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German Pages 358 Year 2021
Bernhard Groß, Verena Krieger, Michael Lüthy, Andrea Meyer-Fraatz (Hg.) Ambige Verhältnisse
Edition Kulturwissenschaft | Band 222
Bernhard Groß ist Professor für Filmwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Alltag und Alltäglichkeit in audiovisuellen Medien, Filmmanifeste – Manifestfilme, Historizität der Filmtheorie. Verena Krieger hält den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Ambiguität (in) der Kunst, Montage/Collage, künstlerische Geschichtskultur. Michael Lüthy ist Professor für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Bildambiguität in der Kunst sowie Marcel Duchamps Ästhetik. Andrea Meyer-Fraatz hält den Lehrstuhl für Slawische Philologie/Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Ambiguität, Romantik und Fragen der literarischen Übersetzung.
Bernhard Groß, Verena Krieger, Michael Lüthy, Andrea Meyer-Fraatz (Hg.)
Ambige Verhältnisse Uneindeutigkeit in Kunst, Politik und Alltag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Abbe-Stiftung und der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Sophia Lieding Korrektorat: Sophia Lieding Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5065-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5065-9 https://doi.org/10.14361/9783839450659 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Für eine Pragmatik der Ambiguität – Zur Einleitung Bernhard Groß, Verena Krieger, Michael Lüthy, Andrea Meyer-Fraatz ........................ 9
Bestimmungen Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst Zur Konzeptualisierung des Ambiguitätsbegriffs für die Kunstwissenschaft Verena Krieger ............................................................................ 15
Ambiguität in der bildenden Kunst Eine differenzierende Bestimmung Michael Lüthy ............................................................................ 73
Identität und Ambivalenz Bernhard Strauß ......................................................................... 111
Ambivalenzen – Beziehungen – Identitäten: Skizze einer transdisziplinären Heuristik Kurt Lüscher ............................................................................ 129
Bewertungen Eins zu Zwei… zu Viel Grenzziehung als fatale Strategie zur Überwindung von Ambiguität im westlichen Denken Cornelia Klinger ......................................................................... 153
Ambiguität und Doxa Über Camp und einen Streit um den Genuss des Ungenießbaren in der Kultur Dirck Linck .............................................................................. 171
Ambiguität der Gerechtigkeit Mehrdeutigkeit, Hegemonie und die soziale Frage im Gegenwartskapitalismus Silke van Dyk ........................................................................... 185
Kulturelle Formen Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs Johannes Lang.......................................................................... 205
Ambiguität in Literaturverfilmungen Die doppelte Welt im Film Pętla von Wojciech Has Thomas Schmidt ........................................................................ 225
Moderne Zweigeschlechtlichkeit und Ambiguität Visualisierungen von Transgeschlechtlichkeit als mediale Ambiguitätsphänomene Sylka Scholz & Robin K. Saalfeld......................................................... 237
»Your position, please!« Ambiguität zwischen Dokument und Fabel in drei Dokumentarfilmen über Geflüchtete Bernhard Groß .......................................................................... 257
Strategischer Einsatz Ambivalenzen und Rechtsradikalismus Matthias Quent .......................................................................... 277
Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz Zu den Strategien und Choreographien des Zentrums für Politische Schönheit Rachel Mader ........................................................................... 293
Ambige Verhältnisse: Politisch motivierte Ambiguität in Texten slawischer Literaturen Andrea Meyer-Fraatz .................................................................... 313
Vom Zeigen und Zähmen der Ambiguität zwischen Kunst und Pädagogik Andrea Sabisch ......................................................................... 329
Abbildungsnachweis ............................................................... 349 Autorinnen und Autoren........................................................... 351
Für eine Pragmatik der Ambiguität – Zur Einleitung Bernhard Groß, Verena Krieger, Michael Lüthy, Andrea Meyer-Fraatz
Ambiguität ist eine allgegenwärtige Erscheinung; sie tritt in sämtlichen Bereichen des menschlichen Lebens auf, und zwar ebenso als objektive Eigenschaft von Phänomenen wie in deren subjektivem Erleben. Dabei erfüllt Ambiguität vielfach positive Funktionen. Eine höfliche Floskel mag selbst dann sinnvoll sein, wenn dem Sprecher nach dem Gegenteil zumute ist, und insbesondere die Diplomatie spricht freundliche Worte sogar in Situationen, in denen der Dialog kurz vor dem Scheitern steht. In der Hochkunst wie in der Populärkultur, in der politischen Satire oder in der Werbung gehört die Produktion von Ambiguität zu den unverzichtbaren Strategien – sei es, um der normativen Erwartung an Komplexität und Deutungsoffenheit zu genügen wie in der modernen Kunst, sei es, um die Aufmerksamkeit länger zu binden wie bei der Werbung, sei es, um angesichts drohender Zensur die gemeinte Botschaft verdeckt zu äußern wie im politischen Kabarett. In anderen Situationen indessen wird Ambiguität als entschieden negativ erfahren: Sie irritiert, verunsichert oder erzeugt Aggressionen. Wenn die Diagnose eines Arztes doppeldeutig ausfällt oder wir das Verhalten des eigenen Partners als ambig empfinden, entsteht kein produktiver kommunikativer Mehrwert, der sich genießen ließe, sondern Leiden. Vieldeutiges Sprechen passt auf die Kabarettbühne, nicht aber ins ärztliche Sprechzimmer, und ein doppeldeutiger Wortwitz, der eine Werbung schlagkräftig macht, kann im Gespräch des Vorgesetzten mit seinem Untergebenen herabwürdigend sein. Ambiguität ist demnach eine doppelte Herausforderung: sowohl eine des Verstehens als auch eine des angemessenen Umgangs damit. Ambiguität erweist sich selbst als ambig, indem sie je nach der Situation ihres Auftretens unterschiedlich valorisiert wird: Bald zeigt sie sich in ihrem kommunikativen Potenzial, bald als zu vermeidendes Übel. Von diesem Befund einer Ambiguität der Ambiguität nimmt dieser Sammelband seinen Ausgang. Das gemeinsame Ziel der hier versammelten Beiträge, die aus sehr unterschiedlichen disziplinären Perspektiven verfasst sind, besteht weniger in der Bestimmung von Ambiguität als solcher. Vielmehr geht es um die Pragmatik der Ambiguität: Der Band beruht auf der Prämisse, dass erst im genau-
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Ambige Verhältnisse
en Hinschauen, in welchen Zusammenhängen Ambiguität auftritt und mit welchen Absichten sie erzeugt wird, sich deren jeweilige Eigenart bestimmen lässt. Für die erzielten Effekte gilt dasselbe. Erst die konkrete kommunikative Situation entscheidet darüber, ob Ambiguität als produktiv oder destruktiv, kommunikationsfördernd oder kommunikationsbehindernd empfunden wird. So gewinnt beispielsweise die Ambiguität eines Gegenstands im Museum eine andere Dimension als in einem alltagspraktischen Handlungszusammenhang. Fördert sie im ersteren Fall die reflexive Haltung, die wir dem Gegenstand entgegenbringen, erzeugt sie im letzteren Fall Hilflosigkeit und Frustration. So gegenwartsbezogen die untersuchten Fälle sind: mit der Hinwendung zur Pragmatik der Ambiguität geht dieser Sammelband zugleich an die Ursprünge des Begriffs zurück. Denn erstmals thematisiert wurde Ambiguität in der antiken Rhetorik, wo sie bereits im Zusammenhang kommunikativer Interaktionsverhältnisse gesehen und hinsichtlich der jeweils bestehenden kommunikativen Absichten beurteilt wurde. Die Sektionen des Sammelbandes zu »Bewertungen«, »Kulturellen Formen« und »Strategischen Einsätzen« von Ambiguität thematisieren unterschiedliche Aspekte dieser Pragmatik der Ambiguität, indem sie Absichten, Ausprägungen und Auswirkungen getrennt voneinander behandeln – selbstverständlich im Bewusstsein, dass die Privilegierung eines pragmatischen Aspekts nicht bedeutet, dass die anderen irrelevant wären oder sich nicht ebenfalls geltend machten. Die Sektionen enthalten jeweils Beiträge, die ihre Beispiele verschiedenen gesellschaftlichen Feldern entnehmen, die sich grob den Feldern der Kunst, der Politik oder des Alltags zuordnen lassen, wobei auch hier die Grenzen immer wieder verschwimmen. Dieses Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Felder und der damit verbundenen disziplinären Perspektiven innerhalb der Sektionen geschieht in der Absicht, die unterschiedlichen Semantiken und Valorisierungen von Ambiguität, die in Kunst, Politik und Alltag zu beobachten sind, kontrastiv zutage treten zu lassen – eine Unterschiedlichkeit, die ihre eigene Ambiguität erzeugt, wenn beispielsweise mit Mitteln der Kunst Politik gemacht wird und plötzlich uneindeutig wird, wie die entsprechenden Aktionen zu verstehen und zu beurteilen sind. Ambiguität wird in diesem Sammelband als Doppel-, Mehr- oder Vieldeutigkeit eines Phänomens verstanden. In den hier diskutierten Fällen geht es um die Vermehrung von Eindeutigkeiten: Etwas ist dieses, aber auch jenes und vielleicht noch ein Drittes oder Viertes. Dabei kann dieses Verschiedene schroff gegeneinanderstehen oder auch vage widersprüchlich sein. In jedem Falle liegt die Herausforderung für die Wahrnehmenden darin, diese unterschiedlichen Auffassungsweisen als solche zu erkennen und aufeinander zu beziehen. Wer vielsagend oder doppelsinnig spricht, hat etwas geäußert, was in mehr als einer Weise verständlich ist und damit zur Interpretation zwingt. Dasselbe gilt für Kunstwerke – literarische Werke, Filme, Gemälde, performative Aktionen –, die sowohl so oder anders aufgefasst werden können. Solche Mehrdeutigkeit ist mit künstlerischer Qualität vereinbar,
Für eine Pragmatik der Ambiguität – Zur Einleitung
ja sie erscheint in den Poetiken der Moderne sogar als deren Voraussetzung. Ambiguität ist daher nicht gleichbedeutend mit Unklarheit oder Undeutlichkeit. Diese sind nur dann ein Effekt von Ambiguität, wenn es auf der Seite der Wahrnehmenden an Verständnis oder interpretativer Kompetenz mangelt. Insofern als sich der Begriff der Ambiguität auf Wahrgenommenes bezieht, ist er zu unterscheiden vom Begriff der Ambivalenz, der, als aus der Psychologie stammender Terminus, eine Uneindeutigkeit auf der Seite des Wahrnehmenden meint. Einer Sache, einem Menschen oder einem Vorhaben gegenüber ambivalent zu sein, bedeutet, ihnen gegenüber widerstrebende Gefühle oder Impulse zu empfinden: sie zu mögen und doch nicht zu mögen, sie unternehmen, aber auch nicht unternehmen zu wollen. So wichtig die systematische Unterscheidung zwischen objektiver Ambiguität und subjektiver Ambivalenz sein mag, so deutlich zeigen die Beiträge dieses Bandes, wie beides ineinandergreift. Ein rassistisch Verfolgter, der sich selbst rassistisch betätigt; ein Kunstwerk, das sich in aggressiver Weise als Anti-Kunst gebärdet: Solche Ambiguität im Wahrgenommenen löst bei dem Wahrnehmenden ambivalente Gefühle aus. Die gerade genannten Beispiele deuten es bereits an: Dass sich dieser Sammelband der Ambiguität zuwendet, geschieht nicht nur in der Absicht, die schwankenden Motivationen, Verwendungsweisen und Effekte uneindeutigen Artikulierens systematisch zu vergleichen. Er verdankt sich zugleich einem zeitkritischen Impuls. Insbesondere in den westlichen Gesellschaften, möglicherweise aber im globalen Maßstab, ist auf unterschiedlicher Ebene eine Zunahme von Ambiguität zu beobachten – als Ergebnis der Pluralisierung von Lebensformen, Werthaltungen und Identitätskonzepten, die durch die Lockerung und Dynamisierung von Sozialstrukturen, Geschlechterordnungen und individuellen Biografien eingetreten ist, als Folge der Vielfalt von Ethnien, Religionen und Habitusformen, die in globalisierten Gesellschaften miteinander auskommen müssen, oder – auf wiederum anderer Ebene – als Konsequenz jener »Ästhetisierung der Lebenswelt«, die Rüdiger Bubner vor einem halben Jahrhundert diagnostizierte und die im Streit um die Postmoderne ebenso gefeiert wie kritisiert wurde. Ambige geschlechtliche Identität; ökologische Parteiprogramme, die zugleich fortschrittlich und reaktionär sind; türkische Muslime, die sich der deutschen »Leitkultur« verpflichtet fühlen: Wer sich in diesen pluralisierten und dynamisierten Verhältnissen zurecht finden will, braucht ein erhebliches Maß an Ambiguitätstoleranz, wenn er mit der ihn umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht dauernd kollidieren möchte, aber auch den Verlockungen rassistischen oder sexistischen Denkens nicht erliegen will, die eigene Gegenwart als Abfall von einer ›natürlichen Ordnung‹ zu verurteilen. Ein ebenso gelassener wie produktiver Umgang mit der omnipräsenten und – wie es scheint – zunehmenden Ambiguität in allen Wirklichkeitsbereichen braucht allerdings, so unsere Überzeugung, mehr als nur eine tolerante und insofern bloß passiv-hinnehmende Haltung. Vonnöten ist vielmehr eine gesteigerte
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Ambiguitätskompetenz, verstanden als Fähigkeit, Ambiguität in ihren Erscheinungsformen, Produktionsweisen, Motivationen und Wirkungen zu verstehen, und zugleich als Vermögen, damit produktiv umzugehen, entweder indem man selbst auf dieser Klaviatur zu spielen weiß, oder aber um ihr im notwendigen Augenblick entgegenzutreten, wenn sie diskriminierend oder in manipulativer Absicht eingesetzt wird, so wie es im Falle von ›Fake News‹ und ›alternativen Wahrheiten‹ geschieht. Dasselbe gilt für die subjektive Seite der ambivalenten Gefühle, die wir bestimmten Phänomenen gegenüber empfinden. Die Erfahrung der schwankenden eigenen Einstellung gegenüber dem Wahrgenommenen erfordert dasselbe, was auch für den souveränen Umgang mit ambigen Phänomenen gilt: Man braucht Ambivalenztoleranz, also ein akzeptierendes Verhältnis zu seinen widerstrebenden Gefühlen, aber besser noch Ambivalenzkompetenz, d.h. das Vermögen, bewusst und konstruktiv mit ihnen umzugehen. In diese Richtung will der hier vorgelegte Sammelband wirken. Mit seinen nahsichtigen, an Fallbeispielen orientierten Analysen in ambiguitätspragmatischer Absicht möchte er jene Ambiguitäts- und Ambivalenzkompetenz fördern, die mündigen und kritischen Zeitgenossen heute mehr denn je abverlangt wird.
Bestimmungen
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst1 Zur Konzeptualisierung des Ambiguitätsbegriffs für die Kunstwissenschaft Verena Krieger
Dass Kunst, namentlich zeitgenössische Kunst, mehrdeutig, offen und rätselhaft sei und dass gerade darin ihre besondere Qualität liege, ist ein Gemeinplatz der Kunstgeschichte wie der Kunstkritik. Es hat sich eingebürgert, zur Charakterisierung dieser Nicht-Eindeutigkeit künstlerischer Produktionen aus anderen Disziplinen stammende Begriffe zu verwenden, so etwa Ambivalenz oder Polysemie – und insbesondere auch den aus der Rhetorik und Linguistik stammenden Terminus der Ambiguität.2 Die Übertragung eines fachspezifischen Terminus in andere Disziplinen ist ein geläufiges Verfahren; gleichwohl eignet ihr etwas Problematisches, weil damit – wie bei jeder Übersetzung – zwangsläufig Transformationen und Umdeutungen verbunden sind (vgl. Jäger 2002, 19-41). Doch wenn der Begriff neue Aspekte an einem Gegenstand sichtbar zu machen vermag, kann er sich für die neue Disziplin als fruchtbar erweisen. So verhält es sich auch bei dem Begriff der Ambiguität, der geeignet ist, künstlerische Phänomene der Mehr- und Uneindeutigkeit zu benennen.
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Dieser Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel Modes of Aesthetic Ambiguity in Contemporary Art. Conceptualizing Ambiguity in Art History in dem von Frauke Berndt und Lutz Koepnik herausgegebenen Band Ambiguity in Contemporary Art and Theory, Sonderheft 2018 der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Ich bedanke mich bei den Herausgebern für die freundliche Zustimmung zum Wiederabdruck. Weiterhin bedanke ich mich bei den KollegInnen, MitarbeiterInnen und Studierenden der (Kunst-)Universitäten Bamberg, Bochum, Freiburg, Jena, Luzern, Tübingen, Wien und Zürich, die mir in Diskussionen geholfen haben, die Klarheit meiner Argumentation zu schärfen. Mein besonderer Dank für viele anregende Gespräche gilt Daniela Hammer-Tugendhat, Michael Lüthy, Rachel Mader und Miriam Rose. Elisabeth Fritz danke ich für ihr kluges Lektorat. Bätschmann 1981; Gamboni 2002; Krieger, Mader 2010; Von Rosen; Koos 2011; Von Rosen 2012; Pfisterer 2012a; Pfisterer 2012b; Mader 2014; Krieger 2014; Emmelheinz 2015.
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Doch stellt sich die Frage, was genau gemeint ist, wenn Kunst als ambig bezeichnet wird. Handelt es sich nicht im Grunde um eine tautologische Aussage, da es zum Wesen der Kunst gehört uneindeutig zu sein? Gibt es verschiedene Stadien, Grade oder Varianten von Ambiguität (in) der Kunst, und wie lassen sich diese fassen? Funktionieren Kunstwerke überhaupt analog zu den sprachlichen Phänomenen, auf die sich der linguistische Begriff von Ambiguität bezieht, oder ist ihre Bezeichnung als ambig rein metaphorischer Natur? Grundlegende Prämisse dieses Beitrags ist die Überzeugung, dass gerade weil die zeitgenössische Kunst in hohem Maße durch Phänomene der NichtEindeutigkeit gekennzeichnet ist, diese Nicht-Eindeutigkeit selbst als ein Phänomen zu betrachten ist, welches der Analyse bedarf. Aufgabe der Kunstwissenschaft kann es weder sein, die Ambiguität der Kunst durch Logifizierung und Vereindeutigung aufzulösen3 , noch sie lediglich apologetisch zu konstatieren oder gar diskursiv zu verdoppeln. Vielmehr gilt es, künstlerische Ambiguitätsphänomene exakt zu beschreiben sowie zu untersuchen, mit welchen Mitteln diese Ambiguität erzeugt wird, wie sie funktioniert und welche unterschiedlichen Ebenen und Formen der Produktion wie der Rezeption künstlerischer Ambiguität existieren. Hierfür bedarf es einer theoretischen Konzeptualisierung künstlerischer Ambiguität unter Berücksichtigung etymologischer und begriffsgeschichtlicher Zusammenhänge4 sowie eines analytischen Instrumentariums, das auch eine exakte und reflektierte Begrifflichkeit einschließt. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese Grundlagen zu schaffen, indem er eine theoretisch fundierte und durch die Analyse exemplarischer Kunstwerke gestützte systematische Perspektive auf künstlerische Ambiguität entwickelt. Vorgelegt werden eine Terminologie und ein Analysemodell, welche tiefergehende Untersuchungen von Ambiguitätsphänomenen in der zeitgenössischen Kunst ermöglichen. Die Argumentation wird in drei Schritten entfaltet, einem theoretischen, einem empirischen und einem systematisch-methodischen. Im theoretischen Teil wird zunächst reflektiert, inwiefern der Ambiguitätsbegriff von der Sprache auf Bilder übertragbar ist und welche Bedeutungsverschiebungen dies impliziert. Dabei unterscheide ich systematisch zwischen einer Ambiguität des Bildes und Ambiguität als Wesensmerkmal der Kunst, die zwar eng miteinander verbunden
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So begreift etwa Arthur C. Danto (1990, 45-69), Die Würdigung und Interpretation von Kunstwerken, das Kunstwerk als Metapher für einen zu erschließenden diskursiven Inhalt; Sedlmayr 1978, 96-132, insbes. 111-113 spricht davon, dass es nur eine »richtige« Interpretation gebe. Zur Etymologie und Begriffsgeschichte vgl. Tashiro 1973; Ullrich 1989; Bauer 1998; Kohlenberger 1972; Ullrich, Meier-Oeser 2005; Bauer, Knape, Koch, Winkler 2010; Berndt, Kammer 2009, 7-30.
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst
sind, aber nicht ineinander aufgehen. Aufbauend auf eine Rekonstruktion von Forschungsdebatten verschiedener Disziplinen wird eine theoretische Konzeptualisierung von ästhetischer Ambiguität vorgeschlagen, die verschiedene Ebenen von Nicht-Eindeutigkeit in der Kunst begrifflich und strukturell zu differenzieren vermag. Im zweiten Schritt kehre ich dann die Perspektive um und richte den Blick auf die Phänomene selbst, indem ich vier exemplarische Werke zeitgenössischer Kunst einem auf deren Ambiguität fokussierten Close Reading unterziehe. Dabei führe ich vor, wie über das schlichte Konstatieren ihrer Ambiguität hinausgehend diese in ihrer inneren Struktur und Funktionsweise exakt beschrieben werden kann. Im dritten Schritt werden die Ergebnisse dieser Einzeluntersuchungen systematisiert: Aus den vier analysierten Werken lassen sich vier grundlegende Modi operandi ästhetischer Ambiguität extrahieren. Ausgehend von diesen Modi entwickele ich ein Analysemodell, welches terminologisch und konzeptionell ermöglicht, die spezifischen Ambiguitätsstrukturen von Kunstwerken in ihrer Komplexität differenziert zu beschreiben und zu analysieren.
I.
Begriff und Theoretisierung ästhetischer Ambiguität
Von der Ambiguität der Sprache zur Ambiguität des Bildes Die Übertragung des sprachwissenschaftlichen Terminus Ambiguität auf Bilder bzw. Kunstwerke wirft eine Reihe von Problemen auf und impliziert grundlegende Bedeutungserweiterungen und -verschiebungen. Das betrifft zunächst die Frage der Bewertung: In der antiken Rhetorik ist griech. amphibolia, lat. ambiguitas (von ambo = beide, ambiguus = zweideutig) eindeutig pejorativ besetzt. Dies ist schon bei Platon und Aristoteles der Fall, aber auch in den römischen Rhetoriklehren (vgl. Bernecker, Steinfeld 1992; Ullrich, Meier-Öser 2005). Insbesondere im Recht als einem Hauptanwendungsfeld der Rhetorik wird Klarheit (perspicuitas) und Eindeutigkeit angestrebt und gilt es Mehrdeutigkeit ebenso wie Uneindeutigkeit (obscuritas) zu vermeiden, weil diese ungewollt Missverständnisse und Konflikte erzeugen (z.B. beim Verfassen eines Testaments oder eines Gesetzestextes). Der römische Rhetoriker Quintilian (1. Jh.) befasst sich als erster systematisch mit dem Thema (Quintilianus [um 95. n. Chr.] 1995). In seiner Redeschule widmet er der Ambiguität ein ganzes Kapitel, in dem er Ratschläge zu ihrer Vermeidung erteilt, allerdings auch darauf hinweist, dass sie eine unvermeidliche Eigenschaft der Sprache darstellt. Ein ganzes Buch seiner Rhetoriklehre ist weiterhin der Ironie gewidmet, die ja eine verbreitete Form des doppeldeutigen Sprechens ist. Hier beschreibt er (ohne den Begriff Ambiguität zu verwenden) die verschiedenen Möglichkeiten und Potenziale un-eindeutiger Rede. Indem er den strategischen Einsatz von Ambiguität in der Rede reflektiert (vgl. Bauer et al. 2010, 24-26), ermöglicht er implizit eine
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positive Bewertung von Nicht-Eindeutigkeit. Explizit wird diese allerdings erst im kunstbezogenen Rhetorik-Diskurs des Barock vorgenommen (Lachmann 1986, 541558, insbes. 546f.). Vollständig überwunden wird die negative Bewertung der Ambiguität erst von der modernen Sprachwissenschaft, die den Begriff aus der Rhetorik übernommen und deren Differenzierungen weiterentwickelt hat. Sie sieht Ambiguität als eine konstitutive Eigenschaft natürlicher Sprachen, die grundlegend zu deren flexibler Einsatzfähigkeit beiträgt (Pinkal 1991). Es werden verschiedene Typen von Ambiguität differenziert, insbesondere phonetische, orthographische, lexikalische und syntaktische Ambiguität, von denen die beiden letzteren wiederum Subkategorien aufweisen.5 Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Ambiguität verstärkt sich, nimmt man die verschiedenen Strukturebenen von Sprache in den Blick (Bauer et al. 2010, 40-64). Von der klassischen Rhetorik hat die Linguistik die Unterscheidung von Mehrdeutigkeit und Vagheit übernommen, die sich allerdings bei näherer Betrachtung selbst als unscharf erweist (Pinkal 1991, 264-266). Zudem betrifft Ambiguität nicht nur die Sprachstruktur, sondern auch die Sprachpragmatik: In der literarischen Sprache, aber auch in der Alltagskommunikation wie in der internationalen Diplomatie wird Uneindeutigkeit bewusst oder unbewusst produziert und fruchtbar gemacht.6 Letztlich dient daher in der Linguistik, wie Veronika Ehrich konstatiert, der Begriff Ambiguität in einem weiten Sinne als »Oberbegriff für alle Spielarten von Nicht-Eindeutigkeit« (Ehrich 2015, 2). Weist der Ambiguitätsbegriff also schon bezogen auf Sprache eine gewisse Ambiguität auf, insofern er eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene auf verschiedenen Strukturebenen von Sprache bezeichnet und sowohl in einem engen als auch in einem weiten Sinn verwendet wird, so steigert sich die Komplexität, sobald man ihn auf Bilder überträgt (wobei hier zunächst von Bildern im Allgemeinen und erst im zweiten Schritt von Kunstwerken die Rede ist). In der Wahrnehmungspsychologie und Bildwissenschaft wird daher debattiert, inwieweit es eine sprachanaloge Ambiguität in Bildern gibt, wobei die Auffassungen erheblich differieren. Zunächst einmal liegt der Gedanke nahe, als Analogon zur sprachlichen Ambiguität – fasst man diese im engen Sinne als lexikalische Ambiguität (z.B. »Schloss«, »Laster«) auf – das Vexierbild anzusehen. Vexierbilder sind Bilder, die neben der auf den ersten Blick erfassbaren Bedeutung eine weitere Bedeutung aufweisen;
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Innerhalb der lexikalischen Ambiguität wird zwischen Homonymie und Polysemie unterschieden und innerhalb der syntaktischen Ambiguität zwischen attachment ambiguity, Skopusambiguität sowie referentieller und funktionaler Mehrdeutigkeit (Pinkal 1991, insbes. 263f.). Zu Ambiguität und Indirektheit als sozialen Techniken vgl. aus ethnologischer Perspektive Mattausch 2006.
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst
sie sind nicht zu verwechseln mit Inversionsbildern, die gleichfalls zwei verschiedene Bedeutungen zu sehen geben, welche aber nicht gleichzeitig wahrnehmbar sind, sondern nur durch einen Wechsel der Wahrnehmungseinstellung realisiert werden können. Vexierbilder haben eine lange Geschichte und spielen in vielen Kulturen eine Rolle. Aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit haben sie traditionell meist kultische, okkulte oder subversive Funktionen, sie thematisieren oft Sexuelles oder politisch bzw. religiös Verbotenes. Seit der Neuzeit dienen sie auch als Kuriositäten der Unterhaltung (vgl. Martin 2003). Nicht zuletzt gehen Vexierbilder immer wieder auch in die Kunst ein. Bestimmte Hochphasen einer besonderen kulturellen Wertschätzung des Vexierbilds in der europäischen Geschichte sind die frühe Neuzeit, vor allem der Manierismus und die Goethezeit, in der sich Rätsel aller Art, so auch Scharaden, besonderer Popularität erfreuten. Vexierbilder fordern die BetrachterInnenaktivität in besonderem Maße heraus. Ihre doppelte »Lesbarkeit« beruht dabei auf zwei Faktoren: 1. hat das Vexierbild bestimmte innerbildliche Eigenschaften, durch die es doppeldeutig wird, 2. müssen die BetrachterInnen diese verschiedenen Bedeutungsoptionen durch aktives Schauen, unter Einsatz von Fantasie, Wissen und Erfahrung sowie in der bewussten Entscheidung für die Bewegung zwischen den verschiedenen Bedeutungen bzw. deren Kombination aktivieren. Manchmal wird ihnen dabei auch auf die Sprünge geholfen durch schriftliche Erläuterungen, die Anleitungscharakter haben oder auch witzig-rätselhafte Anspielungen sein können. Bekannte Beispiele für Vexierbilder sind etwa die anthropomorphen Stillleben Arcimboldos oder die populäre Grafik Napoleons Grab (Abb. 1). Es gibt neben den Vexierbildern aber auch andere Typen mehrdeutiger Bilder, zu nennen sind die Anamorphose (z.B. Hans Holbein d.J., Die Gesandten, 1533), das Drudel, welches auf einer extremen Abstrahierung des Dargestellten basiert, die Unmögliche Figur (z.B. Penrose-Treppe, Grafiken von M.C. Escher), sowie das bereits erwähnte Inversionsbild (auch als Kippfigur oder Kippbild bezeichnet). Es gibt drei Unterkategorien von Inversionsbildern: 1. Wechsel der Figur-Grund-Verteilung (z.B. Rubinsche Vase), 2. Umkehrung der Tiefenverhältnisse (z.B. Neckerwürfel), 3. Zentrierungswechsel (z.B. Hase-Ente-Kopf)7 (Abb. 2). Dieser dritte Typ ist in unserem Zusammenhang am interessantesten, denn während es sich bei den beiden anderen Typen von Inversionsbildern eher um logisch-geometrische Phänomene handelt, geht es hier um eine inhaltliche Wahl der BetrachterInnen. In der jüngeren angelsächsischen Literatur wird dieser Typus daher als »meaning reversal« bezeichnet (Long, Toppino 1981, zit.n. Kalkofen 2006, 31). Noch treffender ist m.E. Ludwig Wittgensteins Begriff des Aspektwechsels, weil er die Entscheidung der Betrachtenden benennt, auf welchen Aspekt des Bildes sie sich konzentrieren. Wittgenstein verwendet den Begriff aber in einem umfassenderen Sinn, nicht nur 7
Diese Kategorisierung stammt von Ottilie Redslob 1938, zit.n. Kalkofen 2006, 31.
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Abb. 1: Nathaniel Currier, James Merritt Ives: The Tomb And Shade of Napoleon. From A Natural Curiosity At St Helena, Mitte 19. Jahrhundert, Handkolorierte Lithographie, Michele and Donald D’Amour Museum of Fine Arts, Springfield, Massachusetts.
bezogen auf diese Unterkategorie des Inversionsbildes, die ihm nur als Ausgangspunkt dient, um grundsätzlicher über Bilder nachzudenken (Wittgenstein [1953] 1989a, 225-580, hier insbes. 522, 531, 550f). Ich werde an späterer Stelle ausführlicher darauf zu sprechen kommen. Inwiefern können nun diese Bildtypen als Analoga zur sprachlichen Ambiguität bezeichnet werden? Legt man den engeren, auf die Sprachstruktur bezogenen Ambiguitätsbegriff der Linguistik zugrunde, so sind Vexierbilder nicht ambig, da charakteristisch für sie ist, dass man beide Bedeutungen gleichzeitig wahrnehmen kann. So sieht man in Arcimboldos Jahreszeiten-Zyklus zugleich Porträtbüsten und Früchte. Und hat man in Napoleons Grab einmal Napoleon zwischen den Bäumen neben seinem eigenen Grab stehend entdeckt, kann man ihn aus der Wahrnehmung nicht mehr ausblenden. Inversionsbilder wie der Hase-Ente-Kopf dagegen zwingen die BetrachterInnen, zwischen zwei Sehoptionen zu wählen. Entweder sieht man den Hasen oder die Ente – beides gleichzeitig ist nicht möglich. Das Inversionsbild ist folglich das eigentliche bildliche Pendant zur sprachlichen Am-
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst
Abb. 2: Hase-Ente-Kopf, aus: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953.
biguität, kann doch auch bei einem ambigen Wort wie »Schloss« immer nur eine von beiden Bedeutungen gemeint und verstanden sein, niemals beide zugleich.8 Der Wahrnehmungspsychologe Hermann Kalkofen unterscheidet daher strikt zwischen Vexierbild und Ambiguität und lässt einzig den speziellen Typ des Inversionsbilds als ambiges Bild gelten (Kalkofen 2006). Demgegenüber spricht Nicolas Romanacci allgemein von einer »pictorial ambiguity« bezogen auf die unterschiedlichsten Phänomene bildlicher Uneindeutigkeit, zu denen er neben den doppeldeutigen Bildern auch andere Formen bildlicher Verunklärung wie z.B. Unschärfe und Abstrahierung zählt (Romanacci 2009). Einen noch weiter gefassten Begriff bildlicher Ambiguität vertritt der Kunsthistoriker James Elkins, der eine Reihe verschiedener »arenas« bildlicher Ambiguität auflistet und dabei nicht nur spezifische Bildmittel und Bildstrukturen einbezieht, sondern auch semantische Aspekte, so etwa psychologische Komplexität, diskursiven Kontext etc. Er betont, dass die Anzahl dieser Arenen letztlich endlos sei (Elkins 1999, 96-110). Diese gegensätzlichen Positionen, bezogen auf bildliche Ambiguität, spiegeln in gewisser Weise die unterschiedlichen Perspektiven in der Linguistik wider, bei der gleichfalls sowohl ein sehr enger (auf bestimmte Typen sprachlicher Zeichen bezogener) als auch ein sehr weit gefasster (auf alle Phänomene sprachlicher Nicht-Eindeutigkeit bezogener) Begriff von Ambiguität existiert. Dementsprechend stellt sich in beiden Feldern dasselbe Problem: Ambiguität entfaltet in der Sprachpraxis ein enormes Potenzial und eine unüberschaubare Vielfalt, die zahlreiche Ansatzpunkte für die Forschung bietet. Dagegen ist die lexikalische Ambiguität eine höchst spezielle und in ihrem Vorkommen recht überschaubare
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Natürlich kann der Doppelsinn eines Begriffs auch bewusst eingesetzt und simultan aufgerufen werden, so etwa in der Lyrik, im Witz, in der politischen Rhetorik etc., aber dies ist dann kein Fall der Sprachstruktur, sondern der Sprachpragmatik.
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Erscheinung, die wenig Fragen aufwirft. Genauso verhält es sich bei der bildlichen Ambiguität: Bilder verfügen über ein gewaltiges Spektrum an Möglichkeiten, Nicht-Eindeutigkeit zu erzeugen, das sich einem zusammenfassenden Überblick tendenziell entzieht, so – um nur ihre wichtigsten Elemente und Verfahren zu nennen – durch die Bildmittel selbst (Farbe, Linie, Perspektive etc.), durch ikonografische Widersprüche, durch Bedeutungsgegensätze zwischen den dargestellten Bildgegenständen, durch hybride Verbindungen verschiedener Medien und vieles mehr. Innerhalb dieser Vielfalt von Erscheinungsweisen und Funktionsweisen bildlicher Nicht-Eindeutigkeit ist das Inversionsbild nur ein sehr spezieller und selten auftretender Fall und für ein Verständnis der gesamten Bandbreite der Phänomene von sehr begrenzter Relevanz. Vor diesem Hintergrund erweist sich ein eng gefasster Begriff bildlicher Ambiguität (ebenso wie ein eng gefasster Begriff sprachlicher Ambiguität) als wenig hilfreich, vielmehr bietet es sich an, den Ambiguitätsbegriff bezogen auf Bilder (ebenso wie auf Sprache) im weiten Sinne von Nicht-Eindeutigkeit zu fassen.9 Des Weiteren ist es wenig ertragreich, die Untersuchung bildlicher Ambiguität auf spezielle Typen mehrdeutiger Bilder wie z.B. Inversionsbilder zu fokussieren. Nicht nur gibt es wichtige andere Gruppen nicht-eindeutiger Bilder, so die unscharfen Bilder (vgl. Ullrich 2002) oder auch die von Dario Gamboni als »potential images« bezeichneten Bilder (vgl. Gamboni 2002), deren Abstrahierungsgrad gerade an die Grenze gegenständlicher Erkennbarkeit reicht, sodass sie besonders imaginationsanstiftend wirken. Doch auch diese stellen nur besondere Spielarten bildlicher Ambiguität dar, deren Potenzial weit umfassender ist. Fruchtbarer ist es, die Frage nach der Ambiguität von Bildern grundsätzlicher zu stellen.
Von der Ambiguität des Bildes zur Ambiguität der Kunst Wegweisend hierfür ist Ludwig Wittgenstein, der sich in seinen »Philosophischen Untersuchungen« (1953 postum erschienen) vor allem mit Sprache, aber auch mit bildlicher Ambiguität befasst. Seine bildtheoretischen Überlegungen werden häufig nur mit dem von ihm diskutierten Hase-Ente-Kopf in Verbindung gebracht und damit auf das Inversionsbild reduziert, doch tatsächlich gehen sie weit darüber hinaus. Von zentraler Bedeutung in unserem Zusammenhang ist, wie bereits erwähnt, der von ihm eingeführte Begriff des Aspektwechsels: Nach Wittgenstein ist es möglich, in einem Bild zwei oder mehrere Aspekte zu sehen (Wittgenstein [1953]1989a, insbes. 518-552). Das heißt, je nachdem, wer es betrachtet bzw. wie
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Damit vertrete ich eine andere Position als einige Literatur- und KunstwissenschaftlerInnen, die eine enge Definition von Ambiguität bevorzugen Vgl. Rimmon-Kenan 1977, 9; Berndt, Kammer 2009; Specht 2011 sowie den Beitrag von Michael Lüthy in diesem Band.
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oder wann es betrachtet wird, kann in ein und demselben Bild je etwas anderes gesehen werden. Dabei ist es auch möglich, zwischen diesen verschiedenen Aspekten zu wechseln. Der Hase-Ente-Kopf dient Wittgenstein als Beispiel hierfür, jedoch bleibt er bei dieser simpelsten und radikalsten Form des Aspektwechsels nicht stehen, sondern diskutiert auch andere Varianten. Als weitere Beispiele nennt er unter anderem ein »Gewirr nichtssagender Striche«, welches »nach einigem Suchen erst als, sagen wir, ein Landschaftsbild« erscheine, (Wittgenstein 1989b, 312) sowie ein Dreieck, das wahlweise »als dreieckiges Loch, als Körper, als geometrische Zeichnung, (…) als Berg, als Keil, als Pfeil oder Zeiger, als ein umgefallener Körper (…), als ein halbes Parallelogramm, und verschiedenes anderes« gesehen werden könne (Wittgenstein [1953] 1989a, 530). Das Bemerkenswerte an diesen Beispielen ist, dass es sich dabei gerade nicht um Inversionsbilder handelt, bei denen der Blick auf zwei Optionen festgelegt ist und man immer nur eine von beiden wahrnehmen kann, sondern dass hier eine freiere (wenn auch nicht beliebige) Betätigung der Vorstellungskraft möglich und erforderlich ist. Nach Wittgenstein handelt es sich beim Aspektsehen nämlich nicht um reine Wahrnehmung, sondern um eine Verbindung von Sehen und Denken (Wittgenstein [1953] 1989a, 525), es hat also einen konzeptuellen Charakter. Folglich ist der Aspektwechsel nicht primär eine Eigenschaft des Bildes, sondern vor allem eine mentale Aktivität der Betrachtenden: Das Bild muss ihn ermöglichen, die strukturellen Voraussetzungen dafür bieten, aber die RezipientInnen müssen ihn vollziehen – sonst existiert er nicht. Wittgenstein verwendet also nicht den Begriff der Ambiguität, aber er beschreibt exakt die verschiedenen Spielarten bildlicher Nicht-Eindeutigkeit, die sowohl in der Form eines Hin-und-Her-Kippens zwischen gegensätzlichen Bedeutungen als auch in der Form phantasieanstiftender Abstraktion auftreten kann. Wichtiger als die Differenz zwischen beiden Varianten ist ihre Gemeinsamkeit, die darin besteht, bei den Betrachtenden einen aktiven Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsprozess in Gang zu setzen – das Aspektsehen. Damit ist bildliche Ambiguität wesentlich auch zu einer Frage der Rezeption geworden. Wittgensteins Bildtheorie wurde prägend für die Bildwissenschaft bis in die Gegenwart, wobei die Autoren seinen Ansatz erweiterten – allerdings auch auf missliche Weise verengten. Die wohl früheste Rezeption Wittgensteins leistete Ernst Gombrich in seinem Buch Art and Illusion (1959), das sich aus kunsthistorischer Perspektive mit der »Psychologie der bildlichen Darstellung« befasst (Gombrich [1960] 2002). Gombrich zeigt auf, dass Bilder grundsätzlich Illusion erzeugen, und dies auf vielfältige und historisch sich wandelnde Weise. Ein eigenes Kapitel ist der Ambiguität gewidmet, die durch die Zentralperspektive produziert wird: Wenn etwa durch lineare Verkürzung oder durch Verbläuung der Eindruck räumlicher Tiefe entsteht, wird auf einer zweidimensionalen Oberfläche die Illusion von Dreidimensionalität erzeugt. Daraus folgt, dass das perfekt illusionistische, scheinbar besonders naturwahre Bild geradezu ein Höhepunkt
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visueller Ambiguität ist, weil es sich um ein Stück bunter Leinwand handelt, die als Tisch oder als Madonna wahrgenommen wird (Gombrich [1960] 2002, 204244). Gombrich leitet aus Beobachtungen wie dieser die allgemeine Feststellung ab, dass allen Bildern prinzipiell eine Doppelstruktur eigen sei: Einerseits sind sie materielles Ding (Leinwand, Farbe) und können als solches wahrgenommen werden, andererseits sind sie das, was sie zu sehen geben (Illusion). Seiner Auffassung nach können die RezipientInnen immer nur das eine oder das andere sehen (Gombrich [1960] 2002, 5, 198). Damit sind wir wieder beim Kippeffekt angelangt: Nach Gombrich zwingt nicht nur das Inversionsbild zum Aspektwechsel, sondern jedes Bild. Während also Wittgenstein ausgehend vom Hase-Ente-Kopf zu einem erweiterten Verständnis des Aspektwechsels gelangte, geht Gombrich genau den umgekehrten Weg und erklärt das Inversionsbild zum Modell des Bildes an sich. Dem widerspricht der Philosoph Richard Wollheim nachdrücklich. Auch er konstatiert eine prinzipielle Doppelstruktur von Bildern, deren Wahrnehmung er daher als zwiefältig (twofold) bezeichnet (Wollheim 1980). Die beiden möglichen Wahrnehmungsweisen von Bildern charakterisiert er jedoch anders als Gombrich: Auf der einen Seite stehe das Sehen-als (seeing as), die Wahrnehmung des im Bild zu sehen Gegebenen als reales Objekt, auf der anderen Seite das Sehen-in (seeing-in), die Wahrnehmung des im Bild zu sehen Gegebenen als Darstellung. Während das Sehen-als keine spezifische Wahrnehmungsleistung darstellt, sondern eine Form der unmittelbaren Wahrnehmung existierender Dinge ist, setzt das Sehen-in Imaginationskraft voraus. Das Sehen-als entspricht dem Alltags-Sehen, das Sehenin dagegen ist das eigentliche ästhetische Sehen, Wollheim bezeichnet es als das den Darstellungen angemessene Sehen (representational seeing) (Wollheim 1982, 192, 204).10 Es handelt sich also um zwei grundsätzlich verschiedene Wahrnehmungsweisen. Zugleich insistiert Wollheim – hierin Gombrich lebhaft kritisierend – darauf, dass beide Wahrnehmungsweisen einander nicht ausschließen. Man müsse bei der Betrachtung eines Bildes keineswegs wie bei einem Inversionsbild zwischen beiden Optionen hin- und herwechseln, vielmehr beziehe das Sehen-in die Wahrnehmungsoption des Sehen-als simultan mit ein bzw. stütze sich auf dieses, was umgekehrt nicht möglich sei. Mehr noch: Gerade diese Verbindung beider Wahrnehmungsoptionen sei charakteristisch für die »Kultivierung einer besonderen Art des visuellen Erlebens«, die das Sehen-in leiste (Wollheim 1982, 208). Gombrich und Wollheim sprechen allgemein von Bildern, doch geht es beiden letztlich um künstlerische Bilder. Sie lassen sich dabei von unterschiedlichen Paradigmen leiten: Gombrich, der aus der Renaissanceforschung kommt, hat vorzugs-
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Es ergibt sich eine gewisse terminologische Verwirrung daraus, dass nicht etwa Wollheims Begriff des Sehen-als, sondern sein Begriff des Sehen-in mit dem Sehen-als bei Wittgenstein – dem Aspektsehen – korrespondiert (wenngleich nicht identisch ist); vgl. hierzu Lüthy 2009, 111-119. Eine Publikation bei diaphanes in Zürich ist vorgesehen.
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weise gegenständliche und perspektivische Bilder vor Augen und behandelt die kubistische Malerei als Sonderfall. Wollheims Konzeption ästhetischer Wahrnehmung bezieht dagegen auch die zeitgenössische Abstraktion mit ein.11 Während bei Gombrich die Materialität des Bildes als die verborgene Kehrseite des illusionistischen Bildobjekts erscheint, ist bei Wollheim das im Bild zu sehen Gegebene nicht zwingend illusionistisch, sondern erlangt selbstständigen ästhetischen Wert. Als ein erstes Zwischenresümee lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die Frage nach der Ambiguität von Bildern nach mehreren Gesichtspunkten auszudifferenzieren ist: Erstens geht es nicht um Eigenheiten bestimmter Typen von Bildern, sondern um eine grundsätzliche Charakteristik des Bildes an sich: Da es als Bild zugleich etwas ist und etwas zeigt,12 und da das von ihm Gezeigte zugleich sichtbar und doch nicht anwesend ist, erfordert es eine doppelte Wahrnehmung. Damit rückt zweitens die Rezeption ins Zentrum: Das Aspektsehen ist der entscheidende Vorgang, in dem sich bildliche Ambiguität manifestiert. Dieses Aspektsehen ist aber drittens nicht nur ein optischer, sondern wesentlich ein mentaler Akt. Er erfordert nicht nur Denkfähigkeit, sondern auch Imaginationskraft. Viertens kann das Aspektsehen nicht nur oder nicht primär ein Wechsel zwischen oder eine Abfolge von verschiedenen Aspekten des Bildes sein, sondern auch eine simultane Wahrnehmung verschiedener Aspekte. Gerade diese Simultaneität ist charakteristisch für die Wahrnehmung von Bildern. Und fünftens schließlich ist – dies wird von keinem der genannten Autoren thematisiert, ist aber von zentraler Bedeutung – historisch und sozial bedingt, welche Aspekte man sehen kann, und das Aspektsehen folglich grundsätzlich historischem Wandel unterworfen. Angesichts dessen, dass Ambiguität konstitutiv für Bilder und die adäquate Wahrnehmung dieser ambigen Struktur konstitutiv für die Wahrnehmung von Bildern ist, mag es verwundern, dass die Ambiguität des Bildes in der neueren Bildwissenschaft seit den 1980er Jahren nur eine geringe Rolle spielt. Jedoch kann man die Bildtheorie von Gottfried Boehm – auch ohne dass er den Begriff verwendet – als eine Theorie der Ambiguität des Bildes lesen (vgl. Boehm 1994; Boehm 2007, 208-211; Boehm 2011).13 Wie schon Gombrich und Wollheim konstatiert Boehm eine prinzipielle Doppelstruktur des Bildes: Jedes Bild sei durch einen grundsätzlichen Kontrast charakterisiert zwischen dem anschaulichen Ganzen des Bildes und den
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So zieht er auch Jasper Johns Flaggenbilder als Beispiel mit heran (vgl. Wollheim 1982, 209f). Zur Koinzidenz von Wollheims Bildtheorie und zeitgenössischer Kunstentwicklung vgl. Neuner 2011. In der neueren Bildtheorie und Bildwissenschaft wird die Charakteristik des Bildes von verschiedenen Autoren treffend auf den Begriff des »Zeigens« gebracht. Vgl. Boehm 2007; Wiesing 2013. Boehms Überlegungen zur ikonischen Differenz erschöpfen sich freilich nicht in der Konstatierung von Ambiguität, sollen hier jedoch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden.
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darin zu sehen gegebenen Einzelbestimmungen wie Farbe, Form, Figur etc. Diesen »visuellen Grundkonstrast« bezeichnet er als »ikonische Differenz«, er sieht ihn als konstitutiv für jedes Bild (Boehm 1994, 32). Aus ihm lassen sich – das ist eine Erweiterung gegenüber den genannten Autoren – zahlreiche weitere Kontraste ableiten, die uns in Bildern begegnen, so etwa die Kontraste von Flächigkeit vs. räumlicher Tiefe, Opazität vs. Transparenz, Detail vs. Bildganzes, Illusion vs. Faktur etc. Innerhalb der »spannungsvollen Beziehung« zwischen beiden Polen entfaltet sich nach Boehm die spezifische Qualität des Bildlichen. Dabei mag das einzelne Bild jeweils eher den einen oder den anderen Pol betonen, letztlich sei ein »starkes Bild« durch die Aufrechterhaltung des spannungsreichen Kontrastes charakterisiert (Boehm 1994, 32-35, Zitate 34, 35). Die ikonische Differenz ist also zunächst eine Eigenschaft aller Bilder. Aber manche Bilder steigern sie, und das geschieht durch eine bewusste künstlerische Entscheidung. Ein Bild wird zum Kunstwerk dadurch, dass es die ikonische Differenz optimiert, indem es sie inszeniert (Boehm 1994, 30). Als ein (schon von Wollheim angeführtes) Paradebeispiel für ein solches Hervorkehren der ikonischen Differenz kann man Jasper Johnsʼ berühmtes Gemälde Flag (1954/55) (Abb. 3) sehen, dessen wesentliche Charakteristik darin besteht, dass es auf doppelte Weise lesbar ist: einerseits als Repräsentation des Motivs der amerikanischen Flagge und andererseits als autonome Malerei.14 So ist es beides zugleich: eine Flagge und ein Gemälde, ein Bild und ein Objekt, illusionistisch und materiell. Dieser jedem Bild eigene Zwitterstatus von Bild- und Objekthaftigkeit, Repräsentation und Realie wird von illusionistischer Malerei tendenziell unsichtbar gemacht, indem sie die Bildillusion in den Vordergrund rückt. Flag hingegen thematisiert diese Ambiguität explizit.15 Bewirkt wird dies durch einen doppelten Kunstgriff, indem nämlich erstens die Gestalt der Flagge mit der Bildfläche in eins gesetzt ist und zweitens beide Aspekte des Werks zusätzlich intensiviert werden. Denn das Motiv der Flagge ist ästhetisch markant und als Symbol mit zahlreichen Assoziationen aufgeladen, zugleich zieht die ungewöhnliche Materialität und Technik des Werks besonders die Aufmerksamkeit auf sich. Es handelt sich um schichtweise übereinander geklebtes Zeitungspapier, über das in einer Variante der antiken Technik der Enkaustik mehrere Farbschichten gelegt sind. Da das Wachs eine besondere Oberflächenstruktur und Transparenz aufweist und so Schrift- und Bildmotive der Zeitungen andeutungsweise durchscheinen lässt, sieht es also nur auf den ersten Blick wie
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Bereits zeitgenössische Rezipienten warfen daher die Frage auf: »Is it a flag or is it a painting?«. Vgl. Whitechapel Gallery (Hg.). 1964: Jasper Johns, Paintings, Drawings, and Sculpture 1954-1964. Ausst.-Kat. Whitechapel Gallery, London, 9. Die Autoren Alan R. Salomon, John Cage und Leo Steinberg geben darauf unterschiedliche Antworten. Mit anderen Mitteln, aber ebenso explizit leistet dies René Magrittes Der Verrat der Bilder (1929) mit der Abbildung einer Pfeife und dem Text »Ceci n’est pas une pipe«.
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ein Ölgemälde aus und erweist sich auf den zweiten Blick als etwas ganz anderes. Beide Pole des Werks – sein repräsentationaler und sein materialer Aspekt – sind also forciert, ja sie werden gegeneinander in Stellung gebracht. Indem ihr Blick hin- und her gelenkt wird, sind die Betrachtenden aufgefordert, diese ständige Bewegung zwischen den polaren Aspekten des Werks als das zentrale Moment ihrer Rezeption aufzufassen. Jasper Johnsʼ Flag exponiert seine eigene Ambiguität so sehr, dass diese zu seinem eigentlichen Thema wird.
Abb. 3: Jasper Johns: Flag, 1954/55, Enkaustik, Öl und Collage auf Stoff montiert auf Sperrholz, Museum of Modern Art New York.
Wendet man Gottfried Boehms Theorem der ikonischen Differenz auf dieses Werk an, so ist damit die Struktur des Werks treffend erfasst, doch nicht dessen Bedeutungsgehalt. Denn die ikonische Differenz ist – wie Michael Lüthy zu Recht sagt – nicht selbst die Bedeutung des Bildes, sondern die Voraussetzung von deren Genese (Lüthy 2009, 182). Bestimmt man die Bedeutung von Flag dahingehend, dass es sich um eine Reflexion über das Prinzip der Repräsentation handelt, also über die Problematik, dass der im Bild dargestellte Gegenstand ›Flagge‹ gleichzeitig präsent und doch abwesend ist, und dass das Motiv Flagge (gleich anderen von Johns verwendeten Motiven wie Ziffern oder die Dartscheibe) kein natürlicher Gegenstand ist, sondern selbst bereits ein von Menschen geschaffenes Zeichen (vgl. Steinberg 2007, 17-54, insbes. 26f.), dann handelt es sich um eine Selbstreflexion des Bildes. Damit überschreitet das Werk die Theorie von Boehm, die sich ausschließlich auf das Visuelle bezieht.
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Boehms Kategorie der ikonischen Differenz betrifft letztlich jedes Bild, sie bleibt damit implizit und allgemein. Der Grundkontrast, auf dem Flag basiert, ist hingegen explizit und spezifisch. Denn die Ambiguität dieses Werks erschöpft sich gerade nicht in der ikonischen Differenz, die ja auf alle möglichen Weisen evoziert werden kann, sondern sie resultiert daraus, dass der Künstler ein Objekt als Bildgegenstand gewählt hat, welches selbst ein Bild ist. Durch die bewusste Angleichung des Bildformats an den Bildgegenstand sowie durch die Wahl eines Titels, der diese ambige Struktur seinerseits reproduziert (ist es ein Titel oder bezeichnet er ein Ding?), wird das Verhältnis von Bild und Bildgegenstand prinzipiell problematisiert. Die Ambiguität von Flag bewegt sich also nicht allein auf der visuellen Ebene, sondern hat auch eine konzeptuelle Dimension. Das visuelle Moment spielt für diese zwar eine konstitutive Rolle, doch die Bedeutung der Ambiguität des Werks geht über das rein Visuelle hinaus. Diese konzeptuelle Dimension des Oszillierens zwischen polaren Aspekten in Flag (wie allgemein in Werken der bildenden Kunst) lässt sich besser mit Ludwig Wittgenstein fassen. Es erweist sich nun als ausgesprochen nachteilig, dass die bildwissenschaftliche Rezeption Wittgensteins Überlegungen fälschlich auf eine reine Bildtheorie reduziert hat.16 Wittgensteins Nachdenken über die Wahrnehmung von Bildern ist aber nicht primär oder ausschließlich aufs Visuelle gerichtet. Wie bereits erwähnt, definiert er das Aspektsehen nicht einfach nur als reine optische Wahrnehmung, sondern als eine Verbindung von Sehen und Denken, es hat also einen konzeptuellen Charakter. Jasper Johnsʼ Flag, vor diesem Hintergrund betrachtet, ermöglicht einen Aspektwechsel, ja legt ihn den BetrachterInnen nahe. Im Unterschied zum Inversionsbild erzeugt dieses Kunstwerk aber nicht einfach nur einen optischen Wechseleffekt, sondern es verfügt über einen konzeptuellen Gehalt (Flagge vs. malerische Faktur, Reflexion über Repräsentation). Hat man diesen erfasst, muss man auch nicht mehr zwischen beiden Sehoptionen hin- und herwechseln, sondern erlebt sie simultan. Nicht allein die Tatsache, dass Flag die Polarität der Aspekte hervorkehrt und steigert, macht seinen Kunstwerkcharakter aus, sondern dieser autoreflexive Zug. Damit ist die Frage nach der Ambiguität des Bildes zur Frage nach dem Kunstcharakter bildlicher Ambiguität geworden. Wittgenstein sieht die Produktion von Aspektwechseln als ein Grundcharakteristikum von Kunstwerken an und parallel dazu das Vermögen zum Aspektsehen als grundlegend für die ästhetische Rezeption. Das Kunstwerk ist Kunstwerk dadurch, dass es Aspektwechsel erzeugt, das heißt zu einem intensiven Aspektsehen und vielfachen Aspektwechsel einlädt
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Die folgenden Ausführungen verdanken grundlegende Anregungen Michael Lüthy, der Wittgenstein einer grundlegenden Relektüre unterzogen und damit auf völlig neuer und erweiterter Basis für die Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht hat (vgl. Lüthy 2009, 61-195).
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(Wittgenstein [1953] 1989a, 552; vgl. Lüthy 2009, 78-111). Zugleich überträgt Wittgenstein seine Theorie auf andere künstlerische Artikulationsformen: Auch Musik und Literatur können Aspektwechselerfahrungen hervorrufen (Wittgenstein [1953] 1989a, 545f., 552 u.a.) Es handelt sich also keineswegs um ein Privileg des Bildes. Michael Lüthy hat überzeugend herausgearbeitet, dass Wittgensteins Theorie eine Kunsttheorie ist – und eben nicht nur eine Theorie der bildlichen Wahrnehmung, wie allgemein angenommen. Seiner Auffassung nach entfaltet Wittgensteins Aspekttheorie »gerade im Hinblick auf die Kunst der Moderne ihre eigentliche Produktivität«, insofern sich in der Moderne eine »Dynamisierung des Aspektwechsels« vollzieht (Lüthy 2009, 124). Damit ist gemeint, dass die moderne ästhetische Praxis wesentlich darauf ausgerichtet ist, Aspektwechsel zu produzieren – mehr noch: »Einen Aspektwechsel hervorzurufen, wird [in der Moderne] zum eigentlichen Ziel der Kunst, und dessen Erfahrung zum Ursprung der Sinnstiftung im und durch das Werk.« (Lüthy 2009, 123). Dem möchte ich hinzufügen: Die Ermöglichung von Aspektwechsel in einem Kunstwerk ist nichts anderes als die künstlerische Produktion von Ambiguität (die auf vielen verschiedenen Ebenen im Werk stattfinden kann) – und dies geschieht schon in der Frühen Neuzeit, verstärkt aber in der modernen und zeitgenössischen Kunst in hohem Maße intentional.17 Dementsprechend vollzieht sich die Dynamisierung des Aspektwechsels in der modernen und zeitgenössischen Kunst wesentlich in einer gesteigerten Hervorbringung von Ambiguitätsphänomenen. Wittgensteins Aspekttheorie erweist sich als geeignet, die Ambiguitätsphänomene in der bildenden Kunst theoretisch zu erfassen, weil sie diese erstens als etwas genuin Künstlerisches begreift und zweitens gerade ihre Verschiedenheit reflektiert. Die Aspekttheorie wird also dem Umstand gerecht, dass die Kunst ganz heterogene Spielarten von Ambiguität hervorbringt. Damit komme ich zu meinem zweiten Zwischenresümee. Es hat sich gezeigt, dass Bilder verschiedene Aspekte haben und wahrnehmbar machen können. Dies ist zunächst die polare Spannung zwischen dem Bild als materiellem Objekt und seiner Bildlichkeit, jedoch sind darüber hinaus zahlreiche weitere Aspekte – die häufig, aber nicht zwingend in einer Polarität stehen – möglich. Über diese Eigenschaft und dieses Vermögen verfügen alle Bilder, doch können bestimmte Bildtypen wie z.B. Vexierbilder, unscharfe Bilder, mit visueller Doppeldeutigkeit spielende Bilder oder Bilder an der Abstraktionsgrenze spezielle Formen von Ambiguität hervorbringen. Die Ambiguität von Bildern manifestiert sich aber nicht allein auf der Ebene visueller Wahrnehmung, sondern meist auch auf einer mentalen Ebe-
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Belege für intentionalen Umgang mit Ambiguität in der Kunst der Frühen Neuzeit liefern vor allem: von Rosen 2009; von Rosen 2010; von Rosen 2012; Pfisterer 2012a; Pfisterer 2012b. Zur Ambiguität in der modernen und zeitgenössischen Kunst vgl. u.a. Krieger, Mader 2010; Mader 2014; Krieger 2014, Krieger 2021.
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ne. Kunstwerke verbinden beide Ebenen von Ambiguität und machen diese Verbindung für die ästhetische Erfahrung produktiv. Die Reflexion über bildliche Ambiguität hat daher letztlich zur Ambiguität des Kunstwerks geführt. Doch so wenig wie jedes Bild ein Kunstwerk ist, ist die Ambiguität eines Bildes identisch mit der Ambiguität eines Kunstwerks. Vielmehr wird – wie das Beispiel von Jasper Johnsʼ Flag zeigte – die Ambiguität der Kunst wesentlich auch, aber nicht zwingend und nicht ausschließlich durch bildliche Ambiguität generiert. Bildliche Ambiguität hat für die Ambiguität des Kunstwerks eine dienende, oft auch tragende Funktion, doch sie allein konstituiert noch keine künstlerische Ambiguität. Künstlerische Ambiguität hat über das rein Visuelle hinaus auch eine konzeptuelle Dimension – sie ist ästhetisch gestaltete, gesteigerte, komplexierte, kultivierte Ambiguität. Um diese Differenz deutlich zu machen und die Spezifik künstlerischer Ambiguität hervorzuheben, halte ich eine begriffliche Abgrenzung für erforderlich. Ich bezeichne die Ambiguität (in) der Kunst in Anlehnung an Ernst Kris und Abraham Kaplan als ästhetische Ambiguität (vgl. Kris, Kaplan [1948] 1952, 243-264)
Ambiguität als Charakteristikum von Kunst Diskutiert man ästhetische Ambiguität, so gelangt man vom bildwissenschaftlichen Terrain in dasjenige der philosophischen Ästhetik. Bereits seit der Antike wird über Phänomene von Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit in der Kunst nachgedacht, so wie auch die frühchristliche Allegorese und die darauf basierende mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn frühe Formen der Konzeptualisierung von Ambiguität darstellen (vgl. Tashiro 1973, 48-54).18 In der Frühen Neuzeit gibt es, wie Ulrich Pfisterer aufzeigt, ein Bewusstsein für verschiedene Formen ästhetischer Ambiguität unter den Gesichtspunkten sowohl der daraus resultierenden Probleme als auch ihrer Potenziale (Pfisterer 2012a). In der barocken Rhetorik verliert die Ambiguität ihren negativen Status, Formen der Sinnverdunkelung erscheinen nun geradezu erstrebenswert, wofür ein ganzes Instrumentarium an sprachlicher Ambiguität entwickelt wird. Obwohl der Kunstdiskurs noch im Rahmen rhetorischer Lehre stattfindet, werden durch die positive Wertung des decorum-Verstoßes deren traditionelle Prinzipien unterlaufen (vgl. Lachmann 1986). Doch erst mit der Begründung der philosophischen Ästhetik durch Alexander Baumgarten, der die »klar-verworrene« sinnliche Wahrnehmung als eine eigenständige Erkenntnisstufe anerkennt, wird Unbestimmtheit zum zentralen Merkmal des Ästhetischen und diesem zugleich ein eigenständiges Erkenntnispotenzial zugeschrieben (Baumgarten 2007; vgl. auch Gabriel 2007, 141-156). Immanuel Kant 18
Zur Vorgeschichte des goethezeitlichen Diskurses über Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit des Kunstwerks vgl. auch Brunemeier 1983, 12-41.
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hat diesen Gedanken in der Kritik der Urteilskraft aufgegriffen und weiter ausgearbeitet: Da die »ästhetische Idee« eine »Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet«, überschreitet sie den bestimmten Gedanken, und gerade dies macht ihren Reichtum aus (Kant [1790] 1908, 313ff, Zitat S. 315). Auf dieser Grundlage wird im goethezeitlichen Kunstdiskurs ästhetische Ambiguität in ihren verschiedenen Spielarten unter den Begriffen der Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit zum grundlegenden Merkmal des Poetischen und Künstlerischen erhoben (Seiler 1982, 87-104; Brunemeier 1983; Bode 1988; Frank 2004). Die radikalste Position vertreten dabei die Jenaer Frühromantiker. Ihnen geht es nicht nur um die Unbestimmtheit als Eigenschaft des Geschmacksurteils und folglich des ästhetischen Erkenntnisvermögens des Subjekts, sondern sie sehen in der Unbestimmtheit eine Eigenschaft des poetischen Kunstwerks selbst und darin wiederum dessen eigentliche Qualität und besonderes Potenzial. Was unbestimmt ist, ist potenziell unerschöpflich, mehr noch: in seiner Rätselhaftigkeit liegt auch eine vertiefte Wahrheitsfunktion.19 Damit erlangt ästhetische Ambiguität eine normative Dimension, die für die Moderne konstitutiv wird und bis in die Gegenwart fortwirkt. Vielen Kunsttheoretikern des 20. und 21. Jahrhunderts von Theodor W. Adorno bis Jacques Rancière gilt Ambiguität – nicht unbedingt dem Begriff, aber der Bedeutung nach – als elementares Charakteristikum und grundlegendes Potenzial der Kunst (vgl. Blumenberg 1960, 174-179; Eco 1977; Adorno 1973; Rancière 2008, 75-99). Diese Normativierung ästhetischer Ambiguität hat sich auch in der Kunstkritik und schließlich im Alltagsbewusstsein durchgesetzt. Sie wird nicht zuletzt auch bestätigt durch den experimentell gewonnenen Befund, dass als ambig erlebte Bilder – sofern sie in einem Museumskontext betrachtet werden – mehr Interesse und Zuspruch erfahren (Brieber et al. 2014). Damit sind zahlreiche neue Fragen aufgeworfen: Welche Möglichkeiten gibt es angesichts der enormen Vielzahl an Erscheinungsformen ästhetischer Ambiguität, die von der Vieldeutigkeit bis zur Unbestimmtheit reichen, terminologisch
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Novalis 1981, Fragment Nr. 94: »Ein Gedicht muss ganz unerschöpflich sein, wie ein Mensch und ein guter Spruch«. Damit ist gemeint, dass es unendlich ausdeutbar sein soll, der Deutungsprozess immer in Bewegung bleibt. Damit wird das poetische Kunstwerk unergründlich, rätselhaft und geheimnisvoll. August Wilhelm Schlegel charakterisiert in seiner Geschichte der klassischen Literatur (1801-04) (1962), Stuttgart, S. 25 den Roman als »unendlich gebildete Kunst«, die sich in »immer klaren und immer rätselhaften Sinnbildern« ausspricht. Auch Goethe bleibt trotz gewisser kritischer Distanz zu den Frühromantikern von diesem Gedanken nicht unberührt: »Dies sind gerade die schönsten Symbole, die eine vielfache Deutung zulassen.« (Wilhelm Tischbeins Idyllen (1822), XIV, in: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 21, S. 267) – Hier ist allerdings eher der Gedanke der (endlichen) Vieldeutigkeit als der der Unerschöpflichkeit am Werk. Aber im Gespräch mit Eckermann am 6. Mai 1827 äußerte er: »Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.« (Sämtliche Werke, Bd. 39, S. 616).
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und analytisch zwischen diesen zu differenzieren? Wenn ästhetische Ambiguität einen normativen Charakter hat, inwiefern kann es dann nicht-ambige Kunst geben? Gibt es eine Historizität ästhetischer Ambiguität, und wie lässt sich diese bestimmen? Und schließlich: (Wie) kann man ästhetische Ambiguität (überhaupt) interpretieren? Die Kunst- und Literaturwissenschaften sowie die philosophische Ästhetik des 20. und 21. Jahrhunderts geben auf diese Fragen unterschiedliche Antworten. Lange bevor sich die Kunstgeschichte der ästhetischen Ambiguität zuwendet, wird diese zu einem Gegenstand der Literaturwissenschaft. Den Auftakt bildet William Empsons Studie Seven Types of Ambiguity (1930), die einerseits dazu dient, literarische Ambiguität zu legitimieren und aufzuwerten, andererseits den frühesten Ansatz einer Typologie von Ambiguitätsphänomenen darstellt (Empson 1947). Empson entwickelt die Typen anhand von Werken angelsächsischer Autoren wie William Shakespeare, John Milton, Percy Bysshe Shelley und John Keats. Er unterscheidet etwa den Typus von Ambiguität, der daraus entsteht, dass ein Detail in verschiedenen Weisen gleichzeitig beschrieben wird, von dem Typus, bei dem mehrere alternative Bedeutungen gegeben werden, um einen komplizierten seelischen Zustand auszudrücken, und jenem, bei dem der Text in sich so widersprüchlich ist, dass der Leser verstärkte interpretatorische Anstrengungen unternehmen muss. Empsons Buch war wegweisend für alle folgenden Ansätze einer Anwendung des Ambiguitätsbegriffs auf künstlerische Werke. Seine Typologie ist jedoch aufgrund ihrer Fokussierung auf narrative Strukturen nur bedingt auf Werke der bildenden Kunst übertragbar und, wie James Elkins zu Recht feststellt, insgesamt für die schier unendlichen Möglichkeiten bildlicher Ambiguität zu eng gefasst.20 Zwar nicht unter diesem Begriff, aber implizit spielt Ambiguität in den Schriften von Michail Bachtin eine wichtige Rolle. Vor allem sein Begriff der Dialogizität ist hier von Relevanz. In seinen ab Ende der 1920er Jahre entstandenen Untersuchungen über Dostojewski sowie über das »Wort im Roman« entwickelte er das Konzept einer »Vielstimmigkeit« des modernen Romans (vgl. Grübel 1991, 21-78, insbes. 42-62; Meyer-Fraatz 2014, 405-416, insbes. 406-408). Demnach ist im modernen Roman zwischen der Stimme des Erzählers und den Stimmen der verschiedenen Figuren der Romanhandlung sowie zwischen den verschiedenen im Roman auftauchenden Textsorten und Diskursen zu unterscheiden. Da in der literarischen Verwendung das einzelne Wort potenziell ambig ist, erhält es bereits eine innere
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Elkins 1999, 96-105 wendet drei von Empsons Typen auf die Malerei an: Typ 1 (konfliktfreie Koexistenz mehrerer Bedeutungen), Typ 4 (Kombination gegensätzlicher Meinungen, um den komplexen Seelenzustand des Autors auszudrücken) und Typ 6 (Tautologie). Er weist aber auch darauf hin, dass die Möglichkeiten bildlicher Ambiguität über die »ambiguities of logic« (so Empsons eigener Oberbegriff für seine sieben Typen) hinausgehen und bevorzugt die sehr viel umfassendere Kategorie der »arenas« von Ambiguität.
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Dialogizität, die durch Verfahren der Stilisierung und Hybridisierung – z.B. durch Parodie – eine weitere Steigerung erfahren kann. Die so entstandene Stimmenvielfalt im Roman verunmöglicht dessen Festlegung auf eine einzige und eindeutige Bedeutung und ermächtigt damit die RezipientInnen zu vielfältigen Sinnzuweisungen. Damit steht der dialogische Roman in einem prinzipiellen Gegensatz zum monologischen, d.h. autoritären und letztlich unkünstlerischen Text.21 In Bachtins Begriff der Dialogizität wird folglich die Ambiguität des einzelnen Worts auf eine Ambiguität des gesamten Texts übertragen, wobei diese prinzipielle Ambiguität/Dialogizität als charakteristisches Merkmal des Literarischen erscheint.22 Darüber hinaus findet sich eine kulturwissenschaftliche Verallgemeinerung des Ambiguitätsbegriffs in Bachtins These von der »Karnevalisierung« der Literatur: Ausgehend von einer Beschreibung des Karnevals als wesenhaft ambivalent23 konstatiert er, dass in der Frühen Neuzeit ein Einzug des Karnevalistischen in die Literatur stattgefunden habe, wo dieses nach dem sukzessiven Niedergang des lebensweltlichen Karnevals als Groteske und in ähnlichen Formen fortlebt. Bemerkenswert ist an dieser These, dass sie eine doppelte Bewegungsrichtung aufweist: Einerseits lebt die Ambivalenz des Karnevals in der Literatur gewissermaßen in sublimierter Form fort – andererseits werden Ambiguität bzw. Ambivalenz erweitert zu einer Grundfigur eines spezifischen »Weltempfindens« (vgl. Bachtin 1969, 47-60, Zitat S. 47). Ästhetische Ambiguität wird so implizit mit Aspekten der Lebenswelt und der Kultur verknüpft. Eher in Richtung einer kulturpsychologischen Deutung von Ambiguität geht der Aufsatz Aesthetic Ambiguity (1948) des Psychoanalytikers und Kunsthistorikers Ernst Kris und des Philosophen Abraham Kaplan, der von der Kunstgeschichte bis heute praktisch nicht rezipiert wird, obwohl er Wegweisendes zu bieten hat. Anknüpfend an Empson nehmen die Autoren einige wichtige Differenzierungen vor. Zunächst unterscheiden sie zwischen Ambiguität als Eigenschaft von Sprache an sich und Ambiguität als Wesensmerkmal der poetischen Sprache. Für letztere prägen sie den Begriff der »ästhetischen Ambiguität«, den sie ausdrücklich auch auf bildkünstlerische Phänomene angewendet wissen wollen – und der im vorliegenden Beitrag aufgegriffen wird. Innerhalb des weiten Feldes ästhetischer Ambiguität unterscheiden sie sodann nach dem Vorbild Empsons eine Reihe von verschiedenen Typen: disjunktive, additive, konjunktive, integrative sowie projektive Ambiguität, welche die verschiedenen Bedeutungselemente innerhalb eines Textes oder Bildes
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Dies richtet sich implizit vor allem gegen den seit 1934 in der Sowjetunion zur Doktrin erhobenen Sozialistischen Realismus; vgl. Grübel 1991, 50f. Zum Nutzen von Bachtins Dialogizitätsbegriff als analytisches Modell zur Interpretation von Ambiguität und Ambivalenz in der sowjetischen Literatur vgl. Meyer-Fraatz 2014. Laut Grübel 1991, 55 spricht Bachtin statt von Ambiguität von Ambivalenz, weil dieser Begriff statt für die linguistische Semantik für die semiotische Interpretatorik steht.
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in unterschiedlichem Maße miteinander verknüpfen oder gegeneinanderstellen. Dabei vertreten sie die These, mit der sie deutlich über Empson hinausgehen, dass diese Typen ästhetischer Ambiguität in unterschiedlichen Diskursen zur Anwendung kommen und dass sie jeweils spezifische Wirkungen in den RezipientInnen hervorrufen (Kris, Kaplan 1952, 245-251). Ambiguität ist damit nicht nur eine strukturale Eigenschaft des einzelnen Kunstwerks, sondern Teil des Rezeptionsprozesses, mehr noch: sie erlangt eine wichtige psychologische Funktion. Wie Ernst Kris an anderer Stelle ausführlicher erläutert (Kris 1977, 162-194; Kris 1953, 334-351), sieht er das Schaffen wie die Rezeption von Kunst als einen psychologischen Prozess, der auf einem Wechsel des »psychischen Levels« – d.h. einer Fluktuation zwischen Regression und Kontrolle – basiert (Kris, Kaplan 1952, 253). Sofern Ambiguität nicht rein »dekorativ«, sondern »expressiv« ist, also mit innerpsychischen Vorgängen in Verbindung steht, kann sie in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen – und dies unabhängig von stilistischen Tendenzen (Kris, Kaplan 1952, 257). Sowohl auf der Ebene der Produktion wie der Interpretation vermag sie dann hochgradig stimulierend zu wirken (Kris, Kaplan 1952, 257-264). Kris/Kaplan betonen folglich vor allem die psychologische Funktion ästhetischer Ambiguität. Damit sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts drei grundlegend verschiedene Richtungen in der kunstwissenschaftlichen Bewertung ästhetischer Ambiguität entstanden. Während Empson als Vertreter des New Criticism eine rein formalästhetische Perspektive einnimmt, stellt Bachtin die Untersuchung literarischer Strukturprinzipien in einen kulturtheoretischen Horizont und erweitern Kris/Kaplan ihren Systematisierungsansatz um die kulturpsychologische Dimension. Die normative Setzung ästhetischer Ambiguität wird dementsprechend durch diese drei Ansätze unterschiedlich untermauert: Empson sucht Ambiguität als literarisches Phänomen zu legitimieren und als eigenständige formale Qualität zu behaupten, Bachtin begründet diese Qualität, indem er sie dem Autoritär-Monologischen kontrastiert, und Kris/Kaplan sprechen ihr eine produktive psychologische Funktion zu. Gemeinsam ist allen drei Positionen, dass sie hinsichtlich der Interpretierbarkeit ästhetischer Ambiguität einen strukturanalytischen Ansatz vertreten. Um 1960 wird ästhetische Ambiguität schließlich zu einem zentralen Thema in der Kunstphilosophie. Arnold Gehlen, Hans Blumenberg, Umberto Eco und bald darauf auch Theodor W. Adorno setzen sich damit auseinander.24 Hier soll nur Umberto Ecos Buch Das offene Kunstwerk (1962) behandelt werden, die einflussreichste und zugleich am differenziertesten ausgearbeitete Theorie künstlerischer Ambiguität. Es entstand Ende der 1950er Jahre, also in der Zeit, als ein regelrechter 24
Zur Charakterisierung der verschiedenen Positionen vgl. Krieger, Verena. 2010. »At war with the Obvious« – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen, in: Krieger, Mader 2010, 13-49, hier 34-38.
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Schub an Ambiguitätsphänomenen in Musik, Literatur und den bildenden Künsten einsetzte, innerhalb dessen auch Jasper Johns sein Werk Flag schuf. Diese Theorie stammt also von einem zeitgenössischen Rezipienten, der an aktuellen Ambiguierungsprozessen in der Kunst unmittelbar Anteil nahm. Eco verwendet zwar mehrfach den Begriff der Ambiguität (Eco 1977, 11, 40, 50 u.a.), doch im Zentrum seiner Argumentation steht der Begriff des »offenen Kunstwerks«. Dabei bestimmt er Offenheit als die »fundamentale Ambiguität der künstlerischen Botschaft« (So die präzisierende Erläuterung im Vorwort zur zweiten Ausgabe. Eco 1977, 11.). Wie schon Empson wendet er sich also von der engen linguistischen Bedeutung des Begriffs der Ambiguität ab und erweitert ihn im Hinblick auf ästhetische Phänomene. Beide können als Wegbereiter des hier vertretenen weiten Ambiguitätsbegriffs gelten. Die Offenheit des Kunstwerks besteht laut Eco darin, dass es verschiedene Wahrnehmungs- und Bedeutungsoptionen eröffnet und die BetrachterInnen herausfordert, in einen aktiven Rezeptionsprozess einzutreten. Wie der Aspektwechsel bei Wittgenstein ist Offenheit bei Eco das, was Kunst überhaupt erst zu Kunst werden lässt. Auch bei ihm erhält der Begriff daher eine normative Komponente. Wenn aber jedes Kunstwerk offen ist, muss der Terminus »offenes Kunstwerk« tendenziell tautologisch erscheinen. Hier vollzieht Eco eine entscheidende argumentative Wendung, die seine Ambiguitätstheorie prinzipiell von den zuvor diskutierten unterscheidet, indem er das Phänomen historisiert. Denn wenngleich nach Eco die Offenheit auf einer grundsätzlichen Ebene ein strukturales Merkmal aller Kunst ist, so ist sie doch keineswegs jedem Stil oder jeder Epoche eigen. Die Renaissancemalerei mit ihrem perspektivischen Illusionismus etwa oder auch die mittelalterliche Allegorik gelten ihm als Beispiele für geschlossene Kunstwerke, in der Malerei des Barock hingegen sieht er jenen Hang zur semantischen Uneindeutigkeit tendenziell vorweggenommen, die etwa die literarischen Innovationen von James Joyce, die musikalischen Experimente von John Cage und die abstrakt-expressionistischen Drippings von Jackson Pollock kennzeichnet (Eco 1977, 32-35, 46-48). Der qualitative Unterschied von Werken wie diesen zur Offenheit der älteren Kunst bestehe darin, dass die Offenheit erst hier zum bewusst verfolgten produktiven Programm der Künstler geworden sei (Eco 1977, 32). Eco beschreibt verschiedene Spielarten von Offenheit in der Kunst, so etwa Mehrdeutigkeit der Formen, Multiperspektivität und Kinetik (Eco 1977, 154-160). Dabei nennt er beispielhaft eine Reihe von Kunstwerken der 1950er Jahre, allerdings erwähnt er Johnsʼ Flag nicht, sondern behandelt stattdessen primär das europäische Informel und den Abstrakten Expressionismus – insbesondere geht er auf Jackson Pollocks Drippings ein (Eco 1977, 183-185). Das ist sicher kein Zufall, entspricht doch die abstrakte Malerei seinem Theorem der Offenheit viel unmittelbarer als die scharfe konzeptuelle Kippbewegung von Jasper Johnsʼ Werk.
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Anders als sein Begriff des offenen Kunstwerks suggerieren mag, geht Eco allerdings keineswegs von einer absoluten Bedeutungsoffenheit der Werke aus. So wendet er sich am Beispiel Pollocks gegen den Hang zu unkontrollierter Assoziationsfülle in der zeitgenössischen Rezeption informeller Malerei und insistiert darauf, dass jedes Kunstwerk, auch das gestische, stets ein »Feld getroffener Wahlen« sei (Eco 1977, 180). Die künstlerische »Gebärde«, die in den Drippings sichtbar wird, orientiere die RezipientInnen »in bestimmte Richtungen« (Eco 1977, 183). Auch das »offene« Kunstwerk ist nach Eco »das Resultat einer bewussten Organisation, einer Gestaltungsintention«; es ist also durchaus »Form«, wenngleich im Sinne eines »artikulierteren Formbegriff(s)« von »Form als ein(em) Möglichkeitsfeld«, und es ist auch »Information«, nur dass hier ein »reichhaltigerer«, weil komplexerer »Informationstyp« zum Tragen komme (Eco 1977, 185, 182, 184). Letztlich garantiere die Offenheit einen »besonders reichhaltigen und überraschungsträchtigen Typ des ästhetischen Genießens« (Eco 1977, 185). Damit erscheint Offenheit als ein spezifisches Strukturmerkmal von Kunstwerken, jedoch betont Eco zugleich, dass mit dem Begriff der Offenheit vor allem eine besondere »Struktur einer Rezeptionsbeziehung« benannt werde (Eco 1977, 15). Anstatt die RezipientInnen auf einen a priori gegebenen und lediglich nachzuvollziehenden Sinn festzulegen, lade das offene Kunstwerk diese dazu ein, eine Vielzahl potenzieller Bedeutungen zu ermitteln und es so im selbstständigen Deutungsakt selbsttätig zu vollenden. Dabei unterscheidet Eco drei verschiedene »Intensitätsebenen« einer solchen offenen Rezeptionsbeziehung: Auf der höchsten Intensitätsstufe stehen die »Kunstwerke in Bewegung«, jene Arbeiten, die aufgrund ihrer physischen Unabgeschlossenheit unmittelbar der RezipientInnen bedürfen, um überhaupt als Kunstwerke zu existieren (z.B. kinetische oder partizipative Kunst). Den mittleren Intensitätsgrad haben solche Werke, die zwar physisch abgeschlossen, aber »›offen‹ sind für ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen« (z.B. informelle Malerei), und auf der untersten Intensitätsstufe siedelt Eco jene Offenheit des Kunstwerks an, die dem Kunstwerk in den Poetiken der Moderne grundsätzlich zugeschrieben wird (Eco 1977, 57). Zur Interpretation des offenen Kunstwerks sieht Eco zwei mögliche Herangehensweisen: Zum einen gilt es, den möglichen »Lesarten« des einzelnen Werks systematisch nachzugehen, was auch die Untersuchung von deren Kommunikationsbedingungen einschließt (Eco 1977, 159). Zum anderen stellt sich die Frage nach den geschichtlichen Ursachen und dem kulturellen Hintergrund des Phänomens der Offenheit in der Kunst und damit auch die Frage nach dem ihm zugrunde liegenden Weltbild (Eco 1977, 159). Diese Frage hat eine zeitdiagnostische Dimension, denn Eco verortet die höchste Intensitätsstufe von Offenheit in seiner Gegenwart, wenn er festhält, dass »nicht zufälligerweise gerade heute die Ästhetik eine Problematik der ›Offenheit‹ gewahrt und entwickelt« (Eco 1977, 58). Er sieht das offene Kunstwerk dezidiert als ein zeitgenössisches Phänomen, das eine Reaktion auf den
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Verlust an Kausalitätslogik und Eindeutigkeitsbeziehungen in der lebensweltlichen Erfahrung wie in der wissenschaftlichen Reflexion darstellt. Das offene Kunstwerk spiegele nicht nur diese Entwicklung, sondern ermögliche darüber hinaus den BetrachterInnen, sich auf diese offene Situation einzulassen und deren Potenziale zu erkennen (Eco 1977, 164-168). Wie Bachtin stellt also auch Eco einen Zusammenhang zwischen künstlerischer Ambiguität und deren historischem Entstehungskontext her. Ästhetische Ambiguität wird gedeutet als eine Reaktion auf bzw. eine Verarbeitungsform von soziokulturellen Gegebenheiten. Indem sie analoge Strukturen aufweist, fungiert sie als »epistemologische Metapher« (Eco 1977, 160). Letztlich handelt es sich bei den von Eco vorgeschlagenen Interpretationszugängen zum offenen Kunstwerk um klassische hermeneutische Herangehensweisen. Diese Haltung wird Eco in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der dekonstruktivistischen Literaturtheorie Ende der 1980er nachdrücklich bekräftigen (Eco 1996, Eco 1992). Ecos Urteile über bestimmte kunsthistorische Epochen und Phänomene sind teilweise fragwürdig bzw. durch die jüngere Forschung widerlegt worden. So spielen, wie Studien verschiedener Disziplinen belegen, gerade auch in mittelalterlichen Kulturen Ambiguität und Ambiguitätstoleranz eine wichtige Rolle (vgl. Tammen 2010; Bauer 2011; Auge, Witthöft 2016). Auch die frühneuzeitliche Zentralperspektive ist, wie bereits erwähnt, durchaus ambiguitätserzeugend (vgl. Prange 2010). Und die euphorische Bewertung kinetischer und partizipativer Kunst als »offen« für die Mitgestaltung durch die RezipientInnen wird in jüngeren Debatten mit dem Hinweis auf ein häufig inhärentes autoritär-strukturierendes Moment relativiert (vgl. Bishop 2004; Bishop 2012).25 Ungeachtet dessen zählt es zu den wesentlichen Leistungen Ecos, dass er den Grundstein zu einer Historisierung des Phänomens künstlerischer Ambiguität gelegt und dies mit systematisierenden Überlegungen verknüpft hat. Dabei liegt seiner Argumentation allerdings eine unausgesprochene teleologische Struktur zugrunde, insofern sie den »offenen« Typus des Kunstwerks als dem »geschlossenen« überlegen darstellt und die (damals) zeitgenössische Literatur, Musik und Kunst als die höchste Form des »offenen Kunstwerks« erscheinen lässt. Damit ist die im Kunstdiskurs um 1800 etablierte Normativität ästhetischer Ambiguität auch Ecos Theorie des »offenen Kunstwerks« inhärent. Eco hat sie, bezogen auf aktuelle künstlerische Entwicklungen, fortgeschrieben, freilich hat er damit auch der in den darauffolgenden Jahrzehnten verbreiteten Tendenz Vorschub geleistet, alles Uneindeutige in der Kunst pauschal zum Qualitätsmerkmal zu erheben, ohne dessen konkrete Formen und Funktionen zu untersuchen.
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Einen Überblick über den Wandel der theoretischen Debatte und die wichtigsten Positionen in diesem Zusammenhang gibt Fritz 2014, insbes. 36-39, 48-52 und 65-67.
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Der Begriff der Offenheit enthält auch eine gewisse Bedeutungsverschiebung gegenüber dem der Ambiguität. Denn während Ambiguität immer ein stärkeres oder schwächeres Spannungsmoment zwischen verschiedenen Bedeutungselementen enthält, suggeriert der Begriff des Offenen eine beliebige, spannungsfreie und potenziell unendliche Fülle an Bedeutungsmöglichkeiten. Er weist damit in Richtung postmoderner Konzeptionen, ohne dass Eco sich diese explizit zu eigen machen würde. Zudem benennt der Begriff Offenheit – anders als Wittgensteins Aspektwechsel – einzig die Struktur des Werks, der gegenüber die BetrachterInnenaktivität nachgeordnet erscheint. Dies läuft aber Ecos eigenem Anliegen zuwider, die Rezeptionsbeziehung mit in den Blick zu nehmen. Obwohl Eco die Bedeutung der Rezeption emphatisch betont, lässt seine Theorie offen, wie das Verhältnis von Offenheit als Werkstruktur und Offenheit als Rezeptionsstruktur konkret zu denken ist.26 Erst in den späten 1980er Jahren erschien erneut eine Arbeit, die ästhetische Ambiguität mit ähnlich weit gefasstem Anspruch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive thematisiert: In Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne führt Christoph Bode die grundlegende Unterscheidung zwischen einer »Ambiguität erster Ordnung« literarischer Sprache, wie sie von Juri Lotman und Roman Jakobson konstatiert wird, und einer »Ambiguität zweiter Ordnung«, die charakteristisch für »hochambige literarische Texte der Moderne« wie etwa von James Joyce und Samuel Beckett sei, ein (Bode 1988, 380). Deutlicher als Eco trennt Bode so begrifflich die beiden Ebenen voneinander, auf denen ein Kunstwerk als ambig bestimmt werden kann. Zugleich relativiert er die emphatischen Erwartungen, die von VertreterInnen der Moderne wie der Postmoderne an die emanzipationsstiftenden Wirkungen ästhetischer Ambiguität gerichtet werden (Bode 1988, 388-394). Die nachhaltige Wirkung von Ecos Theorie des »offenen Kunstwerks« und der zeitgenössischen theoretischen Debatte über ästhetische Ambiguität hat früh auch die Kunstgeschichte erfasst. Bereits in den 1960er Jahren setzt es sich durch, »Vieldeutigkeit als konstitutionellen Bestandteil des Kunstwerks« (Werner Hofmann) aufzufassen (Hofmann 1966, 495). Gleichwohl werden Phänomene der Ambiguität und der verwandten Ambivalenz27 lange Zeit nur in vereinzelten Studien the26
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Worauf Ecos Begriff des Offenen bereits weist, wird in den folgenden Jahren durch die Rezeptionsästhetik expliziert und durch die poststrukturalistische Literaturtheorie radikalisiert. Vgl. Stierle 1975; Jauß 1982; de Man 1992; Schumacher 2000; Koslowski, Schenk 2004. Der aus der Psychoanalyse stammende Terminus Ambivalenz beschreibt ähnlich wie der der Ambiguität die gleichzeitige Existenz von Differentem oder Gegensätzlichem. Obwohl er ursprünglich nicht zur Charakterisierung von Zeichen, sondern von psychischen Sachverhalten dient, wird er ähnlich dem der Ambiguität (wenn auch in geringerem Umfang) auf Kunstwerke angewendet, so z.B. von Rachel Mader in ihrem Beitrag in diesem Band. Wie Ambiguität beschreibt auch Ambivalenz eine Zweideutigkeit, allerdings impliziert sie stärker eine Ge-
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matisiert (Panofsky 1932; Busch 1967; Bätschmann 1981; Asemissen 1989). In den 1990er Jahren überträgt der Kunsthistoriker Erich Franz Ecos Terminus des offenen Kunstwerks auf Bilder (Franz 1992). Der Begriff des »offenen Bildes« wird allerdings kritisch reflektiert und setzt sich letztlich aufgrund seiner Unschärfe im kunsthistorischen Kontext nicht durch (Jürgens-Kirchhoff 1998). Erst seit etwa 2000 wird das Phänomen der ästhetischen Ambiguität unter Verwendung unterschiedlicher Kategorien vermehrt zum Gegenstand von häufig auch breiter angelegten kunstwissenschaftlichen Untersuchungen.28 Dabei richtet sich das Augenmerk auf grundlegende Formen visueller Ambiguität wie Unschärfe und das Vexierbild, auf die Überwindung von Ikonografie und bildlichem Illusionismus durch Ambivalenz, Vagheit und Mehrdeutigkeit sowie auf Konzeptualisierungen von Ambiguität wie z.B. die »subversive Affirmation«. Schwerpunkte liegen in der frühen Neuzeit, klassischen Moderne und Gegenwart, und es entstehen erste Ansätze einer Systematisierung. So wird differenziert zwischen Ambiguitäten bzw. Ambivalenzen, die durch ikonografische Uneindeutigkeit, mehrdeutige Formgestaltung, die Semantik von Materialität, Interaktion von Bild und Text sowie durch sich wandelnde Rezeptionskontexte hervorgebracht werden (Krieger 2010; Pfisterer 2012a).
Fünf Ebenen von Ambiguität (in) der Kunst Die kunstphilosophische Bewertung von Kunst als konstitutiv unbestimmt – und damit die normative Setzung von Ambiguität als zentrales Charakteristikum von Kunst – wird, so mein drittes Zwischenresümee, durch die Kunst- und Literaturwissenschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur nicht infrage gestellt, sondern zusätzlich untermauert. Jedoch hat sie in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material wichtige Differenzierungen erfahren. Diese gilt es weiterzuentwickeln. Um der Komplexität von Ambiguität (in) der Kunst gerecht zu werden, sind meines Erachtens systematisch fünf verschiedene Ebenen zu unterscheiden:
1. Die mediale Ebene Das Bild ist ebenso wie die Sprache prinzipiell ambiguitätserzeugend. Diese prinzipielle Ambiguität von Sprache und Bildern kann unterdrückt oder verstärkt, hingenommen oder bewusst eingesetzt, nicht jedoch eliminiert werden. Dabei handelt es sich nicht nur um spezielle Fälle wie die Inversionsbilder oder unscharfe Bilder,
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gensätzlichkeit. Zur Begriffsgeschichte vom Ambivalenz vgl. Mertens 2002; Berndt, Kammer 2009, 18-23; Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis, 2011, Bd. 27, H. 4: Schwerpunkt »Über Ambivalenz«. Neben den in Anm. 2 genannten Publikationen vgl. auch Bois, Krauss 1996; Didi-Huberman 1999; Krüger 2001; Diener 2002; Krüger, Preimesberger 2003; Janhsen-Vukićević 2005; Zschocke 2006; Bredekamp et al. 2007; Dobbe 2007; Becker 2010; Haverkamp 2012; Prater 2014.
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sondern um eine prinzipielle Eigenschaft des Bildes an sich, dass es die Möglichkeit des »Aspektwechsels« bietet. Dies lässt sich für verschiedene Bildgattungen spezifizieren: Malerei, Skulptur, Video etc. sowie deren Kombinationen untereinander produzieren jeweils spezifische Formen von Ambiguität.
2. Die künstlerische Ebene29 Ambiguität ist nicht nur eine Eigenschaft von Bildern und Sprache, sondern ein grundlegendes Charakteristikum von Kunst im emphatischen Sinne der Moderne, wie sie sich seit der Hochrenaissance herausgebildet hat. Die Ambiguität der Kunst – sie wird hier ästhetische Ambiguität genannt – erschöpft sich nicht in visueller und sprachlicher Ambiguität, sondern verarbeitet deren Effekte und überführt sie in ästhetische Erfahrung. Insofern spielt die medienspezifische Ambiguität des Bildes und der Sprache für die Ambiguität des Kunstwerks eine tragende, aber letztlich dienende Rolle. Zudem fußt die Ambiguität der Kunst zwar wesentlich auf der semantischen Unbestimmtheit des Ästhetischen, doch geht sie auch darüber hinaus. Denn das zunehmende Maß, in dem in der Kunst im Zuge der Autonomieästhetik auch ein selbstreflexives Moment eine Rolle spielt (wie es seit der Hochrenaissance und insbesondere seit dem 20. Jahrhundert der Fall ist), geht nicht etwa mit zunehmender Klarheit einher, sondern mit einer Erweiterung ihrer Ambiguität auch auf die konzeptuelle Dimension des Werks. Daher hat sich von den Poetiken der Frühromantik bis hin zu Umberto Ecos Theorie des offenen Kunstwerks und zur poststrukturalistischen Literaturtheorie die Konzeption ästhetischer Ambiguität sukzessive aus der Bindung an das rein Sinnliche gelöst und ist Ambiguität zum Konstitutionsmerkmal von Kunst geworden. Das Kunstwerk ist »essentiell ambig« (Bode 1988, 71),30 da Selbstbezüglichkeit und die Ermöglichung von Aspektwechsel für es konstitutiv sind.
3. Die intentionale Ebene31 Es gibt aber auch Formen intensivierter ästhetischer Ambiguität, wenn die pragmatischen Funktionen der Wiedererkennbarkeit und Bedeutungsvermittlung durch systematische Veruneindeutigung gestört oder zurückgedrängt werden und die Nicht-Eindeutigkeit zum eigenständigen Gegenstand ästhetischen Genusses wird. Solche intensivierte Ambiguität (in) der Kunst geht über die dem Medialen innewohnende Ambiguität, aber auch über die Ambiguität der Kunst hinaus. Das ist etwa im Manierismus, im Symbolismus und im Surrealismus der Fall und seit der Postmoderne der 1980er Jahre in großen Teilen der zeitgenössischen Kunst.
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Diese entspricht dem Begriff der ästhetischen Ambiguität, wie ihn bereits (Kris, Kaplan [1948] 1952) konzipiert haben, sowie Bodes Kategorie der Ambiguität erster Ordnung. Bode stützt sich hierbei u.a. auf Jurij Lotman, Roman Jakobson und Roland Barthes. Diese entspricht Bodes Kategorie der Ambiguität zweiter Ordnung.
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst
Aus verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Mitteln wird in diesen Strömungen ästhetische Ambiguität bewusst erzeugt, gesteigert, exponiert und mit programmatischen Absichten aufgeladen.
4. Die historische Ebene Die genannten Beispiele zeigen, dass intentionale Ambiguität in bestimmten Epochen auftritt und innerhalb bestimmter künstlerischer Stile und Strömungen eine besondere Rolle spielt. Insofern hat Ambiguität (in) der Kunst auch eine historische Dimension. Zur historischen Spezifik intentionaler ästhetischer Ambiguität gehören nicht nur die Werke selbst und die (teils auch programmatisch artikulierten) Intentionen und Selbstkommentare der KünstlerInnen, sondern wesentlich auch die Rezeption. Die historische Rekonstruktion der zeitgenössischen interpretativen Reflexion von Ambiguitätsphänomenen vermag Aufschlüsse über den Horizont zu geben, innerhalb dessen intentionale künstlerische Ambiguität produziert wird. Damit ist zugleich die nächste Ebene angesprochen:
5. Die rezeptive Ebene Ambiguität ist nicht nur ein Strukturmerkmal des individuellen ästhetischen Objekts, sondern ebenso sehr Merkmal und Ergebnis des Rezeptionsprozesses. Die im Kunstwerk angelegte Ambiguität hat insofern einen Latenzcharakter – letztlich vollzieht sie sich immer erst in der Rezeption. Daher ist Ambiguität ein dynamisches Produkt der komplexen Interaktion von produktions- und rezeptionsästhetischen Faktoren und sich wandelnden Funktionszusammenhängen (Jauß 1982; Stierle 2012). Ambiguitätsstiftend sind etwa die unterschiedlichen Deutungsperspektiven von RezipientInnen sowie die Kontextverschiebungen, die sich aus wechselnden Präsentationsorten und -weisen ergeben. Stets entfaltet sich die NichtEindeutigkeit in der Korrelation von ästhetischem Objekt und rezipierendem Subjekt. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung wende ich mich nun der ästhetischen Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst zu und komme damit zum empirischen Teil. Für die zeitgenössische Kunst ist in weiten Teilen die intentionale Produktion von Ambiguität charakteristisch, insofern bewege ich mich nun auf der dritten Ebene, wobei ich die anderen Ebenen dort, wo es geboten erscheint, mit einbeziehe. Mein Anliegen ist es, genau zu untersuchen, auf welche Weise in Kunstwerken ästhetische Ambiguität hervorgebracht und fruchtbar gemacht wird. Dies verbinde ich mit dem Ziel, eine systematische Perspektive auf ästhetische Ambiguität zu entwickeln und eine terminologische Grundlage für deren kunstwissenschaftliche Analyse zu schaffen.
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Modi Operandi intentionaler ästhetischer Ambiguität – vier exemplarische Werkanalysen
Im Folgenden untersuche ich vier Kunstwerke der letzten Jahrzehnte, die ich nach den Kriterien einer maximalen Heterogenität der verwendeten Medien und künstlerischen Machart sowie insbesondere ihrer Ambiguitätsstruktur ausgewählt habe. Die Werke stammen von Gilbert & George, Santiago Sierra, Neo Rauch und Rachel Harrison, und es handelt sich um eine montierte Fototafel, ein Konzeptkunstwerk, ein Gemälde und eine Assemblage. Diese Werke unterziehe ich jeweils einer auf ihre Ambiguitätsstruktur fokussierten Untersuchung. Ich möchte zeigen, mit welchen Mitteln diese Ambiguität erzeugt wird, und dass die jeweils hervorgebrachte Ambiguität spezifische strukturale und operationale Merkmale aufweist. Daran anschließend werde ich aus diesen Einzelanalysen Verallgemeinerungen ableiten. Diese vier Werke sind meines Erachtens beispielhaft für vier grundlegende Modi Operandi ästhetischer Ambiguität. Diese bezeichne ich als den konjunktiven, den disjunktiven, den assoziativen und den indifferenten Modus. Mit diesen vier Modi, zwischen denen es auch Übergangsformen gibt, ist es meines Erachtens möglich, das gesamte Feld ästhetischer Ambiguität systematisch zu erfassen und gleichzeitig differenziert auf die Spezifik des einzelnen Werks einzugehen. Ausgehend von diesen Modi werde ich das Feld der Ambiguität selbst einer Kartierung unterziehen und eine grundlegende Systematik zu dessen Beschreibung vorschlagen. Doch zunächst zu den Werkanalysen.
Gilbert & George: Fuck. Aus der Serie Dirty words Pictures (1977) Das umfangreiche Œuvre von Gilbert & George ist trotz seiner internationalen Bekanntheit kunstwissenschaftlich relativ wenig erforscht. Schwerpunkte der Auseinandersetzung sind das frühe performative Werk (vgl. Ratcliff, Rosenblum 1993; von Bismarck 2004), der Status des Künstlerduos als künstlerisches Kollektivsubjekt (vgl. Meyer, Sohmen 2001) und insbesondere die von ihnen verhandelten Inhalte, bei denen es sich meist um tabuisierte Themen wie Sexualität, Tod oder Religion handelt (vgl. Jahn 1989; Fuchs 1991; Gilbert & George 2007). Seltener wird die besondere ästhetische Struktur ihrer großformatigen Fototableaus besprochen (vgl. Rosenblum 2004; Fuchs 2007, Bd. 1, 7-12, Bd. 2. 627-635, speziell zu den Dirty Words Pictures 633f.). Noch nicht analysiert wurde die Ambiguität, die in diesen Arbeiten eine konstitutive Rolle spielt. Hier soll sie an einem Exempel einer genauen Lektüre unterzogen werden. Dabei geht es nicht darum, die Ambiguitätsstruktur dieses Werks als exemplarisch für die Arbeitsweise des Künstlerduos zu behandeln, sondern sie als eine spezifische Art und Weise, wie Ambiguität organisiert sein kann, zu analysieren.
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst
Fuck (Abb. 4) ist Teil einer Ende der 1970er Jahre entstandenen Serie Dirty words, die ebensolche verhandelt wie z.B. »cunt«, suck«, »queer« oder auch »communism« (Bracewell 2002; auch in: Gilbert & George 2007, Taf. 65-71). Laut Marco Livingstone tritt in dieser Serie erstmals »so etwas wie ein direktes politisches Engagement in ihrer Kunst zu Tage, das sich allerdings jedem Analyseversuch entzieht« (Livingstone 2007, 19). Das Werk besteht aus einer hochrechteckigen Tafel, die in sechzehn gleichformatige, sich zur Gesamttafel proportional verhaltende kleinere Tafeln unterteilt ist, die fotografische Motive enthalten. Dabei sind die Tafeln verschiedenen systematischen Gestaltungsprinzipien unterworfen, die jeweils streng durchgehalten werden. Die Felder der obersten horizontalen Reihe sind mit den vier Buchstaben für »Fuck« gefüllt. Sie erweisen sich bei näherem Hinsehen als ein auf eine Wand gespraytes Graffiti, insofern handelt es sich um eine fotografische Bildeinheit über mehrere Felder hinweg. Dabei sind es die einzigen Felder mit Schrift (als Bild), alle anderen Felder enthalten Fotos mit Bildmotiven. Neben der systematischen Trennung von Schrift- und Bild-Feldern existiert die Trennung von schwarz-weißen und schwarz-roten Darstellungen, wobei die drei unteren Felder rechts und links außen schwarz-rot gestaltet sind, alle anderen schwarz-weiß, sodass optisch eine T-förmige Figur entsteht. Verkoppelt man hingegen beide Systeme – also die Unterscheidung Schrift/Bild und schwarzrot/schwarz-weiß –, dann bilden die schwarz-roten Felder zusammen mit den Schriftfeldern eine torartige Rahmung, durch die der Blick in die Bilder der mittleren Felder gelenkt wird. Es ergibt sich ein emblemartiger Bildaufbau, bei dem das Wort »Fuck« den Status des Mottos erlangt. Am unteren Bildrand bringen die Gesichter der beiden Künstler – die ein mittlerweile verheiratetes Paar sind und gemeinsam als künstlerisches Subjekt agieren – mit ihren ins Offene gerichteten melancholischen Blicken ein reflexives Moment in das Bild ein. Sie übernehmen damit gewissermaßen die Rolle einer visuellen Subscriptio und weisen über das Bild hinaus. Die mittleren Bildfelder sind in sich ebenso symmetrisch gestaltet wie die äußeren, insofern auf jeder horizontalen Reihe zwei ähnliche, aber nicht identische Motive zu sehen sind; das sind von unten nach oben: die Künstler in frontalen Porträts, die eng ausgeschnitten sind, wodurch sie einander angeglichen werden. Darüber: zwei Pfützen, wiederum darüber: Westminster Abbey und die Houses of Parliament mit dem Big Ben, von der Themse aus gesehen. Diese Silhouette der Wahrzeichen Londons bildet zusammenhängend über zwei Felder hindurch eine Einheit (genauso wie der Schriftzug »FUCK«), aber gleichzeitig wird das Prinzip der Gegenüberstellung zweier ähnlicher Motive, in diesem Fall zweier Türme, durchgehalten, sodass eine Analogie auch zu den darunter befindlichen Bildpaaren besteht. Die Silhouette partizipiert also an beiden Bildlogiken und verklammert sie visuell miteinander. Die rot eingefärbten Streifen am Rand sind wiederum einer dritten Logik unterworfen: sie zeigen aus stets derselben Kameraperspektive
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Abb. 4: Gilbert & George: Fuck, 1977, Aus der Serie Dirty Words Pictures, Fototableau, Kunstmuseum Wolfsburg.
verschiedene Momente einer Episode, die sich an einer Schwulenklappe abspielen könnte, einem subkulturellen Treffpunkt für homoerotische Sexualkontakte. Die Fotos wirken dabei wie filmische Bilder, da sich aus der Lesefolge von links oben nach rechts unten eine mögliche Narration andeutet, die aber letztlich nicht aufgeht. Interessant ist nun, wie die Motive in dieser Konstellation interagieren und Allusionen hervorbringen. In der Gesamtsicht präsentiert sich eine städtische Szenerie, bei der Subkultur und offizielle Kultur visuell miteinander verzahnt sind. Dabei evozieren die Schwulenklappe und das Wort »Fuck« eine Lesart, bei der alle Motive doppeldeutig werden: Die Türme – Londons Wahrzeichen – werden zu Phallussymbolen, die Pfützen – typisch für das regenreiche London – wecken die
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Gestaltassoziation an Vagina bzw. Anus. Das in Versalien geschriebene »Fuck« wiederum enthält mit »UK« die Initialen des Vereinigten Königreichs. Die sexuelle Doppeldeutigkeit erfasst auch die Gesamtkomposition des Werks, denn was ich als T-förmige Figur beschrieben habe (schwarz-weiße Bildtafeln), lässt sich, wenn man es mit den roten Seitenrändern zusammen liest, auch als visuelle Repräsentation des sexuellen Akts, der mit der Titelzeile bezeichnet wird, identifizieren. Und nicht zuletzt lassen sich schließlich auch die beiden Künstlerporträts im Bild doppeldeutig lesen, da diese nicht ausschließlich als bildliche Signatur und Reflexionsfiguren, sondern ebenso gut als integraler Bestandteil der entfalteten Szenerie aufgefasst werden können. Die systematisch eingesetzte Doppeldeutigkeit, auf der das gesamte Werk mit all seinen Bestandteilen – Komposition, Farbgebung und Motivik – basiert, erinnert an ein Vexierbild. Indem sich Gilbert & George der Doppeldeutigkeit des Vexierbildes bedienen, stellen sie sich in dessen subversive Bildtradition. In Fuck sind die Bildmotive überdeterminiert, sie enthalten ihre doppelte Sinnebene nicht – wie im Kippbild – durch visuelles Umschalten, sondern – wie im Vexierbild – durch simultan aus dem Verborgenen aufscheinende Sinnassoziationen (z.B. die Türme als Symbole des Vereinigten Königreichs und als Phallussymbole). Diese Assoziationen zu bilden und damit die obszöne Doppeldeutigkeit zu entschlüsseln, ist den BetrachterInnen aufgegeben. Der zu ermittelnde Sinn besteht dabei nicht in irgendeiner Stellungnahme moralischer oder politischer Art, sondern in der Explikation des behandelten »dirty word«, das eine Spezifizierung in Richtung homosexueller Subkultur erhält. Gilbert & Georges Fuck ist aber mehr als ein Vexierbild, denn darin werden die Möglichkeiten visueller Doppeldeutigkeit systematisch durchgespielt und ausgereizt. Bilder, die für sich genommen belanglos wirken, sind so kombiniert, dass sie überhaupt erst doppeldeutig werden. Als Initialzündung dient dabei eine »Übersetzung« vom Sprachlichen ins Bildliche, die eigentlich erst die Voraussetzung für alle doppelbödigen Assoziationen bietet, denn ohne das Motto »Fuck« würde die gesamte Assoziationskette nicht in Gang gesetzt. Die Doppeldeutigkeiten werden dann auf mehreren Ebenen wiederholt, gewissermaßen übereinandergestapelt, sodass sie einen komplexen, aber letztlich kohärenten Meta-Sinn ergeben. Die Ambiguität des Werks entsteht also einerseits erst infolge des Zusammenwirkens seiner einzelnen Elemente, zugleich wird sie durch ebendieses Zusammenwirken tendenziell auch wieder aufgelöst und in neue Bedeutung überführt.
Santiago Sierra: 250 cm-Linie, auf 6 bezahlte Leute tätowiert (1999) Die politischen Performances von Santiago Sierra erzeugen aufgrund ihres provokanten Charakters höchst gegensätzliche Reaktionen, wobei diese Gegensätzlichkeit in den Arbeiten selbst strukturell angelegt ist. Kunstkritik und Kunstwissen-
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schaft konzentrieren sich vorzugsweise auf die politische und ethische Dimension, während sie diese strukturelle Ambiguität im Werk Sierras allenfalls konstatieren, jedoch nicht analysieren (Marek, Schulz 2004; Bishop 2004, 51-79, insbes. 70-74; Bishop 2012, 222f; Janhsen 2013, 78-82; Luckow 2013; Matt 2002, 4f; Wagner 2005). Santiago Sierra bezahlte in Havanna sechs jungen arbeitslosen Männern jeweils 30 Dollar dafür, dass sie sich eine Linie quer über den Rücken tätowieren ließen, wobei sie so aufgestellt waren, dass diese Linie sich auf einer Höhe über alle sechs Personen hinweg zog und folglich zu einer visuellen Einheit wurde. Dies wurde fotografisch festgehalten, wobei sowohl der Vorgang des Tätowierens fotografiert wurde als auch die tätowierte Linie als dessen Ergebnis. In Kunstausstellungen zu sehen ist aber üblicherweise nur letztere, also diejenige Fotografie, die die Linie als gewissermaßen ästhetisches Produkt präsentiert (Abb. 5).
Abb. 5: Santiago Sierra: 250 cm Linie, auf 6 bezahlte Leute tätowiert, 1999, S/WFotografie.
Charakteristisch für Sierras Arbeitsweise ist die Art der fotografischen Inszenierung: die sechs jungen Männer werden in Schrägansicht von hinten gezeigt, mit gesenkten Köpfen und im verlorenen Profil, dabei mit nackten Oberkörpern und sorgfältig rasierten Nacken, sodass die Linie deutlich erkennbar hervortritt. Ihre Individualität ist einerseits nicht erkennbar, andererseits sind Eigenschaften wie Jugend, Hautfarbe, Kleidung und Körpergröße durchaus wahrnehmbar, wobei hier eine gewisse Unterschiedlichkeit der Beteiligten erkennbar ist. Es ist die tätowierte Linie, die über diese Unterschiede hinweg eine Klammer schafft und eine (freilich absurde) Einheit stiftet. Die Linie ist auch der Hauptprotagonist der
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Fotografie, der sie ihre visuelle Struktur verleiht, indem sie Parallelen und sogar eine gewisse Tiefenräumlichkeit produziert. Auch der Titel der Arbeit 250 cm-Linie, auf 6 bezahlte Leute tätowiert, richtet das Augenmerk weg von den Personen hin auf die Linie. Damit wird zugleich auf den Stellenwert der Linie in der älteren europäischen Kunstgeschichte verwiesen, ihren Status als Inbegriff der künstlerischen Idee und Elementarfigur des malerischen Artefakts. Giorgio Vasari hatte im 16. Jahrhundert mit seinem berühmten Diktum, die Zeichnung sei »Ausdruck und Deklaration des im Geiste entstandenen Konzepts« (Vasari [1568] 1967, 111),32 die Voraussetzung für jene metaphysische Aufladung der Linie geschaffen, die nicht nur bis zum Klassizismus wirkmächtig blieb, sondern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – wenn etwa Walter de Maria 1969 in der Wüste Tula, nördlich von Las Vegas, durch Bulldozer Linien eingraben ließ, die eine nur von Satelliten aus wahrnehmbare Zeichnung ergeben. Das in dieser aufgeladenen Konzeption der Linie angelegte Spannungsverhältnis vom Akt des Zeichnens als formbestimmender Handlung des künstlerischen Subjekts einerseits und dem künstlerischen Material (Farbe, Leinwand, Erde) als stoffliches Objekt der Bearbeitung andererseits wird von Sierra ins Extrem getrieben durch den Umstand, dass hier menschliche Rücken als ›Malgrund‹ dienen. In ihrer Vielheit konterkarieren sie die – als Produkt organisierender Handlung zustande kommende – visuelle Einheit der Linie und sind dieser in demselben Maße unterworfen, wie sie sie überhaupt ermöglichen. Sierras Arbeit ist hochgradig ambig und ihre Ambiguität findet auf mehreren Ebenen statt: Sie beginnt auf der visuellen Ebene, weil unser Blick zwischen den Männern als rückansichtigen Personen und ihren Rücken als materiellem Grund einer Linie hin- und herwechseln muss. Damit zwingt uns das Bild, ein ästhetisches Faktum gleichzeitig als soziales wahrzunehmen und vice versa. Es existiert eine ganze Reihe künstlerischer Vorläuferprojekte, die den Dualismus von künstlerischer Subjektsetzung und leiblicher Objekthaftigkeit, der dem abendländischen Kunstverständnis zugrunde liegt, aus feministischer Sicht problematisiert haben. Bei Sierra geht es jedoch nicht um eine genderkritische Perspektive, sondern darum, soziale Ungleichheit und Ausbeutung in der globalisierten Welt zu thematisieren. Von der Intention her ist die Arbeit also nicht zynisch, sondern moralisch – die durch sie evozierte moralische Entrüstung soll auf den Zynismus realer Arbeitsverhältnisse gerichtet werden. Die spontane Äußerung einer Studentin »Wie kann man sich nur für 30 Dollar eine Linie auf den Rücken tätowieren lassen« geht natürlich an der Realität vorbei – daran, dass 30 Dollar für junge Kubaner sehr viel Geld sind, dass eine solche Summe in vielen Gebieten der Welt nur durch wesentlich schlimmere und erniedrigendere Arbeit verdient werden kann und dass auch andere (›normale‹) bezahlte Arbeiten bleibende körperliche Spuren hinterlassen. Das Unbehagen, das das Bild – wie viele ähnliche Projekte von Sierra – 32
»[…] una apparente espressione e dichiarazione del concetto che si ha nell’animo«.
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erzeugt, begründet sich daher primär aus der offenkundigen Absurdität dieser Linie, die weder als ästhetischer Wert noch als dauerhaftes Monument angesehen werden kann. Dass Sierras Unterfangen in höherem Maße als Skandalon empfunden wird als der Verschleiß menschlicher Arbeitskraft etwa beim Bau der Pyramiden, begründet sich mit der (vordergründigen) Sinnlosigkeit des Unterfangens, dessen einziges ›Produkt‹ die Thematisierung des Kaufvorgangs und der diesem zugrundliegenden sozioökonomischen Strukturen selbst ist. Diesem Versuch, gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar zu machen, indem deren Gesetzmäßigkeiten zur Anwendung gebracht werden, eignet aber seinerseits – damit bin ich bei der zweiten Ebene – eine prinzipielle moralische Doppelbödigkeit. Denn die Kritik ist der wiederholenden Geste lediglich auf intentionaler Ebene inhärent, und damit treten Handlung und Intention faktisch in Widerspruch zueinander. Die »subversive Imitation« (Grasskamp 1993, 47) ist eben zunächst einmal Imitation und kann ihr subversives Potenzial nur unter bestimmten Voraussetzungen entfalten. Auch auf einer dritten Ebene ist Sierras Projekt ambig: Zwar handelt es sich dabei (wie bei den meisten seiner Projekte) um einen realen Vorgang von Bezahlung und Gegenleistung, es ist also kein Abbild der kritisierten gesellschaftlichen Realität, sondern ein Bestandteil von ihr. Aber da das gesamte Projekt ausschließlich für die Präsentation innerhalb eines Kunstkontextes durchgeführt wird, jeder praktischen Funktion entleert ist, verhält es sich zu den gesellschaftlichen Verhältnissen letztlich doch auf eine symbolische Weise. Am treffendsten lässt sich Sierras künstlerisches Verfahren daher als Reenactment gesellschaftlicher Realität bezeichnen, also als deren imitatives Nachvollziehen in einem künstlerischen Kontext. Durch das Transferieren sozioökonomischer Strukturen ins Kunstsystem wird der Tauschvorgang zum Bild, die monetarisierte menschliche Arbeitskraft zum tableau vivant. Die hier zu sehen gegebene Fotografie, die Sierras Projekt dokumentiert, funktioniert also nicht nur auf visueller, sondern vor allem auf konzeptueller Ebene wie ein Kippbild, das den BetrachterInnen abfordert, sich zwischen gegensätzlichen Wahrnehmungs-, aber auch Bewertungsmöglichkeiten zu entscheiden.
Neo Rauch: Abstraktion (2005) Die dezidierte Ambiguität der Gemälde von Neo Rauch ist häufig thematisiert worden, wobei sie – wie Rachel Mader gezeigt hat – mit durchaus gegensätzlichen Bedeutungen belegt wurde (Mader 2010; vgl. Broeker 2006; Galerie Eigen + Art 2007).33 Es dominieren generalisierende Beobachtungen, während dezidierte Einzelbildanalysen eher selten unternommen werden. Eine solche werde ich nun an
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Einen anderen Akzent setzt Gerlach 2014, die Rauchs Werk u.a. unter dem Gesichtspunkt des Allegorischen interpretiert.
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dem Gemälde Abstraktion (Abb. 6) vornehmen, wobei mich auch hier wieder speziell die innere Struktur und Organisationsweise von dessen Ambiguität interessiert.
Abb. 6: Neo Rauch: Abstraktion, 2005, Öl auf Leinwand.
Das hochrechteckige Gemälde gibt einen Durchblick aus einer Loggia in eine Landschaft mit Häusern, über der sich ein hoher Himmel öffnet. Obwohl die Dächer an chinesische Architektur erinnern, scheint es sich um eine deutsche kleinbürgerliche Siedlung zu handeln. Der Blick ist durch eine architektonische Rahmung gefasst, die sich nur nach rechts hin öffnet. Eine Brüstung und zwei die Bildfläche durchquerende Pfeiler trennen Vorder- und Hintergrund voneinander ab und rahmen die Sicht in das Geschehen außerhalb der Loggia. Vorne und Hin-
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ten, Innen und Außen treten damit als erste bestimmende Parameter des Bildes auf und verleihen ihm eine Tiefenräumlichkeit – die jedoch durch zahlreiche Brüche der Regeln zentralperspektivischer Gestaltung gestört ist. Ein besonders markanter Bruch entsteht dadurch, dass der rechte Pfeiler nicht auf der Brüstung steht, sondern farblich verschwommen in der Landschaft über einem Haus mündet, welches wiederum in einem unlogischen räumlichen Verhältnis zu dem hinter dem Pfeiler stehenden Haus situiert ist. Beide bildimmanenten Räume – Loggia und Landschaft – werden durch diesen raumlogischen Bruch miteinander verklammert, was den Doppelcharakter der Loggia als in sich geschlossener Innenraum und gleichzeitig offener Durchgang zum Außenraum unterstreicht. Vor dieser komplexen Raumsituation entfaltet sich nun eine aus mehreren menschlichen Figuren gebildete Szenerie. Sie bewirkt ihrerseits eine inversive Verklammerung von Vorder- und Hintergrund, insofern die Figuren im hinteren Landschaftsraum viel größer sind als jene im vorderen Bereich der Loggia. Auch die räumlichen Proportionsverhältnisse sind also ausgehebelt. Diese Brüche mit den akademischen Regeln können aber erst dadurch als solche erscheinen und besonders ins Auge springen, dass diese Regeln an zahlreichen anderen Stellen, ja im überwiegenden Bereich des Gemäldes wie selbstverständlich eingehalten sind. Für sich genommen sind die Figuren ebenso wie die Häuser und Bäume in Farbgebung und Proportionen wirklichkeitsnah und akademisch korrekt wiedergegeben, erfüllen also auf dieser Ebene die Ansprüche an eine naturalistisch-mimetische Darstellung. Und nicht nur das: An einzelnen Stellen werden diese Ansprüche sogar mit besonderer ›malerischer Virtuosität‹ erfüllt, etwa durch die Darstellung komplexer Körperhaltungen wie z.B. Torsionen sowie der daraus resultierenden Verkürzungen von Gliedmaßen und komplizierten Licht-SchattenVerhältnissen. Auch die Darstellung von Architekturelementen und Landschaftsraum ist in weiten Teilen durchaus kohärent. Die systematische Brechung der akademischen Regeln ist also mit deren Einhaltung kombiniert – nur durch letztere kann erstere erfolgreich ihre Wirkung entfalten. Neben die doppeldeutige Verwendung von Perspektive und Proportion tritt eine Ambiguität auf der Ebene des Dargestellten und der durch dieses evozierten Narration. Das Bildpersonal steht nur teilweise in erkennbaren Zusammenhängen. Im Hintergrund über der Häuserlandschaft führen zwei Männer einen Schwertkampf aus. Diese stehen nicht nur in keiner sinnvollen Größenrelation zu dem Haus, hinter dem sie riesenhaft aufragen, sondern sie bilden auch in ihren Körperhaltungen keinen plausiblen Kampfzusammenhang, vielmehr führen ihre Bewegungen jeweils in eine imaginäre Leere. Auch hinsichtlich ihrer Kleidung und Ausstattung passen sie nicht zusammen. So wirken die beiden kämpfenden Männer eher wie eine Erscheinung vor dem Himmel denn als reale Akteure in einem realen Raum. Sie werden auch von keiner der Figuren in der Loggia wahrgenommen, zwischen denen wiederum nur minimale Interaktionen existieren. An zen-
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traler Stelle steht ein Mann in weißem Kittel an einer Staffelei, auf der sich eine Bildtafel mit waagrechten und senkrechten farbigen Linien befindet. In der Linken hält er ein Lineal, in der Rechten einen langen Pinsel, wodurch er als Maler ausgewiesen ist. Mit seinen Füßen steht er zwischen leeren Farbdosen in Lachen gelber und rotbrauner Farbe, aus welcher auch die Linien in dem Staffeleibild bestehen. Während der Maler als Rückenfigur gegeben ist, die ganz auf ihre Arbeit konzentriert ist, wendet sich ein zweiter, an die Brüstung gelehnter Mann nach vorne und weist mit dem Zeigefinger in Richtung der Pinselhand des Malers. Der Maler und seine Begleitfigur bilden dadurch eine optische Einheit, ohne tatsächlich zu interagieren. Ihr Verhältnis zueinander ähnelt dem der beiden kämpfenden Männer im Hintergrund: Nicht nur ist der eine größer als der andere, sie stehen auch nur in einem vagen räumlich-körperlichen Zusammenhang. Komplettiert wird der szenische Reigen durch zwei weitere Figuren: Im Vordergrund schüttet eine kräftige Frau in leuchtend gelbem Jackett eine Dose gelber Farbe zwei dunklen Vögeln entgegen, als wolle sie Hühner füttern. Hinter ihr am linken Bildrand und zugleich am äußersten Rand der Loggia steht ein weiterer Mann an einer Staffelei, er dreht sich von der weißen Leinwand weg und blickt in das Geschehen im Vordergrund. Ein dunkler, funktionsloser Mast ragt hinter der Leinwand in die Höhe. Wenn ich sagte, dass das Gemälde die akademischen Anforderungen an Perspektive und Proportion einerseits erfüllt und gleichzeitig unterläuft, so gilt dies für den Farbeinsatz analog. Auch hier wird eine naturalistische Malweise eingesetzt und zugleich vielfach gebrochen und ausgehöhlt. So finden sich einerseits Details eines malerischen Illusionismus – z.B. der Streifen auf der Hose des Malers –, während sich an anderen Stellen der Farbauftrag gegenüber der Darstellung völlig verselbstständigt – z.B. ist der Boden der Loggia eigentlich eine rein selbstwertige abstrakte Farbgestaltung. Auch werden die Ansprüche an mimetische Genauigkeit mitunter durch malerische Effekte gebrochen, etwa wenn der erhobene Arm des rechten Schwertkämpfers sich in Fetzen aufzulösen scheint. Hinzu kommt eine elementare Form malerischer Doppeldeutigkeit, wenn die ausgeschüttete gelbe Farbe die Assoziation an ausgeschüttetes Hühnerfutter weckt. Durch die beiden Staffeleien, die Farbdosen und -flecken sowie die von der Frau ausgeschüttete Farbe erhält das Thema der Malerei eine zentrale Rolle in dem Gemälde. Es lassen sich verschiedene Korrespondenzen ausmachen: Das Gelb der ausgeschütteten Farbdose ist identisch mit dem Gelb des Jacketts der Farbe ausschüttenden Frau, aber auch mit dem Gelb der Farbstreifen auf der Leinwand des Malers sowie dem Gelb der darunter liegenden Farbpfützen. In abgetönter Form taucht dieses Gelb auch in der Kleidung von zwei Männern im Bild auf. Damit erhält das Gelb die Rolle eines Leitmotivs. Ihm korrespondiert die rotbraune Farbe der die Loggia rahmenden Architektur, welche in den waagrechten Farbstreifen auf dem Staffeleibild wiederkehrt, aber auch in den Hausdächern und Kirchtürmen sowie dem Jackett des hünenhaften Schwertkämpfers. Die abstrakte Linienstruktur
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in dem Bild im Bild weist dadurch eine Beziehung zur Bildwelt auf, zugleich wird das Ausschütten der gelben Farbe zu einem malerischen Akt auf der abstrakten Farbfläche des Loggia-Fußbodens. Auch Bildwelt und bildimmanente Malerei sind also wechselseitig verklammert. Der Titel »Abstraktion« bekräftigt dieses Assoziationsfeld nicht nur, sondern erweitert es zugleich in Richtung des Spannungsverhältnisses von Realitätsanspruch und Fiktionalität, Mimesis und Abstraktion. Wie ein Dreh- und Angelpunkt wirkt dabei die weiße Leinwand am linken Hintergrund – deren Maler einerseits auf sie weist und sich gleichzeitig von ihr abwendet und in das Bildgeschehen blickt. Das Gemälde erhält dadurch einen reflexiven Charakter. Es enthält kein entzifferbares kunsttheoretisches Programm, sondern entfaltet auf einer Metaebene dieselbe unauflösliche Spannung von bildimmanenter Logik und scheinbarer Mimesis, die für das Gemälde selbst charakteristisch ist. Damit leistet es eine malerische Reflexion über malerische Ambiguität. Ambiguität entfaltet sich hier auf ähnlich vielen Ebenen wie bei Gilbert & Georges Fuck, jedoch fügt sie sich nicht zu einem Meta-Sinn, vielmehr werden den BetrachterInnen zahlreiche Assoziationsangebote unterbreitet, denen zu folgen zunächst erfolgversprechend wirkt, jedoch letztlich zu keinem kohärenten Ergebnis führt. Innerhalb des Gemäldes gibt es zahlreiche Verweise, Analogien, Zusammenhänge und Interaktionen oder jedenfalls Andeutungen dessen, doch lösen sie sich letztlich nicht in einer übergeordneten Logik auf, sondern die einzelnen Elemente behalten ihre Individualität und Sperrigkeit. Sinn-Kohärenz und Sinn-Offenheit bleiben in der Schwebe, und damit wird diese Spannung zum eigentlichen Thema des Werks.
Rachel Harrison: The Opening (2009) Wieder gänzlich anders gelagert ist die Funktionsweise der Ambiguität in der skulpturalen Arbeit der amerikanischen Künstlerin Rachel Harrison, die 2009 auf der Biennale in Venedig zu sehen war. Es handelt sich um eine Installation aus verschiedenen skulpturalen und bildlichen Elementen, die ihrerseits aus heterogenen Materialien gebildet sind. Die Installationen von Harrison sind meist äußerst vielteilig und komplex,34 der Klarheit halber behandele ich daher exemplarisch eine einzelne Assemblage (Abb. 7 und 8). Bei früheren Assemblagen, etwa Dalís surrealistischem Hummer-Telefon (1936) oder selbst noch Robert Rauschenbergs Combine Painting Bed (1955) ergibt die Anordnung der unterschiedlichen Elemente bei aller Absurdität letztlich doch einen visuell nachvollziehbaren Sinn, der sich als Pointe auch rasch erschließt. 34
So z.B. die 2007 in Zürich und Nürnberg zu sehende Ausstellung Voyage of the Beagle (vgl. Munder 2007). Der Katalog enthält gute Beschreibungen von Harrisons künstlerischer Strategie. Zum Montage- und Konstruktionscharakter von Harrisons Werk vgl. Diedrichsen 2013.
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Abb. 7 und 8: Rachel Harrison: The Opening, 2009, Assemblage, Installationsansicht 53, Biennale von Venedig 2009.
Dagegen scheint bei Harrison die Anordnung gerade nach dem Prinzip maximaler Disparatheit zustande gekommen zu sein: Kombiniert wurden ein Sperrholzkasten mit funktionslosem Messingknopf und ein weiterer Kasten anderen Formats, die beide mit Farbe angestrichen wurden, dies allerdings keiner erkennbaren Logik folgend und anscheinend unfertig; darüber sitzt wiederum eine grellbunte Pappmascheefigur, die in ihrer formlosen Abstraktheit irgendwo zwischen Kristall und amorpher Masse changiert – als letzteres erscheint sie auf der anderen Seite. Überhaupt ergibt die Rückansicht (die keine wirkliche Rückansicht ist, weil es kein Vorne und Hinten gibt) eine neue Perspektive, nicht nur weil das bunte Pappmaschee hier hinunterfließt, anstatt kristallin aufrecht zu stehen, sondern auch weil die beiden Kisten offenbar komplizierter ineinander verschachtelt sind, als es auf den ersten Blick erkennbar ist. Der Blick von der vierten Seite eröffnet schließlich eine ganz neue Entdeckung, nämlich das Foto eines von zwei Männern gesäumten Weihnachtsmannes im Schnee. Hinzu kommt, dass ein Teil des Gebildes auf einer Decke steht, wie sie für schwere Transporte verwendet wird, sodass der Eindruck des Vorläufigen, Unfertigen und Vorübergehenden auf die Spitze getrieben ist. Rachel Harrison verwehrt sich ausdrücklich gegen alle Versuche der Bedeutungsfindung – und die Kommentare zu ihrem Werk folgen ihr darin weitge-
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hend.35 Doch die Interpretationssperrigkeit ihrer Arbeiten rührt nicht daher, dass diese gegenstandslos und daher uneindeutig wären, vielmehr bieten sie durchaus handfest gegenständliche Assoziationsangebote – diese aber führen niemals zu einem kohärenten Sinn-Ergebnis. Die Verweigerung entschlüsselbarer Sinnangebote wird mit methodischer Strenge betrieben. Sie beginnt bei der Auswahl der Elemente, aus denen die Assemblage zusammengestellt und deren leitendes Kriterium absolute Differenz ist: Kombiniert sind Bilder und Objekte, Gegenstände und Gegenstandsbezeichnendes, objets trouvés und eigens Konstruiertes. Sie setzt sich fort auf formalästhetischer Ebene, wo Geometrisches neben Amorphem steht und Naturfarbenes neben Grellbuntem. Und nicht zuletzt sind alle drei Bildkünste – Malerei, Skulptur und Fotografie – in der Installation vertreten, sodass man von einem systematischen Durchspielen der Gattungen sprechen kann. In anderen, komplexeren Installationen treibt Harrison dieses Prinzip der differenten Objekte noch weiter und kombiniert nicht nur verschiedene Gattungen, sondern auch verschiedene kulturelle Typen von Bildern, d.h. Triviales, Privates, Zitathaftes etc. Dabei sind die verschiedenen Gattungen so miteinander in Beziehung gesetzt, dass sie gerade nicht harmonisch ineinandergreifen, sondern sich aneinander brechen, was wiederum zur Folge hat, dass sie als selbstständige Elemente sichtbar werden. Dies ist etwa der Fall bei dem Verhältnis von vertikalem Holzkasten und Farbanstrich, die gerade keine Einheit bilden, sondern in Gegensatz zueinander treten. Gezielt im Unklaren gelassen wird weiterhin, wo es sich um Sockel, wo um ein präsentiertes Objekt handelt bzw. ob es überhaupt so etwas wie einen Sockel gibt: Der Kasten, auf dem die amorphe Pappmascheefigur aufsitzt, kann ebenso gut Sockel wie Objekt sein, wobei die darunter liegende Decke die Situation zusätzlich verunklart, weil sie ihrerseits eine Trägerfunktion einnimmt. Eine Zwitterrolle hat auch der vertikale Kasten, der ebenso gut als Träger des Weihnachtsmann-Fotos wie auch als selbstreferentielle Form aufgefasst werden kann. Die ontologische und ästhetische Differenz der einzelnen Elemente und auch die Unentscheidbarkeit ihrer Relationen untereinander erzeugen einen Effekt der Egalisierung: Gerade weil die Elemente nicht gemeinsam ein Ganzes ergeben, stehen sie in völliger Gleichwertigkeit nebeneinander. Mit Fotis Jannidis lässt sich dies als Anhäufung »schwach manifeste(r) Informationen« bezeichnen, das heißt, es handelt sich um ein Nebeneinander zwar unterschiedlicher und widersprüchlicher Einzelbedeutungen, die aber jeweils für sich keine besondere Prägnanz aufweisen, sodass eher die Vielfalt als die Gegensätzlichkeit wahrgenommen wird (Jannidis 2003, 324).
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Harrison verfolgt verschiedene Strategien, um traditionelle Formen der Werkinterpretation zurückzuweisen, so z.B. die Beantwortung von Interviewfragen mit vorgefundenen Zitaten unterschiedlicher Herkunft, was eine Montagetechnik analog zu ihrer Kunst ist. Vgl. Germann, Harrison 2013, 156-159.
Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst
Harrisons Assemblage exponiert also ihre eigene Mehrdeutigkeit, aber damit allein ist sie nicht ausreichend charakterisiert. Ihr bestimmendes Merkmal ist vielmehr, dass die einzelnen Elemente der Arbeit zwar auf verschiedene Bedeutungen und Kontexte verweisen, doch keiner davon wirklich relevant ist – so relevant, dass es für das Verständnis erforderlich oder förderlich wäre, ihnen genauer nachzugehen, alle Bedeutungsschichten und -dimensionen auszuloten und ihr semantisches Zusammenwirken zu ergründen. Die Ambiguität dieser Arbeiten erweist sich als eine herabgestimmte Ambiguität, bei der zwar eine Vielfalt isolierter Bedeutungspartikel und semantischer Felder angetippt wird, ohne dass sich diese zu Elementen eines übergeordneten Sinngehalts synthetisieren ließen. Bedeutung im hermeneutischen Sinne lässt sich hier nicht ermitteln. Erforderlich ist stattdessen eine Rezeptionshaltung, die nicht nur darauf gefasst ist, ständig Unerwartetem zu begegnen, sondern dies auch ausdrücklich affirmiert und dem mit Neugier und Lust begegnet. Dazu gehört eine gewisse Freude am Assoziieren, das aber nicht allzu sehr in die Tiefe geht, sondern vielmehr in der Art des Flaneurs von einer Ansicht zur nächsten, von einem Assoziationsangebot zum nächsten spazieren mag. Der ästhetische Genuss besteht dabei nicht zuletzt im Überraschungsmoment. Gefordert ist also, um es mit Baudrillard auf einen Begriff zu bringen, eine Haltung der Indifferenz.36 Diese Haltung, die ja bereits dem Flaneur zugeschrieben wurde, lässt sich weder mit Walter Benjamin als »Zerstreuung« in einem kritischen, anti-konventionellen Sinne noch mit Adorno als »Dekonzentration« im Sinne einer regressiven Haltung fassen,37 vielmehr setzen sie eine spezifische Bewusstheit im Umgang mit Zeichen voraus, die sich vielleicht am ehesten dadurch charakterisieren lässt, dass sie zwischen Zerstreuung und Dekonzentration exakt die Schwebe hält. Rachel Harrisons Arbeiten haben etwas Spielerisches, Harmloses, Unspektakuläres und dabei durchaus Lustvolles. Sie reizen die Möglichkeiten der Ambiguität gezielt in alle Richtungen aus, ohne jemals einen Weg so systematisch zu einem Endpunkt zu führen, wie dies etwas bei Gilbert & Georges Bildtafel geschieht. Die Disparatheit und Inkongruenz der einzelnen Elemente sowie der damit verbundenen Assoziationsangebote sind das Ergebnis eines konsequent verfolgten Gestal36 37
Baudrillard sieht »Indifferenz« als Folge des Pluralismus in der postmodernen Gesellschaft, wobei der Begriff deutlich negativ konnotiert ist (vgl. Baudrillard 1991). Walter Benjamin, beschrieb in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) bekanntlich die Rezeptionshaltung des modernen Filmpublikums als zugleich kritisch und zerstreut (das Publikum als »zerstreuter Examinator«), wobei das kritische Moment dadurch entstehe, dass das Neue, von tradierten Rezeptionsgewohnheiten Abweichende, automatisch eine gewisse kritische Distanz erzeuge. Dagegen ist Adornos fast zur selben Zeit im Blick auf die musikindustriell produzierte Populärmusik entstandener Begriff der »Dekonzentration« durch seine Verbindung mit dem Vorwurf eines »regressiven Hörens« deutlich negativ konnotiert (vgl. Adorno 1956, 31).
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tungsprinzips. Dabei steht die Systematik der Durchführung nur vordergründig in Widerspruch zur semantischen Offenheit des Werks, vielmehr kann man hier von einer systematischen Ambiguität sprechen. Die Ambiguität ist hier selbstreferentiell, und gerade darin liegt die ›Bedeutung‹ von Harrisons Objekten.
III.
Dimensionen und Spielarten ästhetischer Ambiguität – ein dynamisches Analysemodell
Ich komme zum dritten Schritt meines Beitrags, der sich der Systematisierung ästhetischer Ambiguität widmet. Nachdem ich im theoretischen Teil eine Differenzierung verschiedener Ebenen von Ambiguität (in) der Kunst (mediale, künstlerische, intentionale, historische und rezeptive) vorgenommen habe, geht es nun darum, innerhalb der künstlerisch-intentionalen Ebene zwischen verschiedenen Ausprägungen ästhetischer Ambiguität strukturanalytisch zu unterscheiden. Auf den ersten Blick scheint es sich anzubieten, eine Typologie von Ambiguitätsphänomenen zu entwerfen. So haben ja bereits Empson und Kris/Kaplan empirisch an Kunstwerken gewonnene Kategorien zur Differenzierung verschiedener künstlerischer Ambiguitätsphänomene vorgelegt, die allerdings einige Probleme aufwerfen.38 Die Typologie von Kris/Kaplan weist dabei gegenüber derjenigen von Empson grundlegende Verbesserungen auf. Wegweisend ist insbesondere ihre Unterscheidung zwischen disjunktiver und konjunktiver Ambiguität, d.h. solchen Formen von Mehrdeutigkeit, bei denen verschiedene Bedeutungen einander widersprechen, und solchen, bei denen verschiedene Bedeutungen zusammenwirken. Ihre Kategorien haben damit einen höheren Grad an Systematik, zugleich weisen sie im Vergleich zu denen Empsons auch ein höheres Abstraktionsniveau und folglich eine größere Verallgemeinerbarkeit auf. Allerdings bleibt auch bei Kris/Kaplan die Sprache das leitende Paradigma, visuelle Formen von Ambiguität spielen in ihrer argumentativen Darstellung keine Rolle, wenngleich die Autoren selbst ihre Kategorien für auf andere Künste übertragbar halten. Zu kritisieren ist weiterhin die Art und Weise, wie das Verhältnis der Typen untereinander bestimmt wird: Beiden Typologien ist gemeinsam, dass sie die verschiedenen Ambiguitätstypen als isolierte Monaden additiv auf einer Achse aneinander reihen, obwohl diese sich strukturell keineswegs auf derselben Ebene bewegen. Ihr Zusammenhang untereinander muss so letztlich unbestimmt bleiben. Kris/Kaplan versuchen zwar einen
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Außerdem hat Pfisterer (2012a, 43-57) eine Liste sieben verschiedener »Diskussionsfelder über Vagheit und Ambiguität der Bildkünste« bezogen auf die Frühe Neuzeit vorgelegt, die er allerdings ausdrücklich nicht als Typologie bezeichnet.
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solchen herzustellen, doch gelingt dies nur eingeschränkt.39 Die vorliegenden Typologien werden also der Komplexität des Phänomens nicht gerecht. Zudem stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Konstruktion einer Typologie von Erscheinungen ästhetischer Ambiguität überhaupt sinnvoll ist. Da ästhetische Ambiguität stets vielfältig und dynamisch ist, laufen festgelegte Typen stets Gefahr, statisch, anachronistisch und simplifizierend zu wirken. Aus diesem Grund verzichte ich darauf, eine Typologie zu entwickeln. Aber auch James Elkins Ansatz, Ambiguität in einer schier endlosen Anzahl von »arenas« zu verorten, halte ich nicht für wegweisend. Er macht zwar deutlich, wie breit gefächert die Möglichkeiten bildlicher Ambiguität sind, vermischt dabei aber die verschiedenen Ebenen, Mittel und Funktionen dieser Ambiguität. So eröffnet er keinen analytischen Zugang zu den Ambiguitätsphänomenen. In Abgrenzung zu diesen Ansätzen und teilweise auch aufbauend auf diese möchte ich im Folgenden ein dynamisches Analysemodell generieren, das die Mehrdimensionalität ästhetischer Ambiguität sichtbar macht und ihre differenten Spielarten so zueinander in Beziehung stellt, dass auch Zwischenformen, Übergänge und Verschiebungen terminologisch fassbar werden. Wie meine Analysen gezeigt haben, weist jedes der vier Werke eine spezifisch strukturierte Ambiguität auf, die auf einem bestimmten Modus operandi beruht. Um Phänomene ästhetischer Ambiguität in ihrer Heterogenität zu systematisieren, halte ich es für sinnvoll, bei diesen unterschiedlichen Modi anzusetzen. Der Begriff Modus ist dabei bewusst gewählt, weil er eine Verfahrens- und Funktionsweise bezeichnet, die prägend ist für die Struktur des Kunstwerks und auch für den Prozess zwischen Kunstwerk und Rezipient. Bewusst spreche ich nicht von Typen der Ambiguität (William Empson, Ernst Kris), sondern von Modi, da es sich nicht um feststehende Modelle handelt, sondern um operative Verfahren. Der Modus von Gilbert & Georges Bildtafel lässt sich als konjunktiv bezeichnen. Die in einer visuellen Kettenreaktion auf mehreren Ebenen erzeugten Ambiguitäten erzeugen im Zusammenspiel ein kohärentes Gesamtbild, welches in Explikation des »dirty word« »Fuck« London als Metropole der schwulen Subkultur erscheinen lässt. Der konjunktive Modus ist eine sehr alte und etablierte Form von Ambiguität, die in den antiken Rhetoriken unter dem Begriff der ironia diskutiert
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Kris, Kaplan [1948] 1952 stellen die fünf differenzierten Ambiguitätstypen Disjunktiv – Additiv – Konjunktiv – Integrativ – Projektiv in eine logische Reihe, wodurch mögliche Übergänge zwischen diesen Typen durch das Modell potenziell mit erfasst werden. Allerdings ist die Logik innerhalb der Reihe brüchig. Denn disjunktive und konjunktive Ambiguität bilden einen Gegensatz, so wie wiederum projektive und konjunktive Ambiguität gegensätzlich sind. Damit erweist sich, dass eine einzige Bedeutungsachse für die Systematisierung des Feldes von Ambiguität nicht ausreicht.
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wird. Auch Gilbert & Georges Arbeit hat eine ironische Komponente, aber der konjunktive Modus ist nicht zwingend. Vielmehr dient die Doppeldeutigkeit dazu, eine Pointe zu erzeugen, ohne die das Werk nicht zu erfassen ist. Die verschiedenen semantischen Elemente laufen also zusammen, um gemeinsam einen Meta-Sinn zu erzeugen. Bei Rachel Harrisons Arbeit ist genau das Gegenteil der Fall: Hier laufen die semantischen Elemente auseinander. Sie stehen auch keineswegs in Gegensatz zueinander, sondern sind einfach nur verschieden. Deshalb lassen sie sich nicht in einer Pointe auflösen und ergeben keinen auch nur einigermaßen kohärenten Meta-Sinn. Dieser indifferente Modus von Ambiguität, bei dem das Nebeneinander der verschiedenen Elemente in der Schwebe bleibt, zielt auf ein Rezeptionsverhalten, welches auf Entschlüsselung und Sinnkonstruktion verzichtet und die ›Offenheit‹ des Werks als solche affirmiert. Historisch ist dieser Modus deutlich jünger; besonders charakteristisch ist er für die Postmoderne, die das plurale Spiel mit unzusammenhängenden Elementen systematisch kultiviert. Der Modus von Santiago Sierras Arbeit unterscheidet sich qualitativ von den vorherigen. Hier gibt es weder Doppeldeutigkeiten, die sich in Pointen auflösen ließen, noch eine indifferente Koexistenz verschiedener Bedeutungselemente. Vielmehr ist das Werk charakterisiert durch eine fundamentale Ambivalenz, die aus seiner Kippbewegung zwischen Realität und Kunst resultiert und sich in einer widersprüchlichen moralischen Bewertung manifestiert. Diesen Modus von Ambiguität bezeichne ich als disjunktiv, da er die simultane Präsenz gegensätzlicher, stark aufgeladener Positionen erzeugt und diese ineinander kippen lässt. Anders der indifferente Modus, bei dem die Ambiguität herabgestimmt ist, wird sie im disjunktiven Modus gerade verschärft und zugespitzt. Bei Neo Rauch wiederum ist durchaus ein lockerer Zusammenhang zwischen den verschiedenen semantischen Elementen gegeben. Das Gemälde bietet genügend Assoziationsangebote, durch welche die Rezipienten angeregt werden, nach Sinnzusammenhängen zu suchen, doch letztlich bleiben diese in der Schwebe. Es entsteht keine Pointe, kein greifbarer Meta-Sinn, aber es gibt auch keine reine Beliebigkeit. Der assoziative Modus von Rauchs Gemälde erzeugt also eine fortwährende Kreisbewegung der Bedeutungssuche, der genügend Anhaltspunkte geboten werden, um sie in Bewegung zu halten, die aber letztlich ›erfolglos‹ bleiben muss und daher unabschließbar ist. Auch dieser Modus ist charakteristisch für die Postmoderne, doch ist er bereits in der Kunst der klassischen Moderne sehr verbreitet und lässt sich mindestens auf die Frühe Neuzeit, z.B. die venezianische Malerei des 16. Jahrhunderts zurückführen. Für alle vier Modi ließen sich zahlreiche weitere Beispiele aus der Kunst der letzten Jahrzehnte nennen: Konjunktive Ambiguität findet sich etwa bei Martha Rosler, assoziative Ambiguität weist die Malerei von Michaël Borremans auf; indifferente Ambiguität lässt sich bei Cosima von Bonin und Martin Kippenberger
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beobachten, und disjunktive Ambiguität begegnet in den Aktionen von Christoph Schlingensief oder auch des Zentrums für politische Schönheit. Natürlich geht die spezifische Ambiguitätsstruktur eines künstlerischen Werks niemals in einem dieser Modi restlos auf; stets sind Kunstwerke komplexer als sich in einer Kategorie fassen ließe. Der Gewinn der vorgeschlagenen Differenzierung dieser vier Modi – assoziativ, disjunktiv, indifferent, konjunktiv – besteht aber darin, die unterschiedlichen Erscheinungsformen begrifflich präziser fassen zu können. Ausgehend von diesen Modi lässt sich eine systematische Perspektive auf ästhetische Ambiguität gewinnen. Betrachtet man die vier Modi zusammen im Hinblick auf ihre strukturalen Eigenschaften, so lassen sich aus ihnen zwei Parameter ermitteln, welche die konkrete Ausprägung des jeweiligen Modus ästhetischer Ambiguität bestimmen. Hierbei handelt es sich um: • •
das Verhältnis der gegebenen Informationen zueinander: diese können miteinander oder gegeneinander wirken. die Intensität der gegebenen Informationen: diese können schwach oder stark manifest sein.
Damit übernehme ich von Kris/Kaplan die Unterscheidung zwischen miteinander und gegeneinander wirkenden Bedeutungselementen sowie die Termini konjunktive vs. disjunktive Ambiguität (Kris, Kaplan [1448] 1952, 245). Anders als diese spreche ich jedoch nicht von verschiedenen Bedeutungen (meanings) im Kunstwerk, da der Begriff der Bedeutung üblicherweise auf den mimetischen Gehalt oder intendierten Sinn bezogen wird. Da es hier jedoch nicht um diesen engeren Sinn von Bedeutung geht, sondern um alle Aspekte eines Kunstwerks (z.B. Farbwerte, Gegenstandsbezeichnung, Raumillusion, Faktur etc.), die im Zusammenspiel ambiguitätserzeugend sein können, ziehe ich den der Semiotik entstammenden Begriff der Information vor, der hier im weitesten Sinne als neutraler Oberbegriff für alle wahrzunehmenden Aspekte eines Kunstwerks dient. Die Differenzierung von schwach vs. stark manifesten Informationen übernehme ich von Fotis Jannidis, der unter Rekurs auf die Theorie der manifestness von Sperber und Wilson Mehrdeutigkeit als das »Vorhandensein einer endlichen Zahl von schwach manifesten Informationen« bestimmt (Jannidis 2003, 324). Jannidis wendet sich damit gegen das auf die Goethezeit zurückgehende Konzept der prinzipiellen Vieldeutigkeit und potenziell unendlichen Bedeutungsfülle des Kunstwerks und fordert stattdessen exakte Beschreibungen, »welche Informationen durch welche Strategien mehr oder weniger manifest gemacht werden« (Jannidis 2003, 326). Genau solche exakten Beschreibungen der verschiedenen Spielarten von Ambiguitätserzeugung sind mein Anliegen – ich habe sie weiter oben an den vier exemplarischen Werken vorgelegt. Für mein zweites Anliegen, einen tragfähigen Systematisierungsansatz zur Differenzierung verschiedener Spielarten ästhetischer Ambiguität, habe ich die Ansät-
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ze von Kris/Kaplan und Jannidis kombiniert und zu einem neuen Analysemodell weiterentwickelt. Die beiden genannten Parameter ermöglichen es, Erscheinungen ästhetischer Ambiguität struktural zu differenzieren. Beide Parameter, die jeweils in sich polar strukturiert sind, generieren in ihrem Zusammenspiel unterschiedliche Formen von Ambiguität. Wirken stark manifeste Informationen miteinander, so erzeugen sie auf einer Metaebene einen gemeinsamen Sinn – sie weisen also eine Tendenz zur Wiederherstellung von übergeordneter Eindeutigkeit auf – dies ist beim konjunktiven Modus der Fall. Wirken stark manifeste Informationen gegeneinander, so erzeugen sie simultane Gegensätzlichkeit – sie weisen also eine Tendenz zu Ambivalenz auf. Dies kann starke affektive Reaktionen oder gegensätzliche moralische Bewertungen hervorrufen oder auch in Deutungskonflikten münden – hier handelt es sich um den disjunktiven Modus. Wirken schwach manifeste Informationen miteinander, so ermöglichen sie assoziative Verknüpfungen und Sinnbildungen, die aber letztlich nicht so vollständig ineinander aufgehen, dass sie Eindeutigkeit erzeugen würden – hier gibt es also eine Tendenz zur Vagheit – dies ist der assoziative Modus. Wirken schwach manifeste Informationen gegeneinander, so erzeugen sie eine unauflösliche Offenheit – sie haben also eine Tendenz zu Pluralität oder Beliebigkeit – das ist der indifferente Modus. Mit Hilfe dieser Parameter lässt sich das Feld der ästhetischen Ambiguität gewissermaßen kartieren. Bildet man aus dem Parameter der Intensität der gegebenen Informationen (stark-schwach) und dem Parameter des Verhältnisses der gegebenen Informationen (Mit- bzw. Gegeneinander-Wirken) ein Koordinatenkreuz, so lässt sich daraus ein Achsendiagramm gewinnen, in dem die vier genannten Modi einen systematischen Platz erhalten: In der so entstandenen Karte ästhetischer Ambiguität erlangt jeder der besprochenen Modi eine systematische Position: Beim konjunktiven Modus wirken starke Informationen miteinander, beim disjunktiven Modus wirken starke Informationen gegeneinander, beim assoziativen Modus wirken schwache Informationen miteinander und beim indifferenten Modus wirken schwache Informationen neben- bzw. gegeneinander. Auf der Basis dieses Analysemodells bzw. der Kategorien, auf die es sich stützt, ist es möglich, ästhetische Ambiguitätsphänomene differenzierter zu beschreiben und – dies ist ganz wesentlich – diese auch untereinander in Beziehung zu setzen. Diese Modi verstehe ich nicht als feststehende Typen, sondern als Positionen in einem größeren Feld, zwischen denen es zahlreiche weitere mögliche Positionierungen gibt. Gerade die Zwischen- und Übergangsformen und die Variabilität der Erscheinungsformen sind von Interesse. Dieses Analysemodell bezieht sich, da es aus Werkanalysen entwickelt wurde, zunächst vor allem auf die strukturellen Eigenschaften von Kunstwerken – doch es hat ebenso eine rezeptionsästhetische Dimension. Denn jedem Modus operandi auf Seiten des Werks entspricht ein analoger Modus auf der Rezeptionsseite: Dem
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Abb. 9: Analysemodell Modi ästhetischer Ambiguität
konjunktiven (Werk-)Modus entspricht ein konjunktiver Rezeptionsmodus, welcher das Werk nach Bedeutungselementen absucht und daraus eine Meta-Bedeutung zu erschließen versucht. Dem disjunktiven (Werk-)Modus entspricht der disjunktive Rezeptionsmodus. Er lässt sich am besten als eine ambivalente Haltung charakterisieren, insofern er die emotionalen Spannungen empfindet und reflektiert, die durch die widersprüchlichen Informationen ausgelöst werden. Dem indifferenten (Werk-)Modus entspricht auf der Rezeptionsseite eine indifferente Haltung, die der Bedeutungsoffenheit und dem Spiel wechselnder und konkurrierender Informationen ästhetischen Genuss abzugewinnen vermag. Und dem assoziativen (Werk-)Modus analog ist der assoziative Rezeptionsmodus, der sich auf die unabgeschlossene Suche nach Sinn-Zusammenhängen macht, ohne darauf abzuzielen oder angewiesen zu sein, zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen. Wie die werkästhetischen Modi haben auch die rezeptionsästhetischen Modi eine historische Spezifik, sie können wechselnden Konjunkturen unterliegen und sich auf unterschiedliche kunsttheoretische Konzepte stützen. So ist beispielsweise evident, dass der assoziative und der indifferente Rezeptionsmodus in der Postmoderne einen Aufschwung erfahren haben. Keineswegs zwingend ruft der Ambiguitäts-
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Modus eines Kunstwerks stets den analogen Rezeptionsmodus hervor. Stets geht die Rezeption ihre eigenen Wege. Differente zeitgenössische Kommentare, Umdeutungen in anderen historischen, geographischen und sozialen Kontexten sowie gegensätzliche kunsthistorische Interpretationsansätze sind auch bei dezidiert und intentional ambiger Kunst untrennbarer Bestandteil der Werkgeschichte. Gleichwohl lassen sich die verschiedenen Rezeptionsmodi begrifflich klar differenzieren. Worin liegt nun der Nutzen des Analysemodells? Ziel ist nicht, eine Karte aller möglichen Ambiguitätsformen und -phänomene in der Kunst zu erarbeiten – das wäre ungefähr so absurd wie die Landkarte im Maßstab 1:1 in Jorge Luis Borgesʼ Erzählung Von der Strenge der Wissenschaft. Weder wäre es erstrebenswert noch überhaupt möglich, da die Kunst immer neue und differenziertere Formen von Ambiguität hervorzubringen vermag. Ebenso wenig kann es darum gehen, Kunstwerke in das Schema einzuordnen. Der analytische Nutzen des Modells liegt vielmehr darin, dass es erstens ermöglicht, ästhetische Ambiguität als mehrdimensionales Phänomen zu betrachten.40 Zweitens bietet das Analysemodell eine präzise Begrifflichkeit, mittels derer die vielfältigen Spielarten nicht-eindeutiger semantischer Strukturen in der Kunst ebenso wie deren Rezeptionsweisen differenzierter beschrieben werden können. Und drittens ermöglicht es, ästhetische Ambiguitätsphänomene in ihrer Unterschiedlichkeit wie Ähnlichkeit untereinander in Beziehung zu setzen, Zwischenstufen und Übergangsformen zu benennen und verschiedene Dimensionen der Produktion und Rezeption von Ambiguität sichtbar zu machen. Damit verbindet das Analysemodell eine systematisierende Perspektive auf das allgemeine Phänomen der ästhetischen Ambiguität mit einem höchst differenzierten Umgang mit dem künstlerischen Einzelwerk.
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Ambiguität in der bildenden Kunst Eine differenzierende Bestimmung Michael Lüthy »Das Bild […] existiert nur in der Erzählung, die ich von ihm wiedergebe; oder: in der Summe und Organisation der Lektüren, zu denen es mich veranlasst.« (Barthes 1990, 158)1
I.
Von der Unbestimmtheit des Ästhetischen zur Ambiguität der Kunst
Seit der Begründung der Ästhetik als philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert gilt Unbestimmtheit als wesentliches Charakteristikum des Ästhetischen. Insbesondere aufgrund der nicht stillzustellenden Oszillation zwischen Sinnlichem und Begrifflichem besitze das Ästhetische, so die entsprechende Auffassung, einen eigenen Erkenntniswert, der sich von den Möglichkeiten, aber auch von den Limitierungen des logischen Denkens produktiv abgrenze. Das Ästhetische gebe, so Immanuel Kants berühmte Formulierung, »viel zu denken«, ohne dass ihm jedoch »irgendein bestimmter Gedanke, d.h. Begriff, adäquat sein kann« (Kant 1913 [1790], 314). Mein Beitrag indessen handelt nicht von jener grundsätzlichen Unbestimmtheit des Ästhetischen, die nach Kantischer Auffassung an jedem Wahrnehmungsgegenstand auffällig werden kann, da es dabei gar nicht um bestimmte Gegenstandseigenschaften geht, sondern um eine bestimmte Urteilsform des wahrnehmenden Subjekts. Vielmehr soll es ausschließlich um künstlerische Ambiguität gehen – und nochmals spezifischer: um diejenige Ambiguität, der wir in der bildenden Kunst begegnen. Damit nehme ich eine erste Spezifizierung vor. Sobald es um Kunst geht – und nicht um andere ästhetische Gegenstände wie beispielsweise die Natur –, wechseln wir in den Bereich menschlicher Praxis, das heißt in den Bereich ästhetischer
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Hervorhebung Barthes.
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Intentionen und künstlerischer Strategien. Kunstwerke weisen eine mögliche ästhetische Unbestimmtheit nicht einfach auf, sondern diese ist Ausdruck und Ergebnis künstlerischen Wollens. Sie ist etwas, das im Kunstwerk produziert wurde, als Effekt bestimmter und bestimmbarer ästhetischer Praktiken. Das wirkungsorientierte Produziertsein ästhetischer Unbestimmtheit hebt Kunstwerke von jenem allgemeinen Bereich des Ästhetischen ab, auf den Kants zitierte Formulierung zielt. Aus dieser ersten und grundsätzlichen Spezifizierung folgen weitere, denen die vier Kapitel dieses Aufsatzes gewidmet sind. Zunächst gilt es, begrifflich zwischen Unbestimmtheit und Ambiguität zu unterscheiden und diese Unterscheidung auf Kunstwerke zu beziehen (Kapitel II). Danach wende ich mich den je besonderen medialen Erscheinungsweisen von Ambiguität zu, wobei mich vornehmlich die Scheidung zwischen sprachlicher und bildlicher Ambiguität interessiert (Kapitel III). Anschließend beleuchte ich die unterschiedliche Performanz der Ambiguität, die uns in der Alltagskommunikation und in der ästhetischen Sonderkommunikation der Kunst begegnet (Kapitel IV). Eine letzte, diesmal historische Spezifizierung unternehme ich im Kapitel V, indem ich hier danach frage, ob sich eine genuin moderne Erscheinungsweise künstlerischer Ambiguität bestimmen lässt.
II.
Unbestimmtheit versus Ambiguität
Ambige Artikulationen definiere ich als solche, die mehr als eine distinkte Bedeutung haben, weswegen sich das Verstehen vor die Entscheidung zwischen alternativen Optionen gestellt sieht und unterschiedlich nachhaltig zwischen ihnen schwankt. Unbestimmte, vage oder offene Artikulationen hingegen verweisen nicht auf mehrere unterschiedliche Bedeutungen, sondern ihre Bedeutung lässt sich aufgrund unscharfer Grenzen nicht präzise benennen. Ziehen wir zur Verdeutlichung des Unterschieds sprachliche Beispiele heran: Auf der einen Seite stehen ambige Begriffe wie ›Kiefer‹ oder ›Erde‹, auf der anderen Seite vage Begriffe wie ›Schönheit‹, ›Knausrigkeit‹ oder ›stattliches Haus‹. Eine Vielzahl von Wörtern – möglicherweise die Mehrzahl – weist eine vage Bedeutung auf. Ambig jedoch ist ein Begriff erst dann, wenn er mindestens zwei Bedeutungen hat – gleichviel, ob diese wiederum vage sind oder nicht (Wasow 2015, 32f.). Diese Differenzierung ist auch für die bildende Kunst relevant. Ein impressionistisches Gemälde, beispielsweise eine Pariser Straßenszene Camille Pissarros (Abb. 1), ist insofern offen und vage, als ich bei etlichen Details der Szenerie nicht benennen kann, was genau sie zeigen. Ambig wird das Gemälde deswegen nicht. Vielmehr zielt Pissarros Malweise auf die Evokation eines ›vagen Sehens‹, das die pragmatischen Weltbezüge zugunsten einer ästhetisierten, ins Offen-Erscheinungshafte geführten Wahrnehmung abschwächt.
Ambiguität in der bildenden Kunst
Ambig hingegen ist ein Kunstwerk wie Jasper Johnsʼ Flag (Abb. 2), das zwei konträre und deutlich divergierende Auffassungen erlaubt, indem es als Abklatsch einer US-amerikanischen Flagge oder aber als ungegenständliche, selbstbezügliche Malerei aufgefasst werden kann (Imdahl 1981). Für Pissarros Gemälde ist es wesentlich, dass die Wahrnehmung ins Unbestimmte verschwimmt, für Johnsʼ Gemälde hingegen ist es wesentlich, dass es genau diese beiden Lesarten eröffnet und zugleich gegeneinanderführt. Während Pissarros strategischer Mitteleinsatz – der fleckige, die einzelnen ›taches‹ betonende Pinselduktus – jene bestimmte malerische Unbestimmtheit evoziert, die Pissarros Malerei dieser Jahre charakterisiert, produziert Johnsʼ strategischer Mitteleinsatz – das Zusammenlegen von Flaggen- und Gemäldeumriss sowie das Betonen des Artefaktcharakters der Malerei durch eine semi-transparente Wachsmalerei, welche der Gemäldeoberfläche eine hautähnliche Qualität verleiht – ebenjene Oszillation zwischen Flagge und selbstbezüglicher Malerei, auf die Johnsʼ Gemälde zielt.2 Wenn ich von Ambiguität in der bildenden Kunst spreche, meine ich ausschließlich Phänomene der letzteren Art, also künstlerische Hervorbringungen, in denen unterschiedliche, jeweils mehr oder minder klar benennbare Auffassungsweisen kalkuliert gegeneinandergeführt sind. Damit sind methodische, kunsthermeneutische Konsequenzen verknüpft. Sie resultieren aus der Einsicht, dass die Ambiguität, sofern wir deren Einsatz und Effekte nachvollziehen können, den Sinn und die Bedeutung dieser Kunstwerke gerade nicht in jenes Offene und Unbestimmte führen, das zwar »viel zu denken« gibt, ohne dass ihm aber »irgendein bestimmter Gedanke […] adäquat sein kann«, um nochmals Kants Formulierung aufzugreifen.
2
Die hier getroffene Unterscheidung zwischen Unbestimmtheit und Vagheit auf der einen und Ambiguität auf der anderen Seite findet eine Parallele im psychologischen Begriffsund Phänomenbereich der Ambivalenz. Ambivalenz – als psychologischer Terminus, der sich nicht auf Objekteigenschaften bezieht wie Ambiguität, sondern bestimmte Vollzüge im Subjekt adressiert – ist definiert als Doppeltgerichtetheit eines Subjekts auf eine Person oder Sache, die beispielsweise zugleich geliebt und gehasst wird, oder auf eine Handlung, die das Subjekt zugleich vollziehen und nicht vollziehen will. Es liegen also, anders formuliert, simultane Emotionen oder Intentionen vor, die jedoch miteinander inkompatibel sind. Davon abzugrenzen sind nun aber solche Situationen, in denen das Subjekt nicht weiß, was es fühlen oder tun soll, da es sich in einem Zustand der Unsicherheit befindet. Insofern als die Unsicherheit nicht aus simultanen und zugleich antagonistischen Gefühlen resultiert, sondern aus einem mangelnden Zugang sei es zu den eigenen Gefühlen, sei es zu entsprechend eindeutigen Stimuli, handelt es sich um einen grundlegend anderen Gemütszustand des Subjekts. Im Bereich subjektiver Empfindungen steht Unsicherheit zu Ambivalenz in genau derselben Relation wie im Bereich objektiver Eigenschaften Unbestimmtheit zu Ambiguität. (Siehe hierzu: Ziegler 2010, 127.)
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Die Wirkung der Ambiguität ist vielmehr genau gegenteilig. Durch die kalkulierte Gegeneinanderführung bestimmter Auffassungsweisen entfaltet ein Kunstwerk wie Jasper Johnsʼ Flag überhaupt erst seine spezifische Bedeutung, und diese Bedeutung lässt sich in einer hermeneutischen Deutungsarbeit begrifflich durchaus bestimmen. Im Falle von Johnsʼ Flag beispielsweise führt die genannte Ambiguität zwischen den Auffassungsweisen als Flagge und als ungegenständliches Gemälde zu weiteren – von Johns ebenso intendierten – Doppeldeutigkeiten, nämlich zwischen der Malerei als mimetischer Darstellung und als Herstellung einer sinnlich-ästhetischen Oberfläche. Darüber hinaus setzt die Spreizung zwischen der malerischen Eigenrealität der Oberfläche und dem Flaggenmotiv auch den Betrachtungsvorgang selbst buchstäblich in Bewegung. Denn während eine Flagge, so Johns, etwas sei, das gesehen, aber nicht betrachtet werde, lädt die hautähnliche Enkaustikmalerei, durch welche die darunter liegende Collage aus Zeitungsschnipseln hindurchschimmert, zur genauen Examination ein – was uns veranlasst, so nahe an das Bild heranzutreten, wie wir es bei einer Flagge nie täten, bis wir in dieser Nahsicht die Flagge aus dem Blick verlieren.3 Überspitzt lässt sich also sagen: Die Ambiguität von Jasper Johnsʼ Flag führt den Sinn keineswegs ins Unbestimmte. Die Ambiguität dieses Kunstwerks zu verstehen, heißt vielmehr, es insgesamt zu verstehen: in seinen Absichten, in seiner Form und in seinen Bedeutungsdimensionen.4 3
4
Flaggen und Zielscheiben – die Johns in einer anderen Bildserie aufgriff – seien »things which are seen and not looked at, not examined« (Johns 1996 [1965], 108); zu Johns Absicht, die Zeitungen durch die Wachsfarbschicht partiell lesbar zu halten, siehe: Ebd., 106. Damit wird auch deutlich, inwiefern die Ambiguität (in) der Kunst, die ich herausarbeiten will, sich vom Phänomen des ›offenen Kunstwerks‹ unterscheidet, das Umberto Eco in seiner gleichnamigen Schrift analysiert. Ecos Begriff des ›offenen Kunstwerks‹ zielt auf Artefakte, die vom Künstler (Komponisten, Schriftsteller, Maler) nicht als geschlossen organisierte Zeichenkomplexe konzipiert wurden, sondern dem Interpreten (Hörer, Leser, Betrachter) mehrere und prinzipiell gleichwertige Optionen bieten, deren ästhetisches Material zu strukturieren, womit der Interpret zum ›Mitschöpfer‹ des Kunstwerks wird. Eco grenzt diese Offenheit, die er in den Poetiken seit dem späten 19. Jahrhundert dominant werden sieht, von jener prinzipiellen Offenheit ab, die auch jedem vormodernen Kunstwerk zugeschrieben werden muss, insofern als bei der Rezeption eines jeden Kunstwerks ein wahrnehmendes Subjekt mit einem wahrgenommenen ästhetischen Objekt interagiert. Seine Analysen gelten nur solchen Kunstwerken, in denen die Offenheit nicht mehr bloß jenes »unvermeidliche Faktum« ist, das durch die subjektiven Rezeptionsanteile stets ins Spiel kommt, sondern in denen eine strukturelle und prinzipiell nicht zu schließende Offenheit zum »produktiven Programm« der jeweiligen Poetiken wird, da sich der Rezipient, wie Eco mit den Worten des Komponisten Henri Pousseur sagt, sich in ein »Netz unerschöpfbarer Relationen« gestellt sehen soll. Von diesen »produktiven Programmen« prinzipiell nicht zu schließender struktureller Offenheit, denen Ecos Analysen gelten, ist nun aber der kalkulierte Einsatz von Ambiguität, dem meine Ausführungen gelten, zu unterscheiden, auch wenn beides in bestimmten Kunstwerken zusammenspielen kann. (Eco 1977, 27-41, die Zitate 32 und 40.)
Ambiguität in der bildenden Kunst
III.
Zur Mediendifferenz der Ambiguität
Wenn wir der Wirkungserzeugung künstlerisch intendierter Ambiguität genauer nachgehen wollen, müssen wir die je besondere Medialität der Künste in den Blick nehmen. Denn jede Kunst kann nur solche Ambiguitätspotenziale mobilisieren, die in der jeweiligen Eigenart des verwendeten Mediums angelegt sind. In der Malerei beispielsweise liegt eine prinzipielle, im bildnerischen Medium begründete Ambiguität in der Doppeldeutigkeit eines Gemäldes zwischen Flächigkeit und Tiefenillusion. Diese perzeptive Ambiguität macht jedes Gemälde auf jeweils unterschiedliche Weise ästhetisch produktiv – mit allen Schattierungen, die hierbei im Lauf der Bildgeschichte zwischen einer byzantinischen Ikone, einem zentralperspektivischen Fresko Masaccios, einem barock dynamisierten Flügelaltar Peter Paul Rubensʼ oder Mondrians abstrakt-ungegenständlichen Gemälden zu beobachten sind. Bei Skulpturen wiederum manifestiert sich eine prinzipielle mediale Ambiguität in der Oszillation des Kunstwerks zwischen der Leblosigkeit des Materials einerseits und der ästhetischen Lebendigkeit aufgrund der künstlerischen Bearbeitung andererseits – und auch hier ließe sich mit Blick auf die Skulpturgeschichte zeigen, wie die einzelnen Kunstwerke jene ästhetische Ambiguität zwischen Starre und Bewegtheit jeweils anders ausbuchstabieren, wobei erneut die Bandbreite zwischen gotischen Gewändefiguren, Berninis hochdramatischen Marmorskulpturen, den Gipsplastiken Rodins oder Henry Moores schimmernd patinierten Bronzen kaum auszumessen ist. Diese prinzipiellen medialen Ambiguitäten laufen der Differenzierung in Kunst und Nicht-Kunst voraus, da der Gegensatz von Flächigkeit und Tiefenillusion nicht nur künstlerische Artefakte wie Gemälde betrifft, sondern jedes Bild – und damit auch beispielsweise jede Fotografie, die ich in einer beliebigen Werbewurfsendung eines Supermarkts antreffe. Doch in offensichtlicher Weise setzt die Werbebroschüre die mediale Bildambiguität zwischen Flächigkeit und Tiefenillusion ästhetisch nicht ein, weswegen sie in der Bedeutungserzeugung der betreffenden Produktfotografie irrelevant bleibt und lediglich unbemerkt mitläuft. Künstlerische Artefakte hingegen, seien es Malereien oder künstlerische Fotografien, setzen die Ambiguitätspotenziale des Bildes ästhetisch ein, indem sie eine produktive Spannung zwischen den Flächenbezügen des Bildes und den Raumbezügen des Dargestellten erzeugen. Auf diese Weise wird die mediale Ambiguität des Bildes in die bewusste Wahrnehmung des Betrachters gehoben und zugleich künstlerisch fruchtbar gemacht.5 5
Zur doppelten Wahrnehmung künstlerischer Bilder zwischen Flächigkeit und Tiefeneffekt sowie zum produktiven »Sehkonflikt«, in welchen der Betrachter hierdurch gerät, siehe: Brötje 1985, 228. Gemäß Brötje schwankt die Wahrnehmung zwischen einem räumlich verknüp-
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Auch hier mag ein Seitenblick auf die Sprache helfen, den Unterschied zu verdeutlichen. In jeder Verwendung des Begriffs ›Schloss‹, auch im Werbeprospekt eines Anbieters von Schließvorrichtungen, ist die Bedeutungsambiguität des Wortes zwischen ›Verschlussmechanismus‹ und ›herrschaftlichem Haus‹ vorhanden. Doch die Wortambiguität wird bei der Lektüre des Prospekts weder wahrgenommen noch ist er für dessen Sinnverstehen relevant, da der Verwendungskontext jeden Zweifel ausschließt, welche Wortbedeutung hier gemeint ist. In Franz Kafkas gleichnamigem Roman wird dieselbe Begriffsambiguität hingegen nicht nur aktiviert, sondern erweist sich überdies als für die Bedeutungsentfaltung des Romans höchst signifikant. Von besonderer Wichtigkeit für das Verständnis der Art und Weise, wie sich Ambiguität in Werken der bildenden Kunst sinnstiftend geltend macht, ist nun die Mediendifferenz von Sprache und Bild. Diese Differenzierung ist nicht nur deshalb zentral, weil Bilder ihren Sinn gänzlich anders entfalten als Sprache; sie erweist sich auch deshalb als vordringlich, da wir die wesentlichen Definitionen, Typologien und Funktionsanalysen der Ambiguität – als einem Begriff, der ursprünglich aus der antiken Rhetorik stammt – bis heute der Sprach- und Literaturwissenschaft verdanken. Das führt einerseits dazu, dass wir über die Ambiguität sprachlichen ›Sagens‹ viel genauer Bescheid wissen als über diejenige bildlichen ›Zeigens‹. Es hat andererseits die problematische Folge, bildliche Ambiguität zumeist nach dem Modell sprachlicher Ambiguität zu konzeptualisieren.6 Sprachliche Ambiguität manifestiert sich auf verschiedene Weise und auf mehreren Ebenen. Da ist zunächst die lexikalische Ebene homonymer Wörter wie ›Laster‹, ›Bank‹ oder ›Flügel‹. Des Weiteren treffen wir sie auf der syntaktischen Ebene einzelner Sätze, die aufgrund der unterschiedlichen Koppelungsmöglichkeit der einzelnen Wörter doppeldeutig werden, beispielsweise im Satz: ›Ich sehe die Frau
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fenden, ich-bezogenen Sehen, in dem das Dargestellte auf den eigenen Standpunkt vor dem Bild bezogen wird, und einem flächengebundenen, bildhaften Sehen, in dem das Dargestellte auf die unverfügbare Instanz der Bildfläche bezogen wird. (Vgl. dazu ausführlicher: Lüthy 2013a, 212-217.) Vgl. beispielsweise: Scheffler 1989. Für dazu gegenläufige Bestimmungen siehe die Arbeiten Verena Kriegers, die auf eine Typologie von Ambiguitätsphänomenen in der Kunst zielen, in beständigem Abgleich zwischen sprachlich-literarischen und bildlich-künstlerischen Manifestationsweisen des Ambigen; siehe den Beitrag in diesem Band (Krieger 2021) sowie Krieger 2010. Einem vergleichbaren Impuls verdankt sich Romanacci 2009, der indes zu anderen typologischen Bestimmungen gelangt. Auch wenn mein vorliegender Aufsatzes ebenfalls auf differenzierende Bestimmungen zielt, verfahre ich gleichwohl anders. Metaphorisch ausgedrückt, folgen Krieger und Romanacci einem kartografischen Impuls, während ich bildkünstlerische Ambiguität in einem Akt anatomischer Sektion aus dem Gesamtphänomen Ambiguität absondern möchte.
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mit dem Feldstecher‹. Und schließlich stoßen wir auf jene pragmatischen Ambiguitätsfälle, in denen die Sprecherintention doppeldeutig bleibt, etwa in der Formulierung: ›Nichts wäre mir lieber gewesen‹. Die lexikalischen, syntaktischen und pragmatischen Manifestationen sprachlicher Ambiguität gehen fließend ineinander über, und zusammengenommen basieren sie darauf, dass die Struktur der Sprache und die Ordnung der Welt nicht restlos ineinander aufgehen, mit der Folge, dass der Bezug einer Äußerung auf ein Gemeintes doppel- oder mehrdeutig bleiben kann. Bei sprachlicher Ambiguität, sei sie auf der Wort-, der Satz- oder der Textebene, bewegen wir uns im Feld der Zeichen und ihrer Semantiken; es handelt sich um Ambiguitäten des Bedeutens, das heißt um Fälle, in denen eine Äußerung mehr als nur einen Bereich der außersprachlichen Wirklichkeit denotiert (Wasow 2015, 32f.; Wasow, Perfors, Beaver 2005, 265). Dieser Modus ›sagender‹ Ambiguität lässt sich aufs ›Zeigen‹ der Bilder nicht übertragen. ›Zeigende‹ Ambiguität entsteht nicht aufgrund der mehrfachen Bedeutung eines Zeichens oder Zeichenkomplexes, sondern aufgrund der wechselnden Erscheinungsweise desselben Wahrnehmungsgegenstands. Die Differenz ist also eine doppelte: zwischen Zeichen und Wahrnehmungsgegenstand einerseits und zwischen Bedeutung und Erscheinung andererseits. Ich beginne mit der letzteren Differenz, derjenigen zwischen Bedeutung und Erscheinung.7 Das Sehen von Masaccios Fresko der Heiligen Dreifaltigkeit in S. Maria Novella (Abb. 3) schwankt zwischen der Wahrnehmung als Fläche und als Tiefenraum, oder genauer gesagt: zwischen dem Wahrnehmen des Bildes als flächenbezogene kompositorische Ordnung und der Wahrnehmung desselben Bildes als einer Raumordnung, die sich zwischen meinem Blickpunkt und dem Fluchtpunkt des Gemäldes entfaltet. Bei diesen unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen als Flächenordnung und als Tiefenordnung handelt es sich indes nicht um unterschiedliche Bedeutungen von Masaccios Gemälde, sondern lediglich um unterschiedliche Auffassungsweisen desselben ästhetischen Gegenstands. Während es hinsichtlich des Satzes ›Ich sehe die Frau mit dem Feldstecher‹ triftig ist zu sagen, er bedeute entweder, dass ich die Frau mit meinem Feldstecher sehe, oder aber, dass ich eine Frau sehe, die einen Feldstecher bei sich hat, wäre es unsinnig, von Masaccios Trinitätsfresko zu behaupten, es bedeute entweder die Flächenorganisation oder aber die räumliche Organisation des Dargestellten. Eine Skulptur wiederum erscheint dem Betrachterauge bald als leblos und bald als lebendig, je nachdem, ob wir das Augenmerk auf das materielle Sein des Objekts richten oder aber auf den ästhetischen Schein, der die Muskeln des Dargestellten
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Meine Verwendung des Begriffs ›Erscheinung‹ orientiert sich an: Seel 2000 sowie an dem, was Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen unter dem Begriff des ›Aspekts‹ diskutiert: Wittgenstein 1984b [1953], 518ff.
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kraftvoll gespannt erscheinen lässt (Abb. 4). Doch auch hier wäre es irrig, die Leblosigkeit oder aber Lebendigkeit als unterschiedliche Bedeutungen von Apolloniusʼ Skulptur anzusprechen; erneut handelt es sich nicht um divergierende Bedeutungen, sondern um voneinander abweichende Erscheinungs- und Auffassungsweisen des Wahrnehmungsgegenstands, die bei der Frage nach der Bedeutung der Skulptur zwar eine Rolle spielen können, aber keineswegs müssen. Die Ambiguität des Erscheinens kann den ästhetischen Gegenstand insgesamt betreffen, also Masaccios Fresko oder Apolloniusʼ Skulptur als ganze, jedoch auch nur bestimmte Partien innerhalb eines Kunstwerks. Ein Beispiel hierfür ist Frans Halsʼ Doppelporträt der Eheleute Isaac Massa und Beatrix van der Laen (Abb. 5), wo die Ambiguität die Darstellung des Ehepaars betrifft. Frans Hals malte die beiden Körper als voneinander wegstrebend, die Gemütszustände der beiden Eheleute indes in sympathetischem Zusammenklang. Die Doppelfigur der Eheleute können wir folglich genauso gut unter den Aspekten des Verbunden- wie des Getrenntseins, der ›unitas‹ wie der ›diversitas‹, der ehelichen Verbundenheit wie zugleich einer deutlich ausgedrückten Individualität der beiden Dargestellten auffassen. Es gehört zur Gattungsspezifik von Doppelporträts, nicht nur die jeweils Dargestellten als solche ins Bild zu setzen, sondern wesentlich auch davon zu handeln, wie sie zueinander stehen. Sie zielen auf ein Sehen, das die Dargestellten miteinander vergleicht und dabei deren Ähnlichkeit ebenso zu sehen in der Lage ist wie deren Unterschiedlichkeit. An Frans Halsʼ Gemälde können wir in exemplarischer Weise erkennen, wie ein derartiges doppeltes ›Zeigen‹ vonstatten geht. Es komponiert Isaac Massa und Beatrix von der Laen zu einer Gesamtfigur, deren Ambiguität die Aspekte des Zusammenstimmens und des Auseinanderstrebens parallel zueinander auffällig werden lässt und die beiden Aspekte dabei so sorgfältig austariert, dass keiner den anderen dominiert. Am Beispiel dieses Doppelporträts lässt sich nun auch genauer fassen, in welcher Relation die Erscheinungsweisen eines Wahrnehmungsgegenstands zu dessen Bedeutung steht – wie also das ›Zeigen‹ und das ›Sagen‹ eines Kunstwerks ineinanderspielen. Denn Kunstwerke erschöpfen sich selbstverständlich nicht im ›Zeigen‹, auch wenn ihr ›Sagen‹ sich anders artikuliert als dasjenige der Sprache. Die beiden Aspekte, unter denen wir die Konfiguration der beiden Eheleute wahrnehmen können, synthetisieren eine Vielzahl von sinnlichen Merkmalen und ästhetischen Eigenschaften des Gemäldes: kompositorische wie die V-Form der beiden Körper, symbolische wie die formale Resonanz zwischen den Körpern und der umfangenden Natur, koloristische wie das Schwarz, in welchem die Kleidungen des Paares verschmelzen, oder rezeptionsbezogene wie die emphatische Blickbeziehung, die beide Porträtierten zum Betrachter eingehen. Diese Aspekte, zu denen sich die unterschiedlichen Merkmale und Eigenschaften des Gemäldes verdichten, lassen sich mit passenden Begriffen versehen – hier eben mit den Begriffen des ›Auseinanderstrebens‹ und des ›Zusammenklingens‹. Auf diese Weise
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gelangen wir zu Zuordnungen zwischen Erscheinungen und Begriffen. Allerdings sind diese Zuordnungen nicht wie bei sprachlichen Zeichen durch Lexik oder Syntax konventionell geregelt, sondern stellen das Ergebnis eines interpretierenden Deutens des Wahrgenommenen dar, welches grundsätzlich stets verfeinert werden kann oder aber aufgrund neuer Einsichten revidiert werden muss. Auch mit dieser Verknüpfung von Erscheinungen und Begriffen sind wir indes noch nicht bei der Bedeutung von Frans Halsʼ Gemälde angekommen. Diese Bedeutung gewinnt erst dann Kontur, wenn wir die Aspekte, die wir im Gemälde bemerken, aufeinander zu beziehen beginnen, um dann beispielsweise zu schlussfolgern, die Bedeutung von Frans Hals Doppelporträt liege darin, das Gelingen einer ehelichen Verbindung als dynamisch ausbalancierte Kopräsenz von Momenten des Verschmelzens und der Distanznahme vorzuführen.8 An dieser Stelle lässt sich nun auf die erstgenannte, jedoch zunächst zurückgestellte Differenz zwischen der ›sagenden‹ Ambiguität der Sprache und der ›zeigenden‹ Ambiguität des Bildes zurückkommen: auf die Differenz zwischen sprachlichem Zeichen und bildlichem Wahrnehmungsgegenstand. Anhand des soeben skizzierten Verlaufs, wie in einem Gemälde wie Halsʼ Doppelporträt erscheinendes ›Zeigen‹ und bedeutendes ›Sagen‹ auseinander hervorgehen, sollte ersichtlich geworden sein, inwiefern der Bezug von Kunstwerken auf eine von ihnen gemeinte Welt nicht nach dem Modell sprachlicher Zeichen verstanden werden kann. Im Unterschied zur diskret-syntaktischen Ordnung der Sprache sind Bilder – mit Nelson Goodman gesprochen – syntaktisch dichte Symbole, bei
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Ein vom gerade analysierten Kunstbeispiel abzuhebender Grenzfall, wie ›Zeigen‹ und ›Sagen‹ zueinander relationiert sein können, ist das Kippbild – wie beispielsweise jener berühmte Hase-Ente-Kopf, den Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen im Zuge seiner Erörterung des Begriffs ›Sehen‹ heranzieht. Hier sind die beiden ineinander umkippenden Erscheinungs- und Auffassungsweisen der Zeichnung – einmal Hase, einmal Ente – sehr nahe an dem, was im Bereich sprachlicher Begriffe Denotate sind. Für den Hase-EnteKopf gilt aber ebenso wie für die meisten anderen Kippbilder, dass er kein Kunstwerk ist. Von den hierfür geltend zu machenden Unterschieden greife ich lediglich den Umstand heraus, dass das Wechselspiel der Aspekte, unter denen die Zeichnung gesehen werden kann, weder Sinn noch Bedeutung entfaltet – im Unterschied zum gerade diskutierten Doppelporträt und den hier aufleuchtenden unterschiedlichen Aspekten, die uns die Konstellation der beiden Dargestellten zu deuten erlaubt. Denn die von Wittgenstein angeführte Zeichnung handelt nicht davon, dass Hasen zuweilen auch Enten sein können oder dass es Hasen-Enten-Zwitter gebe. Die Konkurrenz der voneinander wegstrebenden Auffassungsweisen des Kippbildes ist zwar visuell frappant – und ermöglicht Wittgenstein weitreichende Schlussfolgerungen zum Verhältnis von Sehen und Denken –, obgleich die Zeichnung selbst keinerlei Inhaltstiefe aufweist. Als Modell, anhand dessen sich die Ambiguität von bildenden Kunstwerken verstehen ließe, eignet sich das Kippbild daher nicht. (Vgl. dazu: Lüthy 2012; zu einer Übersicht über unterschiedliche Kippbild-Typen und deren visuelles Funktionieren, siehe: Schönhammer, Steinbrenner 2019.)
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denen zur Bestimmung dessen, was sie bedeuten, im Gegensatz zu sprachlichen Zeichen alle sinnlichen Merkmale und ästhetischen Eigenschaften, die sie aufweisen, zu berücksichtigen sind. Bei einem Gemälde macht, so Goodman, »jeder Unterschied an jedem pikturalen Aspekt einen Unterschied aus« (Goodman 1997, 210). Selbst die exakte Kopie eines Gemäldes kann dessen Sinn entscheidend verändern – im Unterschied zur genauen Abschrift eines Textes. Aus diesem Grund gehen phänomenales ›Zeigen‹ und bedeutendes ›Sagen‹ im Bild eine unmittelbare Verbindung ein, die den bildlichen Wahrnehmungsgegenstand vom sprachlichen Zeichen entschieden abhebt. Die andere Art und Weise, wie Bilder sich auf eine gemeinte Welt beziehen und die von der Denotation sprachlicher Zeichen abzugrenzen ist, nennt Goodman ›Exemplifikation‹. Ein Gegenstand ›exemplifiziert‹ eine bestimmte Eigenschaft, wenn er sie, so Goodmans Definition, zugleich aufweist und auf sie Bezug nimmt (ebd., 59f.). Dies lässt sich am gerade diskutierten Beispiel von Frans Halsʼ Doppelporträt illustrieren. Die Darstellung der beiden Eheleute nimmt auf die Aspekte des ›Zusammenstimmens‹ und des ›Getrenntseins‹ dadurch Bezug, dass die Form jener Doppelfigur, welche die beiden Dargestellten bilden, genau diese Aspekte selbst aufweist. Nochmals aber sei betont, dass sich das ›Zeigen‹ des Bildes, das sich in seiner Form realisiert, nur dadurch mit einem ›Sagen‹ verbindet, dass die Form in einem Akt interpretierenden Deutens mit passenden Begriffen verknüpft wird. Sinnliche Wahrnehmung, ästhetische Erfahrung und interpretierende Deutung des Wahrgenommenen spielen dabei in komplexer Weise zusammen. Sie bauen nicht bloß aufeinander auf, sondern modifizieren sich wechselseitig, indem neue Wahrnehmungen, die wir am Kunstwerk machen, zu anderen Interpretationen Anlass geben und andere Interpretationen des Kunstwerks dazu führen können, dass wir es in neuer Weise wahrnehmen (Lüthy 2019, 158ff.).9 9
Beim literarischen Kunstwerk wären unterschiedliche Stufen sinnhaften Bedeutens ebenso zu unterscheiden wie ich es für das bildnerische Kunstwerk soeben versuchte. Auch bei einem Roman wie Kafkas Schloss ist die lexikalische Ambiguität des titelgebenden Worts nur die erste und gewissermaßen unterste Stufe jenes komplexen literarischen Bedeutens, das der Roman entfaltet. Dieser Stufenlogik literarischen Bedeutens kann ich hier nicht weiter nachgehen. Diesbezüglich sei aber zumindest die folgende These aufgestellt: Bildnerische und literarische Kunstwerke weisen hinsichtlich der jeweiligen Relation von ›Sagen‹ und ›Zeigen‹ eine inverse temporale Logik auf. Während das Bild auf ein ästhetisches ›Zeigen‹ hin optimiert ist, das es ihm ermöglicht, ins begriffliche ›Sagen‹ zu kommen – und zwar wesentlich durch das produktive Gegeneinanderstellen unterschiedlicher Auffassungsweisen des Sichtbaren –, ist das literarische Kunstwerk auf ein begriffliches ›Sagen‹ hin optimiert, das die Sprache schließlich in ein ›Zeigen‹ übergehen lässt – nicht zuletzt durch das produktive Mehrdeutigwerden der sprachlichen Zeichen, wodurch der Text semantische Dichte gewinnt. In der Auffassung des Lesers synthetisiert sich die Linearität des literarischen Kunstwerks schließlich zum ›Bild‹ der beschriebenen Welt, während sich umgekehrt die Si-
Ambiguität in der bildenden Kunst
Die prinzipielle Diversität sprachlich und bildlich erzeugter Ambiguität – als Ambiguität des Bedeutens versus Ambiguität des Erscheinens – führt dazu, dass sie sich wechselseitig nicht aufeinander rückführen oder ineinander übersetzen lassen. Versprachlichen wir die bislang diskutierten Ambiguitätsphänomene, beispielsweise mit den Sätzen: ›Masaccios Trinitätsfresko erscheint sowohl flach als auch tief‹ oder ›Jasper Johnsʼ Flag zeigt sich als sowohl als Flagge wie als ungegenständliches Gemälde‹, spiegelt sich die Ambiguität der entsprechenden Artefakte in keiner Weise, da die Aussagen als solche ebenso klar wie unzweideutig sind. Umgekehrt kann die Ambiguität des Begriffs ›Kiefer‹ ebenso wenig verbildlicht werden wie sich die Ambiguität des Satzes: ›Ich sehe die Frau mit dem Feldstecher‹ ohne den Preis einer disambiguierenden Vereindeutigung visuell darstellen ließe. Diese wechselseitige Unübersetzbarkeit, die an der Heterogenität sprachlicher und bildlicher Ambiguität liegt, ist einer der Gründe, weswegen die Verfilmung literarischer Texte, insbesondere solche, die in prominenter Weise mit sprachlicher Doppeldeutigkeit arbeiten, eine kaum zu bewältigende Herausforderung darstellt.10
IV.
Die performative Ambiguität der Kunst
Weiter oben war davon die Rede, dass Kunstwerke die prinzipiell vorhandenen, meistens aber ebenso unbemerkt wie unthematisch bleibenden medialen Ambiguitäten eines bestimmten Mediums, beispielsweise diejenige eines Bildes zwischen Flächigkeit und Tiefenillusion, aktualisieren und in ein ästhetisches Potenzial verwandeln. Dies aber ist ein Prozess, der zur linguistischen Auffassung von Ambiguität sowie des kommunikativen Umgangs mit ihr genau konträr verläuft. Die Linguistik geht davon aus, dass die Ambiguität sprachlicher Artikulationen etwas sei, mit dem man wohl oder übel leben müsse, auch wenn es die reibungslose Verständigung zwischen Sprechersubjekten gefährde. Diese Gefährdung bleibe jedoch, so geht das linguistische Narrativ weiter, üblicherweise deshalb aus, weil der Kontext der jeweiligen Äußerung dazu führe, dass die Sprechersubjekte die verständnisgefährdende Ambiguität automatisch disambiguierten, das heißt zum Verschwinden brächten, da zweifelsfrei klar sei, was gerade mit dem mehrdeutigen Ausdruck gemeint sei (Wasow 2015; Lewandowski 1990, 228f.). Auf diese Weise
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multanität des bildnerischen Kunstwerks zur ›Aussage‹ über die gezeigte Welt diskursiviert. Für beide Prozesse spielt die Ambiguität des ästhetischen Gegenstands eine tragende – aber strukturell eben nicht aufeinander abbildbare – Rolle. Zu diesem Problem, siehe im vorliegenden Sammelband den Beitrag von Thomas Schmidt (Schmidt 2021). Schmidts vergleichende Analyse von Literatur und Film zeigt präzise, dass und inwiefern in den beiden Medien unterschiedliche Ambiguitäten mit je unterschiedlichen Mitteln erzeugt werden.
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bleibt die semantische Ambiguität einer sprachlichen Äußerung in der Alltagskommunikation ebenso verschattet wie die Fläche-Tiefe-Ambiguität in der Fotografie eines Discounter-Prospekts. In der Auseinandersetzung mit Kunstwerken geschieht nun aber das exakte Gegenteil. Hier sind wir eingeladen, ja aufgefordert, ›doppelbödig‹ zu lesen bzw. zu betrachten und nach möglichen Ambiguitäten im Wahrnehmungsgegenstand Ausschau zu halten – aber nicht etwa, um sie im Zuge einer Disambiguierung aufzulösen, sondern um sie als entscheidende Dimension der künstlerischen Bedeutungsproduktion zu begreifen und interpretierend fruchtbar zu machen (Bode 2019, 266).11 Produktion und Rezeption ästhetischer Ambiguität im Kunstwerk greifen dabei ineinander. Im Kunstwerk sind Ambiguitätspotenziale in einer Weise aktualisiert, dass sie als Appell an den Leser oder Betrachter kenntlich werden, sie im Zuge der Werkrezeption in ihrer sinnstiftenden Dimension zu erkennen und zu würdigen. Umgekehrt versucht der Leser oder Betrachter aus der Ambiguität, die ihm im Werk begegnet, zu erschließen, worin die kommunikative Absicht des Kunstwerks genau bestehe. Die Ambiguität des Kunstwerks zeigt sich in diesem perspektivischen Wechselspiel zwischen Produktion und Rezeption selbst als ein ambiges – ebenso doppeldeutiges wie doppelwertiges – Phänomen. Die ästhetische Ambiguität ist einerseits der Endpunkt eines künstlerischen Produktionsaktes und andererseits der Ausgangspunkt der deutend-interpretierenden Rezeption des Lesers oder Betrachters.12 Das Aktualisieren von bestehenden Ambiguitätspotenzialen, beispielsweise der Fläche-Tiefe-Spannung eines jeden Bildes in Masaccios Trinitätsfresko oder der 11
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Ich rekurriere hier auf eine Unterscheidung, die in Rhetorik und Literaturwissenschaft unter den Begriffen ›Normalkommunikation‹ versus ›Sonderkommunikation‹ diskutiert wird. Während erstere im Zeichen eines ›Kommunikationsernsts‹ steht, bei dem Missverständnisse gravierende lebensweltliche Folgen haben können, entfällt diese Bedrohungslage in letzterer, also in allen Formen entpragmatisierter Artikulation wie Literatur, bildende Kunst, Theater, Kunstfilm, aber auch Karneval, Festrede usw. Hier wird Ambiguität nicht als erlebtes Defizienzphänomen erlebt, sondern als ästhetische Produktivkraft, die von Textlinguisten wie de Beaugrande/Dressler begrifflich gesondert als ›Polyvalenz‹ gefasst wird (de Beaugrande/Dressler 1981, Kap. III.16). ›Normalkommunikation‹ und ›Sonderkommunikation‹ sind ›Rahmen‹, die all jene kennen und richtig anwenden können müssen, die eine kommunikative Interaktion richtig beurteilen wollen. Siehe hierzu: Bauer/Knape/Koch/Winkler 2010, S. 9ff. – Die Rede von den richtig anzuwendenden ›Beurteilungsrahmen‹ schlägt die Brücke zu Samuel Coleridges berühmter rezeptionsästhetischer Formel der »willing suspension of disbelief«: jener Bereitschaft eines (bei Coleridge: literarischen) Rezipienten, die Prämissen einer fiktiven künstlerischen Situation als wahr anzusehen, auch wenn sie fantastisch, unmöglich oder widersprüchlich seien; Coleridge 1983 [1817], S. 8. Ich paraphrasiere hier: Valéry 1957 [1938], 1346, dem es hier um die allgemeine Bestimmung geht, wie Produktion und Rezeption eines Kunstwerks ineinandergreifen.
Ambiguität in der bildenden Kunst
semantischen Ambiguität des Begriffs ›Schloss‹ in Kafkas gleichnamigem Roman, schöpft allerdings die Möglichkeiten künstlerischer Ambiguitätserzeugung keinesfalls aus. Die eigentliche und überraschende Produktivität, welche die Kunst diesbezüglich entfaltet, liegt vielmehr im Erzeugen neuer, bislang unbekannter Ambiguitäten, indem ein Kunstwerk hinter der Bedeutung eines Wortes oder der Erscheinungsweise eines Gegenstands plötzlich eine zweite Bedeutungsdimension oder Erscheinungsweise aufblitzen lässt (Weimar 2009). Ein solcher Fall liegt – um das bereits herangezogene Beispiel erneut aufzugreifen – bei Jasper Johnsʼ Flag (Abb. 2) vor, das die US-amerikanische Flagge plötzlich als ungegenständliches Bild wahrnehmbar werden lässt, ohne dass diese Erscheinungsambiguität der US-amerikanischen Flagge vor dem Auftritt von Johnsʼ Gemälde je bemerkt oder gar thematisch geworden wäre. Ein anderer, ebenso einschlägiger Fall ist Meret Oppenheims Objekt (Abb. 6), dem André Breton, als er das Werk in der Pariser Galerie Ratton 1936 erstmals präsentierte, den Titel Le déjeuner en fourrure gab. Oppenheims Objekt weist zwei heterogene Komponenten auf, einerseits die Alltagsgegenstände Tasse, Untertasse und Löffel, andererseits den Überzug mit dem Fell einer chinesischen Gazelle, dessen feine Haare besonders am Rand der Tasse und am Übergang zwischen Stiel und Rundung des Löffels buschig abstehen. Offensichtlich ist diese Verbindung alltagspraktisch untauglich: Fellüberzogene Tassen und Löffel sind schlecht zu gebrauchen. Auf der sensorischen Ebene wiederum bleibt die Verbindung paradox. Während wir feinhaariges Fell mit den Händen gern berühren, ist der Kontakt mit den Lippen oder der Zunge – wofür Tassen und Löffel gemacht sind – irritierend: Ein Haar im Mund erscheint uns derart unangenehm, dass wir es sogleich entfernen möchten. Dass Oppenheims Objekt zum Inbegriff eines surrealistischen Kunstwerks werden konnte, liegt nun daran, dass die Kombination von Tasse, Löffel und Pelz zwar dem Alltagsgebrauch zuwiderläuft, auf der Ebene der libidinösen Besetzungen des Sehens, Tastens und Schmeckens aber höchst suggestiv wirkt. Die Alltagsobjekte rücken in die Nähe des menschlichen Körpers, genauer in die Nähe der weiblichen und männlichen Sexualorgane, wobei Oppenheims Objekt paradoxerweise den sexuellen nackten Körper gerade dadurch evoziert, dass die Gegenstände haarig eingekleidet sind. Im Zug der Betrachtung wird die Konstellation der drei verfremdeten Alltagsgegenstände von Imaginationen vielfältiger und gegenstrebiger Empfindungen eingewoben. Dabei verstärken sich die Ambiguität von Oppenheims Objekt und die Ambivalenz, die wir den von diesem Objekt verheißenen Sensationen entgegenbringen, wechselseitig.13 »Gewiß erwartete ich«, schreibt Breton im Kommentar zu seiner surrealistischen Ausstellung, auf der er Oppenheims Kunstwerk erstmals auftreten ließ, »von 13
Zur Differenzierung und Relationierung von Ambiguität und Ambivalenz, siehe Anm. 2.
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der Vervielfältigung solcher Objekte eine Entwertung jener, deren […] Nützlichkeit die sogenannte wirkliche Welt überschwemmt.« Durch Interventionen wie diejenige Oppenheims kehre ein Gegenstand, so Bretons Hoffnung, »zurück in eine ununterbrochene Folge von geheimen Möglichkeiten, die ihm nicht genau zugeordnet sind und seine Verwandlung fordern« (Breton 1986 [1936], 285f.). Ambiguität transformiert sich in solchen Kunstwerken von einem außerkünstlerisch vorliegenden und im Kunstwerk lediglich aktualisierten Faktum zu einem Effekt, der im und durch das Kunstwerk allererst hervorgebracht wird. Die Ambiguität erweist sich als Resultat einer spezifischen künstlerischen Performanz, die sich in jedem Kunstwerke auf je singuläre Weise vollzieht. Während die Linguistik in der sprachlichen Ambiguität ein semantisches Problem erkennt, das in alltagskommunikativen Situationen eliminiert werden muss, zeigt sich ästhetische Ambiguität genau gegenteilig als Kraftquelle künstlerischen Bedeutens, und die Fähigkeit des Künstlers, sie hervorzubringen, wird zum Ausweis seiner Kreativität.14 An dieser Stelle gilt es einem möglichen Missverständnis entgegenzutreten. Genauso wie Umberto Ecos kunstanalytischer Vorstoß missverstanden wäre, wenn man dem Autor unterstellte, er erkenne in der Produktion von ›Offenheit‹ das eigentliche Ziel moderner Poetiken, wäre es verkehrt, in der Erzeugung von Ambiguität bereits die Bedeutung der betreffenden Kunstwerke entdecken zu wollen. Vielmehr erweist sich Ambiguität, wie die bislang herangezogenen Beispiele verdeutlichen sollten, lediglich als der Modus, in dem sie ihre Bedeutung entfalten. Damit aber stellt das Bemerken der Ambiguität des Kunstwerks nicht das Ende, sondern lediglich den Anfangspunkt der deutenden Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk dar, und diese Auseinandersetzung kommt bei einem Eheporträt, das die Aspekte ›Zusammenstimmen‹ und ›Auseinanderstreben‹ gegeneinanderführt,
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Neben literarischen Kunstwerken illustriert Klaus Weimar das Phänomen an Witzen, in welchen ein Begriff, der zunächst nicht als ambig wahrgenommen wird, plötzlich doppeldeutig erscheint, wobei in diesem Doppeldeutigwerden – das Weimar treffend als ›Modifikation der Eindeutigkeit‹ bestimmt – die Pointe des Witzes liegt. Weimars Hauptbeispiel ist ein jüdischer Witz, bei dem hinter der Wortbedeutung ›neues Testament‹ als ›zweiter Teil der christlichen Bibel‹ plötzlich die buchstäbliche Bedeutung als ›revidierte letztwillige Verfügung‹ aufblitzt: Ein Jude beklagt sich bei Gott, sein einziger Sohn sei Christ geworden. Das sei bei seinem Sohn auch so gewesen, antwortet Gott. Und was er da gemacht habe?, fragt der Jude. Ein neues Testament geschrieben, antwortet Gott. (Weimar 2009, 55.)
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notwendig zu einem ganz anderen Ergebnis als bei einem Objekt, in welchem Alltagsgegenstände ambig sexualisiert werden.15 Der strategische Einsatz von Ambiguität ist, so lässt sich festhalten, lediglich jenes strukturelle Allgemeine, das angesichts einzelner Kunstwerke hinsichtlich seiner je besonderen ästhetischen Performanz und seiner je anderen Bedeutungsproduktion zu spezifizieren ist. Dabei bedarf die Identifikation der unterschiedlichen Aspekte, unter denen ein Wahrnehmungsgegenstand gesehen werden kann, aller hermeneutischer Fähigkeiten, die wir zu mobilisieren vermögen. Nicht erst die Deutung der in einem Kunstwerk realisierten Ambiguität, sondern bereits das Bemerken der unterschiedlichen Auffassungsmöglichkeiten, die es eröffnet, setzt ästhetische Sensibilität, kunsthistorisches Wissen sowie Übung im Umgang mit künstlerischen Artefakten voraus.16
V.
Gibt es einen modernespezifischen Typus künstlerischer Ambiguität?
Bislang habe ich zur Verdeutlichung meiner Argumentation Beispiele quer durch die Kunstgeschichte herangezogen. In diesem Abschnitt möchte ich nun eine letzte Differenzierung vornehmen und danach fragen, ob sich eine modernespezifische Ambiguität (in) der bildenden Kunst profilieren lässt. Historische Grenzziehungen, die ein Davor von einem Danach scheiden wollen, sind gefährlich. Häufig ziehen wir die Grenze an der falschen Stelle, mit der Folge, dass wir plötzlich einem früheren Beispiel begegnen, das bereits die Merkmale aufweist, die doch für das Spätere kennzeichnend sein sollen. Eine solche falsche Grenzziehung, die ich durch meine bisherigen Kunstbeispiele zu konterkarieren versuchte, wäre die Auffassung, erst die moderne Kunst sei durch Ambiguität geprägt. Tatsächlich spielt schon Masaccios Trinitätsfresko (Abb. 3) mit der perzeptiven Doppeldeutigkeit von Flächigkeit und Tiefenillusion, und bereits der Torso von Belvedere (Abb. 4) spielt, wie erwähnt, mit der Kälte des Steins, dem
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Vgl. die treffende Formulierung Wittgensteins: »Es gibt viele Arten des Aspekterlebnisses. Es ist ihnen gemeinsam der Ausdruck: ›Ich sehe es jetzt als das‹; oder ›Ich sehe es jetzt so‹; oder ›Jetzt ist es das, – jetzt das‹; oder ›Ich höre es jetzt als …; früher hörte ich es als …‹. Die Erläuterung aber dieser ›das‹ und ›so‹ ist in verschiedenen Fällen die denkbar verschiedene.« (Wittgenstein 1984a [1949-1951], Nr. 588.) Sensibilität, Wissen und Übung braucht es selbstredend auch zum Verstehen der im Kunstwerk realisierten Ambiguität selbst: Der Betrachter muss – mit Bauer/Knape/Koch/Winkler 2010 gesagt – über »Ambiguitätskompetenz« verfügen, die sich »als Bestandteil seiner Kode, Sprach-, Text-, Kommunikations- und allgemeinen Interaktions- und Sozialkompetenz erweist«. Und die Autoren fügen an: »Besonders wichtig ist, dass man die Bedeutungssysteme einer Kultur erlernt hat.« (S. 20f.)
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die Wärme jener ästhetischen Verlebendigung gegenübersteht, die Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht Archaïscher Torso Apollos emphatisch beschrieb. Hier haben wir es, so versuchte ich zu argumentieren, mit ästhetisch-medialen Universalien zu tun, die epochenübergreifend anzutreffen sind. Eine subtilere Weise, die Zäsur zu setzen, besteht in der Behauptung, ästhetische Ambiguität erfahre in der Moderne eine Radikalisierung. Die Beobachtung einer quantitativen Steigerung von Ambiguität ist nicht falsch. Doch die epochale Spezifik der Moderne, wenn wir sie bestimmen wollen, kann nicht bloß in einem ›mehr an Ambiguität‹ bestehen – und umgekehrt diejenige der Vormoderne nicht bloß in einem ›weniger an Ambiguität‹. Die Folge hiervon sind schiefe Debatten, beispielsweise von der Art, ob in dem pompejanischen Fresko der Flora (Abb. 7) der Raum, in dem die Figur auftaucht, nicht bereits so ambig sei wie in einem impressionistischen Gemälde des 19. Jahrhunderts, beispielsweise einem Gemälde Mary Cassatts (Abb. 8); oder ob der Torso von Belvedere (Abb. 4) nicht schon jene doppeldeutige Oberfläche aufweise, die viele Jahrhunderte später Auguste Rodins Skulpturen (Abb. 9) auszeichnet. Epochale Differenzierungen werden erst dann aussagekräftig, wenn ihnen nicht nur quantitative Skalierungen, sondern qualitative Unterscheidungen gelingen. Es kann nicht allein darum gehen, unterschiedliche Grade von Ambiguität festzustellen, sondern das Ziel sollte darin bestehen, unterschiedliche Typen derselben zu identifizieren – gemäß Heinrich Wölfflins Wort, dass nicht alles zu allen Zeiten möglich sei (Wölfflin 1917, 11). Was Wölfflin auf kunsthistorische Stile bezog, dürfte auch für das Thema künstlerischer Ambiguität gelten: Auch hier ist nicht alles zu allen Zeiten möglich. Wir müssen folglich zwischen zwei Spielarten künstlerischer Ambiguität unterscheiden. Es gibt Ausprägungen von Ambiguität, welche in Kunstwerken aller Epochen eingesetzt werden, wenn auch sicherlich in unterschiedlicher Intensität. Darüber hinaus gibt es jedoch einen Ambiguitätstypus, der, so möchte ich zeigen, ausschließlich in der Moderne auftritt. Wenn ich nachfolgend versuche, diesen Typus zu konturieren, behaupte ich nicht, jedes Kunstwerk der Moderne entspreche diesem. Ich lenke den Blick lediglich auf eine Manifestationsform von Ambiguität, von der ich glaube, dass sie in der Vormoderne nicht möglich gewesen war – und werde zugleich Gründe nennen, warum dem so sein dürfte. Dafür wird es nötig sein, den Fokus über das Ambiguitätsthema hinaus zu weiten und Konzepte einzubeziehen, die für die Kunstproduktion der Moderne wesentlich sind, insbesondere das Konzept der Autonomie der Kunst. Als ersten Testfall greife ich ein monochromes Gemälde heraus, konkret eines der ultramarinblauen Monochrome von Yves Klein, die dieser ab 1955 fertigte (Abb. 10).
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Das Monochrom ist ein Grenzfall des Bildes. Mit Gottfried Boehm lässt sich ein Bild definieren als Kontrast zwischen dem, was ein Bild materiell ist – nämlich eine begrenzte, überschaubare Grundfläche –, und dem, was darin sichtbar wird – nämlich die Gesamtheit seiner Binnenverhältnisse. Dieser Kontrast macht, Boehm zufolge, den Wahrnehmungsgegenstand zu einem Bild (Boehm 1994, 30).17 Bei Kleins monochromem Gemälde wird dieser Kontrast allerdings minimal. Was der Betrachter sieht, ist lediglich eine gleichmäßig texturierte, puderig matte Oberfläche mit einem einzigen unmodulierten, tief leuchtenden Farbton. Die syntaktische Dichte, die ein herkömmliches Bild durch seine mehr oder minder komplexe Komposition erzeugt, tendiert hier gegen Null. Diese Reduktion führt nun aber zu einer besonderen – und wie ich meine in der Vormoderne nicht denkbaren – Form von Ambiguität. Indem Yves Kleins monochromes Gemälde auf jegliche kompositorische Binnendifferenzierung verzichtet, gibt es hier nur zwei Aspekte, unter denen es gesehen werden kann. Entweder man sieht es als bloße Farbfläche, oder man sieht es, mit einem Wort Clement Greenbergs, als einen »totalen Raum« (Greenberg 1961, 173).18 Tatsächlich gingen die Ambitionen des Künstlers in die von Greenberg gewiesene Richtung. Er behauptete, sein erstes und zugleich größtes monochromes Gemälde habe er gefertigt, indem er am Strand von Nizza gelegen und den blauen Himmel signiert habe (Stich 1994, 28). Zwei maximal auseinanderstrebende Wahrnehmungsoptionen desselben Gegenstandes also: Entweder fassen wir ihn als bloßen flachen Gegenstand auf – oder aber als den ›totalen Raum‹ des Himmels. Genau auf diesen Umschlag zielt die intendierte Ambiguität von Kleins Monochromen, darin liegt der Kern ihrer Bildästhetik. Das Kunststück, das sie vollbringen, gründet in keiner darstellerischen Raffinesse, keiner Komplexität der Komposition und keiner Subtilität koloristischer Details. Das Kunststück besteht wesentlich darin, die monochrome Fläche überhaupt zu einem Bild werden zu lassen, das heißt zu einem Gegenstand, der etwas zeigt, was er selbst nicht ist – in diesem Fall den ›totalen Raum‹ des Himmels. Der Erfolg von Yves Kleins Gemälde liegt nicht in einem optimierten ›Wie‹ der künstlerischen Durcharbeitung, sondern in einem schieren ›Dass‹: dass diese Gegenstände überhaupt Bilder – und damit zugleich Kunstwerke – sind.19 Als zweites, in der gewählten ästhetischen Strategie verwandtes Beispiel sei auf Marcel Duchamps Readymades verwiesen, also auf jene Alltagsgegenstände
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Boehm nennt diesen Grundkontrast eines jeden Bildes ›ikonische Differenz‹. »Totaler Raum« ist eine von mir erzeugte Engführung von Greenbergs Formulierung; im zitierten Text schreibt Greenberg: »[…] the picture plane as a total object represents space as a total object.« Zur genaueren Ausführung des Arguments unter dem Horizont des Topos ›ästhetischer Lebendigkeit‹ sowie anhand eines Beispiels von Barnett Newman, siehe: Lüthy 2013b.
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wie den Flaschentrockner oder das Urinal, die Duchamp kaum oder gar nicht modifiziert ab 1913 zu Kunstwerken erklärte (Abb. 11). Die Herausforderung der Readymades liegt bekanntlich darin, auf der Ebene der sinnlichen Merkmale und ästhetischen Eigenschaften von Alltagsgegenständen nicht unterscheidbar zu sein. Das hat die Folge, dass die Erscheinungsweise des Objektes den Status als Kunstwerk gerade nicht begründen kann. Darauf zielte Duchamps Frage, die er kurz vor der Entstehung des ersten Readymades formulierte: nämlich ob man »Werke machen« könne, »die keine Kunst sind«.20 Ist es möglich, so lässt sich Duchamps Frage umformulieren, Kunstwerke zu machen, auch wenn man auf eine künstlerische Fertigungs- und Erscheinungsweise verzichtet? Diese Frage setzte Duchamp in seinen Readymades ins Werk. Was sie vorführen, ist eine doppelte Ambiguität. Auf der einen Seite – als Ambiguität der ›Poíesis‹ – wird der Begriff des ›Machens‹ ambig, insofern er sich auf zwei Dinge beziehen kann: auf das Machen des Objekts, das sich in einer Fabrik vollzieht, sowie auf das Machen des Kunstwerks, das durch Duchamps Erklärung des Gegenstands zum Kunstwerk erfolgt. Auf der anderen Seite – als Ambiguität des ›Poíema‹ – erweist sich der Status des Objekts als ambig: Die Readymades sind ebenso Kunstwerke wie keine Kunstwerke, abhängig von der Definition von Kunst, die wir dieser Unterscheidung zugrunde legen. Mit solchen Beispielen stoßen wir, so meine These, auf eine modernespezifische Ausprägung ästhetischer Ambiguität. Sie betrifft nicht unterschiedliche Auffassungen des Kunstwerks – als Flächen- oder Tiefenordnung, als unterschiedliche Konnotationen des darin Dargestellten, als voneinander wegführende Erscheinungsweisen seiner Form usw. Vielmehr betrifft sie den Kunststatus des Objektes als solchen: Ist Yves Kleins rechteckige Fläche ein Bild oder bloß ein einfarbiges flaches Ding? Ist Marcel Duchamp Flaschentrockner eine Skulptur oder nur ein Alltagsgegenstand? Die Ambiguität des Gegenstands gewinnt hier eine kunstkonstitutive Dimension. Das ist nicht so gemeint, dass das Vorhandensein von Ambiguität darauf hindeute, dass es sich bei dem betreffenden Gegenstand um ein Kunstwerk handle. Die Ambiguität besteht vielmehr in der Ungewissheit, ob es sich beim Wahrgenommenen überhaupt um ein Kunstwerk handelt und ob sein Schöpfer legitimerweise als ein Künstler gelten kann. Das Kunstwerk wird, nach einer Formulierung Harold Rosenbergs, zum »anxious object«: zu einem ›ängstlichen‹, ›unruhigen‹ Gegenstand (Rosenberg 1972, 12).21 Denn auch wenn wir uns entscheiden, Kleins Monochrome
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»Peut-on faire des œuvres qui ne soient pas ›d’art‹?« Dies ist eines der Notate (von 1913) in Duchamps À l’ininitif (La boîte blanche) von 1966, zit.n. : Duchamp 2008, 111. »Painting, sculpture, drama, music, have been undergoing a process of de-definition. The nature of art has become uncertain. At least, it is ambiguous. No one can say with assurance
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und Duchamps Readymades als Kunst und ihre Schöpfer als Künstler anzusehen, bleibt dennoch unübersehbar, dass die Objekte sowie die Art und Weise, wie sie hervorgebracht wurden, diesem Urteil in wichtigen Hinsichten widersprechen. Die Frage, die Kant dem Ästhetischen zugrunde legte – ›Ist es schön?‹ –, wird in Kleins und Duchamps Kunstästhetik durch die Frage ersetzt: ›Ist es Kunst?‹ Nicht mehr das Urteil ›schön‹, sondern vielmehr das Urteil ›Kunst‹ macht diese Gegenstände, welche die bisherigen ästhetischen Standards erheblich unterbieten, zum Kunstwerk (Duve 1996). Die moderne Reformulierung der Kunstfrage hat zur Folge, dass fortan die Verfertigung von Kunstwerken mit der beständigen Arbeit am Kunstbegriff Hand in Hand geht. Sowohl Yves Kleins Monochrome als auch Marcel Duchamps Readymades sind Objekte, die eine neue Definition des Bildes oder der Skulptur vorschlagen – und damit zugleich einen neuen Begriff der Kunst. Indem sie zugleich bisherige Kunstverständnisse negieren, werden sie zu werkgewordenen Oszillationen von Kunst und Nicht-Kunst. Dieser künstlerische Ambiguitätstypus ist der Vormoderne unbekannt. Erneut ist hier eine jener Präzisierungen notwendig, die ich in ähnlicher Weise auch an früherer Stelle dieses Essays vornahm. Ich behaupte nicht, die Oszillation der Kunstwerke zwischen Kunst und Nicht-Kunst sei bereits deren Bedeutung. Diese Oszillation ist lediglich der Modus, mittels dessen die je spezifische Sinngestalt des Werks entsteht. Ob ein puderiges ultramarines Pigment in die Immaterialität des Himmelsblaus umschlägt oder ein Flaschentrockner plötzlich als skulpturale Form wahrnehmbar wird, lässt sich keinesfalls auf dieselbe Ebene künstlerischen Bedeutens bringen. Dasselbe gilt für die Vielfalt der weiteren Fälle, in denen mit der Ambiguität zwischen Kunst und Nicht-Kunst gespielt wird – etwa wenn, um zwei weitere und möglichst heterogene Beispiele heranzuziehen, Joseph Beuys das Baumpflanzen zur künstlerischen Handlung werden lässt wie in der Aktion 7000 Eichen (Abb. 12), oder wenn Vito Acconci in Following Piece (Abb. 13) das Einhergehen hinter einer anderen Person, bis diese in einem privaten Innenraum verschwindet, zu einer künstlerischen Performance erklärt. Was diese Werke gemeinsam haben, ist ihr Ausgangspunkt in nicht-künstlerischen Objekten oder Handlungen. Die Bedeutung dieser Werke, die in Intention, Realisation und Ergebnis völlig verschieden sind, hängt jedoch wesentlich davon ab, welche nicht-künstlerischen Objekte oder Handlungen unter dem Aspekt der Kunst dargeboten werden.22
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what a work of art is — or, more important, what is not a work of art. Where an art object is still present […] it is what I have called an anxious object: it does not know whether it is a masterpiece or junk. It may […] be literally both.« (Ebd.) Darin liegt das kapitale Missverständnis von Arthur C. Dantos teleologischer Kunstphilosophie, der in der Kunst seit Duchamp und insbesondere der Neo-Avantgarde seit den 1950er Jahre ein einziges Kommunikat zu entdecken glaubt, in welchem für ihn zugleich das Wesen der Kunst zum Ausdruck kommt, nämlich die Artikulation der »draufgängerischen Meta-
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Welche Möglichkeitsbedingungen mussten gegeben sein, dass dieser neuartige Ambiguitätstypus entstehen konnte? Welche Rahmenbedingungen mussten hierfür gegeben sein? Meine These lautet, dass sich dies nur vor dem Horizont jener Kunstautonomie möglich war, die sich in der Moderne herausbildet.23 Die Auffassung des künstlerischen Tuns – was sich in ihm vollzieht und worin sein Sinn besteht – wandelt sich über die Jahrhunderte der westlichen Kunstgeschichte in erheblichem Maße. Ein entscheidender, bis heute nachwirkender Umbruch ereignet sich zu Beginn der Moderne im späten 18. Jahrhundert, als im Zuge der generellen Umwälzungen auch die sozialen und kulturellen Referenzrahmen der Kunst aufzubrechen beginnen. Die bisherigen Bezugsgrößen, beispielsweise das Prinzip der Nachahmung oder die hierarchische Gliederung nach Gattungen, verlieren ihre Normativität. Zugleich schwinden die Auftragsverhältnisse, welche die Kunstpraxis häufig in einem unscharfen Feld zwischen Kunst und Handwerk ansiedelten. Parallel zu diesen berufspraktischen Veränderungen bricht der ›metaphysische‹ Rahmen der Kunst auf. Was dabei aufbricht, ist insbesondere das Bildmodell der Repräsentation, das, wie Hegel es definierte, dem Kunstwerk die Kraft zuschreibt, das Allgemeine im Individuellen und das Übersinnliche im Sinnlichen zur Anschauung zu bringen (Hegel 1986, Bd. 1, 21-25, 231, 253-255). Unter den gänzlich veränderten Rahmenbedingungen der Moderne orientiert sich die Aufmerksamkeit der Künstler um: Von ihren angestammten Aufgaben entbunden, gilt die Suche einer künstlerischen Produktivität, die auf nichts außerhalb der Kunst rückführbar ist. Das erzwingt eine gänzlich neue Praxis der Kunst, die ihr jedoch, so die Hoffnung, eine neue Identifikation und Legitimation verschaffen kann. Das Losungswort dieser neuen Praxis heißt ›Autonomie‹ – als ein Konzept, in dem die ästhetische Freiheit, die besondere Produktionsform der Kunst und die gesellschaftliche Randständigkeit des Künstlers wechselseitig auseinander hervorgehen. Dieser Veränderung auf der Produktionsseite entspricht auf der Rezeptionsseite jener Prozess der Musealisierung der Kunst, in dessen Verlauf sich die Wahrnehmung von Kunstwerken grundlegend wandelt. Das Verbringen der Objekte ins
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pher«, einen beliebigen Gegenstand als Kunstwerk zu setzen. In allen signifikanten Werken dieser Zeit, sei es Jasper Johns Flag, eine minimalistische Holzskulptur Carl Andres oder auch Andy Warhols Brillo Box, erkennt Danto denselben semantischen – von ihm irrtümlicherweise als Metapher bezeichneten – Gehalt realisiert: Die Flagge als Kunstwerk, der BrilloKarton als Kunstwerk, der Holzblock als Kunstwerk. »Tatsächlich wurde«, so Danto, »in den 60er Jahren mehr oder weniger dieselbe philosophische Frage in der gesamten Kunstwelt gestellt, fast so, als würde das philosophische Wesen der Kunst allerorts wie Magma aus einem Vulkan herausgespuckt.« (Danto 1984, 314f.; ders. 1996, 19f.; siehe dazu: Lüthy 2006.) In der nachfolgenden, hier nur rudimentär entwickelten Argumentation stütze ich mich auf die feld- bzw. systemtheoretischen Studien von Bourdieu 1999 und Luhmann 1997.
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Museum, so wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise mit der religiösen Kunst aus den säkularisierten Kirchen und Klöstern geschieht, löst sie aus ihren bisherigen praktischen Zusammenhängen und bestimmt sie neu als Gegenstände einer rein ästhetischen Erfahrung. Der emphatische Werkbegriff der Moderne entwickelt sich wesentlich aufgrund dieser – im buchstäblichen Sinne – ›Neurahmung‹ der Kunst. Diese Umorientierung in Produktion und Rezeption der Kunst hat ihren Preis. Alles zentriert sich nun im Begriff der Kunst, und all die sozialen, funktionalen und semantischen Potenziale, die ihr ehedem aus anderen gesellschaftlichen Bereichen zuflossen, muss sie nun aus sich selbst heraus entwickeln. Darin liegt die Ambiguität künstlerischer Autonomie: Sie bedeutet die Freiheit, sich die ästhetischen Gesetze selbst zu geben, und zugleich den Zwang, es ganz aus eigener Kraft zu schaffen. War die Grundunterscheidung der Zeit zwischen Renaissance und dem 18. Jahrhundert diejenige zwischen Kunst und Handwerk, setzt sich jetzt eine andere Differenzkategorie durch: die Unterscheidung zwischen Kunst und dem gesamten Bereich der Nicht-Kunst. Sie prägt fortan nicht nur das Kunstsystem, das mit seinen Institutionen und seinen theoretischen Diskursen über diese Unterscheidung wacht, sondern auch das einzelne Kunstwerk. Diese Rekursivität zwischen der systemischen Unterscheidung und dem einzelnen Kunstwerk können wir, im Rückgriff auf Bestimmungen Niklas Luhmanns, als ›Re-Entry‹ der System/Umwelt-Unterscheidung ins unterschiedene System beschreiben.24 Ein solches ›Re-Entry‹ ereignet sich in den Kunstwerken wie Yves Kleins Monochromen oder Marcel Duchamps Readymades. Hier kehrt die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst, die das auf Autonomie gegründete Kunstsystem ermöglicht und es zugleich am Laufen hält, innerhalb des Kunstsystems auf der Ebene der Werkform wieder: in der Form jener ›anxious objects‹, die in ambiger Weise zwischen Kunst und Nicht-Kunst oszillieren. Die autonomieästhetische Schließung des Kunstsystems hat noch einen weiteren Aspekt, der für die Entstehung des modernespezifischen Typs von künstlerischer Ambiguität, den ich hier herausarbeiten wollte, ebenso wesentlich ist. Das Konzept und die pragmatische Organisation des autonomisierten Kunstsystems 24
Die konziseste Bestimmung dieses Zentralarguments in Luhmanns Systemtheorie — und damit auch in seiner Systemtheorie der Kunst – findet sich in der Analyse eines anderen sozialen Teilsystems, des Erziehungssystems: »Einerseits kann ein System sich nur reproduzieren, wenn es dabei eine Differenz zur Umwelt erzeugt, also Grenzen zieht, also ›Umwelt‹ entstehen läßt. Andererseits kann das System diese Differenz beobachten, es kann sich selbst von seiner Umwelt unterscheiden und sich an diesem Unterschied orientieren. Formal gesehen ist dies ein Fall von ›re-entry‹ im Sinne von Spencer Brown, nämlich ein Wiedereintritt der Form in die Form, der Unterscheidung von System und Umwelt ins System.« (Luhmann 2002, 113.)
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sorgen nämlich dafür, dass die Ungewissheit, ob die betreffenden Artefakte Kunst seien oder nicht, gerahmt und gegen außen abgesichert wird. Erst der solide autonomieästhetische Unterbau mit seinen Institutionen wie Galerien, Museen oder Biennalen und seinen elaborierten Fachdiskursen erlaubt es den Kunstwerken, ihren eigenen Status so radikal in Frage zu stellen, wie es in meinen Beispielen von Marcel Duchamp, Yves Klein, Joseph Beuys oder Vito Acconci geschieht. Der institutionelle und diskursive Rahmen garantiert, dass die Objekte oder Kunsthandlungen, die aufgrund ihres ambigen Status als Kunstwerke unbeachtet bleiben oder übersehen werden könnten, dennoch wahrgenommen und reflektiert werden – und gerade hinsichtlich ihres prekären Status als Kunst. Nur unter diesen institutionell und diskursiv abgesicherten Bedingungen können Kunstwerke sich selbst durchstreichen und dennoch gewiss sein, als ästhetische Reflexionsobjekte wahrgenommen zu werden. Die Vollendung der modernen Kunstautonomie zeigt sich gerade darin, dass die Kunst auch ihre Negation überlebt – und zwar als Kunst. In diesem Paradox findet die spezifisch moderne Ausprägung künstlerischer Ambiguität ihren prägnantesten Ausdruck.
Abb. 1: Camille Pissarro: Der Boulevard Monmartre an einem Wintermorgen, 1897, The Metropolitan Museum, New York.
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Abb. 2: Jasper Johns: Flag, 1954, The Museum of Modern Art, New York.
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Abb. 3: Masaccio: Die Heilige Dreifaltigkeit, 1427, Basilica di S. Maria Novella, Florenz.
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Abb. 4: Apollonius: Torso von Belvedere, 2. oder 1. Jahrhundert v. Chr., Museo Pio Clementino, Musei Vaticani, Rom.
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Abb. 5: Frans Hals: Doppelporträt Isaac Abrahamsz Massa und Beatrix von der Laen, um 1622, Rijksmuseum, Amsterdam.
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Abb. 6: Meret Oppenheim: Objekt (Le déjeuner en fourrure), 1936, The Museum of Modern Art, New York.
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Abb. 7: sog. Flora aus der Villa di Arianna in Stabiae, 1. Jahrhundert n. Chr., Museo Archeologico Nationale, Neapel.
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Abb. 8: Mary Cassatt: Selbstporträt, 1879, National Portrait Gallery, Washington DC.
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Abb. 9: Auguste Rodin: Schreitender Mann (L’homme qui marche), 1877-1900, Von der HeydtMuseum, Wuppertal.
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Abb. 10: Yves Klein: IKB 270, 1959, Privatsammlung, Marburg.
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Abb. 11: Marcel Duchamp: Flaschentrockner, 1964, Edition von 8 plus 2, Repliken des verlorenen Originals von 1914.
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Abb. 12: Joseph Beuys: 7000 Eichen. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung, 1982-1987, Stadtraum von Kassel.
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Abb. 13: Vito Acconci: Following Piece, Performance, 3.-25. Oktober 1969, verschiedene Orte in New York City.
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Identität und Ambivalenz1 Bernhard Strauß
Begriffsgeschichte: Ambivalenz bei Freud und in der klassischen Psychoanalyse Obwohl der Begriff »Ambivalenz« ein wahrhaft zentraler Begriff ist, der die Psychoanalyse bis heute mitbestimmt, geht er ursprünglich gar nicht auf Sigmund Freud, sondern auf den Psychiater Eugen Bleuler zurück. Bleuler schlug vor 111 Jahren (am 27.11.1910) im Rahmen der ordentlichen Winterversammlung des Vereins Schweizerischer Irrenärzte in Bern den Begriff »Ambivalenz« vor, um die Diagnose des »schizophrenen Negativismus« zu beschreiben. Veröffentlicht wurde der Text dann 1914 in der »Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich« (1914, 5, 95-106 im Verlag Schultess & Co. in Zürich). Die Diagnose des »schizophrenen Negativismus« war in Bleulers Sicht gekennzeichnet durch eine Gleichzeitigkeit »von Liebe und Hass« bzw. sich widersprechenden Gedanken und Gefühlen. Im »Vokabular der Psychoanalyse«, das Laplanche & Pontalis erstmalig 1967 veröffentlichten, wird Ambivalenz wie folgt definiert: »Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z.B. Liebe und Haß, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt.« (Laplanche, Pontalis 1973, 55). Eugen Bleuler, der Urheber des Begriffs, vermutete eine Ambivalenz auf drei Gebieten, nämlich auf dem voluntären Gebiet (voluntäre Ambivalenz oder auch Ambitendenz), welche die Ambivalenz ausdrückt, dass das Subjekt etwas will, dasselbe aber gleichzeitig nicht will. Eine zweite Ebene der Ambivalenz bei Bleuler ist die intellektuelle Ambivalenz, die sich darin ausdrückt, dass ein Subjekt eine Meinung und deren Gegenteil zum Ausdruck bringt, Dinge positiv und negativ deutet.
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Der Beitrag basiert auf folgenden Vorträgen des Autors »Homo ambivalens und das Menschenbild der Psychoanalyse« (Ringvorlesung an der FSU Jena, 5.11.2012), »Ambiguität und Ambivalenz – Eine psychoanalytische Perspektive«, Universität Tübingen (Symposium des GRK 1808 Ambiguität – Produktion und Rezeption, 12.2.2016) sowie »Identität und Ambivalenz« (Tagung Ambige Verhältnisse an der FSU Jena, 13.9.2018).
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Schließlich sieht Bleuler eine Ambivalenz auf affektiver Ebene, das heißt, die Koexistenz positiver und negativer Gefühle bspw. gegenüber einer anderen Person oder auch gegenüber dem Subjekt. Wie erwähnt, prägte Bleuler den Begriff im Zusammenhang mit der Schizophrenie, er erkannte aber durchaus auch die Existenz einer »normalen Ambivalenz« auf den beschriebenen drei Ebenen an. Laplanche & Pontalis (1973) schreiben dazu: »Die Besonderheit des Begriffs der Ambivalenz im Hinblick auf das, was vorher als Komplexität von Gefühlen und Fluktuation von Verhaltensweisen beschrieben wurde, beruht einerseits auf der Aufrechterhaltung eines Gegensatzes vom Typus ja-nein, wo Bejahung und Verneinung simultan und unauflösbar sind; andererseits auf der Tatsache, dass dieser fundamentale Gegensatz in verschiedenen Bezirken des psychischen Lebens wiedergefunden werden kann.« (Laplanche, Pontalis 1973, 56). Sigmund Freud nannte Bleulers Terminus Ambivalenz einen »trefflichen Begriff« und benutzte ihn in seiner Schrift »Zur Dynamik der Übertragung« (1912), um insbesondere das Phänomen der negativen Übertragung zu illustrieren: »…(sie) [die negative Übertragung] findet sich neben der zärtlichen Übertragung oft gleichzeitig auf die nämliche Person gerichtet…die Ambivalenz der Gefühlsausrichtungen erklärt uns am besten die Fähigkeit der Neurotiker, ihre Übertragungen in den Dienst des Widerstandes zu stellen.« (S. 106). Aber schon früher wies Freud auf die Gegensätzlichkeit hin, ohne allerdings den Begriff »Ambivalenz« zu benutzen, wenn er bspw. in frühen Analysen die Verbindung von Liebe und Hass, etwa im Zusammenhang mit den Fallgeschichten des kleinen Hans und des Rattenmannes aufgreift (Freud 1909a,b). In der Schrift über »Triebe und Triebschicksale« beschreibt Freud (1915) eine Ambivalenz im Hinblick auf die Gegensätze Aktivität und Passivität, wobei auch hier darauf hingewiesen wird, dass sich die Ambivalenz am deutlichsten sehen lässt »im materiellen Gegensatz Liebe-Hass, die auf ein und dasselbe Objekt gerichtet sind«. In den »Abhandlungen zur Sexualtheorie« benutzt Freud (1905) den Ambivalenzbegriff im Zusammenhang mit »Triebgegensatzpaaren«. In anderen Schriften taucht die Ambivalenz bei Freud dann eher im kulturtheoretischen Kontext auf, wenn er in seiner Schrift »Totem und Tabu« sagt, die »Gefühlsambivalenz [stehe] an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen« (Freud 1912/13) und in seiner Arbeit »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« beschreibt er die Ambivalenz als »das Wesen des Vaterverhältnisses« (Freud 1937). In einem aktuelleren Wörterbuch der Psychoanalyse (Mertens 2014) geht Waldvogel (2014) darauf ein, dass Freud im Kontext seiner Triebtheorie und Neurosenlehre die Ambivalenz deshalb schon ganz zentral sieht, weil er von einem »mitge-
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borenen Ambivalenzkonflikt« spricht, der sich naturgemäß in der Ambiguität des Ödipuskonfliktes zeigt (vgl. Waldvogel 2014). Die Metapsychologie der Freud´schen Psychoanalyse ist im Hinblick auf die Krankheitskonzeption sehr stark durch die Auffassung gekennzeichnet, dass es einen Trieb gibt, der den wesentlichen Antrieb des Menschen konstituiert und durch die Einschränkungen der Triebbefriedigung notwendigerweise und automatisch Konflikte auftreten. Entsprechend ist die Ambivalenz letztendlich die Basis für das Konfliktkonzept innerhalb der Psychoanalyse, das vereinfacht besagt, dass die Realität (die innere und die äußere) einer Erfüllung von Triebwünschen entgegensteht und aus diesen Gegensätzen unser psychisches Leben »sprießt«. Psychoanalytisch gesehen sind Konflikte in der Regel unbewusst, wenn sie bewusst sind, dann erscheinen die bewussten Konflikte eng verbunden mit unbewussten Konflikten, die wiederum aus unbewussten Überzeugungen resultieren können. Ein Beispiel: Wenn eine Person im Konflikt steht, ob sie ihrem Arbeitgeber treu sein soll oder die Arbeitsstelle wechseln sollte, dann steht dahinter oftmals der unbewusste Konflikt zwischen dem Wunsch, sich abzulösen und selbstständig zu machen, und der Gefahr, mit dieser Loslösung jemanden zu verletzen, zu kränken etc. Entsprechend konzipiert man in der Psychoanalyse den unbewussten Konflikt als das Resultat einer bestehenden Unvereinbarkeit von Impulsen, Wünschen und Handlungsintegrationen, die ihre Wurzeln in der frühesten Kindheit haben, mit äußeren Anforderungen, die oftmals durch elterliche Anforderungen repräsentiert werden. Dieses Konzept hat entscheidende Bedeutung für das Krankheitsmodell der Psychoanalyse, geht man doch davon aus, dass durch die Spannung des Gegensatzes zwischen körpergebundenen Bedürfnissen und existierenden sozialen Normen, an die die zugelassenen Möglichkeiten der Triebbefriedigung gebunden sind, u.U. Krankheit entstehen kann, sobald diese Spannung den Charakter eines andauernden Konfliktes annimmt, der mit Hilfe von Abwehrmechanismen nicht mehr lösbar ist. Somit ist die Ambivalenz der Hintergrund eines jeden Konfliktes. Wie zentral dieses Thema in der klinischen Praxis der Psychoanalyse ist, zeigt die sogenannte Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD, Arbeitskreis OPD 2018), die sich hierzulande mittlerweile als das Standarddiagnoseinstrument für die psychodynamische Fallkonzeption erwiesen hat. Die OPD stellt eine zentrale Diagnoseachse für die Konfliktthematik zur Verfügung und gibt die Möglichkeit, das Kontinuum von der subklinischen Konfliktspannung ubiquitärer Konfliktthemata bei Gesunden bis zu repetitiv dysfunktionalen interpersonellen sowie intrapsychischen Konflikten abzubilden. In der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik werden letztendlich sieben lebensbestimmende Konfliktthemen unterschieden, die repetitiv und dysfunktional sind, und in der Regel alleinstehend oder in Kombination mit anderen
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den Hintergrund von psychischen Störungen bzw. psychopathologischen Auffälligkeiten darstellen. Diese Konflikte sind der • • • • • • •
Konflikt zwischen Individuation und Abhängigkeit, der Konflikt zwischen Unterwerfung und Kontrolle, der Konflikt zwischen Versorgung und Autarkie, Konfliktthemen, die auf den Selbstwert bezogen sind, auf die Schuld, die Identität, oder den Ödipuskomplex, wobei als ödipaler Konflikt ein erotisch-sexueller Konflikt verstanden wird, der um »die Befriedigung erotischer und sexueller Wünsche und diesen entgegenstehenden Strebungen und Hemmungen verschiedensten Ursprungs« kreist. Die Hemmungen können verschiedene kulturelle Aspekte, wie das Inzesttabu, aber auch intrapsychische Aspekte wie Ängste vor Triebüberwältigung, Identifizierungskonflikte, konkurrenzbezogene Konflikte etc. als Basis haben.
Die Ambivalenz kommt in der Differenzierung von Konflikten in der psychoanalytischen Krankheitslehre und speziell in der Konfliktachse der OPD darin zum Ausdruck, dass sich Konflikte sowohl im passiven wie auch im aktiven Modus ausdrücken lassen. Für Details sei auf das Manual zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik verwiesen. Beispielhaft kann der Gegensatz am Abhängigkeits- versus Autonomiekonflikt wie folgt beschrieben werden: Der passive Modus des Konfliktes ist dadurch gekennzeichnet, dass eigene Autonomiewünsche unzureichend wahrgenommen werden und den Wünschen bedeutsamer Anderer untergeordnet sind, um die Bindung an diese Anderen nicht zu gefährden oder die Selbstverantwortung nicht zu forcieren. Dem ist allerdings schon immanent, dass es auch die andere Seite gibt, nämlich den Aufbau einer übersteigerten emotionalen und existenziellen Unabhängigkeit. Entsprechend besteht im Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt ein ständiges Ringen um die Autonomie bzw. eine ständig wirksame Kraft, die Abhängigkeit zu anderen nicht aufzugeben. Auch wenn die Konfliktpsychologie der Psychoanalyse sehr auf das intrapsychische Aktualgeschehen fokussiert, kann man sich gut vorstellen, dass die Konfliktdynamik bezogen auf die verschiedenen Konfliktebenen, die hier genannt wurden, die Identität des Einzelnen (und im klassischen Sinne auch den Charakter) maßgeblich mitbestimmt, womit der Zusammenhang zwischen Ambivalenz und Identität hergestellt wäre. Freud hat die pathogene Wirkung der Ambivalenz an vielen Stellen beschrieben, so in seinem klassischen Werk über »Trauer und Melancholie« (1910), wo er
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schreibt: »Es spinnt sich also bei der Melancholie eine Unzahl von Einzelkämpfen um das Objekt an, in denen Hass und Liebe miteinander ringen, die eine, um die Libido vom Objekt zu lösen, die andere, um diese Libidoposition gegen den Ansturm zu behaupten« (Freud 1910, 255). Tatsächlich vertritt die frühe psychoanalytische Literatur die Auffassung, dass Ambivalenz mit bestimmten Erkrankungen (wie bspw. der Psychose oder der Zwangsneurose) oder bestimmten Zuständen verbunden ist, wie der Eifersucht und der Trauer, und gleichzeitig auch für die Entwicklung der Libido bestimmte Stufen charakterisiert, auf denen Liebe und Hass, Zuneigung und Destruktion gemeinsam vorkommen, wie bspw. in der oral-sadistischen oder anal-sadistischen Entwicklungsstufe.
Weiterentwicklungen nach Freud Spätere psychoanalytische Strömungen, wie bspw. die Selbstpsychologie, sahen in der Ambivalenz keinen biologisch determinierten Konflikt, sondern einen Beziehungskonflikt zwischen »dem Wunsch des ein- bis zweijährigen Kindes und den Ambivalenzen der Eltern: das Kind erlebt einen Konflikt zwischen dem Wunsch nach Exploration und Selbstbehauptung und dem Wunsch, die frühere Nähe zur Mutter wiederherzustellen« (Waldvogel 2014, 75). Diese Thematik steht auch im Blickpunkt der Bindungstheorie, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Das konflikthafte Erleben des Kindes, das hier beschrieben ist, kann im Extremfall die Kohärenz des Selbst gefährden, wobei dies sehr stark von der Qualität der Affektregulation durch die mütterliche Figur determiniert wird, die zu einer Reduktion der Ambivalenz, aber auch zu einer reaktiven Aggression beitragen kann. In der Objektbeziehungspsychologie werden Ambivalenz-Spaltungen betont, die sich im äußeren Kommunikationsverhalten bspw. in doppelten Botschaften oder Double-Bind Situationen manifestiert, die von Natur aus ambig sind und die einen interpersonalen Ausdruck intrapsychischer Prozesse darstellt (Waldvogel 2014). Karl Abraham war ein wesentlicher Theoretiker, der bspw. in seinem Versuch einer »Entwicklungsgeschichte der Libido in der Psychoanalyse seelischer Störungen« ([1924] 1969) versuchte, die Ambivalenz zu einer genetischen Kategorie werden zu lassen, um verschiedene Stufen einer Objektbeziehung zu kennzeichnen. Die erste Hälfte der oralen Stufe wird als vorambivalent bezeichnet: der Saugeakt, den Abraham als Akt der Einverleibung sieht, durch welchen aber die Existenz der nährenden Person nicht aufgehoben wird. (Abraham 1924). Für Abraham tritt die Ambivalenz in dieser vorambivalenten Phase im Zusammenhang »mit der sadistischen, kannibalistischen Oralität in Erscheinung, die eine Feindseligkeit gegen das Objekt einschließt« (ebd.). Später erst lernt das Individuum mit seinem Ob-
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jekt so umzugehen, dass es vor der Destruktion gerettet werden kann. Auf der genitalen Stufe, die Abraham als nachambivalent bezeichnet, kann die Ambivalenz überwunden werden. Somit ist Abraham der erste, der den Objektbezug der Ambivalenz in die psychoanalytische Theorie einbrachte, welcher von Melanie Klein später übernommen und erweitert wurde. Bekanntermaßen hat in der Kleinianischen Psychoanalyse die Ambivalenz einen ganz entscheidenden Platz, da der Trieb a priori ambivalent ist. In der Konzeption der paranoid-schizoiden Position bei Melanie Klein unterscheidet sich die Liebe des Objektes nicht von seiner Destruktion: Die Ambivalenz wird also eine Qualität des Objekts selbst, mit der das Subjekt ringt, in dem es das Objekt in ein gutes und ein böses Objekt (die gute und die böse Brust) spaltet: ein ambivalentes Objekt, das zugleich in höchstem Maße wohlwollend und zutiefst zerstörerisch wäre, könnte es nicht ertragen (vgl. Waldvogel 2014). Bekanntlich nimmt die Kleinianische Psychoanalyse an, dass die hochambivalente paranoid-schizoide Position durch eine depressive Position abgelöst werden kann, in deren Rahmen die Ambivalenz zumindest akzeptiert und damit auch reduziert wird, wobei im Laufe der menschlichen Entwicklung das Subjekt nicht davor gefeit ist, immer wieder in die hoch ambivalente paranoid-schizoide Position zurückzufallen. Der in der späteren Psychoanalyse vollzogene »Sprung« vom Intrapsychischen in das Interpersonale wurde maßgeblich mitgeprägt von W.R.D. Fairbairn, den Storck (2020) kürzlich besonders würdigte. Nach Fonagy & Target (2003) war es die wichtigste Veränderung, die Fairbairn in die psychoanalytische Theorie einbrachte, dass sich sein psychoanalytisches Modell nicht länger vorrangig auf das Unbewusste und auf die Verdrängung konzentrierte, sondern auf die Unvereinbarkeit von Vorstellungen. Damit war der Schritt von den vornehmlich motivationalen Konflikten, die in der Tradition der Triebtheorie Freuds diskutiert wurden, zu den repräsentationalen Konflikten gebahnt. Dies begründet Fairbairn damit, dass die Libido des Menschen nicht (nur) Lust-, sondern auch Objekt-suchend sei. Fairbairn bezog sich explizit auch auf den Ambivalenzbegriff, wenn er bspw. von einer »präambivalenten« Beziehung des Kindes ausgeht. Wie andere Autoren auch meint Fairbairn, dass es eine der schwierigsten Entwicklungsaufgaben sei, dass das Kind von Geburt an erlebt, dass die primäre Bezugsperson insofern ambivalent ist, als sie das Kind sowohl liebt als auch seine Liebe zurückweist, was die Grundlage für die Internalisierung, die Spaltung und Abwehrmechanismen der Verdrängung darstellt. Ein Problem ist in der frühen Entwicklung dadurch gegeben, dass die Abhängigkeit des Kindes von der Mutter (bzw. den primären Bezugspersonen) und der Umstand, dass das Objekt geliebt und gebraucht wird, Ambivalenz nach sich ziehen. Dies findet bei Fairbairn und anderen Objektbeziehungstheoretikern Eingang in die Konzeptualisierung von Psychopathologie bspw. im Kontext schwerer Beziehungstraumata, wo es verständlich wäre, warum bspw. Schuldgefühle im
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Anschluss an Vernachlässigungen oder Übergriffe aufseiten des »Opfers« ein Lösungsversuch sein können: »Es kann einfacher sein, sich selbst als schlecht und schuldig zu erleben, als das Objekt für eine Schädigung anzuklagen, denn solange man selbst es ist, der die Verantwortung für ein schmerzliches Erlebnis trägt, kann Hoffnung darauf bestehen, dass es nicht wieder eintritt, sofern man selbst in Zukunft nämlich weniger schlecht und falsch ist.« (Fairbairn 2007, 146). Dies entspricht in etwa der Konzeption von Persönlichkeitspathologie, wie sie von Lorna Smith Benjamin (1996) später beschrieben wurde, die ihre Konzeption unter dem denkwürdigen Motto »Every psychopathology is a gift of love« subsumiert hat (Benjamin 1993, 1). Fairbairn beschreibt konkret, wie die Ambivalenz bzgl. der inneren und äußeren Objekte durch verschiedene »Techniken der pathologischen Objektbeziehung« im Sinne einer Ambivalenzreaktion gelöst werden: »In der Zwangsneurose werden sowohl das Gute als auch das schlechte Objekt als ›innen‹ erlebt (es gibt schlechte Gedanken und magische Neutralisierungen), in der Phobie beide als ›draußen‹ (es droht Gefahr und man braucht ein steuerndes Objekt). In der Hysterie wird das gute Objekt ›draußen‹ erlebt und das schlechte ›innen‹ (es wird der gute Andere gebraucht, der das Selbst aufwertet) und in der paranoiden Psychose wird das gute Objekt ›innen‹ erlebt und das schlechte ›draußen‹« (Storck 2020, 3). Spätere Theoretiker im Bereich der Psychoanalyse, die sich entweder der Objektbeziehungspsychologie oder der Selbstpsychologie zuordnen lassen, haben die Ambivalenz in anderen Kontexten definiert, so bspw. Margaret Mahler (Mahler et al. 1980), die in ihrer Theorie der kindlichen Entwicklung die Ambivalenz zwischen der Loslösung und der Wiederannäherung beschreibt, was der Grundlegung des Autonomie- und Abhängigkeitskonfliktes nahekommt. Otto Kernberg (1996), nach wie vor ein sehr einflussreicher Objektbeziehungspsychoanalytiker, der den Versuch einer Verbindung zwischen Trieb- und Objektpsychologie unternimmt, sieht frühe Abwehrmechanismen, insbesondere den Mechanismus der Spaltung bei der Borderline-Persönlichkeits-Störung als primären Mechanismus zur Abwehr der Ambivalenz. Dies wird weiter unten, wenn es um die strukturbildenden Aspekte der Ambivalenz geht, wieder aufgegriffen. Grundsätzlich gilt in der Psychoanalyse Ambivalenztoleranz als Zeichen psychischer Reife und damit als Indikator für die geglückte Identitätsbildung. Bei den Kleinianischen Analytikern Wilfred Bion und Donald Meltzer ist ein Bezug zwischen Ambivalenz und Ambiguität hergestellt, wobei die Ambiguität als Begriff sich in der Psychoanalyse generell nur unzureichend durchgesetzt hat (Waldvogel 2014). Oftmals wird – dies wird vielleicht an dieser kurzen historischen Darlegung schon deutlich – der Ambivalenzbegriff dem Ambiguitätsbegriff vorgezogen, wobei Bion und Meltzer Ambivalenz letztendlich als Abwehr der Ambiguität begreifen, d.h. eine Reduktion der Komplexität der Unsicherheit durch die Ambivalenz zweier entgegengesetzter (anstatt noch sehr viel vielfacher gegenstrebender Tendenzen).
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Schließlich ist im Kontext neuerer Darstellungen der Begriff der Trennungsambivalenz zu nennen, den bspw. Rieber-Hunscha im Kontext einer Darlegung zur Beendigung von Psychotherapien ausführlich beschreibt. Rieber-Hunscha meint, dass bei Trennungsprozessen ganz allgemein, insbesondere auch in der Abschlussphase einer Psychotherapie mehr oder weniger intensive Phasen von ambivalenter Unentschiedenheit zu beobachten sind, die »das Hin- und Herpendeln« zwischen Trennungsangst und Trennungswunsch oder zwischen Festhalten und Loslassen kennzeichnet (Rieber-Hunscha 2005, 139). Eine Analogie sieht sie ganz allgemein für den Übergang aus einer früheren in die nächste Entwicklungsphase, die ebenfalls durch Zwischen- und Übergangsstadien mit ambivalentem Hin und Her gekennzeichnet sei. Diese Auffassung spielt (s.u.) auch in der modernen Entwicklungspsychologie eine wichtige Rolle. Der Ambiguitätsbegriff wird wie erwähnt in der psychoanalytischen Literatur oftmals gleichbedeutend benutzt mit dem Begriff der Ambivalenz, lediglich Hohage (1985) geht auf eine Differenzierung ein und meint, bei der Ambiguität bestünde eine nicht aufhebbare Widersprüchlichkeit für das erlebende Ich, welches bei der Ambivalenz »im Kraftfeld von zwei Tendenzen« (Hohage 1985, 194) mit der Möglichkeit zu einer Entscheidung oder einem Kompromiss in Verbindung steht. Wie unten gezeigt, gilt Ambiguitätstoleranz als ein entscheidendes und wichtiges Persönlichkeitsmerkmal, wobei in diesem Kontext die Nutzung des Begriffes der Ambiguitätstoleranz auf Frenkel-Brunswik (1949) zurückgeht, die ihn im Zusammenhang mit der autoritären Persönlichkeit benutzte und die fehlende Ambivalenztoleranz als Grundlage dieser spezifischen Persönlichkeit sah. Der Begriff Ambivalenz taucht in der Bindungstheorie im Kontext mit der ambivalenten Bindung auf, die wiederum als eine Reaktion auf die elterliche Ambivalenz dem Kind gegenüber verstanden wird. Die Bindungstheorie hat maßgeblich dazu beigetragen, die Ambivalenzthematik entwicklungspsychologisch weiterzutreiben, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen werden soll.
Ambivalenz in der Bindungstheorie Den in der Bindungstheorie benutzten Ambivalenzbegriff greift Kurt Lüscher auf, der in den letzten Jahrzehnten das Konzept des »Homo ambivalens« elaboriert hat. Lüscher (2010) sieht die Prozesse der Konstitution, Entwicklung und Artikulation des Selbst, also einer dynamischen persönlichen Identität so, dass sie unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen für viele Menschen die Erfahrung von Ambivalenzen beinhalten. Wie von vielen Autoren aus der Soziologie und den Kulturwissenschaften gezeigt (z.B. Baumann 1995, Bauer 2018 u.a.), sind Ambivalenzerfahrungen auch ein wichtiges Thema im Kontext von Zeitdiagnosen einer globalisierten Postmoderne und ihrer Widersprüche (s.u.).
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Auch Lüscher nimmt Bezug zur Psychotherapie, wo zur Analyse von Ambivalenzen »ein reicher Fundus von Wissen, in der Theorie ebenso wie in der Praxis« (Lüscher 2011a, 324) vorhanden sei. Ambivalenzen könnten entsprechend auch erfasst werden (z.B. durch direkte Fragen nach Ambivalenzerfahrungen, die indirekte Ermittlung von Ambivalenzen, gestützt auf widersprüchliche Aussagen, die Antworten auf Darstellungen von Lebenssituationen und die Analyse von Dokumenten). Lüscher meint, dass im Kontext der Bindungstheorie die Ambivalenz sozusagen der Sicherheit voranginge, was sich allerdings nicht mit der Auffassung der Theorie deckt, die in den 1960er und 1970er Jahren überwiegend von John Bowlby konzipiert wurde. Ein wesentlicher Teil der Grundannahmen der Bindungstheorie ist die Existenz von zwei spezifischen Verhaltenssystemen, nämlich dem System der Bindung und dem System der Exploration, und die Annahme, dass in Momenten, in denen eine Person (ursprünglich ist die Theorie auf die frühe Entwicklung des Säuglings und Kleinkinds bezogen) in Not gerät, immer das Bindungsverhaltenssystem zu Ungunsten des Explorationsverhaltens aktiviert wird, wobei die beiden Verhaltenssysteme als antagonistisch (nicht nur als ambivalent) aufgefasst werden. Bowlby (1969) und spätere entwicklungspsychologische Forscher haben gezeigt, dass es bei der Mehrzahl der Menschen drei verschiedene Relationen zwischen den beiden Verhaltenssystemen gibt. Bei Menschen mit einer sogenannten sicheren Bindung wird eine ausgewogene Balance zwischen Bindungsverhalten und Exploration postuliert in dem Sinne, dass die Menschen in Trennungs-, Not- und Verlustsituationen ihr Bindungssystem aktivieren, durch die dann folgende Erfahrung der Beruhigung und der sensitiven Fürsorge rasch wieder zu einer Deaktivierung des Bindungssystems finden und das Explorationssystem aktivieren können. Vielen Studien zufolge kann man davon ausgehen, dass diese Relation die häufigste und verbreitetste darstellt. In zwei weiteren Kategorien finden sich Menschen, bei denen eines der beiden Verhaltenssysteme überaktiviert ist. Diejenigen, die überwiegend im Explorationsmodus verharren und wenig Anzeichen von Bindungsverhalten zeigen, werden als unsicher vermeidend bezeichnet, diejenigen, die vermehrt in ihrem Bindungssystem aktiviert sind (zu Ungunsten des Explorationssystems), nannte Mary Ainsworth, eine entwicklungspsychologische Forscherin, die die Bowlby´sche Theorie validierte, unsicher ambivalent gebunden. Hier taucht also der Ambivalenzbegriff auf, wobei damit gemeint ist, dass der Sehnsucht nach der Bindungsfigur auch deren Ablehnung gegenübersteht, was eine Widerspiegelung der Ambivalenz der elterlichen Figuren dem Kind gegenüber, insbesondere in dessen Notsituationen darstellt (Grossmann, Grossmann 2018). In den Folgejahren wurde die Bindungstheorie erheblich weiterentwickelt und auch auf die erwachsenen Menschen expandiert, wobei die Bowlby´sche Auffassung, dass die kindlichen Verhaltenserfahrungen in einem inneren Arbeitsmodell
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von Bindung münden, das gewissermaßen durch mentale Repräsentanzen von Bindung zusammengefasst wird, mittlerweile auch gut belegt ist. Es zeigt sich bspw., dass Menschen mit einer sicheren Bindungsgeschichte mentale Repräsentanzen von Bindungserfahrungen in Narrativen berichten, die kohärent, in sich geschlossen und nachvollziehbar sind, während Menschen mit vermeidenden Bindungserfahrungen offensichtlich sehr zur Idealisierung ihrer Erfahrungen neigen, wenig konkrete Erinnerungen reproduzieren können und inkohärent karge Narrative darbieten. Im Gegensatz dazu sind die Narrative ambivalenter Erwachsener (hier hat sich der Begriff des Verstrickten eingebürgert) inkohärent aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Ungeordnetheit, wobei der starke Affektgehalt der Narrative hier ein zentrales Charakteristikum darstellt. Es überrascht nicht, dass mit einiger Latenz die Bindungstheorie in der klinischen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie rezipiert wurde und wir mittlerweile wissen, dass Menschen mit psychischen Störungen sehr häufig unsichere Bindungserfahrungen haben, wohingegen Bindungssicherheit im klinisch psychotherapeutischen Kontext eher die Ausnahme denn die Regel darstellt. Entsprechend wurde eine Vielzahl an Studien zur Bedeutung von Bindungserfahrungen für die Entstehung von Psychopathologie, aber auch für den psychotherapeutischen Prozess, dessen Gestaltung und dessen Verlauf durchgeführt, die mittlerweile einen großen Fundus darstellen (Übersichten bei Strauß, Schauenburg 2018). Insbesondere die Arbeitsgruppe des britischen Psychologen Peter Fonagy (z.Β. Fonagy, Target 2003; Fonagy, Allison 2014) hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten intensiv mit der Frage beschäftigt, wie die Bindungserfahrungen im Kontext der evolutionären Funktion von Bindung, ein agentisches Selbst entwickeln zu können, dazu beitragen, dass Menschen eine differenzierte Identität entwickeln, wobei das Modell von Fonagy besagt, dass auf der Basis sicherer Bindung zentrale Funktionen positiv beeinflusst werden, die für die Interpretation von zwischenmenschlichen Begegnungen von besonderer Bedeutung sind. Es handelt sich hier um die Affektrepräsentation, d.h. die Erkenntnis und Identifikation eigener und fremder Affekte, die effektive Lenkung der Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Signale des anderen – auch wenn diese widersprüchlich sind – in interpersonalen Begegnungssituationen und die Mentalisierungsfähigkeit, worunter man versteht, dass eine Person die Perspektive des anderen einnehmen kann und nicht nur empathisch mit dem anderen mitfühlt, sondern auch eine »Theory of Mind« entwickelt, d.h. eine Vorstellung davon, welche Motive, Wünsche der andere hat, wie der andere die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilt etc. Dieser sogenannte interpersonale Interpretationsmechanismus ist eine Basis für die Weiterentwicklung des Konzeptes, das heute vor allen Dingen davon ausgeht, dass für die Entwicklung der Identität und Sicherheit eine universelle Aufgabe zu sein scheint, dass mit sicherer Bindung auch das Lernen von Vertrauen maßgeblich verbunden ist und nicht nur die sichere Bindung eines Kindes an eine Pflegeperson in
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einer dyadischen Beziehung (Weisner 2014). Die wichtige Frage ist also in diesem Kontext, wie man für die Entwicklung der Identität sicherstellen kann, dass Kinder wissen, welchen anderen Menschen sie vertrauen können und wie sie angemessene soziale Verbindungen zu anderen herstellen können. In diesem Kontext wird in letzter Zeit viel das Konzept des epistemischen Vertrauens diskutiert als das basale Vertrauen in eine Bezugsperson als sichere Informationsquelle, wobei davon ausgegangen wird, dass epistemisches Vertrauen letztendlich darauf gerichtet ist, Wissen anzusammeln, ohne dieses Wissen prüfen zu müssen. Epistemisches Vertrauen beschreibt also die Tatsache, dass ein Großteil unseres Wissens auf den Aussagen anderer Personen basiert, auf deren Zeugenschaft, was Vertrauen in diese anderen Menschen voraussetzt. Wenn wir über dieses Vertrauen nicht verfügen würden, wüssten wir vermutlich über die grundlegendsten Fakten unseres Lebens nicht Bescheid und würden auch nicht über wissenschaftliches Wissen verfügen. Die Bindungserfahrungen kommen bei den aktuellen Diskussionen um das epistemische Vertrauen insofern zum Tragen, als es mittlerweile eine ganze Reihe von Untersuchungen gibt, die Zusammenhänge zwischen dem epistemischen Vertrauen und der Bindung untersuchen und herstellen (z.B. haben Corriveau, Harris 2009, Studien zum epistemischen Vertrauen durchgeführt, bei dem sie Kindern Phantasieobjekte gezeigt haben, um zu prüfen, inwieweit Kinder ihren Bezugspersonen vertrauen, wenn es um die Benennung dieser Objekte geht). Noch eindrucksvoller sind Untersuchungen, bei denen Kinder im Alter von 5-6 Jahren entscheiden sollten, ob ein Phantasietier als Legierung zweier Tiere (z.B. 25 % Pferd und 75 % Kuh) eher als ein Pferd oder eine Kuh wahrgenommen wird. Als zusätzliche Bedingung wurde hier eingeführt, dass entweder die Mutter oder eine fremde Person das Objekt unterschiedlich benennt, z.B. in dem dargestellten Beispiel die Mutter das Tier als Kuh, eine fremde Person das Tier als Pferd bezeichnet. Untersucht wurde, welche Entscheidung das Kind trifft und wie sehr es sich durch den Kommentar der Mutter oder der fremden Person beeinflussen lässt (Corriveau et al. 2009). Variiert wurde hier der Anteil der »Mischung« zwischen 25 : 75 und 50 : 50 Kombinationen, wobei bei 50 : 50 Kombinationen naturgemäß die Ambivalenz oder die Ambiguität des Bildes am größten war. Die Untersuchungen von Corriveau et al. zeigten, dass die Bindungserfahrung des Kindes mit seiner Mutter oder primären Bezugspersonen tatsächlich einen starken Effekt auf die Entscheidungen des Kindes haben. Sicher gebundene Kinder antworteten am flexibelsten und bevorzugten die Aussage der Mutter, wenn diese mit dem objektiven Bild übereinstimmte, trauten aber der eigenen Wahrnehmung, wenn die Aussage der Mutter vom objektiven Bild abwich. Dies scheint also die sozusagen »selbstbewussteste« Art der Ambivalenzreduktion darzustellen. Unsicher vermeidend gebundene Kinder trauten insgesamt gesehen der eigenen Wahrnehmung sehr viel häufiger als sicher gebundene Kinder, was die Autoren als epistemisches Misstrauen interpretieren, während ambivalent gebundene Kinder eine übermäßige Konformität mit der
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Bezugsperson zeigten, auch wenn deren Aussagen vom objektiven Bild abwichen. Es sei erwähnt, dass in den Entwicklungsstudien noch eine zusätzliche Kategorie beschrieben wird, die unsicher desorganisiert gebundenen Kinder, die meistens besonders negative Entwicklungserfahrungen erlebt haben und die in den Experimenten mit den uneindeutigen Figuren in eine epistemische, angstgesteuerte, intensive Wachsamkeit stürzten, da sie weder sich selbst noch anderen tatsächlich vertrauen können (Corriveau et al. 2009). Es ist interessant zu sehen, dass im Kontext der Konzepte der Mentalisierungsfähigkeit und des epistemischen Vertrauens eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt wurde, die zeigt, dass Bindungsunsicherheit tatsächlich verknüpft ist mit eher stereotypem Denken, einer Tendenz zum »Primacy Effect« im Sinne einer Entscheidung nach dem ersten Eindruck, einer geringeren Wahrscheinlichkeit Wissen zu revidieren, dogmatischerem Denken und insbesondere einer deutlich geringeren Ambiguitätstoleranz (vgl. Mikulincer 1997). Entsprechend meint Peter Fonagy, dass unsicher gebundenen Individuen der »epistemische Superhighway«, über den es möglich wird, von den Erfahrungen anderer zu lernen, um Unsicherheit und Ambiguität zu reduzieren, partiell verschlossen bleibe (Fonagy, Allison 2014, 379). Zusammengefasst kann man also sagen, dass entwicklungspsychologisch die Qualität der Entwicklungsbedingungen, der Interaktionserfahrungen und anderer entwicklungspsychologischer Einflüsse, die epistemisches Vertrauen und die Fähigkeit, in interpersonalen Beziehungen zurecht zu kommen, maßgeblich beeinflussen, von großer Bedeutung sind für die Entwicklung der Identität und damit auch für den Umgang mit Ambivalenz und Ambiguität.
»Identitäten in der Ambivalenz der postmodernen Gesellschaft« (Keupp 2002) Nachdem sich die Konstrukte Ambivalenz und später Ambiguität zunächst in der Psychiatrie und der Psychoanalyse etablierten, wurden sie zunehmend auch in verschiedenen Disziplinen der Psychologie aufgegriffen. Eine Übersicht hierzu verfasste Ziegler (2010), der die Felder der Psycholinguistik, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie und der klinischen, der Motivations- und der Organisationspsychologie als Bereiche nennt, in denen Ambivalenz und Ambiguität intensiv diskutiert werden. In der Psychiatrie und Psychoanalyse wird die Thematik gewissermaßen immer wieder neu entflammt. So wurden anlässlich einer Zürcher Tagung zum »Begriffsjubiläum« über Ambivalenz und gleichschwebende Aufmerksamkeit (Knellesen 2011), die Dekonstruktion der Ambivalenz (Haller 2011) und das Unheimliche der Ambivalenz (Gast 2011) aus psychoanalytischer bzw. bildungstheoretischer und psychiatrischer Perspektive (Binswanger 2011) diskutiert.
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Bei dieser Tagung zeigte Lüscher (2011a), dass die Ambivalenz mittlerweile auch längst in »Alltag und Kultur« angekommen sei, was ihn veranlasste für ein »Weiterschreiben der Ambivalenz« zu plädieren, was einige Beobachter der Tagung durchaus optimistisch sahen, wenngleich auch vor einem allzu unspezifischen und inflationären Gebrauch des Ambivalenzbegriffs gewarnt wurde (Passetti et al. 2011). Ambivalenzerfahrungen sind nunmehr auch ein wichtiges Thema im Kontext von Zeitdiagnosen einer globalisierten Postmoderne und ihrer Widersprüche. Wenn man z.B. Keupp (2002) folgt, dann ist die Beschäftigung mit der Ambivalenz als ein »Ende der Eindeutigkeit«, wie Baumann (1995) sie bezeichnete, eine notwendige Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen der Postmoderne und damit auch eine identitätsrelevante Erscheinung: »Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans ›Eingemachte‹ in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte« (Keupp 2002, S. 10). In diesem Kontext werden mangelnde Bereitschaften, Mehrdeutigkeit und Vielfalt auszuhalten, als gesellschaftliches (und individuelles) Problem erachtet: Zu den Theoretikern, die sich mit der Frage des Zusammenhangs von Identität und Ambivalenz beschäftigt haben, gehört der britische Gruppenanalytiker Farhad Dalal (2003). Dieser legt in seinem Buch »Taking the group seriously« dar, dass es bestimmte Menschen gibt, die sich im Zuge der Findung einer Identität über Gruppen, die wiederum dazu dient, eine Illusion von Stabilität zu konstruieren, sehr rasch fundamentalistisch verhalten, wenn sie sich nämlich im Falle der Bedrohung ihrer Identität mit der Gruppe überidentifizieren, was auch hier als Resultat des Verlustes an Mehrdeutigkeit und Vielfalt gesehen wird, wie sie insbesondere Thomas Bauer (2018) beschrieben hat. Bauer spricht von der »Vereindeutigung der Welt« und dem Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, dem eine Ambiguitätstoleranz entgegengestellt werden solle. Auch Schneider (2009) – ähnlich wie Dalal – sieht die Frage der Ambiguitätstoleranz und Ambivalenz im Kontext der Erfahrung von Fremdem und meint: »Identität ist durch eine konflikthafte Dynamik von Selbsterhaltung und Selbstaufhebung geprägt. Im alltäglich lebensweltlichen Kontext dominiert die Selbsterhaltungstendenz. In der Ambivalenz gegenüber Fremden spiegelt sich die Dynamik von Selbsterhaltung (Ablehnung) und Selbstaufhebung (Anziehung) wider. Genauer noch ist die Anziehung durch das Fremde als Möglichkeit zu verstehen, das Lastund Zwanghafte der Identitätspositivität zu verändern, d.h. ein anderer werden zu können«. Zwei wesentliche Aspekte der Identität in der Postmoderne bezeichnet Schneider als »die Entwicklung einer adoleszent anmutenden Identitätsstruktur und die Bedeutung der enormen Fülle von Fremdem, die die Globalisierung mit sich bringt« (Schneider 2009, 7). Lüscher (2011b) sprach von Ambivalenzen, wenn Menschen auf der Suche nach der Bedeutung von Personen, sozialen Beziehungen und Tatsachen, die für Facet-
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ten ihrer Identität und dementsprechend für ihre Handlungsbefähigung wichtig sind, zwischen polaren Widersprüchen des Fühlens, Denkens, Wollens oder sozialer Strukturen oszillieren, die zeitweilig oder dauernd unlösbar scheinen. Damit hat er eigentlich der heutigen Sichtweise, die im Zusammenhang mit dem Konzept des epistemischen Vertrauens hier kurz dargestellt wurde, schon vorgegriffen. Bei der Frage nach dem Reiz und dem Potential von Uneindeutigkeit für die Identitätsentwicklung bezieht sich Bauer (2018) bspw. auf die Schriftstellerin Christa Wolf (1983, 131), die dafür plädierte, »Freude aus Verunsicherung zu ziehen«, wobei bspw. Keupp (2002) die Ambiguitätstoleranz als Voraussetzung für eine positive Verunsicherung sieht. Die o.g. Weiterentwicklungen der Bindungstheorie, Befunde der Entwicklungspsychologie, die zeigen, dass Ambiguität und Ambivalenz in Übergangssituationen ein wichtiges Potential darstellen (Fooken, Deeper 2016), und die Tatsache, dass Uneindeutigkeit und Verunsicherung neurobiologische Entwicklungsprozesse anregen (Kremer 2018), legen nahe, dass die Fähigkeit Ambivalenzen und Ambiguität zu tolerieren durchaus als Zeichen psychischer Reife und somit einer ausgereiften Identität verstanden werden können. Lüscher (2018) hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen und spricht von der Notwendigkeit einer »persönlichen Ambivalenzsensibilität« (ebd., 43). Auch dies weist in zahlreiche aktuelle gesellschaftliche und interdisziplinäre Diskurse, die in diesem Band, aber auch in anderen Kontexten trefflich diskutiert werden und nun »weitergeschrieben« werden müssen: »Denkbar ist, dass sich in solchen Arbeiten neue Typologien von Ambivalenzen finden lassen. Das wäre auch ein Tribut an Eugen Bleuler, der von allem Anfang mehr als eine Ambivalenz umschrieben hat und in dessen Ansatz nota bene auch der Bezug zur Entfaltung von Facetten persönlicher Identität angelegt ist«. (Lüscher 2011b, 391). Freud, für den Bleulers Begriff so »trefflich« und zentral werden sollte, soll hier das letzte Wort haben mit seinem Selbstbekenntnis: »Ich kann nicht Optimist sein, unterscheide mich von dem Pessimisten, glaube ich, nur dadurch, dass mich das Böse, Dumme, Unsinnige nicht aus der Fassung bringt, weil ich‘s von vornherein in die Zusammensetzung der Welt aufgenommen habe« (Freud 1915b, 230).
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Ambivalenzen – Beziehungen – Identitäten: Skizze einer transdisziplinären Heuristik Kurt Lüscher
Einleitung Die Tatsache ist erstaunlich: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff der Ambivalenz erstmals öffentlich diskutiert. Heutzutage gehört er zur Umgangssprache und wird in zahlreichen wissenschaftlichen Diskursen genutzt. Das ist geradezu eine Erfolgsgeschichte. Damit einher geht allerdings eine Vielfalt von Bedeutungen. Kann man ungeachtet aller Unterschiede so etwas wie eine transdisziplinär fruchtbare Perspektive ausmachen? In dieser Skizze mache ich dafür einen Vorschlag. Ich verstehe ihn als wissenssoziologisch, weil ich von der Tatsache ausgehe, dass die Verständnisse des Begriffs der Ambivalenz im Spannungsfeld verschiedener Wissensformen und ihren sozialen Kontexten liegen, als pragmatisch, weil ich auf die Arbeit mit dem Begriff in unterschiedlichen Lebensfeldern achte, und als heuristisch, weil mich interessiert, worin das erkenntnisfördernde Potenzial des Begriffs und seiner theoretischen Einbettung liegt bzw. liegen könnte. Im Zentrum meiner Skizze steht die Annahme von Wechselbeziehungen zwischen Ambivalenzerfahrungen und den Prozessen der Akzentuierung menschlicher Beziehungen und Identitäten, also des Ergründens ihrer Eigentümlichkeiten. Methodologisch orientiere ich mich an der Idee des Wissenschaftsphilosophen Hoyningen-Huene über »Systematizität« als Kennzeichen des Verhältnisses von Alltagswissen und Wissenschaftswissens sowie an der Maxime des wissenschaftlichen Arbeitens in »Perspektiven mittlerer Reichweite«1 .
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Damit ist – kurz gesagt – ein Abwägen und Balancieren zwischen Empirie und Theorie unter Berücksichtigung von Verständlichkeit, Kontextgebundenheit und Praxisbezug gemeint. Dementsprechend hat die sprachliche Gestaltung einen großen Stellenwert. Dieser Begriff ist angeregt von Mertons These, kennzeichnend für soziologisches Arbeitens seien »middle range theories« (Merton 1957, 108f.).
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Prolog: Die Geburtsstunde eines Begriffs Angesichts der verbreiteten wissenschaftlichen und umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs Ambivalenz wird oft übersehen, dass er vergleichsweise neu ist. Es gibt für ihn sogar so etwas wie eine Geburtsstunde. Am 26. November 1910 hielt der Zürcher Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939) anlässlich der »Ordentlichen Winterversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte« (so die Sprache jener Zeit) an der Universität Bern einen Vortrag über Ambivalenz. Es ist dies, soweit bekannt, die erste öffentliche Diskussion des Begriffs der Ambivalenz.2 In dem von Franz Riklin erstellten Protokoll heißt es u.a.: »Es gibt: eine affektive Ambivalenz. Die gleiche Vorstellung ist von positiven und negativen Gefühlen betont (der Mann hasst und liebt seine Frau). Eine voluntäre Ambivalenz (Ambitendenz). Man will etwas und zugleich will man es nicht, oder will zugleich das Gegenteil. Der Ambitendenz auf Anregung am nächsten liegt der Begriff der negativen Suggestibilität. Eine intellektuelle Ambivalenz. Man deutet etwas positiv und zugleich negativ: Ich bin der Dr. A.; ich bin nicht der Dr. A. Das Wort ›Lohn‹ bedeutet auch Strafe. Die drei Formen lassen sich nicht trennen, gehen ineinander über und kombinieren sich…« (Riklin 1911, 266).3 In der Diskussion sagte Carl Gustav Jung: »Der Begriff der Ambivalenz ist wahrscheinlich eine wertvolle Bereicherung unseres Begriffsschatzes« (Riklin 1911, 267). Sigmund Freud spricht dort, wo er den Begriff zum ersten Mal verwendet, im Aufsatz »Zur Dynamik der Übertragung«,von einem »glücklichen, von Bleuler eingeführten Namen« (Freud [1912] 1975, 373), in »Totem und Tabu« von einem »trefflichen Ausdruck« (Freud [1913] 1975, Fußnote S. 51). Bleuler selbst war sich bewusst, dass er mit dem Begriff nicht ein neues Phänomen beschrieb, sondern ein solches, das schon viel früher und in unterschiedlichen Lebensfeldern beobachtet und beschrieben worden war. Davon zeugt sein Essay »Die Ambivalenz« (Bleuler 1914). Dies ist der Text, in dem erstmals die Bedeutung des Begriffs verallgemeinert wurde. Darum lohnt es sich, etwas ausführlicher darauf einzugehen (hierzu auch Meixner 2019, 11-21). Bleuler beginnt – praxisbezogen – mit zwei Beispielen aus der Klinik. Das erste berichtet von einer Frau, die aus der Anstalt, über die sie sich beklagt, austreten
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Genau genommen scheint Bleuler sich auf einen Aufsatz zur »Theorie des schizophrenen Negativismus« zu beziehen, den er in zwei Teilen in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift veröffentlicht hatte (Bleuler 1910/11). Zu Bleulers »sprachschöpferischer Gestaltungskraft« siehe Kuhn (2001). Bleuler kreierte nebst dem Begriff der Ambivalenz auch jenen der Schizophrenie und jenen des Autismus. Eine ausführliche Darstellung des gesellschaftlichen und professionellen Umfelds, in dem Bleuler gearbeitet hat, bietet Bernet (2013).
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könnte, aber dies nicht zu tun vermag. Das zweite Beispiel handelt von einer Mutter, die ihr Kind umgebracht hat und es beweint. »Sie liebt ihren Mann nicht, und das Kind dieses Manns ist ihr ein Greuel; deshalb hat sie es getötet und lacht darüber; es ist aber auch ihr Kind, und deshalb liebt sie es und weint über seinen Tod« (Bleuler 1914, 96). Daraus folgert Bleuler nach einem kurzen Hinweis auf das »Spaltungsirresein« in den Schizophrenien: »Wir finden denn überall bei andern Kranken wie Gesunden solche ambivalente Komplexe und können zugleich konstatieren, dass sie unsere Psyche ganz besonders beeinflussen« (Bleuler 1914, 96). Des Weiteren enthält der Text Überlegungen zur Beziehung zwischen Mann und Frau, zugespitzt auf die Differenz »in den eigentlich sexuell anregenden Eigenschaften einerseits, und denen, die Achtung und Zärtlichkeit hervorrufen, andererseits.« Bemerkenswert ist, dass bestimmte komplexe Erfahrungsweisen, Haltungen und Handlungszusammenhänge als ambivalenzträchtig umschrieben werden: Angst, Scham, Masochismus und Sadismus. – In kulturwissenschaftlicher Sicht sind zwei Aspekte hervorzuheben. Bleuler vertritt erstens die Ansicht: »Die Ambivalenz ist eine der wichtigsten Triebfedern der Dichtung und weist zugleich ihren gestaltenden Kräften den Weg. Der wahre Dichter schafft aus den ihn bewegenden Komplexen heraus, und diese sind ihrer Natur nach wohl immer ambivalent, da abgeschlossene Ideen uns kaum mehr lebhaft bewegen können« (Bleuler 1914, 102). Besonders der letzte Halbsatz ist bemerkenswert, wird doch darin ein Zusammenhang zwischen Ambivalenzerfahrungen und Kreativität angedeutet. – Mit Traum und Dichtung sind, zweitens, »Mythologie, Sagenbildung und Volksgebräuche innig verwandt« (Bleuler 1914, 102). Das gilt auch für ihre religiösen Inhalte. Bleuler glaubt feststellen zu können: »Der Eine Allmächtige, der die guten und die bösen Schicksale in der Hand hält, zerfällt immer wieder in Gott und den Teufel« (Bleuler 1914, 102). Ebenso interessant ist, »wie sich der im höchsten Grade ambivalente Vaterkomplex in den Mythologien auslebt« (Bleuler 1914, 103). Der französische Psychoanalytiker Bourdin bekräftigt diese Ubiquität in Bezug auf Freud: »L’importance que Freud confère à l’ambivalence est extrême. Moins par sa complexité que par son universalité. Et il s’est attaché à en décrire la multiplicité clinique et culturelle, et à élaborer les liens avec nombre de concepts essentiels de la psychoanalyse […] : complexe d’Œdipe, sentiment de culpabilité, dualité pulsionnelle.« (Bourdin 2005, 42) Wesentlich ist ein narratives Verständnis von Ambivalenz bezogen auf den unaufhebbaren Gegensatz von Lebens- und Todestrieb (ausführlicher dazu Meixner 2019). Das verweist auf die Frage, welche anthropologischen Annahmen bzw. Vorstellungen geeignet sind, verstehend zu erklären, warum Menschen fähig sind, Ambivalenzen zu erfahren und zu bedenken.
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Komplementär dazu ist die Feststellung von Knellessen (1978, 271/273) bemerkenswert, Bleulers Arbeiten seien gekennzeichnet durch »Unentschiedenheit und Schwanken zwischen Psychoanalyse und naturwissenschaftlicher Medizin« sowie – sinngemäß auf Personen bezogen – zwischen Freud und Kraepelin. Gemäß der gleichen Quelle hat Freud (dessen Verhältnis zu Bleuler wegen dessen Zögerns, sich für die Psychoanalyse zu entscheiden, zwiespältig war) kritisch bemerkt, es komme wohl nicht von ungefähr, dass Bleuler auf diesen Begriff gekommen sei.4 In einem Brief an Riklin schrieb Freud: »Wahrlich, der Mann war der richtige, der Ambivalenz den Namen zu geben.« Und weiter heißt es: »Er sah bei Bleuler nur Schwanken und Unentschiedenheit, weil er dessen Aussagen nur unter dem Gesichtspunkt der Parteilichkeit registrierte.« Dem setzte Bleuler nicht minder schlagend entgegen: »Das Wer nicht für uns ist, ist wider uns, das Alles oder Nichts ist meiner Meinung nach für Religionsgemeinschaften notwendig und für politische Parteien nützlich. Ich kann deshalb das Prinzip als solches verstehen, für die Wissenschaft halte ich es aber für schädlich. Ambivalenz wurde zu dem Etikett, mit dem Bleuler von Seiten der Psychoanalytiker, auch für die Nachwelt, abgestempelt wurde.«5
Konzeptuelle Perspektiven Bereits die Umstände der Entstehung des Begriffs lassen wissenssoziologisch wichtige Charakteristika erkennen, nämlich die implizite Bezugnahme auf »Persönlichkeit«, die Differenzierung nach Formen von Ambivalenzen sowie die Umstände seiner Artikulation. Wissenssoziologisch-pragmatisch ist es fruchtbar, sich mit der weiteren Geschichte des Begriffs zu befassen. Sie dokumentiert gewissermaßen dessen Gebrauch. Allerdings gibt es Tücken. Eine davon liegt darin, den Anschein zu erwecken, es sei möglich, unter Rekurs auf die Anfänge so etwas wie eine wahre Bedeutung und dementsprechend die richtige Verwendung eines Begriffes auszumachen. Dem widerspricht indessen gerade der Fall von Ambivalenz. Weil der Begriff – so die hier vertretene These – auf eine allgemeine menschliche Erfahrung verweist und dementsprechend früh schon in die Umgangssprache übernommen wurde, sind darin Vieldeutigkeit und Offenheit angelegt. Deshalb
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Siehe dazu auch die umfassende Darstellung von Bleulers Leben und Werk von Scharfetter (2006). Allerdings hat Bleuler die menschenbildliche Offenheit von Ambivalenz nicht umfassend genutzt. Das zeigen die neu herausgegebenen kulturtheoretischen Schriften, namentlich seine fundamentalistische Bewertung der Rolle des Alkoholismus (Bernet 2007). Das Zitat wird S. 43f. in der Einleitung zu der von Schröter sachkundig editierten Ausgabe des Briefwechsels Freud-Bleuler erwähnt, der erst vor einigen Jahren endlich veröffentlicht werden konnte.
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unter anderem auch seine Nähe zum Begriff der Ambiguität.6 Doch es lassen sich – eben: skizzenhaft – Topoi und Entwicklungslinien ausmachen (Lüscher 2016). Von der Diagnose zur Analyse: In den Feldern des psychiatrischen, psychoanalytischen und psychotherapeutischen Arbeitens lautet eine wichtige Maxime: Es ist angebracht und erstrebenswert, Ambivalenzerfahrungen nicht nur zu diagnostizieren und zu pathologisieren, sondern sie zu akzeptieren, zu tolerieren und in einer erträglichen oder gar konstruktiven Weise damit umzugehen. In diesem Sinne haben bereits Bleuler und Freud den Begriff andeutungsweise ausgeweitet.7 Von der Fixierung auf die Psyche zur sozialen und kulturellen Einbettung: Um 1960 setzte eine soziologische Rezeption ein, die darauf zielte, sozio-strukturelle Bedingungen und Ausdrucksformen von Ambivalenzen zu umschreiben, so in professionellen Rollen, später auch in Generationenbeziehungen sowie in den Formen postmoderner Gesellschaftlichkeit und ihren (Sub-)Kulturen. Vom Erleben zum Gestalten: In der Rezeption des Konzepts in den Textwissenschaften, in Kunst und Musik (wo sie häufig synonym zum älteren Begriff der Ambiguität erfolgte) ist die Einsicht wichtig: Menschen werden nicht nur mit Ambivalenzen konfrontiert, sondern diese lassen sich in Wort und Schrift, in Erzählungen, Bildern, Filmen und mit Musik kreieren. Ambivalenzen können überdies die Eigenheit eines künstlerischen Werks prägen. Dieses Bild der Entwicklungslinien seit 1910 ist rückwärts zu ergänzen, weil Ambivalenz Phänomene und gedankliche Konstrukte umschreibt, die schon früher thematisiert wurden8 , und theoretische »Familienähnlichkeiten« (Wittgenstein) bestehen, so zu Amphibolie und Ambiguität (Berndt/Kammer 2009), zu (In-)Kohärenz (Abel et al. 2009) sowie mit Bewerten-Figurieren-Erzählen (Meixner 2019). Darauf einzugehen sprengt indessen die Zielsetzung und den Rahmen dieser Skizze. Unter wissenssoziologisch-pragmatischen Gesichtspunkten ist der Unterschied von zwei einander entgegengesetzten Logiken für das Verständnis von
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Ich verzichte hier mit dem Verweis auf die Einleitung zu diesem Band auf eine Diskussion des Verhältnisses der Begriffe Ambivalenz und Ambiguität. »Das begriffsbildende psychiatrische, das psychoanalytische und das entwicklungspsychologische Narrativ der Ambivalenz basieren allesamt auf einer Logik der Bewertung, der Figuration und der Erzählung, womit sie stets an der Grenze von Gesundheit und Krankheit operieren.« (Meixner 2019, 33). Hierzu auch Merton/Barber 1963, 3: »Long before the term was coined, man’s experience of ambivalence – of being pulled in psychologically opposed directions – had of course been endlessly noted […]. It could scarcely be otherwise. No observer of the human condition could long fail to note the gross facts of mingled feelings, mingled beliefs, and mingled actions. He had only to look inward at his own psyche or outward at the behavior of others.« Dazu verweisen sie auf die Schriften von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyère und Pascal.
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Ambivalenz wichtig, jene des »Entweder-Oder« und jene des »Sowohl-Als-Auch« (Fischer, Lüscher 2014). Im »Entweder-Oder«, das nicht Ambivalenz ausdrückt, wird eine Seite der Dualität als dominant postuliert. Das kann in einem reduktionistischen, fundamentalistischen Duktus geschehen und findet sich beispielsweise in ideologischen Menschenbildern. Das »Sowohl-Als-Auch« von Ambivalenz beinhaltet »Gleichursprünglichkeit« zweier einander entgegengesetzter Kräfte. Sie lässt sich mit der menschenbildlichen Vorstellung der »Zweideutigkeit des Menschen« verknüpfen, wie das beispielsweise in der philosophischen Anthropologie von Plessner (Bek 2011/2016) geschieht. Empirisch beinhaltet dies: Das Erleben von Ambivalenzen geht mit der Einsicht einher, dass es Alternativen des Denkens, Handelns und des Selbstbilds, also so etwas wie einen »Möglichkeitssinn« (Musil) gibt. Sie zeigen sich im Zweifeln ebenso wie in der Suche nach Neuem. Das legt nahe, auf die Prozesshaftigkeit zu achten. Allein schon diese Grundzüge der Begriffsgeschichte dokumentieren somit Unterschiede im Gebrauch des Begriffs und dementsprechend unterschiedliche Bedeutungen im Spannungsfeld zwischen Alltagswissen und Wissenschaftswissen. Wie verhalten sich diese zueinander? Heuristisch hilfreich ist hier eine These des Wissenschaftsphilosophen Hoyningen-Huene. Sie lautet: »Scientific knowledge differs from other kinds of knowledge, in particular from everyday knowledge, primarely by being more systematic« (Hoyningen-Huene 2013, 14). Ich interpretiere sie so, dass sich ausgehend von praxisnahen umgangssprachlichen Verständnissen Stufen von Beschreibungen über Typologien bis zu Erklärungen unterscheiden lassen, die wiederum in mehr oder weniger differenzierte Theorien eingebettet sind und metatheoretisch reflektiert werden. Wie elaboriert dies geschieht, hängt von den Erkenntnisinteressen und dem angestrebten Bezug zu praktischen Anwendungen ab. Die These lässt sich mit der methodologischen Maxime des Arbeitens in Perspektiven mittlerer Reichweite verknüpfen. Vor diesem Hintergrund mache ich einen Vorschlag für das systematische Verständnis der tragenden begrifflichen Elemente. Weil sie grundlegend sind, gibt es für jeden dieser Begriffe ein reiches Schrifttum, das sie in unterschiedlichen disziplinären Ansätzen und Theorien komplex ausdifferenziert und systematisiert. Wird dies mehr oder weniger ausführlich erörtert, erhöht sich der Grad der Systematizität. Hier gehe ich nicht diesen Weg, sondern versuche, eine heuristische Perspektive aufzuzeigen, die transdisziplinäre Verständigung ermöglicht.
Ambivalenzen als »Differenzerfahrungen« In diesem Sinne schlage ich – in einem Brückenschlag zu neueren kulturwissenschaftlichen Diskursen – vor, Ambivalenzen primär als »Differenzerfahrungen« zu verstehen, die gegensätzlich, also als Polaritäten und Antagonismen verstanden
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werden. Gemeint sind sinnliche Wahrnehmungen, deren man sich bewusst ist und die in der Regel sprachlich umschrieben werden können. Diese Prämisse markiert einen Unterschied zu jenen Verständnissen von Ambivalenz(en), die sie als eine Eigenschaft von Personen und Sachverhalten oder als Entität bezeichnen sowie verstehen und darüber substantivisch reden, als handle es sich um eine Entität. Das ist meistens im umgangssprachlichen Gebrauch der Fall, findet sich indessen mehr oder weniger explizit auch in wissenschaftlichen Texten. Gemäß dieser Prämisse beruhen Erfahrungen auf sich wiederholenden gleichen oder ähnlichen Wahrnehmungen und deren institutionelle Einbettung und somit meistens deren Versprachlichung. Eine neue Erfahrung bezieht sich auf bisherige Erfahrungen, wird an diesen gemessen. Auf diese Weise werden Erfahrungen zu Wissen, das reflektiert werden kann. Damit einher geht die Möglichkeit des Erkennens von Differenz(en) zwischen Erfahrungen.9 Das trifft auf elementare sinnliche Wahrnehmungen zu, beispielsweise eine Farbe, ebenso wie auf komplexe, beispielsweise jene einer Person. Werden so Ambivalenzen als Erfahrungen verstanden, wird eine strukturelle und eine prozessuale Voraussetzung von Ambivalenz angesprochen, nämlich das Spannungsfeld zwischen dem Gleichen, bezogen auf das Bisherige, und dem Neuen im Aktuellen. Daraus folgt: Die Differenz im Vergleich des aktuell Neuen mit einem überdauernd Gemeinsamen stellt, pragmatisch gesehen, eine Bedingung für das Erleben von Ambivalenzen dar, denn dieses geht mit einem dynamischen Abwägen zwischen dem einen und dem anderen einher. Das »Abwägen« kann auch ein Hin und Her, unter Umständen auch ein Zögern, ein Zaudern, ein Innehalten, ein »reculer pour mieux sauter« beinhalten. Dafür bietet sich die Bezeichnung Vaszillieren an.10 Ist dieses manifest, zeigt es sich im Handeln, Fühlen, Denken und 9
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Gemäß Gadamer (1990, 359) sprechen wir im doppelten Sinn von Erfahrung: »Einmal von den Erfahrungen die sich in unsere Erwartungen einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man ›macht‹. Dies, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, dass wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hatte also einen eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach Täuschung, die durchschaut wird und insofern eine Berichtigung, sondern ein weitgreifendes Wissen, das erworben wird. […] Wir nennen diese Art der Erfahrung dialektisch.« Dieses Verständnis von Erfahrung ist theoretisch als Grundlegung für die den Ambivalenzen zugeschriebene Dualität geeignet. Das Wort, das lateinische Wurzeln hat und dort »zittern« bezeichnet, findet sich bis jetzt kaum in der deutschsprachigen Literatur, jedoch im Französischen, Spanischen sowie Englischen und dort auch in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, so bei Tsushima (2003, 9) mit folgender begrifflicher Umschreibung: »It is associated with hesitation, indecision, capriciousness, agitation, oscillation, vertigo, inability to speak, inability to act, inability even to move. It also signals a site which has stayed and erred from the main path. An appearance of bifurcation to a small covered path.«
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Wollen (um an Bleuler zu erinnern). Erfahrungen, verstanden als prozesshaftes Geschehen, werden in dieser Sichtweise somit als konstitutiv für Ambivalenzen postuliert. Es geschieht im Rahmen einer »erstreckten Gegenwärtigkeit«, nämlich der kürzeren oder längeren Dauer, während der Ambivalenzen erlebt werden (Lüscher 2018, 15).
Beziehungen Dass Beziehungen, bildlich gesprochen der Kitt von (menschlicher) Vergesellschaftung sind, gilt eigentlich als selbstverständlich, so sehr, dass explizite Definitionen eher selten sind. Ansätze finden sich bei den soziologischen Klassikern, so bei Max Weber und insbesondere Leopold von Wiese. Ein wichtiger Anstoß erfolgte durch die sozialpsychologische Schule der »social relationships« und hier prominent durch Hinde (1976, 1997). Seine Definition von Beziehung beinhaltet eine bemerkenswerte Parallele zur erwähnten Dualität im Begriff der Erfahrung. Knapp ausgedrückt: Soziale Beziehungen entstehen durch wiederholte Interaktionen zwischen Menschen, also durch elementare Institutionalisierung des Begegnens von Menschen.11 Diese bildet den sozialen »Rahmen« für eine bestimmte Beziehung, also das »soziale System«, dem sie zugeordnet werden kann. Bezeichnet man dieses umgangssprachlich, also zum Beispiel als Familie, Betrieb, Organisation, charakterisieren Beziehungen soziale Rollen wie z.B. Tochter, Berufsbezeichnungen, oder Funktionen, z.B. Präsidentin. Analytisch lassen sich in Beziehungen zwei Dimensionen unterscheiden, eine personale (subjektive) und eine institutionale. Diese Dualität kann somit Anlass für Ambivalenzerfahrungen sein, ebenso das reflexive Verhältnis eines Individuums zu einer Rolle. Soziale Beziehungen gehen einher mit gegenseitigen Erwartungen. Diese modellieren Beziehungen. Dabei ist indessen die Einsicht wichtig: A verhält sich in Bezug auf B unter Berücksichtigung von Annahmen darüber, wie er meint, was B von ihm erwartet, und umgekehrt. Dies kann einhergehen mit Unsicherheiten darüber, worin diese Erwartungen bestehen, ob und wie sie erfüllt werden. Dieser theoretisch postulierte und empirisch beobachtbare Sachverhalt der so genannten »doppelten Kontingenz« ist ein wesentliches Element vieler Theorien sozialer Beziehungen.12 Gelebte Beziehungen erfordern 11
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Wörtlich: »A relationship involves series of interactions in time. By an interaction we usually mean a sequence in which individual A shows behaviour X to individual B, or A shows X to B and B responds with Y. […] In general the distinction between an interaction, which involves a strictly limited span of time, and a relationship which involves a much longer period, is clear enough« (Hinde 1976, 3). Zur Denkfigur der doppelten Kontingenz als ein Basistheorem der Soziologie unter Bezugnahme insbesondere auf Parsons und Luhmann prägnant der Eintrag in Wikipedia, (https:// de.wikipedia.org/wiki/Doppelte_Kontingenz, Zugriff: 5.8.2020).
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somit oft ein Abtasten und Suchen. Dies ist ein weiterer Anstoß für Ambivalenzerfahrungen und unterstreicht die Relevanz von »Zeitlichkeit« als eines ihrer konstitutiven Elemente. In Analogie zu Beziehungen zwischen Menschen kann auch von Beziehungen zu »Objekten« bzw. Dingen gesprochen werden.13 Sie entstehen durch das wiederholte Zuschreiben von Bedeutung und werden so zu »kulturellen Objekten« bzw. Artefakten. In diesen Beziehungen entfällt die »doppelte Kontingenz«, doch Kontingenzen ergeben sich aus der Offenheit und Mannigfaltigkeit der Interpretation und den damit einhergehenden Zweifeln. Hier überschneiden sich Ambivalenz und Ambiguität (im Sinne von – semantischer – Mehrdeutigkeit).
Identitäten Zum etablierten sozialwissenschaftlichen Kanon gehört die These, dass wir Menschen über das Erleben und Gestalten sozialer Beziehungen eine Vorstellung von uns selbst entwickeln können. Grundsätzlich gilt das auch für die Beziehungen zu kulturellen Objekten. Identitäten formieren sich indessen nicht nur durch das Eingebettetsein in Beziehungen, sondern auch durch die Möglichkeit, die Beziehung zu sich selbst zu bedenken. Dies ist der Ausgangspunkt von Theorien des Subjekts14 und Abhandlungen über das »Problem der Identität«.15 Sie kreisen um die dualistische Vorstellung des Subjekts, gleichzeitig einmalig zu sein und mit den anderen vieles gemeinsam zu haben, zu sich selbst und mit anderen in Beziehung zu stehen, eigenständig und auf andere angewiesen zu sein.16 Das gilt sinngemäß im Umgang mit kulturellen Objekten. Auch sie können identitätsrelevant sein.
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Ein Beispiel dafür ist die Studie von Fooken et al. (2016) unter dem sprechenden Titel: »Betwixt things – Das Ambivalente der Dinge in Übergangskontexten«, worin Ambivalenzerfahrungen im Spiel mit Puppen, persönlichen Dingen beim Umzug ins Altersheim und Dingen als Erbstücken beschrieben und analysiert werden. Ich nenne stellvertretend für viele Zima (2010), weil darin die Bezugnahme auf Ambivalenz besonders ausgeprägt ist. Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema verweise ich hier lediglich auf die schon etwas ältere, jedoch besonders gehaltvolle Sammlung von Essays des Uppsala Symposiums »Identity: Personal and socio-cultural« (Jacobson-Widding 1983), die umfassende Darstellung von Ludwig-Körner (1992) sowie die Darstellung aus psychoanalytischer Sicht von Bohleber (1992) und in enzyklopädischer Absicht Straub (2012), ferner die kritische Betrachtung von Brubacker, Cooper (2000). In diesem Sinne ist wichtigen sozialwissenschaftlichen Vorstellungen personaler Identität, also des Selbst ungeachtet spezifischer Ausprägungen, ein dualistisches Grundmuster eigen, so insbesondere bei James, Cooley und Mead (hierzu die Darstellungen in den in Anm. 16 genannten Werken).
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Die Frage, inwiefern es sinnvoll ist, auch von kollektiven Identitäten zu sprechen, ist umstritten (Niethammer 2000). In einer wissenssoziologisch-pragmatischen Perspektive scheint es indessen offensichtlich, dass Identitäten auch sozialen Kollektiva, also Familien, Organisationen, Gemeinschaften, Nationen zugeschrieben werden. Meistens geschieht dies unter der Annahme, dass die Angehörigen oder Mitglieder eines Kollektivs eine oder mehrere dominante Eigenschaften gemeinsam haben oder haben sollten.17 Häufig wird auf das Konzept des »kollektives Gedächtnisses« Bezug genommen (Assmann 2002). Kollektive Identitäten dienen zur Abgrenzung gegenüber dem Fremden. Sie sind der Bezugspunkt von Identitätspolitiken.18 Die Idee von »Identität« ist bekanntlich in den meisten sozialen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen19 von zentraler Bedeutung und wird in zahlreichen Ausprägungen mehr oder weniger systematisch und empirisch abgewandelt. Sie hat indessen auch metatheoretische Implikationen, insbesondere solche der formalen Logik. Hier gilt bekanntlich, dass ein Sachverhalt nur mit sich selbst identisch sein kann. Ist indessen von Menschen die Rede, stellen sich all jene Probleme ein, die damit zusammenhängen, dass ein Individuum sich entwickelt, mithin sich verändert, dennoch von sich und von anderen als die- oder derselbe wahrgenommen wird. Menschen wird, gestützt auf ihre Ähnlichkeit mit anderen Menschen und ihre Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, eine Identität zugeschrieben. Das Konzept wird so von der strikten logischen Vorstellung in die empirisch schillernde Phänomenologie des tatsächlichen Lebens übertragen. Mit anderen Worten: Wenn von Identität die Rede ist, dann beinhaltet dies, dass es auch das »Nicht-Identische« gibt (Fischer, Lüscher 2014). Dies ist eine formale Feststellung. Da nun aber »Identität«, wenn der Begriff im sozial- und kulturwissenschaftlichen Kontext verwendet wird, insbesondere auch, wenn von individueller Identität die Rede ist, die Zuschreibung von Qualitäten, nämlich von Fähigkeiten und deren Ausprägungen beinhaltet, erfordert der Begriff auch die
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Verbindet sich damit die Annahme einer Homologie zwischen der Darstellung persönlicher Beziehungen, namentlich solcher repräsentativer Menschen und der Beziehungen zwischen den Gemeinschaften, denen sie angehören, erhöht dies die »Dichte« der Beschreibung und der Analysen. Sie lässt sich noch verstärken, indem Begründungen für ihre wechselseitige Korrespondenz gegeben werden. Auf diese Weise gewinnen die Interpretation und die Analyse an Stringenz und erlauben, den Anspruch auf ihre Tragweite bzw. Gültigkeit zu verstärken. Der Begriff der Identitätspolitik ist indessen problematisch, weil er oft in Verbindung mit dem Plädoyer für die Anerkennung einer bisher unterdrückten Minderheit verwendet wird, also einem aufgeklärten, die Erfahrung von Ambivalenzen einschließenden Verständnis von Identität entgegenläuft. Culler (2011, 109): »Much debate in literary and cultural theory concerns the identity and function of the subject and the self.«
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Vorstellung von Differenz und diese wiederum bedingt ein Drittes, nämlich den Rekurs auf ein Gemeinsames, auf das hin die Differenzen bezogen werden können, so das »Menschsein«. Diese Prozesse eines immer wieder stattfindenden neuen Ein- und Zuschreibens von Identität sind solchermaßen Anlass für eigene Ambivalenzerfahrungen und solche der Mitmenschen (Haller 2011). Im Kern geht es darum, mit den Unsicherheiten umzugehen, die sich aus der Zuschreibung von Identität ergeben, also aus der Aufgabe festzustellen, ob ein Mensch (oder eine Sozietät) als der- resp. dieselbe, als »Subjekt« wahrgenommen und erfahren werden kann. Das beinhaltet auch die Zuschreibung von Einzigartigkeit. Diese wiederum verweist auf die Auseinandersetzung mit Andersartigkeit und Differenz sowie eine reflexive Distanz zu sich selbst, also dem Erleben von Subjektivität. Besonders ausgeprägt findet sich unter Bezugnahme auf Individuen diese Vorstellung in Plessners Denkfigur der »exzentrischen Positionalität«.20 – Subjektivität aber ist, so wiederum die verbreitete Annahme, letztlich offen und in gewisser Weise unergründlich, auch für sich selbst.21 Man kann darin, theoretisch, den eigentlichen Grund sehen, warum Menschen fähig sind, Ambivalenzen zu erfahren. Ob, in welcher Weise und unter welchen Umständen dies geschieht, ist empirisch zu bestimmen.
Pragmatik: Akzentuieren Soweit der Versuch, eine im wörtlichen Sinn elementare Antwort auf die Frage zu geben, dass und inwiefern Menschen fähig sind, Ambivalenzen zu erfahren. Dies dient als Bezugspunkt, um im Blick auf die Empirie eine ebenfalls elementare heuristische Hypothese zu formulieren. Sie lautet: Ambivalenzerfahrungen akzentuieren soziale Beziehungen und Identitäten. Mit »Akzentuieren« meine ich in diesem Kontext ein Betonen, Hervorheben, um die kennzeichnenden Eigenschaften sozialer
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In prägnanter Darstellung im Sammelband mit dem sprechenden Titel »Mit anderen Augen« (Plessner 1986). Eine kurze Darstellung des Zusammenhangs mit Ambivalenz bietet Bek (2016). Hierzu wiederum pars pro toto Schulz (1992) in der Einleitung seiner Sammlung von Aufsätzen über »Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter«: »Die Zweideutigkeit der Subjektivität ist in ihrer Struktur, dem gebrochenen Weltbezug, begründet. Sie lässt sich nicht im Sinne der Metaphysik aufheben, die die großen Fragen nach der Stellung des Menschen ontologisch beantwortet. Es gilt im Gegenzug gegen absolute Antworten die doppeldeutige Struktur der Subjektivität herauszustellen und anzuerkennen. Die Doppeldeutigkeit der Subjektivität ist und bleibt aber eine ›große Frage ohne Antwort‹. – Man kann diese Frage auf sich beruhen lassen – im Alltag wird man es weithin tun. Man kann sich ihr aber auch stellen im Bewusstsein, dass ich ja selbst immer schon mit im Spiel stehe und dass es auch um mich geht.« (Schulz 1992, 14).
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Phänomene, also z.B. sozialer Beziehungen und Rollen sowie kultureller Objekte zu erkunden und zu analysieren. Dies geschieht oft als ein »Anreichern«. Gemeint ist: Stufig, direkt oder indirekt, werden die Eigenheiten von Personen und Sozialitäten soweit möglich erkannt, dementsprechend ihre Mannigfaltigkeit zur Sprache gebracht. So lässt sich ihre Eigentümlichkeit, mithin ihre »Identität«, immer wieder thematisieren. Das beinhaltet auch die Annahme, dass ein schwaches oder überhaupt nicht stattfindendes Akzentuieren von Ambivalenzen der Nährboden für eindimensionale Vorstellungen von Identität ist, beispielsweise in vielen Identitätspolitiken. – »Akzentuieren« lässt sich meines Erachtens in das Vokabular der Maxime des Arbeitens in Perspektiven mittlerer Reichweite einfügen. Wie weit es vorangetrieben und theoretisch eingebettet werden soll und kann, ist pragmatisch zu bestimmen, also entsprechend den thematisierten praktischen und theoretischen Fragestellungen. Im Folgenden veranschauliche ich den Vorschlag mit Beispielen.
Beispiel: Generationenbeziehungen Für die Trias der tragenden Konzepte »Ambivalenzen – Beziehungen – Identitäten« sind die Generationenbeziehungen exemplarisch. Vieles spricht für die These, Generationenbeziehungen als Prototyp menschlicher Beziehungen zu begreifen in dem Sinne, dass sich darin alle Elemente sozialer Beziehungen ausmachen lassen. Diese These gründet im anthropologischen Sachverhalt, dass Menschenkinder während den ersten Lebensjahren auf die Zuwendung Älterer angewiesen sind. Meistens sind dies die Eltern und weitere Verwandte. Über die verwandtschaftliche Generationenfolge wird die formale Identität des Einzelnen festgelegt, über die Gestaltung der Beziehungen die soziale Identität beeinflusst. Generationenbeziehungen werden angesichts ihrer Bedeutung für Individuum und Gemeinschaft durch Brauch, Sitte und Recht institutionalisiert, sind unkündbar und bleiben bestehen, selbst wenn sie nicht mehr unmittelbar gelebt werden. Alle diese Charakteristika können Nährboden für Ambivalenzerfahrungen sein. Das belegen die frühesten Erzählungen der Menschheit. So finden sich bekanntlich in den griechischen Sagen viele Schilderungen, in denen Götter als Väter und Söhne Konkurrenz, Unterdrückung und Rebellion, die bis zu Mord und Totschlag gehen, symbolisieren. Uranus verbannt seine Söhne, die Zyklopen, in die Unterwelt. Doch diese wiederum, geführt von Kronos, überfallen ihn und entmannen ihn im Schlaf. Die Abenteuer des Ödipus veranschaulichen besonders eindringlich die schicksalhafte Verbundenheit von Vater und Sohn. Lyos tötet Ödipus zwar nicht, sondern setzt ihn aus; dieser jedoch ermordet wiederum seinen Vater unwissend. Diese Schicksale verweisen auf die offenbar unentrinnbaren Gegensätze zwischen Vater und Sohn. Zwiespältigkeiten dieser Art finden
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sich auch in der alttestamentarischen Figur des David und seines Verhältnisses zu seinem Sohn Absalom sowie in der Josefsgeschichte. Und weiter ist – kursorisch – daran zu erinnern, dass unter Bezugnahme auf diese frühen Erzählungen in der psychoanalytischen Literatur beispielsweise der sogenannte Ödipuskomplex ein mächtiger, in sich wiederum kontroverser (gewissermassen somit auch metaambivalenter) Topos ist (Mertens 2008). Doch das Ambivalente der Generationenbeziehungen ist auch Thema des neuzeitlichen Verständnisses der frühkindlichen Beziehungen, so unter Rekurs auf Bleuler und Freud in der Arbeit »Die Ambivalenz des Kindes« von Graber (1924).22 Die Thematik gleichzeitiger Gegensätze steht auch im Zentrum der Analysen von Margret Mahler, Karl Abraham und insbesondere Melanie Klein im Kontext der als »Objekttheorie« bezeichneten Sichtweise, bei Klein etwa zwischen »einer guten und bösen Mutterbrust«. Der spekulative Charakter von Kleins Ausführungen ist unübersehbar, obwohl im sprachlichen Duktus empirische Geltung beansprucht wird. Im Blick auf die Systematik ist festzuhalten: Über weite Strecken überwiegt eine wertende Einstellung gegenüber Ambivalenz, doch zeichnet sich auch ein Verständnis ab, sie als Herausforderung zu betrachten (Otscheret 1988). Beispiel einer solchen alternativen, innovativen Analyse ist Parkers Abhandlung »Mother love/mother hate« (1995). Ihre Originalität liegt darin, dass der Umgang der Mütter mit ihren Ambivalenzen als kreative soziale Leistung interpretiert wird. Ihr Argument lautet: »Klein war der Ansicht, Ambivalenz komme eine positive Funktion im psychischen Erleben zu, nämlich als ›Schutz vor Hass‹. Ich möchte einen Schritt weiter gehen und für mütterliche Ambivalenz, insofern sie bewältigt wird, eine spezifisch kreative Kraft beanspruchen« (Parker 1995, 6). Mit Blick auf den ganzen Lebenslauf ist die Affinität zur Denkfigur der Ambivalenz bereits in der Etymologie des Begriffs der Generation erkennbar. Diese beinhaltet im Kern, dass Neues aus dem Bisherigen geschaffen wird, woraus sich gleichzeitig sowohl Gemeinsamkeit als auch Verschiedenheit zwischen den Eltern und Kindern ergibt. Sinngemäß dasselbe gilt für gesellschaftliche Generationen. Hier bilden häufig politische Ereignisse und deren Interpretation den Bezugspunkt 22
Graber (1924) zeichnet die erste Phase der Begriffsentwicklung nach, insbesondere unter Bezug auf Bleuler und Freud. Der Begriff sei »eine Besonderung der aus der Philosophie, Psychologie und Biologie bekannten Polarität«. (S. 3) In der engen Fassung als psychische Ambivalenz sei gemeint »die aus der Spaltung der Psyche in zwei Funktionstendenzen mit meist gegensätzlichem Charakter entstandene doppelte Wertung der Objektwelt, speziell des Menschen. Der Begriff wurde geschaffen zur Heraushebung von in erster Linie pathologischen Erscheinungen, fand aber dann auch seine Anwendung auf das normale Seelenleben« (S. 3). Die Polarität, ein noch vieldeutiger und in der Wissenschaft wenig klar umschriebener Begriff, äußere sich in mannigfachen Formen in der Natur. Ambivalenz sei eine nur auf den Menschen bezogene Erscheinung, die, so Graber, in der psychoanalytischen Schule weiterer Klärung zugeführt worden ist.
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der Generationenbildung und den sich daraus ergebenden Spannungsfeldern.23 Im Verhältnis zwischen den Generationen geht es somit vor allem um die Erfahrungen, die das Grundmuster von Interdependenz und Autonomie ausdrücken. Sie zeigen sich im Alltag darin, dass kleine Kinder sowohl die Geborgenheit bei den Eltern suchen als auch die Welt erkunden wollen. Sie treten in Phasen biographischer Übergänge, beispielsweise dem Auszug aus dem Elternhaus auf. Sie finden sich wieder in der Gestaltung von Pflege alter Familienangehöriger zwischen Pflicht bzw. Dankbarkeit und dem »Recht auf ein eigenes Leben«. Sie sind häufig im weiten Feld des Erbens; nicht von ungefähr ist das Recht hier überaus detailliert. Viele Regelungen erweisen sich bei näherem Betrachten als Versuche, mit einander entgegengesetzten Ansprüchen unter den Beteiligten und den damit einhergehenden Ambivalenzerfahrungen umzugehen (Plakans 2004). Um 2000 etablierte sich in der empirischen Generationenforschung der Rekurs auf Ambivalenz als eine Alternative zur damals vorherrschenden Orientierung am normativen Ideal von Solidarität.24 Seither sind zahlreiche Studien erschienen. Übersichten (beispielsweise Lüscher, Hoff, 2013) dokumentieren unter anderem die Mannigfaltigkeit von Generationenambivalenzen je nach Familienkonstellationen, unterschiedlichen religiösen und sexuellen Orientierungen, spezifischen Belastungen beispielsweise durch Tod und Migration. Bemerkenswert ist ferner die interkulturelle Rezeption des Konzepts, so auch in Asien angesichts der
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Gemäß L.L. Nash (1978. Concepts of existence, in: Daedalus 107, 1) liegt dem griechischen Wort »genos« das Verb »genesthai« zugrunde; es meint »to come into existence« oder ins Dasein gelangen und umschreibt das Überschreiten der – sich stets verschiebenden – Schwelle zum Leben. Durch die Geburt von Kindern wird eine neue Generation gebildet, die sich von jener der Eltern unterscheidet. Dies geschieht immer wieder von Neuem, doch der Sachverhalt als solcher bleibt derselbe. In der römischen Antike bedeutet der aus dem Griechischen übersetzte Begriff »generatio« Entstehung, Erzeugung, Zeugung. Dabei bringt das Erzeugende etwas hervor, das ihm der Form nach ähnlich, beim Menschen individuell, jedoch nicht gattungsmäßig verschieden ist. – Dem Begriff sind zwei grundlegende Ideen eigen, die sich auch in der Metaphorik niederschlagen, nämlich Hervorbringen und Herstellen sowie Kontinuität und Zyklizität, mit anderen Worten Schöpfertum und Mitgliedschaft. Diese Spannungsfelder verweisen auf Potenziale der Zwiespältigkeit, sind also ein Nährboden für die Erfahrungen von Ambivalenzen in Generationenbeziehungen (Lüscher, Liegle 2003, 36ff). Deutlich wird dies in einer Symposiums-Debatte des Journal of Marriage and the Family (2002). Ein zentrales Anliegen bestand darin, Ambivalenz als ein analytisches Konzept zu verstehen, das sowohl die Tatsache von Solidarität als auch von Konflikt in Generationenbeziehungen in Blick nimmt (Lüscher, Pillemer 1998). Allerdings konnotieren bis heute viele vor allem nordamerikanische Studien Ambivalenz negativ, also als belastend. Beispiel einer neueren analytischen Bestandsaufnahme ist der Sammelband von Albert et al. (2018). Er ist auch interessant, weil darin teilweise ein alternatives, semiotisch begründetes Verständnis von Ambivalenz präsentiert wird.
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Spannungen zwischen traditionellen und (post-)modernen Formen gelebter Familienbeziehungen. – Insgesamt akzentuiert in diesen Forschungen der Rekurs auf Ambivalenzen die Erkenntnis des besonderen Charakters der verwandtschaftlichen Generationenbeziehungen durch differenzierte Darstellungen ihrer Mannigfaltigkeit und ihrer strukturellen Eingebundenheit. Kritisch ist allerdings zu bemerken, dass demgegenüber theoretische Aspekte und namentlich der Zusammenhang mit der Konstitution von Identität(en) wenig thematisiert werden. Die Einsicht in die widersprüchliche Dynamik von Generationenbeziehungen lässt sich unschwer auf andere individuelle und kollektive Beziehungen des Lernens, der Erziehung und Sozialisation übertragen. Diese beinhaltet vor dem Hintergrund der Polarität Individuum vs. Gesellschaft komplexe, sich kumulierende Spannungsfelder wie Dependenz vs. Autonomie, Zuwendung vs. Ablehnung, Akzeptanz vs. Distanz, Reproduktion vs. Innovation (Lüscher 2016). Sie sind der Nährboden für verschiedene Arten von Ambivalenzerfahrungen. Im Felde beruflicher Sozialisation bietet dafür das Mentoring ein treffendes Beispiel (Oglensky 2008). Den Generationenbeziehungen in einigen Aspekten gleich oder jedenfalls ähnlich sind die professionellen Beziehungen. Sie waren, wie erwähnt, für Merton/Barber (1963) Anstoss, auf die sozio-strukturellen und normativen Bedingungen von Ambivalenzerfahrungen hinzuweisen. Eine enge Verwandtschaft besteht zu therapeutischen Beziehungen, wie z.B. die Beiträge in den Themenheften des »Forums für Psychoanalyse« (2011) und der Zeitschrift »Familiendynamik« (2014) dokumentieren.
Beispiel: Ambivalenzerfahrungen in der Literatur Generationsbeziehungen, allgemeiner: soziale Beziehungen unterschiedlicher Art sowie die damit einhergehende Artikulation und Genese persönlicher Identitäten werden überwiegend als eine Auseinandersetzung mit ambivalenzträchtigen sozialen Bedingungen und ihren Dynamiken analysiert. Plakativ formuliert: Die Ambivalenzen werden gewissermaßen als vorgegeben angenommen. Allerdings ist es durchaus möglich, die sozialen Bedingungen absichtlich so zu organisieren, dass sie Ambivalenzerfahrungen auslösen. Diese werden also geschaffen. Das kann in der Absicht geschehen, im Umgang mit Ambivalenzen Einfluss oder Macht auszuüben. Ausgangspunkt ist, dass Ambivalenzen Situationen der Unsicherheit und Offenheit schaffen. Wenn jemand über materielle oder soziale Mittel verfügt, die eine bestimmte Umgangsweise damit bestimmen, können Ambivalenzen instrumentell eingesetzt werden. Ein Beispiel ist die elterliche Autorität. Auch bestimmte Formen des Führungsverhaltens in Unternehmungen zeigen einen derartigen strategischen Umgang mit Ambivalenzerfahrungen. Analoges gilt in öffentlichen Räumen. Diese Sachverhalte verweisen auf Themen, die weiter zu erkunden sind.
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Das Kreieren und Präsentieren von Ambivalenzen kann an sich zum Thema werden. Das trifft auf viele Formen ästhetischen Schaffens zu, also des poetischen Schreibens, des bildnerischen Gestaltens und des Komponierens. Auf diese Weise sollen Offenheit und Reflexion angeregt werden. Ob und mit welchen Mitteln dies geschieht, akzentuiert die Eigentümlichkeit eines Werkes oder eines ganzen Œuvres, sozusagen seine »Identität«. Vieles spricht für die These, dass das Vorhandensein, die Dichte und Erscheinungsweisen von Ambivalenzen auslösenden Elementen konstitutiv für künstlerisches Gestalten sind. Ambivalenzerfahrungen sind darum ein dominantes Thema in den Feldern der Künste, der Literaturen und der Musik. Ihre Analyse ist folglich ein wichtiges Thema ihrer Interpretation. Dabei wird seitens derjenigen, die sich auf ein Werk einlassen, eine Disposition vorausgesetzt, die ich als Ambivalenzsensibilität bezeichnen möchte. Sie setzt eine mehr oder weniger bewusste, unter Umständen auch mit der Zeit erworbene Achtsamkeit für Ambivalenzerfahrungen bei der Leserschaft voraus. Sie kann auch in einer persönlichen Affinität für Ambivalenzerfahrungen gründen. Die Idee ist verwandt mit der These von Böschenstein, der unter Bezugnahme auf Musil postuliert: »Was der Autor durch den Romanhelden dargestellt hat, soll nach ihm auch der Leser durchmachen« (Böschenstein 1983, 186). Das zeigt sich in besonderer Weise im Phänomen des »writer’s writer«, also in der Vorliebe und Wertschätzung einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers für eine Autorin oder einen Autor. Das Konzept der Ambivalenzsensibilität verweist nämlich auch auf die Disposition für Ambivalenzerfahrungen bei den Kunstschaffenden selbst. Sie kann als in der Persönlichkeit angelegt verstanden, jedoch auch als Folge der Lebensumstände und der biographischen Entwicklung bedacht werden. Auf diese Weise eröffnet das Konzept Möglichkeiten, um sich – mit der gebotenen Behutsamkeit – den schwierigen Fragen anzunähern, die in den Literaturwissenschaften unter dem Begriff der »Autofiktion« behandelt werden und in deren Horizont das umstrittene Thema von »Leben und Werk« auftaucht. Dies geschieht in Verbindung mit der in der Generationenforschung wichtigen Analyse des Erlebens kritischer Lebensereignisse, so dem Tod der Eltern (Pietsch-Lindt 2020). Verwandt damit ist eine differenzierte praxisbezogene Studie von Wild (2019) über die Tragweite des Konzepts der Ambivalenzsensibilität in der Seelsorge sowie von Müller (2009) ganz allgemein im Feld der theologischen Praxeologie. Beide Studien verweisen ihrerseits auf das heuristische Potential, das darin liegt, den Begriff in verschiedenen Lebensfeldern zu verwenden. Das Konzept der Ambivalenzsensibilität ist unter methodischen Gesichtspunkten doppelt interessant: Es zeigt, wie sich die Perspektive auf Ambivalenzerfahrungen ausdifferenzieren lässt. Und es weist darauf hin, dass »Ambivalenz« sich als ein »Brückenkonzept« zwischen Disziplinen anbietet. Ein Beispiel für diese transdisziplinäre kulturwissenschaftliche Orientierung ist das Projekt »Robert Walsers Ambivalenzen«, dessen Erträge ein Sammelband dokumentiert (Lüscher et al. 2018). Dem Projekt lag die Absicht zugrunde, die Ei-
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genheit des Werks dieses Schriftstellers unter Bezugnahme auf die darin offenen und verdeckten Ambivalenzen zu umschreiben. Diese lassen sich u.a. in seinen Wortschöpfungen, im Duktus seiner Sätze, den abrupten Übergängen zwischen Motiven, der Charakterisierung der Personen und insbesondere auch in seinem Spiel mit Autofiktionen orten, ferner in seiner Charakterisierung als »writer’s writer«, indem sich solche Schreibende besonders angesprochen fühlen, die ebenfalls ambivalenzsensibel sind. Damit verwandt ist der Umstand, dass es viele Vertonungen seiner Werke gibt. Bemerkenswert ist im Weiteren Walsers spätere Zuwendung zu einer eigenen, primär nur von ihm lesbaren Schriftlichkeit, den sogenannten Mikrogrammen und schließlich sein Verstummen. Könnte es sein, dass die ihn charakterisierende »Ambivalenzsensibilität«, die seine schriftstellerische Kreativität befruchtete, ihm im Laufe der Jahre durch sein psychisches Erleben und möglicherweise auch die äußeren Umstände abhandenkam? –Verallgemeinernd bietet sich als ein durchgängiges Motto für diese Perspektive der Satz des französischen Musikwissenschaftlers Ferraty (2009, 267)25 im Epilog einer Studie über Francis Poulenc an: »A chaque ego correspond son dosage spécifique d’ambivalence.«
Ausblick Die Trias »Ambivalenzen – Beziehungen – Identitäten » verweist auf eine der möglichen Perspektiven, um die Tragweite des Konzepts der Ambivalenz zu erkunden. Unter Bezugnahme auf zeitgenössische Theorieentwicklungen in der Soziologie thematisiert beispielsweise der Soziologe und Psychoanalytiker Smelser (1998) in seiner seinerzeitigen »presidential address« das Verhältnis von »The rational and the ambivalent in the social sciences«. Auch er geht von einer Analyse der sozialen Logik sozialer Beziehungen aus und argumentiert dann, dass es um unterschiedliche Dimensionen des Verständnisses der menschlichen Existenz und ihrer sozialen Einbettung geht. Daraus kann man schließen, dass die implizite Botschaft von Smelsers Artikel lautet, das eigentlich grundlegende Charakteristikum menschlicher Existenz sei ihre Widersprüchlichkeit in dem Sinne, wie das Konzept der Ambivalenz sie beinhaltet. Damit werden unter Bezugnahme auf die Rezeption in
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Ferratys Arbeit ist das Beispiel einer musikwissenschaftlichen Studie, in der differenziert mit dem Konzept der Ambivalenz gearbeitet wird. Vergleichbare Studien stammen von Hoffmann-Axthelm (1994) und Stenger (1998). – Die Erörterung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Gebrauchs des Begriffs der Ambivalenz und der Analyse von Ambivalenzerfahrungen in diesem Feld des ästhetischen Arbeitens, ebenso der Kunst, des Films, des Tanzes sowie der Architektur würde den Rahmen dieser Skizze sprengen. Kommt hinzu, dass im »cross-over« zeitgenössischen Schaffens auch völlig neue Ambivalenzerfahrungen provoziert werden.
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unterschiedlichen Disziplinen wiederum dessen allgemeine menschen- und gesellschaftsbildliche Implikationen hervorgehoben. Diese makrosozialen Dimensionen sind ein Thema allgemeiner gesellschaftswissenschaftlicher Analysen. Ein bekanntes Beispiel sind die Arbeiten von Bauman, namentlich zu »Moderne und Ambivalenz« (1996). Kritisch ist allerdings anzumerken, dass darin mit einem überwiegend umgangssprachlichen Verständnis von Ambivalenz gearbeitet wird, dementsprechend Ambivalenz substantivisch und nicht als Erfahrungskategorie verstanden wird. Das gilt auch für eine Reihe weiterer soziologischer Analysen über die »Parodoxien der Moderne«, die Junge (2000) unter dem Titel »Ambivalente Gesellschaftlichkeit« differenziert interpretiert. Begriffsgeschichtlich rekurriert er auf Georg Simmel, der indessen den Begriff als solchen nicht verwendete, also anscheinend nicht kannte, wohl aber die damit gemeinten Sachverhalte untersuchte. Das bestätigen auch die Studien im Sammelband von Luthe/Wiedenman (1997), die Ambivalenz unter dem Gesichtspunkt »einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten« analysieren. In dieser Sichtweise ist Ambivalenz – ausgesprochen und oft auch unausgesprochen – ein Thema im schwierigen Terrain zeitdiagnostischer Analysen. Prägnant arbeitet beispielsweise Lütjen (2020) am Beispiel der USA die Tendenzen hin zu einer gesellschaftspolitischen Polarisierung heraus, deren Kennzeichen gerade darin besteht, die menschliche Fähigkeit zu unterdrücken, Ambivalenzen zu erfahren, zur Sprache zu bringen und zum Anlass gesellschaftlichen Handeln zu machen sowie Identitätspolitik ideologisch zu verkürzen. Die hier präsentierte Perspektive lässt sich in knapper Form, gewissermaßen als heuristische Definition, wie folgt zusammenfassen: Das Konzept der Ambivalenz eignet sich in kultur- und sozialwissenschaftlicher Sicht zum Verständnis und zur Analyse von Erfahrungen des Vaszillierens zwischen polaren Differenzen des Fühlens, Denkens, Wollens und sozialer Strukturen, deren pragmatische Tragweite sich in der Akzentuierung der Beziehungen der Menschen untereinander, zu kulturellen Objekten und somit zu den Vorstellungen individueller und kollektiver Identität zeigt. – Sie ist pragmatisch im Sinne eines wissenschaftlichen Arbeitens in Perspektiven mittlerer Reichweite, weil der Bezug zum praktischen Handeln mit bedacht wird, insbesondere in den so genannten Professionen. Sie ist heuristisch, weil sie je nach Erkenntnisinteresse zu differenzierenden Analysen anregt. Dementsprechend lädt sie zum Vergleich mit anderen Verständnissen des Konzepts der Ambivalenz ein und legt so den Schluss nahe, dass dessen Potenziale noch nicht ausgeschöpft sind. Dies gilt insbesondere für die Verknüpfung zwischen mikro- und makrosozialen Lebensbereichen, den Transfer der empirischen und theoretischen Einsichten aus verschiedenen disziplinären Feldern, das Verhältnis von Theorie und Praxis sowie die systematisierende Bezugnahme auf Wissenschaftswissen und Alltagswissen.
Ambivalenzen – Beziehungen – Identitäten
Ich danke Andreas Berz, Hans Rudi Fischer, Fredi Lerch, Ursula Pietsch-Lindt und Thomas Wild für kritische Kommentare.
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Bewertungen
Eins zu Zwei… zu Viel Grenzziehung als fatale Strategie zur Überwindung von Ambiguität im westlichen Denken Cornelia Klinger
Die Ambiguität von ambi- in Siebenmeilenstiefeln Für das lateinische Präfix ambi- bieten die Wörterbücher zwei Übersetzungen: • •
von/zu beiden Seiten um herum/ringsum.
(1) Also steckt im Wort Ambiguität selbst eine solche, nämlich die zwischen der finiten Zweideutigkeit und Mehr- oder Vieldeutigkeit im in(de)finiten Drumherum. (2) Verschieden sind auch die Verbindungen, die das Präfix zu anderen Worten oder Wortpartikeln eingehen kann: • •
Aus lat. ambiguitas/ambiguus leiten europäische Sprachen die ihrer Verschiedenheit entsprechenden Varianten ab.1 Alternativ dazu entsteht aus ambi- in Kombination mit lat. valere auch Ambivalenz/ambivalent.2
(3) Wenn es sinnvoll ist, zwischen Ambiguität und Ambivalenz einen Bedeutungsunterschied zu machen, dann zeigt sich die nächste Gestalt von ambi-. Zweiund/oder Mehrdeutigkeit kann
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Für die in der deutschen Sprache weniger gebräuchliche Ambiguität schnellt die Wortverlaufskurve nach 1975 in die Höhe: »Ambiguität«, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, (https://www.dwds.de/wb/Ambiguität, Zugriff: 23.02.2020). Die Verlaufskurve für das Adjektiv/Adverb ambig steigt erst seit den 2000er Jahren ähnlich steil nach oben (https://www.dwds.de/wb/ambig, Zugriff: 23.02.2020). Auch diese Wortbildung ist verschiedenen Sprachen gemeinsam und ihre Fieberkurve steigt neuerdings ebenfalls.
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• •
entweder ›in den Sachen selbst‹ liegen, in Phänomenen, Vorgängen und Sachverhalten, also ›objektiv‹ gegeben sein3 oder aus ihrer Wahrnehmung, Auffassung, Anschauung und Bewertung durch menschliche Subjekte resultieren.
Mit den Valenzen und Validierungen ist die Dimension der Verschiedenheit von Gesichtspunkten und Perspektiven in den ›Köpfen‹ erreicht. In der Nähe des Kopfes zu den Gefühlen des Herzens und den Befindlichkeiten des Bauches verschiebt sich das Gewicht noch weiter von der dinglich-sachlich, ›objektiv‹ gegebenen Ambiguität und der Ambivalenz der ›subjektiven‹ Ansichten zu den viel vielschichtigeren, notorisch gemischten Gefühlen, die sowohl in einem einzelnen als auch zwischen Menschen nicht nur irgendwann entstehen und wieder vergehen, sondern ständig wechseln, variieren, changieren, oszillieren. (4) Eine Zwei- und/oder Vieldeutigkeit ist nicht nur im verbalen Präfix enthalten, sondern spiegelt sich im bis zu diesem Punkt bereits öfter dafür verwendeten Zeichen/4 : Dieser optische Teiler kann • •
entweder Kontinuität/Kontiguität ausdrücken, ähnlich wie ein Komma (z.B. Wintersemester 2020/21) Oder eine Differenz: Entweder/Oder
(5) Die zweite Option, entweder/oder ist in sich abermals ambi-: • •
Entweder wird eine Alternative zur Wahl angeboten (z.B. Apfel oder Birne oder eine Banane noch dazu oder stattdessen oder, oder usw.) Oder: es wird eine – bei ausgeschlossenem Dritten – finite/definitive Entscheidung zwischen zweien gefordert; dann droht ein (gewaltsamer) Bruch: Friss Vogel (›ganz wurscht‹ ob Apfel/Birne) oder Stirb!5
(6) Obwohl dem Präfix ambi- die Zwei- oder Mehrzahl inhärent ist, werden die beiden neuerdings häufiger verwendeten Termini Ambiguität und Ambivalenz in den 3
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Das gilt für Naturerscheinungen (z.B. Veränderungen in den Jahres- und Lebenszeiten) und Naturgewalten (wie Feuer, Wasser), es gilt für die natürlichen oder artifiziellen Pharmaka (Heilmittel und/oder Gift) ebenso wie für das von Menschen gemachte und gebrauchte Zeug; die Ambiguität zwischen Werkzeug und Waffe (z.B. Messer zum Schneiden von Brot oder zum Töten). In seiner Einführung zur Jenaer Tagung hat der Mitveranstalter Michael Lüthy auf die Zweideutigkeit des Zeichens »/« aufmerksam gemacht Damit tritt hier das wichtigste ambi- zwischen Zwei- und Mehrpoligkeit wieder in Erscheinung als tertium datur (A, B, C, D …) und tertium non datur (A:Non-A).
Eins zu Zwei… zu Viel
Plural gesetzt. Mit dem ambi- zwischen Singular und Plural folgt der Wortgebrauch einem Trend, der seit einiger Zeit so gut wie alle Haupt- und Staats-Wörter des modernen Vokabulars erfasst hat6 : Mit dem Ziel, den Universalitäts-, das heißt Dominanzanspruch des westlichen Denkens hinter sich zu lassen, werden Begriffe pluralisiert – angefangen bei ›Moderne‹ selbst, über ›Geschichte‹, ›Fortschritt‹ und ›Zukunft‹ bis hin zu den ideologischen -Ismen-Bildungen.7 An die Stelle von Ideologiekritik tritt Sprachpolitik. Während der Sinn nicht weniger Konzepte durch die Überführung in den Plural entstellt wird,8 ist das bei den Pluralbildungen zu ambi- nicht der Fall. Hier ist die Verwendung des Plurals tautologisch, denn mehr als mehrdeutig, ambivalenter als ambivalent geht nicht – oder doch?9 (7) Schließlich ist da noch ein (vorläufig) letztes Apropos für ambi-: Einige der kurrenten Gegenwartsdiagnosen sind sich un-eins, konkret heißt das, sie streiten darüber, ob im weiteren Fortgang des Modernisierungsprozesses »das Ende der Eindeu-
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In Mode gekommen ist die Tendenz zur Pluralisierung in den inzwischen vergangenen Zeiten der Dekonstruktion. Der grammatikalische Plural fungiert als »salvatorische Formel des postmodernism« (Gudrun-Axeli Knapp in einer mündlichen Mitteilung, für deren Verwendung an dieser Stelle ich der Autorin danke), um der Anerkennung von Differenz/en und Vielfalt Ausdruck zu verleihen und so vielleicht endlich den demokratischen Grundwert des Pluralismus (Singular!) zu realisieren. Während die alteingesessenen politischen Ismenbildungen (Konservatismus, Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus) einigermaßen resistent gegen die Pluralitis zu sein scheinen, hat es den für Ausfransungen allemal anfälligen Feminismus besonders heftig erwischt. Es mag der Sache evtl. dienlich sein, Frauenbewegungen nach Klassen (bürgerlich, proletarisch), nach Ethnien (black, white) oder Nationen zu dividieren. Aber wohin führt es, wenn Brazilian Feminism zu Brazilian Feminisms pluralisiert wird? Wenn am Ende jeder einzelnen Frau ihr eigener Feminismus an- und zuerkannt wird, ist das Traumziel des Neoliberalismus jedenfalls erreicht. »Zukunft, auch wenn sich die deutsche Sprache dem widersetzt, müsste im Plural verwendet werden« (Nowotny 2005, 131). Während sich die deutsche Sprache immer weniger widersetzen kann (Vgl. Seefried 2017; Vgl. https://www.zukuenfte-nachhaltigkeit.uni-hamburg.de/ , Zugriff: 23.4.2020) wird der Sinneswandel des Wortes in der englischen Sprache deutlich: Bei futures handelt es sich um eine inzwischen auch im Deutschen geläufige Bezeichnung für Termingeschäfte. Für ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das alles der Logik des Zählens und Zahlens unterwirft, ist das eventuell angemessen. Dagegen hat Theodor W. Adorno dem Thema eine pessimistische Reflexion über das beschädigte Leben gewidmet. Das Bewusstsein »hat die Kraft verloren, das Unbedingte zu denken und das Bedingte zu ertragen. […] Geist dissoziiert sich in Geister und büßt darüber die Fähigkeit ein zu erkennen, daß es jene nicht gibt« (Adorno [1950] 1980, 271). Unbeschadet dessen, dass die Theorie-turns sich weitergedreht haben und die bunte multikulti-Mode längst zum ›alten Hut‹ erklärt wurde, läuft die Dynamik in den derzeit beliebten dot.Null-Nummern endlos weiter.
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tigkeit« drohe (Bauman [1991] 2005) oder ob vielmehr umgekehrt eine Tendenz zur »Vereindeutigung der Welt« zu beobachten sei (Bauer 2018).
Von ambi- zu EIN- (Mono-) versus Un- (Non-) in der »Struktur der Ablehnung« Wenn Ambiguität/Ambivalenz mit Un-Eindeutigkeit übersetzt wird, dann wird es ernst. Denn nun geht es nicht mehr nur um Zwei- und Mehrpoligkeit/-wertigkeit, Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwänge nebst allerlei Spielereien drumherum, sondern es tut sich eine andere Art von Zwie-Spalt auf, kein ambi- sondern ironischerweise eher im Gegenteil ein äqui-, ein Gleichklang bei Bedeutungsverschiedenheit, also nicht minder verwirrend als ambi-. Eine Äquivokation zeigt sich zwischen •
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dem griechischen μονο- beziehungsweise dem lateinischen un-us, un-a, un-um mitsamt dem Substantiv unitas, dem Verb unire sowie fast in ›Personalunion‹ mit der ersten Zahl 110 , wie das die romanischen Sprachen prägt, und dem Un- der Abweisung, der Negation, der Nichtung des/der Anderen, das in den harten Sprachen in den kalten Ländern nördlich der Alpen als no-go für das non- steht.
Ob die Äquivokation zwischen dem einen Un*-, das zählt11 , und dem anderen Un-, mit dem ausgezählt wird, eine tiefe etymologische Wurzel hat oder nicht?12 Jedenfalls ist sie signifikant, denn genau dazwischen sitzt die »Struktur der Ablehnung«, die Michel Foucault so beschreibt: »Die Wahrnehmung, die der abendländische Mensch von seiner Zeit und seinem Raum hat, läßt eine Struktur der Ablehnung erscheinen, von der aus man eine 10
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Es ist doch wie verhext! Zwischen dem Unus, das als Bezeichnung des personalen Subjekts auftreten kann und der abstrakten Zahl 1 zeigt sich noch ein ambi- und zwar eines mit so weitreichenden Folgen, dass ihre Erörterung den hier gesteckten Rahmen übersteigt. Zur leichteren Unterscheidung und um die Teilung in die drei Genera abzukürzen, versehe ich das unus, una, unum mit einem *Asteriks*. Meine sprachgeschichtlichen Kenntnisse reichen nicht aus, um diese Frage beantworten zu können. Auch muss ich die Suche nach einer Antwort der Frage auf später verschieben, ob die Äquivokation zwischen UN- als Nicht(ung) und Unum = 1 evtl. bereits auf den Ersatz des Dualismus von EINS und ZWEI durch Null und Eins vorausdeutet, der seit der Einführung der Null an Bedeutung gewinnt. Vieles deutet darauf hin, dass die alte Machtstellung von Mono- und Duo- in der westlichen Moderne dadurch abgelöst wird – mit weitreichenden Folgen vom europäischen Nihilismus bis zur Digitalisierung (vgl. Rotman 2000) und zur Entfesselung von big data.
Eins zu Zwei… zu Viel
Rede denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Sprache, eine Geste denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Tat, und eine Gestalt denunziert, indem man sagt, sie habe kein Recht, in der Geschichte Platz zu nehmen. Diese Struktur ist konstitutiv für das, was Sinn und Nicht-Sinn ist, oder vielmehr für jene Reziprozität, durch die sie miteinander verbunden sind« (Foucault 1969, 12). Für Foucault liegt diese Struktur seiner zentralen These zum Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft zugrunde: »Diese Struktur allein kann über jene allgemeine Tatsache berichten, daß es in unserer Kultur keine Vernunft ohne Wahnsinn geben kann« (ebd.). Die Bedeutung dieser Denkregel und Sprachfigur geht weit über die Reziprozität von Vernunft und Wahnsinn hinaus. Allen Verhältnissen, die nach dem Muster Eins zu Zwei zu Viel gebaut sind, liegt sie zugrunde und hinter der Struktur steht eine Strategie – sie ist ein Politikum. Aber erst mal langsam, Schritt für Schritt: Die eine Seite ist μονο-logisch, aber auf der anderen Seite gibt es Vieles (πολύ, πολλοί, poly-multi-). Also wimmelt es nur so von Möglichkeiten, A-versionen zum Ausdruck zu bringen. Neben Un- als non-/no-/nicht treten verschiedene Formen mit ähnlicher Bedeutung in Erscheinung: • • • • • • • • • • • •
AAbAusDeDis/DysEntImInIrMissOhnUnter-13
Die »Struktur der Ablehnung« betrifft das UN-sichtbare, NON-verbale, Aphone, AB-wesende, AUS-ländische, DE-gradierte, DIS-harmonische und DYSfunktionale, das ENT-wertete, IM-plizite und IN-akzeptable, das IR-rationale und
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Mit dieser Auflistung erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In der Liste fehlt beispielsweise die partiell äquivalente Suffixbildung -los/-less (mutlos, sprachlos, sinnlos, powerless, useless usw.). Zwar habe ich es nicht überprüft, aber mir scheint die deutsche Sprache besonders geeignet und geneigt, solche Ablehnungen ohne Ende zu generieren: von Unart über Unrasse bis Unzucht.
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Irr(ig)e, alles MISS-liche, schlussendlich: die OHN-macht der UNTER-legenen sowie alles andere UNTER-schlagene… Die Struktur der Ablehnung ist keineswegs auf die bloße Feststellung der ABwesenheit der positiven Zustände des Sehens, Sprechens, Hörens, des eindeutig Rechten und Richtigen, der Vernunft und der Harmonie des Ganzen beschränkt. Der AB-lehnung ist ein aktives Moment des Entgegen-tretens und Entgegen-setzens, von Konfrontation und Aggression inhärent. Das Spektrum dieser Möglichkeiten reicht vom stillschweigenden Ignorieren14 , über die stumme, wegwerfende Geste des AB-weisens, die Sprechakte des AB-streitens, Verhehlens, Verleugnens und des AB-sprechens von der ENT-nennung bis hin zur DE-nunziation. Der problematischste Punkt in der »Struktur der Ablehnung« liegt da, wo nicht nur Unzufriedenheit, schieres Un-Glück angesichts un-angenehmer Phänomene, un-behaglicher Zustände, kurzum des Un-genügens in Anbetracht des Mangels von irgendetwas artikuliert wird, sondern wenn Menschen Menschen die Negation anhängen. Jene »Gestalt« von der »man sagt, sie habe kein Recht, in der Geschichte Platz zu nehmen« (Foucault 1969, 12), das sind die vielen Gestalten von Anderen, denen nicht irgend ein »man« (je-mand), sondern der Eine beziehungsweise ein paar Wenige, die sich im Recht sehen, die sich ins rechte Licht rücken und sich selbst für Mon-archen, Aristo-kraten halten, anderen das Mitspracherecht verweigern und das Daseinsrecht bestreiten. Die Struktur der Ablehnung basiert auf der EIN-Setzung des Monopolisten, der Oligarchen. Sie sind es, die die Ablehnung bestimmen/definieren und formulieren. Der/die de-nigrierte/n, angeschwärzte/n Andere/n werden nicht nur abgewertet und zurückgesetzt, sondern mit Negativität identifiziert; das Un- wird personifiziert: der Unmensch, der Unhold, das Unding, das Untier, das Ungetüm, das Ungeheuer15 , »Non-EU-Citizens, Non-Whites – Unter-Menschen, under-dogs, alles no nice!16 14
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Ignorieren bzw. Ignoranz könnte evtl. das mächtigste Werkzeug sein im Baukasten der Ablehnungen. Erst in den letzten Jahren findet diese Figur systematische Aufmerksamkeit im Feld der Agnatology oder in den noch breiter angelegten Ignorance Studies, die es inzwischen auf Handbuchformat gebracht haben (Gross/McGoey 2015). Manche dieser Un-bildungen, haben im Lauf der Zeit offenbar den positiven Term, von dem sie abgeleitet sind, beinahe verloren. Das gilt für das »Ungetüm« ähnlich wie für das »Ungeziefer« oder den »Unfug« (anders höchstens noch in der Wendung: »mit Fug und Recht«; in der Verbform fügen und verfügen/Verfügung ist -fug noch gebräuchlich). Wenn der Ausgangspunkt ein negativer Begriff ist, ist die Verneinung selbstverständlich positiv besetzt (z.B. Schuld – Unschuld; Krampf – Entkrampfung; das Ohn-Sorgtheater). In einem zuerst 1975 veröffentlichten Aufsatz spricht Reinhart Koselleck von »asymmetrischen Gegenbegriffen« (so auch Koselleck 1984, 211-259). Solche a-symmetrischen Gegenbegriffe, sind darauf angelegt, »eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen. Aus dem Begriff seiner selbst folgt eine Fremdbestimmung, die für den Fremdbestimmten sprachlich einer Privation, faktisch einem Raub gleichkommen kann« (Koselleck 1984, 213). »Der Nichtarier ist nur die Negation der eigenen Position und sonst nichts« (Koselleck 1984, 257). In sei-
Eins zu Zwei… zu Viel
Dabei könnte es sein, dass das ringsum herumlungernde unzählig viele fremde Andere nur das alter ego ist, der eigene Doppelgänger: »le même qui n’est pas l’identique« (Derrida 1972, 18), also im Zweifelsfall nur der Schatten, den ›man‹ selbst wirft … le je qui n’est pas moi mais un autre17 . Das ist vermutlich jenes arme Ich, das entdecken muss, im eigenen Haus nicht Herr zu sein, das im dunklen Un-Bewussten herumtappt … bis der Doktor kommt (Freud 1917, 1-7) – der kann allerdings auch nicht mehr helfen kann, wenn es am Ende des Spiels heißt: »Jedermann!« Genau das ist der springende Punkt: Hinter der Struktur der Ablehnung taucht das Gespenst der Angst auf. Jeder Mangel an Präsenz im Licht hier und jetzt, jedes schattige, verschattete Mehr-als-Ein(s) im Zwielicht steht unter dem negativen Vorzeichen des ominösen Un- im Pluraletantum! Zweifellos gibt es ›da draußen‹ in der Wirklichkeit ganz Viel/es, multi- und poly- ohne Ende. Aber zum Un- werden die Vielen in den Sprechakten und Strafaktionen des Einen aufgerufen und abgeurteilt. Das Mono-Un* pfeift laut ›Un‹-, weil es sich im dunklen Wald des Daseins vorm eigenen Nicht-Sein fürchtet. Dieselbe – fatale – Strategie, die zur Ordnung des (Da-)Seins dient, bestimmt die Ordnung des Denkens. Während die einfache Namensgebung »a rose is a rose is a rose« (Gertrude Stein) – wie Gott18 – bei der einen schönen Rose bleibend, endlos, tauto-logisch im Kreis geht, soll sich das, was (etwas) ist, nur durch den Gegensatz bestimmen lassen zu dem, was (es) nicht ist. Die alte Regel der Logik lautet omnis determinatio est negatio – oder weniger lateinisch mit Niklas Luhmann: »die allgemeine Form […] ist ›dies und nicht das‹« (Luhmann 1987, 168). Diese Definition des De-finierens, des De-terminierens korrespondiert Foucaults »Struktur der Ablehnung«. Jeder Versuch der Bestimmung bedeutet un-weigerlich eine Negation, ein Nicht/Nein – und diese Art von Bestimmung fordert sogleich die Bestimmtheit des Befehlens heraus: Finger weg! Wehe! Sogar im Reich der künstlerischen Fantasie und der ästhetischen Darstellung soll dieses strenge Realitätsprinzip gelten und Gehorsam, nicht zuletzt Selbstdisziplin verlangen. Damit »dir das Dasein eines Baums gelinge«, erklärt der Dichter und Zeichner Rainer Maria Rilke einem »du«, bedarf es der »Verhaltung«19 , denn der Baum »grenzt sich nicht. Erst in der Eingestaltung
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nen Begriffsgeschichten von 2006 spricht Koselleck Klartext und nennt die a-symmetrischen Gegenbegriffe »Feindbegriffe« (Koselleck 2006, 274-284); vgl. Catani, Waldow 2020). »Ich ist ein anderer« (Rimbaud 1964a; Rimbaud 1964b). »Es ist falsch, zu sagen: Ich denke. Es müsste heißen: Man denkt mich.« (Rimbaud 1964a). 2. Mose 3,14 mit der Verkündigung eines Omni-Präsenz- und All-Machtsanspruchs im Gegensatz zur verblühenden Rose. Nach Freud ist Triebaufschub »eine Leistung des Ich«, wie auch noch die gängigen Wörterbücher der Wirtschaft verkünden (vgl. www.wirtschaftslexikon.co/d/triebaufschub/triebaufschub.htm, Zugriff: 23.4.2020).
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in dein Verzichten wird er wirklich Baum«.20 Erst vom Innenraum, der Innerlichkeit des Ich als Subjekt wird der Außenraum als Objekt-Natur beherrschbar; das bedeutet: Askese statt Synthese. Die Aussicht auf das »Gelingen« des Objekts durch »Verhaltung« des Selbst verbindet Rilke mit der un-vermeidlichen Warnung vor der tödlichen Gefahr durch Ent-grenzung: »Im Freien, dorten, bist du dir verweigert und schwindest weiter ohne Wiederkehr«. Hinter der als Warnsignal erhobenen Struktur der Ablehnung lauert auch hier Angst – vorm Verschwinden. So weit, so gut … oder eigentlich nicht ganz gut … sondern wohl oder übel im ambi- zwischen Wohl und Wehe! Mit Ein(s) vs. Un-Ein(s) stellt sich die HamletFrage nach Sein oder Nicht-Sein in ›faulen‹ Staatsgebilden. Und in der Ordnung des Denkens wird hoch gepokert um Alles oder Nichts, auf Leben und Tod. Aus so ambigen Verhältnissen gibt es offenbar nur einen Ausweg: Was nicht ist, muss werden: • •
Vereinigung – e pluribis unum21 als Ziel von Gemeinschaft und Gesellschaft: Einigkeit (und Recht und Freiheit 22 ) am besten als Weltorganisation (Un* als UNO), Vereindeutigung/Eindeutigkeit: Wahrheit als Ziel des alten Glaubens (in der una, sancta, catholica et apostolica ecclesia) und Gewissheit im Sinne des ganz anders gearteten (oder doch nicht so ganz) aufklärenden, erhellenden modernen Erkennens (mit Descartes, clara et distincta perceptio).
Kurzum: Vereinheitlichung zu Einheit und Ganzheit, das gleiche Ziel auf zwei Feldern, dem des Handelns und dem des Wissens, plus last but not least der SelbstVergewisserung, das heißt Dominanz im eigenen Domizil: Identität mit sich und Gewissheit im Bekenntnis, hier zu stehen und nicht anders zu können – so wie TINA23 . Im Unterschied zu den oben erwähnten Gegenwartsdiagnosen, die darüber uneins sind beziehungsweise im Un-klaren lassen, ob im Modernisierungsprozess »das Ende der Eindeutigkeit« (s.o. Bauman [1991] 2005) drohe oder vielmehr eine Tendenz zur »Vereindeutigung der Welt« (s.o. Bauer 2018) zu beobachten sei, 20
Durch den sich Vögel werfen, ist nicht der vertraute Raum, der die Gestalt dir steigert. (Im Freien, dorten, bist du dir verweigert und schwindest weiter ohne Wiederkehr.) Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge: daß dir das Dasein eines Baums gelinge, wirf Innenraum um ihn, aus jenem Raum, der in dir west. Umgib ihn mit Verhaltung. Er grenzt sich nicht. Erst in der Eingestaltung in dein Verzichten wird er wirklich Baum. Rilke, Rainer Maria. Durch den sich Vögel werfen, in: Letzte Gedichte und Fragmentarisches (1910-1926), (https://www.textl og.de/22427.html, Zugriff 23.4.2020).
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von Augustinus von Hippo bis zum US-Siegel und der US-Dollarnote. Als heilige Dreieinigkeit in genau dieser Reihenfolge! Vgl. das sogenannte »TINA-Prinzip«.
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scheint mir der Drang zum Un* der Nr. 1 und die Ablehnung des Un- kein Novum, sondern so alt zu sein wie die Welt; genauer gesagt, ist es das Signum archaischen Denkens und Handelns. In den hier zeitlich und räumlich eng gesetzten Grenzen ist es nicht möglich, in die Tiefe alter Zeiten hinabzusteigen, um diese These genauer zu ergründen.
Das ambi- des Daseins: Bedingtheit + Beliebigkeit = Kontingenz Stattdessen versuche ich – wenigstens kursorisch – zu erläutern, woher die Ängste rühren und warum Eindeutigkeit im Erkennen beziehungsweise Einigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen ein so hohes Gut und hehres Ziel sein sollen. Es ist evident, dass etwas begehrt, angestrebt, nachgefragt wird, eben weil es nicht gegeben, nicht vorhanden ist. Die fixe Idee von Einheit und Ganzheit kommt keineswegs aus dem Nichts, aber sehr wohl aus ihrem eigenen nicht. Das Dasein im Allgemeinen, die nackte menschliche Existenz im Besonderen sind ganz und gar nicht eins und ganz, sondern prekär und volatil, dürftig und bedürftig, in sich fragil und durch alles andere vulnerabel, sterblich von selbst und ›von fremder Hand‹ – das heißt: kontingent. Kontingenz24 bedeutet Bedingtheit und Beliebigkeit zugleich: •
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Bedingtheit in Raum und Zeit meint, dass alles, was ist, einen Anfang nimmt, zu-fällig ent-steht, für eine begrenzte Zeit im Raum steht und am Ende hinfällt, ›durch den Rost fällt‹, verschwindet ohne Wiederkehr. Was hier und jetzt ist, war nicht immer und wird nicht immer sein – oder einfacher: Dasein kann sein oder nicht sein25 – es ist ein begrenztes Terrain. Beliebigkeit heißt dagegen, dass alles, was innerhalb dieser Grenzen, auf der mehr oder weniger langen/kurzen Strecke zwischen Anfang und Ende vorübergehend statt-hat, eine gastliche/ungastliche Stätte im Raum findet: beweglich ist und zwar sowohl in sich als Einzel-/Besonderheit (Singularität/Partikularität) ›vor Ort‹, als auch zwischen vielen (Pluralität) (n)irgendwo da draußen, vielleicht weit weg: Was hier/da ist, ist nicht dort/fort (und vice versa).26 In den
Tatsächlich gibt es kaum einen Begriff, der eine größere Fülle von Bedeutungen aufweist als Kontingenz. Ausgangspunkt meines Definitionsversuchs ist der alteingesessene Wortgebrauch der Philosophie (siehe die nachfolgende Fußnote). »Contingens est, quod potest esse et non esse« (von Aquin, 86, 3 c). In der Gegenwart unterliegt diese Unterscheidung, infolge der immensen Erweiterung virtueller und materieller Kommunikationsmöglichkeiten, einem tiefgreifenden Wandel und eben hierin dürfte eine, wenn nicht überhaupt die Ursache für den Eindruck der rasanten Zunahme von ambi- in den letzten Jahrzehnten zu suchen sein.
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Differenzen zwischen ›da‹ und ›fort‹ (Mama!27 ), zwischen dem in sich fragmentierten, vielfältigen Einen und den vielen, fraktionierten Anderen liegt doppeltes Un-Heil: das un-heimliche Un-Eins-Sein mit sich selbst allein daheim und das Elend des Fremdseins, das Aus-Ländische28 – gleich mal wieder doppelt: o entweder in Hinblick auf das eigene Fremdsein in der Emigration, im Exil29 o oder in Hinblick auf die aus der Fremde hierher ›zu uns‹ kommenden, immigrierenden Anderen, die uns vielleicht eines Tages ›übervölkern‹, also ›unterbuttern‹.
Dasein kann hier oder anderswo, so oder andersartig sein – und also ist das eng begrenzte Terrain der Endlichkeit ein weites Spielfeld, eine harte Kampfzone zwischen vielen Verschiedenen. Die spezifische Problematik von Kontingenz in den (immer noch engen) Grenzen von Anfänglichkeit und Endlichkeit, zwischen Zufälligkeit und Hinfälligkeit liegt einerseits darin, dass Bedingtheit – aufgrund der Korrelation mit Beliebigkeit – nicht zu fester Bestimmung gelangt, während andererseits (die zunehmende) Beliebigkeit – in der Verbindung mit Bedingtheit – Freiheit verfehlt. Die Wirklichkeit des Daseins erreicht weder vollkommene, grenzenlose Freiheit noch die vollkommene, komplette Notwendigkeit des Seins. Wirklichkeit enthält einerseits definitiv beschränkte und andererseits unendlich viele, offene Möglichkeiten. Aufgrund der gleichen Freiheit vieler verschiedener Menschen sowie infolge des jeweils eigenen Schwankens zwischen gemischten Zuständen und Bestrebungen sind sie: umstritten in einem permanenten bellum omnium contra omnes. Es ist mir wichtig zu betonen, dass die Bedingungen von Kontingenz für beide Seiten gelten. Jedwed* Einzeln* ist nicht Un*, Nr. 1, Mono-. Er/sie/es ist keine Sekunde lang mit sich identisch im Wandel der Lebenszeit: »pas tout«30 und währenddessen nur ein* unter vielen. Aus demselben Grund kann die Menge kein Ganzes TOTO/Totalität sein, das mehr wäre als die Summe seiner Teile. Unter den Bedingungen von Zeit und Raum herrscht keine Ruhe; alles ist und bleibt in Bewegung, weil immer ein* geht und ein ander* kommt. Daher ist die Menge nicht alle(s): pas tous. Unter den Bedingungen der Kontingenz lässt sich aus Vielem/Vielen genauso wenig ein Ganzes machen, wie aus Einzelheiten ein Eines: Weder tout, noch tous
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vgl. Freud 1920. elilenti (8. Jh.), mhd. ellende; eli, »ander, jenseitig, fremd«, und lenti, »Land« (Kluge 1975, 163). exsul, exsilium extra solum. »Connaissons donc notre portée : nous sommes quelque chose, et ne sommes pas tout« (Pascal [1670]1936, 50).
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ist den Menschen »[…] ihre eigene Einheit […] nur als Paradox gegeben: als Einheit von etwas, was eine Vielheit ist« (Luhmann 1994, 45). Mit uns selbst un-eins, gleichen wir allen anderen eben gerade darin. Wie lange es dauern wird, bis diese Erkenntnis ihre Frieden stiftende Kraft entfalten wird, ist schwer vorauszusehen, aber die Bedingung der Möglichkeit lässt sich leicht angeben: die Anerkennung von Differenz in Partikularität und Pluralität, von Kontrast ohne Gegensatz. Bestrebungen zur Kontingenzbewältigung durch Orientierungsversuche und Ordnungsbestrebungen gibt es seit Menschengedenken und sie scheitern von A bis Z an den Bedingungen des kontingenten Da-Seins im gemischten Satz à quatre, im zweifachen Doppel von •
•
Bedingtheit als o Anfänglichkeit/Gebürtlichkeit und o Endlichkeit/Sterblichkeit Beliebigkeit als o Partikularität und o Pluralität
Und gerade in dieser Verkoppelung der zweimal zweifachen Dimensionen von Kontingenz zum Quadrat, zur Vierseitigkeit liegt die Stabilität – um nicht zu sagen, die Nicht-Kontingenz von Kontingenz. In dreidimensionaler Betrachtung erscheint das Quadrat als Käfig, der im 20. Jahrhundert als ›stahlhartes Gehäuse‹ (Max Weber) oder ›Gestell‹ (Martin Heidegger) aufgefasst worden ist – vielleicht wäre heute das Bild einer ›Gummizelle‹ angemessener. Wie dem auch sei, Kontingenz31 selbst ist nicht ambi-, sondern vielmehr die Wurzel aus Ambiguität und Ambivalenz – bis heute hat sie sich nicht ausreißen lassen. Also lautet die einfache Antwort auf die Frage nach den Gründen und Ursachen des Strebens nach Einheit und Ganzheit: Kontingenz von allem und jedem. Das Element von Unin der Kontingenz ist der Treiber von Un*.
Die fatale Strategie der Grenzziehungen und die Ironie des Schicksals Die bedingt-beliebigen (nicht vollkommen freien) und zugleich beliebig-bedingten (nicht vollständig bestimmten) Menschen wollen, müssen sich in einer Wirklichkeit zurechtfinden, die ihnen als uferlos, riesig, gewaltig imponiert und somit auch
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Obwohl es kaum einen Begriff geben dürfte, der eine so große Fülle von Bedeutungen in den verschiedensten Wortfeldern aufweist wie ›ausgerechnet‹ Kontingenz.
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als gewalttätig und bedrohlich begegnet. Auf der Rückseite der Angst vor den eigenen Beschränkungen, der Zufälligkeit und Hinfälligkeit des Da-Seins sowie vor den Bornierungen des Wissens und der Ungewissheit der eigenen Position steht die Angst vor der Übermacht alles Anderen, des Un-Bekannten, des/der Fremden, das abgewehrt werden muss. Die eine Seite ist eine ›Realangst‹; die andere Seite hingegen eine ›Projektion‹ … Ob dieser kleine Ordnungsversuch im Geiste Freuds stimmt oder nicht? Jedenfalls wenden die so eng Beschränkten und hart Bedrängten ihre Not, indem sie ihre Freiheit zur Notwendigkeit entdecken, also Versuche unternehmen, sich selbst und allen anderem/anderen Grenzen setzen, um Sicherheit und Ordnung herzustellen: »Die Grenze ist das Geheimnis der Erscheinungen, […] der Kraft, des Glücks, des Glaubens und der Aufgabe, sich als winziger Mensch in einem Universum zu behaupten« (Musil 1981, 503). Vielleicht ist es einerseits zu hochtrabend, andererseits zu leichtfertig von einer ›Ironie des Schicksals‹ zu sprechen. Wenn aber ein feiner, gefinkelter Ironiker »die Grenze« als »Geheimnis der Erscheinungen« und sogar als das Geheimnis »der Kraft, des Glücks, des Glaubens« bezeichnet, dann ist das ein Hinweis auf ein unwiderstehlich komisches Element in dieser Situation: Die aufgrund der Kontingenz des Daseins un-abweisbaren Bestrebungen nach eigener Sicher- und Dauerstellung in innerem Frieden mit sich und harmonischer Gemeinschaft mit anderen kentern mit von vornherein absehbarer Notwendigkeit, insofern als sie auf Strategien der Grenzziehung rekurrieren. Der Versuch Eindeutigkeit, Einheit und Einigkeit durch Grenzen herzustellen, ist a priori zum Scheitern verurteilt, weil statt Eins Zwei geschaffen wird: Es entsteht ein Diesseits und ein nebulöses, vielfaches Jenseits der Grenze – Ironiker mögen maliziös lächeln über ein solch dummes Missgeschick … das so ähnlich blöd ist, wie die Idee der Weltrevolution in einem Land – aber mal im Ernst: Die fixe Idee von Grenze ist nicht »das Geheimnis der Erscheinungen« überhaupt, sondern vielmehr eines der Mysterien der Macht: »Immer wieder die Grenzen abstecken und überwachen, das ist wohl eines der Mysterien der Macht« (Benn 1968, 847). Mit Hilfe von Gottfried Benns ›Korrektur‹ lässt sich Robert Musils Satz ausbuchstabieren: Die Grenze teilt die »Kraft« zwischen Kraftmeiern, Machthabern diesseits und jenseits des Stacheldrahts. Grenzen gehören nicht ursprünglich zum Territorium, sondern zur Karte (Wuppuluri, Doria 2018). Sie werden durch Steine oder andere beliebige Gegenstände markiert, die Menschen irgendwohin in die Landschaft setzen. Auf den Karten, die vom Territorium anfertigt werden, sind sie eingezeichnet und überdauern im virtuellen Raum der Zeichen das Verschwinden der materiellen Spuren, das Verrückt-Werden der realen Gegenstände.
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Aber jenseits der von den Einen gesetzten, errichteten und gezogenen Grenzen ist meist kein (und im Prozess der Zivilisation immer weniger) Niemandsland, sondern der wilde Westen/Osten, wo andere, dort EIN-Geborene/Indigene leben. Die Grenzziehungsmanie ist ansteckend: Wenn die einen anfangen, müssen die anderen nachziehen. So wird eine gewaltige Maschinerie in Gang gesetzt und bald steht nicht nur eine Grenze zwischen zwei Teilen, Sektoren, Territorien, Einflusszonen, sondern überall werden klare Kanten gezeigt, rote Linien gezogen, Wimpel aufgestellt. Mauern werden als Schutzwälle errichtet – neulich noch gegen den Klassenfeind im Westen, jüngst im Nord-Süd-Konflikt in Richtung Mexiko oder durchs Meer, das die an den nördlichen Ufern als ihr mare nostrum verteidigen gegen die massenhaft anstürmenden Armen und Flüchtenden. An Schlagbäumen werden Fahnen geschwungen. Grenzpassagen von nützlichen Arbeitskräften mit greencards oder bloß temporären Erntehelfern werden kontrolliert; sans papiers ohne Pässe oder Passierscheine werden abgewiesen und im ›Ernstfall‹ wird hart zugeschlagen. Als Verteidiger getarnt liegen die Mauerbautrupps und Milizen in gepanzerten Kampfstellungen an den Außengrenzen auf der Lauer und gleich bei nächstbester Gelegenheit sind ein paar junge Pioniere als Pfadfinder ›allzeit bereit‹, in fremdes Terrain vorzustoßen, zu brandschatzen, fremdes Gut zu rauben, zu plündern, zu morden und zu vergewaltigen. Der Kippmechanismus von Defension zu Aggression ist leicht zu bedienen – bekanntlich ist Angriff die beste Verteidigung. Im Inneren der Domäne, auf dem eigenen Territorium solcher Angst-SchutzMacht-Gewalt-Herrschaftssysteme geht das Grenzziehungsspiel weiter. Die Grenze segregiert »das Glück der Starken und die Not der Schwachen« (Haubner 2019; Boltansky, Chiapello 2003). Dem Streben nach Sicherheit durch Gegenwehr, Ab- und Ausgrenzung (Exklusion) von allem als feindlich angesehenen Fremden korrespondiert die Eingrenzung nach Innen und zwar nicht im Sinne von Zugehörigkeit (Inklusion), sondern als Seklusion in mehreren Hinsichten und ziemlich ambi-. Da ist: •
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die Kasernierung der polizeilichen oder militärischen Streitkräfte, die zum Schutz der Außengrenzen ›abgestellt‹ sind, aber nicht in para-militärischen Männerhorden, als mehr oder weniger bewaffnete ›Freicorps‹ marodierend im eigenen Land herumziehen sollen; die Internierung aller, die – aus welchen Gründen auch immer –, nicht hineinpassen. Wenn die Un-Gehörigen nicht ›ausgeschafft‹ werden können, müssen sie, hinter Gitter gesperrt oder in Sicherungsverwahrung genommen, jeden-
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falls an Ausbruchsversuchen aus Haftanstalten, Auffanglagern gehindert werden; die Einhegung von allem, was die Einen als ihr Eigentum beanspruchen: Vor allen wehrhaft umzäunten Waffenkammern, Banktresoren und anderen Schatzkästchen, Geschäftslokalen und Privatsphären stehen no-trespassingSchilder, mit denen die glücklichen Besitzer ihren Besitz hüten und schützen wollen vor den Ein-brüchen der glücklosen Besitzlosen, vor den vielen unglücklichen Habenichtsen, denen sie den Erwerb ihrer Reichtümer (mit-)verdanken. – Schlussendlich sperren die Einen nicht nur ihr liebstes Hab und Gut, sondern sich selbst in exklusive gated communities ein.32
Die Grenze dividiert den »Glauben« in zahllose Glaubensgemeinschaften und Bekenntnisse, die sich in Streitigkeiten um das einzig Wahre verwickeln. Mit wenigen, halbherzigen Unterbrechungen permanente, nicht nur Jahrzehnte, sondern jahrhundertelang dauernde Kreuzzüge und Religionskriege haben Leid verursacht, das sich durch viele Generationen hindurch als Hass und Zorn in Erbfeindschaft fortschreibt. Soweit ich weiß, haben bis heute noch keine Kirchen miteinander einen Frieden geschlossen, der zu ihrer (Wieder-)Vereinigung geführt hätte – nicht mal den am engsten benachbarten Glaubensbekenntnissen ist das gelungen. Die diversen Glaubens- und Wissensdiskurse – sowohl der old time religions als auch der verschiedenen neuen Wissenschaften – tragen allemal dazu bei, das Dilemma der multipel miteinander verflochtenen Grenzregime gegen Kritik zu immunisieren, indem sie Gier und Neid, Gewaltbereitschaft und Grausamkeit den menschlichen Akteuren in die Schuhe schieben. All das Böse, das die Herrschaften anrichten, wird Tätern wie Opfern als ihre eigene ›Natur‹ unterstellt – sei es im rein religiösen Gewand als ›Erbsünde‹, sei es im weißen wissenschaftlichen Kittel als ›Trieb‹. So als ›Seins- oder Naturschicksal‹ und jedenfalls als ›Selbst-Schuld‹ auf die Menschen abgewälzt, wird verdeckt, dass es sich um Potential handelt, das aktiviert wird durch Gespinste, die – sei es in alten Mythen, sei es in neuen großen Erzählungen – allemal von Menschenhirnen ersonnen worden sind und noch werden.
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https://www.privatecommunities.com/gated-communities.html, Zugriff: 23.4.2020: »[…] are designed to offer privacy, security, and a feeling of community. One of the many benefits of living in a private gated community is controlled access entry. Gatehouses are usually manned and offer 24-hour security. There are gated communities for every lifestyle, such as retirement, golf, waterfront, mountain, and equestrian.«
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Die Grenze ist ein Politikum Die perfideste Form der Politisierung liegt dann vor, wenn die vielleicht (aber vielleicht auch nicht) definitive, ultimative Grenze zwischen Leben oder Tod als Schreckensvision heraufbeschworen wird, um andere Zustände per analogiam zu polarisieren und damit zu polemisieren, so wenn beispielsweise eine amerikanische Moralphilosophin behauptet: »I do hold33 that death is opposed to life in the most binary way imaginable, and slavery to freedom, and hunger to adequate nutrition, and ignorance to knowledge« (Nussbaum 1992, 204). Das staubige Pathos der alten Hamlet-Frage nach Sein oder Nicht-Sein wird aus dem Fundus geholt, um Differenzen zu dramatisieren, Gegensätze zu suggerieren, die es so gar nicht gibt. •
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Zwischen Sklaverei und Freiheit hat es historisch viele Erscheinungsformen und Zwischenstadien gegeben, und es gibt sie noch bis heute; hier eine Dichotomie aufzumachen, führt weder zu einer adäquaten Analyse noch zur Befreiung. Auch wo nur die einen satt und voll sind, während die anderen leer ausgehen und hungern, ist die Rede von einem Ausschlussverhältnis fehl am Platz; hier ist Umverteilung das Gebot der Stunde, wohingegen im ›Normalfall‹ des guten Lebens zwischen Hunger und Sattheit ein ständiger Wechsel stattfindet und für »adequate nutrition« unendlich viele unterschiedliche Rezepte kursieren. Und im Besitz eines so vollkommenen Wissens ist niemand, um »ignorance« als absoluten Gegensatz konstruieren zu dürfen. Manches zu wissen und vieles nicht, das ist vielmehr unser aller ambi-Normalzustand.
Der Sein/Nicht-Sein-Leben/Tod Theaterdonner lässt jenseits der Nebelkerzen sichtbar werden, dass auf dem Boden einer Kultur der Angst eine Rhetorik der Erpressung blüht: Entweder – Oder: »live free or die« – »Sozialismus oder Barbarei«. Ganz gleich, ob die politischen Ziele gut und erstrebenswert sind oder nicht: hinter Slogans dieser Art steht eine Anmaßung der summa potestas, der Macht über Leben und Tod als Definitionshoheit des Souveräns über einen politisch motivierten Ausnahmezustand. Carl Schmitt lässt grüßen und Reinhart Koselleck warnt: »Vorsicht vor jedem Dualismus – hinter ihm lauern nur fiktive Feinde« (Koselleck 2006, 283). 33
Martha Nussbaum schreibt nicht I think, I contend, I believe o. ä., sondern lehnt sich rhetorisch geschickt an die Pathosformel der ersten Worte der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung an: »We hold these truths …«.
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Grenzziehungen sind wirkmächtige, aber letztlich fatale Strategien zur Kontingenzbewältigung, so dass auch noch der unbekümmertsten Ironikerin das Lächeln vergeht. Das Paradox von ambi-, das darin liegt, dass Menschen ihre eigene Einheit nur als Einheit von etwas gegeben ist, was eine Vielheit ist (s.o. Luhmann 1994, 45), haben Menschen bislang weder kollektiv noch individuell richtig gut gelöst. Und so bleibt denn die »Aufgabe, sich als winziger Mensch in einem Universum zu behaupten« (s.o. Musil 1981, 503) bis heute unerfüllt. Dabei liegt das Geheimnis der Erscheinungen offen zutage: Wir leben im, mit und vom χάος. Das ist der Stoff aus dem wir gemacht sind, den wir in Hülle und Fülle in unzähligen Facetten und Nuancen gemeinsam haben, kreativ gestalten und prokreativ weitergeben können, wenn wir die Sache(n) miteinander teilen, anderen mitteilen – so oder anders … … aber letzten Endes eben auch nicht. »Modernity has accomplished many farreaching transformations, but it has not fundamentally changed the finitude« (Berger, Berger, Kellner 1973, 185). In Hinblick auf Anfänglichkeit/Gebürtlichkeit und Endlichkeit/Sterblichkeit werden die Erscheinungen ihr Geheimnis wohl bewahren – vielleicht müssen sie es nicht einmal, vielmehr sollten sie es dürfen – unbedingt. Aus diesem Grund und in diesem Sinn könnte uns der Umgang mit Partikularität und Pluralität als den beiden anderen Gegebenheiten von Kontingenz besser gelingen, wenn wir die Aufgabe, als winzige Menschen in einem Universum zu bestehen, nicht als Selbst-Behauptung gegen Andere(s) auffassen, sondern die Angst vor dem Nicht- überwinden und die eigene Endlichkeit anerkennen würden. Die vielen und vielschichtigen Probleme, die wir mit ambi- haben, liegen nicht bei den anderen/anderem irgendwo im riesigen, bedrohlichen, überwältigenden Un-, sondern sie beginnen und landen am Ende wieder bei uns, im Un-, das wir selbst sind, so dass jede Selbstbehauptung dagegen non-sense ist: »To be oneself, one must be able to be nothing. To know oneself, one must be able to know nothing« (LeGuin 2004, 163). »Die Welt der abertausend Geschöpfe lebt vom Sein, das Sein aber lebt vom Nichts«34 – das wir – nein, nein, nicht nur – aber auch sind.
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Lao Tse, Tao-Te-King.
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Ambiguität und Doxa Über Camp und einen Streit um den Genuss des Ungenießbaren in der Kultur Dirck Linck
I. Der überraschende Erfolg von Eribons Retour à Reims hat in die öffentlichen Debatten Begriffe zurückgebracht, die dort lange nicht mehr zu hören waren: Klasse und symbolische Herrschaft. Eribon verband sie zum Thema der lebenslangen Prägung durch Inferiorität. Bevor das von seinem Buch geöffnete Zeitfenster sich wieder schließt, möchte ich die Chance ergreifen, eine Frage, die uns im Vorfeld der Tagung, für die ich diesen Text schrieb, vorgelegt wurde, die Frage nach der »Ambiguität der Ambiguität« nämlich, auf jenen besonderen sozialen Raum zu beziehen, in dem sich Menschen gewöhnlich um derlei Fragen versammeln: die Universität. Ihren Ausgang nehmen meine Überlegungen deshalb bei einer Feststellung des Textes, der den Referentinnen und Referenten mit der Einladung übermittelt wurde: im »kulturellen Feld« werde Ambiguität »meist als positives Charakteristikum des Ästhetischen wertgeschätzt«. Nachdrücklicher, politischer (und mit dem Vokabular Bourdieus) formuliert: Unter den Bedingungen symbolischer Herrschaft ist eine tatsächliche oder interpretativ hervorgebrachte Ambiguität der Gegenstände die unabdingbare Voraussetzung für eine eindeutige ästhetische Wertzuweisung (was zugleich die Abwertung und den Ausschluss anderer Gegenstände ermöglicht, denen es irgendwie an Ambiguität mangelt). Kalkuliert eindeutige Gegenstände, etwa viele Formen politisch-aktivistischer Kunst, erfahren in diesem Diskurs, dessen Historizität selten selbst zum Gegenstand universitärer Debatten wird, einen Wertentzug, dem erkennbar politische Kräfteverhältnisse korrespondieren. Wer im ästhetischen Feld sein symbolisches Kapital vermehren will, wird sich an die ambigen Gegenstände mit gutem Image halten. Das akademische Sprechen über Ambiguität dient also nicht primär der Erkundung von Eigenschaften singulärer Dinge oder Ereignisse, sondern ist unauflöslich verschlungen mit inkorporierten Schemata, mit als selbstverständlich erachteten Wertgefühlen und Dignitätshierarchien der Hochkultur. Es ist eine Konvention.
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Die Ambiguität der Ambiguität ergibt sich hier aus ihrer Funktionalisierung für den Urteilsprozess; ambig ist das Sprechen über Ambiguität, wo es schlicht Konventionen stabilisiert, etablierte Distinktionen reproduziert und von der Institution vermittelte Wertgefühle verstärkt. Während sich für die Orientierung des Menschen in der Welt sagen ließe, dass Ambiguität sich ständig unvermeidlich ereignet, als unspektakulärer Effekt der permanent aktiven menschlichen Unterscheidungskunst nämlich (je mehr wir alltäglich von unserem Vermögen, Unterscheidungen zu treffen, Gebrauch machen, desto mehr Ambiguität produzieren wir mit Notwendigkeit), informiert das Sprechen über Ambiguität in der Institution alle über eine besondere, auszeichnende, spezifisch für die Institution qualifizierende Unterscheidungskunst und einen dort von allen anzunehmenden Konsens. Es verweist auf die beim Aufbau einer Karriere tunlichst zu bevorzugenden Gegenstände und auf die Nützlichkeit des Bemühens, die Leistungsfähigkeit des eigenen Unterscheidungsvermögens möglichst eindrucksvoll in Szene zu setzen. Dabei wird allerdings völlig unkenntlich, dass ästhetische Ambiguität durchaus nicht für alle gleich viel oder gar das Gleiche bedeutet. Für mich z.B. bedeutete die Entdeckung der Uneindeutigkeit von Literatur, die Entdeckung poetischer Ambiguität, eine aufregende Möglichkeit, dem engen subproletarischen Milieu meiner Herkunft zu entfliehen, in dem Sprache und Welt vollständig auf Eindeutigkeit ausgelegt waren, auf Kommandos, Arbeitsanweisungen, Tagespläne, Amtsformulare, Stechuhren, Ansagen, Haushaltsbücher, Befehle. Für meine Mitschüler aus privilegierten Schichten bedeutete Ambiguität die Möglichkeit, immer neu jene zu ihrem Klassenhabitus gehörenden Vermögen und Fertigkeiten zu aktualisieren, die für sie fraglos den kultivierten Menschen charakterisierten, der sich die Beschäftigung mit Uneindeutigkeit in jeder Hinsicht leisten kann. Dank der ihnen in die Wiege gelegten Bildung agierten sie dabei ganz selbstverständlich als Bevollmächtigte der Kultur. Das komplett Fremde, in das ich meine Hoffnung investierte, war Teil ihrer vertrauten Lebenswelt; mein Genuss das Nichtverstehenmüssen, ihr Genuss das Verstehenkönnen. Ich genoss es, mich in der Uneindeutigkeit völlig zu verlieren, sie gewannen aus dem geübten Reden über Mehrdeutigkeit ihr Profil. Sie verkörperten eine Klasse, in der unablässig reproduziert wurde, dass gute Kunst und ästhetische Erfahrung ohne Ambiguität, Komplexität, Offenheit, Unbestimmtheit nicht zu haben seien. Eindeutig nicht. Ich verkörperte eine Klasse, in der die Frage, was gute Kunst ist, keinerlei Bedeutung hat, Ambiguität als kleine Flucht aber eben sehr wohl. (Auch wenn uns das Wort nicht vertraut war.) Die Diskurse von Kunst und Wissenschaft sind nach wie vor auf meine Mitschüler aus gutem Hause ausgerichtet. In diesen Diskursen gehört das vertraute Sprechen über die Ambiguität der Gegenstände (nicht aber die Ambiguität wissenschaftlicher Praxis) zur Doxa, es begründet die Legitimität dieser Gegenstände und des Sprechens, konstituiert den Kanon, treibt ästhetische Urteile der Eindeutigkeit
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zu und ist strikt orientiert am (linguistischen) Markt der Institutionen, der regelt, wie auf respektable Weise über die Dinge zu sprechen ist. Im ästhetischen Ambiguitätsdiskurs realisiert sich also vor allem soziale Reproduktion; er trägt bei zur Autorität von Kunst und Wissenschaft, und er orientiert die Akteure in strategischen Entscheidungslagen. Wer zu diesem Diskurs zugelassen werden will, muss wenigstens simulieren können, den willkürlich produzierten Zusammenhang von Ambiguität und Wert verinnerlicht zu haben.
II. Vor dem Hintergrund dieser kulturellen Verhältnisse, in denen die einen Macht genug haben, um mittels des Diskurses die Maßstäbe des Beurteilens für alle festlegen zu können, erschließt sich unmittelbar, warum für viele sich mit der Popkultur so große Hoffnungen auf demokratische Veränderung verknüpften. Im Zeichen der Popmusik hatten die alten nationalen Volkskulturen mit ihren Klassenverhältnissen sich im Gang des 20. Jahrhunderts um diese Musik und ihre Codes herum in die erste globale Kultur der Geschichte transformiert, eine Freizeit- und Medienkultur, die auch den Körper in Bewegung setzte und Menschen aus allen Klassen affizierte. Ihr stärkstes Subjekt war das Kollektiv der ›Jugend‹, das zuvor nicht Anteil gehabt hatte an der Bestimmung kultureller Relevanz. Diese neue Popkultur konnte als Opposition zur legitimen Hochkultur verstanden werden, da sie sich in einigen zentralen Aspekten von ihr und ihren Urteilsprinzipien unterschied. Pop kennt die entspannte Wertschätzung des Eindeutigen, wo immer es begegnen mag, in der Songbotschaft, den drastischen Effekten des Splatterfilms oder der Pornografie, in der Lautstärke von Industrial oder Metal Music, den eingängigen Rhythmen der Disco, in den verwerfenden Gesten des Punks oder den Tröstungen des Schlagers. Alles klar und schön. In der Welt des Pops muss nichts kompliziert sein, um gut sein zu können. Für diese Welt muss auch niemand ausgebildet sein. Pop stellte die Relevanz des Metiers vielmehr grundsätzlich in Frage und wirkte damit weit in andere Felder wie das der Kunst hinein. Er verstärkte die schwache, unausgebildete, brechende Stimme elektronisch und leistete damit, so Diedrich Diederichsen in seinem Text über Stimmbänder und Abstimmungen, eine »ästhetische Kritik am Parlamentarismus«, in dem »konkrete Stimmen zum Schweigen gebracht werden«, weil der Zugang zur öffentlichen Rede nicht jeder und jedem gewährt wird, sondern von Status und Qualifikation abhängig ist. Da könnte ja jeder kommen. Als globale Zitatkultur, zu der tatsächlich jede und jeder kommen konnte und die sich ausgiebig bei inferiorisierten Subkulturen (Schwarze, Schwule, Migranten, Indigene, Jugendliche etc.) bediente, stellte Popkultur einerseits die Frage nach dem Verhältnis zwischen zitierender und zitierter Welt, also nach den Logiken
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und der Produktivität kultureller Aneignungspraktiken. (Diederichsens kanonische Pop-Formel aus Freiheit macht arm lautet: »Aus dem Zusammenhang reißen, in den Zusammenhang schmeißen.«) Andererseits konfrontierte sie ihr Umfeld durch diese relativ bedenkenlos vorgenommenen Transfers ununterbrochen mit dem Geschmack und den Praktiken bislang nicht in der Hochkultur repräsentierter Subjekte und Schichten, mit Welten, deren Äußerungen zuvor auf das stießen, was Rancière in seinem Buch gleichen Titels »Das Unvernehmen« nennt, eine Zone des Ressentiments, in der immer schon über die Irrelevanz von ungeschulten, pöbelhaften Äußerungen entschieden ist, die »unten« gemacht werden, außerhalb oder am Rande der Institutionen. Vernommen wird in dieser Zone nur, was VorSchriften folgt. In seiner heroischen Phase, den 60er Jahren, verband Pop sich mit der Dynamik von Bildungsreformen, die den Zugang neuer Subjekte zu Institutionen wie den Hochschulen organisierten und dadurch auch diese Institutionen durch eine Vervielfältigung von Perspektiven auf die Welt verändern wollten. Die neuen Subjekte sollten die bislang gültigen Urteile und Regeln der Urteilsfindung in Frage stellen. Bekanntlich waren die Institutionen haltbarer als die Hoffnungen auf Mannigfaltigkeit. Die neuen Subjekte haben sie nicht transformieren können, sondern wurden in sie integriert, was stets bedeutet: für sie zugerichtet. Sie lernten, aus der Perspektive einer Klasse zu urteilen, aus der sie nicht hervorgegangen waren. Was nicht zuzurichten war, nicht dies lernen wollte, wurde wieder ausgeschieden. Demokratisierung erwies sich, so Eribon, »als eine Verschiebung, bei der die Struktur, trotz aller Veränderungen an der Oberfläche, unverändert erhalten bleibt.« Wenn Popgeschichte heute so oft als Enttäuschungsgeschichte, als Geschichte einer Kooptation erzählt wird, dann deshalb, weil Pop zwar intern mit neuen Prinzipien des Wahrnehmens, Produzierens und Bewertens experimentieren konnte, der Diskurs über Pop dann aber doch wieder nur den kollektiven nicht-bewussten Dispositionen folgte, aus denen die objektiven Strukturen des sozialen Raums immer neu hervorgehen. Je näher dieser Diskurs den mit Autorität versehenen Institutionen kam, je mächtiger sich das Begehren artikulierte, vernommen zu werden und in diese Institutionen einzuziehen, desto stärker organisierte sich das Reden über Popkultur am Modell des hegemonialen Diskurses. In einem neue Autorität generierenden Akt, der relevante von irrelevanten Erscheinungen trennte, wurden nun von einzelnen ausgebildeten Experten ambige, also besonders beachtenswerte Pop-Gegenstände produziert, die eindeutige Werturteile begründen konnten. Am laufenden Band. Fan-, Nerd- und Außenseiterdiskurse, die anderen als den konsensualen Prinzipien des Bewertens folgten, waren ernsthaft nicht diskutabel und rutschten in eine popspezifische Zone des Marginalen ab. Für Ambient ist der Poptheoretiker zuständig, für den Schlager die Soziologie. Dass ein Porno gut ist, wenn er geil macht, spielt für den Diskurs der Ästhetik keine Rolle, kann ihn auch nicht verändern, weil der Porno sich gerade wegen seiner Konzentration aufs Eindeuti-
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ge von vornherein außerhalb der Grenzen dieses Diskurses befindet. Fraglich mag das Objekt sein, nie der Diskurs in seinem historischen Gewordensein. In Sexbeat hat Diederichsen mit der durchlaufenden Konstellation Oberschüler/Hauptschülerin auf die Rolle von Gender und Klasse in diesem DiskursDilemma hingewiesen: Der Oberschüler, den die Freiheitsbotschaft des Pop gar nicht vorrangig meine, quatsche die Hauptschülerin mit seinen Gewissheiten ständig derart zu, dass diese gar keine Chance habe, ihre Ungewissheiten zu sagen und die Fraglichkeit des Diskurses zu entdecken.
III. In dieser Situation meldeten sich am Ende der 70er Jahre in der Institution müde minoritäre Stimmen zu Wort, an die ich gern erinnern würde. Sie reagierten auf die Enttäuschung von Hoffnung, indem sie über eine Idiosynkrasie sprachen, die der Trägheit sozialer Strukturen galt und den gesellschaftlichen Status des Bewertens selbst betraf. Nicht um Strategien der Aufwertung von kulturell Abgewertetem ging es, sondern um die Lancierung eines grundsätzlichen Vorbehalts gegen die Bedeutung und Routine des Urteilens. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Idiosynkrasie gegen Entscheidungskompetenz von sehr erfolgreichen, aber queeren Wissenschaftlern formuliert wurde, deren sexuelle Identität sie den sozialen Raum früh als Inferiorisierungsmaschine hatte erfahren lassen. Ich möchte an diese Stimmen erinnern, zum einen, weil wir uns gesellschaftlich gerade in der Phase eines die Zivilität ernsthaft bedrohenden Bewertungsfurors befinden, der den Eindruck erweckt, den Menschen charakterisiere im Grunde die Art, wie er seine Urteile platziert, zum anderen, weil hier das Nachdenken über Ambiguität probeweise von der Seite der Gegenstände auf die Seite des Urteilsakts verschoben wurde, dessen negative Aspekte nun eine Akzentuierung erfuhren. Weil hier das Urteilen als eine grundsätzlich ambige und fragwürdige Praxis erschien. Gert Mattenklott etwa schreibt 1979 in seinen Thesen über ästhetische Urteile: »Ästhetische Freiheit würde auch bedeuten, daß unter dieser Parole einmal nicht nur – wie noch bei jedem großen gesellschaftlichen Wandel – die Normen ausgewechselt, sondern daß auf sie verzichtet würde.« Was wäre zu gewinnen, wenn wir uns gegen die Entscheidung entschieden, wenn wir die Unentschiedenheit auf Dauer stellten, uns die Berufung auf eine Norm versagten, stets das vage Urteil anstrebten, zur Ungewissheit ermutigten? In seinem Essay Über das Zaudern hat Joseph Vogl betont, dass sich ein Moment der Aktivität in jener Passivität verbirgt, mit der ein Zauderer den Dingen und Anrufungen der Welt begegnet, dass in seinem Zögern der Impuls aktiv ist, eine Unterbrechung im Vollzug jener Urteilsakte herbeizuführen, mit denen etwas als etwas bestimmt wird: Aktiv werde hier eine
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»Idiosynkrasie gegen die Festigkeit von Weltlagen, gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Endgültigkeit von Lösungen, gegen die Bestimmtheit von Konsequenzen, gegen die Dauer von Gesetzmäßigkeiten und das Gewicht von Resultaten. […] Das Zaudern ersucht um Revision. […] Zwangsläufig werden damit die Beschränkungen erfahrbar gemacht, die das Ereignis und den Boden von Subjekten des Erkennens, des Urteils und Handelns umgrenzen. Man wird darauf gestoßen, dass das gegenwärtige Wissen ebenso unstabil ist wie seine Herkunft ungewiss, und nichts garantiert, dass die Sparten, Disziplinen und Wissenschaften ihre Konsistenz auch weiterhin behalten werden.« Ich kenne keinen Text, der eindrücklicher um Revision ersucht, hartnäckiger die Konsistenz und Gültigkeit wissenschaftlicher Praxis bestreitet, menschlicher für ein Zaudern vor dem Urteilsakt, für eine Ambiguität des Bestimmens wirbt, als die Vorlesung über Le Neutre, die Roland Barthes 1978 vor dem Collège de France hielt. In einer persönlichen Krise gerät ihm diese Vorlesung zu einer großen Meditation über Gradienz und über die Möglichkeiten, das zurückzuweisen, was er das »Paradigma« nennt, nämlich eine sozial abverlangte Orientierung an der »Opposition zweier virtueller Terme, von denen ich einen aktualisiere«: gut/schlecht, Kunst/Nicht-Kunst, geschmackvoll/geschmacklos, angenehm/unangenehm, farbig/farblos, Fiktum/Faktum, Werk/Nicht-Werk, dieses/jenes. Urteile, die dann unausweichlich weitere Urteile aus sich hervortreiben. Der Homosexuelle Barthes bezieht diese Opposition auf das »Gewicht (den Schatten) der Grammatik«, die im Französischen nur Maskulinum und Femininum kenne. Ihn aber interessiere das verachtete Neutrum, Le Neutre, ein drittes Geschlecht, das »sich aus der Genitalität zurückgezogen hat«, seinen Platz nicht auf einer Seite der Opposition sucht, nicht »als etwas« bestimmt sein will, seine Uneindeutigkeit nicht überführen will in Eindeutigkeit, sich nicht von zwei Seiten in einen Term treiben lassen will, der es als ein Drittes, Viertes, Fünftes auslöscht. Interessant ist nun, dass Barthes ausdrücklich wenig Interesse zeigt an einer Definition des Neutrums. Es sei eben das, »was das Paradigma außer Kraft setzt«. Nicht sowohl als auch, sondern weder noch. Barthes gibt zwar ein paar Beispiele, etwa die Pastellfarbe oder den Redeakt der Enthaltung, investiert seine ganze Konzentration dann aber in den subtilen Entwurf einer Affektlandschaft aus Stimmungslagen, Emotionen und Rückzugsbewegungen, die den entscheidenden Kontext des Neutrums bilden. Die Themen der Vorlesung sind u.a.: Erschöpfung, Müdigkeit, Schweigen, Wohlwollen, Überdruss, Zartgefühl, Rückzug, Ausweichen, Lebenwollen, Urlaub nehmen, das Unprädizierbare. Außer Kraft setzen. Barthes ist des Paradigmas offensichtlich müde und möchte seine Zuhörer in diese Müdigkeit, in das Glück der Unentschiedenheit hineinziehen (was übrigens zu signifikant aggressiven Reaktionen bei diesen führt). Er weist das positive Urteil, das lobende Adjektiv nun ebenso zurück wie das krän-
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kende: »Ich bin dessen überdrüssig, qualifiziert, prädiziert zu werden.« Der Hochschullehrer und öffentliche Intellektuelle will weder benoten noch benotet werden. Er will keine Namen mehr erfinden, die beanspruchen, Dinge in ihre Existenz rufen zu können. Wer die Erfahrung der Inferiorisierung einmal am Leibe gemacht hat und sie dann politisiert, der will nicht besser beurteilt werden, sondern begehrt ein Ende des Beurteilens; er folgt, so Barthes, »dem großen Wunsch nach einem Ausruhen der Sprache«, einer Unterbrechung des Bestimmens. Es geht Barthes um ein Begehren, nicht zu urteilen, um dessen Politizität und Potentialität, weniger um die Chancen auf Realisierbarkeit dieses Begehrens. Wo wir dem Zwang zum Urteil nicht entkommen können (etwa in der Institution Universität), gelte es »beim Sprechen unausgesprochen anzudeuten, daß jedes Paradigma schlecht aufgestellt ist.« Wenigstens dies. Die Andeutung gelinge dem Wissenschaftler z.B. durch einen Registerwechsel in die »Sprache der Liebe«, bei der das liebende Subjekt, weil ihm »die Gesamtheit aller nur denkbaren Prädikate nicht ausreicht«, die wertenden Adjektive derart irrsinnig anhäuft, dass »Polynymie« in »Anonymie« umschlägt und die Wörter in der Dynamik des Exzesses zum »Nullpunkt der Prädikation« stürzen. Das Urteilssystem kollabiert. Die Gesellschaft und ihre Institutionen können dieses Urteil – Du bist eigentlich alles! – nicht mehr ernstnehmen, weil das Urteil der Liebe das Paradigma nicht mehr ernstnimmt und eben dadurch ambig wird. Der größte Film aller Zeiten. Wahr und gelogen. Wer zum Urteilen gezwungen wird, soll sprachlich markieren, dass an ihm ein Zwang wirksam wurde, der das Subjekt unterwarf.
IV. Ich möchte an einem Beispiel zeigen, wie sehr die Haltung zum Paradigma noch die Wahrnehmung von Dingen bestimmt, die vom Pop neu in den Zusammenhang geschmissen wurden. Mein Beispiel ist der seit sechzig Jahren andauernde Streit darüber, was in der Begegnung mit der Welt des Camps eigentlich genossen wird. In diesem Streit war stets auch umstritten, was Camp überhaupt ist. Für meinen Punkt möge der Hinweis ausreichen, dass Camp genau das ist, was das Publikum dieses Vortrags, die Leser dieses Textes bei einem Streifzug durch die in den westlichen Ländern längst untergegangene schwule Welt gesehen, gefühlt, gerochen und gehört hätten, beim Streifzug durch eine alle Lebensbereiche strukturierende Subkultur, die unter der Bedingung der Kriminalisierung von Homosexualität entstanden war. Camp war ein Set aus Dingen, Gesten, Interieurs, Sprachcodes, Wertgefühlen, Düften, Identifikationen, Kommunikationsweisen und Idiosynkrasien. Diese verborgene Welt aus rotem Pannesamt, Drag und Bartüren mit Guckloch und Klingel wurde vor allem von Schwulen aus der Unter- und Mittelschicht aufgebaut und war
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in zweierlei Hinsicht auffällig: Erstens durch ihre demonstrative Gleichgültigkeit gegen die Maße und Normen, auch die ästhetischen Normen, der dominanten Kultur, zweitens durch eine die Erscheinungen dieser Welt und ihre Geschmacksäußerungen prägende Solidarität mit dem Minderen, Beschädigten, Verfemten oder Verlassenen, die auch das Ethos von Camp begründete. Deshalb gelten in dieser Welt, der das deutsche Publikum z.B. in Rosa von Praunheims Film Die Bettwurst (1971) begegnen konnte, die Identifikationen dem infamen und dem beschämten Menschen, den Dingen, die aus der Mode gekommen sind, den abgelebten Stilen und Genres, den ausgebrannten Sprachformeln, den welken Schauspielerinnen und sentimentalen Filmen, die niemand außer den Schwulen mehr sehen mag. Die Visualität des Camps, in der die soziale Position der Schwulen zugleich angezeigt und bearbeitet wird, macht ihn lesbar als Liebe zu einer bestimmten Form des ramponierten Kitsches, für die Jack Smith den Begriff der »moldiness« prägte, der einen Glanz aus Schimmeligkeit und Kaputtheit bezeichnet, einen Glamour der Vergängnis und einen Zauber der angeschlagenen Dinge und verbrauchten Leiber am Ende des kapitalistischen Verwertungskreislaufs. Camp ist Müllhaldenästhetik, die noch das Vergehen als ein Werden feiert. In Nicht Eins und Doch versenkt sich Christian Enzensberger, einer der wenigen deutschen Autoren mit queerer Camp-Sensibilität, in die »Wunder« des Herumliegenden, den »schwerbegreiflichen Reichtum an Ähnlich-Einmaligem, das nirgendwo aufhörte, mit sich und einander und mit ihm zu spielen, noch allenthalben, Draußen ohnehin, aber gehäuft in seiner Eigenwelt und Nah-Umgebung von Knitterhosen, von aufgesprungenen Stücken von Seife, von Muscheln im angeschlagenen Glas, umso deutlicher, so kam es ihm vor, je näher dem Vergehen, der Auflösung und dem Zerfall, oder doch dem unteren Rand von Jetzt-Sein, wo es anfing, vom (vermeintlichen) Ding zur Geschichte zu werden, und zwar, mit täglich abgewandelten Zerknitterungen, stündlich wechselnden Reflexen in der Muschel, zu einer Geschichte aus immer neuen Einmaligkeiten.« Der Streit um Camp wird deshalb so erbittert geführt, weil es in seinem Kern um die Frage geht, wie ernst man es meinen kann mit der Liebe zu dem, was die Gesellschaft verworfen, abgewertet, weggeworfen hat. Oder anders: Der Streit um den Camp-Genuss ist ein Streit um Wertgefühle, der um die Frage kreist, wie ernst die Schwulen es meinen mit ihrer Liebe, mit der Sorge um sich selbst und mit dem Außer-Kraft-Setzen des Paradigmas. Virulent wurde dieser Streit, als die Popkultur begann, Elemente des Camps durch Zitation aus der Schwulensubkultur herauszulösen und als Zeichen des »Undergrounds« in die eigenen Zusammenhänge zu integrieren. Pop hob die schwule Welt ans Tageslicht. Vermittelt über Pop-Art, Las-Vegas-Kultur (etwa die Konzerte Liberaces), die Renaissance des Jugendstils, das Pop-Ideal des Androgyns, über Glam-Rock und Disco, über Flohmärkte und die modische Bricolage in Kleidung
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und Interieur erreichte Camp schließlich das Zentrum der Kultur. Fernsehformate wie die seit 1966 vom Sender ABC produzierte Batman-Serie und Radioformate wie die von der BBC produzierte Comedy Julian and Sandy (1965-68), in der erstmals in der BBC-Geschichte ein schwules Paar agierte, trugen den scheinbar lächerlichen Camp rasch in alle Schichten hinein. Julian and Sandy war auch die erste Mainstream-Produktion, in der die auftretenden Personen Polari sprechen, einen außerhalb der Szene kaum bekannten exaltierten Argot, in dem seit dem 16. Jahrhundert einerseits fahrendes Volk wie Schausteller und Schauspieler, andererseits Matrosen und Homosexuelle miteinander kommunizieren, wenn sie unbemerkt vom Umfeld Kontakte anbahnen wollen. Polari dient also als Geheimsprache vor allem dem Sex und krummen Geschäften. Dieser Argot lieferte jene etymologische Ableitung des Camp-Begriffs, hinter der sich im Streit um ihn die eine Fraktion versammelte: Auf Polari bedeutet »kamp« nämlich schlicht tuntig, und bezeichnet werden mit diesem Wort vor allem effeminierte Schwule. Die zweite Ableitung, hinter der sich jene versammelten, die Camp von der schwulen Welt sukzessive abrücken wollten, bezog sich auf das französische Verb »camper«: etwas oder jemanden lebendig darstellen, posieren. In der Tradition dieser Bezugnahme geht es bei Camp um die spielerische Aneignung ursprünglich schwuler Theatralität, die als Praxis der Übertreibung verbucht wurde. Und damit ist ein wichtiger Aspekt des Streits berührt: Denn wen, wessen Maßstäbe repräsentiert das Urteil Über-Treibung, wer bestimmt die Bestimmung von Camp als Liebe zum Übertriebenen? Wem ist was warum »zu viel«? »Wir haben nicht Camp gemacht«, sagt der Schauspieler Taylor Mead 1997 in einem für den Band The Naked Lens geführten Interview, »wir haben unsere verfickten Leben gelebt.« Für Mead sind Leben, Sensibilität und steile Theatralität ununterscheidbar. Hier eine Unterscheidung einzuführen, würde dieses Leben verfehlen. Im Zeichen von Pop stattfindende Aneignungen von Camp-Elementen durch Heterosexuelle überführten diese Elemente in einen neuen Zusammenhang, in dem sich die Lebenspraxis der einen bei den anderen zu einem der Freizeit vorbehaltenen Spiel mit als kitschig geltenden Dingen und ein wenig opernhaften Varianten des gesellschaftlichen Auftritts verwandelte. Das Schwule wurde Mode. Die Namen Susan Sontag und Jack Smith markieren die Positionen, die einander gegenüber stehen im Streit um den Genuss dessen, was für die einen Zitat aus einer fremden und exotisch-dunklen Zone der Stratifikation war, für die anderen Expression ihres Lebens. Mit Sontags Notes on Camp von 1964 verbindet sich die dominant gewordene Erklärung, Camp eröffne einem geschulten Publikum die Möglichkeit, unernst etwas zu genießen, weil es auf besondere Weise schlecht sei (Note 58: »It’s good because it’s awful«). Die mit Warhol befreundete Kunstkritikerin Rosalyn Regelson erwidert 1968 in der New York Times auf diese behandschuhte Erklärung spitz: »Miss Son-
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tag’s schlock version of Camp is that of a suburban housewife.« In ihrem Essay Up the Camp Staircase bemerkt Regelson, dass Sontag touristisch auf eine ihr komplett fremde und für sie deshalb irgendwie reizvolle Welt blicke, in der alles sonderbar, geschmacklos und bizarr zu sein scheint: »Miss Sontag’s bourgeoisified version of Camp is indeed trivial, and it was natural that Madison Avenue and the merchandisers should have latched on to her essay like manna. They have put their heavy guns behind Pop-Camp, using the suggestion of homosexuality to give their products and their adds a frisson of the forbidden.« Der Regisseur Charles Ludlam klagte in seinem Essay Camp, das, was Sontag mit ihren Notes angerichtet habe, sei ohne Zweifel das Schlimmste, was passieren konnte, »so was Augenzwinkerndes, das dir sagt: ›Alles nicht so gemeint‹.« Ludlam aber meint die Dinge so, von denen Sontag glaubt, dass man sie doch wohl nicht ernsthaft so meinen kann. »Der Wert von Camp«, so Ludlam, »die Fähigkeit, Dinge auf diese einmalige Weise wahrzunehmen, besteht darin, dass es Werte auf den Kopf stellt.« Und zwar ohne Augenzwinkern. Sontags Notes sind über weite Strecken von Ambiguität gekennzeichnet, da sie Camp mal als Qualität von fragwürdigen Objekten wie Tiffany-Lampen, mal als den Effekt einer zauberwirkenden Einstellung auf Dinge bestimmen. Es bleibt erfreulich unklar, ob etwas Camp ist oder erst zu Camp gemacht werden muss, ob manches Camp ist oder alles in Camp verwandelt werden kann. Mit einer verräterischen Bezugnahme auf die historische Figur des Décadents kippt der Text dann aber schließlich in die Eindeutigkeit: Camp-Genuss verdankt sich für Sontag einem kultivierten Vermögen, dem Vermögen besonders raffinierter Rezipienten nämlich, die dem aufregend Gemeinen, Bizarren, Übertriebenen, Geschmacklosen, das der Pop aus einer verbotenen Welt angespült hat, das Surplus leicht perverser Vergnügen abgewinnen können. Die Dinge werden nicht geliebt, weil sie sind, wie sie sind, sondern weil sie so, wie sie sind, doch unmöglich ernsthaft geliebt werden können. Sie werden unernst genossen, weil sie von anderen, die es nicht besser wissen, ernsthaft geliebt werden. Sie sind nur über Bande liebenswert, nur über Umwege interessant. Die aber kann nicht jeder gehen. Mit ihren Notes wird Sontag zur Godmother einer Haltung, die von Diederichsen in Sexbeat als »dieses eklige, moderne Wohlwollen der vermeintlichen Trivialität gegenüber« kritisiert wird. Von nun an wird die arrogante und gut zu vermarktende Formel in der Welt sein, etwas sei so schlecht, dass es schon wieder gut sei. Sontags Erklärung exekutiert das Paradigma ebenso elegant wie brutal, indem sie einerseits auf Seiten des Rezipienten leicht verkäufliche Ambiguitätssensibilität produziert (wir New Yorker Intellektuellen können wirklich aus Stroh Gold spinnen, noch im Scheußlichsten einen wohligen Reiz aufspüren), anderer-
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seits auf Seiten der Gegenstände die disziplinierenden Maßstäbe und Wertgefühle ohne jedes Zartgefühl mit einem eindeutigen Urteil bestätigt: Awful. Das ist die Haltung eines Vaters, der Tuntenshows persönlich recht amüsant findet, aber natürlich nicht möchte, dass der Sohn jemals dort sein Geld verdient. Kein Wert wird auf den Kopf gestellt. Alle Normen sind bestätigt. Die Shows sind nicht ernsthaft wichtig. Relevant an der Tuntenshow ist bestenfalls das, was der kluge Vater in seinem Kopf aus ihr zu machen vermag. Er kann sie, stellt er sich nur geschickt an, als Genie des Geschmacks so bemeistern wie der Bildhauer den Marmor, der ohne den Künstler auch nicht groß der Rede wert ist. Der erste, der solche intellektuellen Diskurse im Umfeld von Pop als Legitimationsdiskurse angriff, war Tom Wolfe, der 1975 in The Painted Word über die sehr direkte jugendliche Liebe zu den von der Pop Art dargestellten Konsum- und Medienobjekten schrieb: »Steinberg, Rubin, Alloway hatten Pop Art für koscher erklärt, man durfte sie anstandslos konsumieren, wo sie doch alles ›Zeichensysteme‹ waren, und nicht etwa Realismus. Aber alle anderen, von den Sammlern bis zu den Kulturmädchen, schummelten. Sie machten es wie der Mennonit, der aus religiösen Gründen kein Fernsehgerät zu Hause haben darf, es daher auf einen Zaunpfahl setzt und durch ein offenes Fenster das Programm verfolgt.« Die unkomplizierte Liebe zur eindeutigen Schönheit der Suppendose oder den Lippen der Monroe ist hier das Primäre, Echte – aber diese Liebe zur reizvollen Oberfläche ist im Diskurs eben nicht zugelassen. Es braucht das »Cheating«, das Schummeln des intellektuellen Diskurses, der die Liebe zu den hübschen Dingen hinter der Rede über Ambiguitäten verschwinden lässt, hinter den Expertendiskursen über Zeichenhaftigkeit und Resignifizierungsstrategien in der Pop Art etwa. Sehen wir die Darstellung einer Dose oder die Darstellung des Bilds einer Dose? Sehen wir diese Uneindeutigkeit, die unser Urteil herausfordert? Wenn wir sie nicht sehen, werden wir nicht zum Kreis der zum Urteil Ausgebildeten gehören können, zu den legitim Sprechenden, zu »denen«. Wir werden die Pop Art verpassen. Wer aber die Uneindeutigkeit entdeckt und bereit ist, sie als die eigentliche Pointe des Werks zu begreifen, der genießt komplexer, kultivierter. Das Publikum teilt sich in jene, für die trivialer, auf der Straße liegender »Pop« gemacht ist, und jene, für die schwierige, nach Geschmack und Kenntnis verlangende »Art« gemacht wird. Wolfe glaubt, dass die Kritiker sich die Lust am Trivialen und Eindeutigen verbieten wie der Mennonit den Fernsehapparat im Haus. Er glaubt den Kritikern nicht, dass ihr Interesse am Uneindeutigen wirklich ihr Interesse ist. Er glaubt, dass die Kritiker sich beschummeln, um nicht so dumm dazustehen wie diejenigen, die einfach nur Darstellungen von zauberhaften Dingen aus ihrer Lebenswelt mögen.
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Sontag versucht das Unmögliche: sie möchte der Institution und dem Camp zugleich entsprechen. Das geht nicht gut aus. Sie kann sich schreibend gar nicht vorstellen, dass es viele Welten mit vielen dort geltenden Partikularnormen gibt, dass euer »gut« (das Gute eurer Welt) nicht unser »gut« (nicht gut für unsere Welt) ist, dass andere ohne Scham das wirklich gut finden, was einem akademischen Publikum als fraglos schlecht gilt. Die Notes adressieren Menschen wie Susan Sontag. Camp findet die Dinge gut, weil sie so gut sind. Sontag kommt nicht in den Sinn, dass innerhalb der Institutionen gemachte Aussagen in ihrer Reichweite maximal beschränkt sind. Jack Smith setzt dies voraus. Immer. Publikum, Öffentlichkeit sind für ihn etwas, das vielfältig geteilt ist, und zwar vor allem entlang von Positionen in der sozialen Ordnung. Mit Smith verbindet sich die schwache Traditionslinie einer (außerinstitutionellen) totalen Zurückweisung des (von »den anderen« repräsentierten, in einer anderen Welt bedeutsamen) Paradigmas durch Ausschluss seiner Adjektive (good/bad/awful). Der Doxa begegnet Smith mit einer Geste der Verwerfung. In seinem Text The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez erläutert er 1962 die Camp-Verehrung für diese von der Kritik verachtete »Moldy Movie Queen« unter Verweis auf den Aspekt der Selbstermächtigung. Die Opposition der Terme wird von Smith durch Heranziehung eines dritten (idiosynkratischen) Terms außer Kraft gesetzt, der bezeichnenderweise nicht zum ästhetischen Vokabular gehört und einen anderen Kontext herbeiruft. Es ist der Term »belief«: »She believed and thereby made the people who went to her movies believe. Those who could believe, did. Those who saw the World’s Worst Actress just couldn’t and they missed the magic. Too bad – their loss.« Die Angemessenheit der filmischen Erscheinung von Montez führt Smith auf ihr Oszillieren zwischen Selbstdarstellung und dem Zitat von Schauspiel zurück. Sie erscheint auf der Leinwand in einer Folge von Posen, in denen sie zeigt, wie sie Schauspielen spielt. Ihr Glaube an sich selbst ist dabei so stark, dass die dominikanische Frau nie in einer ihr zugewiesenen Rolle aufzugehen bereit ist, sondern auf der Leinwand permanente Sichtbarkeit für sich selbst und für diesen Glauben reklamiert. Das mögen andere schlechtes Schauspiel nennen. Für Smith ist das deren Problem; er enthält sich in dieser Frage, wählt das Neutrum, den dritten Term, die Ambiguität. (Was würde es 1962 für einen Schwulen wie Smith auch bedeuten, in der Rolle aufzugehen, die zu spielen er gezwungen ist?) Den Glauben der Montez kann nur entdecken, wer die Alternativen des ästhetischen Paradigmas dauerhaft zurückstellt. Dem, der glaubt, stellen sich die Fragen derer nicht, die nicht glauben können. Die Pose, in deren Sichtbarkeit die auftretende Person eben nicht verschwindet, sondern sich eigentümlich verdoppelt, ist für Smith das eigentliche visuelle Ereignis. Sie setzt, so der Kunstwissenschaftler Craig Owens in seinem Aufsatz Posing, weder eine stabile Identität noch eine Rolle in Szene. Die Pose zeige vielmehr etwas Uneindeutiges zwischen Aktivität und
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Passivität, sei ein medialer Moment und der Name für das Ereignis, dass etwas sich hier im ›Dazwischen‹ zeige. Daran knüpft Diederichsen in Eigenblutdoping an, wenn er ausführt, die Pose halte – immer »nahe am Risiko« – eine »unentschiedene Zwischenstellung zwischen Markierung und Demarkierung«: »Der Poser bringt die existenzielle Komponente zurück, indem er das Leben zwischen Passion und Aktion der immer schon fertigen Vergesellschaftung vorzieht.« Zwischen Selbstdarbietung und zitathaftem Spiel sich ereignend, ermöglicht die ambige Pose es gerade dem infamen, beschämten Menschen, die Arbeit an einem unabschließbaren Werden von Identität ins Werk zu setzen. Diese durch die Scham hindurch gegangene Identität muss er mit großem Ernst aus den schäbigen Requisiten des Camps zusammenbasteln und kann nicht darauf hoffen, dass die Gesellschaft ihm dabei zu Hilfe kommt. Camp ist, so Regelson, »a response to a hopeless situation in which the world is structured against one’s existence.« In Smiths Text findet sich ein berührender Satz: »If you think you are invalid you may be the person who ridicules Montezʼ movies.« Er lässt sich so wenden: Wenn du den urteilenden Blick der anderen auf dich übernimmst, wirst du vielleicht auch ihren Blick auf Camp übernehmen, Sontags Blick, die Identifikation mit dem Aggressor. Für Smith genießen wir, so wir die Chance nicht verpassen, in der Begegnung mit Montez sehr ernsthaft einen Glauben (an sich selbst), der die durchs Urteil bewirkte Beschämung immer neu überwindet. Wir genießen bei der Übernahme des Glaubens der Montez die Stärkung unseres Glaubens an uns selbst, des Glaubens daran, etwas zu sein, an die Relevanz unseres verfickten Lebens. Gut oder schlecht, dieses oder jenes, wen kümmert’s? Das »wir« und das »du« sind dabei von Smith genau adressiert worden. Vielleicht hielt die ungläubige lesbische Autorin Susan Sontag einfach nicht genug von sich selbst, als sie Camp verriet, indem sie, ohne zu zögern, »awful« urteilte und sich damit auf die Seite des Paradigmas schlug. Sie hätte auch urteilen können: Schau nur, da ist etwas.
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Ambiguität der Gerechtigkeit Mehrdeutigkeit, Hegemonie und die soziale Frage im Gegenwartskapitalismus Silke van Dyk
Ambiguität wird als Zentralbegriff vor allem in der Rhetorik und Linguistik sowie in der Literaturwissenschaft und Kunsttheorie breit diskutiert, »Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit« werden »als Grundcharakteristikum des Ästhetischen« (Krieger 2014, 162) identifiziert. Anders sieht es im Feld des Politischen aus, das nicht arm an faktischen Ambiguitäten ist, wo Vagheit und Mehrdeutigkeit jedoch gemeinhin eher als problematisch und überfordernd betrachtet werden und die Eindeutigkeit politischer Statements als wünschenswert gilt. Für die mit dem Politischen befassten Sozialwissenschaften war Ambiguität zudem lange Zeit kein vorrangiges Thema. Dies hat sich mit dem Aufkommen bzw. Bedeutungsgewinn poststrukturalistischer, postmoderner und postfundamentalistischer politischer Theorien jedoch fundamental gewandelt, auch wenn der Begriff selbst in diesen Theoriesträngen keinen durchgängig zentralen Stellenwert einnimmt. Mit den im weiteren Sinne poststrukturalistischen Theorien1 ist dabei vor allem eine positive Neubewertung von Mehrdeutigkeit als Quelle politischer Handlungsmacht zu beobachten. Ich werde in diesem Beitrag das Potenzial dieser Theorien für die Analyse des hochgradig ambigen Konzepts der sozialen Gerechtigkeit diskutieren, das von zentraler Bedeutung für die politische Rahmung und Bearbeitung sozial- und wirtschaftspolitischer Fragen ist.
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Trotz zentraler Unterschiede zwischen poststrukturalistischen, postmodernen und postfundamentalistischen Theorien sowie zahlreicher Divergenzen innerhalb dieser theoretischen Felder (vgl. van Dyk 2012) fasse ich diese Theoriestränge als im weiteren Sinne poststrukturalistische Ansätze zusammen, geht es für die hier verhandelte Thematik doch um eine – im Folgenden darzulegende – zentrale Gemeinsamkeit dieser Strömungen.
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Der Poststrukturalismus und die Ambiguität Der fundamentale Zweifel an ›eigentlichen‹ Bedeutungen, den bereits Nietzsche formuliert hat, mündet in poststrukturalistischen Theorien in ein Denken wider die Eindeutigkeit. Bei aller Heterogenität kann diesem theoretischen Spektrum das bescheinigt werden, was Urs Stäheli eine »wahlverwandte theoretische Geste« (Stäheli 2000, 7) genannt hat: das differenztheoretische Denken, dem zufolge kein Element gesellschaftlicher Wirklichkeit identitätslogisch aus sich heraus bestimmt werden kann, sondern erst durch die Differenz zu dem, was es nicht ist. Der wesentliche und für die Frage der Ambiguität zentrale, poststrukturalistische Clou ist der Umstand, dass die Vielzahl der einzelnen Differenzen nicht auf ein Fundament oder ein organisierendes Prinzip (z.B. die Produktionsverhältnisse oder das Patriarchat) rekurrieren und durch dieses stabilisiert werden, sondern dass sie stets relational und beweglich – und damit kontingent – bleiben (van Dyk 2012, 188f.). Diese Vielzahl der Differenzen begründet die immanente Ambiguität der Verhältnisse. Das kontingente Gefüge wird, so der Kerngedanke poststrukturalistischer Theorien, gleichwohl vorübergehend fixiert und stabilisiert durch macht- und herrschaftsförmige Kontingenzschließungen – in Form von Wahrheiten, Institutionen, Gesetzen etc. Das Herzstück poststrukturalistischer Theorie ist deshalb der Fokus auf die Dekonstruktion, auf die Destabilisierung dieser temporär fixierten gesellschaftlichen Ordnung: Diese zielt darauf, die Gewalt und die Ausgrenzung aufzuzeigen, die jeder Bestimmung, jeder Fixierung, jeder Institutionalisierung zu eigen ist. Es ist diese kategoriale Differenz zwischen einer zugrundeliegenden Dynamik und ihrem je konkreten ›Ausdruck‹, den temporär fixierten gesellschaftlichen Verhältnissen, die aus dieser Perspektive den Raum für Veränderung öffnet. Diese Differenz markiert einen Ort der Entscheidung, denn jede Schließung ist nur temporär, keine ist stabil: Es existieren konkurrierende Subjektpositionen, uneindeutige Normen und praktische Interpretationsspielräume in einem stets bewegten Setting: »Keine Handlung findet ein für alle Mal statt, keine Norm steht für immer, keine Struktur überdauert, wenn sie nicht immer wieder als solche aktualisiert wird.« (van Dyk 2013, 59) Die dadurch erforderlichen Prozesse der (praktischen) Wiederholung bedingen nicht nur permanente Verschiebungen und Re-Justierungen und sind in diesem Sinne performativ, sie konstituieren das, »was Handlungsfähigkeit heißt innerhalb eines Diskurses« (Butler 1993, 125). Judith Butler hat die Repressivität von Geschlechtsidentitäten, die durch die hierarchischen Binaritäten ›Mann-Frau‹, ›Homo- und Heterosexualität‹ bestimmt sind und dementsprechend Eindeutigkeit verlangen, ebenso eindrucksvoll aufgezeigt wie das Potenzial subversiver queerer Alltagspraktiken, die diese Zuschreibungen durchkreuzen und umarbeiten. Sie rezipiert hier Derridas Geste der Dekonstruktion als eine »sich ganz in der Struktur der Ambiguität […] produzierende Bewegung«
Ambiguität der Gerechtigkeit
(Derrida [1972] 1995, 125). Im Anschluss an Butler und Derrida zeigt Miriam Haller (2011, 363) auf, dass die Dekonstruktion auf den »performativen Effekt der Ambiguität setzt, um wider die hierarchischen Dualismen »Ambivalenz auf der Wertebene herzustellen«. Ambiguität wird damit vom Problem zur Quelle von Handlungsfähigkeit und (potenzieller) Emanzipation: Das Ambige, Vieldeutige, Unabschließ- und Unkontrollierbare, Dynamische wird affirmiert, die Schließung, Institutionalisierung, Vereindeutigung und Fixierung hingegen problematisiert. Trotz der artikulierten normativen Abstinenz poststrukturalistischer Ansätze2 , werde – so Andreas Reckwitz – indirekt deutlich, dass »die Prämisse der Unkontrollierbarkeit kultureller Codes, eine […] positive normative Konnotation enthält: Dass die kulturellen Systeme gegen den eigenen Anspruch doch nicht fix, sondern unkontrollierbar sind, stellt sich als eine wünschenswerte Tendenz dar.« (Reckwitz 2008, 295) Verbreitet ist ein emphatisch aufgeladener anti-institutioneller, anarchistisch geprägter Gestus, der das regressive Potenzial anti-institutioneller Destabilisierungen und die potenziell emanzipatorische Kraft von partiellen Stabilisierungen, Bedeutungsfixierungen und Institutionalisierungen unterschätzt (vgl. kritisch van Dyk 2012, 203). Für das in diesem Beitrag diskutierte ambige Konzept der sozialen Gerechtigkeit stellen sich vor diesem Hintergrund zentrale Fragen im Feld der Politik bzw. des Politischen: Können nicht auch und gerade Eindeutigkeit und Verlässlichkeit durch Disambiguierung, z.B. in Gestalt eines institutionalisierten sozialen Rechts, einen emanzipatorischen Effekt haben? Lässt sich das für poststrukturalistische Theorien so produktive Spiel der Differenzen, basierend auf der Unabgeschlossenheit von Bedeutung und ihrer praktischen Durchkreuzung überhaupt produktiv auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse und ihre Institutionalisierungen im Gegenwartskapitalismus übertragen? Ich werde im Folgenden zeigen, dass im weiten Feld poststrukturalistischer Theorien verortete analytische Perspektiven – wie z.B. das Konzept des leeren Signifikanten – äußerst hilfreich sind, um die Ambiguität von Gerechtigkeit im Gegenwartskapitalismus zu analysieren, während sich zugleich die dargelegte implizite Normativität für diesen Gegenstand als problematisch erweist. Die Ambiguität der Gerechtigkeit, so die These des Beitrags, erweist sich gerade nicht als herrschaftskritisches Potenzial, sondern sie trägt ganz im Gegenteil zur De-Thematisierung von Verteilungs- und Klassenkonflikten bei und verstellt den Blick auf den Umstand, dass »Befreiung […] nur möglich [ist], wenn es auch Stabilitäten und Sicherheiten gibt« (Zelik 2011, 126).
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Die Kritikperspektive des Poststrukturalismus ist nicht im engeren Sinne normativ, sondern gekennzeichnet durch eine Problematisierung von Universalität, Stabilität und Befreiungsemphase, die ihrerseits die Zurückweisung eines universal gültigen Normenkatalogs erfordert.
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Die Gerechtigkeit und ihre Prinzipien Im Handgemenge des politischen Alltagsgeschäfts fällt ins Auge, dass es keine politische Kraft gibt, die ihre Anliegen ohne Bezugnahme auf Gerechtigkeit als Orientierungsgröße vorbringt. Von der NPD und AfD über SPD und Linkspartei bis hin zur Union, den Grünen und der FDP fehlten Gerechtigkeitsbezüge in den letzten Bundes- und Landtagswahlkämpfen nicht, und auch in alternativen sozialen Bewegungen (z.B. der Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen oder der Fridays-For-Future-Bewegung für mehr Klimagerechtigkeit) ist der Bezug zentral. »›Mehr Ungerechtigkeit‹ ist keine denkbare Parole.« (Nullmeier 2009, 10) Erst die theoretisch-konzeptuelle Vieldeutigkeit von Gerechtigkeit ermöglicht Anschlüsse in dieser politischen Bandbreite. Amartya Sen hat prononciert auf die der Gerechtigkeitsnorm eingeschriebene Vielstimmigkeit hingewiesen und betont, dass »Theoretiker unterschiedlicher Denkrichtungen, also Utilitaristen, ökonomische Egalitarier, Arbeitsrechtstheroretiker und nüchterne Liberale alle der Ansicht sein [können], dass es eine unkomplizierte gerechte […] Lösung gibt.« (Sen, zit.n. Neuhäuser 2013, 93f.) Und selbst rechtsextreme Politiker*innen finden noch Vorstellungen nationalistisch verfasster Gerechtigkeit, auf die sie sich beziehen können. Faktisch begegnen wir einer doppelten Ambiguität von Gerechtigkeit, gekennzeichnet erstens durch eine Vielzahl von Gerechtigkeitskonzepten, die sich zum Teil diametral entgegenstehen (vgl. Borchard 2013; Liebig, May 2009) und die – zweitens – zumeist ihrerseits hochgradig ambig sind. In aller Kürze und am Beispiel des berühmten Kuchens, lässt sich sagen: Als gerecht gilt es sowohl, allen Menschen ein gleich großes Stück vom Kuchen zu geben, als auch denjenigen ein besonderes großes, die Mehl oder Zucker beigesteuert oder besonders emsig gerührt haben; aber auch eine Zuteilung, die fragen würde, wer gerade besonders viel Kuchen braucht, kann gerecht sein (wobei der jeweilige Grund »Liebeskummer«, »Entlassung« »lange keinen Zugang zu Kuchen gehabt«) seinerseits umstritten sein kann; dies gilt ebenso für Zuteilungsregeln, die einige von der Kuchenzuteilung ausschließen (zum Beispiel, weil sie aus einem anderen Staat kommen), oder eine Praxis, die gar keine Verteilung vornimmt, sondern allen ein Messer und eine Gabel in die Hand drückt (in deren Gebrauch zuvor alle geschult wurden) und den Rest dem Wettbewerb bei der Kuchenzerteilung überlässt. Dann könnte jemand kommen und anmerken, eine gerechte Verteilung sei nur möglich, wenn auch die Arbeitsbedingungen der Bäcker*innen gerecht seien, und ganz selten fragt auch mal jemand – der Topos ist altbekannt –, wem eigentlich die Bäckerei gehört. Ein anderes, sehr bekanntes Beispiel stammt von Amartya Sen, dessen pluralistische Zweifel an Gerechtigkeit im Singular die Kritik an der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls leiten: Drei Kinder streiten um eine Flöte und können jeweils gute Gründe dafür anführen, wem die Flöte gerechterweise zusteht: Das erste kann
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sie aufgrund seiner Fähigkeiten am besten nutzen, das zweite verfügt über kein anderes Spielzeug, und das dritte hat die Flöte hergestellt (vgl. zu diesem Beispiel Neuhäuser 2013, 93f.). Zunächst sind wir also mit einer großen Bandbreite von Konzepten konfrontiert, die sich hinsichtlich der zugrundeliegenden Prinzipien, der Anwendungsbereiche sowie der als legitim erachteten Bezugsgemeinschaften grundlegend unterscheiden. Wir haben es aber nicht einfach mit konkurrierenden Prinzipien zu tun, sondern die Ambiguität des Gerechtigkeitskonzepts erzeugt eine eigene politische Realität: »In vielen Meinungsäußerungen, Parteiprogrammen etc. verschmelzen diese teils widersprüchlichen, teils einander ergänzenden oder voraussetzenden Gerechtigkeitskonzepte häufig bis zur Ununterscheidbarkeit.« (Hradil 2013, 180) Klassisch werden die Gerechtigkeitsprinzipien Gleichheit, Leistung und Bedarf unterschieden (vgl. Liebig, May 2009, 5). Sie schließen sich im institutionellen Gefüge von Solidargemeinschaften dabei nicht zwingend aus, finden sich doch gerade in der Architektur von Wohlfahrtsstaaten unterschiedliche Verknüpfungen – so folgen Grundsicherungs- und Sozialhilfesysteme paradigmatisch dem Prinzip des Bedarfs (ohne ihm deshalb zu genügen), die Sozialversicherung dem der Leistung und die Krankenversicherung (zumindest in ihrer gesetzlichen Form) dem der Gleichheit.3 Doch bereits die Prinzipien selbst erweisen sich ihrerseits als vieldeutig, so sind im Fall der Gleichheit variierende Bezugsgrößen mit weitrechenden Implikationen zu identifizieren: Dies betrifft die Frage, ob es um die Gleichheit der Verteilung (im Sinne einer ex-post-Gleichheit) oder um eine Gleichheit der Chancen (im Sinne einer ex-ante-Gleichheit) geht, wobei letztere in Umfragen regelmäßig priorisiert wird (vgl. Borchard 2013, 36). Wo Einkommensund Vermögensungleichheiten im ersten Fall grundlegende Gerechtigkeitsfragen aufwerfen, tun sie dies im zweiten Fall gerade nicht, dient das Prinzip der Chancengleichheit, im Sinne gleicher Startchancen und eines unter diesen Bedingungen ausgetragenen Wettbewerbs doch gerade der Legitimation ungleicher Ergebnisse. Die Re-Akzentuierung des Gleichheitsprinzips als Chancengleichheit ist damit gewichtig und markiert einen fließenden Übergang zum Leistungsprinzip, das im aktivierenden Wohlfahrtsstaat gegenüber Ansprüchen des Bedarfs und der Verteilungsgleichheit an Gewicht gewinnt (vgl. Nullmeier 2009, 13f.). Zusätzlich ist eine große Diskrepanz zwischen der Affirmation des Prinzips und den faktischen sozialen, ökonomischen und bildungspolitischen Voraussetzungen zu konstatieren, die zuverlässig die empirische Evidenz fundamentaler Chancenungleichheit ausweisen. So ist insbesondere die Herkunftsabhängigkeit von Bildung empirisch
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Zu unterschiedlichen Gewichtungen von Gerechtigkeitsprinzipien in den verschiedenen – liberalen, sozialdemokratischen und konservativen – Wohlfahrtsregimen vgl. Opielka 2006; zur Relationierung von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit im deutschen Wohlfahrtsstaat vgl. Leitner 2017.
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gut belegt und gewinnt an Bedeutung, ohne dass Wege zu ihrer Überwindung beschritten würden. Die Bildungsforscherin Heike Solga (2009) spricht angesichts dessen davon, dass das Prinzip der Meritokratie faktisch als moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen fungiere. Diese Diskrepanz wird alltagspolitisch auch und gerade durch die Ambiguität des Prinzips der Leistung abgefedert, das – so Lutz Leisering (2004, 45) – »multireferenziell ist und unterschiedliche […] Systemreferenzen erlaubt«, so insbesondere im Blick auf Markt, Sozialstaat und Familie. Auf dem Markt wie in der Architektur von Wohlfahrtsstaaten, die wie der deutsche Sozialstaat als Sozialversicherungsstaat fungieren, wird Leistung mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt, im aktivierenden Sozialstaat ist zudem eine Stärkung der Erwerbszentrierung zu beobachten (»jede Arbeit ist besser als keine«). Nicht beantwortet ist damit jedoch, warum die Leistung einer Krankenschwester anders gewichtet wird als die eines IT-Spezialisten, und es bleibt eben offen, ob die Zugänge zu diesen Positionen gerecht geregelt sind. Auch werden Markterfolge, die häufig gerade nicht auf Arbeit zurückzuführen sind, immer häufiger und faktisch als Leistungsäquivalent verstanden (vgl. Neckel 2008, 45ff.; Nullmeier 2009, 14), während Umfragen zeigen, dass die Idee der Leistungsgerechtigkeit zwar »außerordentlich populär« (Can, Engel 2014, 189) ist, dass dabei »aber weniger das eigentliche Erfolgskriterium angelegt [wird], als vielmehr das Kriterium steter Mühe« (ebd.) – unabhängig vom Ergebnis. Die Architektur von Sozialversicherungssystemen rekurriert zudem auf eine Leistung, die unter den strukturellen Bedingungen des Gegenwartskapitalismus von immer weniger Menschen erbracht werden kann: Die deutsche Rentenversicherung operiert mit dem sogenannten Eckrentner, der 45 Jahre Vollzeit gearbeitet hat. In Zeiten verlängerter Ausbildungswege sowie der zunehmenden Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit, in Zeiten da nur eine Minderheit der älteren Arbeitnehmer*innen aus sozialversicherungspflichtiger Vollzeiterwerbstätigkeit in den Ruhestand gehen – in diesen Zeiten handelt es sich um ein Leistungsverständnis, das mit den Lebenswelten kollidiert (vgl. Blank et al. 2013, 316ff.). Hinzu kommt die Geschlechtsspezifik, ist mit dieser Engführung von Leistung auf Erwerbsarbeit doch zugleich die Abwertung und Entwertung unbezahlter Reproduktions- und Sorgearbeit verbunden (vgl. Freytag 2013, 31f.). Dass auch das wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte Leistungsverständnis bei aller Erwerbsorientierung ambig ist, zeigt sich an Entwicklungen, im Zuge derer zum Beispiel unbezahlte Sorgearbeit in der Kindererziehung oder Pflege (zumindest rudimentär) anspruchsbegründend in der Renten- und Pflegeversicherung sind (vgl. Blank et al. 2013, 314). Auch das Prinzip des Bedarfs ist durch Ambiguität gekennzeichnet. In seiner sozialpolitischen Institutionalisierung geht es hier in der Regel um Mindestbedarfe im Sinne eines Existenzminimums, wobei bereits hier strittig ist, was Mindestbedarfe umfassen sollen/müssen (z.B. in Bezug auf kulturelle Teilhabe, die über die unmittelbaren Bedarfe der alltäglichen Reproduktion hinausgeht). Auch ist die
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Praxis zu beobachten, Standards, die eigentlich als Existenzminimum bedarfsorientiert festgeschrieben waren, für bestimmte Bevölkerungsgruppen explizit zu unterlaufen, so insbesondere in der Grundsicherung für Asylbewerber*innen (vgl. Scherschel 2010). Ähnlich wie beim Prinzip der Leistung wird auch diese, eigentlich dem Wortsinn des Existenzminimums zuwiderlaufende Praxis durch die Ambiguität des Bedarfsprinzips abgefedert. Die Ambiguität des Konzepts wird noch dadurch gesteigert, dass neben allgemeinen Standards auch spezifische Bedarfe (z.B. im Fall von Krankheit oder Behinderung) Berücksichtigung zu finden haben, bei denen wiederum die Orientierung an Minimalstandards strittig sein kann. Ähnlich wie das Leistungsprinzip erfährt auch das Bedarfsprinzip in Umfragen hohe Zustimmungswerte, wobei dies v.a. dann gilt, wenn es sehr allgemein – also ohne weitere Konkretisierung der Bedarfe – über die Zustimmung für die Unterstützung Schwacher und Hilfsbedürftiger abgefragt wird (vgl. Eisnecker et al. 2018).
Neue Gerechtigkeitskonzepte Jenseits der Vielstimmigkeit von Gerechtigkeitsprinzipien und ihrer wiederum jeweiligen Ambiguität ist in der jüngeren Vergangenheit eine wahre Explosion von Gerechtigkeitskonzepten zu beobachten, von der Popularisierung der Generationengerechtigkeit über die Geschlechtergerechtigkeit bis hin zur Teilhabegerechtigkeit, wobei Letztere häufig auch als Oberbegriff neuer Gerechtigkeitskonzepte gefasst wird (vgl. Nullmeier 2009, 10f.; Leisering 2004, 36ff.; Forst 2005, 25). Mit der Generationengerechtigkeit werden die zeitlichen Bezüge ausgeweitet und weitere Ambiguitäten in die Gerechtigkeitsdebatte importiert (vgl. Moody 2007), da hier insbesondere changiert, ob mit ›Generationengerechtigkeit‹ Altersgruppengerechtigkeit im Hier und Jetzt oder Alterskohortengerechtigkeit in der longue durée erfasst wird (vgl. van Dyk 2015, 95ff.). Mit der Teilhabegerechtigkeit wiederum wird die Logik von Gerechtigkeit dahingehend umgestellt, dass es nicht mehr um eine »gradualistische […] Logik des Mehr oder Weniger« (Nullmeier 2006, 180) geht (eine Logik, die fast allen zuvor diskutierten Prinzipien zu eigen ist), sondern um ein binäres Schema von ›Drinnen oder Draußen‹, das die Binnenstruktur des weit gefassten ›Drinnen‹ und damit zentrale Aspekte sozialer Ungleichheit de-thematisiert. Generationen- und Teilhabegerechtigkeit werden in diesem Sinne im politischen Feld häufig gegen ›alte‹ Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit ins Feld geführt (vgl. Leisering 2004, 38f.).4 Am populärsten und einflussreichsten für aktuelle Gerechtigkeitsdiskurse und daran anschließende politische Regulierungen ist das Konzept der Generationen4
Für einen Versuch, Teilhabegerechtigkeit als politische Gerechtigkeit inklusiv weiterzudenken vgl. z.B. Forst 2005.
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gerechtigkeit. Es gibt keinen politischen Akteur, der sich nicht darauf bezieht, die Zustimmung in Umfragen ist groß – und das, obwohl (oder gerade weil) kein Konzept ambiger ist als dieses. Neben dem bereits benannten, gravierenden Unterschied zwischen Altersgruppen- und Alterskohortengerechtigkeit geht es hier um die Unbestimmtheit der in Bezug genommenen Prinzipien: Generationengerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit, als Leistungsgerechtigkeit oder als Bedarfsgerechtigkeit? Zwei Aspekte sind hier besonders augenfällig und reich an Konsequenzen: Zum einen hat die Fokussierung auf inter-generationale Fragen geraume Zeit höchst erfolgreich den Blick auf intra-generationale Ungleichheiten und Verhältnisse verstellt. Über die Adressierung von Generationenbeziehungen, verbunden z.B. mit der Frage, wie ›die Jungen‹ gegenüber ›den Alten‹ gestellt sind (das wäre die Altersgruppengerechtigkeit), ist eine jeglicher einschlägiger Empirie entgegenstehende Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse innerhalb von Altersgruppen gelungen. Zum anderen zeigt sich am Beispiel der Generationengerechtigkeit, wie über die Artikulation von Gerechtigkeitsfragen die De-Thematisierung von Klassen- und Verteilungsverhältnissen gelingt: »Generationengerechtigkeit bot die Möglichkeit, am Leitwert Gerechtigkeit festzuhalten, aber Fragen ›alter Verteilungspolitik‹ zu verabschieden.« (Nullmeier 2009, 11) Nichts ist so populär (und auf den ersten Blick so unmittelbar plausibel) wie die Krisendiagnose, dass der Sozialstaat unter der Last der vielen Rentner*innen zusammenbrechen werde, spätestens, wenn jedem Rentner nur noch ein oder zwei Erwerbstätige gegenüberstünden, was gerne mit dem Bild der Wippe, auf der eine Horde Älterer zwei einsame Erwerbstätige in der Luft hält, versinnbildlicht wird. Mit dieser vereinfachten Darstellung verschwinden komplexe Zusammenhänge aus dem Blick, so insbesondere, dass nicht die Anzahl der Erwerbstätigen entscheidend ist, sondern deren Produktivität, d.h. das von ihnen erwirtschaftete Produkt (vgl. Braun 2011, 77f.). Wenn nun von diesem Produkt ein immer kleinerer Anteil an die Lohnabhängigen geht, dann gibt es tatsächlich Finanzierungsprobleme in der erwerbsbasierten, beitragsfinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung. Diese haben aber mehr mit der konstant sinkenden Lohnquote als mit der bloßen Anzahl von Rentner*innen zu tun – und damit mit Prozessen der Deregulierung und Prekarisierung von Arbeit im flexiblen Kapitalismus (vgl. van Dyk 2015, 90ff.). Faktisch ist das ambige Konzept der Generationengerechtigkeit, wie Martin Kohli zu Recht anmerkt, zum »Kampfbegriff für eine Kürzung der Sozialleistungen für das Alter [geworden]. Und da die Älteren die gewichtigsten Klienten des Wohlfahrtsstaats sind, richtete sich der Kampf – manchmal als unbeabsichtigter Neben-, manchmal als beabsichtigter Haupteffekt – gegen den Wohlfahrtsstaat insgesamt.« (Kohli 2006, 120f.)
Ambiguität der Gerechtigkeit
Die Grenzen der Gerechtigkeit Last but not least und mit großer politischer Aktualität sind die (Kooperations-)Gemeinschaften und sozialen Kollektive strittig und im Wandel begriffen, auf die sich Gerechtigkeitskonzepte beziehen. Sexistische und rassistische Grenzziehungen haben historisch die für Gerechtigkeitsansprüche relevanten Subjekte als weiß und männlich definiert. Darüber hinaus ist mit der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten eine enge Koppelung von Gerechtigkeitskonzepten an nationalstaatlich organisierte sozialstaatliche Sicherungssysteme zu verzeichnen, durch die dezidiert nationale Bezugskollektive bestimmt werden. Während ständische Privilegien des Geschlechts, der Herkunft oder der Ethnizität in den liberalen Demokratien zunehmend de-legitimiert worden sind (ohne deshalb empirisch von der Bildfläche verschwunden zu sein), ist die Staatsbürgerschaft als Bezugsgröße weitgehend unstrittig. Hier greift nach wie vor ein traditionsreiches Gerechtigkeitsprinzip, das des »Anrechts«, das nicht an Leistung, sondern »an Status- und Positionsmerkmale« (Liebig, May 2009, 5) gekoppelt ist und das ob seiner feudalen Implikationen in den aktuellen Gerechtigkeitsdiskussionen in den Hintergrund gerückt ist. In seiner Wirkmächtigkeit via Staatsbürgerschaft werden hingegen seine feudalständischen – und damit nach Kriterien moderner Gesellschaften willkürlichen – Wurzeln recht erfolgreich verschleiert. Tatsächlich stellt Staatsbürgerschaft einen Spezialfall des Erbes dar, das von Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird und zentral für die Verteilung von Ressourcen, Eigentumstiteln und Zugehörigkeit ist, ohne dass etwa eine Leistung erbracht wurde oder ein Bedarf vorliegen müsste. Staatsbürgerschaft als »inherited property« (Shachar, Hirschl 2007) bzw. als unverdiente »Ortsrente« (Milanovic 2016, 11) wirft damit nicht zuletzt die Frage gerechter Migration auf (Pries 2015, 179f.), fällt die genannte ›Ortsrente‹ doch je nach Geburtsort und -land höchst unterschiedlich aus. Umgekehrt werden Prozesse der Transnationalisierung und der Globalisierung aber auch als Argument gegen konkrete Gerechtigkeitskonzeptionen bemüht: So setzt Liebig und May zufolge »die Idee der Bedarfsgerechtigkeit eine Gesellschaft voraus, die sich als Solidargemeinschaft versteht und in gemeinsamen Identitäten wurzelt. In dem Maße, wie auf Herkunft oder Religion beruhende Gemeinsamkeiten nicht mehr bestehen, verlieren entsprechende normative Forderungen ihre Basis.« (Liebig, May 2009, 3) Die Möglichkeit einer politischen Lösung, das heißt einer gesellschaftlichen Aushandlung darüber, was der Bezugsrahmen einer Solidargemeinschaft sein kann und soll, wird hier von vornherein ausgeschlossen. Der Ambiguität auf der konzeptuellen Ebene der Gerechtigkeit korrespondiert in diesem Fall eine Vereindeutigung der Bezugsgruppen und -grenzen qua Naturalisierung.
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Die Konsequenzen der Ambiguität von Gerechtigkeit Die Ambiguität von Gerechtigkeit führt einerseits zu einer Inflationierung von Gerechtigkeitsrhetorik, während sie andererseits und zugleich auf unterschiedliche Weisen eine De-Thematisierung von sozialer Ungleichheit und Klassenverhältnissen bedingt. Während Ambiguität in anderen Feldern, wie der Kunst oder der Literatur, dazu eingesetzt werden kann, gesellschaftliche Konflikte zu dynamisieren und die Komplexität eines Gegenstands auszuleuchten, passiert im Feld der Gerechtigkeit genau das Gegenteil: Gesellschaftliche Verteilungskonflikte werden ›entdynamisiert‹ und in einer Diskursarena aufgelöst, in der alle ›irgendwie‹ für Gerechtigkeit sind, während diese Vielstimmigkeit nur selten in ihrer Komplexität durchdrungen und auf ihre Macht- und Verteilungseffekte hin befragt wird. Tatsächlich stellt ›Gerechtigkeit‹ einen klassischen »leeren Signifikanten« im Sinne des poststrukturalistisch-postmarxistischen Theoretikers Ernesto Laclau ([1996] 2010, 65ff.) dar. Leere Signifikanten stehen im Zentrum hegemonialer Diskurse und sind »chronisch unterbestimmt durch ein fixes Signifikat« (Reckwitz 2006, 343). In dieser Deutungsoffenheit zeichnen sie sich durch ein hohes Maß an Ambiguität aus. Klassisch poststrukturalistisch geht Laclau sowohl von der konstitutiven Unmöglichkeit einer finalen Bedeutungsfixierung als auch der Notwendigkeit partieller Fixierungen aus. Eine kulturelle Hegemonie dieser partiellen Fixierungen liegt dann vor, wenn es einem Diskurs gelingt, sich (vorübergehend) als alternativlos, notwendig und universal zu verankern und damit »einen ›Knotenpunkt‹ für eine ›imaginäre Einheit‹ des Diskurses zu liefern, dem Diskurs den Schein einer Fundierung zu verleihen« (Reckwitz 2006, 343). Die Konflikte um die Besetzung dieses leeren Ortes sind Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und bilden nach Laclau den Kern von Politik. Der Prozess der hegemonialen Schließung (der konstitutiven Deutungsoffenheit) erfolgt durch eine Logik der Äquivalenz, die in eine Logik der Differenz eingelassen ist, und genau dieser Punkt ist für die Analyse der Ambiguität von Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung: Äquivalenzketten entstehen, wenn eine Vielzahl differenter Elemente durch eine ihnen gemeinsame Bedeutung verknüpft und zu einer imaginären Einheit zusammengefügt werden, die notwendig komplexitätsreduzierend ist. Tatsächlich ist die Bandbreite dessen, was als gerecht firmiert – wie dargelegt – groß; dass trotzdem eine partielle Fixierung gelingt, ist nur vor dem Hintergrund der Logik der Differenz zu verstehen: Diese Differenz wird durch ein konstitutives Außen gestiftet, das verstanden werden kann als »eine radikale Andersheit« (Stäheli 2000, 37). Im Fall des ›leeren Signifikanten‹ Gerechtigkeit ist eine partielle Bedeutungsfixierung dahingehend gelungen, dass das Prinzip der Gleichheit (in Bezug auf Eigentum, Besitz und Verteilung) zunehmend aus dem Gerechtigkeitsdiskurs verschwunden ist und das radikale Außen markiert, verbunden mit einer De-Thematisierung von Klassenverhältnissen. Gerechtigkeit als ambigen, leeren
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Signifikanten zu analysieren ist besonders fruchtbar, weil es den Blick darauf lenkt, dass die machtvolle, partielle Bedeutungsfixierung auch deshalb erfolgreich war und ist, weil der Blick auf diese hegemoniale Schließung durch die gleichzeitige ›Explosion‹ von Gerechtigkeitskonzepten (Geschlechtergerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit) bei fortgesetzter Bedeutungsvielfalt von Gerechtigkeitsprinzipien verstellt wird. Die machtvolle Bedeutungsfixierung liegt bei aller Vielfalt darin, dass Gleichheit und Gerechtigkeit dahingehend entkoppelt werden, dass das Prinzip der ex post-(Verteilungs-)Gleichheit aus dem Gerechtigkeitsdiskurs verschwindet. Dies gilt für die Umdeutung des Gleichheitsprinzips im Sinne einer ex ante-Chancengleichheit mit starker Betonung meritokratischer Elemente; für die Idee der Teilhabegerechtigkeit als Mindestsicherung bei gleichzeitiger De-Thematisierung von Sozialstruktur und Ungleichheitsverhältnissen; für Geschlechtergerechtigkeit als Chancengleichheit mit einer Fokussierung auf Leistungsgerechtigkeit für Hochqualifizierte; für Generationengerechtigkeit als Re-Artikulation von Verteilungskonflikten entlang der Linie alt/jung, die die klassischen Gegensätze arm/reich bzw. unten/oben überschreibt.
Poststrukturalistische Ambiguität und die Frage der sozialen Gerechtigkeit So produktiv der poststrukturalistische Blick auf die konstitutive Ambiguität gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre partiellen, machtvollen Schließungen ist, um die beschriebene Vereindeutigung bei kontrollierter Vervielfältigung zu fassen, so sehr zeigen sich im Blick auf die Thematik der sozialen Gerechtigkeit aber auch entscheidende Schwachstellen der poststrukturalistischen Affirmation von Ambiguität und Offenheit. Mit dem (wie dargelegt implizit normativ aufgeladenen) poststrukturalistischen Fokus auf die De-Stabilisierung von Fixierungen, auf das permanente Unterlaufen herrschender Verhältnisse durch ihre konstitutive Re-Iteration und Re-Artikulation geraten vor allem die unterschiedlichen Stabilitätsniveaus hegemonialer Schließungen aus dem Blick (vgl. kritisch: van Dyk 2012, 205f.). Um diese zu adressieren, müssen die auf De-Stabilisierung zielenden (Alltags-)Praktiken empirisch rückgebunden werden an Institutionalisierungstiefen und Verankerungsmodi einerseits sowie an strukturelle Verhältnisse wie den Prozess der Kapitalakkumulation andererseits. Kapitalistische Verhältnisse zeichnen sich durch beständige Revolutionierung und Veränderung aus, ja sie profitieren – wie vielfach gezeigt (vgl. prominent z.B. Boltanski, Chiapello 2006) – von kreativen Abweichungen, ohne dass deshalb die Grundfesten der Kapitalakkumulation und Profitmaximierung subversiv unterlaufen würden. Die Ambiguität von Gerechtigkeit gilt es in diesen Kontextbedingungen zu analysieren.
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Mit konzeptuellen Anleihen bei Antonio Gramsci kann die Rückbindung der Hegemonieanalyse an Kompromissgleichgewichte unter kapitalistischen Bedingungen gelingen, wodurch der analytische Blick auf die Vereindeutigung von Gerechtigkeit bei kontrollierter Vielfalt geschärft wird: »Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können.« (Gramsci [1932-34] 1996, 1567) Chancengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit oder Generationengerechtigkeit sind Konzepte, die Zugeständnisse an ein gesellschaftlich breit verankertes Gerechtigkeitsbegehren machen, dieses aber in einer Weise kurzschließen, die für den Prozess der Kapitalakkumulation und die Reproduktion kapitalistischer Arbeitsund Lebensverhältnisse ungefährlich ist bzw. diesen durch die Überwindung ständisch-feudaler Hürden sogar neue Ressourcen zuführt, z.B. durch die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Am Beispiel der Generationengerechtigkeit konnte zudem gezeigt werden, wie im Namen der Gerechtigkeit zentrale Leistungen und Mechanismen des Wohlfahrtsstaats in Frage gestellt werden (können). Damit verlieren diese Gerechtigkeitskonzepte nicht automatisch jeglichen emanzipatorischen Wert. Es wird aber analytisch greifbar, dass und warum partielle Fixierungen im Diskurs eben nicht nur kontingente Knotenpunkte im Fluss der Differenzen sind, sondern dass sie durch zentrale Prinzipien – in diesem Fall sind es die Kapitalakkumulation, die Profitorientierung und der marktförmige Wettbewerb – orchestriert (gleichwohl nicht determiniert) werden. Das Gerechtigkeitsprinzip der (Verteilungs-)Gleichheit, das im Zuge der hegemonialen Bedeutungsfixierung von Gerechtigkeit unter Bedingungen kontrollierter Vielfalt radikal marginalisiert worden ist, steht diesen Prinzipien fundamental entgegen. Vor diesem Hintergrund wurden Verteilungsgerechtigkeit und eine in diesem Sinne verstandene soziale Gerechtigkeit »als alte, veraltete, traditionelle Konzepte eingestuft, die den heutigen Bedingungen nicht mehr entsprechen« (Nullmeier 2006, 179). Neben dem Fokus auf solche systemischen Verankerungen und Stabilisierungen, die nicht gleichermaßen in alltäglichen diskursiven Praxen umzuschreiben sind, ist es erforderlich, die implizite Normativität der Affirmation von DeStabilisierung als anti-institutionelle, Vereindeutigung durchkreuzende Praxis herauszufordern: Sie verstellt in ihrer Absolutheit und gerade im Blick auf sozio-ökonomische Sachverhalte den Blick auf die entscheidende Frage, welche Institutionen, welche Gesetze, welche Wissensordnungen emanzipatorischen Zwecken dienen (können) und welche eher als machtvolle Schließungen diskriminieren und ausschließen – Zwischenstufen und Ambivalenzen stets eingeschlossen. Eine
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gerechte Ordnung, die die Gleichheit aller Menschen institutionell zu schützen sucht, ist immer auch auf Verlässlichkeit und Stabilität angewiesen, zum Beispiel in Form institutionalisierter sozialer Rechte und Infrastrukturen – auch wenn sie natürlich ihrerseits anfechtbar und kritisierbar bleiben muss. Auch verkennt die einseitige Emphase von De-Stabilisierungen und anti-institutionellen Interventionen nicht zuletzt ihr regressives Potenzial: So ist die Problematisierung von Ökonomisierung und Leistungsdruck im Gegenwartskapitalismus beispielsweise nicht notwendig progressiv und auf Emanzipation ausgerichtet, sondern kann auch mit der nostalgischen Verklärung und Rehabilitierung einer feudalistischen Vergangenheit samt ihren restriktiven, diskriminierenden Sicherheiten und Exklusivitäten einhergehen.
Soziale Gerechtigkeit von rechts? Solche regressiven Wendungen in sozio-ökonomischen Fragen sind derzeit mit wachsender Vehemenz zu beobachten: Wir sind Zeug*innen einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus, der nach den Erschütterungen der Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2008 zunächst von linken Bewegungen und Parteien in Frage gestellt wurde: Dies fing mit den weltweiten Protest- und Occupybewegungen an (Sitrin, Azzelini 2014), setzte sich fort in der innereuropäischen Uneinigkeit ob der von Deutschland forcierten Austeritätspolitik (Kundnani 2016) und hat seinen stärksten Ausdruck mit dem Wahlsieg von Syriza in Griechenland und dem Aufstieg der Bewegungspartei Podemos in Spanien gefunden. In der jüngeren Vergangenheit hat sich das Blatt jedoch gewendet, und mit dem Brexit, dem Wahlsieg Trumps, dem Erstarken rechter Kräfte in Nordamerika und Europa gerät die Hegemonie des Neoliberalismus zunehmend von rechts unter Druck (vgl. Huke 2019; Flecker et al. 2019; Norris, Inglehart 2019). Die langjährige Gewissheit, ›System‹ käme mehr oder weniger von rechts bzw. würde von etablierten/regressiven Kräften getragen und ›Bewegung‹ käme von links bzw. würde emanzipatorisch herausfordern, ist erodiert – und damit eine Gewissheit, die einen Großteil der (postfundamentalistischen) politischen Philosophie der vergangenen Jahre geprägt hat. Beispielhaft sei hier Jacques Rancières (2010) berühmte Unterscheidung von ›Polizei‹ und ›Politik‹ genannt, erstere als Begriff für die institutionalisierte politische Ordnung, zweitere als Ausweis der emanzipatorischen Herausforderung dieser Ordnung von ihren exkludierten Rändern her. Begleitet wird diese Entwicklung von einer kontroversen Debatte darüber, ob das Erstarken rechter Kräfte und Parteien eine Antwort auf ein von links unbeantwortetes Gerechtigkeitsstreben der unteren Schichten darstellt, die unter der neoliberalen Restrukturierung sozialer Sicherungssysteme sowie der Deregulierung und Prekarisierung von Erwerbsarbeit zu leiden haben (vgl. prominent: Eribon
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2016; im Überblick: van Dyk, Graefe 2018). Da weder bei Donald Trump noch in der AfD oder der FPÖ ein konsequent anti-neoliberales wirtschafts- und sozialpolitisches Programm auszumachen ist,5 ist ein bedeutsamer Teil dieser Kontroverse auf die Ambiguität von Gerechtigkeit zurückzuführen: Erst diese ermöglicht es, das Verlangen nach rassistischen, nationalistischen oder sexistischen Ausschlüssen als Streben nach sozialer Gerechtigkeit zu re-artikulieren – und damit die Grenzen der Gerechtigkeit neu (bzw. re-traditionalisierend) zu ziehen – wie beispielhaft und besonders drastisch die NPD mit ihrem Slogan »Soziale Gerechtigkeit für deutsche Arbeiter«. Hier wird in regressiver, neoliberalismuskritischer Absicht das an Status und Position gekoppelte Anrechtsprinzip völkisch ausbuchstabiert und rehabilitiert, indem ein bestimmter Teil der Bevölkerung (»deutsche Arbeiter«) vor der Konkurrenz und dem Wettbewerb mit anderen Gruppen geschützt werden soll; an die Stelle von Leistung und Wettbewerb tritt damit nicht, wie in einer emanzipatorischen Kritik neoliberaler Prinzipien, die Gleichheit, sondern das ständische Prinzip. In Zeiten, da der Einfluss rechter und rechtsextremer politischer Kräfte wächst, arbeiten zudem auch andere politische Akteure daran, die nationalen Grenzen der Gerechtigkeit zu schärfen bzw. enger zu ziehen. So attestieren derzeit vermehrt wissenschaftliche Publikationen und Akteure im linken Spektrum einzelnen rechten Parteien (wie dem französischen Rassemblement National) eine sozialdemokratische (Jörke, Selk 2017, 39) oder gar linke Sozial- und Wirtschaftspolitik (Jörke, Nachtwey 2017, 180) – womit die nationalistische und offen rassistische Eingrenzung der legitimen Subjekte dieser Politik durch rechte Parteien (die von den genannten Autoren keineswegs negiert wird) nicht als dem Etikett ›sozialdemokratisch‹ oder ›links‹ entgegenstehend betrachtet werden. Unter diesen Bedingungen braucht es dringend eine Disambiguierung von Gerechtigkeit, die rechten Kräften und Bewegungen die entsprechende Legitimierung ihrer Positionen verwehrt.
Fazit Poststrukturalistische Sensibilisierungen für Ambiguität, Vagheit und Mehrdeutigkeit sowie der Doppelfokus auf deren notwendige, partielle bzw. temporäre (Bedeutungs-)Fixierung einerseits und ihre permanent-performative, (alltags-)praktische Herausforderung und Dekonstruktion andererseits, sind äußerst hilfreich, um die Vieldeutigkeit sozialer Gerechtigkeit bei gleichzeitiger Bedeutungsverengung analytisch zu fassen. Als problematisch erweisen sich hingegen, wie dargelegt, zwei Engführungen poststrukturalistischer Theorien,
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Zur heterogenen Positionierung rechter und rechtsextremer Parteien in der sozialen Frage vgl. z.B. Flecker et al. 2019.
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die einerseits systemische wie institutionelle Verankerungen und Verfestigungen im Gegenwartskapitalismus unter- und damit die Möglichkeit alltäglicher Re-Artikulation und Subversion überschätzen und andererseits vorschnell das progressive Potenzial jeglicher Dekonstruktion und Destabilisierung affirmieren. Verena Krieger betont demgegenüber zu Recht, dass »mit der Multivalenz […] offenbar zwingend die Multifunktionalität [von Ambiguität] einher[geht]« (Krieger 2014, 188), so dass »widersprüchliche Potenzen« (ebd.) von Ambiguität auszumachen sind. Ambiguität kann, wie poststrukturalistische Ansätze für unterschiedliche Bereiche – zum Beispiel die Geschlechterverhältnisse und die Sexualität – hervorragend gezeigt haben, den Raum für performative Effekte der Re-Signifikation und Umdeutung öffnen und damit etablierte hierarchische Dualitäten (Mann-Frau, Heterosexualität-Homosexualität) durchkreuzen, um auf diese Weise, »Ambivalenz auf der Wertebene« (Haller 2011, 363) herzustellen. Ambiguität kann aber auch, wie ich am Beispiel des ambigen Konzepts der sozialen Gerechtigkeit dargelegt habe, der »Nivellierung und Verharmlosung von Widersprüchen« (Krieger 2014, 188) dienen, wenn der alltägliche, performative Effekt der Mehrdeutigkeit über- und die orchestrierende Kraft systemischer Bedingungen im flexiblen Gegenwartskapitalismus unterschätzt wird.
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Kulturelle Formen
Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs Johannes Lang
Kaum ein Artefaktbereich ist wohl stärker mit der Vorstellung und Erwartung der Eindeutigkeit verbunden als derjenige der alltäglichen Gebrauchsprodukte. Nicht nur in formaler und kommunikativer Hinsicht erwarten wir meist klare überschaubare Strukturen und eine unmissverständliche Erkenntnis, wofür ein Produkt steht bzw. wozu es zu gebrauchen ist, sondern auch in funktionaler Hinsicht erwarten wir, dass der Gebrauchszweck einwandfrei zu realisieren ist. Die Eindeutigkeit des Designs ist maßgeblich dafür verantwortlich, ob wir ein Produkt als nutzerfreundlich beurteilen oder nicht und wird als willkommene kognitive wie körperliche Entlastung erlebt. Nicht selten schimpfen wir über Türen, bei denen nicht erkenntlich ist, in welche Richtung sie aufgehen, oder über Korkenzieher, wenn sie partout nicht in der Lage sind, das zu tun, wofür sie bestimmt zu sein scheinen. So diagnostiziert Don Norman – einer der einflussreichsten amerikanischen Designtheoretiker – in der Neuauflage seines Klassikers The Design of Everyday Things eine zunehmende Komplexität der Gebrauchsdinge, die zu Frustration führe: »People are frustrated with everyday things. From the ever-increasing complexity of the automobile dashboard, to the increasing automation in the home with its internal networks, complex music, video, and game systems for entertainment and communication, and the increasing automation in the kitchen, everyday life sometimes seems like a never-ending fight against confusion, continued errors, frustration, and a continual cycle of updating and maintaining our belongings.« (Norman 2013, 18). Designmethoden, die nicht nur das einwandfreie interne technische Funktionieren der Dinge im Blick haben, sondern auch deren einwandfreie Bedienbarkeit – oft auch Human-Centered-Design genannt – hätten die Aufgabe, diese Komplexität zu minimieren: »Human-centered design (HCD) is the process of ensuring that people’s needs are met, that the resulting product is understandable and usable, that it accomplishes
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the desired tasks, and that the experience of use is positive and enjoyable.« (Norman 2013, 219). Das Ziel des Designs ist unter diesem Blickwinkel also das Beseitigen verschiedenster Uneindeutigkeiten, um das Produkt so verständlich, brauchbar und angenehm wie möglich zu gestalten. Diese Sicht wird auch vom Interaction und Interface Design gestützt, in der das Verhältnis zwischen Nutzern und Dingen als eine Art physische und semantische Schnittstelle aufgefasst wird, deren Kompatibilität durch das Design sicherzustellen sei. Für Gui Bonsiepe – der 1993 die erste deutsche Professur für Interface Design an der Köln International School of Design erhielt – hat die Gestaltung dieser Mensch-Ding-Schnittstellen das Ziel, effektives Handeln im Benutzen der Alltagsdinge zu ermöglichen (Bonsiepe 1996, 25). Vorausgesetzt wird hier jeweils, dass die eindeutige Verständlichkeit und fehlerfreie Bedienbarkeit das einzige Mittel ist, um effektives Handeln zu ermöglichen oder allgemein dem Bedürfnis der NutzerInnen entspricht. Vor dem Hintergrund dieser durch Eindeutigkeit dominierten Sicht mag es erstaunlich wirken, dass sich auch im Feld des Designs und insbesondere der Designtheorie seit der Postmoderne diverse Strategien der Uneindeutigkeit entwickelt haben, die der soeben dargestellten Sicht zu widersprechen scheinen. Diese Strategien bilden zwar mehr die Ausnahme als die Regel, sind jedoch für die Theoriebildung und für mögliche zukünftige Entwicklungen im Design von Bedeutung. Ich werde nun versuchen, einen exemplarischen Überblick über diese Strategien zu geben und sie bis zu einem gewissen Grad zu systematisieren. Diese Darstellung folgt in etwa der Abfolge ihres historischen Auftretens, sollte aber nicht nur als historische Darstellung verstanden werden, sondern auch als Versuch, Strategien der Ambivalenz in den Denkweisen und Objekten des Designs ausfindig zu machen und zu unterscheiden. Nämlich: 1. Strategien medialer Ambivalenz, 2. Strategien funktionaler Ambivalenz und 3. Strategien ethischer Ambivalenz.1
Medial ambivalentes Design Die ersten Ansätze ambivalenter Gestaltungsformen im Design sind maßgeblich durch die postmoderne Architekturtheorie geprägt. Charakteristisch für diese Denkweise ist, dass sie gegen die als eindeutig und monoton erlebten Gestaltungsweisen des Funktionalismus plurale Bedeutungsebenen einfordert. 1
Ich verwende das Wort »Ambivalenz« anstelle des Wortes »Ambiguität«, da sich mit diesem sprachlich besser arbeiten lässt. Es ist mit dessen Verwendung also keinerlei Spezifizierung oder Abgrenzung gegenüber dem Wort »Ambiguität« intendiert. Im Gegenteil verwende ich »Ambivalenz« zunächst als groben Überbegriff für verschiedene Phänomene der Uneindeutigkeit, die erst im Fortgang des Textes genauer unterschieden werden.
Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs
Begründet wird diese Forderung meist mit der diagnostizierten Heterogenität der Lebensstile. Und zwar entweder nach einem Repräsentationsmodell oder einem Kommunikationsmodell. Ersteres finden wir etwa in den Ansätzen des Architekten und Architekturtheoretikers Robert Venturi. Sein einflussreiches Buch Complexity and Contradiction in Architecture ist ein Plädoyer für mehrdeutige und widersprüchliche Gestaltungsformen. Durchforstet man dieses Buch nach einer Begründung, warum denn in dieser Weise gestaltet werden sollte, so ergibt sich ungefähr folgendes Argument: Da die moderne Lebenserfahrung reich, komplex und widersprüchlich ist, sollte auch die Architektur reich, komplex und widersprüchlich sein. Ambivalente Architektur wird von ihm also im Wesentlichen aufgrund einer Repräsentationsfunktion begründet. In ihr soll sich die Ambivalenz der sonstigen Lebenserfahrung widerspiegeln, sie hat gewissermaßen der Ambivalenz zu entsprechen, die auch das tatsächliche Leben aufweist, ohne eine Einfachheit zu demonstrieren, die tatsächlich nicht der Fall ist.2 Diese Denkweise lässt sich ganz gut an einem Stuhlentwurf von Robert Venturi und seiner Frau Denise Scott Brown zeigen (Abb. 1). Nicht nur vereinigt der Stuhl ganz unterschiedliche Stuhlerfahrungen: von gedrechselten oder geschnitzten Stühlen über Polstermöbel bis hin zu den modernen Schichtholzstühlen eines Alvar Aalto. Sondern die Medialität des Stuhls wird selbst thematisch, indem mediale und nicht-mediale Momente miteinander widerstreiten. Ist die Textur auf dem Kissen noch die Eigenschaft eines Polsters, so wird sie auf der bedruckten Stuhloberfläche zum Bild eines Polsters. Ein und dieselbe Konstruktion scheint von der Seite betrachtet einem anderen Jahrhundert anzugehören als in der Frontalansicht (Abb. 2). Der Stuhl enthält medial vermittelt gewissermaßen nicht nur einen, sondern gleich mehrere Stühle, je nachdem, welcher Aspekt durch die Wahrnehmung hervorgehoben wird. Auch Charles Jencks begründet in seinem ebenfalls einflussreichen Buch The Language of Postmodern Architecture eine ambivalente Gestaltungsweise unter Rückbezug auf gesellschaftliche Heterogenität, gelangt jedoch zu einem anderen Schluss:
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Dieses Argument wird an keiner Stelle direkt formuliert, sondern an verschiedenen Stellen bloß indirekt angedeutet: »ich [will] über eine komplexe und widerspruchsreiche Architektur sprechen, die von dem Reichtum und der Vieldeutigkeit moderner Lebenserfahrung zehrt, einschließlich der Erfahrungen, die nur in der Kunst gemacht werden.« (Venturi 1978, 23). Oder an anderer Stelle: »Ich habe bisher den Aspekt von Vielfalt und Widersprüchlichkeit betont, wie er dem Bau als Medium zueigen [!] ist, weniger den Aspekt, der sich aus dem Funktionszusammenhang des Gebäudes erklärt. Nun will ich auf diesen Aspekt eingehen; er ergibt sich aus der Art der Nutzung und ist in der Tat nichts als die Widersprüchlichkeit des Lebens selbst.« (Venturi 1978, 61).
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Abb. 1-2: Robert Venturi und Denise Scott Brown: Queen Anne Side Chair, 1983, Hersteller: Knoll International, New York.
»Today in our society there is much greater heterogeneity. There are a series of elites (the creative profession, the corporate client and even the developer) with their different backgrounds, and there are (in words of Herbert Gans) a host of ›taste-cultures‹ formed along economic, historic and personal lines. As a result the architect can no longer assume an identity of tastes and goals. There is an inevitable disjunction between the elites who create the environment and the various publics that inhabit and use it.« (Jencks 1984, 6). Während Venturi aufgrund einer ähnlichen Diagnose zu dem Schluss kommt, dass sich in der gestalteten Umwelt die Heterogenität moderner Lebenserfahrung repräsentieren solle, kommt Jencks zu einem etwas anderen Schluss, nämlich, dass sie zum Zwecke gelingender Kommunikation mit den NutzerInnen unterschiedliche Sprachen sprechen solle: »Architects who want to get over the Modernist impasse, or failure to communicate with their users, had to use a partly comprehensible language, a local and traditional symbolism.« (Jencks 1984, 6). Ein positives Beispiel für eine solche Architektur sieht Jencks etwa in dem Pacific Design Center von César Pelli (Abb. 3). Dieses würde nämlich mehrdeutige Assoziationen wecken, beispielsweise eines Blauwals, eines Dampfers oder eines Hangars (ebd., 50). Es sei also gewissermaßen für jeden etwas dabei und nicht nur jene Bedeutung, die für die elitäre Gruppe der Architekten maßgeblich ist.
Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs
Abb. 3 : César Pelli : Pacific Design Center, 1972, Los Angeles.
Der Unterschied zwischen dem Repräsentationsmodell von Venturi und dem Kommunikationsmodell von Jencks besteht darin, dass bei Venturi die gesellschaftliche Heterogenität das ist, was kommuniziert werden soll, während bei Jencks die Kommunikation heterogen sein soll, aber nicht die Bedeutungen, die sie kommuniziert. Jencks verficht sozusagen eine Mehrfachkodierung, die die unterschiedlichen Sprachen der Nutzergruppen spricht, während diese unterschiedlichen Bedeutungen jeweils durchaus eindeutig und verständlich sein sollen. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einer medialen Denkweise folgen. Mehrfache oder sich widerstreitende Bedeutungen von etwas, das nicht das Gestaltete selbst ist, soll das Gestaltete vermitteln. Bei Venturi ist es die Bedeutung einer widersprüchlichen oder vieldeutigen Lebenserfahrung, die sich noch einmal im Gestalteten vermitteln soll, bei Jencks sind es beliebige assoziative Bedeutungen, die sich nach der Verständlichkeit für unterschiedliche Nutzergruppen richten sollen. Der mediale Charakter dieser Art von Ambivalenz kann auch dadurch verdeutlicht werden, dass diese Mehrdeutigkeit nicht zugleich auch eine mehrfache Funktionalität mit sich bringt. Ein Gebäude, das sowohl aussieht wie ein Dampfer, ein Hangar oder ein Wal, funktioniert deshalb nicht auch sowohl in der Weise eines Dampfschiffes, eines Hangars oder eines Wales. In der Theorielandschaft des Designs scheint dieser Ansatz medialer Ambivalenz weniger stark zu Tage zu treten. Das Repräsentationsmodell medialer Ambivalenz lässt sich vielleicht am ehesten in der Idee eines Buchstabenornamentes ausmachen, wie sie Jochen Gros – ehemals Professor an der HfG Offenbach – und die von ihm geleitete Design Initiative Des-In Anfang der 1970er Jahre proklamierte (vgl. Gros et al. 1974, 58-76.; Schwer 2014, 79ff.). Nach Gros und Des-In ist es für
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Ornamente typisch, dass sie sich erstens »auf einen, wenn nicht auf den Kernpunkt der jeweils historischen gesellschaftlichen Entwicklung beziehen« (Gros et al. 1974, 67) und zweitens diese nicht von DesignerInnen entworfen werden, sondern »sich an vielen Stellen des gesellschaftlichen Prozesses zugleich [entwickeln]«. (Gros et al. 1974, 67). In den öffentlichen Schriftbildern der Werbetafeln, mit ihren in der Summe vieldeutigen Botschaften, seien diese Kriterien erfüllt. In dem Maße, in dem das Design sich der Typografie als ornamentierendes Element bedient, sei demnach ein Bezug zur Komplexität der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung gegeben (Abb. 4 u. 5).
Abb. 4: In einem Seminar von Charles Jencks von Kamran gezeichnete Metaphern des Pacific Design Centers, 1976.
Das Kommunikationsmodell medialer Ambivalenz scheint hingegen in der ebenfalls von Jochen Gros im Rahmen einer Theorie der Symbolfunktionen formulierten Idee eines »Mischstils« auf (vgl. Gros 1999, 132f.). Da Produkte die
Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs
Abb. 5: Des-in, Radio, Lampe, Koffer, 1974.
unterschiedlichsten Kontexte aufwiesen, nämlich einmal das herstellende Unternehmen, die entwerfende DesignerIn, den Handel und die NutzerInnen, könnten – entgegen der funktionalistischen Einheitlichkeit – diese Kontexte durch wiederkennbare und unterscheidbare »Partialstile« an ein und demselben Produkt kommuniziert werden (vgl. Gros et al. 1987, 23ff.). Auch hier handelt es sich ganz wie bei Jencks um eine Mehrfachkodierung, die sich jedoch nicht auf beliebige, sondern bestimmte Bedeutungen beschränkt, nämlich diejenigen der unterschiedlichen Produktkontexte. Während diese Strategie eher einer geplanten Mehrdeutigkeit entspricht, ist jedoch auch bei Jochen Gros die Idee vorhanden, dass die Bedeutungen, die Produkte für irgendjemanden haben, nicht immer planbar sind, sondern von dem jeweiligen Kontext abhängen, in dem sie präsentiert oder gebraucht werden. Daraus entsteht die Frage, ob Produkte so gestaltet werden könnten, dass sie eine individuelle Bedeutungsproduktion von Seiten der NutzerInnen begünstigen. Diesen Ansatz vertritt etwa Bernhard Bürdek unter Rückbezug auf Jochen Gros in einem Artikel Ende der 1970er Jahre.3 Er argumentiert, dass durch die Art der Gestaltung eine individuelle Bedeutungsproduktion angeregt werden könnte, die wiederum einer vorzeitigen Entsorgung von Produkten entgegen wirken würde, da sie eine emotionale Besetzung zur Folge hätte: »1. Längerer Gebrauch eines Produktes erfordert, daß dieses über verhältnismässig komplexe wahrnehmbare Strukturen verfügt. 2. Vieldeutigkeit in Grenzen potenziert den Informationsgehalt einer Struktur; sie verlängert die Zuwendung bzw. das Interesse am Produkt. 3. Lässige Gestaltung regt unsere Phantasie an. Sie schafft immer wieder neue Anknüpfungspunkte für unser Interesse an dem Produkt; sie bereichert damit unsere projektive Wahrnehmung. 4. Die emotionale Besetzung wird zum entscheidenden Kriterium für die Gebrauchsdauer
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Er bezieht sich auf vier von Jochen Gros entwickelte Anti-Obsoleszenz-Regeln (Gros 1971).
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oder Nutzungszeit des Produktes. Diese beruht auf einer Disposition zur Symbolschöpfung: auf ›ausreichender‹ Komplexität bzw. Gestalthöhe des Produkts.« (Bürdek 1977, 37). In diesem Ansatz wird also die mediale Ambivalenz in einen Zusammenhang mit der Entstehung von Produktbindungen gebracht.
Funktional ambivalentes Design Es ist auffällig, dass das Arbeiten mit Ambivalenzen zunächst auf der medialen Ebene des Designs beginnt, während das praktische Verhältnis zum Produkt unangetastet bleibt. Dies ändert sich jedoch in dem Maße, in dem nicht nur der Prozess der Produktwahrnehmung, sondern auch der Prozess des handelnden Produktgebrauchs als ein mehr oder weniger individueller Gestaltungsvorgang bewusst wird. Zunächst äußert sich diese Anerkennung der tätigen Produktivität der NutzerInnen darin, dass diesen Gelegenheit gegeben werden soll, das Produkt fertig zu produzieren. Es wird also ganz explizit ein Teil der dem Gebrauch vorgelagerten Entwurfs- und Produktionsprozesse in die Sphäre der NutzerInnen verlagert. So entwickelt Gert Selle schon 1979 in einem Aufsatz mit dem Titel »Design auf der Suche nach Freiräumen« (Selle 1979, 6-10) die Idee eines Halbfertigdesigns, die von Jochen Gros als Strategie zur »Überwindung der Massenproduktkultur« (Gros 1981, 583) weitergeführt wird und den NutzerInnen die individuelle Fertigstellung vorproduzierter Halbzeuge und Einzelteile ermöglichen soll. Es ist charakteristisch für diese gestalteten do-it-yourself-Ansätze, dass sie weniger den Gebrauch selbst als Gestaltungsleistung begreifen, als vielmehr die dem Gebrauch vorgelagerten Prozesse, weshalb denn auch diese Prozesse zu einem Teil in den Gebrauch verschoben werden sollen.4 Diese Denkweise, welche die Kreativität der Gebrauchenden primär im Herstellen und Modifizieren der Gebrauchsobjekte erblickt, lebt bis heute in der Maker-Culture fort (vgl. Anderson 2013). Die Beobachtung, dass auch der alltägliche Produktgebrauch und nicht nur das Entwerfen und Herstellen von Produkten als eine Gestaltungsleistung aufgefasst werden kann, bleibt jedoch nicht aus. So untersuchen etwa Uta Brandes, Sonja Stich und Miriam Wender in einer Publikation mit dem Titel »Design durch Gebrauch« das alltägliche Umnutzen der Dinge und bezeichnen dieses als »Non Intentional Design«, da es nicht durch die EntwerferInnen oder ProduzentInnen intendiert sei: »Nicht Intentionales Design widersetzt sich den Normen, gibt den
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Vgl. zur Ästhetik des Do-it-yourself-Designs das Kapitel »Produkterfahrung durch Selbermachen«: Lang 2015, 97-113; vgl. zur Geschichte des Do-it-yourself-Designs: Langreiter, Löffler 2017.
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scheinbar eindeutigen Dingen eine Vielfalt und Vielgestaltigkeit, impliziert Transformation, kombiniert mit kluger neuer Funktionalität.« (Brandes et al. 2008, 18). Wichtig ist hierbei, dass das Umnutzen – also ein vom ursprünglich intendierten Gebrauch abweichender Gebrauch – nicht als Zweckentfremdung vom eigentlichen Gebrauch ausgeschlossen wird, sondern als ein ganz alltäglicher Vorgang begriffen wird, der dem Gebrauch wesentlich ist.5 Sie versuchen, ganz empirisch die unterschiedlichsten Umnutzungsphänomene zu dokumentieren und zu kategorisieren. Viele dieser Phänomene sind so alltäglich, dass sie uns kaum noch als solche auffallen. Wie beispielsweise die Tüte als Sattelschutz, die Tasse als Stiftebecher, der Stuhl als Kleiderablage oder der Schlüssel als Brieföffner (Abb. 6).
Abb. 6: Umnutzungen.
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Vgl.: »Alle Menschen ›missbrauchen‹ […] jederzeit eine Unmenge von Dingen, Dienstleistungen, Zeichen und Medien.« (Brandes et al. 2008, 15).
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Entscheidender ist jedoch die Fragestellung, womit es zusammenhängt, dass bestimmte Produkte eher umgenutzt werden als andere. Von welchen Bedingungen hängt es also ab, dass ein Gebrauchsgegenstand seine eindeutige Funktionalität verliert und sozusagen frei wird, zur Realisation ganz unterschiedlicher Zwecke eingesetzt zu werden? Sie identifizieren hier im Wesentlichen drei unterschiedliche Bedingungen, die das alltägliche Umnutzen begünstigen. Erstens eine gewisse Niederkomplexität und archetypische Grundformen. Diese Eigenschaften weisen beispielsweise gerade multifunktionale Produkte nicht auf, da die multifunktionale Nutzung meist mit einem erhöhten Aufwand verbunden ist, weshalb sie ohnehin vornehmlich in nur einer Funktion verwendet werden. Des Weiteren sind diese meist mit stringenten Anleitungen versehen, die die multifunktionale Nutzung genauestens vorgeben und keine Abweichungen zulassen. Und drittens geht die technische Vereinigung von mehr als nur einer Funktion meist mit einer Inflexibilität für eigene Umnutzungen einher. Es könnte als vierter Punkt noch hinzugefügt werden, dass die geplante Multifunktionalität die Umnutzung schon vorwegnimmt, also gewissermaßen den Eindruck vermittelt, als sei das Produkt nur in diesen und keinen anderen Weisen zu nutzen, als seien nicht nur eine, sondern alle möglichen Verwendungsweisen durch das Produkt schon vorausbedacht. Deshalb stellen sie fest: »Um Objekte als multifunktional zu erkennen, benötigen wir keinen künstlichen Mehrwert. Auch so sehen wir in den Dingen mehr, als nur ihre ursprüngliche Funktion.« (Brandes et al. 2008, 135) Als zweite Bedingung scheint ein geringer ökonomischer, symbolischer oder ästhetischer Wert von Vorteil zu sein. Es handelt sich hierbei um günstige Produkte oder solche Produkte, denen wir aus anderen als ökonomischen Gründen keinen besonderen Wert beimessen, beispielsweise, weil sie gebraucht sind, an ihnen keine besonderen Erinnerungen hängen oder sie in ästhetischer Hinsicht wertlos scheinen. Psychologisch bezeichnend ist für das Umnutzen solcher Dinge, dass eine misslungene Umnutzung zu keinem Wertverlust führt, da das Ding ohnehin wertlos scheint, dass aber umgekehrt eine erfolgreiche Umnutzung gerade als Wertsteigerung erlebt wird. Statt in richtiger Weise mit einem bereits vorhandenen Wert umgehen zu müssen, erlebt man sich selbst als jemand, der im kreativen Umnutzungsprozess dem Ding erst einen Wert verliehen hat. Als dritte Bedingung scheint schließlich eine gewisse Funktionslosigkeit und Zwecklosigkeit sich günstig auf das Umnutzungspotential auszuwirken. Eine Funktionslosigkeit weisen Produkte auf, die entweder den intendierten Zweck bereits realisiert haben – wie Verpackungsprodukte – oder für die Realisierung des intendierten Zwecks nicht mehr geeignet sind – wie defekte Produkte. Eine Zwecklosigkeit weisen hingegen Produkte auf, deren intendierte Zwecke wir gar nicht kennen oder bei denen wir uns nicht vorstellen können, was mit dem Pro-
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dukt bezweckt werden könnte – wie beispielsweise bei unvertrauten Fundsachen.6 Diese dritte Bedingung macht besonders deutlich, wie sehr das Umnutzungspotenzial von dem Bewusstsein über die intendierten Zwecke abhängt, also von der vorgesehenen Bestimmung des Produktes. Je uneindeutiger es ist, was mit einem Produkt bezweckt wird, desto eher setzt die Überlegung ein, wofür es sich eignen könnte. Während Brandes, Stich und Wender zwar die alltäglichen Bedingungen untersuchen, die Umnutzungsphänomene begünstigen, werden diese jedoch noch nicht strategisch als Teil des Designs eingesetzt. Erst im Rahmen des Partizipativen Designs wird dann explizit unter der Bezeichnung des »Infrastructuring« oder »Metadesign« (vgl. Ehn 2013, 79-104) die Frage gestellt, was es heißt für die »Gestaltung nach der Gestaltung« (Ehn 2013, 92) zu gestalten, wie sich also die Methoden des Designs ändern müssten, wenn der Gebrauch selbst als ein individueller Gestaltungsprozess aufgefasst wird. Kann die funktionale Ambivalenz, also die Eignung für individuelle Umnutzungsprozesse bewusst provoziert und begünstigt werden? Einen solchen Versuch hat etwa Katharina Bredies mit ihrer Studie Gebrauch als Design im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der HbK Braunschweig unternommen, bei der Prototypen aus elektronischen Textilien als Forschungstools dienen, um individuelle Aneignungs- und Umnutzungsprozesse beobachtbar und evaluierbar zu machen (vgl. Bredies 2014). Etwa die Wavecap, eine Mixtur aus Mütze und Tasche, die zugleich als Radioempfänger fungiert (Abb. 7). Oder das Shuffle Sleeve, ein verschließbares textiles Etwas, das in Kombination mit Münzen eine Musikanwendung auf einem Smartphone kontrollieren lässt (Abb. 8). Oder das Undercover, das je nach Interaktion Sound Samples aufnimmt und wiedergibt (Abb. 9). Unabhängig davon, wie gelungen diese Prototypen sind, so ist doch insgesamt entscheidend, dass die funktionale Ambivalenz als Methode begriffen wird, um im Design der Variabilität des Gebrauchs und den individuellen Arten, Zwecke zu bilden und zu realisieren, Rechnung zu tragen.
Ethisch ambivalentes Design Neben der medialen und der funktionalen Ambivalenz lässt sich insbesondere in jüngerer Zeit ein weiterer Ansatz ausfindig machen, der als eine Strategie ethischer Ambivalenz charakterisiert werden könnte. Dieser Ansatz ist auch unter der Bezeichnung des »Speculative Design« (vgl. insbes. Dunne, Raby 2013), des »Critical Design« (vgl. insbes. Malpass 2017) oder der »Design Fiction« (vgl. insbes. Candy 2010) bekannt. Es handelt sich hierbei in der Regel um konzeptuelle Prototypen,
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Vgl. zur systematischen Unterscheidung zwischen Funktionen und Zwecken: Lang 2020.
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Abb. 7-9: Katharina Bredies: Wavecap, Shuffle Sleeve, Undercover, 2010.
die zum Teil auch als »real fiction« oder als »physical fiction« bezeichnet werden.7 Anthony Dunne – zusammen mit Fiona Raby einer der einflussreichsten Akteure in diesem Feld – beschreibt die dem Ansatz zugrundeliegende Forderung wie folgt: »Design approaches are needed that focus on the interaction between the portrayed reality of alternative scenarios, which so often appear didactic or utopian, and the everyday reality in which they are encountered.« (Dunne 2005, 83). Es handelt sich also um die Idee, bestimmte Zukunftsvorstellungen oder auch bestimmte mögliche technologische Zukunftsszenarien mit dem Alltagsbewusstsein zu konfrontieren, indem diese in Form von Prototypen in die Nähe unseres Handlungsbezugs zur Welt rücken und dadurch die Frage aufwerfen, ob wir das, was durch diese Produkte möglich werden könnte, auch wollen. An zwei Produktbeispielen möchte ich das Gemeinte kurz verdeutlich. Einmal an einem Produkt von James Auger und Jimmy Loizeau und einmal an einem Entwurf von Alexandra Daisy Ginsberg und Sascha Pohflepp. Die Flypaper Robotic Clock von James Auger und Jimmy Loizeau ist Teil einer spekulativen Prototypenserie mit dem Titel Carnivorous Domestic Entertainment Robots, entwickelt am Royal Collage of Art und 2009 präsentiert auf der Ausstellung »What If« in der Science Gallery in Dublin (Abb. 10). Es handelt
7
Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel Physical Fictions: Invitations to Make-believe, in: Dunne, Raby 2013, 89-100.
Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs
sich um eine digitale Wanduhr, deren benötigte Energie aus einer mikrobiellen Brennstoffzelle am Fuß des Fliegenpapiers gespeist wird (Abb. 11 und 12).
Abb. 10-12: James Auger und Jimmy Loizeau: Fly Paper Robotic Clock, 2009.
Diese mikrobielle Brennstoffzelle ist in der Lage, aus der bakteriellen Zersetzung von organischen Substanzen, wie beispielsweise Fliegen, Energie zu gewinnen. Sie wurde von dem Robotics Lab in Bristol entwickelt, in der Absicht, eine autarke Energieversorgung von Robotern zu ermöglichen (vgl. Auger 2014, 37). Die Brennstoffzelle versorgt nicht nur die digitale Uhranzeige mit Energie, sondern sorgt auch für das Drehen des Fliegenpapiers, das über ein Messer läuft und so die Fliegen vom Fliegenpapier löst, die daraufhin in die Brennstoffzelle fallen. Ein Sensor stellt sicher, dass sich das Fliegenpapier nur in fliegenreichen Zeiten, nämlich im Sommer dreht, während im Winter die Uhr in eine Art Tiefschlaf verfällt und die im Sommer produzierte Energie ausschließlich nutzt, um die digitale Uhranzeige sicherzustellen (vgl. Auger 2014, 38). Es handelt sich also in einem buchstäblichen Sinne um eine fleischfressende Wanduhr, die selbst für ihre Energieversorgung sorgt, ganz wie das für die selbsterhaltenden Systeme von Lebewesen gilt. Obwohl die Zwecke dieser Uhr ganz eindeutig sind, nämlich das Informieren über die Uhrzeit, das Nutzen erneuerbarer Ressourcen als Energiequelle und das Minimieren der Interaktionsanforderung, tut sich doch für die meisten RezipientInnen eine gewisse Zwiespältigkeit auf. Wir wissen nicht genau, ob wir das, was diese Uhr bewirkt oder bewirken könnte, auch wollen, ob wir diese Zwecke also für gut befinden. Während wir auf der einen Seite keine ethischen Beden-
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ken zu haben scheinen, massenweise lästige Fliegen auf unterschiedlichste Art zu töten, und es auch nicht als problematisch auffassen, dass Spinnen Fliegen als Energieversorgung nutzen, so scheint doch die instrumentelle Verwertung von Fliegenleichnamen, um einen maschinellen Zusammenhang zum Leben zu erwecken, mehr oder weniger stark ein ethisches Abwägen in Gang zu setzen. Wollen wir eine autarke häusliche Maschinenwelt, die nicht in ihrem Aussehen, jedoch in ihrer Funktionsweise Grundzügen von Haustieren gleicht? Wollen wir ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Maschinen und Lebewesen? Diese Art der Ambivalenz provoziert also nicht mehr bloß die Frage, was mit einem Produkt oder sonstigen gegebenen Bedingungen möglich ist, sondern, ob wir das, was möglich ist, wollen. Eine ähnliche Provokation erreicht das Konzept Growth Assembly von Alexandra Daisy Ginsberg in Zusammenarbeit mit Sascha Pohflepp, das bereits in diversen namhaften Museen und Galerien weltweit ausgestellt wurde. Es handelt sich um eine Reihe von im Stil Ernst-Haeckelscher Naturdokumentationen gehaltenen Zeichnungen und einen kurzen Text, der das entworfene Szenario sprachlich ergänzt (Abb. 13). Auf den Zeichnungen sind sieben Pflanzen in technisch anmutenden Parallelund Querschnittansichten zu sehen, bei denen uns erst auf den zweiten Blick, aufgrund der allzu mechanisch aussehenden Pflanzenformen, auffallen mag, dass es sich nicht um Darstellungen existierender Pflanzen handeln kann, sondern um Pflanzenentwürfe (Abb. 14). Der Text erzählt von einer Vergangenheit, in der die hohen Energiekosten den Transport von Rohstoffen und Waren unvorstellbar werden ließen, weshalb mittels synthetischer Biologie Verfahren entwickelt wurden, in die DNA von Pflanzen Produktentwürfe einzuschreiben, sodass nur noch die Samen kostengünstig transportiert werden mussten, aber nicht mehr Produktteile oder ganze Produkte. Die Produkte wurden hingegen am Ort des Bedarfs durch das Einpflanzen der Samen und deren Aufzucht kostengünstig produziert. Das dargestellte Produkt sei der Herbizid Sprayer, eine entscheidende Ware, die genutzt wurde, um die empfindlich konstruierten pflanzlichen Maschinen vor der alten Natur zu schützen. In einem online zugänglichen Video wird des Weiteren darüber informiert, dass das Hasselhof Lab der Cambridge University tatsächlich gegenwärtig an der Möglichkeit forscht, Pflanzen als programmierbare Produktionsmittel einzusetzen (Ginsberg, Pohflepp 2010). Es handelt sich also nicht wie bei der Flypaper Robotic Clock um ein Produkt, das bereits möglich ist, jedoch um ein solches, das insofern denkbar ist, als an seiner Realisierbarkeit bereits geforscht wird. Auch bei diesem Konzept sind die vorgestellten Gebrauchszwecke eindeutig, auch wenn der Zweck des Herbizid Sprayers sich in humorvoll-provokanter Weise auf die Erhaltung seiner eigenen Art bezieht und damit zum Selbstzweck wird. Durch die naturalisierende Darstellungsweise und den proklamierten ökologischen wie ökonomischen Nutzen sowie die geschickte Einbettung in den
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Abb. 13: Alexandra Daisy Ginsberg und Sascha Pohflep: Growth Assembly, 2009, Installation.
Assoziationsrahmen der Kulturpflanze, die ja ebenso vor Unkraut geschützt wird, wird jedoch eine ambivalente Bewertung dieser Zwecke ausgelöst. Wollen wir, dass Pflanzen zu lebenden Produktionsmaschinen werden? Aber worin unterscheiden sich eigentlich die über Jahrtausende gezüchteten Nutz- und Kulturpflanzen für die verschiedensten Gebrauchszwecke von einer lebenden Produktionsmaschine wie dem Herbizid Sprayer?
Individuell eindeutiges Design Wie lassen sich nun abschließend diese drei Ansätze ambivalenten Designs charakterisieren? Je nachdem, ob wir es mit medialer, funktionaler oder ethischer Ambivalenz zu tun haben, scheint das Design jeweils eine andere Frage zu provozieren, die nicht durch das Produkt, sondern nur durch die je individuelle Aktivität der NutzerInnen beantwortet werden kann. Nämlich: 1. Was könnte das Produkt bedeuten? 2. Was könnte das Produkt bewirken? und 3. Soll bewirkt werden, was das Produkt bewirken könnte? Anders als im Feld der Kunst, in dem Ambivalenzen meist eine Unabschließbarkeit des Erfahrungsvollzugs zum Ziel haben (vgl. insbes. Eco 1973), scheint ambivalentes Design zwar zunächst einen Möglichkeitsraum der Bedeutungen, Zwecke und Werte zu eröffnen, jedoch bloß, um diesen durch die je individuellen Praktiken der NutzerInnen wiederum selbstbestimmt schließen zu lassen. Deshalb sind die je individuellen Antworten auf diese Fragen aus der Perspektive
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Abb. 14-21: Alexandra Daisy Ginsberg und Sascha Pohflepp: Growth Assembly, 2009. Illustrationen: Sion Ap Tomos: Reihenweise von oben links bis unten rechts: Herbicide Gourd, Spike, Tubing, Connector, Handle, Flexicable, Nozzle, Herbicide Sprayer with Man.
der jeweiligen NutzerInnen idealerweise wiederum durchaus eindeutig. Nur handelt es sich nicht mehr um eine bloß vorgefundene Eindeutigkeit, sondern eine durch Eigenaktivität hergestellte Eindeutigkeit. Ambivalenz scheint im Design eine produktive Funktion zu haben, die auf individuelle Eindeutigkeit ausgerichtet ist, insbesondere deshalb, da das gestaltende Gebrauchen – wofür Design meist
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das geeignete Mittel sein will – durch individuelle Zweckbildung und Zweckrealisierung ausgezeichnet ist. Der selbstbestimmte Gebrauch besteht nicht bloß in einem selbstgenügsamen Spiel mit Dingen oder ihren Bedeutungen, ist also nicht einfach eine Art Wahrnehmungs- oder Bedeutungsspielerei, sondern ist auf der einen Seite durch eine selbständige Zweckbildung der Gebrauchenden ausgezeichnet und andererseits durch den Versuch, diese Zwecke durch einen Umgang mit den Dingen zu realisieren.8 Für diesen Prozess sind Ambivalenzen im Ausgangspunkt produktiv, nicht jedoch an dessen Endpunkt, denn ohne schließlich zu einer Idee zu gelangen, was ein Produkt ist, was es bewirken könnte und ob man bewirken möchte, was es bewirken könnte, lässt sich letztendlich kein Handeln vollziehen. Andererseits ermöglicht Design, das keinerlei Ambivalenzen aufweist, kein selbstbestimmtes Handeln, da es gewissermaßen suggeriert, dass bereits gänzlich bestimmt wäre, was das Produkt ist, was es bewirken wird und dass sein soll, was es bewirken wird.
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Zum Thema der Autonomie durch Design vergleiche auch Lang 2020 und ebenso Geiger 2018. Durch die Verortung der autonomen Selbstbestimmung bloß auf der ästhetischen Seite des Designs, in Entgegensetzung zu seiner Funktionalität, wird von ihr jedoch der Aspekt der Zweckbildung und Zweckrealisierung durch Design übersehen: »Erst wenn dieses Funktionieren der Dinge gewährleistet ist, kommt der Gestalter ins Spiel: Ihm kommt die Aufgabe zu, den Sinn unserer Medien und Geräte zu entwerfen. […] Das gute Funktionieren der Geräte wird von der technischen Logik aus gedacht, ihre Sinnstiftung jedoch erst in der ästhetischen Perspektive des Andersmöglichseins erzeugt.« (Geiger 2018, 111).
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Ambivalentes Design: Zur Gestaltung des selbstbestimmten Gebrauchs
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Ambiguität in Literaturverfilmungen Die doppelte Welt im Film Pętla von Wojciech Has Thomas Schmidt
Die Feststellung, dass sowohl Literatur als auch Film ambige Kunstwerke hervorbringen, ist trivial. Im Vergleich der beiden Medien zueinander – vornehmlich im Feld der Literaturverfilmung – hält sich aber nach wie vor das Vorurteil, Literatur sei tendenziell geeigneter als der Film, mehrdeutig und ambig zu erzählen. Im Beitrag soll eine Möglichkeit zur Hervorbringung von Ambiguität in narrativen Medien ins Zentrum gerückt werden, nämlich die ambige Struktur der »doppelten Welt« (Martínez 1996), und am Beispiel der Literaturverfilmung pętla (PL 1958, Wojciech Jerzy Has, dt. die schlinge) nach der gleichnamigen Novelle von Marek Hłasko von 1956 veranschaulicht werden. Die These lautet, dass sich die Verfilmung, der seitens der Filmwissenschaft eine gelungene Adaption attestiert wird, im Vergleich mit der literarischen Vorlage durch eine höhere Ambiguität auszeichnet, die recht präzise mit dem Konzept der doppelten Welt beschrieben werden kann. Dieser Befund wird auch durch die Rezeption des Films bestätigt. Exemplarisch soll aber nicht nur aufgezeigt werden, dass Literaturverfilmungen sehr wohl mehrdeutiger sein können als ihre literarischen Vorlagen, sondern es gilt auch, die Adaptionstechniken zur Hervorbringung von Ambiguität an diesem konkreten Beispiel zu untersuchen.
Ambiguität von Bildern und verbalsprachlichen Zeichen Im Vergleich zwischen den narrativen Medien Literatur und Film wird traditionellerweise der Literatur aufgrund des höheren Abstraktionsgrads verbaler Zeichen tendenziell eine höhere Unbestimmtheit zugeschrieben, wohingegen der Film aufgrund der Priorität des Visuellen durch eine größere Bestimmtheit geprägt sei. So kann beispielsweise im literarischen Kontext die Wendung »ein großes Haus« auf weitere Konkretisierung verzichten und damit eine Leerstelle schaffen; die Konkretisierung und das Füllen dieser wird dem Leser überlassen. Ihre Umsetzung ins Bildliche entscheidet aber visuell und sinnlich wahrnehmbar zwangsläufig, von welchem Haus die Rede ist (Bohnenkamp 2012, 34). Die Priorität des Sichtbaren
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führe den Film nicht nur generell näher an das »Konkrete als an das Abstrakte, sondern auch näher an Handlung als an Reflexion, näher an das Äußere als an das Innere« (Schepelern 1993, 36). Daraus wurde immer wieder vorschnell abgeleitet, insbesondere im Bereich der Literaturverfilmung, dass Literatur sich durch einen höheren Grad an Offenheit, Unbestimmtheit und damit auch Ambiguität auszeichne, die Verfilmung aber aufgrund der optisch wahrnehmbaren Bilder mit ihrem höheren Bestimmtheitsgrad eine »Verarmung« in Bezug auf die literarische Vorlage darstelle. So heißt es bei Wolfgang Iser: »Die Romanverfilmung hebt die Kompositionsaktivität der Lektüre auf. Alles kann leibhaftig wahrgenommen werden, ohne dass ich etwas hinzu bringe, geschweige denn mich mit dem Geschehen gegenwärtig machen muß. Deshalb empfinden wir dann auch die optische Genauigkeit des Wahrnehmungsbildes im Gegensatz zur Undeutlichkeit des Vorstellungsbildes nicht als Zuwachs oder gar als Verbesserung, sondern als Verarmung.« (Iser [1976] 1984, 225) Weitere Zitate ließen sich anführen, die in eine ähnliche Richtung weisen: Der Film sei zur Hervorbringung von Ambiguität bzw. zum Erzählen von komplexen und mehrdeutigen Geschichten weniger gut geeignet als Literatur.1 Diese in tendenziell literaturwissenschaftlich geprägten Auseinandersetzungen mit dem Medium Film anzutreffende und weit verbreitete Einschätzung ist vorschnell und verkennt die vielfältigen Möglichkeiten und Verfahren des Films, Ambiguität hervorzubringen. Angefangen von den Möglichkeiten der Reduzierung der Bildinformation, etwa mit Hilfe von Unschärfen, hohem Kontrast, starker Reduktion der visuellen, filmischen konkreten Mittel2 , Mehrfachbelichtungen im Bereich des stehenden Einzelbildes, spielt für den Film die Hervorbringung von Ambiguität bzw. Unbestimmtheit auf struktureller Ebene eine gewichtige Rolle. Um Wolfgang Iser zu entgegnen, der dem Filmbetrachter – wie angesprochen – die Kompositionsaktivität aufgrund eines höheren Bestimmtheitsgrads von Bildern abspricht, ist im Grunde jeder Schnitt eine filmische Leerstelle, die vom Zuschauer gefüllt werden muss. Bei jeder neuen Einstellung ist der Filmbetrachter aufgefordert zu entscheiden, wie diese an die vorhergehende anschließt. Die aktive Rolle des Zuschauers, Kohärenz herzustellen, ist einerseits im Bild zu verorten, andererseits der Montage bzw. verschiedenen Montageformen im Film geschuldet. Ebenso darf nicht
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So auch Pinkas (2010, 5), die jedoch in ihrer Monographie zum phantastischen Film gerade das Vorurteil widerlegt, der Film sei zur Vermittlung eines mehrdeutigen Geschehens weniger gut geeignet. Als beispielhaft für eine starke Reduktion der visuellen konkreten Mittel kann dogville (2003, Lars von Trier) gelten.
Ambiguität in Literaturverfilmungen
vergessen werden, dass während der literarische Text vorrangig auf ein symbolisches Zeichensystem beschränkt bleibt, im Film neben dem Visuellen mehrere Zeichensysteme zum Tragen kommen. Mehrdeutigkeiten und Ambiguitäten können im Film auf struktureller Ebene erzeugt werden, indem sowohl die Informationen verschiedener Zeichensysteme als auch unterschiedliche Erzählinstanzen in mehrdeutige Beziehungen zueinander treten.3 Eine spezifisch narrative Form der Ambiguität auf der Ebene der erzählten Welt bzw. der Mimesis stellt das Konzept der doppelten Welt dar (Bauer et al. 2010, 37).
Die Struktur der doppelten Welt In seiner Monographie Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens (Martínez 1996) beschreibt der Literaturwissenschaftler Matías Martínez einen bestimmten Typ literarischen Erzählens, der durch eine spezifische narrative Struktur gekennzeichnet ist. Zwar bezieht er das Konzept der doppelten Welt nur auf die Literatur, da es sich aber um eine narrative Struktur handelt, ist sie auf alle narrativen Medien ausweitbar.4 Die narrative Struktur der doppelten Welt konstituiert eine erzählte Welt, in der auf paradoxe Weise das dargestellte Geschehen doppelt motiviert erscheint: nämlich als kausal und final zugleich. Paradox ist sie deshalb, weil in ihr zwei scheinbar unvereinbare Arten erzählter Welt kombiniert werden, und zwar derart, dass die finale Deutung des Geschehens nicht die kausale negiert.5 Grundsätzlich unterscheidet Martínez drei Arten unterschiedlicher Motivierung für Geschehen, also drei Arten, wie sich Ereignisse und Motive in einer Geschichte erklären lassen: kausal, final und kompositorisch. Eine kausale Motivierung liegt dann vor, wenn ein Ursache-WirkungsZusammenhang besteht, also Ereignisse sich als Folge von Handlungsabsichten oder nicht-intentionaler Ursachen wie etwa Naturereignisse oder Zufälle erklären lassen. Eine kausale Motivierung stellt ein Indiz für eine rationale, realistische Erzählwelt dar (Martínez 1996, 22ff.). 3
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Kuhn unterscheidet in seinem filmnarratologischen Ansatz zwischen der visuellen und der sprachlichen Erzählinstanz. Auf einem Spektrum zwischen »illustrierend« und »widersprüchlich« können beide in einer ambivalenten Beziehung zueinander stehen (Kuhn 2011, 99ff.). Dies gilt auch für die Beziehung verschiedener Zeichensysteme im Film zueinander, etwa zwischen Bild und Filmmusik; der Ton kann das Bild illustrieren oder aber auch in ein ambivalentes Verhältnis zu ihm treten. Der Film als plurimediales Medium hat auch hier ein großes Potential für Offenheit, Mehrdeutigkeit und Ambiguität. Martínezʼ Konzept der »doppelten Welt« wird mittlerweile auch in Filmanalysen fruchtbar angewendet (vgl. etwa Pinkas 2010, Geßner 2019). Martínez setzt diese Struktur auch explizit in Analogie zu Vexierbildern (1996, 33).
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Die finale Motivierung stellt hingegen ein Indiz für eine mythische, nicht rational erklärliche Erzählwelt dar und erklärt das Geschehen durch ein Ziel, auf das es hinausläuft. Ereignisse und Motive werden dabei in einer Welt angesiedelt, die von einer numinosen Instanz beherrscht wird (Martínez 1996, 28ff.). Der Verlauf der Handlung ist von Anfang an festgelegt, »selbst scheinbare Zufälle enthüllen sich als Fügungen« (Martínez et al. 1999, 111f.). Ereignisse und Motive ordnen sich der finalen Bestimmung unter, der Handlungshorizont ist determiniert und nur scheinbar offen, was sich auf Rezipientenseite in einem Gefühl des unabwendbaren Schicksals niederschlägt. Jene numinose Instanz kann im Text als eine unbekannte Kraft oder göttliche Allmacht o.ä. erscheinen und ist dabei innerhalb der erzählten Welt angesiedelt. Die kompositorische Motivierung erklärt Ereignisse nicht auf der Ebene der erzählten Welt, sondern auf der Ebene der künstlerischen Darstellung und der Gesamtkomposition und betrifft die funktionale Stellung der einzelnen Motive. Sie beschreibt, »inwiefern das dargestellte Geschehen vom Autor komponiert ist« (Martínez 1996, 28). Darunter können etwa auch Plot-Schemata fallen, die etwa implizit im Genrenamen enthalten sind. »Die finale Motivation nimmt so eine Mittelstellung zwischen kausaler und kompositorischer Motivation ein. Mit der kausalen Motivation hat sie gemeinsam, daß sie ontologische Aussagen macht über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge der erzählten Welt. Mit der kompositorischen Motivation hat sie gemeinsam, daß sie die logische Struktur narrativer Sätze hat, nämlich eine epistemische Position voraussetzt, die dem Geschehen gegenüber zukünftig ist.« (Martínez 1996, 28) Während kompositorische und kausale Motivation sich nicht ausschließen, sondern lediglich Erklärungen von Geschehen sind, die verschiedene Aspekte des Textes betreffen, ist die finale mit der kausalen Motivation unvereinbar. »Der Handlungshorizont kann nicht zugleich offen und geschlossen, die kausale Beeinflußbarkeit der Zukunft nicht zugleich möglich und unmöglich sein« (Martínez 1996, 28). Beim Erzähltyp der doppelten Welt bleiben die kausale und die finale Motivation des Geschehens in der Schwebe; das Geschehen wird doppelt begründet, einerseits kausal innerhalb der empirischen Welt, andererseits final, d.h. als übernatürliche Fügung, die das Geschehen von vornherein determiniert; diese beiden Begründungsarten schließen sich einander jedoch aus, sodass ein doppeldeutiger und paradoxer Effekt eintritt: Der Rezipient kann die Ereignisse als Resultat von empirisch begründbaren Kausalketten verstehen oder sie auf das Wirken von unbekannten Kräften (wie Schicksal, Fügung, Gott etc.) zurückführen. Dabei müssen die kausalen Verknüpfungen der Ereignisse nicht explizit sein; werden sie nicht expliziert, »sind diese Verknüpfungen in der erzählten Welt nicht etwa nicht vorhanden, sondern unbestimmt vorhanden und werden vom Leser im konkretisierenden Akt der Lektüre mitgesetzt« (Martínez 1996, 25). Die
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Unbestimmtheit der Motivverknüpfungen kann eine systematische Ambiguität hervorrufen, indem widersprüchliche Signale zur Konkretisation der Motivierung gesendet werden.
Der Film pętla als ambige Literaturverfilmung 1956 veröffentlicht Marek Hłasko seinen ersten Erzählband Pierwszy krok w chmurach, der als eine Polemik mit der Ästhetik des sozialistischen Realismus aufgefasst wird und bei Leserschaft und Kritik für Begeisterung sorgt. Der Debütband enthält die Novelle Pętla (Die Schlinge), die bereits zuvor im selben Jahr in der Zeitschrift Twórczość erschienen ist. Am 20 Januar 1958, also keine ganze zwei Jahre später, findet die Premiere der Verfilmung statt. Regie führt der damals noch unbekannte Wojciech Jerzy Has. Mit pętla realisiert Has seinen ersten Spielfilm, auch wenn er als Regisseur nicht unerfahren ist: Zuvor hat er zehn Jahre als Regisseur kurzer Lehr- und Dokumentarfilme gearbeitet. Sein Erfolg mit seinem ersten Spielfilm verdankt sich sicherlich auch dem günstigen Zeitpunkt: Im Zuge der kulturpolitischen Lockerungen, die mit dem polnischen Tauwetter zusammenhängen, entstehen die ersten Filmgruppen und Filmstudios, Filmemacher genießen eine gewisse Unabhängigkeit bei ihrer Arbeit, und der Name Marek Hłasko ist bereits einem breiten Publikum bekannt. Zwar erscheint im Vorspann Marek Hłasko als Ko-Autor des Drehbuchs und als Autor der Dialoge, in den 1990er Jahren hat Has in einem Interview jedoch erklärt, er habe grundsätzlich seine Drehbücher alleine geschrieben und Schriftstellernamen wie Hłasko (und auch bei seinen späteren Spielfilmen) in den Vorspann aufgenommen, um diese finanziell zu beteiligen (Kornatowska 1998, 55). In allen seinen weiteren Filmen greift Has auf Literatur zurück, die die Grundlage seiner Arbeitsweise bildet: »Mit dem Bild komme ich zurecht, für das Bild habe ich ein Gespür, hier brauche ich keine Inspiration, ich muss nicht auf die Malerei zurückgreifen, aber ich brauche die Literatur. Sie ist für mich ein Antrieb, eine Grundlage, auf der ich die Welt meiner Vorstellungskraft, meine subjektive Realität konstruieren kann.« (Kornatowska 1998, 55)6 Angesichts der unterschiedlichen Autoren, auf die Has zurückgreift, wie Marek Hłasko, Bruno Schulz, Bolesław Prus oder Jan Potocki (Adaptation des in französischer Sprache verfassten Romans Manuscrit trouvé à Saragosse), ist es erstaunlich,
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Wenn nicht anders angegeben, stammt die Übersetzung von polnischsprachigen Zitaten von mir.
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dass seine Filme dem Autorenkino zugerechnet werden, sie alle seine unverwechselbare Handschrift tragen und gleichzeitig seinen Literaturverfilmungen vorwiegend eine gelungene Filmadaption attestiert wird (Marion 2010, 15f.). Sein Kino stellt die Forschung immer wieder vor Schwierigkeiten, was sich u.a. in den unterschiedlichen Versuchen niederschlägt, seine Poetik zu kategorisieren. So werden seine Filme mit Schlagworten beschrieben wie etwa Barock, Expressionismus, Surrealismus, magischer Realismus, Traumpoetik, Expressionismus, gefiltert durch einen Surrealismus, und dergleichen mehr (Marion 2010, 18; Kuśmierczyk 2000, 22; Grodź 2008, 415f.). pętla erzählt die letzten 24 Stunden, von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr morgens am Folgetag, aus dem Leben des Alkoholikers Kuba Kowalski, der versucht, gegen seine Trinksucht anzukämpfen, und dabei scheitert. Er wartet zu Hause auf seine Verlobte Krystyna, die ihn zu einem Arzt begleiten soll, um von ihm das Entwöhnungsmittel Antabus verschrieben zu bekommen. Mehrmals klingelt das Telefon, Freunde und Bekannte melden sich bei ihm und konfrontieren ihn mit seinem Alkoholismus. Davon belästigt, versucht er vergeblich, das Telefonkabel aus der Wand zu reißen, woraufhin er seine Wohnung verlässt. Er irrt in der Stadt umher, wird dort mehrmals mit seiner Vergangenheit und seinem Alkoholismus konfrontiert oder zum Trinken eingeladen, es gelingt ihm aber zunächst, den für ihn unangenehmen Situationen zu entfliehen. Nachdem er in eine Schlägerei verwickelt wird, auf dem Polizeikommissariat landet und wieder entlassen wird, betritt er schließlich eine Kneipe und fängt mit dem ihm unbekannten Władek an, Wodka zu trinken. Im betrunkenen Zustand wandelt sich seine Euphorie in Aggression, er zettelt eine Prügelei an und kehrt schließlich wieder zurück nach Hause. Kurz bevor Krystyna ihn abholen möchte, begeht er Suizid: Er reißt das Telefonkabel diesmal erfolgreich aus der Wand, formt es zu einer Schlinge und erhängt sich daran. Schon der Titel ist zweideutig: »Pętla« kann im Polnischen sowohl die Schlinge bezeichnen, die im Film als Werkzeug des Suizids firmiert, als auch die Zeitschleife. Kuba ist in einer Art Zeitschleife gefangen, alles scheint sich zu wiederholen: Während die Novelle das Zirkuläre vorrangig in der Gestaltung der Zeit ausarbeitet (Krystyna kommt zu Beginn der Novelle um 8 Uhr morgens und will ihn gegen Ende am Folgetag um 8 Uhr morgens wieder abholen), arbeitet der Film diesen Aspekt deutlicher heraus. Auch im Film kommt Krystyna beide Male um 8 Uhr. Anfangs bekommt Kuba vom Schneider, der sein Nachbar ist, seinen wieder gereinigten und reparierten Mantel, der in der Nacht zuvor kaputtgegangen ist. Keine 20 Stunden später sehen wir, wie Krystyna den wieder verschmutzten und beschädigten Mantel dem Schneider übergibt. Zu Beginn sehen wir Kuba das zerbrochene Glas eines Bilderrahmens reparieren, fast 24 Stunden später, als er nach einer durchtrunkenen Nacht nach Hause
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kommt, stürzt seine Lampe auf das Glas eines Bilderrahmens. Wie zu Beginn des ersten Tages fängt gegen Ende wieder das Telefon zu klingeln an. Diese Form der Zweideutigkeit (die Zeitschleife und die Schlinge) erzeugt aber keine gegensätzlichen Bedeutungen, sondern sie werden zu einem kohärenten Gesamtsinn zusammengefügt. Sie bilden die Struktur des Zirkulären, der Wiederholung ab, die der Sucht, in diesem Fall der Alkoholsucht, innewohnt; es sind Kubas Gedanken, die permanent um das Thema Alkohol kreisen, und die sich wiederholenden Trinkgelage. Gewissermaßen lässt sich sagen: Der Ausweg für den alkoholsüchtigen Protagonisten aus der Zeitschleife ist die Schleife in Form der Schlinge. Während Hłaskos Novelle hauptsächlich aus Dialogen und aus der Gedankenrede Kubas besteht, sind deskriptive Elemente auf ein Minimum beschränkt, so etwa die Beschreibung der Orte, wie seiner Wohnung, der Stadt oder der Kneipe. Der Verfilmung wird häufig eine Doppeldeutigkeit attestiert, insofern als Kubas innerer Konflikt in der Novelle in der Verfilmung ins Äußere verlagert wird. Seine Ängste und seine Einsamkeit werden im Film vor allem in der Darstellung des Raums sichtbar. Die visuelle Gestaltung der äußeren Welt spiegele gleichsam sein Inneres und bekomme einen doppelten Status als äußerlich und innerlich zugleich (Kuśmierczyk 2000, 23f.; Grodź 2008, 38f.). In diesem Zusammenhang ist der Terminus der Subjektivierung des Raumes (siehe etwa Kuśmierczyk 2000, 23f.) geprägt worden. Dieses Verfahren sei an einem Beispiel veranschaulicht. Als Kuba in die Kneipe geht, ist diese zunächst leer, er fühlt sich niedergeschlagen. Eine Glocke, die über der Eingangstür angebracht ist, kündigt akustisch das Betreten der Kneipe an. Lediglich zwei Personen betreten den Raum, als diese einmal ertönt. Plötzlich erscheint wie aus dem Nichts Władek, der Kubas Trinkpartner wird und ihm seine Lebensgeschichte erzählt, die Kubas eigener stark ähnelt. Als Kuba nach einigen Wodkas sichtlich angeheitert ist, gibt ein Kameraschwenk den Blick in die Kneipe frei, die plötzlich bevölkert und belebt ist, einige Herren stehen am Billardtisch, die wie Statisten wirken, die auf ihren Einsatz warten, ein Akkordeonspieler fängt zu musizieren an. Die Stimmung in der Kneipe korrespondiert hier mit Kubas Stimmung. Die Subjektivierung des Raumes hat ihre Motivation in der dominant intern fokalisierten Erzählweise der Erzählung: »Sie stießen an und tranken. Jakob durchströmte ein Gefühl von Wärme; einer beglückenden und zugleich schmerzhaften, den Körper bis in die letzte Fiber erfüllenden Wärme. Er war nun kein Jammerlappen mehr; er war jung, stark und gesund. […], die Kneipe verwandelte sich plötzlich in das anständigste, wohligste, vernünftigste Plätzchen auf Erden.« (Hłasko 1969, 259, [Herv. T.S.]) Das filmische Äquivalent seiner emotionalen Verfasstheit wird also nicht über die sprachliche Erzählinstanz (etwa Voice-Over) bzw. über das gestisch-mimische Spiel des Schauspielers, sondern mittels eines Mindscreens realisiert, eines fil-
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mischen Verfahrens, das Subjektivierung erzeugt.7 Zugespitzt lässt sich das so formulieren: In der Kneipe sind viele Gäste, und es herrscht eine ausgelassene Stimmung, weil dort viele Menschen zusammenkommen und miteinander trinken (Kneipe als äußerer Raum), und zugleich ist die Kneipe plötzlich bevölkert, weil Kubas Stimmung heiter ist (Kneipe als subjektiver Raum). Jedenfalls stellt die zweite Lesart kein Indiz für eine rationale, realistische Erzählwelt dar. Mit der These von der Subjektivierung des Raumes lässt sich aber das Enigmatische des Filmes nicht gänzlich erklären. Die Gestaltung einer doppelten Welt vollzieht der Film, indem er das Geschehen vordergründig kausal motiviert, hintergründig aber durch seine Leitmotivtechnik, die einzelne Motive mit Konnotationen versieht, die allesamt ihre Funktion in der Vorausdeutung von Kubas Suizid durch Erhängen haben. Derart bilden die scheinbar unmotivierten und freien Motive ein syntaktisches Netz und werden nachträglich, vom Ende her, semantisiert. Dabei werden diesen freien Motiven nicht explizit übernatürliche Kräfte zugesprochen, sondern diese Deutung wird implizit durch die Funktionalisierung der Leitmotivtechnik erzeugt. Die Funktion der Leitmotive besteht also darin, einen finalen Motivierungszusammenhang des Geschehens herzustellen, der nur für den Zuschauer erkennbar wird; es sind quasi Hinweise für eine übernatürliche, nicht-empirische Bedeutung des Geschehens, die damit eine empirisch-kausale Deutung des Geschehens unterlaufen. Zur Leitmotivtechnik gehört zentral die Häufung von freien Motiven, die an Schleifen bzw. Schlingen erinnern. So fokussiert die Kamera gleich zu Beginn des Films durch die Schärfeeinstellung eine Telefonschnur, die zu einer Schlinge gewickelt ist; immer wieder springen Kinder Springseil auf der Straße und scheinen Kuba dabei merkwürdig anzusehen; ein Arbeiter, der am Telefonnetz Reparaturarbeiten vornimmt, formt ein Kabel, das er in der Hand hält, in dem Moment zu einer Schlinge, als er auf Kuba trifft; die Fassade von Kubas Nachbarhaus zeigt das Porträt einer Frau, die dabei ist, sich eine Kette um den Hals zu legen; Kuba tritt, durch die Straßen irrend, in zu Schlingen geformte Wasserleitungen.8 Es findet sich auch ein Schleifenmotiv auf der auditiven Ebene. Über zwei Minuten lang hören wir ein kurzes, sich ständig wiederholendes Geigenmotiv, welches zunächst suggeriert, dass es sich um Filmmusik handelt.9 Erst nach über zwei Minuten wird deutlich, dass das musikalische Schleifenmotiv innerhalb der erzählten Welt angesiedelt ist, also als Musik im Film zu verorten ist, als die Kamera den Geige übenden Nachbarn zeigt.
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In der Forschung ist die »Subjektivierung des Raums« jedoch nicht als eine Adaptionstechnik von Has aufgefasst worden. Sie hat ihre Ursprünge aber ebenfalls in der literarischen Vorlage. Die Liste belegt exemplarisch nur einen Teil der Schleifen- und Schlingenmotive, sie treten verteilt über den ganzen Film auf. Damit wird zunächst eine kompositorische Motivation suggeriert.
Ambiguität in Literaturverfilmungen
Diese Art der Leitmotivtechnik ist eine Hinzufügung von Has, denn das Schleifenmotiv findet sich in der Novelle lediglich im Titel und in Form des Stricks, mit dem sich Kuba erhängt. Dabei lässt sie sich als ein filmisches Äquivalent der inneren Verfasstheit Kubas lesen, denn Hłaskos Text kodiert auffallend häufig Kubas innere Verfasstheit mit Metaphern des Erstickens, Erdrosselns, Keine-LuftBekommens.10 Diese Adaptionstechnik verdient besonderes Interesse, da Has damit zum einen der literarischen Vorlage »treu« bleibt, zum anderen aber diese nicht als mimisch-gestisches Spiel der Hauptfigur oder mittels einer sprachlichen Erzählinstanz als Voice-Over realisiert, sondern als scheinbar unmotivierte Objekte, Dinge und Ereignisse im Raum anordnet. Damit verändert sich freilich ihre Funktion. Ferner arrangiert der Film das Geschehen immer wieder derart, dass zwei scheinbar unverbundene Ereignisse in der kausalen Lesart wohl nur als Zufall zu deuten sind, mit der finalen Motivierung aber der erzählten Welt der Charakter des Übernatürlichen suggeriert wird, indem beide Ereignisse durch eine Vorausdeutung verknüpft werden. So betritt Kuba nach dem erfolglosen Herausreißen des Telefonkabels und dem Verlassen seiner Wohnung ein Café, in dem zwei Musiker ihren Auftritt üben und permanent den folgenden Satz wiederholen: »Wozu brauchen wir heute noch Telefone, nimm eine Schere und schneide das Kabel ab.« Als Kuba in der Stadt einen Bekannten trifft, wird dieser von einem Auto leicht gestoßen. Während einer kurzen Unterhaltung der beiden gibt ein Kameraschwenk den Blick auf eine Bestattungsszene im Hintergrund frei, woraufhin Kubas Freund nach der Uhrzeit fragt. Als sich beide verabschieden, macht sich dieser über die phonetische Ähnlichkeit von Antabus (der Pillen, die Kuba helfen sollen) und Autobus lustig. Kurze Zeit später stirbt dieser Freund bei einem Autobusunfall. In beiden Beispielen lassen sich die Ereignisse in einer realistischen Lesart nur als Zufall deuten, sie suggerieren aber die finale Motivierung, indem in beiden Fällen Ereignisse in der Gegenwart dem Geschehen gegenüber zukünftig sind. Mit der Etablierung einer doppelten Welt lässt sich der Film zum einen als eine kausal motivierte und realistische Geschichte eines Alkoholikers lesen11 , zum
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Diese wird zwar nicht immer, aber doch größtenteils in der deutschen Übersetzung mit übertragen: »jenes würgende, furchtbare Gefühl« (Hłasko 1969, 223), »das Herz schlug ihm bis zum Halse« (225), »lähmte [wörtl. erstickte, Anm. von T.S.] eisiger Schrecken sein Hirn« (228), »der Gedanke daran, was geschehen könnte, würgte ihm den Atem ab« (232), »die Luft erstickte ihn« (233), »mir steht das alles bis zum Hals« (247), »wie eine zurückgestaute Schlagader« (256), »und plötzlich lähmte [wörtl. erstickte, Anm. von T.S.] die eisige Faust des Schreckens sein Hirn« (258), »lähmende [wörtl. erstickende, Anm. von T.S.] Kälte durchsickerte ihn« (275). Die impliziten Hinweise auf eine realistische Welt müssen dann als Zufall oder Merkwürdigkeit gelesen werden. Da sie implizit sind, können sie aber auch leicht insbesondere bei der
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anderen als eine Geschichte verstehen, die nur vordergründig die Alkoholsucht behandelt und die vielmehr zentral Themen wie den Fatalismus, die Determiniertheit des Handelns bzw. die Vorherbestimmtheit des Schicksals aufgreift.
Rezeption Der Befund der doppelten Lesart lässt sich auch gut an der Rezeption belegen. Die Kritiken aus den 50er Jahren lesen den Film auf seiner realistischen Ebene und betonen größtenteils den sozialdidaktischen Wert und Nutzen des Films. Vorrangig wurde er viele Jahre lang lediglich als moralische Warnung vor den Folgen des Alkohols wahrgenommen, galt in dieser Zeit gerade der Alkohol als eines der am dringendsten zu lösenden sozialen Probleme in der Volksrepublik. Die Filmkritik von Żdżarski steht hier prototypisch für viele zeitgenössische Rezensionen, die Hasʼ Film bloß als einen Film über die Problematik des Alkoholismus als soziales Phänomen sehen und ihm einen moralisch-didaktischen Wert zuschreiben. »Neben den Kurzfilmen aus der sogenannten schwarzen Serie, die die Tragödie der Trunkenbolde und ihrer Familien zeigen, sollte ›Pętla‹ zur Mobilisierung der gesamten Gesellschaft im Hinblick auf ihre moralische und körperliche Gesundheit beitragen. Wir warten auf weitere Filme, die uns statt einer verspielten Zunge in Richtung ›netter‹ Betrunkener und ›komischer‹ angeheiterter Männer mutig die ganze Wahrheit und nur die Wahrheit über die schrecklichen Auswirkungen des Alkoholismus als soziale Krankheit erzählen.« (Żdżarski 1958) Einige wenige Rezensenten bemerkten die hintergründige zweite Ebene, bewerteten die nicht-realistischen Ereignisse als Merkwürdigkeiten, Seltsamkeiten, Unwahrscheinlichkeiten und als stilistische Übungen des noch jungen Regisseurs, die sich nachteilig auf den Realismus und den Film auswirkten (vgl. hierzu Kuśmierczyk 2000, 23f.). Erst ab den späten 1960er Jahren beginnt die polnische Filmwissenschaft den Film in seiner Ambiguität zu würdigen (Eberhardt 1967), erkennt diese aber vor allem in den verschiedenen Verfahren der Subjektivierung (Eberhardt 1967; Kuśmierczyk 2000; Grodź 2008) bzw. in einer ambivalenten Bedeutung von zeitlichen Aspekten (Marion 2010, 90ff.). Die Komplexität und Ambiguität des Films hat ihm ein ästhetisch langes Leben beschert: Nach Wojciech Hasʼ Tod im Jahre 2000 hat die filmwissenschaftliche Beschäftigung mit Pętla, gefolgt von zahl-
ersten Filmsichtung übersehen werden. Dies zumindest bestätigten auch die Reaktionen von Studierenden im Rahmen eines Seminars zur Literaturverfilmung in Bezug auf diesen Film.
Ambiguität in Literaturverfilmungen
reichen, auch internationalen Retrospektiven seiner Filme, stark zugenommen und Pętla künstlerisch in seiner Ambiguität gewürdigt.12 Somit haben wir es mit einer ambigen Verfilmung zu tun, die mitnichten eine Verarmung in Bezug auf die literarische Vorlage darstellt, sondern geradezu eine Bereicherung, indem sowohl die realistisch motivierte Geschichte Kubas erzählt wird als auch zugleich eine klaustrophobisch anmutende Welt kreiert wird, in der das Handeln von vornherein determiniert erscheint und aus der es kein Entkommen gibt. Kubas letzter gesprochener Satz im Film bestätigt dies. Unmittelbar vor seinem Suizid sagt er: »So muss es geschehen«.
Literaturverzeichnis Bauer, Matthias et al. 2010. Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 158/40: Ambiguität, S. 7-75. Bohnenkamp, Anne. 2012. Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderung, in: dies./Tilman Lang (Hg.): Literaturverfilmungen, Stuttgart 2012, S. 940. Eberhardt, Konrad. 1967. Wojciech Has, Warszawa. Geßner, Anna-Felicitas. 2019. Die doppelte Welt von Guy Ritchies Film Revolver als Spielwelt. Eine Rahmenanalyse, in: Christoph Bartsch et al. (Hg.): Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven, Berlin/Boston 2019, S. 235-256. Grodź, Iwona. 2008. Zaszyfrowane w obrazie. O filmach Wojciecha Jerzego Hasa, Gdańsk. Hłasko, Marek. 1969. Die Schlinge, in: ders.: Der achte Tag der Woche und andere Erzählungen, Köln/Berlin 1969, S. 223-296. Iser, Wolfgang. 1984. Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung [1976], München. Kornatowska, Maria. 1998. Nie lubię niespodzianek na planie…, rozmowa z Wojciechem Jerzym Hasem, in: Marek Hendrykowski (Hg.): Debiuty polskiego kina, Konin 1998, S. 53-72. Kuśmierczyk, Seweryn. 2000. Wstęga Möbiusa jako czasoprzestrzeń dzieła filmowego. Na przykładzie »Pętli« Wojciecha Hasa i »Zabicia ciotki« Grzegorza Królikiewicza, in: Kwartalnik Filmowy, H. 29-30, S. 20-39. Kuhn, Markus. 2011. Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/Boston.
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Für einen Überblick über die Rezeption siehe Kuśmierczyk (2000). Seit den 2000er Jahren ist ein deutlicher Anstieg an filmwissenschaftlicher Beschäftigung zu verzeichnen; neben zahlreichen Aufsätzen und Sammelbänden sind mittlerweile zwei Monographien zu Hasʼ Filmschaffen erschienen (Grodź 2008, Marion 2010).
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Marion, Marcin. 2010. Dramat czasu i wyobraźni. Filmy Wojciecha J. Hasa, Kraków. Martínez, Matías. 1996. Doppelte Welten: Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen/Zürich. Martínez, Matías/Scheffel, Michael. 1999. Einführung in die Erzähltheorie, München. Pinkas, Claudia. 2010. Der phantastische Film. Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität, Berlin/New York. Schepelern, Peter. 1993. Gewinn und Verlust. Zur Verfilmung in Theorie und Praxis, in: Text & Kontext, H. 1-2/18, S. 20-67. Żdżarski, Wacław. 1958. Pętla, in: Słowo Powszechne, H. 9.
Moderne Zweigeschlechtlichkeit und Ambiguität Visualisierungen von Transgeschlechtlichkeit als mediale Ambiguitätsphänomene Sylka Scholz & Robin K. Saalfeld
In unserer Gesellschaft gehen wir davon aus, dass Geschlecht eine biologisch gegebene Tatsache ist. Die meisten Gesellschaftsmitglieder nehmen an, dass die Geschlechtszugehörigkeit eindeutig ist, das heißt jeder Mensch sei entweder weiblich oder männlich. Das Geschlecht gilt außerdem als natürlich, denn es wird biologisch und/oder körperlich begründet. Entsprechend wird die Geschlechtszugehörigkeit als unveränderlich verstanden, gilt sie doch als angeboren, kann nicht gewechselt werden. Diese drei Alltagsgewissheiten bezeichnen Kessler und McKenna (1978) als eine Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit. Doch laut der ZEIT-VermächtnisStudie aus dem Jahr 2016 können oder wollen sich 3,3 Prozent der befragten Personen nicht einer eindeutigen geschlechtlichen Identität zuordnen (Friedrich 2017). Rechnet man diese Prozentzahl auf die Bevölkerung der Bundesrepublik hoch, so sind dies immerhin knapp 2,5 Millionen Personen, so viele Menschen wie in den Großstädten München und Köln insgesamt leben (ebd.). Bereits seit 2014 konnten die User*innen auf der Social Media Plattform Facebook zwischen 60 Bezeichnungen auswählen, wenn sie ihr Geschlecht angeben. Gemeinsam mit dem Lesben- und Schwulenverband wurden Begriffe zur Verfügung gestellt, die »im Selbstverständnis der Community verwendet werden« (Frankfurter Allgemeine, 04.09.2014). Sie lassen sich in sechs Kategorien klassifizieren: Kategorie
Beispiele
Kategorien, die eine Geschlechtszuweisung ganz ablehnen
»geschlechtslos«, »weder noch«
Kategorien, die einen Wechsel des Geschlechts anzeigen
»Frau zu Mann«, »Mann zu Frau«, »weiblichtranssexuell«, »männlich-transsexuell«
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Sylka Scholz & Robin K. Saalfeld
Kategorie
Beispiele
Kategorien, die auf Zwischengeschlechter rekurrieren, die es in anderen Kulturen gibt
»two spirit people«
Kategorien, die biologisch nicht eindeutig sind
alt »Zwitter«, »Hermaphrodit«, neu »intersexuell«
Kategorien, die auf westliche Lesben- und Schwulenkultur rekurrieren
»Butch«, »Femme«, »Drag«, »Transvestit«
Kategorien, die auf die Queer- bzw. Transgenderbewegung rekurrieren
»Transgender weiblich«, »Transgender Mensch«
Tabelle 1: Eigene Kategorisierung der Auswahlmöglichkeit von Geschlecht auf Facebook
Die Kategorien sind soziologisch gesprochen nicht trennscharf, viele Bezeichnungen sind mehreren Kategorien zuzuordnen, sie sind demnach uneindeutig oder »ambig«. Zu den beiden Phänomenen passt, dass das Bundeskabinett im August 2018 einen Gesetzesentwurf gebilligt hat, der es intergeschlechtlichen Menschen ermöglicht, im Geburtenregister ein drittes, als ›divers‹ bezeichnetes Geschlecht anzugeben (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2018). Facebook reagierte rasch darauf, die User*innen können nun zwischen den Kategorien ›männlich‹, ›weiblich‹ oder ›divers‹ wählen. Wird die dritte Option angeklickt, so muss in einem nächsten Schritt das Personalpronomen: sie, er, er/sie gewählt werden, darüber hinaus kann unter ›Geschlecht optional‹ frei eine Bezeichnung eingetragen werden (vgl. https://de-de.facebook.com/). Auf den ersten Blick meint man in den beschriebenen Erscheinungen die für spät- und postmoderne Gesellschaften typischen Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Vervielfältigung zu erkennen. Doch wollen wir in unserem Aufsatz zeigen, dass die aktuelle Verflüssigung der Kategorie Geschlecht eine Reaktion auf eine historisch moderne Vereindeutigung ist. Mit Rekurs auf Wissensbestände der Biologie, Medizin und Philosophie wurden die in frühneuzeitlichen Gesellschaften durchaus als ambig zu bezeichnenden Geschlechter- und Sexualitätskonstrukte nun als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ naturalisiert, und es bildete sich eine Ambiguitätsintoleranz heraus. Dieser Prozess der Binarisierung von Geschlecht im Zuge des Takeoff der Modernisierungsprozesse um 1800 wird in einem ersten Schritt rekonstruiert. Doch beruht die neue Vereindeutigung und Polarisierung von Geschlecht auf einer Pathologisierung und Sichtbarmachung von randständigen Geschlechter- und Sexualitätskonstrukten. Dazu gehören insbesondere Menschen, die sich nicht in der ihnen zugewiesenen Geschlechtszugehörigkeit heimisch fühlen und eine Veränderung anstreben. Wir zeigen in einem zweiten Schritt, wie sich in den Diskursen der Medizin und der Sexualwissenschaft ab En-
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de des 19. Jahrhunderts spezifische Umgangsformen mit sogenannten transsexuellen Menschen institutionalisieren, deren Ziel es ist, Ambiguität zu überwinden. In einem dritten Schritt wird das theoretisch skizzierte Spannungsfeld aus ambiguitätstilgenden Anrufungen und der aktuell zu verzeichnenden Tendenz der Pluralisierung von Geschlechtlichkeit anhand eines empirischen Beispiels beleuchtet. Reflektiert werden aus Perspektive einer visuellen Soziologie Videotagebücher von transgeschlechtlichen Menschen auf der Social Media Plattform YouTube. Die Videotagebücher beinhalten zahlreiche Videos, die geschlechtsaffirmative Maßnahmen dokumentieren. Gefragt wird, welche Position die Visualisierungen einnehmen zwischen den beiden Polen Pluralisierung und Binarisierung von Geschlechtlichkeiten und ob sich eine Ambiguitätstoleranz herausbildet.
Die historische Konstitution der modernen Zweigeschlechtlichkeit um 1800 In modernen Gesellschaften ist der Rekurs auf die kulturelle, jedoch als natürlich geltende Zweigeschlechtlichkeit eine zentrale Ressource für die Herstellung und Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung (Dölling 2009; Pittius, Scholz 2013). Denn in der sich in verschiedene Teilbereiche wie Politik, Ökonomie, Wissenschaft oder Familie ausdifferenzierenden Gesellschaft stellt die Geschlechterordnung eine alle Teilbereiche erneut integrierende Sinnordnung dar. Im Anschluss an die Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ist die Geschlechterordnung als eine symbolische Sinnwelt zu verstehen, »die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen [kann]« (Berger, Luckmann [1966] 2007, 102). Wie konnte Geschlecht in modernen Gesellschaften eine solche herausragende Bedeutung erlangen? Einschlägige Studien aus der Geschlechterforschung haben gezeigt, dass die ökonomischen, politischen und sozialen Umbrüche im 18. Jahrhundert mit diskursiven Neuverhandlungen über den gesellschaftlichen Ort von Männern und Frauen verbunden waren (vgl. im Folgenden Hartlieb 2006; Hausen 1976; Frevert 1988; Honegger 1996; Laqueur 1992). Denn mit der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution ließ sich die patriarchale und über die christliche Schöpfungsordnung gestützte Unterordnung der Frau unter den Mann nicht länger legitimieren. Begründet wurde die Gleichheit aller mit dem Naturrecht, welches in den philosophischen Diskursen der Aufklärung von seiner bisherigen theologischen Fundierung losgelöst wurde. Durch Industrialisierung und Urbanisierung veränderte sich zudem die Wirtschaftsweise. Arbeitsort und Familie wurden mehr und mehr räumlich getrennt, eine neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wurde notwendig, welche die gesell-
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schaftliche Reproduktion der Arbeitskräfte und der menschlichen Gattung im neu entstehenden Kapitalismus absicherte. An diesem Prozess der Neuverhandlung waren die »Meisterdenker« (Frevert 1988, 17) der Aufklärung, wie Rousseau, Fichte und Leibniz, sowie Naturwissenschaftler und Mediziner maßgeblich beteiligt. Karin Hausen (1976), Ute Frevert (1988), Claudia Honegger (1996) oder Elisabeth Hartlieb (2006) zeigen detailliert auf, wie Männern und Frauen geschlechtstypische Eigenschaften zugeschrieben wurden. Wechselten die Inhalte der Zuschreibungen zunächst noch rasch, verfestigten sie sich um 1800 mehr und mehr. Frauen wurde Passivität und Emotionalität, Männern Aktivität und Rationalität zugerechnet. Die Kategorien sind binär und zugleich komplementär, aber asymmetrisch (geschlechtshierarchisch) konstruiert. Aufgrund dieser Eigenschaften eignen sich Frauen vermeintlich mehr für die Arbeit im Familienbereich, Männer hingegen gelten für Erwerbsarbeit, Politik, Militär und Wissenschaft prädestiniert. Ihre Wirkmächtigkeit erhalten diese Konstrukte durch die Naturalisierung und Ontologisierung der Geschlechterdifferenz: Der Geschlechterdualismus wird auf die Natur der Körper und ihrer Sexualfunktionen zurückgeführt. Die mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale werden nun als ›Wesenseigenschaften‹ von Männern und Frauen angesehen. Auf diese Art und Weise erscheint die Ordnung der Geschlechter als »das getreue Abbild der natürlichen Ordnung der Dinge […] – und nichts weiter« (Honegger 1996, IX). Thomas Laqueur charakterisiert diesen Vorgang wie folgt: »Anders gesagt, man erfand zwei biologische Geschlechter, um den sozialen eine neue Grundlage zu geben« (Laqueur 1992, 173). Hintergrund dieser Neudeutung von Geschlecht waren auch Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Medizin, welche in der Renaissance einsetzten. Bis um 1800 galt nach Thomas Laqueur ein »EinGeschlecht-Modell« (ebd., 117): Die zeitgenössischen Vorstellungen gingen davon aus, dass Männer und Frauen ähnliche Geschlechtsorgane hatten, d.h. »angenommen wurden unterschiedliche Ausprägungen des Selben« (Krämer, Sabisch 2018, 3): Der ›Penis‹ der Frauen galt als nach innen gestülpt. Das Modell ist gestützt von der antiken Säftelehre (Humoralbiologie) und der Lehre von den Temperamenten. Es war zudem uneindeutig und durchlässig, so konnte in den zeitgenössischen Vorstellungen auch ein Wechsel von der imperfekten Frau zum perfekten Mann erfolgen (ebd.). Im Zuge der beschriebenen gesellschaftlichen Umbrüche wurde der Geschlechtergegensatz entdeckt. Männern und Frauen wurden nun unterschiedliche Geschlechtsorgane zugeschrieben, die sich auch begrifflich unterschieden. Hatten Frauen im Ein-Geschlecht-Modell weibliche Hoden bzw. Testikel, haben sie im »Zwei-Geschlechter-Modell« (Laqueur 1992, 173) Eierstöcke bzw. Ovarien. Der Begriff Hoden wurde nur noch für das männliche Geschlecht benutzt. Der Frau wurde eine vom Mann abweichende »Sondernatur« (Honegger 1996, 126) zugeordnet,
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die ihren Ausschluss aus den Staatsbürgerrechten und der neuen bürgerlichen Öffentlichkeit sowie ihren Platz in der Familie legitimierte. Zu konstatieren ist eine diskursive Verschiebung vom allgemeinen Naturrecht zu einer spezifischen ›Natur‹ der Frau; die Rechtsungleichheit der Geschlechter wird nun mit der biologischen Geschlechterdifferenz begründet. Die Thesen von Laqueur und Honegger machten in den 1990er Jahren in der Geschlechterforschung Furore. Mittlerweile sind sie durch weitere Studien vertieft worden, die zum einen zeigen, dass Laqueur sein Untersuchungsmaterial zu Gunsten seiner These des Wechsels um 1800 zu stark vereinseitigt hat. Ergänzt wurden sie zum anderen durch die zentrale Erkenntnis, dass die sich manifestierende Binarität der Geschlechter zum Ausgangspunkt weiterer Geschlechter- und Sexualitätskonstrukte wurde, die aber als »abweichend«/deviant abgewertet wurden (Schröter 2002; Krämer, Sabisch 2018). So entstand etwa aus sexuellen Praktiken unter Männern, die in der frühen Neuzeit unter dem fluiden Begriff der Sodomie erfasst wurden, allmählich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Sexualwissenschaften das neue Geschlechterkonstrukt des männlichen Homosexuellen. Herausgearbeitet wurde zudem, dass die im Zuge der Entwicklung humanwissenschaftlicher Disziplinen stattfindende Pathologisierung von ›devianten‹ Geschlechterkonstrukten nicht nur eine Folge der sich manifestierenden Geschlechterbinarität war, sondern auch deren Voraussetzung darstellte. »Die Zuspitzung hegemonialer Diskurse auf Dualität hin und die Herstellung eines restriktiven Differenzmodells […] produzierten als einen ihrer Effekte differenzierte Diskurse der Subkultur und ließen das Abweichende und Nichteindeutige, das sie selbst an den Rand der Gesellschaft gedrängt hatten, in aller Deutlichkeit zu Tage treten.« (Schröter 2002, 62) Ulrike Klöppel etwa zeigte, dass gerade die im 18. Jahrhundert einsetzende Beforschung hermaphroditischer1 Körper dazu beitrug, wesentliche Unterschiede 1
Menschen, deren angeborene körperliche Merkmale nicht eindeutig der weiblichen bzw. männlichen Norm entsprechen, wurden und werden unterschiedlich bezeichnet. Klöppel verwendet in ihrer Untersuchung den Begriff Intersexualität und bezieht sich damit auf die seit den 1960er Jahren übliche Bezeichnung von Menschen mit ambigen körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Vor den 1960er Jahren wurde auf medizinischer Ebene vor allem von Zwittern, Zwischengeschlechtern oder Hermaphroditen gesprochen, wobei letzterer Terminus der älteste ist und seit der Antike verwendet wurde. Mittlerweile gibt es weitere Selbstbezeichnungen, wie intergeschlechtlich, inter* oder Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Ähnlich divers stellt sich die Benennung von Menschen dar, die sich nicht (gänzlich) mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren: Während jene im 19. Jahrhundert unter den Formenkreis des Hermaphroditismus, später unter das Konzept Transvestitismus subsummiert wurden, setzte sich auf sexualwissenschaftlicher Ebene im 20. Jahrhundert der Begriff Transsexualismus durch. Heutige Selbstbezeichnungen sind äußerst vielfältig: Menschen bezeichnen sich als transsexuell, transgeschlechtlich, transident,
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zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen zu bestimmen (Klöppel 2010). Der geschlechtlich ambige Körper entwickelte sich an der »biologischen Modernitätsschwelle« (Foucault 1977, 170) zum Präzedenzfall, über dessen Erkundung sich Erkenntnisse zum Kerngehalt des körperlich eindeutigen Geschlechts ableiten ließen (vgl. auch Gregor 2015). Diskursiv eng verwoben mit hermaphroditischen Phänomenen waren im 19. und 20. Jahrhundert auch all jene ambigen Geschlechtsentwürfe, die heutzutage eher unter dem Oberbegriff »trans*« gefasst werden (vgl. Saalfeld 2020). Darunter fielen Menschen mit ›gegengeschlechtlichen‹ Verhaltensweisen, Menschen, die temporär in die Kleidung des ›anderen‹ Geschlechts schlüpften, und Menschen, die sich einem anderen als ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlten. Die medizinische Problematisierung normabweichender Geschlechtsentwürfe stand dabei stets in engem Zusammenhang mit der Pathologisierung von gleichgeschlechtlichen Verhaltensweisen (Mildenberger 2005, 260). Normabweichendes sexuelles und soziales Verhalten wurde gewissermaßen geschlechtsspezifisch und -binär codiert und an die Kategorie Geschlecht gekoppelt.
Die historische Herausbildung der Transsexualität im 20. Jahrhundert Spezifische medizinische Disziplinen bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus, die das Verständnis von Geschlechtlichkeit zunächst zu vervielfältigen schienen. Damit einher gingen neuartige Behandlungsansätze hinsichtlich ambiger Geschlechts- und Sexualitätskonstrukte. Nachfolgend werden diese diskursiven Prozesse kursorisch anhand der endokrinologischen und der sexualchirurgischen Disziplin beschrieben. Ein besonderer Fokus wird auf zwischengeschlechtliche Phänomene gelegt, worunter in den 1910er und -20er Jahren Transvestiten, Transsexuelle und auch Homosexelle subsummiert wurden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei Hormonen um in verschiedenen Organen gebildete und wirkende Substanzen handelt, die den Organismus in seiner Gesamtheit beeinflussen. 1920 erfolgte erstmalig die Extrahierung von Hormonen aus den Hoden bzw. Eierstöcken (Voß 2010, 208). Unterstellt wurde zunächst, dass es jene Sexualhormone seien, die die ›typisch männliche‹ bzw. ›typisch weibliche‹ Entwicklung verantworten. Nachfolgende Studien widerlegten diese geschlechterbinäre Vorstellung der Keimdrüsen allerdings dadurch, dass jene Sexualhormone in ›beiden‹ Geschlechtern nachgewiesen werden konnten (ebd.). Es setzte sich ein Geschlechtermodell durch, nach dem nicht- bzw. non-binär, agender, genderqueer, queer usw. Die Schreibweise »trans*« und der Begriff »transgeschlechtlich« erscheinen den Autor*innen als die inklusivsten Bezeichnungen.
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das Geschlecht nicht nur als innerhalb eines Kontinuums verortbar gedacht wurde, sondern auch grundsätzlich veränderbar erschien. Dieses Modell hielt Einzug in die sich etablierende Sexualwissenschaft, sodass Geschlecht und Sexualität nun als Funktion von Hormonwirkungen betrachtet wurden. Während der einflussreiche Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld dem Phänomen Transvestismus vormals beispielsweise eine psychische Disposition unterstellte, betrachtete er Hormone schließlich als ursächlich (Hirschfeld 1918, 176f.). Dem Modell entsprechend erfolgte die Behandlung von damalig als transvestitisch, homosexuell und transsexuell diagnostizierten Menschen über experimentelle Hormontherapien (Hirschauer 1993, 98). Die Therapien standen in der Absicht der Libidoverminderung bzw. -steigerung und in der Absicht, geschlechtliche Affirmationswünsche2 zu unterdrücken. Von der Zweigeschlechternorm abweichende Geschlechtlichkeiten galten als »natürliche Auswirkung einer zwittrigen Physis« (Herrn 2005, 106), die entsprechend therapiert werden könnten. Obwohl also die frühe Endokrinologie maßgeblich daran beteiligt war, geschlechtliche Ambiguität zu ›entdecken‹, so stand die Behandlung ambiger Geschlechter- und Sexualitätskonstrukte eher im Dienste der Anpassung an zweigeschlechtliche und heteronormative Vorgaben. Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierende Disziplin der Sexualchirurgie trug ebenfalls zu diesem neuartigen geschlechtlichen Verständnis bei: ein Geschlecht, das form- und veränderbar erschien. Im ersten Weltkrieg verstümmelte Soldaten bildeten einen Patientenpool, an dem erste sexualchirurgische Operationen experimentell durchgeführt wurden (Weiss 2009, 169ff.). Operationen am Genital, im Speziellen Kastrationen, Vasektomien und auch Keimdrüsentransplantationen, avancierten schließlich zu therapeutischen Maßnahmen, die bei ›Abweichungen‹ von Geschlechter- und Sexualitätsnormen eingesetzt wurden. Dies betraf vor allem Homosexuelle, Transvestiten, Hermaphroditen, Sexualverbrecher, auch sogenannte ›Geisteskranke‹ im Allgemeinen (Hirschauer 1993, 98). Obwohl sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts also ein scheinbar neues Verständnis von Geschlecht entwickelte, zeichnete sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits auf medizinischer Diskursebene die Tendenz der Binarisierung ab. Diese Polarisierung verstärkte sich in der Nachkriegsmoderne. Die gesellschaftliche Unordnung, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, wurde u.a. durch den Aufbau einer rigiden patriarchalen, heteronormativen Geschlechterordnung bewältigt (Pittius, Scholz 2013). Das lässt sich, erstens, an dem sich seit den
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Wir sprechen im Aufsatz von geschlechtlichen Affirmationen statt von ›Geschlechtsangleichungen‹ oder gar ›Geschlechtsumwandlungen‹, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich trans* Personen nicht an ein vorgegebenes Geschlechtskonstrukt angleichen oder gar ›umgewandelt werden‹, sondern sie über die Deutungshoheit über ihr eigenes Geschlecht verfügen. Wenn Maßnahmen zur Anwendung kommen, die dazu führen, dass sich eine trans* Person wohler mit ihrem Geschlecht fühlt, affirmiert sie ihr Geschlecht.
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1950er Jahren breit durchsetzenden Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie mit seiner geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung beobachten. Die damit verbundenen Ausgrenzungen und Abwertungen etwa alleinerziehender Mütter, alleinlebender Frauen oder homosexueller Menschen wurden wiederum zu Impulsgebern für die neuen sozialen Bewegungen ab Ende der 1960er Jahre. Zweitens dokumentiert sich die Manifestation einer rigiden patriarchalen, heteronormativen Geschlechterordnung an der Etablierung eines strengen Behandlungsmanagements hinsichtlich transsexueller Phänomene. Als in den 1960er Jahren eine kategoriale Unterscheidung zwischen Transvestismus und Transsexualität eingeführt wurde, die im Kontext der im Bereich der Sexualwissenschaft stattfinden Ausdifferenzierung von ›devianten‹ Sexualitäts- und Geschlechterkonstrukten stand und wonach Transsexualität nun als behandlungsbedürftiges Problem galt, das sich als »Spannungsverhältnis von Identität und anatomischem Geschlecht« (Hoenes 2014, 72) formuliert, verschob sich der Behandlungs- und Forschungskontext sukzessive von Europa nach Nordamerika. Symptome wie der dringende Wunsch nach Anpassung der körperlichen Physis an das eigene Geschlecht wurden nun nicht mehr als pathologischer Zustand gewertet, sondern als »Aufforderung zur operativen Tat« (Runte 1996, 64). Behandlungszentren wurden errichtet. Es gründete sich die Harry Benjamin Foundation. Allgemein fanden zwischen den 1960er und -80er Jahren zahlreiche Kongresse, Symposien und Workshops zum Thema statt. Transsexualität avancierte zum bedeutungsvollsten Thema der internationalen Sexualforschung (Weiss 2009, 324). 1980 wurde Transsexualismus offiziell in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders-III (DSM-III) aufgenommen. Medizinische Richtlinien, sogenannte Standards of Care, wurden entwickelt, die vorgeben, wie mit Behandlungssuchenden zu verfahren sei. Zentraler Bestandteil der Behandlungsrichtlinien ist der diagnostische Prozess, der die Selbstdiagnose der Behandlungssuchenden auf Richtigkeit hin prüft. Das eigene Geschlechtsempfinden muss beispielsweise als von Dauerhaftigkeit und Stabilität gekennzeichnet sein, und es muss sich auf der ›gegenüberliegenden‹ Seite zum ›Zuweisungsgeschlecht‹ befinden. Das Ziel der Behandlungspraxis liegt wiederum in der Herstellung eines auf den Phänotyp und die Geschlechtsperformance bezogenen eindeutigen Geschlechts. Beim medizinisch konstruierten transsexuellen Subjekt handelt es sich um ein vergeschlechtlichtes Subjekt, das lediglich in einer dichotom-organisierten Geschlechterordnung mit veränderten Vorzeichen denkbar ist (Saalfeld 2020, 152). Behandlungssuchende unterliegen bis dato einem Regime der Normalisierung (Spade 2006) an normative Geschlechtsvorstellungen. Von Beginn an erwies sich die Herausbildung transsexueller Geschlechtsentwürfe als Verquickung von medizinischen Wissensbeständen und Wissen, das aus den konkreten Lebensrealitäten der betreffenden Menschen kam. Das zeichnete sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts u.a. am Fall der Christine Jorgen-
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sen3 und an der solidarischen Zusammenarbeit des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld mit zahlreichen Transvestiten und Transsexuellen ab. Eine zentrale Rolle spielten Aushandlungen, wie sie in subkulturellen und eher aktivistischen Zusammenhängen stattfanden. Gerade jene subkulturellen und aktivistischen Kontexte bewirkten in den 1980er Jahren die Etablierung einer Transgender Bewegung, die sich nicht nur als Reaktion auf die problematische Pathologisierung transsexueller Menschen bildete, sondern auch safe spaces bereithielt für all jene, die alltäglicher und struktureller Diskriminierung ausgesetzt waren. Das subkulturelle Wissen über Geschlecht, das dort zirkulierte, trug in den 1990er Jahren wesentlich zur Entwicklung der akademischen queer und trans* studies bei (vgl. auch Baumgartinger 2017, 110). Es basiert auf der Kritik an der Rigidität des Zweigeschlechterregimes und schließt an die Vision einer nicht-binären, eher genderqueeren Welt an, die die Restriktionen patriarchaler Verhältnisse und heteronormativer Zweigeschlechterkonformität hinter sich gelassen hat. Die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung geschlechtlicher Ambiguität formulierte die Aktivistin Sandy Stone als Einnahme einer posttranssexuellen Position, welche durch einen Fokus auf die Vielgestaltigkeit, Vielstimmigkeit und auch Widersprüchlichkeit transgeschlechtlicher Erfahrungen gekennzeichnet ist (Stone 1991). In diesem Zusammenhang wird der Begriff transgender als Ober- und Sammelbegriff verwendet für all jene geschlechtlichen Lebens-, Identifikations- und Verkörperungsweisen, die nicht ohne weiteres in einer zweigeschlechtlichen Logik aufgehen (vgl. Feinberg 1998, Bornstein 1995, Namaste 2000). Insgesamt geht es der westlichen Transgender Bewegung um die Möglichkeit der Artikulation alternativer geschlechtlicher Verortungsweisen und, daran anschließend, um soziale Anerkennung und Repräsentation (Schirmer 2010, 125).
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Jorgensen war ein ehemaliger amerikanischer Soldat und dänischer Transvestit, der sich seit jeher als weiblich identifizierte und aufgrund seiner Depressivität eine Kastration wünschte (Hamburger et al. 1953). Fälschlicherweise wurde Jorgensen als ›effeminierter Homosexueller‹ diagnostiziert und sollte entsprechend mit Hormonen behandelt werden. Nachdem Jorgensen nicht nur auf die Gabe von Östrogenen (statt Testosteron), sondern auch auf die Amputation des Penisʼ bestand und das Ärzteteam der Meinung war, dass »es vom eugenischen Standpunkt gesehen nicht [schade sei], wenn einige sexuell abnorme Männer kastriert und so ihrer Libido beraubt werden« (ebd., 394f.), wurde der Fall medial derart breit rezipiert, dass er als erster Erfolg hinsichtlich der Realisierung ›geschlechtsangleichender‹ Wünsche (um-)gedeutet wurde und zahlreichen Behandlungssuchenden die hoffnungsvolle Aussicht auf ein gutes Leben eröffnete.
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Visualisierungen von Transgeschlechtlichkeit als mediale Ambiguitätsphänomene Wenn das Konzept der Ambiguitätstoleranz als wünschenswerte Fähigkeit von Individuen gilt, mit Phänomenen der Uneindeutigkeit umzugehen, und wenn diese Fähigkeit im Rahmen von Sozialisationsprozessen als Ambiguitätskompetenz erworben wird, lässt sich fragen, ob soziale Bewegungen, die aktuell unter dem Begriff trans* aktiv sind, als Orte fungieren, an denen Ambiguität am stärksten toleriert wird und damit auch eine hohe Ambiguitätskompetenz vorliegt. Die Auseinandersetzungen, die aktuell in dem Feld um Begrifflichkeiten, Ein- und Ausschlüsse geführt werden, lassen allerdings vermuten, dass geschlechtliche Ambiguität nicht gleich zu Ambiguitätstoleranz führt. So finden bis heute in radikalfeministischen Kontexten beispielsweise harsche Debatten darüber statt, ob transweibliche Menschen tatsächlich als Frauen zu betrachten seien oder ob ihnen der Zugang zu feministischen safe spaces verwehrt bleiben sollte (Baumgartinger 2017, 112). In eher queerfeministisch-orientierten Kontexten wird wiederum misstrauisch auf Menschen geblickt, die sich als (binär-)transsexuell identifizieren; unterstellt wird, dass sie an der Konsolidierung geschlechterstereotyper Vorstellungen mitwirken. Mit Häme wird in der Presse, etwa in dem eingangs zitierten Artikel aus dem ZeitMagazin über die Konflikte innerhalb der Bewegung berichtet, die etwa zum freiwilligen Exit einer der bekanntesten Professx, Lann Hornscheidt, aus den Gender Studies geführt haben (vgl. Friedrichs 2017). Dieser und viele weitere Konflikte verweisen auf die Schwierigkeit hinsichtlich der Ausbildung von Ambiguitätstoleranz oder gar Ambiguitätskompetenz. Eine zu prüfende These lautet, dass insbesondere in den sozialen Medien ein Möglichkeitsraum gegeben ist, um sich Ambiguitätserfahrungen, Ambiguitätstoleranz und Ambiguitätskompetenz anzueignen. Damit ist nicht nur gemeint, dass für soziale Medien die Verbreitung von Bildern charakteristisch ist und Bilder auf konstitutiver Ebene stets Ambiguität produzieren (Krieger 2018). Vielmehr ist damit der Umstand adressiert, dass durch das soziale Medium die Ambiguität eines geschlechtlichen Phänomens freigelegt wird. Das Social Media Portal YouTube avancierte in den letzten zehn Jahren für transgeschlechtliche Menschen zu einer geeigneten Plattform, um Prozesse der eigenen Geschlechtsaffirmation in selbst gestalteten Videoclips für ein breites Publikum zu dokumentieren (Saalfeld 2020, vgl. auch Raun 2016). Im Sinne einer »participatory culture« (Burgess, Green 2009) stellt der Video Sharing Dienst für transgeschlechtliche Menschen einen emanzipatorischen Kommunikationsraum dar, der zur Ausbildung einer gemeinschaftlichen Community beiträgt. Soziale Medien im Allgemeinen waren und sind maßgeblich an der konzeptuellen Entwicklung einer Trans*Bewegung beteiligt (de Silva 2014). Das Internet bietet transgeschlechtlichen Menschen eine Infrastruktur, die aktivistische Bemühungen über geografische Distanzen hinweg ermöglicht (Whittle 1998, 405). Transgeschlechtliche Men-
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schen haben sich auf YouTube einen Raum geschaffen, in dem sie sich – abseits medizinisch-psychiatrischer Kontrollen – selbstkritisch und in Austausch miteinander sowohl mit den gesellschaftlich als auch medizinisch an sie herangetragenen Konzepten von Geschlecht, Femininität und Maskulinität auseinandersetzen. Nachfolgend werden vor dem Hintergrund der Frage zur Ausbildung von Ambiguitätstoleranz über mediale Ambiguitätserfahrungen schlaglichtartig einige zentrale Ergebnisse aus einer visuell-soziologischen Analyse von fünf YouTube Videoblogs vorgestellt.4 Es handelt sich bei den Videoblogs um YouTube Kanäle von transgeschlechtlichen Menschen, auf denen die eigene Geschlechtsaffirmation öffentlich dokumentiert ist. Auch wenn die biografischen Videotagebücher Einträge zu den unterschiedlichsten Themen enthalten, etwa zu alltagspraktischen Fragestellungen, zu Fragen rund um das Coming Out, Einträge zu Sexualität, zur Beziehungsgestaltung oder zum Verhältnis zu den eigenen Eltern, so ist ein zentraler Videotypus das Transition Update Video. Dabei handelt es sich um Videos, die den Fortschritt somatischer Geschlechtsaffirmationsprozesse dokumentieren. Hauptsächlich werden die Ergebnisse von Hormonersatztherapien dokumentiert, aber auch der Heilungsprozess hinsichtlich geschlechtsaffirmierender Operationen wird mitunter mittels Transition Update Videos veranschaulicht. In dem neunminütigen Video Transgender 2 Years on Testosterone5 schildert der beliebte britische YouTuber TheRealAlexBertie beispielsweise seine körperlichen und emotionalen Veränderungen, die er nach zwei Jahren Hormontherapie an sich beobachtet (Abb. 1). In dem Video, das Alex mit einer Standkamera in seinem Zimmer aufnimmt, berichtet er unter anderem von den stimmlichen Veränderungen, den Veränderungen seiner Gesichtsform, der Zunahme des Bartwuchses, dem Ausbleiben der monatlichen Regelblutung und dem seit Beginn der Hormonersatztherapie stattfindenden Klitoriswachstum. Zudem werden emotionale Veränderungen thematisiert. In dem populärsten Videoeintrag des ebenfalls in der Trans* Community einflussreichen YouTube Bloggers Jammidodger werden gleichermaßen die körperlichen Veränderungen vor und während der Hormonersatztherapie dokumentiert (Abb. 2).6 Einträge in Videotagebüchern auf YouTube kommen meist ohne auffällige Schnitttechnik aus. Die meisten Videos sind mit Hilfe einer Webcam, eines Handys oder einer Standkamera in einer Einstellung gedreht. In einer Plansequenz wird ein bestimmtes, meist im Titel benanntes Thema verhandelt. Mitunter
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Die detaillierte Darstellung der Ergebnisse, die im Rahmen eines Promotionsprojekts gewonnen wurden, findet sich in der Dissertationsschrift Transgeschlechtlichkeit und Visualität. Sichtbarkeitsordnungen in Medizin, Subkultur und Spielfilm (2020) von Robin K. Saalfeld. https://www.youtube.com/watch?v=tb3b-mKxZm8&t=110s, Zugriff: 23.02.2020. https://www.youtube.com/watch?v=zaEYAQ5c8uE&t=5s, Zugriff: 23.02.2020.
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Abb. 1: Insert aus dem YouTube Beitrag Transgender 2 Years on Testosterone, Youtube, TheRealAlexBertie.
Abb. 2-5: Exemplarische Standbilder aus dem YouTube Beitrag FTM Transgender 5 Years on Testsosterone Comparison, Youtube, Jammidodger.
kommen typische Blogger*innenschnitte zum Einsatz, die an frühe Filmtechniken erinnern. Ähnlich dem im frühen Kino angewandten Stopptrick wird eine Aufnahme unterbrochen und nach einer (geringfügigen) Veränderung des Bildes weitergeführt. In den Transition Update Videos wird diese Schnitttechnik modifiziert, indem Bild- oder Audiofolgen zwischengeschnitten werden, die das gesprochene Wort visuell bzw. auditiv repräsentieren. Als Alex beispielsweise dem Publikum von den hormonbedingten Veränderungen seiner Gesichtsform berichtet, fügt er ein Insert ein, das diese somatische Metamorphose visuell beglaubigt (Abb. 1). Das für etwa drei Sekunden sichtbare Insert besteht aus drei sehr ähnlich inszenierten, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgenommenen Portraits, die in eine chronologische Reihe gestellt werden. Es ist evident, dass die Struktur der Transition Update Videos auf visuellen Vergleichen basiert. Die in eine Bildreihe gestellten Einzelaufnahmen ermöglichen der*m Betrachter*in das visuelle Studium der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Transitionsstadien. Jammis zuschauer*innenstärkstes Video ist ein Transition Update Video, bei dem sein bisheriges Videomaterial derartig montiert ist, dass Jammis körperliche Ver-
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änderungen während der Hormonersatztherapie besonders deutlich zur Schau gestellt werden. Das Video beinhaltet eine Sequenz, die mit dem Zwischentitel »comparisons« eingeleitet ist: In verdichteter Form stellt der Videoblogger zwei körperliche Zustände in split screens nebeneinander (Abb. 2), sodass deren Unterschiede prominent zu Tage treten. Während die parallelisierten Einzelbilder in Alex‹ Bildreihe den Nachvollzug der geringfügigen Differenzen zwischen den verschiedenen morphologischen Zuständen ermöglichen, fokussieren die bei Jammi eingesetzten Bildpaare auf den Kontrast zwischen einem Anfangsstadium (der Körper vor der hormonellen Intervention) und einem vorläufigen Endstadium. Die Einzelbilder beziehen sich jeweils aufeinander. Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem gewählten Setting, den Ansichten und Perspektiven sowie den eingenommenen Posen, sodass die Bilder Praktiken des Wiederaufführens, des Nacherlebens und Reaktualisierens darstellen. Die auf dieser Wiederholungsstruktur beruhenden Transition Update Videos fungieren als Dokumentation des Dialogs, in den die transgeschlechtliche Person mit sich selbst tritt. Dadurch rückt der Aspekt des prozessualen Verständnisses der Modifikation des Körpers in den Mittelpunkt. Der Geschlechtskörper wird durch die verschiedenen Ansichten sozusagen aufgefächert und vervielfältigt. Verschiedene Spektren des Körpers werden ansichtig, die die Übergangsmomente visualisieren, wobei unklar und offenbleibt, wohin übergegangen wird. Im Sinne eines kontinuierlichen »becoming and changing in the practices of embodiment« (Straube 2014, 41) vermitteln die Videos ein Verständnis von Transgeschlechtlichkeit als prozessuale Geschlechtskategorie. Geschlecht wird hier nicht als statische Kategorie, sondern als eine Form der Bewegung weg von an das bei Geburt zugewiesene Geschlecht geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen hin zu geschlechtlicher Selbstbestimmung vermittelt. Dadurch ermöglichen die Videoblogs den Nachvollzug von geschlechtlicher Ambiguität. Was sich in den Videotagebüchern auf YouTube ebenfalls abzeichnet, ist die Auseinandersetzung mit normativen Anrufungen hinsichtlich der Intelligibilität des Geschlechtskörpers. So thematisiert eine Vielzahl an Videos Praktiken des Schönheitshandelns, d.h. der Körper wird als »Medium der Kommunikation« (Degele 2004, 10) verstanden und »dient der Inszenierung der eigenen Außenwirkung zum Zweck der Erlangung von Aufmerksamkeit und Sicherung der eigenen Identität« (ebd.). Darunter zählen Videos, in denen Stylingtipps gegeben werden, Bodybuilding Videos oder auch Make-Up Tutorials. Diese Videos sind mitunter stark an hegemonialen Vorstellungen über Männlich- bzw. Weiblichkeit orientiert. Der transmännliche Blogger Ty Turner visualisiert in seinem Videotagebuch, wie er seinen Körper mittels Bodybuilding buchstäblich in Form bringt. Einer seiner meistgesehenen Videobeiträge ist der Clip Flat Chest Without Surgery7 , in dem Ty 7
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zwei Kraftübungen vorführt, mittels derer er seine vormals gewölbte in eine muskulös aussehende Brust umformte. Bevor er dem Publikum die Übungen zeigt, sind verschiedene Abbildungen als Standbilder eingefügt, auf denen eine äußerst muskulös erscheinende Figur sichtbar ist, die auf einer Hantelbank die Kraftübungen durchführt (Abb. 3). Diese Inserts rufen hegemoniale Normen bezüglich eines fitten, schlanken und muskulösen Körper auf den Plan und fungieren als idealisierter Entwurf des zu erreichenden Körpers. Sie stellen gleichsam visuelle Manifestationen einer perfekten Maskulinität dar.
Abb. 6-7: Inserts aus dem YouTube Beitrag Flat Chest Without Surgery, Youtube, Ty Turner.
Analog sind die Videos der transweiblichen Bloggerin PrincessJoules mitunter an idealtypischen Vorstellungen einer jugendlichen, schlanken und normschönen Weiblichkeit orientiert. Der Videokanal von PrincessJoules8 ist vor allem aufgrund der zahlreichen Make-Up Tutorials beliebt, in denen die Bloggerin verschiedenste aktuelle Schminktechniken vorführt. Dass die Videotagebücher durchzogen sind von Clips, die normative Anrufungen hinsichtlich eines intelligiblen Körpers aufgreifen, ist ein Hinweis darauf, dass der Körper in Transition in besonderer Weise zum »Körper als Projekt« (Thomas und Maier 2015, 285) avanciert, an dem kontinuierlich gearbeitet wird, »womit in der Regel die Hoffnung verbunden ist, persönliche (zum Beispiel Selbstwert) oder soziale (etwa Anerkennung) Gewinne zu erzielen« (Gugutzer 2004, 40). Was in den Videotagebüchern allerdings deutlich wird, ist eine reflexive Bezugnahme auf hegemoniale Schönheits- und Zweigeschlechternormen. Ty Turners Ankündigung der Kraftübungen lautet beispielsweise: »Today, I’m going to be telling you how to get a small chest before top surgery […] So I haven’t had top surgery yet and for the last, like, eight or nine months I have not worn a binder at all, anywhere«. Dem Blogger geht es mit den Kraftübungen nicht um das Erreichen oder Steigern von Attraktivität und Schönheit, sondern um eine Erweiterung der Umgangsmöglichkeiten mit seinem offensichtlich störende Merkmale aufweisenden Körper.
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https://www.youtube.com/user/princessjoules, Zugriff: 23.02.2020.
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Die Visualisierungen auf YouTube unterscheiden sich von konventionellen Praktiken des Schönheitshandelns. Konventionelle Praktiken des Schönheitshandelns sind von einer Privatheitsideologie strukturiert und belassen deshalb die Orientierung an kulturellen Schönheitsnormen und Geschlechterbildern unsichtbar. Im Rahmen der Privatheitsideologie wird der manipulierende Bezug auf den eigenen Körper legitimiert durch den Glaubenssatz, man ›mache sich nicht für andere, sondern für sich selbst schön‹ (Degele 2006, 584). Schönheitshandeln beruht auf einer vermeintlich privaten Angelegenheit, auch wenn gängige Praktiken des Schönheitshandelns darauf ausgerichtet sind, wahrgenommen zu werden und als schön aufzufallen. Das gilt auch und in besonderer Weise dann, wenn das Schönheitshandeln explizit nicht auffallen soll, zum Beispiel bei einem Nude Look beim Make-Up. In den YouTube Videotagebüchern wird die Orientierung an normativen Vorstellungen um Männlich- bzw. Weiblichkeit als Mittel, das soziale wie emotionale Funktionen erfüllt (Anerkennung und Akzeptanz bzw. Arbeiten am Körper als Copingstrategie zum Umgang mit Dysphorie) explizit reflektiert. In den Videos wird das Bewusstsein über den kommunikativen Charakter des modifizierten Körpers deutlich herausgestellt. Es werden dadurch Möglichkeitsräume geschaffen, explizit und sichtbar die vielfältigen Konstruktionsprozesse zu thematisieren, die notwendig sind, um sich in den eigenen Körper einzufinden. Diese Konstruktionsprozesse legen sowohl geschlechtliche Ambiguität als auch die diskursiven Strukturen der Vereindeutigung von Geschlechtlichkeit offen. Die Videotagebücher können damit mediale Ambiguitätserfahrungen ermöglichen. Inwiefern diese Möglichkeitsräume von den Rezipient*innen der Videos als solche erkannt und genutzt werden, d.h. inwiefern geschlechtliche Ambiguität als ein Resultat des Rezeptionsprozesses entsteht und in soziale Prozesse Eingang findet, muss vertiefend eruiert werden. Interessanterweise entsteht in den Videotagebüchern Ambiguität nicht so sehr aufgrund von erschwerter Erkennbarkeit oder vager Andeutungen und Verweise. Vielmehr erscheint dem betrachtenden Publikum der (Geschlechts-)Körper in hypersichtbarer Form. Er wird explizit visuell adressiert. Ambiguitätserfahrungen ergeben sich über die Sichtbarkeit der vielfältigen geschlechtlichen Übergänge und Zwischenstufen. Diese Sichtbarkeit kann für die Rezipient*innen einen pädagogischen Gehalt besitzen, insofern als dass binäre Wahrnehmungsschemata herausgefordert werden.
Fazit und Ausblick Wir haben aufgezeigt, wie sich mit dem Modernisierungsprozess eine spezifische moderne Geschlechterkonstruktion herausbildete. Die in der frühen Neuzeit noch fluiden Geschlechter- und Sexualitätskonstrukte wurden vereindeutigt in zwei sich ausschließende Geschlechtskategorien: Mann versus Frau und darüber hinaus im
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19. Jahrhundert mit Heterosexualität verknüpft. Insofern haben wir festgestellt, dass sich bezüglich der Geschlechterverhältnisse eine Ambiguitätsintoleranz konstituierte. Gleichwohl war die neue Eindeutigkeit zwingend auf ihre an die gesellschaftlichen Ränder gedrängten und nun als ›abweichend‹ oder deviant bezeichneten uneindeutigen Geschlechtskörper, aber auch subkulturelle Lebensweisen jenseits der ehelichen Heterosexualität angewiesen. Betrachtet haben wir im Besonderen diejenigen ambigen Geschlechterentwürfe, die sich unter dem heutzutage gängigen Oberbegriff trans* fassen lassen. Zunächst haben wir aufgezeigt, wie seit Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts im Bereich der Medizin, aber auch der Sexualwissenschaft eine Ent-Ambiguisierung erfolgte, indem Behandlungsprogramme kreiert wurden, die zu einer erneuten Vereindeutigung von Geschlecht führen sollten. In der sich ab den 1970ern konstituierenden (historischen) Frauenforschung setzte eine kritische Auseinandersetzung mit der modernen Zweigeschlechtlichkeit ein. Sie wurde als eine spezifische historische Konstruktion entlarvt, die die Machtverhältnisse im modernen Geschlechterverhältnis legitimierte. Ab den 1990ern geriet durch die Transgender Bewegung und die Transgender Studies allmählich auch die verdeckte historische Vielfältigkeit von marginalisierten Geschlechter- und Sexualitätskonstrukten in den Blick, und damit wurden ebenso neue Lebens- und Liebesweisen jenseits von binärer heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit gestärkt. Vor diesem Hintergrund haben wir uns der mittlerweile auf dem Social Media Portal YouTube etablierten Plattform transgeschlechlicher Menschen zugewandt. Anhand von Transition Update Videos haben wir untersucht, inwieweit sie zur Ausbildung von Ambiguitätserfahrungen, Ambiguitätstoleranz und/oder Ambiguitätskompetenz beitragen. Als zentrales Ergebnis lässt sich festhalten, dass ein Verständnis von Transgeschlechtlichkeit als prozessualer Geschlechtskategorie etabliert wird. Der bisher eher verdeckt stattfindende Wandel weg von dem zugewiesenen Geburtsgeschlecht hin zu geschlechtlicher Selbstbestimmung wird offen verhandelt und ermöglicht den Nachvollzug geschlechtlicher Ambiguität. Gleichwohl finden diese Transformationen in einer weiterhin heterosexuell und binär zweigeschlechtlich strukturierten Welt statt. Dies zeigt sich etwa darin, dass eine Orientierung an hegemonialen Männlichkeits- und Weiblichkeitsnormen erfolgt, die jedoch reflexiv ist. Somit werden mediale Ambiguitätserfahrungen möglich. Inwieweit sie für die Individuen mit Ambiguitätstoleranz und Ambiguitätskompetenz verbunden sind, kann nur vermutet werden und ist eine empirisch (noch) offene Frage. Ob aus diesem spezifischen geschlechtlichen Phänomen eine weitreichende Transformation moderner binärer Zweigeschlechtlichkeit resultieren könnte, ist eine weitere offene Frage. Aktuell ist in großen Teilen der Medien und der Bevölkerung eine »Anti-Haltung« (Hark, Villa 2015a, 7), eine Abwehr gegen alle Phänomene zu konstatieren, die die immer noch hegemonialen Geschlechterkonstrukte
Moderne Zweigeschlechtlichkeit und Ambiguität
und ihre Einbettung in eine heterosexuelle Familienordnung in Frage stellen. So entsteht etwa ein neuer familienzentrierter Antifeminismus (vgl. Scheele 2016): Die bürgerliche Kleinfamilie wird zum Symbol von Heterosexualität und Geschlechterbinarität und muss als solche verteidigt werden. Das Angst-Szenario bezieht sich auf eine mögliche Umerziehung hin zu pluralen Formen des Begehrens. Dieser Antifeminismus ist eng verknüpft mit dem Wiedererstarken der Religion: Es zeigt sich ein Aufschwung christlich-fundamentalistischer und evangelikaler Gruppen bei gleichzeitiger Schrumpfung der Amtskirche (ebd.; Hark, Villa 2015b). Diese Gruppierungen haben oftmals Verbindungen zur aktuellen Konjunktur rassistischer Mobilisierung: Rassismus tritt offener und aggressiver in parlamentarischer und außerparlamentarischer Form auf. Geschlechteridentitäten von Männern und Frauen werden erneut naturalisiert und das Modell der heterosexuellen Familie wird wieder mit der Ideologie der starken Nation verbunden und die nationalsozialistische Idee der ›Volksgemeinschaft‹ wiederbelebt (vgl. Scheele 2016). Auch wenn diese Entwicklung beängstigen mag, so entsteht doch mit der Trans* Bewegung und ihrer neuen Sichtbarkeit im Bereich Social Media ein Möglichkeitsraum für Transformationsprozesse, dessen Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzen ist. Es entsteht eine »anerkennende Sichtbarkeit[sordnung]« (Saalfeld 2020, 325), die neue Subjektivierungsweisen und Handlungsspielräume Menschen diskursiv zur Verfügung stellt, die sich, wie eingangs dargestellt, nicht im Rahmen einer binären zweigeschlechtlichen Ordnung verorten können oder wollen. Im subkulturellen Diskurs erfolgt eine Wiederaneignung des von der Medizin enteigneten und normierten Körpers, der ein emphatisches Wissen über transgeschlechtliche Menschen verbreitet, das über das Portal YouTube hinausreicht.
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»Your position, please!« Ambiguität zwischen Dokument und Fabel in drei Dokumentarfilmen über Geflüchtete Bernhard Groß
Es ist schon fast eine Binsenweisheit, dass mit den Programmen der klassischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts eine Erneuerung des Verständnisses von Zwei- und Mehrdeutigkeit der Kunst verbunden ist; bei dieser radikalen Erneuerung ging es um nichts weniger als die Zertrümmerung der Idee von der Selbstvervollkommnung des Individuums im ästhetischen Urteil. Darin steckt ein Einspruch gegen eine Idee von bürgerlicher Gesellschaft, mit der die moderne industrielle Massengesellschaft mit ihren entfremdeten, prekären Subjekten nichts mehr gemein hat. Kunst im Zeitalter der Massengesellschaften hatte die Aufgabe, jenen prekären Status, ihre unbegriffene Wirklichkeit als eben unbegreifbar, fremd und prekär erfahrbar zu machen. Zugänglich wurde diese unbegriffene Wirklichkeit nur über Alltag und Alltäglichkeit der Massengesellschaft, über ihre Zeitlichkeit und Räumlichkeit: d.h. über die Normierungen, Wiederholungen und Rhythmen der Lebens- und Arbeitswelt, über alles an ihr Abständige und Marginale. Es war unter anderen der Filmkritiker und -theoretiker Siegfried Kracauer, der bereits seit den 1920er Jahren den Film als Seismographen der Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Alltags bezeichnet hat: »Everyday Life, with its infinitesimal movements, its multitude of transitory action, can be disclosed nowhere but on the screen.« (Kracauer [1958] 2012, 162).1 Damit sei der historische Hintergrund folgender Überlegungen kurz umrissen. Ich möchte an dieser historischen Position eine politische Dimension herausarbeiten, die ich mit der Arbeit Jacques Rancières verbinde. Was das Politische dieser Verbindung von Film und Alltagsverständnis ästhetisch bedeutet, soll dann an drei Variationen der Inszenierung von Ambiguitäten des Alltags einsichtig werden. Ich vergleiche dazu drei aktuelle Dokumentarfilme, die sich mit den Bootspassagen Geflüchteter auf dem Mittelmeer beschäftigen. Diese Filme sind lampedusa
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»Der Alltag mit seinen infiniten Bewegungen, seiner Vielzahl von flüchtigen Handlungen kann sich nirgendwo anders als auf der Leinwand offenbaren« (meine Übersetzung).
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im winter (A 2015, Jakob Brossmann), fuocoammare (IT 2016, Gianfranco Rosi) und havarie (D 2017, Philip Scheffner). Die ersten beiden Filme sind vor der sog. Flüchtlingskrise entstanden und dokumentieren den Alltag der Einwohner und von Geflüchteten auf der süditalienischen Insel Lampedusa; Scheffners havarie verarbeitet das Videomaterial eines Amateurs, der von einem Kreuzfahrtschiff aus ein havariertes Schlauchboot filmte. Auch dieses Material ist vor den Ereignissen seit der zweiten Jahreshälfte 2015 entstanden. Interessant ist dies deshalb, weil die Filme von heute aus gesehen wie Kommentare zu den verbalen und audiovisuellen Debatten der sog. Flüchtlingskrise seit 2015 erscheinen. Anhand dieser Filme will ich das audiovisuelle Denken des Ambigen als spezifische Form einer politischen Ästhetik entfalten.
Kracauer und die Politik des Alltags Das, was am Alltagsgeschehen unbestimmt, zufällig, weil außer Acht gelassen und abständig ist, genau das sei es, so Kracauer, was der per se intentionslose kinematographische Apparat auch aufnehme. Film wird hier als Medium des Alltags verstanden, das die Komplexität, Vielschichtigkeit und Undurchdringlichkeit des modernen Lebens erst erfahrbar mache. Der Film stellt so gesehen ein Erkenntnismittel dar, das ein Korrektiv zur Deduktion, zur Ableitung vom immer schon Gewussten birgt. So stellt sich all das, was das mechanische Auge an Unvorhergesehenem und Marginalem aufnimmt, als Einspruch gegen die Eindeutigkeit der Ordnung des herrschenden Wissens dar, da es sich um scheinbar unnütze, überflüssige, nicht kommensurable Dinge handelt.2 Insofern, so meine Behauptung, ist der Film mit seiner Tendenz zur unterschiedslosen Aufnahme per se ein Medium der Ambiguität, indem jeglicher Ordnung, sei es der Handlung, der Erzählung, der Komposition, der Kohärenz und Logik, immer eine diese relativierende Unordnung entgegensteht.3 Man könnte auch sagen, das spezifisch Politische des Films liegt in dieser prinzipiellen Infragestellung von Ordnungen, die zur Eindeutigkeit tendieren. So kann man zumindest argumentieren, wenn man Jacques Rancières Überlegungen zur Stellung des Films innerhalb der Künste der Moderne teilt. Rancière versteht moderne Kunst als eine zeitliche und räumliche Anordnung, die Räume verändert,
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Kracauer hat diese Position bereits in seinem »Photographie«-Aufsatz in den 1920er Jahren beschrieben (Kracauer [1927] 1963) und dann über seine Theory of Film (Kracauer 1960) bis zu seinem letzten Buch History – The Last Things before the Last entwickelt (Kracauer 1969). Lutz Koepnick (2018) argumentiert ähnlich, wenn er in Bezug auf aktuelle Filme von Angela Schanelec und Tsai Ming-liang von den Resonanzen des Kinos spricht, die uns, weil ambig, Möglichkeitsräume eröffnen.
»Your position, please!« Ambiguität zwischen Dokument und Fabel
die die ›klassische Politik‹4 besetzt und aufteilt. Die »Aufteilung des Sinnlichen« in ihrer klassischen Form von Herrschaft und Gesellschaft, die auf- und verteilt, wer sprechen darf und wer schweigen muss, was sichtbar wird und was unsichtbar bleibt, was dominiert und was marginalisiert wird, wird von der Kunst infrage gestellt. Sie macht die Performativität gesellschaftlicher Ordnung sichtbar, erschafft einen Ort, an dem das Andere gesellschaftlicher Ordnung erfahrbar werden kann. Dies bezeichnet eines der drei Regime der Künste, welches Rancière das »ästhetische Regime« nennt. Es handelt sich um drei Arten, Kunst im westlichen Zusammenhang zu denken (Rancìere 2006a, 36). Die anderen beiden bestimmt er als das »ethische« und das »repräsentative Regime«. Rancière beschreibt diese sowohl in einer historischen Abfolge wie auch als genealogische Konstruktion, die zugleich existieren und in einem Spannungsverhältnis stehen. Historisch bestimmt er das älteste der Regime der Künste als das ethische. Es beschreibt für die klassische griechische Antike ein Verständnis von Kunst als nicht autonom, d.h. eine Kunst, die eine spezifische Funktionalität innerhalb und für die soziale Gemeinschaft hat. Mit der Poetik des Aristoteles ›beginnt‹ das »repräsentative Regime der Künste«. Ihr Charakteristikum besteht in der Nachahmung, die sie »von den anderen Tätigkeiten der Gemeinschaft unterscheidet« (Brombach 2014, 63). Damit wird die Kunst erstmals autonom gedacht, nimmt aber zugleich die Form einer Poetik an, die die Regeln des Nachahmens bestimmt. Es ist dann die Moderne, das 18. Jahrhundert, das sich von dieser Funktionalisierung und den regelpoetischen Vorstellungen wieder zu lösen versucht. Für Rancière ist damit das »ästhetische Regime der Künste« bezeichnet. Sein Spezifikum besteht darin, dass es autonom ist, indem die Kunst eigengesetzlich gedacht wird, aber zugleich auch heteronom, und zwar in dem Maße, wie das ästhetische Regime die »Aufteilung des Sinnlichen« der sozialen Gemeinschaft infrage stellt. Damit richtet sich das ästhetische Regime auch gegen das moderne Verständnis von Kunst. Die Moderne bezeichnet für Rancière zwar die Abkehr von allen ›Normen der Repräsentation‹ (vgl. Rancìere 2006a, 39f.), aber nicht die von Nachahmung und Gegenständlichkeit. Damit verbindet sich kein teleologisches (Kunst-)Geschichtsverständnis, sondern ein Ineinanderwirken der verschiedenen Auffassungen von Kunst, die jeweils neu befragt werden und damit zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst wieder berühren. »Ethisches, repräsentatives und ästhetisches Regime der Künste bezeichnen in ihrer Folge somit das Erscheinen der Kunst als das, was sie von Beginn an war – als von der Gemeinschaft Getrenntes und dennoch auf sie bezogenes Ästhetisches« (Brombach 2014, 66). Für die Erfahrbarkeit dieses Spannungsverhältnisses steht laut Rancière paradigmatisch der Film ein.
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Mit ›klassischer Politik‹ meine ich hier das, was Rancière in Das Unvernehmen (2002, 33ff.) »die Polizei« nennt.
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Dieses Verständnis des Ästhetischen ist für Rancière immer an eine doppelte Bewegung gebunden: an ein Anschaulichwerden des Denkens wie an ein Denken der Anschauung. Und genau in dieser doppelten Bewegung besteht auch die besondere Funktion des Films für die moderne Ästhetik. Denn so kann der Film »eine Einheit von Empfinden, Wahrnehmen und Denken« (Kappelhoff 2008, 14) schaffen: »Der Film ist die Kunst, die die Identität eines anschaulichen Modus des Denkens und eines denkenden Modus der anschaulichen Materie realisiert« (Rancière 2003, 241). Darin sei der Film, so Rancière, die Vollendung der Romantik. Mit dem Bezug auf die Ästhetik der Romantik öffnet sich für die Geschichtlichkeit des Films das Feld seiner »Politik«, die ein spezifisches Verständnis von Einzelnem und Gemeinschaft, von Subjektivität und Objektivität, von Wahrnehmung und Erfahrung transportiert. Rancières Verständnis von Film steht auch quer zu der herkömmlichen Unterscheidung von Kunst- und Genrekino, von Dokumentar- und Spielfilm, von Abstraktion und Gegenständlichkeit, von Bild und Erzählung, von Heteronomie und Autonomie. Vielmehr habe sich das Kino ›unrein‹, d.h. immer in beide jeweilige Richtungen entwickelt und beide immer wieder miteinander verquickt bzw. in ein Spannungsverhältnis gebracht. In seinem Buch Film Fabels (2006b) systematisiert Rancière dieses Denken des ›unreinen‹ Kinos; im Gegensatz zur französischen Kinodiskussion seit den 1920er Jahren argumentiert er, dass das Kino gerade dann Kunst sei, wenn es immer zugleich erzähle und nicht erzähle, »Bild und Fabel«, Avantgarde- und Mainstreamkino zugleich sei und damit »reine Konzepte« des Erzählens oder des Nicht-Erzählens, des Dokuments oder der Fiktion durchkreuze. Genau so, wie das ästhetische Regime der Künste für Rancière immer zugleich von der Gesellschaft getrennt und auf sie bezogen ist. Was das konkret bedeuten kann, möchte ich nun an den genannten Filmen zeigen, die insofern ›unrein‹ sind, als sie zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen Bild und Fabel, zwischen Alltag und Ausnahmezustand changieren.
Ambiguitäten des Alltags Nimmt man Verena Kriegers historische und systematische Erarbeitung der Modi des Ambigen als multidimensionales Phänomen moderner Kunst zur Grundlage, wie sie es in ihrem Aufsatz »Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst« (2021) als »Nicht-Eindeutigkeit« (Krieger 2021, 16) definiert, dann können die Sujets, um die es bei den ausgewählten Dokumentarfilmen über die Bootspassagen Geflüchteter im Mittelmeer geht, nicht gemeint sein: Es gibt sowohl eindeutige Regeln der internationalen Schifffahrt zum Umgang mit Schiffbrüchigen, wie auch Europa klare Regeln für den Umgang mit Asylsuchenden hat. Die ge-
»Your position, please!« Ambiguität zwischen Dokument und Fabel
setzlichen Regelungen sind nicht ambig. Dass diese Regeln aus machtpolitischem Kalkül immer wieder ausgehebelt werden, ändert daran nichts. Die Filme selbst gehen einen anderen Weg, der heute, nach der politischen Entwicklung im Herbst 2015 und deren Folgen umso bemerkenswerter ist, weil er in der realpolitischen Debatte kaum vorkommt: Nämlich den Ausnahmezustand als Alltag ebenso zu zeigen wie den Alltag als Ausnahmezustand sowie das Nebeneinander von Ausnahmezustand und Alltag und damit auf eine zunächst so banale wie dramatische Situation hinzuweisen, nämlich die Tatsache, dass viele verschiedene Ereignisse gleichzeitig passieren. Gerade darin, so meine These, sind die Filme politisch. D.h. die Filme entfalten, wenn sie, wie lampedusa im winter und fuocoammare das Leben aller Inselbewohner auf Lampedusa mit ihren Alltagsproblemen zeigen, eine Vielschichtigkeit, die dann für die Zusehenden zu einer ambigen Erfahrung wird. Die Position nämlich, in die die Filme die Zusehenden bringen, konfrontiert ihre moralische Haltung oder Überzeugung mit den Erfahrungsformen des Films. Genau diese Spannung will ich an den drei Filmen einsichtig machen. Schon das basale Setting aller drei Filme, nämlich Meer und Insel, ist buchstäblich diffus (und wird von allen drei Filmen ausgestellt): Sie changieren an der Grenze zwischen fest und flüssig, durchsichtig und opak, Ordnung und Unordnung; zugleich strukturiert sie eine Dichotomie von Insel und Festland, d.h. Peripherie und Zentrum, Provinz und Metropole, Natur und Kultur. Diese Grenzerfahrung ist vor aller Repräsentation sozialer und politischer Hintergründe, die mit aktueller und historischer Migration zusammenhängen, die grundlegend ambige Erfahrung für die Zuschauenden in allen drei Filmen.
Ausnahmezustand als Alltag – lampedusa im winter Der erste und älteste Film der Reihe, Jakob Brossmanns lampedusa im winter von 2015 wurde in den Wintermonaten 2013 und 2014 auf der Mittelmeerinsel Lampedusa gedreht. Er dokumentiert das Leben der Bewohner und der Geflüchteten auf der Insel. Der Film beginnt und endet seine erste und letzte Sequenz mit einem Schwarzbild. Wir hören dazu einen Funkdialog zur Bestimmung der nautischen Position eines schiffbrüchigen Bootes; am Anfang des Films misslingt diese Positionsbestimmung. Am Ende des Films wiederholt sich die Szene noch einmal mit einem anderen Funkkontakt; diesmal gelingen Positionsbestimmung und Rettung durch die italienische Küstenwache. Die Fabel des Films, seine Erzählstruktur ist also die der schlussendlich gelingenden Rettung. Schon hier zeigt sich also im Rancièreschen Sinne eine Unreinheit: Das Dokument hat dramatische Strukturen, es wird von einer Fabel durchkreuzt. Das fällt zunächst nicht unbedingt auf, da die Dokumentation einem sehr klaren dramaturgischen Konzept folgt. Der Film zeigt alternierend und parallel verschiedene Gruppen auf Lampedusa: Es gibt das
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Team der Küstenwache, das wir am Anfang und Ende des Films bei erfolgloser und dann schließlich erfolgreicher Fahrt sehen. Dazwischen taucht diese Gruppe beim Reinigen und Warten ihres Schiffes bis zur Einsatzbereitschaft sowie bei einem gemeinsamen Abend an Bord auf. Zweitens wird die Gruppe der Fischer der Insel dargestellt; einmal bei ihrer Arbeit, dann bei einem Streik und den dazugehörigen Versammlungen. Dann gibt es eine Gruppe Lampedusaner, die eine Sammlung der Überreste der zurückgelassenen Habseligkeiten der Schlepperboote angelegt haben, und die versuchen, die Schicksale der ertrunkenen Geflüchteten zu rekonstruieren. Als nächstes wird eine Fußballmannschaft von Sporting Lampedusa beim Training, vor dem Abflug zu einem Spiel auf Sizilien und nach der Rückkehr bei der Spielauswertung gezeigt. Es gibt die Gruppe der Toten und toten Geflüchteten, die auf dem Friedhof von Lampedusa beigesetzt sind, den wir wiederholt sehen. Wie die Fischer streikt auch eine Gruppe Geflüchteter vor dem Dom von Lampedusa für eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge und ihre mögliche Abreise; wie die streikenden Fischer sehen wir sie im Laufe des Films in der Auseinandersetzung mit der Bürgermeisterin Lampedusas in Bezug auf die Frage, inwieweit diese bzw. der Staat ihnen und den Fischern helfen kann. Damit schafft der Film ein strukturelles Gleichgewicht zwischen den Gruppen und ihrem Changieren zwischen Alltag und Ausnahme; alle werden in gleich langen Sequenzen und in gleich häufiger Wiederholung bzw. Variation gezeigt. Der Film schafft mit dieser Dramaturgie die Darstellung eines generellen Ausnahmezustands als Alltag – alle Bevölkerungsgruppen sehen, wenn auch meist getrennt voneinander, einer ungewissen Zukunft entgegen. Sprechen die Bilder der missglückten Rettung der havarierten Flüchtlinge zu Beginn des Films unmittelbar vom Ausnahmezustand, gibt es für die Darstellung des Ausnahmezustands der Inselbewohner eine einzige, wirklich einzelne Figur, den DJ Antonio Maggiore von Radio Delta Lampedusa, den wir immer wieder in seinem Studio sehen und der die Nachrichten von einer ausgebrannten Inselfähre, dem Streik der Fischer für eine neue Fähre wie dessen Ende verkündet, aber niemals etwas zur Situation der Geflüchteten auf der Insel sagt. Der DJ ist der Erzähler des Ausnahmezustands der Einheimischen, dessen Stimme den Alltagsbildern die Brisanz der drohenden wirtschaftlichen Katastrophe (der Handel mit dem Festland bricht zusammen) verleiht, die die Bilder der humanitären Katastrophe unkommentiert transportieren, weil sie bereits einen ikonischen Status erreicht haben. Ist der DJ damit ferner Agent der Zuschauenden, der auch uns durch diese unüberschaubare Welt lenkt, scheinen die unkommentierten ikonischen Bilder der Geflüchteten Saat einer ursprungslosen, also mythischen Erzählung unveränderlicher Verhältnisse. Schließlich gibt es am Ende des Films einen Karnevalsumzug auf Lampedusa, bei dem wir (fast) alle ProtagonistInnen des Films sehen; sogar der sonst immer al-
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lein im Studio gezeigte DJ ist mit einer Gruppe Jugendlicher unterwegs. Diese Zusammenführung aller Gruppen bedeutet aber nicht, dass wir es mit einer schlussendlich homogenen Gruppe zu tun haben. Denn bis auf die Toten in ihren Gräbern sind alle gezeigten Gruppen heterogen; sie bekämpfen sich gegenseitig offensiv, wie die Fischer, weil sie unterschiedliche Interessen haben; genauso wie die Geflüchteten oder die Fußballer des Camps bzw. von Sporting Lampedusa. Und noch die Zusammenführung aller Figuren und Gruppen beim Karnevalsumzug schafft keine Gemeinsamkeit: Zwar sehen wir die Gruppen in der Karnevalssequenz zusammen, aber alle bleiben im Grunde unter sich; die Gruppe der Geflüchteten etwa steht gemeinsam am Straßenrand und schaut dem Umzug nur zu (Abb. 1, im Vordergrund links).
Abb. 1: Still lampedusa im winter (A 2015, Jakob Brossmann)
Die Vielschichtigkeit, die sich hier einstellt, ist in diesem Nebeneinander begründet: Zum einen entsteht dadurch ein Alltag, zu dem auch die Geflüchteten insofern gehören, als ihr Aufenthalt wie alle anderen Ereignisse auf der Insel gleich gültig und das heißt auch in gleicher Länge und Aufmerksamkeit gezeigt werden. Andererseits adressiert der Film die Zusehenden derart, dass sie die drohende humanitäre Katastrophe und die wirtschaftliche als gleichwertig, als Nebeneinander im gleichen Alltag erleben. Ambig erscheint hier also vor allem die Rezeptionsebene; hier entsteht das Unbehagen, dass der Ausnahmezustand zum Alltag wird: auch die traumatischen Erlebnisse der Geflüchteten, von denen sie berichten, haben im Darstellungsmodus des Films keine größere Gewichtung als etwa der Streik der Fischer; der existentiellen Erfahrung der Geflüchteten, die sich auf die Versehrtheit an Leib und Leben bezieht, steht die wirtschaftlich bedrohliche Situation der Inselbewohner durch einen Streit mit der Zentralregierung um die ausgebrannte
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Fähre gegenüber. Indem der Film beiden kategorial unterschiedlichen existentiellen Situationen das gleiche Existenzrecht einräumt, führt er die Zusehenden in diese unbestimmte Lage. Hinzu kommt die Medialität der Darstellung: Die durch die mediale Aufmerksamkeit ikonisch gewordenen Bilder der Geflüchteten (die sie zum Zeitpunkt des Filmdrehs 2013/2014 noch nicht waren), machen diese Bilder zum medialen Zentrum, während die Nöte der Lampedusaner zu einer medialen Peripherie gehören.
Abb. 2-3: Fußballerblick auf den Flieger nach Palermo; Geflüchtete auf dem Weg dorthin: Stills lampedusa im winter (A 2015, J. Brossmann)
Das wird noch verstärkt, indem ähnliche Handlungen gezeigt werden: Da die Fähre nicht fährt, müssen etwa alle, die die Insel verlassen wollen, mit dem Flugzeug reisen: So sehen wir in ähnlichen Aufnahmen einerseits die Fußballmannschaft beim Abflug zu einem Ligaspiel nach Palermo, dann genauso lapidar Geflüchtete, die endlich die Insel verlassen dürfen (Abb. 2-3). Wenn die Zuschauenden dieses Gleichgewicht nicht aushalten, kann man dem Film Zynismus vorwerfen, d.h. eine ethische Ambivalenz, wie sie Krieger für das Foto 250 cm-Linie, auf 6 bezahlte Leute tätowiert (1999) von Santiago Sierra diagnostiziert (Krieger 2021, 45ff.).
Alltag als Ausnahmezustand – fuocoammare Genau diesen Vorwurf hat man dem zweiten Film fuocoammare von Gianfranco Rosi gemacht (vgl. Rittberger 2016, Peitz 2016), in dem die Darstellung des Alltags der Inselbewohner, insbesondere der des Jungen Samuele, der Rettung Geflüchteter und deren Ankunft auf der Insel gegenüber steht. fuocoammare gewann 2016 auf dem Höhepunkt der medialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Politik zur Aufnahme Geflüchteter in Deutschland den Goldenen Bären der Berlinale erstmals für einen Dokumentarfilm. Es gibt in fuocoammare zwei kurze, im Film weit auseinander liegende Einstellungen vom Fischfang der Lampedusaner und von Geflüchteten unmittelbar nach ihrer Rettung, die Anlass der genannten
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Kontroverse waren: die strukturelle Ähnlichkeit der Darstellung gefangener Fische und geretteter Geflüchteter.
Abb. 4-5: Atmen der Kalamare und der Geflüchteten:Stills fuocoammare (IT 2016, Gianfranco Rosi)
Die Aufsicht auf das Atmen der lebend gefangenen Kalamare in Großaufnahme ist zugleich Ausdruck ihres Sterbens; die Aufsicht auf eben gerettete Geflüchtete zeigt Menschen mit Schnappatmung, von denen die Ärzte in diesem Moment nicht wissen, ob sie die Strapazen der Bootspassage überleben werden (Abb. 4-5): Das Atmen der sterbenden Fische und die Schnappatmung der Geretteten wurde als visuelle Parallelisierung und damit Entmenschlichung der Geflüchteten interpretiert – beide werden zu Objekten. In der Tat gibt es noch eine Reihe anderer Szenen in fuocoammare, die einen Blick auf die Geflüchteten haben, der sie zu Objekten macht. Anders als Brossmann in lampedusa im winter zeigt Rosi etwa die entwürdigenden Prozeduren der Durchsuchung, Kontrolle und erkennungsdienstlichen Behandlung der auf Lampedusa verbrachten Menschen. Auffallend sind dabei, wie auch bei den Einsätzen der Küstenwache, die Unterschiede zwischen beiden Gruppen, die Rosi, ebenso wie Brossmann, ausführlich hervorhebt. Im Gegensatz zu lampedusa im winter, zeigt Rosi die ›Offiziellen‹, d.h. Mitglieder der Küstenwache und die Carabinieri nicht: einmal in dem Sinne, dass Sie stets unter Schutzanzügen verborgen sind, dann aber auch, dass wir eine Technik sehen, die so inszeniert ist, dass sie weitgehend eigenständig zu funktionieren scheint und Menschen dabei gar nicht oder nur am Rande auftauchen (Abb. 6-7). Von den Geretteten hingegen sehen wir Körper und Gesichter im Überlebenskampf, wir sehen Versehrte, Verstummte, Verzweifelte und Tote. Nun zeigt Rosis Film aber, ebenso wie der Film von Brossmann, nicht nur die Rettung und Versorgung Geflüchteter auf Lampedusa, sondern auch das Leben der Lampedusaner. Auch fuocoammare hat eine alternierende Dramaturgie, in der sich mehr oder weniger lose Szenen des Alltags der Lampedusaner mit denen der Rettung und Versorgung Geflüchteter abwechseln.
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Abb. 6-7: ›Verborgene‹ Akteure und Technik ohne Menschen: Stills fuocoammare (IT 2016, Gianfranco Rosi)
Ganz zentral und zentral anders aber als die Dramaturgie von lampedusa im winter funktioniert die dramaturgische Entgegensetzung von Einzelfiguren und Gruppen in fuocoammare. Die Lampedusaner werden fast durchgehend als Einzelne gezeigt, die Geflüchteten fast nur in Gruppen (Abb. 8-9):
Abb. 8-9: Darstellung individualisierter Lampedusaner und Geflüchteter in Gruppen: Stills fuocoammare (IT 2016, Gianfranco Rosi)
Wir sehen die Geflüchteten gemeinsam auf ihren Booten, auf den Rettungsbooten, an Land, im Bus und im Lager, etwa beim Fußballspielen. Wir sehen auf der anderen Seite den Protagonisten Samuele, einen Jungen, der auf Lampedusa lebt, beim Jagen von Vögeln mit Steinschleuder, zu Hause, in der Schule, beim Arzt. Wir sehen einen Schwammtaucher, der bei Tag und Nacht an der Küste unterwegs ist, einen Allgemeinmediziner sowie einen Fischer der Insel und, wie auch in lampedusa im winter, die Radiostation RDL, allerdings mit einem anderen DJ, der in den Nachrichten genauso lakonisch vom Ertrinken Geflüchteter berichtet wie vom Abstellen des Stroms für ein paar Stunden; zudem erfüllt er die Musikwünsche der Inselbewohner. Selbst wenn die Lampedusaner ab und zu in kleinen Gruppen gezeigt werden, fällt bei ihnen auf, dass sie entweder nicht miteinander sprechen oder aber Monologe vor anderen gehalten werden oder Dialoge aneinander vorbeigehen.
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Zentral ist der Arzt, die einzige Figur des Films, die sowohl zu den Inselbewohnern als auch zu den Geflüchteten Kontakt hat. Aber auch hier ist der direkte Kontakt, etwa wenn er einer schwangeren Frau beim Ultraschall erklären möchte, was zu sehen ist, unmöglich oder verstellt. Stattdessen spricht der Arzt über die anwesende Frau auf seinen Bildschirm mit der Kamera. Diese fehlende Kommunikation ist auch medial inszeniert, indem die Kamera häufig auf Monitore von Rechnern, Handys, andere Kameras (vgl. Abb. 7) oder durch Scheiben bzw. aus Positionen schaut, die die Sicht verstellen. Dieses Prinzip wird am Schluss des Films gebrochen, wenn wir die letzte Gruppe, die der toten Flüchtlinge im Bauch eines geretteten Bootes, sehen, in das die Kamera zusammen mit der Küstenwache steigt. Auch fuocoammare hat dadurch eine ›unreine‹ Struktur: einerseits Dokumentation des heterogenen Lebens auf Lampedusa, andererseits die Fabel, die diesen Alltag vom Ende des Films her, als Ausnahmezustand anzeigt: Das meint den dramaturgischen Bogen, den der Film wie lampedusa im winter von seinem Beginn mit Schwarzbild und Seenotrettungsfunk zum traurigen Schluss schlägt und damit der Geschichte der Vielschichtigkeit des Problems die Facette der Vergeblichkeit hinzufügt, ein melodramatisches zu spät (vgl. Williams 1991): das Drama ohne melos (und ohne telos) zeigt am Ende die vielen Toten, die trotz aller hochtechnisierten Bemühungen nicht gerettet werden konnten, während das Leben auf Lampedusa unerträglicher Weise einfach weitergeht; insofern kann man die Opfer der Havarie auch als Opfer des Films sehen, die Objekte einer melodramatischen Dramaturgie werden. Andererseits könnte man auch davon sprechen, dass das Zeigen der Verletzten und Toten eine Form von Zeugenschaft aufruft, die zeigt, wie schwer auszuhalten diese Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist. Zugespitzt: Diese Struktur macht den Film wiederum auch auf der Rezeptionsebene ambig: Folgen wir einer Dokumentation, die die ›ungeschminkte‹ Wahrheit5 zeigt und dabei sehr viel drastischere Bilder liefert als lampedusa im winter? Oder – und damit wiederum ethisch ambivalent – handelt es sich um einen Film, der, seiner Medialität durchaus bewusst, wie die als Schutzschirme eingesetzten Displays und Scheiben zeigen, sensationsgierig und melodramatisch eine effektvolle Story inszeniert, die uns affiziert, indem sie uns den wohligen Schauer derjenigen über den Rücken laufen lässt, die teilnehmen aber nicht dazugehören? Oder dokumentiert der Film diese Affektrhetorik, beglaubigt er also die per se fiktionale Art und Weise dokumentarischer Wahrnehmungsformen? Ambig ist auch die Darstellung von Gruppen und Einzelnen für die Zuschauenden: Bedient der Film die »Angst vor der Invasion durch Fremde«, indem er die 5
Die Verbindung dokumentarischer Bilder mit Wahrheit bzw. Wirklichkeitsabbildung ist ein Quell stetiger film- und medientheoretischer Auseinandersetzung. Vgl. etwa Hattendorf 1994 oder Steyerl 2015, 73.
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Geflüchteten nur als Gruppen und die Weißen nur als Einzelne zeigt oder zeigt er vielmehr die grundlegend vereinzelten, entfremdeten Individuen des Westens und die Communities der Geflüchteten? Oder stehen diese einfach unverbunden nebeneinander, ohne Kausalitäten? All das bleibt in fuocoammare in der Schwebe.
Ausnahmezustand als Alltag – Alltag als Ausnahmezustand: havarie Philip Scheffners havarie von 2017 stellt auch eine Gruppe einer Gruppe gegenüber, aber ohne geographischen Bezug. Es geht bei den Gruppen seines Films beide Male um Fremde in der Fremde. havarie zeigt ein gut dreiminütiges Amateurvideo der Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes im Mittelmeer mit einem kleinen Schlauchboot Geflüchteter. Diesen dreiminütigen Film hat Scheffner durch Verlangsamung bzw. Zerlegung in Einzelbilder auf ca. 95 Minuten verlängert und mit einer Tonspur versehen (vgl. Gerner 2017). Auf der Bildebene ist mit einer Ausnahme ausschließlich das zeitlupenhafte Heran- und wieder Wegzoomen des Flüchtlingsbootes zu sehen (Abb. 10). Etwa in der Mitte des Films schwenkt die Kamera auf horizontaler Ebene um fast 180°, sodass das Kreuzfahrtschiff und die Beobachtenden an Deck sichtbar werden (Abb. 11). Dieser einzige Schwenk auf das im Verhältnis riesige Kreuzfahrtschiff ist der visuelle Höhepunkt der sonst gleichförmigen Ansicht des Meeres und des kleinen, zum Teil kaum erkennbaren Bootes.
Abb.10-11: Stills havarie (D 2017, Philip Scheffner)
Die Handlungsdramaturgie des Films findet ausschließlich auf der Tonebene statt. Denn die Verlängerung des Films auf die besagten 95 Minuten ist nicht willkürlich, sondern bezeichnet die Zeit, die es von der Sichtung des Bootes der Geflüchteten durch die Crew des Kreuzfahrtschiffes bis zum Eintreffen eines Hubschraubers der Seenotrettung braucht; diese betreut dann das Schlauchboot so lange, bis ein Boot der Küstenwache eingetroffen ist. Erst dann darf das Kreuzfahrtschiff nach internationalem Seerecht weiterfahren. Diese Information bekommen
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wir über den mit anderen Dialogen alternierend eingespielten Funkverkehr der Seenotrettungszentrale mit dem Kreuzfahrtschiff. Die Zuschauenden bekommen diese Informationen ausschließlich auditiv, ohne visuelle Belege. Dann sind verschiedene akustische Ebenen eingeblendet, die wiederum eine innere Dramaturgie haben. Insgesamt hat die Dramaturgie der Tonspur also den Funkverkehr zwischen der Seenotrettung und dem Kreuzfahrtschiff als retardierendes Moment. Dazwischen hören wir zunächst französischsprachige Dialoge und Stimmen von Geflüchteten mit ihren Verwandten oder Freunden. Dann hören wir englischsprachige Gespräche über Funk oder Telefon von ost- oder außereuropäischen Crews von Handelsschiffen (Ukraine, Philippinen) und schließlich ein von der philippinischen Crew des Handelsschiffes gesungenes Lied; dieses Lied wird im Anschluss auch von der philippinischen Band des Kreuzfahrtschiffes gespielt; gerahmt wird dieses Lied von englischsprachigen Durchsagen für die Passagiere an Bord. Hier, nach gut 48 Minuten des Films erfolgt der genannte Horizontalschwenk auf das Kreuzfahrtschiff (s. Abb. 11). Von da an hören wir v.a. Tonereignisse auf dem Kreuzfahrtschiff, wie etwa die Kommentare des irischen Amateurfilmers (und Kreuzfahrtpassagiers) auf seinem dreiminütigen Streifen, aber auch nachgetragene Statements zur Begegnung mit dem Schlauchboot und die eigene Erfahrung des Videofilmers im Nordirlandkonflikt und ihren traumatischen Kern: den Tod seines dreizehnjährigen Freundes durch britische Kugeln.6 Von dieser größten Nähe zwischen Bild und Ton im Film wechselt der Kommentar wieder zu einer französischsprachigen Stimme, die – motivische Analogie – von Morden an Frauen durch Milizen und dann von einer Mittelmeerpassage im Schlauchboot spricht. All das eröffnet also ›hinter‹ der planen Visualität einen akustischen Raum, in dem das Drama der Rettung des havarierten Bootes auf vielen Ebenen und Schichten stattfindet; einen Raum, mit dem dieses Drama mittelbar oder unmittelbar verbunden ist. Auch dieser Film arbeitet vor allem damit, seine inszenatorische Vielschichtigkeit, die hier vor allem ›unrein‹ zwischen experimentellem Bild und dokumentarischem Ton entsteht, als Grundlage dafür zu nehmen, die Zuschauenden in eine ambige Position zu bringen: Der fast impressionistischen Ästhetik der Bilder steht das Warten auf eine Rettung der in Seenot Geratenen gegenüber; den ›schönen‹ Bildern der Wunsch einer Fabel mit gutem Ausgang: man ist im Laufe des Films und mit den zunehmenden Informationen von der Tonebene gespannt, ob die Rettung gelingen wird, und vor allem, ob sie auch sichtbar werden wird. Weder das eine noch das andere klärt der Film: wir hören zwar auf der Tonebene den Funkspruch, dass ein Rettungshubschrauber kommen soll, aber gezeigt wird er nicht, geschweige denn, dass wir ihn hören würden.
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Für diese Hinweise danke ich Katharina Braschel.
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Mit der Schere, die sich zwischen Ton und Bild auftut, verdichtet sich die audiovisuelle Darstellung zu einer Verbindung von Ausnahmezustand als Alltag und Alltag als Ausnahmezustand: Den Ausnahmezustand als Alltag erfahren wir über die inzwischen fast kanonischen Bilder der Schiffsnot; hier geraten sie zugleich zur Reflexion auf den Ausnahmezustand als medialer Alltag: wieder die Aufsicht auf ein havariertes Schlauchboot, wieder die Aufsicht auf hilflose Geflüchtete; der Blick herab von einem Kreuzfahrttanker, die Symbolik der Größenverhältnisse. Die Tonspur hingegen ›korrigiert‹ diese visuelle Vogelperspektive auf die Notleidenden zu einer Perspektive auf Augenhöhe: wir haben es nicht mit einer namenlosen Tragödie zu tun, sondern mit vielfältig verflochtenen und erfahrenen Lebensumständen von Individuen. Den Alltag als Ausnahmezustand erfahren wir, indem wir – schier unendlich gedehnt und darum schwer auszuhalten – die Perspektive der Kreuzfahrer einnehmen müssen, die, wie der Name ihres Schiffes »Adventures of the Sea« besagt, nun in der Eintönigkeit des offenen Meeres ein ›echtes Abenteuer‹ erleben: ein Abenteuer, an dem sie teilhaben, von dem sie aber kein Teil sind. Zugleich sind wir als Zusehende Teil der Kreuzfahrtgruppe, denn spätestens mit dem Schwenk auf das Kreuzfahrtschiff wird klar, wer da schaut aus der Kameraposition; diese Kamera zwingt uns in die Position des Beobachters und Voyeurs zugleich. In Bezug auf die vier Modi der Ambiguität (konjunktiv, disjunktiv, assoziativ, indifferent), die Krieger im zitierten Aufsatz als »dynamisches Analysemodell« entwickelt (Krieger 2021, 56ff.), könnte man für havarie vom konjunktiven und assoziativen Modus sprechen; genauer von einer konjunktiven Tonebene und einer assoziativen Bildebene, die beide zusammen genommen ihre Ambiguität aus dem Gegeneinander ihrer Elemente ziehen. Konjunktiv ist die Tonebene, weil es einerseits sehr viele verschiedene Informationen gibt, vermittelt über die verschiedenen Stimmen, die wir hören, die andererseits nur z.T. eine Erklärung und Einordnung im Gesamtrahmen des Films finden. Die Bildebene ist assoziativ, weil wir einerseits durch die schlechte Qualität der Aufnahmen kaum Informationen haben, die gerade durch die Dehnung des visuellen Materials besonders deutlich erfahrbar wird, andererseits geben die wenigen Informationen ein klares Bild ab: Die Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes mit einem kleinen, vollbesetzten Boot auf dem offenen Meer. Diese Informationen werden unterstützt bzw. ausdifferenziert dadurch, dass auf der Tonebene immer wieder Fragmente des Funkverkehrs eines Kreuzfahrtschiffes zu hören sind, von dem wir annehmen, dass es der Funkverkehr des Schiffes ist, welches wir im Verlaufe des Films kurz sehen. Das Verhältnis von Ton und Bild im Film ist also selbst ambig, sodass die auf dem Schema Kriegers (vgl. Krieger 2021, 56ff.) sich gegenüberliegenden Phänomene (assoziativ und konjunktiv) den Film insgesamt in einem eher indifferenten Modus bestimmen.
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Adressierung der Zusehenden Anders sieht es bei den anderen beiden Filmen aus: Beide sind zunächst von einer grundlegenden Kongruenz von Ton und Bild bestimmt: Damit meine ich etwa, dass wir Figuren lippensynchron sprechen sehen und hören oder dass das Meer rauscht, wenn wir ein bewegtes Meer sehen. Die Ambiguität stellt sich bei lampedusa im winter und fuocoammare durch die gleiche Gültigkeit der verschiedenen Darstellungen der Alltage der Geflüchteten und Insulaner her, also der der Inselbewohner und der Geflüchteten, zwischen denen die Filme nicht unterscheiden und damit eine »Alltagspraxis als Widerspruch« herstellen (Bargetz 2016, 111f.), wie es Brigitte Bargetz in Anlehnung an Agnes Heller und Henri Lefebvre nennt, und diese nicht auflösen, d.h. das mitunter unerträgliche Nebeneinander von Alltag als Ausnahmezustand und Ausnahmezustand als Alltag zeigen. Wie schon zu Beginn skizziert, bildet zuletzt die Adressierung der Zusehenden den eigentlichen Punkt der Ambiguität der Filme, deren Vielschichtigkeit die Grundlage für diese Ambiguität ist. Der ›Skandal‹ von lampedusa im winter ist, dass wir Geflüchtete und Inselbewohner, existentielle und wirtschaftliche Bedrohung mehr und mehr als gleichwertig und als gleich gültig erleben. Rosis fuocoammare stellt uns in das Dilemma, einerseits affektiv erfasst zu werden und ein Gefühl für die existentielle Not der Geflüchteten zu bekommen und dies andererseits als Effekt einer dramaturgischen Konstruktion zu erfahren. Deshalb ist strukturell die Ambiguität in den Filmen dort am stärksten, wo sie alle auf ihre Weise zwischen Dokument und Fabel schwanken: Einerseits sehen wir nämlich, wie im Dokumentarfilm üblich, Figuren, die wir auch im realen Leben treffen könnten, andererseits sind wir durch die genannten verschiedenen räumlichen und zeitlichen Anordnungen der audiovisuellen Konstruktion der Filme in eine Spielfilmsituation gebracht: D.h. wir nehmen als Zusehende affektiv an einem Geschehen teil, zu dem wir nicht gehören. Das bezieht sich sowohl auf die ikonischen Aufnahmen der Geflüchteten (als Ikonen des Schmerzes und der Verzweiflung) wie auch auf die kommentierten und dadurch scheinbar vertrauten Bilder der Lampedusaner. Dazwischen liegt das ambige Terrain, auf dem wir um Haltung ringen, um affektive Nähe und sachliche Distanz auszutarieren. Die Filme betreiben insofern eine Politik des Ästhetischen, dass sie alle drei der medialen Auseinandersetzung mit dem Thema eine andere Blickordnung geben, die reflexiv ist, weil sie uns in ein Dilemma führt, ohne dieses aufzulösen oder abzuschließen. Einer eindeutigen Position stehen die verschiedenen Blickwinkel und damit Affektrhetoriken ebenso wie all die kleinen, marginalen Begebenheiten des Alltags gegenüber, die die Filme zeitlich und räumlich inszenieren. Bei allen Filmen kann man davon sprechen, dass von den fünf Ebenen, die die Ambiguität der oder in der Kunst nach Krieger bestimmen (vgl. Krieger 2021, 39ff.), insbesondere die Rezeptionsebene, aber auch die Medialität der Gegenstän-
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de Ambiguität produzieren;7 die Rezeptionsebene v.a., indem alle analysierten Filme die Zusehenden in eine Spannung zwischen Beobachtung und Voyeurismus und zwischen Aktivität und Passivität setzen. Kommt wie in diesem Falle bei allen Filmen zum indifferenten Modus noch eine ethische Komponente, die die Rezeptionshaltung der Zusehenden betrifft, dann kann man fragen, ob die Filme mit ihrer Ambiguität im Grunde die Funktion der klassischen hellenischen Tragödie erfüllen: nämlich Widersprüche zu zeigen und zuzuspitzen, die im realen Leben nicht auszuhalten sind. Ich folge mit dieser Lesart einem Verständnis der Tragödie, wie sie die Theaterwissenschaftlerin Theresia Birkenhauer (2004) gegen die These einer Konsensfunktion der Tragödie entwickelt hat. Es geht um das Verständnis der politischen Funktion des antiken Theaters für die griechische Polis. Politisch wird dieser ästhetische Raum, indem in ihm Stimmen zu Wort kommen oder Dinge gezeigt werden, die das verhandeln, was im Alltag nicht zu denken und schon gar nicht auszuhalten wäre. Es geht also bei dem Bezug auf die Antike gerade nicht um die Nähe zwischen Theater und Demokratie (also um die staatstragende Funktion des Theaters), sondern um den Abstand zwischen beiden (einen Ort des Heterogenen, Unvereinbaren). Insbesondere die Aufführungspraxis der griechischen Tragödie ermöglicht eine (ästhetische) Erfahrung, die all das aufgreift, was als Alltagserfahrung im sozialen Raum der Polis nicht zu verhandeln ist. Zusammengefasst heißt das, dass die Ambiguität, die alle drei Filme herstellen, indem sie ›unrein‹ sind und zwischen Bild und Fabel, zwischen Dokumentarund Spielfilm schwanken, für die Zusehenden zum Dilemma wird, indem die Filme sie in Positionen bringen, in denen sie nicht sein möchten. So stellen alle drei Filme immer wieder die Frage »Your position?«, zunächst als Frage der Seenotrettung an die havarierten Boote; aber diese Frage, die sich wie ein Refrain durch die Filme zieht, richtet sich zugleich an die Zuschauenden – als ästhetisches Strukturmerkmal der Dramaturgie, aber auch als ethische Frage nach dem moralischen Standpunkt zu der dokumentierten Situation, die die Filme unmissverständlich zeigen. Mit Rancière gedacht, liegt also das politische Moment dieser Ästhetik in dem Schwanken zwischen den Ansprüchen des ethischen und des repräsentativen Regimes. Das Dazwischen halten die Filme auf je eigene Art und Weise offen.
Literaturverzeichnis Bargetz, Brigitte. 2016. Ambivalenzen des Alltags. Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen, Bielefeld.
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Die anderen Ebenen bei Krieger sind die künstlerische, die intentionale und die historische Ebene.
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Strategischer Einsatz
Ambivalenzen und Rechtsradikalismus Matthias Quent
Zygmunt Bauman definierte Ambivalenz als »die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen«, als eine »sprachspezifische Unordnung: ein Versagen der Nenn-(Trenn-)Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll. Das Hauptproblem der Unordnung ist das heftige Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen« (Bauman 2005, 11). Vor die Herausforderung, die Situation richtig zu lesen, stellt uns die radikale und populistische Rechte und ihr gewachsener politischer Einfluss. Bereits das Auftreten rechter, radikaler und populistischer Bewegungen ist Ausdruck ambivalenter gesellschaftlicher Entwicklungen und Zustände. Doppeldeutig und entsprechend umstritten ist auch die Bestandsaufnahme: Ist der Rechtsradikalismus in Deutschland heute eine größere Gefahr als früher? Einerseits sind da die rechtsterroristischen Anschläge in Hanau, Halle und Kassel, der rechte Hass im Netz, Pegida und natürlich die AfD. Mit der Partei ist eine radikale und populistische Rechtspartei auf allen parlamentarischen Ebenen in Fraktionsstärke vertreten. Für die einen ist die AfD die einzig bürgerlich-konservative Kraft – doch für die Mehrheit der Deutschen (74 Prozent im Jahr 2017) ist sie »keine normale demokratische Partei« (FAZ 2017). Rechter Terror auf unseren Straßen und die seit ihrer Gründung mehr und mehr nach rechts außen driftende AfD nehmen zunehmend Einfluss auf die öffentlichen und politischen Debatten. So sind Deutschland und Europa gegenüber dem autoritären Regime der Türkei erpressbar geworden, weil die Sorge vor einem weiteren Erstarken der Rechtsradikalen im Land als Amboss für den Schmiedehammer der Erpressungspolitik des türkischen Staatschefs Erdogan funktioniert. Geflüchtete Menschen sind zur Verschiebemasse in einem zynischen Machtkonflikt geworden – Humanismus und Solidarität geraten unter die Räder. Wahlen werden hierzulande nun auch gegen rechts geführt und gewonnen. Innenminister Seehofer (CSU) benennt nach dem rassistischen Anschlag in Hanau mit zehn Todesopfern den Rechtsextremismus als das größte Problem. Das Personenpotenzial mit rechtsextremen Einstellungen ist keineswegs neu (Greiffenhagen 1981) und scheint auch in den Jahren erheblicher diskursiver und parlamentarischer
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Polarisierung seit 2013 insgesamt nicht größer geworden zu sein (Zick et al. 2019; Baier et al. 2018). Es hat sich vor der Gründung der AfD in der Nichtwählerschaft und in den sogenannten Volksparteien verteilt – quer durch die politische »Mitte« der Gesellschaft. Die meisten der mindestens 208 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 (Amadeu Antonio Stiftung 2020) waren in den »Baseballschlägerjahren« (Christian Bangel) der 1990er zu beklagen. Die Anhängerschaft der sogenannten »Konservativen Revolution«, die heute als »Neue Rechte« bezeichnet wird, tummelte sich vor 15 Jahren noch in der CDU (Pflüger 1994). Man mag darüber streiten, ob die Integration des bürgerlichen Rechtsradikalismus innerhalb der CDU ›besser‹ war als seine Frontenbildung in der AfD – neu ist das Rechtsaußenpotenzial jedenfalls nicht. Das Auftauchen von Populismus ist für Kaltwasser (2012) generell ein ambivalentes Phänomen, das sowohl eine Bedrohung als auch ein Korrektiv für die Demokratie darstellen kann. Im Fall Deutschlands und der AfD gilt allerdings: Die Unbestimmtheit der »dünnen Ideologie« (Michael Freeden) des Populismus ist spätestens seit 2015 auf dem Rückzug, während die harte Ideologie der sogenannten Neuen Rechten, also der Wiedergänger der faschistischen »konservativen Revolution«, an Einfluss gewinnt (Quent 2019). Insofern sind derzeit eher die parlamentarische Repräsentation und politische Verfestigung latent rechtsradikaler Orientierungen zu diagnostizieren als ein korrigierender Ausgleich vorhandener Legitimationsdefizite. Nicht zuletzt mit Blick auf die ambivalente Funktion des Populismus, der einerseits als demokratisch legitimierter Protest auftritt und andererseits demokratische Grundwerte in Frage stellt, sowie auf die unter dem Deckmantel des Populismus wachsende antidemokratische Dynamik des Rechtsradikalismus als Krisenideologie ist die akute und potenzielle Gefahr für die liberale Demokratie nicht zu unterschätzen.
Ambivalenter Fortschritt Ambivalent ist die analytische und normative Einordnung der gesellschaftspolitischen Entwicklung der vergangenen Jahre entlang der für die radikale und populistische Rechte hierzulande konstituierenden politisch-moralischen Wertfragen (insbesondere der Ablehnung von Migration, Feminismus, Gleichberechtigung, Kosmopolitismus, Minderheitenrechten und Ökologie) als »stille Gegenrevolution« (Ignazi 1992) zur »stillen Revolution« (Inglehart 1977) postmaterieller Werte in westlichen Gesellschaften seit den späten 1960er Jahren: Geht der Einwanderungsgesellschaft die »Mitte« verloren (Zick et al. 2019)? Oder bildet sich eine neue, vielfältigere, tendenziell eher postmateriell und progressiv als konservativ orientierte »Mitte«, in der die Zustimmung zu rassistischen und sexistischen Positionen abnimmt? Dafür spricht eine Reihe von Argumenten (zusammenfas-
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send Quent 2019) – etwa die beachtlichen Wahlerfolge der grünen Parteien in Deutschland, Österreich und anderen westeuropäischen Staaten, die neben der ökologischen Frage auch in normativen Fragen rund um Einwanderungskonflikte als Gegenpol zur radikalen und populistischen Rechten wahrgenommen werden. Die CDU verlor bei vergangenen Landtagswahlen – etwa in Bayern und in Hessen – mehr Wähler*innen an die Grünen als an die AfD. Die Liberalisierung der Mitte macht es der Union heute unmöglich, den alten Spagat der gleichzeitigen Integration rechtsradikaler Anhänger*innen der »konservativen Revolution« und der liberal-bürgerlichen Mitte auszuhalten. Die Stimmenanteile der AfD offenbaren einen Stadt-Land-Unterschied, in Westdeutschland ein Altersgefälle sowie einen West-Ost-Unterschied: Die radikale und populistische Rechte ist in aufstrebenden Zentren in Ost wie West im Vergleich zum ländlichen Umland schwach. In Westdeutschland findet die AfD bei jungen Menschen signifikant weniger Anklang als bei älteren Menschen, während bei den Jungen die Grünen besonders stark sind. Allerdings stehen die jüngsten Wahlergebnisse in Ostdeutschland in Widerspruch zu den Entwicklungen in Westdeutschland und Westeuropa. Im Osten schnitt die AfD gerade bei den Jüngeren mindestens als zweitstärkste Partei ab. Darin offenbart sich eine anhaltende Diskrepanz der politischen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland mit verschiedenen Ursachen. Der Rechtsradikalismus verdeutlicht somit die anhaltenden, sogar zunehmenden politisch-kulturellen Widersprüche zwischen den alten und neuen Bundesländern. Über regionale Unterschiede führt uns der Rechtsradikalismus ganz prinzipiell die ständige Ambivalenz der liberalen Demokratie mit ihren widersprüchlichen Prinzipien und Ungleichzeitigkeiten gesellschaftlicher Wirklichkeiten vor Augen: Das deutsche Grundgesetz schützt beispielsweise die Freiheit vor Diskriminierung ebenso wie die Freiheit diskriminierender Aussagen. Gerade viele Ostdeutsche scheinen diese Ambivalenz nicht aushalten zu können, ohne den Maßstab zu verlieren; wie sonst ist zu erklären, dass 41 Prozent der Ostdeutschen in einer ZEIT-Umfrage (Bangel 2019) meinen, um die Meinungsfreiheit sei es im Jahr 2019 nicht besser bestellt als in der DDR? Niemand wird heute wegen einer einfachen Meinung eingesperrt. Juristisch definiert liegen die Grenzen des Wortes bei der Leugnung des Holocausts, bei Beleidigungen, Drohungen und bei Volksverhetzung. Wer in sozialen Netzwerken mitliest oder bei rechtsradikalen Veranstaltungen mit Menschen ins Gespräch kommt, gewinnt schnell den Eindruck, dass Meinungsfreiheit missverstanden wird als Freiheit, diskriminierende, rassistische oder idiotische – aber meist legale – Positionen äußern zu können, ohne dafür Kritik und Widerspruch zu ernten. Autoritäre Reflexe funktionieren nicht nur rechts außen. Bei öffentlichen Diskussionen höre ich vor allem in Ostdeutschland immer wieder, wenn die AfD rechtsradikal sei, dann müsse man sie eben verbieten. Der bisweilen auch
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an Hochschulen spürbare Impuls, diskriminierende und rechte – selbst rechtsdemokratische – Positionen aus dem Diskurs zu verdrängen, drückt auch ein Unbehagen mit der Ambivalenz der Realität aus. Demokratie beinhaltet gleichzeitig autoritäre und offene sowie emanzipatorische und unterdrückende Impulse. Sie ist vom Grund auf ambivalent. Diese Ambivalenzen vielfältiger und pluralistischer Gesellschaften, ihre Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit aushalten zu können, gehört zu den wichtigsten Resilienzfaktoren gegen autoritäre Kohärenzund Reinheitsversprechen. Das legte Else Frenkel-Brunswik (1949) bereits auf psychoanalytischer Ebene nahe. Auch heute zeigt sich: Die propagandistischen Versprechen der radikalen und populistischen Rechten nach Abgrenzung, Einfachheit, Eindeutigkeit, Homogenität und Hierarchie speisen sich aus der Ambivalenz der postmodernen Gesellschaft. Doch selbst die Beziehung zwischen Ambivalenz und Rechtsradikalismus ist widersprüchlich.
Ebenen der Ambivalenz Die Psychologin Birgit Rommelspacher erkannte, dass sich der Rechtsradikalismus wesentlich aus Ambivalenzen der Gesellschaft speist, deren Grundlage widersprüchliche Gesellschaftsstrukturen, insbesondere Ungleichheitsverhältnisse, sind: »Einerseits werden Einwanderer und Flüchtlinge z.B. rechtlich diskriminiert, andererseits gelten jedoch Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte als Fundamente dieser Gesellschaft. So besteht auch generell eine massive Diskrepanz zwischen Gleichheitsansprüchen und Ungleichheitsverhältnissen.« (Rommelspacher 2011, 49) Rechte Bewegungen und Parteien mobilisieren das aus diesen Widersprüchen entstehende Ressentiment – zugleich reproduzieren und stabilisieren sie diese Ambivalenzen mit Schutzversprechen gegenüber gesellschaftlichen und kulturellen Gütern. Dieser Zusammenhang beschreibt die erste Ebene der Beziehung zwischen Ambivalenz und Rechtsradikalismus. Die zweite Ebene umfasst die rhetorische und propagandistische Nutzung von Ambivalenz durch Rechtsaußen-Akteure. Nach Rommelspacher ist Ambivalenz – neben der Akzeptanz von Gewalt – auch ein Unterscheidungskriterium zwischen »Rand« und »Mitte«: »Die Angehörigen der ›Mitte‹ wissen, dass die Gesellschaft auf Einwanderung, Export und internationalen Austausch angewiesen ist und dass die Tatsache der Pluralität ebenso wie die Notwendigkeit ihrer Weltoffenheit nicht einfach wegdiskutiert werden kann. Ebenso sind sie überzeugt, dass Prinzipien wie Gerechtigkeit,
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Gleichheit und Menschenrechte wichtig sind, akzeptieren jedoch nicht, dass Einwanderer oder gar Asylbewerber dieselben Rechte haben sollten, wie sie selbst.« (Ebd., 49) Der Rechtsradikalismus selbst ist demnach nicht ambivalent. Im Gegenteil stellt er die einseitige Auflösung von Ambivalenzen »in Richtung Dominanzinteressen und Abschottungspolitik« in Aussicht. Er verspricht, die »Spannungen und Ambivalenzen zwischen Egalitätsansprüchen und Eigeninteressen aufzulösen« und greift damit »Fragen und zentrale Widersprüche auf, die strukturell in der ›Mitte‹ der Gesellschaft verankert sind« (ebd., 50). Dabei geht es »nicht nur um ethnisch definierte Differenzen, sondern auch darum, das Recht des Stärkeren in Bezug auf alle sozialen Hierarchien durchzusetzen. Denn der Kern des Rechtsextremismus ist die Politisierung sozialer, ethnischer und kultureller Hierarchien. Diese werden von ihnen als biologische Gegebenheit gedeutet – etwa in Form der Hierarchie von ›Rassen‹, Kulturen und Nationen oder auch in der Unterscheidung zwischen ›lebenswertem‹ und ›unwertem‹ Leben.« (Ebd.) Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann es nicht verwundern, dass der Rechtsradikalismus dann besonders stark in Erscheinung tritt und das Ressentiment besonders dann abgerufen und mobilisiert werden kann, wenn gesellschaftliche Dominanz- und Segregationsverhältnisse zwischen sozialen Gruppen infrage gestellt werden – durch gesellschaftliche Liberalisierung, durch Globalisierung und durch Migration. Im Zusammenhang mit dem ambivalenten Prozess der Liberalisierung hat beispielsweise die Kolumnistin mit dem Pseudonym »Thea Dorn« mehr Toleranz für Diskriminierung gefordert, um konservative und rechte Menschen nicht zu provozieren bzw. nicht zu überfordern (Thea Dorn 2019). In der Konsequenz bedeutet dies, jene Ungleichheitsverhältnisse auszuhalten, die im Widerspruch zu den im Grundgesetz verbrieften Werten der Aufklärung stehen. Es bedeutet Menschen zuzumuten, Diskriminierungen zum Wohle gesellschaftlichen Friedens zu ertragen und jene Machtasymmetrien aufrechtzuerhalten, deren ambivalente Existenz Abwertung, Hasskriminalität und Rechtsradikalismus hervorbringt und reproduziert. Der Rechtsradikalismus verspricht nach Rommelspacher also die Auflösung der Ambivalenz und damit auch die Befreiung aus der Ambivalenz in komplizierten Situationen oder solchen, die zu Dissonanzerfahrungen führen. Um das wellenförmige Erstarken der radikalen und populistischen Rechten zu verstehen, gilt es, der Prozesshaftigkeit von Gesellschaft sowie der »Ungleichzeitigkeit« (Ernst Bloch) von gesellschaftlichen Milieus und Individuen Rechnung zu tragen: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.« (Bloch [1935] 1973, 104) Wer körperlich im Heute, doch ideologisch im Gestern ist, kann die wahr-
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genommene Widersprüchlichkeit durch ideologische Schließung gegenüber dem Neuen reduzieren. Die ständige Opferinszenierung des reaktionären Geistes speist sich aus der ideologischen Situation der Modernisierungsverlierer, die vor allem politisch-kulturell hinter die gesellschaftlichen Entwicklungen zurückfallen. Veränderungen der Bevölkerungs- und (Macht-)Strukturen einer Gesellschaft sowie deren Normen rufen bei gleichzeitiger Beharrung auf überholte Ansprüche Ressentiments, Aggressionen und nostalgische Reaktionen hervor, die nach Wiederherstellung der zumindest retrospektiv als kohärent imaginierten Vergangenheit verlangen. Wer etwa im festen Glauben an den Nationalstaat und die binäre Geschlechterordnung aufgewachsen ist, der sieht sich bei bestimmten Entwicklungen selbst in einer ambivalenten Orientierungslage, da sich die faktische Überholtheit innerer Überzeugungen beweist – zum Beispiel bei der nationalen Nichtabschottung gegenüber geflüchteten Menschen oder dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur dritten Geschlechtsoption. Wenn nun der Rechtradikalismus Renationalisierung fordert und gegen »Genderideologie« zu Kreuze zieht, reproduziert er Forderungen und Versprechen nach einem Rollback zu verherrlichten Verhältnissen der Vergangenheit, in denen subjektive Überzeugungen und die objektive Wirklichkeit (wieder) übereinstimmen. Rasche Veränderungen von Gesellschaft als potenzielle Ursache von Anomie und extremistischem Denken einzubeziehen, hilft zu verstehen, ob »die Gesellschaft nach rechts rutscht«, wie es oft heißt, oder ob Teile der Gesellschaft die Ambivalenz der Mitte aufkündigen und sich nach rechts radikalisieren, weil sie mit an den Verfassungsnormen orientierten Demokratisierungsprozessen jener ›Mitte‹ nicht einverstanden sind und die Geschichte daher zum eigenen Vorteil zurückdrehen wollen. Ziel von Rechtsradikalen ist die Aufrechterhaltung der Dominanz gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel gegenüber Migrant*innen und Frauen. Der Kampf um die Aufrechterhaltung von Vorherrschaft im Kontext sich verändernder Gesellschaften ist ein gemeinsames Merkmal des globalen Rechtsradikalismus, der sich in den USA offensiv in der biologistisch-rassistischen Bewegung der »weißen Vorherrschaft« (»white supremacy«) zeigt, die sich bis ins Umfeld von USPräsident Trump formiert. Aggressiv und offen zeigt der Rassismus insbesondere in den neonationalsozialistischen Gruppen sein Gesicht. Anschlussfähiger sind neorassistische Bewegungen der sogenannten Neuen Rechten, die die Ambivalenz des Kulturbegriffs als Merkmal für hierarchische Ordnungsvorstellungen nutzen. Wie wenig daran ›neu‹ ist, zeigt sich in der bereits 70 Jahre alten Beobachtung Theodor W. Adornos, nachdem zwar das »vornehme Wort Kultur […] anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse« tritt, es jedoch ein »bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch« bleibt (Adorno [1955] 1975, 276). Hierin zeigt sich die zweite Ebene der ambivalenten Beziehung zwischen Ambivalenz und Rechtsradikalismus.
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Ambivalenz als Strategie Die radikale und populistische Rechte weltweit nutzt Ambivalenz als Strategie, um diskriminierende, rassistische, antisemitische und geschichtsrevisionistische Positionen zweideutig darzustellen. Die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak identifizierte die kalkulierte Ambivalenz als rhetorischen Stil und politische Strategie, »um die verschiedenen Akteure gleichzeitig zu befriedigen« (Wodak 2016, 78). Nach Normverletzungen, Beleidigungen oder Diskriminierungen entschuldigen sich Politiker*innen der radikalen und populistischen Rechten bisweilen dafür, jedoch mit mehrdeutigen Aussagen und ambivalenter Wirkung, denn mit der medialen Öffentlichkeit einer Entschuldigung wird in der Regel auch die ursprüngliche, etwa diskriminierende Äußerung reproduziert. Der Doppelsprech bedient verschiedene Zielgruppen und dient der medialen Selbstinszenierung als Opfer denunziatorischer Kampagnen oder von politischer Korrektheit. Diskriminierung und Rassismus werden häufig mit der »neuen« Sprache des Rechtsradikalismus produziert und gleichzeitig verleugnet – anders als im ›alten‹ Rechtsradikalismus, der rassistische Forderungen offen vor sich hertrug. Als beispielhaft für diesen angepassten Rechtsradikalismus kann die Identitäre Bewegung gelten, deren Aufkleber mit dem Spruch »0 % Rassismus – 100 % Identitär« die Ambivalenz illustrieren. Ihre hierarchische, exklusive und völkische Deutung von vererbbaren und unveränderlichen kollektiven Identitäten hat nur den Begriff der Rassekonstruktion, nicht aber die dahinterstehenden Strukturen des Otherings und der Rechtfertigung von Ungleichheit über Bord geworfen. Diese »kalkulierte Ambivalenz« ermöglicht die Ansprache und Integration unterschiedlicher Zielgruppen. Durch die Kommunikationsstrategie zweideutiger Äußerungen können gleichzeitig radikale und moderate Wähler*innen angesprochen werden. Provokationen werden zweideutig formuliert und nach der ersten medialen Aufmerksamkeitswelle mit augenzwinkernden, relativierenden oder bisweilen entschuldigenden Reaktionen erneut in die öffentliche Wahrnehmung gespült. Und während das Rechtsaußenmilieu um die Notwendigkeit rhetorischer Mäßigung als Strategie zur Erreichung übergeordneter Ziele weiß, bleibt die ambivalente Mitte verunsichert zurück: Darf man diese Leute nun in die »rechte Ecke« stellen oder nicht? Das eigentliche Ziel des Tabubruchs zur Erweiterung des Overton Windows (nach der Erweiterung des Sagbaren soll die Erweiterung des politisch Machbaren folgen) ist damit bereits erreicht. Besonders vorbereitet agierende Demagog*innen, die durch Provokationen das Rampenlicht suchen, formulieren selbst die ursprüngliche Normverletzung in einer mehrdeutigen Weise, die einerseits öffentliche und mediale Aufmerksamkeit und Empörung einiger Zielgruppen garantiert – meist der medial hegemonialen Zielgruppen – und andererseits bereits die Rechtfertigung des Normbruchs für andere Zielgruppen mitliefert. Beispielhaft dafür steht die revisionistische Rede, die der Thüringer AfD-Rechtsaußen Björn Höcke im Januar 2017 im Dresdner Ballhaus
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Watzke hielt. Unter anderem attestierte Höcke der Bundesrepublik eine »dämliche Bewältigungspolitik« und forderte eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«. Höcke bezog sich explizit auf eine Franz-Josef Strauß zugeschriebene Aussage, nach der die deutsche Vergangenheitsbewältigung das Volk lähme. Höcke fügte hinzu: »Liebe Freunde, Recht hatte er, der Franz Josef Strauß!« und steigerte sich dann zur Aussage »Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß’ Zeiten. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!« (Höcke 2017) Die Äußerung illustriert die 2017 vom rechtsradikalen Vordenker Götz Kubitschek propagierte Strategie der »Verzahnung«: »Sprachlich kann man dadurch verzahnend vorstoßen, daß man zitiert und auf Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas Ähnliches.« (Kubitschek 2017, 28) Diese Strategie soll das Fenster des Denk-, Sag- und Machbaren nach rechts verschieben und bietet – hier durch den Bezug auf die CSU-Ikone Strauß – für konservative Zielgruppen eine inhärente Rechtfertigung für Tabubrüche. Strauß war durchaus für reaktionäre Aussagen bekannt, durch die ihm auch die Integration von Rechtsradikalen in die Wählerschaft der CSU gelang und damit die Verhinderung der Existenz einer relevanten demokratisch legitimierten Partei rechts der Union. Hier kommen wir wieder zur ersten Bedeutungsebene der Ambivalenz (bzw. deren Aufhebung) für die radikale und populistische Rechte zurück: Dass nationalistische und geschichtsrelativierende Äußerungen, die früher auch aus der ersten Garde der Volksparteien zu hören waren, dort heute einer verantwortungsbewussten erinnerungspolitischen Staatsräson gewichen sind, ist ein Ergebnis politischer Kämpfe und Bildung, multilateralistischer Zugeständnisse und zeitlicher Distanz zum Nationalsozialismus. Dieser insgesamt positive Trend drückt sich auch in repräsentativen Bevölkerungsumfragen aus. Erhebungen des Meinungsforschungsinstituts forsa zeigen: Die Zustimmung zur Forderung nach einem Schlussstrich unter den Nationalsozialismus und das Dritte Reich ist bei den Wahlberechtigten ohne Präferenz für rechtsradikale Parteien von 1994 bis 2019 von 53 auf 42 Prozent gesunken (n-tv 2019).
Gesellschaftliche Entwicklung und pathische Ideologien Es offenbart sich darin das Mitte-Rand-Paradox, das um die zeitliche Dimension gesellschaftlichen Fortschritts ergänzt werden muss: Weil zum Beispiel der Geschichtsrevisionismus ›in der Mitte‹ durch kollektives Lernen und gesellschaftlichen Fortschritt tabuisiert und marginalisiert wird, manifestieren sich ›am rechten Rand‹ Bastionen relativer Eindeutigkeit. Dies gilt insbesondere für die Einwanderungsfrage. Forsa stellt fest:
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»Der Anteil der Wahlberechtigten ohne Präferenz für die AfD (bzw. früher für eine der anderen rechtsradikalen Gruppen), die die Zahl der Ausländer in Deutschland für zu hoch halten, ist seit 2000 trotz des großen Flüchtlingszustroms 2015 nur von 22 auf 25 Prozent angestiegen. Von den Anhängern der AfD aber glauben das heute mit 87 Prozent noch deutlich mehr als von den Anhängern der damaligen rechtsradikalen Parteien im Jahr 2000.« (n-tv 2019) Mit anderen Worten: Während die Zahl der »Ausländer« (im engeren Sinne des Wortes) in Deutschland von ca. 6,7 Millionen im Jahr 2004 auf knapp 11 Millionen im Jahr 2018 angestiegen ist (Statista Research Apartment 2019), ist der Anteil derjenigen, die den Ausländeranteil in Deutschland für zu hoch halten, nur um 3 Prozent gestiegen – und dieses keineswegs neue Milieu konzentriert sich stärker in der Wählerschaft der AfD als früher bei DVU, NPD und Republikanern. Insofern wird die AfD im Kern als Antieinwanderungspartei gewählt, und ihre Wählerschaft unterscheidet sich dadurch erheblich von allen anderen Parteien. Aussagen, die von vielen als rassistisch, frauenfeindlich, nationalistisch oder diskriminierend empfunden werden, rufen bei vielen Unterstützer*innen der AfD Zuspruch hervor und werden als ehrlich (»Klartext«) begrüßt. Dahinter steht häufig die rechte Kampagne gegen »politische Korrektheit« sowie die nostalgische Mobilisierung überholter Normen: Insofern Diskriminierung, Sexismus und Rassismus nie Randphänomene waren, sondern samt der damit einhergehenden Beschädigungen von der ambivalenten »Mitte« hervorgebracht oder zumindest toleriert wurden, ruft die Kritik an Äußerungen, die vergangene Normvorstellungen aktualisieren, Abwehr hervor: Früher habe man ja auch das N.-Wort benutzt, Judenwitze gemacht und trotzdem in einer Demokratie gelebt. Verkannt wird dabei, dass sich die demokratische Kultur in einem normativ bereits durch das Grundgesetz und den Gleichheitswerten der Aufklärung definiertem Rahmen stets weiterentwickelt und dass die Vergangenheit auch in der demokratischen Bundesrepublik keineswegs ein Hort der Gleichberechtigung, sondern für viele einer der Abwertung, Unterdrückung, des Ausgeliefert- und Unsichtbarseins war. Diese Ungleichheiten leben fort – allem Fortschritt zum Trotz. Der Rhetorik und Ideologie der radikalen Rechten Reaktion wohnt die Ambivalenz des Ungleichzeitigen inne; reaktionäre Ansprüche existieren weiter und werden immer wieder aktualisiert. Gefangen zwischen den Machtansprüchen von gestern und der Welt von morgen, ist der Rechtsradikalismus mit Antonio Gramsci ein Symptom der sozialen Mechanismen und Reaktionen des Umbruchs, der Zwischenzeit und der Widersprüchlichkeit zwischen Emanzipation und sie verhindernder Ungleichheitsstrukturen: »Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann; in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.« (Gramsci [1929] 1991, 354)
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Die Demokratie prägt ihr widersprüchliches Verhältnis zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität, wodurch die Einsicht in diese Ambivalenzen sowie die Veränderungen der Normen oder der Realität mit ihren Machtasymmetrien Orientierungsunsicherheit (Anomie), Konflikte und Gewalt auslösen können. Um zu verstehen, warum diese Irritationen in bestimmten Phasen gesellschaftlicher Entwicklung besonders sichtbar ihren Ausdruck im Rechtsradikalismus finden, muss die Prozesshaftigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen berücksichtigt werden. Der Rechtsradikalismus rechtfertigt sich in der Ablehnung gesellschaftlicher Entwicklungen liberaler Demokratie bei gleichzeitiger Idealisierung früherer Zustände. Die starke Verbreitung nostalgischer Versprechungen in den Reden und Wahlkämpfen der Rechten (Trump: »Make America great again!«) sowie überdurchschnittlich in den Einstellungen rechter Bevölkerungsteile (Steenvoorden, Harteveld 2017) geht einher mit Zukunftsangst und Ablehnung von liberalen und progressiven gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in pathischen Ideologien äußern. Theodor W. Adorno beschrieb »pathischen Nationalismus« als jenen besonders gefährlichen Zustand, in dem die ideologischen Erwartungen an die Nation in den subjektiven Realitäten der Menschen von der objektiven Wirklichkeit überholt worden waren. Doch aus der »Überholtheit« dürfe nicht die »primitive Folgerung« gezogen werden, »daß deswegen der Nationalismus […] keine entscheidende Rolle mehr spielt, sondern im Gegenteil, es ist ja sehr oft so, daß Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr recht substanziell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen« (Adorno, [1967] 2019, 13). Dieser »pathische Nationalismus«, so Adorno in seinen Reflexionen über »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, sei freilich nicht wirklich neu: »Dieses Moment des Angedrehten, sich selbst nicht ganz Glaubenden, hat er [der pathische Nationalismus] übrigens schon in der Hitlerzeit gehabt. Und dieses Schwanken, diese Ambivalenz, zwischen dem überdrehten Nationalismus und dem Zweifel daran, der dann wieder es notwendig macht, ihn zu überspielen, damit man ihn sich selbst und anderen gleichsam einredet, das war damals auch schon zu beobachten.« (Ebd., 14) Dieser soziale Mechanismus der Radikalisierung zeigt sich angesichts des Substanzverlustes sozial konstruierter Eigengruppenansprüche auch im Antifeminismus und Antigenderismus, im Antiintellektualismus, in der rigiden Ablehnung der ökologischen Transformation und in anderen reaktionären Ideologien. Die Ideologien reproduzieren und radikalisieren sich nicht trotz, sondern wegen ihrer wachsenden Substanzlosigkeit häufig bis ins Irrationale und in Verschwörungslegenden. Diese gleichen den Denkstrukturen des Antisemitismus und behaupten oder implizieren beispielsweise eine subversive und zersetzende zionistische Kontrolle
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über nationale Regierungen mit dem Ziel des Austauschs, der Unterdrückung oder der Vernichtung der »Völker« (ZOG – Zionist Occupied Governments). Die Thüringer Regierungskrise im Februar 2020 offenbarte die politische Destruktivität pathisch-paranoider Ideologien. Der Potsdamer Politologe Gideon Botsch beschrieb diese als Beispiel für einen häufig »pathischen Antikommunismus« (Kixmüller 2020). Der pathische Antikommunismus ist Botsch zufolge dafür verantwortlich, dass sich FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD und CDU zum Thüringer Ministerpräsidenten wählen ließ – um eine weitere Amtszeit des Linkspartei-Politikers Bodo Ramelow zu verhindern. Das Abstimmungsverhalten löste in Thüringen eine Regierungskrise und bundesweit eine Orientierungskrise aus, insbesondere in den selbsterklärten Parteien der »Mitte« CDU und FDP. Nach diesem »Dammbruch« der Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen verloren in Thüringen CDU und FPD in Wahlprognosen massiv an Zustimmung – die CDU verlor bis zu zehn Prozentpunkte, während die Linkspartei etwa um dieselbe Punktzahl zulegte. Für Botsch zeigen sich darin deutliche Parallelen zur Weimarer Republik: »Antikommunismus als krankhafte Angst des Bürgertums vor einem kommunistischen Umsturz hat damals die Akzeptanz der NSDAP als das vermeintlich kleinere Übel bei dem nicht nationalsozialistischen Teil des Bürgertums mit bewirkt. Heute haben wir in Deutschland nicht einmal jene starke kommunistische Kraft, die republikfeindlich ist, zur Revolution aufruft und von der Sowjetunion unterstützt wird.« (Ebd.) So fehlt auch dem pathischen Antikommunismus heute in Ermangelung nennenswerter kommunistischer Bewegungen und Parteien die Substanz. Dadurch kommt das antilinke Ressentiment umso grundloser und verzweifelter daher – vom prinzipiellen historischen Fehlschluss und Selbstbetrug einer Weltanschauung einmal abgesehen, die den Rechtsradikalismus gegenüber dem Linksradikalismus bevorzugt oder zumindest als das kleinere Übel ansieht. Dennoch wird das kommunistische Schreckgespenst aufrechterhalten und durch Verschwörungslegenden umständlich konstruiert. Was den Nationalsozialisten der »jüdische Kulturbolschewismus« war, ist der neuen radikalen Rechten der »Kulturmarxismus«. Rechtsterrorist Anders Breivik, AfD-Chefin Alice Weidel und ihr Parteikollege Björn Höcke, viele Rechtsradikale bis zum Welt-Kolumnisten »Don Alphonso« benutzen diesen Begriff, um eine »kulturmarxistische« Subversion als Ursache für vermeintliche Dekadenz und den Niedergang westlicher Gesellschaften zu behaupten. In der Regel werden (jüdische) Intellektuelle in der Tradition der Kritischen Theorie als Urheber der ›Geheimlehre des Kulturmarxismus‹ konstruiert – etwa von Alice Weidel in der Jungen Freiheit (Weidel 2018). Dass Höcke und sein Flügel mitunter die neurechte Verbrämung dieser strukturell antisemitischen Vorstellungen vergisst und stattdessen offen vom »Kulturbolschewismus« spricht, offenbart die
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historischen Wurzeln dieses Denkens: Beispielsweise schreibt die Thüringer AfDLandtagsfraktion in ihrem »Alternativen Bericht zur Enquete-Kommission ›Ursachen und Formen von Rassismus und Diskriminierungen in Thüringen sowie ihre Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die freiheitliche Demokratie‹«: »Der ›Rassismus ohne Rassen‹ ist keine Definition, sondern Marktgeschrei von Kulturbolschewisten.« (AfD-Fraktion im Thüringer Landtag 2019, 65) Diese und ähnliche Verschwörungslegenden dienen der Auslöschung der Ambivalenz des nativistischen und populistischen Anspruchsdenkens in der Modernisierung: Liberalisierung – beispielsweise in Geschlechter- und Einwanderungsfragen – und gesellschaftlicher Fortschritt werden als Verschwörung gegen die eigentlicheren Interessen ›des Volkes‹ delegitimiert, als dessen wahre Stimme sich die radikale und populistische Rechte inszeniert. Dies ist dort nötig, wo man zutiefst davon überzeugt ist, die wahre, historische und existenzielle Bedeutung ›des Volkes‹ zu vertreten, die durch demokratische Verfahren und Einwanderung zerstört werde. Der Widerspruch zwischen »Wir sind das Volk« und der tatsächlichen Ablehnung aus großen Teilen der Bevölkerung gegenüber den Bewegungen und Parteien der radikalen und populistischen Rechten verlangt nach einer Rationalisierung, für die Manipulations- und Verschwörungsbehauptungen elementar sind. Der Rechtsradikalismus changiert zwischen der Selbstverharmlosung bis hin zum Selbstbetrug als »konservativ« und reaktionären Umsturzfantasien, die sich am offensten im Neonazismus zeigen. Die Ambivalenz der Sprache zeigt sich in der verbreiteten Unsicherheit darin, Dinge bei ihrem Namen zu nennen – etwa rechten Terror. Ambivalent sind zum Beispiel die rassistisch motivierten Anschläge in München im Juni 2016 und im Februar 2020 in Hanau mit jeweils neun Todesopfern aus Familien mit Einwanderungsgeschichten: Eine eindeutige Zuordnung ohne Ambivalenzen zu jeweils nur einer Kategorie – etwa Amok oder Rechtsterrorismus – ist unmöglich, so sehr sich die Medien, Behörden und politischen Akteur*innen auch daran versuchen. Die Täter weisen jeweils deutliche Anhaltspunkte sowohl für psychologische Probleme und andere Amok-Merkmale als auch zentrale Elemente eines rechtsradikalen Weltbilds auf und haben ihre Opfer nach rassistischen Kriterien ausgesucht. Dadurch stoßen nicht nur die häufig auf Eindeutigkeit standardisierten Erfassungs- und Verwaltungsinstrumente in Sicherheitsbehörden an ihre Grenzen, sondern auch das allgemeine öffentliche Bewusstsein mit seinen tief verankerten Vorurteilen und dem Bedürfnis nach Kohärenz. In der Selbstwahrnehmung bis in die terroristische Praxis gibt sich der Rechtsradikalismus vigilantistisch: Das bedeutet systemstabilisierend trotz systemabweichender bis systemfeindlicher Aktivitäten und Implikationen. Obwohl beispielsweise Angriffe und Gewalt auf den Nationalstaat, seine Repräsentant*innen und seine Symbole (will man verteidigen und darüber die Macht übernehmen) im Allgemeinen abgelehnt werden, sieht man sich auch zu Gewalt ermächtigt – in der historischen Mission, vermeintliche Bedrohungen für die ›Volksgemeinschaft‹ abzu-
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wehren. Vorurteilsgeleitete Gewalt (Hasskriminalität) bis zum Rechtsterrorismus zielt häufig nicht primär auf einen politischen Umsturz, sondern auf die Aufrechterhaltung von Dominanzverhältnissen zwischen sozialen Gruppen – auf eine völkische Hegemonie. Unter den 208 Todesopfern rechter Gewalt, die die Amadeu Antonio Stiftung in Deutschland seit 1990 verzeichnet, findet sich mit Walter Lübcke nur ein amtierender Politiker. In aller Regel richtet sich rechte Gewalt nicht gegen Repräsentant*innen des Staates, sondern gegen Menschen aus Einwanderfamilien, vermeintlich oder tatsächlich Linke, Wohnungslose, Homosexuelle, Jüd*innen. Erst in zweiter Instanz, vor dem Eindruck, dass der Staat in die Hände der Feinde gefallen zu sein scheint, auf den man selbst Machtansprüche projiziert, greift der Rechtsradikalismus Vertreter*innen des Staates an. Den modernen Rechtsradikalismus prägt die Ambivalenz der Missachtung und Bekämpfung von Grundwerten, Normen und Gesetzen liberaler Staaten – bei gleichzeitiger Überzeugung, eigentlich das wahre, ethnisch definierte Volk und dessen Interessen vor fremden Mächten zu schützen.
Fazit Bewegungen und Parteien der radikalen und populistischen Rechte können verstanden werden als politische Entrepreneure jener Ambivalenzen, die erstens den Widersprüchlichkeiten komplexer Gesellschaften und zweitens den Ungleichzeitigkeiten rascher Veränderungen dieser Gesellschaften innewohnen. Ihr Geschäftsmodell ist dabei die Auflösung von Ambivalenzen, insofern sich ihr Milieu in identitätsstiftenden Politikfeldern – wie der Einwanderungsfrage – extrem eindeutig und widerspruchsfrei positioniert. Der Anteil der einwanderungsfeindlich und rechtsradikal orientierten Menschen in der Bevölkerung ist zwar schon immer größer, als er sich in den Wahlergebnissen ›alter‹ neonazistischer Parteien wie der NPD ausgedrückt hat. Doch er reicht nicht aus, um dem populistischen »Wir sind das Volk« und politischen Machtansprüchen gerecht zu werden. Daher nutzen Parteien wie die AfD bewusst Ambivalenzen, insbesondere in der Sprache, um ihre Marginalisierung am rechten Rand zu überwinden und Brücken zurück in die »Mitte« zu schlagen.
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. 1975. Schuld und Abwehr [1955], in: ders.: Gesammelte Schriften Band 9/2, Frankfurt a.M. 1975, S. 276f. Adorno, Theodor W./Weiß, Volker. 2019. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag [1967], Berlin.
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Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz Zu den Strategien und Choreographien des Zentrums für Politische Schönheit Rachel Mader
Den Projekten des Zentrums für politische Schönheit mangelt es nie an Deutlichkeit. In klaren und mitunter auch drastischen Worten benennen sie politische Missstände, ihre dabei meist eindeutige Einschätzung zu den Ursachen der Notstände mündet nicht selten in gezielten Angriffen auf einzelne Übeltäter*innen und Versager*innen und in Forderungen nach sofortiger Darstellung von Reue, einer Entschuldigung oder gar Wiedergutmachung. Spektakuläre Inszenierungen dienen einer maximal öffentlichkeitswirksamen Vorführung dieser als skandalös beurteilten Sachverhalte, die postulierten Lösungsvorschläge sind in jedem Fall große Gesten und umfassen machtvolle symbolische Setzungen ebenso wie breitenwirksame Aufrufe und handfeste politische Maßnahmen. Angesichts der klaren Verständlichkeit der Projekte ist es vorerst nicht ohne weiteres einsichtig, dass darin zugleich eine ganze Reihe von Ambivalenzen auftreten, dies umso mehr als sie zu der gründlich durchdachten und gezielt eingesetzten Vorgehensweise der Gruppe zu gehören scheinen. In nahezu allen Aktionen sind diverse Momente unterschiedlicher Ordnung zu verzeichnen, in denen Uneindeutigkeit, Vagheit oder Rätselhaftigkeit zum zentralen Teil der Argumentation werden, die ihrerseits auf eine explizite Aussage zielt. Die nachfolgenden Ausführungen gehen dieser paradox anmutenden Konstellation nach und fragen nach dem Einsatz der diversen Spielarten von Ambivalenz in ausgewählten Projekten, deren Funktionsweise und den damit beabsichtigten Effekten. Mit Bezug auf Chantal Mouffes Überlegungen zu Stellenwert und Rolle des Konfliktes in einer zeitgemässen Auffassung von Demokratie wird gefragt, ob die gerade auch durch die ambivalenten Manöver ausgelösten »produktiven Kon-
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Rachel Mader
frontationen«1 als Modell eines den aktuellen Bedingungen angepassten Handelns im Feld des Politisch-Ästhetischen zu bezeichnen sind.
Ästhetisch-symbolische Grenzgänge und disziplinäre Überschreitungen Die 2015 initiierte Aktion die toten kommen, die als Reaktion auf die zahlreichen ertrunkenen Flüchtlinge, welche die Abschottung der europäischen Außengrenzen zur Folge hatte, mobilisierte Ambivalenzen bereits im Titel. Zwar ist die Formulierung beschreibend und nicht wie etwa im ein Jahr später organisierten Spektakel Flüchtlinge Fressen polemisierend überspitzt. Genau aber die nüchterne Beschreibung macht die Aussage zu einer potentiellen Ungeheuerlichkeit. Die der Allgemeinheit der knappen Wendung innewohnende absurde Irritation (wie sollen Tote denn überhaupt irgendwohin kommen), gekoppelt mit der schauerlichen Vorstellung, die eine wörtliche Auslegung des Ausrufes evoziert, lassen vorerst keinen eindeutigen Schluss darauf zu, was mit diesem Statement wirklich gemeint sein könnte. Die üblicherweise im Vorfeld produzierten Kurzfilme, mit denen die meist in Deutschland stattfindenden Aktionen – klagt das ZPS doch meist die Inaktivität oder Fehlleistungen der deutschen Regierung an – einer breiten Öffentlichkeit angekündigt werden, klären diese Uneindeutigkeit, um damit aber gleich neue Mehrdeutigkeiten zu offerieren. Geklärt wird zwar, dass es tatsächlich darum gehen soll, die Toten, die unter unwürdigen Umständen an der EU-Außengrenze vergraben werden, nach Deutschland zu holen und ihnen und ihren Verwandten nachträglich eine gebührende Verabschiedung zu ermöglichen. Die Aufbereitung des Videos operiert aber mit einer von der Gruppe häufig eingesetzten Argumentationsweise, die schockierende Bilder, direkte Anklagen und pathetische Aufrufe mit in der Werbung üblichen Erzählstrategien und Sprachstilen verbindet, die üblicherweise politische Aussagen zu kommensurablen Produkten zu machen verstehen (https://pol iticalbeauty.de/toten.html). Ähnlich dem Wahlvideo einer Partei erzählt der kurze Film zur Ankündigung der Aktion Die Toten kommen nicht nur von den unerträglichen Zuständen im Süden Europas und vom zynischen Formalismus, den die anderen europäischen Staaten als Entschuldigung für ihre Untätigkeit vorbringen.
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Diese Wendung hat die Künstlerin Marina Belobrovaja in Zusammenhang mit ihren Untersuchungen von künstlerischen Praktiken aufgeworfen, die hinsichtlich der expliziten Sprache, dem künstlerisch-politischen Selbstverständnis und den drastischen Inszenierungen zahlreiche Parallelen mit denjenigen des Zentrums für Politische Schönheit aufweisen. Es sind dies das 2010 in Zürich als Reaktion auf die rechtspopulistische ›Ausschaffungs-Initiative‹ gegründete Kollektiv Neue Dringlichkeit (https://nd-blog.org/), sowie die aus Russland stammenden Kollektive Pussy Riot, Woina und der Künstler Pjotr Pawlenski. Vgl. dazu die Gesprächsaufzeichnungen von Marina Belobrovaja (Belobrovaja 2019).
Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz
Mit einem fast hoffnungsvoll anmutenden Engagement werden die geplanten Aktivitäten angekündigt: die Toten sollen ausgegraben, nach Deutschland überführt und dort mit Rücksicht auf ihre religiöse Herkunft beerdigt werden; ein groß angelegter Marsch der Entschlossenen versammelt als Auftakt dazu möglichst viele Menschen, die in einem Spaziergang vor das Kanzleramt und der vorerst dort geplanten Aufstellung zahlreicher Grabkreuze ihre Empörung über die Passivität der Regierung öffentlich machen. Die Verbindung von Voten zur politischen Aufklärung mit einer der kommerziellen Kommunikation entlehnten Argumentationsweise hat Parallelen zum Vorgehen der ›subversiven Affirmation‹, wie sie jüngst von zahlreichen politisch agierenden Kunstschaffenden als effektive Methode hinsichtlich einer »Bewusstseinseinwirkung mittels künstlerischer Strategien«2 eingesetzt wird.3 Die ›Werbefilme‹ dienen nicht nur der leicht verständlichen und daher pfiffig aufgearbeiteten Vermittlung der düsteren und komplizierten Themen, sie werden auch zur Gewinnung finanzieller Mittel über Crowdfunding eingesetzt und enden daher häufig mit dem ganz konkreten Hinweis darauf, Gelder zu spenden. So erweist sich der vorerst irritierend leichtfüssige und erzählerisch ambivalente Sprachduktus als kalkuliertes Vorgehen zur Ansprache möglichst weiter und diverser Kreise. Der Marsch der Entschlossenen hantierte in ähnlicher Weise mit der Umdeutung populärer Formate bei gleichzeitiger Zuspitzung der politischen Schlagkraft durch die Überschreitung der Konventionen. Am 21. Juni 2015 zogen je nach Schätzung zwischen 5000 und 10’000 Personen in Berlin von der Ecke Charlottenstrasse/Unter den Linden vor das Kanzleramt. Einige von ihnen trugen einfache Nachbildungen von Särgen oder Kreuzen, auffallend viele waren schwarz gekleidet. Vor dem Kanzleramt sollte, so der Plan, eine Gedenkstätte für die »Opfer der Europäischen Abriegelung« (https://politicalbeaut y.de/toten.html) errichtet werden. Der Marsch war offiziell genehmigt, wenn auch mit zahlreichen Auflagen versehen. Die schliesslich auf der Wiese vor dem Kanzleramt angedeuteten Gräber waren nicht bewilligt, wurden in den Medien jedoch prominent und zusammen mit diversen Bildern zum Einsatz der Sicherheitskräfte auch auf der Projektseite des Zentrums als Dokument für den »improvisierten Friedhof für den unbekannten Einwanderer« gezeigt. Der von den Verantwortlichen konsequent als ›Marsch‹ bezeichnete Projektteil oszillierte zwischen Trauerzug und Demonstration, verband unauflöslich das ersterem innewohnende Geden-
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Christopher Kriese von der Künstler*innengruppe Neue Dringlichkeit im Gespräch mit Marina Belobrovaja, Belobrovaja 2019. Die Strategie der subversiven Affirmation ist allerdings kein Produkt der jüngsten Vergangenheit, sondern wird als künstlerisches Verfahren v.a. in politisch engagierten Praktiken bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert eingesetzt. Vgl. dazu u.a. Krieger 2014.
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Abb. 1: Zentrum für Politische Schönheit: Marsch der Entschlossenen, 2015.
ken (markiert durch mitgetragene Kreuze und Särge) mit dem letzterem eigenen Anspruch an eine breitenwirksame Äußerung politischer Aussagen. Gerade die Verbindung des sozialen Ritus der Trauer mit der offensiven politischen Geste des Demonstrierens rief eine ganze Reihe von Kritiker*innen auf den Plan, die darin eine Instrumentalisierung der toten Körper zu Gunsten eines Spektakels sahen. In ihrem Artikel From Aggressive Humanism to Improper Mourning: Burying the Victims of Europe’s Border Regime in Berlin analysieren die Autor*innen Alice von Bieberstein und Erdem Evren diesen Gestus und beurteilen die darin vorgenommene Überschreitung allerdings positiv als ein mehrschichtiges Argumentieren: Die Toten kommen bediene sich nicht nur der Logik der Repräsentation, wie etwa in der deutlichen Anklage der Tatenlosigkeit der politischen Eliten (Von Bieberstein/Erdem 2016). Auch ziele das ZPS mit dieser Inszenierung auf die Freisetzung von Imaginationen, was etwa in der Aufstellung der Kreuze manifest wird, aber auch in der dicht choreographierten Beerdigung einer aus Syrien geflüchteten und auf der Überfahrt im Mittelmeer ertrunkenen Frau und ihrer zweijährigen Tochter oder der Behauptung einer geplanten Gedenkstätte mit dem Titel Den unbekannten Einwanderern vor dem Kanzleramt in Berlin.4 Während letzteres als
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Im Video zur Aktion wird die Gedenkstätte im Format eines Architekturmodells gleichsam ans Ende der Präsentation des Projektes gestellt, was den Eindruck erwecken soll, dass die Aktion darin ihren Abschluss finden wird. (https://politicalbeauty.de/toten.html, Zugriff: 28.3.2020).
Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz
rein imaginatives Argument für eine wünschenswerte und für notwendig erachtete Erinnerungspolitik postuliert wurde, wurde die Beerdigung tatsächlich und gemäß den religiösen Gepflogenheiten der verstorbenen Frau im muslimischen Teil des dafür vorgesehenen Bereiches des Friedhofes in Berlin Gatow durchgeführt. Der Akt der Verabschiedung wurde von einem ungewöhnlichen und dabei geschickt arrangierten Setting begleitet, bei dem sowohl politische Vertreter*innen zur Verantwortung gezogen werden sollten, wie auch eine maximale mediale Verwertung in die Choreographie des Anlasses miteinbezogen worden war.
Abb. 2: Zentrum für Politische Schönheit: 1. Beerdigung europäischer Mauertoter in der deutschen Hauptstadt, 2015.
In fünf Meter Abstand und eingegrenzt durch rote Kordeln sind vier Reihen von auf der Rückseite mit Namen beschrifteten Stühlen aufgestellt. Ihr Leerbleiben wird auf den zur Beerdigung kursierenden Fotos meist gut sichtbar gezeigt, mitunter finden sich auch Nahaufnahmen der namentlich markierten Stuhllehnen, die klären, dass die Sitzplätze für politische Amtsträger, allen voran Angela Merkel, vorgesehen gewesen sind. Durch die genau auf der anderen Seite der Grabstätte platzierten Medienvertreter*innen sind so auf den Bildern der Beerdigung meist auch die leeren Stühle zu sehen.5
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In der Berichterstattung über die Aktion dominiert allerdings die Szenerie mit dem teilweise aufgerissenen und mit Holzkreuzen versehenen Rasen vor dem Kanzleramt, dies auch darum, weil diese Aktion nicht bewilligt war, von den Verantwortlichen des ZPS gegenüber den Mitmarschierenden aber nur sehr halbherzig wieder zurückgezogen wurde. Die gesamte Be-
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Die Aktion wurde von der Presse als eine der bis dahin spektakulärsten bezeichnet, löste wie üblich Kontroversen aus, wurde aber gerade auch wegen der außerordentlichen und präzisen Inszenierung euphorisch gelobt. Im Gegensatz zu der ein Jahr später im Rahmen der Aktion Flüchtlinge Fressen im Zentrum Berlins aufgestellten Arena, in der Geflüchtete sich freiwillig in der Arena befindenden Tigern zum Fraße vorwerfen sollten, war die Beerdigung nicht als Provokation oder auf zynische Zuspitzung hin angelegt. Auch zielte das Projekt nicht auf eine persönlich adressierte und in ihrer Eindeutigkeit einfach lesbare Brüskierung, wie es beim Nachbau des Holocaust-Mahnmals auf dem Nachbargrundstück des privaten Wohnhauses des AfD-Politikers Björn Höcke in Bornhagen der Fall war (Vgl. https://politicalbeauty.de/mahnmal.html). Alle Bestandteile der Aktion Die Toten kommen operieren dagegen mit einer fein abgestimmten Kombination aus politischer Empörung, deren Äußerung im Rahmen effektvoller und dadurch breitenwirksamer Formate und Rituale emphatischer Anteilnahme zu Ehren der Opfer der angeklagten Missstände. Trotz theatraler Inszenierungen beharrten die Sprecher*innen des ZPS nicht nur in diesem Fall darauf, dass es sich hierbei nicht um Theater handle,6 sondern um Realität. Sie betonten damit in gleicher Weise ihre Absicht, mit ihren Aktionen reale individuelle Erfahrungen zu evozieren, wie sie damit das Potential affektiver Ansprache in der Politik zu mobilisieren trachteten. Genau dieses Zusammenspiel unterschiedlicher emotionaler Resonanzräume steht im Zentrum der ›affect studies‹, zu deren Vertreter*innen auch die britische Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed gehört. Emotionen, so ihre These, sind performativ, stellen den sozialen, auch von kulturellen Hierarchien durchsetzten Raum her und sind daher wichtiger Ort vielfältiger Positionierungskämpfe im Austausch zwischen dem Individuellen und dem Gemeinschaftlichen. Weit ausgeprägter als andere künstlerische Polit-Aktivist*innen, die wie etwa das russische Kollektiv Pussy Riot ähnlich dezidiert um möglichst breite Aufmerksamkeit ringen, verbindet das ZPS in vielen seiner Aktionen die politischen Themen explizit mit grenzwertigen symbolisch-ästhetischen Inszenierungen, die weniger Informationen, als vielmehr Gefühlslagen zuspitzen. Das geschieht durch den gezielten Einsatz all derjenigen Koordinaten, die angesichts der adressierten Problematik für maximale Deutlichkeit zu sorgen vermögen. Die Überschreitung feldspezifischer Logiken (u.a. in Kunst oder Politik, aber auch im Aktivismus oder in der Kommunikation) verunmöglicht dabei eine schnelle Einordnung der Projekte und aktiviert
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richterstattung zur Aktion ist auf der Projektwebsite aufgeführt. (https://politicalbeauty.de/t oten.html, Zugriff: 28.3.2020). Beispielhaft wird etwa im Artikel im Spiegel ein entsprechendes Zitat unter das Foto der offensichtlich eigenartigen Aufstellung der Stuhlreihen gesetzt, die Bildunterschrift lautet: »Installation bei Bestattung in Berlin: ›Das hier ist kein Theater, das hier ist die Realität.‹« (Nieberding 2015).
Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz
so eine produktive Verunsicherung, die sich Mal um Mal in den ausgelösten Kontroversen niederschlägt.
Kommunikative Verwirrspiele Verlässlicher Bestandteil dieser geplanten Irritationen sind diverse professionell gestaltete Kommunikationsoffensiven, die erneut strategisch geschickt die Grenzen der Gepflogenheiten überschreiten. Das zeigt sich sowohl in den zahlreichen, bereits erwähnten Kurzvideos, mit denen die Aktionen häufig angekündigt werden, und in denen eine politische Angriffslust mit wohlmeinender Aufklärung gepaart wird; es manifestiert sich auch in professionell verpackten Täuschungsmanövern, mit denen die Projekte gegenüber der Presse, aber auch den Involvierten etwa als Wohltätigkeitsveranstaltungen vorgestellt werden; es findet sich im Umgang mit den Medien, sei es bei Interviews oder der Einbindung der meist zahlreichen Rezensionen auf der Website des ZPS; und auch ihre Auftritte und ihr Sprachduktus setzen darauf, dass sowohl Stil als auch Aussage trotz ihrer Deutlichkeit erstmal verwirren oder gar abstoßen. Dabei hat das Zentrum nicht nur inhaltlich eine eigenwillige Mischung aus expliziter Anklage, pathetischer Verteidigung von humanistischen Grundwerten und enthusiastischen Plädoyers für einfach machbare Lösungen entwickelt. Ebenso auffällig ist der diskursive Apparat, mit dem das Zentrum sich selbst, seine Absichten und das Personal fasst. Häufiger Modus ist die Zusammenstellung üblicherweise inkompatibler Begriffe zu Wendungen wie »aggressiver Humanismus«, mit dem die Gruppe ihre Grundhaltung beschreibt und der sich auch in genaueren Erläuterungen wie »Widerstand ist eine Kunst, die weh tun, reizen und verstören muss« wiederfindet (https://politicalbeauty.de/index.ht ml). Die Entschiedenheit der Überzeugung wird gepaart mit einem Angriffswillen, der angesichts der Umstände, die als stets von neuem aufflammende gesellschaftliche Notstände bezeichnet werden, als notwendig erachtet wird. Diese kämpferische Haltung wiederspiegelt sich verschärft in den Bezeichnungen der von den Künstler*innen eingenommen Rollen, die durchwegs dem politischen und militärischen Jargon entnommen sind: Die Gruppe wird als Sturmtrupp bezeichnet, Philipp Ruch ist Chefunterhändler, es gibt einen Eskalationsbeauftragten, einen Geheimrat, einen Planungsstab und auch sogenannte Delta Forces, womit diejenigen Spezialeinheiten der US-Armee gemeint sind, die für Terrorismusbekämpfung und Geiselbefreiung zuständig sind. Dass die Mitglieder des ZPS sämtliche ihrer öffentlichen Auftritte mit schwarzen Schmieren im Gesicht absolvieren, ist als Geste demselben Geist verpflichtet: Markiert als urbane Krieger*innen, werfen sie sich in den Kampf um eine bessere Welt. Von dieser Überzeugung sprechen auch die biographischen Angaben einzelner Mitstreiter*innen. Die Biographie von Geheimrat André Leipold etwa verzeichnet weniger seine bisherigen Stationen als
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seine zukünftigen Positionen, darunter die Übernahme der ›Leitung des Bundessicherheitsrates‹ ab Ende 2030. Aber auch grotesker anmutende Angaben wie die »Ausladung der US-Präsidentin vom nunmehr jährlich stattfindenden Ball der Politischen Schönheit« für denselben Zeitraum sind dort aufgeführt. Die Chefin des Planungsstabes, Cesy Leonard, wird wiederum zitiert mit der Aussage: »In den Zeiten, in denen wir leben, muss sich jeder selbst überlegen, ob er es sich leisten kann, unpolitisch zu sein.« (https://politicalbeauty.de/Kontakt.html) Die Paarung von moralischer Ernsthaftigkeit mit ironisch überzeichneten Behauptungen, die nicht immer sofort als solche zu erkennen sind, schafft eine neue Position der Kritik. Diese will nicht nur anklagen oder gar scharf verurteilen, ebenso ist es ihr darum zu tun, im ›Möglichkeitsraum‹ der Kunst auch über die abwegigsten Perspektiven ernsthaft nachzudenken. Solcherart ernsthafte Spiele bilden gar die Grundstruktur einzelner Projekte, für die das Zentrum angesichts der Echtheit der Täuschungsmanöver immer wieder den Vorwurf verantwortungsloser Irreführung zu hören bekommt. Dies etwa in Bezug auf das Projekt 75 Jahre Weisse Rose, mit dem 2017 der Mitglieder der gleichnamigen Widerstandsgruppe im 2. Weltkrieg gedacht werden sollte. Scheinbar im Namen der Bayerischen Staatsregierung rief das ZPS unter dem Titel Scholl 2017 – Von der Vergangenheit lernen einen Schülerwettbewerb aus und forderte die Schüler*innen auf, gleich der Weißen Rose Flugblätter gegen Diktaturen zu entwerfen, die dann mithilfe des Zentrums in den jeweiligen Ländern verteilt werden sollen. Wie immer war die Aktion groß angelegt, umfassend komponiert und höchst professionell kommuniziert, so dass selbst diejenigen, die unterdessen die Handschrift des Zentrums zu kennen meinten, auf die Täuschung hereinfallen konnten. Das Video, mit welchem die Aktion angekündigt und die Schüler*innen zur Teilnahme am Wettbewerb eingeladen wurden, war wie üblich leichtfüßig und ansprechend gestaltet. In wenigen Sätzen wurden der Hintergrund für das Jubiläumsjahr geschildert und das Vorhaben – der ausgeschriebene Wettbewerb – vorgestellt. Als staatlicher Legitimationsdiskurs verpackt, faktisch aber eine subversive Aneignung des ZPS, spricht die vermeintliche Staatssekretärin Franziska Eisenreich über die Aktion und lobt das Vorhaben, mit dem die Jugend in Berührung mit den »Großtaten des Widerstands«, wie es sie vor 75 Jahren gegeben hat, gebracht werden soll. Ihr Auftritt ist souverän, die Abweichungen von der üblichen Szenerie treten erst nach und nach hervor. Der gegen Ende geäußerte Aufruf »Registriere Dich jetzt für ein Widerstandsspektakel nach historischer Vorlage« ist zwar eine ernsthafte Einladung, der schließlich auch zahlreiche Schüler*innen gefolgt sind. Zugleich aber deutet der Begriff ›Spektakel‹ eine theatrale Inszenierung an, die dadurch von üblichen politischen Manifestationen abweicht. Kann dieser Hinweis als leicht ironische Färbung bezeichnet werden, so ist die Formulierung, mit der die Staatssekretärin die Bedingungen der Teilnahme beschreibt, in aller Deutlichkeit zynisch: »Wenn Du einen Diktaturhintergrund hast oder Deine Fa-
Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz
milie Opfer einer Diktatur geworden ist, werden wir Deine Bewerbung bevorzugt behandeln.« Das am unteren Bildschirmrand angebrachte Logo, mit dem Franziska Eisenreich während ihrer Ansprache als Behördenvertreterin gekennzeichnet wird, ist wohl ausschliesslich für diejenigen Personen offensichtlich falsch, die sich mit der Benennung von Ministerien in Bayern auskennen: so ist die Existenz eines ›Staatssekretariats für Bildung, Kultur und Demokratie‹ an sich durchaus denkbar, faktisch heißt das für Bildung zuständige Amt aber ›Staatssekretariat für Unterricht und Kultus‹ (https://politicalbeauty.de/scholl.html). Diese nicht ganz einfach als Scherz einzustufenden Sequenzen werden flankiert von Hinweisen auf den Ablauf der Aktion, die von einer gründlich durchdachten Vorbereitung zeugen – so wurden etwa eigens Unterrichts- und Lehrmaterialien produziert und in den Klassen verteilt –, und Hinweise auf die Etappen der Durchführung der Aktion klären, dass es sich um ein effektiv stattfindendes Ereignis handelt. Das Preisgeld von 5000 Euro für den Gewinnertext würde, so die Ankündigung, von der Jury am 29. Juni 2017 in den Münchner Kammerspielen vergeben. Diese schließlich durchgeführte Veranstaltung war keine Preisverleihung im engeren Sinn, eher eine Aufklärungsaktion für die teilnehmenden Schüler*innen und ihre Eltern, der es nicht an ernsthaftem Engagement mangelte. Ernst gemacht wurde auch mit dem Plan, ein ausgewähltes Flugblatt in einem diktatorischen Staat zu verbreiten: Von einem Drucker am Fenster eines Hotelzimmers beim Gezi Park in Istanbul wurden Flugblätter verstreut, auf denen Erdogan beschuldigt wurde, aus der Türkei einen totalitären Staat gemacht zu haben. Der türkische Staat reagierte mit Aufregung und Ermittlungen, und die internationale Presse war wie üblich geteilter Meinung. Kritisiert werden jeweils die zu spektakulären Inszenierungen; angezweifelt wird die Integrität der Beweggründe; nicht selten wird eine Instrumentalisierung der sogenannt ›Betroffenen‹ behauptet und die Rolle des Zentrums insgesamt als zwielichtig eingestuft. Die Künstlergruppe sei – so der gängige Vorwurf – lediglich an der Förderung ihres künstlerischen Prestiges interessiert. Dagegen loben die wohlwollenden Kritiken Lautstärke, Sprengkraft und Deutlichkeit der Aktionen und werfen ihren skeptischen Berufskollegen vor, mit Schimpfworten und Hetztiraden lediglich die eigene Inkompetenz bloßzulegen. Derart gehässige oder zumindest kontroverse Debatten begleiten die Rezeption engagierter Kunst nahezu immer. Die Kunsthistorikerin Claire Bishop bezeichnet dieses Phänomen als einen in der Kunst auf den »social turn« folgenden »ethical turn« (Bishop 2006). Weil man nicht über adäquate Kriterien verfüge, so Bishop, würde jeder »hint of potential exploitation« zum alles entscheidenden Qualitätsmerkmal erhoben. Die Aufbereitung von Pressezitaten durch das Zentrum selbst macht allerdings den Anschein, als ob es ihm auch um die Vorführung eben dieses »ethical turn« zu tun ist. Diese Vermutung bestätigt Philipp Ruch in einem Interview: »Jeder Besucher, jeder Facebook-Freund, jeder Journalist wird Teil der Inszenierung.« Die in den künstlerischen Projekten aufgeworfenen ethischen Di-
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lemmas werden in der Rezeption nicht nur weitergetragen und verstärkt. Sie vervollständigt überdies die Arbeiten, indem das ZPS die den Meinungsführer*innen abgerungenen verdichteten und zugespitzten Stellungnahmen zur Schau stellt: Ergänzend zu den für jedes Projekt zusammengestellten Zitaten, die auf den entsprechenden Unterseiten unter namentlicher Nennung des/der jeweiligen Journalist*in sowie des Mediums prominent in die Präsentation eingebaut sind, kommen Äußerungen etwa von Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen, die sich je nach Gesinnung dezidiert für oder gegen die Aktionen aussprechen. Richard Quaas von der CSU wird im Zusammenhang mit 75 Jahre Weisse Rose etwa mit dem Ausspruch zitiert: »Ich finde das katastrophal. Das ist kein verantwortungsvoller Umgang mit Jugendlichen!«, während die Aussage von Professor Wolfgang Benz, Träger des Geschwister-Scholl-Preises nebenan gestellt wird: »Flugblätter verunsichern Diktaturen und sind heute noch notwendig. So verstehe ich diese Aktion.« (https:// politicalbeauty.de/scholl.html.)7 Diese Einbindung von Kommentaren Dritter für die Argumentation in eigener Sache nutzt der promovierte Philosoph Ruch auch in zahlreichen Auftritten, in denen er sich als eloquenter und gründlich informierter Gesprächspartner zeigt. Sein Auftritt in der ZDF-Kultursendung aspekte anlässlich der Aktion zum Gedenken an den Widerstand der Geschwister Scholl bildet ein Paradestück dieser souveränen und gerade dadurch auch latent überheblich wirkenden Vorstellungen. Nach einer schnippisch zugespitzten Einführung, in der Ruch als »Klassenbester« in der Kategorie der generell als »Nervensägen« geltenden Aktionskünstler bezeichnet wird, wirft der Moderator die Frage auf, wann denn eine Initiative als Erfolg bezeichnet werden könne. »Nur dann, wenn wir das Ziel erreichen«, antwortet Ruch und konstatiert nüchtern: »Von dem her gesehen sind wir total gescheitert«. Dies allerdings nur, um daran anschließend auf der unbedingten Ernsthaftigkeit der Absichten zu beharren: »Es geht nicht um die Provokation bei uns, es geht um Widerstand. Flugblätter sind Unterschall-Explosionen in totalitären Staaten.« (ZDF aspekte 2016). Gemeint sind die bereits erwähnten, in Istanbul verstreuten, Flugblätter. In vergleichbarer Weise pariert Ruch weitere, gleichsam als Fallen ausgelegte Fragen des Journalisten: Auf den Einwand, dass Erdogan zu beleidigen doch ein Volkssport sei, und wo denn das innovative Potential der Aktion liege, kontert Ruch, dass es dem ZPS nicht um das Beleidigen zu tun sei. Ziel sei der Sturz von Erdogan. Den Vorwurf, dass in der Aktion junge Menschen manipuliert würden, entkräftet Ruch mit der Bestätigung just dieser Absicht. Sie würden diese Jugendlichen »wegmanipulieren« wollen »von dieser Lethargie, von diesem schulterzuckenden Politikverständnis, von diesen Politikverwaltern […]. Das sind Dinge, die extrem wichtig sind für junge Menschen.« Der Journalist hakt nach mit der Frage, ob denn der Zweck die Mittel heilige, worauf Ruch meint: »Auf jeden Fall. Wir sind nicht für einen Humanismus, der sich nur zurücklehnt und die Bücher 7
Derartige Kompositionen von Zitaten finden sich bei allen Projekten des ZPS.
Eindeutige Statements und Spielarten der Ambivalenz
liest, […] wir sind für einen Humanismus, den man auch hartnäckig nennen könnte. Wir gehen nicht einfach weg, wir bleiben in der Regel stehen.« (ZDF aspekte 2016). In der aufgeregten Aufmerksamkeit, mit der die Kritik den Aktionen folgt, übernimmt sie nicht nur die vom Zentrum für sie vorgesehene Rolle. Sie bestätigt die von der Künstlergruppe vorgebrachte Behauptung, dass ihr Tun tatsächlich öffentliches Interesse an sozialen und politischen Missständen wecke, dass Kunst also gesellschaftlich relevant sein könne. Dieser Anspruch ist, das zeigen Eleonora Belfiore und Oliver Bennett in ihrer Studie The social impact of the arts, nicht nur so alt wie die Kunst selbst (Belfiore, Bennett 2010). Er ist auch Anlass anhaltend überhöhter Zuschreibungen, die in den Aushandlungsprozessen stets neue Formen annehmen und die auch im Fall des Zentrums für Politische Schönheit von beiden Seiten – der künstlerischen und der kritischen – genährt werden.
Moralische Gratwanderungen Dass es sich dabei aber keineswegs um ein planbares Spiel handelt, zeigte sich bei einer der jüngsten Aktionen, anlässlich derer die Verantwortlichen des ZPS sich nachträglich zu einer öffentlichen Entschuldigung verpflichtet fühlten. Sucht nach uns – so der Titel der im Dezember 2019 lancierten Intervention – wollte angesichts des anwachsenden rechtsgerichteten Gedankengutes in Deutschland mit der Aufstellung einer Gedenksäule für die Opfer des Nationalsozialismus vor diesen jüngsten politischen Entwicklungen warnen (Vgl. https://politicalbeauty.de/su cht-nach-uns.html). Wie üblich wurde diese symbolische Geste gerahmt von einer gründlichen Vorbereitung, etwa hinsichtlich der historischen Verortung des Anliegens. Und auch Auftritt und Formate der Szenerie, so beispielsweise die Wahl des Ortes, wo die Säule zu stehen kommen sollte, waren gut überlegt und auf eine maximal präzise Konfrontation mit den Adressat*innen – hier erneut vor allem die politischen Verantwortlichen – abgestimmt. Die Gedenksäule selbst wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einbetoniert und ist einfach gestaltet:8 im oberen Drittel eines soliden schwarzen runden Pfeilers ist ein breiter goldener Streifen eingelassen, der – dies suggerieren zumindest die Fotos – wie Lava zu schimmern oder gar zu brennen scheint. Wird damit visuell auf die Ermordung und Verbrennung zahlreicher Menschen durch die Nationalsozialisten während des 2. Weltkriegs verwiesen, befindet sich in der Säule selbst tatsächlich Asche von diesen
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Nicht ohne Stolz berichtet das ZPS, wie es nahezu unter den Augen der Polizei eine massive Stahlbeton-Konstruktion errichtet hat, deren Sicherheitsstandards für die nächsten 30 Jahre garantiert seien (https://politicalbeauty.de/sucht-nach-uns.html, Zugriff: 28.03.2020).
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Opfern, die Mitstreiter*innen des Zentrums für politische Schönheit in Auschwitz aufgefunden haben. Ihre Absicht war es, der Opfer dort zu gedenken, wo die Politik eigentlich dafür zu sorgen hätte, dass die aktuellen rechtsgerichteten Bewegungen zum Stoppen gebracht würden. Flankiert wurde der Pfeiler mit installativen Elementen, ein Gerüst trug ein Banner mit den Worten »Gedenken heißt Kämpfen«, zu dessen Grund zeugten Blumen und Kerzen von einer praktizierten Anteilnahme.
Abb. 3: Zentrum für Politische Schönheit: Sucht nach uns, 2019.
Auf einem weiteren Banner wurde die politische Anklage schließlich deutlich formuliert: »Warnung vor den Menschen. Die schweigende Mehrheit von 60 Millionen Deutschen würde sich gegen eine AfD-Diktatur nicht wehren.« Und etwas abgesetzt davon: »Kein Friede mit dem Faschismus.« Auf der Säule wiederum prangt ein Spruch aus der griechischen Antike, mit dem an die Verpflichtung erinnert wird, die Demokratie mit allen nur erdenklichen Mitteln zu verteidigen: »Ich schwöre Tod durch Wort und Tat, Wahl und eigene Hand – wenn ich kann – jedem der die Demokratie zerstört«, eine Aussage, die – so das ZPS – in Artikel 20, Absatz 4 des deutschen Grundgesetzes aufgegriffen und mit der Legitimation zum Widerstand verbunden werde. So steht dort: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutsche das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Sind auch in diesem Fall Vorgehen und Argumentationsweise schnell als typische Handschrift des Zentrums erkennbar, so hat es im vorliegenden Fall trotz gründlicher Recherche und wohlmeinender Absichten unsensibel agiert und sich
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daher erstmals zu einer öffentlichen Entschuldigung verpflichtet gesehen: Obwohl es ihnen darum ging, die im Umfeld des Konzentrationslagers Auschwitz vorgefundene Asche, welche von dort achtlos verscharrten Ermordeten stammt, gedenkend ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit zu holen, verstießen sie damit gegen die religiösen und ethischen Gefühle der jüdischen Bevölkerung, wurde doch dadurch die nach jüdischem Recht gebotene ewige Totenruhe gestört. Die jüdische Gemeinde teilte die Kritik zwar nicht einhellig, die Verantwortlichen des ZPS waren vom Vorwurf aber auch darum besonders betroffen, weil dieser die Legitimation ihres Ansinnens fundamental in Frage stellte. Die Präsentation der Asche wurde von den Betroffenen nicht als Gedenken mit politischem Anspruch gelesen, sondern als pietätlos und verletzend. Die Uneinigkeit der jüdischen Kreise sowie die Überzeugung der inhaltlichen Dringlichkeit des Anliegens haben schließlich dazu geführt, dass das ZPS die Arbeit zwar nicht vollständig entfernt, jedoch modifiziert hat. Die in der Säule aufbewahrte Asche wurde der orthodoxen Rabbinerkonferenz übergeben, der gelb leuchtende Abschnitt, »das Kernstück der Säule« wurde schwarz abgedeckt, um »dem Eindruck der ›Zurschaustellung‹ zu begegnen« und auch die Crowdfunding-Seite wurde abgeschaltet. Diese Maßnahmen verkündeten die Verantwortlichen in einer öffentlichen Stellungnahme, in der sie nebst der Entschuldigung und dem Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben, auf der Wichtigkeit ihres »eigentlichen Anliegens« insistierten: auf der Verantwortung, das Erinnern in der Gegenwart als Mahnung zu pflegen (https://politicalbeauty.de /sucht-nach-uns.html). Erstmalig sprach sich genau diejenige Gruppe gegen eine Aktion des ZPS aus, die sie damit unterstützen und in politisch deutlicher Weise stärken wollte. Die sehr bald darauf erfolgte öffentliche Entschuldigung sowie die vorgenommenen Anpassungen sind daher ebenso wenig erstaunlich wie das Insistieren des Zentrums auf der prinzipiellen Dringlichkeit ihrer Intervention. Die Kombination von üblicherweise durch eine solide Faktenbasis abgesicherten inhaltlichen Überzeugungen, sturer Beharrlichkeit und moralischen Gratwanderungen ist Kennzeichen der meist präzise choreographierten Aktionen. Ihr Einsatz von moralisch heiklen Manövern, bei denen sie sich gekonnt ethischer Dilemmata bedienen, dient dabei der Aktivierung vielfältiger Debatten und provoziert mitunter auch handfeste Entscheidungen. Ein solches Dilemma entsteht, wenn sich zwei gebotene Handlungen widersprechen oder ausschließen und es auch nicht möglich ist, diese beiden Handlungen zugleich zu tun. Gerade das allerdings, was sozial und kulturell als ›geboten‹ gilt, hebelt das ZPS mit Rekurs auf das von ihnen verfochtene Verständnis von »moralischer Schönheit« aus (https://politicalbeauty.de/ueber-das-ZPS.ht ml). Was gesellschaftlich legitimiert und juristisch abgesichert ist, kollidiert mit dem absolut gesetzten Humanismus, dem das Zentrum all sein Tun unterordnet. Das ethische Dilemma entsteht so an der Schnittstelle von einem erst postulierten hehren Wertekanon und einer gesellschaftlich praktizierten Ethik, auf die sich Po-
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litik und Gesellschaft zu beziehen geeinigt haben. Dass es dabei nicht einfach ist, eine korrekte oder auch nur adäquate Haltung einzunehmen, legen die regelmäßig auf die Aktionen folgenden, medial ausgetragenen Kontroversen offen. So wird den Verantwortlichen immer wieder – etwa auch in Bezug auf die Aktion Die Toten kommen – ein scheinheiliger Moralismus vorgeworfen, den sie auf dem Rücken der Betroffenen vorführen würden.9 Und in anderen Fällen wird ihnen Irreführung und Instrumentalisierung gutgläubiger Bürger*innen unterstellt, so bezogen auf die 2014 durchgeführte Initiative Die Kindertransporthilfe des Bundes. Sie reagierte auf die unterlassene Rettung von dem Krieg in Syrien schutzlos ausgelieferten Kindern. Das Zentrum gab vor, dass die Bundesregierung deutsche Pflegefamilien suche, die bereit sind, ein syrisches Kind aufzunehmen. Dabei nahm es Bezug auf die zu Beginn des 2. Weltkrieges von Großbritannien durchgeführte Rettung von 10’000 deutsch-jüdischen Kindern. Die Aktion wurde mit einem professionell gestalteten Werbeprospekt und einer ebensolchen Website medienwirksam und täuschend echt der Öffentlichkeit vorgestellt, wobei das ZPS darauf beharrte, dass es sich nicht um eine Täuschung, sondern um »ein fertiges Konzept zur Rettung von 55’000 syrischen Kindern« handele (https://www.politicalbe auty.de/kindertransporte.html). Bereits in den ersten Tagen nach der Lancierung des Flyers meldeten rund tausend Menschen ihr Interesse an der Teilnahme am Programm an. Die verkaufsorientierte Werbesprache rahmt atmosphärisch die humanistischen Postulate, das Anklagen falscher Werte und die vorgeschlagenen und einfach erscheinenden Maßnahmen. Um Satire ging es dabei nicht. Darin besteht der Unterschied zu Aktionen, wie sie etwa der Schweizer Künstler Andreas Heusser mit seinen Auftritten als Dr. Alois Stocher praktizierte: 2011 rief er auf dem Berner Bundesplatz medienwirksam die von ihm initiierte Organisation zur Lösung der Ausländerfrage (OLAF) ins Leben, gedacht als Entgegnung auf die fremdenfeindlichen Initiativen rechtsbürgerlicher Kreise. Begleitet von einer nationalen Kampagne im Stil der üblichen politischen Kommunikation, stieß die Aktion in Politik und Medien auf breite Resonanz. Die Satire wurde jedoch nicht von allen als solche entlarvt, was dem Künstler den Vorwurf eintrug, mit seiner Aktion lediglich das von ihm Kritisierte zu duplizieren (https:// www.andreasheusser.com/artist/public-interventions/). Die vom Zentrum für Politische Schönheit vorgeschlagenen Handlungsoptionen sind dagegen von ernsthaftem Humanismus getragen und erscheinen durchaus erreichbar. Die in eine geschmeidige Hülle verpackten drastischen Inhalte operieren auf Basis des Glaubens an die
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So wird auf der Projektwebsite etwa folgendes Zitat von Christian Jakob, Journalist der taz, aufgeführt: »Wer sich Kampagnen wie Flüchtlinge Fressen ausdenkt, der hat sich von der Verrohung der Flüchtlingspolitik anstecken lassen!« und Sonja Zekri, die für die Süddeutsche Zeitung schreibt, fasst ihr Urteil in die knappe Wendung »Politische Pornographie!« (Vgl. htt ps://politicalbeauty.de/toten.html, Zugriff: 28.03.2020).
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Abb. 4: Andreas Heusser: Olaf .
Effektivität dieses Sprachduktus und stehen zugleich in maximalem Kontrast zu den diagnostizierten gesellschaftlichen Missständen. In dieser Kombination wird aus dem satirischen Tonfall keine überlegen abgehobene, sondern eine engagierte Rede, die vollkommen ungebrochen vom Potential des Werbejargons zu profitieren beabsichtigt, ähnlich wie dies etwa das US-amerikanische Kollektiv Gran Fury im Kampf für mehr Aufklärung und Unterstützung in der AIDS-Krise der frühen 1990er Jahre getan hatte.10
Klare Worte zum Schluss? Fast ausnahmslos alle Projekte des Zentrums für Politische Schönheit zielen auf Angriff: Sie ziehen politische Repräsentant*innen zur Rechenschaft, prangern einzelne Politiker*innen offensiv und mit beachtlichem Aufwand an und fordern Entscheidungsträger*innen heraus. Die dadurch meist erreichte Beunruhigung der institutionellen Akteur*innen – dazu sind vorab Genannte zu zählen – ist Absicht und Ziel, der gezielte Einsatz geschilderter Ambivalenzen in Sprache und Auftritt ist ihr Schmiermittel. Die durchgängig eingesetzten Provokationen sorgen für denjenigen Lärm, mit dem eine möglichst breite Aufmerksamkeit erreicht und an den hegemonialen politischen Verhältnissen gerüttelt werden kann. Die 10
Zu den massenmedial ausgerichteten Strategien von Gran Fury vgl. D’Addario 2011.
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Wichtigkeit, die kulturelle Aktivitäten in diesen Aushandlungen haben können, hat Chantal Mouffe mehrfach dargelegt. Sie schreibt ihnen nicht nur das Potential zu, »gegenhegemoniale« Standpunkte einzubringen, sondern erachtet den Umstand, »dass die hegemoniale Konfrontation nicht auf die traditionellen politischen Institutionen beschränkt ist«, als notwendige Erweiterung des politischen Aktionsradius (Mouffe 2014, 138). Der Kontext der Kunst dient dabei in gleicher Weise als materielle und ideelle Basisstation, die Schutzraum und symbolische Ressourcen zugleich zur Verfügung zu stellen vermag. Allerdings interessiert sich das ZPS weder für eine aus Distanz vorgenommene Reflexion politischer Ungerechtigkeit noch für Satire oder rein systemkonforme Lösungsvorschläge. Stattdessen setzen sie auf ein Interagieren, das in den realen politischen Strukturen effektive Reibung erzeugt und zumindest für einen kurzen Moment mögliche Alternativen als Realitäten aufscheinen lässt.11 Die Kunstwissenschaftlerin Karen van den Berg bezeichnet die Aktionen des Zentrums als »Ringen um eine praktische Ethik«, die emotionale Ansprache in den Projekten habe die Aufgabe, dieses Ringen als reale Erfahrung zu gestalten (van den Berg 2018, 308). Genau diese emotionalisierte Anrede wird den Verantwortlichen des Zentrums immer wieder vorgeworfen, dadurch werde der gute Wille der engagierten Bevölkerungsgruppen missbraucht. In dieser Behauptung werden die Betroffenen als Opfer einer hinterhältigen Aktion aufgefasst, wodurch ihnen die Möglichkeit eines mündigen und kritischen Urteilens abgesprochen wird. Dieser Argumentation liegt ein »perverser Mechanismus« zu Grunde, so Chantal Mouffe: »Man versichert sich des eigenen Gutseins, indem man das Böse bei andern brandmarkt. Andere zu denunzieren ist immer eine machtvolle und einfache Möglichkeit gewesen, sich eine großartige Vorstellung vom eigenen moralischen Wert zu verschaffen.« (Mouffe 2007, 97-98) Die Großspurigkeit der Auftritte scheint vielmehr eine adäquate Reaktion auf den politischen Gegner, dem damit auf Augenhöhe begegnet wird. Die kunsthistorische Analyse ihrerseits begegnet dem von Bishop diagnostizierten Mangel an adäquaten Kriterien zur Auslegung dieser an visuellen Zeichen und künstlerischen Strategien ausufernd reichen Aktionen mit einem Set an Methoden und Perspektiven. Nebst dem Rückgriff auf theoretische Konzepte aus anderen Gebieten werden auch aus dem Fach selbst heraus entwickelte Vorgehensweisen eingesetzt, um die disziplinär übergreifenden Aktivitäten einzuordnen. Die entsprechenden Interpretationen leisten aber nicht nur die Einordnung der künstlerischen Operationen. Sie spiegeln auch das Bemühen in der kunsthistorischen
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Die Theatergruppe Neue Dringlichkeit spricht im Gespräch mit Marina Belobrovaja gar vom aktuell grassierenden Problem einer »Überreflektiertheit« in links sich verortender Kunstpraxis. Stattdessen, so ihr Plädoyer, brauche es mehr Mut, einfach zu handeln, denn nur so sei eine direkte Wirksamkeit überhaupt denkbar (Belobrovaja 2019, 10f., sowie 21).
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Argumentationsweise, dem Gegenstand angemessene Instrumentarien zu entwickeln. Zuallererst sind hier die stilbegrifflich gefassten Zuschreibungen zu künstlerischen Tendenzen zu nennen: Sie stellen den Versuch dar, neu auftretende, in ihren Grundzügen vergleichbare, jedoch individuell und dezentral ausformulierte Praktiken als zeittypische Phänomene zu charakterisieren. So werden etwa die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit mit dem vom Kurator, Künstler und Kunsttheoretiker Peter Weibel eingeführten Begriff des »Artivismus« – eine Kombination aus Art und Aktivismus – an der Schnittstelle von Kunst und politisch motiviertem Handeln verortet und ebendiese Schnittstelle als zeitgemäße künstlerische Geste festgelegt.12 Weiter befassen sich ein Großteil der kunsthistorischen Analysen mit dem Herausschälen und kontextuellen Verorten der ästhetischen Eigenheiten, die das Zentrum in seinen Aktionen nutzt. Karen van den Berg benennt das »Stilmittel der Überaffirmation« (van den Berg 2018, 311) als Kennzeichen der künstlerischen Handschrift des Zentrums, ein Konzept, das Verena Krieger als Spielart subversiver künstlerischer Vorgehensweisen charakterisiert, mit denen durch subtile Mechanismen ein »de-affirmierender Effekt« erzeugt werden kann (Krieger 2014, 46). Der Einsatz dieser diskreten Störungen ist wichtiger Bestandteil der Aktionen des Zentrums und ebenfalls Gegenstand vertiefter Betrachtung. So unternimmt Raimar Stange eine kunst- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Einordung der rußgeschwärzten Gesichter der Mitglieder bei jedem ihrer öffentlichen Auftritte; er verweist unter anderem auf tarnende Schminke, politisch motivierte Vermummung, strategisch eingesetztes Merkmal zur »schnellen Wiedererkennung der Gruppe im grellen Licht unserer Mediengesellschaft« und fühlt sich gar von ganz weit weg an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat von 1915 erinnert (Stange 2018, 287-304). In jedem Fall aber sei damit markiert, so Stange, dass die Mitglieder bei ihren Auftritten eine oder gleich mehrere Rollen spielen, was – wie auch van den Berg konstatiert – notwendig sei für die Kenntlichmachung des »Verwirrspiels mit der Realpolitik« (van den Berg 2018, 313). In jüngeren Forschungsbeiträgen wird darüber hinaus vermehrt nach dem kommunikativen Gebrauch von Bildern gefragt. Larissa Kikol schlägt vor, politisch oder ethisch motivierte Kunst »nach ihren Kommunikationsqualitäten« zu beurteilen (Kikol 2017, 58-60). Nur so liesse sich sagen, ob ein Werk ein »politisches Thema zum Ornament, zum dekorativen Muster« mache oder ob es über die »Kunstwerkrealität« hinaus auf eine »Gesellschaftsrealität« einwirken kann. Hingegen warnt der Kunsthistoriker Tom Holert vor generalisierenden Interpretationen, in denen allzu häufig von einer einheitlichen Erfahrung ausgegangen werde. Zwar teilt er mit Kikol die Meinung, dass nach den Wirkungsweisen von 12
Diese Wendung lanciert Peter Weibel anlässlich der von ihm kuratierten Ausstellung Global Activism, die 2013/14 im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe zu sehen war.
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Bildern gefragt werden müsse, setzt dabei aber nicht beim Rezipienten bzw. der Rezipientin an, sondern beim Einsatz der Bilder, der niemals unabhängig »von medientechnischen Voraussetzungen, historisch begründeten Verwendungskontexten, ökonomischen Interessen, politischen Wirkungserwartungen und kulturellen Sinnversprechen« verstanden werden könne (Holert 2008, 30). Unter Zurückweisung der Vorstellung einer gegebenen Bildermacht fragt er nach den »Dynamiken und Praktiken«, in die der Gebrauch von Bildern eingewoben ist. Eine kunsthistorische Auseinandersetzung muss, diesem Verständnis folgend, ihren Blick auch auf diejenigen Verstrickungen richten, auf die das Zentrum für Politische Schönheit es mit der Einbindung der kritischen Rezeption anlegt. Gegen diese Umarmung scheint nämlich auch die Kunstgeschichte nicht gefeit zu sein: So mutet es eigenartig an, dass in der ersten Monographie über das Zentrum für Politische Schönheit die erwähnte Maskierung der Gesichter durch schwarze Schmieren als prominentes Gestaltungselement aufgegriffen wird, so als würde die eigentlich unabhängige Autorschaft die Gültigkeit dieser merkwürdigen und unnötigen Markierung bestätigen wollen (Stange 2018, 288f.). Und der mitunter anwaltschaftliche Tonfall der Artikel erinnert an die Anfänge der kunsthistorischen Bearbeitung derartiger Themen, bei der es in noch ganz grundsätzlicher Weise darum ging, den Kunstcharakter solcher Aktionen zu behaupten. Diese Diskussionen müssen heute in der Kunstgeschichte nicht mehr geführt werden. Die Kriterien der Betrachtung zu schärfen, ist ein unabgeschlossenes Vorhaben.
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Ambige Verhältnisse: Politisch motivierte Ambiguität in Texten slawischer Literaturen Andrea Meyer-Fraatz
Einleitung Seit William Empsons Seven Types of Ambiguity ([1930/1947] 1991), einem Werk, das großen Einfluss auf die Herausbildung des New Criticism gehabt hat (Bode 1988, 273), seit Jakobsons ([1960]1979) und Lotmans (1973, 99ff.) Erkenntnis, dass poetische Texte grundsätzlich mehrdeutig seien, und nicht zuletzt seit Umberto Ecos Begriff des »offenen Kunstwerks« (Eco [1962] 1976) gehört es zum Konsens der Literaturwissenschaften, dass Ambiguität ein Grundmerkmal literarischer Texte sei. Christoph Bode entwickelt in seiner Dissertation von 1988 auf der Grundlage strukturalistischer und semiotischer Ansätze seine Ästhetik der Ambiguität zur weiteren Untermauerung dieser Erkenntnis. Im Sinne der Ambiguität als inhärentem Prinzip der Literatur kommt ihr demnach eine rein ästhetische Qualität zu. Ambiguität kann in literarischen Texten jedoch auch strategisch eingesetzt werden, um in Zeiten der Diktatur und der Einschränkung des freien Worts im Sinne einer Mimikry, geschützt durch Mehrdeutigkeit das zum Ausdruck zu bringen, was offiziell verboten ist. Auch in politischen Umbruchzeiten häuft sich Ambiguität, etwa in Gestalt des Obskuren oder des Grotesken, Phänomene, die in der Heterogenität ihrer sprachlichen Konstituenten den politischen Umbruch literarisch verarbeiten.1 Sprachlich umgesetzt wird Ambiguität durch eine Fülle von literarischen Verfahren – etwa Intertextualität oder narrative Ambiguität – und Tropen – etwa Ironie und, nicht zu vergessen, Metaphern und Metonymien. Auf die beiden hier genannten grundsätzlichen Spielarten politisch motivierter Ambiguität, nämlich Ambiguität als Mimikry und politische Strategie sowie Ambiguität als Reaktion der Ratlosigkeit angesichts ambiger politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse in Umbruchszeiten, soll sich der vorliegende Beitrag konzentrieren.
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Den Zusammenhang von Lebenswelt und Literatur kann man, ohne von Widerspiegelung sprechen zu müssen, mit Bode (1988, 82) damit erklären, dass sich ungeachtet der referentiellen Sekundarität der Literatur die Primärreferenz des literarischen Zeichens nie vollkommen ausschalten lässt.
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An der Schnittstelle von Politik und Kultur stehen im Bereich der Literatur also Strategien von Autoren, sich in schwierigen Verhältnissen zu behaupten, aber auch solche Texte, die auf ambige Situationen gesellschaftlicher Übergangszeiten gleichsam mit einer forcierten Ästhetik der Ambiguität reagieren. Insbesondere in den slawischen Literaturen ist ersteres im Verlauf der vergangenen drei Jahrhunderte immer wieder der Fall, auch Umbruchsituationen hat es nicht selten gegeben. Daher bietet es sich an, die politisch motivierte Ambiguität in der Literatur anhand slawischer Beispiele zu demonstrieren.
Ambiguität als Mimikry Seit Jahrhunderten wurden in Literatur und Kunst in Zeiten von Autokratie, Fremdherrschaft und Diktatur Strategien entwickelt, das zum Ausdruck zu bringen, was direkt zu sagen nicht möglich war. Die Erzeugung von Ambiguität ist dabei ein wesentliches Mittel. Der postkoloniale Ansatz verwendet für dieses Phänomen den Begriff der Mimikry, der gleichwohl auch außerhalb der Postcolonial Studies gebräuchlich ist.2 Durch eine äußerliche Anpassung an die Umgebung können so bisweilen Inhalte vermittelt werden, die nicht auf den ersten Blick als oppositionell, kritisch oder gar zum Widerstand aufrufend erkannt werden. Die polnische Literatur bietet hierfür eine Fülle von Beispielen. So konnte der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz während der Zeit seiner Verbannung nach Russland – freilich in polnischer Sprache – Texte veröffentlichen, die thematisch geradezu eine Strategie des Kampfes gegen eine fremde Macht durch eine Form der Mimikry entwerfen: Im Versepos Konrad Wallenrod geht es um einen Litauer, der sich dem deutschen Ritterorden anschließt, um bei einer entscheidenden Schlacht das Heer von innen zu zersetzen und damit der vermeintlichen Gegenseite zum Sieg zu verhelfen.3 Wenn das lyrische Subjekt in den Krim-Sonetten desselben Autors die verfallende Kultur der Krimtataren betrauert, so solidarisiert es sich implizit mit einem Volk, dessen Territorium ähnlich wie Teile des eigenen kurz zuvor an Russland gefallen war.4 Im späteren 19. Jahrhundert, aber auch in der Zeit des Tauwetters nach 1956 sind es in Polen immer wieder historische 2
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Einen postkolonialen Ansatz verfolgt im Hinblick auf den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz in Verbindung mit einem differenzierten Mimikry-Begriff z.B. Uffelmann 2007. Kirschbaum (2016, 60-78) bezieht sich in seiner Monographie ebenfalls auf diesen Begriff. Unabhängig von einem postkolonialen Ansatz taucht der Begriff der Mimikry im Zusammenhang mit den Übersetzungen Boris Pasternaks bei Witt (2003) auf. Zur doppelten Mimikry der literarischen Figur des Konrad Wallenrod aus postkolonialer Sicht s. Uffelmann 2012, 269ff. Dazu ausführlicher Meyer-Fraatz 2018a, 336; Meyer-Fraatz 2003, 151-153. Kirschbaum (2016) stellt die Krim-Sonette in einen größeren Zusammenhang sowohl des Gesamtwerks als auch
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Romane, die eine Parallele zwischen den historischen Verhältnissen und denen der Gegenwart herstellen. Ein im deutschen Sprachraum nicht unbekanntes Beispiel dürfte Andrzej Szczypiorskis Roman Eine Messe für die Stadt Arras (Msza za miasto Arras) sein (Szczypiorski 1971), in der die Vertreibung der Juden im Mittelalter stellvertretend für die von der damaligen polnischen Regierung infolge des Sechs-Tage-Kriegs als »antizionistische Aktion« bezeichnete Vertreibung der wenigen nach dem Holocaust in Polen gebliebenen Juden 1968 steht. Der Roman Der Pharao (Faraon) von Bolesław Prus ([1895/96] 1990) zieht eine implizite Parallele zur europäischen Geschichte, wenn in ihm Machtmechanismen, nicht zuletzt im Hinblick auf das Verhältnis von Herrschern und Klerus, dargestellt werden. In einer Kurzgeschichte aus den 1960er Jahren mit dem ambigen Titel »Opowieść« (Erzählung) spielt der später durch sein Tagebuch aus der Zeit des Kriegsrechts bekannt gewordene Autor Marek Nowakowski auf den Titel dieses Romans vom Ende des 19. Jahrhunderts an.5 Bezieht man obendrein das biographische Faktum Prusʼ ein, am Aufstand gegen die zaristische Fremdherrschaft von 1863 teilgenommen zu haben, so lässt sich der Verweis auf diesen Autor noch weiter als verdeckter Aufruf zum Widerstand interpretieren. Intertextualität als genuin ambiges Phänomen wird so zu einem Verfahren der politischen Selbstbehauptung in Zeiten der Zensur. Aber nicht allein im Hinblick auf diesen intertextuellen Bezug erweist sich Nowakowskis Erzählung als höchst ambig. Schon der Titel, der eigentlich nur das Genre bezeichnet, ist offen, unbestimmt und rätselhaft. Der Ich-Erzähler bleibt, wie auch die anderen Figuren, namenlos, was man als eine gewisse Repräsentativität seiner Figur verstehen kann. Die Tatsache, dass er selbst immer nur Beobachtungen macht, die er nicht sicher zu interpretieren weiß, dass er über Mutmaßungen über seine Umwelt nicht hinausgehen kann, stellt implizit ein festes Weltbild in Frage. So wie Figuren ohne Namen bleiben, wird auch auf Toponyme für die unmittelbar geschilderte Umgebung verzichtet. Das Geschehen spielt sich in einer kleinen ländlichen Siedlung ab, in der sich offensichtlich de facto bestimmte gesellschaftliche Strukturen über den Zweiten Weltkrieg hinaus erhalten haben, denn der Erzähler, ein Hausierer, der in die Ortschaft aus einer größeren Stadt gekommen ist, wird von einem Bettler, den er nach Übernachtungsmöglichkeiten im Ort fragt, zur »Herrin« (Pani) geschickt, die in einem schlossähnlichen Gebäude, vermutlich dem ehemaligen Gutshaus, mit einer Haushälterin lebt. Letztlich führen jedoch alle Figuren ein bescheidenes bis prekäres Leben; nur von den Bauern der
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der zeitgenössischen russischen Literatur und zeigt deren komplexe Interdependenz vor dem Hintergrund eines postkolonialen Ansatzes. Der Erzähler findet in seinem Gastzimmer diesen Roman vor und beginnt ihn an der Stelle zu lesen, an der ein Lesezeichen angebracht ist. Später greift er erneut auf diese Lektüre zurück (Nowakowski 1969, 423, 434 u. 443f.).
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Umgebung wird gesagt, sie seien wohlhabend (Nowakowski 1969, 422). Im Zimmer, das der Erzähler bei der »Herrin« bezieht, findet er ein »Zierkästchen aus den Ostkarpaten« (Nowakowski 1972, 210)6 vor, die geographisch in den verlorenen Gebieten jenseits der nach dem Zweiten Weltkrieg neu gezogenen Ostgrenze liegen. Auch wird ein Ort aus dem neuen westlichen Grenzgebiet Niederschlesien, Turoszów, erwähnt, in welchem sich der Erzähler einige Zeit zuvor aufgehalten und der vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland gehört hat. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Verzichts auf Toponyme im dargestellten Geschehen werden der einzelne Ortsname und der Hinweis auf die Huzulen besonders akzentuiert, und durch ihre bloße Nennung wird auf die im damaligen öffentlichen Diskurs tabuisierte Grenzverschiebung des Landes nach 1945 angespielt. Zweimal wird explizit auf die Zwei- bzw. Vieldeutigkeit der Situation des Erzählers oder der Art einer Figur hingewiesen (Nowakowski 1969, 439, 444), gleichsam als autothematische Aufforderung, hinter den Details des Textes weitere Bedeutungen zu suchen. Dazu gehört auch die auffällige christliche Symbolik, die mit dem Motiv des Fischreichtums verbunden ist und die man wiederum in einen Zusammenhang mit den intertextuellen Bezügen zu Prus stellen kann.7 Unterstrichen wird dies durch die Bemerkung des Erzählers, der kurz nachdem er sich die in der Umgebung des Ortes liegenden Seen mit ihrem reichhaltigen Fischbestand vorgestellt hat, sofort in bessere Stimmung gerät und bei seinem Hausieren erfolgreicher wird, mit den Worten: »Ludzie mnie słuchali jak księdza. (Die Leute lauschten mir wie dem Priester auf der Kanzel)« (Nowakowski 1969, 431; Nowakowski 1972, 215).8 Etwas wie christliche Nächstenliebe erfährt er bei der »Herrin« in seiner Unterkunft, die ihn nicht nur reichlich verköstigt und seine verschlissene Kleidung ausbessern lässt, sondern ihm nur sehr wenig Geld abnimmt und ihn zum Schluss noch einlädt, kostenlos zu bleiben, um angeln gehen zu können. Der See mit den Unmengen an Fischen wird von der »Herrin« zudem als »Anglerparadies«9 (Nowakowski 1972, 219) bezeichnet. Dennoch reist der Erzähler nach dreitägiger Beanspruchung der Gastfreundschaft
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»Przy kozetce niski stolik z huculskim pudełeczkiem« (Nowakowski 1969, 423). Mitte der 1960er Jahre entstand eine auch international erfolgreiche Verfilmung des in dieser Erzählung explizit erwähnten Romans Faraon von Bolesław Prus durch Jerzy Kawalerowicz, in der das Verhältnis von Klerus und Machthabenden besonders in den Mittelpunkt gestellt wird und die in der damaligen Rezeption auf das konflikthafte Verhältnis von Klerus und Regierenden in Polen bezogen wurde. Zwar beziehen sich die Stellen, die Nowakowskis Erzähler liest, nicht explizit auf die entsprechenden Passagen im Roman, dies kann jedoch wiederum als ein Ablenkungsmanöver aufgefasst werden. Obwohl die polnische Kirche zur Zeit des Sozialismus in Polen in einer unvergleichlich stärkeren Position war als in anderen sozialistischen Ländern, waren religiöse Themen in der Öffentlichkeit, insbesondere der Literatur, in den 1960er Jahren noch immer heikel, nicht zuletzt nach dem Versöhnungsangebot der polnischen Bischöfe an Deutschland. »rybacki raj« (Nowakowski 1969, 437).
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ab, obwohl er ausdrücklich zum weiteren Verweilen aufgefordert wird. Mit diesem Schluss bleibt die Erzählung ambig, denn für eine »offizielle« Lesart lässt sich damit einerseits das endgültige Verlassen einer als überwunden geltenden Klassengesellschaft verstehen. Andererseits steht die christliche Nächstenliebe der »Herrin« für Werte, die in der Gegenwart, wie immer wieder deutlich wird, nicht mehr gelten. Der Erzähler hingegen steht der Zuwendung, die ihm auf diese Weise zuteilwird, skeptisch gegenüber. Sein Abschied lässt vermuten, dass er nach einem dritten Weg sucht. Ambiguität und Unbestimmtheit eröffnen also durchaus gegenläufige Interpretationen und ermöglichen damit die Publikation unter Zensurbedingungen. Dabei entspricht die Erzählung weniger dem von Martínez (1996) dargestellten Modell der doppelten Welten als einem Text, der durch bestimmte Verfahren, einerseits der Unzuverlässigkeit des Erzählers, der vieles im Unbestimmten lässt und immer wieder auch Worte anderer Figuren in seine Darstellung des Geschehenen einbindet, andererseits aber auch durch Intertextualität einen Schlüssel für latente Bedeutungsebenen bereitstellt. Alles in allem wendet sich diese Erzählung implizit gegen eine ideologische Sichtweise der dargestellten Realität, indem sie auf die (bisweilen unzulängliche) Beschreibung des Erzählers baut, Wertungen häufig anderen Figuren überlässt und durch Andeutungen immer wieder Tabuthemen zur Sprache bringt, ohne sie jedoch explizit zu benennen.
Dialogizität und Intertextualität als Ambiguitätsphänomene Bekanntlich hat Julia Kristeva den Begriff der Intertextualität in den 1960er Jahren abgeleitet von Michail Bachtins Begriff der Dialogizität, der im weitesten Sinne ebenfalls ein Ambiguitätsphänomen darstellt.10 Dadurch, dass jedes Wort durch seinen wiederholten Gebrauch immer wieder mit neuen Assoziationen versehen wird, wohnt im Grunde jeder sprachlichen Äußerung Dialogizität inne. In literarischen Texten trägt Dialogizität darüber hinaus insofern zur Ambiguität bei, als durch sie nicht nur die Eindeutigkeit der Worte, sondern auch die Eindeutigkeit der Sprechinstanzen, etwa in der erlebten Rede, in Frage gestellt wird. In Probleme der Poetik Dostoevskijs führt Bachtin für die gleichberechtigte Rede von Erzähler und Figuren den Begriff der Polyphonie ein (Bachtin 1971). Damit meint Dialogizität bei Bachtin Offenheit, Wechselseitigkeit, Gleichberechtigung; demgegenüber steht der konträre Begriff der Monologiziät für Geschlossenheit, Einseitigkeit und Unterordnung (Grübel 1979, 42-51). Es verwundert nicht, dass die Doktrin des Sozialistischen Realismus an der (zumindest tendenziellen) Monologizität des Tolstojschen Romans orientiert ist, während ein explizit dialogischer Autor wie Dosto10
S. dazu ausführlicher Meyer-Fraatz 2014.
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evskij in der Stalinzeit nicht gedruckt wurde. So gibt Bachtin vor dem Hintergrund der Vereinheitlichung des Denkens und künstlerischen Gestaltens im Totalitarismus und nicht zuletzt seiner eigenen Verfolgung als Wissenschaftler der Dialogizität den Vorrang. Man könnte ergänzen, dass während im Sozialistischen Realismus laut Satzung des sowjetischen Schriftstellerverbandes die »Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung« (zit.n. Guski 2002: 322), d.h. beschönigt, dargestellt werden und der positive Held für eindeutige Verhältnisse sorgen sollte, entsprechend jede Form von Ambiguität als subversiv erscheinen musste. Die verhaltenen bis abweisenden Rezensionen zur Erstveröffentlichung von Bachtins Untersuchung zu Dostoevskij 1929, auf die Sasse (2010, 82f.) hinweist, bestätigen dies gleichsam avant la lettre. Schon Jahre vor der Prägung des Sozialistischen Realismus lässt sich das Aufkommen von Dystopien in den 1920er Jahren in der UdSSR als Kritik an der Monologizität nicht nur der idealen (utopischen), sondern auch der realen postrevolutionären sozialistischen Gesellschaft beschreiben. Die Anti-Utopie My (Wir) von Evgenij Zamjatin ([1920] 1989) ist ein deutliches Beispiel dafür, wie die Utopie des Einen Staates, in dem es nur Eindeutigkeiten gibt, durch das dialogische In-FrageStellen der zur Selbstverständlichkeit gewordenen Strukturen zur Dystopie wird.11 Etwas anders fällt das In-Frage-Stellen des Monologismus bei Andrej Platonov in seinem Roman Čevengur (1998) aus, der Ende der 1920er Jahre entstand. Durch das ausgiebige Verwenden von motivischen Versatzstücken der Utopie wird einerseits ein utopischer Ansatz suggeriert, der aber andererseits immer wieder durch dystopische Elemente in Frage gestellt wird. Am Ende bleibt offen, ob es sich um einen utopischen oder dystopischen Roman handelt. Wenn dies eine Strategie gewesen sein sollte, ihn aufgrund dieser Offenheit publizieren zu können, ist sie jedoch nicht aufgegangen. Der Roman konnte erst Ende der 1980er Jahre, nach dem Einsetzen von Glasnost‘ und Perestrojka erscheinen.12 In manchen Fällen sind es sogar literarische Übersetzungen – im weiteren Sinne ebenfalls Intertextualitätsphänomene –, die an entscheidenden Stellen auffällig vom Ausgangstext abweichen, um damit den Übersetzern, die als eigenständige Autoren mundtot gemacht wurden, als Sprachrohr zu dienen, so z.B. bei Boris Pasternak. Seit Mitte der 1930er Jahre konnte er in der Sowjetunion keine eigenen Texte mehr veröffentlichen und musste vom Übersetzen leben. In seiner berühmten Hamlet-Übersetzung hat Pasternak, wie die schwedische Slawistin Susanna
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Bei Sasse/Schramm 1997 wird der Begriff der Utopie auf den Sozialistischen Realismus angewandt, ohne jedoch auf das Paradox einzugehen, dass »klassische« Utopien nach Aufkommen des Sozialistischen Realismus verboten waren, weil nach damaligem Verständnis der Marxismus den Utopismus besiegt und auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt habe. Zum Problem der Ambiguität bei Zamjatin und Platonov s. ausführlicher Meyer-Fraatz 2014, 410ff.
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Witt dargestellt hat, immer wieder Übersetzungslösungen gefunden, die es ihm im Sinne einer Mimikry erlaubten, das zum Ausdruck zu bringen, was ihm durch das Verbot eigener Werke versagt war (Witt 2003). Ähnlich verhält es sich mit seinen Übersetzungen Heinrich von Kleists. In Pasternaks Übersetzung des Dramas Prinz Friedrich von Homburg lassen sich durchaus subversive Parallelen zur stalinistischen Gegenwart erkennen (Meyer-Fraatz 2002, 119f.). Nicht zuletzt schreibt Pasternak in seinem als Vorwort zu einer nicht zustande gekommenen Ausgabe der von ihm übersetzten Werke Kleists gedachten Essay über diesen Vorromantiker vieles, was auch auf ihn selbst zutrifft, und versteckt sich somit gleichsam hinter der Person, über die er schreibt, um zugleich seine eigene Situation der Bedrängnis zur Sprache zu bringen. Ein auf das frühe 19. Jahrhundert bezogener Satz wie »Die Annahme, dass die Politik stets das Leben überlagere, ist eine unbewiesene, an den Haaren herbeigezogene Behauptung von Publizisten. Doch in Zeiten epochaler Erschütterungen ist es – die Wahrheit«,13 der am Beginn des Essays über Kleist steht, lädt geradezu dazu ein, ihn ambig zu lesen.
Das Absurde und das Groteske als Ausdruck von Ambiguität und Ambivalenz Als ironische Überidentifikation mit einer gegebenen politischen Ordnung beschreibt Sylvia Sasse zunächst zusammen mit Caroline Schramm, später mit Inke Arns das Phänomen der subversiven Affirmation (Sasse, Schramm 1997; Arns, Sasse 2006).14 Sasse und Schramm beziehen sich auf Texte von Daniil Charms, der Ende der 1920er und in den 1930er Jahren ohne Aussicht auf Publikation die Absurdität der politischen Verhältnisse in der Absurdität der dargestellten Welt ins Leere laufen lässt. Dies zeigt sich vor allem in der Deformation von Sprache und der Zerstörung von Körpern durch Prügeleien, Tötungen oder Verschwinden. Ergänzen könnte man Texte wie z.B. Optičeskij obman (Optische Täuschung), in denen, ähnlich Majakovskijs ROSTA-Fenstern, bestimmte Sätze immer wieder stereotyp wiederholt werden, sodass man von Metakarikaturen sprechen kann (Meyer-Fraatz 2012, 194-196). Was losgelöst vom politisch-historischen Kontext der späten 1920er, frühen 1930er Jahre absurd wirken mag, steigert gewissermaßen
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»Предположение, будто политика всегда покрывает жизнь, – недоказанная натяжка публицистов. Но в поры вековых потрясений это – истина« (Pasternak 1992, V, 383). Ausführlich zum Kleist-Essay Pasternaks s. Meyer-Fraatz 2002, 105-110. Die im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek angekündigte Monographie Sasses zu diesem Thema ist zum Zeitpunkt des Abschlusses des vorliegenden Beitrags noch nicht greifbar (Sasse 2020).
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nur das, was in der Umwelt tagtäglich geschieht, sei es die allgegenwärtige Propaganda, sei es das Verschwinden von Personen, sei es die politische Gewalt, mit der viele – wenn auch nicht alle gleichermaßen – konfrontiert sind. Bei Arns und Sasse geht es um die slowenische Künstlervereinigung NSK (Neue Slowenische Kunst), der die Rockgruppe Laibach, die Künstlergruppe IRWIN und die Theatergruppe Noordung angehören, als Paradebeispiel für das genannte Phänomen der subversiven Affirmation. Die NSK vertritt das Prinzip, »totaler als der Totalitarismus« zu sein und negiert das individuelle Schaffen. Damit übertreibt sie in den 1980er Jahren bei weitem die politische Wirklichkeit Jugoslawiens, macht aber gerade durch den Kult des Totalitären implizit auf die durchaus vorhandenen autoritären Strukturen des eigenen Landes aufmerksam. Durch Embleme wie Hirschgeweihe und Anspielungen auf slowenische nationale Symbolik kommt eine subversive Affirmation des slowenischen Nationalismus hinzu, der vor allem ab den 1990er Jahren relevant wird. Schon eine Minimaldefinition des Grotesken als »möglichst phantasievolle Kombination von Heterogenitäten« (Haaser/Oesterle 2007, 745) lässt erkennen, dass dieses ästhetische Phänomen das Ambige in sich einschließt. In jüngerer Zeit wurden zunehmend Versuche gemacht, das Groteske kultur(anthrop)ologisch als Verkörperung von Normbrüchen und als Ausdruck der Überschreitung von Grenzen kultureller Formationen zu bestimmen (Novaković 1981, 28; Fuß 2001, 12). Schon Wolfgang Kayser hat in seiner viel beachteten Untersuchung zum Grotesken auf dessen gehäuftes Auftreten in (kulturellen) Umbruchsituationen hingewiesen (Kayser 1957, 202f.). Mit Bachtins Bestimmung des Grotesken als dialogischem Phänomen im Rahmen seiner Karnevalismustheorie bestätigt sich der ambige Charakter des Grotesken (Bachtin 2010, 339-365). So verwundert es nicht, wenn das Groteske zu einem dominierenden Verfahren gesellschaftlich engagierter literarischer Werke wird, die auf den politischen und gesellschaftlichen Umbruch nach 1989/91 reagieren, wenn die Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem zu grotesken Phänomenen sogar in der Lebenswirklichkeit führen kann (Meyer-Fraatz 2018b, 476). Als Ausdruck von Ambiguität und Ambivalenz tritt das Groteske in den meisten Literaturen des ehemaligen Ostblocks nach der Wende auf, ebenso in den Literaturen des einst blockfreien Jugoslawien.15 Insbesondere im ehemaligen Jugoslawien häuft sich das Groteske in der Literatur, sodass man sogar unterschiedliche Subgenres bestimmen kann wie z.B. die humoristische, die politische, die philosophisch-absurde, die pathologische, die antiklerikale oder die obskur-esoterische Groteske, denen sich verschiedene Autoren der Gegenwart zuordnen lassen (Meyer-Fraatz 2017, 204; Meyer-Fraatz 2018b,
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Die folgenden Ausführungen stützen sich weitgehend auf Meyer-Fraatz 2017 und MeyerFraatz 2018b.
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477). Zoran Ferić vertritt dabei vornehmlich die pathologische Groteske. Seine Romane und Erzählungen legen buchstäblich immer wieder den Finger auf die Wunden der sich im Umbruch befindlichen Gesellschaft, indem sie durch die groteske Schilderung von Krankheiten und ihren Symptomen die als bedrohlich empfundenen Veränderungen zum Ausdruck bringen. In der Sammlung Mišolovka Walta Disneya (Walt Disneys Mausefalle) finden sich mehrere Erzählungen, die auf beklemmende Weise scheinbar nebenbei Krankheit und Tod erwähnen, etwa wenn es in der Erzählung Žena u zrcalu (Frau im Spiegel) über die titelgebende Figur heißt: »Diese Falten und gewisse Furchen an den Händen waren die ersten Anzeichen des Alterns. Das wusste sie aus Filmen und Büchern. Davon hatte ihr im übrigen auch ihre Mutter erzählt, die an Krebs gestorben war, jünger als sie jetzt war«16 (Ferić 1999, 45). Die titelgebende Erzählung des Bandes Anđeo u offsideu (Engel im Abseits) (Ferić 2000a, 156-174) enthält die groteske Beschreibung des Sarges, in dem ein siebenjähriges Mädchen zu Grabe getragen wird, die den Sarg als letzte Hülle eines Menschen mit der Verpackung einer Ware gleichsetzt: »Ihr Sarg ist klein und weiß, nicht größer als die Verpackung eines Küchenboilers« (Ferić 2000b, 190).17 Die »Dame für vorher« aus der Erzählung Povijest gospođe za prije (Die Geschichte von der Dame für vorher) (Ferić 2000a, 89-98) z.B. ist eine Frau, die sich Kummerspeck anisst, nachdem sie ihr Kind verloren hat. Als beleibte Person hat sie lange Zeit ihr Geld als Model für eine Schlankheitsmittelreklame als »Dame für vorher« verdient. Dass sie später auch die »Dame für nachher« darstellen kann, liegt nicht an der Wirkung des Schlankheitsmittels, sondern an ihrer Krebserkrankung. In der Erzählung Blues za gospođu s crvenim mrmljama (Blues für die Dame mit den roten Flecken) (Ferić 2000a, 59-87), die in einer AIDS-Ambulanz situiert ist, finden sich immer wieder Beschreibungen von (vermeintlichen) AIDS-Symptomen, die gewissermaßen im Kayserschen Sinne das Dämonische und das Unheimliche beschwören. So werden die verschiedensten Aspekte der Übergangsgesellschaft bei Ferić immer wieder mit grotesken Krankheitsmetaphern, Krankheitsvergleichen oder auch nur -motiven in Verbindung gebracht und nicht selten in der Lächerlichkeit preisgegebenen Verschwörungstheorien, etwa der Behauptung eines Patienten in der AIDS-Ambulanz, alle Tests würden negativ bescheinigt, weil der Staat Behandlungskosten sparen wolle (vgl. Ferić 2000a, 85). Auf diese Weise wird deutlich, dass die Krankheiten der dargestellten Figuren nicht ein rein persönliches Schicksal darstellen, sondern durchaus vor einem konkreten sozioökonomischen
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Te borice, kao i određena smežuranost ruku, bile su prvi znak starenja. Znala je to iz filmova i knjiga. O tome joj je, uostalom pričala i majka koja je umrla od raka mlađa nego je ona bila sada (Ferić [1996] 2001, 35). Njen lijes je malen i bijel, ne veći od ambalaže kuhinskog bojlera (Ferić 2000a, 156). Die Erzählung »Anđeo u offsideu« (Engel im Abseits) wurde später in den Roman Smrt djevijčice sa žigicama (Der Tod des Mädchens mit den Zündhölzern) (Ferić 2002) integriert.
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Hintergrund zu betrachten sind, der auf eine bedrückend komische Weise kritisiert wird. Phänomene einer sprachlichen Groteske finden sich bei Igor Rajki, insbesondere in der Erzählsammlung Posuđene ispričnice (Geliehene Entschuldigungen) (Rajki 2011). In der Erzählung Prolaz kroz krasno poslijepodne (Sjenotvorci) (Durchgang durch einen wunderschönen Nachmittag (Schattenerschaffer)) erblickt der Erzähler z.B. auf einer Reklametafel den Namen »Žderror« (eine Kontamination der Wörter »žderati« (fressen) und »terror«); an der Stelle einer früheren Windbeobachtungsstation nimmt er den Namen der Bank »Kapitalić«18 wahr und daneben ein Amt zur Eröffnung des Amtes »Baštine taštine« (Erbe der Eitelkeit) (Rajki 2011, 31). Sein Befinden drückt der adoleszente Erzähler mit den Worten »Kao da mi rok upotrebe još nije počeo« (als ob mein Verfallsdatum noch nicht angefangen habe) (Rajki 2011, 33) aus, eine groteske und zugleich paradoxe Gleichsetzung der eigenen Person mit einer verderblichen Ware. In allen Fällen handelt es sich um die groteske Kommentierung von Erscheinungen der neuen Wirtschaftsordnung. Zugleich setzt sie durch sprachliche Neuschöpfungen der einseitig normierenden konservativen Sprachenpolitik einen kreativen Gegenentwurf entgegen. Das Geschehen des Kurzromans Feliks des serbischen Autors Vladimir Kecmanović (2007) ist schon als solches grotesk: Ein älterer Herr namens Simeon Rakić wird nach der Rückkehr von einer, wie sich später herausstellt, Gaunertour in seiner Wohnung von einem Unbekannten überrascht, der ihn mit einer Pistole bedroht, ihn jedoch nicht berauben will, sondern sich als seinen ihm unbekannten Sohn vorstellt. Durch irreführende Drohungen und einen absurden Rollentausch ruft letzterer einen Herzinfarkt seines leiblichen Vaters hervor, von dem sich dieser auf Dauer nicht erholt, sondern nach einem längeren Krankenhausaufenthalt verstirbt. Groteske Einzelmotive unterstützen das groteske Geschehen, etwa wenn über den alten Vater gesagt wird, dass er sich in Scheherazade verwandele (Kecmanović 2007, 91), was weder seinem Geschlecht noch seinem Alter entspricht. Der Eindruck des distinguierten älteren Herren wird dadurch überlagert, dass Simeon Rakić seine geringe Rente durch Betrügereien aufbessert, womit ihm einerseits ambiges Verhalten zugeschrieben wird und andererseits dieses Verhalten ethisch ambivalent erscheint, denn einerseits ist die Rente zu gering, um davon leben zu können, während andererseits die »Aufstockung« der Rente nur auf illegale Weise und zu Lasten anderer zustande kommt. Mit dem Aspekt des Ethischen, aber auch mit der Frage nach Identität nimmt dieser Roman schließlich auch philosophische Dimensionen an. Höchst ambig ist der Roman Životinsko Carstvo (Reich der Tiere) von David Albahari auf verschiedenen Ebenen. Zum einen ist es die komplizierte narrative Struk18
Ein Wortspiel mit dem Wort »Kapital« und der Endung »ić«, die kennzeichnend ist für Familiennamen.
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tur, die zum Teil auf dem Prinzip des gefundenen Manuskripts basiert, zum andern ist es die Tatsache, dass die Jugoslawische Volksarmee als groteske Erscheinung geschildert wird, stellvertretend durch eine Gruppe von Soldaten, die sich »Reich der Tiere« (Životinsko Carstvo) nennt. Die Ambiguität des Romans wird dadurch gesteigert, dass der Erzähler durchaus Eigenschaften des realen Autors aufweist, mit ihm gleichwohl nicht identisch ist. Die Tatsache, dass er selbst nach vierzig Jahren den Mörder seines Kameraden und den Anführer der Gruppe tötet, lässt ihn, der zuvor eine ambige Rolle als privilegiertes Mitglied der Gruppe bei gleichzeitiger Abneigung gegen den andere Gruppenmitglieder immer wieder quälenden Anführer gespielt hat, in einem ethisch zweifelhaften Licht erscheinen. Jedoch ist es auch eben dieser Erzähler, der den LeserInnen seine Tat gewissermaßen beichtet. Fragen nach der Zuverlässigkeit von Erinnerung und nach der moralischen Berechtigung des späten Mordes, der obendrein durch den Vergleich des in seinem weit verspritzten Blut liegenden Opfers mit Bildern von Jackson Pollock grotesk dargestellt wird (Albahari 2014, 81), unterstreichen dessen ambige Konstruktion. In den geschilderten Fällen grotesker Darstellung von Erscheinungen der Übergangszeit dient das Groteske dazu, die LeserInnen zu verstören, um eine Verklärung sowohl des Neuen als auch des Alten zu verhindern und damit den kritischen Blick auf die Gegenwart wie die Vergangenheit zu schärfen.
Ausdrucksweisen politisch motivierter Ambiguität in der Literatur: Zusammenfassung Trotz Eingrenzung des Themas auf politisch motivierte Ambiguität konnte dieser Aspekt nicht erschöpfend behandelt werden. So spielt Ambiguität unter politischem Vorzeichen außer in der Literatur weiterhin auch in solchen künstlerischen Formen eine Rolle, die als Ventil fungieren können. Insbesondere der politische Witz oder das Kabarett wären an dieser Stelle zu nennen. Schlüsselromane, bei denen nur für Eingeweihte deutlich wird, welches tatsächliche Ereignis und welche realen Personen einer Romanhandlung Pate gestanden haben, können ebenso zu subversiven Zwecken eingesetzt werden. Insgesamt schöpfen die Formen strategisch eingesetzter Ambiguität aus dem allgemeinen Repertoire ambiger Sprachverwendung bzw. Textpraktiken. So kann Mimikry in Zeiten von Fremdherrschaft oder Diktatur durch historische und/oder kulturelle Verschiebung entstehen, aber auch durch minimale Abweichungen in Übersetzungen, nicht zuletzt durch eine suggerierte Identifikation mit historischen Personen. Ob man dabei einen postkolonialen Ansatz verfolgt, hängt letztlich vom konkreten Einzelfall ab. In diesem Zusammenhang wurden in jüngerer Zeit in der Slawistik sowohl der Aspekt der Metonymie (Kirschbaum 2016 und 2017) als auch derjenige der Intertextualität (Kirschbaum 2016) als Verfahren zur Erzeu-
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gung von Ambiguität in den Mittelpunkt gestellt. Die hier geschilderten Fälle von Mimikry bei Mickiewicz lassen sich dazu zählen. Die Dystopie als Veruneindeutigung der auf eindeutige Verhältnisse ausgerichteten Utopie ist ein weiteres Mittel, Ambiguität politisch motiviert einzusetzen. Mit Bachtin gesprochen, kann man auch von einem Eindringen des Dialogischen in den Monologismus der Utopie sprechen. Bei Zamjatin geschieht dies zur Infragestellung der Ziele des Einen Staates, der als Extrapolation der frühsowjetischen Verhältnisse aufzufassen ist, und er entwirft dabei ein Horrorszenario der Gleichschaltung nicht nur der Gesellschaft, sondern der Gehirne eines jeden Einzelnen. In Platonovs Roman Čevengur bleibt unentschieden, ob es sich um eine Utopie oder eine Dystopie handelt, und in dieser Uneindeutigkeit liegt wiederum sein subversives Potential (das freilich zu gegebener Zeit nicht zur Geltung kommen konnte). Uneindeutig bleibt auch das Geschehen in Nowakowskis Erzählung, und so sichert sich der Text – wie auch durch die Unzuverlässigkeit des Erzählers – gegen mögliche offizielle Einwände ab. Zugleich spielt Intertextualität hier eine wesentliche Rolle zur Erzeugung zusätzlicher Bedeutungsschichten. In postsozialistischen Zeiten ist es vor allem das Groteske als genuin ambiges Verfahren, das die Ambiguität der Übergangssituation zum Ausdruck bringt und dabei die Ratlosigkeit der Betroffenen wie auch die Offenheit der Situation auf bedrückend komische Weise markiert. Dabei kann das Groteske die verschiedensten Nuancen annehmen und mal metaphorisch durch exzessive Thematisierung von Krankheiten den Finger auf die Wunden der Übergangszeit legen, mal durch Sprachspiele die neue Wirklichkeit und auch sprachpolitische Bestrebungen in Frage stellen. Bisweilen nimmt das Groteske durch Elemente des Absurden, aber auch durch die Hinterfragung von Identitäten oder das Aufwerfen einer ethischen Dimension geradezu philosophische Züge an. Die schlaglichtartig behandelten Beispiele politisch motivierter Ambiguität in der Literatur zeigen, dass das Repertoire literarischer Verfahren zu ihrer Erzeugung schier unerschöpflich ist und letztlich von der konkreten Zielsetzung der einzelnen Texte abhängt. Damit sind ihrer weiteren Erforschung keine Grenzen gesetzt.
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Ambiguität, verstanden in einem weiten Sinne als Weise der Uneindeutigkeit (vgl. Krieger 2010, 13), ist kein Phänomen, welches man unabhängig davon beschreiben kann, für wen es erscheint. Ambiguität existiert nicht ohne jemanden, der sie wahrnimmt. Sie ereignet sich relational, d.h. zwischen einer künstlerischen Arbeit und den Betrachter*innen. Wenn wir die Ambiguität einseitig den Bildern und der Kunst zuschreiben und in den Bildgestalten Eigenschaften suchen, in der Annahme, sie seien mehr oder weniger mechanistisch in der Rezeption reproduzierbar, haben wir das Schwankende im Erfahren der Ambiguität schon verleugnet und übersprungen.1 Die Erfahrung von Ambiguität beruht vielmehr auf einem Wirkungsgeschehen im Zwischenreich von künstlerischen Arbeiten und Betrachter*innen. Das verschiebt die Frage nach den Bildern zur Frage nach der Rezeption von Bildern.2
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Obwohl der Kunsthistoriker Gamboni die einseitige Zuschreibung auf Bilder erkennt: »Im Wahrnehmungsakt selbst machen derartige Bilder dem Betrachter bewusst, dass es sich um eine Aktivität handelt, bei der die Bilder nur der Aufhänger sind. Die ›Aspekte‹, von denen Redon sprach, erreichen ihre volle Existenz dank eines Subjekts und sind somit nicht allein im Objekt selbst enthalten, obgleich sie eine objektivierende Stabilität und Dauer durch den im Laufe der Zeit bei den Betrachtern gebildeten Konsens erhalten können«, begründet er sie folgendermaßen: »Dennoch ist es einfacher, aus diesen Effekten Eigenschaften der Bilder selbst zu machen.« Er bezeichnet also die Bilder, die mehrere Aspekte thematisieren, als »Mehrfachbilder«, »Doppelbilder«, »Krypto-Bilder« und nennt »Aspekte, die ihre Virtualität dem Künstler verdanken, aber vom Betrachter abhängen, um aktualisiert werden zu können […AS] ›potenzielle Bilder‹«. Gleichzeitig beschreibt er das bisherige Unbehagen der kunsthistorischen Disziplin, sich mit subjektiver Wahrnehmung zu befassen, da sie als unprofessionell ausgelegt werden könne (vgl. S. 220). Gamboni 2010, 213-214 und 220. Vgl. »Ambiguity in images thereby also becomes essentially a question of reception« und: »Thus, the reception of the image becomes central: the seeing of aspect is the decisive process in which pictorial ambiguity becomes manifest. But this seeing aspect is, third, not only an optical but also essentially a mental act. It requires not only a capacity to think but also essentially the imagination.« Krieger 2018, 67 und 69 (vgl. die deutsche Fassung im vorliegenden Band, S. 15-71).
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Aber wie können wir uns den Umgang mit Ambiguität in ikonischen Situationen im Kontext von Kunst vorstellen? Wie zeigt sich Ambiguität für jemanden? Wie lassen sich ambige Erfahrungen erforschen? Und inwiefern ist der strategische Einsatz zu denken? Um diese Fragen zu beantworten, gehe ich zunächst einen Umweg, indem ich von einer künstlerischen Arbeit ausgehe.
Vom Zähmen ambiger Erfahrung In der Hamburger Kunsthalle konnte man 2017 eine fast vierminütige Videoarbeit in Großprojektion betrachten: Sie präsentiert das Fenster einer Behausung, an dem sich ein korpulenter Mann in kariertem Hemd zeigt und später im Hintergrund eines Zimmers verschwindet. Die Glasscheibe des Fensters wird durch eine weiße Sprosse in der Mitte des Fensters geteilt, sodass das stark querformatige Videobild wie ein Splitscreen erscheint. Über die gesamte Breite des Fensters spiegelt sich der Außenraum des Szenarios, der sich aus verschiedenen Laub- und Nadelbäumen zusammensetzt. Wenn der Mann nah an die herangezoomte Scheibe herantritt, wird im rechten Fensterteil die Spiegelung der Bäume von seiner helleren Erscheinung überlagert. Indem der Mann aus einem dunklen Hintergrund hervortritt, reflektiert die Umgebung des Hauses entsprechend vornehmlich auf der linken Bildseite. Der Mann geht zum Fenster und blickt uns bzw. die Kamera direkt an, für wenige Sekunden richtet sich der Blick leicht ab, dann wieder frontal an uns. Der Mann neigt den Kopf, schaut vor sich, nach unten, stützt sich auf, bewegt seinen Mund dabei, als ob im Oberkiefer das Gebiss fehlte und weicht leicht vom Fenster zurück. Wieder schaut er nach draußen, wendet sich schließlich mit seinem Körper um, wandert im Bildraum nach links und entzieht sich im hinteren Bereich des Zimmers unserem Blick. Im Hintergrund hört man das Gurren von Tauben und Vogelgezwitscher. So könnte man die offene ›Handlung‹ dieses Films umreißen. Und weiter könnte man diese Darstellung als Szene visueller Ambiguität des georgischen Künstlers Vajiko Chachkhiani in der Ausstellung Warten 20173 auffassen: als Erscheinen und Verschwinden von Sichtbarkeit im Medium des bewegten Bildes, als Überlagerung des Innen- und Außenraums in der Fensterscheibe, als Berührung und Distanzierung eines Blickes, kurz: als Aufführung von Bildlichkeit. Was hier dargestellt wird, grenzt an das Kontingente, das uns alltäglich begegnen könnte, wie ein zufälliger Blickwechsel mit einer unbekannten Person. Und doch ist der Ausschnitt näher herangezoomt, spiegelt sich weder eine Kamera im Fenster noch die Person, die filmt. Die Position der Urheber*innen scheint damit ebenso ungeklärt wie unsere 3
Hamburger Kunsthalle, Ausstellung Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit. Kuratiert von Dr. Brigitte Kölle. 17. Februar 2017 bis 18. Juni 2017.
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Abb. 1: Vajiko Chachkhiani: Life Track, 2014, HD-Videoprojektion, Farbe. 3:45 Min.
als Betrachter*innen. Von welchem Ort aus sehen wir diesen Menschen? Woher nehmen wir uns das Recht, unsere voyeuristische Sicht auf einen privaten Raum zu richten? Was sehen wir, wenn wir das Video sehen? Was sieht diese Person? Warum schaut sie so lang in die Richtung der Kamera, sodass man denken könnte, der Mann blicke uns an? Was geht in dem Menschen vor sich, wenn er uns zu fixieren scheint? Wen sieht er als Gegenüber? Was sähe er in mir? Was löst dieser Blick in mir aus? Fühle ich mich gewissermaßen ›gesehen‹ oder geht der Blick an mir vorbei? Erscheint er mir unmotiviert, inszeniert oder indifferent? Was würde das ändern? Was bedeutet das kurzfristige Wegsehen des Mannes? Warum wendet er sich schließlich ab? Sehe ich mich durch seinen Blick anders oder von anderswo, so wie ich mich ohne diesen nicht sehen könnte? Sobald wir diese und ähnliche Fragen stellen, haben wir uns schon in ein virtuelles Zwischenreich zu dem Protagonisten im Video begeben und eine soziale Dimension auf Sichten und Perspektiven entworfen, die mit dem gleichzeitigen Wissen darüber, dass der Blick medial und dramaturgisch inszeniert wurde, in ein Spiel geraten kann. Ohne, dass wir darüber verfügen könnten, trifft uns etwas in diesem Blick, von dem wir uns angesprochen, herausgefordert oder berührt fühlen können oder eben nicht. Über diese Ebene könnte man beispielsweise sprechen, wenn man diese Arbeit mit anderen in einem pädagogischen Kontext anschaut. Man könnte auch über die Ebene der Medialität sprechen, wie und wann etwas im Bild sichtbar wird, was die Bilder motivisch wie medial zeigen und was sie zugleich verbergen, welche Funktion wir dem Bildlichen, welche dem Auditiven beimessen etc.
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Auf der Homepage der Kunsthalle wird die Arbeit jedoch, ebenso wie es in einer Führung im Museum geschehen kann, mit wenigen Sätzen vereindeutigt: »Vajiko Chachkhianis Arbeiten nähern sich auf poetische wie eindrückliche Weise existentiellen Fragen des Lebens. Sein Film Life Track beginnt mit der stimmungsvollen Außenaufnahme eines Fensters. Der Ausschnitt lässt das dazugehörige Gebäude, ein Hospiz, nur erahnen.« Weiter heißt es: »Der berührende, wie kraftvolle Blick eines Menschen, der am Ende seines Lebens auf den Tod wartet, hallt in uns noch lange nach Verlassen der Ausstellung nach« (Hamburger Kunsthalle 2017) Diese sprachlich überformte Deutung des Gesehenen stellt eine massive Zähmung der Ambiguität unseres Blickwechsels dar. Das Unbehagen, das sich durch diese semantische Engführung einstellt, verweist allererst darauf, dass hier etwas abgelöst wird, was leiblich und vorprädikativ situativ zusammengehörte. Man könnte die Engführung sogar als symptomatische Abwehrreaktion auf eine sehr offene Handlung und Darstellung auffassen. Die semantische Aufladung durch Hinzufügen eines Kontextes, hier: des Todes, übertönt weitere mögliche Assoziationen. Was hier dem Kunstwerk eine vermeintliche Sinndichte als sprachliche Zuschreibung unterstellt und dem Sichtbaren eine existenzielle Brille aufzwingt, überdeckt zugleich das visuell vielschichtige Spiel mit Sichtebenen, mit Performanzen und Resonanzen des Blickgeschehens sowie mit Involvierungs- und Affizierungsangeboten für Betrachter*innen. Das vermeintliche Wissen über das dargestellte Gebäude als Hospiz, (das hier noch zudem ohne die Quelle anzuführen benannt wird), dominiert unsere Erfahrung und stellt eher eine Schließung dar, statt sich dem Möglichen im Sichtbaren zu öffnen. Die potentiell ambige Erfahrung eines Blickwechsels zwischen einer gefilmten Person und mir als Betrachter*in, in der immer schon ein Begehren mitschwingt, das die eigene Aufmerksamkeit steuert, wird überführt in ein eindeutiges Bedeuten. Indem wir den Mann durch die Deutung als Sterbenden ansehen, verändert sich nicht nur ein Aspekt der Figuration, bzw. der Motivik, der Semantik, sondern vielmehr der Sinn der gesamten Bildsituation. Denn, selbst wenn wir uns nicht auf den Blickwechsel einlassen wollen, sind wir, indem wir schauen, durch den Betrachter*innenstandpunkt vor der Projektion der Bilder doch leiblich und affektiv involviert in diesen Blickwechsel. Man kann sich fragen, wie es wäre, wenn wir eben diese Auslegung vom Tod her bei der Betrachtung selbst assoziiert hätten und ich würde die These aufstellen, dass sich das Unbehagen dann nicht eingestellt hätte, da die Deutung lediglich als eine Möglichkeit aufgeschienen wäre. Gewiss hätte sich auch hier die Einstellung der Betrachter*innen wie in einem Aspektwechsel (vgl. Lüthy 2012, 135) verschoben aber dennoch wäre etwas in der Schwebe gehalten worden, was dieses Video auszeichnet und uns nun mit einer gewissen Gewalt als Wissen verkauft wird.
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Können wir nach einer solchen Interpretation noch zurückkehren zu dem Blickwechsel, wie er uns in aller Offenheit zuerst begegnete? Mir gelingt es nicht mehr, das Wissen um den potentiell nahen Tod des Protagonisten wegzudenken. Mehr noch: wenn ich die semantische Zuspitzung kenne, wird das Oszillierende dieser audiovisuellen Darstellung, das etwas mit dem Vorprädikativen (MerleauPonty), dem Latenten, Unbewussten und der eigenen Affizierung zu tun hat, sehr schnell stillgestellt. Und damit einhergehend geschieht etwas, das ich bemerkenswert finde: Es scheint mir, dass indem der Protagonist als Sterbender identifiziert wird, die semantische Eindeutigkeit meine Aufmerksamkeit so schnell ermüden lässt, dass ich den eigenen Blick nicht mehr benötige, sondern dissoziiere und suspendiere. Die visuelle Faszination, in die ich leiblich über meinen Blickwechsel verstrickt war und die zugleich ja medial gebrochen war, scheint erschöpft. Imaginationen, Assoziationen und Erinnerungen könnten an die Stelle des Blickes treten. Der Grund, warum ich in diesem Beispiel so ausführlich auf die genuin leibliche und sinnliche Situiertheit (Merleau-Ponty 1966, 464) und genauer noch auf die »ikonische Situation« (Haas 2015, 324) eingehe, hängt damit zusammen, dass wir eine ambige Erfahrung nicht direkt erleben können, sondern sie sich uns erst im Nachhinein als solche erschließt. Ebenso wie sich das Mediale, hier: die bildliche Rahmung des Blickwechsels nur indirekt zeigt, also, durch etwas (hier: die Bildlichkeit der Videoprojektion) hindurch, das wir nicht zusätzlich auch noch sehen, sondern das als Medium des Sehens unsere Seherfahrung erst ermöglicht (vgl. Waldenfels 2010, 43f.), verweist die Zähmung der Ambiguität überhaupt erst auf den Prozess der Engführung und Schließung durch ein expliziertes positives Wissen. Erst rückwirkend erkennen wir, dass mit der semantischen Dominanz einer sprachlichen Zuschreibung etwas verloren ging, das unser Sehen in Gang hielt, uns motivierte und involvierte und die Suche nach Bedeutung in Gang setzte. Was aber bedeutet es, dass sich eine ambige Erfahrung unserem Wissen entzieht, dass wir sie nur im Nachhinein und indirekt erschließen können? Wenn ich eingangs behauptet habe, dass Ambiguität nicht unabhängig von denjenigen zu denken ist, denen sie erscheint, wie zeigt sich Ambiguität dann für andere KunstRezipient*innen? Wie können wir den Umgang mit ambigen Erfahrungen genauer erforschen? Und wie gelingt es, ambige Erfahrungen in der Verständigung über Bilder nicht zu zähmen, sondern sie in der Schwebe zu lassen?
Vom Begriff (ambiger) Erfahrung Um mich diesen Fragen anzunähern, nehme ich Bezug auf den Begriff der Erfahrung nach Bernhard Waldenfels, der Erfahrung als ein prozessuales Wechselverhältnis von Widerfahrnis (Pathos) und Antwort (Response) auffasst, das durch einen
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Bruch (Diastase) voneinander getrennt und verschoben wird (vgl. Waldenfels 2010, 11). Unter Widerfahrnis (Pathos) versteht Waldenfels, »daß uns etwas zustößt, zufällt, auffällt oder einfällt, daß uns etwas trifft, glückt und auch verletzt« (Waldenfels 2015, 20), etwas, das wir nicht beobachten können, sondern das sich nur »aus der Teilnehmerperspektive [erschließen]« lasse (ebd., 21). Das Widerfahrnis zeichne sich dadurch aus, dass es nicht im Eigenen beginne, wir nicht darüber verfügen können und wir es eher wie ein Patient erleiden als es aktiv erzeugen (ebd.). Das Spektrum der Widerfahrnisse umfasse banale Alltagserfahrungen ebenso wie traumatische Verletzungen und Schockerlebnisse. Widerfahrnisse seien vorprädikative Geschehnisse (ebd., 33), die in jedem Falle unbewusst bleiben (ebd., 193). Sie seien Vorgänge, die eine starke Wirkung zeitigen, indem wir das, wovon wir getroffen sind, umwandelten in das, worauf wir antworten. Das Antworten (Response), als zweites Ereignis, knüpfe an Affizierungen an. Während Antworten im engeren Sinne (to answer) bedeute, eine Frage zu beantworten und auf die Erfüllung einer Wissenslücke ziele (Waldenfels, 2000, 365), besage das Antworten im weiteren Sinne (to respond), »daß ich überhaupt auf fremde Ansprüche eingehe, ganz gleich, was ich im einzelnen von mir gebe«; dazu gehöre auch die Möglichkeit der »Antwortverweigerung« (ebd., 366). Das Antworten sei unausweichlich, es setze jedoch kein autonomes Subjekt voraus, sondern bedeute, »daß wir zu dem Subjekt werden, das wir sind, indem wir auf Einwirkungen antworten« (Waldenfels 2015, 82). Diese »weite Form des Antwortens«, die auch mit der eigenen Bewusstwerdung zusammenhängt, wird bei Waldenfels nicht nur als sprachliches, sondern als leibliches Antworten konzipiert (vgl. Waldenfels 2000, 366). Indem Waldenfels das Antworten vom persönlichen Getroffensein her denkt, schimmert die »pathische Färbung« hindurch (Waldenfels 2002, 60). So, »wie ich jemanden nur dann vermisse, wenn seine Abwesenheit mich schmerzt«, zeige sich das uns jeweils Unzugängliche und Fremde, indem es sich entziehe (Waldenfels 2012, 114). Dieser Entzug aktualisiere sich jedoch nicht auf der Folie einer gemeinsamen Ordnung, es sei nichts, worüber man sich »unterhalten und einigen könne […]«, vielmehr gebe es »keine Symmetrie zwischen Eigenem und Fremdem« (Gehring, 1999, 434). Im Doppelereignis von Pathos und Response bleiben beide aufeinander bezogen, werden aber dennoch durch einen Bruch (Diastase) voneinander getrennt. Die Diastase separiert und dynamisiert den Übergang zwischen einem erleidenden und einem antwortenden Selbst. Entscheidend ist dabei, dass die Diastase nichts Vorhandenes auseinandertreten lässt, sondern eher ein komplexes Differenzierungsgeschehen in Gang setzt und eine zeiträumliche Verschiebung herbeiführt, »in der das, was unterschieden wird, erst entsteht« (Waldenfels 2002, 174). Diese Verschiebung von Raum und Zeit, Selbst und Anderen, Eigenem und Fremden bringt eine ursprüngliche Nachträglichkeit des Antwortens mit sich: »Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage« (ebd.,
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59). Das Fremde konstituiert sich als Fremdes, als eine Art Überschuss, »indem wir darauf antworten«, es erweist sich damit als das »Unvorstellbare und Undarstellbare in allen Vorstellungen und Darstellungen«, vergleichbar mit dem sogenannten »Paradox des Ausdrucks« (Waldenfels 1999, 150). Mit diesem Erfahrungsbegriff von Waldenfels wird es möglich, eine ambige Erfahrung einzuordnen und genauer zu fassen. Während schwache Erfahrungskonzeptionen lediglich im Horizont der Erwartungen und Ordnungen verbleiben und auch die Fremdheit nur relativ zur vorhandenen Ordnung und also vorübergehend erscheinen lassen, zeichnet sich die mit Waldenfels skizzierte starke oder radikale Erfahrungskonzeption dadurch aus, dass sie dem Fremden, der Überraschung und dem Zufall ein starkes Gewicht beimisst (Waldenfels 2002, 30f.). Analog zur Fremdheitserfahrung nach Waldenfels lässt sich die Ambiguitätserfahrung als etwas beschreiben, das sich erst in der Responsivität zeigt, indem es sich entzieht. Entsprechend können wir Ambiguität entweder auf der Ebene einer relativen Ambiguität innerhalb einer bestehenden Ordnung verorten, wenn sie beispielsweise nur vorübergehend besteht, oder als etwas, das sich als grundlegende Unruhe, also als radikale Ambiguität bemerkbar macht, wenn sie unauflöslich bleibt. Wenn ich nun zurückkomme auf die phänomenologische Eingangsbehauptung meines Textes, dass man Ambiguität nicht allein ausgehend von der Bildgestalt beschreiben kann, sondern dass sie in Relation zu denjenigen betrachtet werden muss, denen sie widerfährt, dann können wir von außen meist nur darüber spekulieren, ob wir es mit einer relativen oder radikalen ambigen Erfahrung, d.h. mit einem relativen oder radikalen Entzug zu tun haben könnten. Und prinzipiell wäre am Beispiel von Chachkhiani sowohl eine relative als auch eine radikale ambige Erfahrung mit und ohne Zusatzinformation an dieser Arbeit denkbar. Mit dieser Information wäre eine relative ambige Erfahrung beispielsweise dann gegeben, wenn es uns gelänge, den Protagonisten durch die Deutung als Kranken bis hin zum potentiell Sterbenden zu betrachten, also als jemanden, der ›nur‹ relativ von uns entfernt wäre. Wir würden dann die Interpretation lediglich als semantische Zusatzinformation innerhalb der bestehenden Ordnung auffassen, die unsere eigenen Blickanteile kaum verschieben würde und somit den Sinn der ikonischen Situation weitgehend unbeeinflusst ließe. Wenn wir uns den Blickwechsel jedoch als responsiven vorstellen, der sich mit dem implizit und latent Bedeuteten und Begehrten veränderte, je nachdem wie, von woher und von wem wir angeblickt werden, wäre eine radikale ambige Erfahrung, im Sinne eines radikalen Entzugs vom Tod her, ebenso möglich. Indem wir uns vorstellten, der Angesehene würde uns von der Schwelle des Todes her anblicken, könnte das unsere Ordnung des Sehens komplett überschreiten und verrücken. Qua Bildlichkeit und affektiver Verstrickung könnten wir im Blickwechsel mit dem Unbekannten die für uns ansonsten unfassbaren Grenzen des Sehens und Erfah-
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rens an der ›Schwelle‹ des Todes gewissermaßen virtuell durchspielen, uns dadurch von woanders her sehen, uns dabei selbst fremd werden und uns so auf andere Weise ›sehen‹, als wir dies (je) zuvor getan haben. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die Information, es handle sich um einen Sterbenden in einem Hospiz, ihrerseits nicht nur zähmen, sondern eine ambige Erfahrung auch allererst auslösen könne. Dies ist prinzipiell vorstellbar. Da die Motiviertheit unseres Blickwechsels jedoch durch ein Begehren entfacht wird, das unsere Blicke grundiert und ausrichtet und über die Zuschreibung von jemand als jemand Bestimmtes hinausgeht, frage ich mich, wie lange das Ambige der Erfahrung sich dann in der Schwebe halten könnte, also in Spannung bliebe, wenn wir das projizierte Gegenüber als Sterbenden ausweisen würden. Wie aber lassen sich nun ambige Erfahrungen, die zudem noch durch Bilder hervorgerufen wurden, überhaupt erforschen?
Vom Erforschen der Bilderfahrung Wenn ich bereits gesagt habe, dass sich eine ambige Erfahrung erst zeigt, indem sie sich entzieht, stellt sich zuerst die Frage, wie wir Ambiguität in Bezug auf Bilder beschreiben und darstellen können, ohne ihr durch unsere Beschreibung das Ambige zu rauben (vgl. Waldenfels 2012, 178). Wie gelingt es also, die Ambiguität in der Forschung auch als radikale Weise der Erfahrung thematisch werden zu lassen, ohne sie hermeneutisch zu glätten? In Bezug auf Waldenfels habe ich analog zur indirekten Beschreibung der Phänomenologie eine »indirekte Empirie« entwickelt, die ich im Folgenden skizzieren werde (vgl. Sabisch 2018, 68-74). Konkret habe ich dazu ein experimentelles Forschungssetting entworfen, in dem ich Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Altersstufen mit künstlerischen Bildsequenzen in Büchern konfrontierte, um sie darauf »antworten« zu lassen. Die Art und Weise des Antwortens konnte möglichst frei und auf vielfältige Art und Weise (d.h. leiblich, grafisch, textlich, sprachlich etc.) geschehen. Das Treffen in Kleingruppen fand parallel zum jeweiligen Kunstunterricht, meist in einem benachbarten Raum statt, um einen intimeren Rahmen ohne Benotungsdruck zu schaffen. Mit diesem Forschungsdesign verlagerte ich den Fokus von der Bildgestalt als einem Pol und dem Subjekt als zweitem Pol auf das Zwischenreich des singulären Bildumgangs bzw. der singulären Bilderfahrung. Die Auswahl der Gruppen von 3-5 Schüler*innen erfolgte durch die Kunstlehrer*in. Die Auswahl der Bildsequenzen sollte für unterschiedliche Altersstufen von der ersten bis zur elften Klasse interessant sein, Fremderfahrung ermöglichen, Bildlichkeit reflektieren, die Verkettung der Bilder thematisieren und Bilderfahrungen hervorlocken können.
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Mein Erkenntnisinteresse bestand nicht vordergründig darin, die Vielfalt unterschiedlicher Weisen des Antwortens zu erforschen, sondern auf der Mikroebene zu einer detaillierteren Erforschung der Antwortprozesse zu kommen und die spezifische »Arbeit der Erfahrung« (Waldenfels 2015, 262) ansatzweise in den Blick zu nehmen. Das Analysebeispiel, das ich nicht direkt in der Forschung angestrebt habe (man kann ambige Erfahrungen nicht direkt induzieren), sondern das ich im Nachhinein für die Frage nach ambigen Erfahrungen ausgewählt habe, basiert auf einer Auseinandersetzung von zunächst vier Schüler*innen mit dem Bilderbuch Lo straniero der Hamburger Künstlerin Simone Kesting. Die Bildfolge besteht aus 21 Zeichnungen (24 x 16,5 cm) auf jeweils einer Doppelseite, deren linke Bildhälfte weiß grundiert und nur mit der Seitenzahl bedruckt ist, während die rechte Seite schwarz-weiße Bleistiftzeichnungen zeigt.
Abb. 2-3: Simone Kesting: Lo Straniero, 2012, Berlin. Courtesy: Simone Kesting
Als ich mich im Oktober 2013 mit einer Gruppe von drei Schülerinnen und einem Schüler traf, um ihren Bildumgang mit zwei kontrastiven Bildsequenzen zu erforschen, wurde die gesamte Zeit (78 Minuten) qua feststehender Kamera und einem professionellen Filmer die Situation aus schräg frontaler Ansicht video- und audiografiert (vgl. Sabisch 2018, 251ff.). Mein Impuls lautete, dass sich die Jugendlichen untereinander mit den Bilderbüchern beschäftigen sollten, die Weise dazu war freigestellt, es gab Stifte sowie Zeichenpapier. Nachdem sich alle vier Jugendlichen der elften Klasse zunächst einem Bilderbuch widmeten, entstand nach ca. 41 Minuten die Situation, dass ein Junge und ein Mädchen zu dieser Bildsequenz zeichneten, während sich die beiden Mädchen, die ich Annika und Beeke nenne und um die es im folgenden Beispiel geht, zu zweit
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für ca. zwölf Minuten das Buch Lo straniero anschauten. Im Anschluss an das wiederholte Betrachten, Durchblättern und Kommentieren der Bildsequenz versprachlichten die beiden Mädchen für die Gruppe ungefähr sieben Minuten ihre Betrachtung, um dann noch einmal für ca. 18 Minuten erneut mit der gesamten Schüler*innen-Gruppe zu sprechen. Als Annika und Beeke für diese gesamte Gruppe das Buch durchblättern, zeigten und dazu etwas sagten, wurde ich im Sichten der Videografieausschnitte auf ein wiederholtes Phänomen aufmerksam, das ich rückblickend als potentiell ambige Erfahrung deute.
Vom Sich-Zeigen ambiger Erfahrung im Antworten auf Bilder Das Phänomen bestand zum einen in einem stark ausgeprägten gestischen Zeigeverhalten von Anika und Beekes Händen, die ich als Verkörperungen bezeichne und im Folgenden als überzeichnete Filmstandbilder darstelle. Zwar gab es vereinzelt auch in anderen Gruppen solche Verkörperungen, aber weder kamen sie in dieser Häufigkeit noch in der Wiederholung zu spezifischen Bildern zum Vorschein, sodass der Verdacht einer dezidierten Bezugnahme auf spezifische Bilder für mich nahelag. Zum anderen bestand das Phänomen in der gemeinsamen Versprachlichung an der Grenze zum Wortlosen. Um das Antwortverhalten von Anika und Beeke auf die Bildsequenz Lo Straniero genauer zu untersuchen und daraus einen Fall zu bilden, habe ich in der Falldarstellung die sequentielle und situative Einbettung herausgearbeitet, die die Kombinatorik von Versprachlichung und Verkörperung in Relation zu Kestings Bildern zu fassen versucht. Dazu habe ich aus der vierminütigen Videografie 122 Video-Standbilder extrahiert, die pro Bild einen Richtungswechsel in der Bewegung aufweisen und diese in Relation zu den O-Tönen von Anika, Beeke und mir dargestellt. In der Fallanalyse habe ich im Anschluss die einzelnen Verkörperungsszenen zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei fiel mir auf, dass in allen Verkörperungen eine spezifische Modalität mimetisch verkörpert wird. Deutlich wurde mir dies durch das zeigende Sagen bzw. die deiktische Lexis in Begriffen wie »so«. Als ich nach dieser Art von Überlagerungen von Sagen und Zeigen in diesem Fall suchte, entdeckte ich, dass es keine einzige Verkörperungsszene gibt, die nicht parallel von Sprache eingebettet war, also anstelle der Sprache aufträte. Ich fragte nach der Verwobenheit der beiden Antwortregister und danach, inwiefern sich diese Verflechtung auf das Sehen in den Bildern zurückführen lässt und ob es mit der Darstellung der Bilder überhaupt zusammenhängt. Um dies herauszufinden, suchte ich nach solchen Bildern in dieser Sequenz, zu denen nichts gezeigt wurde. Ich stellte Vermutungen an, wie der Zusammenhang der Verkörperungen als korrespondierende Gestik zu
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Abb. 4-5: Andrea Sabisch: Verkörperungen von Annika und Beeke.
Einzelbildern gedacht werden könnte, kam aber zu dem Schluss, dass es nicht die einzelnen Bilder waren, die zum Anlass wurden (vgl. Sabisch 2018, 292). Vielmehr schien mir es mir aufschlussreich, dass die Schwierigkeit der Versprachlichung an dieser Passage besonders deutlich offenbar wurde. Das Ringen mit der Sprache zeigt sich an vielen und langen Pausen, der wiederholten Betonung des Nichtverstehens dessen, was Annika und Beeke sehen, sowie an einem vorsichtigen, tastenden Sprechen, in dem nur wenige Worte von einer Person vorgebracht werden und die Sätze gemeinsam konstruiert werden. Die Tatsache, dass die beiden Schülerinnen das Buch Lo straniero anfangs und auch zum Schluss der Bildsequenz sprachlich so behandelten wie eine Erzählung, verleitete mich zu der Annahme, dass eine Untersuchung der Korrespondenz von Verkörperungen zu Bildgruppen erhellend sein könnte, und ich fragte entsprechend danach, inwiefern sich die mittlere Bildsequenz (Abb. 7-13) bei Kesting von der ersten und letzten unterscheiden lässt und inwiefern sich dies in den Verkörperungen der Mädchen zeigt. An dieser Stelle setzt der folgende Auszug meiner Analyse ein: Zwar beziehen die Mädchen im Zeigen einzelne Bilder, gewissermaßen als Detail auf ein vorher gezeigtes Motiv, wie z.B. das Bild der Hände, aber eine übergreifende Ordnung wird zumindest im Gesagten nicht erkennbar. Vielmehr droht ihre Rede davon, dass sich jeweils etwas miteinander verbindet, schon fast zur Floskel zu werden. Bemerkenswert daran ist jedoch nicht bloß die inhaltliche, sondern auch die formale Variation dieser Wiederholung. Während Beeke zu Beginn der Verkörperungen noch davon spricht, dass »sie« sich nicht spiegelt, heißt es kurz
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darauf: »das führt sich halt hier fort«; nun sind es die Haare, die »verbinden sich fast« oder »irgendwie«; dann wieder stellt sich Anika vor, dass »die« so ihre Gedanken verbinden. Also, »dass sie die einfach austauschen« und Beeke ergänzt, »dass man die sozusagen filtert«. Sodann vernehmen wir, dass »alle Gedanken irgendwie miteinander verbunden sind«; im nächsten Bild, versuchen »sie ihre Gedanken … zu waschen« und zur letzten Verkörperung hören wir, »dass sie sich zusammen verbinden, mit ihren Händen. Dass sie ihre […, AS] irgendwie Gedanken […, AS] miteinander austauschen.« Was sich an diesen Sätzen zeigt, ist, dass das Subjekt instabil ist und dauernd wechselt. Mal sind es die weiblichen Wesen, die zum Subjekt werden, dann die Gedanken. Zwischen ihnen schwankt die Rede hin und her. Wer oder was hier Subjekt oder Objekt darstellt, scheint für die Schülerinnen in den Bildern austauschbar. Da sowohl die Figuren oder Personen als auch die Gedanken grammatisch weiblich sind, wird die Verschiebung zudem noch stärker verschleiert. Ausgehend vom Dargestellten in den Bildern kann man umgekehrt fragen: Wie kann etwas im Bild überhaupt zum Subjekt oder Objekt werden, wenn es sich verdoppelt, ausdehnt, verbindet, umwandelt und bewegt, wenn die Referenzen rein virtuell werden und wir nichts mehr (wieder)erkennen? Entscheidend für dieses Gleiten zwischen Subjekt und Objekt erscheint mir, dass die Rolle des Agens völlig unklar ist. Wie ich bereits im Kontext des reflexiven Verbs analysiert habe, überlagern sich dabei grammatisches Subjekt und Objekt, sodass es nebulös wird, wer hier verbindet. Die reflexiven Verben tauchen allein viermal in der Verkörperungssequenz auf, hinzu kommt ein unterdrücktes Agens im Passiv (»dass alle Gedanken irgendwie miteinander verbunden sind«) und die Passivierung des Subjekts (es »passiert«). Eben diese beiden letztgenannten Passivkonstruktionen sind es, die zu denjenigen Bildern verwendet werden, zu denen keine Verkörperungen stattfinden. Wir können also die Verkörperungen in Zusammenhang bringen mit dem Gleiten zwischen Subjekt und Objekt und der Frage, wer oder was im Bild etwas aktiv verursacht. Daher betrachte ich die Verkörperungen auch nicht bloß als mimetische Nachahmungen des Gesehenen, denn jene manifestieren im abgebildeten Einzelbild letztlich nur einen stillgestellten Moment, sondern vielmehr als Übertragung auf das leibliche Selbst, im Sinne einer Dynamisierung und Aktivierung. So verstanden, versetzen sich die Schülerinnen virtuell an die Stelle des Subjekts im Bild. Mit ihrer Bewegung beleben und animieren sie dadurch einzelne Szenen, wie auch (und daher spielt die mittlere Sequenz so eine große Rolle) die Montagen zwischen den Bildern. Die Verkörperungen werden zum Movens der betrachteten Bilder. Wir können jedoch weder die Einzelbilder noch die Bildzwischenräume allein dafür verantwortlich machen, dass sie Verkörperungen hervorbringen, denn als Anika und Beeke sich die Bilder das erste Mal angesehen haben, zeigten sie
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sich gegenseitig zwar etwas auf den Bildern, indes verkörperten sie nichts. Die Verkörperung setzte erst ein, als sie sich miteinander über die Bilder unterhielten. Erst in Konfrontation mit der Versprachlichung zeigte sich das körperliche Gebaren und zwar wiederholt zu einzelnen Bildern. Wie ist das zu erklären? Um einen grammatisch korrekten Satz zu bilden, braucht es ein Subjekt und ein Prädikat, eventuell ein Objekt. Es besteht also ein sprachlogischer Zwang zu artikulieren, wer da etwas tut. Im Bild selbst hingegen scheint genau dieses verursachende und aktivische Moment ausgespart. Das Bild lässt offen, wer da gezeigt wird und was er, sie oder es tut. Auch das, was sich ereignet bleibt seltsam unklar, lediglich wird ein Zueinander und ein Zwischen der Figuration zeichnerisch dargestellt. Es besteht also ein Sinnkonflikt zwischen der Versprachlichung der einzelnen Bilder wie auch deren sprachlicher Verkettung untereinander einerseits und der bildlichen Darstellung mitsamt deren Montage andererseits. Was das Bild in der Schwebe lässt, muss sprachlich artikuliert werden. Was die assoziative und richtungsbasierte Montage der Bildordnung zeigt, muss in eine sprachliche und das heißt sukzessive, zeitliche Ordnung (und hier gibt es eine Norm der Narration) überführt werden. An diesen Knotenpunkten kommen meines Erachtens die Verkörperungen zur Erscheinung (vgl. Sabisch 2018, 295). Der hier dargestellte Ausschnitt der Fallanalyse zeigt die Komplexität des Antwortens als Verkörperung zwischen sprachlicher und visueller Ordnung. Die Leistung der Verkörperungspraxis für die Bilderfahrung sehe ich darin, dass die Verkörperungen ein Differenzierungsgeschehen anzeigen, eine leibliche Erfahrungsarbeit, die sich zwischen sprachlicher und bildlicher Logik bzw. zwischen Sagen und Zeigen ereignet. Bezogen auf diesen Fall ist es aufschlussreich, dass die Verkörperungen just in dem Moment auftreten, in dem das Sagen zum dynamischen Gerüst für das Zeigen wird. Sie ersetzen die sprachliche Zuschreibung und schieben sie auf. Indem sie aber nicht nur etwas zeigen, sondern auch aktivieren, kann man nicht mehr nur von syntaktischen Einschüben sprechen, die doch wieder ein Zeigen im Sagen darstellten. Die Verkörperungen scheinen ihrerseits vielmehr die Aktivierung oder Animierung des Satzes zu übernehmen. Sie setzen genau dann aus, wenn es sich um passiv formulierte Passagen handelt. Umgekehrt zeigen sie sich gerade dann, wenn aktivische und reflexive Passagen formuliert werden. Insofern liegt es nahe anzunehmen, dass die Verkörperungen ihrerseits nicht nur visuelle Relationen dynamisch werden lassen und das Sinnliche aktivieren, sondern dass sich diese Aktivierung umgekehrt auch im Sagen niederschlägt. Insofern bildet nicht nur das Sagen die Folie des Zeigens, wie es Stoellger für die deiktische Lexis thematisiert (Stoellger 2014, 86), sondern auch das Zeigen trägt zur dynamischen Weiche, zur Ordnungsbildung des Sagens bei. Dementsprechend kann ich in den Verkörperungen Ersatzbildungen erkennen, die gleichsam eine strukturbildende Funktion
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aufweisen. Sie verleihen nicht nur Sinn, sondern sie beleben das Sinnliche und dynamisieren Relationen nicht nur im Zeigen, sondern auch im Satz. Diese leibliche Aktivierung wiederum scheint den Selbstbezug zu stabilisieren. Aber genau diese Funktion, die Stabilisierung des Selbstbezugs ist es, die möglicherweise indirekt auf einen Selbstentzug und damit u.a. auf eine mögliche ambige Erfahrung verweisen kann. Denn wozu bräuchte es eine Stabilisierung, wenn es keine Destabilisierung gegeben hätte? Können wir also in den Verkörperungen zugleich das »Nachwirken eines Konflikts«4 erkennen, eine Kompensation der grundlegenden Ambivalenz zwischen einem Antworten-Wollen und der Not des Nicht-Sagen-Könnens, verstanden als nicht pathologisches Symptom (vgl. Waldenfels 2015, 278-279 und Didi-Huberman, 2000, 188)? Zeigt sich hier nicht die ambige Erfahrung einer unübersetzbaren bildlichen Darstellungsproblematik in das Medium der Sprache, die dann mittels leiblicher Verkörperungen im Prozess des responsiven Antwortens diese »Ambivalenz der Gefühlsregungen« (Freud [1940] 1999, 42) zwischen Wunsch und Furcht aufsprengt und verschiebt? Analog zur Verschiebung der jeweils singulären sprachlichen Artikulation hin zu einer ko-konstruierten Rede, deute ich auch die Verkörperungen als Öffnung zu einer Zwischenleiblichkeit, die ich neben der leiblichen Aktivierung vor allem als Verständigungsebene zwischen den Mädchen, angesichts ihrer jeweiligen Sprachlosigkeit auffasse. Begreift man die Verkörperungen zudem als »Vergegenständlichung des Pathischen« (Waldenfels 1994, 250), wird noch eine andere Bedeutung offenkundig: Sie werden zu Prozessen des Verbildlichens, die aus dem Bildgegenstand nicht nur nachahmend etwas aufgreifen und extrahieren, was dort schon dargestellt wurde, sondern die das im Bild Dargestellte zum eigenen Leib in ein Verhältnis setzen, dadurch animieren und auf das intersubjektive Geschehen hin öffnen. Die Verkörperungen werden also selbst zu einem leiblich grundierten Bild, indem sie sich dem Gesehenen annähern, sich angleichen, etwas aus der visuellen Darstellung in die leibliche Artikulation übertragen, fortführen, motivieren und für andere sichtbar machen. Die Verkörperungen werden so zitierbar, sie werden zu einem Bild als Zitat. 4
Mit dem Symptombegriff versucht Didi-Huberman, dem verkürzten ikonologischen Ideal der Bildauslegung eine andere Begegnung gegenüberzustellen, nämlich einen »Zugang zu so etwas wie einem Undenkbaren, das unter unseren Augen über die Bilder streift. Als Nachwirkung eines Konflikts, über den wir niemals gut im Bilde sein werden, als Wiederkehr des Verdrängten, dessen Namen wir nie mit Genauigkeit werden nennen können, als eine Bildung und Entstellung zugleich, als Gedächtnisarbeit und gleichzeitig als eine Arbeit des Abwartens läßt das Symptom vor unserem Blick das Ereignis einer Begegnung vorüberziehen, bei welcher der konstruierte Anteil des Werks unter dem Schock und dem Stoß eines verfluchten Anteils ins Wanken gerät. Da genau begegnet das Gewebe dem Ereignis des Risses.« DidiHuberman 2000, 188.
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Auf der einen Seite werden Anika und Beeke durch die Verkörperungen selbst zu einem Bild, indem sie sich dem Bild in seiner Medialität angleichen und sich dem Bild gewissermaßen unterwerfen. Auf der anderen Seite schaffen sie dadurch Distanz, dass sie etwas zitierfähig machen, dass sie sich exponieren und gewissermaßen vor das Bild stellen, eine Bewegung und Imagination sozusagen vorahmen und allererst zum Zitat, zum Beispiel werden lassen. Wie ich mit den dynamischen Umwandlungen in der Erfahrung hier auszuführen versuche, würde der Prozess des Verbildlichens in den Verkörperungen der Schülerinnen dann der »Findung des Mediums« bei Waldenfels entsprechen, er stellte »bereits eine erste Antwort auf das Getroffensein« dar, was Mühleis in Bezug auf Waldenfels (im Unterschied zu Stiegler) als »Ausgangspunkt des Fremden in der Erfahrung« herausarbeitet (Mühleis 2016, 155). Anstatt die Verbildlichungen lediglich als geronnene Gebilde oder als fertige Bildzitate zu betrachten, versuche ich insbesondere deren mediales Herauslösen aus dem Visuellen bei Kesting über ein leibliches Umformen, Begrenzen, Motivieren und Montieren hin zu einem Anknüpfen an die sprachliche Artikulation zu thematisieren. Vielleicht kann man in dieser leiblichen Geste des Bildwerdens eine Kontinuierung erkennen, die nicht länger als zeitliche und narrative, sondern als leiblich-räumliche Assoziierung auf das Ikonische der Bilder im Plural antwortet. Betrachtet man Annikas und Beekes ›Geste des Bildwerdens‹ als medialen Findungs- und medialen Artikulationsprozess, als Antwort auf eine Bildwirkung, die mehr ist als eine Erweiterung eines vorhandenen Vokabulars, wie wir es beim Vokabellernen erleben, die stattdessen eine neue Grammatik oder Ordnung erst mitkonstituiert und von daher als (kon-)kreatives Antworten angesehen werden kann, liegt es nahe zu vermuten, dass es sich um eine radikalere Erfahrung gehandelt haben könnte. Radikal wäre diese Erfahrung insofern, als sich während des Sprechens zu und über die Bilder ein Entzug an den Grenzen des Sagbaren offenbarte (Anzeichen dafür wären das wiederholt auftretende verlegene Lachen, unterbrochene Sprechrhythmen, lange Pausen und die Verkörperungen), von dem wir auf die Fremdheit und gleichzeitige Wirkmächtigkeit bestimmter Bilder und der visuellen Verknüpfungen für Annika und Beeke schließen konnten. Ambig wäre diese Erfahrung insofern, als sich zu einer bestimmten Bildgruppe spezifische Engpässe, Widerstände, Ersatzbildungen und Symptome der Mädchen zeigten, die möglicherweise auf die uneindeutige Motiviertheit der Handlungen zurückgeführt werden können und die sich an der oszillierenden Weise des Artikulierens zwischen den verschiedenen Modi des Verbildlichens, Versprachlichens und Verkörperns festmachen lassen. Da die Verkörperungen aber nur zu dem Mittelteil der Bildsequenz auftreten und die Mädchen die erste wie die abschließende Bildfolge im Modus der gängigen Prädikation einer Bildhandlung als Geschichte
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(»und dann…«) beschreiben, können wir vermuten, dass in den beiden anderen Teilen allenfalls eine relative ambige Erfahrung vorliegen könnte.
Vom Zweifel am direkten strategischen Einsatz der Ambiguität Wenn ich in meiner Forschung eine Methode und Methodologie entwickelt habe, mit der indirekt die Wirkungen von Bilderfahrungen in Ansätzen erforscht werden können, habe ich das Verfahren der indirekten Analyse, wie es die Psychoanalyse entwickelte, auf die Rezeptionssituation künstlerischer Bilder übertragen. Dabei habe ich danach gefragt, wie sich Symptome in der Bilderfahrung zeigen könnten, und eine indirekte Empirie entworfen, die ich mit Waldenfels und Didi-Huberman als Erschließung der Bilderfahrung vom Symptom her konzipiert und hier in Ansätzen skizziert habe. Diese Forschung verstehe ich als Versuch, Ambiguität nicht allein von der Bildgestalt her zu begreifen, sondern vielmehr als responsives Geschehen, das sich zeigt. Die indirekte Empirie steht im Kontrast zu einer hermeneutischen Analyse, da die elementare Annahme eines Verstehen-Könnens von vorprädikativen, leiblichen und unbewussten Vorgängen bereits das Fremde und Ambige der Erfahrung rauben würde (vgl. Krieger 2010, 44). Stattdessen gehe ich mit Waldenfels von einer grundsätzlichen Asymmetrie zwischen Eigenem und Fremden aus, die nur indirekt zu erschließen ist. Die aus den videografierten Daten gewonnene Fallbildung hat dabei nicht den Anspruch, einen Fall vollständig rekonstruieren zu können. Vielmehr habe ich versucht, aus den Daten eine Fallbildung zu generieren, die aus phänomenologischer Sicht Antwortprozesse im Übergang, sich verschiebende Aufmerksamkeiten der Mädchen allererst anzudeuten vermag. Diese Prozesse weisen für die Beteiligten insofern eine Relevanz auf, indem sie eine leibliche und affektive Involvierung erkennen lassen. Die Verkörperungen können als Ersatzbildungen im psychoanalytischen Sinne, als symptomatisches Antworten auf bildhafte Irritationen verstanden werden. Die Irritationen und Ambiguitäten, die hier im Spiel sind, bleiben oftmals unbemerkt, latent und implizit. Sie im Forschungsprozess rückwirkend in Spuren zu explizieren und darzustellen, macht sie überhaupt erst für Reflexionen zugänglich. Dies ist jedoch kein Prozess, über den die Schülerinnen frei verfügen können, sondern vielmehr ein Zwischenereignis zwischen Bildwerdung und Subjektbildung. Mit der Verlagerung der Bildwerdung in ein leibliches Zwischenreich verschiebt sich aber auch die Frage, wem dieses Geschehen zuzuordnen ist, dem Bild oder dem Subjekt, es verlagert sich von einem Akt zum vorprädikativen Ereignis des Sehens und Bildens ins Dazwischen.
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Insofern erscheint mir der Anspruch, Ambiguität strategisch einzusetzen, ja eine »Ambiguitätskompetenz« auf direktem Wege zu entwickeln, vielleicht als wünschenswert aber in sich fragwürdig, denn dies setzte voraus, dass wir die Ambiguitäten immer schon kennten und als autonome Subjekte darüber verfügen könnten. Aber dann hätten wir sie bereits von der Erfahrungsgenese und deren Wirkung getrennt und das Ereignis zwischen Pathos und Response verleugnet. Wie aber kann im pädagogischen Kontext ein Spielraum des Verhaltens angesichts ambiger Erfahrung erhalten und zugleich eine Zähmung der Ambiguität vermieden werden? Die alleinige Setzung von Ambiguität durch Kunst, die Holert in Bezug auf Ecos vom offenen Kunstwerk abgeleitete Pädagogik darlegt, die das »Aufeinanderprallen ungelöster Probleme« voranstellt und darin »die ideale Verbindung von Ambiguität und radikaler Didaktik« sieht (Holert 2010, 245), macht m.E. noch keine Pädagogik aus. Sie könnte ebenso als Gewalt erfahren werden, als blinde Unterwerfung unter die Kunst. Pädagogik hingegen müsste einen Rahmen für Responsivität anbieten und dem Unbewussten, Affektiven und dem Begehren Raum und Zeit geben, um sich immer schon medial zu entfalten. Das Einlassen auf ambige Erfahrungen und das Sich-Aussetzen vor dem reichen Fundus der Kunst setzt eine Bindung, eine Sozialität voraus, um überhaupt den Anspruch zu entwickeln, auf Bilder zu antworten. Statt also den strategischen Einsatz von Ambiguität als Vermögen zu denken und es direkt zu veranschlagen, wäre es mir wichtig, dass der strategische Einsatz indirekt erfolgte, um die Wirkung einer ambigen Erfahrung nicht zu übergehen. Das erste Einfallstor für eine indirekte Darstellung wäre es somit, überhaupt Beispiele zu finden, an denen wir eine Responsivität entfachen und zeigen können. Am Beispiel von Chachkhianis Arbeit habe ich die vorprädikative, leibliche Verstrickung in einen Blickwechsel als elementare ambige Erfahrungsebene betont, die jeder Bilderfahrung einerseits immer schon vorausgeht und andererseits doch elementar mit den spezifischen Bilderfahrungen eben dieser Arbeit verwoben ist, sofern man sich ihr aussetzt und affiziert wird. Am Beispiel von Kestings Arbeit habe ich eine responsive Situation zwischen Rezipierenden und Werk genauer untersucht, um die Wirkung einer ambigen Erfahrungsarbeit in Spuren zugänglich zu machen. Strategisch an diesen Beispielen ist, dass ich die Kunst gewissermaßen programmatisch an den Anfang gestellt habe, um Bilderfahrungen durch von der Norm und vom alltäglichen Sehen abweichende Darstellungen hervorzulocken. In diesem Sinne folge ich Holerts radikaler Didaktik, rahme die Situation aber zudem, indem ich dazu ein Gespräch führe und den Schüler*innen Praktiken als mediale Übergangsobjekte anbiete, mit denen sie ihre Erfahrung bearbeiten und umwandeln können. Zudem gebe ich ihnen Zeit, über eigene Bezüge nachzusinnen, Stimmungen und Wirkungen der Bilder
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zu entdecken und eigene Aufmerksamkeitsveränderungen überhaupt wahrzunehmen. Wenn wir also über den strategischen Einsatz von Ambiguität angesichts ikonischer Situationen sprechen, müssen wir in einem pädagogischen Sinne darüber nachdenken, was diejenigen, die sich den Bildern aussetzen, benötigen, um eine Wirkung allererst zuzulassen und ihr Raum zu geben. Auch wenn es unmöglich und paradoxal erscheint zu versuchen, die potentielle Wirkung für andere einzuschätzen, ist eine Vermittlung von Kunst nicht ohne diese Art der Verantwortung zu denken. Das macht es komplex und unübersichtlich. Um dennoch eine übergreifende, allgemeinere Dimension der Bilderfahrungen in den Blick zu nehmen und nicht beim Einzelfall stehen zu bleiben, habe ich mit dem Denken der Bilderfahrung vom Symptom her zu zeigen versucht, dass es mir darum geht, latente Bildwirkungen künstlerischer Darstellungen sowohl pädagogisch als auch wissenschaftlich allererst ernst zu nehmen, sich ihnen in der Forschung responsiv auszusetzen und diese Auseinandersetzung medial möglichst umfassend darzulegen. Die Geltung dieser Forschung sehe ich darin, einen heuristischen Entwurf für eine neu und weiter zu figurierende Kasuistik und eine Symptomatologie der Bilderfahrung darzulegen, um Irritationen, hier: ambige Sinnund Begehrenskonflikte innerhalb der Erfahrungsarbeit als treibende, initiierende wie auch als hemmende Kraft reflektieren zu können. Die Symptome werden dabei zu Gelenkstellen zwischen dem Allgemeinen und dem Singulärem und wären insofern nicht nur rekonstruierte Fallbeispiele, sondern gewissermaßen Beispielfindungen, die innerhalb einer indirekten Empirie über sich hinausweisen und so strategisch wirksam werden könnten. Mit ihnen können wir darüber nachdenken, wie wir schließlich »Mehrdeutigkeit gestalten« können (vgl. Schnurr et.al 2020).
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Abbildungsnachweis
Verena Krieger Abb. 1: © Michele and Donald D’Amour Museum of Fine Arts, Springfield, Massachusetts. Gift of Lenore B. and Sidney A. Alpert, supplemented with Museum Acquisition Funds. Photography by David Stansbury. Abb. 2: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe I, Frankfurt a.M. 1989, 520. Abb. 3: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Tilman Osterwold: Pop Art, Köln 1989, 135. Abb. 4: © Gilbert & George. Photo: Helge Mundt. Abb. 5: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. www.we-find-wildness.com/2010/05/santiago-sierra/. Abb. 6: © Courtesy Galerie EIGEN + ART, Leipzig, Berlin. VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Neo Rauch. Neue Rollen. Bilder. 1993 – 2006, hg. von Holger Broeker, Köln 2006, Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg, 11. November 2006 bis 11. März 2007, 165. Abb. 7, 8: © Courtesy the artist and Greene Naftali, New York. Photo: Luca Campigotto.
Michael Lüthy Abb. 1-13: © Prometheus Bildarchiv, Köln.
Johannes Lang Abb. 1-2: Foto: The Museum of Modern Art/Scala, Florence. Abb. 3: Jencks, Charles A. 1977. The Language of Post-Modern Architecture, London, S. 58. Abb. 4: Jencks, Charles A. 1977. The Language of Post-Modern Architecture, London, S. 59. Abb. 5: IDZ Berlin (Hg.). 1974. Produkt und Umwelt, Berlin, S. 69ff. Abb. 6: Fotos: Johannes Lang.
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Ambige Verhältnisse
Abb. 7-9: Foto: Katharina Bredies. Abb. 10-12: Foto: Auger-Loizeau. Abb. 13-21: Illustration: Sion Ap Tomos.
Sylka Scholz & Robin K. Saalfeld Abb. 1: Still aus dem Videobeitrag Transgender 2 Years on Testosterone (YouTube, 22.04.2018, TheRealAlexBertie), https://www.youtube.com/watch?v=tb3b-mKx Zm8&t=110s, Zugriff: 23.02.2020 Abb. 2-5: Still aus dem Videobeitrag FTM Transgender 5 Years on Testosterone Comparison, (YouTube, Jammidodger, 29.12.2016), https://www.youtube.com /watch?v=zaEYAQ5c8uE&t=5s, Zugriff: 23.02.2020. Abb. 6-7: Still aus dem Videobeitrag Flat Chest Without Surgery, (YouTube, 18.09.2015, Ty Turner), https://www.youtube.com/watch?v=vGyCmuGUNhE& t=138s, Zugriff: 23.02.2020.
Bernhard Groß Abb. 1-3: Stills der DVD lampedusa im winter (A 2015, Jakob Brossmann), DVDEdition Filmladen. Abb. 4-9: Stills der DVD fuocoammare (IT 2016, Gianfranco Rosi), Weltkino-DVD. Abb. 10-11: Stills der DVD havarie (D 2016, Philip Scheffner), DVD-Edition Arsenal/Filmgalerie 451.
Rachel Mader Abb. 1-2: Nick Jaussi. Abb. 3: Foto: Patryk Witt/Zentrum für Politische Schönheit. Abb. 4: Foto: Aus dem Archiv von Andreas Heusser.
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Autorinnen und Autoren
Bernhard Groß, Professor für Filmwissenschaft an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Alltag und Alltäglichkeit in audiovisuellen Medien, Filmmanifeste – Manifestfilme, Holocaustdarstellung durch Film, Historizität der Filmtheorie. Publikation zum Thema: Die Filme sind unter uns. Zur Geschichtlichkeit des frühen deutschen Nachkriegskinos. Genre-, Trümmer-, Dokumentarfilm, Berlin 2015. Cornelia Klinger, Privatgelehrte und außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der Eberhard Karls-Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: im Bereich der Politischen Philosophie (Achsen der Ungleichheit), in der Ästhetik (zur Geschichte des Schönen und Erhaben), Theoriegeschichte und Geschichtstheorie der Moderne, Gender Studies im Bereich Philosophie (Theorie und Geschichte des Patriarchats). Publikationen zum Thema: The selfie – oder das Selbst in seinem Welt-Bild, in: Thomas Fuchs/Lucas Iwer/Stefano Micali (Hg.): Das überforderte Subjekt. Berlin 2018. S. 115-144; Stichwort »Dualismenbildungen«, in: Beate Kortendiek/Birgit Riegraf/Katja Sabisch (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Stuttgart 2018. Verena Krieger, Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Ambiguität, Collage/Montage, Repräsentationen von Zeitgeschichte. Publikationen zum Thema: Steigert Kunst die Ambiguitätskompetenz? Potenziale ästhetischer Ambiguität von Picasso bis zum Zentrum für Politische Schönheit, in: Ansgar Schnurr et al. (Hg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeld 2021; Ambiguität und Engagement. Zur Problematik politischer Kunst in der Moderne [2014], in: Vanessa Höving et al. (Hg.), Christoph Schlingensief: Resonanzen, München 2020; Rätselhafte Botschaften. Ambiguität als Strategie zur ›Verkunstung‹ von Werbung, in: Hartmut Stöckl (Hg.), Werbung – keine Kunst!? Phänomene und Prozesse der Ästhetisierung von Werbekommunikation, Heidelberg 2013; »At war with the
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Obvious« – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen, in: Verena Krieger und Rachel Mader (Hg.), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln/Weimar/Wien 2010. Johannes Lang, promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BauhausUniversität Weimar, Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Gestaltungstheorie und Designphilosophie sowie Social Design und Nachhaltiges Design. Publikation zum Thema: Zwischenmenschliches Design. Sozialität und Soziabilität durch Dinge, Weilerswist 2020. Dirck Linck, Literaturwissenschaftler in Berlin. Arbeitete zu den Schwerpunkten: Homosexuelle Literatur und Ästhetik, Pop, Camp, Hubert Fichtes Poetik. Publikation zum Thema: Linck, Dirck/Vöhler, Martin (Hg.): Grenzen der Katharsis. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin 2009. Kurt Lüscher, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Konstanz, Forschungsschwerpunkt »Gesellschaft und Familie«. Aktueller Arbeitsschwerpunkt: Wissenssoziologie. Jüngste Publikation zum Thema: Robert Walsers Sensibilität für Ambivalenzen. Eine transdisziplinäre Annäherung, in: K. Lüscher et al. (Hg.): Robert Walsers Ambivalenzen, 2.Aufl., Paderborn 2018. Michael Lüthy, Professor für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Bildambiguität in der Kunst; Marcel Duchamps Ästhetik. Publikationen zum Thema: Das Medium der ästhetischen Erfahrung. Wittgensteins Aspektbegriff, exemplifiziert an Pollocks Malerei, in: Gertrud Koch et al. (Hg.): Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, München 2012, S. 125-142; Experience and Interpretation: An Art Theoretical Commentary on Wittgenstein’s Conception of ›Aspect‹, in: Diego Mantoan et al. (Hg.): Paolozzi and Wittgenstein. The Artist and the Philosopher, Cham 2019, S. 145-165; The Modern Perspective: Ambiguity, Artistic Self-Reference, and the Autonomy of Art, in: Martin Vöhler et al. (Hg.): Strategies of Ambiguity in Ancient Literature, Berlin/Boston 2021. Rachel Mader, Leiterin des Forschungsschwerpunktes Kunst, Design & Öffentlichkeit an der Hochschule Luzern – Departement Design & Kunst. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Kunst und Politik, Ambivalenz in der Kunst, künstlerische Selbstorganisation und Kulturpolitik, performatives Paradigma als neuer Form künst-
Autorinnen und Autoren
lerischer Forschung, institutionelle Landschaft des Kunstbetriebes und Selbstverständnis von Kunsthochschulen. Publikationen: Meisner Christensen, Signe/Mader, Rachel/Narayana, Aarhus (Hg.): New Infrastructures, Performative Infrastructures in the Art Field, special issue of Passepartout (Skrifter for Kunsthistorie), Press, 2020; Bandi, Nina/Belobrovaja, Marina/Mader, Rachel/Peyer, Siri/Settele, Bernadett (Hg.): What can art do?, Zürich 2020 (online: www.whatcanartdo.ch); Neue Verbindlichkeit. Kunstkollektive im 21. Jahrhundert, in: Bushart, Magdalena/Haug, Henrike/Stallschus, Stefanie (Hg.): Geteilte Arbeit. Praktiken künstlerischer Kooperation (Reihe: Interdependenzen), Köln 2020, S. 263-279. Andrea Meyer-Fraatz, Lehrstuhl für Slawische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: »Modell Romantik« (Grako 2041/2); Ivan Bunin (Zyklisierungen und das Verhältnis von Vers und Prosa sowie Rezeption in Deutschland); Ambiguität in den postjugoslawischen Literaturen. Publikationen zum Thema: Niejednoznaczność w liryce polskiej po roku 1800 (na przykładzie dzieł Mickiewicza) [Uneindeutigkeit in der polnischen Dichtung nach 1800 (am Beispiel von Werken Adam Mickiewiczs)], in: R. Cudak, K. Pospiszil (Hg.): Polonistyka na początku XXI wieku. Diagnozy. Koncepcje. Perspektywy. Tom 1. Literatura polska i perspektywy nowej humanistyki, Katowice 2018, S. 329-340. Das Groteske als Ausdruck von Ambiguität und Ambivalenz in der kroatischen und in benachbarten Literaturen, in: A. Meyer-Fraatz (Hg.): Dialogizität – Intertextualität – Ambiguität. Ehrensymposion für Reinhard Lauer zum 80. Geburtstag, Wiesbaden 2017 (= Opera Slavica, NF, Bd. 63), S. 195-205; Ambiguität (nicht nur) als ästhetische Selbstbehauptung: russische Literatur im 20. Jahrhundert im Fokus der Bachtinschen Dialogizität, in: Studia Slavica Hung. 59 (2014) 2, S. 405-416; Ambigvitet i ambivalentnost u »Romanu« Janka Polića Kamova [Ambiguität und Ambivalenz in »Roman« von Janko PolićKamov], in: Komparativna povijest hrvatske književnosti. Zbornik radova XV. Matoš i Kamov: paradigme prijeloma, Split-Zagreb 2014, S. 236-247. Matthias Quent, Soziologe und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena (IDZ) sowie Mitglied im Rat des Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Rassismus, Hasssprache und Hasskriminalität, Rechtsradikalismus und Rechtsterrorismus. Publikationen zum Thema: 33 Fragen und Antworten zum Rechtsextremismus, München 2020; Deutschland rechts außen, 5. Auflage, München 2020; Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus, 2. Auflage, Weinheim/Basel 2019.
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Ambige Verhältnisse
Robin K. Saalfeld, Soziologe, aktuell wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sozialmedizin und Public Health an der Fachhochschule Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Trans*, Inter* & Queer Studies, qualitative Sozialforschung, genderorientierte Bild- und Kulturwissenschaften. Publikation zum Thema: Transgeschlechtlichkeit und Visualität. Sichtbarkeitsordnungen in Medizin, Subkultur und Spielfilm, Bielefeld 2020. Andrea Sabisch, Professorin für Erziehungswissenschaft und Ästhetische Bildung an der Universität Hamburg. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Bilderfahrung und Bildlichkeit, Visuelle Assoziationen, Montagepraktiken, Medialität und Responsivität. Publikationen zum Thema: Bildwerdung. Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung, München 2018.; Sabisch, Andrea/Zahn, Manuel (Hg.): Visuelle Assoziationen. Bildkonstellationen und Denkbewegungen in Kunst, Philosphie und Wissenschaft, Hamburg 2018.; Antworten auf Bilder. Zu Irritationen im visuellen Bildungs- und Erfahrungsprozess, in: Ingrid Bähr/Ulrich Gebhard/Claus Krieger/Britta Lübke/Malte Pfeiffer/Tobias Regenbrecht/Andrea Sabisch/Wolfgang Sting (Hg): Irritation als Chance – Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden 2018. S. 259-290. Thomas Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slawistik und Kaukasusstudien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Emotionen in Literatur und Film, Literaturverfilmungen. Sylka Scholz, Professorin für Qualitative Methoden und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität-Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse in Ost- und Westdeutschland, Wandel von Männlichkeiten, Geschlechter- und Männlichkeitstheorie, Entwicklung qualitativer Methoden. Publikationen zum Thema: In Liebe verbunden. Zweierbeziehungen und Elternschaft in populären Ratgebern von den 1950ern bis heute, Bielefeld 2013. Bernhard Strauß, Prof. Dr. phil. Dipl. Psych., Psychoanalytiker, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie am Universitätsklinikum Jena. Publikationen: Egle, Ulrich T./Heim, Christine/Strauß, Berhard/von Känel, Roland (Hg.): Psychosomatik – Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert, Stuttgart 2020.; Rief, Winfried/Schramm, Elisabeth/Strauß, Bernhard (Hg.): Psychotherapie – Ein kompetenzorientiertes Lehrbuch, (Im Erscheinen); Galliker, Mark/Linden, Michael/Schweitzer Jochen/Strauß, Bernhard (Hg.): Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren, Stuttgart 2021.
Autorinnen und Autoren
Silke van Dyk, Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Politische Soziologie, Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats, Soziologie sozialer Ungleichheit, Soziologie des Alters und der Demografie. Publikationen zum Thema: Die soziale Frage und die Wiederentdeckung der Gemeinschaft. Das Erstarken der Neuen Rechten in Zeiten des Community-Kapitalismus, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Jg. 45, H. 2, 2019, S. 249-175; CommunityKapitalismus. Die Rekonfiguration von Arbeit und Sorge im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats, in: Sonderband des Berliner Journal für Soziologie »Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften«, Wiesbaden 2019, S. 279-296.
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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze
Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6
Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)
Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan
Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 2/2020) Oktober 2020, 178 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4937-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4937-0
Karin Harrasser, Insa Härtel, Karl-Josef Pazzini, Sonja Witte (Hg.)
Heil versprechen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2020 Juli 2020, 184 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4953-6 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4953-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de