon abhängende „soziale Gerechtigkeit“ zum Maßstab machte.

6. Werturteilsbezüge und Handlungsorientierungen Was aber kann dann der Maßstab sein? In der argumentativen Umsetzung dieser zentralen Frage einer Werturteilsbildung unterwirft sich Max Weber erstaunlich undistanziert einem mehr konstatierten als interpersonal plausibel gemachten, begründeten Werturteil, wenn er betont, die an sich international ausgerichtete „erklärende und analysierende“ Volkswirtschaftslehre sei, „sobald sie Werturteile fällt, … gebunden an diejenige Ausprägung des Menschentums, die wir in unserem eigenen Wesen finden“ (S. 17). Sie sei es „dann am meisten, wenn wir unserer eigenen Haut am meisten entronnen zu sein glauben“, mehr noch, die entscheidenden Prägungen verwiesen auf zurückliegende Jahrtausende.57 Max Weber vermischte offenbar mit dem Ziel, rhetorisch zu überzeugen und seine Zuhörer in einer ihnen vertrauten, eingängigen Weise anzusprechen, wissentlich sozialdarwinistische Argumente mit einer nationalistisch begründeten Identitätsbeschwörung, die augenscheinlich auch 56 Diesen Begriff verwendet Weber mehrfach und meint etwas anderes als Spiel- oder Entfaltungsraum. Der Begriff lässt sich durchaus auch auf den Lebensraum beziehen. Vgl. ebd., S. 19: „Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen.“ 57 Etwa ebd., S. 17 f.: „… vermöchten wir nach Jahrtausenden dem Grab zu entsteigen, so wären es die fernen Spuren unseres eigenen Wesens, nach denen wir im Antlitz des Zukunftsgeschlechts forschen würden“.

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an die – mit Sicherheit von dem jungen Max Weber verkürzten und im Kern verkannten – Zukunftsvorstellungen Nietzsches anzuknüpfen scheinen. Seien auch die „höchsten und letzten irdischen Ideale … wandelbar und vergänglich“, erklärt er, so sei ihm bewusst, sie „nicht der Zukunft aufzwingen zu können“, dies nicht einmal zu wollen. Und dennoch: „… wir können wollen, daß sie in unserer Art die Art ihrer eigenen Ahnen erkennt. Wir, mit unserer Arbeit und unserem Wesen, wollen die Vorfahren des Zukunftsgeschlechts sein.“ Vor dem Hintergrund der verbreiteten Vorstellung von „Anpassung“ und „Auslese“, von „Lebenskampf“ und Nationalität wurde die Entscheidung Webers, sich als Nationalökonom auf ‚nationalistische‘ Beurteilungsmaßstäbe zu beziehen, verständlich. Zugleich aber wird deutlich, dass er seinen eigenen Anforderungen an eine rational-begründende Argumentation nicht gerecht wird. Er bekennt sich ohne Bedenken zum „’Nationalegoismus’ in der Volkswirtschaftspolitik“ und fragte rhetorisch: „… ist denn der Kampf für die ökonomische Selbstbehauptung, für das eigene Weib und Kind überwunden, seit die Familie ihrer einstigen Funktionen als Produktionsgemeinschaft entkleidet und verflochten ist in den Kreis der volkswirtschaftlichen Gemeinschaft?“ (S. 18). Hinter seinem Bekenntnis für eine von deutschen Interessen (und nicht nur von seiner Herkunft) geprägten Volkswirtschaftslehre verbarg sich die Überzeugung, in einer Auseinandersetzung Position zu beziehen, die er als eine „andere Form des Kampfes“ im „Ringen der Nationen“ deutete und die er wenig später noch einmal als Auseinandersetzung um „Ideale“ aufrief, die er sogar für überholt hielt.58 Das analytische Konzept der Auslese und Anpassung wurde mithin in ein politisches Konzept der „ökonomischen Selbstbehauptung“ transformiert, das die „Familie“ durch eine wie auch immer definierte „volkswirtschaftliche Gemeinschaft“ in eine „andere Form“ der „Produktionsgemeinschaft“ wandelte und so gestattete, anstelle familiär geprägten Selbstbehauptungswillens die Vorstellung zu entwickeln, Konkurrenzen und Konflikte als „Ringen der Nationen“ zu deuten. 58 Ebd., S. 22: „Aber nicht die Regel, sondern fast die Ausnahme ist es, daß der Urteilende Andere und sich selbst ins Klare setzt über den letzten subjektiven Kern seiner Urteile, eben über die Ideale, von welchen aus er zur Beurteilung der beobachteten Vorgänge schreitet: die bewußte Selbstkontrolle fehlt, die inneren Widersprüche des Urteils kommen dem Schriftsteller nicht zum Bewußtsein und, wo er sein spezifisch ‚ökonomisches‘ Prinzip der Beurteilung allgemein zu formulieren sucht, fällt er in vage Unbestimmtheiten. In Wahrheit sind es keine eigenartigen und selbstgewonnenen, sondern die alten allgemeinen Typen menschlicher Ideale, die wir auch in den Stoff unserer Wissenschaft hineintragen.“

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Die von Weber eingangs konstatierten Verschiebungen zugunsten der polnischen Bevölkerung verlangten nach gezielten Eingriffen zugunsten des deutschen Volkes, auch wenn er die Vermutung zurückwies, die Forderung von „,Staatshülfe‘ statt der ‚Selbsthülfe‘“ sei ein Verstoß gegen die liberalen Staatsvorstellungen und ziele letztlich auf die „Reglementierung des Wirtschaftslebens“. Weber betonte stattdessen, es gehe in diesem deutlich angesprochenen nationalen Konflikt nicht um ökonomische Marktmacht59, sondern um die Verteidigung und „Behauptung der eigenen Kultur“. Dies zöge die Erwartung nach sich, durch politische Entscheidungen der Staatsverwaltung die zukünftige Entwicklung zu beeinflussen. Allerdings müsse zunächst Klarheit über die „materiellen Interessen im eigenen Schoße der Nation“ gewonnen worden sein. Die Konsequenz läge auf der Hand: „Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art“ (S. 18 f.). Aus der Unterstellung des Gegensatzes von Polen und Deutschen und einer nationalistischen Option entwickelte Weber so seine Vorstellung eines Lebensraumes, d.h. eines „Ellenbogenraumes“, der durch „Machtkämpfe“ und „Machtinteressen der Nation“ bestimmt sei und zugleich der Nationalökonomie als „politische Wissenschaft“ eine wichtige Funktion zuweise, bei der sie sich in den Dienst „der letzten und entscheidenden Interessen“ des eigenen Referenzrahmens Nationalstaat zu stellen habe, nicht als „Dienerin der ... Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation“. Weber, der sich später im Werturteilsstreit zu der Forderung bekennen sollte, die Prämissen des eigenen Wertens deutlich zu machen, erfüllte in seiner Antrittsvorlesung seine eigenen Bedingungen insofern, als er keinen Zweifel an den seinen Voraussetzungen und der eigenen Argumentation vorgelagerten Wertentscheidungen weckt, die sogar als „einfachste Urteilsgrundlagen“ bezeichnet wurden. Er empfand sich offensichtlich völlig im Einklang mit einem politischen Weltverständnis, welchem Friedrich Meinecke mehr als zehn Jahre später60 nachspürend Ausdruck verleihen sollte: „…der Nationalstaat ist uns nicht ein unbestimmtes Etwas, welches man um so höher zu stellen glaubt, je mehr man sein Wesen in mystisches Dunkel hüllt, sondern die 59 Ebd., S.19: „… wir dürfen uns nicht der optimistischen Hoffnung hingeben, daß mit der höchstmöglichen Entfaltung wirtschaftlicher Kultur bei uns die Arbeit gethan sei und die Auslese im freien und ‚friedlichen‘ ökonomischen Kampfe dem höher entwickelten Typus alsdann von selbst zum Siege verhelfen werde.“ 60 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1908), Stuttgart 1962.

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weltliche Machtorganisation der Nation, und in diesem Nationalstaat ist für uns der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung die ‚Staatsraison‘ … wir wollen mit diesem Schlagwort die Forderung erheben, daß für die Fragen der deutschen Volkswirtschaftspolitik, – auch für die Frage unter anderen, ob und wieweit der Staat in das Wirtschaftsleben eingreifen oder ob und wenn er vielmehr die ökonomischen Kräfte der Nation zu eigener freier Entfaltung losbinden und ihre Schranken niederreißen solle, – im einzelnen Falle das letzte und entscheidende Votum den ökonomischen und politischen Machtinteressen unserer Nation und ihres Trägers, des deutschen Nationalstaates, zustehen soll“ (S. 19 f.).

Die Konsequenz dieses Verständnisses ist die Transformation der analytisch orientierten Nationalökonomie in eine praktisch-politische, geradezu pragmatische Wissenschaft, deren wichtige Funktion sich aus ihrer Bedeutung im „Lebenskampf“ der Nationalstaaten ergab, das sich zugleich aber auch rhetorisch als eine captatio benevolentiae des zeitkritischen Vertreters einer jüngeren gegenüber der älteren Generation verstehen ließ. Er wollte auch emotional berühren und für seine Position einnehmen – und nutzte deshalb eine Art von Kollektivappell: „Auf allen Gebieten finden wir die ökonomische Betrachtungsweise im Vordringen. Sozialpolitik an Stelle der Politik, ökonomische Machtverhältnisse an Stelle der Rechtsverhältnisse, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte an Stelle politischer Geschichte treten in den Vordergrund der Betrachtung. In hervorragenden Werken unserer historischen Kollegen finden wir da, wo uns früher von den Kriegsthaten unserer Vorfahren erzählt wurde, heute den Unhold des ‚Mutterrechtes‘ sich in die Breite dehnen und die Hunnenschlacht auf den katalaunischen Feldern in einen Nebensatz gedrängt. Die Jurisprudenz glaubte das Selbstgefühl eines unserer geistreichsten Theoretiker als eine ‚Magd der Nationalökonomie‘ bezeichnen zu können. Und Eines ist ja wahr: auch in die Jurisprudenz drang die ökonomische Form der Betrachtung“ (S. 20).

Seine Zeitkritik mündete allerdings in eine – verhaltene! – Erkenntniskritik. Denn Weber verband die Frage nach dem Ziel der Erkenntnis mit dem nationalistisch-egoistischen Bewertungsmaßstab und forderte nachdrücklich dazu auf, die „,eigenen‘ Grundlagen der Bewertung zu ermitteln“. Er wollte das von ihm konstatierte „Chaos von Wertmaßstäben“ überwinden, indem er sich zu den „,ökonomischen‘ Prinzipien der Beurteilung“ bekannte. Damit konnte er an sozialdarwinistische Vorstellungen eines ökonomischen „Lebenskampfs“ anknüpfen und sich gegen diejenigen wenden, die sich eines Werturteils „überhaupt enthalten“ und letztlich „unkontrollierten Instinkten, Sympathien und Antipathien verfallen“ waren.

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Wegen seiner Entschiedenheit, sich zum Werturteile und Perspektiven bestimmenden nationalpolitischen Bewertungsmaßstab zu bekennen, trieb Weber die Erkenntnis- und Perzeptionskritik voran und verwies dabei nicht nur auf seine späteren Arbeiten voraus, nicht zuletzt auf seine Vorträge über „Politik/ Wissenschaft als Beruf“, sondern kritisierte die Perspektiven der Forscher, die er entscheidend korrigieren und so auch überwinden wollte. Er beanspruchte, die wirtschaftliche Entwicklung „von der Höhe der Verwaltungsgeschichte großer deutscher Staaten“ zu bewerten und spürte, dass er – wenngleich „unfreiwillig“ – auf diese Weise zum Apologeten wurde. Angesichts seiner Forderung, die Ostgrenzen zu schließen, wandte sich Weber gegen den sich in „Zurückhaltung“ übenden Staat: „Wenn … die Verwaltung sich entschließt, die östliche Grenze zu schließen, so werden wir geneigt und imstande sein, darin den Abschluß einer historischen Entwicklungsreihe zu finden, welche im Gefolge großer Reminiszenzen der Vergangenheit dem heutigen Staate hohe Aufgaben im Interesse der Kulturpflege der eigenen Nation stellt, – und unterbleibt jener Entschluß, so liegt uns die Erkenntnis näher, daß derartige radikale Eingriffe teils unnötig, teils den heutigen Anschauungen nicht mehr entsprechend seien“ (S. 23).

Er selbst präferierte wesentlich stärker eine Konfliktgeschichte, die sich an der gesellschaftlichen Basis – „von unten aus“ – ereignete, deutete dabei jedoch in kritischer Wendung und gleichsam in Illustration seines angeblich realistischen, nicht vom Wollen, sondern der Realanalyse bestimmten Erkenntnisinteresses gegen die Historiker und die Geschichtswissenschaft an, dass die von ihm zuvor als inferior eingestuften Vertreter des Polentums möglicherweise den Sieg in der Auseinandersetzung davontragen würden: „Wir betrachten die ökonomische Entwicklung mehr von unten aus, sehen das große Schauspiel, wie aus dem Chaos ökonomischer Interessenkonflikte sich die Emanzipationskämpfe aufsteigender Klassen abheben, beobachten, wie die ökonomische Machtlage sich zu ihren Gunsten verschiebt – und unbewußt nehmen wir Partei für die, welche aufsteigen, weil sie die Stärkeren sind oder zu werden beginnen. Eben dadurch, daß sie siegen, scheinen sie ja zu beweisen, daß sie einen ‚ökonomisch‘ höher stehenden Typus des Menschentums darstellen: allzu leicht beherrscht den Historiker die Vorstellung, daß der Sieg der höher entwickelten Elemente im Kampfe selbstverständlich und das Unterliegen im Daseinskampf Symptom der ‚Rückständigkeit‘ sei. Und jedes neue der zahlreichen Symptome jener Machtverschiebung bietet ihm dann nicht nur deshalb eine Genugtuung, weil es seine Beobachtungen bestätigt, sondern halb unbewußt empfindet er es wie einen persönlichen Triumph: die Geschichte löst

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die Wechsel ein, welche er auf sie zog. Die Widerstände, welche jene Entwicklung findet, beobachtet er, ohne es zu wissen, mit einer gewissen Animosität, sie erscheinen ihm, ungewollt, nicht einfach als naturgemäße Ausflüsse selbstverständlicher Interessenvertretung, sondern gewissermaßen als Auflehnung gegen das ‚Urteil der Geschichte’, wie es der Historiker formulierte“ (S. 23 f.).

Weber unterschied sich fast polemisch von den Historikern, die das Faktische nicht nur für das Wünschenswerte, sondern geradezu fatalistisch für das Gegebene halten. Er widersetzte sich der Vorstellung, „das Gefolge des Siegers im ökonomischen Machtkampf zu bilden“ und „dabei zu vergessen, daß ökonomische Macht und Beruf zur politischen Leitung der Nation nicht immer zusammenfallen“. Er wollte aufrütteln und seine Antrittsvorlesung nutzen, um die Bereitschaft zu wecken, sich zur nationalen „Machtpolitik“ zu bekennen – auch, indem er implizit immer auf die drohende Niederlage im sozialdarwinistisch vorausgesetzten Lebenskampf hinwies. So wurde aus der Kulturkritik eine Gegenwarts- und Politikkritik, die Weber, wie wir wissen, mit zunächst unartikulierten Ansprüchen auf seine politische Beteiligung verband. Er selbst verstand sich als Faktor im Lebenskampf, als Akteur bei dem Prozess gestalteter Anpassung und Auslese, als „ökonomischer Nationalist“, der die „politische Reife“ an der Bereitschaft und Befähigung messen wolle, „die dauernden ökonomischen und politischen Machtinteressen der Nation über alle anderen Erwägungen zu stellen“ (S. 25).

7. Zukunftsfragen der Bürgerklasse zwischen Junkertum und Arbeiterbewegung Im politischen Lebenskampf, davon ist Weber überzeugt, entscheide sich das „Schicksal für die Nation“. Weil er die Schwächung des Machtwillens in der „naiven Identifikation der Interessen der eigenen Klasse mit denen der Allgemeinheit“ ausmachte, wandte sich Weber gegen jene Klasse, die der „Belastungsprobe durch abweichende ökonomische Tagesinteressen“ nicht gewachsen sei. Hatte Weber eingangs seine Kritik an den in ökonomisch überformten Standesinteressen fast nationalitätsvergessenen Junkern nicht zurückgehalten und doch betont, der „Stand der Junker“ habe in der Vergangenheit seine „Arbeit geleistet“, so behauptete er nun, die Junker stünden im „ökonomischen Todeskampf“ – hier bot sich geradezu die Dramatisierung des „Lebens- und Daseinskampfes“ an. So deutlich Weber die Leistung des bis dahin staatstragenden Standes der Junker betont, so unbezweifelbar sei, dass er den Veränderungen der ökonomischen „Struktur“ nicht gewachsen sei. Die Junker und mit

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ihnen den von Weber außerordentlich kritisch bewerteten Bismarck61 deutete Weber als Repräsentanten einer „ökonomisch sinkenden Klasse“. Zugleich aber konstatiert er, dass die zur Nachfolge bestimmte Klasse, das Bürgertum, „noch nicht reif“ sei, Herrschaftsfunktionen eigenständig zu übernehmen. So formulierte Weber schon sehr früh seine Skepsis gegenüber der Erwartung, das Kaiserreich könnte sich demokratisch parlamentarisieren. Auch die innenpolitischen Konflikte interpretierte Weber insofern sozialdarwinistisch, als die Anpassung der neuen führenden Schicht, des Bürgertums, an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse noch ausstehe und deshalb die politische Auslese einer neuen Elite stocke: „Die Erlangung ökonomischer Macht ist es zu allen Zeiten gewesen, welche bei einer Klasse die Vorstellung ihrer Anwartschaft auf die politische Leitung entstehen ließ. Gefährlich und auf die Dauer mit dem Interesse der Nation unvereinbar ist es, wenn eine ökonomisch sinkende Klasse die politische Herrschaft in der Hand hält. Aber gefährlicher noch ist es, wenn Klassen, zu denen hin sich die ökonomische Macht und damit die Anwartschaft auf die politische Herrschaft bewegt, politisch noch nicht reif sind zur Leitung des Staates. Beides bedroht Deutschland zur Zeit und ist in Wahrheit der Schlüssel für die derzeitigen Gefahren unserer Lage. Und auch die Umschichtungen der sozialen Struktur des Ostens, mit denen die im Eingang besprochenen Erscheinungen zusammenhängen, gehören in diesen größeren Zusammenhang“ (S. 26).

Entscheidende Entwicklungen zeichneten sich aber im Osten Preußens ab. Die Verschiebung der Volkstums-Grenzen im Zusammenhang der „agrarischen Entwicklung im Osten“ stellte nach Weber das „entscheidende politische Moment“ dar. Dies bedeutete, dass die Junker auf kapitalistisch ausgerichteten Gutsbetrieben aus ökonomischem Eigennutz den Wegzug deutscher Tagelöhner in den Westen und das Einsickern polnischer Tagelöhner hinnähmen. Weber sah darin nicht nur eine Schwächung der deutschen Position im Osten, sondern auch einen Beleg für den unaufhaltsamen Niedergang der Junker als Elite. Problematisch schien ihm vor allem, dass die nachfolgenden bürgerlichen und proletarischen Eliten noch nicht „reif“ zur politischen Führung der deutschen Nation waren und deshalb im von ihm prognostizierten ethnisch geprägten Daseinskampf weitgehend versagten. Weber hatte eingangs reklamiert, auch „zu sagen, was ungern gehört“ werde, und dies „nach oben, nach unten und auch der eigenen Klasse“. Dies bedeutete, 61 Vgl. ebd., S. 27 f.; Bismarck wird als „Cäsarengestalt aus anderem als bürgerlichem Holze“ bezeichnet.

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der eigenen Klasse als dem „erfolgstrunkene[n] und friedensdurstige[n] Geschlecht“, dem ein „eigenartig ‚unhistorischer‘ und unpolitischer Geist“ bescheinigt wurde. Mit einer Formulierung, die Francis Fukuyamas’ Proklamation des „Endes der Geschichte“62 antizipierte, schien das Ende der Geschichte erreicht: „Die Gegenwart war die volle Erfüllung der vergangenen Jahrtausende“ (S. 29). Ebenso wie Bismarck kritisierte er seine eigene Generation und – für alle verständlich – auch Bismarcks Nachfolger Leo von Caprivi (1831–1899) als Epigonen, deren „kleinliches Treiben“ den Erfordernissen machtbewusster Politik nicht gewachsen sei. Wenn er den „schweren Fluch“ beschwor, der das Schicksal des „politischen Epigonentums“ bestimme, so nahm er einen Ausspruch des Reichskanzlers Bernhard von Bülow (1849–1929) vorweg, der die Machtpolitik des von Kaiser Wilhelm II. zuvor proklamierten „Neuen Kurses“ mit imperialistischen Zielen verband, als er den Deutschen 1897 erstmals einen „Platz an der Sonne“ versprach. Weber schaute in seiner Antrittsvorlesung nach jenen Kräften aus, die das von den Junkern hinterlassene Vakuum füllen und „Machtpolitik“ exerzieren könnten. Er sah in der Sehnsucht des „Großbürgertums“ nach „einem neuen Cäsar“, der es gegen die „aufsteigenden Klassen“ schützen könnte, ein Zeichen seiner Schwäche und den Beleg einer „politischen Unreife“, die sich nicht durch wirtschaftliche Erfolge, sondern nur durch „politische Erziehungsarbeit“ überwinden ließ. Im Rücken des Bürgertums erblickte er bereits die neuen politischen Kräfte und bezeichnete das „moderne Proletariat“ sogar als den „Erben der bürgerlichen Ideale“, hier geradezu Eduard Bernsteins Diktum von der Sozialdemokratie als „organisatorischen Liberalismus“63 vorwegnehmend. Die Arbeiterbewegung sah er im Vergleich zu den beiden anderen Klassen jedoch langfristig in einer günstigen Situation. Er hielt die „höchsten Schichten der deutschen Arbeiterklasse [für] weit reifer, als der Egoismus der besitzenden Klassen zugeben möchte“. Seiner realistischen Einschätzung von Interessenkonflikten entsprach es dabei, wenn er der Arbeiterklasse keineswegs das Recht und die Freiheit bestritt, ihre Interessen im „offenen“ Machtkampf zu vertreten (S. 31). Er warnt sogar davor, die deutsche Arbeiterbewegung mit den Exzessen der Französischen Revolution in Verbindung zu bringen, wie es seit der Pariser Commune von 1871 zu den gängigen Topoi politischer Auseinandersetzung gehörte. Er bestritt geradewegs, dass die Arbeiterbewegung sich in Anlehnung an den bildungsbürgerlichen Topos von der „catilinarischen Verschwörung“ auf den Umsturz des Systems vorbereite, auch weil ihr der „Hauch der gewaltigen 62 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. 63 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899), Reinbek 1969, S. 147 ff.

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nationalen Leidenschaft“ fehle, die allein den wichtigen Impuls zur revolutionären Expansion vermittele. Stattdessen sprach er der Sozialdemokratie, die er für „kümmerliche politische Kleinmeister“ hielt, wegen der fehlenden „Machtinstinkte“ die Fähigkeit zur politischen Führung ab. Vielmehr titulierte er die Sozialdemokratie kritisch als ein „politisch unerzogenes Spießbürgertum“, das im Vergleich zur englischen und französischen Arbeiterschaft auch ein bemerkenswertes Defizit im Hinblick auf seine „ökonomische“ Erziehung ausweise. Dieses schlage sich vor allem darin nieder, dass die deutsche Arbeiterbewegung sich für eine künftige, machtvoll zu erringende deutsche Weltmachtstellung als nicht mobilisierbar erweise. Damit verknüpfte Weber die Bereitschaft, die Berufung des Deutschen Reiches zur Weltmacht anzunehmen und mit dem innenpolitischen Lebenskampf zwischen den Klassen zu verbinden. Deshalb warnte er vor der Furcht derjenigen, die angstvoll „hypnotisiert in die Tiefen der Gesellschaft starren“, in der Furcht vor den „Massen“ verharrten, denn die Bewährung in den von ihm vorausgesehenen Macht- und Lebenskämpfen hinge nicht von der wirtschaftlichen Stärke, sondern von der „politischen Qualifikation der herrschenden und aufsteigenden Klassen“ ab, d.h. von der Einigung der Bevölkerung zur Nation. In dieser Hinsicht erinnerte sein Wunsch an die Absicht Heinrich von Treitschkes, jeder Desintegration der Gesellschaft entgegenzuwirken. Weber setzte aber nicht auf den inneren Kampfkurs, den Treitschke in seinen gegen ein angeblich nicht integrationswilliges deutsches Judentum befeuerte, sondern auf die Entstehung einer „Arbeiteraristokratie“ als Träger eines zukunftsgewissen „politischen Sinns“, der es ermögliche, dass der „Speer, für welchen der Arm des Bürgertums noch immer nicht stark genug zu werden scheint, auf jene breiten Schultern abgelegt werden“ könne. Weber bekannte sich so zum Konzept der Klassenauseinandersetzungen und setzte zugleich auf die nationale Integration. Dies war eine Voraussetzung, die Prozesse der Auslese und Anpassung zu bestehen. Die Junker bewertete er als absteigende soziale Klasse sehr skeptisch, das Bürgertum aber sah er kaum befähigt zur machtvollen Ausübung eines Führungsanspruchs. In der Arbeiterbewegung erblickte er hingegen die aufsteigende Klasse. Im Lebenskampf der Nationen könnte sich das Reich nur behaupten, wenn es den „Jugendstreich, den die Nation auf ihre alten Tage beging“ (S. 32), im Zuge einer „ungeheuren politischen Erziehungsarbeit“ auf der Grundlage ökonomischer Veränderungen in eine positive Entwicklung münden lasse. Er warnt vor desintegrativen Tendenzen, die er mit dem sozialdarwinistischen Begriff der „Zersetzung“ charakterisiert und plädiert, wiederum sozialdarwinistisch, für politische Härte: „Es wäre ein Unglück, wenn auch die ökonomische Wissenschaft dem gleichen Ziele zustrebte, indem sie einen weichen Eudämonismus, wenn auch in noch so

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vergeistigter Form, hinter der Illusion selbständiger ‚sozialpolitischer‘ Ideale züchtete“ (S. 33). Weber plädierte für Härte in den innenpolitischen Auseinandersetzungen und polemisierte ausdrücklich gegen Versuche weicher „Gemüter“, die gebotenen politischen durch ethische Ideale zu ersetzen. Nach einer Beschwörung historischer Verantwortung, die wiederum das sozialdarwinistische Insistieren auf der Selbstbehauptung in der Zukunft spiegelte, endet Weber deshalb mit seinem rhetorisch mitreißenden, den Sozialdarwinismus mit der Bewertung machtpolitischer Optionen verbindenden furiosen Appell: „Auch angesichts der gewaltigen Not der Massen der Nation, welche das geschärfte soziale Gewissen der neuen Generation belastet, müssen wir aufrichtig bekennen: schwerer noch lastet auf uns heute das Bewußtsein unserer Verantwortlichkeit vor der Geschichte.“ Weber, auf seinem Freiburger Lehrstuhl einer der jüngsten Nationalökonomen seiner Zeit, beschwor in seiner als ebenso provozierend wie schockierend empfundenen Antrittsvorlesung seine eigene Generation, der es nicht „beschieden“ sei, die Ergebnisse des „Kampfes“ zu sehen, der geführt werden müsse. Er bekennt sich zur politischen Erziehungsarbeit und erschließt damit eine weitere Dimension seines von Prämissen belasteten Werturteils. Denn er betonte die historische Verantwortung, als er fragte, ob es gelänge, dass „sich die Nachwelt zu uns als ihren Ahnen bekennt“. Eine diffuse Zukunftsverantwortung ersetzte in der sozialdarwinistischen Theorie die Begründung durch – ethisch gesehen – „letzte Dinge“. Hier wird der bekenntnishafte, konfessionelle Charakter des „Sozialdarwinismus“ ebenso sichtbar wie die Irrationalität seiner Begründungen, die sich empirisch nicht mehr überprüfen lassen. Sie spiegeln den reinen politischen Willen und reklamieren zugleich nichts weniger als den Anspruch auf die Zukunft, die Verwandlung als Folge des Willens, „etwas Anderes zu werden: Vorläufer einer größeren“. „Wird das unser Platz in der Geschichte sein? Ich weiß es nicht und sage nur: es ist das Recht der Jugend, zu sich selbst und ihren Idealen zu stehen. Und nicht die Jahre sind es, die den Menschen zum Greise machen: jung ist er, solange er mit den großen Leidenschaften, welche die Natur in uns legte, zu empfinden vermag. Und so – damit lassen Sie mich schließen – so sind es nicht die Jahrtausende einer ruhmreichen Geschichte, unter deren Last eine große Nation altert. Sie bleibt jung, wenn sie die Fähigkeit und den Mut hat, sich zu sich selbst und den großen Instinkten, die ihr gegeben sind, zu bekennen, und wenn ihre führenden Schichten sich hinaufzuheben vermögen in die harte und klare Luft, in welcher die nüchterne Arbeit der deutschen Politik gedeiht, die aber auch durchweht ist von der ernsten Herrlichkeit des nationalen Empfindens“ (S. 34 f.).

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8. Schlussbemerkungen Antrittsvorlesungen gehörten im akademischen Leben zu den Universitätsveranstaltungen mit besonderer Bedeutung. Mit ihnen stellt sich ein neu ernannter Hochschullehrer seiner Fakultät und seiner Universität, der Studentenschaft, aber auch einer außeruniversitären Öffentlichkeit vor. Antrittsvorlesungen spiegelten deshalb nicht immer das begrenzte und beschränkte Fach-, sondern nicht selten auch das allgemeine Gelehrtentum. Die Vorlesung des 1894 an die Universität Freiburg berufenen gerade 30jährigen Berliner Dozenten Max Weber verkörperte diesen Anspruch wie nur wenige andere. Max Weber, der für Römisches Recht habilitiert worden war und seitdem eine Vertretungsprofessur auch für Handelsrecht bekleidet hatte, wurde mit der Berufung auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie vor die Herausforderung gestellt, eine sich erst konturierende und formierende neue wissenschaftliche Disziplin zu profilieren. Dies konnte nur gelingen, wenn er die Differenz zwischen Staats- und Rechtswissenschaft auf der einen und der jungen Nationalökonomie auf der anderen Seite zu markieren wusste. Dieser Aufgabe stellte er sich selbstbewusst und geradezu enragiert. Er nahm die Herausforderung, die in dem neuen Universitätsfach verborgen war, nicht nur offensiv an, sondern kommentierte eine damals als ebenso brisant wie zentral empfundene Frage deutscher Weltpolitik. Zugleich beleuchtete er vom Standpunkt eines selbstbewusst auftretenden Bürgertums die inneren Machtstrukturen des Reiches. Weber wollte aber nicht nur ein wissenschaftliches Thema erschließen, sondern auch die künftige Entwicklung der Gesellschaft und des internationalen Systems markieren, in dem er lebte und in dem sich das Deutsche Reich behaupten und im vorausgesagten „Daseinskampf“ bewähren sollte. Selten ist es einem Gelehrten gelungen wie Max Weber, einen Bogen zu spannen, den Zeitgeist aufzugreifen und zu befeuern, nicht nur tagesaktuell, sondern auf eine Weise, die sein weiteres Werk überwölbte. Er machte deutlich, dass er methodisch ungewohnte und gewagte Wege ging, indem er den empirischen Anspruch mit der normativen und historisch-dialektischen Perspektive verband. Er dachte so nicht nur in neuen politischen Zusammenhängen, sondern entwickelte ein Kategoriensystem, das den sich beschleunigenden politischen und sozialen Wandel erfasste, zugleich aber auch politisch-kulturelle Dimensionen des „Lebenskampfes“ aufgriff und zu analysieren beanspruchte, realistisch und angeblich mit kaltem Blut. Dies verstörte und machte zugleich deutlich, dass sich die Funktion der traditionellen Policey- und Staatswissenschaft gewandelt hatte. Der Sozialwissenschaftler wurde zum Akteur und verschaffte sich Gehör, indem er Lebenskämpfe konstruierte, das soziale Leben dramatisierte und die

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politischen Konflikte durch seine Deutungen zuspitzte. Wie nur wenige Deutungsversuche eignete sich der Sozialdarwinismus, politische Konflikte auf eine höhere Ebene des „Existenzkampfes“ zu heben und durch Zukunftsängste und schlicht behauptete zukünftige Untergangs- und Verdrängungsszenarien zu verschärfen. Es schien, als ginge es in Zukunft um das Überleben der eigenen Nation, um alles oder nichts, um Leben und Tod, um Selbstbehauptung im angeblichen Lebenskampf. Weber erlebte während des Ersten Weltkriegs die Vulgarisierung und Militarisierung dieses Sozialdarwinismus. Vielleicht erklärt dies, dass er zwar nicht von zentralen Begriffen wie „Auslese, Anpassung, Zersetzung und Ausmerzung“ abrückte, aber den Begriff des Sozialdarwinismus vermied. Dennoch prägten diese Begriffe die allgemeinen Vorstellungen über den nicht nur politisch, sondern auch gewaltsam ausgetragenen „Daseinskampf“ und steigerten sich innerhalb eines halben Jahrhunderts zu dem Exzess des „Völkermords“, der solche Theorien endgültig zu diskreditieren schien – bis vor wenigen Jahren erneut die These aufgestellt wurde, die Deutschen schafften sich durch mangelnde Resistenz gegen Fremdes ab.64

64 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, München 2010.

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Wirtschaftspolitik als Beruf Die Verwaltung und der politische „Kampfboden“ der Weimarer Demokratie

Im Übergang von der sich parlamentarisierenden Monarchie zur republikanischen Demokratie trat Max Weber nicht mit Vertrauensbekundungen in die Verwaltung hervor, deren „kontinuierliche Arbeit“1 in jenen Tagen entscheidend die für Weber so wesentliche Kontinuität des Staates garantierte und die Desintegration der öffentlichen Ordnung verhinderte.2 Zwar versagte er der staatlichen Bürokratie des Kaiserreichs nicht die professionelle Anerkennung. Aber für die politischen Herausforderungen in der Massendemokratie bedurfte es Weber zufolge anderer Führungsfiguren als jener, die der politisch unerfahrenen Verwaltungselite entsprungen waren. Politischer Instinkt, der Kampf um Ideen und Menschen, um Ressourcen und Apparate, das Verantwortungsgefühl für das Ganze, das demagogische Moment mit seinen Resonanzen in der Masse der Wahlbürger fehlten ihnen gänzlich; so lässt sich sein vertrautes, an vielen und unterschiedlichen Orten vorgetragenes Argument auf den Punkt bringen. Seine zunächst als Artikelserie in der „Frankfurter Zei1 Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hg. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1982, S. 475–488, hier S. 477. 2 Zu Webers politischem Denken bleibt der maßgebliche Ausgangspunkt Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974. Diese klassische und vielfach unübertroffene Betrachtung geht davon aus, dass Politik in Webers „Denken und Lebenswerk eine zentrale Stellung“ einnimmt (S. 1; vgl. auch S. 335), und führt immer wieder auf den „Primat“ der Außenpolitik zurück (S. 205 u.ö.) – Die „protestantische Ethik“, Kapitalismus und Moderne als den Kern, um den Webers Denken kreiste, arbeitet hingegen das jüngste Standardwerk der Weber-Forschung heraus: Peter Ghosh, Max Weber and The Protestant Ethic, Oxford 2014. Politik erscheint hier als Nebensache in seinem Denken, die politischen Schriften auch der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit dienen nicht nur, aber vor allem der Weiterentwicklung des Werks, zugleich wird Webers Haltung bei Kriegsausbruch 1914 jedoch differenzierter dargestellt (S. 205 f., 209 u. 221) als bei Mommsen, dessen Weber „die nationale Aufbruchstimmung des Spätsommers 1914 mit vollem Herzen“ teilt; Mommsen, Max Weber, S. 206.

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tung“ vom Juni bis September 1917 erhobene, in ihrer Differenziertheit auf die föderale Struktur des Reichs abgestimmte Forderung nach vollständiger Parlamentarisierung trug die „Kritik des Beamtentums“ bereits im Titel. Diese Intervention in den Kriegsdebatten um das Verfassungsgefüge des Reichs richtete sich gegen das Festhalten an „der uns wohlbekannten kontrollfreien Beamtenherrschaft“ ohne parlamentarische Verantwortlichkeit. Aber das Parlament sollte der „Kampfplatz der Gegenwartsprobleme“ sein, auf dem sich „politische Persönlichkeiten mit Führerqualitäten“ bewährten.3 Den Gegensatz der beiden Typen des Beamten und des Politikers spitzte Weber in seiner berühmten Vorlesung „Politik als Beruf“ vom 28. Januar 1919 zu, unmittelbar nach der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar. Weber hatte sich, als Kandidat selbst chancenlos, mit „Feuereifer“ in den Wahlkampf für die DDP gestürzt, dabei sein demagogisches Talent erkundet, zugleich aber stets die „Ehrlichkeit“ des „Querdenkers“ an den Tag gelegt. München, der Schauplatz der Vorlesung, wurde zu diesem Zeitpunkt noch vom kurz darauf ermordeten USPD-Ministerpräsidenten Kurt Eisner regiert. Wenig später nahm Weber einen Ruf an die Universität München an. Unmittelbar nachdem er dann am 1. April die Nachfolge Lujo Brentanos angetreten hatte, brachen die bürgerkriegsartigen Zustände in der Stadt los. Ob man in der Vorlesung nun Selbsterkenntnis und Selbstkritik des politisch Handelnden und Enttäuschten erkennen will oder nicht – Weber sprach jedenfalls nicht als zeitloser Theoretiker in einem historisch leeren Raum, sondern situativ in innen- wie außenpolitisch dicht gewobenen Kontexten.4

1. Politik, Bürokratie und der „Schatten der Massendemokratie“ Jenseits der immer wieder zitierten Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für eine Skizze der wirtschaftspolitischen Konzepte der 3 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: Ders., Zur Politik im Krieg. Schriften und Reden 1914–1918 (MWG I/15), Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1984, S. 202– 596, hier S. 541, 596 u. 592; vgl. zur politischen Kritik ebenso wie zur professionellen Anerkennung des deutschen Beamtentums Mommsen, Max Weber, S. 178–185; zur Parlamentarisierung als „Mittel zur Überwindung der politischen Führungskrise“ ebd., S. 186–205. 4 Zur Biographie vgl. Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, hier S. 784–791, Zitate S. 784 f.; zur Berufung nach München Dirk Kaesler, Max Weber (1864–1920), in: Katharina Weigand (Hg.), Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft, München 2010, S. 185–203.

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deutschen Ministerialbürokratie in der 1918/19 errichteten parlamentarischen Republik – und darum geht es in diesem Beitrag – ein kontrastierender Blick auf Webers gleichzeitig veröffentlichte, als historisch-soziologische Abhandlung verpackte Polemik gegen die Bürokratie aufschlussreich. Unweigerlich stellt sich dabei die Frage, ob Webers an der Kritik der wilhelminischen Ordnung – aber auch der kaum besser abschneidenden britischen oder amerikanischen Verhältnisse der Parteimaschinen und Beutepolitiker – geschultes Bürokratieverständnis der neuen Realität überhaupt gerecht werden konnte. Die tatsächliche Praxis des „langsamen Bohrens von harten Brettern mit Augenmaß und Leidenschaft“ in der jungen deutschen Demokratie hat Weber analytisch nicht mehr verfolgt.5 Als die Parlamentarisierung gerade Wirklichkeit geworden war, erhielt sein Konzept demokratischer Führung bereits eine „antiparlamentarische Richtung“ mit der Forderung nach einer „plebiszitären Führerdemokratie“, die aber rechtsstaatlich eingehegt und parlamentarisch kontrolliert bleiben sollte.6 Auch sein systematisches Argument über die Bürokratisierung, auf das noch zurückzukommen sein wird, dürfte sein Gespür für die feinen Unterschiede der sich nach dem Krieg schnell wandelnden historischen Realität – das, was Marc Bloch die „Konfusionen“ nannte, die der Gegenstand der Geschichte sind – nicht geschärft haben.7 Für die berühmte Typologie der Bürokratie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ und an anderen Stellen seines herrschaftssoziologischen Werks konnte Weber die heuristische Rechtfertigung für sich in Anspruch nehmen: „Scharfe Scheidung ist in der Realität oft nicht möglich, klare Begriffe sind aber dann deshalb nur um so nötiger.“8 Wenn Weber jedoch agonal in die Debatten seiner Zeit eingriff, entwarf er keinen Idealtypus. In seiner politischen Polemik hatte er konkrete Typen vor Augen, denen seine Ab- und Zuneigung galten. Im Hinblick auf Julius Hirsch, den seit 1919 amtierenden und 1923 zur Disposition gestellten Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, von dem im Folgenden neben anderen die Rede sein wird, traf Webers historisches Schema der Ausdifferenzierung von Politik und Beamtentum auf den ersten Blick zu: „Die Entwicklung der Politik zu einem ‚Betrieb‘, der eine Schulung im Kampf um die Macht und in dessen Methoden erforderte, so wie sie das 5 Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919 (MWS I/17), Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1994, S. 35–88, hier S. 88. 6 Vgl. Mommsen, Max Weber, S. 199–205, Zitate S. 199 f. 7 Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Hg. Peter Schöttler, Stuttgart 2002, S. 167 f. 8 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Hg. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 123.

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moderne Parteiwesen entwickelte, bedingte nun die Scheidung der öffentlichen Funktionäre in zwei, allerdings keineswegs schroff, aber doch deutlich geschiedene Kategorien: Fachbeamte einerseits, ‚politische Beamte‘ andererseits. Die im eigentlichen Wortsinn ‚politischen‘ Beamten sind äußerlich in der Regel daran kenntlich, daß sie jederzeit beliebig versetzt und entlassen oder doch ‚zur Disposition gestellt‘ werden können.“ Sie mussten die Politik der Regierung vertreten, in Großbritannien und Frankreich genauso wie in Preußen.9 Dass sie diese Politik, die „Ziele“10 – im vorliegenden Fall der Wirtschaftspolitik – jedoch aus sich selbst entwickeln konnten, wie es für Hirsch galt, dass seiner Stellung „zur Disposition“ ein politischer Konflikt mit dem Reichskanzler und ein darauf folgendes Rücktrittsgesuch vorausgingen, lässt allerdings die Grenze zwischen dem politischen Beamten und dem eigenverantwortlichen, den Kampf suchenden Berufspolitiker verschwimmen. Die Beobachtung dieser „Konfusionen“ ist ein Ausgangspunkt. Die Möglichkeit, dass der Bürokrat sich auch zum Politiker eignen könnte oder vielmehr: dass er auf eine Weise Politiker werden könnte, die weder der klassischen Beamtenpolitik noch dem Modell des parlamentarischen „leaders“ oder demokratischen Führers entsprach, war in dieser Deutung nicht vorgesehen. Ohne diese Frage hier weiter erörtern zu können, ist auch in dieser Hinsicht zu erkennen, dass sich „das liberale Ideal einer unabhängigen Führungselite“ nicht so leicht, nämlich nur um den Preis einer (auch methodischen) Privilegierung der „Herrschaft des plebiszitär-charismatischen Politikers“, der „oberhalb der Parteimaschinen, oberhalb des durch sie mediatisierten Parlaments“ stehen sollte, auf die seit 1918/19 existierende Massendemokratie übertragen ließ.11 Die Massendemokratie konnte Praktiken ausbilden, die sich von den von Weber beschriebenen wesentlich unterschieden. Für Weber gehörten „der moderne Advokat und die moderne Demokratie ... schlechthin zusammen“. Auch „der Journalist“ bewährte sich auf diesem Kampfplatz. Beide politische Gestalten agierten demagogisch. Und wie Weber beobachtete: „Der ‚Demagoge‘ ist ... seit der Demokratie der Typus des führendes Politikers im Okzident.“12 Politische Kontinuität durch Verwaltung oder Beamte, die sich in der Öffentlichkeit „mit den Mitteln des geschriebenen oder gesprochenen Wortes“ im Kampf um politische Leitvorstellungen und Interessendurchsetzung positionierten, sprengte Webers Demokratie- und Bürokratiebild. „Der echte Beamte“, er-

9 10 11 12

Weber, Politik als Beruf, S. 48 f. Mommsen, Max Weber, S. 181. Ebd., S. 201. Weber, Politik als Beruf, S. 52 u. 54.

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klärte er, wieder am – spätestens mit Bethmanns ‚Politik der Diagonale‘ im Krieg obsolet gewordenen – Modell der wilhelminischen Reichsleitung gemessen, „soll seinem eigentlichen Beruf nach nicht Politik treiben, sondern: ‚verwalten‘, unparteiisch vor allem, – auch für die sogenannten ‚politischen‘ Verwaltungsbeamten gilt das, offiziell wenigstens, soweit nicht die ‚Staatsräson‘, d.h. die Lebensinteressen der herrschenden Ordnung, in Frage stehen. Sine ira et studio, ‚ohne Zorn und Eingenommenheit‘ soll er seines Amtes walten. Er soll also gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer sowohl wie seine Gefolgschaft, immer und notwendig tun muß: kämpfen. Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des Politikers. Und vor allem: des politischen Führers. Dessen Handeln steht unter einem ganz anderen, gerade entgegengesetzten Prinzip der Verantwortung, als die des Beamten ist.“13

Das fehlende bürokratische Element in Webers Demokratietheorie14 – gerade bei der Kontinuität der großen politischen Linien, bei der Formulierung von Gesetzentwürfen, bei der für ihn so entscheidenden Enqueten- bzw. Ausschussarbeit, generell im weiten Feld der politischen Konfusionen zwischen Parlament, Regierung, Interessenvertretungen und der „Gesellschaft“ – könnte ein genauer Blick auf die Verwaltungsarbeit ergänzen, wie dies in der einschlägigen Literatur auch vielfach geschehen ist.15 Wenn es an dieser Stelle auch nicht um das systematische Argument geht, sondern ein historischer Fall skizziert werden soll, sind dennoch einige theoretische Stichworte zu rekapitulieren, um Webers grundlegende und in ihren Grundzügen unübertroffene Bürokratieanalyse nicht in der situativen Polemik am Anfang der deutschen Republik aufgehen zu lassen. Bürokratisierung, so sein Argument in Kurzfassung, war gleichbedeutend mit Modernisierung: „Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter der eindeutige Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bürokratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung, 13 Ebd., S. 53. 14 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 130, spricht in diesem Zusammenhang von der „Theorie der ‚Demokratie’“. 15 Einige Beispiele aus der Verwaltungsliteratur werden im Folgenden noch genannt; unter den sehr unterschiedlichen theoretischen Formulierungen der Stellung der Verwaltung in der Demokratie vgl. etwa Niklas Luhmann, Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 4. Aufl. Opladen 1994; ders., Politische Soziologie, Berlin 2010; Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg 2010.

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festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates, des monarchischen ebenso wie des demokratischen.“16

Eine Theorie bürokratischer Arbeit bildet den Kern von Webers Theorie der Modernisierung17, und in Fortsetzung dieses Gedankengangs ist von prominenten Philosophen die Genese der modernen Rationalität auf Verwaltungslogiken zurückgeführt worden.18 Aber gerade die in seinen theoretischen Entwurf fundamental eingeschriebene formale Gleichstellung der Bürokratien in Wirtschaft und Staat, die theoretische Annahme, dass beide „im Grundwesen ganz gleichartig seien“, seine Gegenrede gegen die „irrige Vorstellung“, dass sich „die geistige Arbeit im Kontor auch nur im mindesten von derjenigen im staatlichen Büro unterscheide“, minderten bereits aus heuristischen Gründen Webers Sensibilität für die spezifische politische Dynamik der Verwaltung 16 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 825; detaillierter werden ebd., S. 126 f., die Charakteristika der „legalen Herrschaft“ durch einen „bureaukratischen Verwaltungsstab“ beschrieben: „Nur der Leiter des Verbandes besitzt seine Herrenstellung entweder kraft Appropriation oder kraft einer Wahl oder Nachfolgerdesignation. Aber auch seine Herrenbefugnisse sind legale ‚Kompetenzen‘.“ Für die untergeordneten „Einzelbeamten“ gilt, dass sie „1. persönlich frei nur sachlichen Amtspflichten gehorchen, 2. in fester Amtshierarchie, 3. mit festen Amtskompetenzen, 4. kraft Kontrakts, also (prinzipiell) auf Grund freier Auslese nach 5. Fachqualifikation – im rationalsten Fall: durch Prüfung ermittelter, durch Diplom beglaubigter Fachqualifikation – angestellt (nicht: gewählt) sind, – 6. entgolten sind mit festen Gehältern in Geld meist mit Pensionsberechtigung, ... 7. ihr Amt als einzigen oder Haupt-Beruf behandeln, 8. eine Laufbahn: ‚Aufrücken‘ je nach Amtsalter oder Leistungen oder beiden, abhängig vom Urteil der Vorgesetzten, vor sich sehen, 9. in völliger ‚Trennung von den Verwaltungsmitteln‘ und ohne Appropriation der Amtsstelle arbeiten, 10. einer strengen einheitlichen Amtsdisziplin und Kontrolle unterliegen.“ Weber betont hier, dass diese nicht auf die staatliche Verwaltung beschränkten Merkmale der Bürokratie „auch historisch (in mehr oder minder starker Annäherung an den reinen Typus) nachweisbar“ seien. Vgl. auch Weber, Die drei reinen Typen, S. 475–478. 17 Eine geographische Differenzierung dieser Konvergenztheorie der Moderne nimmt vor: Bernard S. Silberman, Cages of Reason. The Rise of the Rational State in France, Japan, the United States, and Great Britain, Chicago 1993; zur gewaltigen modernisierungstheoretischen Literatur vgl. als historische Analyse Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003. 18 Vgl. etwa Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, London 2011, S. 250 f./Anm. 13. Zentral ist Webers Bemerkung in Wirtschaft und Gesellschaft, S. 565: „Entscheidend ist für uns nur: daß prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler ‚Gründe‘, das heißt entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln steht.“

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im demokratisch neugeordneten Deutschland.19 Graduelle Unterschiede zwischen den Bürokratien der wirtschaftlichen und der staatlichen Sphäre arbeitete jedoch der wohl zur gleichen Zeit wie „Politik als Beruf“ entstandene Aufsatz über die „drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ heraus.20 Von besonderer Relevanz ist Webers Beobachtung einer Wechselwirkung von Bürokratisierung und Demokratisierung. Damit berührte er die Handlungsbedingungen der Weimarer Wirtschaftspolitik. Zum einen erklärte Weber, die „Bureaukratisierung“ sei „überall der unentrinnbare Schatten der vorschreitenden ‚Massendemokratie’“. Begründet war dieses Urteil anhand der historisch evidenten sozialen Begleiterscheinungen bürokratischer Herrschaft: der „Tendenz zur Nivellierung im Interesse der universellen Rekrutierbarkeit aus den fachlich Qualifiziertesten“ und der „Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit“, die „im Interesse der ‚Gleichheit’“ ausgeübt wurde. Bürokratisierung hatte „ständische Nivellierung“ zur Folge, „jede soziale Nivellierung“ förderte wiederum die Demokratisierung.21 Den Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimität sowie einer auf den Prinzipien der universellen Rekrutierbarkeit und der sachlich-rationalen Effizienz beruhenden Verwaltung arbeiten aktuelle Beiträge zur Demokratietheorie wieder heraus.22 Auch die Rekrutierungspraktiken und Handlungsgrundlagen der Weimarer Wirtschaftsbürokratie sind damit treffend beschrieben. Zum anderen warf Weber Fragen auf, die das Spannungspotential im Verhältnis von Demokratie und Bürokratie erkennen lassen: Obwohl beide in ihrer Entwicklung so eng miteinander verknüpft waren, setzte die Massendemokratie die rationale Norm bürokratischer Herrschaft durch ein anderes Prinzip unter Druck, das gerade die Wirtschafts- und Sozialpolitik der deutschen Republik zum permanent umkämpften Politikbereich und massiven Enttäuschungsanlass werden ließ. Aus 19 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 825. 20 Die Rechtsbindung und die „Legitimitätsgründe“ des Verwaltungshandelns stehen hier ebenso im Vordergrund wie die im Gegensatz zur ökonomischen Administration „heteronome“ bzw. „heterokephale“ Gestalt staatlicher Behörden. Zudem wird der Mischcharakter bürokratischer Herrschaft betont, etwa angesichts der am „Verwaltungsstab“ beteiligten „Interessenvertreter“. Doch fährt Weber fort: „Entscheidend ist aber: daß die kontinuierliche Arbeit überwiegend und zunehmend auf den bürokratischen Kräften ruht. Die ganze Entwicklungsgeschichte des modernen Staates insbesondere ist identisch mit der Geschichte des modernen Beamtentums und bürokratischen Betriebes ..., ebenso wie die ganze Entwicklung des modernen Hochkapitalismus identisch ist mit zunehmender Bürokratisierung der Wirtschaftsbetriebe.“ Weber, Die drei reinen Typen, S. 475–477; zur Datierung vgl. Mommsen, Max Weber, S. 275. 21 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 129 f. 22 Vgl. etwa Rosanvallon, Demokratische Legitimität, S. 45–77; Stein Ringen, Nation of Devils. Democratic Leadership and the Problem of Obedience, New Haven 2013.

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der Spannung zwischen politischer und sozialer Gleichheit, die die verwirklichte Massendemokratie mit sich brachte und die in der Demokratietheorie der Weimarer Republik intensiv diskutiert wurde23, resultierte eine Spannung zwischen sachlich-formalen und ethisch-ideologischen – und damit explizit dem politischen Kampf nicht entzogenen – Handlungsprinzipien der Verwaltung. Eine Politisierung (und damit Weber zufolge auch eine Emotionalisierung) der Verwaltung war zu erwarten: „Auch hier ist die Stellungnahme jeder ‚demokratischen‘, d.h. in diesem Fall: auf Minimisierung der ‚Herrschaft‘ ausgehenden Strömung notwendig zwiespältig. Die ‚Rechtsgleichheit‘ und das Verlangen nach Rechtsgarantien gegen Willkür fordern die formale rationale ‚Sachlichkeit‘ der Verwaltung im Gegensatz zu dem persönlichen freien Belieben und der Gnade der alten Patrimonialherrschaft. Das ‚Ethos‘ aber, wenn es in einer Einzelfrage die Massen beherrscht – und wir wollen von anderen Instinkten ganz absehen –, stößt mit seinen am konkreten Fall und der konkreten Person orientierten Postulaten nach materieller ‚Gerechtigkeit‘ mit dem Formalismus und der regelgebundenen kühlen ‚Sachlichkeit‘ der bürokratischen Verwaltung unvermeidlich zusammen und muß dann aus diesem Grund emotional verwerfen, was rational gefordert worden war. Insbesondere ist den besitzlosen Massen mit einer formalen ‚Rechtsgleichheit‘ und einer ‚kalkulierbaren‘ Rechtsfindung und Verwaltung, wie sie die ‚bürgerlichen‘ Interessen fordern, nicht gedient. Für sie haben naturgemäß Recht und Verwaltung im Dienst des Ausgleichs der ökonomischen und sozialen Lebenschancen gegenüber den Besitzenden zu stehen, und diese Funktion können sie allerdings nur dann versehen, wenn sie weitgehend einen unformalen, weil inhaltlich ‚ethischen‘ ... Charakter annehmen.“

Die Auseinandersetzungen um diesen ethischen Charakter, um die ideologischen Zwecke der Verwaltung wurden in der Massenöffentlichkeit geführt. Allerdings blieb die Verwaltung für Weber dabei passives Objekt öffentlicher Debatten, als Mitspieler und Mitgestalter der ideologischen Diskussion kam sie nicht vor: „Jede Art von intensiver Beeinflussung der Verwaltung durch die sog. ‚öffentliche Meinung‘, d.h. unter den Bedingungen der Massendemokratie: durch ein aus irrationalen ‚Gefühlen‘ geborenes, normalerweise von Parteiführern und Presse inszenier23 Vgl. etwa Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1992, S. 421–433; Otto Kirchheimer, Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung (1930), in: Ders., Politik und Verfassung, Frankfurt 1964, S. 9–56.

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tes oder gelenktes Gemeinschaftshandeln, kreuzt den rationalen Ablauf der Justiz und Verwaltung ebenso stark und unter Umständen weit stärker, als es die ‚Kabinettsjustiz‘ eines ‚absoluten‘ Herrschers tun konnte.“24

Dass zwischen unterschiedlichsten Ansprüchen aufgeriebene Verwalter sich dieser Sprache zur Idealisierung einer eigenen Rolle über allen Parteien bedienen konnten, steht auf einem anderen Blatt. Aber die Weimarer Wirtschafts-Ministerialbürokraten waren sich über ihre politischen Ziele, über ihr „Ethos“ im Klaren. Demokratische Reflexion und Diskussion waren ein charakteristisches Merkmal, wenn nicht die politische Geschäftsgrundlage ihres Handelns. Über die Loyalität zum Staat – in seiner verfassungsmäßigen Form – bestanden dabei jedoch auch Gemeinsamkeiten mit weniger politisch-programmatisch ausgerichteten, vor allem gouvernemental-etatistisch orientierten Bürokraten in angrenzenden Feldern wie dem der Staatsfinanzen.25 Man wird hier wohl von einer Übergangsphase sprechen können, in der die Bandbreite von einer weitgehend demokratisierten Verwaltung in Bereichen der Innen- oder Sozialpolitik bis zu einer Demokratisierungsresistenz von Teilen der Justiz reichte. So viele systematische Beobachtungen Webers sich in der Weimarer Verwaltung empirisch bestätigen ließen, blieb doch in entscheidenden Punkten, die das Politische berührten, eine auffällige Leerstelle. Von Weber nicht theoretisch erfasste, neue und wesentliche Strukturelemente der staatlichen Verwaltung traten auf: Eine dezidiert politische Agenda und die Selbstthematisierung von Verantwortungsgefühl gegenüber dem demokratischen Gemeinwesen waren in der Bürokratie der Republik zu beobachten. Das so oft experimentelle wirtschaftspolitische Handeln verlangte pragmatisches Augenmaß. Gehorsamspflicht und das „Prinzip der Amtshierarchie und des Instanzenzuges“26 wurden aufgehoben oder erhielten ein Gegengewicht durch die Praktiken der amtsinternen Diskussion, der Orientierung und Teilnahme an der demokratischen Debatte in Öffentlichkeit, Parlament und Interessenvertretungen sowie der intragouvernementalen und internationalen Kooperation. Diese allgemeinen Bedingungen und Verände24 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 565 f. 25 Vgl. dazu Stefanie Middendorf, Finanzpolitische Fundamente der Demokratie? Haushaltsordnung. Ministerialbürokratie und Staatsdenken in der Weimarer Republik, in: Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015, S. 315–343; zur parteipolitischen Variante des konservativen Staatsdenkens, das die Öffnung gegenüber der Demokratie begünstigte, Philipp Nielsen, Verantwortung und Kompromiss. Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie, in: Ebd., S. 294–314. 26 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 551 f.

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rungen bildeten den Rahmen, innerhalb dessen sich die im Folgenden skizzierte Etablierung eines in der Verwaltung institutionalisierten wirtschaftspolitischen Handlungsfeldes ereignete.

2. Die Institutionalisierung der Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik „Man muss sich daher eigentlich nicht darüber wundern, dass es [das demokratische System] zusammenbrach, sondern dass es so lange am Leben blieb.“27 So kritisierte schon 1955 Arnold Brecht die noch lange Zeit vorherrschende pessimistische Perspektive, in der die Weimarer Republik beinahe zwangsläufig auf ihren Untergang zusteuerte. Das gilt auch für die Geschichte der Verwaltung, deren Aufmerksamkeit sich zunächst auf antidemokratische Eliten im Staatsapparat richtete.28 Brecht selbst war der lebende Beleg des Gegenteils. Er gehörte zu den führenden Beamten der Republik, die sich dezidiert als Demokraten verstanden und deren Geschichte seit kurzem wieder größere Beachtung findet.29 Dass in der Verwaltung, gerade in ihrer Effizienz und Universalität – in Verbindung mit der auch in pluralistischen Gesellschaften üblichen Fiktion eines Garanten des Gemeinwohls –, eine wesentliche Legitimationsquelle der westlichen Demokratie ruhte, darauf weisen eine reiche zeitgenössische Literatur30 27 Arnold Brecht, Die Auflösung der Weimarer Republik und die Politische Wissenschaft, in: Zeitschrift für Politik N. F. 2 (1955), S. 291–308, hier S. 297. 28 Vgl. den instruktiven Überblick von Michael Ruck, Beharrung im Wandel. Neue Forschungen zur deutschen Verwaltung im 20. Jahrhundert (I), in: Neue Politische Literatur 42 (1997), S. 200–256; zur Korrektur ders., Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996; partiell bereits Hans Mommsen, Staat und Bürokratie in der Ära Brüning, in: Gotthard Jasper (Hg.), Tradition und Reform in der deutschen Politik, Berlin 1976, S. 81–137. 29 Vgl. etwa Claus-Dieter Krohn/Corinna R. Unger (Hg.), Arnold Brecht 1884–1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006; etwas präsentistisch-normativ Hannah Bethke, Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013. 30 Zu verweisen ist auf eine Reihe von Arbeiten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, etwa von Joseph Barthélemy, Henri Chardon, Robert E. Cushman, León Duguit, Frank Goodnow, Maurice Hauriou, Harold J. Laski, Walter Lippmann und anderen; ein frühes und ein spätes Beispiel: Woodrow Wilson, The Study of Administration, in: Political Science Quarterly 2 (1887), S. 197–222; Dwight Waldo, The Administrative State. A Study of the Political Theory of American Public Administration (1948), New Brunswick 2007.

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ebenso wie aktuelle politisch-theoretisch reflektierte Arbeiten hin.31 Dieses neue demokratische Verständnis von Verwaltung beschränkte sich nicht auf die deutsche Republik, wo wie in etlichen anderen Demokratien der Zwischenkriegszeit auch die Kontinuität des politischen Handelns angesichts häufig wechselnder Regierungen von der Spitzenbürokratie gewahrt wurde. Die Zahl der Behörden und Behördenmitarbeiter nahm im Ersten Weltkrieg und danach in vielen Ländern erheblich zu – in Deutschland etwa mit der Gründung oder Ausgliederung heute nicht mehr wegzudenkender Ressorts wie Wirtschaft, Finanzen und Arbeit.32 Wichtige Reformimpulse der Kriegs- und Zwischenkriegszeit kamen aus der Verwaltung33, nationale Professionalisierungstendenzen und transnationale Kooperation in der Verwaltungsmodernisierung verstärkten sich wechselseitig. In Deutschland war dabei die Hochschule für Politik ein neuer Ort des internationalen Austauschs sowie der Ausbildung des politischen und Verwaltungspersonals.34 Dass der Ordnung der Wirtschaft eine zentrale Bedeutung als Legitimitätsgrund der Demokratie zukam, war in den Debatten der Zeit eine Selbstverständlichkeit. Die Demokratie musste sich auf dem Feld der Wirtschaftspolitik beweisen.35 Walther Rathenaus berühmte Formel: „Die Wirtschaft ist das 31 Vgl. Rosanvallon, Legitimität, S. 45–77. 32 Vgl. etwa Kurt G. A. Jeserich u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985; Kathleen Burk (Hg.), War and the State. The Transformation of British Government 1914–1919, Boston 1982; Stephen Skowronek, Building a New American State. The Expansion of National Administrative Capacities 1877–1920, Cambridge 1982. 33 Vgl. neben der zuvor genannten Literatur etwa die Beiträge von Hartwin Spenkuch, Reinhold Zilch und Ludwig Richter in: Bärbel Holtz/Hartwin Spenkuch (Hg.), Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, Berlin 2001; zu den USA etwa Christopher Capozzola, Uncle Sam Wants You. World War I and the Making of the Modern American Citizen, Oxford 2008; Joseph A. McCartin, Labor’s Great War. The Struggle for Industrial Democracy and the Origins of Modern American Labor Relations 1912–1921, Chapel Hill 1997. 34 Vgl. Erich Nickel, Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004; Steven D. Korenblatt, A School for the Republic? Cosmopolitans and their Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik 1920–1933, in: Central European History 39 (2006), S. 394–430; Rosanvallon, Legitimität, S. 45–77; Helke Rausch, US-amerikanische „Scientific Philanthropy“ in Frankreich, Deutschland und Großbritannien zwischen den Weltkriegen, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 73–98; Pierre-Yves Saunier, Administrer le monde? Les fondations philanthropiques et la public administration aux États-Unis (1930–1960), in: Revue française de science politique 53 (2003), S. 237–255. 35 Vgl. ausführlicher und mit Literaturangaben Tim B. Müller, Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 569–601.

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Schicksal“, 1921 vor dem Reichsverband der Deutschen Industrie geäußert36, bezog sich auf den Kontext der Stabilisierung einer ökonomisch erschütterten jungen Demokratie. Diese Diskussionen drehten sich um Wirtschaftspolitik im Kapitalismus; vorerst zumindest wurde keine Umgestaltung, sondern eine Reform und Regulierung des Wirtschaftssystems angestrebt.37 Die deutsche Regierung erteilte allen weitergehenden gemeinwirtschaftlichen oder planwirtschaftlichen Vorstellungen, die unmittelbar nach der Novemberrevolution 1918 eindringlich erörtert wurden, bald eine Absage. Das Kabinett Gustav Bauer lehnte am 8. Juli 1919 endgültig die von der Kriegswirtschaft geprägten Pläne des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Rudolf Wissell und seines (Unter-)Staatssekretärs Wichard von Moellendorff ab. Die Mehrheit im Kabinett wollte den gemeinwirtschaftlichen Weg nicht einschlagen.38 Auch die internationale Wirkung nach dem Krieg, in dem das Spiel mit nationalen Klischees propagandistisch auf die Spitze getrieben worden war, wurde dabei berücksichtigt: „Die Planwirtschaft erscheint dem Ausländer und insbesondere dem Amerikaner als ein Erzeugnis deutschen bureaukratischen Geistes, gewissermaßen des deutschen Militarismus, angewandt auf wirtschaftliche Verhältnisse; sie ist dem Auslande so unsympathisch, daß ihre Einführung ausländische Kapitalisten schon aus Gefühlsgründen von der Betätigung in Deutschland fernhalten wird.“39 Schon früh und grundsätzlich hatten sich gegen Wissell und Moellendorff deren künftige Amtsnachfolger, der sozialdemokratische Reichsernährungsminister Robert Schmidt und sein Staatssekretär Julius

36 Rede Rathenaus vor dem Reichsverband der Deutschen Industrie am 28. September 1921 in München, in: Die deutsche Industrie und die Wiedergutmachungsfrage. Bericht über die dritte Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1921, S. 12–20, hier S. 20. 37 Vgl. zu den Grundlagen Werner Abelshauser, Freiheitlicher Korporatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987, S. 147–170; Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, Oxford 1997; Charles S. Maier, In Search of Stability. Explorations in Historical Political Economy, Cambridge 1987, S. 153–184; Peter-Christian Witt, Staatliche Wirtschaftspolitik in Deutschland 1918–1923, in: Gerald D. Feldman u.a. (Hg.), Die deutsche Inflation, Berlin 1982, S. 151–179. 38 Vgl. Feldman, Disorder, S. 153–155; zu den Auseinandersetzungen im Kabinett: Denkschrift des Reichsschatzministeriums zur „Planwirtschaft“, 5.7.1919, in: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Bauer, München 1980, Nr. 16, S. 61–71; Aufzeichnungen des Reichswirtschaftsministers „Zur Frage der Wirtschaftspolitik“, 7.7.1919, in: Ebd., Nr. 19a, S. 82–85; Kabinettssitzung, 8.7.1919, in: Ebd., Nr. 20, S. 93–97. 39 Denkschrift des Reichsschatzministeriums zur „Planwirtschaft“, 5.7.1919, S. 62.

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Hirsch, positioniert.40 Übereinstimmung herrschte in der Regierung jedoch darüber, dass die Republik von ihrer wirtschaftlichen Stabilisierung abhängig war, womit die Priorität der Bewältigung ökonomischer Probleme einherging. Die von Wissell und Moellendorff formulierte Notwendigkeit einer Integration von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik blieb Konsens im Kabinett.41 Die beiden Vertreter einer gemeinwirtschaftlichen Politik traten schließlich am 12. Juli zurück, das Wirtschaftsministerium übernahmen ihre Gegner Schmidt und Hirsch.42 Zur Angelegenheit der Demokratie erhob Bauer die Wirtschaftspolitik in seiner Regierungserklärung keine zwei Wochen später.43 Es ging demnach nicht nur um den besten Weg zur wirtschaftlichen Produktivität, sondern auch um demokratische Prinzipien. Mit der Hoheit über Verkehr, Energie und Steueraufkommen in Gestalt der geplanten Steuergesetze und Steuerverwaltung auf nationaler Ebene, der Reichsbahn und der Sozialisierung von Elektrizität, Braunkohle, Erzgewinnung und Teilen des Bergbaus habe sich der „demokratische Staat“ seine wirtschaftlichen Handlungsgrundlagen verschafft. „Form“ und „Inhalt“ des „deutschen Wirtschaftslebens“ in der Zukunft könnten nun der demokratischen Diskussion überlassen bleiben. Die Interessen der „Mehrheit des Volkes“ seien jetzt angemessen repräsentiert; „nicht mehr allein der kapitalistische Besitz, sondern die produktive Mitarbeit verleihen im neuen Deutschland Recht und Anteil“. Damit sei „die Zeit der gewaltsamen Umwälzung für jeden demokratisch Denkenden abgeschlossen“. Zwar erklärte Bauer, die „Idee des Kapitalismus“ abzulehnen, doch was er damit meinte, war eine Reform, keine Abschaffung des Kapitalismus: Es fand sich weiterhin Platz für den freien „Unternehmer“ in der demokratischen Wirtschaftsordnung, in der jedoch sein „einseitiges Übergewicht“ beseitigt und „über das Privatinteresse das Allgemeininteresse“ gesetzt werden sollte.44 Bauer fühlte sich dem in der öffentlichen Debatte zu bestimmenden demokratischen „Allgemeininteresse“ 40 Zum Grundsatzkonflikt der beiden Vorstellungen von Wirtschaftspolitik vgl. die markante und von der späteren Wirtschaftspolitik weit entfernte Denkschrift Wissells und Moellendorffs: Wirtschaftsprogramm des Reichswirtschaftsministeriums, 7.5.1919, in: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Scheidemann, Boppard a.Rh. 1971, Nr. 63b, S. 284–289; sowie den Gegenschlag von Schmidt und Hirsch: Denkschrift des Reichsernährungsministers, 7.5.1919, in: Ebd., Nr. 64, S. 289–297. 41 Vgl. Feldman, Disorder, S. 155; Witt, Wirtschaftspolitik, S. 160 f. 42 Vgl. Feldman, Disorder, S. 155 u. 165–188. 43 Vgl. dazu Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014, S. 74–113. 44 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte (Sten. Ber.), Bd. 328, 64. Sitzung, 23.7.1919, Berlin 1920, S. 1847.

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verpflichtet, wies jedoch populäre Erwartungen zurück, das Mandat seiner Regierung erstrecke sich auf die Einführung einer Planwirtschaft. Sein Verständnis von Repräsentation unterstellte keine Identität des Willens von Volk und Regierung, und Politik wurde hier pluralistisch gedacht.45 Wie weit Reformen der Wirtschaftsordnung reichen würden, war immer wieder neu zu diskutieren: „Wen das Volk in die Regierung einsetzt, der kann sein Wirtschaftsideal verwirklichen, soweit sich Ideale verwirklichen lassen ... Nach den politischen werden wir auch die wirtschaftlichen Schicksalsbestimmungen in die Hand des Volkes selbst legen.“ Die Demokratie sollte jedoch auch ins Wirtschaftsleben einziehen: „Dazu bedarf es eines Wirtschaftsprogramms, das nicht negativ in der Ablehnung der sogenannten ‚Planwirtschaft‘ bestehen darf, sondern positiv zu planvoller, zielklarer Wirtschaftspolitik führen muss.“46

3. Die „wirtschaftspolitischen Grundsätze“ und das „demokratische Prinzip“ Die konkrete Entwicklung dieser demokratischen Wirtschaftspolitik fiel de facto der bürokratischen Amtsspitze des Reichswirtschaftsministeriums zu. Gleichzeitig fanden ähnliche Schärfungen des wirtschaftspolitischen Problembewusstseins und ähnliche Institutionalisierungsprozesse in anderen westlichen Demokratien statt.47 Begleitet war diese systematische Erschließung eines politischen Feldes von einem epistemischen Wandel, von einer inter45 Gegen Oliver Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, BadenBaden 2000, S. 366–414, vgl. etwa Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010; Detlef Lehnert, Das pluralistische Staatsdenken von Hugo Preuß, Baden-Baden 2012. 46 Sten. Ber., Bd. 328, S. 1847 f. 47 Vgl. etwa Adam Tooze, Statistics and the German State 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001, S. 33; Keith Tribe, Strategies of Economic Order. German Economic Discourse 1750–1950, Cambridge 1995; Guy Alchon, The Invisible Hand of Planning. Capitalism, Social Science, and the State in the 1920s, Princeton 1985; William J. Barber, Herbert Hoover, the Economists, and American Economic Policy 1921–1933, Cambridge 1985; Michael A. Bernstein, A Perilous Progress. Economists and Public Purpose in Twentieth-Century America, Princeton 2001; Howard Brick, Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought, Ithaca 2006; Mary O. Furner/Barry Supple (Hg.), The State and Economic Knowledge. The American and British experiences, Cambridge 1990; Peter A. Hall (Hg.), The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations, Princeton 1989; Timothy Mitchell, Economists and the Economy in the Twentieth Century, in:

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nationalen Transformation der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung, was praktisch etwa in der zentralen Bedeutung der Statistik für die Wirtschaftspolitik und in der bis heute ähnlich praktizierten Berechnung gesamtwirtschaftlicher Größen resultierte.48 Zwar nahm die akademische Nationalökonomie in der Weimarer Republik an dieser wirtschaftswissenschaftlichen Revolution kaum teil.49 Aber es waren die politiknahen Bereiche und die Massenmedien, die an Relevanz gewannen und die meisten der jungen Ökonomen anzogen, von der Wirtschaftspublizistik und den Informationsdiensten über die Gewerkschaften, Unternehmen und Interessenverbände bis zu den staatlichen Forschungszentren und Behörden.50 Das Statistische Reichsamt nahm als Arbeitgeber ebenso wie in der Ideenproduktion eine Schlüsselstellung ein. Den Auftrag dazu erhielt es jedoch vom Reichswirtschaftsministerium, der übergeordneten Reichsbehörde.51 Auch intellektuelle Impulse kamen aus dem Reichswirtschaftsministerium. Das Interesse der Spitzenbeamten richtete sich auf die politische Praxis. Aber aus ihren politischen Intentionen folgten auch ökonomische Grundeinsichten.52 Im Mittelpunkt dieser politischen Diskussionen stand der Staatssekretär und Wirtschaftsprofessor Julius Hirsch.53 Das Reichswirtschaftsministerium verfügte über ein intellektuell profiliertes Personal, das praktische Problemlösung und wirtschaftspolitische Grundsatzdiskussion, ökonomische Stabilisierung und demokratische Selbstreflexion miteinander zu verbinden wusste. Die George Steinmetz (Hg.), The Politics of Method in the Human Sciences. Positivism and its Epistemological Others, Durham 2005, S. 126–141. 48 Vgl. Tooze, Statistics, S. 15 f. u. 103–148. 49 Vgl. Roman Köster, Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, mit Lücken auf dem Gebiet der nicht-universitären Wissenschaft; sowie umfassender informiert, allerdings ideologisch verzerrt Claus-Dieter Krohn, Wirtschaftstheorien als politische Interessen. Die akademische Nationalökonomie in Deutschland 1918–1933, Frankfurt 1981. 50 Vgl. Tooze, The Crisis of Gelehrtenpolitik and the Alienated Economic Mind. Economists and Politics in Interwar Germany, in: Martin Daunton/Frank Trentmann (Hg.), Worlds of Political Economy. Knowledge and Power in the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York 2004, S. 189–216; diese Entwicklung skizzierte bereits der verantwortliche Staatssekretär Julius Hirsch, Wirtschaftslehre und Wirtschaftspraxis, Berlin 1930, S. 24–27. 51 Vgl. Tooze, Statistics, S. 77–84 u. 105–122; ders., Crisis, S. 200–211. 52 Für die Etablierung der Weimarer statistischen Apparate wird die entscheidende Rolle Julius Hirschs deutlich bei Tooze, Statistics, S. 79–84; „Hirsch set the agenda“ (S. 81) könnte über vielen weiteren Aktivitäten stehen. 53 Als einer der führenden wirtschaftspolitischen Protagonisten wird Hirsch auch dargestellt durch Feldman, Disorder, S. 165–188.

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Kontroversen, Konflikte und Koalitionen im Amt können hier nur angedeutet werden.54 Gelegentlich ist in den Quellen von einer „Grundeinstellung“ oder „Auffassung des RWM“ die Rede55, einem institutionalisierten Ensemble von politischen und ökonomischen Ideen. Gerade auch Divergenzen56 lassen die immer stabilere Etablierung der politisch-ökonomischen Denkmuster, für die Hirsch stand, umso deutlicher erkennen.57 Kriegswirtschaftsbedingt hatte das neue Ministerium 1918 noch etwa 1600 Mitarbeiter, in der späten Republik pendelte sich die Zahl bei etwa 200 ein, die höheren Beamten und Angestellten machten den kleineren Teil davon aus.58 Einige führende Beamte stammten aus den ad hoc errichteten Behörden der Kriegsjahre, vor allem dem Kriegsernährungsamt. Robert Schmidt, den seine Mitarbeiter „Bobby“ nannten und der eine „nach Westen ausgerichtete Politik“ vertrat, und Julius Hirsch hatten die in das Reichsernährungsministerium umgewandelte Behörde geleitet, die mit ihrem Amtsantritt vorübergehend im Reichswirtschaftsministerium aufging.59 Neben Schmidt, der dreimal das 54 Zum Reichswirtschaftsministerium vgl. aus der älteren Literatur Paul Adloff, Das Reichswirtschaftsministerium unter besonderer Berücksichtigung seiner Mitwirkung an der Gesetzgebung, Borna-Leipzig 1931; Friedrich Facius, Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, Boppard a.Rh. 1959; Walther Hubatsch, Entstehung und Entwicklung des Reichswirtschaftsministeriums 1880–1933, Berlin 1978; Wilfried Berg, Reichswirtschaftsministerium, in: Jeserich u.a. (Hg.), Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, S. 168–176. 55 Bundesarchiv Berlin (BArch), R 3101/9930, fol. 225–237, Lautenbach, Lage: Unsere taktische Stellung in der Reparationspolitik, Oktober 1929. 56 Vgl. etwa Erinnerungen Hans Schäffers an Ernst Trendelenburg. Dokumentation, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 865–888; Hans Staudinger, Wirtschaftspolitik im Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen 1889 bis 1934, Hg. Hagen Schulze, Bonn 1982, S. 26–29, 32 u. 35 f.; Eckhard Wandel, Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen 1886–1967, Stuttgart 1974, S. 26, 40, 52 u. 55–59. 57 „Hirsch’s thinking“ in ökonomischer Hinsicht ist knapp charakterisiert bei Feldman, Disorder, S. 259, als „commitment to maintaining the primacy of private economic initiative and organization with just that measure of state control and influence necessary to place national above private economic interests“. 58 Vgl. Hubatsch, Entstehung, S. 21, 34 u. 62–125; BArch, R3101/5837, fol. 3–28, Haushalt des RWM für das Rechnungsjahr 1920; fol. 250–269, Haushalt für das Rechnungsjahr 1921; R 3101/5820, fol. 163–166, Geschäftsverteilungsplan des RWM, 1.1.1922; Hans Schäffer, Die Problematik der kapitalistischen Gegenwart, in: Bernhard Harms (Hg.), Kapital und Kapitalismus. Vorträge, gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Berlin 1931, Bd. 1, S. 38–52, hier S. 43 f. 59 Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 30; vgl. ebd., S. 19, 21–25, 27 f. u. 30 f.; Feldman, Disorder, S. 143–155; Schäffer, Erinnerungen, S. 874 u. 881 f.; ders., Meine Zusam-

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Amt bekleidete, gehörte Eduard Hamm, der später im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sein Leben ließ, zu den überzeugten Demokraten in der Position des Wirtschaftsministers.60 Jüngere Mitarbeiter wurden mitunter direkt auf unkonventionellen Wegen von ihren Vorgesetzten rekrutiert.61 Von der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung bis zum Sturz Brünings amtierten nur zwei Staatssekretäre, Hirsch (1882–1961) und sein Nachfolger Ernst Trendelenburg (1882–1945), der unter zwölf Ministern Staatssekretär war. Hirsch und Trendelenburg sicherten die Kontinuität der Arbeit und der politischen Linie im Ministerium über zahlreiche Regierungswechsel hinweg. Ihre politischen Neigungen wiesen, ebenso wie die ihrer engsten Mitarbeiter, Hans Schäffer (1886–1967) und Hans Staudinger (1889–1980) vor allem, aber auch Cora Berliner (1890–1942), Alexander (1885–1963) und Hanns-Joachim Rüstow (1900–1994), Wilhelm Lautenbach (1891–1948) sowie der häufig hinzugezogene Berater aus dem Statistischen Reichsamt Gerhard Colm (1897–1968), vorwiegend in die linke Mitte. Staudinger kandidierte in den letzten freien Reichstagswahlen erfolgreich für die SPD in Hamburg, bevor er kurzzeitig verhaftet wurde und schließlich fliehen konnte. Ein beträchtlicher Teil der ursprünglichen Führungsspitze des Ministeriums ging nach 1933 ins Exil, zumeist – oft über Umwege – in die USA. Schäffer, der 1929 Staatssekretär im Finanzministerium geworden war und 1932 die Leitung des Ullstein-Konzerns übernommen hatte, emigrierte nach Schweden. Cora Berliner blieb in Deutschland und setzte sich in Hilfsorganisationen für die verfolgten deutschen Juden ein. Sie wurde 1942 deportiert und ermordet.62 Wie die Sektionsleiterbesprechungen dokumentieren, war das Haus von einer offenen Diskussionskultur geprägt. Hierarchien galten zumindest in der Debatte wenig. Ein Appell an Gehorsamspflicht findet sich nirgends. Das überparteiliche demokratische Amtsethos, das die leitenden Beamten des Ministeriums pflegmenarbeit mit Carl Melchior, in: Carl Melchior. Ein Buch des Gedenkens und der Freundschaft, Tübingen 1967, S. 36–106, hier S. 72. 60 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Der Weimarer Demokrat Eduard Hamm 1879–1944. Persönliches Profil und politisches Handeln zwischen Kaiserreich und Widerstand, in: Ders., Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 313–355; Schäffer, Erinnerungen, S. 876 f. u. 882; Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 34 f. 61 Vgl. Hubatsch, Entstehung, S. 28 f. u. 34; Schäffer, Erinnerungen, S. 869–873; ders., Meine Zusammenarbeit mit Carl Melchior, S. 67; Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 19 u. 27 f.; Wandel, Schäffer, S. 26 f., 28 f., 31 f. u. 40. 62 Vgl. etwa Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 30–32 u. 108–141; Hubatsch, Entstehung, S. 32 u. 46 f.; Schäffer, Erinnerungen, S. 874–876; Wandel, Schäffer, S. 28, 51 f. u. 59 f.; Wolfram Hoppenstedt, Gerhard Colm. Leben und Werk (1897–1968), Stuttgart 1997; Kathrin Meier-Rust, Alexander Rüstow. Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993.

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ten, stand nicht im Gegensatz zur publizistischen Artikulation der politischen „Privatmeinung“.63 Diese Beamten agierten in einem politischen Massenkommunikationsmarkt. Eine Modernisierung, Verjüngung und personalpolitische Öffnung des Beamtenstabs war von Anfang an Programm.64 Politische Konflikte wurden nicht gescheut, politische Verantwortung für einen eingeschlagenen Kurs wurde übernommen: Hirsch schied aus dem Amt, weil er den außenpolitischen Kurs der Cuno-Regierung, besonders den Ruhrkampf, für eine Gefährdung seiner Stabilisierungs- und Reparationspolitik hielt.65 Aber Hirsch blieb auch nach seinem Rücktritt ein politisch-intellektueller Referenzpunkt im Ministerium.66 Schon Wissell und Moellendorff hatten in ihm und Schmidt nicht nur politisch, sondern auch intellektuell ernstzunehmende Gegner erkannt. Im Streit um eine „einheitliche Wirtschaftspolitik“ in der Regierung ging es nicht nur um „Kompetenzfragen. Hinter den Kompetenzen stehen vielmehr grundsätzliche Divergenzen in der wirtschaftspolitischen Auffassung der einzelnen Ressorts und ihrer Leiter.“ Dabei stellten sie sogar einen politischen Fundamentalkonflikt zwischen ihrem „Sozialismus“ und „dem demokratischen Prinzip“ fest; in diesem Kontext wurden offensichtlich Schmidt und Hirsch als Vertreter des demokratischen Prinzips betrachtet, weil sie sich gegen sozialistische Steuerungsideen einsetzten.67 Auch die beiden „Sozialisierungskommissionen“ 1918 bis 1920 ließ das Ministerium unter ihrer Leitung ins Leere laufen. Sie schreckten vor allzu schnellen und weitgehenden Verstaatlichungen zurück.68 Beim Reichswirtschaftsministerium lag die Verantwortung für die Koordination der Wirtschaftspolitik, was neben der Abwicklung des kriegswirtschaftlichen Apparats und Aufsichtsfunktionen in der Wirtschaft vor allem die Vorbereitung und Abstimmung der Verordnungen und Gesetzentwürfe einschloss. Am Anspruch des Ministeriums auf Federführung in der Wirtschaftspolitik hielten Schmidt und seine Beamten fest. Die Maßnahmen anderer Ministerien 63 BArch, R 3101/5851, fol. 29–32, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 28.10.1920. 64 Wirtschaftspolitische Richtlinien des Reichswirtschaftsministers, 19.9.1919, in: Kabinett Bauer, Nr. 65, S. 268. 65 Vgl. BArch, R 3101/8412, Hirsch an Schmidt, 21.11.1922; Feldman, Disorder, S. 489– 491. 66 Vgl. etwa die Bezugnahmen auf Hirsch als Ideengeber in Schäffers Tagebuch: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZArch), ED 93 (Hans Schäffer), Bd. 1, 21.9.1925, 8.12.1925; Bd. 3, 24.3.1927; Bd. 4, 24.12.1928; zur Kontinuität der politischen Linie auch Tooze, Statistics, S. 129–134 u. 142–145. 67 Denkschrift (vgl. oben Anm. 40), S. 273 f. u. 275, und Gegenschlag von Hirsch und Schmidt ebd., S. 289–297. 68 Vgl. BArch, R 3101/5822, fol. 86–88, Niederschrift Sektionsleiterbesprechung am 24.9.1920; Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 23 f.

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müssten „den allgemeinen wirtschaftspolitischen Grundsätzen“ entsprechen, „die vom Reichswirtschaftsministerium federführend“ auf allen Gebieten aufgestellt würden, hieß es selbstbewusst im Ministerium.69 Der Instanzenzug im Reichswirtschaftsministerium war von auffälliger Kürze: Nach dem Abbau der kriegswirtschaftlichen Stellen verfügte es über keine territorialen Untergliederungen mehr, was den Verwaltungsaufwand verringerte und Möglichkeiten des grundsätzlichen Nachdenkens über die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eröffnete.70 Dabei stand nicht die ökonomische Umgestaltung, sondern die politische Integration der Gesellschaft im Vordergrund der „Wirtschaftsleitung“. Die Sicherung des „sozialen Friedens“ durch eine wachstumsfördernde und interessenausgleichende Aufsicht über die „Gesamtwirtschaft unseres Volkes“ sollte auf „übereilte Experimente“ verzichten.71 Die „Oberaufsicht des Reichswirtschaftsministeriums“ über die Wirtschaft stand in den Augen der bürokratischen Wirtschaftspolitiker nicht im Widerspruch zur Beteiligung von Interessenvertretern: Staatliche Kontrolle wurde ergänzt durch die „Kontrolle der Allgemeinheit“ in Gestalt tripartistischer Selbstverwaltungskörperschaften und durch die „Selbstkontrolle“ der Wirtschaft. Aber das Ziel war für die Ministerialbürokraten ein ökonomisches und politisches zugleich: Die Steigerung von „Produktivität“ und „Wirtschaftlichkeit“ auf eine nachhaltige, die Bodenschätze „nicht rasch“ erschöpfende Weise sollte dem „Gemeinwohl“ und dem „gerechten Ausgleich“ verpflichtet sein.72 Auch der zeitweilig amtierende DVP-Wirtschaftsminister Ernst Scholz schloss sich diesem politischen Selbstverständnis an: „Produktionssteigerungen“ waren die eine Priorität, gesellschaftliche Integration die andere: „So ist zu hoffen, dass der Arbeitsgemeinschaftsgedanke über die Meinungsverschiedenheiten, über politische und Klassengegensätze hinweg, wirksam bleiben und seinen Teil zur Ueberwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten beitragen wird.“73 69 BArch, R 3101/5840, fol. 50 f., [Gustav Brecht?] an Feldbausch, 17.4.1919. Vgl. etwa Schmidt, Rede vor dem Zentralverband des Deutschen Großhandels in Hamburg, 2.10.1919, in: Zum Programm des Reichswirtschaftsministeriums, Berlin 1919, wieder in: Hubatsch, Entstehung, S. 51–55; R 3101/5847, fol. 5, Der Reichswirtschaftsminister (Staatssekretär Hirsch) an sein Haus, 25.8.1919. 70 Vgl. etwa Feldman, Disorder, S. 137–150, 153–155, 165–168, 170–173 u. 258–260; Wandel, Schäffer, S. 59; Schäffer, Meine Zusammenarbeit mit Carl Melchior, S. 67; Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 27 f. 71 Schmidt, Rede, 2.10.1919, in: Hubatsch, Entstehung, S. 51 u. 54. 72 BArch, R 3101/5840, fol. 120–135, Gustav Brecht (Sektionsleiter), Ausführlicher Bericht über das Arbeitsgebiet der Sektion III/4, 25.7.1919. 73 BArch, R 3101/8410, fol. 30–64, Der Aufbau: Korrespondenz für die deutsche Presse, 27.12.1920.

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Damit verbanden sich zwei weitere Grundpfeiler der politisch-ökonomischen Strategie: die globale Orientierung und, über die Produktivität hinaus, die Steigerung des Konsums zur Stabilisierung der Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft war international verflochten, eine Abkopplung vom Weltmarkt war für diese Wirtschaftspolitiker nicht vorstellbar. Versuche, neue Zollgrenzen zu errichten, wurden nicht nur aus der Perspektive der deutschen Exportwirtschaft, sondern grundsätzlich kritisch gesehen: Sie fürchteten eine „Balkanisierung Europas“, die die „europäische Arbeitsteilung und Konsumkraft“ hinter die amerikanische zurückwerfen würde. Zugleich wies man auf die weltwirtschaftlichen Potentiale zur dauerhaften Besserung hin: „Die Umwälzung der Klassenschichtung innerhalb der einzelnen Länder scheint der Produktion der Konsumgüter für absehbare Zeit in allen großen Ländern eine neue Richtung zu geben.“ 1924 formulierte das Wirtschaftsministerium seine Hoffnung, dass die turbulenten Jahre nach dem Krieg „als Einheit aufzufassen [waren], deren wirtschaftsgeschichtlicher Sinn eben der Wiederaufbau einer einheitlichen Weltwirtschaft ist“.74 Als großes Thema tauchte dabei immer wieder die amerikanische Wirtschaft als der globale Standard auf.75 Hirsch äußerte sich als politischer Publizist u.a. in zahlreichen Artikeln im „Berliner Tageblatt“ eingehend dazu. Das Urteil erscheint berechtigt, dass die zuständigen Politiker und Beamten der Republik mit ihrer programmatischen Integration von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik im Allgemeinen und mit der vorangehend skizzierten Wirtschaftspolitik im Besonderen explizit das Ziel verfolgten, die „politische Systemstabilität durch wirtschaftliche Stabilität zu garantieren, das heißt die politische Demokratie durch ökonomische Maßnahmen abzusichern“.76

4. Bürokratie und Öffentlichkeit – am Beispiel von Julius Hirsch So knapp diese Skizze auch ausfallen musste, anhand der Akten lässt sich zeigen, wie in der frühen und mittleren Republik nicht nur die Details der Wirtschaftsverwaltung im Wirtschaftsministerium bearbeitet, sondern auch die Grundlinien der Wirtschaftspolitik von bürokratischen Akteuren entworfen und vertreten wurden. Was fehlt, ist der Kampf für die eigene Überzeugung in der öffentlichen Debatte, der den demokratischen Politiker in Webers Begriff 74 BArch, R 3101/7607, fol. 69–89, Die weltwirtschaftliche Entwicklung nach dem Kriege, 14.7.1924 (69–71). 75 Vgl. allgemein Mary Nolan, Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, Oxford 1994. 76 Witt, Wirtschaftspolitik, S. 160 f.

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von Politik als Beruf auszeichnete. „Parteinahme, Kampf, Leidenschaft“, „das Element des Politikers“ soll im Folgenden am Beispiel von Julius Hirsch betrachtet werden. In den Blick genommen werden nur einige seiner zahlreichen Einsätze im politischen Kampf „mit den Mitteln des geschriebenen oder gesprochenen Wortes“.77 Die vielen politischen Schlachten vor parlamentarischen Gremien und internationalen Organisationen oder im Reichskabinett finden dabei keine Erwähnung.78 Auffällig sind nicht allein die vielen, auch nach seinem Rücktritt bis 1930 stets als „Staatssekretär z.D.“ absolvierten Auftritte vor Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und in anderen öffentlichen Arenen, bis hin zu wirtschafts- und welterklärenden Büchern für eine breite Leserschaft in Publikumsverlagen. Solche Verhaltensweisen gehörten zunehmend zur Rolle führender Beamter in der Massenkommunikationsgesellschaft. Die Schärfe des politischen Urteils, die eindeutige Positionierung, aber auch die politisch-theoretische Grundsatzreflexion stechen als Merkmale von Hirschs agonalen Interventionen in der öffentlichen Debatte hervor. Drei Intentionen seiner Reden und Publikationen lassen sich unterscheiden: zum einen die Absicht, Orientierung und Aufklärung zu bieten, um informierte politische Entscheidungen zu ermöglichen; dann Überlegungen zur Bedeutung von wirtschaftlichem Wissen für die moderne Politik und Gesellschaft; und schließlich der leidenschaftliche, von einer Theorie der Demokratie untermauerte Kampf für die res publica. Viele der Texte lassen sich eher einer Kategorie als der anderen zuordnen, doch gehen die Intentionen ineinander über, wie es den „Konfusionen“ des Politischen entspricht. Hirschs große Darstellung des „amerikanischen Wirtschaftswunders“, das er als Wirtschaftspolitiker auf Europa zu übertragen hoffte, führte nicht nur kenntnisreich in die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Vereinigten Staaten ein. Das Vorbild, die politische und ökonomische „Führerstellung“ Amerikas wurden kritiklos anerkannt, bis hin zum Ethos der Dienstleistungsberufe, zugleich aber mit der eigenen wirtschaftspolitischen Strategie in Einklang gebracht, wenn er ein „Näherrücken Amerikas an europäische Wirtschaftsideen“ beschrieb, zu erkennen im „Bestreben, seine Gesamtwirtschaft zu übersehen und bewußt zu beeinflussen“. Amerika hatte im Ersten Weltkrieg „,sich selbst gefunden‘ und auf Grund solcher Erkenntnis seinen Reichtum bewußt planmäßig zu steigern begonnen“. Auch das Plädoyer für höhere Löhne in Deutschland ließ sich mit 77 Weber, Politik als Beruf, S. 53. 78 Vgl. etwa Hirsch, National and International Monopolies from the Point of View of Labour, the Consuming Public, and Rationalisation. Submitted to the Preparatory Committee for the International Economic Conference, Genf 1926; zu Schäffer: Tooze, Statistics, S. 142–148.

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dem Appell verbinden, sich an das amerikanische Wirtschaftswunder anzupassen. Wenn schon die „Vereinigten Staaten von Europa“ noch nicht zu verwirklichen waren, wurde wenigstens die ökonomische Kooperation immer enger – „und der Bund der Wirtschaftsverflechtung“, so schloss Hirsch, „ist trotz allem der sicherste Völkerbund“. Sein Amerika-Buch verstand er 1926 auch als Aufruf zum politisch-ökonomischen „Optimismus hinsichtlich Deutschlands Zukunft“.79 Hirschs Vision war global. Die amerikanisch-moderne, wissenschaftsgestützte, rationalisierte, kapitalistische „planmäßige Wirtschaft“80 wurde „im Weltausmaß“ betrieben. Dieser Wirtschaftspolitik standen „alle wirksamen Hilfs- und Heilmittel des freien ebenso wie des gebundenen Marktes“ zur Verfügung. Sicherung der „Menschheitsbereicherung“ und „Steigerung des Massenkonsums“ waren ihre Ziele, langfristig die Milderung der Konjunkturzyklen, „das Geheimnis ewiger Konjunktur“. Auch nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war Hirschs Vertrauen in die Möglichkeiten dieser Politik, für die er sich öffentlich engagierte, nicht zerstört.81 Das zeigte auch seine Festrede anlässlich der 25-Jahr-Feier des Verbandes Deutscher Diplomkaufleute im Juni 1930 in Köln. Seine Absicht war hier, neben der Erklärung wirtschaftlicher Transformationen den Sinn für Handlungsmöglichkeiten zu schärfen: „Aufgabe, Ziel und Sehnsucht“ seines Entwurfs der „geistige[n] Durchdringung von Wirtschaftsarbeit und Wirtschaftsverlauf“ bestand darin, nicht zuzulassen, dass die moderne Gesellschaft „recht hilflos wirtschaftlichen Naturereignissen, vor allem solchen Wirtschaftskrisen gegenübersteht, so wie wir es jetzt sehen“. Es ging gerade darum, Krisen nicht länger als unvermeidliche Naturereignisse aufzufassen: „wir streben, drängen und kommen auch allmählich vom Unterworfensein unter das wirtschaftliche Naturgeschehen zur bewußt lenkenden Wirtschaftstechnik“.82 Das wissenschaftlich fundierte „enge Zusammenwirken zwischen Praxis und Theorie“, das die 79 Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, S. 7, 243 f., 252 f., 259, 262 u. 250; ähnlich in der ökonomischen Vision Schäffer, Die Problematik der kapitalistischen Gegenwart, S. 38, 40 u. 51 f.; zum Vorbild Amerika auch IfZArch, ED 93, Bd. 2, 24.3.1926, 18.6.1926; Bd. 3, 18.9.1927. 80 So schon 1919 Hirschs Programm, in: Hubatsch, Entstehung, S. 56; diese „planmäßige Wirtschaft“ verstand sich als Gegensatz zu sozialistischer Plan- oder Gemeinwirtschaft: „Die ‚Planwirtschaft‘ ist keine Gemeinwirtschaft, sondern höhere kapitalistische Entwicklung“; Kabinettssitzung vom 8.7.1919, in: Kabinett Bauer, Nr. 20, Anlage, S. 96. 81 Hirsch, Die Wirtschaftskrise, Berlin 1931, S. 10, 12 f. u. 78 f.; Schäffer, Die Problematik der kapitalistischen Gegenwart, S. 40 u. 52; zur ökonomischen Transformation der 1920er Jahre vgl. auch Hirsch, Neues Werden in der menschlichen Wirtschaft, Jena 1927. 82 Hirsch, Wirtschaftslehre und Wirtschaftspraxis, S. 24 f. u. 27.

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betrieben, „denen Wirtschaft“ – und, ließe sich ergänzen, Wirtschaftspolitik – „nicht nur ein Erwerb, sondern ein Beruf geworden ist“, war Hirsch zufolge die „geistige Leibwache des wirtschaftlichen Fortschritts und des beginnenden Schutzes gegen wirtschaftliche Katastrophen“.83 Damit verteidigte und propagierte er auch in der Weltwirtschaftskrise die wirtschaftspolitische Strategie, die er in der Regierung verfolgt hatte. Ein alternativlos-fatalistisches Aussitzen der Krise war für ihn unvorstellbar. Aber mehr als bloßer ökonomischer Katastrophenschutz war die Aufgabe. Hirsch beschrieb die neuen Herausforderungen einer dynamischen Wirtschaft, in der es darauf ankam, „die erreichte Lebenshaltung, den erreichten Arbeitsapparat zu halten und zu steigern“, weil sie auf permanentem Wachstum beruhte. „Nicht mehr ‚Bewährung im Ertrage‘, wie einst Max Weber es sah und lehrte, sondern Bewährung in der stets höher gesteigerten Wirtschaftsleistung, das ist das neue immanente Ziel dieses Werdens.“ Die wirtschaftspolitische Förderung dieser Entwicklung betrachtete Hirsch als „nicht nur nationale, sondern allgemeine Fortschrittsaufgabe im höchsten Grade“.84 Amerika blieb dabei, in seinen ökonomischen Möglichkeiten, aber auch in seinen wirtschaftspolitischen Steuerungstechniken, das Vorbild. Hirschs wirtschaftswissenschaftliche Skizze mündete auch an dieser Stelle 1930 in einen politischen Appell, der die außerökonomischen Prämissen seiner ökonomischen Theorie offenlegte: „Das Ziel muß die Bereicherung aller durch bewußte Zusammenfassung der Kräfte durch Wissenschaft und durch ein darauf gestütztes kühnes Gemeinschaftswollen sein, das wir nirgendwo dringlicher brauchen als in Deutschland.“85 Immer wieder versuchte Hirsch auch den mit der Weimarer Republik zentral gewordenen Begriff der Wirtschaftspolitik zu prägen und auf die politischen Herausforderungen der Gegenwart zuzuschneiden. Bemerkenswert war sein Beitrag zur Festschrift für Lujo Brentano, die auch personell eine Verbindung 83 Ebd., S. 39 u. 33. 84 Ebd., S. 33 f. 85 Ebd., S. 40. Auch in den ökonomischen Diskussionen im Ministerium hatte er von politischen Prämissen aus argumentiert. Seine Strategie der „gemeinschaftliche[n] Kapitalbildung“, die Hirsch als „einen der zentralen Punkte der künftigen Wirtschaftsgestaltung und Wirtschaftsbeeinflussung überhaupt“ bezeichnete, „stehe im engsten Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und sozialen Grundanschauungen. Schliesslich komme es darauf an, was man für wichtiger halte, die Erhaltung des wirtschaftlichen Betriebes oder die des wirtschaftenden Menschen. Der Kampf zwischen beiden scheine ihm auf die Dauer unausweichlich. Sieger werde, so glaube er, schliesslich der Mensch sein, nicht der Betrieb.“ BArch, R 3101/5749, fol. 111, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 30.9.1920. Ein Element der gemeinschaftlichen Kapitalbildung war die erhoffte „Demokratie der kleinen einzelnen Aktienbesitzer“; Hirsch, Wirtschaftslehre und Wirtschaftspraxis, S. 32.

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zu Max Weber herstellte. Zwar war Weber der Lehrstuhlnachfolger Brentanos geworden, aber einer der Herausgeber der Festschrift, der Ökonom Moritz Julius Bonn, hatte „auf dem ersten Listenplatz gestanden“; Antisemitismus hintertrieb seine Berufung. Die 1925 erschienene Festschrift wurde als „wissenschaftliches Manifest des Liberalismus“ betrachtet.86 Der orthodox-marktliberale Ludwig von Mises attackierte dieses zweibändige Werk als Kampfschrift eines transnationalen Sozialliberalismus.87 In seinem Beitrag, der en passant auch „das deutsche ‚Wirtschaftswunder’“ erwähnte, stellte Hirsch auf der Grundlage seiner politischen Erfahrungen die Frage nach wirtschaftspolitisch verwertbarem ökonomischen Wissen.88 Damit nahm er eine Diskussion auf, die in seiner Amtszeit, bei der Grundlegung moderner Wirtschaftspolitik in der Demokratie, häufig geführt worden war. Pointiert formulierte den undogmatischen Standpunkt, den auch Hirsch vertrat, schon früh der sozialdemokratische „Revisionist“ Eduard David. In der entscheidenden Kabinettsitzung, in der die gemein- und planwirtschaftlichen Vorhaben abgelehnt wurden, betonte er die Irrelevanz ökonomischer Doktrinen und die Notwendigkeit, die Wirtschaftspolitik aus der Praxis zu entwickeln: „Das Leben war früher da, als die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist immer erst später mit ihrem Laternchen dem Leben nachgegangen. Das gilt besonders von der Volkswirtschaft. Kein menschlicher Geist kann ihre Kompliziertheit restlos erfassen. Alles Neue ist hier vor der Wissenschaft gekommen und war da; die Wissenschaft hat sich dann bestrebt, es zu erfassen.“89 Wirtschaftswissenschaft musste „Erfahrungswissenschaft“ sein. Anregungen aus der ökonomischen Theorie, von den Klassikern Adam Smith und David Ricardo und von zeitgenössischen Denkern wie John Maynard Keynes, Irving Fisher und Gustav Cassel griff Hirsch als intellektuelle Inspiration auf. Von der „historischen Schule“, wie sie 86 Jens Hacke, Einleitung. Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie, in: Moritz Julius Bonn, Zur Krise der Demokratie. Politische Schriften in der Weimarer Republik, Hg. Jens Hacke, Berlin 2015, S. 1–38, hier S. 8 u. 10. 87 Vgl. Ludwig von Mises, Sozialliberalismus, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 81 (1926), S. 242–278. 88 Hirsch, Deutsche Wirtschaftswissenschaft und -Praxis im letzten Menschenalter, in: Moritz Julius Bonn/Melchior Palyi (Hg.), Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Neunundzwanzig Beiträge über den Stand der deutschen und ausländischen sozialökonomischen Forschung nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, Bd. 2: Der Stand der Forschung, München 1925, S. 147–197, hier S. 156. 89 Kabinettsitzung, 8.7.1919, Anlage, in: Kabinett Bauer, Nr. 20, S. 94. David konzedierte: „Die Verfasser des Wissell’schen Programms haben Beweggründe, die ihnen alle Ehre machen: soziale Motive.“ Aber der Realist wusste: „Der wirtschaftliche Egoismus wird sich der ‚Selbstverwaltungskörper‘ bemächtigen.“

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sich „unter Schmollers geistiger Diktatur“ immer weiter von der Praxis entfernt hatte, hielt er wenig, von nichtakademischen Wirtschaftspraktikern, die auch theoretisch denken konnten, jedoch viel. Theoretisch informiert musste auch der Wirtschaftspolitiker sein – zugleich aber undogmatisch, pragmatisch, skeptisch mit diesem Wissen umgehen, im Bewusstsein der epistemischen Grenzen und der politisch-sozialen Parteilichkeit der Wirtschaftstheorie.90 Einige Jahre später erklärte er, dass bei aller Nützlichkeit moderner Wirtschaftstheorie „aus der Wirtschaftspraxis, aus der Tiefe der Entwicklung selbst heraus, der Wille nach immer stärkerer gedanklicher Durchdringung des Wirtschaftsgeschehens“ resultiere, der nach einer „bewußt lenkenden Wirtschaftstechnik“ suche.91 Als Beispiel für ein gelungenes Zusammenwirken von Theorie und Praxis führte Hirsch in der Brentano-Festschrift den Dawes-Plan an: „Das Dawes-Dokument ist gewiß keine ‚wirtschaftliche Bibel‘; aber es ist ein weltgeschichtlicher Beweis dafür, daß die ökonomischen Möglichkeiten sicherer durch die mit den Grenzen des Möglichen näher vertrauten Fachleute als durch die mit den Mitteln der Gewalt arbeitenden, reinen Politiker gelöst werden.“92 Weder der demagogische Führer noch der klassische Beamte waren demnach der Typus, der in der modernen Welt globaler ökonomischer Verflechtungen zu politischen Taten fähig war; vielleicht nicht frei von Selbstilisierung beschrieb Hirsch einen international und kooperativ agierenden, wirtschaftswissenschaftlich informierten, zugleich demokratisch denkenden, die großen Linien im Auge behaltenden neuen Typus, der Wirtschaftspolitik als Beruf betrieb. Es scheint beinahe, als seien in Hirschs Darstellung der internationalen wirtschaftspolitischen Elite der 1920er Jahre Webers Qualitäten des echten Politikers – „Augenmaß“, „leidenschaftliche Hingabe an eine ‚Sache‘“, „Verantwortlichkeit“ – zu erkennen.93 Ein politischer Typus des 20. Jahrhunderts trat damit erstmals auf, der über alle Krisen und Kriege hindurch vom Zeitalter der Reparationen und Weltwirtschaftskonferenzen über das globale System von Bretton Woods und die europäische Integration bis in die Gegenwart der US- und EU-Zentralbanker zu beobachten ist, in den totalitären Regimen jedoch nie eine völlige Entsprechung fand. Wirtschaftspolitik war für Hirsch, wie schon in der Regierung, ein integriertes Politikfeld der modernen Demokratie, mit konstitutiven Bezügen zur Sozial- und Finanzpolitik. Beamte spielten bei seiner Ausgestaltung eine wesentliche Rolle, aus der „Wechselwirkung zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Politik“ waren 90 Hirsch, Deutsche Wirtschaftswissenschaft, S. 151, 149 f., 153 f., 157–159, 162–164 u. 191. 91 Ders., Wirtschaftslehre und Wirtschaftspraxis, S. 27. 92 Ders., Deutsche Wirtschaftswissenschaft, S. 159. 93 Weber, Politik als Beruf, S. 74.

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nicht nur in Deutschland die großen politischen Projekte des demokratischen Wohlfahrtsstaates hervorgegangen.94 Aber bei aller Sorge um die ökonomische „Selbsterhaltung“ war Wirtschaftspolitik für Hirsch nicht in nationaler Begrenztheit denkbar; „Nationalismus“ war ökonomisch schädlich. Den von Adam Smith über Brentano in die Gegenwart führenden, sozial und politisch reflektierten Liberalismus würdigte Hirsch als „größte Freiheitsströmung der Menschheit“. Freier Welthandel und eine international erfolgreiche Sozialpolitik kennzeichneten in seiner Beschreibung den modernen, sozialen Kapitalismus. Konstruktive ökonomische Konkurrenz schuf eine internationale Ordnung, in der der „Verzicht auf die Waffengewalt“ garantiert sein sollte. In seinem Engagement für eine globale Kooperation scheute Hirsch auch nicht den politischen Kampf mit den vielen Gegnern des Versailler Vertrags: Die Friedensverträge von 1919 lobte er als Vereinbarungen, die „wohl zum erstenmal in der Weltgeschichte“ den „internationalen Willen zur Sozialpolitik“ widerspiegelten, verkörpert vom Völkerbund, seinem Internationalen Arbeitsamt und dem Achtstundentag.95 Diese öffentlichen Interventionen Hirschs in wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Debatten legten den Willen zur polemischen Schärfe und zur politischen Auseinandersetzung an den Tag. Die Verbindung zu politischen Grundsatzfragen war immer deutlich zu erkennen, aber wirtschaftspolitische Fragen im engeren Sinne standen im Vordergrund. Mitten in den politischen Kampf, auf den „Kampfboden“ der Demokratie, begab sich Hirsch mit einer Rede auf dem „Bundestag“ des Deutschen Verkehrsbundes in München 1925. In dieser öffentlichen Parteinahme vor einer großen Gewerkschaft legte er selbst die politischen Grundbegriffe offen, auf denen seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen fußten. Seine Rede hatte „in einem Teil der deutschen Presse ein starkes Echo hervorgerufen“ und wurde darum als eigenständige Schrift publiziert. Hirsch war, wie die Veranstalter bemerkten, dem in der deutschen Wirtschaft herrschenden „tiefen Pessimismus in herzerfrischender Weise energisch zu Leibe“ gerückt. Seine „Kritik der absichtsvollen Fehldarstellungen der Unternehmerverbände über Wirtschaftslage und Wirtschaftsmöglichkeiten Deutschlands“ stieß auf Begeisterung im Gewerkschaftsvorstand, denn Hirschs zahlengestützte Argumentation kam zu dem Ergebnis, „daß die deutsche Wirtschaft in ihrem innersten Kern durchaus gesund ist. Hier finden wir scharfe Waffen im Kampfe gegen die Argumente der Unternehmer.“96 94 Hirsch, Deutsche Wirtschaftswissenschaft, S. 186; vgl. ebd., S. 168, 189 u. 195. 95 Ebd., S. 150, 167, 186 u. 190. 96 Hirsch, Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsdemokratie, Berlin 1925, S. 21 f. u. 3; dem Echo dieser Fragen und Begriffe in der zeit- und wirtschaftshistorischen Debatte („Borchardt-Kontroverse“) kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden; vgl. dazu

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In diesem Kampf gebrauchte Hirsch nicht nur die Waffe der nationalen Statistik, die er selbst maßgeblich mitgeschaffen hatte, sondern er führte auch den internationalen Vergleich und den Blick von außen auf Deutschland an. Mit einem Wort des amerikanischen Botschafters Alanson Houghton sprach er auch an dieser Stelle vom „deutschen Wirtschaftswunder“. Wirtschaftshistorisch, als Kommentar zur ökonomischen Lage und den Entwicklungspotentialen, sowie kulturhistorisch, als Kritik der Kommunikationskultur der Unternehmerverbände und Blick hinter die Kulissen der medialen Inszenierung ökonomischer Interessenkonflikte, sind die Passagen von besonderem Reiz, in denen Hirsch etwa der Exportfixierung der Industrie, der verbreiteten Angst vor der „Passivität der Handelsbilanz“ die wissenschaftlichen Grundlagen entzog oder über die statistischen Verzerrungen aufklärte, zu denen die Arbeitgeber in der öffentlichen Debatte griffen. Eine beliebte Strategie der industriellen Interessenartikulation, die Hirsch entzauberte, war die Gegenüberstellung von Vorkriegsund Weimarer Wirtschaft: „Es ist falsch, wenn man das Jahr 1913 mit dem Jahr 1924 vergleicht“ – 1913 war ein Jahr der „höchsten Hochkonjunktur“, 1924 eines der „tiefsten Tiefkonjunktur“. Und „zwischen 1914 und 1918 liegt doch die ungeheure Wertzerstörung des Krieges“, was die Erklärung für den Großteil der ökonomischen Probleme sei, nicht jedoch die Wirtschaftspolitik der Republik, im Gegenteil: „Sieht man aber die Entwicklung von 1918 bis jetzt, so zeigt sich eine außerordentlich starke Besserung der Lebenshaltung.“ Im Detail – für Industrieproduktion, Lohnniveau, Geldpolitik, Steuerpolitik, aber auch, seinen Gastgebern angemessen, für Verkehrsleistungen – ging Hirsch die statistischen Entstellungen durch, die die deutsche Wirtschaft schlechtrechneten, stets das erste Gebot der Statistik vor Augen: „Es kommt nur darauf an, wovon man ausgeht.“97 Sein Debattenbeitrag offenbarte, dass sich über die Wirtschaft nicht neutral streiten ließ, dass jedes ökonomisches Interesse sich als objektiv zu artikulieren versuchte, dass dieser Streit zur Demokratie gehörte. Für eine demokratische Streitkultur kam es jedoch darauf an, dass die Öffentlichkeit, die Wähler, die Bürger politische Urteilskraft entwickelten und auch auf dem unübersichtlichen Feld konkurrierender wirtschaftlicher Ansprüche die Orientierung und damit ihre Entscheidungsfähigkeit behielten. Die Wirtschaft war kein dem allgemeinen Urteil entzogenes Reich der Experten, kein Naturphänomen. Darauf liefen alle Interventionen Hirschs hinaus. Die Wirtschaft wurde gestaltet – von denen, die Wirtschaft als „Beruf“ betrieben, und von den Bürgern. Doch Urteilskraft Tim B. Müller, Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik, in: Müller/Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität, S. 259–293, hier S. 279–290. 97 Hirsch, Wirtschaftsentwicklung, S. 7, 13 u. 8 f.

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setzte Anstrengung voraus. Die Demokratie, von der Hirsch sprach, hatte nicht nur soziale und ökonomische, sondern auch epistemische Voraussetzungen. Es war eine Debattendemokratie, eine deliberative Demokratie, die von informierten, zumindest informationsbereiten Diskussionsteilnehmern lebte, was wiederum Bildung und Wissen – gerade über die Wirtschaft – zur politischen Priorität werden ließ. Was es jedoch nicht geben durfte, und angesichts der Ungewissheit und Parteilichkeit ökonomischer Expertisen auch gar nicht geben konnte, war eine privilegierte Position der wirtschaftlichen Fachleute: „Es ist in der Demokratie immer falsch, sich auf irgend jemand zu verlassen. Es ist der Sinn der Demokratie, daß die öffentliche Kritik einsetzt, daß niemand an den Fragen, die sein Lebensschicksal bedeuten, vorübergehen darf, indem er etwa sagt, er verstehe nichts davon. Die anderen nämlich, glauben Sie mir, verstehen es auch nicht besser.“98 Selbst fernab der öffentlichen Wahrnehmung, in der internen Auseinandersetzung im Wirtschaftsministerium, hatten Hirsch und seine Mitarbeiter ein Verständnis von Demokratie vertreten, das Öffentlichkeit, Transparenz, Kritik und Diskussion als ihr Bewegungsprinzip auffasste.99 Das Grundproblem, von dem der Zustand „der Republik und der Demokratie“ abhing, war ein intellektuelles Problem, das fundamentaler war als die ökonomischen und sozialen Herausforderungen. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, sondern auch von Ideen, erklärte er. Ideen hatten politische Folgen: „zum großen Teil infolge Nichtverstehens der wirtschaftlichen Vorgänge“ habe sich unter dem Dach der Demokratie „eine Wiederherstellung der früheren Machtverhältnisse in der Politik und des Absolutismus in der Wirtschaft“ vollziehen können. Aber diese Entwicklung war nicht zwangsläufig. Die Demokratie lud jeden ein, nicht nur für seine Interessen, sondern auch für die besseren Ideen zu kämpfen. Hirschs Absicht war es, die Streitlust, die Kampfbereitschaft der Bürger zu schärfen. Die ökonomische Erholung war eingetreten, es gab materielle Güter zu verteilen, vor allem aber gab es eine Republik, die gestaltet werden musste. „Ob diese wirtschaftliche Besserung sich in eine wirtschaftspolitische und in eine politische Besserung umsetzen wird, das ist die große 98 Ebd., S. 17. 99 Vgl. etwa Hirschs Programm, in: Hubatsch, Entstehung, S. 61; R 3101/5840, fol. 199 f., Schmidt an die anderen Reichsressorts, Verordnungsentwurf, 14.10.1919, wo von der Notwendigkeit der „öffentlichen Kritik“ der eigenen Maßnahmen die Rede ist; R 3101/5860, fol. 361 f., Schmidt an Abteilungsdirektoren und Sektionsleiter, 6.10.1921, erklärt die „Offenheit der Aussprache“ zur Norm und entwirft ein komplexes Informationsverfahren, um unterschiedlichste Positionen von Interessengruppen und Sachverständigen zu berücksichtigen; dazu und zur Haltung Hirschs auch BArch, R 3101/5851, fol. 38–40, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung vom 8.9.1921.

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Frage. Es kommt darauf an, ob das deutsche Arbeitnehmertum versteht, eine solche Entwicklung herbeizuführen.“100 „Sozialisierung“ und „Betriebsdemokratie“, deren Bedeutung, aber auch Widersprüche er nicht ignorierte, waren jedoch ausdrücklich nicht die Fragen, auf die Hirsch die Aufmerksamkeit lenken wollte. Er zeigte vielmehr den „Weg von der Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik“. Ihm lag die res publica, die Demokratie selbst am Herzen, der „Weg zur wirklichen Mitbestimmung“, zur politischen Partizipation. „Die Demokratie ist kein Geschenk, sie ist nur die Freigabe eines Kampfbodens, der sich langsam zugunsten des Arbeitnehmertums verschiebt.“ Diesen Kampf musste jeder aufnehmen und nicht der Selbsttäuschung erliegen, dass es in der Demokratie mit dem Wahlakt getan sei: „Viele verstehen den Begriff der Demokratie sehr falsch. Das Mittel der Demokratie ist die Wahl. Wenn aber jemand denkt, er hätte seine Pflicht getan, wenn er gewählt hat, so ist das falsch.“ Demokratie musste gelebt werden, sie lebte vom Willen zur politischen Verantwortung: „Der Arbeitnehmer redete von der Ergreifung der politischen Macht nach der Revolution, der Arbeitgeber ergriff die politische Macht. Demokratie ist kein Ruhekissen, sondern, wie ich schon sagte, ein Kampfboden. Wer ihn betritt, muß nicht nur mitfuchteln, sondern auch die Regeln des Kampfes kennen.“ Um diese Regeln zu erlernen, waren „Erkenntniskraft“ und „Willenskraft“ gefordert. „Wirtschaftsdemokratie“ in dem erweiterten Sinn, in dem Hirsch davon sprach, würde „nur in dem Maße werden, wie man die Wirtschaft wirklich kennt samt ihren Wesens- und Werdensgesetzen“. Die Probleme der Republik würden immer wieder geradezu fatalistisch auf die „wirtschaftlichen Machtverhältnisse“ zurückgeführt. „Ich sage: Nein, es waren die intellektuellen Machtverhältnisse.“101 Das war die zweite große politische Rolle Julius Hirschs: Die eine war, auch wenn er sich nie auf den parlamentarischen „Kampfplatz“ begeben hatte, der leidenschaftliche Kampf für seine Wirtschaftspolitik, die er als Arbeit an den Grundlagen der Demokratie und einer friedlichen internationalen Ordnung auffasste. Zum anderen verstand er sich auch als Stratege auf dem „Kampfboden“ der „intellektuellen Machtverhältnisse“; er verschrieb sich einer „Erziehungsaufgabe allerersten Ranges“, der „Popularisierung“ ökonomischen und wirtschaftspolitischen Wissens, um die in der Demokratie sich selbst regierenden Bürger in die Lage zu versetzen, ihr wirtschaftlich so komplexes Gemeinwesen zu gestalten.102 Hirschs Vorstellung von Demokratie war deliberativ und partizipatorisch; Öffentlichkeit, Kritik, Mitbestimmung, Wollen 100 Hirsch, Wirtschaftsentwicklung, S. 19. 101 Ebd., S. 19–23. 102 Ebd., S. 22; ders., Deutsche Wirtschaftswissenschaft, S. 196.

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und Kampf lauteten seine demokratischen Grundbegriffe. Seine Interventionen sollten den politischen Horizont öffnen. Sie waren von der Überzeugung geleitetet, dass über das „Sagbare“ auch das „Machbare“ erweitert werden konnte103, dass „das Feld des Möglichen“ begrenzt war „durch das des Denkbaren“ und sich mit den intellektuellen Machtverhältnissen auch Politik und Gesellschaft ändern ließen. So wies dieser Bürokrat und politische Beamte, dieser Theoretiker und Praktiker der Ökonomie, dieser politische Denker und Kämpfer nicht nur Züge dessen auf, der „nach dem Unmöglichen“ griff, um „das Mögliche“ zu erreichen, und über den sich angesichts seiner Politik, seiner öffentlichen Artikulationen und seines Selbstverständnisses hätte sagen lassen: „Nur wer sicher ist, daß er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, daß er all dem gegenüber: ‚dennoch!‘ zu sagen vermag, nur der hat den ‚Beruf‘ zur Politik.“104 Hirsch begriff präziser als Weber die Funktion des – seiner deliberativ-partizipatorischen Vorstellung entsprechenden – demokratischen Politikers, auch die Bürger selbst zu Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß zu erziehen, ihnen den „Kampfboden“ der Demokratie zugänglich zu machen, Politik zum ‚Beruf‘ aller werden zu lassen.

103 In Umkehrung des Deutungsmusters von Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume: England 1780–1867, Stuttgart 1993. 104 Pierre Rosanvallon, Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen, in: Mittelweg 36, 20/6 (2011), S. 43–66, hier S. 56; Weber, Politik als Beruf, S. 88.

MARCEL RUDOLPH

Machtessentialismus als prägendes Element des politischen Denkens Max Webers? Zur Weber-Rezeption bei Raymond Aron und Herfried Münkler

Die Bewertung des politischen Denkens Max Webers ist in der Forschung umstritten. So beginnt eine neuere Einführungs- und Überblicksdarstellung mit der Feststellung, Weber gelte „heute weltweit als einer der größten Sozialwissenschaftler der Moderne“, wobei die „Resonanz von Person und Werk“ eher noch zunehme.1 Dies steht im klaren Gegensatz zur Auffassung des Politikwissenschaftlers Hans Maier, wonach Weber „trotz aller Verehrung, die ihm zuteil wird, … doch bereits für die jüngere Generation zu einer historischen Figur geworden [ist], deren Zeitbedingtheit heute immer schärfer ins Licht tritt“. Als Hauptkritikpunkte benennt Maier dabei „vor allem die Trennung von Theorie und Praxis, Webers Werterelativismus und die national- und machtstaatliche Zeitgebundenheit in seinem Werk“.2 Eine solche Beurteilung des Werkes von Max Weber durch Hans Maier – ein Adept Arnold Bergstraessers, Gründer der einem normativen Politikbegriff verpflichteten Freiburger Schule – mag wenig überraschen.3 Die Machtfokussiertheit im politischen Denken Webers – hier im eigenen Titel auf die Formel des Machtessentialismus zugespitzt – ist dennoch ein durchaus weit verbreiteter Kritikpunkt innerhalb der Forschung. So sieht der Soziologe Volker Kruse die Rezeption Webers zwischen den Polen „deutscher Nationalist (Mommsen)“ und „anglophiler Weltbürger (Roth)“ oszillieren.4 Diese Untersuchung möchte einen Beitrag zur Debatte der Anschlussfähigkeit des Weberschen Werkes leisten, indem die Frage eruiert werden soll, ob bestimmte Faktoren auf Seiten der Forscher identifiziert werden können, welche 1 Volker Kruse, Max Weber. Eine Einführung, Konstanz 2011, S. 7. 2 Hans Maier, Gesammelte Schriften, Bd. 5, München 2010, S. 211. 3 Für eine Diskussion der Freiburger Schule, ihres Politikverständnisses sowie insbesondere die Einordnung des Werkes und der Person Hans Maiers siehe Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 337–341. 4 Kruse 2011, S. 146.

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für die Art der Rezeption von Webers politischem Denken – affirmativ oder historisierend – entscheidend sind. Dabei werden zwei Leitfragen zugrunde gelegt: a) Inwiefern sind Verständnis und Konstruktion des Begriffes Macht durch den Rezipienten entscheidende Faktoren, ob Webers politisches Denken entweder als nationalstaatlicher Macht-Anachronismus oder aber, trotz zugestandener Zeitgebundenheit, als durchaus aktueller und anknüpfungsfähiger Rahmen gesehen wird? b) Ist die Art der Rezeption der Weberschen Theorie, also ob sie nun eklektizistisch oder analytisch/in toto erfolgt, quasi also die „Rezeptionstiefe“5, ein entscheidender Faktor bei der Bewertung der Aktualität von Webers politischem Denken? Bevor sowohl die wissenschaftliche Relevanz der Thematik als auch das genaue Vorgehen dargestellt werden, sind an dieser Stelle die zentralen Begriffe zu operationalisieren und wenn nötig einzugrenzen. Das nationalstaatlich geprägte politische Denken und die angenommene Machtzentriertheit Webers sollen vor allem unter dem Gesichtspunkt der internationalen Politik betrachtet und verstanden werden. Mit anderen Worten: Macht wird primär in ihrer zwischenstaatlichen Funktion innerhalb des Systems der internationalen Beziehungen betrachtet. Die Problematik, welche Auswirkungen Machtverständnis und Art der Rezeption auf die Einordnung des politischen Denkens Webers haben, ist mangels dafür einschlägiger wissenschaftlicher Veröffentlichungen ein Forschungsdesiderat. Um die Leitfragen beantworten zu können, sollen exemplarisch zwei einflussreiche Sozialphilosophen und ihre Rezeptionen Max Webers verglichen werden: der französische Philosoph und Soziologe Raymond Aron (1905–1983) und der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler (1951–). Ein solcher Vergleich bietet sich an, weil die Grundauffassungen hinsichtlich der Struktur der internationalen Beziehungen und die Machtverständnisse beider Forscher – wie noch zu zeigen sein wird – ähnlich sind. Dennoch haben beide divergierende Ansichten über die Aktualität und Rezeptionsfähigkeit Max Webers, insbesondere im Hinblick auf die Machtzentriertheit seines politischen Denkens. Somit erscheint deren Auswahl in besonderem Maß geeignet, die Leitfragen zu beantworten. Zunächst soll das Machtverständnis Arons herausgearbeitet werden. Insbesondere soll die Konzeptualisierung des Begriffes Macht, was dieser umfasst, 5 Der Begriff selbst wird hier werteneutral verwendet. Es soll also keiner dichotom-normativen Begriffspaarung – eklektizistisch/schlecht, analytisch/gut – Vorschub geleistet werden. Außerdem ist davon auszugehen, dass beide Begriffe eher ein Kontinuum denn zwei konträre Idealtypen darstellen.

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welche Formen Macht in spezifischen sozialen Kontexten annimmt (Macht als Zwang und/oder Überzeugung), und ob bzw. inwiefern der Machtbegriff transhistorisch angelegt ist, eruiert werden. Im Anschluss hieran wird die Einordnung der historisierenden Rezeption Max Webers durch Raymond Aron untersucht. Diese Schritte werden analog bei Herfried Münkler wiederholt. Dabei wird nicht einfach eine kursorische Auflistung aller Erwähnungen Webers in Münklers Œuvre angestrebt, sondern es werden möglichst konzertierte und für die durch Münkler entwickelten Theorien bedeutsame Stellen herausgearbeitet. Sollte dies notwendig sein, werden diese Passagen entsprechend kontextualisiert, d.h. die Rezeption einzelner Gedanken Webers wird aus dem theoretischen Gesamtkontext verstanden. Da sich Aron in konzentrierterer und intensiverer Form mit der Frage der Machtzentriertheit im politischen Denken Webers auseinandersetzt und zu seiner Theorie der internationalen Beziehungen bereits Sekundärliteratur vorliegt, ist die Untersuchung auf eine kleinere Literaturbasis beschränkbar; daher können Arons Ausführungen, im Vergleich zu Münkler, konziser dargestellt werden. Im Anschluss sollen die beiden einzelnen Ausarbeitungen zum Machtverständnis und der Weber-Rezeption miteinander verglichen und so versucht werden, die Ausgangsfrage nach den Faktoren der Bewertung zu beantworteten.

1. Rezeption Webers durch Raymond Aron: Machtbegriff und -theorie Grundsätzlich wird Arons Theorie der internationalen Beziehungen dem (klassischen) Realismus zugerechnet.6 Der kanadische Soziologe John A. Hall hat vorgeschlagen, da trotz vorhandener theoretischer Konvergenzen zwischen Arons Theorie und dem klassischen Realismus dennoch signifikante Differenzen erkennbar sind, zwischen „simple realism“ und „sophisticated realism“ zu unterscheiden. Für Hall ist „simple realism“ dabei „the view that states act at all times and under every regime, whatever their political character, so as to advance their national interests”.7 Im Gegensatz hierzu sei Arons Theorie als 6 Stanley Hoffmann, Raymond Aron and the Theory of International Relations, in: International Studies Quarterly 29 (1985), S. 13–27, hier S. 15; Bryan-Paul Frost, Better Late Than Never: Raymond Aron’s Theory of International Relations and Its Prospects in the Twenty-First Century; in: Politics&Policy 34 (2006), S. 506–531, hier S. 509 f.; John A. Hall, The nature of sophisticated realism: Raymond Aron and international relations, in: Journal of Classical Sociology 11 (2011), S. 191–201, hier S. 195. 7 Hall 2011, S. 196.

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ein multikausaler Ansatz zu verstehen, der monistische Erklärungen ablehne.8 Konsequenterweise habe Aron auch den Versuch, das Studium der internationalen Beziehungen, analog zur Entwicklung in den Wirtschaftswissenschaften, zu mathematisieren und insbesondere die spieltheoretische Modellierung zwischenstaatlicher Beziehungen äußerst skeptisch bewertet, was sich aus der Tatsache ergebe, dass „[t]here is no comparable variable in international relations that serves the function that ‚utility’ does in economics“.9 Für Aron sind sozialwissenschaftliche Theorien „Gebote“, welche als „Ratschläge mehr oder weniger vage“ und „auf den Regelmäßigkeiten oder den Augenscheinlichkeiten begründet sind“.10 Folglich solle man auch nicht erwarten, „theoretical knowledge and quantification” könnten „sharply reduce uncertainty, ambiguity, and risk“.11 Daher könne nur die konkrete Analyse, statt eines rein abstrakten Modells, das Verhalten von Akteuren, deren Zielen und die von ihnen angewendeten Mittel erklären.12 Der amerikanische Politikwissenschaftler Bryan-Paul Frost kommt deshalb zu dem Fazit: „Aron’s oeuvre serves as a steady reminder of the limits of theory in international relations.“13 Stattdessen habe Aron mit seiner Theorie versucht, eine „Methode deutlicher zu machen, die auf andere Objekte anwendbar ist, und dabei die Grenzen unseres Wissens und die Bedingungen historischer Entscheidungen aufzuzeigen“.14 So biete Arons theoretischer Ansatz ein „coherent and rigorous system of questions aimed at making intelligible the constant rules and the changing forms of a specific … type of social action“.15 Jener besondere Typ der sozialen Aktion, mithin die differentia specifica der internationalen Beziehungen aus soziologischer Perspektive, sei das Verhalten der politischen Gemeinschaften auf der Weltbühne, welches Aron symbolisch durch die Figuren des Diplomaten und des Soldaten repräsentiert sieht und was von ihm als 8 Ebd.; „Aron distrusts catch-all concepts“ (Hoffmann 1985, S. 15). 9 Frost 2006, S. 510 f. (vgl. Hoffmann 1985, S. 14). 10 Hoffmann 1985, S. 21 [Aron 1962, S. 665]. Zitate Arons aus der Sekundärliteratur wurden nicht eigenständig übersetzt, sondern sind der deutschen Ausgabe von Arons „Frieden und Krieg“ entnommen. Da die Seitenzahlen der in der Sekundärliteratur zitierten englischsprachigen Ausgabe zum Teil von der deutschen abweichen, wird an dieser Stelle neben der Zitatstelle der Sekundärliteratur das Originalzitat der deutschen Ausgabe in rechteckigen Klammern angegeben. Dabei wurde folgende Ausgabe zitiert: Raymond Aron, Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt, Frankfurt 1962. 11 Frost 2006, S. 512. 12 Hoffmann 1985, S. 15. 13 Frost 2006, S. 512; weniger prononciert: Hoffmann 1985, S. 16. 14 Frost 2006, S. 510 [Aron 1962, S. 12]. 15 Hoffmann 1985, S. 13.

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„strategisch-diplomatische[s] Verhalten“ bezeichnet wird.16 Dennoch weisen die internationalen Beziehungen ein gemeinsames Charakteristikum auf: Alle Staaten seien vor die grundlegende Alternative Krieg oder Frieden gestellt, was letztlich alle politischen Gemeinschaften zur Notwendigkeit der Kräftekalkulation zwingt. Aron konzipiert dabei das strategisch-diplomatische Verhalten als Kontinuum, welches „Krieg und Frieden, Strategie und Diplomatie umfaßt“; somit werden Krieg und Frieden nicht als getrennte Sphären mit gänzlich anderen Logiken und Imperativen, sondern als divergierende Aggregatzustände des Politischen gedacht.17 Auch wenn es kein allgemeingültiges, rational bestimmbares Ziel zwischenstaatlichen Verhaltens gebe, ließen sich dennoch drei abstrakte Ziele beschreiben, welche Staaten verfolgten: Sicherheit, Macht und Ruhm; eine Trias, welches sich auch mit den Begriffen Raum, Menschen und Seelen beschreiben ließe.18 Sicherheit könne durch Staaten erreicht werden „by increasing their own force or weakening a rival’s”; Macht sei die Fähigkeit „of imposing one’s will on another” und Ruhm „is, to be recognized by others in a certain way or for a certain quality”. Dabei rekonzeptualisiert Aron die Vorstellung weiter; so sei Raum die Eroberung von Land, Menschen stünden für die Beherrschung von Untertanen, und Seelen stünden für „to convert others to a political, social, or religious idea“. Dabei kategorisiert Aron Sicherheit/Raum als materielle, Macht/ Menschen und Ruhm/Seelen als immaterielle Faktoren.19 Hier ist zu beachten, dass Macht und Sicherheit in einem dialektischen Verhältnis zueinander gedacht werden: Das Überschreiten eines „Kräfteoptimums“, d.h. ein extremer Machtzuwachs eines Staates, kann zu einer Verringerung der Sicherheit durch entsprechende Gegenbündnisse führen20 – mithin also evozieren, was Kenneth Waltz später als balancing beschrieben hat.21 Wie bereits erwähnt, bezieht Aron nicht nur die materiellen, sondern auch die immateriellen Determinanten („Ideen und Gefühle“) zu einem umfängli16 Ebd.; für eine detaillierte Diskussion siehe Aron 1962, S. 14. 17 Aron 1962, S. 61. 18 Frost 2006, S. 513 f. [Aron 1962, S. 94–97]. Aron erwähnt auch noch eine letzte Trias, die jedoch bedeutende Änderungen gegenüber den anderen Definitionen enthält und hier nicht näher diskutiert wird – für einen kurzen Überblick siehe: Frost 2006, S. 514; explizit Aron 1962, S. 97. 19 Frost 2006, S. 513 f. 20 Aron 1962, S. 96. „Ein Mehr an Kraft zieht eine relative Schwächung durch das Hinüberwechseln von Alliierten zur Neutralität und von Neutralen ins gegnerische Lager nach sich“ (ebd.). 21 Hier sei insbesondere auf Waltz’ Klassiker Theory of International Politics von 1979 verwiesen.

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chen Verständnis der internationalen Beziehungen in seine Theorie mit ein.22 Dies führe dazu, dass man die „domestic regimes of the major powers” und die „conception(s) of justice and legitimacy that prevail in the international system” in einer Theorie der internationalen Beziehungen mit berücksichtigen müsse. Hieraus entwickelt Aron die Theorie der homogenen und heterogenen Systeme23: Homogen seien Systeme, wenn die Großmächte gleichartige oder doch zumindest ähnliche Regierungsformen hätten und international der „gleichen politischen Konzeption“ folgten.24 Heterogen sei ein System, wenn „die Staaten nach verschiedenen Prinzipien organisiert sind und sich auf widersprechende Werte berufen“.25 Grundsätzlich zeichneten sich homogene Systeme durch ein erhöhtes Maß an Stabilität und Pazifikationschancen aus, wohingegen bei heterogenen Systemen das Gegenteil zutreffe; sie tendierten zu „instability, an increase in violence, uncertainty, and hatred between the enemy states“.26 Wenn man also Homogenität „in Kantian terms, as an asocial or semi-socialized world” beschreiben kann27, so ist es möglich, Arons Theorie dahingehend zu begreifen, dass Frieden mit einer partiellen globalen Vergesellschaftung, quasi von den global hermitages zum global village, wahrscheinlicher wird. Hierin liegt auch, unter anderem, für Hall das Spezifikum von Arons „sophisticated realism“: die soziologische Erweiterung der politikwissenschaftlichen Theorien der Internationalen Beziehungen (Vergesellschaftung, akteursgebundene Kalkulationskompetenz).28 Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass Arons Theorie zwar bedeutende Annahmen mit dem Realismus teilt – im Besonderen: Staatszentriertheit, Anarchie als konstitutives Strukturelement, Betonung geopolitischer Faktoren –, Moral/Ethik aber dennoch eine wichtige Rolle zukommt. Dies unterscheidet ihn 22 Frost 2006, S. 515 [Aron 1962, S. 123]. 23 Aron „defined systems as milieus organized for and through the competition among the units, and his key distinction is between multipolar and bipolar systems” (Hoffmann 1985, S. 14). 24 Frost 2006, S. 515 [Aron 1962, S. 123]. 25 Aron 1962, S. 123 f. 26 Frost 2006, S. 515. Aron selbst gibt folgende historische Beispiele einer Kategorisierung: „Zwischen dem Ende der Religionskriege und der Französischen Revolution war das europäische System zugleich multipolar und homogen. Das europäisch-amerikanische System seit 1945 ist zugleich bipolar und heterogen“ (Aron 1962, S. 124). Hinsichtlich der Konfliktwahrscheinlichkeiten zwischen multi- und bipolaren Systemen merkt Frost an: „neither system is inherently more bellicose or peaceful than the other, and therefore a theorist cannot rigidly determine the dynamics of a particular system in advance” (Frost 2006, S. 516). 27 Hall 2011, S. 198. 28 Ebd.

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von anderen klassischen Realisten (z.B. Morgenthau, Kennan)29, welche, wie etwa Morgenthau, ein einheitliches „nationales Interesse“ als Imperativ staatlichen Handelns supponieren. So sieht beispielsweise der Politikwissenschaftler Stanley Hoffmann Aron im Anschluss an Clausewitz als einen Vertreter einer Ethik der Weisheit/Vernunft, welche auf Mäßigung (z.B. Verzicht auf einen totalen Sieg) setze.30 „Aron’s understanding of ethics of responsibility rests upon what he calls the ‚morality of wisdom’, which attempts to overcome Max Weber’s dilemma about the impossibility to choose between an ethics of conviction and an ethics of responsibility.“31 Auch wenn dies eine überzeugende Deutung von Arons Denkhorizont hinsichtlich des Zusammenhanges von Ethik und Politik ist, so gibt Hoffmann dennoch zu bedenken, dass Aron selbst niemals die „praxeologischen Probleme“ auflöse, welche das internationale System aufwerfe. Die „praxeologischen Probleme“ teilen sich für Aron in „das machiavellistische Problem und das kantische Problem“ oder mit anderen Worten: „das der rechtmäßigen Mittel und das des universellen Friedens“.32 Macht im Kontext der internationalen Beziehungen ist für Aron „die Fähigkeit einer politischen Einheit, den anderen Einheiten ihren Willen aufzuzwingen“. Dies unterscheidet sich durchaus von der Weberschen Definition von Macht als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.33 Arons Definition folgen drei Spezifizierungen: Zuerst der strukturelle Unterschied zwischen offensiver Macht („die Fähigkeit … anderen ihren Willen aufzuzwingen“) und defensiver Macht („die Fähigkeit … sich den Willen der anderen nicht aufzwingen zu lassen“). Zweitens eine epistemische Differenzierung zwischen den (empirisch potenziell messbaren) „Hilfsquellen oder der militärischen Stärke des Kollektives“ und der sich einer exakten Quantifizierung entziehenden Macht, welche „als menschliche Beziehung nicht nur von Material und Werkzeugen abhängt“. Zuletzt erfolgt die Unterscheidung zwischen Gewaltpolitik (politique de force) und Machtpolitik (politique de puissance).34 Für Arons Machtbegriff ist weiterhin eine konstitutive Binnendifferenzierung 29 Dieser Befund wird in der Forschungsliteratur einhellig geteilt: Frost 2006, S. 515; Hall 2011, S. 199 f.; Hoffmann 1985, S. 15 ff.; für eine intensive Diskussion dieses Teilaspektes siehe: Murielle Cozette, Raymond Aron and the morality of realism, Canberra 2008 (= https://www.ciaonet.org/attachments/13750/uploads, 10.4.2016). 30 Hoffmann 1985, S. 22 f. 31 Cozette 2008, S. 7. 32 Hoffmann 1985, S. 21 [Aron 1962, S. 667]. 33 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1985, S. 28; zit. nach Kruse 2011, S. 97. 34 Aron 1962, S. 63.

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zentral: Macht in den internationalen Beziehungen unterscheide sich – trotz zugestandener Ähnlichkeiten – substanziell von Macht innerhalb politischer Gemeinschaften. Dies führt er auf die unterschiedlichen Modi der Machtausübung zurück: Das internationale System ist aus machttheoretischer Perspektive, wegen des Fehlens eines Souveräns, horizontal organisiert, Gesellschaften jedoch vertikal; die legitime innergesellschaftliche Machtausübung liegt, was den Einfluss Webers zeigt, ja immer (zumindest in der Moderne) beim Staat und seinen Organen.35 Wie aber lässt sich Macht sinnvoll konzeptualisieren? Aron nennt drei Bedingungen, die eine Klassifizierung der „Elemente der Macht“ erfüllen muss: Eine solche müsse homogen, d.h. transhistorische, universalisierbare Merkmale enthalten, und vollständig sein, also „die konkrete Verschiedenheit der sich von einer Epoche zur anderen verändernden Phänomene einschließen“, schließlich erklär- und erkennbar machen, dass Machtfaktoren historischen Transformationen unterlägen und somit „Macht ihrem Wesen nach nur annährend meßbar ist“. Eine Reihe von anderen Vorschlägen zur Konzeptualisierung von Macht (u.a. von Morgenthau) weist Aron als „willkürlich und heterogen“ zurück. Stattdessen identifiziert er als „Determinanten der Macht“, welche den genannten theoretischen Anforderungen entsprechen, „Umwelt, Hilfsquellen, kollektives Handeln“.36 Die Umwelt, auch als geographisches Milieu bezeichnet37, beschreibe den „Raum [,] den eine politische Einheit“ einnehme; unter Hilfsquellen werden „Quantität und Qualität der Werkzeuge und der Kämpfer“ subsumiert; als kollektives Handeln werden die Faktoren Organisation und Disziplin der Streitkräfte, Qualität der zivilen und militärischen Führung und Gemeinschaftssinn der Bürgerschaft gefasst.38 „Die Stellung einer politischen Einheit innerhalb eines internationalen Systems“ werde „durch den Umfang der materiellen oder menschlichen Hilfsquellen“ bestimmt – wobei sich Großmächte durch ihre besonders umfangreichen Hilfsmittel auszeichneten.39

2. Rezeption des politischen Denkens Webers durch Aron Als Vorbemerkung zu den folgenden Ausführungen sei darauf hingewiesen, dass sich Aron intensiv mit dem facettenreichen wissenschaftlichen Œuvre 35 36 37 38 39

Aron 1962, S. 66–68. Ebd., S. 68–71. Ebd., S. 75. Ebd., S. 71. Ebd., S. 89.

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Webers auseinandergesetzt hat, dessen „unvergleichliche historische Bildung“ mehrfach betont wird40, und sich keineswegs nur auf den Aspekt des Machtdenkens beschränkte.41 Für Aron lässt sich Webers Verhältnis zur Machtpolitik aus zwei Determinanten erklären. Einerseits sieht er die persönlich-biographische Ebene: „Weber hat stets bedauert, kein Mann der Tat gewesen zu sein. Er gehört zur Familie der Soziologen, die (wie Thukydides nach oder Machiavelli während einer politischen Karriere) an der Politik gescheitert sind.“ Weber, den er (in Abgrenzung zu Durkheim und Pareto) einen „bitteren Beobachter“ nennt42, sei jedoch, trotz seiner gelegentlichen publizistischen Einflussnahme und der ebenso sporadischen Übernahme der Rolle eines Politikberaters, nie zum „Partei- und Menschenführer geworden“, sondern immer „Professor und Gelehrter“ geblieben.43 Andererseits sei „die politische Soziologie Webers … mit den geschichtlichen Verhältnissen, in denen er lebte, untrennbar verknüpft“ – was auf den Nationalismus des wilhelminischen Kaiserreiches verweist. In diesem Kontext ist wohl auch Arons Kommentar zu verstehen, Weber habe sich entschlossen, „daß der höchste Wert, dem er in der Politik alles andere unterordnen würde [,] … Deutschlands Größe sei“.44 Aron bietet dabei zwei Definitionen des Begriffes Machtpolitik an: einen engeren, der Machtpolitik als das notwendige Ergebnis der zentralen Struktureigenschaft des internationalen Systems – der Anarchie – begreift, und andererseits einen weiter gefassten, welcher Macht als Ziel oder notwendigen Zweck alles Politischen versteht. Beide Begriffe seien Weber zu eigen, wobei er darin „ein Nachfahr Machiavellis, genau so wie ... ein Zeitgenosse Nietzsches ist“. Weber folge Machiavelli dahingehend, dass er die Prämisse teile, wonach Politik immer Kampf sozialer Gebilde sei und es einen „Primat der Außenpolitik“ mit 40 Raymond Aron, Max Weber und die Machtpolitik, in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages in Heidelberg, Tübingen 1964, S. 103–120, hier S. 107 (vgl. Aron 1979, S. 16). 41 Hier insbesondere zu nennen: Raymond Aron, Hauptströmungen des modernen soziologischen Denkens: Durkheim – Pareto – Weber, Berlin 1979, S. 176–234. Aus methodischen Gründen wurde Arons „Die deutsche Soziologie der Gegenwart“ (1953/1965) nicht als Quelle für diese Untersuchung gewählt. Dies ist auf Arons Kommentar: „auch wenn ich mich heute nicht mehr in genau denselben Worten über ihn äußern würde, wie ich es in der ‚Deutschen Soziologie der Gegenwart‘ getan habe“, zurückzuführen (vgl. Aron 1964, S. 113). Für eine kritische Diskussion der Rezeption Webers von der Deutschen Soziologie zu späteren Werken: Peter Breiner, Raymond Aron’s engagement with Weber: Recovery or retreat?, in: Journal of Classial Sociology 11 (2011), S. 99–121, hier S. 102 ff. 42 Aron 1979, S. 16 f. 43 Ebd., S. 179; ebenso Aron 1964, S. 103. 44 Aron 1964, S. 107.

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dem Ziel der Beeinflussung der Weltgeschichte gebe.45 Eine solche Form der Machtpolitik könne man als Ausfluss der fünf Dimensionen der Weltanschauung Webers deuten: Diese beinhalte eine Darwinsche Dimension und sei Ausdruck des Kampfes um das Dasein. Daneben gebe es eine „Nietzsche-Komponente“, wonach nicht das Glück, sondern die Größe des Menschen zentral sei. Des weiteren bestünde eine ökonomische Dimension, welche die Güterknappheit und aus dieser folgend die – von Weber als fatalistisches Faktum angenommene – Armut der Völker beinhalte. Ebenfalls sei die marxistische Dimension erkennbar, welche von der Prämisse ausgehe, dass es ein (von allen Angehörigen) geteiltes spezifisches Klasseninteresse gebe, wobei dieses nicht zwangsläufig, selbst im Fall der herrschenden Klasse, mit den dauerhaften Interessen der Nation kongruent sei. Schließlich sei noch die nationale Komponente zu nennen, welche den Vorrang der gemeinschaftlichen (nationalen) Interessen vor sozialen Partikularismen postuliere, „wobei übrigens der Nationalismus einer Entscheidung und nicht den Tatsachen entspringt“.46 An einer anderen Stelle kommt Aron – wenn auch weniger differenziert, so doch eindrücklich und pointierter – zu dem Urteil: „In Max Weber vereinigt sich eine von Marx und Nietzsche inspirierte Philosophie des Kampfes und der Macht mit der Vision einer Universalgeschichte, die zu einer entzauberten Welt und einer geknechteten, ihrer höchsten Werte beraubten Menschheit führt.“47 Eine weitere strukturierende Dimension von Webers Denken sei die von ihm angenommene Verbindung – oder doch zumindest Konvergenz – der Konzepte von Macht und Kultur. Weber habe die Vorstellung von der deutschen Nation als einem Kulturstaat gepflegt, wobei Macht Voraussetzung für die Entfaltung von Kultur sei: „Sie [die Macht, M.R.] allein gewährleistet die Sicherheit und trägt zur Verbreitung der (wesentlich nationalen) Kultur bei.“48 So sei das Deutsche Reich als Großmacht hinsichtlich der Ausgestaltung der zukünftigen Menschheitskultur explizit gefordert gewesen. Da jedoch das entsprechende Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft, welches den Zusammenhang zwischen militärischer Macht und der „Ausstrahlung oder Prestige der Kultur“ thematisiere, unvollendet blieb, sei Webers Theorie hinsichtlich des Zusammenhangs der beiden Faktoren nicht völlig erkennbar und bliebe nur schwer fassbar.49 Aron diskutiert die konkreten politischen Forderungen Webers vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Nationalismus und Imperialismus. Weber habe 45 46 47 48 49

Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 112 f. Aron 1979, S. 236. Ebd., S. 234. Aron 1964, S. 108.

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zwar grundsätzlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt, jedoch sei ihm eine undifferenzierte Ausdehnung des Ordnungsmodells Nationalstaat weder zielführend noch wünschenswert erschienen. Seine politische Einstellung sei eine Kombination aus einem – deutschen Interessen verpflichteten – Machtstaatsdenken und (liberalem) Nationalismus gewesen. Dabei seien seine Erörterungen (geo-)politischer Fragestellungen durch das „so gut wie völlige Fehlen einer ideologischen Rechtfertigung“ gekennzeichnet. Da er während des Weltkriegs in Russland den (potenziell existenzbedrohenden) Hauptgegner Deutschlands identifiziert habe, setzte er sich für die nationalstaatliche Eigenständigkeit Polens ein – was jedoch nicht als Ausweis genuiner Sympathie für das Anliegen der polnischen Nationalisten missverstanden werden dürfe, sondern dem Interessenkalkül des Deutschen Reichs in Ost- und Mitteleuropa Rechnung trage. Webers Vorstellung der Ordnung dieses Raums habe in der Etablierung de facto semi-souveräner Staaten bestanden, die wirtschaftlich und militärisch an das Deutsche Reich gebunden, somit in Abhängigkeit gehalten, einen Cordon sanitaire gegenüber Russland gebildet hätten. Folglich sei er „nie so weit gegangen – und hier spricht wieder der Geist der Zeit aus ihm – Polen die völlige Unabhängigkeit zuzugestehen“. Auch habe er die Vorstellung eines deutsch-französischen Kompromisses bezüglich der staatlichen Zugehörigkeit Elsass-Lothringens abgelehnt, und hinsichtlich einer Volksabstimmung im Elsass sei „ihm schon die bloße Idee lächerlich“ erschienen.50 Aron erwähnt auch Webers Engagement gegen den unbeschränkten U-Boot-Krieg – jedoch als Beispiel für dessen gescheiterten Versuch, politischen Einfluss auszuüben.51 Arons Kritik lässt sich idealtypisch in zwei Kategorien einteilen: erstens die Kritik an der Analysekompetenz Webers hinsichtlich seiner (vermeintlich sozialwissenschaftlich gestützten) Prognosefähigkeit sowie zweitens eine ethisch begründete Ablehnung von Teilen der Weberschen Weltanschauung. Zur ersten Kategorie zählt Arons Kritik an Webers Verständnis der zwischenstaatlichen Beziehungen als (notwendigerweise) gewaltsame Beziehungen und der postulierten Korrelation zwischen ökonomischer Wohlfahrt und militärischer Stärke. Die zweite Kategorie umfasst Webers utilitaristisches Demokratieverständnis, die Korrelation zwischen Macht und Kultur sowie die Vorstellung von Macht als höchster Norm und Maxime politischen Handelns. Auch wenn eine konfliktfreie Welt nicht vorstellbar sei, hier pflichtet Aron Weber bei, so sei doch der Austragungsmodus (nicht-existenzieller!) Konflikte wählbar, was die Differenz zwischen gewaltsamen und nicht-gewaltsamen Formen der Konfliktaustragung zentral werden lasse – oder wie Aron prägnant feststellt: „Der Sieger 50 Ebd., S. 108–110. 51 Aron 1979, S. 179.

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auf dem Wahlschlachtfeld unterscheidet sich dem Wesen, nicht dem Grade nach, von dem Sieger auf dem militärischen Schlachtfeld.“52 Daneben sieht er in der Vorstellung von militärischer Stärke als Voraussetzung wirtschaftlicher Prosperität eine signifikante Fehleinschätzung: „Er redet und schreibt, als hinge der Lebensstandard der Arbeiterklasse letzten Endes vom Schicksal der Waffen ab.“53 Dabei habe er die technisch-wirtschaftliche Entwicklung zu marxistisch, d.h. für die breite Masse zu pessimistisch, eingeschätzt und so übersehen, dass die fortschreitende technische Entwicklung und Steigerung der Produktivität letztlich eine Entkoppelung, resp. Trennung, der Faktoren Staatsgebiet und ökonomische Potenz ermöglichen würde54; aber „es wäre nicht unmöglich gewesen, [dies] auch vor sechzig Jahren zu wissen“.55 Weber sei ein Nationalliberaler gewesen, wobei aber, laut Aron, die Betonung auf dem Adjektiv des Kompositums liege: So sei Weber zwar von der Notwendigkeit bürgerlicher Freiheitsrechte überzeugt gewesen, habe aber die Demokratisierung/Parlamentarisierung des Kaiserreiches nicht aus Überzeugung, sondern als notwendige Voraussetzung einer deutschen Weltmachtpolitik begriffen. Für Weber seien zwar das traditionale Element der Herrschaft in Form des Kaisertums und das bürokratische Element in Form der Verwaltung vorhanden gewesen, aber es habe das charismatische Element der Herrschaft gefehlt.56 Da die bürokratische Form der Herrschaft einer eigenen, kampfaversen Funktionslogik folge, seien die Politiker des Kaiserreiches den demokratischen (angelsächsischen) Parteiführern unterlegen gewesen, da diese durch den Parteienkampf bereits die für einen Politiker unabdingbaren Eigenschaften erworben hätten: „Entschlußkraft, Mut zu Neuerungen sowie die Fähigkeit, Glauben zu wecken und Gehorsam zu finden.“57 Durch eine Parlamentarisierung versprach sich Weber vornehmlich eine bessere Auslese und somit eine Steigerung der Entscheidungskompetenz und -effizienz der politischen Elite des Deutschen Reiches. Deswegen sei er „nicht einmal in dem Sinne ein Demokrat“ gewe52 Ebd. 53 Aron 1964, S. 114. Hier wird die – bereits diskutierte – Unterscheidung von Macht im Inneren und Macht nach außen wieder deutlich. Interessanterweise grenzt Aron Weber explizit von Emile Durkheim ab: „Anders als Durkheim glaubte er nicht daran, daß die militärische Funktion des Staates einer sich auflösenden Vergangenheit angehörte“ (Aron 1979, S. 229). 54 Aron 1979, S. 236. 55 Aron 1964, S. 114. 56 Aron 1979, S. 230. Für eine detaillierte Diskussion über Arons Verständnis der Weberschen Begriffe von Herrschaft und den drei Formen legitimer Herrschaft und ihrer ideengeschichtlichen Kontextualisierung siehe: Breiner 2011, S. 106 f. 57 Aron 1979, S. 230.

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sen, „wie die Franzosen, Engländer und Amerikaner den Begriff verstehen“.58 Infolgedessen habe er jedoch „seine eigenen Werte, den Liberalismus und den Parlamentarismus, entwertet, indem er sie zu einfachen Werkzeugen im Dienste der Größe des Reiches erniedrigte“.59 Bei der Idee der Stärkung des charismatischen Elementes hin zu einem demokratisch legitimierten, charismatischen Führer habe Weber – was freilich eher eine analytische denn ethische Bewertung darstellt – die hiermit verbundenen Gefahren unterschätzt. Die Verbindung von Macht und Kultur sei ebenfalls irreführend; Webers Postulat, dass zwar Macht und Kulturprestige miteinander eng zusammenhingen, man die Kulturentwicklung aber nicht wertfrei beurteilen könne, sei „von einer merkwürdigen Dürftigkeit“.60 Außerdem sei es auffällig, dass Weber „an der Macht, die nicht die Qualität, sondern die Verbreitung … der Kultur verursacht, als ... dem letzten Ziel festgehalten hat“.61 Desgleichen hält Aron die Fixierung auf die Größe der Nation wie auch Webers Konzept der Macht als gleichsam Zweck und Endziel, oder pointiert formuliert: die Idee einer la puissance pour la puissance, für einen historischen Irrweg und stellt die Frage: „Ist Max Weber dadurch, daß er die Machtinteressen des deutschen Volkes als Endziel hinstellte, nicht einer Art von Nihilismus verfallen?“ Dass sein Denken der Vorstellung verhaftet bliebe, die höchste und endgültige Organisationsform des Politischen bilde der Nationalstaat, weist ihn für Aron als jemanden aus, der „in diesem Punkt noch seiner Zeit an[gehört]“.62 Außerdem habe seine Konzeption von Nationalismus fast zwangsläufig zum Imperialismus führen müssen.63 Positiv vermerkt Aron hinsichtlich Webers politischer Philosophie, dass dieser nachdrücklich „den diabolischen Charakter der Macht und die Opfer, die der Machtstaat fordert“, herausgestellt habe. Außerdem attestiert er ihm im Hinblick auf die Möglichkeit einer deutsch-französischen Verständigung im Ersten Weltkrieg, er habe zwar nicht immer den nötigen Scharfblick entwickelt, doch „besaß er … immer noch mehr davon als fast alle seine Zeitgenossen“.64 Insgesamt fällt Aron über das politische Denken Webers dennoch ein recht eindeutiges Urteil: „Max Weber hat im Grunde in seiner politischen Theorie Verrat an sich selbst geübt.“65 Weber, den er als einen 58 59 60 61 62 63 64 65

Aron 1979, S. 229. Aron 1964, S. 119. Aron 1979, S. 230 u. 234. Aron 1964, S. 108. Ebd., S. 119. Aron 1979, S. 234. Aron 1964, S. 108 u. 110. Ebd., S. 120.

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„Mensch unserer Zeit“ (gemeint ist das 20. Jahrhundert) tituliert66, ist – so wird man Arons Urteil über das Gesamtwerk Webers zusammenfassen können – für ihn vornehmlich als Soziologe und herausragender sozialwissenschaftlicher Theoretiker bedeutsam; dabei kommt Aron auch zu dem Fazit, Weber habe „uns ein Erbe hinterlassen, das keine möglichen Irrtümer des Theoretikers der Machtpolitik beeinträchtigen können“.67

3. Rezeption Webers durch Herfried Münkler: Machtbegriff und -theorie Für Münkler lässt sich Macht in vier Formen aufschlüsseln: militärische, ökonomische, politische und kulturelle/ideologische Macht.68 Diese Unterteilung folgt den Vorstellungen des anglo-amerikanischen Soziologen Michael Mann, der diese Konzeptualisierung in seinem universalhistorisch angelegten dreibändigen Werk The Sources of Social Power vorgeschlagen hat. Macht als Begriff wird von Münkler (im Kontext internationaler Beziehungen) als Möglichkeit verstanden, den eigenen „Willen nachhaltig gegen die Vorstellungen anderer durchzusetzen oder doch zumindest zur Geltung zu bringen“.69 Jedoch ist Macht eine janusköpfige Erscheinung: Durch sie erhalten Staaten nicht nur diverse Vorteile durch Einflussnahme, sondern bürden sich gleichzeitig Verpflichtungen auf, die „einen beachtlichen Kostenfaktor dar[stellen], dem keineswegs immer ein entsprechender Nutzen gegenübersteht“.70 Die einzelnen Machtsorten werden dabei an verschiedenen Stellen näher spezifiziert. Unter militärischer Macht werden nicht nur die Streitkräfte eines Landes subsumiert, von Münkler als „Erzwingungsapparat“ apostrophiert, „sondern auch … eine leistungsfähige Rüstungsindustrie“, da durch diese, „zumal unter Verbündeten oder kooperierenden Mächten, Vertrauens- und Loyalitätsbeziehungen“ etabliert werden könnten. Dabei ist militärische Macht, etwa im Gegensatz zu kultureller oder wirtschaftlicher Macht, im Regelfall unproduktiv.71 Der Begriff der wirtschaftlichen Macht umfasst nicht nur klassische volkswirtschaftliche 66 Aron 1979, S. 231. 67 Aron 1964, S. 120. 68 Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015, S. 45; ebenso ders., Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 77. 69 Herfried Münkler, Die selbstbewußte Mittelmacht. Außenpolitik im souveränen Staat, in: Merkur 60 (2006), S. 847–858, hier S. 847. 70 Münkler 2006, S. 847. 71 Münkler 2015, S. 189 u. 187.

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Indizes (wie etwa das BIP), sondern auch die Fähigkeit zur Herstellung ökonomischer Konkurrenz- und Leistungsfähigkeit72 sowie im Spezialfall von imperialen Akteuren desgleichen die „Kontrolle über Kapital- und Wissensströme“. So sei weniger der Anteil der USA am Weltbruttoinlandsprodukt Indikator für „Stabilität und Dauer des US-Imperiums“, sondern vielmehr die (fortgesetzte) Dominanz der Vereinigten Staaten über internationale Institutionen mit Regulierungs- und Steuerungskompetenzen für die Weltwirtschaft (etwa der IMF oder die Weltbank)73 sowie „die unbestrittene Führungsposition im Bereich der Naturwissenschaften und der Spitzentechnologie“, aus welcher letztlich „die Kontrolle über die Weltwirtschaft“ erwachse.74 Ferner wird der Begriff der politischen Macht „weitgehend als diplomatische Macht“ verstanden75, was unter anderem die Attraktivität eines Staates als Bündnispartner sowie die Möglichkeit der Organisation von Bündnissen unter dem Aspekt der Maximierung von Eigeninteressen einschließt.76 Daneben enthält politische Macht noch eine weitere Bedeutungsdimension – neben der obigen, engen Definition ist sie auch das Produkt aller Machtsorten, welche aus der „Multiplikation der Faktoren ökonomische[r], militärische[r] und kulturelle[r] Macht“ entsteht.77 Als kulturelle/ideologische Macht wird jene Form von Macht bezeichnet, die ihre Effekte nicht über Zwang, sondern durch Anziehung erzielt. Dadurch ist sie die kostengünstigste Art der Machtausübung. Grundsätzlich habe die Politik jedoch nur begrenzten Einfluss auf diese Machtsorte: Regierungen könnten letztlich die Rahmenbedingungen für kulturelle Entfaltung generieren, selber produzieren oder gar erzwingen könnten sie kulturelle Attraktivität jedoch nicht. Empirische Indikatoren für kulturelle/ideologische Macht sind (im Falle Deutschlands) „steigende Touristenzahlen, … wachsende Zuwanderung und … eine große Beliebtheit bei den europäischen Nachbarn“. Grundsätzlich kommt kultureller Macht dabei eine Doppelfunktion zu: Einerseits „generiert sie Vorbilder und paradigmatische Orientierungen“ nach außen, wirkt aber gleichzeitig auch als integrierende und sinnstiftende Kraft für die Gesellschaft nach innen.78 Auch vermag kulturell-ideologische Macht tiefgreifende Veränderungen sozialer Beziehungen herbeizuführen: Während militärische und wirtschaftliche Macht

72 73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 47. Münkler 2005, S. 87 f. Ebd., S. 55. Münkler 2015, S. 46. Münkler 2005, S. 108. Münkler 2015, S. 46. Ebd., S. 186–189.

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vornehmlich „Machtverhältnisse“ beeinflussten, ziele kulturelle Macht auf die „Identität“ von Gesellschaften.79 Ein zentraler Aspekt hinsichtlich des Interaktionsrahmens der einzelnen Machtsorten ist die Variable Zeit. Münkler folgt dabei den Überlegungen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Joseph Nye, der zwischen hard power, der Macht des Zwangs, und soft power, der Macht der Überzeugung, unterscheidet.80 Wenn man die vier Machtsorten entlang von hard und soft power kategorisiert, kann man militärische und wirtschaftliche Macht der hard power, politische und kulturell/ideologische Macht der soft power zuordnen.81 Dabei entfalte sich soft power eher lang- und hard power eher kurzfristig.82 Jedoch stehen beide Machtsorten nicht allen Akteuren in gleichen Maßen zur Verfügung oder sind für diese in gleicher Weise bedeutsam. So sei „ein Imperium … dann am beständigsten, wenn es sich auf alle vier Quellen der Macht stützen kann“. Die Eliten sind insofern zentral, als sie durch die Möglichkeit des klugen politischen Umgangs mit Machtsorten sowie den – zeit- und kontextabhängigen – „Austauschbedingungen und Konvertierungsformen der einzelnen Machtsorten“ den Zyklusdurchlauf imperialer Machtentfaltung zu steuern vermögen.83 Andere Akteure des internationalen Systems, insbesondere Mittelmächte, sollten zwar auch ein ganzheitliches Machtportfolio anstreben84, seien aber heutzutage, aufgrund der bereits erwähnten abnehmenden Fungibilität militärischer Macht, eher auf „Prestige und Reputation“ angewiesen.85 So könne man z.B. den im Zuge der Euro-Krise sichtbar gewordenen europapolitischen Bedeutungszuwachs

79 Münkler 2005, S. 205. 80 Die Verweise auf Nye finden sich an mehreren Stellen, so u.a.: Münkler 2005, S. 205; Münkler 2015, S. 186. Für eine kurze Übersicht zur Unterscheidung zwischen soft und hard power siehe Joseph Nye, The Future of Power, New York 2011, S. 14 u. 231. 81 Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass die Zuordnung der Machtsorten, wie sie erfolgt ist, nicht gänzlich unproblematisch ist. So kann laut Nye z.B. auch mit militärischen Ressourcen soft power generiert werden (Nye 2011, S. 67). Dies sei der Fall, wenn humanitäre Hilfe durch das Militär erfolge. Dennoch ist die Tendenz der Zuordnung durchaus zutreffend. 82 Münkler 2005, S. 79 u. 248. 83 Ebd., S. 82 u. 109. 84 So bezweifelt Münkler 2015 beispielsweise, dass die aktuellen Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik in Höhe von 1,3 % des BIP ausreichend sind für Deutschlands Stellung als „Macht in der Mitte“ (S. 190). Allgemein zum Thema der Ausgeglichenheit des Machtportfolios bei nicht-imperialen Akteuren vgl. Münkler 2006, S. 849 f. u. 853, ebenso Münkler 2015, S. 45. 85 Münkler 2006, S. 848 ff.

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der Bundesrepublik aus der gestiegenen relativen Nützlichkeit wirtschaftlicher gegenüber militärischer Macht erklären.86 An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass Münklers Machtbegriff, welcher ja ein mixtum compositum aus Michael Manns Machtformen und Bourdieus Kapitalbegriff ist, primär einem Forscher entlehnt ist, welcher sich wiederum explizit in die Tradition Webers stellt.87 Ebenfalls erwähnenswert erscheint, dass Mann von Münkler nur sehr partiell rezipiert wird: So fehlen etwa die „three modalities of power“, welche jeweils nicht Form, sondern Wirkungsart der Macht beschreiben. Außerdem wendet sich Mann grundsätzlich gegen das „amorphous word ‚culture’“88, welches bei Münkler synonym zu Ideologie Verwendung findet. Zusammenfassend lässt sich Münklers Machtbegriff so veranschaulichen:

Machtsorten

unmittelbar

zeitlicher Wirkungsgrad langfristig

86 Münkler 2015, S. 47 f. u. 50. 87 Richard Swedberg, The Max Weber Dictionary: Key Words and Central Concepts, Stanford 2005, S. 175 u. 228. 88 Michael Mann, The Sources of Social Power. Vol. 3: Global Empires and Revolution 1890–1945, Cambridge 2012, S. 5 ff.; Münkler selbst zitiert (soweit ersichtlich) immer den ersten Band von Michael Manns The Sources of Social Power. Dennoch sind die hier genannten Unterschiede zu Münkler keineswegs eine Folge des Wandels – ähnlich hatte sich Mann auch schon bereits im ersten Band von Sources of Social Power geäußert.

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4. Rezeption des politischen Denkens Webers durch Münkler Die Weber-Rezeption Münklers lässt sich in eine methodologische und eine politisch-ideengeschichtliche unterteilen. Aus methodologischer Sicht kritisiert Münkler eine zunehmende Geschichtsvergessenheit der deutschen Politikwissenschaft.89 Laut seiner Einschätzung habe sich die Politikwissenschaft seit den 1970er Jahren „szientifiziert“; von einer „seitens der Ökonomie wie der Soziologie“ errichteten „methodischen und semantischen Hegemonie“ seien die philosophisch-ideengeschichtlichen Ansätze verdrängt worden. Infolgedessen sehe sich die deutsche Politikwissenschaft zunehmend in die praktische Bedeutungslosigkeit abgedrängt; entscheidende Impulse zur Politik- und Gesellschaftsberatung seien von ihr in den letzten Jahrzehnten nicht ausgegangen. Dabei könne die Beschäftigung mit Geschichte und Philosophie in der Politikwissenschaft zusätzliche „Kreativitätsreserven“ freisetzen.90 Außerdem sei ein sowohl auf geschichtliche als auch zeitgenössische Beispiele gestütztes und verifiziertes Modell besonders valide. Jedoch stelle ein solches methodologisches Vorgehen besonders hohe Anforderungen an die Wissenschaftler – letztlich drohe man sich in der Vielzahl der historischen und zeitgenössischen Beispiele zu verlieren, wodurch allgemeingültige Aussagen unmöglich würden. Die Politikwissenschaft habe diesem Risiko durch eine sukzessive Reduktion des bearbeiteten historischen Zeithorizontes und eine Hinwendung zu reinen Modellkonstruktionen entkommen wollen. In der Folge der – bereits erwähnten – „Orientierung am Methodenset einer mathematisierten Ökonomie“ sei nicht nur eine Distanzierung von der Geschichte, sondern gleichsam die zunehmende Unkenntnis historischer Sachverhalte zu konstatieren. Als Antipode zu der von ihm festgestellten Hegemonie der quantitativen Forschung zu Lasten der Ideengeschichte wird Max Weber angeführt: „Deutsche Sozialwissenschaftler … berufen sich zwar gern auf Max Weber als Gründer und Vorbild der Disziplin, aber von dessen profunden historischen Kenntnissen, die für ihn stets die Basis der Argumentation waren, sind sie weit entfernt.“91 89 Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Berlin 2006(b), S. 16. 90 Friedrich Niewöhner, Politik als Ideengeschichte, in: FAZ vom 21.9.2005, S. 3. Auf den zitierten Zeitungsartikel ist der Autor durch die Rezension eines Politologen aufmerksam geworden: Ulrich Menzel, Imperium oder Hegemonie? Die USA als hegemoniale Ordnungsmacht. Über Herfried Münklers ‚Imperien‘, in: Kommune 23,6 (2005), S. 64–72. 91 Münkler 2006b, S. 16.

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Die zweite Rezeptionsebene liegt in der Wahrnehmung Webers als Repräsentant einer ideengeschichtlichen Traditionslinie, der Philosophie der politischen Vernunft. Dies lässt sich sehr gut an der von Münkler entwickelten, drei Ebenen umfassenden Analyse von Kriegsursachen und insbesondere seiner Rezeption Webers als Vertreter politischer Klugheit im Ersten Weltkrieg nachvollziehen. Sein Modell der Kriegsursachenanalyse entwickelt Münkler anhand einer fiktiven Debatte zwischen dem Schriftsteller Aristophanes, dem Historiker Thukydides und dem Philosophen Platon hinsichtlich der entscheidenden Faktoren, die zum Ausbruch des Peloponnesischen Krieges zwischen Sparta und Athen 431 v. Chr. führten. Grundsätzlich lassen sich in dieser Debatte zwei konträre Positionen unterscheiden: Einerseits die Annahme eines strukturell-deterministischen Ansatzes, vertreten von Platon, welcher die Möglichkeit der politischen Steuerung sozialer Prozesse als Chimäre betrachtet und andererseits ein personell-voluntaristischer Ansatz, repräsentiert durch Aristophanes, der die völlige Indeterminiertheit politischen Handelns postuliert und somit die Existenz jeglicher politischer Strukturzwänge negiert. Daneben sieht Münkler auch noch einen von Thukydides vertretenen realistischen Ansatz, der das politische Handeln individueller Akteure durch strukturelle Zwänge beschränkt, aber keineswegs determiniert sieht. Somit werde politische Vernunft (respektive die Vernunft der Regierenden) zum Angelpunkt der Analyse.92 Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass sich vom personell-voluntaristischen über den realistischen zum strukturell-deterministischen Ansatz eine kontinuierliche Kontingenzreduktion vollzieht. Auch wenn sich diese Definition bei Münkler nicht finden lässt, kann man seine Vorstellung von politischer Vernunft auch als – um eine wirtschaftswissenschaftliche Terminologie zu verwenden – äußerst knappes Investitionsgut begreifen, welches in besonderem Maße zur Produktion optimaler politischer Effekte geeignet ist. Aber selbst wenn politische Vernunft durch Strukturzwänge wie Rüstungsspiralen, eskalierendes Misstrauen oder Abstiegsängste blockiert sei, gebe es immer noch politische Weitsicht als Surrogat politischer Vernunft; sie umfasse Augenmaß, entschlossenes Handeln und das Wissen um die Grenzen der eigenen Macht. Diese Eigenschaften habe „Thukydides an Perikles geschätzt und bei seinen Nachfolgern so sehr vermisst“, und sie hätten auch für „politische Theoretiker wie Niccoló Machiavelli“ und den hierin „an Machiavelli anknüpfenden Max Weber … die Quintessenz politischer Kompetenz dargestellt“. Dabei seien für „Vertreter einer realistischen Politikauffassung, Theoretiker wie Thukydides, Machiavelli, Clausewitz und Max Weber, die … systematische Verbindung situ92 Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2002, S. 19–24.

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ationistischer und struktureller, personalisierender und objektivierender Faktoren in ihren Theorien“ typisch.93 Dieses Drei-Ebenen-Analysemodell könne auch auf andere Konflikte, wie etwa den Ersten Weltkrieg, Anwendung finden.94 Webers politischen Einlassungen während des Ersten Weltkrieges, welche Münkler durch „politische Urteilskraft und pragmatische Nüchternheit“ geprägt sieht95, werden dann auch konsequent als das Wirken eines Repräsentanten der Philosophie der politischen Vernunft gedeutet. Als Beispiele nennt Münkler insbesondere Webers Haltung zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg und der Kriegszieldiskussion. Dabei ist es bemerkenswert, dass sich Münklers Einschätzung hinsichtlich der Kriegsursachen durchaus verändert, die Einschätzung Webers als Repräsentant politischer Vernunft aber unverändert bleibt.96 Hinsichtlich des uneingeschränkten U-Boot-Krieges habe Weber, obwohl er selbst Bellizist und Befürworter einer deutschen Weltmachtpolitik gewesen sei97, angesichts der wahrscheinlichen politischen Folgen gegen eine Wiederaufnahme des 1915 vorzeitig abgebrochenen unbeschränkten U-Boot-Krieges (also eine Seekriegsführung unter Aussetzung des Prisenrechts) ausgesprochen. Hierbei stellt Münkler fest, dass insbesondere jene Akademiker und Intellektuellen, die für die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges eintraten, in Wissenschaftsdisziplinen beheimatet waren, „in denen mehr Wert auf die Intentionalität des Handelns als auf dessen Effekte gelegt wurde“.98 Dies zeige sich auch an den verwendeten Diskursstrategien der Befürworter und Kritiker. Während letztere vor allem mit „Kapazitätsberechnungen und politischen Risiken“ argumentierten, meinten die Befürworter, dass mit Willensstärke, Charakterfestigkeit und Zutrauen in Deutschlands Größe ausreichende Garanten für ein Gelingen der deutschen Marinestrategie gegeben seien. Damit hätten sie sich jedoch vor einen Karren spannen lassen, „den sie weder in seinen Abmessungen noch hinsichtlich seines Gewichts kannten“. Dies werde besonders deutlich, wenn man die Argumentation der Befürworter mit „Max Webers sachlicher und kenntnisreicher Abwägung der Chancen und Risiken“ vergleiche, der Forderungen nach dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg als „‘Abenteuerpolitik’“ zurückwies.99 Als Folge seien die im weitesten Sinne einer 93 94 95 96

Ebd., S. 27 f. u. 33. Ebd., S. 25–29. Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2014, S. 18. Zumindest ergibt sich dieser Eindruck, wenn man die beiden Kriegsursachenanalysen aus Über den Krieg (2002) und Der Große Krieg (2014) hinsichtlich des Ersten Weltkrieges komparativ liest – vgl. Münkler 2002, S. 25–33, und Münkler 2014, S. 25 ff. 97 Münkler 2014, S. 18, 219 u. 285. 98 Ebd., S. 584. 99 Ebd., S. 513.

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deontologischen Ethik verpflichteten Geisteswissenschaften nach dem Krieg unter sozialwissenschaftliches Kuratel gestellt worden: „Das intellektuelle Dokument dieses Vorbehalts ist Max Webers 1919 gehaltener Vortrag Politik als Beruf, in dem Weber den Vorrang der Verantwortungs- vor der Gesinnungsethik in Fragen der Politik postuliert.“ Die Argumentation richte sich dabei keineswegs nur an die Anhänger der Münchener Räterepublik, sondern ziele letztlich auf die „Intentionalisten jedweder Couleur“, welche die kontraintentionalen Effekte politischen Handelns, mithin also die Umkehrung zwischen guten Absichten und schlechten Folgen, das „Spiel mit den dämonischen Mächten“, nicht verstünden.100 Letztlich kann man dies auch als eine Fortsetzung von Webers Kritik an jedweder Form der politischen Romantik verstehen, die „für ihn nichts anderes war als die Kehrseite des politischen Spießertums“. Anstatt dessen solle Politik, um wirkungsmächtig zu werden, „‘Leidenschaft und Augenmaß’“ miteinander verbinden.101 Mit Blick auf die Kriegszieldiskussion stellt Münkler fest, diese sei mehr durch „Naivität und Dummheit“ geprägt gewesen als durch „Hinterlist und Bosheit“ – „kaum einer hat das klarer gesehen als Max Weber, der die Kriegszieldiskussion als unverantwortliches Literatengeschwätz bezeichnete“. Statt eines Sieg- oder Diktatfriedens warb Weber für einen Verständigungsfrieden – auch aus dem Bewusstsein heraus, dass die Ressourcen Deutschlands für einen Ermattungskrieg nicht ausreichten. Die schnell ausufernde Kriegszieldebatte war für Weber dabei auch Ausdruck politischer Führungsschwäche, welche sich aus seiner Sicht beinahe zwangsläufig aus der institutionellen Ausgestaltung des Kaiserreiches ergab.102Als Hauptgegner im Krieg habe Weber dabei das zaristische Russland identifiziert. Diese Aversion lasse sich aus der Rolle Russlands als antiliberale und reaktionäre Status-quo-Macht des 19. Jahrhunderts erklären – mithin also, was im Sprachbild des „Gendarmen Europas“ transportiert wird.103 Dabei habe Weber während des Krieges durchaus vor einer Politik, die auf einen Siegfrieden gegenüber Russland setzte, gewarnt: Wer russische Interessen nicht berücksichtige, riskiere, dass sich der vermeintliche Friedensvertrag lediglich als Waffenstillstand entpuppe.104 Die Sicherheitsinteressen Deutschlands sollten, laut Weber, eher indirekt gesichert werden, Annexionen lehnte er folglich ab. Auch nach der Oktoberrevolution habe sich Weber in seiner kritisch-ablehnen100 101 102 103

Ebd., S. 585. Max Weber, Der Sozialismus, Hg. Herfried Münkler, Weinheim 1995, S. 18. Münkler 2014, S. 219 f. Ebd., S. 220 u. 659 ff. ebenso Münkler 1995, S. 28. Ursprünglich war die Bezeichnung auf Zar Nikolaus I. (reg. 1825–1855) gemünzt – auch wenn Münkler selbst die Bezeichnung nicht wählt, erscheint sie doch treffend. 104 Münkler 2014, S. 220.

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den Haltung gegenüber Russland bestätigt gesehen; für ihn war der Versuch der Etablierung des Kommunismus in Russland ein Intellektuellenprojekt mit langfristig geringen Erfolgs- und Realisierungschancen.105 Für Weber sei, quasi als Nachgang der Kriegszieldebatte, schnell deutlich geworden, dass die USA zukünftig die für Deutschland erhoffte Weltmachtposition einnehmen würden.106 So habe er bereits in einer unveröffentlichten Denkschrift vor einer Ermattungsstrategie gewarnt, welche zwangsläufig dazu führen müsse, „,daß die außereuropäischen Nationen, insbesondere Nordamerika, die industrielle Suprematie an sich reißen und uns für alle Zeit ins Hintertreffen drängen‘“.107 Auch glaubte Weber, die für die Revitalisierung der deutschen Nachkriegsökonomie benötigten ausländischen Kapitalimporte könnten nur aus den USA erfolgen; solche Kredite würden aber wahrscheinlich nur gewährt, wenn Deutschland ein kapitalistisches Wirtschaftssystem habe.108 Zuletzt soll die theoretische Rezeption Webers durch Münkler an zwei Beispielen eruiert werden. Webers Überlegungen sind für Münkler hinsichtlich der Frage der Erklärungskraft ökonomischer Imperialismustheorien zentral, deren Fokus auf der Frage nach der „Reformierbarkeit des Kapitalismus“ liege. Das Problem sei jedoch, dass der europäische Kolonialismus zwar eine „der brutalsten Formen von Ausbeutung und Unterdrückung“ der Geschichte gewesen sei, ökonomisch rentabel sei er dennoch nicht gewesen.109 Insgesamt sei der Erklärungsgrad ökonomischer Imperialismustheorien äußerst begrenzt; letztlich würden nur Phasen der ökonomischen Imperativen folgenden Expansion, nicht aber Phasen der Konsolidierung erklärt. Außerdem werde die Existenz eines Interaktionsrahmens zwischen Zentrum und Peripherie geleugnet; somit müssten ökonomische Imperialismustheorien zwangsläufig unterkomplex bleiben und ignorierten, „wie wichtig die Verkettung funktionaler Effekte, die zwischen Zentrum und Peripherie hin- und herlaufen, für die Entstehung von Imperien ist“. Ansätze einer politischen Imperialismustheorie würde Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 aufweisen. Dennoch habe Marx sich zu sehr „auf die Fragen der Ökonomie und des Klassenkampfs“ fokussiert und darüber die Perspektive für genuin „politisch-psychologische Aspekte“ verloren; ansonsten „wäre er sehr schnell auf jene Disposition gestoßen, die Max Weber später als Prestigestreben bezeichnet hat“.110 Eine genuin politische Theorie 105 Münkler 1995, S. 31 f. u. 35. 106 Münkler 2014, S. 277 f. 107 Max Weber, Zur Frage des Friedenschließens, in: Ders., Politische Schriften, S. 130– 141 (Zitat S. 140) – zit. nach: Münkler 2014, S. 278. 108 Münkler 1995, S. 35. 109 Münkler 2005, S. 39 u. 36. 110 Ebd., S. 49–51.

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betrachte das Prestigestreben von Staaten im Allgemeinen und Imperien im Speziellen als den Versuch der Hierarchisierung der internationalen Beziehungen, ohne dabei Rekurs auf die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz) nehmen zu müssen. Grundsätzlich könne man dies als die Konvertierung von ökonomischer in politische Macht begreifen. Jedoch werde so auch deutlich, dass (imperiales) Prestigestreben im Regelfall nicht an streng ökonomischen Kriterien (rentabel/unrentabel) zu messen sei. Zusammenfassend könne man postulieren, im Zentrum politischer Imperiumstheorien stünde nicht die „Konkurrenz des Kapitals um Märkte und Anlagemöglichkeiten, sondern die der Staaten um Macht und Einfluss“.111 Münkler selbst verweist weder direkt im Text noch indirekt durch eine Zitation auf Weber, deshalb sollen Webers Vorstellungen kurz zusammengefasst werden. Grundlage für Münklers Überlegungen scheint der dritte Abschnitt „Machtprestige und Großmächte“ im achten Kapitel „Politische Gemeinschaften“ von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu sein. In diesem stellt Weber fest: „Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde.“ Dabei setzten aber keineswegs alle politischen Akteure, respektive Gebilde, im gleichen Maß auf Machtprojektion – um einen modernen Begriff zu verwenden. Grundsätzlich könne man zwischen „autonomistischen“ und „machtexpansiven“ Staaten unterscheiden. Machtexpansive Staaten, gemeinhin als Großmächte bezeichnet, seien wiederum die (neuzeitlichen) Träger des „Machtprestiges“, welches als „’Ehre der Macht‘, praktisch: die Ehre der Macht über andere Gebilde“ verstanden wird. Jenes Machtprestige sei das Produkt einer „spezifischen Dynamik“, welche „die Basis für eine spezifische ‚Prestige’-Prätention ihrer Angehörigen werden“ kann und deren „Verhalten nach außen beeinflußt“. So habe jenes Machtprestige einen empirisch nicht zu fassenden, gleichwohl dennoch fühlbaren Einfluss auf den Ausbruch von Kriegen und sei ebenfalls, neben den „kapitalistische[n] Expansionsinteressen“, eine der Mitursachen für die Großmachtkonkurrenz. Soziale Träger dieser Prestigeprätention sind, laut Weber, insbesondere diejenigen Schichten, welche durch eine expansive Politik materielle Vorteile erhalten, mithin also jene, welche auf die „Vermehrung der Amtsstellen und Pfründen, Verbesserung der Avancementschancen“ hoffen dürfen. Dennoch erstrecke sich das Prestigestreben auf alle Schichten des politischen Gebildes (wiewohl es aber nicht mit Nationalstolz verwechselt werden dürfe).112 Auch im Rahmen seiner Analyse des Themas „Heroismus und Gesellschaftsgeschichte“ beschäftigt sich Münkler intensiv mit Weber. Heroismus ist für Münkler, im Anschluss an den niederländischen Historiker Johan Hui111 Ebd., S. 53 f. 112 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn 2006, S. 999–1002.

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zinga „,erhöhtes persönliches Bewusstsein … unter Einsatz aller Kräfte bis zur Selbstaufopferung mitzuwirken an der Verwirklichung einer allgemeinen Aufgabe‘“.113 Heroismus sollte vor dem Hintergrund von Münklers Konzept der Asymmetrie der Schwäche verstanden werden: Bei dieser setze eine Konfliktpartei auf eine gesteigerte Opferbereitschaft von sowohl Kombattanten als auch Nonkombattanten; das sei oftmals der Versuch, einem asymmetrisch überlegenen Akteur standzuhalten oder diesen sogar zu bezwingen.114 Heroismus ist folglich ein Triebmotor für die gesteigerte Opferbereitschaft. Münkler unterscheidet im Anschluss an Ferdinand Tönnies zwischen „heroischer Gesellschaft, unheroischer Gesellschaft mit inkorporierten heroischen Gemeinschaften und der in eine heroische Gemeinschaft umgeformten Gesellschaft“.115 In einer Reihe historischer Analysen des klassischen Athen, des Makedonenreiches und schließlich der Römischen Republik werden die Determinanten, welche für die Entwicklung zur heroischen Gesellschaft verantwortlich gezeichnet werden können, analysiert und insbesondere jene Faktoren herausgestellt, welche dann zum Übergang in eine postheroische Gesellschaft führten.116 Daraufhin stellt er Webers Überlegungen dar, wonach die „heroische Gemeinschaft als ein Entwicklungsstadium politischer Vergesellschaftung in Abgrenzung gegen den Sippenverband“ beschrieben werden könne, wobei er ausgiebig aus dem entsprechenden Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft zitiert.117 Hiernach knüpft Münkler an seine Analyse des Heroismus in der Antike an und beschreibt die sozialgeschichtliche Entwicklung im Europa der Neuzeit.118 Laut Webers Ausführungen müsse „die chronische Plünderung der Außenstehenden“119 entweder im Untergang der plündernden heroischen Gemeinschaft oder aber in der Ausbildung politischer Strukturen münden. Die Entwicklung vom Ritter zum Offizier sei ein Beispiel dafür.120 113 Johan Huizinga, Heroismus, in: Ders., Schriften zur Zeitkritik, Zürich 1948, S. 98– 105 (Zitat S. 103) – zit. nach: Münkler 2006b, S. 310. 114 Münkler 2005, S. 187–197. Für eine konzise Analyse und pointierte Gegenüberstellung beider Kriegsformen siehe Münkler 2006b, S. 139–142. 115 Münkler 2006b, S. 328 u. 330. 116 Ebd., S. 330 ff. 117 Ebd., S. 333. Ausgiebig meint in diesem Zusammenhang die Häufung der Zitate, nicht, dass Münkler Webers Ausführungen en detail kontextualisiert; tatsächlich zitiert er nur zwei Seiten aus „Wirtschaft und Gesellschaft“ (vgl. Münkler 2006b, S. 333 f./Anm. 67–70). 118 Münkler 2006b, S. 334–337. 119 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 518, zit. nach Münkler 2006b, S. 334. 120 Münkler 2006b, S. 334.

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5. Vergleich der Rezeptionen und Schlussfolgerungen Für Herfried Münkler ist Max Weber, pointiert gefasst, einerseits ein Vertreter der Philosophie der politischen Vernunft, der sich nahtlos in die Reihe der bedeutenden, machtzentrierten Denker in der Tradition eines utilitaristischen Politikverständnisses wie Thukydides, Machiavelli und Clausewitz einfügen lässt; er ist andererseits Doyen der (modernen) sozialwissenschaftlichen Theorie, der aufgrund seiner Methodologie der historischen Fallanalyse und Analogiebildung, insbesondere aber auch aufgrund seines umfangreichen historischen Wissens, weiterhin für die Sozialwissenschaften anschlussfähig, wenn nicht sogar beispielgebend ist. Mit anderen Worten, Münkler sieht in Weber idealiter sowohl den Theoretiker politikwissenschaftlich-soziologischen Denkens als auch den scharfsinnigen intellektuellen Analytiker zeitgenössischer Zustände vereint. Dennoch wird man konstatieren müssen, dass Münkler Weber doch durchgängig auf beiden Ebenen, Wissenschaftler und Intellektueller, eher selektiv rezipiert. Als Wissenschaftler wird Weber insofern selektiv rezipiert, als dass er in den beiden untersuchten Fällen, also der Einbindung von Webers Prestigedenken in Münklers Imperientheorie und der Überlegungen hinsichtlich der heroischen Gemeinschaft als Zwischenstufe des politischen Vergesellschaftungsprozesses, mehr in der Rolle eines Ideen- bzw. Stichwortgebers zu finden ist. Webers Überlegungen bilden die theoretische Einordnung der historischen Fallbeispiele aus der Antike und sind dabei gleichzeitig der Anknüpfungspunkt für die Entwicklung heroischer Gemeinschaften in der Neuzeit. Der Eindruck eines Stichwortgebers ergibt sich aus dem Umstand, dass Webers Einlassungen zu dem Thema eher Verbindung und abstrakte Zusammenfassung der Argumentation und nicht etwa der Ausgangspunkt der Überlegungen sind. Münklers Gegenüberstellung von Webers vorgeblich genuinem politischem Prestigebegriff einerseits und Marx’ Ausblendung „politisch-psychologischer Aspekte“ andererseits ist ebenfalls nicht gänzlich unproblematisch und stellt eine selektiv-verkürzende Rezeption von Webers Überlegungen dar: Im Gegensatz zu Münklers dichotomer Kontrastierung ökonomischer gegen politische Erklärungsdeterminanten imperialer Expansion hat Weber sehr nuanciert argumentiert. Für ihn war das Prestigestreben der Großmächte (!) nicht allein Resultat ökonomischer Notwendigkeiten, aber einen relativ wichtigen Platz nehmen sozioökonomische Überlegungen durchaus ein. So hat Weber ausdrücklich auf die materiellen Gratifikationen für diejenigen Schichten verwiesen, welche sich (in besonderem Maße) mit einem Großmachtstatus einstellen. Völlig außer Acht lässt Münkler Webers eigene Erklärung des Imperialismus. Diese umfasst – neben der politischen Großmachtkonkurrenz – auch ökonomische Motive: Für Weber

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„ist die Struktur der Wirtschaft im allgemeinen doch sowohl für das Maß wie für die Art der politischen Expansion sehr stark mitbestimmend“. So stünden sich zwei Formen des Kapitalismus gegenüber: die privatwirtschaftlichen, „pazifistisch gerichteten kapitalistischen Interessen“, die vornehmlich auf Exporte setzen, und ein gemeinwirtschaftlicher „imperialistischer Kapitalismus“, der als „Beutekapitalismus … zu allen Zeiten die weitaus größten Gewinnchancen geboten“ habe.121 Mit anderen Worten: Die überseeische Expansion ist (auch) eine Frage der Rentabilität – oder in betriebswirtschaftliche Phraseologie überführt: eine Frage des return on investment. Außerdem scheint es auch fraglich zu sein, inwiefern Webers Imperialismus- und/oder Machtprestige-Theorie tatsächlich dazu geeignet sind, den Fokus von den Akteuren des Zentrums hin zum Interaktionsrahmen Zentrum-Peripherie zu lenken. Die von Weber identifizierten (politischen) Expansionsfaktoren richten den analytischen Fokus allesamt auf das Zentrum: Großmachtkonkurrenz kann sich per definitionem nur im Zentrum des internationalen Systems abspielen. Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten (mit ihren politischen Folgen), welche aus Sicht Webers aus einer Ablehnung einer imperialistischen Politik zwangsläufig resultieren müssten122, träfen ebenfalls nur auf die entwickelten Staaten (also erneut das Zentrum) zu. Auch die sozialen Träger des Machtprestiges, seien sie ökonomisch oder politisch-sozialpsychologisch motiviert, sind ein immanenter Teil des Zentrums. Zusammenfassend wird man also feststellen können, dass Münkler Webers Überlegungen im Rahmen seiner Imperientheorie stark verkürzt dargestellt hat. Aber auch Münklers Vorstellung von Weber als einem scharfsinnigen Analytiker, als vernunftethischer Antipode zu den gesinnungsethisch argumentierenden Intellektuellen geisteswissenschaftlicher Provenienz, ist wohl zutreffend, präsupponiert jedoch bereits das Wissen um die graduelle Entwicklung der Haltung Webers zum Krieg. Bei Webers späterer Einstellung zum Krieg, merkt der deutsche Politikwissenschaftler Manfred Schmidt an, „war allerdings auch Selbstkritik mit im Spiel, so ist der Gerechtigkeit halber hinzuzufügen. Denn noch bis 1916 tat sich Max Weber als ein wortreicher Befürworter der Kriegführung Deutschlands hervor, in der es um die ‚Pflicht‘ ... und die ‚Ehre‘ ... des Machtstaates gegangen sei.“123 Es lässt sich also feststellen, dass Münkler Webers 121 Weber 1972, S. 523 u. 525. 122 Für Weber (2006, S. 1010) wären auch „staatssozialistische Verbände“ gezwungen, „diejenigen unentbehrlichen Güter … so billig wie möglich … zu erwerben … und keinerlei Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß, wo Gewalt am leichtesten zu günstigen Tauschbedingungen führen würde, sie nicht angewendet würde“. 123 Manfred G. Schmidt, Demokratietheorie. Eine Einführung, Wiesbaden 2010, S. 168. Es wurde auf Schmidt verwiesen, weil dieser an der zitierten Stelle ausführlich auf weitergehende Literatur verweist.

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Theorie als intellektuelles Kreativitätsreservoir betrachtet und die Person Max Webers als analytisch-theoretischen Stichwortgeber. Im Gegensatz hierzu ist Raymond Arons Rezeption sowohl der Person als auch der Theorie Max Webers wesentlich umfassender. Zum einen hat Aron Weber mehrere eigenständige Untersuchungen gewidmet, welche das Schaffen des Soziologen in Breite rezipieren. Zum anderen kann man Weber gewiss auch als einen intellektuellen Wegbegleiter Arons begreifen, dessen Denken und Theorie ihn tiefgreifend und nachhaltig geprägt haben.124 Für ihn ist Weber ein „Mensch unserer Zeit“ – im Positiven wie im Negativen. Eindeutig auf der Haben-Seite werden Webers Soziologie und Methodologie sowie seine sozialwissenschaftliche Analysekompetenz verbucht, während der Machttheoretiker und politische Analytiker der Soll-Seite zugeordnet wird. Auch wenn teilweise der gegenteilige Eindruck entstanden sein mag, so wird man bei einer Gesamtwürdigung Webers durch Aron ein positives Ergebnis konstatieren dürfen.125 Man kann dennoch auch Arons Wahrnehmung Webers als „einem Mensch[en] unserer Zeit“ der späteren Vorstellung Münklers gegenüberstellen, der Weber vornehmlich als einen Klassiker des politischen Denkens und damit als eine (nun bereits) historisierte Figur betrachtet. Auch wird man, in Abgrenzung zu Münkler, bei Aron aufgrund mehrerer Faktoren von einem durchaus subjektiveren Verhältnis zu Weber ausgehen dürfen. So beschreibt er an einer Stelle, dass ihn der „beispielhafte intellektuelle Mut und die Bescheidenheit, die aus seinem [Webers, M.R.] Werk sprachen, stark berührt“ hätten.126 Diese stärkere Personenbezogenheit mag einerseits in der geringeren lebenszeitlichen Ferne zwischen Aron und Weber begründet liegen, andererseits aber auch der eingangs erwähnten intensiveren Rezeption Webers geschuldet sein. Die grundlegende Unterscheidung zwischen den Rezeptionen beider ist Arons Wahrnehmung Webers als verhinderter Politiker. Dabei ist vor allem die gänzlich anders geartete Perzeption von Thukydides, Machiavelli und Max Weber als Teil der „Familie der Soziologen, die … an der Politik gescheitert sind“, durchaus von Interesse: Hier wird – im Gegensatz zu Münkler – nicht die durch aktives politisches Engagement geprägte realistische, d.h. auf „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“ hin gedachte127, Politikauffassung 124 125 126 127

Dies betont Aron u.a. selbst – so z.B. Aron 1964, S. 113; Aron 1972, S. 176 f. Aron 1972, S. 236 f. Aron 1964, S. 113. Bekanntlich sind diese „drei Qualitäten vornehmlich entscheidend … für den Politiker“, wie Weber in Politik als Beruf anmerkte. Wobei Leidenschaft als „leidenschaftliche Hingabe an eine ‚Sache‘“ verstanden und nicht mit der „Romantik des intellektuell Interessanten“ verwechselt werden dürfe; Max Weber, Politik als Beruf (1919), Berlin 2010, S. 49 f.

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in den Mittelpunkt gestellt, sondern im Gegenteil das Scheitern in und an der Politik sowie die, wie man annehmen kann, damit verbundene Ernüchterung als verbindendes Element verstanden. Grundsätzlich sollte hinsichtlich Arons massiv vorgetragenen Zweifeln an Webers Haltung als genuinem Demokrat angemerkt werden, dass in der Weber-Forschung keineswegs ein Konsens hinsichtlich der Frage besteht, ob „Max Weber ein überzeugter Anhänger der Demokratie war“. Einige prominente Forscher, wie etwa Iring Fetscher und Wolfgang J. Mommsen, teilen mit gewissen Abstrichen diese Auffassung, während andere, wie der Marxist Georg Lukacs, dies unter Verweis auf „Webers Fixierung auf das Führertum“ verneinen.128 Vielleicht kann man Arons Kritik, welche eine gerade Linie von Webers Machtdenken zu seinem supponierten instrumentell-utilitaristischen Demokratieverständnis annimmt, auch als Ausdruck eines zwischen Liberalen und Konservativen ausgetragenen innerfranzösischen Sinnkampfes deuten: Wenn man der Interpretation des französischen Historikers René Rémond folgt, welche dieser in Les Droites en France vorschlägt129, ließe sich Arons Kritik an Weber als die Kritik eines Vertreters des Orléanismus, also des liberal-bürgerlichen Spektrums, an einem theoretischen Proponenten des Bonapartismus130 – also der „plebiszitären Führerdiktatur“ – verstehen131, um einen Ausdruck Manfred Schmidts aufzunehmen. Dies sollte nicht als eine vordergründige Ideologiekritik 128 Schmidt 2010, S. 172. 129 Rémond identifiziert in der französischen Rechten drei Hauptströmungen, welche sich primär aus ihrem Verhältnis zur Französischen Revolution verstehen lassen: Die Legitimisten, welche die Revolution ablehnen und im 19. Jh. eine Restauration der gesellschaftlichen Strukturen des Ancien Régime anstrebten. Die beiden anderen Strömungen, der Orléanismus und Bonapartismus, erkennen die Werte der Revolution an. Die Orléanisten sind jene bürgerlich-liberalen Kräfte, welche im 19. Jh. für eine parlamentarische Regierungsform eintraten, aber das allgemeine Wahlrecht ablehnten. Im 20. Jh. umfasste der Orléanismus die liberalen, zentristischen und christdemokratischen Parteien (insbesondere die Union pour la Démocratie Française). Im Gegensatz hierzu setzen die Bonapartisten auf einen direktdemokratisch legitimierten, charismatischen Führer bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber Parteien und dem Parlamentarismus. Trotz der konservativen Grundhaltung steht der Bonapartismus der ökonomischen, technischen und bedingt auch der sozialen Modernisierung positiv gegenüber. Im 19. Jh. wurde der Bonapartismus durch den Napoleonismus und Boulangismus verkörpert, im 20. Jh. vor allem durch den Gaullismus; René Rémond, Les Droites en France, Paris 1992, S. 79–165. 130 Aron weist an mehreren Stellen auf die Verbindung zwischen Webers Demokratievorstellungen und der institutionellen Ausgestaltung der V. Republik hin (Aron 1964, S. 102; Aron 1979, S. 234). 131 Siehe hierzu insbesondere Schmidt 2010, S. 176–180.

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von Arons Position verstanden werden, kann aber vielleicht helfen, seine doch sehr massive Kritik aus dem Zeitgeschehen heraus begreiflich zu machen, da diese Interpretation in der gesichteten Literatur bisher, soweit ersichtlich, nicht reflektiert wurde. Aus den beiden Arten der Rezeption Webers lassen sich vier Kategorien deduzieren und gegeneinander kontrastieren: der Grad der Historisierung Webers, die Intensität der Rezeption, die Methodologie Webers sowie die Perzeption hinsichtlich Webers Rolle als politischer Analytiker. Der Grad der Historisierung ist bei Münkler als sehr hoch einzuschätzen – für ihn ist Weber ein Klassiker, dessen positiven Seiten hervorgehoben werden, wohingegen Aron in Weber einen intellektuellen Wegbegleiter und „Menschen unserer Zeit“ erkennt. Bei der Intensität der Rezeption sind ebenfalls die recht großen Unterschiede auffällig: Münklers Rezeptionsstil ist partiell, Weber wird vornehmlich in der Rolle eines Ideen- und Stichwortgebers – mithin also als Teil des ideengeschichtlichen „Kreativitätsreservoirs“ – betrachtet und in den Dienst der theoretischen Absicherung und Bearbeitung von politischen Problemen bzw. Konflikten gestellt. Aron hingegen rezipiert Weber keineswegs selektiv, sondern setzt sich mit allen Facetten von Webers Œuvre auseinander – was u.a. bei der Erklärung von Webers Machtdenken aus seiner Weltanschauung (fünf Dimensionen des Machtdenkens) deutlich wird. Hinsichtlich der Methodologie wird man – im Gegensatz zu den anderen Kategorien – übereinstimmend eine positive Haltung zu Weber konstatieren können. Beide heben die umfassenden Geschichtskenntnisse Webers hervor und versuchen ebenfalls – in direkter Anknüpfung an Weber – die Geschichte als (Test-)Feld ihrer Theorien fruchtbar zu machen. Freilich kann man die Skepsis bezüglich einer undifferenzierten Adaption naturwissenschaftlicher Methoden in die Sozialwissenschaften, welche sowohl von Aron als auch von Münkler geteilt wird, als ein Nachhallen des Methodenstreites der deutschen Sozialwissenschaften um die Jahrhundertwende deuten, wobei Münkler und Aron die Position Webers teilen: Eine undifferenzierte Übernahme naturwissenschaftlicher Methodik wird dem Wesen der Sozialwissenschaft als einem Wissenschaftszweig sui generis nicht gerecht.132 Der größte Unterschied ist wohl in der Bewertung von Webers Rolle als politischer Analytiker festzustellen: Während Münkler, insbesondere im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, vor allem die Umsicht und den Scharfsinn von Webers politischen Ratschlägen und Beobachtungen betont, sieht Aron in 132 Für einen Überblick sowie die Einordnung Webers in diese Debatte siehe: Kruse 2011, S. 31 ff.; hinsichtlich der Skepsis Münklers sei noch auf die Frage des Verhältnisses qualitativer und quantitativer Ansätze in der Kriegs(ursachen)forschung verwiesen: Herfried Münkler, Krieg, in: Erwägen – Wissen – Ethik 19 (2008), S. 130–144.

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Weber vor allem einen Machtstaatsdenker, der sich, wenn auch nicht gänzlich, so dennoch in weiten Teilen einem – inopportun und teilweise obsolet gewordenen – Nationalismus verschrieb und somit seine eigenen politischen Werte (den Liberalismus) hintergangen hat. Die Machtverständnisse von Münkler und Aron weisen, trotz vieler Gemeinsamkeiten, einige bedeutende Differenzen auf. Münklers Verständnis von Macht liegt ein umfassender/offener Begriff zugrunde: Für ihn ist Macht in den internationalen Beziehungen keineswegs auf militärische oder wirtschaftliche Zwangsmacht beschränkt, sondern beinhaltet auch die Fähigkeit der Überzeugung, also des positiven Einwirkens auf andere Akteure. Ein zentrales Spezifikum des Münklerschen Machtbegriffes ist die starke Betonung der Faktoren Zeit und Effizienz. Für Münkler sind die „soft power“-Machtsorten, also politische und kulturell-ideologische Macht, langfristig betrachtet besonders kosteneffizient bzw. ressourcenschonend und haben unter den sozioökonomischen und politischen Bedingungen der Moderne einen höheren Effektivitätsgrad als militärische Zwangsmacht. Sie zeichnen sich also durch besondere Nachhaltigkeit aus. Grundsätzlich verwendet Münkler eine stark ausdifferenzierte Idee von Webers eigenem Machtbegriff. Für Münkler kann letztlich alles, was geeignet ist, gegenüber anderen Akteuren den eigenen „Willen … durchzusetzen oder doch zumindest zur Geltung zu bringen“, zu einer Machtressource werden. Dies trifft selbst auf den Faktor Moral zu, der ebenfalls eine Form der Machtausübung, mithin also des Politischen, werden kann.133 Man kann dies zweifelsohne als eine Fortführung der religionssoziologischen Überlegungen Machiavellis begreifen, der gleichfalls religiöse Überzeugungen in den Dienst der Politik (und Herrschaftsstabilisierung) gestellt hat.134 Im Gegensatz hierzu ist Arons Machtbegriff bereits konzeptionell eingeschränkt, da Macht allein die Fähigkeit ist, „den anderen Einheiten ihren Willen aufzuzwingen“. Folglich sind auch Arons Elemente der Macht auf die Organisation und den Unterhalt eines militärischen Repressionsapparates zugeschnitten. Interessanterweise kann man aber auch eine Komponente in Arons Analyse der Macht ausfindig machen, welche so nicht bei Münkler angelegt ist. Arons Vorstellung der „kollektiven Aktionsfähigkeit“ nimmt einen Gedanken auf, den Münkler, zumindest in seiner Machttheorie, in dieser Form nicht deutlich zum Ausdruck bringt: nämlich dass auch die innere (politische) Verfasstheit eines 133 „Die Logik des Imperiums weiß moralische Glaubwürdigkeit sehr wohl als Machtfaktor einzusetzen, aber sie würde sich nie selber an ihr messen lassen“ (Münkler 2005, S. 34). 134 Hierzu sind entscheidende Überlegungen von Münkler selbst vorgebracht worden: Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt 1984, S. 276–289.

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Staates, quasi die soziopolitische Ebene, eine eigenständige Machtressource sein kann. Dies ist insofern ein wenig überraschend, als die Thematik der inneren Verfasstheit von sozialen Gebilden und der sich aus dieser ergebenden Machtentfaltungs-Potenziale zumindest Überschneidungen mit anderen Forschungsinteressen Münklers, insbesondere hinsichtlich der Theorie und Ideengeschichte des Republikanismus, erkennen lässt. Letztlich wird man konstatieren müssen, dass Münklers Vorstellung der politischen Macht, die weitgehend identisch ist mit Arons homo diplomaticus, im Gegensatz zu seinem sehr ausdifferenzierten Konzept der kulturell-ideologischen (aber auch ökonomischen) Macht theoretisch vergleichsweise unterentwickelt ist. Arons Machtbegriff, so kann man zusammenfassend feststellen, ist letztlich rein auf das internationale System zugeschnitten und eine Folge der von ihm so angelegten strikten Trennung des Machtbegriffes in die zwei Sphären Außen- und Innenpolitik – was man gewiss auch als eine Folge seiner bewussten Abgrenzung von Webers Machtstaatsdenken interpretieren kann. Bei einer kontrastierenden Betrachtung wird auffällig, dass aus der Perspektive Münklers ein Zusammenfallen von Macht und Ethik, also die Instrumentalisierung der Moral durch die Politik, jederzeit möglich ist. Bei Aron hingegen gibt es eine im Vergleich zu Münkler und Weber weit stärkere Trennung der Sphären Moral/ Ethik und Politik. Auch wenn natürlich – wie die Unterscheidung zwischen homogenen und heterogenen internationalen Systemen deutlich macht – Moral als Imperativ politischen Handelns und damit als eine Antriebsfeder der Machtausübung fungieren kann, ist sie letztlich eine eigenständige (oder zumindest eigenständigere) Sphäre des Sozialen. Pointiert formuliert: Auf dem Kontinuum Machiavelli-Kant ist Münkler näher bei Weber und damit bei Machiavelli als Aron zu verorten, was eine Folge von Münklers offenerem Machtbegriff ist. Schlussendlich sind die beiden divergierenden Machtbegriffe auch die Folge zweier unterschiedlicher Forschungsperspektiven und -interessen: Während Münkler einen akteurszentrierten Zugang wählt und seinen Machtbegriff an der Erklärung eines Phänomens schult (Funktionslogiken von Imperien), entwickelt Aron seinen Machtbegriff für seine Theorie der internationalen Beziehungen. Dieser Unterschied mag der Differenz zwischen Soziologen und Politologen geschuldet sein, offenbart aber eine interessante Parallele zur Art der Weber-Rezeption: einerseits der die Totalität der internationalen Beziehungen erfassen wollende Aron, andererseits der auf die Erklärung eines Spezialphänomens abzielende Münkler.

WOLFGANG SCHLUCHTER

Die Antinomien des Rationalismus und der Rationalisierung Max Webers Skizze einer Entwicklungsgeschichte des Okzidents*

Im Jahre 1917 veröffentlichte Max Weber sein Gutachten über eine „wertungsfreie Wissenschaft“, das er 1913 niedergeschrieben und im Januar 1914 im Verein für Socialpolitik zur Diskussion gestellt hatte. Er ergänzte den Text von 1913 und gab ihm den Titel „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“.1 Darin beschäftigt er sich sowohl mit universitäts- und wissenschaftspolitischen als auch mit logischen, methodischen und werttheoretischen Fragen. Vor allem auf diese kommt es ihm an. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch das Rationalitätsproblem, und zwar in seiner doppelten Bedeutung: als Voraussetzung dieser Wissenschaften und als einer ihrer Gegenstände. In diesem zweiten Zusammenhang heißt es: „Unser europäisch-amerikanisches Gesellschafts- und Wirtschaftsleben ist in einer spezifischen Art und in einem spezifischen Sinn ‚rationalisiert‘. Diese Rationalisierung zu erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden, ist daher eine der Hauptaufgaben unserer Disziplinen.“2 Es spricht wenig dafür, dass Max Weber bereits am Beginn seiner akademischen Karriere dem Rationalitätsproblem als Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit diese zentrale Bedeutung einräumte.3 Als Jurist und als * Die Texte Max Webers werden, soweit bereits erschienen, nach der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) zitiert, wobei MWG I Schriften und Reden, MWG II Briefe und MWG III Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften umfasst. Bei Texten, die noch nicht in der MWG erschienen sind, wird zusätzlich auf den vorgesehenen Ort in der Gesamtausgabe verwiesen. 1 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. Tübingen 1968, S. 489 ff. Die Fassung von 1913 findet sich in Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964, S. 102 ff. Beide zukünftig in MWG I/12. 2 Weber, Wissenschaftslehre, S. 525. 3 Gerhard Dilcher weist in seiner Einleitung zu Webers Dissertation über die Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter darauf hin, dass dieser hier schon Aspekte der Rationalisierung in entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung behandelt habe: 1. Die

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Ökonom wusste er zwar um das Rationalitätsproblem in diesen Disziplinen. Aber es stand für ihn zunächst nicht im Mittelpunkt. Die Konstruktion eines logisch geschlossenen Rechtssystems durch die Begriffsjurisprudenz oder die Konstruktion eines homo oeconomicus durch die reine ökonomische Theorie waren ihm zwar geläufig, doch verfolgte er andere Erkenntnisinteressen. Die historische Sicht herrschte vor. Noch in der schnell berühmt gewordenen Aufsatzfolge „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ aus den Jahren 1904 und 1905 betonte er mit Nachdruck, dass Rationalismus ein historischer Begriff sei. Er sei zudem ein Begriff, „der eine Welt von Gegensätzen in sich schließt“. Auch zeige die „Geschichte des Rationalismus keineswegs eine auf den einzelnen Lebensgebieten parallel fortschreitende Entwicklung“. So habe etwa die Rationalisierung des Privatrechts ihren ersten Höhepunkt in der römischen Spätantike, die einer diesseitigen rationalen Philosophie aber erst im 18. Jahrhundert. Von einer einheitlichen Gesamtentwicklung des Rationalismus könne also selbst für den Okzident keine Rede sein.4 Wir fragen deshalb zunächst: Wie kam es zu der zentralen Rolle der Rationalitätsproblematik im Werk Max Webers? Das erfordert eine werkgeschichtliche Betrachtung (1). Daran schließt sich die Frage an: Wie lässt sich die von Weber aufgeworfene Rationalitätsproblematik systematisieren? Das erfordert eine systematische Betrachtung (2). Schließlich behandeln wir die für Weber charakteristische Paradoxie der Rationalisierung (3) und wenden uns zum Schluss seiner Skizze der okzidentalen Sonderentwicklung und deren spezifisch geartetem Rationalismus zu (4).

1. Werkgeschichtliche Betrachtung Beginnen wir mit einer Äußerung aus dem Jahre 1908, einem Zeitpunkt, als Weber seine Protestantismusstudien mit der darin enthaltenen Überlegung zur Rationalitätsproblematik vorerst beiseitegelegt hatte.5 Andere Projekte traten seit 1906 in den Vordergrund.6 1908 feierte Gustav Schmoller, das Haupt der Rationalisierung im Sinne der Rechenhaftigkeit und 2. die historische Folge von (vorgegebener) Gemeinschaft und (gewillkürter) Gesellschaft. Er sagt aber zugleich, dass daraus erst später ein zentrales Paradigma wurde. Siehe MWG I/1, S. 60. 4 Alle Zitate in MWG I/9, S. 175–177. 5 Dazu ausführlich meine Einleitung ebd., S. 66 ff. 6 Weber führte seine methodologischen Erörterungen weiter, schrieb Chroniken über die bürgerliche Revolution in Russland und arbeitete seine frühen Studien über die Agrarverhältnisse im Altertum zu einem Text von Buchlänge aus. Schließlich begann er seine Studien über die Psychophysik der industriellen Arbeit.

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jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland, seinen 70. Geburtstag. Weber formulierte eine Glückwunschadresse, die folgende Passage enthält: „In einer Zeit des dürrsten ökonomischen Rationalismus haben Sie historischem Denken in unserer Wissenschaft eine Stätte bereitet, wie es sie in gleicher Weise und gleichem Maße bei keiner anderen Nation gefunden hatte und bis heute nicht hat. Das wissenschaftliche Bedürfnis der einzelnen Menschenalter pendelt auf dem Gebiete unserer Disziplin – wie Sie selbst oft genug markiert haben – zwischen theoretischer und historischer Erkenntnis hin und her. Gleichviel aber, ob es heute vielleicht an der Zeit ist, mehr die theoretische Seite zu pflegen – daß die Zeit für theoretische Arbeit wieder reif werden konnte, daß überhaupt ein mächtiger Bau voll Erkenntnis und historischer Durchdringung, psychologischer Analyse und philosophischer Gestaltung vor uns steht, den wir Jüngeren nun wieder versuchen dürfen, mit den Mitteln theoretischer Begriffsbildung weiter zu bearbeiten –, das alles danken wir schließlich vornehmlich Ihrer jahrzehntelangen, unvergleichlich erfolgreichen Arbeit.“7

Zwei Aussagen in dieser Passage sind hier von besonderem Interesse: Das Missfallen am „dürrsten ökonomischen Rationalismus“ und das neue Interesse an der Theorie in der Nationalökonomie. Die Rückkehr zur Theorie, wie Max Weber sie verstand, hatte er zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffé durch die Gründung des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik im Jahre 1904 eingeleitet.8 Mit dem programmatischen Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ hatte er für sich die logischen und methodischen Voraussetzungen einer theoretischen und historischen Kulturwissenschaft geklärt.9 Mit den Protestantismusstudien suchte er, auf dem Hintergrund dieser Einsichten, die Leistungsfähigkeit einer historischen Kulturwissenschaft zu demonstrieren. Sie lassen sich auch als eine Abwendung vom „dürrsten ökonomischen Rationalismus“ in der Nationalökonomie verstehen. Denn Weber sucht in diesen Studien unter anderem zu zeigen, dass der wirtschaftlich voll erzogene Mensch, wie er sich in seinen 7 Max Weber, in: Reden und Ansprachen gehalten am 24. Juli 1908 bei der Feier von Gustav Schmollers 70. Geburtstag. Nach stenographischer Aufnahme. Als Handschrift gedruckt, Altenburg 1908, S. 67 f. (MWG I/13, S. 108). 8 Dazu Geleitwort in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19,1 (1904), S. I– VII. Über die Autorschaft des Geleitworts Peter Ghosh, Max Weber, Werner Sombart and the Archiv für Sozialwissenschaft: the authorship of the ‚Geleitwort‘ (1904), in: History of European Ideas 30,1 (2010), S. 71 ff. 9 Weber, Wissenschaftslehre, S. 146 ff.

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Theorievorlesungen aus der Zeit vor der Jahrhundertwende ausdrückt10, keineswegs – wie manche ‚reine Theoretiker‘ meinten – als Faktum vorausgesetzt werden dürfe, sondern als das Resultat eines langen Erziehungsprozesses verstanden werden müsse, der unter anderem in religiösen Voraussetzungen wurzle. Das sei zwar ein Rationalisierungsprozess, aber von besonderer Art, nämlich die Umprägung des präkapitalistischen in den kapitalistischen Menschen, in den modernen Berufsmenschen, der seinen Beruf in innerweltlicher Askese praktiziert.11 Weber stimmt in dieser Phase seines Schaffens Werner Sombart zu, soweit dieser „als Grundmotiv der modernen Wirtschaft überhaupt den ‚ökonomischen Rationalismus‘ bezeichnet“.12 Die Rationalisierung auf dem Gebiet von Technik und Ökonomie habe „unzweifelhaft auch einen wichtigen Teil der ‚Lebensideale‘ der modernen bürgerlichen Gesellschaft“ geprägt. Weber fügt aber sofort relativierend hinzu, dies sei nur ein Charakteristikum der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Denn man könne „das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ‚rationalisieren‘“. Und es wäre gänzlich verfehlt, wollte man etwa im asketischen Protestantismus, dessen kulturhistorische Bedeutung Weber herausgestellt und der aus seiner Sicht den ökonomischen Rationalismus mit bewirkt hatte, nur eine „‘Vorfrucht’ rein rationalistischer Lebensanschauungen“ sehen.13 Weber verband mit seiner historischen Studie über den asketischen Protestantismus vor allem drei allgemeine Thesen: 1. Ideen können im Prozess ihrer Aneignung durch die Betroffenen ihre Wirkungsrichtung ändern; 2. Ideengeleitetes Handeln ist wie alles Handeln verstrickt in die Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen; 3. Rationalisierungsprozesse können sich nichtrationalen Bedingungen verdanken, die erfolgreich verlaufenden treiben häufig ihr Gegenteil hervor. Wer von Rationalisierung spreche, müsse immer die Gegenrichtung mit im Auge haben. Denn die Rechnung des Rationalismus gehe niemals voll auf. Wir kommen darauf zurück. Dies bedeutet nun freilich nicht, dass die Konstruktion eines streng rationalen Handelns durch die soziologischen und ökonomischen Wissenschaften ohne jeglichen Wert wäre. Man muss diesen Wert nur richtig verstehen. Wenn 10 Siehe MWG III/1, S. 122 f. 11 Über den präkapitalistischen Menschen und den Vergleich zwischen traditionalistischer und moderner Wirtschaftsgesinnung MWG I/9, S. 167 ff. 12 MWG I/9, S. 175. Weber spricht von „oft glücklichen und wirkungsvollen Ausführungen“ Sombarts. Bezug ist dessen zweibändiges Werk über den modernen Kapitalismus, dessen Bd. I , S. 391 ff., die Kapitelüberschrift „Die Ausbildung des ökonomischen Rationalismus“ enthält. 13 MWG I/9, S. 176.

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etwa die reine ökonomische Theorie mit dem homo oeconomicus, dem rein rational Handelnden, rechnet, verwendet sie eine idealtypische Konstruktion, trifft nicht eine empirische Feststellung. Diese bildet einen heuristischen Messpunkt, von dem das tatsächliche Handeln mehr oder weniger abweicht. Weber erläuterte diesen heuristischen Wert idealtypischer Konstruktionen in der Nationalökonomie auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910 in einem Diskussionsbeitrag sehr treffend: „Das wirtschaftliche Prinzip – was besagt es? Es formuliert seine Urteile folgendermaßen: Wenn jemand seine gesamten jetzigen und künftigen Bedürfnisse mit der Allwissenheit eines Gottes kennte und gegeneinander abzuwägen in der Lage wäre, auf der einen Seite, – und wenn er mit der Allwissenheit eines Gottes auch die vorhandenen Vorräte und die notwendigen Arbeitsaufwendungen zur Deckung dieser Bedürfnisse an Gütern – potentielle und aktuelle: die sich ihrerseits ja auch darnach richten, welche Bedürfnisse so und so viele andere Menschen haben, die auch diese Güter haben möchten – wenn er das alles wüßte, – wie würde er dann, unter dem Prinzip der Deckung möglichst vieler seiner Bedürfnisse mit den vorhandenen Mitteln verfahren? Meine Herren, Sie sehen, daß nie in der Realität, niemals in der Wirklichkeit, ein Mensch sich in der Lage befindet: das gibt es einfach nicht. Ein derartiger nicht nur absolut rein rational handelnder, sondern zugleich auch allwissender Mensch existiert nicht. Dennoch, meine Herren, ist uns dieses theoretisch fingierte Handeln, ein reines Gedankengebilde, heuristisch wertvoll zu einer Analyse des wirklichen Handelns. Denn es läßt sich erfahrungsgemäß zeigen, daß das wirkliche Handeln gewisse Annäherungstendenzen an ein solches rein rationales Handeln zeigt, und zwar Annäherungstendenzen ganz besonders in einer Zeit des ökonomischen Rationalismus, wie der unsrigen.“14

Diese Annäherungstendenzen, so kann man auf dem Hintergrund der Protestantismusstudien hinzufügen, muss der Historiker herausarbeiten, und dabei können ökonomische Faktoren nur eine Faktorengruppe unter mehreren sein. Wir können also sagen: Weber sucht zunächst den ‚dürrsten ökonomischen Rationalismus‘ vieler seinen Fachkollegen zu überwinden, indem er den Status ihrer Begriffe klärt (Rationalität als Voraussetzung) und ihre Annahme eines ökonomischen Rationalismus in historische Zusammenhänge einbettet (Rationalität als Gegenstand). Dabei behandelt er diesen ökonomischen Rationalismus, den er auch rationalen oder modernen Kapitalismus nennt, nach ‚Geist‘ und ‚Form‘. In den Protestantismusstudien ging es ihm zunächst um die historische 14 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 482 f.

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Herkunft des ‚Geistes‘, genauer: des Geistes des modernen Kapitalismus, die Untersuchung der historischen Herkunft der ‚Form‘, des kapitalistischen Systems, sollte folgen. Das freilich unterblieb. Es gibt viele Vermutungen darüber, weshalb Weber seine begonnene historische Analyse des modernen rationalen Kapitalismus nicht zügig weiterführte. Er selbst nennt pragmatische Gründe. Es gibt aber möglicherweise auch einen prinzipiellen Grund. Darauf weist Marianne Weber hin: In die Zeit um 1910/11 falle eine Entdeckung. Weber beginne, stimuliert durch die neue Beziehung zu der Pianistin Mina Tobler, sich mit den rationalen und sozialen Grundlagen der okzidentalen Musik zu beschäftigen. Und er werde dabei gewahr, dass selbst diese arationale Wertsphäre von Rationalisierung durchdrungen sei. Dies habe ihn, so kann man folgern, dazu geführt, Rationalität in einem sehr viel umfassenderen Sinne zu verstehen, als dies in den Protestantismusstudien noch der Fall war. Marianne Weber in ihrer Biographie: „Vor allem die abendländische Kultur wird in all‘ ihren Formen entscheidend bestimmt durch eine zuerst im Griechentum entwickelte methodische Denkart, der sich im Zeitalter der Reformation auch eine an bestimmten Zwecken orientierte methodische Lebensführung zugesellt: Diese Vereinigung von theoretischem und praktischem Rationalismus scheidet die moderne Kultur von der antiken, und die Eigenart beider scheidet die moderne abendländische von der asiatischen Kultur.“ Und dann der entscheidende Satz: „Für Weber bedeutet diese Erkenntnis der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus und der ihm zufallenden Rolle für die abendländische Kultur eine seiner wichtigsten Entdeckungen“15, eine Entdeckung, so fügen wir hinzu, welche die Rationalitätsproblematik gegenüber der Zeit davor erweitert (statt des ökonomischen jetzt der okzidentale Rationalismus) und ins Zentrum der kulturvergleichenden Betrachtung rückt (statt des modernen Rationalismus im okzidentalen Kulturkreis jetzt der Rationalismus in allen Kulturkreisen). Nun ließe sich freilich einwenden, hier handle es sich um eine Deutung von außen und post festum. Mit Webers tatsächlicher Entwicklung habe dies wenig zu tun.16 Doch dies wäre ein Irrtum. Tatsächlich schiebt sich bei Weber 15 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 348 f. 16 Peter Ghosh etwa ist der Meinung, eine solche Entwicklung habe nicht stattgefunden, denn streng genommen seien die entscheidenden Themen und Einsichten bereits in den Protestantismusstudien von 1904/05 enthalten. Er formuliert: „Die Protestantische Ethik ist entschieden nicht nur eine historische Abhandlung, die eine begrenzte These entfaltet. Sie ist vielmehr eine Summa, ein Ausdruck von Webers Ansichten zu praktisch allen Themen, die ihn interessierten.“ Siehe Peter Ghosh, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904–05; 1920), in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.) Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014,

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in der Zeit von 1910 bis 1914 die Rationalitätsproblematik als Gegenstand der Untersuchung in den Vordergrund. Dies kann man unter anderem an Texten zeigen, die überwiegend in diese Zeit fallen und deren Entstehungsgeschichte wir relativ genau kennen. Es handelt sich um die im Nachlass überlieferten Texte über das Recht.17 Max Weber entschied sich 1908, dem Drängen des Verlegers Paul Siebeck nachzugeben und die Organisation und Redaktion des neu zu gestaltenden Schönbergschen Handbuchs der politischen Ökonomie zu übernehmen.18 Dafür sah er auch einen Beitrag mit dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ aus seiner Feder vor. Er wollte unter diesem Titel ursprünglich drei Themenbereiche behandeln. Den ersten widmete er dem Verhältnis von Wirtschaft und Recht. Weber wollte, im Gegenzug zu Rudolf Stammler19, erst das prinzipielle Verhältnis von Wirtschaft und Recht, dann die „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“ behandeln.20 Der entscheidende Gesichtspunkt dabei: Die formale Rationalisierung des modernen westlichen Rechts. Weber brachte die beiden Manuskripte zum Recht, wie alle übrigen Manuskripte für die Vorkriegsfassung von Wirtschaft und Gesellschaft, nicht bis zur Publikationsreife. Er arbeitete daran in mehreren Phasen, wobei er veränderte, vor allem aber erweiterte. Da in diesem Fall die Originale überliefert sind, lassen sich daran begriffliche und thematische Verschiebungen im Zeitverlauf studieren. Es ist kein Zweifel: Je weiter die Arbeit an diesen Manuskripten fortschreitet, desto stärker wird die Rationalitätsproblematik betont.21 Auch im Vorwort zum Handbuch der politischen Ökonomie aus dem Jahre 1914, das man inzwischen in Grundriß der Sozialökonomik umbenannt hatte, findet sich die Rationalitätsproblematik an zentraler Stelle: „Es wurde von der Anschauung ausgegangen, daß die Entfaltung der Wirtschaft vor allem als eine besondere Teilerscheinung der allgemeinen Rationalisierung des Lebens begriffen werden müsse“22, so wird jetzt die Tendenz dieses Kollektivunternehmens von Weber formuliert.

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S. 245 ff., Zitat S. 255. Jetzt auch sein großes Buch Max Weber and the Protestant Ethic. Twin Histories, Oxford 2014. Texte in MWG I/22–3. MWG I/24. Die Kritik an Rudolf Stammler beginnt 1907 und setzt sich bis 1920 fort. Dazu Weber, Wissenschaftslehre, S. 291 ff. (in Zukunft: MWG I/7) und MWG I/23, Kap. I, bes. S. 186 ff. MWG I/24, S. 145 f. Dazu auch die Einleitung von Werner Gephart in: MWG I/22–3, bes. S. 61 ff. MWG I/24, S. 164.

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Weber sucht dabei die Rationalitätsproblematik nicht nur in den verschiedenen Lebensbereichen auf – Wirtschaft, Recht, Staat, Religion, Wissenschaft, Kunst –, sondern auch in den verschiedenen Kulturkreisen, insbesondere, wie Marianne Webers Zeugnis belegt, auch außerhalb des Okzidents, in Asien. Weber entwirft zusammen mit der Arbeit an seinem Hauptbeitrag für den Grundriß Skizzen zur Wirtschaftsethik der Kulturreligionen, die er gleichzeitig mit diesem Beitrag veröffentlichen will.23 Dieser Plan verwirklicht sich nicht, denn mit Ausbruch des Krieges lässt Weber seine Manuskripte liegen. Er dient etwa ein Jahr in der Heidelberger Lazarettverwaltung. Als er wieder mit wissenschaftlicher Arbeit beginnt, fördert er zunächst nur die Skizzen, nicht den Hauptbeitrag zum Grundriß. Aber an dem Doppelprojekt hält er fest. Es läuft auf eine Neufassung von Wirtschaft und Gesellschaft und eine auf vier Bände geplante Sammlung religionssoziologischer Aufsätze hinaus. Bei seinem Tod ist es unvollendet. In beiden Projekten steht die Rationalitätsproblematik im Vordergrund. Sie wird in zwei Hinsichten entfaltet: auf die verschiedenen Wertsphären einerseits, auf die verschiedenen Kulturkreise andererseits.24 Mitte September 1919 schreibt Weber seine „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. Sie dient dazu, die überarbeiteten, aber immer noch nicht fortgesetzten Studien über den asketischen Protestantismus mit den Studien über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen zusammenzubinden. Hier kommt das umfassende Verständnis der Rationalitätsproblematik zum Ausdruck. Weber spricht von „einem spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“, spezifisch deshalb, weil es Rationalisierungen „auf den verschiedensten Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben“ habe. Und er fügt hinzu: „Charakteristisch für deren kulturgeschichtlichen Unterschied ist erst: welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden“25 – und nicht zu vergessen: wer der Träger der jeweiligen Rationalisierung war. Der Okzident besitzt also, das ist Webers Meinung, kein Monopol auf Rationalismus und Rationalisierung. Er schuf vielmehr eine kulturhistorische Ausprägung der Rationalität unter mehreren möglichen. Deshalb nimmt sich Weber vor, „die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklären“.26 Die Grundbegriffe, die man dafür benötigt, werden in der Neufassung der theoretischen Teile der Gesammelten Aufsätze, 23 Ebd., S. 164 f. und MWG I/19, S. 83 f./Fn. 1. 24 Dazu meine Einleitung in MWG I/23 und mein Buch Max Webers späte Soziologie, Tübingen 2016. 25 MWG I/18, S. 116. 26 Ebd.

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also vor allem in der „Einleitung“ und in der „Zwischenbetrachtung“, sowie in der Neufassung von Wirtschaft und Gesellschaft präsentiert.27

2. Systematische Betrachtung Dass die Rationalitätsproblematik zumindest für Max Webers ‚späte Soziologie‘ zentral ist, wurde in der Sekundärliteratur oft hervorgehoben. Die Beiträge dazu reichen bis in die jüngste Zeit.28 Dabei fiel immer wieder auf, dass Weber die Begriffe Rationalismus und Rationalisierung in der letzten Phase seines Schaffens in geradezu inflationärer Weise verwendet. Hier scheint eine erstaunliche Diskrepanz zu bestehen zwischen der Bedeutung, die dem Thema in seiner ‚späten Soziologie‘ zukommt, und der Arbeit am Begriff. So stellte man fest, Weber verwende die Begriffe Rationalismus und Rationalisierung in seinem Werk in nicht weniger als in 16 verschiedenen Bedeutungen.29 Bliebe es bei solcher Bedeutungsvielfalt ohne systematische Begründung, so wäre dies in der Tat ein erheblicher Mangel. Bevor wir uns diesem möglichen Mangel zuwenden, ist eine grundsätzliche Überlegung vorauszuschicken. Die Rationalitätsproblematik ist bei Weber von der Vernunftproblematik gelöst.30 Er argumentiert historisch-empirisch, nicht philosophisch oder gar metaphysisch. In seiner Rationalitätstheorie bleiben die philosophischen und metaphysischen Fragen dahingestellt. 1913, in jener Phase also, in der wir die Ausweitung der Rationalitätsproblematik verorten, illustriert Weber im Kategorienaufsatz sein Verständnis von Rationalität31, indem er 27 MWG I/19 und MWG I/23. 28 So vor allem im Ausland. Vgl. etwa Eduardo Weisz, Racionalidad y tragedia. La filosofia histórica de Max Weber, Buenos Aires 2011, und Carlos Eduardo Sell, Max Weber e a racionalizacao da vida, Petrópolis 2013. 29 Hierzu u. a. Roger Brubaker, The Limits of Rationality. An Essay on the Social and Moral Thought of Max Weber, London 1984. Er konstatiert: „Yet while Weber acknowledges, even emphasizes the many-sidedness of the idea of rationality, he frequently uses the term ‚rational’ without qualification and explanation. This practice places great demands on the reader, who may well become confused by Weber’s apparently casual and unsystematic usage.” Dann folgen die 16 verschiedenen Bedeutungen. Er selbst macht einen interessanten Versuch der Klärung, der immer noch lesenswert ist. 30 Dazu Rationalität. Philosophische Beiträge, Hg. Herbert Schnädelbach, Frankfurt 1984, bes. seine Einleitung. 31 Der Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ war von Weber ursprünglich als eine Einleitung in „Wirtschaft und Gesellschaft“ gedacht, wurde von ihm aber dann separat veröffentlicht. Er steht gewissermaßen am Beginn der Ausweitung

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den ‚Zivilisierten‘ dem ‚Wilden‘ gegenüberstellt. Was dem ‚Zivilisierten‘ die rationale Note gebe, sei zweierlei: „1. Der generell eingelebte Glaube daran, daß die Bedingungen seines Alltagslebens, heißen sie nun: Trambahn oder Lift oder Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin, prinzipiell rationalen Wesens, d. h. der rationalen Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte seien, … 2. die Zuversicht darauf, daß sie rational, d. h. nach bekannten Regeln und nicht, wie die Gewalten, welche der Wilde durch seinen Zauber beeinflussen will, irrational funktionieren, daß man, im Prinzip wenigstens, mit ihnen ‚rechnen‘, ihr Verhalten ‚kalkulieren‘, sein eigenes Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren könne.“32

Das sei der subjektiv gemeinte Sinn, den der ‚Zivilisierte‘ für sich konstruiere. Aber auch der ‚Wilde‘ konstruiere seinen subjektiv gemeinten Sinn. Dieser führe, so kann man mit Webers Überlegung aus den „Religiösen Gemeinschaften“ hinzufügen, zu einem „mindestens relativ rationalen Handeln: wenn auch nicht notwendig ein Handeln nach Mitteln und Zwecken, so doch nach Erfahrungsregeln.“33 Auch das ‚magische Weltbild‘ besitze also seine spezifischen Erfahrungsregeln und eine damit verbundene spezifische Rationalität. Zwischen diesem und dem Weltbild des ‚Zivilisierten‘ liegt der Prozess, den Weber als die Entzauberung der Welt bezeichnet, die Ersetzung der Magie durch Wissenschaft. Dabei ist der Kategorienaufsatz von 1913 ein Text, in dem Weber seine Grundbegriffe noch aus der Gegenüberstellung von Gesellschaftshandeln und Einverständnishandeln aufbaut und die „Rationalisierung der Ordnungen einer Gemeinschaft“ sowie den allmählichen „‘Ersatz‘ von Einverständnishandeln durch Vergesellschaftung“ in der geschichtlichen Entwicklung herausarbeitet.34 Hier steht also die Rationalitätsproblematik tatsächlich im Zentrum. Die hierfür verwendete Begrifflichkeit, nicht aber die konstatierte Entwicklungstendenz, gibt er später auf.35 Überblickt man das Werk ab 1910, so springen im Zusammenhang mit der Rationalitätsproblematik drei Begriffspaare ins Auge: zweckrational/wertrati-

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der Rationalitätsproblematik. Dazu Weber, Wissenschaftslehre, S. 427 ff. (in Zukunft: MWG I/12). Ebd., S. 473 f. Ähnlich formuliert Weber auch in dem Vortrag Wissenschaft als Beruf, unter dem Stichwort intellektualistische Rationalisierung und mit Bezug auf die Entzauberungsthese. Siehe MWG I/17, S. 86 f. MWG I/22–2, S. 121. Weber, Wissenschaftslehre, S. 471. Zur Differenz zwischen Kategorienaufsatz und den „Soziologischen Grundbegriffen“ MWG I/23, S. 36 ff.

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onal, formal-rational/material-rational sowie theoretisch-rational/praktisch-rational. Interessanterweise tauchen diese drei Begriffspaare nicht zusammen in einem Text auf, sondern sind auf Werkteile verteilt, und sie werden auch nicht gleichmäßig im Werk verwendet: zweckrational/wertrational definiert Weber hauptsächlich in den „Soziologischen Grundbegriffen“, die den Kategorienaufsatz von 1913 ablösen und das Kapitel I der Neufassung von Wirtschaft und Gesellschaft bilden; formal-rational/material-rational findet sich in den nachgelassenen Texten über das Recht, in Kapitel II und III der Neufassung von Wirtschaft und Gesellschaft, nicht aber in Kapitel I von Wirtschaft und Gesellschaft, was man erwartet hätte; theoretisch-rational/praktisch-rational schließlich taucht nicht in Wirtschaft und Gesellschaft auf, sondern in den Aufsätzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, insbesondere in der „Zwischenbetrachtung“. All dies spricht tatsächlich zunächst nicht dafür, dass Weber für die Untersuchung der Rationalität als Gegenstand ein kohärentes ‚Begriffssystem‘ entwickelt hätte. Doch bevor wir vorschnell Schlüsse ziehen, blicken wir auf die Definitionen, die wir zu diesen Begriffspaaren im Werk finden. Am klarsten ist zweifellos Webers Definition des Paares zweckrational/wertrational. Sie ist Teil der Definition verschiedener Handlungsorientierungen. Ausgangspunkt der Begriffsentwicklung ist die Frage, ob ein reaktives Sich-Verhalten oder ein sinnhaftes Sich-Verhalten, d. h. ein Handeln vorliegt. Ist es ein Handeln, so kann es gewohnheitsmäßig oder nicht gewohnheitsmäßig sein. Ist es nicht gewohnheitsmäßig, also keine bloße Routine, kann es spontan oder regelgeleitet erfolgen. Erfolgt es regelgeleitet, so kann es von Zweckmaximen oder von Wertmaximen geleitet sein. In diesen Fällen lässt sich das Handeln rationalisieren, so dass es im Rationalitätsfall zweck- bzw. wertrational ist. Dies führt Weber zu seinen bekannten Unterscheidungen zwischen gewohnheitsmäßigem, affektuellem (oder emotionalem), zweckrationalem und wertrationalem Handeln oder besser: Orientierung, von denen sich der Handelnde in seinem Handeln leiten lässt. Die beiden rationalisierungsfähigen Handlungsorientierungen aber werden wie folgt genauer erläutert: die zweckrationale Orientierung „durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von andren Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen‘ oder als ‚Mittel‘ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke“; die wertrationale Orientierung „durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“.36

36 MWG I/23, S. 175.

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Nicht ganz so eindeutig fällt die Definition von formal-rational/material-rational aus. Wie gesagt, kommt diese Unterscheidung hauptsächlich in der Rechts-, Wirtschafts- und Herrschaftssoziologie vor. In den „Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens“, also in Kapitel II der Neufassung von Wirtschaft und Gesellschaft, gibt Weber, bezogen auf das Wirtschaften, folgende Bestimmung: Als formale Rationalität eines Wirtschaftens bezeichnet er „das Maß der ihm technisch möglichen und von ihm wirklich angewendeten Rechnung“; als Grad der materialen Rationalität dagegen den Grad, „in welchem die jeweilige Versorgung von gegebenen Menschengruppen (gleichviel wie abgegrenzter Art) mit Gütern durch die Art eines wirtschaftlich orientierten sozialen Handelns sich gestaltet unter dem Gesichtspunkt bestimmter (wie immer gearteter) wertender Postulate, unter welchen sie betrachtet wurde, wird oder werden könnte“.37 Diese Definition gilt cum grano salis auch in Bezug auf Recht und Herrschaft. Immer geht es bei formaler Rationalität um ‚Rechnung‘, allgemeiner: um Berechenbarkeit eines Vorgangs, letztlich um geregelte Verfahren, bei materialer Rationalität aber um die Bewertung der dadurch erzielten Resultate, wobei sich diese Bewertung auch auf die eingesetzten Mittel oder gar auf die damit verbundene Gesinnung erstrecken kann. Mit der dritten Unterscheidung, zwischen theoretisch-rational und praktisch-rational, beschäftigt sich Weber vor allem in seinen religionssoziologischen Studien. Eine prägnante Stelle findet man in der „Zwischenbetrachtung“ von 1915, eine Stelle, die unverändert in die Fassung von 1920 übernommen ist. Weber sagt hier, „das Rationale im Sinne der logischen oder teleologischen ‚Konsequenz‘ einer intellektuell-theoretischen oder praktisch-ethischen Stellungnahme hat nun einmal (und hat von jeher) Gewalt über die Menschen, so begrenzt und labil diese Macht auch gegenüber andern Mächten des historischen Lebens war und ist“.38 Er denkt dabei vor allem an Weltbilder, an überindividuelle Sinnzusammenhänge, in die Handlungsorientierungen und soziale Beziehungen bis hin zu Ordnungen und Verbänden eingebettet sind. Der Soziologe, der historische Sachverhalte aufklären will, muss immer auch ‚Dogmatik des Sinns‘ betreiben, wenn er den in Gruppen von Menschen verbreiteten subjektiv gemeinten Sinn erschließen möchte. Dies bleibt ein empirisches Unterfangen und darf nicht mit dem normativen Unterfangen verwechselt werden, das in der Suche nach dem objektiv richtigen oder gar metaphysisch wahren Sinn besteht.39

37 Ebd., S. 251. 38 MWG I/19, S. 480. 39 Zur Unterscheidung der empirischen und der normativen Rekonstruktion des Sinns MWG I/23, S. 149, und zu Dogmatik des Sinns Weber, Wissenschaftslehre, S. 334.

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Wir finden also durchaus mehr oder weniger präzise Definitionen für die drei Begriffspaare. Doch wie hängen sie zusammen? Gibt es einen solchen Zusammenhang überhaupt? Man könnte etwa vermuten – und dies wurde in der Sekundärliteratur auch oft behauptet –, die ersten beiden Begriffspaare seien nur zwei Weisen, denselben Sachverhalt auszudrücken. Formal-rational sei ein anderer Ausdruck für zweckrational, material-rational für wertrational. Viele Formulierungen Webers scheinen diese Interpretation zu stützen. Ich gebe ein Beispiel aus der Erläuterung der oben zitierten Unterscheidung von formaler und materialer Rationalität in § 9 der „Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens“. Um den Begriff materiale Rationalität über das bereits Gesagte hinaus zu erläutern, führt Weber aus: „daß eben die Betrachtung sich mit der rein formalen (relativ) eindeutig feststellbaren Tatsache: daß zweckrational, mit technisch tunlichst adäquaten Mitteln, gerechnet wird, nicht begnügt, sondern ethische, politische, utilitarische, hedonische, ständische, egalitäre oder irgendwelche anderen Forderungen stellt und daran die Ergebnisse des – sei es formal noch so ‚rationalen‘, d.h. rechenhaften – Wirtschaftens wertrational oder material zweckrational bemißt.“40 Hier scheinen die beiden Begriffspaare tatsächlich austauschbar verwendet. Eine Differenz in der Sache besteht offenbar nicht. Ich bin aber nicht dieser Meinung. Um dies begründen zu können, muss man von der Interpretation zur Explikation übergehen. Explikation heißt, dass man der Problemstellung eines Autors folgt, nicht aber seiner Problemlösung. Will man in Webers Rationalitätsdebatte größere begriffliche Klarheit bringen, sollte man an den drei Begriffspaaren festhalten und sie in einen begründeten Zusammenhang bringen. Dafür ist eine Zwischenüberlegung erforderlich. Sie betrifft die Architektur der „Soziologischen Grundbegriffe“. Die Logik, die der Unterscheidung der verschiedenen Handlungsorientierungen zugrunde liegt, wurde bereits dargestellt. Doch Weber bleibt in den „Soziologischen Grundbegriffen“ nicht bei den Handlungsorientierungen stehen, er geht zu den sozialen Beziehungen, Ordnungen und Verbänden über, zu einer Vielzahl sozialer Gebilde, die alle auf der Koordination von Handlungsorientierungen beruhen. Es handelt sich, bezogen auf diese, um emergente Phänomene, um eine Realität sui generis, die eine eigene Wirkung entfaltet. Wichtig ist, dass man diese Realität sui generis nicht substantialisiert.41 Doch Koordinationen bilden gegenüber Orientierungen eine eigene Ebene, weshalb wir von einem

40 MWG I/23, S. 251. 41 Dies ist die entscheidende Differenz zu Durkheim und mit der Grund, weshalb Weber Kollektivbegriffe ablehnt und für eine individualistische Methode in der Soziologie plädiert.

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Mehr-Ebenen-Modell sprechen.42 Jede Ebene hat ihre spezifische Rationalität. Ich unterscheide deshalb die Rationalität der Handlungsorientierungen (zweckrational/wertrational) von der Rationalität der Handlungskoordinationen (formal-rational/material-rational). Beide sind in rationale Sinnzusammenhänge eingebettet, seien diese theoretisch-rational oder praktisch-rational (Abbildung 1): Abbildung 1: Analytik der Rationalität Art der Rationalität kognitiv Ebene der Analyse Sinnzusammenhang Koordination Orientierung

theoretisch-rational formal-rational zweckrational

evaluativ praktisch-rational material-rational wertrational

Wir haben damit ein begriffliches Instrumentarium gewonnen, um Webers Aussage aus der „Vorbemerkung“ genauer zu analysieren, Rationalisierung habe es „auf den verschiedensten Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben“.43 Wir trennen dabei die Aussage über die Lebensgebiete von der über die Kulturkreise, gehen also in zwei Schritten vor. Wir müssen uns zunächst Klarheit darüber verschaffen, was mit der Rationalisierung auf den verschiedenen Lebensgebieten gemeint sein könnte. Um welche Lebensgebiete handelt es sich, und worin besteht ihre jeweilige Affinität zu Fragen der Rationalität? Man muss zunächst feststellen, dass Weber den Gesellschaftsbegriff in ein Konzert von Wertsphären, Lebensordnungen und Lebensmächten auflöst. „Gesellschaft“ ist kein Grundbegriff seiner Soziologie.44 In der Zeit von 1910 bis 1914, in die die Erweiterung der Rationalitätsproblematik fällt, verändert er nicht zufällig den Titel seines Hauptbeitrags zum Grundriß der Sozialökonomik: Statt „Wirtschaft und Gesellschaft“ jetzt „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“, einen Titel, den man als die wirtschaftliche Ordnung und Macht in ihrem Verhältnis zu den übrigen 42 Dazu Wolfgang Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Bd. II, Tübingen 2009, S.  297 ff., 2. Aufl. Tübingen 2015 (beide Bände zusammengeführt), hier S. 619 ff., und ders., The Duality of Structure and Action: Outline for a Weberian Research Programme, in: Max Weber Studies 15,2 (2015), S. 192–213. 43 MWG I/18, S. 116. 44 Ich spreche deshalb von Ordnungskonfiguration.

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gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten lesen kann. Die Wirtschaft ist eine gesellschaftliche Ordnung unter mehreren, und es gehört zu den Aufgaben einer Soziologie, das Verhältnis dieser Ordnungen untereinander, die Obstruktionen, Begünstigungen oder Indifferenzen, die zwischen ihnen herrschen, in historischer Perspektive zu bestimmen. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, welche Typen politischer Herrschaft den rationalen Kapitalismus gefördert haben und welche nicht.45 Weber wollte 1914 einen Text über „Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen“ schreiben.46 Das ist nicht geschehen. Ein gewisser Ersatz aber findet sich in der „Zwischenbetrachtung“. Hier behandelt Weber die Spannungen, die zwischen einer religiösen Brüderlichkeitsethik, also der religiösen Wertsphäre und Lebensordnung, und den übrigen Wertsphären und Lebensordnungen bestehen. Dabei wird unterstellt, die jeweiligen Wertsphären und Lebensordnungen würden sich, bezogen auf ihren zentralen Wert, eigengesetzlich entwickeln und autonomisieren. Diese Annahme ist für die Differenzierung des Rationalitätsbegriffs zentral. Weber unterscheidet dabei die Sphären Religion, Wirtschaft, Politik, Kunst, Erotik und Wissenschaft. Eine systematische Begründung für diese Auswahl gibt er nicht. Anders als sein Freund Heinrich Rickert, der eine Philosophie der Wertsphären entwickelt, verhält sich Weber gegenüber einem solchen Systematisierungsversuch skeptisch.47 Dennoch folgt die „Zwischenbetrachtung“ einer gewissen Logik, wie die weiter unten mitgeteilte Rekonstruktion sichtbar zu machen sucht. Wir gehen dabei von den sechs in der „Zwischenbetrachtung“ genannten Wertsphären aus, ordnen ihnen jeweils einen zentralen Wert zu, fragen nach der jeweiligen Orientierung, der jeweiligen Koordination, dem jeweiligen Koordinationsniveau (Beziehung, Ordnung, Verband), behandeln die soziale Schichtung, die sie erzeugen, und blicken auf die ihnen immanente Entwicklungstendenz. Hier geht es um die Frage, ob in ihnen Rationalisierung möglich und, wenn ja, welcher Art sie ist (Abbildung 2).48

45 Dazu MWG I/23, Kap. III, wo diese Beziehung für die verschiedenen Herrschaftstypen diskutiert wird. 46 MWG I/24, S. 169. 47 Dazu Heinrich Rickert, Vom System der Werte, in: Logos 4,13 (1913), S. 295 ff. und Max Webers Reaktion in einem Brief an Rickert von Ende November 1913, in dem er sich kritisch mit dessen Konstruktion auseinandersetzt. Siehe MWG II/8, S. 408 ff. Er kündigt darüber hinaus an, er werde ihm seine „(empirische) Kasuistik der Contemplation und aktiven Religiosität schicken“, also die spätere „Zwischenbetrachtung“. 48 Nach Schluchter, Grundlegungen der Soziologie I, S. 311.

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Abbildung 2:

Folgt man dieser Rekonstruktion, so gibt es tatsächlich Rationalisierungen auf den verschiedenen Lebensgebieten von höchst verschiedener Art, wie Weber in der „Vorbemerkung“ betont. Wie aber steht es mit den Kulturkreisen, von denen gleichfalls die Rede ist? Wir müssen, um diese Frage beantworten zu können, etwas tiefer in die Religionssoziologie eindringen. Auch hierfür ist die „Zwischenbetrachtung“ wieder der Schlüssel. Denn hier findet sich die folgende bemerkenswerte Aussage: „Und schließlich und vor allem muß und will ein religionssoziologischer Versuch dieser Art [gemeint ist die vergleichende Untersuchung der Wirtschaftsethik der Weltreligionen, W. S.] nun einmal zugleich ein Beitrag zur Typologie und Soziologie des Rationalismus selbst sein.“49 In welchem Sinn kann eine vergleichende Religionssoziologie, die zudem auf die Wirtschaftsethik beschränkt ist, diesen Beitrag leisten? Hier ist das berühmte Weichenstellerzitat von Bedeutung, das Weber in die „Einleitung“ zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen 1920 eingefügt hat: „Interessen (materielle und ideelle) nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“50 Wir fragen deshalb danach, welche Weltbilder welche Weichen in welchen Kulturkreisen wie gestellt haben. Das 49 MWG I/19, S. 481. 50 Ebd., S. 101.

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begriffliche Instrumentarium dafür wird von Weber in der „Zwischenbetrachtung“ präsentiert. Ein religiöses Weltbild kann dazu auffordern, die Welt zu bejahen oder sie zu verneinen, und wenn zu verneinen, sich ihr zuzuwenden oder sich von ihr abzuwenden, und dies wiederum im Handeln oder in der Kontemplation. Je nachdem, ob in einem Weltbild der Gläubige als ein Werkzeug oder als ein Gefäß des Göttlichen verstanden wird, ist er aufgefordert, ein aktives Leben, eine vita activa, oder ein kontemplatives Leben, eine vita contemplativa, zu führen. Je nach der Kombination der genannten Merkmale (Bejahung/Verneinung, Zuwendung/Abwendung, Werkzeug/Gefäß oder Handeln/Kontemplation) gewinnt man begrifflich fünf verschiedene Weltverhältnisse. Man kann sie, sofern sie aus der Teilnehmerperspektive logisch oder teleologisch konsequent konstruiert sind, Rationalismus der Weltanpassung, der Weltbeherrschung, der

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Weltflucht, der Weltüberwindung und der Schickung in die Welt nennen. Diese verschiedenen Arten des durch das Weltbild motivierten Rationalismus sind in der Abbildung 3 zusammengestellt.51 Es ist nun eine der Thesen in Webers vergleichender Religionssoziologie, dass sich diese Weltverhältnisse in den verschiedenen Kulturkreisen in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung besonders rein ausgeprägt haben, so zum Beispiel der Rationalismus der Weltanpassung im klassischen Konfuzianismus, der Rationalismus der Weltbeherrschung im Puritanismus52 oder der Rationalismus der Weltflucht im frühen Buddhismus.53 Das führe ich hier nicht weiter aus.54 Es sollte nur gezeigt werden, dass Weber die Rationalitätsproblematik in seiner Religionssoziologie tatsächlich differenzierend unter den beiden von ihm genannten Gesichtspunkten entwickelt: für die verschiedenen Lebensgebiete einerseits, für die verschiedenen Kulturkreise andererseits.

3. Die Paradoxie der Rationalisierung Wir suchen damit die Fruchtbarkeit der ebenenspezifischen Untergliederung des Rationalitätsbegriffs zu untermauern, wie sie in Abbildung 1 dargestellt wurde. Kehren wir an dieser Stelle zu dieser Übersicht zurück. Ihr dichotomer Aufbau führt zu einer weiteren wichtigen These: Im Mittelpunkt von Webers Theorie des Rationalismus und der Rationalisierung steht nicht die letztlich versöhnende Dialektik, sondern die auszuhaltende Antinomie. Wir haben oben bereits angedeutet, dass nach Weber die Rechnung des Rationalismus nie voll aufgeht. Das lässt sich nun etwas schärfer fassen, indem wir diese Aussage auf die drei Ebenen beziehen. Wir diskutieren diese Aussage beispielhaft für die Wirkung von Sinnzusammenhängen, Handlungskoordinationen und Handlungsorientierungen. In all diesen Fällen zeigt sich: Rational geschlossene Lösungen scheitern an der Wirklichkeit. Dabei ist wieder zwischen Rationalität als Voraussetzung und Rationalität als Gegenstand zu unterscheiden. Die Idealtyen, mit denen Max Weber auch 51 Nach Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. II, S. 102. 52 Dazu MWG I/19, S. 450 ff., der Vergleich zwischen Konfuzianismus und Puritanismus. Hier gibt Weber übrigens zwei Kriterien an, anhand deren sich der Grad der Rationalität einer Religion messen lasse. 1. Der Grad, in dem sie die Magie abgestreift hat; 2. der Grad der Systematisierung des Verhältnisses Gott–Mensch–Welt. 53 MWG I/20, S. 329 ff. 54 Dazu Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. II. Dort sind alle religionssoziologischen Studien Webers, die geschriebenen und die nur geplanten, interpretiert bzw. rekonstruiert.

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beim Rationalitätsproblem arbeitet, sind nicht die Wirklichkeit, sondern deren Umbildung unter Wertgesichtspunkten, die das Erkenntnisinteresse und die Gegenstandskonstitution steuern (theoretische Wertbeziehung im Sinn von Heinrich Rickert). Sie begründen die Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters, und bei der Anwendung solcher Idealtypen können auch Mischtypen entstehen.55 Aus der Perspektive des Teilnehmers dagegen erscheint das Rationale bei einem Wechsel des Standpunkts als irrational. Wenn wir hier von der Paradoxie der Rationalisierung sprechen, dann aus der Perspektive des Teilnehmers, nicht aus der des wissenschaftlichen Beobachters. Kommen wir zu den Beispielen, die sich auf die Analytik der Rationalität (Abbildung 1) beziehen lassen. In seiner Religionssoziologie betont Weber „das mit zunehmender Rationalität der Weltbetrachtung zunehmende Bedürfnis nach einem ethischen ‚Sinn‘ der Verteilung der Glücksgüter unter den Menschen“.56 Er nennt dies das Problem der Theodizee. Es habe in der Menschheitsgeschichte nur drei Gedankensysteme gegeben, die auf die Frage nach der Diskrepanz von Schicksal und Verdienst eine rational geschlossene Lösung gegeben hätten: „die indische Karmanlehre, der zarathustrische Dualismus und das Prädestinationsdekret des Deus absconditus.“57 Es ist aber gerade die radikalisierte Prädestinationslehre im Calvinismus, die Weber in seinen Protestantismusstudien aus heuristischen Gründen in den Vordergrund stellt, um daran zu zeigen, welche Reaktionen diese rational geschlossene Konstruktion bei den Betroffenen auslöste. Um die unerträgliche Ungewissheit über ihr ewiges Heil loszuwerden, modifizierten sie diese rationale theoretische Konstruktion so, dass sie erträglicher wurde, aber auf Kosten ihrer rationalen Geschlossenheit. Ähnliches sucht Weber an mehreren Stellen seines Werkes an der Musiktheorie zu zeigen. Hier hätten die ästhetischen Bedürfnisse der Hörer dazu beigetragen, dass von der mathematisch rationalen Konstruktion der Tonleiter abgewichen wurde.58 55 Dazu MWG I/23, S. 527 ff., wo Weber Mischformen der Herrschaft darstellt. Ein Beispiel für eine Mischform ist auch der Begriff chinesische Patrimonialbürokratie, in dem Weber Merkmale des Typus moderne Bürokratie mit Merkmalen des Typus Patrimonialismus kombiniert. Auch dienen ihm die reinen Typen dazu, an einer konkreten Herrschaft zu prüfen, was an ihr z. B. legal, traditional oder charismatisch ist; ebd., S. 455 (Kap. III, § 2). 56 MWG I/19, S. 94. 57 Ebd., S. 95. 58 Interessanterweise kommt Weber bei der Rationalitätsproblematik immer wieder auf die Musik zu sprechen, so schon im Kategorienaufsatz, aber auch in der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, im Wertfreiheitsaufsatz und natürlich in dem nachgelassenen Manuskript zur Musiksoziologie, MWG I/14. Dort heißt es unter anderem S. 153: „Denn hier sollte nur an Hand der allereinfachsten Tatbestände daran erinnert werden, daß die akkordliche Rationalisierung der Musik nicht nur in steter Spannung

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Noch schärfer bringt Weber die Gegenläufigkeit zwischen der formalen und der materialen Rationalisierung zum Ausdruck. Je weiter man die formale Rationalisierung steigere, sei es in der Wirtschaft, im Recht oder bei der politischen Herrschaft, desto stärker trete das Bedürfnis nach materialer Rationalisierung hervor. In seiner Rechtssoziologie beschreibt Weber dies unter anderem an dem Kampf zwischen den Vertretern der Begriffsjurisprudenz, die der formalen Rationalisierung des Rechts huldigen, und den Vertretern der Interessenjurisprudenz, die für seine materiale Rationalisierung eintreten.59 Aber dieser rechtstheoretische Streit zeigt nur, wie stark letztlich formale und materiale Rechtsrationalisierung im modernen Rechtssystem in Spannung zueinander stehen. Je weiter die formale Rationalisierung getrieben werde, desto stärker melde sich das Bedürfnis nach der Bewertung ihrer Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt materialer Postulate. Man kann dies als die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit bezeichnen, die mit der Verwirklichung der modernen Rechtsidee verbunden ist.60 Die Ostdeutsche Bärbel Bohley empfand dies nach der deutschen Wiedervereinigung klar und deutlich: Wir suchten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Und Ähnliches lässt sich gegenüber den melodischen Realitäten lebt, welche sie niemals restlos in sich zu schlingen vermag, sondern daß sie auch in sich selbst, zufolge der, distanzmäßig betrachtet, unsymmetrischen Stellung der Septime, Irrationalitäten birgt, welche in der erwähnten unvermeidlichen harmonischen Mehrdeutigkeit der Struktur der Molltonleiter ihren einfachsten Ausdruck finden.“ – In der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen findet sich folgende bezeichnende Passage: „Die moderne Form der zugleich theoretischen und praktischen intellektuellen und zweckhaften Durchrationalisierung des Weltbildes und der Lebensführung hat die allgemeine Folge gehabt: daß die Religion, je weiter diese besondere Art von Rationalisierung fortschritt, desto mehr ihrerseits in das – vom Standpunkt einer intellektuellen Formung des Weltbildes aus gesehen – Irrationale geschoben wurde. Aus mehrfachen Gründen. Einerseits wollte die Rechnung des konsequenten Rationalismus nicht leicht glatt aufgehen. Wie in der Musik das pythagoreische ‚Komma‘ der restlosen tonphysikalisch orientierten Rationalisierung sich widersetzte und wie daher die einzelnen großen Musiksysteme aller Völker und Zeiten sich vor allem durch die Art und Weise unterschieden, wie sie diese unentfliehbare Irrationalität entweder zu überdecken oder zu umgehen oder umgekehrt in den Dienst des Reichtums der Tonalitäten zu stellen wußten, so schien es dem theoretischen Weltbild, noch weit mehr aber und vor allem der praktischen Lebensrationalisierung, zu ergehen.“ MWG I/19, S. 102 f. (Textfassung von 1920). 59 Über das Verhältnis von Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz die scharfsinnige Arbeit von Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. Tübingen 2014, bes. S. 91 ff. 60 Man könnte auch an die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht denken. Jedenfalls verlangt die moderne Rechtsidee nach Weber den Ausgleich zwischen Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit.

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über die kapitalistische Wirtschaft sagen. Hier gibt es eine endemische Spannung zwischen Produktivitätssteigerung und Verteilungsgerechtigkeit.61 Weber spricht deshalb davon, zwischen formaler und materialer Rationalität herrsche ein antinomisches Verhältnis. Die eine wächst auf Kosten der anderen. Es gibt nur Kompromisse, vollkommene Rationalität aber nicht. Ähnliches kann man auch für die Handlungsorientierungen sagen. Erfolgsorientiertes und eigenwertorientiertes Handeln stehen an entgegengesetzten Polen, schließen streng genommen einander aus. Weber sagt ausdrücklich: „Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt.“62 Aber auch hier existieren aus der Teilnehmerperspektive Brückenschläge. So kann der zweckrational Orientierte nicht nur die Mittel gegen die Zwecke und die Zwecke gegen Nebenfolgen, sondern auch die Zwecke untereinander abwägen und damit Werte ins Spiel bringen. Oder der wertrational Orientierte kann auch die voraussehbaren Folgen seines Handelns berücksichtigen, etwa, wenn er sich nicht gesinnungsethisch, sondern verantwortungsethisch verhält.63 Doch die antinomische Grundstruktur der beiden Arten der rationalen Orientierung bleibt in der Teilnehmerperspektive erhalten. Immer interessiert Weber bei der empirischen Betrachtung auch die Grenze der jeweiligen Rationalität.

4. Die okzidentale Sonderentwicklung Fragen wir zum Schluss: Wie schlägt sich all dies in der Beschreibung des „spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“ nieder?64 Weber stellt am Ende seines Lebens die Eigenart dieser Kultur mit ihren Errungenschaften in helles Licht. Er spricht von Kulturerscheinungen mit einer möglicherweise universellen Bedeutung und Gültigkeit, die im okzidentalen Kulturkreis zum ersten Mal auftraten und auf andere Kulturkreise ausstrahl61 Daraus leitet Weber übrigens den kapitalismusimmanenten Charakter des Sozialismus ab. 62 MWG I/23, S. 176. 63 Wenn dem nicht so wäre, müsste man Verantwortungsethik mit Zweckrationalität, Gesinnungsethik mit Wertrationalität identifizieren. Dass dies im Fall der Verantwortungsethik nicht stimmen kann, habe ich in Religion und Lebensführung, Bd. 1, Frankfurt 1988, S. 165–338 zu zeigen versucht. 64 MWG I/18, S. 116.

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ten. Er nennt die westliche Wissenschaft (Natur- und Kulturwissenschaft), die westliche Kunst (Musik, Architektur, Malerei), die westliche Fachbürokratie, den westlichen modernen Anstaltsstaat, selbst das westliche Erziehungs- und Pressewesen, und natürlich die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“, den „Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit“, sowie seinen Träger, das abendländische Bürgertum.65 In all diesen Kulturerscheinungen sieht er diesen spezifisch gearteten Rationalismus wirksam. Halten wir zunächst fest: Weber sucht nicht die Defizite der anderen Kulturkreise, sondern die Differenzen zwischen ihnen und dem okzidentalen Kulturkreis. Die anderen Kulturkreise sind Vergleichsobjekte, um die Eigenart des okzidentalen Kulturkreises zu bestimmen – nicht, um seine Höherwertigkeit ihnen gegenüber darzutun. Webers Universalgeschichte der Kultur bleibt eine Geschichte für uns, eine Verständigung über unsere eigene Herkunft, Gegenwart und Zukunft. Sie ist zwar eurozentrisch, aber nur aus heuristischer Notwendigkeit. Weber sieht diese Kulturgeschichte mit der Religionsgeschichte und mit wegweisenden institutionellen Erfindungen verbunden. Er sieht zudem als ihren entscheidenden Träger das abendländische Bürgertum. Er gibt keine Erzählung, gar eine Megaerzählung, die von den Anfängen bis zur Gegenwart reichte, sondern nennt Vorbedingungen, die erfüllt sein mussten, damit es zu der für den Westen charakteristischen Konstellation von sozialen Beziehungen, Ordnungen und Verbänden in seiner (und immer noch unserer) Gegenwart kam. Es geht um Weichenstellungen, historische Erbschaften und um Kontingenzen, um die Beschreibung eines Pfads, auf dem sich die okzidentale Entwicklung abspielte. Weber fragt zwar auch, warum eine ähnliche Entwicklung nicht in China oder in Indien stattfand, obgleich dort ebenfalls dafür günstige Bedingungen vorlagen.66 Aber er interessiert sich nicht für diese Entwicklungen um ihrer selbst willen. Vielmehr sagt er ausdrücklich, an den anderen Kulturkreisen betone er nur das, „was im Gegensatz stand und steht zur okzidentalen Kulturentwicklung“. Seine vergleichenden Studien sind also „durchaus orientiert an dem, was unter diesem Gesichtspunkt bei Gelegenheit der Darstellung der okzidentalen Entwicklung wichtig erscheint“.67 Was sind nun diese kulturellen, institutionellen und sozialen Erfindungen, die den Westen auf eine Entwicklungslinie von möglicherweise universeller Bedeutung und Gültigkeit brachten? Weber zählt sie an einer Stelle in seinem 65 Ebd., S. 105 bzw. S. 114. 66 Ebd., S. 116. 67 Ebd., S. 117 f.

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Werk nahezu vollständig auf. Es handelt sich um jene Stelle, an der er in seinen religionssoziologischen Aufsätzen von der asiatischen zur vorderasiatisch-okzidentalen Kulturwelt wechselt. Es ist zugleich die Stelle, an der er nach dem Werkplan für die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie von 1919 eine Skizze über die soziale Eigenart und die Entwicklung des europäischen Bürgertums in der Antike und im Mittelalter einfügen will.68 Am 11. September 1919 schreibt er an Paul Siebeck, er habe sie „im Kopf fertig“.69 Er wollte sie vor die Behandlung des antiken Judentums stellen, als „die allgemeine Grundlage der occidentalen Sonderentwicklung“. Geschrieben hat er sie freilich nicht mehr.70 Unabhängig davon aber hatte Weber bereits in seinem ersten Aufsatz über das antike Judentum aus dem Jahre 1917 festgehalten, die jüdische religiöse Ethik habe eine weltgeschichtliche Tragweite, was vor allem der Schöpfung des Alten Testaments, der jüdischen Bibel, zu verdanken sei. Die paulinische Mission habe diese Schöpfung in das Christentum herübergerettet und dabei zugleich universalisiert. Weber führt aus: „Ohne die Übernahme des Alten Testamentes als heiligen Buches hätte es auf dem Boden des Hellenismus zwar pneumatische Sekten und Mysteriengemeinschaften mit dem Kult des Kyrois Christos gegeben, aber nimmermehr eine christliche Kirche und eine christliche Alltagsethik“. Und weiter: „ohne die höchst besondersartigen Verheißungen des unbekannten großen Schriftstellers der Exilszeit, der die prophetische Theodizee des Leidens Jes. 40–55 verfaßt hat, insbesondere die Lehre vom lehrenden und schuldlos freiwillig als Sühneopfer leidenden und sterbenden Knecht Jahwes wäre trotz der späteren Menschensohn-Esoterik die Entwicklung der christlichen Lehre vom Opfertod des göttlichen Heilands in ihrer Sonderart gegenüber andern äußerlich ähnlichen Mysterienlehren nicht denkbar gewesen.“71

Das sei die ursprüngliche Weichenstellung, durch welche die vorderasiatisch-okzidentale Kulturentwicklung von anderen Kulturentwicklungen getrennt wurde. Weber unterstreicht, hierin habe man deshalb einen „Angelpunkt der ganzen Kulturentwicklung des Occidents und vorderasiatischen Orients“ zu sehen. Und er fährt fort: 68 Webers Plan für die vier Bände der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie aus dem Jahr 1919 ist abgedruckt in MWG I/19, S. 28. 69 MWG II, 10, S. 771. 70 Es gibt allerdings Substitute, so Passagen aus „Die Stadt“, MWG I/22–5, S. 199 ff., und Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, MWG III/6, S. 350 ff. 71 Der erste Aufsatz behandelt „Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe“. Zitate in MWG I/21, S. 242 f.

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„An geschichtlicher Bedeutung kann ihm nur die Entwicklung der hellenischen Geisteskultur und, für Westeuropa, des römischen Rechts und der auf dem römischen Amtsbegriff fußenden römischen Kirche, dann weiterhin der mittelalterlich-ständischen Ordnung und schließlich der sie sprengenden, aber ihre Institutionen fortbildenden Einflüsse auf religiösem Gebiet, also des Protestantismus, gleichgeordnet werden.“72

Weber schlug die Brücke zwischen den Schöpfern der Bibel und den asketischen Protestanten des 17. Jahrhunderts mit Hilfe der Entzauberungsthese. Sie bezeichnet zunächst einen innerreligiösen Rationalisierungsprozess, der dann in einen von der modernen Wissenschaft getragenen außerreligiösen Rationalisierungsprozess übergeht.73 In diesem ineinander verschränkten Doppelprozess verbinden sich religiöse Weltverneinung mit Weltzuwendung und der Vorstellung vom Werkzeugcharakter des Menschen, was letztlich zu einem religiösen, dann profanen Rationalismus der Weltbeherrschung führt. Es ist zugleich ein Prozess einer zunächst außerweltlichen, dann innerweltlichen Arbeitsaskese, aus dem heraus sich das Berufs- oder Fachmenschentum entwickelt. Wie immer wieder zitiert, warnte Weber 1905, am Schluss seiner Studie über den asketischen Protestantismus, in starken Worten vor den fatalen Konsequenzen dieser ungeheuren Veränderung.74 Denn in eins mit diesem Berufsmenschentum sei ein Gehäuse für die neue Hörigkeit entstanden, ein Gehäuse aus formaler Rationalität, in dem die „äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen“ gewonnen hätten und ihn zu dem machten, was er als ein „Nichts“ bezeichnet: zu ‚Fachmenschen ohne Geist und zu Genußmenschen ohne Herz‘.75 Wir brechen hier ab, denn es bedürfte einer sehr viel umfassenderen Betrachtung, um Webers Analyse der okzidentalen Sonderentwicklung im Detail zu rekonstruieren. Vieles von dem, das sich verstreut über das Werk findet, hätte er vermutlich in dem geplanten Schlussband seiner Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie, über das westliche Christentum, zusammengeführt. Vieles dazu findet man außer in den Gesammelten Aufsätzen in den beiden Fassungen von Wirtschaft und Gesellschaft sowie in der rekonstruierten Vorlesung Abriß der univeralen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus dem Wintersemester 1919/20. Ich habe eine solche Rekonstruktion an anderer Stelle versucht.76 72 Ebd., S. 244. 73 Zu den beiden Phasen des Entzauberungsprozesses, der religionsgetriebenen und der wissenschaftsgetriebenen Entwicklung, Wolfgang Schluchter, Die Entzauberung der Welt, Tübingen 2009, Kap. 1. 74 MWG I/9, S. 422. 75 Ebd., S. 423. 76 Religion und Lebensführung, Bd. II und Max Webers späte Soziologie.

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Halten wir fest: Die Rationalitätsproblematik steht im Zentrum von Webers Soziologie, wie sie sich, ausgehend von Studien über den asketischen Protestantismus, seit 1910 immer differenzierter entwickelt. Es geht um eine Entfaltung dieser Problematik, die sich auf Ebenen, Bereiche und Kulturkreise erstreckt. Es geht aber vor allem auch um die jeweiligen Grenzen des Rationalismus und der Rationalisierung. Insofern kann man sagen, dass Weber bei der empirischen Betrachtung der Rationalitätsproblematik vor allem die Rationalität in der Vielheit ihrer Stimmen und in ihren paradoxen Folgen betont.

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Max Webers Protestantismusthese und die Historiker Protokoll einer Verdrängung

Angesichts der hohen Wertschätzung, die Max Weber heutzutage auch innerhalb der Historikerzunft besitzt, vergisst man leicht, dass das nicht immer so war. Deshalb ist gleich zu Beginn an das Projekt der Geschichte als Historischer Sozialwissenschaft zu erinnern, denn erst im Rahmen dieser ab den 1960er und 70er Jahren von Wolfgang Mommsen, Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka und anderen vorangetriebenen Neuausrichtung der historischen Forschung ist das großartige sozial- und kulturwissenschaftliche Werk Max Webers endlich auch für Historiker erschlossen und sind viele der von ihm aufgeworfenen Fragen kritisch aufgegriffen und produktiv weiterentwickelt worden. Erst als Ergebnis dieser unermüdlichen historisch-sozialwissenschaftlichen Kärrnerarbeit gehören Webers Theorie der sozialen Klassen und seine Herrschaftstypologie heutzutage ebenso zum historischen Gemeingut wie sein Konzept der Bürokratie oder seine Analysen zum politischen Machtgebaren in der modernen Massendemokratie. Dasselbe gilt für seine methodologischen Überlegungen zum Idealtypus oder zur Werturteilsfrage. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Auseinandersetzung mit einem so umfangreichen und vielschichtigen, aber zugleich so spröden und sperrigen Werk wie dem Weberschen niemals abgeschlossen, sondern das jeweils Erreichte immer nur bleibende Verpflichtung für die weitere Arbeit sein kann.

1. Verdrängung: eine historische Abhandlung wird zur historischen Quelle Doch in der historischen Wertschätzung Webers gibt es einen wunden Punkt – Webers Protestantismusthese. So werden in dem einschlägigen Sammelband über Max Weber als Historiker, der aus einer Sektion auf dem Internationalen Historikertag 1985 in Stuttgart hervorgegangen ist, neben seinen methodologischen Arbeiten seine Studien zur antiken Polis und mittelalterlichen Stadt oder zur indischen und chinesischen Zivilisation von herausragen-

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den Fachleuten gewürdigt – aber ein Beitrag zur Protestantismusthese fehlt.1 Fast scheint es, als hätten die Historiker bei der Aneignung seiner Werke das berühmteste von allen, „Die Protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ (1904–05/1920; im Folgenden: PE), einfach vergessen – eine Studie, die überdies zu den (innerhalb des Gesamtwerkes eher wenigen) genuin historischen Arbeiten Webers zählt. Natürlich ist dieser Eindruck falsch, haben sich doch zahlreiche Historiker mit Webers Protestantismusthese auseinandergesetzt. Gleichwohl ist auffällig, dass vor allem Historiker der Frühen Neuzeit (der Zeitraum, in dem die PE historisch ‚spielt‘), sofern sie sich wirklich auf Webers Text einließen und ihn nicht einfach als soziologisches Phantasiegemälde verwarfen2, sich ziemlich schwer damit getan haben. So kamen etwa Paul Münch, Richard van Dülmen und Hartmut Lehmann in den 1980er Jahren nach einer kritisch-konstruktiven Prüfung zu einer Einschätzung wohlwollender Ratlosigkeit. Weber habe mit seiner These, zwischen protestantischem Arbeitsethos und modernem Kapitalismus bestehe, vermittelt über das psychologische Scharnier einer aus innerweltlicher Askese motivierten bürgerlich-rationalen Lebensführung, ein „innerer“ historischer Zusammenhang, zwar ‚irgendwie‘ richtig gelegen, aber die historische Wirklichkeit sei eben doch viel komplizierter.3 Alle drei waren sich auch darin einig, wie schwierig es sei, überhaupt zum Kern der Protestantismusthese vorzudringen, da man Webers PE erst einmal von den vielen historischen Miss-

1 Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986. In seinem Vorwort sagt Kocka nur, dass Webers Arbeiten zum antiken Rom und zum Protestantismus „nicht berücksichtigt“ wurden, nennt aber dafür keinen Grund (S. 11/Anm. 2). 2 Prominentes Beispiel aus einer Zeit, als Historiker noch stolz darauf waren, soziologische Ansätze rundweg abzulehnen: G.R. Elton, Reformation Europe 1517–1559, London 1963, S. 311–318. Bezeichnend ist, dass sich Elton den „Idealtypus“ nur als „imaginäre Festung“ vorstellen mochte, innerhalb derer sich Weber auf reine „Zirkelschlüsse“ verstiegen habe. 3 Paul Münch, Welcher Zusammenhang besteht zwischen Konfession und ökonomischem Verhalten? Max Webers These im Lichte der historischen Forschung, in: HansGeorg Wehling (Hg.), Konfession – eine Nebensache? Politische, soziale und kulturelle Ausprägungen religiöser Unterschiede in Deutschland, Stuttgart 1984, S. 58–74; Richard van Dülmen, Protestantismus und Kapitalismus, in: Christian Gneuss/Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber. Ein Symposion, München 1988, S. 88–101; Hartmut Lehmann, Asketischer Protestantismus und ökonomische Rationalität. Die Weber-These nach zwei Generationen, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, Frankfurt 1988, S. 529–553 (auch in Hartmut Lehmann, Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus Sicht eines Historikers, Göttingen 1996, S. 9–29 u. 129–131).

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verständnissen und Fehldeutungen entrümpeln müsse, die ihr im Laufe einer langen Rezeptionsgeschichte aufgebürdet worden sind. Wenig später meldeten sich Lehmann und Münch auf einer internationalen Konferenz zur PE nochmals zu Wort, aber aus einer ganz anderen historischen Perspektive. Münch referierte zur ‚Vorgeschichte‘ der Weber-These und erinnerte an protestantische Autoren, die bereits im 17. und 18. Jahrhundert auf den Gewerbefleiß ihrer Glaubensbrüder und die ökonomische Rückständigkeit der katholischen Länder und Regionen hingewiesen hatten. Lehmann, einer der besten Kenner des frühneuzeitlichen Protestantismus, blendete sein eigentliches Forschungsfeld gleich ganz aus und rekapitulierte stattdessen die Auseinandersetzungen um die PE, die Weber selbst bis 1920 mit Werner Sombart und Lujo Brentano geführt hatte.4 Auch die seitdem vorgelegten Arbeiten Lehmanns zur PE behandeln vornehmlich deren Rezeptionsgeschichte, d.h. es geht nur noch um die Wirkung dieses Textes, aber nicht mehr um das, was Weber darin ausführt.5 Ich will das gar nicht bemängeln, denn durch die immer engere Perspektive ergeben sich ja zugleich neue Einblicke. So liest Lehmann in einem seiner Aufsätze die PE als Selbstzeugnis Webers. Die PE als verzweifelter Hilferuf und zugleich Rettungsanker eines von Selbstzweifeln gepeinigten Gelehrten, der eben die Last des Professorenamtes abgeschüttelt hat und nun über die Untersuchung von Luthers Berufsbegriff (damit beginnt ja der eigentliche historische Teil der PE) den eigenen Weg in seine neue Existenz als freiberuflicher Wissenschaftler findet.6 Lehmann ist kein Einzelfall. Im Gegenteil, in der historischen Literatur zur PE ist es in den letzten drei Jahrzehnten zu einer generellen Bedeutungsverschiebung gekommen. Die PE hat sich von einer historischen Studie über Erörterungen zum Erwerbstrieb im protestantischen Schrifttum des 16. bis 18. Jahrhunderts in ein Zeugnis des bürgerlichen Zeitgeistes im frühen 20. Jahrhundert verwandelt. Ich deute diese Engführung des historischen Erkenntnisinteresses an der PE als historische Verdrängung und möchte im Folgenden zunächst versuchen, die Hintergründe dieses Prozesses auszuloten, um anschließend dafür zu plädie4 Paul Münch, The Thesis before Weber: An Archeology, in: Hartmut Lehmann/Guenther Roth (Hg.), Weber’s Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993, S. 51–71; Hartmut Lehmann, The Rise of Capitalism. Weber versus Sombart, ebd., S. 195–208 (dt. in Lehmann, Webers „Prot. Ethik“, S. 94–108 u. 146–147). 5 Hartmut Lehmann, Die Entzauberung der Welt. Studien und Themen zu Max Weber, Göttingen 2009. 6 Ders., Max Webers „Protestantische Ethik“ als Selbstzeugnis, in: Ders., Webers „Prot. Ethik“, S. 109–127 u. 147–153. Zum Lutherbild in der PE ders., Max Webers Lutherinterpretation, ebd., S. 30–41 u. 131–135.

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ren, diese Verdrängung zu korrigieren und die PE endlich wieder als historische Arbeitsplattform für die weitere Forschung ernst zu nehmen. Dabei verfolge ich keinerlei polemische Absicht gegenüber den rein historiographischen oder ideengeschichtlichen Arbeiten, die aus dieser Verengung des Erkenntnisinteresses an der PE erwachsen sind. Im Gegenteil, solche Untersuchungen, zu denen nicht zuletzt auch die historisch-kritische Edition des Textes der PE (in beiden Fassungen: 1904–05 und 1920) im Rahmen der Max Weber Gesamtausgabe (MWG) gehört, sind absolut unerlässlich und gehören nicht von ungefähr zum ganz normalen Gang der historischen Forschung. Es ist das mindeste, was einem Klassiker vom Range Webers und einem so wirkungsmächtigen Text wie der PE gebührt.7 Zudem schafft der textphilologisch sichere Boden, den die MWG inzwischen bietet, auch die Voraussetzungen für immer genauere Textanalysen. Das für mich schlagendste Beispiel dafür ist die soeben erschienene, auf souveräner Quellen- und Literaturverarbeitung fußende und glänzend geschriebene ‚Zwillingsbiographie‘ Webers und der PE von Peter Ghosh, in der er minutiös aufzeigt, wie sich in diesem einen Text gleichsam alle ‚Lebenslinien‘ sowohl der intellektuellen Persönlichkeit Webers als auch seines gewaltigen Oeuvres durchkreuzen und bündeln – die tiefschürfendste Analyse der PE, die ich kenne, und zugleich eine ideengeschichtliche Meisterleistung.8 Doch um welchen Preis? Bei Ghosh erfahren wir bis in alle Einzelheiten, wie Weber beispielsweise zu seinem Bild des Puritanismus gekommen ist, welche Quellen und welche Literatur er dabei auf welche Weise verarbeitet hat, und ob dieses Bild auch durch die Eindrücke und Erfahrungen der Amerikareise, die Weber genau zwischen der Abfassung des ersten und zweiten Teils der PE unternommen hatte, beeinflusst worden ist. Aber die Frage, ob dieses Bild

7 Die PE in der Fassung von 1904–05 ist jetzt greifbar in: Max Weber, Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, Hg. Wolfgang Schluchter, Tübingen 2014 (MWG I/9). Die Edition der zweiten Fassung von 1920 in MWG I/18 konnte ich nicht mehr berücksichtigen; sie ist soeben (Aug. 2016) erschienen. – Natürlich gehören in diesen Zusammenhang auch die neueren Werkausgaben der großen Zeitgenossen Webers wie Ernst Troeltsch, Georg Simmel u.a. 8 Peter Ghosh, Max Weber and ‚The Protestant Ethic‘. Twin Histories, Oxford 2014. Vgl. auch meine ausführliche Würdigung in H-Soz-Kult 09.09.2015; ferner Peter Ghosh, Protestantismus, asketischer, in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 105–107, sowie ders., ‚Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‘ (1904–05; 1920), ebd. S. 245–255 (konzise Werkanalyse der PE, der vielleicht beste Aufriss überhaupt).

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heute noch historisch tragfähig ist, kann Ghosh nicht beantworten – und will es auch gar nicht, denn sie interessiert ihn nicht.9 Bei aller Hochachtung für Ghoshs wunderbare ‚Textbiographie‘ der PE ist es jedoch genau diese Frage, die mich als Sozialhistoriker der Frühen Neuzeit am meisten interessiert. Ich will nicht einsehen, warum wir Weber und seine PE nur noch als Kinder ihrer Zeit betrachten sollen und darüber das historische Problem selbst, um das Weber in der PE ringt, mehr und mehr aus den Augen verlieren. Ich möchte daher den Spieß umdrehen und endlich wieder zum eigentlichen Thema der PE zurückfinden. Das erfordert allerdings auch, dass wir die PE endlich auf einem historischen Anspruchsniveau diskutieren, das Webers Anliegen angemessen ist, und uns von den herkömmlichen Kurzschlüssen und Verflachungen lösen, die der PE gerade von historischer Seite im Laufe ihrer langen Rezeptionsgeschichte zugewachsen sind. Aus diesem Grunde ist es auch ratsam, die wichtigsten Etappen der historischen Rezeption der PE, die schließlich zur Verdrängung ihres historischen Gegenstandes geführt haben, wenigstens kurz anzureißen. Jede dieser Etappen stand nämlich im Zeichen spezifischer Verkürzungen, die ich möglichst klar herausstellen möchte, um sie in der künftigen Arbeit besser kontrollieren zu können. Ich beginne meine Ausführungen mit einer kurzen Vergegenwärtigung der PE selbst. Es folgt eine Rekapitulation der bisherigen historischen Rezeption, die ich in drei Abschnitte gliedere: Kapitalismus und Gelehrsamkeit, sozialhistorische Modernisierung, historiographischer Rückzug. Anschließend versuche ich aufzuzeigen, wie sich die PE im Gefüge der neueren historischen Forschung neu verankern ließe, und wähle dafür vier Beispiele: Diskursgeschichte der religiösen Erfahrung, historische Semantik der Arbeit, protestantische Unbarmherzigkeit, soziale Trägerschicht. Natürlich kann ich im hier gebotenen Rahmen das meiste nur kurz anreißen. Das Ganze versteht sich auch eher als vorläufiger Versuch denn als Summe fertiger Ergebnisse – in der Hoffnung, vielleicht gerade dadurch die weitere historische Diskussion um die PE ein kleines Stück voranzubringen. 9 Hierzu bereits Peter Ghosh, Max Weber’s Idea of ‚Puritanism’: a case study in the empirical construction of the ‚Protestant Ethic’, in: Ders., A Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant Ethic, Wiesbaden 2008, S. 5–49. – Für die Amerikareise die eindringliche Studie von Lawrence A. Scaff, Max Weber in Amerika, Berlin 2013, und Thomas Sokoll, Protestantische Ethik, Amerika und ein beschädigtes Leben: Neues zu Max Weber, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 102 (2015), S. 59–73, hier S. 63–66. Für den endgültigen Nachweis, dass der zweite Teil der PE erst nach der Amerikareise verfasst wurde, jetzt MWG I/9, S. 56 f. (Einl. Schluchter).

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2. Webers PE: Die Struktur des Arguments Zunächst also eine stichwortartige Zusammenfassung der PE, um Aufbau, zeitliche Schichtung und zentrale Themen der Argumentation in Erinnerung zu rufen (die Ziffernfolge im Text selbst).10 I. 1/I. 2. Den Auftakt bilden statistische Daten zum protestantischen Übergewicht im gewerblich-industriellen Bereich in Baden im späten 19. Jahrhundert, die jedoch gleich als dem eigentlichen Problem bloß ‚äußerliche‘ Evidenz abqualifiziert werden. Es kommt auf den ‚inneren‘ Antrieb des Handelns an. Diesen Geist des Kapitalismus verkörpert Benjamin Franklin: Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Selbstdisziplin als unternehmerische Tugenden. I. 3. Franklins schon weitgehend säkularisierte Arbeitsethik ist das letzte Glied einer ursprünglich religiös ausgeschmiedeten Kette, die mit Luther beginnt. Indem Luther ‚Beruf‘ mit ‚Berufung‘ begrifflich kurzschließt, gelangt er zu einer radikalen Neubewertung der Arbeit. Nicht Flucht aus der Welt, sondern Bewährung in der Welt, im beruflichen Alltag, gilt ihm als der wahre Lobpreis Gottes. Diese Auffassung der Arbeit (gleich welcher Art) als Pflichterfüllung gegen Gott ist Ausdruck einer neuen, innerweltlichen Askese11, im krassen Unterschied zur alten mönchischen Askese. II. 1. Um die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese näher auszuführen, erfolgt ein Durchgang durch vier Stufen des Protestantismus: [a] Calvinismus (einschließlich Puritanismus), [b] Pietismus, [c] Methodismus, [d] Täufertum (vor allem Quäker). Die erste Stufe [a] ist die wichtigste. Calvins Prädestinationslehre führt zur inneren Vereinsamung des Individuums, da der Einzelne niemals wissen kann, ob er zu den Auserwählten oder Verdammten zählt. Aus diesem Gefühl der Verzweiflung erwächst jedoch bei puritanischen Predigern wie Baxter und Bunyan die Vorstellung, Bewährung im Beruf lasse 10 Ich folge dem Text der Erstfassung, jetzt in MWG I/9, S. 123–215 (Teil I) u. 242–425 (Teil II). Die Editorischen Berichte (S. 97–121 u. 222–241) und die Einleitung Schluchters (S. 1–96) sind vorbildlich und für die weitere Arbeit unverzichtbar. 11 Dies ist ein Vorgriff, denn der Begriff der „innerweltlichen Askese“ taucht im ersten Teil der PE noch nicht auf, obwohl er im Text des Lutherkapitels bereits angelegt ist („innerweltliche Pflichten“, MWG I/9, S. 190, 194 u. 207). Im zweiten Teil, der erst nach der Amerikareise abgefasst wurde, firmiert er dagegen gleich im Titel des ersten Abschnitts (II.1) als Schlüsselbegriff (ebd., S. 243) und steht anschließend im Zentrum entscheidender Textpassagen (ebd., S. 294 f., 361–363 u. 408–440). Erstmals belegt ist er in Webers eigenhändigem Eintrag im Protokollbuch des Heidelberger ‚Eranos‘Kreises zu seinem Vortrag am 5. Febr. 1905 über ‚Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben‘ (ebd. S. 220 f., mit Faks.).

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sich als Zeichen der Erwählung deuten. In diesem Sinne werden Askese, Leistung und Rationalisierung der Lebensführung zum inneren Antrieb des Individuums, während die lutherische wie die katholische Kirchenzucht nur einen äußeren Antrieb bewirkt. II. 2. Askese und Kapitalismus, dies bildet den logischen Höhepunkt der Argumentation. Nochmals der Puritanismus [e], erneut mit Baxter als Kronzeuge, der nun ausführlich zu Wort kommt: seine Vorstellung einer allgemeinen Arbeitspflicht für jedermann, gegen die standesspezifische Brechung des göttlichen Arbeitsgebots zuvor (Freistellung von Klerus und Adel); seine Betonung der Leistung, unter ausdrücklicher Befürwortung der Leistungssteigerung durch Arbeitsteilung und berufliche Spezialisierung, gegen sündhafte Habgier; seine Rechtfertigung des Reichtums, sofern er produktiv verwendet wird: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang, gegen Luxus und sinnlose Verschwendung. Ein kurzer Exkurs zu den Juden (Baxter bewegt sich vor allem im Alten Testament) stellt klar (gegen Sombart), dass sie kapitalistische Abenteurer sind. Soziale Träger des modernen Kapitalismus dagegen sind die aufstrebenden bürgerlichen Mittelschichten. Am Ende, als Summe und Ausblick, eine düstere Prognose: Die rationale, bürgerliche Lebensführung geht auf die Berufsidee des Protestantismus zurück, die ihrerseits aus der christlichen Askese erwachsen ist. Doch diese Errungenschaft schlägt nun in ihr Gegenteil um: das Berufsmenschentum wird zum Verhängnis der Moderne. Bereits dieser Schnelldurchgang durch Webers PE hat gezeigt, dass es sich um einen ziemlich vielschichtigen Text handelt, der sich überhaupt nicht auf eine einfache Formel reduzieren lässt. Die Protestantismus-These gibt es nicht, jedenfalls nicht bei Weber. Weber entfaltet vielmehr ein Problem, er entwickelt eine Fragestellung: Wie lässt sich die welthistorische einzigartige Erscheinung des modernen Kapitalismus historisch erklären, oder besser: deutend verstehen, jene Kombination aus strengem Arbeitsethos, asketischem Sparzwang und rationaler Lebensführung, die für die Kultur der westlichen Moderne prägend geworden ist, als kontingentes Schicksal, über dessen innere Logik wir uns post festum Rechenschaft abzulegen haben, ohne dass damit dem historischen Prozess irgendeine kausal zwingende Notwendigkeit zukäme.

3. Die historische Verdrängung der PE: drei Etappen Gelehrte unterlaufen den modernen Kapitalismus. Die erste Etappe der historischen Auseinandersetzung mit der PE begann bereits kurz nach ihrer Erstpublikation mit kritischen Stellungnahmen von H. Karl Fischer und Felix

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Rachfahl, die Weber mit mehreren ‚Antikritiken‘ beantwortete. Die Einzelheiten sind hier nicht von Belang, wohl aber der Kreis der Beteiligten und der Stil der Auseinandersetzung. Weber ließ sich gegenüber zwei unbedeutenden Historikern zu scharfen polemischen Ausfällen hinreißen, während Gustav Schmoller, Werner Sombart, Lujo Brentano und andere prominenteste Vertreter der Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte (die Weber allesamt wohlgesonnen waren) zunächst schwiegen. Das ist erstaunlich, hatte Weber die PE doch ausdrücklich als Beitrag zu jenem groß angelegten Projekt einer historisch-systematischen Theorie des Kapitalismus verstanden, dem Sombart kurz zuvor mit seinem Modernen Kapitalismus (1902) eine neue Plattform gegeben hatte (der Begriff des „kapitalistischen Geistes“ taucht dort erstmals auf).12 Zugleich ging Weber mit der PE weiter als Sombart, indem er den Begriff des ‚modernen‘ Kapitalismus enger und trennschärfer fasste (u.a. gegen alle Formen des kapitalistischen „Abenteurertums“ abgrenzte) und seine Kapitalismustheorie viel deutlicher als Selbstkritik der Moderne verstand (um dem theoretischen Vermächtnis von Marx wissenschaftlich noch besser gerecht werden zu können). Doch genau dies wurde auch in den anschließenden Diskussionen übersehen, obwohl Weber in seinen ‚Antikritiken‘ mehrfach auf seinen engen Begriff des modernen Kapitalismus verwies und dafür (in enger Anlehnung an Marx) u.a. folgende Merkmale als zwingend herausstellte: freies Unternehmertum auf Basis des Privateigentums an den Produktionsmitteln, Kapitalakkumulation zum Zwecke produktiver Verwendung (Reinvestition), Ausbeutung freier Lohnarbeit im Rahmen eines selbstregulierten Marktsystems.13 Als sich Sombart und Brentano schließlich zu Wort meldeten, warteten sie mit den abenteuerlichsten Erklärungen über die vielfältigen Ursprünge des Kapitalismus auf, die vom Luxusbedarf des Adels über den Pariastatus

12 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 2 Bde., Leipzig 1902. Das Kapitel ‚Die Genesis des kapitalistischen Geistes‘ leicht greifbar in Bernhard vom Brocke (Hg.), Sombarts ‚Moderner Kapitalismus‘. Materialien zur Kritik und Rezeption, München 1987, S. 87–106; der Band bietet ansonsten eine vorzügliche Zusammenstellung der zeitgenössischen Debatte. Zum Hintergrund die Einleitungen von vom Brocke und Michael Appel, ebd., S. 11–65 u. 67–85; nach wie vor hilfreich Dieter Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik, Wiesbaden 1967. 13 Webers ‚Antikritiken‘ und die PE-Kritiken von Fischer und Rachfahl jetzt in MWG I/9, S. 453–740. Zur Auseinandersetzung selbst die eindringliche Analyse von Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung (1982), in: Ders., Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 3–58.

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der Juden bis hin zu den Kreuzzügen reichten.14 Sie bezogen sich damit auf Momente und Entwicklungen, die für Weber, wie er schon in der PE und dann erneut in den ‚Antikritiken‘ stets betont hatte, unter den „Abenteurerkapitalismus“ fielen und damit gerade nicht als Merkmale des modernen Kapitalismus gelten konnten, auf den es ihm allein ankam. Ähnlich verhält es sich mit dem (auch später immer wieder gerne aufgegriffenen) Einwand gegen die PE, der Kapitalismus sei nicht erst im 16. Jahrhundert entstanden, sondern viel früher, nämlich bereits im 13. und 14. Jahrhundert in den oberitalienischen Handelsund Gewerbemetropolen wie Genua, Venedig und Florenz, könne also allein von der Chronologie her nicht auf den Protestantismus zurückgeführt werden. Auch hier wies Weber wiederholt darauf hin, dass solche handelskapitalistischen Unternehmungen aus seiner Sicht wiederum nichts mit den modernen Kapitalismus zu tun hätten. Weber bemühte sich schließlich in der revidierten Fassung der PE (1920) erneut um Klarstellungen seiner Position, indem der den Text umformulierte, sich in langen Fußnoten gegen Sombart, Strieder und Brentano abgrenzte – nicht zuletzt dadurch, dass er an einigen zentralen Stellen das Wörtchen „modern“ vor den Begriff des Kapitalismus einfügte.15 Auch sein buchstäblich letztes Wort zur Sache, die berühmte ‚Vorbemerkung‘ zum ersten Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie, den Weber noch selbst für den Druck einrichtete (er starb, bevor der Band erschien), stellte nochmals unmissverständlich klar, dass es kapitalistische „Abenteurer“ schon immer gegeben habe, selbst in der Antike. Auch blinde Gier, maßloses Streben nach Reichtum und der Wunsch nach dessen ostentativer Verausgabung im großen Stil zählten für Weber zu den historischen Konstanten, die allen Hochkulturen gemeinsam seien und daher gerade nicht erklären könnten, warum es nur in einer historischen Kultur (dem frühneuzeitlichen Nordwest- und Mitteleuropa und ihrem Ableger in Gestalt der Siedlerkolonien an der nordamerikanischen Ostküste) zur Herausbildung des modernen Kapitalismus gekommen sei, der schließlich in die globale industrielle Zivilisation mündete.16 Doch sein letztes Wort verhallte. Sombart und Brentano hatten den Begriff des modernen Kapitalismus historisch so stark verwässert, dass Webers strenge Definition und deren Implikationen bald in Vergessenheit gerieten, wie die monumentale zweite Auflage von Sombarts Modernen Kapitalismus 14 Werner Sombart, Luxus und Kapitalismus, München 1913; ders., Der Bourgeois, München 1913; Lujo Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus, Berlin 1916. 15 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 17–206. 16 Ders., Vorbemerkung, ebd., S. 1–16, hier S. 4–12.

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(1916/27) und deren umfangreiche gelehrte Diskussion zeigt. Während sich die historische und wirtschaftswissenschaftliche Fachwelt vor Ehrfurcht und lobender Anerkennung förmlich überschlug, fiel es nur einem der vielen illustren Rezensenten auf, dass hier etwas faul war. Otto Hintze meinte, dass Sombart mit seinem Begriff des „kapitalistischen Geistes“ hinter Weber zurückgefallen sei, indem er darunter erneut auch ganz „abenteuerliche Züge“ eines diffusen „Machtstrebens“ und unternehmerischen „Wagemuts“ rechne, statt sich des „komplizierten sozialpsychischen Zusammenhangs“ der „innerweltlichen Askese“ anzunehmen.17 In gewisser Weise hat Weber aber vielleicht auch selbst mit dazu beigetragen, dass sein historisch ‚scharfer‘ Begriff des Kapitalismus aus dem wissenschaftlichen Blickfeld geriet. Denn zwischen 1910 und 1920 hat er das Projekt der PE im Grunde nicht mehr weiterverfolgt, oder genauer gesagt: in einem Maßstab weiterentwickelt, dem die meisten Historiker nicht mehr (zu) folgen (ver)mochten. Die PE bildete für ihn nämlich den Auftakt zu dem gigantischen Projekt der Wirtschaftsethik der Weltreligionen, das ihn zu umfangreichen Untersuchungen über die konfuzianische, hinduistische, buddhistische, jüdische und islamische Ethik trieb. Damit eröffnete er einen welthistorischen Vergleichshorizont, aus dem er 1920 in der bereits erwähnten ‚Vorbemerkung‘ sein theoretisches Vermächtnis formulierte: der Prozess der Rationalisierung aller Lebensbereiche – vom Markt über das Recht bis hin zur Musik – als Ursache für den welthistorischen Sonderweg der westlichen Moderne, die in ihren weltweiten Siegeszug mündet.18 Sein Interesse an der spezifisch okzidentalen Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialethik blieb zwar im Kontext der Religionssoziologie (einer weiteren offenen Baustelle) weiterhin virulent, 17 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. I, München 1916, Bd. II, München 1927 (zus. fast 3.400 Seiten!); Otto Hintze, Der Moderne Kapitalismus als historisches Individuum (1929), in: Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, Hg. Gerhard Oestreich, 2. erw. Aufl. Göttingen 1964, S. 374–426, hier S. 386–391 (auch in: vom Brocke, Sombarts ‚Moderner Kapitalismus‘, S. 322–377, hier S. 335–340). Zu den übrigen Rezensenten zählten u.a. Edgar Salin, Joseph Schumpeter und Talcott Parsons (alle ebd. zu finden). Bereits in seiner Besprechung von Webers ‚Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie‘ (3 Bde., 1920–21) hatte Hintze gegen die „Missverständnisse“ der PE darauf bestanden, dass diese, „wenn man sie richtig versteht, als eine gesicherte wissenschaftliche Wahrheit“ gelten könne, und die „Askese der geschäftlichen Berufserfüllung“ als deren Kern bezeichnet. Vgl. Otto Hintze, Max Webers Religionssoziologie (1922), in: Ders., Soziologie und Geschichte, S. 126–134, hier S. 129 f. 18 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., Tübingen 1920–21.

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doch deren historische Untersuchung verfolgte er dann im Einzelnen eben nicht weiter – und brauchte es auch nicht, hatte ihm doch Ernst Troeltsch, der geschätzte Kollege und enge Freund, diese Aufgabe inzwischen abgenommen und alsbald vortreffliche Ergebnisse vorgelegt.19 Sozialhistorische Modernisierung. Weber hat seine ursprüngliche Fragestellung in der PE und damit zugleich den historischen Horizont somit sukzessive verschoben, von der kritischen Theorie des modernen Kapitalismus zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen im universalhistorischen Vergleich, und von dort aus zu einer Theorie der Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg war jede kritische Theorie des Kapitalismus naturgemäß bis auf weiteres politisch blockiert. Umso stürmischer wurde die PE aber von den Soziologen im Rahmen der vergleichenden Modernisierungstheorie aufgegriffen und weitergeführt. Zunächst in den USA, später auch in der gesamten angelsächsischen Ökumene (und von dort aus schließlich auch in Deutschland), avancierte Weber zum unsterblichen soziologischen Klassiker, wobei die gründliche Rezeption auch seiner übrigen Werke (die nach und nach in englischen Übersetzungen greifbar wurden) der Ausstrahlungskraft der PE keinen Abbruch tat, sondern deren Status als ‚heiliger Text‘ nur zusätzlich befestigte.20 Zu ihrem anhaltenden Erfolg trug sicher auch bei, dass führende modernisierungstheoretische Köpfe wie Talcott Parsons, Reinhard Bendix oder Shmuel Eisenstadt einen klaren historisch-vergleichenden Blick besaßen, so dass die in der PE aufgeworfenen Fragen nicht nur in empirischen Folgestudien fortgeschrieben, sondern immer auch als historische Problemstellungen wach gehalten und diskutiert wurden.21 Warum die meisten Historiker alledem nicht folgen mochten, liegt auf der Hand: Welthistorische Rundumschläge solchen Formats erfordern eine Fallhöhe der Abstraktion, auf der die historischen Quellen leicht aus dem Blick geraten. Historiker sind aber von Amts wegen auf strengsten Quellenbezug und chronologische Gewissenhaftigkeit verpflichtet. Wenn überhaupt, so nahm man sich unter Wirtschaftshistorikern, die gegenüber systematischen und 19 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Teilbd. 2: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2 (Hg. Hans Kippenberg), Tübingen 2001; Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. 20 Hierzu die erhellende Schilderung der Entdeckung und frühen Diffusion der PE im Rahmen und als Teil der sich institutionell etablierenden US-Soziologie bei Scaff, Max Weber in Amerika, S. 237–304. 21 Vgl. die Beiträge in Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), The Protestant Ethic and the Modernization: A Comparative View, New York 1986. In Deutschland ist diese Weiterarbeit an der PE vom Standpunkt einer historischen Soziologie u.a. von Wolfgang Schluchter gepflegt worden (Religion und Lebensführung, 2 Bde., Frankfurt 1988).

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theoretischen Ansätzen naturgemäß aufgeschlossener waren, der PE noch an. Allerdings meinte man nun zu wissen, Webers These vom Protestantismus als der entscheidenden Ursache für die Entstehung des Kapitalismus habe sich als unhaltbar erwiesen – dass Weber in der PE nichts dergleichen behauptet hatte, wurde übersehen.22 Aber es gibt Ausnahmen. Zu den Wirtschafts- und Sozialhistorikern, die der PE stets wohlgesonnen waren (und bis heute geblieben sind), zählt David Landes, der in seinem unübertroffenen Unbound Prometheus (1969) privates Unternehmertum, Rationalität und innerweltliche Askese als entscheidende Faktoren der europäischen Industrialisierung herausgestellt und später in seiner Geschichte der modernen Uhr darauf hingewiesen hat, dass die bedeutendsten Uhrmacher in Europa seit dem 16. Jahrhundert vornehmlich Protestanten waren (und dies als schöne Bestätigung Webers wertet).23 Für Deutschland müssen hier namentlich Wehler und Kocka genannt werden, die beide davon ausgehen, dass die im Protestantismus aus der „innerweltlichen Askese“ erwachsene spezifische Leistungsethik gerade für die deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von entscheidender Bedeutung gewesen ist, und darauf verweisen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Unternehmer im 18. und 19. Jahrhundert, soweit wir sie statistisch greifen können, Protestanten waren.24 Gleichwohl liegen sie damit, wenn man es ganz genau nimmt, doppelt ‚schief‘. Erstens sagt die bloße Konfessionszugehörigkeit gar nichts über die Motivation und das Gebaren des unternehmerischen Handelns. Weber selbst hat ja gleich zu Beginn der PE statistische Befunde als rein ‚äußerliche‘ Evidenz verworfen, weil das eigentliche Problem der „innere“ religiöse Antrieb zur rationalen „Lebensführung“ sei.25 22 Klassisch: Kurt Samuelsson, Religion and Economic Action: The Protestant Ethic, the Rise of Capitalism, and the Abuses of Scholarship, London 1961. 23 David S. Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, 2. Aufl. Cambridge 2003 (mit neuem Epilog, S. 556–565, ansonsten der Text von 1969); ders., Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge/Mass. 1983, S. 92–94. 24 Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, S. 36 f.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815– 1845/49, München 1987, S. 195–197. Beide beziehen sich auf Walter Stahl, Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft, Frankfurt 1973, der aus den ersten acht Bänden der ‚Neuen Deutschen Biographie‘ ein Sample von 363 im 18. und 19. Jahrhundert geborenen Unternehmern gezogen hatte, von denen 75 % Protestanten waren. 25 Man hat diese Wendung des Arguments immer wieder als Beweis dafür ins Feld führen wollen, dass Weber selbst nicht gewusst habe, was er eigentlich wolle, und daraus dann auch die Unhaltbarkeit der PE abgeleitet. Zuletzt in diesem Sinne Heinz Steinert, Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die Protestantische Ethik und der Geist

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Zweitens liegen sie zeitlich zu spät, denn Weber war davon ausgegangen, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die konfessionellen Unterschiede in dem Maße abgeschliffen hätten, in dem die ursprünglich religiös motivierte und nur für kleine Trägerschichten maßgebliche Arbeitsethik sich zum allgemeinen, für die gesamte Gesellschaft verbindlichen Leistungsstandard säkularisiert habe (in dieser einen Hinsicht bleibt das Beispiel Benjamin Franklins überzeugend). Historiographischer Rückzug. Im Kontext des Kalten Krieges hatte das Modernisierungsparadigma als heroische Fortschrittserzählung gedient, die den Siegeszug des Westens historisch untermauern sollte und gleichsam heilsgeschichtlich auf die Zukunft jenseits der imperialen Blöcke vorverweisen konnte. Dabei wurde die Bedeutung des religiösen Faktors für die moderne Wirtschaftsentwicklung gerne als Beleg für den Primat der ideellen Kräfte gegenüber den materiellen Momenten des historischen Prozesses gelesen. Weber, so hieß es, habe mit der PE Marx endgültig widerlegt.26 Inzwischen ist bekanntlich nicht nur der Kommunismus zusammengebrochen, sondern auch die selbstgerechte Fortschrittsgläubigkeit des westlichen Modernisierungsprojekts. Der Diskurs über die Moderne ist selbstkritisch geworden, von tiefer Skepsis geprägt, betont deren Fragilität und innere Widersprüchlichkeit. Von daher sollte man vielleicht erwarten, dass die PE nun auch für Soziologen endlich passé ist. Das glatte Gegenteil ist der Fall, denn gerade im Kontext postmoderner Neuorientierungen ist Webers PE eine ganz frische Aktualität zugewachsen. Sie wird heute nicht mehr als optimistisches Manifest der bürgerlichen Leistungseliten gelesen, sondern als Zeugnis der Enttäuschung, als verzweifelter Abgesang auf die Verheißungen der klassischen Moderne, ausgehend von Webers pessimistischer Prognose am Ende des Textes. An diesem inzwischen breit gefächerten interdisziplinären Diskurs sind zwar auch wieder Historiker beteiligt. Aber wenn man sich die einschlägigen interdes Kapitalismus, Frankfurt 2010 – eine kluge und gute informierte, aber zugleich bösartige und perfide Textanalyse, mit der ich mich an anderer Stelle ausführlich befasst habe (Sokoll, Protestantische Ethik, S. 59–63). – Ich selbst betrachte die beiden ersten Abschnitte der PE als gründlich misslungenen Einstieg (und stütze mich dabei, vor allem was Webers groteske Fehlinterpretation Franklins betrifft, nachdrücklich auf Steinert), meine aber, dass der übrige Text davon überhaupt nicht berührt wird. Historisch ernst zu nehmen ist die PE aus meiner Sicht ab dem Abschnitt über Luther (und genau der steht heute ziemlich gut da; dazu unten mehr). 26 Das war ein großes Selbstmissverständnis. Inzwischen besteht weitgehender Konsens, dass Weber und Marx gerade in ihrem Verständnis des modernen Kapitalismus intellektuell (wenn auch nicht politisch) ganz eng zusammenlagen. Näheres bei Robert J. Antonio/Ronald M. Glassman (Hg.), A Weber-Marx Dialogue, Kansas 1985 (Anthologie mit den wichtigsten Voten); Gregor Schöllgen, Max Weber, München 1998, S. 88–105.

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disziplinären Sammelbände zur PE ansieht, die in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen sind, so fällt auf, dass die Historiker sich entweder auf historiographische und rezeptionsgeschichtliche Themen beschränken oder die PE nur noch im Kontext ihrer Zeit lesen.27 Dadurch beleuchten sie (ebenso wie die Kollegen aus anderen Disziplinen, vor allem die Theologen) den intellektuellen und politischen Kontext, in dem die PE entstanden ist, woraus sich z.B. neue Perspektiven auf die konfessionellen Auseinandersetzungen im Kaiserreich und auf die Herausbildung des Kulturprotestantismus ergeben. Die PE wird zum Zeitzeugnis, genauer noch: zum Brennspiegel des schlechten Gewissens, das seit Nietzsches bitterer Diagnose einer Krise der modernen Kultur die klügsten und sensibelsten Köpfe plagte.28 All dies ist historisch von höchstem Interesse, etwa für die Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums, für die Mentalitätsgeschichte des Imperialismus oder für ein tieferes Verständnis des ‚Zeitalters der Nervosität‘ (Radkau), wie überhaupt Weber nicht nur mit der PE, sondern natürlich mit seinem gesamten Werk und in seiner ganzen widersprüchlichen Persönlichkeit seinen unverrückbaren Platz in der Geschichte des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts besitzt. Selbstredend gehören auch biographische Arbeiten hierher, namentlich diejenige von Radkau, 27 Schluchter, Webers Sicht des okzidentalen Christentums; Lehmann/Roth, Weber’s Protestant Ethic; Hartmut Lehmann/Jean Martin Ouedraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, Göttingen 2003; Wolfgang Schluchter/ Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus, Tübingen 2005; William H. Swatos Jr./Lutz Kaelber (Hg.), The Protestant Ethic Turns 100. Essays on the Centenary of the Weber Thesis, Boulder/Col. 2005; Sam Whimster (Hg.), Max Weber and the Spirit of Capitalism. 100 Years On, London 2007. 28 Das gilt natürlich über die eben genannten Sammelbände hinaus auch für die sonstige Literatur zu Weber, und auch ganz unabhängig davon, ob sie von historischer, soziologischer oder sonst welcher Seite stammt (wie überhaupt bei Weber jede enge fachwissenschaftliche Perspektive abwegig ist). Ich nenne nur (den unvergessenen) Detlev Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; Hartman Tyrell, Worum geht es in der „Protestantischen Ethik“? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, in: Saeculum 41 (1990), S. 130–177; Stefan Breuer, Max Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven, Tübingen 2006; Roman Köster/Werner Plumpe, Hexensabbat der Moderne. Max Webers Konzept der rationalen Wirtschaft im zeitgenössischen Kontext, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 4,2 (2007), S. 3–21; Gangolf Hübinger, Max Weber und die „universalgeschichtlichen Probleme“ der Moderne, in: Michael Kaiser/Harald Rosenbach (Hg.), Max Weber in der Welt. Rezeption und Wirkung, Tübingen 2014, S. 207–224; aus der älteren Literatur nur die bahnbrechenden Studien von Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. erw. Aufl. Tübingen 1974 (zuerst 1959); ders., Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt 1974.

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die wiederum eine eindringliche lebensgeschichtliche Deutung der PE bietet (Webers intellektuelle Selbstbefreiung aus der eigenen Leidensgeschichte seit dem Zusammenbruch 1898).29 Doch die eigentliche historische Frage, um die Weber selbst in der PE gerungen hat, nämlich die Frage danach, wann und wo sich die eigentümlichen psychologischen Antriebe jenes rationalen unternehmerischen Handelns herausgebildet haben, das den modernen Kapitalismus welthistorisch auszeichnet, wird von den Historikern ausgeblendet. Wie gesagt, ich verstehe gut, warum man sich als Historiker an den welthistorisch-vergleichenden Rundumschlägen, zu denen die PE im Zuge ihrer soziologischen Diffusion geführt hat, nicht beteiligen will. Aber diese Größenordnung ist doch gar nicht zwingend. Es gibt in der PE nämlich auch eine Ebene mittlerer thematischer Reichweite, auf die wir uns als Historiker durchaus einlassen können – und sollten.

4. Anschlussmöglichkeiten der PE in der aktuellen historischen Forschung Diskursgeschichte der religiösen Erfahrung. Auf weite Strecken der PE betreibt Weber das, was man aus heutiger Sicht als Diskursgeschichte bezeichnen würde. Er zeichnet im religiösen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts eine Neubewertung der Arbeit nach und stützt sich zunächst auf die Werke Luthers und Calvins, dann aber auch und vor allem auf die reichhaltige protestantische Erbauungsliteratur, die einen viel tieferen „Sitz im Leben“ besitzt. Methodisch kann dies auch heute noch als mustergültiges Vorgehen gelten. Es ist klug im Ansatz, bedachtsam in der Durchführung, und von einem glasklaren Erkenntnisinteresse geleitet, das darauf zielt, herauszufinden, inwiefern der Protestantismus jenseits aller dogmatischen Grundentscheidungen (etwa in der Frage der Sakramente) und aller Belange der kirchlichen Neuorganisation (etwa durch das Gemeindeprinzip) auch das profane Alltagshandeln der Menschen bestimmt hat – und zwar nicht von außen (etwa durch verschärfte „Kirchenzucht“, also das, was wir heute Sozialdisziplinierung nennen), sondern im tiefsten Inneren der individuellen Gewissensbindung. Weber fragt ausdrücklich nach der „Lebensführung“ im Bereich des wirtschaftlichen Handelns und verwendet später (in den Entgegnungen auf Rachfahl) den eng 29 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 253– 399. Ganz verunglückt dagegen (nicht nur) das PE-Kapitel bei Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014, S. 522–544; zur Kritik Sokoll, Protestantische Ethik, S. 66–73.

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damit verwandten Begriff des „Habitus“ (der heute so gern allein Bourdieu zugeschrieben wird).30 Damit will ich nicht sagen, dass Webers Antwort in jeder Hinsicht trägt. Im Gegenteil: Wenn Weber meint, dass die protestantische Arbeitsethik aus der tiefsten Einsamkeit des von seiner Gewissenspein geplagten einzelnen Gläubigen entsprungen ist, in die ihn Calvins harte Prädestinationslehre gestürzt hatte, so hat sich diese Deutung als unhaltbar erwiesen. Die meisten Puritaner des 17. Jahrhunderts, darunter auch Baxter, Webers wichtigster Kronzeuge, lehnten nämlich die Prädestinationslehre ab und vertraten stattdessen einen Vorsehungsglauben, wonach sich der gnädige Gott allen rechtschaffenden Christen erbarmt und ihnen für den rechten Weg der Tugend positive oder negative Zeichen sendet (z.B. beruflicher Erfolg oder Krankheit). Außerdem waren die Puritaner ebenso wie die Mitglieder der übrigen radikal-protestantischen Gruppen alles andere als religiöse Einzelkämpfer, die in stiller Verzweiflung ihr Gewissen zermartert hätten. Sie verfochten vielmehr ein radikales Gemeindechristentum. In Flüchtlingsgemeinden, wie z.B. ab dem 16. Jahrhundert bei den Calvinisten und Mennoniten am Niederrhein oder ab dem späten 17. Jahrhundert bei den Hugenotten, war das Gemeindeprinzip besonders ausgeprägt. Als konfessionelle Minderheiten (im lutherischen oder katholischen Umfeld) waren ihre Mitglieder nicht nur religiös, sondern auch sozial besonders hart zusammengeschweißt, und nicht zuletzt deshalb auch ökonomisch so erfolgreich.31 Andererseits hat der Protestantismus die Individualisierung der religiösen Erfahrung tatsächlich massiv befördert, wie die zahlreichen Tagebücher und Autobiographien vor allem puritanischer und pietistischer Provenienz eindrücklich belegen, die erst durch die neuere Forschung erschlossen worden sind. Dies sind tatsächlich Zeugnisse der systematischen Selbstkontrolle und methodischen Lebensführung, die sich mitunter sogar als regelrechte Gewissensbuchführung darstellen: Tag für Tag werden Vergehen und Versuchungen gegen gute Taten

30 Nur die wichtigsten Belegstellen: Lebensführung: MWG I/9, S. 292–294, 307, 363, 365 u. 424; Habitus: Ebd., S. 585 u. 597 (Antikritisches, 1909), S. 730 (Schlußwort, 1910). 31 Lehmann, Asketischer Protestantismus, S. 546–548; Kaspar von Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000, S. 146–154. Zum Puritanismus im politischen Kontext des englischen Bürgerkrieges Hans-Christoph Schröder, Max Weber und der Puritanismus, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 459–478; Hans-Dieter Metzger, Webers Quellen. Eine Fußnote zur Protestantischen Ethik, in: Udo Sträter (Hg.), Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, Bd. 1, Halle 2005, S. 325–337.

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und fromme Gedanken verrechnet. Auf diesem Feld lässt sich Webers Ansatz in kritischer Auseinandersetzung positiv weitertragen.32 Historische Semantik der Arbeit. Weber sieht in der protestantischen Arbeitsethik den entscheidenden mentalitätsgeschichtlichen Hebel für die Herausbildung des modernen Kapitalismus. Indem sich der moderne Unternehmer derselben „asketischen“ Leistungsorientierung unterwirft, die er von seinen Arbeitern vertraglich erwartet, bricht er radikal mit der für die Führungseliten aller alteuropäischen Gesellschaften typischen Vorstellung, Arbeit (vor allem schwere Handarbeit) sei grundsätzlich ‚schmutzig‘, unehrenhaft und stehe einem freien Manne nicht an. Dagegen steht nun die sozialethische Aufwertung der Arbeit im Protestantismus: Berufsarbeit als „innerweltliche Askese“, die jeden Christenmenschen in die soziale Pflicht nimmt. Weber sieht die entscheidende Weichenstellung für den Mentalitätswandel im Selbstverständnis der ökonomischen Führungsschichten in Luthers Berufskonzeption, und es zählt zu den methodischen und darstellerischen Glanzstücken innerhalb der PE, wie er diesen Mentalitätswandel buchstäblich entschlüsselt, nämlich als nicht intendierte Folge der semantischen Konvergenz zweier ursprünglich ganz unterschiedlicher Bedeutungsfelder: dem der göttlichen Berufung in den Heilsstand (lat. vocatio) mit dem der weltlichen Berufsarbeit (lat. labor bzw. opus).33 Soweit ich sehe, hat die neuere Forschung Weber in diesem Punkt bestätigt. Ich denke dabei zuallererst an die historisch-semantische Grundlagenforschung zum Bedeutungswandel der Begriffe ‚Arbeit‘, ‚Beruf‘ und ‚Stand‘, die Werner Conze und Otto Gerhard Oexle im Rahmen der Geschichtlichen Grundbegriffe geleistet haben – und betone dies auch deshalb, weil dieses wunderbare siebenbändige Lexikon noch immer viel zu wenig beachtet wird.34 32 Kaspar von Greyerz, Vorsehungsglaube und Kosmologie. Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1990; ders., Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert. Zur religiös-konfessionellen Identität der englischen Puritaner, in: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 9–28; ders., Biographical Evidence on Predestination, Covenant, and Special Providence, in: Lehmann/Roth, Weber’s Protestant Ethic, S. 273–284. 33 Die Einzelheiten habe ich an anderer Stelle ausgeführt, so dass ich mich hier auf die Grundlinien beschränken kann. Vgl. Thomas Sokoll, Vom äußeren Zwang zur inneren Verpflichtung. Überlegungen zur historischen Semantik von „Arbeit“ und „Beruf“ in Max Webers ‚Protestantischer Ethik‘, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 24,1 (2013), S. 198–220, hier S. 203–204. 34 Werner Conze, Arbeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Hg. Otto Brunner u.a., Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215; ders., Beruf, ebd., S. 490–507; Oexle, Stand/Klasse (Antike und Mittelalter), ebd., Bd. 6 (1990), S. 155–200 (dort auch alle Nachweise). Ergänzend Johannes Burkhardt u.a., Wirtschaft, ebd., Bd. 7 (1992), S. 511–594; Wilfried Nippel, Erwerbs-

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Auf dieser Grundlage können wir das Bedeutungsfeld, das die Moderne mit den Begriffen ‚Arbeit‘ und ‚Beruf‘, ‚Erwerbstätigkeit‘ und ‚Beschäftigung‘ verbindet, historisch viel besser sortieren als es zu Webers Zeiten möglich war. Im antiken (und biblischen) Verständnis war dieser Zusammenhang durch ein semantisches Spannungsfeld markiert, das drei begriffliche Pole besaß: (a) die Arbeit als körperliche Anstrengung (griech. ponos, lat. labor); (b) eine spezielle Erwerbstätigkeit, insbesondere als Handwerk, und das Werk(stück) als deren Ergebnis (griech. ergon, lat. opus); (c) das (wiederum vor allem handwerkliche) Können, die Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit, die auch geistige Leistungen einschließen konnten (griech. techné, lat. ars). Während opus und vor allem ars positiv konnotiert waren, schwangen bei labor negative Bedeutungen mit: schwere Last und Mühsal, bis hin zu Schmerz und Pein. Aus der negativen Semantik der körperlichen Arbeit (ponos/labor) erklärt sich die tiefe Abscheu, mit der in der griechisch-römischen Antike die herrschenden (und kulturell hegemonialen) Klassen der abhängigen Erwerbstätigkeit begegneten. Abgesehen von einer verklärenden Wertschätzung der Landarbeit, die seit Hesiod topisch fixiert und vor allem ideologisch motiviert war (Bauern galten als gute Soldaten), wurde jede Arbeit, die zur Sicherung des Lebensunterhaltes notwendig war, als äußerer Zwang und damit als untrügliches Zeichen mangelnder Freiheit sowie eines minderen sozialen Status angesehen. Für Aristoteles galt körperliche Arbeit und überhaupt jede Sorge um die „Notdurft des Lebensunterhalts“ (Pol. 1278 a 10) als eines freien Mannes unwürdig, für Cicero jede handwerkliche Arbeit als „schmutzig“ (de off. I, 150 f.). In der gesamten Antike war die Tugend (griech. areté, lat. virtus, auch prudentia) und gerade nicht die Arbeit des Bürgers Zierde.35 Im Christentum gab es eine deutliche Aufwertung in der sozialen Wertschätzung der Arbeit. Zugleich aber entwickelte sich die Vorstellung, dass sich die wahre Nachfolge Christi nicht ‚in dieser Welt‘, sondern erst in der radikalen Abkehr von den alltäglichen Geschäften erreichen lasse. Die mönchische Askese galt daher als höchste Form des Gottesdienstes – als besondere Lebensform, die nur wenigen dafür Auserwählten, sprich: den dazu „Berufenen“ zukomme. In dieser göttlichen „Schickung“ liegt denn auch der ursprüngliche Sinn des Wortes „Beruf“: es ist die „Berufung“ (lat. vocatio, daher engl. vocation) in arbeit in der Antike, in Jürgen Kocka/Claus Offe, Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt 2000, S. 54–66; Thomas Sokoll, Beruf, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Hg. Friedrich Jaeger, Bd. 2, Stuttgart 2005, Sp. 43–50. 35 Der neuerdings unternommene Versuch von Catharina Lis und Hugo Soly, bereits für die Antike eine positive Wertung der Arbeit auszumachen, überzeugt mich nicht (Catharina Lis/Hugo Soly, Worthy Efforts: Attitudes to Work and Workers in Pre-Industrial Europa, Leiden 2012, S. 13–98).

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den besonderen Stand derjenigen, die dem normalen weltlichen Leben entsagen und sich durch die Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams von allen übrigen Gruppen absondern.36 Demgegenüber galt die rein weltliche Berufsarbeit, namentlich in Handel und Gewerbe, nach wie vor als sozialethisch suspekt. Wenn Berthold von Regensburg im 13. Jahrhundert in seinen Predigten gegen den Betrug der Handwerker und Kaufleute wetterte und seine Zuhörer daran erinnerte, wie leicht im Handel das Tauschen ins Täuschen umschlage, so schrieb er im Grunde nur die alte aristotelische Auffassung fort, dass der Austausch zum Zwecke des Gelderwerbs wider die Natur sei. Für das Mittelalter ergibt sich somit eine schroffe Entgegensetzung von göttlicher „Berufung“ und weltlichem „Beruf“. Gottesdienst, die Sorge um das Seelenheil, und Arbeit, die Sorge um den Lebensunterhalt, waren zwei unterschiedlichen Lebenswelten zugeordnet, denen im funktionalen Ständemodell, das seit dem 11. Jahrhundert greifbar ist, die Betenden (oratores) und Arbeitenden (laboratores) entsprachen.37 Insofern kann man sagen, dass das mittelalterliche Christentum trotz der anfänglichen Aufwertung der Arbeit (vor allem im frühen Mönchtum) die aus der Antike überlieferte soziale Arroganz gegenüber allen niederen Beschäftigungen, die ‚nur‘ dem Broterwerb dienten und keine ‚höheren‘ Aufgaben für das Gemeinwohl (oder nunmehr: für Gott) darstellten, noch schärfer akzentuiert hat, indem die „Berufung“ in einen besonderen Stand der Auserwählten nun von ‚allerhöchster Stelle‘ aus imaginiert wurde. Der Protestantismus dagegen markiert einen radikalen Bruch dieser Tradition. Nach der Idee vom „Priestertum aller Gläubigen“ nämlich fallen Gottesdienst und Broterwerb, göttliche Berufung und weltlicher Beruf zusammen, woraus sich ein völlig neues Verständnis der gesamten Arbeitswelt ergeben hat. Weil selbst die schmutzigste Arbeit als eine von Gott zugewiesene Aufgabe galt, konnte die klerikale Verpflichtung zum asketischen Dienst keinen besonderen Rechtfertigungstitel mehr reklamieren. Aus dem Bruch mit der traditionellen Vorstellung der Askese als höchster Form des Gottesdienstes, die den Auszug aus dieser Welt erforderte, erwuchs eine neue Vorstellung der Askese als gewissenhafter Erfüllung der Pflichten in dieser Welt: „innerweltliche Askese“. Protestantismus und Unbarmherzigkeit. In den letzten Jahren hat Oexle diese Frage durch Studien zur Verschiebung der semantischen Verschränkung

36 Hierzu ist Webers Erörterung zu Luthers Berufsbegriff in der PE nach wie vor einschlägig (MWG I/9, S. 178–209). 37 Oexle, Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter, in: Kocka/Offe, Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 67–79.

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von Arbeit und Armut seit dem 14. Jahrhundert weiterverfolgt.38 Dadurch ergibt sich eine wichtige Ergänzung. Weber hat nämlich die Armut als Kehrseite der Arbeitsmedaille noch kaum bedacht. Dagegen sehen wir heute viel deutlicher, dass die protestantische Heiligung der Arbeit um den sozialethisch hohen Preis der Unbarmherzigkeit erkauft worden ist. Durch die protestantische Arbeitsethik wird zugleich der Stab über die Armut gebrochen. Im krassen Gegensatz zur traditionellen Wertschätzung der Armut in der Nachfolge Christi wird Armut nun (sofern sie nicht durch physische Unfähigkeit zur Arbeit verursacht ist) zum selbstverschuldeten Laster und zum sozialen Stigma des Faulenzers. Das Almosen verliert seine traditionelle Rechtfertigung als gutes Werk zum Lobpreis Gottes.39 Diese radikale Unbarmherzigkeit im protestantischen Kampf gegen Bettel und Müßiggang markiert allerdings nur die Zuspitzung eines mentalitätsgeschichtlichen Langzeittrends, der bereits im Spätmittelalter einsetzte. Der Zwang zur Lohnarbeit um jeden Preis für jeden kräftigen Arbeiter ist nämlich auch schon im berühmten Statute of Labourers von 1349 formuliert. Auch die ältesten Nürnberger Armenordnungen aus dem späten 14. Jahrhundert argumentieren ganz ähnlich. Als Startpunkt der ‚neuzeitlichen‘ Armutspolitik, die im Kern bis zur Herausbildung des modernen Sozialstaats im ausgehenden 19. Jahrhundert verfolgt wurde, wäre somit nicht die Reformation, sondern der sozialpolitische Repressionskurs anzusetzen, mit dem die Obrigkeiten auf die durch die Große Pest von 1347–50 hervorgerufenen Arbeitsmarktverschiebungen reagierten.40 Auf der institutionellen Ebene ging der bislang herausgestellte Mentalitätswandel mit der sukzessiven Entfaltung des modernen Arbeitsmarktes einher. Diesen Faktor hat Weber völlig richtig erkannt, auch wenn ihn die Brutalität der historischen Vorgänge nicht näher interessiert hat. Das ist insofern konsequent, als sein Argument vor allem auf das Selbstverständnis der ökonomischen Leitfiguren zielt und die Frage der von ihnen eingespannten Arbeitskräfte allenfalls am Rande berührt. Gleichwohl sehen wir heute, wenn wir nach der sozialen 38 Ebd.; zuvor bereits Otto Gerhard Oexle, Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt 1986, S. 73–100; Volker Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 488–512. 39 Hierzu nach wie vor die brillante Skizze von Herbert Lüthy, Protestantismus, Kapitalismus und Barmherzigkeit (1959), in: Ders., Werke, Bd. III: Essays I. 1940–1963, Zürich 2003, S. 341–356. 40 Oexle, Armut; Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000.

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Breitenwirkung dieses Umbruchs fragen, die Sozialdisziplinierung des ‚gemeinen‘ Volkes viel stärker als einen mit unerhörtem Leid der Betroffenen einher gehenden Gewaltvorgang. Soziale Trägerschicht. Als den entscheidenden sozialen Träger der protestantischen Ethik sieht Weber (gleich zu Beginn der PE) die „ökonomisch aufsteigenden ‚bürgerlichen‘ Klassen“, oder genauer (im ‚Antikritischen Schlusswort‘): die „aufsteigenden bürgerlichen Mittelklassen“41 – eine scheinbar klare Aussage, die aber forschungspraktisch unbrauchbar bleibt. Denn Weber setzt diese soziale Zuschreibung lediglich, ohne sie näher auszuführen, geschweige denn empirisch zu untermauern. Er nennt keine konkreten Beispiele (abgesehen von Benjamin Franklin) und lässt offen, ob er auch fleißige Handwerker oder nur Kaufleute und proto-industrielle Verleger im Sinn hat. „Mittelklasse“ ist Webers historische Beschwörungsformel für die heroische Phase des aufstrebenden Bürgertums, für asketische, sparsame Einzelgänger, für tatkräftige, leistungsfähige Pioniere, für eine Entwicklungsstufe des modernen Kapitalismus, in der sich die Betriebe noch in fester Hand befanden, wo Kapitalbesitz und Unternehmertum noch nicht getrennt waren und man für Fehlkalkulationen noch mit dem eigenen Vermögen haftete.42 Ich will nicht verhehlen, dass mir dieses Leitbild eines durch individuelles Unternehmertum verantwortungsethisch gebändigten Kapitalismus persönlich durchaus sympathisch ist, gerade angesichts der grotesken Turbulenzen eines sozial völlig entfesselten Finanzkapitalismus, die wir gegenwärtig erleben und erleiden. Doch zugleich muss ich an dieser Stelle mit Weber darauf bestehen, politische Werturteile und wissenschaftlich gesicherte Aussagen strikt auseinanderzuhalten. Die wissenschaftlich entscheidende Frage lautet, inwieweit Webers Leitbild historisch wirklich trägt. Ich weiß nicht, ob es einen Kapitalismus der bürgerlichen Mittelschichten jemals gegeben hat, möchte aber trotzdem dafür plädieren, den sozialen Typus des asketischen Unternehmers als historische Hypothese ernst zu nehmen. An diesem Punkt stehen wir im Grunde immer noch ziemlich am Anfang. Für das 18. und 19. Jahrhundert gibt es zwar schon eine Reihe von Arbeiten, die in diese Richtung weisen, etwa die älteren Studien von Friedrich Zunkel und Herbert Kisch und die neueren von Rudolf Boch und Peter Kriedte für das protestantische Unternehmertum im Rheinland.43 Noch aufschlussreicher ist 41 MWG I/9. S. 127 (PE, ähnlich ebd., S. 164 f., PE); S. 700 u. 706 (Schlußwort, 1910), ferner S. 596–599 (Antikritisches, 1909). 42 Näheres bei Sokoll, Vom äußeren Zwang, S. 208–211. 43 Friedrich Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834–1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Opladen 1962; Herbert Kisch, Die hausindustriellen Textilgewerbe am Niederrhein vor der industriellen Revo-

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der erst jüngst erschlossene Fall des Tuchkaufmanns Joseph Ryder in Leeds im 18. Jahrhundert, der in einem spirituellen Tagebuch von 14.000 Seiten über 30 Jahre hinweg peinlichste Rechenschaft über sein geschäftliches und privates Leben abgelegt hat. Ein dokumentarisches Kronjuwel der PE, das eindringlich belegt, wie untrennbar für diesen protestantischen Geschäftsmann äußerste Selbstdisziplin und asketische Bescheidenheit, harter Arbeitseifer und gewissenhafte Zeitdisziplin miteinander verknüpft waren.44 Doch gibt es nach wie vor, vor allem für das 16. und 17. Jahrhundert, einfach immer noch nicht genügend Fallstudien, die das Zusammenspiel von protestantischem Bekenntnis und unternehmerischem Habitus stichhaltig (will sagen: vom Quellenbefund her gesichert) nachvollziehbar machen. Vor allem fehlen noch immer die Gegenproben aufs katholische Exempel. Hier hat Peter Hersche mit seiner These der „intendierten Rückständigkeit“ der katholischen geistlichen Fürstentümer im Alten Reich, die mit dem Bekenntnis zu Muße und Verschwendung ein bewusstes Gegenmodell zur protestantischen Arbeitsethik entworfen hätten, einen interessanten Weg für die weitere Forschung gewiesen – und zugleich klar gemacht, dass er bislang kaum gepflastert ist. Es bleibt also noch viel zu tun.45

lution: Von der ursprünglichen zur kapitalistischen Akkumulation, Göttingen 1981; Rudolf Boch, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814–1857, Göttingen 1991; Peter Kriedte, Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes, Göttingen 2007. 44 Margaret C. Jacob/Matthew Kadane, Missing, Now Found in the Eighteenth Century: Weber’s Protestant Capitalist, in: American Historical Review 108 (2003), S. 20–49. 45 Peter Hersche, Intendierte Rückständigkeit: Zur Charakteristik des geistlichen Staates im alten Reich, in: Georg Schmidt (Hg.), Stände und Gesellschaft im alten Reich, Stuttgart 1989, S. 133–149; ders., Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg i.Br. 2006 (ebd., S. 94–111, eine einnehmende Diskussion der PE). Hersche hat überdies Webers Romaufenthalte genauer untersucht und damit nicht nur neues Licht auf dessen Haltung zum Katholizismus, sondern auch auf die Entstehung der PE geworfen. Vgl. Peter Hersche, Der Romaufenthalt (1901–1903) und Webers Verhältnis zum Katholizismus, in: Kasier/Rosenbach, Max Weber in der Welt, S. 145–158.

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„Bürokratischer Kältetod“ – Max Webers sozialwissenschaftliche Diagnose und sein anti-progressistischer Dekadenzglaube Wolfgang Schluchter und andere Weber-Experten halten die Bürokratiekonzeption und deren tragisch-pessimistische Überhöhung für einen schwachen Teil im Werk von Max Weber.1 Dafür kann man gewiss gute Gründe beibringen. Wenn es jedoch um die Wirksamkeit von Weber in seiner Zeit, in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod und bis heute geht, dann ist es gerade die Bürokratieanalyse, die immer wieder Aufmerksamkeit auf sich zieht.2 Sie hat nicht nur die moderne Bürokratieforschung3 und Organisationssoziologie inspiriert, die einen selbständigen Strang der Weber-Rezeption bildet4, sondern spielt auch in der politikwissenschaftlichen Regimeforschung eine wichtige Rolle. Der jüngste Aufschwung der Autoritarismusforschung geht mit einer neuerlichen Rezeption des Patrimonialismus einher, in der die moderne rationale Bürokratie als positive Kontrastfolie dient, ohne allerdings Webers Ambivalenzen ihr gegenüber zu reflektieren. Im sozialwissenschaftlichen Denken Max Webers ist unserer Ansicht nach die Bürokratiekonzeption zentral, nicht nur weil sie eine Schlüsselstellung in seiner Forschung einnimmt, sondern auch weil der Wissenschaftler Weber nicht vom politischen Denker und Zeitdiagnostiker separiert werden sollte. 1 Schluchter hat die Position häufiger entwickelt, zuletzt vgl. Wolfgang Schluchter, Grundlegungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte der Soziologie in systematischer Absicht, Tübingen 2015, 2. Aufl. in einem Band (Bd. 1, 2006; Bd. 2, 2007), Kap. 3. Ähnlich sind die Positionen in: Das Weber-Paradigma, Hg. Gert Albert u.a., Tübingen 2003 zu finden. 2 Wir verweisen nur auf einige klassische Bände: Bill Jenkins/Edward C. Page, The Foundations of Bureaucracy in Economic and Social Thought, 2 Bde., Cheltenham 2004; Peter M. Blau/Marschall W. Meyer, Bureaucracy in Modern Society (1957), 3. Aufl. New York 1986, und Martin Albrow, Bureaucracy, London 1970. 3 Für jüngere Literatur vgl. Hans-Ulrich Derlin u.a., Bürokratietheorie. Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden 2011. Dort heißt es mit Blick auf die Gegenwart, S. 10: „Es gibt keine einigermaßen geschlossene Bürokratietheorie.“ 4 Nahezu alle Einführungen in die Organisationssoziologie beginnen mit Webers Bürokratietheorie, wobei Bürokratie mit Organisation als ein „geschlossenes System“ gleichgesetzt wird.

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In diesem Sinne interpretieren wir Max Weber als intervenieren­den sozialwissenschaftlichen Theoretiker. Damit schließen wir methodisch an Autoren wie Quentin Skinner und Kari Palonen an, die Theorien im Kern als politisch begreifen.5 Das gilt selbst für Theorien, die wie bei Weber dezidiert der ‚Objektivität‘ verpflichtet sind. Sie zielen nämlich auf eine Neubeschreibung der sozialen Wirklichkeit vermittels einer veränderten Terminologie und modifizieren dadurch, was überhaupt als politisch gilt. Das ist wiederum ein politisches Manöver. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur sinnvoll, nach normativen Voraussetzungen von Theorien zu fragen, die bewusst oder unbewusst in sie einfließen, sondern auch nach den Konsequenzen, die diese Voraussetzungen zeitigen. Setzt man solchermaßen den Akzent auf das Werk von Weber, dann spielen Interpretationen von Wilhelm Hennis, Kari Palonen, Robert Eden und Lawrence Scaff und anderen eine wichtige Rolle, da sie Weber in einem weiten Sinne als Politikwissenschaftler deuten. Wenn wir uns in diesem Rahmen der Diagnose eines „bürokratischen Kältetod“6, dem stählernen Gehäuse der Hörigkeit – von dem Weber zeitdiagnostisch sprach – widmen, so nehmen wir damit das Bürokratisierungstheorem in seiner Breite in den Blick und tragen zur Klärung der Frage bei, auf welche Weise es seine prominente Bedeutung erhielt. Trotz der Berge an Weber-Literatur sehen wir darin einen Zugang zu Webers Bürokratietheorie, der bei weitem noch nicht ausgeschritten ist. Wie aktuell das Thema ist, lässt sich anhand einer jüngst erschienenen Arbeit von David Graeber illustrieren, der der politischen Linken vorwirft, im Unterschied zu den Konservativen über keine Bürokratiekritik mehr zu verfügen, und der den Begriff der Bürokratie für sie neu zu besetzen sucht. Dabei kritisiert Graeber Max Weber zusammen mit Michel Foucault, weil beide zwar die Ambivalenz von Bürokratie, deren Rationalität sowie Disziplinierungs- und Konditionierungseffekte aufzeigen würden, sie aber gleichwohl für unumgänglich halten. Auch wenn wir die Diagnose einer „totalen Bürokratisierung“ in der Gegenwart7, die als Konditionierung, Formalisierung und vor allem als Überschüttung mit Formularen, die das ganze Leben von der Wiege bis zur Bahre begleiten, nicht weiter diskutieren, sollen unsere theorie- und 5 Vgl. Quentin Skinner, Visionen des Politischen, Hg. Marion Heinz/Martin Ruehl, Frankfurt 2009 (Visions of Politics, Cambridge 2002), und Kari Palonen, Das „Webersche Moment“. Zur Kontingenz des Politischen, Opladen 1998, sowie ders., Eine Lobrede für Politiker. Ein Kommentar zu Max Webers „Politik als Beruf“, Opladen 2002. 6 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 105. 7 David Graeber, Bürokratie. Die Utopie der Regeln, Stuttgart 2016, S. 24. In seiner Lesart von Webers Bürokratietheorie fehlen viele Paradoxien und Dysfunktionales, auf die Weber hinweist.

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ideengeschichtlichen Überlegungen verdeutlichen, wie viel differenzierter die Webersche Bürokratietheorie und -kritik angelegt ist. Wir möchten im Folgenden zeigen, dass unterschiedliche weltanschauliche Motive und wissenschaftliche Erkenntnisse in die Webersche Zeitdiagnostik der Bürokratisierung und deren leitende Metaphern eingeflossen sind. Dafür werden einige Eckpunkte im Werk von Max Weber markiert, ohne den Anspruch zu erheben, die Thematisierung von bürokratischer Herrschaft werkgeschichtlich nachzuzeichnen. Biographisch wächst Weber mit dem Mythos der effizienten preußischen Bürokratie auf, relativiert diesen allerdings deutlich.8 Außer den bekannten Passagen im postum zusammengestellten Band „Wirtschaft und Gesellschaft“ finden sich wesentliche Äußerungen zur Bürokratie in der „Protestantischen Ethik“ von 1903/04, in den Reflexionen zur Reise in die Vereinigten Staaten (1904) und in der Russland-Schrift von 1906. In den zuletzt genannten Texten zeigt sich schon der international vergleichende Charakter seiner Konzeption von Bürokratie. Seit der Wiener Tagung des Vereins für Sozialpolitik von 19099 rückt das Thema in den Vordergrund und ist danach ständig in der Staats- und Rechtssoziologie, in der vergleichenden Religionssoziologie und in den politischen Schriften um den Ersten Weltkrieg präsent. Statt werkgeschichtlich gehen wir systematisiert in drei Schritten vor. Zunächst interessieren die Quellen und Motive des Dekadenzglaubens von Weber (1), der seiner Zuspitzung der Bürokratisierungsthese zugrunde liegt und zugleich in Spannung zu dieser steht – eine Spannung, die durch Metaphern und dramatisierende Rhetorik überblendet wird. Danach erörtern wir in mehreren Unterpunkten Kernüberlegungen der wissenschaftlichen Diagnose universaler Bürokratisierung in der Moderne und setzen sie zum Dekadenzglauben ins Verhältnis. Diese Universalisierung analysiert Weber in verschiedenen historischen und geographischen Kontexten. Die USA, Russland und Deutschland liefern dabei nicht nur reichhaltiges Material, an denen sie entwickelt wird, sondern stehen auch für unterschiedliche Pfade, die die allgemeine Trendaussage eher verstärken als schwächen. Zugleich tritt bei deren Analyse die Verknüpfung von Bürokratietheorie und Zeitdiagnostik und Webers Suche nach Chancen 8 Palonen (wie Anm. 5), S. 88–97. 9 Vgl. dazu Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild (1926), München 1989, S. 420 f. Max Webers Diskussionsbeitrag, der sich massiv gegen die „Leidenschaft für die Bureaukratisierung“ wendet, ist in: [Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden], Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe (im Folgenden MWS) I/8, Tübingen 1999, S. 127–130 dokumentiert. Hier findet sich auch eine ausgeprägte Maschinen- und Mechanisierungsmetaphorik, auf die wir in Abschnitt 3 noch zurückkommen.

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für politische Gestaltung trotz der Verfallserwartung besonders hervor (2). Abschließend wird ein knappes Resümee gezogen (3).

1. Elemente und Motive des Weberschen Dekadenzglaubens Mit Dekadenzglauben bezeichnen wir Webers Überzeugung hinsichtlich eines grundlegenden historischen Trends in der Moderne, der unaufhaltsam zu Freiheitsverlust und Bürokratisierung führt. Diese Überzeugung fließt in seine wissenschaftlichen Analysen ein und ruft einige Spannungen mit diesen hervor. Dabei handelt es sich zum Teil um normative Annahmen, die Weber als solche nicht näher expliziert, auch wenn er einzelne Motive plausibilisiert und zumindest teilweise begründet. Den Dekadenzglauben teilt er mit seinem Bruder, Alfred Weber, der ihn 1910 trefflich als „Kulturgefühl“ umschrieb.10 Da dieser Glaube Webers Denken auf spezifische Weise lenkt, ist es wichtig, dessen Quellen und Konturen zu umreißen.11 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erscheinen uns vier konstitutive Elemente hervorhebenswert: Erstens ist hier Webers Selbstverortung als Angehöriger der Generation nach Bismarck zu nennen.12 Die Stimmung des Nachgeborenen, für größere politische Gestaltung zu spät gekommen zu sein, trägt Weber lange Zeit. Es ist eine ambivalente Gefühlslage. Einerseits bedauert Weber, nicht am großen Projekt der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands beteiligt gewesen zu sein; andererseits erlaubt ihm die Distanz eines später Geborenen, Fehler und Schwächen dieses Prozesses besser zu erkennen. In der harschen, aber auch von Bewunderung getragenen Bismarck-Kritik Webers tritt diese Ambivalenz immer wieder hervor. Die Verfallsperspektive ist auch in der Redeweise präsent, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg eine (aller-)letzte Chance zur Neugestaltung und zu einer weltpolitischen Rolle hätte, wenn sie denn angemessen erkannt und mit Parlamentarisierung, Föderalisierung und Demokratisierung (politisch und auch sozial) auf sie reagiert würde. Die Politischen Schriften von 1918–20 haben nicht nur, weil der Erste Weltkrieg in einem Desaster endet, 10 Alfred Weber, Der Beamte (1910), in: Ders., Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906–1958), Hg. Richard Bräu, Marburg 2000, S. 98–117. 11 Wenn Schluchter im Anschluss an Imre Lakatos einen harten Kern von Theorien betont, der durch negative Hermeneutik vor Widerlegungen geschützt wird, dann spricht er in anderer Weise als wir theoretisch-normative Überzeugungen an. Vgl. Schluchter, Grundlegungen (wie Anm. 1), S. 10 f. 12 Vgl. u.a. Max Weber, Brief vom 14. Juli 1885 an Hermann Baumgarten, in: Ders., Jugendbriefe, Tübingen o.J. (1936), S. 165–176, hier S. 173 f.

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einen tragischen Atem, sondern auch weil Weber als Kenner der deutschen Verhältnisse die Erneuerungschancen für recht begrenzt hält. Ein zweites Element seines Dekadenzglaubens reflektiert sozialstrukturelle Zusammenhänge. Weber zieht diesen Glauben auch aus der bekannten – in seiner Freiburger Antrittsvorlesung beschriebenen – sozialen Lagerung seiner Zeit, in der weder das Bürgertum noch der Adel und auch nicht die Arbeiterklasse als gesellschaftliche Schicht in der Lage sind, die politische Führung zu übernehmen.13 Ergänzt wird es durch eine politisch-kulturelle Diagnose, nach der im Kaiserreich ein unterentwickelter Parlamentarismus und begrenzter Parteienwettbewerb mit einer Kultur von Führerverehrung und Beamtenherrschaft korrespondieren. Statt selbständiger Akteure gibt es, wie der 21-jährige Weber in einem Brief an den Vater schreibt, „lauter Nullen“.14 Epigonentum und die Sehnsucht nach einem neuen Cäsar dominieren, diagnostiziert er in seiner Antrittsvorlesung von 1895. Dies stützt ebenfalls weltanschauliche Dekadenzannahmen, allerdings in der besonderen Form, dass der Niedergang vermeidbar wäre, wenn es kompetente Akteure gäbe. In seiner Analyse möglicher politischer Akteure bezieht der bekennende Vertreter der bürgerlichen Klassen die Arbeiterschaft und deren Organisationen ein, wobei er am ehesten noch bei den Gewerkschaften die erforderliche politische Energie und praktisch-organisatorische Kompetenz zu finden glaubt.15 Jedoch auch diese Hoffnung löst sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Über die in der Sozialdemokratie und bei den Gewerkschaften erfolgende Bürokratisierung, die Weber und Robert Michels beobachten, wird noch zu sprechen sein. Wichtig ist es im Moment festzuhalten: Erst der Ausfall aller Anwärter einer politischen Neugestaltung in Deutschland verstetigt die Verfallserwartungen und bringt Weber zu der Überzeugung, dass es in Deutschland vor allem an Führungspersonal, an geeigneten Eliten mangelt. Ein drittes Element des Dekadenzglaubens bildet das emphatische Freiheitsverständnis Webers, das den normativen Rahmen für die Kritik an Bürokratie abgibt. In diesem Verständnis fließen nietzscheanische Prägungen und großbürgerlich-heroische Vorstellungen zusammen, was hier nur knapp illustriert werden kann. Bekanntlich war Weber von Nietzsche stark beeindruckt. Das betraf zum einen Nietzsches heroisch-existentielle Annahme einer möglichen 13 Ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: Max-Weber-Gesamtausgabe I/4-2, Tübingen 1993, S. 543–574, hier S. 571 f. 14 Ders., Brief vom 15. März 1885 an den Vater, in: Ders., Jugendbriefe (wie Anm. 12), S. 148–153, hier S. 153. 15 Ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (wie Anm. 13), hier S. 573, ist vom Fluch „einer politisch großen Zeit ... nachgeboren zu sein“ die Rede, und auf S. 569 spricht Weber „das harte Schicksal politischen Epigonentums“ an.

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Selbststeigerung des Menschen zum Übermenschen und die Vorstellung kraftvoller, gestaltender Führung, die bei Weber eher politisch, denn philosophisch bzw. kulturtheoretisch ausgemünzt wird. Zum anderen fasziniert Weber das Dekadenzdenken von Nietzsche, wobei ihn weniger die transhistorischen Behauptungen eines Verfalls seit Sokrates und dem frühen Christentum interessiert, sondern die Kritik an den nivellierenden Tendenzen der Gegenwart und an der Selbstverzwergung der Menschen, die Weber auf die Bismarck-Ära bezieht. Das sind starke Dekadenzmotive, die sich gleichermaßen gegen die bürgerliche Ideologie der Weltangepasstheit, die überall Fortschritt erkennen zu können vermeint, und gegen den komplexeren Fortschrittsglauben der Arbeiterbewegung wenden lassen.16 Die fehlende „katilinarische Energie“17, mehr noch der verbreitete „Wille zur Ohnmacht“18 – so berühmte Webersche Prägungen – versperren Gestaltungsmöglichkeiten und Freiheitsspielräume. Von der Philosophie und Sprache Nietzsches inspiriert ist womöglich auch die Lust an der dramatischen Zuspitzung von Zeitdiagnosen, die als ein viertes Element gelten kann. Dazu gehören zweifelsohne Webers bekanntes Diktum, dass letzte Reste der Freiheit zu sichern seien, um nicht der langfristig unaufhaltsamen Bürokratisierung anheim zu fallen19, seine Metapher vom Gehäuse der Hörigkeit und die Zuspitzung einer (aller-)letzten Chance für die Deutschen, selbst nach dem Ersten Weltkrieg noch eine weltgeschichtliche Rolle spielen zu können, wenn das Land sich gründlich reformiert. Diese tragisch-pessimistischen Diagnosen dienen rhetorisch der Aufrüttelung und Mobilisierung. War bei Weber der Dekadenzglaube anfangs noch nationalstaatlich eingefasst, so erhält er später weltgeschichtliche bzw. modernetheoretische Dimensionen, die nicht weniger dramatisch formuliert werden. Es geht nun um universalgeschichtlich 16 Zur Kritik des Etatismus vgl. Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 13, 2. Aufl. Berlin 1988, S. 123: „Der Staat hat, von 1789 an, teufelsmäßig die Rechte von Jedem absorbiert, und ich frage mich, ob nicht, unter dem Namen der vollkommenen Herrschaft des Staates, uns die Zukunft noch eine ganz andere Tyrannei vorbehält, servi par le despotisme d’une bureaucratie française“ (November 1887–März 1888). 17 Davon ist u.a. in der Freiburger Antrittsvorlesung die Rede, vgl. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (wie Anm. 13), S. 570. 18 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: MWS I/15, Tübingen 1988, S. 202–302, hier S. 242. 19 Der locus classicus ist die Passage ebd., S. 222: „Angesichts der Grundtatsache des unaufhaltsamen Vormarsches der Bureaukratisierung kann die Frage nach den künftigen politischen Organisationsformen überhaupt nur noch so gestellt werden: 1. Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bureaukratisierung überhaupt noch möglich, irgend welche Reste einer irgendeinem Sinn ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten.“

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letzte Chancen des Aufbaus einer freiheitlichen Ordnung in den USA und in Russland, auf die noch zurückzukommen ist. Aber auch diese stehen schon unter dem Schicksal einsetzender Bürokratisierung wie im Falle der USA oder überkommener und neuer Bürokratie im Falle Russlands.

2. Sozialwissenschaftliche Diagnose universaler Bürokratisierung in der Moderne Die Webersche Bürokratiekritik ist unter Historikern und Weber-Biographen umstritten. Die meisten halten sie für überzogen.20 Weber thematisiert die Bürokratie in ihren Nachteilen und Vorzügen, als sie noch nicht sehr ausgeprägt ist, wobei sich der Akzent situativ verschiebt. So verteidigt er sie in der Revolutionszeit nach dem Ersten Weltkrieg gegen jede Form von Dilettantenherrschaft, während er zuvor mit Blick auf das Bismarck-Regime die Schwächen herausstreicht. Schaut man sich die Zahlen der Beamten in Relation zur Bevölkerung an, dann muss man in der Tat konstatieren, dass das Ausmaß der Bürokratie verglichen mit heutigen Verhältnissen auch nach dem Ersten Weltkrieg noch gering anmutet. Dennoch gilt Weber, der gerne etwas aus den Kontexten gelöst wird, als einer der wichtigsten Propheten der Bürokratisierung, auch weil er klar prognostiziert hat, dass der Sozialismus/Kommunismus zu ungeheuerlicher Bürokratie führen wird – ein Prozess, der etwas später von Protagonisten des Sozialismus, insbesondere von Lew Bronstein (Trotzki), Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, in Analogie zur Bürokratisierung unter Napoleon I. als (stalinistisch)-bürokratische Erstarrung gedeutet wird. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Franz Kafkas hellsichtige Romanfragmente, die eine unglaubliche, menschenverachtende Bürokratisierung thematisieren, etwa zur gleichen Zeit entstanden.21 Im Unterschied zu Otto Hintze kam Weber nicht über die Analyse des frühneuzeitlichen Militär- und Beamtenstaates zur Bürokratie, sondern er stieß bei seinen Studien zur antiken Wirtschaftsgeschichte, zu den ostelbischen Land20 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 502– 506; Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014, S. 258– 262. 21 Vgl. Hans-Ulrich Derlien, Bürokratie in der Literatur und Soziologie der Moderne. Über Kafka und Max Weber, in: Die Modernität des Expressionismus, Hg. Thomas Anz/Michael Stark, Stuttgart 1994, S. 44–61, und Jens Dreisbach, Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka, Münster 2009.

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arbeitern und dem Geist des Protestantismus auf das Problem.22 Wenn man vor diesem Hintergrund die sozialwissenschaftliche Diagnose der universalen Bürokratisierung in der Moderne genauer erörtert, dann lassen sich vier Analyseebenen unterscheiden, auf denen Weber sie entfaltet: die Ebene des idealtypischen Begriffs (2.1), der prozessualen Untersuchung der Ursprünge und Universalisierung von moderner Bürokratie (2.2), der vergleichenden universalgeschichtlichen Analysen zur Bürokratieentwicklung in den USA und in Russland (2.3) – und schließlich der Fallanalyse der deutschen Bürokratie in den politischen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg (2.4).23 Bei dieser breiten Anlage auf vier Ebenen ist festzuhalten, dass Bürokratisierung gerade nicht identisch ist mit Durchstaatlichung. Wiewohl Letztere eine große Rolle spielt, hat Weber bekanntlich zunächst die Bürokratisierung und die Berufsidee eng zusammengedacht. In der berühmten Stelle in der „Protestantischen Ethik“ heißt es schon in der Erstfassung von 1905, dass die Berufsidee zum „stahlharten Gehäuse“ wird.24 Aus den Berufen und der mit ihnen einhergehenden Professionalisierung und Rationalisierung ist dann die Idee universeller Bürokratisierung entstanden, mit der er sich gerade durch die Dekadenzerwartung einen bis heute erhellenden Zugang zu historischen Entwicklungen erschließt. Die verwandten Metaphern vom Gehäuse, dem Betrieb, Apparat und immer wieder der Maschine bleiben aber zugleich hinter der Differenziertheit der Analyse zurück und verbauen auch Erkenntnisse.

2.1 Der Idealtypus der Bürokratie In Webers Idealtypenlehre werden in konstruktivistischer Weise bestimmte Elemente so gesteigert, dass sie an Trennschärfe gewinnen und neue Einsichten ermöglichen. Der Idealtypus der modernen Bürokratie ist ein Mittel zur 22 Jürgen Kocka, Otto Hintze, Max Weber und das Problem der Bürokratie, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 65–105, hier S. 78 f. 23 Ähnlich differenziert Reinhard Bendix, Max Weber. Das Werk: Darstellung, Analyse, Ergebnisse, München 1964, hier S. 321–327. Der Preis der breiten Anlage bei Weber ist, dass der Begriff der Bürokratie nicht auf bestimmte, gar nur politische Organisationen eingeschränkt wird, wie es oft gefordert wird. Vgl. z.B. Martin Albrow, Bürokratie, München 1972, S. 146 f. 24 Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920, Hg. Klaus Lichtblau/Johannes Weiß, 2. Aufl. Weinheim 1996, S. 152–155. Dort ist zuerst noch von „chinesischer Versteinerung“ die Rede und erst später von „Fellachentum“.

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Erkenntnis von historischen Ursprüngen, Wegen und Varianten der Bürokratisierung. Moderne Bürokratie beruht, verknappt gesagt, zum einen sachlich auf der Trennung der Akteure von den Verwaltungs- bzw. Betriebsmitteln und der Konzentration dieser sachlichen Mittel25; zum anderen kennzeichnet sie eine feste Amtshierarchie und Arbeitsteilung mit eindeutiger Kompetenzordnung, Hauptberuflichkeit und formaler Rationalisierung. Die Beamten sind fachgeschult und akkumulieren durch ihre Tätigkeit ein spezifisches Dienstwissen, das mit der fachlichen Qualifikation nicht identisch ist. Sie werden zudem geldlich entlohnt und sozial abgesichert. Darüber hinaus kennzeichnen diese Gruppe spezielle soziale Rekrutierungs- und Aufstiegswege und ein besonderes, an Disziplin, Sachlichkeit, Unpersönlichkeit und Aktenführung orientiertes Ethos.26 Als zentrale Leistung der Bürokratie gilt die Effizienzsteigerung der Prozesse, weshalb die Bürokratie auf technisch-sachlichem Gebiet „unüberbietbar“ ist.27 Webers ausdrücklicher Verweis auf andere politisch-kulturelle Rationalitätsformen stellt die Leistung der Bürokratie nicht in Frage, sondern betont lediglich, dass etwa das Handeln von Entscheidern in Politik und Wirtschaft oder in Kunst, Wissenschaft und in weiteren Wertsphären jeweils eigenen Logiken folgt. Das Besondere an Webers Position wird vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kritik an der Bürokratie deutlich, von der er sich abgrenzt. Diese Kritik konzentrierte sich auf das unpersönliche Vorgehen, das weder Raum für schöpferisches Handeln ließe, noch der Spezifik vieler unterschiedlicher Vorgänge gerecht würde.28 Auch wenn diese Kritik ein Problem der Abstraktheit generalisierter Rechts- und Verwaltungsvorschriften erfasst und die Geschichte moderner Organisationsentwicklung reich an Versuchen ist, Regelhaftigkeit und Hierarchie mit Kreativität zu verbinden, so verkennt sie doch den entscheidenden Vorzug moderner Bürokratie, auf dem deren Effizienz und Berechenbarkeit beruht. Unpersönliches Vorgehen, Bürokratie und die notwendige Produktion von Indifferenz betreffen dabei nicht nur die Beamten, sondern auch deren Klienten. Das macht, schlicht gefasst, die Veralltäglichung der Trennung von Amt und Person in der politischen Kultur aus. Sie ist für rechtsstaatliche Varianten sachlicher, bürokratischer Legitimität von ausschlaggebender Bedeutung, wie Weber in seinen historischen Untersuchungen herausstellt. Hannah Arendt hat 25 Ders., Parlament und Regierung (wie Anm. 18), S. 221; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, in: MWS I/22-4, Tübingen 2009, S. 30 – dort findet sich die prinzipielle Aussage „Die bürokratische Struktur geht Hand in Hand mit der Konzentration der sachlichen Betriebsmittel in der Hand des Herren.“ 26 Vgl. ders., Parlament und Regierung (wie Anm. 18), S. 214. 27 Zit. nach Marianne Weber (wie Anm. 9), S. 421. 28 Vgl. Bendix (wie Anm. 23).

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die Sachlichkeit moderner Bürokratie auf andere Weise zugespitzt, indem sie diese als „Niemandsherrschaft“ pointiert29; aber Arendt verfehlt den wichtigen Punkt, der mit Webers Legitimitätstheorie zusammenhängt, nämlich dass die Wertschätzung und Geduld gegenüber häufig langwierigen juridischen Verfahren auf Seiten der Klienten eingeübt und tradiert werden muss. Gerade dieser Aspekt der Produktion von Indifferenz wird in ethnologischen Arbeiten als symbolisch-praktische Voraussetzung westlicher Bürokratie begriffen, die in anderen Weltregionen schwer zu generieren ist.30 Weber hält im Gegensatz zu Arendt am Begriff des Herrn als Ausübender der „Befehlsgewalt“ fest31, selbst wenn ein Demos die Befehlsgewalt überträgt und wir es im Rechtsstaat mit einer „Herrschaft des Gesetzes“ zu tun haben.32 Dem so verstandenen „Herren“ reserviert Weber schöpferische Gestaltungsspielräume. Führungspositionen, ob in Politik oder Wirtschaft, werden daher nach anderen Regeln als den bürokratischen besetzt. Der Unternehmer wird von den Industrieangestellten, der Politiker und die politischen Beamten werden vom Fachbeamten klar getrennt. Die systematische Trennung der Politik von Verwaltung, von Regelsetzung und Regelanwendung, öffnet die Tür zur Erkenntnis der systemischen Eigenlogik beider Sphären wie zum unterschiedlichen Ethos der Akteure. In dieser strikten Trennung von Regel-Setzung und (mechanischer) -Umsetzung liegt indes auch ein konzeptionelles Problem. Regelsetzung kann bekanntlich keineswegs jeden Anwendungsfall vorwegnehmen; Regeln sind auch immer unvollständig, das heißt sie müssen interpretiert und reinterpretiert werden. Regelsetzer können versuchen, dies durch immer weitere Formalisierung einzuengen, was dann eher mehr informelle Abweichungen provoziert33, oder von vornherein der Verwaltung Ermessensspielräume zugestehen. Beides schließt ein bestimmtes Moment von Kreativität der Bürokraten ein. Wie groß 29 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1985, S. 39; Bürokratie als Niemandsherrschaft gilt ihr als kommende „vielleicht schrecklichste Herrschaft“. 30 Vgl. Michael Herzfeld, The Social Production of Indifference. Exploring the Symbolic Roots of Western Bureaucracy, New York 1992, und Akhil Gupta, Red Tape. Bureaucracy, Structural Violence, and Poverty in India, Durham 2012. 31 Vgl. Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt 1991, S. 10 f., sowie Eva Kreisky, Das Geschlecht politischer Institutionen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 9 (1996), S. 585–595, hier bes. S. 588 f. Sie hat Webers Maskulinismus aufgespießt, ohne dessen Auffassungen zur Frauenemanzipation zu würdigen. 32 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 10. Vgl. dazu Breuer (wie Anm. 31). 33 Die russische/sowjetische Geschichte der Bürokratie ist hierfür ein hervorragendes Forschungsfeld.

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diese Spielräume sind, unterscheidet Bürokratien erheblich – eine Dimension, die Weber nicht reflektiert. Gleichwohl ist in Webers Unterscheidung von Fachund Dienstwissen die Erkenntnis angelegt, dass im akkumulierten Wissen der Bürokraten um den Umgang mit den gesatzten Regeln eine zentrale Quelle der Verselbständigung der Bürokratie liegt. In der Rezeptionsgeschichte durch die Organisationsforschung wurde dieses Problem zunächst als informelle Abweichung von festgesetzten Regeln aufgefasst und gegen Weber gewendet, wobei – wie oben angedeutet – Regelabweichung und die Interpretation unvollständiger Regeln gerade nicht identisch sind.34 Die mit der Differenzierung zwischen Formellem und Informellem einhergehende begriffliche Scheidung von Bürokratie und konkreter Organisationsanalyse entlastete die neue Disziplin von der Verengung auf eine unausweichliche Bürokratisierung. Sie rückte aber auch die Organisation aus Gesellschafts- und Herrschaftsanalyse heraus, ohne die Webers Herangehen an das Phänomen der Bürokratie bekanntlich nicht zu begreifen ist.35 Weber betont nicht nur den Verfall durch aggregierende Effekte einer umfassenden und linearen Bürokratisierung, sondern verweist auch auf Paradoxien, Dysfunktionales, ja sogar die Ineffizienz von Bürokratie, da Effizienzsteigerung durch Bürokratie nicht unbegrenzt und ohne Preis zu haben ist. Erhöhte Rationalität und Effizienzsteigerung in gesellschaftlichen Teilbereichen gehen nicht selten mit deren Abnahme in größeren Kontexten einher. Weber denkt zwar noch nicht in der Begrifflichkeit von formell und informell, thematisiert daher auch nicht, dass (zu starke) Formalisierung informelle Abweichung generiert, allein schon um deren Dysfunktionalität auszugleichen. Doch mit seiner Unterscheidung von formaler und materialer Rationalität nimmt er eine nicht minder wichtige Grenze der Bürokratisierung in den Blick. So weist Weber wiederholt darauf hin, dass fortgesetzte Verrechtlichung und Bürokratisierung die vorhandene Spannung zwischen Verfahrensrationalität und materialen Vorstellungen über Prozesse, etwa im Hinblick auf Gerechtigkeit, bis zur Legitimitätskrise rational-bürokratischer Herrschaft steigern kann. Derartige Differenzierungen 34 Meier und Schimank begründen die Bedeutung von Ermessensspielräumen der Bürokratie vor allem mit der Spannung zwischen Verfolgung von Organisationszielen (Zweckverfolgung) und Regelkonformität, die Weber übersehe. Das verkürzt aber das Problem der unvollständigen Regeln auf deren Passung zu den jeweiligen konkreten Organisationszielen und damit letztlich auf das Problem der Regelabweichung. Michael Meier/Uwe Schimank, Bürokratie als Schicksal? – Max Webers Bürokratiemodell im Lichte der Organizational Studies, in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 354–360, hier S. 355. 35 Vgl. Renate Mayntz, Soziologie der Organisation, Hamburg 1963.

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in der Analyse treten indes in der rhetorischen Bildersprache vom sich immer weiter perfektionierenden Betrieb oder Apparat zurück. Eine professionelle Beamtenschaft kann in verschiedene Varianten von Herrschaft, die unterhalb der Herrschaftstypen liegen, eingebettet sein. Idealtypisch ist sie mit formal-legaler Herrschaft verknüpft, bei der alle Akteure rechtlich gebunden und patrimoniale Elemente zurückgedrängt sind. Für seine Herrschaftstheorie und die in ihr eingeschriebene Dekadenzannahme ist aber die Verselbständigung dieser Bürokratie zu einem eigenen Herrschaftstyp, der „bürokratischen Herrschaft“ zentral. Bürokratische Herrschaft bedeutet für Weber die Verkehrung der Beziehung von Herrn und Stab, die mit einem Kontrollverlust des „Herrn“ über die bürokratische Organisation als „lebender Maschine“ einhergeht und die „Herren“ häufig in „Diener“, in „Subalterne“ verwandelt.36 Die Maschinenmetapher verdeckt, dass sich Weber ausführlich mit den Beamten als sozialem Stand soziologisch befasst und dabei auf der Basis des Idealtypus weitere Dimensionen herausarbeitet, die für die Verselbständigung der Bürokratie wesentlich sind: ihre Tendenz zur Schließung zu einer sozialen Gruppe mit eigener Ideologie, die von Macht und Weltangepasstheit geprägt ist und sich bis zu einer „Metaphysik“ des professionellen Beamtentums ausweiten kann.37 Kritiker an Webers Bürokratiekonzeption argumentieren immer wieder mit der Kontextgebundenheit der Weberschen Theorie, die aus dem Idealtypus moderner Bürokratie einen Realtypus preußischer Verwaltung macht.38 Die Kritik an der historischen Überbetonung der Befehlsgewalt ist systematisch den Argumenten der sich gründenden Organisationssoziologie verwandt. Sie scheint auf den ersten Blick durch Jürgen Kockas Feststellung gestützt, dass Ende des 19. Jahrhunderts die bürokratischen Tendenzen in Deutschland besonders scharf hervortraten, weil eine alte ungebrochene obrigkeitliche Tradition und neue Entwicklungen von Fachbeamtentum zusammentrafen.39 Die Zurückstufung des Idealtypus auf die preußische Verwaltung einer bestimmten 36 Man kann das Konzept bürokratischer Herrschaft z.B. mit Schluchter auch anders differenzieren. Er unterscheidet drei Varianten: A. Bürokratische Herrschaft sei immer vorhanden, wenn Verwaltungsstäbe statt Herren dominieren. B. Bürokratische Herrschaft existiere nur da, wo Fachqualifikation ausschlaggebend ist; sie trage die moderne Herrschaft von Verwaltungsstäben. C. Bürokratische Herrschaft bestehe dort, wo alles politische Handeln als Verwaltungshandeln erscheint (Patrimonialstaaten) – dann dominiert der Geist der Bürokratie. Vgl. ders., Rationalität der Weltbeherrschung, Frankfurt 1980, S. 88. 37 Zit. bei Alfred Weber (wie Anm. 10), S. 110. Vgl. dazu Derlien (wie Anm. 21), S. 67 ff. 38 Vgl. Dirk Käsler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn, München 2014, S. 21. 39 Vgl. Kocka (wie Anm. 22), S. 67.

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historischen Epoche unterschätzt jedoch nicht nur Webers theoretische Leistung, die auf einer breiten universalgeschichtlichen Analyse und der Analyse unterschiedlicher Organisations- und Verwaltungsformen ruht. Sie ignoriert darüber hinaus, dass Idealtypen implizit oder explizit mit strikten Gegensätzen arbeiten, für die es keine einfachen historischen Pendants gibt. Die Gegenbegriffe zur bürokratischen Herrschaft sind bei Weber Freiheit und Charisma. Beide Begriffe zielen auf die Nutzung großer sich bietender Chancen durch den „leitenden Mann“ bzw. „Herren“, der zwar in Verwaltungsangelegenheiten ein „Dilettant“ ist, aber gerade nicht dem „Geist“ des Reglements und dem Amtspflichtgefühl folgt, sondern im „Kampf um die eigene Macht“ eine „Eigenverantwortung für seine Sache“, sei es als Politiker oder Unternehmer, entwickelt; sie erlaubt ihm, die Bürokratie zu begrenzen und durch kreative Entscheidung neue Wege zu beschreiten.40 Webers Affinität zu Nietzsche kommt hier deutlich zum Tragen. Denn der Kontrollverlust der „Herrscher“ über die Bürokratie vollzieht sich für Weber keineswegs zwangsläufig, sondern bleibt historisch umkämpft. Immer wieder ist von der persönlichen Größe der Führungsfiguren, deren „Züchtung“ und „Auslese“ in Gesellschaft und Politik die Rede, die Webers Suche nach heroischer politischer und gestaltungsmächtiger Führung unterstreicht.41 Weber ist gleichwohl kein naiver Elitist, da institutionelle Gegengewichte zur Bürokratie ihm nicht weniger wichtig sind. Er sieht sie in eingeschränktem Maße in der Monarchie, vor allem aber im demokratisch gewählten Parlament, im Parteienwettbewerb und im Privateigentum. Mit Akribie und Vehemenz analysiert Weber die Bedrohung und Schwächung dieser Gegengewichte zur universellen Tendenz der Bürokratisierung als Freiheitsverlust.

2.2 Ursprünge und Universalität moderner Bürokratie Weber hat die Eigenschaft der modernen Bürokratie und die Tendenz ihrer Universalisierung in vielen gesellschaftlichen Bereichen herausgearbeitet: im Berufsleben, in der Kirche, beim Militär, im Staat im engeren Sinn, der Wirtschaft, der Wissenschaft, in Parteien und Verbänden. Stets ist die Trennung von Akteuren von ihren Betriebsmitteln die Voraussetzung für deren zentralisierte, formalisierte Verwaltung. Weber greift bei der Darstellung dieser materialen Grundlage auf die Schriften von Marx und Tocqueville zurück, die er deutlich erweitert. So interessiert ihn nicht nur der Enteignungsprozess der Aristokratie im Absolutismus, den Tocqueville untersucht hat, oder die 40 Vgl. u.a. Weber, Parlament und Regierung (wie Anm. 18), S. 222 f. 41 Kocka (wie Anm. 22), S. 82 u. 85.

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Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln, die Marx zur Grundlage der freien Lohnarbeit erklärt. Vielmehr weitet Weber das Feld im genannten Sinne auf andere Bereiche aus, schaut sich immer die Kehrseite der „Enteignungen“ an, nämlich die Appropriation von Mitteln durch bestimmte Schichten und deren Konzentration und Zentralisierung bei anderen. Vor allem aber stellt er, wie im Idealtypus der Bürokratie schon sichtbar, darauf ab, dass in den divergierenden Bereichen spezifische Vorstellungen von Effizienz und Rationalität zur Geltung kommen.42 Zum okzidentalen Sonderweg gehören nach Weber viele Bedingungen: die Zurückdrängung der Staatsdominanz, die selbständigen Städte mit ihrer sich professionalisierenden Selbstverwaltung und eine entwickelte Geldwirtschaft. Letztere bildet allerdings keine Vorbedingung der Bürokratisierung, sondern eine Voraussetzung ihrer allgemeinen Ausbreitung.43 Zur Vielzahl der Bereiche, in denen Weber die allgemeine Ausbreitung der Bürokratisierung beobachtet, zählt auch das Feld der Religion, die er nach einem Markt- und Wettbewerbsmodell für Glaubensüberzeugungen denkt. Dabei spielt die Differenz von Sekten, religiösen Bewegungen und konfessionellen Anstaltskirchen eine wesentliche Rolle. Letztere begreift Weber als hierarchische Organisationen, in denen eine zentralisierte Heilsverwaltung und Allokation erfolgt. Anders als im Staat, der auf physischem Zwang beruht, wird hier psychischer Zwang im Hinblick auf Heilsgüter ausgeübt. Je größer die Religionsgemeinschaft, umso mehr Verwaltung. In der Kirche kommt es nicht nur zur Bürokratie, sondern es entsteht eine förmliche Kaplanokratie. Auch die Herausbildung des Rechtes als Privat-, Sozial- und Kirchenrecht ist für Weber ein Strang, der zur Moderne führt und durch hohe Verfahrensreglungen und Schlichtungsinstitutionen für Konflikte zur Bürokratie führt. Der moderne Staat, die Beamten und die Berufspolitiker, die für den Okzident als charakteristisch gelten, setzen generell die Trennung von Person und Amt, inklusive der sachlichen Verwaltungsmittel, voraus.44 Dem Militärwesen, um einen weiteren Bereich zu nennen, kam dabei eine wesentliche Bedeutung zu. Mit dem Ende der feudalen Selbstequippierung des Militärs setzt sich das moderne Heer durch, bei dem die Kriegsmittel zentralisiert verwaltet werden und eine systematische Einübung von Disziplin durch Exerzieren erfolgt. Das ist beileibe kein einmaliger historischer Vorgang. Wie Weber aus eigener Erfahrung wusste, hat der Erste Weltkrieg einen großen 42 Erwähnt sei, dass die Betonung der Mittel bei Weber einen „materialistischen“ Zug seiner Freiheitskonzeption beinhaltet, denn Akteure ohne Mittel haben kaum Spielräume der Freiheit. 43 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 21. 44 Ders., Politik als Beruf, in: MWS I/17, Tübingen 1994, S. 25–88, hier S. 38 f. u. 40 f.

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Schub bei der zentralisierten Bewirtschaftung von „Kriegsbetriebsmitteln“ und anderer relevanter Ressourcen sowie der Verkehrs- und Kommunikationswege bedeutet. Das „moderne Massenheer ist ein bureaukratisches Heer“.45 Sogar in weniger im Zentrum stehenden Bereichen der Gesellschaft konstatiert Weber eine fortgesetzte Bürokratisierung. So thematisiert er mehrfach die Trennung der Wissenschaftler, zumindest der Naturwissenschaftler und Techniker, von ihren Forschungsmitteln (Geräte, Labore etc.) und die Konsequenzen der Bürokratisierung und Rationalisierung für die Freiheit der Forschung.46 Eine Verkoppelung dieser unterschiedlichen Stränge erfolgt vor allem durch die sich historisch durchsetzende Berufsidee, die faktische Effizienzsteigerung und die in Gang gesetzte Eigendynamik. In den politischen Schriften analysiert Weber den Bürokratisierungsschub durch die zentralisierte Ressourcenbewirtschaftung im Ersten Weltkrieg, den er nicht auf das Militär beschränkt. Wechselwirkungen und Verkopplungen dieser Trennungs- und Bürokratisierungstendenzen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen hat Weber allerdings weniger untersucht. Das Tempo und Ausmaß der Bürokratisierung ist gewiss unterschiedlich, und die Bereiche folgen eigenen Rhythmen. So gelingt es der Bürokratie in sehr unterschiedlichem Maße, überall ihr Interesse an der Wahrung von Sachund Dienstwissen als einer Art „Geheimwissen“ durchzusetzen. Vor allem in der Privatwirtschaft erkennt Weber – trotz aller Bürokratisierungstendenzen – ein Gegengewicht, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen sieht er im Unternehmer und den Generaldirektoren großer Firmen Gestalten, die der Industrieverwaltung als „leitende Männer“ eine andere Logik entgegensetzen. Zum anderen stellt das Privateigentum ein Gegengewicht zur staatlichen Bürokratie dar. Moderne Bürokratie ist zwar mit dem modernen betriebsförmigen Kapitalismus entstanden, zugleich bildet der „Privatkapitalismus“ autonome Machtressourcen, die als Gegengewicht zur Durchstaatlichung dienen können. In „Parlament und Regierung“ von 1918 polemisiert Weber gegen „Literaten“, die für eine sozialistische Revolution eintreten. Verstaatlichung oder „irgendeine ‚Gemeinwirtschaft’“ im Sozialismus, den Weber letztlich aus der Fabrikdisziplin der eigentumslosen Proletarier47 entstehen sieht, führe keineswegs zum 45 Ders., Der Sozialismus, in: MWS I/15, Tübingen 1988, S. 303–326, hier S. 309 u. 313. 46 Ders., Wissenschaft als Beruf, ebd., S. 1–24, hier S. 11, sowie ders., Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 31. Dort heißt es, dass die Universitätsorganisation zunehmend „die Masse der Forscher und Dozenten von ihren ‚Produktionsmitteln‘ ebenso trennt, wie der kapitalistische Betrieb die Arbeiter von den ihrigen“. 47 Vgl. ders., Der Sozialismus (wie Anm. 45). Vgl. zu diesem Vortrag Herfried Münkler, Max Weber und der Sozialismus, in: Max Weber, Der Sozialismus, Hg. Herfried Münkler, Weinheim 1995, S. 7–67.

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„Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit“. Im Gegenteil werden die Arbeiter – so Webers Prognose – eher noch unfreier als im „großen privatkapitalistischen Betrieb“, „weil jeder Machtkampf gegen eine staatliche Bureaukratie aussichtslos ist und weil keine prinzipiell gegen sie und ihre Macht interessierte Instanz angerufen werden kann, wie gegen jene [den kapitalistischen Großbetrieb – H.B./K.B.]. Das wäre der ganze Unterschied.“48 Dieses differenzierungstheoretische Argument ist auch der zentrale Einwand Webers gegen die Auffassung von Marx und später von Lenin, wonach die Quelle bürokratischer Entwicklung in den Ausbeutungsverhältnissen liege, die mit deren Beseitigung versiege.49 Der Sozialismus und insbesondere der Sowjetkommunismus sind für Weber in erster Linie eine weitere, radikale Form der Steigerung der Bürokratie vermittels Durchstaatlichung aller gesellschaftlichen Sphären, deren Schrankenlosigkeit auch Sympathisanten und Aktivisten der kommunistischen Bewegung zunehmend beunruhigt hatte.50 48 Weber, Parlament und Regierung (wie Anm. 18), S. 220 f. Schon Herbert Spencer hatte u.a. 1891 eine bürokratische Erstarrung des Sozialismus vorhergesagt, ohne dies allerdings in einen globalen Trend zu stellen. Vgl. ders., From Freedom to Bondage, in: Ders., The Man versus the State. With Six Essays on Government. Society and Freedom, S. 506–511, wo von einer „tyranny of bureaucracies“ und „despotic bureaucracy“ die Rede ist (S. 508). 49 Vgl. Jurij N. Davydov, Max Weber und Vladimir I. Lenin: Staatsbürokratie und Totalitarismus, in: Ders./Piama P. Gaidenko, Rußland und der Westen. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1992, Frankfurt 1995, S. 141–182, hier S. 144. In seiner Gegenüberstellung von Webers und Lenins Positionen zur Bürokratie arbeitet Davydov heraus, dass Lenin lange Zeit die „reaktionäre Bürokratie“ des alten Regimes einfach der „demokratisch-revolutionären Kontrolle“ durch die politisch bewusste Arbeiterelite mittels Terror gegenüberstellt. Erst über die zunehmende Bürokratisierung im Zuge des Kriegskommunismus beunruhigt, beginnt Lenin darüber nachzudenken, wie man die Bürokratisierung eindämmen kann. Davydov hebt Besonderheiten der „totalitären Bürokratie“ hervor. Während für Weber die soziale Sicherheit der Beamten ein Charakteristikum moderner Bürokratie ist, wird die allgegenwärtige „totalitäre“ Bürokratie unter Stalin letztlich nur durch den Willen des Diktators unter Kontrolle gebracht, die die permanente Möglichkeit physischer Vernichtung nicht nur der Klienten, sondern auch der Beamten einschließt; ebd., S. 161 f. 50 Bei Karl Kautsky, Von der Demokratie zur Staatssklaverei (1921), Berlin 1990, Hg. Hans-Jürgen Mende, S. 232, heißt es: „Eine neue Bürokratie wurde im Staate eingerichtet, ganz nach dem Muster, das Lenin 1904 für die Parteiorganisation aufgestellt hatte … die neue Bürokratie [soll] alle Lebensäußerungen der gesamten Bevölkerung nicht nur im staatlichen Leben, sondern auch im Produktions- und Zirkulationsprozess ja das ganze soziale Leben, jegliches Denken und Fühlen der Massen überwachen, leiten und bestimmen.“ Auch Rosa Luxemburg hält 1918 in „Die russische Revolution“ fest,

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Als historischer Trend in der Moderne (inklusive der mit ihr als immanenter Bestandteil verknüpften Gegenmoderne) ist für Weber die Bürokratisierung jedoch universell und gerade nicht auf den Staatssozialismus beschränkt. Denn beide beruhen auf der Trennung der Akteure von den Betriebsmitteln als Grundmuster des modernen Berufslebens in fast allen Bereichen der Gesellschaft und des Staates. Die Bürokratisierung gestattet, wie im Idealtyp schon festgehalten, vielfache Rationalisierung, Arbeitsteilung, Effektivitätssteigerung. Daher hält Weber sie für unentrinnbar, selbstverstärkend und expansiv. Das gilt zunächst im nationalstaatlichen Rahmen. Zugleich aber erkennt Weber in der Expansion der Bürokratie eine wesentliche Grundlage für die Ausbreitung der westlichen Moderne, die gleichsam mit Bürokratisierung Hand in Hand geht. Zu diesem universellen Trend, der sich auf unterschiedlichen Wegen durchsetzt, gehört die Irreversibilität der Bürokratie, die Weber durch seine Analyse alter Reiche mit großer zentralisierter Verwaltung – also Ägypten, dem späten römischen Reich, Byzanz – zusätzlich stützt und universalgeschichtlich adelt. Diese Imperien seien ihrer ausufernden Bürokratie nur durch den Untergang entkommen.51 Markig verallgemeinert er: „Eine einmal voll durchgeführte Bürokratie gehört zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden ... Wo die Bürokratisierung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist, da ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Form der Herrschaftsbeziehungen geschaffen.“52

2.3 Bürokratie in den USA und in Russland Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika sind für Weber Gesellschaften der Zukunft und aufgrund ihrer Größe und Entwicklungschancen für seine These einer universellen Bürokratisierung von entscheidender Bedeutung. In ihren Voraussetzungen und historischen Wegen unterscheiden sie sich diametral; gleichwohl unterliegen sie – so die Diagnose – demselben universellen Bürokratisierungstrend. Die Gründung der USA war geprägt von einem ausgesprochen anti-bürokratischen Geist, der durch die Einwanderer aus Europa immer wieder gefestigt wurde. Dennoch kam eine fortschreidass in Russland ohne allgemeine Wahlen, Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit das politische Leben „zum Scheinleben [wird] und die Bürokratie allein das tätige Element bleibt“, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1979, S. 332–365, hier S. 362. Zu Trotzki vgl. Tony Cliff, Trotsky. Fighting the Rising Stalinist Bureaucracy 1923–1927, London 1991. 51 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 330 f.; ders., Parlament und Regierung (wie Anm. 18), S. 429. 52 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 34.

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tende Bürokratisierung in Gang. In Russland hingegen flossen die tradierte patrimoniale Bürokratie und die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausbreitende moderne Bürokratie zu einem spezifischen Konglomerat zusammen, das mit dem Scheitern der Revolution von 1905 eine ungebremste Form bürokratischer Herrschaft hervorbrachte, die sich trotz liberaler Intermezzi immer wieder zu restaurieren scheint. Der anti-bürokratische Geist der niederen Stände des agrarischen Russlands und von Teilen der Intelligenzija konnten dem wenig entgegensetzen. In der historischen Weichenstellung der 1905er Revolution sieht Weber für Russland und Europa große Chancen und Gefahren, und es erregte ihn in höchstem Maße, dass sie in Westeuropa und insbesondere in Deutschland kaum Verständnis und Unterstützung fand. Die USA spielen im Denken von Weber als Vergleichsmaßstab für europäische Besonderheiten eine erhebliche Rolle. Sie bilden deshalb für ihn die Probe aufs Exempel für die universale Bürokratisierung in der Moderne. Neben dem Fehlen einer feudalen bürokratisch-absolutistischen Tradition stehen gegen diesen Trend vor allem die etablierte Gewaltenteilung, die föderative Struktur, der andere Pfad landwirtschaftlicher Entwicklung und die Größe des Landes, die eine hohe wirtschaftliche und politische Dynamik erlaube. Die fehlende europäische absolutistische Tradition wie die anhaltende Binnenmigration ermögliche eine deutlich größere Autonomie der Wirtschaft gegenüber dem Staat als in Europa. Webers Analyse der protestantischen Sekten in den USA zeigt, wie trotz eines schwachen Bundesstaates über weite Strecken Vertragssicherheit hergestellt und ökonomische Transaktionen zuverlässig abgewickelt werden können. Die europäischen Siedler und Zuwanderer bewahrten sich zudem, wie er wiederholt erwähnt, eine große Skepsis gegenüber Bürokratie und bremsten so deren Entwicklung. Weber wird nicht müde, die anti-bürokratische Mentalität vieler Amerikaner zu betonen, die lieber die Dinge selbst in die Hand nehmen und zur Korruption neigende Bürokraten verachten. Wie Amerikaner sich gegenüber der europäischen Beamtenschaft positionieren, gibt er wie folgt wieder: „Auf diese ‚professionals‘, auf diese Beamten speien wir, die verachten wir. Wenn aber eine examinierte studierte Klasse die Ämter einnimmt wie bei Euch drüben – die speit auf uns.“53 Die Größe des Landes treibt aus Webers Sicht aber auch hier zwangsläufig die Bürokratisierung voran. „Die moderne Demokratie wird, überall wo sie Großstaat-Demokratie ist, eine bürokratisierte Demokratie“, heißt es 1918 prägnant im Vortrag „Der Sozialismus“.54 Für den unaufhaltsamen Sieg werden noch zwei weitere Gründe geltend gemacht: Erstens der Professionalisierungsdruck, 53 Ders., Sozialismus (wie Anm. 45), S. 308. 54 Ebd.

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der auf den verschiedenen Verwaltungen und Stäben liegt, ohne den es keine dauerhafte Effizienzsteigerung gibt; mit der sich ausbreitenden Professionalisierung nimmt freilich auch in den USA die Bürokratie zu. Zweitens nennt Weber wieder die wachsenden Zentralisierungstendenzen im Umfeld des Ersten Weltkriegs, die dazu führen, dass auch in den USA die Bürokratie in Staat und Militär wächst. Der besondere amerikanische Entwicklungspfad wird deshalb – so Webers These – in den Sog der universellen Bürokratisierung geraten, wobei sich zeigen werde, wieviel Eigenständigkeit übrig bleibt. Die USA fungieren somit nicht nur als Vergleichsmaßstab für europäische Besonderheiten, in der Bürokratisierung sieht Weber auch eine Europäisierung Nordamerikas.55 Der Bürokratisierungsschub bezieht sich sowohl auf den Übergang vom Unternehmerkapitalismus zum Großunternehmen als auch auf Veränderungen in der Politik, was ausführlicher thematisiert wird. Professionalisierung und bürokratische Rationalisierung mache auch vor der U.S.-amerikanischen Politik nicht halt, die sich dem durch das regelmäßige Auswechseln des Stabes bei der Wahl eines neuen Präsidenten entgegenzustemmen suche. Das stärkste Beispiel, das Weber aufbieten kann, ist – wie vor ihm schon Moisei Ostrogorski festgehalten hat –, dass in den USA auf großer Fläche die modernen Wahlparteien mit ihren hierarchischen Organisationen (dem Boss und seinem Stab) entstehen, die auf Ämter-Patronage fokussiert sind.56 Im amerikanischen politischen System haben der Präsident und seine Administration zwar eine herausgehobene Stellung, wobei Weber die amerikanische Administration von den europäischen Fachbürokratien deutlich abgrenzt. In den langen Wahlkampfzeiten allerdings dominieren im politischen Leben moderne bürokratisierte Parteimaschinen, die eine institutionelle Innovation darstellen. Weber beschreibt sie als eine vermachtete Struktur, in der sich die „Werbung um freiwillige Gefolgschaft“ vollzieht, und nimmt an, dass die modernen Parteien, deren Struktur und Kampf gegeneinander für die moderne Politik tragend sind, auch auf andere Bereiche der Politik durchschlagen werden.57 Hier nutzt er wieder die Maschinenmetaphorik, die auch bei den amerikanischen Parteien selbst und deren Beobachtern, wie etwa Ostrogorski, gängig war, um den Wandel zu pointieren. Wiewohl Weber 55 Vgl. Claus Offe, Selbstbetrachtungen aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt 2004, S. 67. 56 Moisei Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, Hg. Seymor Martin Lipset, New Brunswick 1982; Weber, Politik als Beruf (wie Anm. 44), S. 65–69; Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1911 bzw. erw. 1925), 4. Aufl. Stuttgart 1989. 57 Vgl. u.a. James Bryce, The American Commonwealth (1888), Neudr. Indianapolis 1995.

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die amerikanische Form für besonders avanciert und schlagkräftig hält, sieht er doch in deren Bürokratisierung den Verfall am Horizont aufscheinen. Neben diesen sachlichen Gesichtspunkten wird die amerikanische Gesellschaft in einen größeren Kontext gestellt und als eine junge Gesellschaft begriffen, in der zum letzten Male historisch die Chance bestehe, eine Kultur und Ordnung der Freiheit aufzubauen.58 Von der amerikanischen Entwicklung wird also viel abhängen, und sie werde das Tempo, in dem die Bürokratisierung weltweit voranschreitet, bestimmen. Deshalb weist Weber diesem Fall eine welthistorische Bedeutung zu. Woran aber wird diese Freiheit im engeren Sinne gebunden? Wieder kommt das Eigentum ins Spiel, und zwar dieses Mal in Form des frei beweglichen Grundeigentums. Wenn aller Boden in Besitz genommen ist, dann geht – so Webers dezidierter Dekadenzglaube – mit der Fixierung der Immobilien eine Erstarrungstendenz einher. Für das mobilitätsfördernde Industriezeitalter irritiert diese Prognose eher. Russland taucht in verschiedenen Texten bei Weber immer wieder prominent auf. In „Wirtschaft und Gesellschaft“ widmet er mehrere Seiten der Eigenart des russischen patrimonialen Verwaltungsstabes, bei dem sich asiatische Muster und die frühe Brechung feudaler Selbstorganisation mit Modernisierungsbemühungen vor allem durch Peter I. und Katharina II. mischen. Diese Analyse hat die Forschung zur russischen Staatlichkeit nachhaltig inspiriert.59 Jedoch schon in seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Revolution von 1905 ist die These von der „Vollendung der Bureaukratisierung der Selbstherrschaft“ zentral.60 Sie bildet den Übergang von Selbstherrschaft (vor 1905) zur „modernisierten“ Bürokratie61, die zugleich im hohen Maße vom patrimonialen Erbe geprägt ist. Trotz der Pfadabhängigkeit betont Weber hier das Neue, den qualitativen Umschlag, der zugleich für den Scheinkonstitutionalismus mit weitreichenden 58 Vgl. Max Weber, The Relation of Rural Community to Other Branches of Social Sciences, in: MWS I/8, Tübingen 1999, S. 73–89, hier S. 89. Zudem die bessere Übersetzung von Peter Ghosh, Max Weber on ‚The Rural Community‘. A Critical Edition of the English Text, in: History of European Ideas 31 (2005), S. 327–366. „But according to human relation it is also the last time, as long as the history of mankind shall last, that such conditions for a free and great development will be given, [with] the areas of free land now vanishing everywhere in the world“ (S. 345 f.). Zum gesamten Zusammenhang vgl. Lawrence E. Scaff, Max Weber in Amerika (engl. 2011), Berlin 2013, v.a. Kap. 4 u. 5, S. 345 f. 59 Vgl. u.a. Henry Jacoby, Die Bürokratisierung der Welt, Frankfurt 1984, Teil III, S. 199–250; Andreas Buss, Die Wirtschaftsethik des russisch-orthodoxen Christentums, Heidelberg 1989. 60 Max Weber, Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, in: MWS I/10, Tübingen 1996, S. 104–328, hier S. 165. 61 Ebd., S. 167.

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historischen Folgen verantwortlich ist. Es ist genau das Schwinden des Scheins der „Selbstherrschaft“ im alten Sinn durch eine nicht mehr von Gegenkräften eingeschränkte „zentralisierte Herrschaft der modernisierten Bureaukratie“, die den Übergang zur konstitutionellen Monarchie blockiert. Der Autokrat wird auf eine Vetogewalt gegenüber der nimmermüden „Maschine“62 beschränkt, dem Premierminister und Konseils ungetrübt von intervenierenden Interessen die innenpolitischen Fragen „vorkauen“. Da es an Gewaltenteilung und Selbstverwaltung fehlt, kann sich die bürokratische Herrschaft der „Fachmänner“ vollends entfalten und sich gegenüber anderen Interessen hermetisch abschließen. Die bürokratischen Interessen – so Weber weitsichtig – vereinen sich zu einem „mächtigen Trust“, der zwar die Interessen der „Schicht der modernen großkapitalistischen Unternehmerschaft“ gegenüber den Arbeitern mitvertritt, eine autochtone Repräsentation jedoch verhindert.63 In seiner Schrift von 1906 zeigt Weber die „bureaukratische Rationalisierung der Autokratie“64 detailliert anhand der Verfassung, dem Ministerrat, dem Wahlrecht und der Zusammensetzung von Duma65 und Reichsrat auf. In seiner erneuten Analyse am Ende des Ersten Weltkrieges setzt er einen für diesen Zusammenhang wichtigen Akzent: Der Hauptfehler des unfähigen Alexander III. sei gewesen, „allein regieren“ zu wollen, statt sich mit der Duma ein Gegengewicht zur Herrschaft der Bürokratie zu schaffen. „Der Zar hatte zu wählen zwischen dem realen Besitz jener Macht, die jedem Monarchen sein bei politischer Klugheit und Beherrschtheit stets überaus großer tatsächlicher Einfluss auf die Staatsleitung gewährt, und jener eitlen Romantik und Pathetik des äußeren Scheines der Macht.“66 Der geschilderte qualitative Umschlag steht in einem Jahrhunderte währenden historischen Prozess der Bürokratisierung seit Ivan Kalita (1288–1341), wobei zu den Eigenarten der russischen Staatlichkeit über lange Zeit die Parallelität eines bürokratischen Staates und lokaler Selbstverwaltungsformen gehört. Weber weist mehrfach darauf hin, dass mit der durchgängigen Bürokratisierung bis hinunter auf die lokale Ebene erst unter Alexander III. im Zuge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und der forcierten Industrialisierung durch 62 63 64 65

Ebd., S. 168 f. Ebd., S. 171. Ebd., S. 168. Weber bezeichnet etwa das Wahlrecht der Duma, das weder allgemein noch gleich war, also auf Exklusion statt auf Inklusion zielte, als das „Hauptkunstwerk der Bureaukratie“ (ebd., S. 188). 66 Max Weber, Rußlands Übergang zur Scheindemokratie, in: MWS I/15, Tübingen 1996, S. 102–115, hier S. 106 f.

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einen Staatskapitalismus67 begonnen wurde.68 In seiner Schrift „Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland“ von 1906 diskutiert Weber außerordentlich kenntnisreich die Debatten der russischen Strömungen um die Zukunft der (noch) bestehenden Elemente der Selbstverwaltung: die traditionelle Dorfgemeinde (Obtschina bzw. Mir), mit der sich Marx mehr als 20 Jahre zuvor in seinen Briefen an Vera Sassulitsch befasst hat, sowie die Zemstvo-Bewegung. Während die russischen Volkstümler und Slawophilen in der Bewahrung dieser Umverteilungs- und Selbstverwaltungsstruktur der Dorfgemeinde ein Mittel zur Verhinderung von Kapitalismus und westlichem Individualismus sahen, interessierte Weber vor allem deren Potential, die staatliche Durchbürokratisierung zu verhindern. Das Ergebnis seiner Analyse war ebenso negativ wie das seiner ausführlichen Beschäftigung mit der Zemstvo-Bewegung, in der er eine soziale Trägergruppe von praktischen bürgerlich-liberalen Ideen erkennt. Der Zemstvo ist eine neue, seit der Bauernbefreiung entstandene Selbstverwaltungsform oberhalb der kommunalen Ebene, eine Art von Kreis- und Landtag, die allerdings in das autokratische System eingebunden bleibt. Die Zemstvo-Bewegung erbrachte nicht nur einige Modernisierungen, wie etwa einen Aufschwung im Schul- und Gesundheitswesen u.a.m. Mit ihr etablierten sich die Berufsgruppen der russischen Intelligenz (Ärzte, Apotheker, Lehrer, Statistiker) auch in der Politik, die mit einem Teil der Intelligenzija (das ist die engagierte Schicht von Intellektuellen und Kulturschaffenden) zu einer wichtigen Stütze der liberalen Bewegung avancierten. Ca. 50.000 Beschäftigte standen bei der Zemstvo in Lohn und Brot. Ob die Zemstvo eine „bodenständige Interessenkorporation“ bleibe, sah Weber als „die politische Zentralfrage der letzten 25 Jahre an“. In der Diskreditierung der Zemstvo durch die zaristische Regierung, begünstigt durch das Fehlen einer städtischen Mittelschicht, sah Weber eine wesentliche Ursache für den Mangel an sozialen Akteuren, die eine ernsthafte Liberalisierung und Konstitutionalisierung des Zarenreiches vorantreiben könnten. Für das Misslingen der Revolution von 1905 war nach Weber auch die Bürokratiefeindlichkeit der Bauern und Arbeiter verantwortlich, die sich zu dieser Zeit voll entfaltete und gerade nicht zur Begrenzung der bürokratischen Herrschaft beiträgt: Denn was auch immer die polizeistaatliche Bürokratie verbiete, trifft auf die lange verfestigte Bürokratiefeindlichkeit der Bauern und Arbeiter und werde von ihnen daher geschätzt. Als Folge dieser Mentalität wird auch die Volksvertretung prinzipiell als Gegensatz zur Staatsmacht verstanden. Der geistig-mentale Übergang in ein modernes parlamentarisches System mit rationaler Bürokratie – so folgert Weber 1906 – wird daher in Russland mehr 67 Vgl. Jacoby (wie Anm. 59). 68 Vgl. Max Weber, Die Stadt, in: MWS Bd. I/22-5, Tübingen 2000, S. 12.

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als eine Generation dauern, da die berechtigten Ressentiments gegen die russische Bürokratie sehr tief säßen. Erst nach der Abdankung der vorhandenen Ordnung barbarischer Polizeiwillkür und der Etablierung einer „satten Schicht“ könnten die Bedingungen für die Entstehung einer „westeuropäisch bürgerlichen Wählerpsyche“69 heranreifen, die innerhalb einer legitimen Ordnung rational kalkulieren kann. Im Vergleich zu den USA war der russische Hass auf die Bürokraten im Zarenreich demnach anders gelagert. Auch in Russland richtete sich das Ressentiment gegen den Apparat, aber der erscheint nicht als Apparat eines Präsidenten, den dieser zeitweilig hat und der in der nächsten Administration wechselt. Vielmehr wurde der Zar idealisierend vom Apparat abgelöst – er galt immer als weit weg und gut, wisse nicht genau, was seine Bürokraten tun. Diese Abgrenzung des Herrschers von seinem Verwaltungsstab scheint auch heute noch unter Putin ihr Werk zu tun. Webers Folgerung ist zu dieser Zeit indes eher eine Konvergenzannahme im Hinblick auf die Unaufhaltsamkeit der Bürokratisierung, verbunden mit der heroischen Annahme, dass die Größe der USA und Russlands sowie ihr spätes Eintreten in den Prozess der modernen Bürokratisierung Raum für Freiheit lassen – in Russland freilich, weil der bürokratisch-rationalisierte Autoritarismus in sich instabil ist. Um Webers Ringen zwischen Pessimismus und Hoffnung zu veranschaulichen, lohnt sich ein ausführlicheres Zitat: „Rußland tritt, so schwer die Rückschläge in nächster Zeit auch sein mögen, dennoch endgültig in die Bahn spezifisch europäischer Entwicklung: die mächtige Einwanderung der Ideen des Westens zersetzt den patriarchalen und den kommunistischen Konservatismus hier, wie umgekehrt die gewaltige Einwanderung europäischer, gerade auch osteuropäischer, Menschen in die Vereinigten Staaten dort am Werke ist, die alten demokratischen Traditionen zu durchlöchern, – in beiden Fällen im Bunde mit den Mächten des Kapitalismus. In gewissen Beziehungen ist – wie später einmal ausgeführt werden mag – trotz der ungeheuren Unterschiede die ökonomische Eigenart der kapitalistischen Entwicklung der beiden ‚kom­munizierenden‘ Bevölkerungsreservoirs doch vergleichbar: das Losgelöstsein vom ‚Historischen‘ zumal ist bei beiden gleich unvermeidlich und wirkt mit dem ‚kontinentalen‘ Charakter des fast schrankenlosen geographischen Schauplatzes zusammen. An beiden Entwick­lungen aber – und das ist das Wichtigere – hängt gleichviel: es sind, in gewissem Sinn, in der Tat vielleicht ‚letzte‘ Gelegenheiten für den Aufbau ‚freier‘ Kulturen ‚von Grund aus‘.“ ... „die bisherige russische Selbstherrschaft, d.h. die zentralistische Polizei-Bureaukratie, hat gerade dann, wenn sie jetzt über die verhaßten Gegner siegt, nach aller menschlichen Voraussicht keine Wahl, als ihr eigenes Grab zu 69 Ders., Russlands Übergang (wie Anm. 60), S. 211.

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graben. Einen sogen. ‚aufgeklärten‘ Despotismus gibt es für sie im Interesse ihrer Selbsterhaltung nicht“.70

2.4 Bürokratie und Politik in Deutschland – Webers Politische Schriften nach 1917 Parlamentarisierung, Föderalisierung und Demokratisierung Deutschlands sind Webers praktische Vorschläge, um die gravierenden negativen Folgen des Ersten Weltkrieges in Chancen zu verwandeln. Eine solche Erneuerung bietet auch Möglichkeiten einer partiellen Kontrolle der Bürokratie. Bevor wir auf die Rolle der Parlamentarisierung, die dies veranschaulicht, eingehen, soll der spezifisch deutsche Weg der Bürokratisierung umrissen werden, den Weber mit implizitem und explizitem Bezug zum amerikanischen und russischen Pfad analysiert. Zu den Besonderheiten des deutschen Pfades zählt, dass es eine ausgeprägte Bürokratie vor der politischen Zentralisierung, vor der Bildung des Nationalstaates gab.71 Für das Kaiserreich ist dann ein machtloses Parlament bzw. Scheinparlamentarismus charakteristisch, der Führerauslese verhindert. Noch schwerer wiegen für Weber zwei weitere Faktoren: Zum einen ist durch Bismarcks bonapartistisch-autokratischen Politikstil ein politisch „unerzogenes Volk“ entstanden, dass nicht an harte Realitäten und Beteiligung an Debatten und Konflikten gewöhnt ist. Das gilt insbesondere für die Parteien. Denn der Parteienwettbewerb war – so Weber – nie richtig in Gang gekommen, weil deren Fraktionen und Führungen kaum politische Entscheidungen von allgemeiner Relevanz treffen konnten, was sich in deren Binnenstruktur niedergeschlagen hat. Politisch und kulturell korrespondiert also mit dem deutschen Pfad nicht nur eine recht verbreitete und relativ wohlwollende Haltung der Deutschen gegenüber der aus dem aufgeklärten Absolutismus stammenden Bürokratie, die 70 Ders., Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: MWS I/15, Tübingen 1996, S. 1–105, hier S. 101 f. 71 Der Historiker Tibor Süle hält in einer jüngeren Untersuchung zur preußischen Bürokratie fest, dass in der Zeit der Hochindustrialisierung die alte herrschaftliche Bürokratie in folgende Richtung umgebaut wird: „Die Beamtentätigkeit und der Beamte selbst erscheinen hier vielmehr als Teile eines Funktionssystems, dessen Wesensmerkmal nicht Herrschaft, sondern die arbeitsteilige Erbringung von Sachleistung ist.“ Sachlich geht der Ausbau von Bürokratie und Beamtenschaft seinerzeit vor allem auf dem Weg der Ausweitung von Aufgaben der Daseinsvorsorge (Bahn, Post, Telegraphie) vor sich; ders., Preußische Bürokratietradition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland 1871–1918, Göttingen 1988, S. 13.

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mit einer besonderen Wertschätzung des Fachbeamtentums verknüpft ist. Zu ihr gehört auch eine ausgeprägte Distanz zur Politik, gegenüber Berufspolitikern und vor allem gegenüber dem Parteienkampf und Wettbewerb im Parlament. Diese Erbschaft speist Webers Pessimismus in der Frage, ob es gelingen kann, letzte Chancen einer Erneuerung hin zu kraftvoller Politik wahrzunehmen. Was den dringend nötigen Wandel der politischen Strukturen im Deutschland von 1918 angeht, so setzt Weber harsch an: „Die modernen Parlamente sind in erster Linie Vertretungen der durch die Mittel der Bureaukratie Beherrschten.“72 Herrschaft wird hier sachlich und wenig personell gefasst. Leitend ist die strikte Perspektive, dass eine Eingrenzung dieser Art des Beherrschtwerdens in bestimmten Maßen vermittels eines Arbeitsparlaments mit einem Enqueterecht und weiteren Mitteln möglich ist. Polemisch wird zugleich die Idee zurückgewiesen, dass ein charismatischer Führer sich die Verwaltungen komplett unterordnen könnte. Ein machtvolles Parlament ist wünschenswert, aber Weber stellt dessen Grenzen und die Grenzen demokratischer Verwaltung heraus.73 Erstaunlicherweise hat der Bürokratieforscher dabei wenig konkrete Vorstellungen für die Beamten und deren Einbindung in die Demokratie; sein Akzent liegt auf der Kontrolle der Verwaltungen durch die Subsumtion unter die Politik. Der damit verbundene Bruch in der deutschen Beamtenschaft, die ein eigenes Ethos ausgebildet hatte, das sich nicht nur auf fachliche Spezialisierung stützt, sondern auch eine ordentliche Prise Autoritarismus enthielt, hat Weber nicht näher thematisiert. Spätere historische Analysen über den Untergang der Weimarer Republik haben gezeigt, dass die schon in der Verfassung enthaltene unentschiedene Bestimmung der Beamtenrolle ein Grund für die Probleme mit der aus dem Kaiserreich übernommenen Bürokratie war. Nach der Weimarer Reichsverfassung gilt der Beamte einesteils als Staatsdiener, anderenteils begreift ihn die neue Verfassung ohne nähere Erklärung als politisch ungebunden.74 Weber hat sich früh und auf innovative Weise mit den deutschen Parteien auseinandergesetzt. Ab 1905 werden seine Ansichten deutlich. Er kommentiert einen Aufsatz zur sozialdemokratischen Wählerschaft des Publizisten Robert Blank75 und analysiert, wie schon gezeigt, den Wandel der russischen und amerikanischen Parteien. Ihn interessiert dabei besonders die Relation zwischen Wählerschaft, sozialem Rekrutierungsfeld und Organisationsstruktur von Parteien und deren ‚innerem Charakter‘. Dabei greift Weber die Frage auf, wie die 72 73 74 75

Weber, Parlament und Regierung (wie Anm. 18), S. 236. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 6 f. Vgl. Süle (wie Anm. 71), Kap. II u. IV. Max Weber, Bemerkungen im Anschluß an den vorstehenden Aufsatz, in: MWS I/8, S. 69–72.

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nichtproletarischen Schichten als Wähler auf die SPD einwirken. Ausführlich setzt er sich mit den Aufsätzen Robert Michels’ über die organisatorischen Veränderungen in der Sozialdemokratie auseinander, die 1906 bis 1908 veröffentlicht und 1911 im Instant-Klassiker „Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“76, für alle Parteien verallgemeinert wurden. Weber hat die Arbeiten von Michels begleitet und inspiriert, aber auch von ihnen gelernt.77 Trotz großer Nähe lassen sich in der Anlage und der Wertung einige markante Differenzen ausmachen, die vor allem die Konzeptualisierung und Rahmung der modernen Massenparteien betreffen. Der enttäuschte Sozialist und Syndikalist Michels fokussiert sich auf das „eherne Gesetz der Oligarchie“, dem auch die Sozialisten nicht entkommen. Weber interessieren die Wege und Mittel, mit denen die Bürokratisierung der Partei betrieben wird und die dazu führen, dass die einst in die deutsche Sozialdemokratie von ihm gesetzten vorsichtigen Hoffnungen in deren politische Energie verfliegen. Bei seiner Erfassung der Spezifik der Bürokratisierung von modernen Massenparteien stützt sich Weber auf Michels’ detaillierte Analyse. Einige Hauptpunkte dieser Analyse sollen daher kurz rekapituliert werden. Michels kennt unterschiedliche Gründe für die Oligarchisierung. Als Elitentheoretiker rückt er jedoch den Gegensatz von Elite und Masse in den Mittelpunkt. Letztere sei zur Aktion fähig – hier spürt man den Syndikalisten –, aber nicht zur Leitung, zur Strategie. Die liege immer in kleinen Zirkeln. Die Stärken von Michels liegen allerdings in der Analyse der Mechanismen, mit denen sich gewählte, aus der Arbeiterschaft stammende Funktionäre von der Basis entfernen und die Kontrolle über die Organisation erlangen: die Akkumulation von Wissen im organisatorischen und politischen Bereich, die Akkumulation von sozialem Kapital und die Aneignung von Machttechniken (Drohung mit dem Rücktritt, Lenkung durch Bestimmung der Tagesordnung, aber auch Ausnutzung von Geschäftsordnungen). Ganz im Weberschen Sinne erkennt er in der notwendigen 76 Robert Michels, Die deutsche Sozialdemokratie. Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (= AfSS) 23 (1906), S. 471–556; ders., Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbande. Eine kritische Untersuchung, in: AfSS 25 (1907), S. 148–231, und eben ders., Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (1911), Stuttgart 1989. 77 Vgl. dazu Timm Gennet, Der Fremde im Krieg. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876–1936, Berlin 2008, S. 411–531, und Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Robert Michels’ Soziologie des Parteiwesens. Oligarchien und Eliten – die Kehrseiten moderner Bürokratie, Berlin 2012, sowie den Brief von Weber an Michels vom 21. Dez. 1910, in dem er dessen Buch kommentiert. Vgl. Max Weber, Briefe 1909–1910, in: MWG II/6, Tübingen 1994, S. 754–761.

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Arbeitsteilung in Massenparteien eine wesentliche interne Ursache, die zwangsläufig zur Oligarchisierung führt und die durch basisdemokratische Verfahren kaum einzugrenzen ist. Hinzu kommen jedoch die externen Faktoren. Parteien sind Kampforganisationen, die sich mit andern Parteien auseinandersetzen; sie müssen sich hierarchisch organisieren, um schlagkräftig zu sein. Wenn sie, wie die deutsche Sozialdemokratie, im Parlament vertreten sind, geraten sie unter den Führungsanspruch der Fraktion, weshalb auch von dieser Seite der Oligarchisierungsdruck zunimmt, und zwar selbst bei geringem parlamentarischem Einfluss. Darüber hinaus beobachtet Michels einen Prozess der Anverwandlung. Die Sozialdemokratie, die regieren möchte, wird zu einem „Staat im Staate“. All diese Faktoren forcieren nicht nur Oligarchisierungstendenzen, die weder durch Parteitage noch durch andere direktdemokratische Mittel aufgehalten werden können, sondern untergraben auch den revolutionären und egalitären Anspruch. Sie befördern, was Michels im größeren Kontext als „Verbourgeoisierung“78 inkriminiert, ohne zu erkennen, dass sich durch die Integration der Sozialdemokratie auch der Staat qualitativ ändert. In diesem Punkt und auch in der Bewertung der Frage gehen die Auffassungen von Michels und Weber auseinander. In der Beschreibung von Prozessen der Sinnverkehrung und im Fokus auf die Effekte, welche die Oligarchisierung bzw. Bürokratisierung auf die Mitgliedschaft, deren Handlungsspielräume und damit auf den Charakter der Parteien haben, sind sich Michels und Weber wiederum ähnlich. Während jedoch Michels dramatisierend die programmatische Entleerung in den Vordergrund rückt, Parteien als Maschinen und „Monstre-Maschinen“ bezeichnet, die zur Sinnverkehrung führen, denn die Organisation wird zum Selbstzweck79, hält der kühl-realistische Analytiker Weber Parteien für unentbehrlich. Und er geht auch im Hinblick auf die Sozialdemokratie nicht so weit wie Michels, der das Ende der Weltanschauungspartei durch Oligarchisierung diagnostiziert. Für Weber bleibt die Sozialdemokratie eine „Weltanschauungspartei“, die primär über Ideologie geeint wird und eben nicht wie die amerikanischen Parteien eine reine Wahlkampfmaschine ist. Der Vormarsch der Bürokratie in der Politik, in deren zentralen Institutionen und Organisationen, läuft für Weber – wie gezeigt auch im deutschen Fall – zwar auf Effizienzsteigerung im engeren Sinne hinaus, aber nicht auf das Erschließen von Chancen, von Freiheitsspielräumen. Insofern untergräbt die Bürokratisierung der Politik die dynamische Natur der modernen Gesell78 Michels, Soziologie des Parteiwesens (wie Anm. 76), S. 257. 79 Vgl. Harald Bluhm, Soziale Dynamik und Maschinenmetaphorik – Robert Michels über politische Akteure, in: Bluhm/Krause Hg. (wie Anm. 77), S. 176.

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schaft systematisch und trägt zu deren sukzessiver Erstarrung bei. Weber hat seine politische Position am Ende des Krieges deutlich verschoben und ist mehr als ein bloßer Vernunftdemokrat geworden. Er betont nun die Ambivalenzen der Demokratie und der Bürokratie, und dies bildet den Hintergrund zu seiner berühmten Aussage von der „zunächst“ noch „vor uns“ liegenden „Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“ in „Politik als Beruf“.80 Diese Metapher ist eben nicht nur auf die desaströse deutsche Nachkriegssituation bezogen, sondern birgt in sich auch übergreifende modernetheoretische Dekadenzmotive. Empirisch einschränkend, aber an der großen These festhaltend, formuliert er sogar in einem Abschnitt des Konvoluts von „Wirtschaft und Gesellschaft“, das wohl schon 1912/13 entstand und spätere Bearbeitungsspuren aufweist: „Es soll daher hier auch unentschieden bleiben, ob gerade die modernen Staaten, deren Bürokratisierung überall fortschreitet, dabei auch ausnahmslos eine universelle Zunahme der Macht der Bürokratie innerhalb des Staatswesens aufweisen … Stets ist die Machtstellung der vollentwickelten Bürokratie eine sehr große, unter normalen Verhältnissen eine überragende.“81 Im Fortgang dieser Passage taucht der einst positiv verwandte Begriff „Herr“ übrigens nur noch distanziert in Anführungszeichen auf. Webers Untersuchungen der Bürokratisierung in Deutschland stehen im Kontext der Wahrung „letzter“ Chancen von Freiheit durch Parlamentarisierung, modernen Parteienwettbewerb, durch die hier nicht näher betrachtete Föderalisierung und politische wie soziale Demokratisierung. Sie zeigen einen spezifischen Pfad anhaltender Bürokratisierung ohne großen Wandel bis zur Weimarer Republik auf, den er in eine autoritäre politische Kultur einbettet. Zudem ist die Immobilisierung des Grundeigentums hier massiver als im amerikanischen und russischen Fall. Aus all diesen Überlegungen bedient sich Weber einer aufrüttelnden, überzeichnenden Rhetorik.

3. Resümee Die Bürokratietheorie Webers gehört zu den wirkmächtigsten sozialwissenschaftlichen Konzepten des 20. Jahrhunderts, nicht nur aufgrund der idealtypischen Zuspitzung und Verknüpfung mit einer historisch gesättigten Analyse von Herrschaftstypen, sondern auch und gerade weil Weber als intervenierender sozialwissenschaftlicher Theoretiker und Zeitdiagnostiker die Bürokratisierung zugleich als politisches Problem der modernen Gesellschaften über80 Weber, Politik als Beruf (wie Anm. 44), S. 87. 81 Vgl. ders., Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 25), S. 37.

Max Webers sozialwissenschaftliche Diagnose

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haupt pointiert. Diese Zuspitzung wird von einem Dekadenzglauben getragen, der ihr rhetorische Dramatik und analytische Schärfe verleiht, die nur vor dem Hintergrund von Webers Freiheitsemphase zu begreifen ist. Die normative Perspektive des unvermeidlichen Freiheitsverlustes verleiht Webers Analysen, wie wir zeigen wollten, einen historischen Atem und schließt eine differenzierte Bürokratiekritik ein. Die These von der bürokratischen Erstarrung ist insgesamt als zentrale zeitdiagnostische Ausmünzung von Webers Theorie zu begreifen. Spannungen zwischen der sozialwissenschaftlichen Diagnose und den Verfallserwartungen werden vor allem durch Metaphern und eine dramatisierende Rhetorik überblendet. Dabei sind zwei Punkte wichtig: Zum einen Webers Verhältnis zur Politik. Weber war ein leidenschaftlicher homme politique. Trotz aller Dekadenzannahmen prägte seine Grundhaltung ein antidefätistisches „Dennoch“ oder „Jetzt-erst-recht“. Daraus erwächst die Suche nach Chancen auch unter sich verschlechternden Bedingungen. Es geht – mit Scaff gesprochen – um das „Fleeing the Iron Cage“82. Politisch ist diese Theorie, weil sie dezidiert auf eine Neubeschreibung der sozialen Welt zielt, die als politische Intervention zu begreifen ist und so bereits von den Zeitgenossen verstanden wurde. Dies äußert sich auch im Kampf um die zeitgemäße Fragestellung, der eine genuin politische Dimension hat, indem Weber auf die angemessene Dimensionierung von Erwartungen zielt. Es macht ja einen großen Unterschied aus, ob es darum geht, die ganze Gesellschaft um und neu zu gestalten, was seinerzeit viele Revolutionäre forderten, oder eben weberianisch darum, Veränderungen so vorzunehmen, dass Reste der Freiheit bewahrt werden können. Der universalgeschichtliche Trend unaufhaltsamer Bürokratisierung schließt bei Weber die Identifizierung unterschiedlicher Pfade ein. Er wählt dafür – neben Deutschland – zwei weltpolitisch besonders relevante und divergierende Fälle moderner Bürokratie: die USA und Russland. Vor allem an diesen Ländern entscheidet sich für ihn die Frage, ob eine Einhegung und Begrenzung des Trends gelingen kann. Die Annahme eines übergreifenden Trends der Bürokratisierung erlaubt gerade hier Einsichten, die auch heute noch oder wieder von Interesse sind. Gleichwohl tritt die Dekadenzthese immer wieder in Spannung zur detaillierten Bürokratieanalyse. Die eingesetzten Metaphern fungieren gleichzeitig als Instrumente politischer Dramatisierung und als analytische Begriffe. Damit liegt Weber Anfang des 20. Jahrhunderts zwar ganz in der Zeit, doch verengt sich durch die leitende Maschinenmetapher die Analyse des Wandels moderner 82 Lawrence A. Scaff, Fleeing the Iron Cage: Politics and Culture in the Thought of Max Weber, Oakland 1989.

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Harald Bluhm/Katharina Bluhm

Bürokratie erheblich. Weber denkt Veränderung als einen mehr oder weniger linearen Steigerungsprozess, den man allenfalls von außen kontrollieren und eindämmen kann, nicht zuletzt weil auch Formen der Selbstorganisation bürokratisch enden. So liegen zum Beispiel Versuche der Entbürokratisierung durch Marktlösungen oder durch Verflachung von Hierarchien – wie problematisch und vergeblich sie auch sein mögen – außerhalb des begrifflichen Rahmens. Die Untersuchung der unterschiedlichen Pfade mündet daher in einer Konvergenzannahme, die um des großen historischen Bogens willen die Persistenz der institutionellen, politischen und kulturellen Vorbedingungen ebenso herunterspielen muss wie die Variationen innerhalb moderner Bürokratien. Nun könnte man das Problematische allein im Dekadenzglauben sehen, der mit der Maschinenmetapher einen seelenlosen Erstarrungsprozess pointiert. Aber gerade die Überzeugung eines letztlichen Verfalls trägt die wissenschaftliche Zeitdiagnostik und schärft den Blick auf die Ambivalenzen der Bürokratisierung und die Fragilität politisch-institutioneller Check-and-Balance-Systeme, die moderne Bürokratie wirksam begrenzen sollen. Eine szientifische Deutung von Weber, die den Dekadenzglauben aus seinem Werk zu Gunsten einer „neutralen“ vergleichenden Bürokratie- und Verwaltungsforschung herausstreicht, nimmt ihm nicht nur seine komplexe Gestalt, sondern verfehlt auch die politische Dimension von Webers Neubeschreibung der sozialen Welt. Es ist das Spannungsfeld zwischen Dekadenzglauben und sozialwissenschaftlicher Bürokratieanalyse, das für die Wirkungsgeschichte der Bürokratietheorie als einem zentralen Baustein in Webers Werk konstitutiv ist.

UWE PRELL

Max Webers Stadt – zwischen Politik, Ökonomie und Kultur

Max Webers Fragment „Die Stadt“ zählt zu den Meilensteinen der Debatte über dieses Thema.1 Viel zitiert, ist sein Text einer der Beiträge von Rang, einzuordnen in das gute Dutzend bis heute relevanter Entwürfe. Zu ihnen zählen ferner: Erstens des Philosophen Aristoteles unvermindert wirkungsmächtige Anmerkungen zur Polis und zur Stadt, die den Menschen zum Menschen macht und über den Barbaren erhebt2; zweitens der einflussreiche Aufsatz des Soziologen und Philosophen Georg Simmel über „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 19033; drittens der Text „Suggestions for Investigation of Human Behaviour in the Urban Environment“ der Soziologen Robert E. Parks und Ernest W. Burgess aus dem Jahr 19254; viertens das 1938 publizierte Plädoyer für „Urbanität als Lebensform“ des Soziologen Louis Wirth5; fünftens der großangelegte, in Aristoteles’ Tradition stehender Essay „Die Geschichte der Stadt“ des Historikers, Philosophen, Soziologen und Schriftstellers Lewis Mumford aus dem Jahr 19616; sechstens die epochale Studie „The Global City: New York, London, Tokyo“ der Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Saskia Sassen, die 1991 ein bis heute anhaltendes Erdbeben in der Stadtforschung ausgelöst hat.7 Nicht ganz so bekannt sind eine Reihe weiterer Entwürfe, die aufgrund ihrer Substanz und Originalität dennoch gleichfalls zu den grundlegenden Texten zählen: Siebtens der etwas versteckt publizierte, innovative Text des Soziologen 1 Max Weber, Studienausgabe, Bd. 22, Teilbd. 5: Die Stadt, Tübingen 2000. Zusätzlich werden die in der Studienausgabe genannten Seitenkonkordanzen zur Max Weber Gesamtausgabe (MWG) und Wirtschaft und Gesellschaft (WuG) zitiert. 2 Jürgen Hotzan, dtv-Atlas zur Stadt, München 1994, S. 25. 3 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders., Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984, S. 192–204. 4 Robert Ezra Park/Ernest Watson Burgess, The City. Suggestions for Investigation of Human Behaviour in the Urban Environment, Chicago 1992. 5 Louis Wirth, Urbanität als Lebensform, in: Ulf Herlyn (Hg.), Stadt und Sozialstruktur, Berlin 1974. 6 Lewis Mumford, Die Geschichte der Stadt, Köln 1963 (engl. 1961). 7 Saskia Sassen, The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton 1991.

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und Volkswirts Werner Sombart „Siedlungen. II. Städtische Siedlung. Stadt“ im berühmten „Handwörterbuch der Soziologie“ von 19318; achtens der erfrischende, holistische und gegen den Strich gebürstete Ansatz „The ordinary city“ der Geographen Ash Amin und Stephen Graham aus dem Jahr 19979 und neuntens eine der wichtigsten, sich auf den deutschen Sprachraum beziehenden historischen Grundlagenarbeiten: der Aufsatz „Vielfalt der Erscheinung – Einheit des Begriffs? Die Stadtdefinition in der deutschsprachigen Stadtgeschichtsforschung seit dem 18. Jahrhundert“ des Historikers Alfred Heit aus dem Jahr 2004.10 Nur die Disziplinen betrachtet und die Doppelfunktionen mitgezählt, lässt sich folgende Verteilung feststellen: Ein Schriftsteller, zwei Ökonomen, zwei Geographen, drei Philosophen und drei Historiker sowie sieben Soziologen – die Deutungshoheit zum Thema Stadt liegt relativ eindeutig bei der Soziologie. Die bisher genannten Texte beziehen sich zum Teil aufeinander und knüpfen aneinander an. Parallel besteht ein zweiter großer Debattenstrang, der sich in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt und zahlreiche Positionen hervorbringt. Ausgelöst durch die Industrialisierung und Urbanisierung mit ihren zum Teil katastrophalen Lebensbedingungen dachten und denken Städteplaner, Baumeister und Architekten über die Zukunft der Stadt nach. Dabei besteht eine zum Teil enge Verbindung mit der politischen Analyse und Theorie, von Engels und Marx bis zu gewerkschaftlichen und christlichen Reformbewegungen. Von den explizit städtebaulichen Stadtvisionen möchte ich exemplarisch zwei herausheben, die bis heute Einfluss und Strahlkraft haben: zehntens Ebenezer Howard – kein Architekt oder Stadtplaner, sondern Stenotypist – formuliert die Vision der Gartenstadt. Sein einflussreiches Buch erscheint 1898 und trifft einen Nerv; seine Ideen werden vielfach verbreitet und bis heute weitergedacht.11 Elftens der Architekt Le Corbusier, der sich zeitlebens intensiv mit dem Städtebau auseinandersetzt. In den 1920er Jahren erscheinen erste Überlegungen zur „Zeitgenössischen Stadt für drei Millionen Einwohner“, und 1933 ist er maßgeblich an der einflussreichen „Charta von Athen“12 beteiligt. Seine Ideen sind faszinierend, doch der geradezu totalitäre Charakter einiger seiner Visionen und Projekte ist auch 8 Werner Sombart, Siedlungen II, in: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 527–532. 9 Ash Amin/Stephen Graham, The ordinary city, in: Transactions of the Institute of British Geographers 22 (1997), S. 411–429. 10 Alfred Heit, Vielfalt der Erscheinung – Einheit des Begriffs?, in: Peter Johanek/FranzJoseph Post (Hg.), Vielerlei Städte. Der Stadtbegriff, Köln 2004, S. 1–12. 11 Ebenezer Howard, Gartenstädte in Sicht, Jena 1907 (engl. 1898). 12 Le Corbusier, Urbanisme, Berlin 1929; ders., Urbanisme de CIAM. Charte d’Athènes, Paris 1943.

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zwiespältig. Schließlich darf in dieser Aufzählung jener Texttyp nicht fehlen, der die Stadt als eigenen (insbesondere soziologischen) Analysegegenstand vollständig verwirft, exemplarisch – zwölftens – der Aufsatz „Gegenstand und Probleme einer soziologischen Stadtforschung“ des Soziologen Jürgen Friedrichs aus dem Jahr 1977.13 Dieser Kanon lässt das Themen- und Spannungsfeld der Debatte über die Stadt klar erkennen: Die Geistes- und Sozialwissenschaften und insbesondere die Soziologie sowie die Stadtplanung und Architektur sind die Disziplinen, die sich am intensivsten mit der Stadt befassen. Auffällig ist dabei die Abwesenheit der Politikwissenschaft, von der es de facto keinen grundlegenden Text zur Stadt gibt; in dieser Disziplin dominiert noch die kommunalwissenschaftliche Perspektive.14 In diesem Kontext ist Max Webers Text zu sehen, der dabei eine doppelte Sonderstellung einnimmt: Zum einen ist er ein Monolith in Webers Werk, zum anderen einer der einflussreichsten thematischen und methodischen Solitäre in der Stadtforschung.

1. Entstehungs- und Editionsgeschichte Weber befasst sich in seinem übrigen Werk weder ausdrücklich noch ausführlich mit der Stadt. Sie drängt sich ihm als Thema auf, und zwar bei seinem Versuch, den Untergang der antiken Kultur zu erklären. Die Erfahrung, dass sich die Stadt in den Vordergrund drängt, ist in der Soziologie mehrfach zu beobachten: Eine Reihe von Autoren, so etwa auch Wirth, zielen ursprünglich auf andere Themen. Dabei stoßen sie dann, fast wider Willen, auf die Stadt. Bei Weber scheint diese Erkenntnis so drängend gewesen zu sein, dass er sich nahezu voraussetzungslos dazu entscheidet, der Stadt einen eigenen, umfassenden Text zu widmen.

13 Jürgen Friedrichs, Gegenstand und Probleme einer soziologischen Stadtforschung, in: Ders., Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft, Reinbek 1977, S. 14–19. 14 Über die Kommunalpolitik hinausblickende, neuere Ansätze: Hermanus S. Geyer (Hg.), International Handbook of Urban Policy, Vol. 2, Cheltenham 2009. Dort: Michael Pacione, Introduction. The policy context of urbanization, S. xxi-xxvii. Karen Mossberger u.a. (Hg.), The Oxford Handbook of urban politics, New York City 2012. Dort: Dies., Studying Politics in an Urban World: Research Traditions and New Directions, S. 3–10; Daniel Kübler/Michael A. Pagano, Urban politics as multilevel analysis, S. 114–129; Mike Goldsmith, Cities in intergovernmental systems, S. 133–151; Harold Wolman, What cities do: How much does urban policy matter?, S. 415–441.

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Das Fragment von rund 100 Seiten entsteht vermutlich zwischen Ende 1913 und Mitte 1914. Dabei ist nicht ganz klar, „für welchen Kontext Weber die Studie geschrieben hat und wie er sie gegebenenfalls nach Fertigstellung hätte verwenden wollen“.15 Aus Briefen geht hervor, dass Weber seine Arbeit wohl als Beitrag zum „Grundriss der Sozialökonomik“ (GdS) sieht. Er verortete den Text in der dritten Abteilung der „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WuG), wie sich aus einem Brief an den Historiker Georg von Below am 21. Juni 1914 schließen lässt.16 Vermutlich plant er die Stadt in diesem Zusammenhang zu behandeln. Bereits in einer Notiz vom 2. Juni 1914 vermerkt Weber, dass er „im Kapitel 8: ‚Die Herrschaft‘ einen Abschnitt c): ‚Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte‘“ verorten möchte. Ob dieser Text mit dem Fragment „Die Stadt“ vollständig oder teilweise identisch gewesen wäre, ist nicht klar. „Eine eindeutige werkgeschichtliche Zuordnung ... lässt sich nicht vornehmen. Der Text hätte vermutlich umgestaltet werden müssen, wenn Weber ihn in WuG oder in die ‚Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie‘ bzw. in Teilen in beiden Werken hätte übernehmen wollen.“17 Hier offenbart sich einer der Grundkonflikte, nicht nur des Weberschen Nachdenkens über die Stadt: Die Verortung des Themas in der „Sozialökonomik“ und in der „Wirtschaft und Gesellschaft“ hätte dem Text eindeutig eine starke ökonomische Konnotation gegeben. So zweifellos wichtig diese ist, eine so einseitige Festlegung widerspricht dem per se vielfältigen Charakter der Stadt. Die Frage also, welchem Themenbereich die Stadt zuzuordnen ist, ob Ökonomie, Politik oder Kultur, um nur diese drei heranzuziehen, ist Weber wohl bewusst, aber er entscheidet sie nicht eindeutig. Schließlich ist nicht ganz klar, in welchem Status der Text sich befindet. Als sicher gilt, dass er aufgrund des abrupten Endes unvollendet ist. Mit Beginn des I. Weltkrieges bricht die Arbeit ab. Am 2. August 2014 meldet sich Weber freiwillig zum Militärdienst; nach seiner Entlassung 1915 nimmt er die Arbeit an diesem Text bis zu seinem Tod am 14. Juni 1920 nicht mehr auf. Veröffentlicht wird die Arbeit posthum. Webers Witwe Marianne findet das Fragment im Nachlass und berichtet dem Verleger Paul Siebeck davon in einem Schreiben am 30. Juni 1920. Daraufhin kommt es rasch zur ersten Publikation. Schon im August 1921 erscheint der Text erstmals im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ unter dem Titel „Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung“. Im Jahr darauf findet der Text Eingang in die GdS 15 Wilfried Nippel, Nachwort, in: Max Weber, 2000, S. 103 (die zahlreichen Hervorhebungen in Webers Texten habe ich nicht übernommen, U. P.). 16 Ebd., S. 126 (Anhang). 17 Ebd., S. 127.

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und wird unter dem Titel „Die Stadt“ zum größten Teil in der 3. und der Rest in der 4. Lieferung der GdS im Juni und Dezember 1922 erneut veröffentlicht. Die Max-Weber-Forschung ist sich einig, dass der Erstdruck im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ als „der letzten Hand am nächsten stehend zugrunde gelegt werden muss“.18

2. Webers Interesse an der Stadt In seinem sonstigen Werk äußert sich Weber nur ein paar Mal zur Stadt. 1886 publiziert er einen kurzen Aufsatz mit dem Titel „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“. Darin versucht er eine holistische Kausalerklärung und schlägt das Modell einer Prozessdynamik vor, die sich aus spezifischen Strukturmerkmalen des Römischen Reiches und Akteurshandlungen speist.19 Weber summiert also nicht lediglich Faktoren, die den Untergang herbeiführen, sondern erklärt ihn durch einen Prozess. Das ist ein ganz anderer Ansatz als etwa der zahlreicher Historiker, die den Untergang Roms auf Angriffe von außen zurückführen. Erst in diesem Zusammenhang wird die Stadt für Weber interessant und zum Thema. Bei der Beschreibung der Strukturmerkmale des Römischen Reiches kommt er zu dem Ergebnis, dass neben dem Heer, der Sklavenwirtschaft, der Ausprägung als Küstenkultur die Stadt als vierter Faktor eine Schlüsselrolle spielt: „Die Kultur des Altertums ist ihrem Wesen nach zunächst: städtische Kultur. Die Stadt ist Trägerin des politischen Lebens wie der Kultur und Literatur. Auch ökonomisch eignet sich, wenigstens in der historischen Frühzeit, dem Altertum diejenige Wirtschaftsform, die wir heute ‚Stadtwirtschaft’ zu nennen pflegen.“20 Auch in anderen Untersuchungen zu diesem Thema formuliert Weber diese Sicht, so in seiner Habilitationsschrift, die 1891 unter dem Titel „Römische Agrargeschichte“21 erscheint, und schließlich noch ein drittes Mal in dem Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum“, publiziert 1897 im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“.22 Weber stellt also bei seiner Suche nach den Faktoren, die den Untergang der antiken Kultur bedingen, fest, dass die Stadt hier eine 18 Ebd., S. 130. 19 Carsten Kaven, Max Webers „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ – Eine mechanistische Rekonstruktion in Petrinetzen, in: Historical Social Research 36,2 (2011), S. 309. 20 Weber, 2000, S. 2. | MWG I/22-5, S. 61 f. | WuG (1922), S. 514. 21 Max Weber, Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, Stuttgart 1891, MWG I/2, S. 91–361. 22 Der wird 1908/09 zur eigenständigen Monographie erweitert.

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wichtige Rolle, vielleicht sogar die Schlüsselrolle spielt. Sein Text kann somit als Versuch gesehen werden, sich mit dem Thema Stadt ausführlich auseinanderzusetzen, um seine Bedeutung zu ermessen.

3. Max Webers Kriterien der Stadt Webers Ausführungen zur Stadt sind furios und gehen ohne Umschweife direkt zur Sache. Schon der erste Satz formuliert ein bis heute gültiges Grundproblem der gesamten Stadtforschung: „Eine ‚Stadt‘ kann man in sehr verschiedener Art zu definieren versuchen.“23 Wie nahezu alle Autoren stellt auch Weber fest, dass es keine allgemeingültige wissenschaftliche Stadtdefinition gibt. Webers Textfragment beginnt mit dem Stadtbegriff, dessen Vielschichtigkeit er konstatiert und den er dann selbst versucht zu definieren, um ihn auf sein Thema anzuwenden, den interkulturellen Vergleich zwischen Okzident und anderen Kulturen, vor allem dem Orient.24 Das führt ihn zu folgender Gliederung: I. Begriff und Kategorien der Stadt, II. Die Stadt des Okzidents, III. Die Geschlechterstadt im Mittelalter und in der Antike, IV. Die Plebejerstadt. Für die heutige Stadtforschung am interessantesten ist das erste Kapitel, in dem sich Weber mit dem Stadtbegriff auseinandersetzt. Dabei fällt auf, dass ihn die Logik des Themas offenkundig in den Bann zieht. Er bezieht sich eingangs auf „Definitionen“ der Stadt, die er leider nicht belegt, und setzt sich mit der Vielschichtigkeit des Begriffs auseinander, vor allem mit dem Problem, die einzelnen Aspekte zu benennen und zu gewichten.25 Auch das ist bis heute ein Kernproblem der gesamten Stadtforschung, die sich über ein Dutzend Disziplinen erstreckt, und meines Erachtens ist die Problematik des Mangels eines analytischen Stadtbegriffs selten so klar formuliert worden wie von Weber. Es ist wichtig, dem Gang seiner für viele nach ihm prototypischen Argumentation zu folgen, bei der er sechs Merkmale der Stadt in folgender Reihung herausarbeitet. Geschlossenheit: Als erstes nennt Weber die „(mindestens relativ) geschlossene“ Form einer Siedlung, ohne ausführlich auf diesen Punkt einzugehen. Dieses Argument führt ihn direkt zur Dichte über die Feststellung, dass in Städten „die Häuser besonders dicht, in der Regel Wand an Wand“ stehen. Viel weiter reicht sein Begriff der Dichte nicht, der heute ein Kernmerkmal des modernen Stadtverständnisses ist. Das Merkmal der Größe schließt sich an. Für 23 Weber, 2000, S. 1. | MWG I/22-5, S. 59–61. | WuG, S. 513 f. 24 Nippel, 2000, S. 103. 25 Über die Stadtdebatte zu Webers Zeit: Heit, 2004, S. 1–12.

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Weber ist Stadt in quantitativer Hinsicht eine „große Ortschaft“. Auch wenn er den Unterschied zwischen Größe und Dichte zwar nennt, aber nicht in der Differenzierung wie moderne Raumtheorien26, so spricht es für sein Gespür, dass er beide Begriffe verwendet. Bei der Größe nimmt er eine soziologisch wichtige Präzisierung vor, die über den quantitativen Aspekt hinausgeht. Um als Stadt gelten zu können, muss ein Ort so groß sein, dass die „persönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander fehlt“.27 Das ist ein entscheidender Punkt der soziologischen Argumentation, den Weber meines Wissens als erster benennt und der selten aufgenommen wird. Ein beachtlicher Teil der theoretischen Stadtdiskussion blickt hier nach oben, clustert Städte nach Größe und führt wie die Statistik immer wieder neue Typen ein. Weber hingegen blickt nach unten auf die Mindestgröße, die eine Stadt haben muss, um als solche überhaupt gelten zu können. Das ist ein zentraler Aspekt. Natürlich erkennt Weber auch, dass die Größe für sich genommen nicht hinreichend ist und nennt als nächstes Merkmal den Rechtscharakter, wobei er bemerkt, dass „dieses Merkmal bei weitem nicht immer“ zutrifft. Tabelle 1 – Kriterien des Stadtverständnisses von Max Weber I Geschlossenheit

zwingend

Konsens aller Definitionen

Dichte

beiläufig erwähnt im Zusammenhang mit dem Merkmal Geschlossenheit

präzisiert hier das Merkmal der Geschlossenheit und wird als räumliche Dichte von Gebäuden verstanden

Größe

zwingend

soziologisch: eine Stadt unterscheidet sich vom Dorf, wenn nicht mehr jeder jeden kennt quantitativ: Eine Stadt muss eine Mindestgröße haben, um als solche gelten zu können

Rechtscharakter

möglich, aber nicht zwingend

Webers Stadtverständnis bis zu dieser Stelle: Eine Stadt ist eine (relativ) geschlossene, dichte Siedlung, die eine Mindestgröße hat und möglicherweise einen eigenen Rechtsstatus.

26 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001. 27 Weber, 2000, S. 1. | MWG I/22-5, S. 59–61. | WuG, S. 513 f.

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Geschlossenheit, Dichte, Größe und Rechtscharakter sind die ersten vier Merkmale, die Weber zügig und wie selbstverständlich auf der ersten halben Seite seines Textes nennt. Es handelt sich dabei durchweg um formale, strukturelle Merkmale, ein dynamischer Raumbegriff existiert zu Webers Zeit, wie gesagt, noch nicht. Nach diesem Auftakt kommt er zu einem seiner Kernargumente, der Ökonomie, dem Markt: Weber nähert sich dem ökonomischen Merkmal in einer kreisenden, das Thema immer enger fassenden und präzisierenden Argumentation. Er beginnt mit dem Hinweis, dass die Stadt ökonomisch eine Ansiedlung sein könnte, „deren Insassen zum überwiegenden Teil von dem Ertrag nicht landwirtschaftlichen, sondern gewerblichen oder händlerischen Erwerbs leben“.28 Die Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft sind zunächst entscheidend, sie unterscheiden die Stadt vom Dorf, in dem im Grundsatz alle alles produzieren. Enthalten in dieser Argumentation ist ein klassisches entwicklungstheoretisches Argument, das unterstellt: Produziert ein Dorf genug, um sich dauerhaft ernähren und sich mehr leisten zu können, wird eine über den unmittelbaren Bedarf hinausreichende, differenzierte Produktion möglich. Dieser Überschuss erlaubt Handel und Wachstum. Das bedeutet nicht nur eine quantitative Steigerung, sondern einen qualitativen Umschlag, denn auch im Dorf gibt es natürlich Handwerker. Produzieren sie jedoch ausschließlich die Mittel, um das Überleben zu ermöglichen, so erwirtschaftet die Stadt einen Mehrwert, der gehandelt werden kann. Dieser Mehrwert bildet den entscheidenden Unterschied. Tabelle 2 – Stadt ist Markt Markt

Merkmal ist zwingend

- - - -

nicht landwirtschaftliche Tätigkeit Gewerbe Handel regelmäßiger Gütertausch für die Siedlung – und darüber hinaus

Webers ökonomisches Stadtverständnis: Eine Stadt ist eine Siedlung mit einem Gewerbe, das über den Eigenbedarf hinaus produziert, und mit regelmäßigem Güteraustauch, einem Markt, für die Bewohner der Siedlung und darüber hinaus.

Gewerbe und Handel führt Weber explizit an, schränkt aber mit dem Beispiel asiatischer und russischer „Gewerbedörfer“ das Kriterium als zwar notwendig, aber nicht hinreichend ein, um dann zu ergänzen: „Das weitere Merkmal, welches hinzutreten muss, damit wir von ‚Stadt‘ sprechen, ist: das Bestehen 28 Weber, 2000, S. 2. | MWG I/22-5, S. 61 f.. | WuG, S. 514.

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eines nicht nur gelegentlichen, sondern regelmäßigen Güteraustausches am Ort der Siedlung als eines wesentlichen Bestandteils des Erwerbs und der Bedarfsdeckung“.29 Nicht nur Gewerbe und Handel, sondern regelmäßiger Handel, kurz: Markt macht ökonomisch die Stadt zur Stadt. Hier sind wir bei Webers Kernargument: ökonomisch ist die Stadt vor allem Markt. All das führt Weber in der folgenden Formulierung zusammen: „Wir wollen von ‚Stadt’ im ökonomischen Sinn erst da sprechen, wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlands für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat.“30

Bis zu diesem Punkt wird Weber häufig zitiert. Stadt ist Markt, so lässt sich seine Perspektive in einer Formel konzentrieren. Wenig rezipiert wird der weitere, meiner Einschätzung nach entscheidende Gang seiner Argumentation, denn sie relativiert und ergänzt die Formel „Stadt = Markt“, stellt sie sogar ein stückweit in Frage. An dieser Stelle, etwa in der Mitte der zweiten Druckseite, führt Weber sein sechstes Argument ein, das auf einen neuen Pfad führt – die Politik: „Es ist ursprünglich durchaus das Normale, dass die Stadt ... sowohl Grundherren- oder Fürstensitz wie Marktort ist.“ Stadt ist also nicht nur Markt, Stadt ist auch Herrschaft, streng genommen: Herrschaft und Markt – die Reihenfolge ist wichtig, denn so wie Weber argumentiert, ist für ihn die Politik Voraussetzung des Marktes. Weber führt die Politik mit einem klassischen, territorialen, machtpolitischen Argument ein, in dem er die Stadt als „Sitz“, also Basis und Plattform territorialer Herrschaft benennt. Er bindet die Ökonomie an die Politik und beschreibt ihr Verhältnis: „Die Existenz des Marktes bedarf einer Konzession und Schutzzusage des Grundherren oder Fürsten.“31 Damit wird Politik zum Garanten des Marktes. Städte ohne einen solchen Garanten kommen zwar vor, sind aber, so Weber, die Ausnahme. Weber verortet sie historisch „an den Mittelmeerküsten im frühen Altertum und gelegentlich im frühen Mittelalter“.32 Aber noch häufiger ist „das Miteinander großer fürstlicher oder grundherrlicher Patrimonialhaushaltungen einerseits und eines Marktes andererseits“. In der Regel, so Webers Schluss,

29 30 31 32

Weber, 2000, S. 1. | MWG I/22-5, S. 59–61. | WuG, S. 513 f. Weber, 2000, S. 2. | MWG I/22-5, S. 61 f. | WuG, S. 514. Ebd. Weber, 2000, S. 2 f. | MWG I/22-5, S. 61–65. | WuG, S. 514 f.

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gehen „die quantitative Ausdehnung ursprünglicher Fürstenstädte und ihre ökonomische Bedeutsamkeit Hand in Hand“.33 Tabelle 3 – Stadt ist Politik / Herrschaft Herrschaft

Merkmal ist zwingend - - - -

ist Voraussetzung von Markt garantiert Markt durch territoriale Herrschaft durch inhaltliche Herrschaft über Dimension und Charakter des Marktes

Webers politisches Stadtverständnis: Eine Stadt bedeutet territoriale und inhaltliche Herrschaft, die Markt ermöglicht, die seine Existenz garantiert und seinen Charakter bestimmt.

An dieser Stelle – Mitte der 3. Seite – erfolgt die nächste, für die Stadtforschung bis heute folgenreiche Setzung. Um den ökonomisch-politischen Zusammenhang zu erklären, benennt Weber die „Fürstenstadt“ als Typus. Das ist eine Schlüsselstelle für die Stadtforschung. Theoretisch wäre es interessant gewesen, tiefer in das Verhältnis von Politik, insbesondere Herrschaft, zum Markt einzudringen. Dieses wäre besonders wichtig, da mit dem gleichen Argument nicht nur die Stadt, sondern auch der Staat begründet werden kann. Da Weber mit territorialer Herrschaft argumentiert, liegt die Vermutung nahe, dass der Unterschied in der Größe und Reichweite bestehen könnte. Weber aber folgt diesem Pfad nicht, stattdessen zerschlägt er den Gordischen Knoten, in dem er dieses Verhältnis als Typus konstituiert: „Dem Typus der Fürstenstadt, also einer solchen, deren Einwohner in ihren Erwerbschancen vorwiegend direkt oder indirekt von der Kaufkraft des fürstlichen und der anderen Großhaushalte abhängen, stehen solche Städte nahe, in welchen die Kaufkraft anderer Großkonsumenten, also: Rentner, ausschlaggebend die Erwerbschancen der ansässigen Gewerbetreibenden und Händler bestimmt.“34 Der Satz ist nicht ganz einfach zu verstehen. Verkürzt sagt Weber, dass Städte abhängig sind von der Kaufkraft. Das kann die Kaufkraft eines Fürsten sein, aber auch eines anderen Großhaushalts oder anderer Großkonsumenten. Diese Kaufkraft bestimmt die Chancen von Gewerbe und Handel. Weber fasst also zusammen, sucht vergleichbare Fälle, wendet dabei seine wegweisende Methode an und typisiert. Während er Stadt wiederum ökonomisch-politisch begründet und der Ökonomie vermutlich leichten Vorrang einräumt – die Kauf33 Weber, 2000, S. 3. | MWG I/22-5, S. 62–65. | WuG, S. 514 f. 34 Ebd.

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kraft entscheidet –, nimmt er die Politik (den Fürsten) als Beispiel für einen Fall von großer Kaufkraft. Auch die politische Dimension des Arguments verfolgt er damit nicht weiter, sondern folgt dem Pfad der Typisierung. Um dies methodisch und inhaltlich zu untermauern, nennt Weber allein auf der folgenden Seite, nach der Nennung des ersten Stadttyps, neun weitere Stadttypen („Beamtenstadt“, „Grundrentnerstadt“, „Rentnerstadt“, „Händlerstadt“, „Gewerbestadt“, „Pensionspolis“, „Konsumentenstadt“, „Produzentenstadt“, „Handelsstadt“). Im Folgenden diskutiert Weber vor allem verschiedene ökonomische Stadttypen. Der entscheidende Unterschied zwischen Stadt und Land ist für ihn die „Beziehung der Stadt als Träger des Handels zum platten Land als Lieferant der Nahrungsmittel [... – die] Stadtwirtschaft“.“35 Diese wiederum sieht er als eigenen Wirtschaftstyp, der sich von der Selbstversorgung, die er als „Eigenwirtschaft“ bezeichnet, und die er von der „Volkswirtschaft“ unterscheidet. Seine Überlegungen zur städtischen Wirtschaftsform bringen Weber zu den Begriffen „städtische Wirtschaftspolitik“, „Stadtgebiet“ und „Stadtobrigkeit“36 – alles politische, insbesondere machtpolitische und zum Teil territorial-politische Kategorien. Das führt wieder über die Ökonomie hinaus und verknüpft sie erneut mit der Politik. Zusammenfassend stellt Weber fest, „daß man den bisher erörterten ökonomischen vom politisch-administrativen Begriff der Stadt durchaus scheiden muß“.37 Darauf folgt, wie schon bei der Erörterung der ökonomischen Dimension der Stadt, die Diskussion politischer Stadttypen. Damit enden im Wesentlichen Max Webers beachtliche theoretische Überlegungen zur Stadt. Im weiteren Text konzentriert er sich vor allem auf den historischen Vergleich der Stadt im Okzident und im Orient, wobei er zahlreiche weitere Stadttypen beschreibt. Einen voll ausgereiften eigenen Stadtbegriff hat Weber nicht entwickelt. Sein nachgelassenes Fragment enthält dennoch eine der anspruchsvollsten und reichhaltigsten theoretischen Skizzen, die die Stadtforschung bis heute erarbeitet hat. Danach sieht Weber in der Stadt eine eigene politisch-ökonomische Form menschlichen Zusammenlebens, ohne dabei zu entscheiden, dass einer der beiden Bereiche die Stadt allein konstituiert. Seine Erörterungen lassen den Schluss zu, dass dies vom jeweiligen Fall abhängt. So wie Weber argumentiert, ist die Annahme einer theoretischen Gleichberechtigung zulässig. Danach ist Stadt eine politische und ökonomische Form zugleich.

35 Weber, 2000, S. 5. | MWG I/22-5, S. 67–69. | WuG, S. 516 f. 36 Weber, 2000, S. 7. | MWG I/22-5, S. 69–71. | WuG, S. 517 f. 37 Weber, 2000, S. 7. | MWG I/22-5, S. 72. | WuG, S. 518.

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4. Max Webers Stadtverständnis – zusammengefasst Die Merkmale, die gegeben sein müssen, damit von Stadt die Rede sein kann, sind insgesamt also nach Weber: Geschlossenheit, Dichte, Größe, Rechtscharakter, Ökonomie (genauer: Stadtökonomie | Markt) und (Stadt)politik. Diese Merkmale lassen sich wie folgt ordnen: Tabelle 4 – Kriterien für die Stadt in Max Webers Stadtverständnis strukturtheoretische Merkmale handlungstheoretische Merkmale – Geschlossenheit – Dichte – Größe – Rechtscharakter

– Ökonomie (genauer: Stadtökonomie | Markt) – (Stadt)politik

Dieses Ordnungsmodell verdeutlicht, dass Weber Stadt nicht nur statisch sieht, etwa als Raster oder Matrix, sondern sich ihrer Dynamik wohl bewusst ist. Einerseits übernimmt er einige, bis dahin diskutierte Merkmale, die sich als relativ stabil verstehen lassen, die Stadt als Struktur beschreiben und ihre Dauerhaftigkeit betonen. Andererseits betont er mit dem Markt und der Politik zwei hoch dynamische Faktoren. Damit sieht er die Stadt auch als dynamischen Prozess und nicht nur als statische Form. So nimmt er eine pointierte Position in der umfassenden Debatte ein, die Alfred Heit nachzeichnet.38 Webers Stadtfragment lässt sich noch besser verstehen, wenn man sich diese Debatte vergegenwärtigt, die ich nun anhand von vier exemplarischen Positionen kurz skizziere.

5. Max Webers Sicht auf die Stadt im Kontext seiner Zeit Der streitbare konservative Verfassungs- und Wirtschaftshistoriker Georg von Below (1858–1927) publizierte einige umfassende Arbeiten zur Stadt: Im Jahr 1892 erscheint „Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung“, 1898 „Das ältere deutsche Städtewesen“ und 1900 „Territorium und Stadt in erster und 1923 in zweiter und deutlich veränderter Auflage.39 Von Belows Leis38 Heit, 2004, S. 1–12. 39 Georg von Below, Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung, München 1892; ders., Das ältere deutsche Städtewesen, München 1898; ders., Territorium und Stadt, München 1900 und 1923.

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tung besteht darin, so Heit, dass er „die von der vorangegangenen Forschung bereitgestellten Attribute der Stadtqualität – Markt, Ummauerung, besonderer Gerichtsbezirk, privilegierte Stadtverfassung – übernimmt“40 und in seine rechtlich fundierte Auffassung integriert. „Neu ist bei ihm die Verortung der Definition in Methodik und Methodologie. Mit gesteigertem Problembewusstsein erkennt er ihre fundamentale Bedeutung als wissenschaftliches Instrument.“41 Das ist ein wichtiger Punkt, der später wieder in Vergessenheit gerät und dessen Relevanz zeitweise ganz bestritten wird, etwa durch Friedrichs in den 1970er Jahren. Belows „Gegenspieler“ ist der Ökonom und Sozialwissenschaftler Gustav von Schmoller (1838–1917), dessen Überlegungen zur Stadt nach seinem Tod unter dem Titel „Deutsches Städtewesen in älterer Zeit“ erscheinen.42 Von Schmoller geht deutlich über den damaligen Forschungsstand hinaus und bietet eine der bis dahin umfassendsten Stadtdefinitionen: „Die Stadt ist ein größerer Wohnplatz als das Dorf, aber zugleich ein solcher, wo Verkehr, Handel, Gewerbe und weitere Arbeitsteilung Platz gegriffen hat, ein Ort, der auf seiner Gemarkung nicht mehr genügend Lebensmittel für alle Bewohner baut, der den wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und geistigen Mittelpunkt seiner ländlichen Umgebung bildet. Man denkt aber ebenso sehr daran, dass er mit Straßen und Brücken, mit Marktplatz, mit Rat- und Kaufhaus und anderen größeren Bauten versehen, dass er durch Wall, Graben und Mauern besser als das Dorf geschützt sei, wofern ein solcher Schutz überhaupt noch nötig ist, endlich daran, dass eine höhere, politische und Gemeindeverfassung, gewisse Rechtsbezüge besitze.“43

Größe, Arbeitsteilung, Markt, Mittelpunkt, Einheit, politische und rechtliche Bedeutung – zahlreiche der nach wie vor relevanten und teils auch von Weber genannten Merkmale finden sich bei von Schmoller. Obgleich universell angelegt, hat diese Definition, wie Heit feststellt, allerdings auch ein auffälliges Defizit. Es fehlt das sakrale, „das kultisch-geistliche Element“, das durch den Begriff „geistiger Mittelpunkt“ lediglich angedeutet ist. Ergänzend ist festzuhalten, dass von Schmoller Stadt vor allem statisch sieht. Das Staatsrechtler Hugo Preuß holt in seiner 1906 erschienenen Studie „Die Entwicklung des deutschen Städtewesens“ noch weiter aus und charakterisiert die antiken, römischen Wurzeln der Stadt: „Die Stadt ist das Zentrum alles politi40 41 42 43

Heit, 2004, S. 6. Ebd. Gustav von Schmoller, Deutsches Städtewesen in älterer Zeit, Bonn 1922. Heit, 2004, S. 7.

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schen und sozialen Lebens, das umgebende Land lediglich Herrschaftsgebiet und Nährboden der dominierenden Stadt; wo sich Kultur auf dem Lande entwickelt, zeigt auch sie durchaus städtischen Charakter. Die ganze Kultur ist urban.“44 Das ist nah an Webers Sicht auf das Römische Reich. Aber Preuß schlägt mit Blick auf die deutsche Geschichte einen anderen Argumentationspfad ein, in dem er zahlreichen Historikern seiner Zeit in deren Blick auf den Untergang des Römischen Reiches folgt. Die städtische Kultur stieß nun, so Preuß, mit dem „primitive[n], reine[n] Agrarwesen der Germanen zusammen; und beides durchdrang sich in den gewaltigen Evolutionen der Völkerwanderung“. Das Ergebnis: Während in der Antike der Unterschied zwischen Stadt und Land eher „ein wirtschaftlicher und quantitativer, als ein rechtlicher und qualitativer“ ist, schieben sich in Deutschland die Städte wie „Oasen in das flache Land hinein“. Dadurch bilden die Städte keine Einheit mit ihrer ländlichen Umgebung, „sondern die Städte stehen untereinander in sozialer und politischer Interessengemeinschaft und in einem ebensolchen Interessengegensatz zum flachen Lande; urbanes und agrarisches Wesen reiben sich in unausgeglichener Gegensätzlichkeit aneinander.“ Gilt in Frankreich die mittelalterliche Stadt als „Keimzelle des modernen Staates“, ist das Reich ein „Konglomerat von Territorien“, in dem sich die Städte zu selbständiger „Bedeutung emporheben“, die sich auch in Städtebündnissen, wie der Hanse, dem Rheinischen Bund, dem Schwäbischen Bund und zahlreichen anderen Vereinigungen manifestieren. All das erklärt, weshalb die Land- und Stadtverfassungen in Deutschland unterschiedlich sind und die deutschen Städte im Mittelalter einen eigenen Rechtsstatus entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist die stark ausgeprägte deutsche Stadtverfassung zu sehen, deren Entwicklung Preuß detailliert beschreibt und mit einem interessanten, heute noch relevanten Gedanken abschließt: „Die Eigenart der modernen großstädtischen Agglomeration beschränkt ihre Wirkungen keineswegs auf das Weichbild der eigentlichen Stadt; sie ergreift oft in besonders intensiver Weise das ganze suburbane Gebiet, dessen organische Verbindung mit dem städtischen Kerne eine administrative Notwendigkeit wird ... In Wechselwirkung wird damit für die großstädtischen Verwaltungen heute das Bedürfnis einer kommunalen Dezentralisation ebenso unabweislich, wie einst das Bedürfnis staatlicher Dezentralisation gewesen ist.“45

In der Zusammenschau ist das eine nach wie vor starke Deutung, auch wenn die Forschung inzwischen einzelne Aspekte vertieft beleuchtet hat, wie etwa 44 Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig 1906, S. 3–5. 45 Ebd., S. 379.

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Peter Moraw in seiner Untersuchung der „Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich“, und zu anderen Schlüssen kommt.46 Gleichzeitig sind zahlreiche Einzelaspekte noch unerforscht, wie das komplizierte Verhältnis der Bürgerschaft in Stadt und Staat.47 Der schon erwähnte Soziologe und Volkswirt Werner Sombart folgt wiederum einem anderen Ziel. Ihm geht es weder um eine historische Erklärung noch um eine enzyklopädische Auflistung der Merkmale und auch „nicht um eine ganzheitliche Wesensbestimmung, sondern um eine funktionale, auf moderne wissenschaftliche Spezialisierung hin orientierte Definition“.48 Sombart unterscheidet ein Dutzend Dimensionen des Stadtbegriffs, sein Verständnis ist multifunktional: „Denn darüber kann kein Zweifel obwalten: tausendfach verschieden sind die Motive, ... die Menschen in die Stadt zusammenführen.“49 Sombart engt seinen Begriff weder zeitlich noch geographisch oder thematisch ein, für ihn sind diese Dimensionen universell: Die objektiven Bedingungen zur Städtegründung können „der mannigfaltigsten Art sein: klimatechnischer, bautechnischer, verkehrstechnischer, ökonomischer, populationistischer und was weiß ich, welcher Art noch!“50 Diese Vielfalt und die einzelnen Funktionen lassen sich beschreiben, in dem für die jeweilige Funktion das Typische betont wird. Das spaltet den Stadtbegriff auf und macht ihn für die einzelnen Disziplinen handhabbar. Sombarts Differenzierung ist methodisch beispielhaft für ähnliche Versuche. Der Vorteil des Verfahrens: Es werden einzelne Aspekte deutlich, die die Stadt ausmachen – die einzelnen Puzzleteile bekommen ein Gesicht. Der Nachteil: Ein Überblick entsteht so noch nicht; es bleibt unklar, wie das Puzzle zusammengesetzt wird und wie das Bild dann aussieht. Besonders interessant ist Sombarts Artikel zur Stadt im legendären „Handbuch der Soziologie“ von 1931. Dort verlässt er „den Standpunkt der synthetischen Begriffsbildung und begibt sich auf den Boden des ‚Sprachgebrauchs‘.“51 Sombart diskutiert die Schwierigkeit, den Begriff Stadt zu übersetzen und erläutert dann die Bedeutung des Begriffs in Deutsch (Stadt), Englisch (town und city) und Französisch (ville), was ihn aber nicht weiter führt. Sein Ergebnis: Es gibt „zahlreiche Merkmale ..., nach denen der Begriff Stadt bestimmt wird“. 46 Peter Moraw, Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich, besonders im 15. Jahrhundert, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u.a. (Hg.), Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31.3.1987, Berlin 1988, S. 11–39. 47 Gerhard Dilcher, Einleitung, in: Böckenförde u.a. (Hg.), S. 7–10. 48 Heit, 2004, S. 9. 49 Werner Sombart, Der Moderne Kapitalismus, Bd. 2, New York 2005, S. 189. 50 Ebd., S. 190. 51 Sombart, 1931, S. 527–532.

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Unter Stadt wird „zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten etwas sehr Verschiedenes ... verstanden“. Neben dem „analytischen Begriff, das heißt dem Sprachgebrauch gemäßen Begriff Stadt [gibt es] noch einen anderen empirisch-historischen Begriff ..., den wir als dokumentarisch-interpretatorischen Begriff bezeichnen können“. Aus diesen Überlegungen gewinnt Sombart seine Kriterien, die Stadt ausmachen. Sind es in seinen Überlegungen 1902 noch zwölf, so reduziert er die Zahl 1931 auf neun. Zusammengefasst erkennt und belegt von Below die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Stadtdefinition, von Schmoller erarbeitet einen Set an Kriterien, Preuß versucht den Charakter des Städtischen zu erfassen, Sombart wiederum erweitert den Set der Merkmale und findet einen innovativen, aber nicht weiter verfolgten Weg, um den Stadtbegriff zu fassen. In diesem Diskussionszusammenhang ist Webers Beitrag zu sehen.52 Er argumentiert grundlegender, in mehrfacher Weise: Erstens sieht er eine politisch-ökonomische Wechselwirkung als Essenz der Stadt. Zweitens versteht er Stadt als dynamischen Prozess. Drittens ist für ihn Stadt nicht nur Form, sondern auch ein ökonomisch und politisch bestimmter Inhalt. Viertens löst er die auftretenden Zielkonflikte durch die Kreation und extensive Anwendung von Stadttypen. Fraglos formuliert Max Weber damit einen der anspruchsvollsten Stadtbegriffe im frühen 20. Jahrhundert.

6. Max Webers Bedeutung für die Erforschung der Stadt Max Webers Textfragment bietet ein dynamisches, struktur- und handlungstheoretisch fundiertes Stadtverständnis, das zu den gehaltvollsten theoretischen Sichten auf die Stadt zählt, auch wenn er seine Skizze noch nicht zu einer umfassenden Definition verdichtet hat. Seine vor 100 Jahren entstandenen Überlegungen enthalten Elemente, die unverändert relevant sind. Zu den unabdingbaren Merkmalen der Stadt zählen damals wie heute Größe bzw. Dichte, die Weber quantitativ und qualitativ sieht. Ferner nennt er die Geschlossenheit, ein heute nicht mehr haltbares Merkmal, und den Rechtscharakter, der heute allenfalls in zweiter Linie noch eine Rolle spielt. Weitere, in der Gegenwart wichtige Strukturmerkmale kommen bei Weber nicht oder nur implizit vor. Die Vielfalt fließt noch ansatzweise in sein Größenverständnis ein, wenn er auf die Mindestgröße abhebt und sie soziologisch, qualitativ 52 Dilcher, 2004, S. 13–30. Ferner: Annegret Simms, Neue Wege der historisch-geographischen Erforschung von Stadtlandschaften in der anglo-amerikanischen Geographie, in: Johanek/Post (Hg.), 2004, S. 53–70.

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versteht, indem er betont, dass Städte Siedlungen sind, in denen nicht mehr jeder jeden kennt, und er so auf die Anonymität in der Stadt als eines ihrer Merkmale abhebt. Die Betonung des Rechtscharakters lässt sich in einem weiten Sinne so verstehen, dass sich Stadt rechtlich als Einheit konstituiert. Merkwürdigerweise interessiert Weber ein weiteres, heute allgemeingültiges Element der Stadtdefinition nicht, die Infrastruktur. Bis zu diesem Punkt ist das eine strukturelle Sicht, und Webers Verständnis unterscheidet sich nicht sehr von dem seiner Zeitgenossen. Eigenständiger ist seine politisch-ökonomische Argumentation, die sich von der seiner Zeitgenossen deutlich abhebt. Für Weber ist Stadt Markt, der wiederum an die Politik als seine Voraussetzung gebunden ist und die sein Bestehen garantiert. Stadt ist für ihn Wirtschaft und Politik, diese Koppelung formuliert niemand sonst so klar. Weber hebt dabei auf Funktionen ab und argumentiert handlungstheoretisch. So wird die Stadt zum dynamischen Prozess. Mit dieser Sicht zählt er im von Strukturtheorien geprägten 20. Jahrhundert zu den Ausnahmen. Noch aus einem anderen Grund ist diese Argumentation wichtig. Ökonomie und Politik sind Inhalte, die Weber ausdrücklich mit der Stadt verknüpft. Insofern ist die Stadt nicht nur eine Form, sie ist auch verknüpft mit bestimmten Inhalten, die sich durch, in und mit dieser Form Stadt in bestimmter Weise ausprägen. Die Koppelung von Ökonomie und Politik hat jedoch, trotz ihrer Rezeption etwa durch die Chicago School, keine Schule gemacht. Der bei Weber enthaltene Gedanke, inhaltliche, struktur- und handlungstheoretische Merkmale bewusst zu verbinden, wird in der Folge nicht aufgegriffen. Im Grunde folgt erst Saskia Sassen mit ihrer Global-City-Theorie wieder dieser Sicht und erweitert sie um die internationale Dimension. Webers Argumentation enthält einen weiteren wichtigen Punkt: Er konstituiert Stadt als eigene Form, und wieder ist es Sassen, die diesem Pfad folgt und seine Bedeutung betont. Saskia Sassen bezieht sich in ihrem Buch zwar auf Weber, aber sie rezipiert nicht seine grundlegenden Überlegungen zur Stadt, sondern seine Überlegungen zur mittelalterlichen Stadtwirtschaft und ihrer überregionalen Verflechtung und Bedeutung.53 Diese lange unumstrittene Sicht gewinnt mit ihrer Kreation des Stadttyps „Global Cities“ erneut an Gewicht. Durch die in allen Disziplinen gängige Verortung der Stadt auf der kommunalen Ebene wird sie vor allem politisch und rechtlich in das klassische Verständnis des Staats- und Gesellschaftsaufbaus eingeordnet. Die Global Cities liegen quer zu diesem Verständnis. Wenn Stadt auf der kommunalen Ebene angesiedelt ist, darf es streng genommen „Global Cities“ gar nicht geben. 53 Sassen, 1991, S. 4.

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Da sie aber als empirische Phänomene seit langem bestehen, ist es schlüssig, sie als eigene Form zu konstituieren. Wohlgemerkt gibt es diesen empirischen Befund erst seit der Gegenwart, Weber hatte ihn nicht. Er kommt auf anderem Weg zu diesem Ergebnis, in dem er die Stadt für seine holistische Erklärung der Transformation der Antike benötigt. Weber argumentiert an dieser Stelle funktional, durchaus vergleichbar eine Generation später Louis Wirth, der dafür heftige Kritik erfährt. Diese Kritik ist wichtig, weil sie lange gültige und die Stadtforschung prägende, vor allem in der Soziologie genannte Argumentationslinien verdeutlicht. Beispielhaft dafür stehen in jüngerer Zeit Hartmut Häußermann und Walter Siebel. Sie folgen einem breiten stadtsoziologischen Argumentationspfad der Nachkriegssoziologie und kritisieren die Auffassung, die Stadt „unabhängig von Gesellschaft als ein universelles und ahistorisches Faktum“ definiert.54 Das läuft auf den Vorwurf hinaus, dass „die gesellschaftlichen Ursachen des Beobachtens [verkannt werden]. Was in den großen Städten geschieht, ist nicht eine notwendige Form der Großstadt, sondern – wie die Großstadt als Siedlungsform selbst – eine Konsequenz sozialer Veränderungen, hauptsächlich der kapitalistisch organisierten Industrialisierung. Diese erzeugt die große Stadt und mit ihr zusammen die großstädtische Lebensweise in all ihren Ausprägungen.“ Die Frage Stadt oder Gesellschaft beantworten Häußermann und Siebel eindeutig: „Stadt ist keine unabhängige Variable ... [sie] ist nicht mehr Ursache für gesellschaftliche Entwicklungen, sondern deren Bühne.“55 Diese Autoren lehnen Stadt als eigene Form ab. Mag dies in stadtsoziologischer Tradition schlüssig erscheinen, so widerspricht es im Grunde gar nicht der Auffassung, dass die Stadt auch eine eigene Form ist. Häußermanns und Siebels Argumentation zeigt eher, wie Diskussionsstränge in der Soziologie verlaufen, die heute nicht mehr haltbar sein dürften. Insofern war Webers Gespür, der hier eine eigene Position vertritt, hell- und weitsichtig. Am wirkungsmächtigsten ist Webers Methode, einzelne Phänomene in Stadttypen zu konzentrieren. Sie ist die Antwort auf ein Dilemma jener Zeit, nämlich den Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, den der Philosoph Heinrich Rickert prägnant auf den Punkt bringt: „Die Naturwissenschaften verfahren bei ihrer Begriffsbildung generalisierend, die historischen Kulturwissenschaften individualisierend.“56 Die damit intendierten reinen Be54 Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Stadtsoziologie, Frankfurt 2004, S. 96. 55 Ebd., S. 100. 56 Heit, 2004, S. 2. Heinrich Rickert, Zur Lehre von der Definition, Freiburg i.Br. 1888; ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen 1902.

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griffstypen erweisen sich jedoch als so abstrakt und praxisfremd, dass es nicht einmal Rickert gelingt, damit zu arbeiten. Weber durchschlägt diesen Gordischen Knoten, indem er den Idealtypus konstruiert und bei seiner Stadttheorie anwendet. Diese Methode hat in spektakulärer Weise Schule gemacht. Dabei lässt sich ein Muster beobachten, das schon Weber in seinem Text anwendet. Der erste Stadttyp, den er in seinem Text explizit als „Typ“ bezeichnet, ist die „Fürstenstadt“. Er führt den Begriff ein, um die ökonomische Funktion der Stadt als Markt mit der politischen Funktion Herrschaft zu verbinden und zu illustrieren. Methodisch entscheidend ist es, ein Phänomen mit einem Stadttyp zu „illustrieren“. Das Wort ist bewusst gewählt, denn Webers Aussage ist eine Setzung, die er aufgrund seines historischen Wissens trifft, aber nicht begründet. Stattdessen führt er ein schlagendes Argumentationsmuster ein, indem er die Form und Ausprägung des Stadttyps durch Gruppen charakterisiert, die eine Stadt prägen, etwa Beamte oder Großrentner, was wiederum erlaubt, die Beamtenoder Großrentnerstadt zu konstituieren. Bis in die Gegenwart ist diese Methode beobachtbar, so zu argumentieren. Allein die in den letzten 25 Jahren neu kreierten Stadttypen dürfte sich auf einige hundert belaufen. Dieses Muster sei kurz skizziert: Am Anfang steht in der Regel eine Beobachtung, bei Saskia Sassen etwa die Konzentration finanzökonomischer Ströme in bestimmten Städten, bei Thomas Sieverts die Ausprägung von Knotenpunkten zwischen Kernstadt, Vorortsiedlungen und Gewerbegebieten, bei Suketu Mehta die vielfältige und durchaus kreative Ausdifferenzierung von Slums, um drei Beispiele zu nennen.57 Diese Phänomene werden empirisch beschrieben und zu einem neuen Stadttyp verdichtet, um sie auf den Punkt zu bringen: Bei Sassen zur „Global City“, bei Sieverts zur „Zwischenstadt“, bei Mehta zur „Maximum City“. So überzeugend es mit dieser Methode gelingt, bestimmte Entwicklungen deutlich zu machen, ihre Grenze hat sie dann, wenn es darum geht, das Verhältnis des Stadttyps zur gesamten Stadt zu klären. Wenn London, New York und Tokyo Global Cities sind, dann stellt sich die Frage: Ganz London, ganz New York und ganz Tokio oder jeweils nur bestimmte Teile? Sassens Studie macht deutlich, dass Letzteres nicht zutrifft und es die Realität nur zum Teil fasst, wenn die Global City-Funktion im jeweiligen Businessdistrikt verortet wird. Die Verflechtungen in und über die Stadt hinaus sind so vielfältig und komplex, dass solche Zuweisungen zu kurz greifen. Das ist bei den anderen Beispielen ähnlich. Die Methode, Stadttypen zu kreieren, hilft zwar neuere Phänomene und Entwicklungen zu beschreiben, aber sie hat die Stadtforschung methodisch in

57 Thomas Sieverts, Zwischenstadt zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Basel 2001. Suketu Mehta, Bombay Maximum City, Frankfurt 2006.

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eine Sackgasse und in einen Zustand geführt, in dem es eine kaum überschaubare Zahl von Stadttypen gibt. Die Geographen Ash Amin und Stephen Graham kritisieren in ihrem wichtigen Aufsatz über die „ordinary city“ diesen Argumentationspfad und den Effekt, dass durch diese Spezialisierung Multifunktionalität und Vielfalt der Stadt in den Hintergrund rücken. Diese Funktion, die ihrer Ansicht nach die Essenz der Stadt ist, wird dadurch zum sekundären Merkmal. Das halten die Autoren für eine Fehldeutung. In Amins und Grahams Sicht sind Städte Räume der Vielfalt und ihrer Vermischung.58 Die Stadt ist eine bunt gemischte, vielschichtige Einheit, ein Nebeneinander von Gegensätzen der Vielfalt eines Theaters des Lebens – sie ist keine homogene Einheit, und sie war dies nie. Das ist einer der Kerngedanken der Autoren, der zwei wichtige Aspekte enthält: Erstens erinnert er an Georg Simmel und lässt sich als moderne Interpretation seiner Sicht lesen. Was leiten Amin und Graham daraus ab? Zunächst einmal keine schlichte Kausalität, sondern eine Ambivalenz. Sie sehen Städte sowohl als Symbole für wachsenden Wohlstand, Dominanz und Möglichkeiten, als auch für Verschmutzung, Armut und Kampf um die Existenz. Die Autoren untermauern ihre Argumentation empirisch. Vielfalt beispielsweise führt nicht automatisch zu Toleranz. Vielfalt kann auch verstanden werden als Milieus in von ihnen gestalteten Räumen, die sich aufeinander beziehen. Die Reichweite der Milieus und ihrer Räume können dabei sehr unterschiedlich sein und sich sowohl auf Teile der „Einheit Stadt“, aber auch auf weit außerhalb der Stadt befindliche Räume beziehen. Ebenso sind Überschneidungen möglich. Wenn Stadt die Anhäufung und Konzentration verschiedener „relationaler Schnittpunkte“ ist, dann muss sie betrachtet werden als ein Set von Räumen verschiedener Reichweiten, von aufeinander bezogenen Netzen, die ineinanderfließen, sich miteinander verbinden und wieder aufteilen. Damit verbinden die Autoren eine Deutung und postulieren Vielfalt und Nähe als „sozialen Speicher“. Diese Funktion unterscheidet Städte voneinander. Was genau die Autoren unter „sozialem Speicher“ verstehen, ist allerdings nicht ganz klar. Zweitens sehen die Autoren die Stadt als Einheit. Dies verbinden sie jedoch nicht mit Homogenität, sondern deuten sie als Einschluss von Heterogenität. Ihre Beobachtungen setzen Amin und Graham mit zwei globalen Prozessen in Beziehung: Zum einen folgt aus der Globalisierung eine Intensivierung des Kontaktes zwischen Räumen durch moderne Kommunikationsmittel und eine 58 Ash Amin/Stephen Graham, Cities of Connection and Disconnection, in: Ronan Paddison/Michael Timberlake (Hg.), Urban Studies. Economy, Vol. III: Connected Cities – Hinterlands, Hierarchies, Networks and Beyond, Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington 2010, S. 320–356.

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Ausweitung des Verkehrs. Das beschränkt sich nicht auf einige spezialisierte Bereiche, sondern erstreckt sich auch auf die Alltagsaktivitäten, die zunehmend von Ereignissen an weit entfernten Orten beeinflusst werden. Zum anderen entsteht so eine neue Schicht, ein neuer „layer“ zwischen Städten, ihrem Umfeld und dem Rest der Welt. Dies ermöglicht eine Ausweitung der Beziehungen. Das wiederum führt dazu, dass Großstädte eine Schlüsselstellung als dynamische Plattform bekommen. Damit erkennen diese Autoren Phänomene an, wie Sassen und andere sie beschreiben, nämlich die weit über den Ort hinausreichenden, manchmal globalen Einflüsse der Stadt auf andere Räume und von anderen Räumen auf die Stadt. Gleichzeitig lässt sich Amins und Grahams Sicht als Kritik an den daraus abgeleiteten funktionalen Sichtweisen deuten, die der Stadt eine einzige Hauptfunktion zuweisen. Einschluss von Heterogenität und globale Einflüsse sowie Betonung der Vielfalt, das erscheint wie ein Widerspruch. Die Autoren sehen das nicht so. Für sie müssen die oft mit der Vorstellung zunehmender Homogenisierung einhergehende Globalisierung und Heterogenität kein Widerspruch sein, sondern sie konstruieren einen Stadtbegriff, der als Synthese gesehen werden kann. Sie bezeichnen ihn als „multiplex city“. Das ist ein wenig kurios, denn ihre Argumentation läuft darauf hinaus, genau solche Etikettierungen im Grunde überflüssig zu machen. Inhaltlich beschreibt der Begriff „multiplex city“ eher eine Fähigkeit als einen Stadttyp. In Summe wird deutlich, dass Autoren dem seit Weber gängigen und verführerischen Verfahren, neue Stadttypen zu konstruieren, zwar nicht ganz widerstehen können, sich aber im Grunde schon davon lösen. Damit scheint sich ein Ausweg aus der Sackgasse dieser Methode anzudeuten.

7. Max Webers Stadt in der Moderne – ein Fazit Über einhundert Jahre nachdem Max Weber seinen ungemein dichten, gehaltvollen und methodisch wegweisenden Text formuliert hat, bringen neue Ansätze die Stadtforschung wieder ein Stück voran. Sie folgen einem Pfad, der für eine lange Zeit als nicht zielführend galt, und versuchen einen holistischen Blick auf die Stadt. Der Versuch, das Ganze wieder in den Blick zu bekommen, ist dabei kein Zurück zu der Zeit vor der Postmoderne. Deren große Diagnosen postulierten in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts das Ende des Holismus. In den Worten eines ihrer prominentesten Vertreters, des französischen Philosophen Jean-François Loytard: „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.“59 Als Diagnose war das zu diesem Zeitpunkt 59 Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S. 101.

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nachvollziehbar. Doch der Schluss, eine „Revision der Moderne“60 vorzunehmen, führte in eine neue Sackgasse. So befreiend die Pluralisierung war, die damit verbundene Dekonstruktion hat auch die Stadtforschung vor allem in die Breite und in eine Situation geführt, in der wir von allem den Preis kennen, aber von nichts mehr den Wert. Die holistische Sicht auf die Stadt ist tatsächlich weniger die Sehnsucht nach der „verlorenen Erzählung“, sondern eine theoretische und praktische Notwendigkeit eines neuen Blicks auf die Stadt. Mit anderen Worten: „Nach der Dekonstruktion ist vor der Konstruktion.“61 Das wiederum führt vielleicht zu einer neuen Synthese, die den holistischen Blick auf die Stadt als notwendig erkennt, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, die Puzzleteile in Form von Stadttypen zu einem Bild zu legen. In der frühen Moderne ist Max Weber der Kronzeuge, der die Logik der Einzelteile ebenso erkennt wie die Logik des Ganzen und der versucht, beides zusammenzudenken. Sein Text zur Stadt ist ein universalhistorischer Entwurf, der in dieser Form nur wenige Vergleiche kennt. Lediglich Lewis Mumford hat einen ähnlich universell angelegten Entwurf gewagt.62 Es ist tragisch und bedauerlich, dass Weber seinen Text nicht weiter ausarbeiten konnte, da ihm bei weiterer Beschäftigung mit dem Thema die Zielkonflikte seiner bisherigen Argumentation kaum entgangen wären, zumal sie sich besonders stark ausprägen, wenn Webers ursprüngliches Ziel wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Im Kern geht es ihm gar nicht um die Stadt. Sie drängt sich ihm auf als fehlender Baustein einer groß angelegten Synthese, die sich aus den Ergebnissen vergleichender Untersuchungen ableitet und mit deren Hilfe er versucht, das Ende der Antike zu erklären. Weber geht es um ein Gesamtbild der Kultur, die er untersucht. Dabei spielt die Stadt eine gewichtige Rolle. Er geht sogar soweit, die Antike als „ihrem Wesen nach zunächst: städtische Kultur“ zu charakterisieren. Erst in diesem Zusammenhang stößt er auf dieses Thema. Wohin Webers Argumentationspfad ihn noch geführt hätte, bleibt eine spannende und verheißungsvolle wissenschaftshistorische Frage, die sich nicht mehr beantworten lässt. Doch auch wenn Webers Versuch unvollendet bleibt, seine Art zu Denken ist modern, relevant und ertragreich bis heute.

60 Ebd., S. 103. 61 Ebd., S. 107. 62 Ähnlich umfassend ist lediglich noch die Stoffsammlung von Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, München 1993.

GANGOLF HÜBINGER

Max Weber, Alfred Weber und Ernst Troeltsch Kultursoziologie und Demokratieprobleme

Max Weber, sein jüngerer Bruder Alfred Weber und sein Heidelberger Freund Ernst Troeltsch gelten als Protagonisten eines liberalen Gelehrtenmilieus, die sich wissenschaftlich wie politisch für die Durchsetzung einer demokratischen Ordnung in der Gründungsphase der Weimarer Republik engagierten. Mit welchen historisch-soziologischen Überlegungen sie das taten, und welche politischen Wertüberzeugungen sie dabei leiteten, ist Gegenstand dieses Beitrages.1 Der Akzent liegt dabei auf den „Demokratieproblemen“. Geht man die Probleme der Demokratie in Deutschland für die revolutionäre Phase am Ende des Ersten Weltkrieges und zu Beginn der Weimarer Republik „kultursoziologisch“ an, so wird man drei Ebenen miteinander in eine dynamische Beziehung bringen müssen. Strukturell zu unterscheiden sind die Ebenen der institutionellen Ordnung demokratischer Herrschaft, der ideenpolitischen Begründung demokratischer Werte und der sozialkulturellen Mobilisierung der Gesellschaft zu demokratischem Verhalten und zur Wertpräferenz für demokratische Institutionen.2 „Demokratie“ – ich folge hier der weberianisch imprägnierten Definition von M. Rainer Lepsius – „ist eine politische Ordnung, die durch intermediäre Strukturen Interessenpluralität und öffentliche Konfliktaustragung ermöglicht und individuelle Freiheitsspielräume institutionell sichert“.3 Alfred und Max Weber sind ebenso wie Ernst Troeltsch an dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie aktiv beteiligt. Allerdings nehmen sie ihre intellektuelle Rolle als Teil der Deutungseliten, die sich in der Übergangsphase zur Demokratie in Deutschland dafür einsetzen, „einen politischen Kulturwandel der Bevölkerung zu bewirken“4, 1 Da die Tagung zu diesem Band Max Webers 150stem Geburtstag gewidmet war, kommt seine Position ausführlicher zur Darstellung und dient als Ausgangspunkt, um Alfred Weber und Ernst Troeltsch damit zu vergleichen. 2 M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, bes. S. 13 f. 3 Ebd., S. 7. 4 Wolfram Pyta, Zur Kulturgeschichte demokratischer Institutionen, in: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa, Köln 2011, S. 23–45, hier S. 27 unter Bezug auf

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Gangolf Hübinger

auf sehr unterschiedliche Weise wahr: Max rigoros analytisch, Alfred rigoros politisch und Ernst Troeltsch philosophisch kompromissbetont auf der Suche nach einer „Kultursynthese“ zwischen deutschem Idealismus und angelsächsischem Pragmatismus. Sie unterscheiden sich einerseits in der Art, wie sie ihre kultursoziologischen Erkenntnisse mit ihrem politischen Ordnungsdenken verbinden. Andererseits sind sie alle, und das in zeitweilig großer persönlicher Nähe, von dem gleichen Heidelberger Gelehrtenmilieu geprägt, das durch neue Wege in den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie mit einer experimentierfreudigen Liberalität und einer politischen Opposition zum „scheinkonstitutionellen“ Preußen (Max Weber) international von sich reden machte. Und sie entstammen der gleichen Generation der in den 1860er Jahren Geborenen, mit vergleichbaren bürgerlichen Bildungsgängen, aufgeklärten Weltsichten und politischen Orientierungsmustern. Das macht es reizvoll, Max Weber (1864–1920), Alfred Weber (1868–1958) und Ernst Troeltsch (1865–1923) als herrschaftsanalytische Beobachter der deutschen Demokratisierung nach dem Ersten Weltkrieg wie als öffentliche Intellektuelle inmitten dieses von Bürgerkrieg und Ideenkämpfen gleichermaßen besetzten Herrschaftswandels zu vergleichen.

1. Max Weber: Demokratische Herrschaft und kapitalistische Wirtschaft Vom 9. bis 12. Dezember 1918 wurde unter Federführung von Hugo Preuß über die Grundzüge der neuen Reichsverfassung beraten. Max Weber war als nicht-amtliches Mitglied daran beteiligt. Im Anschluss an die Beratungen bedankte sich Weber bei Preuß, der bescheiden alle „Vaterfreude“ an dieser demokratischen Verfassung von sich wies, für die Verhandlungslenkung „mit glänzender Präzision und Sachlichkeit“, um gleich anzufügen: „Das Resultat ist allerdings – wie bei ‚Kommissionen’ meist – ein Kompromißprodukt zwischen parlamentarischer und plebiszitärer, bundesrätlicher und staatenhausmäßiger Konstruktion. Ich bin völlig sicher, daß es Sie nicht endgültig befriedigen wird.“5 Typisch Max Weber. Zwischen Oktober 1918 und Juni 1919 war er selbst primär politisch tätig: als beratender Experte wie hier in der Verfassungskommission oder später in der Delegation bei den FriedensverhandlunKarl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift (= HZ) 250 (1990), S. 321–346, das Zitat bei Rohe, S. 339. 5 Max Weber, Brief an Hugo Preuß vom 25. Dezember 1918, in: Ders., Briefe 1918–1920, Hg. Gerd Krumeich/M. Rainer Lepsius, Tübingen 2012 (MWG II/10), S. 374–377, hier S. 374.

Max Weber, Alfred Weber und Ernst Troeltsch

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gen in Versailles; als Wahlkämpfer für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) und als politischer Publizist für die linksliberale Frankfurter Zeitung.6 Aber er hasste Kompromisse. Berühmt wurde das Bekenntnis, mit dem er am 14. April 1920 seinen Austritt aus der DDP begründete, weil er als „klassenbewußter Bürger“ die „Sozialisierung“ nicht mittragen wollte: „Der Politiker soll und muß Kompromisse schließen. Aber ich bin von Beruf: Gelehrter.“7 Hierin bündelt sich die grundsätzliche Ambivalenz seines Demokratieverständnisses: als politischer Wahlkämpfer musste er es den Bürgern programmatisch einimpfen; als Herrschafts- und Kultursoziologe musste er es kritisch sezieren.

Max Weber 1917 (Lauensteiner Tagung, Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach)

Kritisch analysiert hat Max Weber die Probleme der Demokratie Zeit seines Lebens, und das in nationaler Zuspitzung wie in universalgeschichtlichen 6 Dazu nach wie vor Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890– 1920, 3. Aufl. Tübingen 2004; zuletzt unter Betonung des bürgerlichen Selbstbewusstseins Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014. 7 Max Weber, Brief an den Vorsitzenden der DDP Carl Petersen vom 14. April 1920, in: MWG II/10 (wie Anm. 5), S. 985–989, hier S. 986.

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Problembezügen. Seine Amerikareise vom Herbst 1904 brachte ihn dazu, die demokratische Selbstorganisation der Sekten als eine freiheitsbestimmte Kontrastfolie dem seiner Auffassung nach obrigkeitshörigen und staatsgläubigen deutschen Bürgertum entgegenzuhalten. Zu den „verwickelten Kulturproblemen der Demokratie“8 beeindruckten Weber auf seiner Reise insbesondere die vielfältigen Klubs und Vereine in ihrer selbstverständlichen Art, die Zivilgesellschaft zu strukturieren und zu einer moralischen Integration des Einzelnen auch ohne eine autoritative Staatsethik beizutragen. Noch bei der Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“ für seine „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ in den Jahren 1919/20 hielt er fest: „Heute sind zahlreiche derartige Klubs Träger jener ständischen Aristokratisierungstendenzen, welche neben und – was wohl zu beachten ist – zum Teil im Gegensatz zur nackten Plutokratie der amerikanischen Entwicklung der Gegenwart charakteristisch sind. Aber in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein war es ein Merkmal gerade der spezifischen amerikanischen Demokratie: daß sie nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer, Verbände war.“9

Um universalhistorische Probleme politischer Freiheit und demokratischer Ordnung ausführlich zu erörtern, war zunächst Russland die Weltregion, auf die sich Weber konzentrierte. Nach Ausbruch der russischen Revolution im Januar 1905 verfolgte er intensiv die Gründung liberaler Parteibewegungen und studierte mit der Hilfe exilrussischer Intellektueller an der Universität Heidelberg deren Programme und Manifeste. Immer umfangreicher wurde die Abhandlung, aus der „Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland“ entstand. Eingebunden in eine Folgenabschätzung des „heutigen Hochkapitalismus“, bekannte sich Weber hier in einer Emphase zu demokratischen Werten, wie er es sonst zu vermeiden suchte: „Es ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus, wie er jetzt nach Rußland importiert wird, und in Amerika besteht, – dieser ‚Unvermeidlichkeit’ unserer wirtschaftlichen Entwicklung, – Wahlverwandtschaft mit Demokratie oder gar mit ‚Freiheit‘ (in irgend einem Wortsinn) zuzuschreiben, während doch die Frage nur lauten kann: wie sind, unter seiner Herrschaft, alle diese Dinge auf die Dauer ‚möglich‘? 8 Ders., Brief an Gustav Schmoller vom 14. Dezember 1904, in: Ders., Briefe 1903– 1905, Hg. Gangolf Hübinger/M. Rainer Lepsius, Tübingen 2015 (MWG II/4), S. 417. 9 Ders., Die protestantischen Sekten und der Geist der Kapitalismus (1920), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 9. Aufl. Tübingen 1988, S. 215.

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Sie sind es tatsächlich nur da, wo dauernd der entschlossene Wille einer Nation, sich nicht wie eine Schafherde regieren zu lassen, dahinter steht. ‚Wider den Strom‘ der materiellen Konstellationen sind wir ‚Individualisten‘ und Parteigänger ‚demokratischer‘ Institutionen.“10

Worauf Weber abzielte, das waren die sozialen Trägergruppen demokratischer Wertideen, weniger die Ideen selbst in ihrem philosophischen Gehalt. Auch der Demokratie widmete er sich unter der kultursoziologischen Frage, unter der er kurz zuvor die Ethik der protestantischen Sekten behandelt hatte, wie denn „überhaupt die ‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden“.11 Robert Michels wurde ihm in den kommenden Jahren hierfür zum wichtigsten politischen Korrespondenzpartner. Begleitet von Webers kritischem Dauerkommentar entstand Michels’ epochemachendes Buch von 1911 „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“. Michels widmet die erste Auflage Weber mit subtiler Ironie: „Seinem lieben Freunde Max Weber in Heidelberg, dem Geraden, der, insofern er das Interesse der Wissenschaft erheischt, vor keiner Vivisektion zurückscheut, mit seelenverwandtschaftlichem Gruße gewidmet.“12 Das galt Webers rigidem Beharren auf einer Vorstellung von Wissenschaft, die Wirklichkeit auf trennscharfe Begriffe zu bringen habe und sie weder durch politische Utopien verzerren, noch durch romantische Konfessionen verklären dürfe. Den Dank für Buch und Widmung verband Weber in seiner typischen Art im Brief vom 21. Dezember 1910 mit einer Wiederholung grundsätzlicher Einwände: „Ich vermisse es, daß Sie nicht Bryce, American Commonwealth (große Ausgabe! nicht die kleine, die Sie zitieren) benutzt haben. Sie wäre Ihnen sicherlich von Nutzen gewesen. – Alles in Allem: der Begriff ,Herrschaft’ ist nicht eindeutig. Er ist fabelhaft dehnbar. Jede menschliche, auch gänzlich individuelle, Beziehung enthält Herrschafts-Elemente, vielleicht gegenseitige (dies ist sogar die Regel, so z.B. in der Ehe) … Ihr Schema ist zu einfach. Aber Ihr Buch fördert die Sache sehr.“13 10 Ders., Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: Ders., Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905–1912, Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1989 (MWG I/10), S. 270. 11 Ders., Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, in: Ders., Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, Hg. Wolfgang Schluchter, Tübingen 2014 (MWG I/9), S. 214. 12 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911. 13 Brief Max Webers an Robert Michels vom 21. Dezember 1910, in: Max Weber, Briefe 1909–1910, Hg. M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1994 (MWG II/6), S. 761.

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Auf die Bedeutung des britischen Politikwissenschaftlers, Historikers und Staatsmanns James Bryce für die deutsche Demokratiedebatte nach 1918 ist bei Ernst Troeltsch noch einmal zurückzukommen.14 Für den Demokratie-Diskurs vor dem Ersten Weltkrieg ist hier erst einmal festzuhalten, wie sehr Max Weber und Robert Michels im kritischen Dialog voneinander lernten. In den zehn Jahren ihres befruchtenden Austausches legten sie den Grundstein für eine politische Soziologie, in der die Spannungen zwischen der Demokratisierung der Massengesellschaft und den Prozessen parteipolitischer Elitenbildung als das große Problem der modernen Politik erkannt und mit neuen Methoden untersucht wurden. Im Weltkrieg, genauer ab dem Herbst 1917, als er den Krieg durch das Eingreifen der USA für verloren erklärte, begann Max Weber zu präzisieren, was er schon im August 1916 für eine deutsche Nachkriegsordnung als „Ideen von 1917“ bezeichnet hatte.15 Die „Demokratie“ rückt nunmehr ins Zentrum seiner öffentlichen Kritik am deutschen „Scheinkonstitutionalismus“, aber auf seine Weise und in der Sprache der politischen Soziologie. Seine Signalschrift hierzu ist „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ vom November 1917, ein in mehrfacher Hinsicht weichenstellender Schlüsseltext für sein spätes politisches Denken. Weber stellte ihn den beiden politischen Mitstreitern Friedrich Naumanns, dem Dilthey-Schüler Walther Schotte und dem Hauptschriftleiter der „Hilfe“ Wilhelm Heile, für deren neue Schriftenreihe „Der deutsche Volksstaat: Schriften zur inneren Politik“ zur Verfügung. Schon darin lag ein kämpferisches Votum für die radikale Reform der Verfassung vom Obrigkeitsstaat zum demokratisierten „Volksstaat“. Analytisch distanziert mustert Weber die deutschen Gesellschaftsschichten auf die Chancen hin, diesen Transformationsprozess zu gestalten. Er beginnt mit der harten These von der „Feigheit … des Bürgertums vor der ‚Demokratie‘“ und dem Kuschen vor „der Herrschaft der Bureaukratie“ im scheinkonstitutionellen und reformresistenten System des Kaiserreichs.16 Getragen werde dieses System primär von einer Beamtenelite, die durch den Kastengeist des studentischen Couleurwesens geformt worden sei, und von einer Wirtschaftselite, die Geschmack an der durchstaatlichten Kriegswirtschaft gefunden habe und diesen Typus der organischen Gemeinwirtschaft der modernen kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft vorziehe. Katastrophal wirke es sich aus, wie diese Kreise 14 Siehe unten, S. 291. 15 Max Weber, An der Schwelle des dritten Kriegsjahres (1916), in: Ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1984 (MWG I/15), S. 648–689, hier S. 660. 16 Ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), ebd., S. 347–396, hier S. 347.

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nun bildungs- oder berufsständische Wahlrechtsvorschläge lancierten, um eine Demokratisierung des preußischen Dreiklassenwahlrechts zu verhindern und ihre Privilegien zu sichern. Dabei lasse allein „die ganze Masse der heimkehrenden Krieger“ keine Alternative zu einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zu.17 Kulturgeschichtlich wie kulturkämpferisch bemüht Weber einmal mehr den deutsch-britischen Vergleich zur Unterscheidung eines verhaltensprägenden „Habitus“18: „Die angelsächsischen Konventionen, ebenfalls bis tief in die Unterschicht hinein die Menschen formend, entstammen den sozialen Gewohnheiten der in England seit dem 17. Jahrhundert tonangebenden Schicht, welche im späten Mittelalter aus einer eigenartigen Mischung ländlicher und städtisch-bürgerlicher Honoratioren, der ‚Gentlemen‘, sich als Träger des ‚Selfgovernment’ entwickelt hatte. In all diesen Fällen waren – das war das Folgenreiche – die entscheidenden Züge jener Konventionen und Gesten leicht allgemein nachahmbar und also: demokratisierbar. Die Konventionen der deutschen akademisch geprüften Amtsanwärter dagegen und der durch sie beeinflußten Schichten, vor allem die Gewohnheiten, welche die Couleuren anerziehen, waren und sind, wie gesagt, offenkundig nicht geeignet, von irgendwelchen außerhalb der Examensdiplomschicht stehenden Kreisen und vollends von den breiteren Massen nachgeahmt, also: ‚demokratisiert’ zu werden.“19

Selten markiert Weber so klar wie in „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“, verfasst im welthistorischen Epochenjahr von 1917, die Eckpfeiler seiner liberalen Weltsicht. Dazu konfrontiert er allerdings recht ungeschützt seine Leser mit Hypothesen zu den „wirtschaftlichen Ordnungen und Mächten“ der Moderne, zu denen er schon vor Ausbruch des Krieges forschte.20 Vor allem zwei dynamische Entwicklungen von universaler Gestaltungskraft identifiziert Weber als „ein spezifisches Produkt des modernen europäischen Menschentums“21, an denen sich eben diese modernen Gesellschaften kulturell zu orientieren und denen sie sich in ihrem ökonomischen und politischen Ordnungsdenken zu stellen haben. Das ist zum einen der auf rationaler „Rentabilitätskalkulation“ beruhende „Kapitalismus“ als das „eherne Gehäuse …, durch welches die wirtschaftliche Arbeit ihr heutiges Gepräge 17 18 19 20

Ebd., S. 349. Der Begriff „Habitus“ ebd., S. 387. Ebd. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Entstehungsgeschichte und Dokumente, Hg. Wolfgang Schluchter, Tübingen 2009 (MWG I/24). 21 Ders., Wahlrecht und Demokratie (wie Anm. 16), S. 356.

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und Schicksal empfängt“.22 Dem „spezifisch modernen Kapitalismus als eines die Wirtschaft und durch sie das Alltagsschicksal der Menschen unentrinnbar beherrschenden Systems“ sei durch keinerlei „Vergemeinwirtschaftung“ auf Dauer beizukommen, auch wenn eine solche von „schreibseligen Ideologen“23 sozialistischer oder staatskonservativer Provenienz öffentlich proklamiert würde. Das ist zum anderen der moderne Staat als „Volksstaat“ in freier Selbstorganisation durch demokratisch legitimierte „Interessenverbände“ und „politische Parteien“.24 Die „Gleichheit des Stimmrechts“ ist Voraussetzung, um „die moderne rationale Form der staatlichen Willensbildung“ zu ermöglichen. Diesem „modernen Staat erst gehört der Begriff des ‚Staatsbürgers‘ an“.25 Hierüber die Zeitgenossen aufzuklären, schien ihm eine Sisyphosarbeit angesichts der „Wasserscheu des deutschen Spießbürgertums (aller Schichten) vor dem Eintauchen in die spezifisch moderne Problemlage“.26 Man darf hier nicht aus dem Auge verlieren, dass für Weber die demokratische Neuordnung Deutschlands kein humanitärer Selbstzweck war, vielmehr den weltpolitischen Geltungsansprüchen der Nation legitimierend zugeordnet blieb. Webers geopolitisches und kulturhistorisches Weltbild ruhte nach wie vor auf einem agonalen, d.h. an innen- und vor allem außenpolitischer Konfliktfähigkeit orientierten Machtstaatsdenken: „Die ‚Demokratisierung‘ im Sinne der Nivellierung der ständischen Gliederung durch den Beamtenstaat ist eine Tatsache. Man hat nur die Wahl: in einem bureaukratischen ‚Obrigkeitsstaat‘ mit Scheinparlamentarismus die Masse der Staatsbürger rechtlos und unfrei zu lassen und wie eine Viehherde zu ‚verwalten‘, – oder sie als Mitherren des Staates in diesen einzugliedern. Ein Herrenvolk aber – und nur ein solches kann und darf überhaupt ‚Weltpolitik‘ treiben – hat in dieser Hinsicht keine Wahl.“27

In der Revolution von 1918/19 wird Max Weber seine Kritik an der „Feigheit des Bürgertums vor der ‚Demokratie‘“ zuspitzen: „Das Bürgertum wird jetzt zum ersten Mal die Erfahrung machen, daß der Regenschirm des Gottesgnadentums, der über seinen Gottesgnadenportemonnaies ausgespannt war, zugeklappt ist. Wir sind jetzt freilich aus dem Regen in die Traufe gekommen, aber das Bürgertum wird man rufen müssen“, – so ließ Weber eine Wahlkampfrede über den „freien Volksstaat“ vom 17. Januar 1919, zwei Tage vor der Wahl 22 23 24 25 26 27

Ebd. Alle Zitate ebd., S. 357. Ebd., S. 363–365. Zitate ebd., S. 368 f. Ebd., S. 366. Ebd., S. 396.

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zur Verfassunggebenden Nationalversammlung, als Flugblatt der DDP-Ortsgruppe Heidelberg veröffentlichen.28 „Das Bürgertum rufen“ – mit welchen Argumenten und zu welchen Zielen? Weber zielte nicht auf eine Demokratisierung aller Lebensbereiche und stellte keine Abschaffung sozialer Ungleichheit und eine erweiterte Partizipation an allen materiellen und ideellen Zivilisationsgütern in Aussicht. In der Reformphase des letzten Kriegsjahres war sein Hauptthema die „Parlamentarisierung“ der Reichsverfassung. In seiner einschlägigen Schrift „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ fügte er zur Unterscheidung der politischen von der sozialen Demokratisierung eigens ein Kapitel zur „Parlamentarisierung und Demokratisierung“ ein: „Nicht das Problem der sozialen Demokratisierung, sondern nur dasjenige des demokratischen, also des gleichen, Wahlrechts soll uns hier in seiner Beziehung zum Parlamentarismus angehen.“29 Welches Ordnungsmodell politischer Herrschaft er damit favorisierte, fasste er in einem Satz zusammen: „Die Bedeutung der aktiven Massendemokratisierung ist: daß der politische Führer nicht mehr auf Grund der Anerkennung seiner Bewährung im Kreise einer Honoratiorenschicht zum Kandidaten proklamiert, dann kraft seines Hervortretens im Parlament zum Führer wird, sondern daß er das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit massendemagogischen Mitteln gewinnt. Dem Wesen der Sache nach bedeutet dies eine cäsaristische Wendung der Führerauslese.“30

Max Webers Theorie der „plebiszitären Führerdemokratie“ gehört zu den ausführlich behandelten Themen der Weber-Forschung31, seit schon dem jungen Theodor Heuss, als er 1918/19 den Kontakt zu Weber suchte, auffiel, Weber konzentriere sich ganz auf den Punkt, den alle diskutierten: „das Führertum in der Demokratie“.32 28 Max Weber, Der freie Volksstaat, in: Ders., Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920, Hg. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1988 (MWG I/16), S. 458–474, hier S. 467. 29 Ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), MWG I/15 (wie Anm. 15), S. 432–596, hier S. 526. 30 Ebd., S. 538 f. 31 Vgl. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik (wie Anm. 6), Kapitel X: Vom liberalen Verfassungsstaat zur plebiszitären Führerdemokratie, S. 416–441; ferner Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001; Stefan Breuer, Typen und Tendenzen der Demokratie, mit einem Anhang: Plebiszitäre Demokratie oder „Populismus“, in: Ders., Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 112–145. 32 Zit. nach Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 111.

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Unter dem Aspekt des „politischen Konfessionalismus“, der für jene diesem Band zugrunde liegende Tagung ein Stichwort lieferte, ist auf eine der seltenen Bekenntnisformeln zu verweisen, die sich hierzu in Webers Schriften finden. Alle politische Energie richtete er im Winter 1918/19 auf „Deutschlands Wiederaufrichtung“33 und die Gestaltung der neuen demokratischen Republik. In einer Artikelserie für die Frankfurter Zeitung, die noch kurz vor der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919 als eigenständige Broschüre unter dem Titel „Deutschlands künftige Staatsform“ erschien, handelt Weber ausführlich die institutionellen und verfassungsrechtlichen Probleme dieser Neuordnung ab. Darüber hinaus spreche „nun aber für uns Radikale [Hervorh. G.H.] noch etwas anderes dauernd Bedeutsames für die Republik“.34 Radikal nannte sich Weber – darin wohl mehr dem französischen und englischen Wortverständnis folgend –, weil er das Bürgertum attackierte, seinen „feigen Willen“ zur obrigkeitlich geschützten „Ohnmacht“ zu überwinden, „die Geborgenheit der sozialen und materiellen Privilegien und Interessen in der historischen Legitimität des Gottesgnadentums“ aufzugeben. „Das Bürgertum wird dadurch ebenso ausschließlich auf seine eigene Kraft und Leistung gestellt, wie die Arbeiterschaft es längst war.“35 Mentalitätspolitisch habe das Bürgertum gegenüber der Arbeiterbewegung einen großen Nachholbedarf, der nicht durch Rechtsregeln und Verfassungsinstitutionen allein zu kompensieren sei: „Staatstechnische Fragen sind leider nicht unwichtig, aber natürlich sind sie für die Politik nicht das Wichtigste. Weit entscheidender für die Zukunft Deutschlands ist vielmehr die Frage: ob das Bürgertum in seinen Massen einen neuen verantwortungsbereiteren und selbstbewußteren politischen Geist anziehen wird.“36 Wenn die Rede von „Weber als Erzieher“ Sinn macht, dann in dieser spezifischen Hinsicht der „Erziehung“ des deutschen Bürgertums in einem „politischen Geist“, in dem sich die „republikanische“ Freiheit als individuelle Freiheit in einer wertepluralistischen und interessenantagonistischen Konfliktgesellschaft begreifen lässt. Das Bürgertum müsse lernen, sich in den unauflöslichen Spannungen einer modernen kapitalistischen Industriegesellschaft selbstbewusst zu bewähren. Ohne diesen raschen Lernprozess, so Webers politisches Credo in Reden, Schriften und Lehre seit 1917, sei eine demokratische Neuordnung nicht zu bewältigen. Mit seiner ganzen Autorität warb er im Januar 1919 um die 33 Titel einer Rede vom 2. Januar 1919 in Heidelberg, MWG I/16 (wie Anm. 28), S. 415–428. 34 Max Weber, Deutschlands künftige Staatsform (1919), MWG I/16 (wie Anm. 28), S. 91–146, hier S. 106. 35 Alle Zitate ebd., S. 106 f. 36 Ebd., S. 106.

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„freie Mitwirkung des Bürgertums“; seine „Skizze“ über „Deutschlands künftige Staatsform“ mündete in den Appell: „Wir wollen die demokratischen Errungenschaften dauernd sichern helfen. Aber nur in den Formen einer paritätischen bürgerlich-sozialistischen Regierung.“37 Nicht weniger eindringlich diktierte er ein gutes Jahr später den etwa fünfhundert Hörern seiner Münchener Vorlesung über „Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie)“ seine Demokratietheorie in die Kolleghefte, die sich kritisch mit eben solchen Formen paritätischer Koalitionen auseinandersetzte.38 Als Vorlage benutzte er das Kapitel über die „Typen der Herrschaft“, das er kurz zuvor für seine völlige Neufassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zum Druck gegeben hatte.39 Dort hatte er systematisch als zwei konträre Typen von Demokratie die Herrschaft maximierende „plebiszitäre“ und die Herrschaft minimisierende „führerlose“ Demokratie unterschieden. Um den Gegensatz deutlich zu markieren und zu illustrieren, führte er in der Staatssoziologie-Vorlesung vom Sommersemester 1920 zwei Kategorien ein, die das Herrschaftskapitel von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht kennt.40 Zum einen den „Cäsarismus“ für die von ihm favorisierte „plebiszitäre Führerdemokratie“41 und zum anderen die „Koalitionskollegialität“ für die parlamentarische Demokratie, der er für die deutsche Neuordnung starke Reibungsverluste unterstellte: „Demokratie. Ressentiment gegen den Führer. Folge: führerlose Demokratie (Deutschland). Höchstmaß: Koalitionskollegialität.“42 An keiner Stelle wertete Max Weber „Demokratie“ zu einem gesinnungspolitischen Leitwert auf, eine solche „Konfession“ versagte er sich mit Absicht. Er baute sie vielmehr strukturell ein in seine durchtypisierte Soziologie der charismatischen und der rationalen Herrschaft. Bezogen auf seine Großtheorie zum okzidentalen Rationalismus43 brachte ihn das in ein Dilemma. Webers Umgang mit den Problemen der Demokratie legt eine Dauerspannung zwischen demokra37 Weber, Deutschlands künftige Staatsform (wie Anm. 34), S. 145 f. 38 Ders., Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). Mit- und Nachschriften 1920, Hg. Gangolf Hübinger, Tübingen 2009 (MWG III/7). 39 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet. 1919–1920, Hg. Knut Borchardt u.a., Tübingen 2013 (MWG I/23), S. 449–591. 40 Zum Kapitel „Herrschaft“ in „Wirtschaft und Gesellschaft“ vgl. Stefan Breuer, Herrschaft (1921), in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 301–305. Breuer ist darin zuzustimmen, dass sich Webers Ausführungen in der Staatssoziologie „weitgehend“ mit der Vorlage des Herrschaftskapitels decken; aufschlussreich ist umso mehr, was sich nicht deckt, was also Weber zur Weiterentwicklung seiner Herrschaftstypologie und ihrer Begrifflichkeit anregt. Vgl. ausführlicher die Einleitung zu MWG III/7 (wie Anm. 38), S. 33–39. 41 Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (wie Anm. 38), S. 100 f. 42 Ebd., S. 110 f. 43 Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Schluchter in diesem Band.

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tischem Staat, intermediärem Interessen- und Ideenpluralismus und kapitalistischem Markt frei. Es handelt sich um eine Dauerspannung zwischen gegenläufigen Rationalitäten der Moderne. In sich schlüssig demonstriert Weber, wie der „rationale Anstaltsstaat“ eine politische Elite erfordert, die mit charismatischen Qualitäten und einer effizienten Verwaltung alle intermediären Sozialverbände beherrscht. Der „rationale Kapitalismus“ wiederum, das entwickelt Weber nicht weniger schlüssig, stärkt dagegen genau jene Interessenverbände, die von der Politik stets neue Kompromisse erzwingen und damit die Autoritätschancen der „Führerdemokratie“ mindern. „Cäsarismus“ und „Koalitionskollegialität“ stehen in einer nicht lösbaren Spannung, und im Kern sind moderne Demokratien bis in die Nähe der Gegenwart durch diesen Antagonismus von „Kanzlerdemokratie“ und durch Koalitionen von Parteien und der ihnen verbundenen Interessengruppen geprägte „Verbandsdemokratie“ bestimmt. Max Webers universalhistorisch grundierte Herrschaftslehre44 blieb bis zu seinem Tod im Juni 1920 auf den modernen Staat in der Form des nationalen Machtstaats als allein verbindlicher politischer Gemeinschaft bezogen.45 In Alfred Weber und in Ernst Troeltsch finden wir zwei liberale Zeitdiagnostiker, die spätestens seit 1920 „Europa“ und einen „europäischen Gemeinsinn“ zur politischen Bezugsgröße wählen, um einen Wertmaßstab jenseits des agonalen Machtstaates zu gewinnen.

2. Alfred Weber: Demokratische Gemeinschaft und geistiges Führertum Liest man die Schriften und politischen Reden von Alfred Weber, so könnte ein flüchtiger Blick ihn als eine kleinere Ausgabe seines großen Bruders erweisen.46 Etwa, wenn er im Krieg das Fehlen eines politischen Führers der herrschenden Beamtenpolitik und dem „fehlenden Ausleseapparat eines Parlamentarismus“ anlastet.47 Bei genauerer Lektüre sind die Differenzen aller44 Vgl. Gangolf Hübinger, Max Weber und die „universalgeschichtlichen Probleme“ der Moderne, in: Max Weber in der Welt, Hg. Max Weber Stiftung, Bearb. Michael Kaiser/ Harald Rosenbach, Tübingen 2014, S. 207–224. 45 Vgl. den Beitrag von Dieter Langewiesche in diesem Band. 46 Vgl. Jens Hacke, Liberale Krisendiagnosen in der Zwischenkriegszeit. Moritz Julius Bonn und Alfred Weber, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe 9 (2012), H. 3, URL: http:www.zeithistorische-forschungen.de/3-2012/id=4511, bes. S. 4. 47 Alfred Weber, Zukünftiges, in: Neue Rundschau 26 (1915), S. 1153–1168 und S. 1168a– 1168q, hier zitiert nach Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 67.

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dings gravierender als die Gemeinsamkeiten. Max Weber steht paradigmatisch für ein kultursoziologisches Konfliktdenken. Das Ungesellige an der menschlichen Geselligkeit setzt darin wie bei Kant die Triebkräfte historisch-politischen Wandels frei. Alfred Weber steht für ein Korporationsdenken, seine Denkweise war eher hegelianisch orientiert. In einem Artikel für die „Neue Rundschau“ von 1915 wollte er den Ballast des 19. Jahrhunderts abwerfen, weil „unsere alte Begriffswelt, Worte wie Demokratie und Aristokratie und Ähnliche, gegenüber unseren heutigen Realitäten absolut unbrauchbar sind“. Es ist sicherlich dem frühen Kriegskontext geschuldet, dass Alfred Weber für ein künftiges Modell „wirklicher Volksmitbestimmung“ die, wie er es jetzt nennt, „vulgären demokratisch-liberalen Ideale“ nicht mehr zum Vorbild wählen will.48 – Auf das semantisch-ordnungspolitische Sonderproblem, dass die „westliche Demokratie“ im „Kulturkrieg“ auch deshalb abgelehnt wird, weil Alfred Weber 1920 (Foto: Alfred-Weber-Institut, Heidelberg)

48 Ebd., S. 66. Vgl. zu Alfred Webers Kriegspublizistik im Vergleich mit Werner Sombart auch Friedrich Lenger, Krieg, Nation und Kapitalismus 1914–1918. Werner Sombart, seine Freunde, Kollegen und das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, in: Geschichte intellektuell, Hg. Friedrich Wilhelm Graf u.a., Tübingen 2015, S. 446–464, bes. S. 450–455.

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sie ein erklärtes angelsächsisches Kriegsziel ist, ist am Beispiel von Ernst Troeltsch noch einmal zurückzukommen. Auch Alfred Weber agierte im Revolutionswinter 1918/19 als „Radikaler“, sein Gestus konnte aber von dem, was Bruder Max darunter begriff, entfernter nicht sein. Auf der ersten öffentlichen Kundgebung der DDP im Zirkus Busch in Berlin hielt Alfred Weber am 1. Dezember 1918 eine große Rede über die „Deutsche Demokratische Partei und die Neue Zeit“ und stellte sich vor: „Ich spreche hier als sogenannter Intellektueller, nicht als Bürgerlicher. Ich bin geistiger Arbeiter und habe mit der Bourgeoisie gar nichts zu tun (Beifall).“49 „Demokratie“ wird im Revolutionswinter 1918/19 weitaus stärker als bei Max Weber durch soziale Gleichheit definiert: „Wir treten in ein demokratisches Zeitalter ein, in ein Zeitalter mit der Gleichheit der Rechte aller, mit der Gleichheit der Rechte in allem. Wir treten weiter in ein soziales Zeitalter ein. Der Mensch, der politisch gleichberechtigt ist, muß auch wirtschaftlich und sozial gleichberechtigt sein.“50 In Alfred Webers Texten finden wir keine herrschaftstheoretische Schärfe wie bei Max, keine begriffsanalytischen Präzisierungen wie in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Forschung betont mit Recht, man müsse in Alfred Weber und seiner politischen Theorie, die ihn von seiner Mitbegründung der DDP bis zu seinem Buch von 1925 über „Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa“51 leitete, einen – freilich in der Intention deutlich nach ‚links‘ verlagerten – Gustav Schmoller redivivus sehen, so, wie er „den Staat als eine unabhängige Instanz über den individuellen Gruppeninteressen und Klassenkämpfen“ betrachtete.52 Zugespitzt lässt sich sagen, dass sich Max Weber in seiner Gegenwartsdiagnostik rigoros an politischer Theorie, Alfred hingegen rigoros an politischem Wirken orientiert verhielt. Am 17. November 1918 wurde Alfred Weber zum provisorischen Vorsitzenden der DDP durch Akklamation gewählt. Aber er ‚verbrannte’ sich dort schnell. Bei seinem Engagement für „Sozialisierungen“ biss er sich in Hugo Stinnes und August Thyssen fest und schürte das öffentliche Ressentiment mit ungeprüften Gerüchten über deren angebliche Kollaboration mit Frankreich. Als sich das als haltlose Verleumdung erwies, musste er alle 49 Alfred Weber, Die Deutsche Demokratische Partei und die neue Zeit (1918), in: Ders., Politische Theorie und Tagespolitik (1903–1933), Hg. Eberhard Demm, Marburg 1999 (Alfred-Weber-Gesamtausgabe/AWG Bd. 7), S. 410–418, hier S. 413 (synoptischer Abdruck der Presseberichte, hier: Berliner Tageblatt vom 2.12.1918). 50 Ebd., S. 416. 51 Ders., Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa (1925), AWG Bd. 7 (wie Anm. 49), S. 233–346. 52 So die These bei Eberhard Demm, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard a.Rh. 1990, S. 299.

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Ämter in der DDP bereits Ende 1918 aufgeben. Theodor Heuss, den die ältere Generation um Alfred Weber, Theodor Wolff und Conrad Haußmann nicht zum Zuge kommen ließ, als es um einen Listenplatz für die Nationalversammlung ging, notierte mokant, aber nicht unzutreffend: „Daß Alfred Weber zwar ein geistreicher Mensch ist, aber viel zu hysterisch, um Führerqualitäten zu haben, war mir von vornherein klar. Gelegentliche Demagogie, über die er verfügt, hilft nicht über den Mangel an sachlicher Ruhe und Gelassenheit hinweg.“53 Das hätte so maliziös auch von Max stammen können. Ganz anders als Max behandelte Alfred das die Zeitgenossen umtreibende Problem von „Führer“ und „Masse“. Max konzipierte seine Herrschaftssoziologie und mit ihr seine Demokratietheorie dreipolig: Führer – Verwaltungsstäbe – Bevölkerung; den Ausschlag gaben für ihn die bürokratischen Apparate in Parteien, Verbänden und staatlichen Verwaltungen. Alfreds Modell ist zweipolig, die „Parteibonzen“ und Partei-Oligarchien sind ihm ein notwendiges Übel, aber nicht das Entscheidende. Im Kapitel „Unegalitäre Demokratie“ seiner Schrift zur „Krise des modernen Staatsgedankens in Europa“ macht er die „geistige“ Qualität politischer Führung zum ausschlaggebenden Kriterium. „Ich gehe vom Geistigen aus“, so eröffnete er dieses Kapitel54, indem er sich fragte, „wie neben all dem [den Verwaltungsapparaten] wirklich überragende geistige Elemente hineinzubringen, und wie das Gesamtschicksal und das Gesamthandeln, die Gesamtverantwortlichkeit in ihre Hände als die letztlich bestimmenden zu legen sind“.55 Eine Kultursoziologie demokratischer Ordnung wird hier letztlich rückübersetzt in eine Kulturgeschichte der politischen Ideen und der geistigen Entwicklungen im neuzeitlichen Europa. Dass dies tatsächlich in Alfred Webers Absicht lag, belegt bereits ein programmatischer Aufsatz, beruhend auf Vorkriegs-Vorlesungen, den er 1920 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ unter dem Titel „Prinzipielles zur Kultursoziologie“ veröffentlichte; dort wollte er „Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung“ in einen inneren Zusammenhang bringen, um den „Gesamtverlauf der menschlichen geschichtlichen Entwicklung“56 universalhistorisch zu erfassen. Er wusste um die methodologische „Verwandtschaft mit der morphologischen“57 Geschichtsbetrachtung seiner Zeit, namentlich bei Oswald Spengler, nahm sie aber bewusst in Kauf, um das „Spezifische des 53 54 55 56

Hier zitiert im Kontext von Radkau, Theodor Heuss (wie Anm. 32), S. 130. Weber, Krise des modernen Staatsgedankens (wie Anm. 51), S. 317. Ebd., S. 320 f. Ders., Prinzipielles zur Kultursoziologie (Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/1921), S. 1–49, Zitat S. 47. 57 Ebd., S. 45.

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Seelenhaften, das in den verschiedenen großen Geschichtskörpern ‚wohnt’ und im Rahmen ihres Gesamtschicksals immer wieder nach Ausdruck ringt“58, ermitteln zu können. Für Intellektuelle, die nach 1920 einen Kreis ohne ihren Meister Max Weber bildeten und dessen begriffsscharfes Denken weitertrugen wie etwa der sozialdemokratisch orientierte Emil Lederer59, war eine solche Sprache schwer verdaulich. Alfred Weber driftete allerdings nicht in das antiwestliche Lager Oswald Spenglers ab, auch nicht in das Mussolinis, für den er in den frühen 1920er Jahren kurzfristige Sympathien zeigte.60 Er nutzte vielmehr öffentliche Gedenkakte wie seine Festrede zur 75. Wiederkehr der Eröffnung des ersten deutschen Parlaments, gehalten in der Paulskirche am 18. Mai 1923, um nicht nur geschichtspolitisch Bismarcks Reichsgründung an die Ideale der Paulskirche zu „Einheit und Freiheit“ rückzubinden. Er bekannte sich offensiv zu den Ideen von 1848 und beschwor deren Orientierungskraft für die gegenwärtige Neuordnung, „indem wir uns mit dem Bekenntnis zur staatlichen Einheit an einige ihrer Bedingungen erinnern, die wir aus der Geschichte kennen lernen können, und mit dem Bekenntnis zur demokratischen Selbstregierung [Hervorh. G.H.] fragen, in welche Tiefen wir herabsteigen müssen, um sie wirksam zu verankern“.61 Mit Bruder Max verbindet ihn dabei die staatssoziologische Einsicht, dass „Selbstregierung“ im 20. Jahrhundert nur auf elitendemokratischen Ordnungsprinzipien beruhen könne, wenn sie den kommunistischen und faschistischen Herausforderungen in Europa einen wirkungsvollen Herrschaftstypus entgegensetzen will: „Nur [eine] auf rationaler Massenformation aufgebaute unegalitäre Führerdemokratie samt ihrem notgedrungen oligarchischen Aufbau ist das, was in Wahrheit die technische und geistig strukturelle Alternative darstellt zu den Formationen der beiden politischen Gewalttendenzen [Bolschewismus und Faschismus, G.H.], die in der europäischen Krise aufgetaucht sind.“62 Aber auch der Unterschied zu Max ist unverkennbar, dessen voluntaristische Sicht

58 Ebd., S. 47. 59 Vgl. Schriften zur Wissenschaftslehre und Kultursoziologie. Texte von Emil Lederer, Hg. Peter Gostmann/Alexandra Ivanova, Wiesbaden 2014. 60 Vgl. Eberhard Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920–1958, Düsseldorf 1999, S. 184–186; die dort als Beleg zitierten Briefe an Else Jaffé sind allerdings nicht in den Ausgewählten Briefwechsel im Rahmen der AWG aufgenommen worden. 61 Alfred Weber, Deutschland und Europa 1848 und heute (1923), in: AWG Bd. 7 (wie Anm. 49), S. 505–516, hier S. 505. 62 Weber, Krise des modernen Staatsgedankens (wie Anm. 51), S. 321.

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auf eine Individualkultur der Moderne nie von korporativen Ideen einer „rationalen Massenformation“ geleitet war.

3. Ernst Troeltsch: Demokratische „Mittebildung“ und „Amerikanisierung Deutschlands“ Während Max Weber auf Distanz ging, verbrauchte sich Alfred Weber früh in den politischen Parteikämpfen. Präsenter in der Öffentlichkeit war ein dritter Gelehrten-Intellektueller aus dem liberalen und vom Heidelberger Geist geprägten Denkmilieu. An allen Berliner Litfaßsäulen hingen im Januar 1919 die Plakate „Wählt die Liste Dr. Troeltsch“.63 Ernst Troeltsch führte die DDP in den preußischen Landtagswahlkampf, er war insofern der sichtbarste unter den bekennenden Demokraten, dazu der publizistisch ausdauerndste. An ihm lassen sich signifikante Schwankungen in den Werthaltungen der Liberalen zur Demokratie als politischem Ordnungsmodell besonders deutlich ablesen. 1913, am Vorabend des Weltkriegs, bilanzierte Troeltsch die historischen Gestaltungskräfte des 19. Jahrhunderts. Die „demokratisch-kapitalistische Massenkultur“64 erklärte er zur Signatur der modernen Welt, der sich auch die deutsche Gesellschaft nicht entziehen könne.65 Im Weltkrieg zählte Troeltsch dann erst einmal zu denjenigen, die „Demokratie“ von einem globalen Ordnungsbegriff zu einem politischen Kampfbegriff umprägten, und kämpfte publizistisch gegen das britische Kriegsziel einer „demokratischen Welterlösung“. Gegenüber diesem aufgezwungenen „Kulturkrieg“ seien die „Ideen von 1914“, insbesondere die „deutsche Idee von der Freiheit“, entschieden zu verteidigen. Als Woodrow Wilson mit seiner Kongressrede vom 2. April 1917 die Amerikaner im Namen der Demokratie in den Krieg führte, reagierte die akademische Elite Berlins mit einer demonstrativen Vortragsreihe im Berliner

63 Abgedruckt bei Gangolf Hübinger, „Die ganze Welt wird anders“. Ernst Troeltsch kommentiert Revolution und Bürgerkrieg, den Friedensvertrag von Versailles und die demokratische Neuordnung Deutschlands in seinen scharfsinnigen „Spectator-Briefen“, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 01/2015, S. 50–55, hier S. 52. 64 Ernst Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Hg. Hans Baron, Tübingen 1925, S. 614–649, hier S. 617. 65 Ebd., S. 632. Dieter Langewiesche hat sich in einem Aufsatz über „Das Jahrhundert Europas“ wesentlich auf diesen Troeltsch-Text gestützt: Das Jahrhundert Europas. Eine Annäherung in globalhistorischer Perspektive, in: HZ 296,1 (2013), S. 29–48.

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Gangolf Hübinger Ernst Troeltsch 1919 (als Kandidat zur verfassunggeb. preuß. Landesvers.66)

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Abgeordnetenhaus über diese „deutsche Freiheit“.67 Ernst Troeltsch formulierte den kulturkämpferischen Vorwurf an die Kriegsgegner bereits im Titel: „Der Ansturm der westlichen Demokratie“.68 Ein „Ring der Demokratien“ habe sich um die Mittelmächte geschlossen, und was „die englische Presse und Diplomatie zu Anfang gegen uns mit großem Geschick und Erfolg ausspielte, die demokratisch-humanitär-pazifistische Parole, ist von dem obersten amerikanischen Zionswächter der Moral bestätigt und ungeheuer verstärkt 66 Bildausschnitt entnommen aus: Handbuch für die verfassunggebende preußische Landesversammlung, Bearb. August Plate, Berlin 1919, S. 28. 67 Die Deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, Hg. Bund deutscher Gelehrter und Künstler, Gotha 1917. Neben Troeltsch (s. Anm. 68) sind hier die folgenden Vorträge abgedruckt: Adolf von Harnack, Wilsons Botschaft und die deutsche Freiheit, S. 1–13; Friedrich Meinecke, Die deutsche Freiheit, S. 14–39; Max Sering, Staat und Gesellschaftsverfassung bei den Westmächten und in Deutschland, S. 40–78; Otto Hintze, Imperialismus und deutsche Weltpolitik, S. 114–169. Zum Weltkrieg als „Kulturkrieg“ oder „Krieg der Geister“ um rivalisierende politische Ordnungsmodelle vgl. ausführlicher Gangolf Hübinger, Die Intellektuellen und der „Kulturkrieg“ (1914–1918), in: Wolfgang Holler u.a. (Hg.), Krieg der Geister. Weimar als Symbolort deutscher Kultur vor und nach 1914, Dresden 2014, S. 30–41. 68 Ernst Troeltsch, Der Ansturm der westlichen Demokratie, in: Ebd., S. 79–113.

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wie ein Ächtungsspruch der Welt gegen uns geschleudert, wie ein Kreuzzug gegen uns organisiert“.69 Wenn derartige Kreuzzugsbilder im Krieg die politischen Bekenntnisse leiteten, so zeigt das, wie schwer es Troeltsch und generell den liberalen Gelehrtenpolitikern in Berlin fallen musste, den so heftig attackierten politisch-sozialen Grundbegriff „Demokratie“ im Bürgerkrieg um die Weimarer Republikgründung wieder positiv aufzuladen und zum politisch strukturierenden Ordnungsbegriff zu versachlichen. Troeltsch unterzieht sich dieser Umprägung und Neubesetzung des Demokratiebegriffs, nicht unkritisch, aber in großer Eindringlichkeit. Im Mai 1919 ist der Ansturm „gegen“ und nicht mehr der Ansturm „der“ Demokratie sein großes Thema. „Der Ansturm gegen die Demokratie“ ist der Artikel einer Kolumne überschrieben, die Troeltsch als „Spectator-Briefe“ regelmäßig für den „Kunstwart“ verfasste. In insgesamt 56 „Spectator-Briefen“ und „Berliner Briefen“ dieser lebensreformerisch und ästhetisch ausgerichteten und auf ein bildungsbürgerliches Publikum zielenden Monatsschrift versuchte Troeltsch zwischen Februar 1919 und November 1922 eben diese eher politikfernen und wirtschaftsfremden Schichten für die Demokratie zu gewinnen.70 Im November 1918 markiert er mit einem klaren öffentlichen Bekenntnis seine Position: „Es gibt eine Rettung nur durch die Grundsätze der reinen Demokratie, nachdem eine Reform und Fortbildung des bestehenden Rechtes und der Institutionen zuerst von der herrschenden Klasse verweigert und dann von der Revolution unmöglich gemacht worden ist. Nur das Majoritätsprinzip der reinen Demokratie kann uns mit Hilfe einer Nationalversammlung, die erst uns den Überblick über die wirkliche Kräfteverteilung gibt und neben der Diktatur des Proletariats die übrigen Gruppen wieder zum Vorschein bringt, aus dem Provisorium und aus der Gefahr des Chaos retten.“71

„Reine Demokratie“? Dahinter steckt ein Appell, weniger eine politische Theorie. Troeltsch verstand sich nicht als Theoretiker einer demokratischen Verfassung, so wie Hugo Preuß. Er sah seine Aufgabe in der Bekehrung der Bevölkerung zu demokratischem Verhalten und zur Wertpräferenz für demo69 Ebd., S. 81. 70 Jetzt erstmals vollständig ediert und kommentiert: Ernst Troeltsch, Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), Hg. Gangolf Hübinger, Berlin 2015 (Kritische Gesamtausgabe/KGA 14); weitere politische Schriften Troeltschs in dieser Zeit: Ernst Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), Hg. Gangolf Hübinger, Berlin 2002 (KGA 15). 71 Geschrieben bereits Mitte November und unter voller Namensnennung veröffentlicht: Ernst Troeltsch, Das Ende des Militarismus, in: Deutscher Wille. Des Kunstwarts 32. Jahr, Zweites Dezemberheft 1918, S. 172–179.

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kratische Institutionen.72 Das Lieblingsbuch des „wasserscheuen“ Bürgertums, Oswald Spenglers Bestseller mit der These, angesichts des „Untergangs des Abendlandes“ sei eine parlamentarische Demokratie sinnlos, kritisierte Troeltsch in Grund und Boden73 und spitzte seine eigene Kulturphilosophie explizit auf den „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte“ zu. Ein solcher Neustart der europäischen Kulturentwicklung schien ihm jedoch ohne eine erfolgreiche Mobilisierung des Bürgertums für Idee und Institutionen der Demokratie nicht möglich. Der Gelehrten-Intellektuelle Troeltsch verknüpfte hier seine kulturphilosophischen Einsichten mit seinen politisch-liberalen Werthaltungen. Einer reinen Parteien- und Verbandsdemokratie stand Troeltsch skeptisch gegenüber. Als Max Webers „Gesammelte politische Schriften“ 1921 erschienen, nutzte er sie, um seinen Lesern im Anschluss an Webers Elitensoziologie74 immer wieder den Zusammenhang von starker politischer Führung und effizientem Parteiapparat zu verdeutlichen und dabei eine Maxime aus dessen „Politik als Beruf“ zu übermitteln: „Die Demokratie selbst ist ja wesentlich nur eine politische Maschinerie“75, aber diese „demokratische politische Maschinerie wird sich bei uns so wenig beseitigen lassen als irgendwo sonst auf der Welt“.76 Die fehlende Einsicht in diese transnationalen Entwicklungslinien moderner Herrschaftsformen beklagte er als „Mangel eines politisch-soziologischen Denkens“ in der öffentlichen Streitkultur.77 Noch stärker als Max Weber rief Troeltsch dazu auf, eine stabile Regierungsmehrheit „im Sinne der ‚Parität von Arbeitertum und Bürgertum‘ [zu] gestalten“.78 Troeltschs ceterum censeo 72 Lepsius, Demokratie in Deutschland (wie Anm. 2), bes. S. 13 f. 73 Ernst Troeltsch, Der Untergang des Abendlandes (Oktober 1919), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 171–178; schärfer noch seine ausführlichen Rezensionen zu Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. 1. Bd.: Gestalt und Wirklichkeit, Wien 1918, in der HZ 120 (1919) und zu Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München 1922, in der HZ 128 (1923), beide abgedruckt in: Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Hg. Hans Baron, Tübingen 1925 (KGA 4), S. 677–691. 74 Max Weber, Gesammelte politische Schriften, München 1921; direkt dazu Ernst Troeltsch, Der Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten (Juni 1921), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 412–420, hier S. 417 f. 75 Ernst Troeltsch, Die neue Katastrophe und die Stellung des Bürgertums zur Republik (Dezember 1921), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 467–478, hier S. 475. 76 Ders., Die Amerikanisierung Deutschlands (Januar 1922), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 479–490, hier S. 489. 77 Ders., Die deutsche Uneinigkeit (Februar 1922), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 491–501, hier S. 498. 78 Ders., Der Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten (Juni 1921), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 412–420, hier S. 417.

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ist die „Mittebildung“, wie sie die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP beabsichtigte.79 Alles andere als die Festigung der Weimarer Koalition dramatisierte er als Verschärfung des Bürgerkrieges. Troeltsch lebte und schrieb in der Dauerfurcht, im offenen wie latenten Bürgerkrieg werde die demokratische Neuordnung im Zangengriff von bolschewistischem Sozialismus und extremem Nationalismus, „bei uns Hakenkreuzer genannt“80, im Keim erstickt. Weltpolitisch erspürte der sensible Gegenwartsdiagnostiker Troeltsch zugleich die großen Machtverschiebungen, welche die neue Hegemonialstellung der USA bewirkten, die in der jüngeren Forschung der „Kopernikanischen Wende im Mittelalter“ gleichgesetzt wurde.81 Im globalen Zuge dieser Verlagerung des politischen Kraftzentrums hielt Troeltsch die „Amerikanisierung der Welt und Deutschlands insbesondere“ für unvermeidlich: „Der Weltfriede ist nur möglich als Weltherrschaft oder Weltpolizei eines einzelnen Staates, und dieser Staat kann nur Amerika sein, mit dem das stammverwandte England sich in die Aufgabe teilt.“82 Kulturhistorisch und -soziologisch knüpfte Troeltsch hier an seine Vorkriegsüberlegungen zur wechselseitigen Verstärkung von „Kapitalismus“, „Demokratie“ und „Weltbürgertum“ wieder an83, nunmehr mit verschobenem „Welthorizont“ nach der Selbstentmachtung des imperialistischen Europa am Ende des Krieges. Zur Eingewöhnung in demokratische Kulturtraditionen empfahl er den deutschen Bildungsschichten, das Spätwerk des britischen Historikers und Politikers James Bryce „Modern Democracies“ zu studieren, damit sie die demokratische Republik „innerlich bejahen“ können.84 Das war im November 1922 der letzte der Spectator- und Berliner Briefe, eine Art politisches Testament und in resignativem Ton verfasst. Denn Troeltsch zweifelte immer mehr an der so dringend erforderlichen „innerlichen Bejahung“. Dem Bürgertum fehle „Gefühl, Glaube und Hingebung“, um für den ersehnten „Block 79 Ders., Die geistige Revolution (Januar 1921), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 363–365, hier S. 364; Ders., Die neue Katastrophe und die Stellung des Bürgertums zur Republik (Dezember 1921), KGA 14 (wie Anm. 69), S. 467–470. 80 Ders., Auf dem Weg zur neuen Mitte (November 1921), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 454–466, hier S. 456. 81 Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, Berlin 2015, S. 21. Tooze wählt exemplarisch für die „auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung“ die Flottenkonferenz in Washington vom Dezember 1921. – Dieser Konferenz hatte auch Troeltsch bereits eine Schüsselrolle zugeschrieben: „Mit ihr ist Amerika wieder öffentlich in die große Weltpolitik eingetreten“, vgl. Ernst Troeltsch, Die Amerikanisierung Deutschlands (Januar 1922), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 479–490, hier S. 479. 82 Ebd., S. 483. 83 Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert (wie Anm. 65), S. 639. 84 Ders., Die Republik (November 1922), KGA 14 (wie Anm. 70), S. 578–588, hier S. 586.

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der Mitte“ auch „große nationale und ethische Kräfte“ aktivieren zu können. Troeltsch wertete das als Versagen der eigenen Bildungselite und formulierte Bedingungen für eine gelingende Demokratie, die auch die Weber-Brüder teilten: Im demokratischen Zeitalter „des allgemeinen Männer- und Frauenwahlrechtes“ müsse „das Verantwortungsgefühl der führenden Schichten für die Bildung der öffentlichen Meinung sorgen … Erst Repräsentantenwahl und Bildung der öffentlichen Meinung von kleinen sachkundigen Zentren aus können zusammen die Aufgaben der demokratischen Selbstregierung lösen.“85

4. Vergleichendes Fazit Max Weber, Alfred Weber und publizistisch besonders eindringlich Ernst Troeltsch zählen zum harten Kern einer „Gesinnungs- und Aktionsgemeinschaft“ (Detlef Lehnert86), die nur der Demokratie die Chancen einer Überwindung der sozialen und weltanschaulichen Fragmentierungen der deutschen Gesellschaft zuspricht. Das verbindet sie eng mit Hugo Preuß. Was sie nicht teilen, ist dessen Glauben an die integrierende Kraft der „Bürgergenossenschaft“, am wenigsten Max Weber. Alle drei denken in Kategorien einer Eliten-Demokratie, dies jedoch mit signifikanten Unterschieden. Die kultursoziologische Behandlung der Demokratieprobleme verweist auf eine charakteristische Binnenvarianz dieser Gesinnungsgemeinschaft. Max Weber ist Konfliktdenker im Sinne von ‚ewigem Kampf’ der Mächte, Interessen und Überzeugungen. Er lässt sich mehr als die beiden anderen auf das angelsächsische Demokratieverständnis der institutionalisierten Konkurrenz von Führungsgruppen ein und plädiert für eine demokratische Kampfkultur. William Ewart Gladstone, der „demagogische Stratege des Wahlschlachtfeldes“87, einige Jahre vor Bismarck geboren und wie dieser eine Leitfigur des 19. Jahrhunderts, gibt ein frühes Beispiel ab für seine berühmte typologische Unterscheidung in „Führerdemokratie mit ‚Maschine’ oder führerlose Demokratie“.88 Gladstone bleibt bis zur letzten Vorlesung Max Webers vor seinem Tod im Juni 1920 das charismatische Vorbild eines demokratischen Parteiführers.89 85 Ebd., S. 586 f. 86 Einleitung zu Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, S. 17. 87 Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Wissenschaft als Beruf (1917/1919), Politik als Beruf (1919), Hg. Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, Tübingen 1992 (MWG I/17), S. 209. 88 Ebd., S. 224. 89 Max Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (wie Anm. 38), S. 90 f.

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Ernst Troeltsch kommentiert bis kurz vor seinem Tod im Februar 1923 zunehmend pessimistisch die politische Unheilsspirale von Bürgerkrieg, Versailler Reparationen, Inflation und Regierungskrisen 1922. Als Kulturphilosoph setzt er zugleich seine ganze Hoffnung in das, was er „Kultursynthese“ nennt, in die Versöhnung der angelsächsisch-demokratischen mit der deutsch-idealistischen Idee der Freiheit.90 Alfred Weber erlebt, als einziger der betrachteten Intellektuellen, Mitte der 20er Jahre Mussolini. Er läuft nicht über, so wie Robert Michels. Die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus bestärkt im Gegenteil sein Engagement im „Weimarer Kreis“ demokratischer Hochschullehrer.91 Hier wirbt er zwar besonders intensiv für eine „unegalitäre Demokratie“, eine „in demokratischen Formen ausgelesene Führeroligarchie“, die die Politik moderner Massengesellschaften „leitet“.92 Zu Hitler und zum Nationalsozialismus stand er in klarer Opposition. Nach 1945 entwickelte der 77jährige eigene Vorstellungen einer staatlichen und gesellschaftlichen Neuordnung Deutschlands. Er trat der SPD bei und bekannte sich zur Wiedervereinigung Deutschlands, unter Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft und atomare Aufrüstung sowie unter den Vorzeichen eines „Freien Sozialismus“.93

90 In diesem Geist verfasste Troeltsch die Vorträge für seine geplante Reise nach London, Oxford und Edinburgh, die durch seinen Tod jedoch nicht zustande kam: Ernst Troeltsch, Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland, Hg. Gangolf Hübinger, Berlin 2006 (KGA 17). 91 Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik (wie Anm. 60), S. 192 f. 92 Weber, Krise des modernen Staatsgedankens (wie Anm. 51), S. 140. 93 Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik (wie Anm. 60), S. 434.

MONIKA WIENFORT

Max Weber und die Frauenemanzipation Wissenschaft, öffentliche Stellungnahmen und persönliche Beziehungen

In den neueren Biographien Max Webers wird die „Frauenfrage“ als Geschichte der Emanzipation von Frauen in den Jahrzehnten vor und nach 1900 mit Blick auf den Protagonisten in besonderer Weise personalisiert. Der soziologische Meisterdenker im Frauenbeziehungsgeflecht: Die Ehefrau Marianne Weber spielt die Hauptrolle, hinzu kommen die Mutter Helene Weber und die Geliebten Minna Tobler und Else Jaffé – mit je unterschiedlichen Anteilen und Einflüssen auf Max Webers äußeres wie inneres Leben. Diese Annäherungen an die komplexen Lebenslagen Webers sind ebenso faszinierend wie kleinteilig, es sieht beinahe so aus, als rivalisiere Max Weber in der biographischen Durchdringung heute nur noch mit seinem politischen und gesellschaftlichen Antagonisten Kaiser Wilhelm II. Welche Männer sind sonst mit derart vielen Zeugnissen so minutiös beobachtet, ja seziert worden? Deshalb ist es erstaunlich, dass sich kaum jemand mit der Rolle und Bedeutung der Kategorie Geschlecht mit Blick auf Frauen im wissenschaftlichen Werk und im politischen Schrifttum Max Webers beschäftigt hat. Dabei liegt die Annahme nahe, dass auch die heutigen Interpreten die zumindest vordergründige Arbeitsteilung des Ehepaars Weber nachvollziehen. Auf der einen Seite steht Max Weber als einer der Gründerväter der modernen Soziologie, dessen Begriffe um Bürokratie und Charisma, Erklären und Verstehen, Ideen und Interessen, Kapitalismus und Weltreligionen kreisen. Auf der anderen Seite, wenn auch deutlich weniger berühmt, finden wir Marianne Weber, die mit ihrem Buch „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ eine einzigartige Zusammenführung von rechtshistorisch begründeter europäischer Universalgeschichte der Frauen einerseits und Legitimationsgrundlage der zeitgenössischen Frauenbewegung um 1900 andererseits vorgelegt hat.1 1 Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße – Denker – Muttersohn, München 2014; Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014; Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005; Ingrid Gilcher-Holtey, Max Weber und die Frauen, in: Christian Gneuss/Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber. Ein Symposion,

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1. Ausgangspunkte: Die Beiträge von Max und Marianne Weber Im Folgenden wird versucht, Max Webers Charakterisierungen von Frauen in Teilen des Werks zu rekonstruieren, um festzustellen, wie sich das Frauenbild des linksliberalen Bürgers und die Ergebnisse wissenschaftlicher Reflexion und Analyse zueinander verhalten. „Politische Konfessionalisierung“ beschreibt in diesem Zusammenhang die Ebene der Vermittlung zwischen dem Liberalismus Max Webers in Bezug auf die Frauenfrage einerseits und den Ergebnissen seines soziologischen Nachdenkens andererseits. Einbezogen werden die frühen Studien zu Altertum und Mittelalter, die empirischen Studien zur Gegenwart als Teil der Sozial- und Nationalpolitik und schließlich die Zusammenstellungen in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Religionssoziologie bleibt unberücksichtigt. Für Max Weber liegt damit ein sehr umfangreiches, heterogenes Werk mit vielen teils widersprüchlichen Thesen vor, die allesamt Frauen nicht in den Mittelpunkt stellen. Um es noch deutlicher zu sagen: In den Schriften Max Webers werden die westliche Moderne und die wesentlichen Probleme ihrer Entstehung und Entwicklung im Zusammenhang von okzidentalem Rationalismus und Kapitalismus ohne die Berücksichtigung von Frauen behandelt. Eine nennenswerte Rolle spielen Frauen oder die Geschlechterfrage in Max Webers Denken nicht. Das heißt allerdings keineswegs, dass Weber nicht über die Frauenfrage seiner Zeit nachgedacht oder sich nicht engagiert hätte. Es ist unübersehbar, dass er gerade im Kontext des deutschen Liberalismus, der sich zur Frauenemanzipation insgesamt deutlich zurückhaltender verhielt als z.B. das radikale Lager des britischen Liberalismus, eine entschieden emanzipationsfreundliche Haltung einnahm und sich besonders über die frauenfeindlichen Äußerungen mediokrer männlicher Professorenkollegen sehr erregen konnte. Überdies wirkte Marianne Weber bekanntlich an zentraler Stelle in der bürgerlichen Frauenbewegung, und damit war Max Weber buchstäblich von Haus aus mit vielen Themenfeldern nah vertraut, z.B. mit den Schwierigkeiten Marie Baums als badische

München 1988, S. 142–154. Zu einem möglichen Vergleich mit der biographischen Darstellung Kaiser Wilhelms II. vgl. John C.G. Röhl, Wilhelm II., 3 Bde., München 1993–2008; Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008. Zur Auswahl der Begriffe vgl. das Inhaltsverzeichnis in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014; Marianne Weber, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung, Tübingen 1907. Vgl. zu Marianne Weber als Standardwerk Bärbel Meurer, Marianne Weber. Leben und Werk, Tübingen 2010.

Max Weber und die Frauenemanzipation

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Fabrikinspektorin oder mit der Frage der Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium bzw. zur Promotion.2 Im Vergleich mit Max Webers vielschichtigem Werk konzentrierte sich Marianne Weber in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts auf eine große Monographie: „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“. Das Buch sollte eine Geschichte der Ehe und der Mutterschaft als kulturelle Praxis vorstellen, wie sie sich in den in der Zeit veränderbaren rechtlichen Normen spiegelte: „Die folgende Darstellung tritt daher, unter möglichster Wahrung der juristischen Präzision, an das formale Recht stets mit der Frage heran: Welche Möglichkeiten faktischer Lebensgestaltung es der Ehefrau und Mutter bot.“ Marianne Weber bemühte sich um eine synthetisierende Darstellung aus einem Guss, um zu einem klaren Ergebnis zu kommen, das die Aufgabe der Frauenemanzipation historisch begründen sollte. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass Marianne Weber Max’ Denken in methodischer Hinsicht beeinflusst hat, dazu ist das Webersche Definitionsverfahren zu eindeutig ein juristisches Verfahren, das Weber seit dem Studium konsequent auf nationalökonomische und soziologische Probleme applizierte.3 Umgekehrt besaß Max Weber, angesichts seines übergroßen Vorsprungs in der formalen Bildung wenig erstaunlich, großen Einfluss auf Mariannes Werk. In einem Brief an Paul Siebeck dokumentierte er sein inhaltliches Engagement für das Buch seiner Ehefrau: „Ich habe diese (und auch die folgenden, nur in Einzelheiten zu ergänzenden Kapitel: 3) Ehe im Mittelalter 4) Ehe im Zeitalter des Naturrechts und der Codifikationen 5) Ehe im deutschen bürger(lichen) Gesetzbuch 6) Moderne Ehekritik) genau durchgelesen, und, da ich erhebliche Teile der Materie selbst im Colleg zu behandeln hatte, eingehend auf Correktheit prüfen können. An einigen (im „Vorwort“ ǀ:genau:ǀ zu bezeichnenden)

2 Max Weber, Die badische Fabrikinspektion (Frankfurter Zeitung, 24. Januar 1907), in: Max Weber Gesamtausgabe (MWG), Abt. 1, Bd. 8, Hg. Wolfgang Schluchter, Tübingen 1998, S. 293–299; Max Weber an Marie Baum, 6.7.1906, in: MWG, Abt. 2, Bd. 5: Briefe 1906–1908, Hg. M. Rainer Lepsius/Wolfgang Mommsen, Tübingen 1990, S. 106 f.; Meurer, Marianne Weber, S. 203. 3 Marianne Webers Entscheidung für eine rechtsgeschichtliche Arbeit erscheint umso erstaunlicher, da sie über keinerlei juristische Vorbildung verfügte und sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorwiegend mit philosophischen und nationalökonomischen Themen beschäftigt hatte. Zu Max Webers Methode, namentlich zum Idealtypus in der Herrschaftssoziologie vgl. Gert Albert, Idealtyp, in: Max Weber-Handbuch, S. 63–66; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt 1988.

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Stellen habe ich sachlich sie beeinflußt und namentlich Belege herbeigeschafft und Einzelheiten eingefügt, die ihr entgangen waren.“4

Außerdem bekannte er sich zu einer redaktionellen Überarbeitung, die sich um die Verständlichkeit der komplizierten juristischen Materie bemühte. Max Weber ließ also seinen und Mariannes Verleger wissen, dass er die selbständige Arbeit seiner Frau für gelungen hielt, auch und gerade weil sich das Werk im eigenen Kompetenzuniversum bewegte.5 Marianne Weber hatte in der Verlobungszeit bei der Auswertung der Landarbeiterenquete geholfen und dabei die Verbindung von empirischen Befunden und Thesen zum sozialen Sinn von rechtlichen Verhältnissen für eine zeitgenössische soziale Frage kennengelernt. Und man kann insgesamt feststellen, dass es Marianne bei ihrer Musterung der Rechtsverhältnisse von Ehefrauen und Müttern in historischer Perspektive genau um diesen „sozialen Sinn“ von sich wandelnden rechtlichen Festlegungen ging. Einmal wurde mit der beinahe universalhistorischen Methode belegt, dass sich die rechtliche Stellung von Ehefrauen und Müttern historisch gewandelt hatte und weiter in der Veränderung befand. Ausgangspunkt blieb die Ehe als Herrschaftsverhältnis. Zweitens nutzte Marianne Weber eine Perspektive, die auch Max Webers an Ideen und Interessen orientiertes Verfahren in besonderer Weise kennzeichnete. Wie ihr Ehemann richtete sie ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Bevölkerungsgruppen, die bereit und machtpolitisch in der Lage waren, rechtliche Festlegungen in eigenem Interesse zu prägen. Damit stellte ihre Geschichte der unterschiedlichen Rechtsstellung von Frauen bzw. des Wandels von Frauenrechten nicht bloß die Normen an sich dar, sondern fragte konsequent nach den sozialen Wirkungen dieser Normen für Frauen und Mütter.6

2. Max Webers Frauenbegriffe In einem Werk, in dem Frauen insgesamt nur selten vorkommen, benutzt Weber das Wort „Weib“ vergleichsweise häufig. „Weib“ dient ihm als Gattungs- und Gruppenbeschreibung und strebt gerade keinen Bezug zur Indi4 Max Weber an Paul Siebeck, 11.9.1906, in: MWG, Abt. 2, Bd. 5, S. 158. Vgl. Klaus Lichtblau, Die Bedeutung von „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ für das Werk Max Webers, in: Ders., Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, Wiesbaden 2011, S. 237–248, hier S. 238; Marianne Weber, Ehefrau, S. V. 5 Vgl. Meurer, Marianne Weber, S. 244. 6 Vgl. ebd., S. 70.

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vidualität einzelner Frauen an. Der Gattungsbegriff ist von Sexualität und Fortpflanzung geprägt, wobei das Schwergewicht eher auf der Sexualität, oft aus der Perspektive der Herrschaft ausübenden Männer, nicht von Männern generell, liegt. Der Begriff „Weib“ kann dabei auf die festgestellte Rechtlosigkeit von Frauen im Kontext „natürlicher“ Beziehungen des Hauses in der Vormoderne verweisen. „Bei der Hausautorität sind uralte naturgewachsene Situationen die Quelle des auf Pietät beruhenden Autoritätsglaubens. Für das haushörige Weib die normale Überlegenheit der physischen und geistigen Spannkraft des Mannes.“ Bezeichnenderweise ist vom Mann und nicht vom Herrn die Rede, obwohl es doch um „Haushörigkeit“ geht, der durchaus auch männliche Menschen unterworfen sein können. Weber spricht mit beiläufiger Selbstverständlichkeit von einer biologischen, charakterlichen und kognitiven Weiblichkeit im Unterschied zu Männlichkeit. Das häusliche Herrschaftsverhältnis ergibt sich zwar „naturgewachsen“, also aus der Vorstellung vorkultureller, biologischer Bedingungen. Die Überlegenheit „des Mannes“ wird aber bloß als Normalfall angesehen, d.h. Weber verzichtet auf die Behauptung einer prinzipiellen Überlegenheit der Männer an sich.7 Andererseits kommen Eigenschaften des weiblichen „Geschlechtscharakters“, wie sie in den zeitgenössischen bürgerlichen Geschlechterwahrnehmungen ausführlich reproduziert wurden, in Webers Werk selten vor. Weber versagte es sich, einen ausführlichen Katalog von Weiblichkeitsstereotypen (etwa passiv, fürsorgend, emotional) vorzustellen und mit einer ausdrücklichen Behauptung von psychischer Andersartigkeit und kognitiver Unterlegenheit der Frauen eine rechtliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen zu begründen. Damit teilte Weber zwar wesentliche Annahmen des bürgerlichen Geschlechterentwurfes im 19. Jahrhundert, bezog sie explizit aber nur auf eine soziale Lebensform der Vergangenheit. Offensichtlich widerstrebten ihm Formulierungen von Geschlechterstereotypen, wie sie die Gegner der Frauenemanzipation um 1900 zuhauf verwendeten.8 Das Wort „Weib“ benutzte Weber auch in manchen Kontexten des Alltagslebens. „Weiber“ steht bei Weber für die Frauen des Vereins Frauenbildung, also eine gesellschaftliche Vereinigung von Frauen, von denen er viele schließlich persönlich kannte. Die amüsiert abwertende, geringschätzige Konnotation verdankte sich wohl Webers Einsicht, dass das politische Engagement der Frauen 7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (WuG), Tübingen 1921/22, Studienausgabe 1980, S. 581. 8 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49.

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in der Sache vollkommen gerechtfertigt war, eine solche Gruppe von Frauenrechtlerinnen ihm dennoch schwer erträglich erschien. Die einzelnen Frauen der Bewegung waren Weber eben mehr oder weniger persönlich sympathisch und konnten so auch zu „Megären“ werden: „Meine Frau ist in Berlin beim Kultusminister mit anderen Megären.“ Analog bezeichnete Weber die Generalversammlung des Bundes deutscher Frauenvereine einmal als „Megärentag“. Den Begriff aus der griechischen Mythologie benutzte Weber vermutlich weniger im Sinn einer besonders wütenden Frau als mit dem Bezug auf das seit Bachofen beliebte Thema Mutterrecht, das die Erinnyen angeblich mit großem Einsatz verteidigten. Joachim Radkau hat aus diesen zeitgenössisch abschätzigen Bezeichnungen geschlossen, dass Weber die Frauenbewegung mehr schätzte als die einzelnen Frauen, die sich in ihr engagierten. Man könnte aber auch umgekehrt argumentieren, dass Weber die Bildungs- und Berufsziele als individuelle Ziele von Frauen für vollkommen berechtigt hielt, die Frauenbewegung als soziale Vergemeinschaftung dagegen bloß in Kauf nahm.9 Die Skepsis gegenüber einer Frauenbewegung als sozialer Massenbewegung richtete sich auch auf die kaum absehbaren gesellschaftlichen Folgen. Im März 1912 kommentierte Max Weber den Empfang der Teilnehmerinnen des Deutschen Frauenkongresses im Reichskanzlerpalais auf einer Postkarte an Marianne süffisant: „Was hat denn die Reichskanzleuse und ihr braver Stoffel von Mann mit Euch gemacht? Daß sie einlud und er ‚Staffage‘ war, war ja sehr modern!“ Die scherzhafte Bemerkung wies doch zumindest auf die Möglichkeiten einer Zukunft, in der der Tausch der Geschlechterrollen von „Kanzleuse“ und „Staffage“ häufiger vorkommen konnte. Solche vermutlich wenig reflektierte Projektion und Ablehnung der Frauenemanzipation als Geschlechterrollentausch hatte dabei auch im Liberalismus Tradition, wie sich vor allem im Zusammenhang der Revolution von 1848/49 zeigen lässt.10

3. Die Entstehung der Ehe als gesellschaftliche Norm In „Wirtschaft und Gesellschaft“ definiert Weber die Ehe als „gültige Dauergemeinschaft“, charakterisiert durch „Nichtächtung“ und Rechtswirkung für 9 Max Weber an Sophie Rickert, September 1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909– 1910, S. 629; Max Weber an Marianne Weber, in: Ebd., 5.5.1910, S. 492; Radkau, Max Weber, S. 479. 10 Max Weber an Marianne Weber, 4.3.1912, in: MWG, Abt. 2, Bd. 7: Briefe 1911–1912, S. 455. Vgl. zur Rolle von Frauen in der Revolution von 1848/49 z.B. die Karikatur „Im Frauenclub“ (1848), in: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_image.cfm?image_ id=295 (abgerufen am 29.3.2016).

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Nachkommen, schließlich im Unterschied zur Nicht-Ehe. Diese sehr formale, juristische Definition stellt vor allem auf Negations-Begriffe („Nichtächtung“, „Nicht-Ehe“) ab, wie Weber sie auch im Fall von Stadt als Gegenteil von Nicht-Stadt praktiziert hat. Die sozialen Funktionen, die Weber hier nennt, richten sich allesamt auf das Außen, die gesellschaftliche Umgebung, nicht auf das Verhältnis zwischen den Partnern und thematisieren die Unterordnung der Frauen daher nicht. Eine soziologische Behandlung der Beziehung der Ehepartner hielt Weber für überflüssig: „Gegen die Analyse des privaten Ehelebens habe ich Bedenken. Sie beweist wenig u. ist m.E. überall zu unterlassen.“ Begriffe von Zwecken und Definitionen, die im 19. Jahrhundert in der öffentlichen Diskussion über die Ehe präsent waren, namentlich Sexualität, Fortpflanzung, gegenseitige Unterstützung, Stabilität der Gesellschaft und Keimzelle des Staates, kommen nicht vor. Bezeichnenderweise erscheint nicht die Zeugung von Nachkommen an sich als Zweck, sondern die Gültigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung und die rechtliche Stellung der Nachkommen innerhalb dieser Ordnung.11 Weber stellt die Frage, warum sich die Ehe lange vor der europäischen Moderne als soziale Norm durchgesetzt hat, verzichtet aber auf eine genaue zeitliche und räumliche Verortung bei den Sumerern, den Germanen oder in der griechisch-römischen Antike. Weber geht es um eine systemische Erfassung der Ehe, ihren jeweiligen sozialen Sinn, nicht um eine historische und empirisch zu belegende Entwicklungsgeschichte: „Nicht das Bedürfnis des Mannes, sondern dasjenige der Frau nach ‚Legitimität‘ ihrer Kinder also ist die treibende Kraft.“ In einem Brief an Robert Michels 1910 wurde Weber deutlicher: „Es ist heute nicht mehr haltbar, daß das Interesse des Mannes an ,legitimen‘ Erben die heutige Ehe schuf. Es war das Interesse der Frau (u. ihrer Sippe), daß ihre (u. nicht Kebsen- oder Sklavinnen-) Kinder das Erbe erhielten.“ Die Faszination mit dem polygamen Mann ist unverkennbar. Mit der Formulierung gesteht Weber den Frauen aber weiterhin eine Mitwirkung zu. Schließlich werden der Vater der Braut und damit die Machtinstanz der patriarchalischen Familie als wichtiger Entscheidungsträger nicht ausdrücklich genannt.12 Klaus Lichtblau hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Max und Marianne Weber in ihrer Darstellung der Ehegeschichte gegen sozialistische Theorien der Entstehung von Ehe und bürgerlicher Familie wandten, wie sie etwa August 11 Weber, WuG, S. 213; Max Weber an Robert Michels, 21.12.1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 758; Monika Wienfort, Verliebt, Verlobt, Verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014, S. 10–15. 12 Weber, WuG, S. 224; Max Weber an Robert Michels, 21.12.1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 755.

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Bebel in „Die Frau und der Sozialismus“ vorgetragen hatte. Bebel ging davon aus, dass eine „kommunistische“ Phase mit mutterrechtlicher Grundlage der seit der Antike in Europa charakteristischen Verbindung von Privateigentum und Patriarchalismus vorausgegangen sei. Auch Bärbel Meurer hat die Ablehnung der zeitgenössisch aufsehenerregenden mutterrechtlichen Theorien durch Max und Marianne Weber hervorgehoben. Webers Zuschreibung des Legitimitätsbedürfnisses der Frauen weist aber durchaus Verbindungen zu ‚mutterrechtlichen‘ Vorstellungen einer durch Frauen fortgesetzten Genealogie auf. Welche Rolle Frauen bzw. dem Interesse der Frauen in der „Sippe“ genau zukommen sollte, bleibt allerdings unklar. Unbestritten ist die Fixierung auf das Erbrecht. Die gesellschaftliche Norm und damit der soziale Sinn der Ehe entstehen so letztlich aus genealogischen Gründen, ihr Charakter als Herrschaftsbeziehung wird nicht thematisiert.13 Übrigens ist hier von der Frau, nicht vom Weib die Rede. „Frau“ wird damit eindeutig als Rechtsbegriff eingeführt und an die Ehe geknüpft. Für das 19. Jahrhundert mit seiner grundsätzlichen Unterscheidung zwischen verheirateten und ledigen Frauen konnte Weber damit an die Rechtswie Alltagssprache anknüpfen. Er sah in diesem Zusammenhang offenbar kein Interesse der Männer an der legitimen Abstammung der Kinder, ganz anders als der bürgerliche Diskurs des 19. Jahrhunderts, der z.B. bei den Debatten um Ehebruch als Scheidungsgrund geradezu besessen war von der Vorstellung der heimlichen sexuellen Untreue der Ehefrau und der dadurch entstehenden Erbberechtigung von „Bastarden“. Es klingt fast, als ähnele der Ehemann und Vater, den Weber sich vorstellt, einem alttestamentarischen Stammvater oder einem Sultan mit Konkubinen, jedenfalls einem Mann mit „totalen“ Herrschaftsbefugnissen über (mehrere) Frauen. Damit erscheint auch der bürgerliche Mann im 19. Jahrhundert in einer Institution gebunden, die ursprünglich laut Weber primär den Interessen der Ehefrauen gegenüber Nebenfrauen gedient hat.14 Dass Weber seine Erklärung des Ursprungs der Ehe an Mariannes Buch anschloss, zeigt eine Äußerung gegenüber Paul Siebeck im Zusammenhang mit der Drucklegung von Marianne Webers Buch: „Einige wichtige Grundgedanken sind in dem Buch ganz neu (die Art der Entstehung der „legitimen“ Ehe).“ Obwohl hier also keine ausdrückliche Zustimmung zu Mariannes Erklärung der Ent13 Lichtblau, Bedeutung, S. 239; Meurer, Marianne Weber, S. 250. 14 Ute Gerhard, Die Rechtsstellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankreich und Deutschland im Vergleich, in: Jürgen Kocka/Ute Frevert (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. I, München 1988, S. 439–468; Joan Perkin, Women and Marriage in Nineteenth Century England, London 1989; Ursula Vogel, Whose Property? The Double Standard of Adultery in Nineteenth Century Law, in: Carol Smart (Hg.), Regulating Womenhood, London 1992, S. 147–165.

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stehung der Ehe abgegeben wird, lobte Weber ihren Ansatz.15 Marianne Weber wiederum erklärte die Entstehung der Ehe im Kontext männlicher Herrschaft aus einem ökonomischen Interesse der Familie der Frau und verfolgte diese Idee über die Entwicklung des ehelichen Güterrechts bis in das Mittelalter weiter. „Die legitime Ehe entstand durch zunächst vertragsmäßige, dann gewohnheitsrechtliche, dann ausdrückliche ökonomische Sicherung mehrerer oder einer bestimmten Frau und deren Kindern gegenüber allen anderen Frauen, mit denen es der Mann beliebte, Geschlechtsverkehr zu pflegen. Sie sind in erster Linie das Werk der Frau, bzw. ihrer Familie, die sie nicht hergab, ohne Garantien für ihre und ihrer Kinder Vorzugsstellung.“16

Gegenüber den häufig knappen Formulierungen Max Webers, die – möglicherweise unbeabsichtigt – den Frauen gesellschaftliche „agency“ zuschrieben, hat Marianne Webers ausführlichere Feststellung den Vorteil, einerseits mit der Familie, d.h. vor allem mit dem Vater der Ehefrau einen plausiblen Akteur mit Herrschaftschancen und mit dem ökonomischen Interesse auch eine Begründung für die Institutionalisierung und Verrechtlichung der Ehe vorzustellen. Bärbel Meurer hat argumentiert, Marianne Weber habe die Geschichte des Eherechts in der Moderne als immer weniger von Ökonomie geprägt gesehen. Im Kern bedeutet das wohl, dass die im Mittelalter noch sichtbaren Bezüge zwischen ökonomischen Verhältnissen besonders in den Eliten einerseits und dem Eherecht andererseits in der Moderne als Gewohnheitsrecht und traditionale Herrschaft fixiert sind. Änderungen und Wandel der Rechtsstellung der Ehefrauen ergeben sich von da an nicht mehr aus ökonomischen Zwängen, sondern aus politischen Erwägungen. Bestes Beispiel dafür dürfte das Güterrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches sein, das 1900 im Deutschen Reich in Kraft trat. Max und Marianne Weber hatten jedenfalls die öffentlichen Debatten genau verfolgt, Marianne auch an ihnen teilgenommen.17 In Webers Herrschaftssoziologie findet sich keine Definition von Ehe als Herrschaftsbeziehung, was doch angesichts der politischen Debatten um das Bürgerliche Gesetzbuch nahegelegen hätte. Damit fehlt aber auch eine generelle „Überlegenheitserklärung“ für Männer. Zu diesem Thema, allerdings vom 15 Max Weber an Paul Siebeck, 11.9.1906, in: MWG, Abt. 2, Bd. 5: Briefe 1906–1908, S. 158. 16 Marianne Weber, Ehefrau (Auszug), in: Stephan Meder u.a., Die Rechtsstellung der Frau um 1900. Eine kommentierte Quellensammlung, Köln 2010, S. 876. 17 Vgl. Meurer, Marianne Weber, S. 252.

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Problem der Herrschaft, nicht von der Ehe ausgehend, schreibt Weber 1910 in einem Brief an Robert Michels: „Alles in Allem: der Begriff ‚Herrschaft‘ ist nicht eindeutig. Er ist fabelhaft dehnbar. Jede menschliche: auch: gänzlich individuelle Beziehung enthält Herrschafts- Elemente, vielleicht gegenseitige (dies ist sogar die Regel, so z.B. in der Ehe).“ Dabei bleibt offen, was genau Weber angesichts der patriarchalischen Struktur der Ehe für ein mögliches weibliches Herrschaftselement hielt. Es scheint hier eher als prinzipielle Möglichkeit (der Moderne) eingeführt als systematisch nachgewiesen. Möglicherweise ging Weber davon aus, dass der Patriarchalismus in der persönlichen Beziehung von Individuen zurückgedrängt werden könne, wie es etwa die Figur des Molièreschen Pantoffelhelden nahelegte.18 Marianne Weber sah dagegen wenig Anhaltspunkte für eine Komplexität gegenseitiger Herrschaft in der Ehe. In „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ interpretierte sie die Ehe historisch als Herrschaftsbeziehung, vor allem durch die rechtliche Privilegierung des Ehemannes in der Ehevogtei. Sie begriff das eheliche Güterrecht als Ausdruck von Interessen der wirtschaftlich führenden Gruppen der Bevölkerung, und hier der von Männern dominierten Familien der Eliten, nicht der Frauen. Damit verstand Marianne Weber ökonomische Bedingungen als letztlich maßgeblich für die konkrete Ausformung der Vielfalt der Güterrechte der Vormoderne. Wo die Ehe auf kaufmännischem Erwerb aufruhte, entstanden primär Systeme der Gütergemeinschaft, wo sie sich auf Rentengrundbesitz bezog, bevorzugte man die Wittumsehe (die Witwe wird mit einem Nießbrauch, einer Rente versorgt, während der Landbesitz vollständig an die – männlichen – Nachkommen übergeht). Die Gütergemeinschaft passte laut Marianne Weber zum kaufmännischen Bürgertum, weil von der Ehefrau eingebrachtes Kapital in dieser Weise im Familienunternehmen aufgehen konnte, das wiederum auf Kapitalzufluss angewiesen war. In der agrarischen Welt kam es dagegen weit eher darauf an, den Landbesitz in der Generationenfolge zu sichern. Die Perspektive des sozialen Sinns von ehelichen Güterrechten stellte damit nicht die Rechtsstellung oder Absicherung der Frauen an sich dar, sondern die Wirtschaftsweise und das Erbrecht und damit die Familie in der Generationenfolge. Max Weber dagegen neigte offenbar eher der Ansicht zu, das Güterrecht diene auch einem Interessenausgleich zwischen Männern und Frauen. Marianne Webers Ansatz trug der kaum überschaubaren Vielfalt der ehelichen Güterrechte in Europa in besonderer Weise Rechnung,

18 Max Weber an Robert Michels, 21.12.1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 761.

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während Max Weber offenbar primär die Institutionalisierung von Ehe an sich im Blick hatte.19 Das Thema des ehelichen Güterrechts war für die begüterten Bürger Max und Marianne auch persönlich von Bedeutung. Der Webersche Ehevertrag von 1892 kam sehr patriarchalisch daher und gestand Max die volle Verfügungsgewalt über Mariannes Vermögen zu. Bekanntermaßen handelte es sich bei dieser Ehe um eine Ehe zwischen Verwandten, also innerhalb einer Familie, so dass die ansonsten wichtigen Absicherungsabsichten der Herkunftsfamilie der Ehefrau keine Rolle spielten. Mariannes Großvater, der gleichzeitig Max’ Onkel war, sah wohl keinen Grund, Missbrauch zu befürchten, und auch Max jun. hielt die Bestimmungen des Vertrages, den er nicht selbst aufgesetzt hatte, letztlich für akzeptabel. Für Max Weber folgte aus seinen umfangreichen Verfügungsrechten in der Praxis allerdings kein patriarchalisches Verfügungsmonopol. Marianne verwaltete zumindest zeitweise die Bankkonten des Ehepaares und tätigte selbstverständlich eigenständige Ausgaben. Wie auch in anderen Ehen zu beobachten, spielte die rechtliche Bevorzugung des Ehemannes in der bestehenden Ehe eine vergleichsweise geringe Rolle. Erst im Erb- und/oder Konfliktfall, der in der Ehescheidung endete, zeigten sich die unterschiedlichen Folgen der Güterrechtssysteme, vor allem in der Versorgung der keinem eigenständigen Erwerb nachgehenden Frauen.20 Max und Mariannes Ehevertrag hatte dabei eine interessante Vorgeschichte. Während der Ehe mit Max sen. hatte sich Helene Weber gewünscht, über einen Teil ihres ererbten Vermögens eigenständig zu verfügen, besonders für soziale Zwecke. Max sen. lehnte das ab, nicht zuletzt, weil er erhebliche Mittel für seinen gehobenen Lebensstil benötigte. Max jun. stellte den Konflikt zwischen den Eltern in einem Brief an Arthur Weber 1910 dar: „Papas sehr lebenskräftiger Natur widerstrebte diese Empfindungsweise [Geld für soziale Zwecke auszugeben, M. Wienf.] aufs tiefste. Er war in einer streng alt-liberalen Zeit, die diese sozialen Probleme noch nicht kannte, aufgewachsen, und die Zumutung, seiner Frau selbständiges Geld ohne Kontrolle in die Hand zu geben, widerstritt allen festen Traditionen seiner Familie, obwohl er ein Mann von natürlicher Herzensgüte war.“ Max sen. und Helene hatten in den 1860er Jahren geheiratet. Max jun. rechtfertigte das ihm kaum zusagende Verhalten seines Vaters als traditionell und wies damit charakterlichen Egoismus als Begründung zurück. Weber jun.

19 Vgl. Richard Schröder, Geschichte des ehelichen Güterrechts in Deutschland, Bde. 1– 2.3, Stettin 1863–1871; Wienfort, Verliebt, S. 137–146. 20 Vgl. Max an Marianne Weber, 19.1.1909, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 32; Meurer, Marianne Weber, S. 71–73.

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verzichtete hier auf die Darlegung einer eigenen Ansicht, die Äußerung sollte offenbar nur die Differenzen der Eltern erklären.21

4. Ehe, Familie und Hausgemeinschaft Während die Begriffe Frau und Weib kaum zu soziologischen Grundbegriffen im Weberschen Definitionsuniversum aufsteigen konnten, wurden die Begriffe Ehe und Hausgemeinschaft, besonders mit Blick auf die Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, deutlich wichtiger. In Webers frühem Werk „Soziale Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ (1896) ging es um zeitgenössische Thesen zum Untergang des Römischen Reiches, die auch auf die Gegenwartsanalysen Einfluss nahmen. Seit Edward Gibbon faszinierten die Erklärungen für den Untergang des Römischen Reiches, die in der ein oder anderen Weise von „Dekadenz“ in spezifischer Ausprägung sprachen. Weber gab den 19. Jahrhundert-Ton, der Altertum und Gegenwart so signifikant miteinander verband, folgendermaßen wieder: „Das emanzipierte römische Weib und die Sprengung der Festigkeit der Ehe in den herrschenden Klassen hätten die Grundlagen der Gesellschaft aufgelöst. Was ein tendenziöser Reaktionär, wie Tacitus, über die germanische Frau, jenes armselige Arbeitstier eines kriegerischen Bauern, fabelt, sprechen ähnlich Gestimmte ihm heute nach. In Wahrheit hat die unvermeidliche ‚deutsche Frau‘ so wenig den Sieg der Germanen entschieden, wie der unvermeidliche ‚preußische Schulmeister‘ die Schlacht von Königgrätz. – Wir werden vielmehr sehen, dass die Wiederherstellung der Familie auf den unteren Schichten der Gesellschaft mit dem Niedergang der antiken Kultur zusammenhängt.“

Zunächst wies Weber die ideologischen Thesen der Feinde der Frauenemanzipation des 19. Jahrhunderts zurück, die die „germanische Frau“ und deren Einbindung in die patriarchalische Ehe feierten, während sie die Emanzipation der römischen Ehefrau für den Niedergang des Römischen Reiches verantwortlich machten. Die Abneigung bezog sich damit auf sämtliche „Reaktionäre“, keineswegs bloß auf Tacitus. Aus dieser liberalen Grundposition der Ablehnung eines reaktionären Konservatismus speiste sich Webers Unterstützung der Frauenbewegung. Dabei muss berücksichtigt werden, dass im Kaiserreich viele Liberale beim Thema Frauenemanzipation durchaus kon21 Max Weber an Arthur Weber, Dezember 1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909– 1910, S. 763 f.

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servative Positionen vertraten und eine Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen ablehnten. Vielleicht orientierte sich Weber in diesem Punkt am ihm auch familiär nahestehenden Großbritannien, wo zahlreiche liberale Männer die Frauenbewegung unterstützten.22 Die Ursachen des Niedergangs des Römischen Reiches lagen laut Weber in den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, nicht primär in der Politik und den militärischen Bedrohungen von außen. Weber suchte diese inneren Gründe allerdings nicht bei der Rechtsstellung der Frauen der Elite, sondern votierte für die Bedeutung sozialen Wandels in breiten Bevölkerungsgruppen. Die unteren Schichten erhielten laut Weber sukzessive Familie und Eigenbesitz zurück, außerdem fehlte der Sklaverei als ökonomischem Fundament aus Mangel an Eroberungskriegen der Nachschub. Mit dem Rückzug der Sklaverei wiederum verband sich der Niedergang der Städte. Aus der Perspektive der heutigen Forschung klingt Webers Sicht etwas einseitig; er unterschätzte die Bedeutung der massiven Bevölkerungsbewegungen, des nachlassenden Durchgriffs des Staates und die militärischen Schwierigkeiten, die sich aus dem Ansturm der Germanen ergaben. Dennoch beeindruckt die multikausale, gesellschaftshistorische Perspektive, mit der Weber den Macht- und Herrschaftsverlust Roms betrachtete.23 Weber lehnte die Konzentration der Ursachenforschung auf das Geschlechterverhältnis der römischen Bürger ab. Er stellte die Sklaven als wirtschaftlich produktive Schicht in den Mittelpunkt und benutzte eine besondere Technik des Perspektivwechsels. Während die bekämpfte Interpretation der „Reaktionäre“ die „zu“ freie Stellung der römischen Bürgersgattin kritisierte, sah Weber auf das andere Ende der sozialen Hierarchie. Gelegentlich fallen die Schlussfolgerungen erstaunlich aus. „Nur im Schoße der Familie gedeiht der Mensch.“24 Das apodiktische Urteil bezieht sich nur lose auf das vorher Gesagte und bleibt ohne besondere Begründung. In „Agrarverhältnisse im Altertum“ (1909) steht das Interesse für die Familie als Kulturprojekt im Mittelpunkt. Max Webers These lautet, dass es eine kapitalistische Form der Sklaverei nur bei Familienlosigkeit des männlichen Sklaven geben kann. Das Wirtschaftsmodell konzentrierte sich auf männliche Sklaven, die in einem Kasernensystem ausgebeutet wurden. Webers Redeweise gibt sich betont unsentimental: „An22 Max Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur (1896), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl. Tübingen 1988, S. 290; Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998; Günther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950. Mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001. 23 Vgl. Werner Dahlheim, Die Antike, 6. Aufl. Paderborn 2002, S. 549–559. 24 Max Weber, Die sozialen Gründe, S. 298.

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dernfalls wären Kosten und Unterhalt der Weiber und der Aufzucht der Kinder dem Anlagekapital als toter Ballast mit zur Last gefallen. Dies ließ sich zwar bezüglich der Weiber unter Umständen … durch textilgewerbliche Ausnutzung vermeiden.“ Laut Weber behinderten männliche Sklaven in Familienbeziehungen eine kapitalistische Form der Sklaverei, weil sie den Unterhalt für nicht marktförmig arbeitende Frauen und Kinder dem „Unternehmen“ aufbürdeten. Weber betont mehrmals, dass die kapitalistische Sklavenwirtschaft ohne weibliche Arbeitskraft funktioniert: „Für die Hauptverschleißgebiete der Sklavenarbeit: Plantagenbau, Seefahrt, Bergbau, Steuereintreibungsgeschäft war ferner weibliche Arbeitskraft ungeeignet … Die weiblichen Sklaven dienten der Prostitution oder der Hausarbeit.“ Die soziale Rolle von Frauen ergab sich damit aus ihrer Stellung in der marktförmigen Produktion bzw. aus dem Nichtvorhandensein dieser Stellung. Sklavinnen arbeiteten in dieser Perspektive eben gerade nicht marktförmig.25 Man könnte erwarten, dass in einer Diskussion der Hausgemeinschaft das Geschlechterverhältnis zwischen Hausvater und Hausmutter im Mittelpunkt steht. Weber hatte aber andere Interessen. Frauen spielen darin nur eine Nebenrolle, da es Weber wie für die Ehe nicht um die inneren Verhältnisse geht, sondern um den Schritt von der Hausgemeinschaft in die Öffentlichkeit des Marktes. Aus der Hausgemeinschaft entsteht laut Weber nämlich die Handelsgesellschaft: „Beschränkungen ihrer eigentümlichen Verhältnisse auf die männlichen Mitglieder der Gemeinschaft. Also: nur die arbeitenden, erwerbenden, im Geschäftsleben selbsttätigen Glieder sind mögliche Subjekte des gemeinschaftlichen Vermögens, ein neuer Beweis dafür, dass die gemeinsame Erwerbstätigkeit auf ‚gemeinsamen Gedeih und Verderb’ den Ausgangspunkt bildet.“ Die Hausgemeinschaft überführt die Männer laut Weber schließlich in eine Unternehmensgemeinschaft, die für die Beteiligten „Brüderlichkeit“ (als Teilung des Gewinns zu gleichen Teilen) bedeutet. Während die Frauen der Familie typologisch gleichsam im Haus verbleiben, werden die Männer „aus dem Haus“ in das Wirtschaftsleben überführt.26

25 Max Weber, Agrarverhältnisse im Altertum, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozialund Wirtschaftsgeschichte, S. 19 f. 26 Max Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 354; Max Weber, WuG, S. 215.

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5. Kapitalistische Produktion in der Moderne: Lohnarbeit von Frauen Marianne und Max Weber kamen persönlich eher mit der Berufstätigkeit von Frauen der Ober- und Mittelschichten in Berührung, die nicht ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen erwerbstätig wurden, sondern sich gesellschaftlich engagieren wollten und, wie Marianne selbst, auch nach neuen Formen der Selbstverwirklichung strebten. Für Max Weber stellte die proletarische Lohnarbeit von Frauen aber einen wichtigen Forschungsgegenstand dar. Dabei gerieten mehrheitlich junge unverheiratete Frauen in den Blick, die die Phase zwischen Schulabgang und Eheschließung mit Fabrikarbeit überbrückten, nicht zuletzt, um Kapital für die Heirat anzusammeln. Verheiratete Lohnarbeiterinnen kamen in den empirischen Untersuchungen zwar auch vor, wurden aber als nicht überragend wichtig eingeschätzt. Marianne Weber hob zudem hervor, dass die gehobenen Arbeiterschichten sich bemühen, die Ehefrauen und Mütter von der Lohnarbeit zu befreien und wieder ans Haus zu binden, was sie mit Blick auf die Mutterpflichten durchaus begrüßte.27 Max Weber beschäftigt sich mit der Fabrikarbeit von Frauen in der Erhebung zur Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie (1908) und der Psychophysik der industriellen Arbeit (1908). In diesen Enqueten wurde das Geschlecht der Arbeiter regelmäßig erhoben. Max Weber interessierte sich für die Frauenarbeit im Kontext von Arbeitseignung, z.B. der Geschicklichkeit mit den Händen oder der Geschwindigkeit unter der Bedingung von räumlicher Enge. Für die Taschentuchweberei stellte er z.B. einen Mangel an jungen Frauen als Arbeitskräfte fest. Dieser Mangel führte laut Weber zur Zahlung einer „Geschlechtszulage“ an Männer, die einen höheren Grundlohn als Ausgleich für bessere Verdienstmöglichkeiten in anderen Bereichen der Textilindustrie verlangten. Damit gelangte Weber zu dem bis in die Gegenwart viel diskutierten Problem der unterschiedlichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit in der Fabrik. Weber erklärte und rechtfertigte die unterschiedlichen Löhne von Männern und Frauen letztlich mit dem Markt. Männer kamen im Fall der Taschentuchweberei nur deshalb zum Zuge, weil das weibliche Arbeitskräfteangebot zu gering ausfiel. Die Textilunternehmer sahen sich gezwungen, dem Arbeitskräftemangel mit einem erhöhten Lohnangebot für Männer zu begegnen. Webers Ausdruck „Geschlechtszulage“ klingt wenig affirmativ, weil die gängige Annahme von der höheren Qualifikation oder quantitativ besseren Arbeitsleistung als Begründung für höhere Männerlöhne damit explizit zurückgewiesen 27 Vgl. zur Lohnarbeit von Frauen Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992, S. 205–218.

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wird. In seiner Knappheit schließt sich die Formulierung an Marianne Webers Begriff vom „Geschlechtsegoismus“ von Männern an. Max Weber verzichtet auf die Möglichkeit, einen höheren Familienlohn für Männer ausdrücklich zu rechtfertigen. Möglicherweise ist sein liberales Grundverständnis für die dezidierte Abneigung gegenüber einer solchen Gewerkschaftsposition verantwortlich.28 Nicht zuletzt als Folgerung aus seinen Arbeiten über Frauen in der Industrie und der Beobachtung der harten Arbeitsbedingungen unterstützte Weber die Arbeiterinnenschutzgesetzgebung nachdrücklich. Argumente radikaler Feministinnen, welche die Schutzgesetzgebung aus Gleichheitsgründen ablehnten, vor allem, weil sie Folgen für die Konkurrenzfähigkeit weiblicher Arbeitskraft auf dem Markt hatte, wurden von ihm als „kindisch“ abgetan: „Was die Frage Valborg’s nach dem Arbeitsschutz der Arbeiterinnen anlangt, so ist in Deutschland kein Mensch von gesundem Verstande, sei er nun Mann oder Frau, Mann der Wissenschaft oder Praktiker, der den Widerstand einiger englischer, französischer und norwegischer Frauen gegen Sonderschutzbestimmungen zugunsten der Frau nicht einfach kindisch fände. Aus diesen Kinderschuhen sind wir |:in Deutschland:| längst heraus, und Gott sei Dank die Gesetzgebung der großen Industriestaaten (England voran) auch ... Überall ist natürlich diese gänzlich lebensfremde Opposition einiger Frauen ein großes Gaudium für die Fabrikbesitzer, die davon profitieren.“29

Webers Bemerkung in einem privaten Brief ging offensichtlich von den Verhältnissen in Norwegen aus, auf die sich die Schwägerin Valborg Weber als geborene Norwegerin bezogen hatte. Max Weber begriff das norwegische Beispiel in einem europäischen Kontext und stellte fest, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland, aus seiner Sicht glücklicherweise, insgesamt von radikalen Gleichstellungsgrundsätzen distanzierte.30 Angesichts der gemeinsamen Identität als „Arbeitspaar“ Max und Marianne hegte Weber keinen Zweifel, dass Frauen grundsätzlich zu wissenschaftlicher 28 Max Weber, Methodologische Einleitung für die Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie (1908); Max Weber, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908–09), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 2. Aufl. Tübingen 1988, S. 1–60 u. S. 61–255. 29 Max Weber an Helene Weber, 16.3.1909, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 77 f. Vgl. Radkau, Max Weber, S. 480; Karin Hausen, Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Dies., Geschlechtergeschichte, S. 210–237. 30 Sabine Schmitt, Der Arbeiterinnenschutz im Deutschen Kaiserreich. Zur Konstruktion der schutzbedürftigen Arbeiterin, Stuttgart 1995.

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Arbeit fähig waren. Er lobte die Soziologin Helene Simon als „sehr intelligent“ und empfahl sie dem Verleger Paul Siebeck als Autorin eines Fachbuches über Kinderschutz. Für die „Deutsche Gesellschaft für Soziologie“ wünschte er sich die Kooptation von Helene Simon und Käthe Schirmacher, „die beiden einzigen Frauen, die wissenschaftliche ‚soziologische‘ Leistungen aufzuweisen haben bei uns“. Damit machte Weber gleichzeitig deutlich, dass er selbstverständlich nur individuelle Leistungen unabhängig von Geschlecht würdigte. Jedenfalls kam es ihm nicht in den Sinn, eine größere Anzahl von Frauen für die Soziologenvereinigung vorzuschlagen, um den Anteil von Frauen zu erhöhen oder gar ein Frauenförderprogramm für die neue Disziplin in die Wege zu leiten.31 In dem Zeitungsbeitrag „Zur Stellung der Frau im modernen Erwerbsleben“ stellte Weber der Öffentlichkeit eine Monographie der badischen Fabrikinspektorin Marie Baum vor, die laut Weber keine „Industriegeschichte“, sondern eine „Entwicklungsgeschichte der Stellung der Frau im modernen Erwerbsleben“ darstellte. Weber lobte die zahlreichen empirischen Befunde, die dem Publikum die inneren Differenzierungen zwischen Fabrikarbeiterinnen in der Tätigkeit, der Entlohnung, dem Alter und in der Mutterschaft vorführten. In seinem Fazit betonte er, ganz im Einklang mit der bürgerlichen Frauenbewegung, die Bedeutung der „Sachkenntnis der Frau als solcher“ für Erkenntnisse über „weibliche Arbeiter“. Mit anderen Worten: Akademische Bildung und professionelle Tätigkeit von Frauen sind notwendig, um die Lohnarbeit von Frauen zutreffend zu beschreiben und zu analysieren. Entsprechend endete der Artikel mit der Verteidigung der Frauen als Fabrikinspektorinnen auch gegen die Kritik von Männern innerhalb der Behörde. Weber geißelt hier „Geschlechtseitelkeit“ besonders derjenigen, „die in ihrer konkreten Person am allerwenigsten als Repräsentanten derselben [einer generellen Überlegenheit des männlichen Geistes, M. Wienf.] gelten konnten“. Den Begriff der „Geschlechtseitelkeit“ als Beschreibung unbegründeten männlichen Überlegenheitsdenkens nutzte Weber übrigens auch im Kontext der Auseinandersetzung mit Arnold Ruge, in der er für sich selbst ausdrücklich ein Verhalten der „Geschlechtseitelkeit als Ehemann“ zurückwies.32 Marie Baums Schwierigkeiten als badische Beamtin lösten bei Weber eine für ihn charakteristische Empörung aus. Sein Plädoyer zielte auf eine Gleichstellung der Beamtinnen nach innen und auf eine konsequente Einhaltung der 31 Max Weber an Paul Siebeck, 19.5.1906, in: MWG, Abt. 2, Bd. 5: Briefe 1906–1908, S. 92 f.; Max Weber an Heinrich Herkner, 8.5.1909, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 114. 32 Max Weber, Zur Stellung der Frau im modernen Erwerbsleben, in: MWG, Abt. 1, Bd. 8, S. 283–287, hier S. 286; Max Weber an Friedrich Blanck, 1.2.1911, in: MWG, Abt. 2, Bd. 7: Briefe 1911–1912, S. 72.

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Hierarchiestufen der Bürokratie, die im Wesentlichen nach Dienstalter differenzierte. Weber sah die Akzeptanzprobleme weniger in der Fabrik, in der die Fabrikinspektorin den Staat repräsentierte, als bei den männlichen Kollegen, die sich vorstellten, dass weibliche Beamte eben nicht nach Dienstalter, sondern qua Geschlecht am unteren Ende der institutionellen Hierarchie platziert werden sollten. Für Weber verstieß ein solches Denken gegen das Prinzip der Gleichförmigkeit der Bürokratie, aber auch gegen eine notwendige Anerkennung individueller Leistung. Vor die Wahl gestellt, entschied sich Weber jederzeit für die wissenschaftlichen wie praktischen Leistungen Marie Baums und gegen die Mittelmäßigkeit ihrer männlichen Konkurrenten.33

6. Max Webers Haltung zur Frauenbewegung und ein Fazit Max Webers eigenes Engagement für Anliegen der Frauenbewegung blieb insgesamt wechselhaft. In der öffentlichen und dann auch gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Antifeminismus eines Arnold Ruge ergriff er leidenschaftlich für die Frauen und für die eigene Ehefrau Partei, bis sogar eine Duellforderung im Raum stand. Wichtiger als seine eigene Bereitschaft, für die angegriffenen Frauen einzutreten, war jedoch die Feststellung, „dass auch Frauen die Waffen haben, solche [entehrenden Beschimpfungen, M. Wienf.] zu züchtigen“. Er unterstützte generell das Frauenstudium, wollte aber als Gasthörerinnen in Heidelberg nur Doktorandinnen akzeptieren. Offenbar fürchtete er einen Ansehensverlust seiner Lehrveranstaltungen, wenn dort zahlreiche Frauen teilnehmen würden.34 Webers Mitgliedschaft im „Bund für Mutterschutz“ blieb eine kurze Episode: „Die ǀ:spezifische:ǀ Mutterschutz-Bande ist ein ganz confuses Gesindel, – ich trat nach dem Geschwätz der Stöcker, Borgius etc. wieder aus. Grober Hedonismus u. e(ine) Ethik, die nur dem Mann zu Gute käme, als Ziel der Frau – das ist einfach Quark.“35 Offensichtlich missfiel Weber, dass der Bund neben der sehr konkreten Zielsetzung der Gründung von Heimen für ledige Mütter auch für eine freie Sexualethik eintrat, von der nach seiner Ansicht nur die Männer profitieren würden. Auf der anderen Seite verteidigte Weber aber das Recht der Frauen wie der Männer auf eine nicht traditionelle Ethik, setzte dabei allerdings 33 Max Weber, Die badische Fabrikinspektion in: MWG, Abt. 1, Bd. 8, S. 293–299. 34 Max Weber an Friedrich Blanck, 13.12.1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909– 1910, S. 723. 35 Vgl. Radkau, Max Weber, S. 480 f. Zur Auseinandersetzung mit Ruge vgl. Kaube, Max Weber, S. 293–297. Max Weber an Paul Siebeck, 11.1.1907, in: MWG, Abt. 2, Bd. 5: 1906–1908, S. 211.

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bei beiden Geschlechtern Überzeugung und Ideale voraus. Eine Liberalisierung sollte sich nicht von selbst ergeben, sondern intellektuell errungen werden. Jedenfalls distanzierte sich Weber ausdrücklich von einer konventionellen bürgerlichen Moral, die Frauen stark einschränkte, Männern aber den Umgang mit Prostituierten als moralisch irrelevant nachsah.36 Max und Marianne Weber gingen von einer spezifischen Weiblichkeit als natürlicher Eigenschaft und entsprechend von einer Differenz zwischen den Geschlechtern aus. Marianne wie Max Weber lag vor allem am individuellen Bildungs- und Berufstätigkeitsstreben von Frauen. Sie unterstützten eine soziale Bewegung, die die Möglichkeiten von Frauen in der Öffentlichkeit erweitern wollte. Die „natürlichen“ Geschlechtseigenschaften, die Max Weber nannte, bezogen sich primär auf sexuell-reproduktive Funktionen oder das Altern, nicht aber auf kognitive Leistungen oder weibliche und männliche Charaktereigenschaften an sich. Max Weber thematisierte soziale Gebilde wie die Ehe, für die Frauen konstitutiv sind, stellte sie aber nicht in das Zentrum seines Werkes. Soziale Institutionen wurden von Weber allesamt als historisch wandelbar begriffen. Das gilt hier für die rechtliche Ausgestaltung der Ehe, das Güterrecht, die patriarchale Autorität, das Verschwinden von Frauenkauf und „haushörigem Weib“, die Einbeziehung von Frauen in die kapitalistische Produktion (Textilindustrie) und in die gehobene Staatsverwaltung, als Fabrikinspektorin, Lehrerin und Juristin in der Rechtsberatung. Für die Frage nach der Entstehung des Kapitalismus gehörte die Frauenarbeit in der Fabrik oder in der sich entwickelnden Dienstleistungsgesellschaft nicht zu den wichtigsten erkenntnisleitenden Interessen. Die „Frauenfrage“ spielte daher in Webers Analysen des zeitgenössischen Kapitalismus nur eine marginale Rolle, und damit befand sich Weber im Einklang mit den meisten Gesellschaftswissenschaftlern seiner Zeit. Im Unterschied zu vielen anderen Stimmen gingen Webers Begriffsformulierungen für den Bereich von Ehe, Familie und Haus aber nicht von einer sozialen „Differenzidee“ der Geschlechter aus. Damit war erstens festgestellt, dass Frauen prinzipiell für öffentliche Funktionen in Frage kamen. Zweitens verteidigte Max Weber die Legitimität einer Frauenbewegung, die Gleichheitsforderungen vortrug.37 In der Literatur findet sich gelegentlich die Ansicht, Weber habe auch noch in der Revolution von 1918/19 Frauen als von der Politik ausgeschlossen gesehen. Als Beleg wird die Einleitung von „Politik als Beruf“ angeführt: „Man spricht 36 Max Weber an Heinrich Rickert, 19. April 1908, in: MWG, Abt. 2, Bd. 5: 1906–1908, S. 527–531, hier S. 530 f. Vgl. Meurer, Marianne Weber, S. 135. 37 Über das vorzeitige Altern durch „Überarbeit“ vgl. Max Weber an Robert Michels, 27.10.1910, in: MWG, Abt. 2, Bd. 6: Briefe 1909–1910, S. 664.

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von der Devisenpolitik der Banken, von der Diskontpolitik der Reichsbank, von der Politik einer Gewerkschaft in einem Streik, man kann sprechen von der Schulpolitik eines Vereinsvorstandes bei dessen Leitung, ja schließlich von der Politik einer klugen Frau, die ihren Mann zu lenken trachtet. Ein derartig weiter Begriff liegt unseren Betrachtungen vom heutigen Abend natürlich nicht zugrunde.“38 Diese Einleitung scheint weniger als Analyse der Politikfähigkeit von Frauen denn als eine Form von Auftaktscherz zum Amüsement der Zuhörer auf Kosten von Frauen gemeint zu sein. Max Weber setzte „Gattungseigenschaften“ von Frauen voraus, vor allem Sexualität und Mutterschaft, aber die soziale Existenz von Frauen ging seiner Ansicht nach nicht in diesen Gattungseigenschaften auf. Die bürgerliche Frauenbewegung gehörte letztlich zu denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die gegen die „Reaktion“ wirkten. Für Max Weber stand sie damit eindeutig auf seiner Seite politischer Konfession.

38 Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 505–560, hier S. 505; Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer: eine politische Lebensgemeinschaft, 2. Aufl. Köln 2010, S. 13.

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Friedrich Naumann und der Progressismus Zur politisch-ökonomischen ‚Konfession‘ eines publizistischen Zeitgenossen von Max Weber

Die neben dem Standardwerk von Dieter Langewiesche1 wohl meistbeachtete Überblicksdarstellung zum deutschen Liberalismus merkte über ein durchaus erklärungsbedürftiges Literaturinteresse ironisch an: Es könnte bei Friedrich Naumann „bald so weit sein, daß es mehr Arbeiten über ihn gibt, als er je Anhänger hatte“.2 Das bezieht sich gewiss nur auf die bescheidene Mitglieder- und auch Stimmenzahl des 1896 von ihm gegründeten „Nationalsozialen Vereins“.3 Wird der spätere Weg im organisierten Linksliberalismus mit berücksichtigt, ergibt sich eine andere politische Lebensbilanz: Naumann verstarb im August 1919 als Vorsitzender jener Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar mit 18,5 % ein deutsches Rekordergebnis für eine zum Linksliberalismus gerechnete Gruppierung erzielt hatte.4 Nachfolgend wird aber nicht wesentlich die relativ gut erforschte politische Karriere von Naumann dargestellt.5 Auch sind weder biographische Interessen erkenntnisleitend noch weitere Erschließungen des breit gestreuten Schrift1 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988 (dort S. 221 ganz knapp der Hinweis auf Max Weber als „geistiges Haupt“ der „’progressiven Imperialisten’“ und Naumann als „wirkungsmächtigsten Propagandisten“). 2 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983, S. 409/Anm. 45. 3 Zu dieser Periode seines Wirkens Dieter Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896– 1903, München 1972; dort archivalischer Nachweis der bescheidenen Mitgliederzahl 1901/02 von höchstens knapp 3000 (S. 145/Anm. 62) und 1903 wenig über 30.000 Stimmen für die nationalsozialen Kandidaturen (S. 177/Anm. 11). 4 Zur nahezu unberücksichtigt bleibenden Weimarer Gründungsphase Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972, der im Namensregister (S. 459–466) für Naumann (DDP) und Stresemann (DVP) die meisten Bezugsstellen ausweist. 5 Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983.

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tums jeglicher Art beabsichtigt.6 Vielmehr soll es neben Schlaglichtern auf das – auch nicht vollständig zu klärende – Verhältnis zu Max Weber um Aspekte in Denkmustern und Handlungsorientierungen bei Naumann gehen, die über kaum vermeidbare Zeitgebundenheit hinaus zukunftsweisende Elemente in einem ‚fortschrittsparteilichen‘ Doppelsinn enthalten haben: Aus ihnen lässt sich die Entwicklung des (nationalen) Sozialliberalismus von Naumann vor und nach der Vereinigung linksliberaler Gruppierungen zur „Fortschrittlichen Volkspartei“ 1910 aufzeigen, die auch stets Partei für einen gleichermaßen ökonomisch-technischen, geistig-kulturellen und politisch-sozialen ‚Fortschritt‘ nehmen wollte.

1. Naumann und Max Weber – asymmetrische Einflüsse und Werkprofile Insgesamt präsentiert sich die Weber-Literatur allerdings noch weniger überschaubar als diejenige zu Naumann. Die politisch-intellektuelle Beziehungsgeschichte beider wird darin je nach Blickrichtung unterschiedlich dargestellt: „Es kann nicht sonderlich überraschen, dass Naumann-Forscher und -Anhänger eher dazu neigen, die Entwicklung des Denkens von Friedrich Naumann als eine autonome zu skizzieren, wohingegen Weber-Interpreten den Einfluss Max Webers auf Naumann stärker betonen.“7 Das ist aber so formuliert gar nicht einmal ganz richtig: Die unter wesentlicher Berücksichtigung der politischen Auffassungen noch immer unübertroffene Weber-Studie von Wolfgang J. Mommsen behauptet Akzentverschiebungen bei Naumann in jeweils mit „Phasenverschiebung“ von fünf bis sechs Jahren auf „die Linie von Weber einschwenkend“; dies wird jedoch auch im Standardwerk zu Naumann als „durchaus zutreffend“ entlehnt.8 Sogar bei dem anscheinend klarsten Fall dieses Musters schwingt wohl zu viel Ehrfurcht vor dem gro6 Alfred Milatz (Bearb.), Friedrich-Naumann-Bibliographie, Düsseldorf 1957; Ursula Krey/Thomas Trumpp (Bearb.), Nachlaß Friedrich Naumann. Bestand N 3001, Koblenz 1996. Beide Quellenerschließungen erfassen wegen der begrenzten Auswahlgrundlage die gesamten schriftlichen Zeugnisse noch bei weitem nicht vollständig. 7 Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014, S. 431. 8 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 134; so auch Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 111, unter Berufung auf die Textstelle bei Mommsen, Max Weber, wo kurz zuvor sogar differenzierter argumentiert wird: „Friedrich Naumann war keineswegs der Mann, der sich ohne weiteres dem Urteil des Jüngeren beugte, er ging seinen eigenen Weg“ (S. 133).

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ßen Gelehrten und zu wenig Berücksichtigung der Eigensinnigkeit des politisch-publizistischen Dialogpartners mit. Auf das national-imperiale Credo von Webers Freiburger akademischer Antrittsrede von 18959 reagierte Naumann zwar kurz darauf mit seinem als nicht minder prägnant überlieferten Bekenntnis: „Hat er nicht recht? Was nützt uns die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?“10 Auch wenn das nicht lediglich als jenes antizaristische Motiv gelesen werden kann, das auch viele Sozialdemokraten bis hin zu den Kriegskreditbewilligungen im Ersten Weltkrieg leitete, ist zugleich auf die verbleibenden „grundsätzlichen Differenzen“ zwischen beiden Exponenten hinzuweisen; denn „für Naumann blieb vorerst der nationale Machtstaat Mittel zur sozialen Reform, während umgekehrt Weber zur Sicherung des Nationalstaats soziale und politische Gerechtigkeit fordert“.11 Wenn schließlich jedenfalls für den Max Weber des Kaiserreichs zugespitzt behauptet wurde: „Die einzige Beziehung zu aktiver politischer Tätigkeit bestand in der Person Friedrich Naumanns“12, so ist hier die Rolle des Lernenden bei Naumann eben klar auf den Gelehrtenstatus Webers einzugrenzen. Was insoweit 1895 noch wie eine unterschiedliche gesellschaftspolitische Nuancierung klingt, hatte Weber im Vorjahr als hintergründige Differenz Naumann in seiner ‚christlich-sozialen‘ Phase entgegengehalten, dabei auf die Tendenz zur unpersönlichen Form des Kapitaleigentums verweisend: „Die Logik dieser Entwicklung, die die spezifisch moderne Klassenbildung darstellt, wird auch Naumann, soll sein Programm für ihn Wahrheit werden, zur Parteinahme gegen jede Form des privaten Kapitals zwingen“.13 Noch weiter ging ein Angriff des freikonservativen Großindustriellen Frhr. v. Stumm auf Naumanns Zeitschrift Die Hilfe Anfang 1895 im Reichstag: „Dieses Blatt kokettiert nicht bloß mit der Sozialdemokratie, es kooperiert ganz direkt mit derselben.“14 Insofern blieb es konsequent, dass Weber 1896 auf den Rat eines Onkels (Adolf Hausrath) zur karrierewahrenden Distanzierung zwar nicht öffentlich abrücken wollte, aber dies mit ohnehin klarer Abgrenzung begründete: „Ich bin nichts weniger als ‚Christlich-sozial’, sondern ein ziemlich reiner Bourgeois, und meine Beziehungen zu Naumann beschränken sich darauf, 9 Dazu in jeweiligen Aspekten Dieter Langewiesche und Peter Steinbach in diesem Band. 10 F.N., Wochenschau, in: Die Hilfe 1 (1895), H. 28, S. 2. 11 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild (1926), 3. Aufl. Tübingen 1984, S. 235; so auch bei Mommsen, Max Weber, S. 136. 12 Mommsen, Max Weber, S. 132. 13 Max Weber, Was heißt Christlich-Sozial?, in: Christliche Welt Nr. 8 (1894), Sp. 475, zit. nach Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 36. 14 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 10. Sitzung v. 9.1.1895, S. 211 C.

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daß ich ihn, dessen Charakter ich hochschätze, sachte von seinen sozialistischen Velleitäten loszulösen strebte.“15 Zumal sich Naumann auch nach dem Eindruck der ihn rückblickend wohlwollender betrachtenden Marianne Weber „zunächst ausschließlich als Anwalt der Proletarier“ verstand, artikulierte sich weiterhin gewissermaßen der andere ‚Klassenstandpunkt’, wenn Max Weber der Gründung des Nationalsozialen Vereins als intellektuell-politischer Wegbegleiter skeptisch begegnete: „Die Sozialdemokratie habe durch ihr Vorgehen gegen das Bürgertum nur der Reaktion die Wege geebnet. Derselbe Fehler drohe hier.“16 Max Webers gesellschaftlich-politische Fixierung auf die Konfliktlinie Bürger- contra Junkertum, Liberalismus gegen Konservatismus ließ eben auch deren kritische Einstufung als traditionellere Sichtweise gegenüber zunehmend hervortretenden Ansätzen bei Naumann offen: nämlich die vorrangigen Spannungsverhältnisse zwischen Industrie- und Agrarsektor nunmehr im Sinne der massengesellschaftlichen Aufwertung der gewerblichen Arbeiterschaft zu profilieren. Endgültig räumte Naumann mit seiner parteistrategischen Orientierung auf den organisierten Linksliberalismus als Bündnispartner der Sozialdemokratie nach der Jahrhundertwende etwaige Missverständnisse einer früheren ‚christlich-sozialen‘ Frontstellung zum Kapitalismus aus rückwärtsgewandten Motiven hinweg: „Der neutestamentarische Antimammonismus bekam als Antikapitalismus zweifach neues Leben, einesteils in wirtschaftlich-reaktionären und anderenteils in wirtschaftlich-fortschrittlichen Richtungen ... Es entstand ebensowohl innerhalb des Katholizismus wie innerhalb des Protestantismus eine Stimmung, deren Grundgedanke war, das Christentum könnte, wenn es nur echt wäre, die Welt vom Kapitalismus erlösen! Fast alle Vorwürfe, die die Sozialdemokraten gegen das kirchliche Christentum

15 Zit. nach Kaesler, Max Weber, S. 433 f.; so auch bei Mommsen, Max Weber, S. 136, wo zu Naumann kontrastiert wird, dass „Weber umgekehrt Sozialpolitik nur aus nationalpolitischen Gründen anstrebte und aller rein an sozialem Empfinden orientierten Politik mit einer an Nietzsche erinnernden Abneigung gegenüberstand“. 16 Marianne Weber, Max Weber, S. 142 u. 235 (Zitat Max Weber, das eine zusätzlich interpretierende Version aus seiner Rede auf der nationalsozialen Gründungsversammlung ist, überliefert u.a. in: Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 26–29, hier S. 28, wo er hinzufügt, man solle „die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung wählen“, somit eine „nationale Partei der bürgerlichen Freiheit“ werden, die „fehlt“ – was bestehende liberale Parteien gewiss anders betrachteten und so keinen Ergänzungsbedarf gesehen haben).

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richteten, gehen in dieser Linie, fast alle christlich-sozialen Hoffnungen haben etwas Ähnliches im Hintergrund.“17

Dies war ganz wörtlich genommen so zu lesen, dass Naumann die sozialdemokratische Kritik an einem „christlich-sozialen“, darin teilweise auch „wirtschaftlich-reaktionären“ Antikapitalismus teilte und nur die „wirtschaftlich-fortschrittlichen Richtungen“ unterstützte, zu denen sich ein moderner Sozialliberalismus mit einer reformistischen Arbeiterbewegung zusammenfinden konnte und sollte. In seiner Bündnisorientierung zur SPD hin folgte er also nicht Webers bürgerlichem Leitstern, sondern unterschied sich 1901 mit Formulierungen wie der folgenden überaus deutlich: „Die Neuwerdung des Liberalismus – ich spreche von allen Strömungen mit Einschluß der Sozialdemokratie – die Herstellung einer antiagrarischen deutschen Linken ist auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts nur möglich, wenn ihre parteipolitische Hauptführung bei der heutigen Sozialdemokratie liegt“ (IV: 225). Auch noch in einem 1904 verfassten Zusatz zu seiner Programmschrift Demokratie und Kaisertum unterteilte Naumann politisch-analytisch das Parteienspektrum in SPD und Linksliberale als „Linke“, die katholische Zentrumspartei und Regionalgruppen als „Mitte“, aber Nationalliberale mit Konservativen und Antisemiten als „Rechte“ (II: 95). Es ist jenseits des ebenso unzweifelhaften wie aus heutiger Sicht fragwürdigen national-imperialen Impulses von 1895 wohl dieses recht bezeichnend: Eine unter dem verheißungsvollen Titel „Der Einfluß Max Webers auf Friedrich Naumann“ publizierte Dissertation hat außer einer ziemlich unkoordinierten Gegenüberstellung zahlreicher Einzelaspekte in Schriften beider nur zwei Einflussbereiche hervorgehoben; zum einen die finanzielle Unterstützung der Familie Weber (neben vielen anderen) für Naumann, zum anderen einen Brief vom 14. Dezember 1906 als Nachweis der Empfehlung Webers, sich mit Teilen der Nationalliberalen und der Sozialdemokratie zu verbünden.18 Daran ist aber nichts 17 Friedrich Naumann, Briefe über Religion, in: Ders., Werke, Bd. 1, Köln 1964, S. 566– 632, hier S. 607. Sämtliche Zitate aus dieser sechsbändigen Teilsammlung werden nachfolgend nur mit Band-Nr. sowie Doppelpunkt dahinter und Seitenzahl (in Klammern) nachgewiesen, also hier als Beispiel: (I: 607). Eine dann nicht realisierte komplette Werkedition wurde vorbereitet gemäß Darstellung von Hans Cymorek, Friedrich Naumanns Werk und Nachlaß. Ein Editionsprojekt an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie den Universitäten Bochum und Marburg, in: Jahrbuch der historischen Forschung 4 (1999), S. 40–44. 18 Michael Panzer, Der Einfluß Max Webers auf Friedrich Naumann, Würzburg 1986, S. 16 u. 191 (Belege). Es würde zu weit führen, hier alle Fehler dieses (fleißig Naumann und Weber zitierenden) Buches zu listen, beginnend mit angeblichem „Strukturfunda-

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von irgendeinem Neuigkeitswert, denn bereits Marianne Weber zitierte jenen Brief aus dem Nachlass, wo der mittlerweile nach ‚links‘ hin aufgeschlossenere Max Weber dieses nahelegte: „Stützung der oppositionellen (‚jungliberalen‘) Elemente im Nationalliberalismus, Stützung der gewerkschaftlichen Elemente in der Sozialdemokratie – mit ihnen gegen das scheinkonstitutionelle Zentrum, aber auch gegen den dynastischen innerpolitischen Machtkitzel und gegen die außenpolitische dynastische Prestigepolitik der großen Worte anstatt nüchterner Interessenpolitik!“19 Da ist dann aber teilweise auch die umgekehrte Einflussnahme wahrscheinlicher: Bereits zwischen 1901 und 1903 waren im politischen Sprachrohr „Nationalliberale Jugend“ die Spuren von Naumanns Anregungen zu erkennen, weil er hinreichend ‚national‘ und dennoch auf innenpolitische Neuorientierung hin argumentierte.20 Zuvor besagten 1901 „Nationalsoziale Leitsätze über die Stellung zum Liberalismus“ zu dessen erstrebtem Profil als „vereint vorgehender proletarischer und bürgerlicher Liberalismus“ pointiert: „Der Herbeiführung dieses Zieles dienen innerhalb der Sozialdemokratie die Bernsteinianer, außerhalb derselben die Nationalsozialen, die führenden Kräfte der Freisinnigen Vereinigung und gewisse Unterströmungen in den beiden Volksparteien“21; mit letzteren waren die überwiegend solcher Öffnung zur SPD abgeneigte Freisinnige Volkspartei um Eugen Richter und die (Süd-)Deutsche Volkspartei mit – ebenso abweichend von den Nationalsozialen – anti-etatistischer, aber kleinbürgerlich-demokratischer Ausrichtung gemeint. Wenigstens über „Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber“ auf Spurensuche – in deren zeitgenössischer Publizistik und teilweise auch im Briefmaterial – zeigt sich eine nun auch schon betagte andere Studie.22 Der vier Jahre ältere Naumann und Weber begegneten sich erstmals 1892 auf dem 3. Evangelisch-sozialen Kongreß (S. 18). Dort hat 1894 Weber bereits ein Motiv seiner dann weitaus mehr beachteten Freiburger Antrittsrede des Folgejahrs anformu-

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mentalismus“ (richtig: Strukturfunktionalismus) des an Weber anknüpfenden Talcott Parsons (S. 38). Marianne Weber, Max Weber, S. 404. Freilich äußerte Weber in einem Brief vom 1.2.1907 den offenbar aus der nationalpolitischen Konfrontation des Wahlkampfes von ihm mit polemischen Ausdrücken über die SPD bekräftigten Eindruck, „daß jede Chance eines Zusammenarbeitens mit der Sozialdemokratie für uns geschwunden ist“, zit. nach Mommsen, Max Weber, S. 142 f./Anm. 170. Peter Gilg, Die Erneuerung des demokratischen Denkens im wilhelminischen Deutschland, Wiesbaden 1965, S. 233. Zit. nach Düding, Verein, S. 201 f. Wilhelm Spael, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber, St. Augustin 1985 (das Manuskript stammt aber von 1965: S. 9; aus dem Buch von 1985 die Seitenzahlen dieses Absatzes).

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liert, wenn er den „tiefen Drang nach oben, nach den geistigen und sittlichen Gütern der Menschheit“, und zwar auch „in seiner primitivsten Form“, gegen Naumanns damalige Idee des christlichen Sozialismus ausspielte: „Allein wir treiben Sozialpolitik nicht, um Menschenglück zu schaffen ... Wir hörten in der Begrüßungsansprache des Herrn Pfarrers Naumann gestern eine unendliche Sehnsucht nach Menschenglück heraus, die uns sicher alle ergriff, aber grade von unserem pessimistischen Standpunkt aus gelangen wir, und speziell ich persönlich, zu einem Gesichtspunkte, der mir doch noch ungleich idealistischer erscheint“ (Zitat S. 25). Das meinte Vorstellungen der individuell-personalen und individuell-nationalen Höherentwicklung ohne viel Rücksicht auf das utilitaristische ‚größte Glück der größten Zahl‘. Umgekehrt wird zutreffend daran erinnert, dass Naumann in Die Hilfe (21.3.1895) schon einige Monate vor Webers Freiburger Antrittsrede seinen vormaligen christlichen zum „vaterländischen Sozialismus“ (S. 43) umzuformen begonnen hatte; darin bahnte sich an, was Naumann im Kontext der Gründung des Nationalsozialen Vereins 1896 dann näher ausführte: „Eine Politik nach Außen und die soziale Reform im Innern – unsere politische Konfession“ (S. 53). Auch jenseits der persönlichen Begegnungen kann nicht zweifelhaft sein, dass Naumann sich mit den zeitgenössisch bekannten Schriften Max Webers vertraut gemacht hat. Wenn er z.B. das Stichwort „Religion als innerweltliche Geschichtsmacht“ erwähnte, sprach er von den „vortrefflichen Arbeiten“, die hierzu von Max Weber, aber eben auch von Ernst Troeltsch vorgelegt worden waren (I: 873). Ein spezifischer Gesichtspunkt war freilich bei allen Texten Naumanns immer zu bedenken: „Ich muß die Dinge und Argumente mit etwas schnellerer Hand erfassen, da ich nicht im Stande bin, ein einzelnes Wissensgebiet mit der Konzentration der reinen Wissenschaftlichkeit zu beackern.“23 Darüber hinaus erläuterte Naumann u.a. an seinem anderen akademischen Leitbild Lujo Brentano, wo er Max Webers Attacken gegen werturteilsgebundene Lehren als Selbstmissverständnis empfand: „Nur der Handwerker der Wissenschaft kann tendenzlos sein, der Künstler kann es nicht, will es im Grunde auch gar nicht, soll es vor allem nicht ... Diese Überwissenschaftler allein sind imstande, den reinen Wissenschaftlern Aufgaben zu stellen.“24 Der eindeutig publizistische Charakter – einschließlich des Sachbuchtypus – im äußerst umfangreichen Schrifttum von Naumann bot gegenüber dem auch in der Polemik noch akademisch-intellektuellen Stil Webers den Vorzug der massenwirksameren Formulierungen. Es spricht einiges dafür, dass zunächst Naumann 1899 mit seiner an Metaphern 23 Naumann an Brentano 12.4.1902, zit. nach Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 114. 24 Die Hilfe Nr. 41 v. 10.10.1909 („Der Zweck der Volkswirtschaftslehre“), zit. nach Spael, Verhältnis, S. 126.

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reichen Sprache die Analogie des „Großbetriebs“ für den machtvollen Großstaat jener Epoche verwendete und Weber dies übernommen hat.25 Darüber hinaus wurde sogar argumentiert, „daß Naumanns Gesellschaftsanalyse einer großbetrieblichen Realität alles andere als imperialistische Begeisterung ist. Nicht der Imperialismus führt Naumann zum Großbetrieb, sondern – wenn überhaupt solche vereinfachenden Formeln zulässig sind – der Großbetrieb diesen zum Imperialismus“.26 Zu solcher Herkunft der national-imperialen Überdehnungen im Denken Naumanns aus stets primär national-sozialer Denkwelt passt auch seine folgende Diagnose: „Deutschland ist nicht nur auf dem Wege zum Industriestaat, sondern zum Organisationsstaat überhaupt“ (IV: 603), was schon für die Nationalstaatsbildung der Bismarckära zu bedeuten hatte: „Deutschland organisiert sich als politischer Großbetrieb“ (IV: 34). Diesbezüglich nahm er sogar als Teilaspekt fast schon ein späteres Stichwort des sozialdemokratischen (wohlbemerkt anti-imperialistischen) Theoretikers Rudolf Hilferding vorweg, wenn Naumann es auch zunächst auf die Formierung der Klassengegensätze bezog: „Je länger der Kampf dauert, desto mehr wird sich der Kapitalismus organisieren“ (IV: 367). Innerhalb einer Tendenz zur „Demokratisierung des Wirtschaftslebens“ (II: 116) sah Naumann die antagonistischen Organisationskräfte zunehmend auf dem Weg zur Rationalisierung der Konfliktmuster: „Das Wahrzeichen des Industriestaates wird der Tarifvertrag sein“ (III: 68). Durch sein früheres Berufsengagement auch in der evangelischen Sozialarbeit hatte Naumann – anders als viele Gelehrte und vorwiegend nur in bürgerlichen Kreisen verkehrende, sonst lediglich Wahlreden vor gemischterem Publikum haltende liberale Parlamentarier – einen aufmerksameren Blick für den Einfluss der Massenstimmungen: „Alle großen Wahlkämpfe werden, genau genommen, von den unpolitischen Menschen entschieden“ (II: 393). Da Naumann immer wieder auf seinen – 1897 zugunsten der Politik und Publizistik aufgegebenen – Beruf als Pfarrer fokussiert worden ist, sei vorab auch noch sein Hinweis aus der linksliberalen Tätigkeitsperiode seit 1903 zitiert: dass es nämlich anders als den politischen Katholizismus in Gestalt der Zentrumspartei „einen politischen Protestantismus ... nicht geben kann“, was für ihn jenseits praxisbezogener auch weltanschauliche Gründe hatte: „Der Protestantismus ... trennt himmlische und irdische Dinge; er kennt kein geistliches Recht, welches die weltlichen Rechte 25 Gilg, Erneuerung, S. 205. So auch Spael, Verhältnis, S. 87: „Nach Begriffen und Ausdrücken brauchte ein Publizist wie Naumann nie zu angeln.“ 26 Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990, S. 269 (in der systematischen Durchdringung und der instruktiven Gegenüberstellung zum New Liberalism in England wohl die am meisten anregende Studie zum hier behandelten Thema).

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hemmt und bindet“ (IV: 60 f.). Folglich wird in wesentlich anderen Bereichen als denen von Theologie und Religion nach einer seine zeitgenössische und fortwirkende Bedeutung ausmachenden ‚Konfession‘ von Naumann gesucht werden müssen.

2. Die Entwicklungsgesetze der wachsenden Zahlen und die Technik als neuer Weltlogos Dass Naumann stets auch eine besondere politische Konfession vertreten hat, gibt in den drei Hauptperioden seines öffentlichen Engagements anscheinend kaum Rätsel auf: Als junger Christlich-Sozialer publizierte er 1889 einen „Arbeiter-Katechismus“ (V: 1–63). Das in Frage-Antwort-Form gefasste Programm seines National-Sozialen Vereins erschien 1897 als „National-Sozialer Katechismus“ (V: 199–233). Seinen Beitrag zur Weimarer Verfassungsdebatte, den er unter dem Titel „Versuch volksverständlicher Grundrechte“ vorgelegt hatte, wollte Naumann noch als sozialliberaler DDP-Vorsitzender Ende Juli 1919 im Sinne eines „volkstümlichen Staatskatechismus“ verstanden wissen.27 Er hat also zeitlebens durch seine Wortwahl dazu beigetragen, dass er auch nach seinem Ausscheiden aus kirchlichen Diensten, im nationalsozialen und seit 1903 parteiliberalen Wirken, als der vormalige Pfarrer mit der inneren Berufung zur Politik galt. Der Sozialprotestantismus, bereits in Naumanns früher Tätigkeit in der Inneren Mission Hamburgs angelegt, erscheint zunächst als ein roter Faden seines Weges. Eine relative Kontinuitätslinie auch seiner politischen Grundauffassungen unterstrich Naumann später mit dem Hinweis, er habe nie als „Mitglied der Stöckerschen Partei“ angehört, zumal er selbst „religiös von der Universität her mehr liberal gewesen“ ist (I: 753 f.). Anlässlich der Kartellwahlen Anfang 1887 ist freilich noch eine Bismarck-freundliche Nähe zu den Nationalliberalen überliefert.28 Doch findet sich in den späten 1880er Jahren bereits Naumanns Bekenntnis, 27 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 329, 71. Sitzung v. 31. Juli 1919, Berlin 1920, S. 2190. Das bezog Naumann dort auf den „volkspädagogischen Zweck der Grundrechte“, wenn „jeder junge werdende Bürger ein Exemplar der Verfassung in die Hand bekommt“. Aber er steuerte zu deren Entstehung auch einen „Versuch volksverständlicher Grundrechte“ (II: 577) bei, den im Detail vorzustellen schon mangels umfassenden Einflusses auf die Normierung hier nicht der Ort sein kann (alle drei Hervorhebungen des Wortes – bzw. der Worthälfte – Katechismus durch mich, D.L.) 28 Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit (1937), 3. Aufl. München 1968, S. 74; zum 100. Geburtstag Bismarcks formulierte Naumann 1915

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es gelte „Rechtsgleichheit, Religionsfreiheit, parlamentarisches Verfahren“ als „Errungenschaften“ des „politischen Liberalismus“ festzuhalten (I: 166). In einer Arbeiter-Predigt verkündete er 1888 sogar als Glaubensbotschaft „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ (I: 65), empfahl also dort recht offen die Grundwerte der Französischen Revolution in egalitaristisch modifizierter Reihenfolge. „Wir stehen links, und er stand rechts“ (I: 762), hat folglich rückblickend Naumann pointiert die Differenz des reformprotestantischen Gesinnungskreises zum Konservatismus des Hofpredigers Stöcker markiert.29 Ein zweiter, vordergründig ganz unkonfessioneller Kontinuitätsstrang ist bislang zu wenig beachtet worden und soll hier deshalb einmal näher betrachtet werden. Das Studium der Theologie begeisterte Naumann offenbar wenig, so dass ein Brief an die Eltern das persönliche Bekenntnis enthielt: „Es ist am Ende doch Mathematik mein Feld“. Diese mathematische Neigung bestätigte er gleichermaßen aus der Rückschau: „Meine Jugendliebe hat diesem Fach gehört, und ich war nahe daran, es zu studieren“. Die letztlich andere Entscheidung war herkunftsbedingt: „Was mich zur Theologie brachte, waren Wunsch und Tradition der Familie und lebendige Vorbilder, die ich vor Augen hatte.“30 Sein Vater Friedrich Hugo Naumann war seit 1854 Pfarrer in Störmthal bei Leipzig, und der Großvater mütterlicherseits Johann Friedrich Ahlfeld predigte seit 1851 sogar in der Leipziger Nikolaikirche.31 Dem Vater hielt er schon 1885 im freimütigen Eingeständnis des Glaubenszweifels entgegen: „Das einzige, worauf

pointiert kritisch: „Der Reihe nach waren ihm fast alle Gruppen einmal Reichsfeinde, denn er war ja das Reich“ (V: 538). 29 Insofern kann in der materialreichen Darstellung von Theiner, Sozialer Liberalismus, das Herauslesen „deutlicher Parallele zu Adolf Stoecker“ (S. 17) nicht überzeugen. Dieser Autor zitiert selbst dann Stoecker, der 1895 seiner eigenen „sozialkonservativen Seite“ die Orientierung Naumanns nach der „liberalsozialdemokratischen“ hin gegenüberstellt (S. 42). Dass offenbar vom Autor zugrunde gelegte altliberale Vorstellungen „frei raisonnierender Privatleute“ nicht einmal Weber und schon gar nicht Naumann im Zeitalter der Großorganisationen und Massendemokratie befriedigten, kann nicht ernstlich die Unterstellung tragen, eine „gewaltsam geeinte Nation“ und damit „ein Strukturmerkmal der europäischen Faschismen“ begünstigt zu haben (S. 69 f.). Hingegen bestätigte der sozialreformerische Katholik Carl Sonnenschein das Selbstbild des sozialliberalen Kulturprotestanten: „Freilich steht Naumann links, weit links, und Christus ist für ihn kaum noch der wahre Sohn Gottes. Seine Ewigkeit und Allmacht ist zum Bilde verflüchtigt“ (zit. nach Spael, Verhältnis, S. 79) – das Credo des ‚linken’ Progressismus hatte so gesehen längst auch den Kirchenglauben verdiesseitigt. 30 Zit. nach Heuss, Naumann, S. 45. 31 Ebd., S. 35.

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es ankommt, ist Erkenntnis von Tatsachen.“32 Am sichersten fühlte sich der Sohn, der sich zu einer traditionelle Glaubenslehren verbreitenden Seelsorge offenbar nicht berufen fühlte, auch künftig in der gesellschaftsanalytischen Zahlenwelt. So ermittelte er aus dem Totenregister einer Industriegemeinde die erschreckenden Ziffern, dass in den 1880er Jahren 90 % aller Sterbefälle das Alter bis 60 betrafen, während dieser Anteil in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht konstant um 80 % lag (I: 135). Als junger Pfarrer, der zehn Jahre darauf mit einem Jahresgehalt von 4500 Mark ausscheiden sollte33, analysierte er sächsische Einkommensteuerlisten, die ihm die eigene privilegierte Existenz verdeutlichten; dies bildete sicher für sein vielzitiertes Diktum, „daß nur der frei sein kann, der weiß, wovon er die nächsten vier Wochen lebt“ (IV: 181), einen konkreten sozialstatistischen Hintergrund: 45,5 % der Erfassten zählten zu den „ganz Armen“ unter jährlich 500 Mark, auch weitere 28 % lebten noch in „Armut“ bis 800 Mark, erst 23,5 % darüber bis 3300 Mark reichten von einer bescheidensten kleinbürgerlichen Existenz dann weiter in den „Mittelstand“ hinein (I: 154); und nur die verbleibenden 3 % höheren Einkommen konnten – wie ein nach zahlreichen Dienstjahren avancierter Pfarrer – dem Bildungsoder Besitzbürgertum zugerechnet werden. Auch als politisch-konfessioneller Statistiker betätigte sich Naumann frühzeitig, indem er z.B. für die Reichstagswahl 1887 den sozialdemokratischen Stimmenanteil in überwiegend evangelischen Gebieten mit immerhin 16,1 % ermittelte, während es in katholischen nur 2,5 % waren (I: 113).34 Schon in seinem Arbeiter-Katechismus von 1889 verkündete Naumann am „Vorabend einer neuen Zeit“ den Weg in „die neue Welt“ (V: 45); er propagierte den „freien Sonntag“ auch jenseits christlicher Motive profan als jenen Tag, „an dem die alte Körpermaschine wieder einmal neu geölt wird“ (V: 34). Das war eines der zahlreichen, nicht allein für den frühen Naumann typischen 32 Zit. nach ebd., S. 62; Marianne Weber, Max Weber, hob ganz in diesem Sinne auch für spätere Zeiten „Naumann’s ungeheure Sachlichkeit“ und den positiven Eindruck hervor, er sei „nicht nur ein begeisternder Prophet, sondern auch von jener ‚heiligen Nüchternheit‘, die das Konkrete nach seinen eignen Möglichkeiten zu erfassen und zu gestalten sucht“ (S. 233 u. 143). 33 Heuss, Naumann, S. 113; solche 4500 Mark Jahresentnahme wurden auch für Naumanns Leitung seiner Zeitschrift Die Hilfe nach dem Ende seiner Pfarrerstätigkeit (1897) vorgesehen; vgl. Ursula Krey, Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000, S. 115–148, hier S. 135 f. 34 Auch 1918 war er noch überzeugt: „Jeder Wahlkreis muß zuerst statistisch studiert werden“ (V: 726). Bereits zu den Reichstagswahlen 1903 wurde die Kandidatur Naumanns nach sozialstrukturellen Gesichtspunkten lokalisiert, vgl. Düding, Verein, S. 175.

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Sprachbilder; aber schon 1893 erschien der für seinen Fundamentalmodernismus richtungsweisende Schlüsseltext Der Christ im Zeitalter der Maschine (I: 311–322). Damit meinte er ausdrücklich „den ganzen Fortschritt der modernen Technik. Auch Telegraph und Telephon, auch elektrische Übertragung und komprimierte Luft sind in diesem Sinne ‚Maschine‘“ (I: 311). Wie über den politisch-kulturellen urteilte Naumann auch über den zivilisationskritischen Konservatismus distanziert: „Alle Seufzer der Christen haben den Fortschritt nicht hemmen können ... Gott will den technischen Fortschritt, er will die Maschine“ (I: 315). Durch sie entstehe die neue „internationale Gemeinschaft, ein zunächst wirtschaftliches Zusammenleben aller Teile der Erde“, die auch „Grundlage einer Ideengemeinschaft werden“ könne; erst dieser universalisierte technische Fortschritt gestatte es, die „Armut aus der Welt zu schaffen“ (I: 318). Wenn sich der „Industriearbeiter“ zunächst geradewegs als entfremdeter „Maschinenteil“ empfinde, möge er gewissermaßen die Maschine zum Sozialprotest ermutigend sprechen hören: „Ich bin zufrieden, wenn du acht Stunden an mir stehst, halte dich an die, die dich länger an mich fesseln!“ (I: 320). Nicht nur den Achtstundentag der Mai-Internationale, auch die Verbreitung der Informationen und Meinungen sah er durch neue Zivilisationstechniken forciert: „Habt ihr einmal gesehen, wie die fertigen Zeitungen in die Körbe hineingesprudelt werden?“ (I: 312). Geradezu visionär – und dabei vielleicht auch eine verborgene ‚Konfession‘ in modernen ökologischen Weltsichten vorwegnehmend – klingt Naumanns kühner Vorgriff auf die Solartechnologie: „Ja selbst die Sonnenstrahlen sollen nicht mehr ohne Dienst und Arbeit in diese schaffenseifrige Welt hineinstrahlen dürfen wie spielende Kinder, man will sie auf großen Dächern ... fangen, verwandeln und in Sammelapparate leiten“ (I: 313). Dies alles voranzubringen erschien ihm nun geradewegs als innerweltlicher Gottesdienst, wie er im gleichen Jahr auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß bekräftigte: „Wir müssen an Fortschritt glauben, sonst sind wir lahm vom ersten Moment an“ (I: 338). Solcher geradezu zahlen- und technikgläubiger Fundamental-Progressismus ist also jenes geistige Band, das über alle tagesaktuellen Akzentverschiebungen hinweg die unterschiedlich bezeichneten politischen Katechismen Naumanns verknüpfte.

3. Zwischen demokratischem Sozialismus und nationalem Machtstaatsdenken Ein nur „evangelisch-soziales“ Selbstverständnis lag dem erklärten Verfechter „eines christlichen Sozialismus“ (I: 402) ferner, denn für ihn „überwiegt der Anschluß an das Urchristliche“ (I: 420). Dabei grenzte er sich auch klar von

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Stöckers ressentimentgeleiteter Propaganda ab: „Jesus war nicht Antisemit, er war Hilfe für alle“ (I: 417). Naumann bezog sich auf Jesus als Volksmann (I: 371–388), wie ein zweiter Schlüsseltext dieser Schaffensperiode betitelt war.35 Auf die Frage: „Was sollen wir studieren, um in Ihrem Sinne arbeiten zu können“, gab er zunächst „keine andere Antwort als ‚Marx und Christus‘“ (I: 357 f.). Insofern war es nur teilweise ideologiekritisch gemeint, wenn er „die Sozialdemokratie“ als „die erste große evangelische Häresie“ bezeichnete und hinzufügte: „Sie ist innerweltlicher Chiliasmus“ (I: 336). Schon 1890 hatte er durchaus mit Respekt beobachtet: Es „dringt Bebels Buch von der Frau in jede Industriestelle – wer trägt etwas Besseres hinterdrein?“ (I: 279). Von der Sozialdemokratie wollte Naumann den „Gesichtspunkt ‚von unten her‘“ (I: 346) ebenso übernehmen wie den aufstiegsorientiert vorwärtstreibenden Aufklärungshabitus: „Die Sozialdemokratie hat einen Teil unseres Volkes denken gelehrt, der bis dahin träumte“ (V: 85), und das bedeutete zugleich: „Die Sozialdemokratie ist Geistesmacht ... Der denkende Mann unter den Besitzlosen ist es in erster Linie, für den die Sozialdemokratie schreibt, während wir in unserer christlichen Volksliteratur zu einem großen Teile für die Frauen und Kinder schreiben“ (I: 115). Allerdings glaubte Naumann 1894 noch an eine weitere Stufe des Fortschreitens der weltanschaulichen Grundrichtungen: „Wie die Sozialdemokratie den Liberalismus beerbte, so wird das Christlich-Soziale die Sozialdemokratie beerben“ (I: 343). Dass von allen politischen Zeitgenossen der 1890er Jahre wohl August Bebel den größten Eindruck auf Naumann machte – im Arbeitszimmer hing gar ein Bild des politischen Rivalen –, hatte auch Gründe der regionalen Herkunft. Rückschauend erwähnte Naumann, wie er „schon fast als Kind von den sozialistischen Bewegungen des sächsischen Erzgebirges mit durchgerüttelt wurde“ (I: 870). Er hatte sich in seinem Urteil „nicht nur an Bücher und gelb gewordene Papiere zu halten, denn ich habe meine Jugend in Bebels ältestem Wahlkreis Glauchau-Meerane verlebt“ (IV: 77). Von dortiger Pfarrstelle nahe Glauchau war Naumann 1890 zur Inneren Mission nach Frankfurt am Main übergesiedelt, was seine industriell-sozialistisch beeinflusste Denkwelt um Erfahrungen aus einer geistig-politisch fortschrittlichen Handelsbürger-Stadt ergänzte. „In Frankfurt a.M. ist Humanität, was in Sachsen Konfessionalismus ist“ (I: 442), charakterisierte er 1895 Aspekte der neuen Begegnung mit zwar nicht im marxistischen Sinne sozialistischer, aber teilweise in der Tradition der Frankfurter Zeitung sozialliberaler Demokratie. „Wir arbeiten nicht für den bestehenden 35 Die Broschüre in der „Arbeiterbibliothek“ erschien mit einer Auflage von 90.000: Max Weber Gesamtausgabe. Abt. I, Bd. 5, 1. Halbbd., Hg. Knut Borchardt, Tübingen 1999, S. 131.

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Staat, auch nicht für den Zukunftsstaat, sondern für den werdenden Staat“ (V: 65), lautete nun sein dezidiert reformistisches Credo. Dieses anerkannte eine „Vermehrung der Staatstätigkeit als geschichtliche Notwendigkeit“, auch weil „die große Volksgemeinschaft ein Stück nach dem anderen von Familie und Gemeinde übernehmen muss“ (I: 254).36 In einem klärungsbedürftigen Verhältnis dazu stand im Folgejahr die von Naumann in seiner „Eröffnungsrede“ zur Gründung der Nationalsozialen als „unsere politische Konfession“ vertretene Maxime, eine „Politik der Macht nach außen und die soziale Reform im Innern“ zu verbinden (V: 257). Allerdings bedeutete dies in der Innenperspektive auch einen gewollten Brückenschlag, denn es wurden entgegen der tatsächlichen Zusammensetzung seiner Gefolgsleute auch „Katholiken“ und „Israeliten“ zum Beitritt im Sinne der Leitsätze eingeladen (V: 232 f.). Schon vor der Jahrhundertwende fanden sich bei Naumann jenseits dessen, was auch sein wohlwollender Biograph Theodor Heuss mit „fröhlicher Tirpitzgläubigkeit“ in der national-sozialen Flottenpropaganda kritisch aufspießte37, durchaus andere Zwischentöne. „Große, sichere Nationen können und müssen großherzig gegen Fremde sein“ (IV: 428) – das klang bereits in Ansätzen nach jenem geläuterten Naumann, der sich zuletzt für die Weimarer Verfassung u.a. diesen kategorischen Imperativ als Programmsatz wünschte: „Wir behandeln unsere Ausländer so, wie wir wünschen im Ausland behandelt zu werden“ (II: 578). Schon 1899 skizzierte er, den „sozialdemokratischen Internationalismus“ österreichischer Prägung erwähnend, künftige supranationale Institutionenbildung: „Aus dem alten kosmopolitischen Gedanken der Völkerverschmelzung wird ein neuer Gedanke: die gemeinsame obere Organisierung getrennt bleibender Nationalitäten!“ (IV: 420 f.). Wenn Naumann, darin Max Weber teilweise folgend, die „Weltmachtsidee“ mit zur „Voraussetzung allen sozialen Fortschrittes“ (V: 253) erklärte, so nannte 36 Naumann ist aber kein (Mit-)Schöpfer einer (inklusiven) „Volksgemeinschafts“-Terminologie, er sprach auch ohne klare Abgrenzung von der „Volksgesellschaft“ (I: 405), so wie umgekehrt bekanntlich Max Webers Hauptnachlass postum als „Wirtschaft und Gesellschaft“ publiziert wurde, während aber z.B. Hans-Peter Müller, Max Weber, Köln 2007, S. 117 konstatiert: „Webers Soziologie ist eine Wissenschaft ohne ‚Gesellschaft’“, denn es ging ihm letztlich entgegen späteren Rezeptionslinien noch primär um (akteurs- und nicht strukturzentrierte) „Handlungswissenschaft“. 37 Heuss, Naumann, S. 146; dabei ist zu bedenken, dass sogar Theodor Barth in Briefen zu Jahresbeginn 1900 mit dem Leitmotiv: „alles was auf dem Meer vor sich geht, ist antiagrarisch und antijunkerlich“, die Schlachtflotte zur Flankierung der Freihandelspolitik vorsah, auch wenn das Fazit seiner politischen Biographin lautet: „Barth war im Gegensatz zu Naumann eine unwilhelminische Erscheinung“; zit. nach Konstanze Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung, Tübingen 1968, S. 71 u. 139.

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er zugleich als „die Grundbedingung allen deutschen Fortschritts eine Umformung des Verhältnisses von Regierung und Volksmenge“ (V: 241); er dämpfte Weltmacht-Träumereien „unseres Imperialismus“ (V: 254) in nüchternem Blick auf Zahlen: „Wir haben mit unseren 53 Millionen für eine Weltmacht zu wenig und für einen Kleinstaat zu viel“ (V: 236). Woran Naumann offenbar jenseits der Militärpolitik primär dachte, hat er im nationalsozialen Programm von 1896 deutlich formuliert: „Der Kampf um den Weltmarkt ist ein Kampf ums Dasein“, und darin sei „ein internationaler Sozialismus aussichtslos“, weil „der Fortschritt eines Volkes vom Rückgang eines anderen abhängig ist“ (V: 203). Auch wenn solche Rückstufung relativ zum Gesamtfortschritt der Menschheit gemeint sein konnte, war dieses Argument dennoch erstaunlich, denn er lehnte gleichzeitig z.B. aggressive Schutzzollpolitik gegen Konkurrenten ab und verteidigte bald unter dem Einfluss Lujo Brentanos den Freihandel zugunsten des verbilligten Massenkonsums als Gemeinsamkeit mit der Sozialdemokratie. Zum fiskalischen Ausgleich der Beseitigung von Zöllen u. dergl. müsse „man auf die größeren Einkommen die jetzige Belastung achtfach bis zehnfach machen, d.h. eine Progression der Steuern bis zu 30 oder 40 % des Einkommens herbeiführen“ (III: 516).38 Ferner verlor etwaiges Motiv, der SPD mit nationalsozialem Tonfall das Arbeiterpublikum abwerben zu wollen, mit offensichtlichem Scheitern rasch an Bedeutung, und Naumann setzte dann auf innersozialdemokratischen Reformismus. Für ihn verzeichneten nicht allein Revisionisten, sondern auch Pragmatiker wie der neben Bebel zumeist unterschätzte Organisationsleiter Ignaz Auer einen Umbruch der Einstellungs- und Handlungsmuster: „Politik ist Taktik, Ideen sind Mittel zum Zweck, eine große Partei ist eine große Maschine“ (IV: 321). Dort seien nunmehr die „Grundbegriffe in Veränderung“ geraten: „Revolutionär heißt soviel wie langsam umgestaltend, international heißt soviel wie ‚auch national’, Elend heißt soviel wie langsames, zögerndes Aufsteigen, Zukunftsstaat bedeutet ganz allgemein bessere Zeiten“ (IV: 323). Zum organisatorischen Zentrum des Reformismus ließ er die Prognose erkennen,

38 Die seinerzeit viel gelobte Miquelsche Steuerreform der frühen 1890er Jahre führte in Preußen nur eine Progression von 0,62 % Steuersatz beginnend mit 900 Mark steuerpflichtigen Jahreseinkommens bis zu 4 % über 10.000 Mark ein, wobei allerdings Kommunalsteuern hinzutraten. Was Naumann vorschwebte, brachte erst der Erzberger-Tarif 1920 (Einkommensteuer bis 60 %) als Folge der Kriegslasten. Auch Theodor Barth, Was ist Liberalismus?, Berlin-Schöneberg 1905, S. 17, befürwortete die Erhöhung der Steuerquoten: „Je mehr der Liberalismus den Charakter einer wirklichen Fortschrittspartei annimmt, wird er geneigt sein, auf allen Gebieten des staatlichen Lebens reformatorisch aufzutreten und demgemäß auch erhöhten Steueraufwendungen zuzustimmen.“

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„daß die Führer der Gewerkschaften die zukünftigen Führer der Sozialdemokratie sein werden“ (IV: 83). An Naumanns Buch Demokratie und Kaisertum39 von 1900 ist weniger das monarchische als das demokratische Bekenntnis im Zeitkontext auffällig. Einleitend zur SPD betonte er nun gegen Kautskys „katechismusartige Lehre“ (II: 10), dass in Bebel auch der „reformatorische Realismus“ gewachsen sei und wohlverstandener Patriotismus nicht Kritiklosigkeit bedeute: „Bebels jährliche Rede über Soldatenmißhandlungen ist eine vaterländische Tat“ (II: 316), zumal sich dessen eigene politische Formation bestens organisiert darbiete: „Nie bis jetzt in der Weltgeschichte ist eine große Volksbewegung so diszipliniert entstanden wie der demokratische Sozialismus in Deutschland“ (II: 32). So wie der SPD die „Demokratie als Voraussetzung des Sozialismus“ (II: 6) gelte, hänge umgekehrt die „weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland ... tatsächlich von der Entwicklung der Sozialdemokratie ab“ (II: 36). Für Naumann war „Demokratie“ nicht nur der Anspruch, das Reichstagswahlrecht unter dem Motto „Die Zahl ist Macht!“ (II: 84) endlich zu parlamentarisierender Geltung zu bringen, sondern zugleich „der politische Ausdruck für die Bestrebungen der neudeutschen industriellen Masse“ (II: 39). Die zivilisationskritisch missdeutbare Frage: „Was ist der einzelne unter Millionen von Lohnarbeitern?“, beantwortete der Autor ganz im Geiste seines mathematisch inspirierten Progressismus: „Es lebe die Zahl!“ (II: 83). Komplementär dazu gehe im Bürgertum die „nachahmende Form der neuen Aristokratie ... zu Ende und macht einer Generation Platz, in der man sich lieber Herr Kommerzienrat nennen läßt als Herr Baron“ (II: 178 f.). Aus erstmaligem reichsstatistischem Übergewicht des gewerblichen zum agrarischen Sektor im Verhältnis von gut 39 zu knapp 36 % wollte Naumann die frohe Botschaft herauslesen, „daß schon 1895 der Sieg des industriellen Teiles ziffernmäßig hervortrat“ (II: 42). Für die Gesamtbevölkerung lautete seine Hochrechnung aus dem Überschuss der Geburten über die Sterbefälle 65 Millionen 1910 und 74 Millionen 1920. „Um leben zu können, müssen wir industriell fortschreiten“, lautete seine Konsequenz: „Wir müssen vorwärts, solange wir ein wachsendes Volk sind“ (II: 46 f.). Dafür erschien der Rohstoff-Kolonialismus nun allmählich überholt, hingegen eine qualifizierte Exportoffensive zukunftsträchtiger. „Die Preise aller gewöhnlichen Stapelartikel sind genau so berechnet, daß sie für Humanität und Wohlfahrt keinen Platz gewähren“ (II: 52 f.), begründete Naumann daraufhin sein Plädoyer für eine hochtechnisierte Qualitätsproduktion mit gut ausgebildeten Arbeitskräften. Der

39 In fünf Jahren seit Erstauflage 1900 wurden 25.000 Exemplare gedruckt: Gilg, Erneuerung, S. 191/Anm. 193.

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forcierten „Industrialisierung“ gemäß „bis in jede Faser modern“ zu sein, war nunmehr im materiellen Kern für ihn „unsere nationale Frage“ (II: 56). Schon 1889, im Jahr der großen Streiks in den Ruhrbergwerken, rief Naumann den Arbeitern zu: „Schafft euch neue Bedürfnisse an!“ (V: 43). Sich auf der sozialdemokratischen Gründungsfigur Ferdinand Lassalles Diktum von der „verfluchten Bescheidenheit“ beziehend, vertrat Naumann auch in späteren Werken die Kaufkrafttheorie des sozialökonomischen Fortschritts, fern aller puritanischen Askese: „Wo flott verdient und verbraucht wird, ist Arbeitsgelegenheit“ (IV: 617). In einer Übertragung des Majoritätsgedankens auf die Wirtschaftskonflikte argumentierte er sogar, „daß Lohnpolitik nicht eine Klassenpolitik in demselben Sinne ist wie etwa Grundrentenpolitik, da die Lohnklasse den Durchschnittstypus des Volkes darstellt“ (II: 44). Im Wesen aller Politik liege es, „daß sie ein Kampf von Mächten um Gewinnung von Rechten ist“ (II: 72). Seinen Buchtitel „Demokratie und Kaisertum“ präsentierte der Autor daher keineswegs harmonisierend: „Demokratie ist politische Herrschaft des Mehrheitsprinzips, Kaisertum ist nationale Herrschaft des Einen. Zwischen diesen zwei politischen Prinzipien gibt es keine endgültige formale Aussöhnung“ (II: 272 f.). Jede Zwischenform konnte für ihn nur ein Transitorium von der einen in die andere Grundordnung sein: „Der Konstitutionalismus ist kein Prinzip, sondern ein Kompromiß, aber auch nicht mehr als das. Die Monarchie ist ein Prinzip, die Demokratie ebenfalls, der Konstitutionalismus ist eine aus beiden entstehende Wirklichkeit“ (II: 80 f.). Naumanns Projektion des Kaisertums zielte auf die Ablösung vom preußischen Königtum und eine Begrenzung auf die Außenpolitik. Innenpolitisch sah er die „Majoritätsbildung als das Ziel der demokratischen Entwicklung“; dabei müssten „wir nun die Parteien als notwendige Zwischenkörper zwischen der Wählermasse und der angestrebten regierungsfähigen Majorität betrachten lernen“ (II: 90). Einen seinerzeit gerade in bürgerlichen Kreisen verbreiteten Anti-Partei-Affekt teilte er überhaupt nicht: „Die Partei ist eine notwendige Lebensform des heutigen Staates“ (IV: 214). Die Zentrumspartei attackierte Naumann weniger für ihren Katholizismus als in der Nähe zu den Agrarkonservativen und als Hemmnis eines klaren Links-Rechts-Zweilagersystems: Es vereine in sich „das Zentrum die allerverschiedensten Leute“, und dadurch „entsteht eine Verdunkelung aller politischen Probleme“ (IV: 62). Tatsächlich habe man aber „schließlich nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen politischen Kulturen“, und das konnte für ihn nur die antikonservative Entscheidung für „eine Politik der neuen zukünftigen Linken“ sein (IV: 74). Hinsichtlich seiner Thesen erwartete er „absoluten Gegensatz von der konservativen Herrschaftsklasse“, doch galt vor allem: „Ohne Kampf ... kann nie ein Schritt vorwärts getan werden. Es lebe der Kampf!“ (II: 351), wobei der „politische Kampf“ für

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ihn sogar „mein Beruf ist“ (I: 568). In diesem Sinne erschien ihm der Pazifismus als irreal: „Leute, die doch sonst Darwin und Marx kennen, machen sich von diesem faulen Zauber nicht frei!“; allerdings sah Naumann die Kriegsvermeidung durch organisierende Machtpolitik als möglich an: „Der Weg zum ewigen Frieden führt über die Entstehung von größeren Machtzentren“ (II: 308). Das war eine analoge Konfliktregelungsidee über – auch gegenseitige Herrschaftsansprüche abschreckende – organisierte Machtkonzentration zur Vermeidung diverser ‚Kleinkriege‘, wie Naumann sie innergesellschaftlich mit Tarifvertragssystemen und Ansätzen von ‚Wirtschaftsdemokratie‘ skizzierte.

4. Wirtschafts-, gesellschafts- und kulturpolitische Fortschrittsakzente Das umfangreichste Werk Naumanns blieb die Neudeutsche Wirtschaftspolitik (III: 71–534), das auf Vorträge aus dem Jahre 1902 zurückging.40 Dort bezeichnete er weltwirtschaftliche Zusammenhänge als das „’Ding an sich’“ hinter Oberflächenerscheinungen wie der Preisbildung, die „niemand in mathematischen Formeln wird ausdrücken können, obwohl sie ihrem Wesen nach mathematischen Charakters sind“ (III: 220). Es werde sich aber zunehmend „eine Menschheitsarbeitsteilung einrichten, in der die ganze Menschheit sozusagen eine einzige Stadt ist!“ (II: 276). Auch wenn das Kantsche „Ding an sich“ einer solchen Weltökonomie für ihn nicht gewissermaßen nach Darwinscher Entwicklungslogik vollends zu enträtseln war, zweifelte Naumann weiterhin nicht an der Wirkungsmächtigkeit im Selbstlauf: „Die neue Zeit kommt mit uns oder gegen uns, sie lacht nicht einmal über uns, wenn wir sie nicht wollen“ (II: 80). Gerade weil der Bevölkerungs- und überwiegend auch der Produktivitätszuwachs aus der Hochindustrialisierung resultierte, deutete er diese neue Zeit sozialprogressiv: „Man hat bis jetzt die soziale Frage viel zu einseitig als bloße Frage materieller Versorgung angesehen, sie ist im Großbetrieb einfach die Frage des Menschenrechtes“ (III: 428). Insofern war für Naumann der reformistische „Sozialismus ... derselbe Vorgang im Kapitalismus wie Liberalismus im Staat ... Kapitalismus ist die aristokratische Auffassung desselben Wirtschaftslebens, dessen demokratische Auffassung 40 Die Monographie erreichte seit 1906 insgesamt eine Auflage von 17.000 (III: XIV). Zum Vergleich ist wichtiger als beim (zur Jahrhundertwende krankheitsbedingt schweigsameren) Max Weber, was in einer Antikritik zu Agrarkonservativen Lujo Brentano, Die Schrecken des überwiegenden Industriestaats, Berlin 1901, im Sinne von Naumanns Industrialisierungs-Progressismus vorformuliert hat.

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Sozialismus heißt“ (III: 440). Über aktive Sozialpolitik hinaus favorisierte Naumann ersichtlich den Munizipalsozialismus41, indem er die „Elemente der zukünftigen Großstadt“ wie „Bauquadrate“, „Warenhäuser“, „leichtester und billigster Verkehr zwischen den verschiedenen Stadtteilen“ in gemeinwirtschaftlicher Weise geregelt sehen wollte: „Für alle drei Sachen empfiehlt sich der kommunale Betrieb“ (VI: 405). In sein bekanntes sozialemanzipatorisches Motto, dass aus Untertanen gleichberechtigte „Staatsbürger“ und künftig auch „Industriebürger“ werden sollten (II: 57 u. 60), bezog er allmählich die Frauen ein.42 Während Naumann als Christlich-Sozialer 1889 noch die traditionelle Sicht verkündet hatte: „Die Mutter gehört ins Haus!“ (V: 38), propagierte er nunmehr als Sozialliberaler das Gegenteil: „Die Frau muß auch auf Arbeit gehen!“ Die Einwände dagegen seien „nichts als Geplapper“ jenseits der Lebenswirklichkeit: „Man sagt ihr, sie solle sich an der Erziehung ihrer Kinder genügen lassen. Aber wie kann jemand erziehen, der nichts erlebt?“ (III: 113 f.). Dass ihn dabei keineswegs nur ökonomische Beweggründe leiteten, verdeutlichte Naumann mit seinem zugleich außerfamiliären Sozialisationskonzept; „wir müssen die sozialen Motive stärken, indem wir die Last der Kindererziehung wieder mehr zur Sache der Gemeinschaft machen“ (III: 110). Die primäre Weltmarktkonkurrenz sah Naumann jenseits des Atlantiks: „Entweder wir oder die Nordamerikaner werden das erste Maschinenland der Zukunft“ (V: 345). Er hat aber später hinzugefügt, es sei „nicht wünschenswert, daß man den Ausnutzungsgrad der Arbeit so künstlich und übertrieben steigert, wie es das amerikanische Taylorsystem verlangt, weil das dem Menschentum selbst zu schädlich“ wird (IV: 615 f.). Naumann erwähnte den forcierten Konjunkturaufschwung der Jahre 1895 bis 1900 als Beschleunigungsfaktor eines Modernisierungsprozesses, den er zunehmend auch kulturell ausbuchstabierte. In der Berliner Sezession um Max Liebermann würdigte der ehemalige Pfarrer nun die „Ketzerei“, eine „undogmatische Kunst“ zu präsentieren (VI: 107 f.), „eine Kunst der Protestierenden, der Ungebundenen“ (VI: 113). So erschien ihm geradewegs auch ein solcher „Maler als Philosoph“ der Moderne: „was Spinoza uns gebracht hat, den Gedanken der Einheit von Bewußtsein und Erscheinung, das zeigt Liebermann nicht in Worten, sondern dargestellten Erscheinungen“ (VI: 161). Die von Naumann mit angeregte Gründung des 41 In seinem Mitteleuropa-Buch betonte Naumann, dass gerade auch „der Kommunalsozialismus als Experimentator der künftigen Betriebsweise auftrat“ (IV: 644). 42 Mit seinem Vorschlag, das aktive und passive Frauenwahlrecht 1910 im Vereinigungsprogramm zur Fortschrittlichen Volkspartei zu verankern, konnte er sich nicht durchsetzen, vgl. Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 201.

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„Werkbundes“ 1907 wurde von ihm demgemäß „mit den Sezessionisten der Maler verglichen“ gesehen und als „die Gewerkschaft der Kunstschaffenden gegenüber den Marktverderbern“ profiliert (VI: 263). Für die „Protzenhaftigkeit“ des Prunkstils mancher Bürgerwohnungen der Jahrhundertwende hatte er aus solchem Blickwinkel nur beißenden Spott übrig: „Da sitzen sie auf schweren Stühlen inmitten dunkel gebeizten Holzes unter dem Kronleuchter, der eine Kirche erleuchten könnte, und langweilen sich“ (VI: 225). Im gestalterischen Grundsatz, dass keine „Verdeckung der Gebrauchszwecke“ (VI: 267) mehr stattfinden sollte, fand sich bereits das Hinüberwachsen der Jugendstilperiode in die neue Sachlichkeit angedeutet, was jedenfalls den ästhetischen Historismus verabschiedete, denn Naumann war überzeugt: „Es ist unhistorisch, historische Stile zu wiederholen“ (VI: 282). Als das „edelste Wahrzeichen unserer Epoche“ (VI: 215), als „unvergleichliche Schöpfung“ (VI: 372) einer „Kunst im Zeitalter der Maschine“ (VI: 190) feierte Naumann seit einer Reise zur Weltausstellung im symbolträchtigen Jahr 1900 den Eiffelturm in Paris. Doch auch dieser konnte seinen kulturgeschichtlichen Progressismus nicht final befriedigen, denn man habe sich immer bewusst zu bleiben: „Das schönste ist nie vorhanden, sondern soll immer erst noch werden“ (VI: 230).43 Auch in den Tagen vor dem Beitritt zur Freisinnigen Vereinigung 1903 stellte Naumann anlässlich seiner – von den national-sozialen Vorstandskollegen und dann auch der betreffenden Ortsgruppe nicht geteilten – Stichwahlempfehlung zugunsten der SPD intern klar: er sei „um der Arbeiterbewegung willen in die Politik gegangen, nicht um irgendwelchen Bourgeois ihre Politik zu machen“.44 Den wohl nicht ohne Sarkasmus vertretenen ‚reinen Bourgeois‘-Standpunkt Webers hat also Naumann keinesfalls übernehmen wollen, zumal er auch künftig nur geistig und politisch den Liberalismus favorisierte: „Das, was wir als wirtschaftlichen Liberalismus erlebt haben, war kein akademisch reines System, es war ein System, dem ein Klasseninteresse der Arbeitskäufer seine Besonder43 Die persönliche Wahrnehmung von Marianne Weber, Max Weber, anlässlich eines Besuchs von Naumann in Rom: „Er empfindet jetzt zu ‚modern’, zu sozial und zu ökonomisch“ (S. 267), wird aus Naumanns Schriften nicht bestätigt, denn es gehörte für ihn „der Eindruck Roms mit dem Sonnenuntergang hinter St. Peter“ durchaus zu den besonderen Qualitäten (VI: 212). 44 Vorstandssitzung des Nationalsozialen Vereins am 19.7.1903, zit. nach Düding, Verein, S. 178, ebenso Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 123 f.; passend dazu musste Theodor Barth bei freisinnigen Parteifreunden sich gegen Bedenken durchsetzen, daß die „Naumann-Gruppe die eigene Partei zu sehr nach links drängen könnte“ (ebd., S. 126). Barth, Liberalismus, argumentierte im gesinnungsliberal-antikonservativen Sinne progressistisch: „Freiheit ohne Vorwärtsstreben gibt es nicht“ (S. 4), der progressive Liberalismus sei am treffendsten als „Fortschrittspartei“ zu bezeichnen (S. 6).

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heiten gab“ (III: 321). Eher schon wurde dann auch Weber dahingehend weiter beeinflusst, im Verein für Socialpolitik „gegenüber dem staatsmetaphysischen Historismus Gustav v. Schmollers auf einen schärferen sozialpolitischen und demokratischen Kurs“ zu drängen.45 Naumann orientierte selbst in einem Brief vom 28. August 1903 an den insoweit ähnlich denkenden – und als Gelehrter für Weber maßgebenderen – Lujo Brentano auf die Möglichkeit „eines Zusammenschlusses sozialliberaler Elemente“.46 Seine Gedanken zur „Erneuerung des Liberalismus“ präsentierte Naumann mit dem Ausgangspunkt: „Die meisten Anhänger der Sozialdemokratie sind im Grunde radikale Liberale. Diese hat der Liberalismus verloren, weil er nicht liberal genug war“ (IV: 273). Solche Versäumnisse hatten zur Fragmentierung in sozial und weltanschaulich vielgestaltige Lager beigetragen: „In Deutschland gibt es bisher viel kleinliche Rechthaberei, eine Art von politischem Konfessionalismus“ (IV: 276). Zu diesem Zeitpunkt sah er die Nationalliberalen im konservativen Bündnis und hielt ihnen die noch immer nicht überwundene Missachtung der Freiheit von Andersdenkenden seit dem Kulturkampf und dem Sozialistengesetz vor: „Erst unliberal gegen die Ultramontanen, dann gegen die Sozialisten!“ (II: 211). Für Naumanns Staatsverständnis galt ein „doppelter Grundsatz: 1. der Staat sind wir alle; 2. der Staat darf nicht alles“. Auf längere Sicht hieß das wie bei den Sozialdemokraten ebenso bei Naumann: „Der Gedanke führt letzten Endes zur demokratischen Republik“ (IV: 92). Auch für Naumann gab es parallel zu seiner pantheistisch eingefärbten Enttheologisierung schon bald nach der Jahrhundertwende nur mehr einen Vernunftmonarchismus. Ohne Marx und Darwin zu verleugnen, berief er sich nun im Sinne von Liberalismus „als geistiges Prinzip“ auf dessen Ursprünge „als Kantische Philosophie und als Schillersche Dichtung“ (IV: 291). Die Ethik Kants stellte dabei einen humanistischen Ausgangspunkt bereit: „Niemand soll ... nur Werkzeug für die Zwecke von anderen sein!“ (II: 56). Der Geist des „Protestantischen“ sei zwar „in Genf und Wittenberg geboren“, fand dann aber einen „wissenschaftlichen Höhepunkt in Königsberg“ (I: 826). Kants Vernunftlehre überwölbte für Naumann ersichtlich auch den Gottesbegriff: „Nenne man es Vorsehung oder Weltregierung oder Fortschritt oder ewige Liebe oder Allmacht oder Gott, alle Worte sind nur ein Stammeln nach dem ‚Ding an sich‘, das wir für unendlich höher und größer halten müssen als uns selber“ (I: 740). Diese Transzendierung des Individuellen durch kategorische Imperative leitete auch sein Verständnis eines sozialen Liberalismus: „Das Wort des echten Liberalismus heißt ‚Wir‘ und heißt nicht in diesem Sinne ‚Ich‘“ (I: 788 f.). 45 Marianne Weber, Max Weber, S. 420. 46 Zit. nach ebd., S. 141.

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Schiller beeindruckte Naumann als „ein sehr internationaler Mensch“ (VI: 595) aus „der kräftigsten Aufklärungszeit“ mit progressivem Oppositionsgeist: Dort fand sich „keine aristokratische Herrenmoral, die das Volk verachtet, keine pietistische Mönchsmoral, die der Welt aus dem Wege geht, keine Spießbürgermoral, deren Gott ein Justizrat ist“, sondern „eine Anfeuerung aller Willenskräfte durch einen wundervollen alles überwindenden Optimismus“ (VI: 597). Deutlicher konnte die Kontrastierung zur eher pessimistischen Grundtönung bei Max Weber kaum ausfallen. So wie Kants – trotz seiner im Vergleich zur ‚Sturm und Drang‘-Dichtung skeptischeren Weltsicht – als zukunftsoffen interpretierte Transzendentalphilosophie gehörte Schillers freiheitskämpferische Sprachmächtigkeit zu Naumanns öffentlicher Konfession, wenn er den Stoßseufzer formulierte: „Was würden die Protestanten dafür geben, wenn Schiller ihnen den Luther aus der Gruft der Theologie herausgehoben hätte!“ (VI: 598). In der Frankfurter Zeitung ist rückblickend die Ironie vermerkt worden, dass Naumann 1903 in Heidelberg die theologische Ehrendoktorwürde empfing47, „als er seine theologische Vergangenheit schon abgestreift hatte und sich ... zu einem Pantheismus bekannte“.48 Das wird durch ein Selbstzeugnis von 1903 gestützt, dass „ich aus einem kirchlichen Theologen selbst zu einem Christen mit moderner Naturanschauung geworden bin“ (I: 582), der Gott nun mehr kantianisch als „das Ding an sich“ verstehen wollte (I: 589).

5. Internationale Politik und Parlamentarisierung, Weltkrieg und „Mitteleuropa“ Von seiner Wunschprojektion eines demokratisch und sozial reformierten Kaisertums jenseits des Obrigkeitsmonarchismus löste sich Naumann endgültig infolge der Daily Telegraph-Affäre 1908, die Kaiser Wilhelm II. als geschwätzigen Dilettanten zeigte. In einem Artikel „Die Politik des Kaisers“ rechnete er nun rigoros mit dem Monarchen und seinen Militärausgaben ab: „Unsere Weltlage ist denkbar schlecht geworden. Wir haben uns in der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. mit etwa 3 ½ Milliarden neuer Schulden belastet und damit nichts erreicht, als daß wir heute fast ganz allein und verlassen stehen“ (V: 406 f.).49 Zur „Umgestaltung der deutschen Reichsverfas47 Heuss, Naumann, S. 158. 48 Frankfurter Zeitung Nr. 628 v. 25.8.1919. 49 Da fehlte nicht mehr viel an der fast drohend formulierten Version, die Naumann 1917 publizierte: „Ein Monarch, der nicht fortschrittlich ist, wird von der weiterarbeitenden Welt in seinem Winkel sitzengelassen, bis er eines Tages als störend beseitigt wird“ (II: 481).

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sung“ formulierte er nach der Affäre von 1908 den politischen Klartext, „daß wir keine anderen Absichten haben können als denselben demokratischen Geist, der in Nordamerika, England und Frankreich zum Wohle dieser Nationen zur Herrschaft gekommen ist, auch in Deutschland zum maßgebenden Geiste zu machen“ (II: 364). Als Ursache deutschen Rückstands beklagte er kurz darauf in einer Reichstagsrede „das Fehlen einer volkstümlichen Legende“ wie in England und Frankreich: „Diese haben ihre großen Revolutionen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts als den Hintergrund ihres parlamentarischen Systems.“50 Zur Methode des Umbruchs empfahl er den sozialdemokratischen Gründerdenker „Ferdinand Lassalle über das Verfassungswesen“ zu lesen: „Erst muß die Macht geschaffen werden, dann erst werden die Paragraphen beschlossen“ (II: 386). Als ein zweiter Schritt, der einer „Vereinigung der Linksliberalen“ (V: 448) zur Fortschrittlichen Volkspartei im Jahr 1910 folgte, mündete Naumanns Bündnisformel „von Bassermann bis Bebel“, also von einem leidlich reformbereiten Nationalliberalismus bis zur SPD, nach den Reichstagswahlen 1912 in die Parole: „Es lebe die Linke!“ (V: 469). Ein innen- und außenpolitisches Umdenken hatte sich bei Naumann schon in den Jahren davor angebahnt, die seine Nähe zum nach links gerückten Theodor Barth zeigten. Naumann plädierte 1907 für einen Systemwechsel zur „parlamentarische[n] Regierung, ... die von vornherein die Majorität besitzt“, um so das „konstitutionelle System“ abzulösen, das „sich eine solche erst zusammenkaufen muß“.51 Im nunmehr von Theodor Wolff als Sympathisant der Barthschen Freisinnigen geleiteten Berliner Tageblatt forderte Naumann Ende Juli 1907 in kompromissloser Haltung gegen die Konservativen: „Das Reichstagswahlrecht für Preußen!“52 Innenpolitisch hatte Naumann vor dem nur taktischen Einschwenken auf den sog. Bülow-Block Ende 1906 an der eigentlichen Frontlinie keinen Zweifel gelassen: „Der Liberalismus ist schon früher dadurch heruntergekommen, daß er sich mit den Konservativen eingelassen hat.“53 Von seiner Überzeugung ausgehend, dass wir „eine Periode des Nationalitätskampfes hinter uns und eine solche des gewerblichen Klassenkampfes um uns haben“ (I: 603), erschien ihm außenpolitisch 1903 „der bewaffnete Friede“ (I: 623) als wünschenswert, denn: „Jeder kommende Krieg oder Kriegslärm macht bei heutiger Sachlage Deutschland antiliberal“ (IV: 267). Sein politischer Leitgedanke, 50 Verhandlungen des Reichstags, 175. Sitzung v. 3.12.1908, S. 5945 C. 51 Die Hilfe Nr. 18 v. 5.5.1907, S. 275, zit. nach Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 184. 52 Berliner Tageblatt Nr. 383 v. 31.7.1907: Friedrich Naumann, Der preussische Wahlrechtskampf. 53 In „Die Hilfe“ v. 23.12.1906, zit. nach Spael, Verhältnis, S. 103.

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„daß die europäischen Landesgrenzen heilig gehalten werden sollen“ (IV: 48), blieb zwar in latentem Spannungsfeld mit der geschichtlichen Perspektive: „Alle großen Fortschritte der politischen Freiheit haben mit Revolutionen oder Kriegen zusammengehangen“ (IV: 269). Hier bewies Naumann am Vorabend der ersten russischen Revolution von 1905 aber historisch-politisches Gespür, wenn er prophezeite: „In Rußland kommt noch irgendwann ein Freiheitskampf, und wenn er kommt, kann er uns helfen, rückständige Reste von Ungleichheit auch bei uns noch abzuschütteln. Es wird wie eine zweite Französische Revolution sein, wenn sich einmal Rußland rüttelt“ (V: 359). Den Kriegsausbruch 1914 bezeichnete Naumann in seiner Zeitschrift Die Hilfe bei allem bekundeten Patriotismus als „ein dunkles Verhängnis“ aus der Mächtekonstellation: „Wir sind in diesem Kampf nur durch unser deutsch-österreichisches Bundesverhältnis hineingezogen“ (V: 525 f.).54 In einem wie dort üblich nicht mit Namen gezeichneten, aber offenbar aus interner Kenntnis geschriebenen Nachruf in der Frankfurter Zeitung wurde später berichtet: „Als der befürchtete Krieg Wirklichkeit war, nahm er den Rechenstift und sagte im vertrauten Kreise: es sind ihrer zu viele, wir werden es nicht schaffen. Der Öffentlichkeit hat er diese Sorge nie gezeigt“.55 Doch charakterisierte er nun „Weltpolitik“ in Die Hilfe als „Einordnung in die entstehende Internationalität“ (IV: 453) und verweigerte sich den einseitig nationalistischen Stimmungslagen: „Wir Deutschen sind im Krieg und wohl auch nach dem Krieg genötigt, viel österreichischer über Nationalitäten zu denken als vorher“ (IV: 474). Hinsichtlich seines Abstands zur Ideologie des Alldeutschen Verbands, dem Naumann im Unterschied zum Max Weber der Zeit um die Freiburger Antrittsrede nie angehörte, war das keine völlig neue Einsicht. Schon Ende 1899 warnte Naumann, der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat könne „nicht beseitigt werden, ohne daß ein Dröhnen und Stürzen durch das ganze europäische Staatengebäude geht“ (IV: 405). Sollte der „Zerfall Österreichs ... dennoch kommen, so kommt eben der europäische Weltkrieg mit allen seinen Unberechenbarkeiten“ (IV: 440). Der auch von den Frankfurter Jahren geprägte Geburtssachse Naumann versuchte sich gerade seit Umsiedlung nach Berlin 1897 als Brückenbauer 54 In einem Brief vom 15.6.1915 an den linksliberalen Pazifisten Ludwig Quidde berief sich Naumann darauf, „im Reichstag als einziger nicht sozialdemokratischer Abgeordneter schon vom Jahre 1907 an für den Verständigungsantrag gestimmt“ zu haben, zit. nach Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 226, der „Ansätze eines außenpolitischen Orientierungswandels“ (S. 217 ff.) insofern nicht bestreiten kann. 55 Frankfurter Zeitung Nr. 627 v. 25.8.1919; in einem Brief an Gertrud Bäumer vom 6.10.1918 bestätigt Naumann seine Einschätzung, „am Ende eine Niederlage“ schon „von Anfang an“ und erst recht seit „Anfang des U-Boot-Krieges“ kommen gesehen zu haben, zit. nach Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 296.

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zwischen einem ihm als Staat des Dreiklassenwahlrechts fremden Preußen und dessen zahlreichen inner- und außerdeutschen Nachbarn. Ausnahmsweise einmal kontrafaktisch argumentierend ließe sich rückschauend beklagen: Schon zur Jahrhundertwende hätte Naumann, statt den peinlichen Text zu der berüchtigten kaiserlichen „Hunnenrede“ zu schreiben56, diese ‚österreichischen‘ Gedanken als eine „Vorform zu ‚Mitteleuropa‘“57 ohne den Misstrauen erweckenden Kriegsbezug in Richtung des gleichnamigen Buchs ausarbeiten sollen. Im Oktober 1915 veröffentlicht, wurde das Mitteleuropa-Buch zwar zu einem geradezu sensationellen Verkaufserfolg. Ursprünglich mit einer 5000er Auflage versehen, waren bis Mai 1916 schon 100.000 Exemplare gedruckt, und es folgte dann noch eine verbilligte Ausgabe mit weiteren mindestens 27.000 Stück (IV: 485 f. u. 837). Das war die drittgrößte Gesamtauflage eines politischen Buchs der Kaiserzeit, nach des Langzeitkanzlers Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ (IV: 385) und August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“58. Naumanns Bestseller wurde dann auch rasch in viele andere Sprachen übersetzt. Aber in der allgemeinen Kriegspsychose sowie mit der realen und wahrgenommenen Politik des Kaiserreichs im Hintergrund konnte er fast nur missverstanden werden. Zwar fanden sich Appelle zur Mäßigung und Völkerversöhnung wie diese: „Nach dem Kriege muß Schluß gemacht werden mit allen gegenseitigen Verhetzungen“ (IV: 564). Das gelte nicht allein für die auswärtigen Beziehungen, sondern auch für den inneren Ausgleich der Volksgruppen: „Überall, überall in Mitteleuropa ist eine freundlichere Denkweise über nationale Minderheiten dringend nötig“ (IV: 587). Naumann äußerte sich auch selbstkritisch, „die große Kunst der Menschenbehandlung“ sei bislang keine deutsche Tugend gewesen: „Wissenschaftlich bringen wir das tadellos fertig. Da sind wir die ersten Nachempfinder aller Nationen, aber praktisch waren wir nicht selten kleine Schulmeister alten Stiles oder Unteroffiziere mit Bleistift und Schnurrbart“ (IV: 679). Doch auch seine nationenplurale Sicht wurde von den Nachbarn im Krieg nahezu unvermeidlich als eben doch schulmeisternd aufgefasst, wenn er schrieb: Es sei „nicht möglich gewesen, alle Deutschen in einem staatlichen Organismus zu vereinigen, weil wir auf dem Boden Mitteleuropas so wunderbar gemischt 56 Dazu treffend Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 75 f., der freilich auch im Sinne der sozialpolitischen Ambitionen die fast gleichzeitige Einbindung des gewerkschaftsfreundlichen Sozialliberalen Lujo Brentano als Referent auf dem Delegiertentag 1899 erwähnt (S. 96). 57 Das ist die Hg.-Klassifizierung in IV: 401. 58 Die Ausgabe Stuttgart 1913 kann online mit der Angabe „136. bis 140. Tausend“ eingesehen werden unter http://www.digitalis.uni-koeln.de/Bebel/bebel_index.html (zuletzt geprüft 25.7.2016).

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mit anderen Nationen zusammenlagern, daß wir unsere eigene geschichtliche Vollendung nur finden können, wenn wir gleichzeitig den Ungarn, den Polen und den anderen Westslawen zu ihrer Vollendung verhelfen“ (IV: 769). Immerhin ließ Naumann u.a. einen tschechischen Abgeordneten der Sozialdemokratie in Die Hilfe zu Wort kommen und fand prominenteste Unterstützung beim späteren österreichischen Staatskanzler Karl Renner: Diesem zufolge beschritt der Mitteleuropa-Autor „ganz anders als die deutschen Imperialisten ... den Weg redlicher Auseinandersetzung mit den österreichischen Nationen“.59 Wenn Naumann bilanzierte: „Mitteleuropa ist ohne Duldsamkeit der Nationalitäten und Konfessionen nicht denkbar“ (IV: 868), sah er außer Christen auch „Israeliten“ und „Mohammedaner“ verbunden als „Familie der Religionen, die von Abraham ausgehen“ (I: 926). Darin nahm er religions- und konfessionsübergreifend den Gedanken auf, den er im Arbeiter-Katechismus von 1889 gesellschaftlich propagierte: „Gott hat alle Menschen verschieden, aber doch gleich gemacht“ (V: 4). Zwar wusste er nun längst um nationalpolitische Realisierungsgrenzen, „weil jede kleinere Nation am liebsten ganz selbständig und frei von Verbündetheit existieren möchte“. In weltpolitischer Perspektive sah er aber „nur eine gewisse Anzahl von Mittelpunkten der Menschheit übrig, an denen wirklich regiert wird: London, New York, Moskau (oder Petersburg) stehen fest“ (IV: 664). Das waren allesamt nicht klassische Nationalstaaten, denn es galt der Befund: „Jeder der drei alten Großstaaten ist in sich international. In ihnen verwirklicht sich in der Praxis, was im gegenwärtigen Weltalter an der internationalen Idee realisierbar ist“ (IV: 669). So begründete Naumann ein sehr gedehnt interpretiertes „Mitteleuropa“ längerfristig als „eine Notwendigkeit für alle Staaten, die weder zum russischen noch zum englischen Staatenverbande gehören können oder wollen“ (IV: 852). Er meinte dies nur als „Oberstaat“ für einen „Staatenbund“, der aber „kein Bundesstaat werden“ sollte (IV: 735 f.). Das war auch nicht unbedingt prinzipiell antienglisch gedacht, denn unter Verzicht auf einen kontinentaleuropäischen Staatenverbund und somit als Satellitenstaat der Zukunft würde sonst „alles nach englischer Art in durchaus anständigen und angenehmen Formen geregelt werden“ können: „Gefühlsmäßig ist es für uns trotz aller Haßgesänge des Krieges leichter, sich den Dauerverband mit der englischen Weltmacht zu denken“ (IV: 675 f.). Naumann bekundete nunmehr im Unterschied zur Jahr59 Ebd., S. 241 u. S. 246 (Renner, in: Der Kampf Nr. 2/1916, S. 19). Im Reichstag wandte sich Naumann am 9.10.1917 auch gegen die Diskriminierung der USPD und forderte somit den Burgfrieden auch nach weit links hin ein: „Wenn eine ganze Partei von Männern, deren eigene Mitglieder und Söhne fürs Vaterland kämpfen müssen, mit einem Generalbann belegt wird mitten im Kriege, so kann dafür die Volksvertretung keinen Sinn haben“ (Verhandlungen des Reichstags, 124. Sitzung, S. 3795 C).

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hundertwende entschiedene Tirpitz-Ungläubigkeit und lehnte Pläne des unbegrenzten U-Boot-Krieges als imperiale „Hybris“ ab.60 Dass er aber weiterhin das Völkerrecht gegenüber der Machtpolitik für illusionär hielt, zeigte seine Vorstellung, den heterogenen belgischen Staat ggf. wesentlich zwischen den Niederlanden und Frankreich aufzuteilen (IV: 447). Eine selten beachtete Grundidee des Mitteleuropa-Buchs von Naumann war „die allmähliche Sonderung der Nationalstaaten vom Wirtschaftsstaat und vom Militärstaat“ (IV: 752), den er jeweils im Zeitalter der industriellen und staatlichen Großbetriebsform nur mehr supranational organisiert für entwicklungsfähig hielt. Allianzfreie Kleinstaaten mochten sich aus seinem Blickwinkel ganz ähnlich wie der spezialisierte Kleinbetrieb durchaus eine Nischenexistenz bewahren; sie konnten aber nicht wesentlich den Fortschritt der Menschheit weiter voranbringen. Das blieb eine die Möglichkeit des Fortschritts aus dezentralisierter Vielfalt noch wenig berücksichtigende Kehrseite dieses großindustrialistischen Progressismus. Seine Vollendung fand Naumanns politisches Credo nunmehr in Begriffen wie „neue sozialökonomische Konfession“, „deutsche Wirtschaftskonfession“ und „Arbeitskonfession“ (IV: 600, 609 u. 617). Das verweist auf eine also nicht erst von Walther Rathenaus Diktum „Die Wirtschaft ist das Schicksal“61 begründete Kontinuitätslinie eines deutschen Primats der Ökonomie; diese ist von den Weltkriegen nur teilweise unterbrochen, in gewisser Hinsicht dann aber mit erhöhtem Rekonstruktionsbedarf eher noch verstärkt worden. Zwar konnte Naumann als Kriegsfolge den Übergang der weltpolitischen Initiative auf die USA nicht leugnen: „Als Hilfsmittel zur Herbeiführung einer Friedensstimmung ist die Wilsonsche Kundgebung ein großer Wurf.“ Doch hielt er damit sein kontinentaleuropäisches Blockbildungskonzept für keineswegs überholt: „Man zerbreche die mitteleuropäische Einheit, und kein Wilson wird hindern können, daß auf der balkanischen Fläche neue Kämpfe ausbrechen“ (V: 563 f.). Er musste aber einräumen, dass „Wilsons Kriegserklärung“ die von ihm schon als Konsequenz des undiplomatischen Wilhelminismus beklagte 60 So in einem Brief an den zur „Vaterlandspartei“ nach rechts abgewanderten Gottfried Traub vom 12.10.1916, zit. nach Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 235. Als der Krieg verloren war, gab Naumann den Hinweis, man habe „unseren Protest in den Akten gelassen“, aber „die Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges für den allergrößten Fehler gehalten“, der „in der deutschen Geschichte überhaupt geschehen ist“; Verhandlungen des Reichstags, 193. Sitzung v. 22.10.1918, S. 6171 A. 61 Rathenau beim Reichsverband der Deutschen Industrie am 28. September 1921 in München, in: Die deutsche Industrie und die Wiedergutmachungsfrage. Bericht über die dritte Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1921, S. 12–20, hier S. 20.

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Tendenz der internationalen politischen Isolierung noch verstärkte: „Wir werden durch diese Tage noch mehr als bisher ein Fremdling unter den Völkern“ (V: 565 f.).62 Sogar in einer zweckbestimmt betont patriotisch gehaltenen Denkschrift für das Reichsamt des Innern sah Naumann eine Tendenz sich abzeichnen, „daß aus französischem, englischem und auch amerikanischem Freiheitsidealismus sich eine Art politischer Weltreligion bildet, von der die Mitteleuropäer und besonders wir Deutschen ausgeschlossen sein sollen“ (II: 447). Das wollte er weder fatalistisch hinnehmen noch sich deutschnational gegen die Westmächte abschließen, weswegen er am 15. Mai 1917 im Reichstag forderte, dass „die Willensbildung aus dem Parlament heraus in die Regierung wirksam hinüberreicht“ auf der Grundlage einer „Mehrheitsbildung“.63 Der zum linken DDP-Flügel zählende Berliner Tageblatt-Politikredakteur Ernst Feder schrieb Naumann in einem Gedenkartikel anlässlich des ersten Todestages sogar den wesentlichen Anstoß zum Versuch einer Parlamentarisierung noch vor dem militärischen Fiasko zu: „Auf seine Anregung hatte die fortschrittliche Reichstagsfraktion am 5. Juli 1917 den Antrag auf Bildung eines interfraktionellen Ausschusses gestellt: es wurde der Anfang des parlamentarischen Regimes.“64 Das ist eine zu weitgehende Interpretation, weil sich die interfraktionelle Kooperation der späteren Weimarer Verfassungsparteien zunächst nicht gegen den Einfluss der Obersten Heeresleitung durchsetzen konnte, bis der Krieg im Herbst 1918 endgültig verloren war. Doch bleibt ein richtiger Kern dieser Einschätzung: Naumann hat seit endgültiger Desillusionierung über konkrete Möglichkeiten von Demokratie und Kaisertum, angesichts der 62 Allerdings war für Naumann auch im Zeichen der Kriegsniederlage „der Gedanke der Menschheitsentwicklung“ nicht „von Wilson erfunden. Er ist viel älter und am tiefsten durchdacht in Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts’, in Kants ‚Vom ewigen Frieden’“, also der eigenen Aufklärungstradition; Verhandlungen des Reichstags, 193. Sitzung v. 22.10.1918, S. 6172 A. 63 Verhandlungen des Reichstags, 109. Sitzung, S. 3425 C. 64 Berliner Tageblatt Nr. 396 v. 24.8.1920: Ernst Feder, Friedrich Naumann. Hingegen reagierte Weber in einem Privatbrief vom 13.7.1917 geradewegs ressentimentgeleitet auf die vom Interfraktionellen Ausschuss getragene Friedensresolution des Reichstags: „Die Art, wie der Abgeordnete Erzberger diese Sache gemacht hat, ist ein Verbrechen“, zit. nach Mommsen, Max Weber, S. 279, wo S. 284/Anm. 278 auch geradewegs rassistische Zeilen über die „feindlichen Heere“ mit einem „Auswurf afrikanischer und asiatischer Wilder“ aus einem Zeitungsartikel (anders als in früheren Teilsammlungen aus der Weber-Nachlasspflege) ebenso wenig verschwiegen werden wie eine pauschale Diffamierung der kriegsgegnerischen Regierungsspitzen als „rohe Schurken und Abenteurer“. Immerhin änderte Weber angesichts neuer Einsichten in die Kriegslage wenige Monate darauf öffentlich seine Haltung zur Friedensresolution (S. 288 f.).

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– von Max Weber früher erkannten – Nichteignung Wilhelms II. für den Weg zur Parlamentarisierung, diesen in die Hände einer demokratisch-parteipolitischen Initiative legen wollen.

6. Vergleichende Schlussbetrachtungen Den vier Jahre vor Max Weber geborenen Friedrich Naumann verbindet mit dem aus heutiger Sicht – und ohnehin international – berühmteren Weggefährten die politische Generationserfahrung der späten Bismarckära und der Orientierungsprobleme des frühen wilhelminischen Zeitalters. Beiden wurde der in ersten Standortbestimmungen favorisierte Nationalliberalismus rasch im Sinne gerade auch der Zugeständnisse an den Agrarkonservatismus zu gouvernemental, während ihnen der Linksliberalismus zu antietatistisch nicht zuletzt in Fragen der Militär- und Sozialpolitik erschien. Eher in solcher negativen Verbindung konnte das Missverständnis entstehen, als hätte Weber ein möglicher theoretischer Kopf des 1896 gegründeten Nationalsozialen Vereins sein können. Die schroffe Frontstellung zu evangelischen Konservativen und dem katholischen Zentrumsmilieu war beiden gemeinsam, hingegen das Verhältnis gegenüber der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die insoweit primäre Differenz. Bei allem Respekt für die aufstrebende Arbeiterbewegung und Kooperationsbereitschaft auch mit (SPD-nahen Freien) Gewerkschaften als Teil der antiagrarischen Industrialisierungsformation blieb Weber nicht allein herkunftsbedingt ein Anhänger der bürgerlichen Eigentumsordnung, während Naumann die antikapitalistischen Wurzeln nie abschnitt und lediglich in Richtung eines insgesamt gemischtwirtschaftlichen Konzepts modifizierte und präzisierte. Dabei bezog sich Naumann wie erwähnt durchaus positiv auf den sozialdemokratischen Revisionismus der Jahrhundertwende; aber sein gerade damals einen Höhepunkt erreichendes national-imperialistisches Credo verstellte die Möglichkeit etwaigen sinnvollen Wirkens unter den (z.B. in der Person des bayerischen Parteiführers v. Vollmar geschätzten) SPD-Reformisten. Das religiöse Problem trat dahinter zurück, denn sein früherer sächsischer Kollege Paul Göhre konnte als Ex-Nationalsozialer Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde (Berlin 1900) publizieren und dann später 1910 SPD-Reichstagsabgeordneter sowie 1919 sogar preußischer SPD-Staatssekretär werden. Als sich parallel zur Kritik an Wilhelm II. auch Naumanns sozial-imperiale Tendenzen abschwächten und in umgekehrter Richtung sich die oppositionelle Haltung der SPD allmählich milderte, war Naumann schon fest im organisierten Linksliberalismus verankert; so hat sich ihm nur unmittelbar

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in den Revolutionsmonaten nochmals die Frage gestellt, ob er für den staatlichen Neubeginn zur Mehrheitssozialdemokratie wechseln solle.65 Zumal die zeitgenössische Bedeutung von Max Weber in Rückblende aus seinem künftigen Weltruhm häufig überschätzt wird, sollte er nur als einer von zahlreichen geistig-politischen Impulsgebern für Naumann gesehen werden. Gerade in dessen wichtigen Umbruchsjahren, zwischen Demokratie und Kaisertum (1900) und dem Übertritt zur Freisinnigen Vereinigung um Theodor Barth 1903, war von Weber krankheitsbedingt am wenigsten zu erwarten. Auch wenn gleich Weber und seinen Getreuesten eine Neigung zur Eigenstilisierung zur Vorsicht mahnt, ist es dennoch bemerkenswert, was der viel eher als sozialliberaler Klassiker einzustufende Lujo Brentano66 in seinen Lebenserinnerungen zu jener Zeitspanne schreibt: Er habe Naumann u.a. die „törichte Hunnenrede“ entgegengehalten, um ihm die Möglichkeit, der SPD beitreten zu können, zu bestreiten und nützlicher politisch wirksam zu werden, „indem er den linksbürgerlichen Parteien sozialpolitisches Verständnis einpauke“. Brentanos Darstellung zufolge habe ihn Naumann gedrängt, in diesem Sinne gemeinsam Mitglied bei Barths Freisinnigen zu werden, was der Gelehrte angesichts der Verdienste Naumanns tatsächlich zu vollziehen eingewilligt habe.67 Unzweifelhafter als nur durch Memoiren lässt sich aus zeitgenössischen Artikeln und diversem Schriftwechsel nachweisen, wie die anti-agrarkonservative Frontstellung zunächst seit 1898 den gleichermaßen freihandelsorientierten Barth zum Sozialliberalismus Brentanos herüberzog und dann auch Naumann in diese geistig-politische Allianz einfügte.68 Die auch Max Weber nicht fremde, massenpsychologisch bedenkenswerte These Naumanns: „Die Menschheit will Repräsentanten haben, Signalpersonen“ (II: 416), lässt sich unterhalb der Schwelle von unmittelbarer Staatsmacht bis auf ihren Verfechter erstrecken, wie in einem publizistisch sympathisierenden Nachruf in der DDP-nahen Presse zu lesen war: „Naumann als Redner ist Millionen deutscher Menschen bekannt geworden. Er war vielleicht der größte

65 Heuss, Naumann, S. 480, belegt solche Gedanken aus Briefen ebenso wie deren Grenze, dass Naumann die Regierungskooperation mit der USPD als Hinderungsgrund benannte. 66 Detlef Lehnert, Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des modernen Sozialliberalismus, in: Ders. (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 111–134. 67 Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 229 f. 68 Düding, Verein, S. 160–162. Dort auch S. 182/Anm. 12 die begründeten Zweifel an Brentanos Version.

Friedrich Naumann und der Progressismus

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Redner, den Deutschland in den letzten Jahrzehnten gehabt hatte“.69 Das wird in derlei Singularität übertrieben sein; aber zusammen mit der beachtlichen publizistischen Tätigkeit einschließlich der enormen Gesamtauflage seiner Bücher und Broschüren wäre ebenso in umgekehrter Richtung der Misserfolg des Nationalsozialen Vereins kein geeigneter Gradmesser der Breitenwirkung Naumanns. Die geradezu existentialphilosophische Differenz zu Weber formulierte Naumann mit einer zweiten These zur modernen Massenpolitik in einer Ergänzung von 1904 zu seiner Programmschrift über Demokratie und Kaisertum: „Ein pessimistischer Liberalismus aber kann sich begraben lassen. Nur Optimisten können schwere Dinge vollbringen“ (II: 68). Das zielte explizit zwar gegen das Laissez-faire des antietatistisch-manchesterlichen Traditionsliberalismus nach Art Eugen Richters; es ließ jedoch zugleich erkennen, wo Max Weber aus einer politisch stärker elitären Grundierung und vor allem in seiner wissenschaftlichen Überzeugung u.a. von den freiheitsbegrenzenden bürokratischen Tendenzen der modernen Zivilisation mit Naumann nicht übereinstimmen konnte. Darüber hinaus sind – bei zunehmender Annäherung beider in Richtung moderner Sozialpolitik – die Unterschiede zwischen den ‚sozialistischen‘ Ausgangspunkten Naumanns und den ‚kapitalistischen‘ Webers zu offensichtlich, um sie nach der Gegenüberstellung im Abschnitt 1 hier noch einmal zusammenfassen zu müssen. Das akzentuiert ‚bürgerliche‘ Herkunftsund Denkprofil Webers konnte diesen trotz der Glaubenszweifel zu einem besonderen Typus aus dem Herkunftsmilieu des Kulturprotestantismus machen, insoweit seinem Heidelberger Theologen-Kollegen Ernst Troeltsch bei allen Unterschieden darin näher.70 Es ist hier nicht der Ort, der – von Naumanns mehr auf Tagespolitik zugeschnittener publizistischer Tätigkeit begünstigten – Neigung weiter nachzugeben, seine Interventionen aus heutiger Sicht zu beurteilen. Einerseits ist die Zeitgebundenheit der gerade in seiner nationalsozialen Phase virulenten imperialistischen Orientierung zu offensichtlich, auch wenn die Rückbindung der nationalen an die sozialen Integrationsziele mit Akzeptanz für Richtungs- und Interessenkämpfe nicht zu verkennen ist. Andererseits mag die spätere Empfehlung einer nationenübergreifenden Sonderorganisationsform von Wirtschaftsge69 Vossische Zeitung Nr. 430 v. 25.8.1919: Georg Bernhard, Friedrich Naumann. 70 Vgl. den Beitrag von Gangolf Hübinger in diesem Band und ders., Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, mit Erwähnung der „Heidelberger Universitätskultur, die durch Forschung, Lehre und Publizistik von ... Ernst Troeltsch bis zu Alfred und Max Weber das intellektuelle Zentrum des deutschen Kulturprotestantismus abgab“ (S. 97); dabei habe Max Weber sein „Forschungsinteresse“ durch eine „typische kulturprotestantische Frageperspektive“ anregen lassen (S. 3).

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meinschaften und Militärbündnissen gegenüber fortbestehenden Nationalstaaten gar als Vorgriff auf die tatsächliche europäische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg anmuten. Aber diese Projektion war damals eben nur visionäre Schriftstellerei eines Politikers der ‚Progressive Poeple’s Party‘, um hier bewusst die englischsprachige Version zu wählen. Alldeutsche Zerstörer einer europäischen Fortschritts- und Humanitätskultur von Ludendorff bis Hitler sind darüber achtlos hinweggegangen. Daran zu erinnern, sollte auch entgegen Naumanns politischer ‚Konfession‘ des Fortschrittsoptimismus nicht versäumt werden. Umgekehrt ist es freilich auch kein Zufall, dass intensivste Rückbesinnungen auf Naumann im Umkreis jener „Freiburger Thesen“ einer sozial-liberalen Ära erfolgten; diese bahnte sich gegenüber ‚restaurativen‘ Tendenzen der 1950er Jahre in den 60ern durch einen ‚Fortschrittlichkeit‘ in allen gesellschaftlichen Bereichen reklamierenden ‚Zeitgeist‘ an.71 Solche Aspekte einer Geschichte der Naumann-Rezeption wären jedoch ein ganz anderes Thema, das nicht so gut in den Kontext dieses Tagungsbandes zu Max Weber hineinpasst.

71 Jenseits der Tagespolitik wies der universitäre Rechtsphilosoph (und spätere Bundesinnenminister) Werner Maihofer in seinem Grundsatzbeitrag zu den Freiburger Thesen auf die klassische Bedeutung von „Fortschritt durch Vernunft“ hin: „Auch dieses Verhältnis des Liberalismus zu Fortschritt und Aufklärung unterscheidet ihn von Anfang an von allen anderen politischen Richtungen, was sich schon in der früher üblichen Benennung liberaler Parteien als ‚fortschrittliche‘ oder auch ‚freisinnige‘ Parteien bekundet“; Werner Maihofer, Liberale Gesellschaftspolitik, in: Karl-Hermann Flach u.a., Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek 1972, S. 25–54, hier S. 37.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Harald Bluhm, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. Katharina Bluhm, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Osteuropa an der Freien Universität Berlin Dr. Gangolf Hübinger, Professor (i.R.) für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der philosophischen Grundlagen der Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Dr. Dieter Langewiesche, Professor (i.R.) für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tübingen Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Tim B. Müller, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Nachkriegszeiten im Hamburger Institut für Sozialforschung Dr. Uwe Prell, Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz Marcel Rudolph, B.A., Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin Dr. Wolfgang Schluchter, Professor (i.R.) für Soziologie an der Universität Heidelberg Dr. Thomas Sokoll, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Fernuniversität Hagen Dr. Peter Steinbach, Professor (i.R.) für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim, Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin Dr. Monika Wienfort, Privatdozentin und Vertreterin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal

HISTORISCHE DEMOKR ATIEFORSCHUNG HERAUSGEGEBEN VON DETLEF LEHNERT

BD. 1 | DETLEF LEHNERT (HG.)

BD. 6 | DETLEF LEHNERT (HG.)

DEMOKRATIEKULTUR IN EUROPA

KOMMUNALER LIBERALISMUS

‌P OLITISCHE‌REPRÄSENTATION‌‌

IN EUROPA

IM‌19.‌UND‌20.‌JAHRHUNDERT

GROSSSTADTPROFILE‌UM‌1900

2011. 304 S. EINIGE S/W-ABB. GB.

2014. 316 S. 5 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20713-7

ISBN 978-3-412-22131-7

BD. 2 | DETLEF LEHNERT (HG.)

BD. 7 | DETLEF LEHNERT (HG.)

HUGO PREUSS 1860–1925

KONSTITUTIONALISMUS IN EUROPA

‌G ENEALOGIE‌EINES‌MODERNEN‌

‌E NTWICKLUNG‌UND‌INTERPRETATION

PREUSSEN

2014. 352 S. 3 S/W-ABB. GB.

2011. 364 S. 1 S/W-ABB. UND

ISBN 978-3-412-22234-5

2 S/W-KT. GB. ISBN 978-3-412-20827-1

BD. 8 | DETLEF LEHNERT (HG.) VOM LINKSLIBERALISMUS ZUR

BD. 3 | ANKE JOHN

SOZIALDEMOKRATIE

DER WEIMARER BUNDESSTAAT

POLITISCHE‌LEBENSWEGE‌IN‌HISTORI-

‌P ERSPEKTIVEN‌EINER‌FÖDERALEN‌

SCHEN‌RICHTUNGSKONFLIKTEN‌

ORDNUNG‌(1918–1933)

1890–1945

2012. 486 S. 10 S/W- ABB. UND KT.

2015. 319 S. 5 S/W-ABB. GB.

GB. | ISBN 978-3-412-20791-5

ISBN 978-3-412-22387-8

BD. 4 | DETLEF LEHNERT (HG.)

BD. 9 | DETLEF LEHNERT (HG.)

SOZIALLIBERALISMUS IN EUROPA

SPD UND PARLAMENTARISMUS

HERKUNFT‌UND‌ENTWICKLUNG‌IM‌‌

ENTWICKLUNGSLINIEN UND PROBLEM-

19.‌UND‌FRÜHEN‌20.‌JAHRHUNDERT

FELDER 1871–1990

2012. 301 S. 6 S/W-ABB. GB.

2016. 317 S. 2 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20927-8

ISBN 978-3-412-50134-1

BD. 5 | DETLEF LEHNERT (HG.)

BD. 10 | DETLEF LEHNERT (HG.)

GEMEINSCHAFTSDENKEN IN EUROPA

MAX WEBER 1864–1920

DAS‌GESELLSCHAFTSKONZEPT‌

POLITIK‌–‌THEORIE‌–‌WEGGEFÄHRTEN

»VOLKSHEIM«‌IM‌VERGLEICH‌1900–1938

2016. 347 S. 3 S/W-ABB. GB.

2013. 327 S. 7 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-50531-8

RG212

ISBN 978-3-412-21064-9

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