Platons Dialoge in freier Darstellung: Reihe 3 Lysis, Laches, Charmides, Euthyphron, Ion, Hippias I und II, Menexenos, Euthydemos, Kratylos [Reprint 2020 ed.] 9783112351864, 9783112351857

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German Pages 181 [192] Year 1935

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Platons Dialoge in freier Darstellung: Reihe 3 Lysis, Laches, Charmides, Euthyphron, Ion, Hippias I und II, Menexenos, Euthydemos, Kratylos [Reprint 2020 ed.]
 9783112351864, 9783112351857

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C A R L

V E R I N G

PLATONS DIALOGE in freier

Darstellung

DRITTE

REIHE

1935 W A L T E R

DE

G R U Y T E R

&

CO.

vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — ]. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trllbner — Veit & Comp.

BERLIN

und

LEIPZIG

Printed in Germany Archiv-Nr. 4219*f

INHALT VORWORT . . .

Seite

V

LYSIS

Seite

1

LACHES

Seite

13

. .

Seite

29

.

Seite

45

ION

Seite

55

HIPPIAS I UND II

Seite

65

MENEXENOS

Seite

93

CHARMIDES EUTHYPHRON

. .

EUTHYDEMOS KRATYLOS

.

Seite 107

. . .

Seite 133

ANMERKUNGEN

Seite 159

REGISTER . . . .

Seite 177

VORWORT

D

ieser Band, mit dem die Gesamtausgabe der dialogischen Schiiften Piatons abgeschlossen ist, enthält die kleinen Dialoge mit Ausnahme des Kriton, den ich zur Einführung in den Phaedon schon in die erste Reihe der Dialoge aufgenommen hatte. Eine Übersicht über den Inhalt der bereits erschienenen Bände findet der Leser am Schluß dieses Buches. Den Plan des Werkes hatte ich im Vorwort zur ersten Reihe der Dialoge erläutert, ich wiederhole die Hauptstelle: „ E s ist ein höchst erfreuliches Anzeichen, daß mit dem Wiedererwachen des Interesses an der Philosophie auch Piaton wieder in den Vordergrund tritt. Seitdem ist außer zahlreichen trefflichen Schriften kleineren Umfanges fast in jedem Jahre ein wertvolles Buch über Piaton erschienen, das unter alten Irrtümern und modernen Fehldeutungen aufräumt und neue Ausblicke eröffnet. Indessen scheint jetzt beinahe die Gefahr zu bestehen, daß die Kommentare den T e x t , die Erklärungen das Werk überwuchern. Man kann die Frage nicht unterdrücken, wieviele unter den Lesern dieser Bücher und Schriften wohl wirklich eine lebendige Anschauung von den Werken des Philosophen haben mögen ? Der Kreis derer, die Piaton im Urtext lesen, wird von J a h r zu J a h r enger, und die Übersetzungen dürfte vermutlich die Mehrzahl der Leser, zumal die in den alten Sprachen gänzlich Unbewanderten, mit einem Gefühl der Enttäuschung aus der Hand legen. E s liegt mir nichts ferner, als über die guten Übersetzungen Piatons ein abfälliges Urteil zu fällen, ich bekenne gern, daß ich diesen Arbeiten, den Früchten treuen und zähen Gelehrtenfleißes, vieles zu verdanken habe. Aber es ist unmöglich, die Sprache Piatons im Deutschen wiederzugeben. Sie ist im Satzbau wie im Ausdruck so grundverschieden von der Struktur unserer Sprache, daß sie sich deren Formen nicht fügt und nur mit Gewalt in sie eingezwängt werden kann. Die Folge ist, daß viele der schönsten Stellen Piatons in allen Übersetzungen so steif und unnatürlich klingen. Auch sonst wird der Leser niemals von dem Eindruck frei, ein fremdes Sprachgebilde in deutschen Worten

V

Vorwort vor sich zu haben, und das ist auf die Dauer schwer zu ertragen. Dazu kommen die großen Schwierigkeiten der griechischen Terminologie. Viele Wörter — ich erinnere an den Proteus „Logos" — sind schlechterdings unübersetzbar, weil im deutschen Sprachschatz ein kongruentes, dem jeweiligen Sinne genau entsprechendes Gegenstück fehlt. Wenn dann ein äußerlich ungefähr passendes Wort als Notbehelf herangezogen wird, verfehlt auch die genaueste Übersetzung ihren Zweck." „Ich habe deshalb den Versuch gewagt, die Dialoge Piatons in der Form einer freien Paraphrase wiederzugeben. Es kam mir hauptsächlich darauf an, die Gedankengänge so klar und scharf wie möglich herauszuarbeiten. Bei dieser Art der Darstellung konnte die dialogische Form des Urtextes zumeist nicht bestehen bleiben. Ferner habe ich durchgängig kleinere und größere Kürzungen vorgenommen. Ich bitte, daraus nicht den Vorwurf herzuleiten, daß ich Piaton verstümmelt hätte. Ich weiß recht wohl, daß für den Philologen — überhaupt für alle gelehrte Forschung — jedes Wort Piatons von Gewicht ist, daß es hier nichts Nebensächliches gibt. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß selbst den Werken des großen Piaton manches Zeitbedingte, für uns Abgestorbene anhaftet. Dahin gehören viele Anspielungen auf entlegene Mythen, auf Zeitereignisse, auf verschollene Dichtungen und unbekannte Persönlichkeiten, endlich die nicht seltenen Wortspiele. Diese den Zeitgenossen Piatons ohne weiteres verständlichen Stellen bedürfen heute umständlicher, dazu oft ungesicherter Erklärungen, und dennoch sagen sie dem ungelehrten Leser nichts, sondern erschweren ihm nur den Überblick über die Zusammenhänge." Gegen die Technik der Übersetzungen hatte schon v. WilamowitzMoellendorff dasselbe Bedenken geäußert, er bemerkte — nach einem Hinweis darauf, daß Piaton noch nicht über eine wissenschaftliche Terminologie verfügte —: „Dabei wird offenbar, daß sie (die Griechen) den menschlichen Gedanken nicht rein als solchen verfolgen konnten, sondern in ihrer Sprache dachten, durch diese gefördert zugleich und gebunden, da sie für sie die Sprache an sich war und das Denken, wie Piaton es ausdrückt, ein inneres Sprechen. . . . Es ist damit ausgesprochen, daß Piaton gerade in seiner Philosophie unübersetzbar ist, denn unsere Sprache denkt anders . . . auch dem Dichter, der in Piaton steckt, ist, so viel ich sehe, noch keine Übersetzung ganz gerecht geworden." (Piaton I S. 4f.) Bei der Auswahl der in diesen Band aufzunehmenden Dialoge war auf die Frage einzugehen, welche von ihnen als echte Werke Piatons anzuerkennen sind. Darüber herrscht ein langwieriger, auch heute noch nicht ganz abgeschlossener Streit. Im vorigen Jahrhundert war es fast ein gelehrter Sport

VI

Vorwort geworden, eine Schrift Piatons nach der anderen als unecht zu verwerfen, so daß schließlich nur 9 Hauptwerke, an denen nicht zu rütteln war, als hinlänglich gesichert übrig blieben. Es hat sehr viel Mühe und Zeit gekostet, diese Fehlurteile Schritt für Schritt zu berichtigen, bis neuerdings Friedländer im zweiten Bande seines großen Piatonwerkes sogar den Alkibiades I und den Theages als echt anerkannt hat, diesen allerdings mit Vorbehalt. Es ist sehr zu begrüßen, daß damit die Frage nach der Echtheit dieser beiden bisher allgemein abgelehnten Dialoge aufs neue zur Diskussion gestellt worden ist, indessen habe ich davon abgesehen, sie in dieses Buch mitaufzunehmen. Sie enthalten einige Gedanken, die recht wohl von Piaton stammen können, doch mögen diese mündlichen Überlieferungen der Akademie entlehnt sein, die uns nicht, wie die Gespräche Goethes, erhalten geblieben sind. Im ganzen ist aber der Abstand dieser, in der Erfindung, Anlage und Durchführung ziemlich dürftigen Schriften von den nicht zweifelhaften Dialogen so groß, daß es wohl kaum gelingen wird, sie von dem Verdachte der Unechtheit ganz zu reinigen. Die zeitliche Reihenfolge der Dialoge ist durch die neueren Forschungen insoweit geklärt worden, daß nur noch wenige Streitfragen von Bedeutung offen geblieben sind. Von diesen Feststellungen bin ich in der Anordnung des Inhalts dieses Buches teilweise abgewichen, so habe ich den Lysis aus dem in der Einführung angegebenen Grunde vorangestellt. Auf die hohe Bedeutung Piatons für die deutsche Gegenwart hatte ich bereits im Vorwort zur Politeia und in der daran angeschlossenen Skizze des Lebens Piatons, ferner im Vorwort zur ersten Reihe der Dialoge nachdrücklich hingewiesen. Ich fasse kurz zusammen, was ich dort näher ausgeführt habe: Piaton schrieb in einer Zeit des Verfalles einer zum Untergang reif gewordenen Demokratie, als die Schrecknisse des Peloponnesischen Krieges alles verwüstet hatten, was noch an Zucht und Sitte übrig geblieben war. Da erkannte er, daß es nur eine Rettung aus dieser Verderbnis gab: eine Regeneration aus den Tiefen des hellenischen Geistes. Die Vorbedingungen einer solchen nationalen Wiedergeburt ersah schon Piaton in der Erhaltung und Steigerung einer reinen Rasse. Das gleiche Schicksal war auch über unser deutsches Vaterland hereingebrochen, und so standen auch wir vor der Aufgabe, die Piaton gestellt hatte, aus den Trümmern einer großen Vergangenheit den Wiederaufbau des Staates und einer neuen Kultur in Angriff zu nehmen. Darum schien mir die Politeia Piatons eine unschätzbare, Rat und Zuversicht spendende Kraftquelle für jeden zu sein, der entschlossen war, an dem schweren Werke der Erneuerung unseres Volkstums mitzuarbeiten. Diese

VII

Vorwort Hoffnungen, die mir vor 10 Jahren den Mut zu dem Versuch gaben, gleichgesinnte Leser, vor allem die deutsche Jugend, in die Gedankenwelt des großen S t a a t s p h i l o s o p h e n Piaton einzuführen, sind durch die nationale Revolution des Jahres 1933 in ungeahnter Weise erfüllt worden. Zu dieser Auffassung Piatons haben sich inzwischen auch andere bekannt. In der Einleitung zur Neuausgabe der Politeia-Übersetzung von Aug. HornefTer schreibt Kurt Hildebrandt: „In Wahrheit aber gibt es nicht viele Bücher, die in den Jahren des Aufbruches, wenn die zur Macht gelangten Führer den höchsten Maßstab für das politische Handeln, den Samen für die geistige Entfaltung und Durchgliederung des Volkes suchen, so entscheidend und fruchtbar werden können, wie Piatons Werke. Dazu freilich muß man sie erst lesen lernen, und es ist eine erstaunliche Tatsache, daß bisher nur wenige sie als ein Gesamtwerk zu lesen verstanden." Ferner:,,. . . es ist die Ähnlichkeit der Weltstunde, es ist die gleiche Not, der drohende Untergang der Nation, die unsere Zeit hellhörig machte für das Werk des größten aller Philosophen." Und endlich: „Erst die Weltkatastrophe hat ganze Völker gelehrt, daß es ohne seelische Wiedergeburt keine Rettung gibt. Und erst die Neugründung des deutschen Staates hat die Grundlage geschaffen für eine echte deutsche Kultur, für die Verwirklichung des deutschen Volkstums." Hildebrandt hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die reformatorischen Gedanken Piatons nicht allein in seinen eigentlichen Staatsschriften enthalten sind. Wie ich bereits im Vorwort zur ersten Reihe der Dialoge bemerkte, streitet fast jeder seiner Dialoge gegen die feindlichen Mächte der Zersetzung, gegen die Aufklärungsweisheit der Sophistik und den Materialismus der Naturphilosophie, gegen müde Skepsis und flachen Relativismus. Überall sucht Piaton aus dem vergeudeten Erbe einer großen Vergangenheit alles noch Lebensfähige in eine neue Zeit hinüberzuretten, um auf diesem Boden eine echte Staatsgesinnung und eine reine Ethik zu gründen. Im Menexenos, der den Staatsschriften Piatons zuzurechnen ist, wird der Leser Gedanken finden, zu deren Aufnahme erst unsere Zeit reif geworden ist. Unter anderm betont Piaton auch dort die entscheidende Bedeutung der Rassenfrage. H a m b u r g , im März 1934.

VIII

LYSIS VORBEMERKUNGEN

D

as gemeinsame Merkmal der meisten Platonischen Dialoge besteht darin, daß sie zu keiner eigentlichen Lösung der behandelten Probleme führen, sondern scheinbar resultatlos auslaufen. Es wird eine Frage aufgeworfen, mehrere Lösungen werden versucht und sofort als unzulänglich widerlegt, bis schließlich alle Möglichkeiten der Beantwortung erschöpft zu sein scheinen. Alsdann bricht der Dialog ab, worauf Sokrates als der Leiter der Unterredung festzustellen pflegt, daß man am Ende der Unterredung nicht klüger geworden sei, als man zu Anfang war. Man würde indessen sehr fehlgehen, wenn man diese sokratischen Endurteile als ernstgemeint auffassen wollte. In Wirklichkeit beruht gerade auf jener problematischen Methode der ungeheure produktive Wert der Platonischen Schriften. Kant sagte von sieb, daß er seine Schüler nicht Philosophie, sondern philosophieren lehre: dasselbe wollte auch Piaton. Darum gibt er uns nur selten fertig abgeschlossene Lehren, vielmehr bewegen sich die Gedankengänge seiner Dialoge überwiegend in Thesen und Antithesen, Beweisen und Gegenbeweisen. Überall ist die wiederholte kritische Analyse des jeweiligen Themas aus mehreren aufeinanderfolgenden Gesichtspunkten die Hauptsache, das äußerliche Endergebnis Nebensache. Hierdurch soll der Leser zum selbständigen Mitdenken angehalten und dazu genötigt werden, sich aus dem Vorgetragenen ein eigenes Urteil zu bilden. Seine tiefen Gedanken streut Piaton in die Erörterungen ein, aus ihnen müssen wir die wirkliche Meinung des Philosophen zu erraten suchen. Dagegen wäre es durchaus falsch, jedes Argument des Platonischen Sokrates für bare Münze zu nehmen; man würde sich dadurch das Verständnis der meisten Dialoge unrettbar verderben, denn gerade da stellt Piaton dem Scharfsinn des Lesers die Aufgabe, das Wahre vom Falschen kritisch zu sondern. Vering, Piatons Dialoge 3

I

Lysis:

Vorbemerkungen

Besonders ist eines zu beachten: Zu Piatons Zeit befand sich die Logik noch in den Kinderschuhen. An der unbeholfenen, weitschweifigen Art, in der die einfachsten logischen Operationen vollzogen werden, bemerkt man auf Schritt und Tritt die Schwierigkeiten, mit denen Piaton zu ringen hatte, um die Grundlagen einer wissenschaftlich brauchbaren Logik zu legen. Aus diesem Suchen nach der rechten Methode des Denkens erklärt sich mancher dialektische Irrweg; hier ist es oft schwer zu sagen, ob wirkliche Fehlgriffe vorliegen, oder ob Piatons Sokrates nur seinen Gegner — und damit den Leser! — auf die Probe stellen will. Darum sind die Werke Piatons, wie Schopenhauer sagt, die wahre Denkschule, und zwar für alle Zeiten. Wenn er als dogmatischer Philosoph nur abgeschlossene Resultate gegeben hätte, würde er uns zwar auch ohne Zweifel ein wertvollstes Gut hinterlassen haben, aber es wäre immerhin ein totes, der Zersetzung durch die nachfolgende Kritik preisgegebenes Material gewesen. So aber ist jeder Dialog ein lebendes Gebilde, eine Sphinx, die allen kommenden Geschlechtern ihre Rätselfragen vorlegt, jedes Zeitalter von neuem auffordert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Darin liegt die unerschöpfliche produktive Kraft der Schriften Piatons verborgen. Im Lysis, einem Werk aus der Jugendzeit Piatons, besitzen wir ein besonders anschauliches und leicht verständliches Beispiel dieser Methode. Das Thema ist die Frage nach dem Wesen der Freundschaft. Mehrere Erklärungen werden versucht, aber allesamt widerlegt. Der Schwerpunkt des Dialoges liegt nicht in den logischen Beweisen und Gegenbeweisen, sondern in den tiefsinnigen, mit großem Geschick eingeflochtenen Gedanken über Freunde und Freundschaft. Diese sollen den sinnvollen Leser auf die rechte Spur leiten.

S

okrates befindet sich auf dem gewohnten Wege von einer Palaestra zur andern, den Stätten, wo er unermüdlich Umschau nach edelgearteten, seiner Unterweisung würdigen Jünglingen hält; da wird er von einer Gesellschaft vornehmer junger Athener aufgehalten. Unter ihnen ist Ktesippos, den wir in dem späteren Dialoge Euthydemos als schlagfertigen, witzigen Sekundanten des Sokrates wiederfinden werden, ferner Hippothales, der Sohn des Hieronymos. Ktesippos verrät, daß Hippothales in den schönen Knaben Lysis bis über die Ohren verliebt ist. Seine Freunde hören von ihm nichts als schwärmerische Ergüsse, Liebeslieder und Gedichte zum Preise des Geliebten und seines adligen Hauses. Unlängst hat er ein Gastmahl besungen, das der mythische Stammvater des Geschlechtes dem Herakles gegeben haben soll; 2

Lysis:

K a p i t e l 1 bis 4

und selbst die Siege, die der Rennstall der Familie bei den großen hellenischen Spielen errang, werden von ihm dichterisch gefeiert. Dem Lysis gegenüber ist der Jüngling aber so unbeholfen und schüchtern, daß er kaum ein Wort, geschweige eine Liebeswerbung, herauszubringen vermag. Sokrates ist erbötig, sich des unglücklichen Liebhabers anzunehmen, er will ihm zeigen, wie man vor einem geliebten Knaben zu reden hat, um sein Herz zu gewinnen. Zuvor belehrt er ihn, daß es sehr ungeschickt sei, einen Geliebten und den Ruhm seines Hauses zu besingen, bevor man ihn gewonnen habe. Abgesehen davon, daß man dadurch im Falle eines Mißerfolges der Werbung doppelt lächerlich werde, erschwere man sich die Liebesmühe, weil man den Knaben durch solche Lobeserhebungen eitel und hoflartig mache. Sokrates läßt sich darauf in eine benachbarte, ihm noch unbekannte Ringschule führen, wo Lysis mit seinem gleichaltrigen Busenfreunde Menexenos und einer Schar anderer Knaben verweilt. Die Jungen begehen das Hermesfest, 1 ) sie haben die Opferfeier beendet und vergnügen sich nun mit Würfelspielen. Sokrates nimmt mit seiner Gesellschaft in einer ruhigen Ecke des Auskleideraumes Platz, zu ihnen setzt sich Menexenos, des Ktesippos Neffe, sodann auch, nach einigem schüchternen Zögern, Lysis, dessen schöne, edle Erscheinung sogleich das besondere Wohlgefallen des alten Menschenkenners Sokrates erregt. Der wunderliche Liebhaber Hippothales verbirgt sich im Hintergrunde, um nicht von Lysis gesehen zu werden. 2 ) Sokrates begrüßt die beiden Knaben mit einer freundlichen Anrede: Wer von euch ist der ältere ? — Darüber streiten wir. — Streitet ihr auch darüber, wer edler i s t ? — J a freilich! — Auch darüber, wer schöner ist ? — Über dieses Kompliment müssen beide lachen. — Hoffentlich werdet ihr aber nicht streiten, wer von euch reicher ist, denn wenn ihr wahre Freunde seid, müssen euch alle Güter als gemeinsam gelten. Da Menexenos durch einen ihm erteilten Auftrag abberufen wird, wendet sich Sokrates hierauf dem Lysis allein zu. Sein Versprechen, dem Hippothales eine Probe zu geben, wie man mit einem geliebten Knaben zu reden habe, löst er in seiner Weise. E r führt dem Lysis — und später auch dem Menexenos — vor Augen, daß er noch durchaus unwissend ist, und versucht dann, in den beiden Knaben die Neigung zum philosophischen Denken zu erwecken, das sie zur rechten Einsicht führen soll. Der Inhalt seines ersten Gespräches mit Lysis ist folgender: Glücklich ist nur der niemandem untertänige Mensch, der in voller Freiheit nach seinen Neigungen leben darf. Warum ist es nun dem Lysis nicht erlaubt, alles zu tun, was er sich wünscht ? Warum gestatten die liebenden Eltern ihm nicht, die Rennpferde des Vaters zu lenken, oder

3

Lysis: K a p i t e l 4 bis 7 mit den Maultieren auf den Acker zu fahren ? Warum gibt der Vater ihn, den Freigeborenen, unter die Zucht des Hofmeisters, eines gekauften Sklaven ? Der führt ihn in die Schule zu strengen Lehrern, und wenn Lysis nach Hause kommt, darf er nicht einmal im Zimmer der Mutter etwas anrühren, sonst klopft sie ihm auf die Finger! So hat er sich überall zu fügen, und auch die Reichtümer seines Vaters kommen anderen Leuten mehr zugute als ihm! Warum hält ihn der Vater, der ihn doch glücklich machen will, so strenge und verwehrt ihm das Glück der Freiheit? — Dazu bin ich noch zu jung! meint Lysis. — Sokrates erläutert ihm jedoch durch weitere Fragen und Belehrungen: Das Alter ist hier nicht entscheidend. Wenn deine Eltern sich etwas vorlesen lassen wollen, oder wenn es etwas zu schreiben gibt, beauftragen sie dich damit, trotz deiner Jugend. Du darfst ihnen auch auf der Lyra vorspielen. Warum lassen sie dir in diesen Dingen volle Freiheit, alles so zu machen, wie du es für richtig hältst ? — Weil ich das verstehe, lautet die Antwort. — Du siehst also, worauf es ankommt. Wenn dein Vater künftig einmal vor der Frage stehen wird, ob er dir die Verwaltung seines Vermögens übertragen will, wird er nicht auf dein Alter sehen, sondern nur erwägen, ob du dich darauf besser verstehst, als er selbst. So werden auch deine Mitbürger sich und den Staat dir anvertrauen, wenn sie erkennen, daß du ihnen an Einsicht überlegen bist. Darum würde der Großkönig seinem ältesten Sohne nicht einmal seine Kochtöpfe anvertrauen; die Sorge um sein Haus überläßt er nicht ihm, sondern denen, von deren überragender Begabung er überzeugt ist. Zur wahren Freiheit gelangt der Mensch allein durch anerkannte Tüchtigkeit. Nur der Bewährte gewinnt Macht, der Unfähige bleibt zeitlebens anderen Untertan und wird von ihnen verhindert werden zu tun, was ihm beliebt. Freunde wird deshalb auch nur der finden, der ihnen förderlich zu sein vermag. Sokrates schließt mit der Mahnung: Wenn du verständig und tüchtig wirst, so ist jedermann dir freund und eigen, denn dann bist du brauchbar und gut; sonst werden dir nicht einmal die Eltern hold sein. Wie steht es nun, Lysis ? Kann jemand große Gedanken haben, wenn er überhaupt noch nicht nachzudenken versteht ? Solange du der Lehrer bedarfst, bist du noch unwissend, zum eigenen Denken unreif. — Wahrlich, so scheint es auch mir, gesteht der Knabe bescheiden. — Triumphierend sieht sich Sokrates nach dem in vollständiger Verwirrung dastehenden Hippothales um, fast wäre er aus der Rolle gefallen und hätte ihm zugerufen: Siehst du, so muß man zu seinem Liebling reden, man soll ihn nicht, sie du es tust, verwöhnen und eitel machen, sondern ihm tüchtig den Kopf zurechtsetzen! Den Lysis hat Sokrates gänzlich für sich gewonnen,

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Lysis: K a p i t e l 7 bis 9 zutraulich schmiegt sich der schöne Knabe an ihn und flüstert ihm zu, er möge dieselbe Belehrung doch auch dem Menexenos erteilen. Der war inzwischen zurückgekehrt und hatte sich wieder neben seinen Freund Lysis gesetzt. Ebenso leise erwidert Sokrates: Sage du ihm selbst, was du hörtest, du hast ja gut aufgepaßt; nach dem, was dir entfallen sein sollte, darfst du mich fragen, sobald wir uns wiedersehen. — Das will ich ganz gewiß tun, Sokrates, aber lehre du ihn dann etwas anderes. — Das soll geschehen, wenn du willst; aber du mußt mir helfen, wenn Menexenos mich zu widerlegen sucht, du weißt ja, wie streitbar er ist. —• Gerade darum mußt du ihn ein wenig ducken. — Das wird nicht so einfach sein, er ist ein schlimmer Ge r ell, überdies sitzt sein Lehrmeister Ktesippos neben ihm. —• Aber das macht doch nichts, Sokrates, rede nur mit ihm! — Ktesippos macht dem traulichen Zwiegespräch ein Ende: Was schmaust ihr beiden da allein, gönnt uns doch auch einen Anteil! — Den sollt ihr haben, erwidert Sokrates. Mein kleiner Freund versteht nicht recht, was ich mit ihm bespreche, meint aber, daß .Menexenos Bescheid wisse. So beantworte du mir, Menexenos, was ich dich fragen werde: Seit meiner Jugend suche ich nach einem kostbaren Gut, wie alle anderen Menschen. Der eine möchte schöne Pferde haben, der andere Hunde, ein dritter Gold oder Ehren. Diese Dinge reizen mich nicht, meine Leidenschaft geht auf den Besitz von Freunden, und für den Gewinn eines echten Freundes gäbe ich gern alles andere dahin. Wenn ich nun dich und Lysis sehe, so ergreift mich frohes Erstaunen, daß euch dieses edle Gut schon in frühester Jugend so mühelos zugefallen ist: wie du Lysis, so gewann Lysis dich zum vertrautesten Freunde. Mir aber ist ein solches Glück so fern geblieben, daß ich nicht einmal weiß, wie Menschen zu Freunden werden. Danach möchte ich dich befragen, denn du hast ja die nötige Erfahrung. Indessen mißrät dem kundigen Knaben schon die Antwort auf die erste Frage. Sie lautete: Gesetzt den Fall, daß jemand liebt: wird alsdann der Liebende dem Geliebten freund, oder der Geliebte dem Liebenden, oder macht das überhaupt keinen Unterschied ? Menexenos meint, daß kein Unterschied bestehe, er hatte nicht beachtet, daß nur von einer einseitigen, nicht von einer erwiderten Liebe die Rede war. Sokrates macht ihm deshalb klar: Wie? Ist es denn so, daß die Liebe stets Gegenliebe erweckt ? Hast du nicht bemerkt, wie es denen ergeht, die einen Knaben lieben ? Da glaubt doch mancher leidenschaftlich Liebende, daß er nicht wiedergeliebt oder gar gehaßt werde! — Das ist sehr wahr, bestätigt Menexenos. — In solchen Fällen liebt also der eine, der andere wird geliebt. Wer von beiden ist dann dem anderen freund ? Oder ist keiner von beiden dem anderen freund, wenn nicht beide lieben ? —

5

Lysis:

K a p i t e l 9 u n d 10

So ist es wohl. 3 ) — Dann wäre man also auch kein Pferdefreund, kein Hundefreund und dergleichen, wenn die Tiere nicht wiederlieben, auch kein Freund der Weisheit (Philosophos), wenn die Weisheit nicht die Liebe erwidert ? Oder hat der Dichter recht, der den Mann glücklich preist, den liebe Kinder, starke Rosse, Jagdhunde und ein Gast aus fernem Lande erfreuen ? — Das scheint mir richtig zu sein. — Da wäre also das Geliebte dem Liebenden lieb, einerlei, ob es liebt oder h a ß t ? So lieben die Eltern ihre kleinen Kinder, die selbst noch keine Liebe empfinden und zuweilen sogar ihrem Hasse Ausdruck geben, wenn Vater und Mutter ihren U n a r t e n wehren. Trotzdem wird ihnen gerade in diesem Alter die zärtlichste Elternliebe zuteil! Wenn hiernach nicht der Liebende, sondern der Geliebte freund ist, so m u ß folgerichtig dasselbe vom H a ß gelten. Also wäre der Gehaßte feind, nicht der Hassende. Nun werden ja auch manche von Verhaßten geliebt und von Geliebten gehaßt. Aber ist das nicht ganz widersinnig ? Wie wäre es denkbar, dem Freunde feind und dem Feinde freund zu sein ? Wenn das unmöglich ist, so ist der Liebende dem Geliebten freund, der Hassende dem Verhaßten feind. Doch sagten wir, daß man oft einem Nichtliebenden, zuweilen gar einem Hassenden freund sei ? Wie können wir da noch von gegenseitiger Freundschaft reden, wo wir auf solche Widersprüche stoßen ? — Begreiflicherweise vermag Menexenos dieses verwickelte Knäuel nicht zu entwirren. Sokrates sucht ihm zu Hilfe zu kommen: Sollten wir, lieber Menexenos, etwa falsch gefragt haben ? Hier platzt Lysis, über seine Keckheit nachträglich errötend, mit der Bemerkung heraus, daß ihm das allerdings der Fall zu sein scheine! E r f r e u t über das Verständnis des aufmerksamen Zuhörers wendet sich Sokrates jetzt ihm wieder zu und läßt Menexenos ein wenig verschnaufen. Freundlich entgegnet er: Wie mir scheint, hast du ganz recht, lieber Lysis; wir h ä t t e n uns nicht so weit verirren können, wenn wir den richtigen Weg eingeschlagen hätten. Wir wollen nun sehen, was uns die Dichter sagen, die wir gleichsam als Väter der Weisheit und als Führer zu ihr verehren. Nach ihnen ist die F r e u n d s c h a f t das eigene Werk der G o t t h e i t : „denn es gesellet ein Gott den Gleichen immer zum Gleichen. 4 )" Dasselbe wirst du in den Schriften weiser Naturphilosophen gefunden haben, auch sie lehren, daß das Gleiche dem Gleichen überall freund sein müsse. Ist das n u n ganz oder etwa nur halb richtig ? Wie steht es, wenn sich der Schlechte zum Schlechten gesellt h a t ? Da sehen wir, daß diese, je vertrauter ihr Umgang war, desto grimmigere Feinde werden. Das kann auch gar nicht ausbleiben, denn der Schlechte wird notwendig seinem Genossen Böses t u n und ihn sich zum Feinde machen. Also ist der Satz höchstens zur Hälfte wahr. Es mag aber

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L y s i s : K a p i t e l 10 b i s 12 sein, daß unsere Gewährsmänner ü b e r h a u p t nicht von schlechten Menschen, sondern nur von den Guten reden, denn sie werden die Schlechten wohl schwerlich als Gleiche anerkennen. Die sind unbeständig und wankelmütig, sie bleiben niemals sich selbst gleich, geschweige denn einem anderen. Der Sinn des Wortes der Weisen scheint mir demnach zu sein, daß nur der Gute dem Guten freund ist, während dem Schlechten niemand w a h r h a f t freund wird, weder ein Schlechter noch ein Guter. Lysis ist dem Vortrage mit Eifer gefolgt und hat sich mit allem einverstanden erklärt. Jedoch verdirbt ihm Sokrates die Freude an den gewonnenen Erkenntnissen sofort durch eine zersetzende Kritik. Er f r a g t : K a n n ein Gleicher dem Gleichen nützlich sein? Das ist nicht möglich. Denn das (!) Gleiche k a n n dem Gleichen weder einen Nutzen gewähren, den es nicht auch selbst gewönne, noch kann es ihm einen Schaden zufügen, den es nicht selbst davontrüge. Keines von beiden kann vom andern etwas erleiden, was es nicht selbst durch sich selbst erlitte. Gleiche haben also nichts voneinander zu erwarten und können deshalb nicht nacheinander verlangen; ohne Verlangen ist aber keine Freundschaft möglich. Folglich kann das Gleiche dem Gleichen nicht freund sein. — Gegen diese spitzfindige Logik ist Lysis machtlos. 5 ) Sokrates fragt weiter: Vielleicht ist aber der Gute dem Guten nicht d a r u m freund, weil sie gleich sind, sondern weil beide gut sind ? Auch diese A n n a h m e wird sofort widerlegt. Das Gute, b e h a u p t e t Sokrates, ist in sich selbst vollendet und bedarf d a r u m keines anderen. Ein guter Mensch kann d a r u m nach keinem andern verlangen, weil ihm nichts fehlt und er von niemandem eine Förderung zu erwarten hat. So ist ihm auch keine F r e u n d s c h a f t möglich. 6 ) Nun merke auf, wo der Ursprung unseres I r r t u m s liegen mag. Soeben fällt mir ein, daß mir kürzlich jemand sagte, daß das Gleiche dem Gleichen und der Gute dem Guten am feindseligsten sei. Er f ü h r t e einen Ausspruch Hesiods an, daß der Töpfer dem Töpfer grollt, der Sänger dem Sänger, der Bettler dem Bettler. Es sei eine Naturnotwendigkeit, daß das Gleichste gegen das Gleichste von Neid, Eifersucht und H a ß erfüllt werde, während das Ungleichste dem Ungleichsten freund sein müsse. Der Arme, so sagte jener in prunkvollen Worten, m u ß dem Reichen freund sein, der Schwache dem Starken, der Kranke dem Arzt. Der Unwissende sucht den Wissenden und liebt ihn. D a r u m begegnen sich gerade die äußersten Gegensätze in der Freundschaft, jeder begehrt nach dem, was ihm fremd ist, nicht nach dem, was ihm gleicht. So strebt das Trockene nach dem Feuchten, das Kalte nach dem W a r m e n ,

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L y s i s : K a p i t e l 12 b i s

14

das Bittere nach dem Süßen, das Scharfe nach dem Stumpfen, das Leere nach Erfüllung, das Erfüllte nach Leerung. Das Gleiche kann von dem Gleichen keinen Gewinn haben, dagegen dient das Ungleiche dem Ungleichen zur Förderung. 7 ) Sicherlich war es ein feiner Kopf, der dies so gut vortrug. Was haltet ihr davon ? Lysis schweigt, der streitbare Menexenos äußert sein Wohlgefallen an diesen Gedanken. Doch Sokrates bedeutet ihn, daß sie mit dieser Lehre vor einem gewiegten Streitkünstler nicht bestehen würden. Der werde fragen: Sind Freundschaft und Feindschaft nicht die entschiedensten Gegensätze ? Kann das Feindliche dem Freundlichen oder das Freundliche dem Feindlichen lieb sein ? Oder das Gerechte dem Ungerechten, das Besonnene dem Zügellosen, das Gute dem Schlechten ? Das alles müßte doch einander freund sein, wenn etwas als Gegensatz dem Entgegengesetzten freund sein soll ? Also ist weder das Gleiche dem Gleichen, noch das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten freund. Sokrates gibt vor, über dieser schwierigen Auseinandersetzung selbst etwas schwindlich geworden zu sein, sodaß er eine neue, ihm soeben einfallende Erklärungsmöglichkeit nicht klar zu übersehen vermöge. Sagt nicht ein altes Sprichwort, fragt er, daß das Schöne uns hold ist ? Nun ist das Schöne leider schwer zu erfassen, glatt und geschmeidig entschlüpft es gar zu leicht unseren Händen. Doch behaupte ich, daß das Gute schön ist. Oder bist du anderer Meinung ? — Durchaus nicht, erwidert Menexenos. — Dann wage ich die Vermutung auszusprechen: freund ist dem Guten und Schönen das, was weder gut noch schlecht ist. Das denke ich mir s o : 8 ) Das Gute, das Schlechte und ein Drittes (Mittleres), das weder gut noch schlecht ist, sind gewissermaßen drei verschiedene Stämme. Nun sahen wir, daß weder zwischen dem Guten und dem Guten, weder zwischen dem Schlechten und dem Schlechten, noch zwischen dem Guten und dem Schlechten Freundschaft besteht. So bleibt nur die Möglichkeit, daß jenes Dritte, weder gute noch schlechte, dem Guten freund ist. Dem Schlechten kann es nicht freund sein, und nach dem, was wir soeben feststellten, kann es auch mit seinesgleichen keine Freundschaft schließen. Darum bleibt ihm nur das Gute. J e t z t wollen wir sehen, ihr Knaben, ob wir auf der rechten Spur sind. Ein gesunder Leib bedarf der Heilkunst nicht, der Gesunde ist deshalb dem Arzte nicht freund, wohl aber der Kranke. Der Leib, der als solcher weder gut noch schlecht ist, gewinnt die Heilkunst lieb, wenn die Krankheit, also das Schlechte, hinzutritt; dieses Verlangen nach der Heilkunst, mithin die Freundschaft mit dem Guten, entsteht hier also durch das Hinzutreten des Schlechten. Nun fanden wir, daß alles, was schlecht geworden ist, nicht mehr nach dem

8

Lysis:

K a p i t e l 14 u n d 15

Guten begehren und ihm freund sein kann, demnach muß es mit diesem Hinzutreten des Schlechten eine besondere Bewandtnis haben. Wird alles und jedes, dem sich das Schlechte zugesellt, ohne weiteres schlecht ? Den Sinn der Frage erläutert Sokrates durch ein Beispiel: Gesetzt, daß jemand euer blondes Haar mit weißer Schminke färbte: würde es dann wirklich weiß s e i n , oder nur weiß zu sein s c h e i n e n ? Wenn aber das Alter das Haar des Menschen gebleicht hat, so s c h e i n t es nicht weiß zu sein, sondern es i s t weiß. In diesem Falle bewirkt das Hinzutreten des Weißen, daß sein Gegenstand ebenso wird wie es selbst, in dem ersten Falle dagegen nicht. Folglich wandelt das Hinzutretende seinen Gegenstand nicht immer um. Das gilt auch vom Schlechten, oft führt es zwar zur Verderbnis, aber nicht in allen Fällen. Und gerade dann erweckt sein Hinzutreten in dem, was an sich nicht schlecht und nicht gut ist, das Verlangen nach dem Guten und macht es ihm lieb und wert; das wirklich Schlechtgewordene vermag freilich nicht mehr nach einer Gemeinschaft mit dem Guten zu streben. Die vollendeten Weisen, mögen sie Götter oder Menschen sein, begehren nicht mehr nach Weisheit, ebensowenig aber die durch das Übel der Unwissenheit ganz Verdorbenen. Zu Freunden der Weisheit werden nur die Menschen, die nicht weise sind und nicht so unwissend, daß sie zu wissen wähnen, was sie nicht wissen. 9 ) So gibt sich weder der Gute noch der Schlechte der Weisheit hin; und damit stimmt das überein, was wir vorhin schon sagten: daß weder Gleichheit noch Gegensätze eine Freundschaft begründen. Und nun, ihr Knaben, fanden wir doch endlich heraus, was Freundschaft ist und was sie nicht ist! In der Seele, im Leibe und überall sonst stiftet das Hinzutreten des Schlechten zu dem, was an sich weder gut noch schlecht ist, die Freundschaft mit dem Guten. — Hocherfreut bestätigen beide Knaben, daß es sich nicht anders verhalten könne. Auch Sokrates stellt sich erfreut, bekennt aber bald seinen jungen Zuhörern: Leider muß ich euch eine Enttäuschung bereiten. Ich fürchte, daß es uns so ergangen ist wie einem, dem ein Traumbild reiche Schätze vorgaukelt, daß trügerische Erwägungen uns in die Irre geführt haben. Sokrates geht von dem Satze aus, daß die Freundschaft ein Z i e l und eine U r s a c h e haben müsse. Der Kranke ist dem Arzte freund, die Ursache dieser Freundschaft ist die Krankheit, das Ziel die Gesundheit. Demnach wird der an und für sich weder gute noch schlechte Leib durch das Schlechte, die Krankheit, einem Guten, der Heilkunst, freund: im Hinblick auf das Ziel der Gesundheit gewinnt man sie lieb. So wird uns die Heilkunst lieb um der Gesundheit willen, die ebenfalls lieb und ein Gut ist. Folglich verbindet das

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Schlechte, die Krankheit, das Gute und Liebe mit dem Guten und Lieben zur Freundschaft. Aber wir müssen hier vorsichtig sein, denn das scheint wiederum auf den Satz hinauszulaufen, daß das Gute dem Guten, das Gleiche dem Gleichen freund sei, was wir vorhin f ü r unmöglich erklärt h a t t e n . Indessen will ich dieses Bedenken auf sich beruhen lassen, um den begonnenen Gedankengang zu Ende zu f ü h r e n : Wir sagten, daß die Heilkunst uns lieb ist u m der Gesundheit willen, da diese das eigentliche Ziel ist. W e n n nun also auch die Gesundheit lieb ist, 10 ) so muß sie ebenfalls ein Ziel haben, um dessen willen sie lieb ist, es m u ß etwas vorhanden sein, dem sie lieb ist. Und auch dieses m u ß wiederum etwas haben, dem es lieb ist. Auf diesem Wege werden wir Schritt f ü r Schritt weiter aufwärts geführt, ohne zu einem Ende zu kommen. Deshalb müssen wir diesen Weg verlassen und unmittelbar nach einem obersten Prinzip forschen, das uns nicht mehr auf ein anderes Liebes verweist. 1 1 ) In ihm werden wir das gefunden haben, um dessen willen alles andere lieb ist, und dann werden uns alle diese Dinge nur noch als Schattenbilder jenes Höchsten, in Wahrheit Lieben, erscheinen. Sokrates erläutert dies durch ein der Fassungskraft seiner jugendlichen Hörer angepaßtes Gleichnis: Ein Vater, der seinen Sohn über alles liebt, wird eben d a r u m auch noch manches andere schätzen. Wenn etwa der Sohn Schierling getrunken hätte, so wird der Wein ihm zu einem kostbaren Gute werden, wenn er glaubt, daß der ihm das Leben des Kindes erhalten könne. Werden ihm aber ein p a a r Becher Wein ebenso lieb sein wie sein Sohn ? So gilt alles menschliche Bestreben nicht eigentlich dem nächsten Zwecke, dem es zu dienen scheint, sondern einem höheren Ziele. Man schätzt Gold und Silber hoch, aber doch nur im Hinblick auf das, was man sich damit zu verschaffen vermag, als Mittel zu einem Zweck. Dasselbe gilt von allem anderen. Solange wir von dem reden, das uns nur um eines anderen Lieben willen lieb ist, bleibt „lieb" nur ein Wort ohne genauen Sinn. Das wirklich Liebe ist das, worin alles, was uns sonst lieb sein mag, seine Erfüllung findet. — Das ist wahr, bestätigt Menexenos. — Es ist also abgemacht, stellt Sokrates fest, daß uns das wirklich Liebe nicht wegen eines anderen lieb sein kann. Die Ursache, die uns das Gute lieb macht, fanden wir in dem Schlechten. Dreierlei h a t t e n wir zu unterscheiden: das Gute, das Schlechte und das, was weder gut noch schlecht ist. Wenn von diesen dreien nur das erste und das dritte übrig bliebe, das Schlechte dagegen verschwände und sich weder eines Leibes noch einer Seele noch irgend eines Dinges bemächtigen könnte, so würde zu fragen sein, ob dann das Gute nicht ganz u n n ü t z würde ? Denn 10

L y s i s : K a p i t e l 17 wenn uns nichts mehr schaden kann, so kann uns auch nichts mehr nützen. E s scheint also klar zu sein, daß die Ursache unserer Liebe zum Guten das Schlechte ist, wir verlangen nach jenem als einem Heilmittel gegen die Krankheit des Schlechten. Wo aber nicht eine Krankheit ist, brauchen wir auch kein Heilmittel. Verhält es sich nun so, daß wir, zwischen Gut und Schlecht stehend, das Gute nur v e r m ö g e des Schlechten lieben, und daß uns das Gute sonst keinen Nutzen gewähren könnte ? — So scheint es, meint Menexenos. — Aber mit jenem Höchsten, in dem alles endet, was wir sonst lieb nennen, hat es eine besondere Bewandtnis. Denn während uns sonst alles nur um eines anderen Lieben willen als lieb gilt, ist dieses uns freund um des Feindlichen willen. 12 ) Nur wenn alles Feindliche dahingeschwunden wäre, würde auch dieses nicht mehr lieb sein. Stellt euch vor, daß alles Böse aus der Welt verschwände: würde es da auch noch Hunger und Durst geben? Wohl ohne Zweifel, denn die bleiben, solange es Menschen und Tiere gibt, aber sie würden nicht mehr schaden und quälen. So würden auch die anderen Begierden zwar nicht verschwinden, aber sie würden nicht mehr schlecht sein können, da das Böse ja verschwunden wäre. Freilich klingt die Frage, was bleiben würde, wenn das Böse verschwände, ein wenig lächerlich, denn wer kann das wissen ? 13 ) Soviel dürfen wir aber sagen, daß Hunger, Durst und alle Begierden dieser Art teils schädlich, teils nützlich, teils indifferent sind. Und diese letzten, die nicht gut und nicht schlecht sind, würden bestehen bleiben, auch wenn das Böse unterginge. Es blieben also Begehren und Liebe. Kann man nun etwas lieben und begehren, ohne ihm freund zu sein ? Demnach bliebe auch nach dem Untergange des Bösen vielerlei Liebes erhalten. Folglich k a n n das Böse nicht die Ursache sein, daß uns etwas lieb ist. Aber es muß doch eine Ursache da sein! Wenn wir jetzt erklären dürfen, daß die Begierde die Ursache der Freundschaft und das Begehrende dem Begehrten freund ist, so war alles, was wir bisher zur E r k l ä r u n g beigebracht haben, ein leeres Gerede. Nun begehrt man das, dessen man bedürftig ist, und dieses ist uns lieb. Wir bedürfen dessen, von dem man uns getrennt hat, folglich m u ß dies etwas sein, das uns eigen ist. N a c h d e m u n s E i g e nen, ihr K n a b e n , s t r e b t die L i e b e , die F r e u n d s c h a f t u n d das B e g e h r e n . 1 4 ) W e n n ihr Freunde seid, so gehört ihr nach eurem Wesen einander an. Begehren und Liebe sind nicht möglich, wenn der Geliebte dem Liebenden nicht irgendwie angehört, sei es mit der ganzen Seele oder nach seinen Gesinnungen und seinem Charakter. — Menexenos stimmt zu, Lysis aber schweigt. 15 ) — Wohl! schließt Sokrates. Dem von N a t u r uns Eigenen müssen wir freund sein. D a r u m muß auch der Geliebte dem als wahr und II

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echt bewährten Liebhaber seine Liebe schenken. — Hier wagen Lysis und Menexenos n u r noch schüchtern zu nicken, Hippothales aber strahlt vor Freude über das ganze Antlitz. Natürlich wird auch dieses Endergebnis sofort wieder umgestoßen. Sokrates erklärt: Das kann freilich nur richtig sein, wenn das uns Eigene von dem uns Gleichen verschieden ist. Wenn es sich als dasselbe erweisen sollte, so wäre damit nichts gesagt, denn wir sahen ja ein, daß das Gleiche dem Gleichen nicht nützen kann. Wollen wir nun unsere berauschende Rede dadurch retten, daß wir das Eigene und das Gleiche für etwas Verschiedenes erklären ? — Gewiß, versetzt Menexenos eifrig. — Aber wie ? Wollen wir behaupten, daß jedem Menschen das Gute eigen, das Böse dagegen fremd sei ? Oder daß das Gute dem Guten, das Böse dem Bösen und das weder Gute noch Böse dem weder Guten noch Bösen zu eigen ist ? — Nachdem sich die Knaben für die zweite A n n a h m e entschieden haben, belehrt sie Sokrates: Damit, ihr Kinder, sind wir wieder in dieselben Irrtümer hineingeraten, die wir vorhin verworfen h a t t e n . Denn dann müßte der Böse dem Bösen und der Ungerechte dem Ungerechten ebensowohl freund sein, wie der Gute dem Guten. Wenn wir dagegen das Gute dem Eigenen gleichsetzen, so wäre der Gute dem Guten f r e u n d ? Aber auch das vermeinten wir ja widerlegt zu h a b e n ! Erinnert ihr euch ? — Ja. — Was ist nun aus unseren Untersuchungen herausgekommen, wenn sich alles als falsch erweist ? Wenn weder die Geliebten noch die Liebenden, weder die Gleichen noch die Ungleichen, weder die Guten noch die einander Eigenen freund sind — und was mag ich noch alles vergessen h a b e n ! — so weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll. Sokrates gedenkt nun einen der älteren Zuhörer zu Rate zu ziehen, doch n i m m t der Dialog ein jähes Ende. „Wie böse D ä m o n e n " brechen die Hofmeister der beiden Knaben in die Gesellschaft herein und befehlen ihren Zöglingen barsch, aufzustehen und mit ihnen heimzugehen. Vergeblich versuchen die Anwesenden, sie zu beschwichtigen, die Grobiane haben sich zu Ehren des Hermesfestes einen Rausch angetrunken und führen die Knaben schimpfend mit sich fort. Seinen abgehenden kleinen Freunden r u f t Sokrates n a c h : Jetzt haben wir drei, ihr und ich alter Mann, uns lächerlich gemacht. Diese hier werden sagen, daß wir gute Freunde zu sein glauben und doch nicht herausfinden konnten, was ein Freund ist! —

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LACHES

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u Beginn der Handlung finden wir mehrere vornehme Athener im Gespräch. Der greise Lysimachos, der Sohn des großen Aristides, und sein Freund Melesias, Sohn des Thukydides, haben die Feldherrn Nikias und Laches zu dieser Unterredung gebeten, um sich über die Erziehung ihrer Söhne beraten zu lassen. 1 ) Die beiden Knaben, denen sie die Namen der berühmten Großväter gegeben hatten, haben sie mitgebracht. Irgend jemand hatte ihnen angeraten, sie im Kampf mit schwerer Rüstung auszubilden. Sie haben deshalb soeben den ihnen empfohlenen Fechtmeister aufgesucht und sich von ihm eine Probe seiner Kunst vorführen lassen. Nikias und Laches sind auf ihre B i t t e hierbei zugegen gewesen. Lysimachos, ein redseliger, geistig nicht eben bedeutender Greis, setzt den Feldherrn den Zweck der Besprechung weitschweifig auseinander. E s bekümmert ihn und seinen Freund Melesias, daß sie den Söhnen zwar viel von den großen Taten ihrer Väter zu erzählen haben, von ihren eigenen aber nichts. Daran sind, wie Lysimachos meint, ihre Väter schuld, weil sie ihre ganze Kraft und Zeit allein dem Staate gewidmet und darüber die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigt hätten. Vor diesem Schicksal wollen sie ihre Söhne bewahren. Sie wollen die jetzt zu Jünglingen heranreifenden Knaben nicht, wie andere Vfiter, tun lassen, was ihnen beliebt, sondern ernstlich auf ihre Erziehung zu tüchtigen, ihrer Ahnen würdigen Männern bedacht sein. Dem Nikias und Laches vertrauen sie sich besonders auch deshalb an, weil diese ebenfalls heranwachsende Söhne haben; sie vermuten deshalb, daß sie sich schon näher mit Erziehungsplänen befaßt hätten. Die beiden Feldherrn sind gern bereit, den besorgten Vätern zu helfen. Laches bemerkt: E s ist leider richtig, daß wir, die dem Staate dienen, uns viel zu wenig um unsere Kinder bekümmern. Doch wundere ich mich, daß du, Lysimachos, uns und nicht unsern Sokrates hier um R a t bittest. Der gehört j a demselben Demos an wie du, 2 ) und gerade ihm liegt doch die edle

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Laches:

Kapitel 3 bis 5

Bildung der Jugend ganz besonders am Herzen. — Wie sagst du, fragt Lysimachos erstaunt, hier dieser Sokrates befaßt sich mit solchen Dingen ? — Das ist richtig, bestätigt Nikias. Mir h a t er als Musiklehrer meines Sohnes den Dämon, einen Schüler des Agathokles zugeführt, und der h a t sich nicht allein als Lehrer der Musik, sondern auch sonst als ein ausgezeichneter, in allen Fächern wohlunterrichteter Erzieher bewährt. 3 ) Lysimachos entschuldigt seine Unkenntnis: Wir Alten lernen die Jüngeren nicht mehr recht kennen, denn bei unserm zurückgezogenen Leben kommen wir zu wenig unter die Leute. Aber deinen Rat, lieber Sokrates, würde ich mit Freuden a n n e h m e n ; und den darfst du mir nicht vorenthalten, denn du stehst mir von deinem Vater Sophroniskos her nahe. Er war mein Freund, und bis zu seinem Tode ist unser gutes Einvernehmen niemals getrübt worden. Und jetzt fällt mir ein, daß mein Sohn und der junge Thukydides den Namen Sokrates oft r ü h m e n d erwähnt haben! Ist das der Mann, ihr Knaben, den ihr n a n n t e t ? — Ja, das ist er, rufen diese aus. — Bei der Hera, es ist schön, daß du deinem vortrefflichen Vater Ehre machst, und so hoffe ich, daß wir künftig auf dich rechnen dürfen, wie du auf uns. — Laches fügt hinzu: Recht so, Lysimachos, halte an Sokrates fest! Er hat nicht nur seinem Vater, sondern auch seiner Vaterstadt alle Ehre gemacht. Bei Delion hat er auf dem Rückzüge an meiner Seite gekämpft, und wenn sich alle Athener so tapfer gehalten h ä t t e n , würden wir die Schlacht nicht verloren haben. 4 ) Lysimachos vernimmt dieses Lob aus berufenem Munde mit Freuden und versichert Sokrates nochmals seines Wohlwollens. E r macht ihm freundschaftliche Vorwürfe, daß er bisher seinem Hause ferngeblieben sei, und bittet ihn dringend, sich ihm und den Knaben von jetzt ab um so reger zu widmen. Nun soll Sokrates ihm sagen, ob den Knaben die empfohlene Ausbildung zum Kampf in schwerer R ü s t u n g von Nutzen sein würde. Sokrates erwidert höflich: Ich will versuchen, dir zu raten, so gut ich es vermag, und auch deine anderen Wünsche gern erfüllen. Doch scheint es mir schicklich zu sein, zunächst die Ansichten dieser Männer anzuhören, die älter und erfahrener sind als ich, und von ihnen zu lernen. W e n n ich ihnen dann nicht zustimmen sollte, werde auch ich meine Meinung äußern und mich bemühen, sie und dich zu überzeugen. Nikias n i m m t darauf das W o r t . Aus verschiedenen Gründen, die er ausführlich entwickelt, hält er die Fechtausbildung in schwerer Rüstung für wünschenswert: Diese Übung hält die Jünglinge von unnützem Zeitvertreib fern, sie stählt den Körper nicht minder als die Gymnastik der Ringschule. Und da der Wert aller Gymnastik in der Hauptsache darin besteht, die Jugend

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Laches: Kapitel 5 bis 7 kriegstüclitig zu machen, ist das Fechten ebenso wichtig und ebensosehr einem Edlen geziemend wie die Reitkunst. Der gewandte Fechter wird sich nicht nur als K ä m p f e r in Reihe und Glied bewähren, sondern vor allem dann, wenn nach erfolgtem Durchbruch die Schlachtordnung sich in Einzelkämpfe auflöst; da wird er selbst mehrere Gegner nicht zu scheuen haben. Sodann wird die Lust am Waffenhandwerk in dem jungen Krieger den Ehrgeiz erwecken, aus einem tüchtigen Hopliten ein guter Taktiker und aus einem guten T a k t i k e r ein Stratege zu werden. Ü b e r h a u p t ist es für jeden rechten Mann von großem Wert, sich alles anzueignen, was zur Kriegskunst gehört. Insonderheit macht die Fechtkunst den Soldaten mutig und zuversichtlich; und schließlich ist nicht zu unterschätzen, daß sie ihm eine gute H a l t u n g nebst einem sicheren, imponierenden Auftreten verschafft. Der alte Haudegen Laches hält dagegen nicht viel von friedensmäßigen Fechterkünsten. E r meint: Ich möchte zwar von keiner Kunst behaupten, daß es überflüssig sei, sie zu erlernen; aber ob das, wovon Nikias redet, wirklich eine Kunst ist, die man sich aneignen sollte, m u ß ich doch bezweifeln. Wenn die Fechtkunst praktischen Wert besäße, würden vor allem die Spartaner sie eifrig pflegen, da bei ihnen die kriegerische Tüchtigkeit am höchsten steht, l i n d wenn ihnen deren W e r t unbekannt geblieben wäre, so würden die Fechtlehrer nicht säumen, sie darüber zu belehren. Sie würden ebenso sicher in Scharen nach Sparta eilen, um dort Geld und Ehren zu gewinnen, wie alle Tragödiendichter den Weg nach Athen finden. Doch hüten sie sich, das zu t u n ; sie meiden Sparta wie ein unzugängliches Heiligtum und bieten ihre Kunst lieber in Ländern feil, die an Kriegstüchtigkeit hinter anderen weit zurückstehen. Ich habe diese berufsmäßigen Fechter oft im Kriege angetroffen und weiß, was von ihnen zu halten ist. Kein einziger von ihnen h a t sich je sonderlich hervorgetan, während doch sonst alle bedeutenden Männer aus der Zahl derer hervorgehen, die ihr Fach von Grund aus erlernt haben. Aber sie bringen es mit ihren Künsten nicht weit. — Laches erzählt darauf ein Abenteuer des Fechtlehrers Stesileos, der ihnen vorhin seine Kunst vorführte. Der h a t t e einen Sichelspeer erfunden, mit dem er das Takelwerk feindlicher Schiffe zu durchschneiden gedachte. Aber die Probe mißlang. Als er vom Bord eines Dreiruderers aus die Leinen eines vorüberfahrenden Handelsschiffes zu kappen versuchte, geriet sein Sichelspeer im Takelwerk fest. Der Segler blieb in F a h r t und schleifte den Mann, der den Speer k r a m p f h a f t festhielt, über das ganze Deck des Kriegschifles hin, bis ihm schließlich ein Matrose des Kauffahrers unter dem Hohngelächter seiner Gefährten einen dicken

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Laches: Kapitel 7 bis 9 Stein vor die Füße warf. D a ließ er vor Schreck den Speer fahren, und die Mannschaft des Dreiruderers s t i m m t e in das Gelächter ein, als sie den Sichelspeer an den Tauen des davonsegelnden Schifies baumeln sah. 5 ) Laches schließt: Mögen nun Fechtübungen jener Art als K u n s t oder nicht als Kunst anzusprechen sein: in keinem Falle verlohnt es sich sie zu betreiben, denn selbst als Kunst würden sie nur geringen Nutzen gewähren. Ein Feiger, der mit ihr prahlte, würde im Ernstfalle doch nur erweisen, daß er eben n u r ein Feigling ist; und ein Mutiger sollte sich hüten, als großer Fechter aufzutreten, denn er würde den Neid der andern erregen. Die würden dann besonders acht auf ihn haben und ihn auslachen, sobald er sich eine Blöße gäbe. Das ist meine Ansicht, Lysimachos. Nun lasse uns hören, was Sokrates hierzu meint. — Lysimachos sagt: Ja, Sokrates, darum bitte ich dich auch. Mir scheint, daß unser R a t eines Schiedsrichters bedarf. Das würde unnötig sein, wenn Nikias und Laches derselben Meinung wären; aber das ist nicht der Fall, und deshalb m u ß t du uns sagen, wem du zustimmst. Wie ? fragt Sokrates, gedenkst du das, was die Mehrzahl von uns beschließt, ohne weiteres anzunehmen ? — W a s könnte ich Besseres t u n ? laut e t die Antwort. Sokrates wendet sich darauf an Melesias: Denkst du auch so ? Würdest du dich zum Beispiel, wenn die gymnastische Ausbildung deines Sohnes zur Beratung stände, einfach einem Mehrheitsbeschluß fügen, oder würdest du lieber dem vertrauen, der von einem guten Meister gründlich ausgebildet worden ist ? — Vermutlich wohl dem, bekennt Melesias. — Dem würdest du eher folgen als uns vieren? — Vielleicht. — Ich dächte doch auch, daß über wichtige Fragen nicht durch Mehrheitsbeschluß, sondern nach Sachkenntnis entschieden werden sollte! — Natürlich. — D a r u m müssen wir uns zunächst danach umsehen, wer von uns in der Frage, die wir beraten, sachkundig ist und wer nicht. Und wenn nur einer von uns die rechte Erkenntnis besäße, so h ä t t e n wir dem zu folgen und die andern nicht weiter zu beachten. W e n n aber keiner von uns der rechte Mann wäre, müßten wir uns einen anderen suchen. Oder meinst du, daß es sich hier nur um ein Geringes handelt und nicht u m euer höchstes Gut ? Denn so, wie der Sohn gerät, gut oder schlecht, wird sich auch die Z u k u n f t seines väterlichen Hauses gestalten. — Das ist wahr. — Du wirst also sehr vorsichtig sein müssen ? —• Gewiß. — Sollen wir nun untersuchen, wer von uns die besten Kenntnisse im W e t t k a m p f besitzt ? Ich meine: wer ihn unter der Leitung eines tüchtigen Lehrers erlernt und geübt h a t ? — Das wäre wohl das Richtige. — Ja, aber vielleicht müssen wir vorher noch sehen, wie es sich mit der Kunst verhält, deren Lehrer wir suchen. •— Wie meinst du das ? — Ich will versuchen, dir

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das deutlicher zu machen: Wir sind uns j a noch gar nicht klar darüber, was nun eigentlich gelehrt werden soll, und suchen trotzdem schon nach Lehrern! Nikias erinnert: Aber die Frage ist doch, ob die Jünglinge das Fechten in schwerer Rüstung erlernen sollen ? Indessen setzt ihm Sokrates auseinander: Wenn wir fragen, ob jemand eine Augensalbe gebrauchen soll, so ist der Zustand der Augen und nicht die Salbe der Gegenstand der Erwägung. Ebenso: wenn wir überlegen, ob wir einem jungen Pferde schon ein Gebiß auflegen dürfen, ist der Gegenstand der Überlegung nicht das Gebiß, sondern das Pferd. Daraus soll Nikias ersehen: Wenn ein Mittel zu einem Zweck gesucht wird, ist dieser Zweck, nicht das Mittel, Gegenstand der Beratung; der Ratgeber muß also den Gegenstand kennen, dem das Mittel dienen soll. Im vorliegenden Falle ist die Fechtkunst lediglich das Mittel, auf die Seelen der Jünglinge einzuwirken, folglich kann hier nur der raten, der sich auf die Behandlung von Seelen versteht und diese Kunst von einem tüchtigen Meister erlernt hat. — Der Praktiker Laches wendet dagegen ein: Hast du denn nicht bemerkt, daß es schon manche Menschen ohne Lehrer viel weiter gebracht haben als andere mit guten Lehrern ? — Das ist richtig, gibt Sokrates zu, aber du würdest schwerlich jemandem vertrauen, der sich als Meister ausgibt, ohne sich durch ein wohlgelungenes Werk auszuweisen. In einor langen Rede führt Sokrates aus: In ihren Sorgen um das Heil ihrer Söhne haben uns Lysimachos und Melesias um Rat gebeten, wie die Seelen der Jünglinge so vortrefflich wie möglich zu bilden seien. Da haben wir ihnen entweder nachzuweisen, daß wir bewährte Lehrmeister hatten, die selbst ausgezeichnete Männer waren und viele Jünglinge zu solchen erzogen haben, oder daß wir auch ohne Anleitung gute Erzieher geworden sind. In diesem Fall müßten wir ihnen angeben, welche Menschen, seien es Athener oder Fremde, Freie oder Sklaven, anerkanntermaßen von uns ihre Erziehung zu tüchtigen Männern erhielten. Wenn wir weder das eine noch das andere zu beweisen vermögen, so müßten wir ihnen anheimgeben, sich nach anderen Erziehern umzusehen; wir dürften uns nicht der Gefahr aussetzen, die Söhne befreundeter Männer zu verderben und uns darob die schwersten Vorwürfe ihrer Angehörigen zuzuziehen. Ich selbst muß bekennen, daß ich keinen Lehrer fand, so sehr ich mich von Jugend auf um diese Kunst bemühe. Denn die Sophisten, die sich rühmen, allein fähig zu sein, mich zu einem guten und edlen Menschen zu machen, kann ich nicht bezahlen, und jene Kunst aus eigener Kraft zu gewinnen, ist mir bis jetzt nicht gelungen. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn es Nikias und Laches darin weiter gebracht hätten. V e r i n g , P i a t o n s Dialoge 3

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L a c h e s : K a p i t e l 11 b i s 13 Sie sind reich genug, um Lehrer zu besolden, auch sind sie älter als ich und demgemäß an Erfahrung reicher. So haben sie sich gewiß die Fähigkeit erworben, Menschen zu erziehen, denn sonst hätten sie sich unmöglich so bestimmt darüber äußern können, welche Ausbildung einem Jüngling zuträglich oder nachteilig sei. Ich vertraue ihnen durchaus und wundere mich nur, daß ihre Urteile so verschieden ausfielen. Deshalb muß ich dir, Lysimachos, den Rat zurückgeben, den du vorhin von Laches in bezug auf mich erhieltest: Halte du dich an ihn und Nikias und sage den beiden: „Sokrates bekennt, daß er nichts von der Sache versteht und auch nicht zu entscheiden vermag, wer von euch recht hat, denn er sei hierin weder Schüler eines anderen gewesen, noch Meister aus eigener Erkenntnis. Nun nennt ihr uns den klugen Mann, dem ihr die Kunst der Jugenderziehung verdankt, und die Namen seiner Genossen, damit wir uns mit guten Worten und Geschenken an sie wenden, wenn euch die Staatsgeschäfte nicht die Zeit lassen, uns zu helfen, daß unsere Söhne ihrer Ahnen würdig werden. Wenn ihr jedoch diese Kunst auf eigenen Wegen gewannet, so sagt uns, wer dank eurer Fürsorge aus einem unbedeutenden Menschen zu einem Edlen und Guten herangebildet worden ist. Sonst aber beginnet mit dem Erziehungswerk nicht gerade jetzt, denn ihr würdet es nicht an einem elenden Karier, sondern an euren Söhnen und denen eurer Freunde ausprobieren. Das hieße, wie das Sprichwort sagt, das Töpferhandwerk mit dem Fasse anzufangen." 6 ) Das sage du ihnen, Lysimachos, und lasse sie nicht los, bis sie dir darüber Auskunft gegeben haben. Lysimachos hat an diesen Ausführungen nichts zu bemängeln, doch stellt er es den beiden Freunden anheim, ob sie sich auf diese verfänglichen Fragen einlassen wollen. Er bemerkt, daß es ihm und Melesias sehr lieb sein würde, wenn das geschähe; er erinnert daran, daß Nikias und Laches ihrer eigenen Söhne halber auch ein Interesse daran hätten, sich mit Sokrates gründlich auseinanderzusetzen. — Nikias erwidert: Du scheinst Sokrates wirklich nur von seinem Vater her zu kennen, da magst du ihn wohl einmal gesehen haben, wenn er ihn in den Tempel oder in eine Versammlung eures Demos begleitete. Seitdem bist du ihm offenbar nicht mehr begegnet! —• Warum denn, lieber Nikias ? — Weil du Sokrates schlecht kennst, wenn du nicht weißt, wie es jedem ergeht, der sich auf eine Unterredung mit ihm einläßt. Die mag noch so harmlos beginnen: zuletzt bringt Sokrates ihn auf Umwegen doch dahin, daß er ihm Rechenschaft über sein gegenwärtiges und vergangenes Leben ablegen muß; und dann läßt er ihn nicht eher los, bis alles aufs genaueste untersucht ist. Ich weiß wohl, daß mir dies jetzt auch bevorsteht, aber es soll mir recht

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L a c h e s : K a p i t e l 13 b i s 15 sein, denn ich habe Freude an dem Manne, und außerdem kann es niemals schaden, sich auf seine Fehler aufmerksam machen zu lassen. Wer das nicht scheut, wird künftig sein Leben besser einzurichten wissen: nach Solons Mahnung wird er lernen, solange er lebt, und nicht wähnen, daß der Verstand mit den Jahren schon ganz von selbst kommen werde. Das bin ich gewohnt, ich ahnte auch schon, daß im Verlaufe dieses Gespräches nicht mehr von den Jünglingen, sondern von uns die Rede sein werde. Ich bin also bereit darauf einzugehen, und nun mag Laches sagen, wie er darüber denkt. Laches erklärt: Meine Grundsätze sind einfach oder, wenn du willst, auch zwiefach, weil ich teils ein Freund, teils ein Feind von Worten bin. Gern höre ich die Rede eines Mannes, der es wert ist, über die Sache zu sprechen, die er vertritt, mag es die Tugend oder andere Weisheit sein. Dann habe ich meine Freude daran, daß der Mann und sein Wort zueinander passen; und dieser ist mir der echte Musiker, denn er stimmt nicht die Lyra oder sonst ein Instrument, sondern sein Leben zu einer Harmonie, in der Taten und Worte aufs schönste zusammenklingen. Das ist die dorische, die einzig hellenische Weise, die jonische, phrygische, lydische taugen dazu nicht. 7 ) Wer mich einem solchen Manne lauschen sieht, mag mich für einen eifrigen Freund von Reden halten. Doch sind mir Redner der anderen Art zuwider, und zwar um so mehr, je schöner ihre Worte klingen; da könnte man meinen, daß ich ein Feind der Rede sei. Die Reden des Sokrates kenne ich nicht, aber ich sah seine Taten, und die bezeugten mir, daß er würdig ist, sich offen und frei in schöner Rede zu ergehen. Wenn er auch das vermag, vertraue ich ihm und will mich gerne von ihm prüfen lassen. Dem Worte Solons, daß man auch im Alter noch lernen soll, stimme ich zu, aber mit der Einschränkung: nur von einem guten Lehrer! Ob der noch unberühmt ist oder jünger als ich, kümmert mich nicht. Belehre mich denn, Sokrates, prüfe mich nach Belieben und lerne auch von mir, was ich etwa weiß. So hoch stehst du in meiner Achtung seit jenem Tage, an dem du mir in gemeinsam durchkämpfter Gefahr deine Tapferkeit bewiesest. Mein höheres Alter brauchst du nicht zu scheuen. Diese ehrenvollen Worte der Feldherrn vernimmt Sokrates gern. Lysimachos nimmt die Gelegenheit wahr sich zu entschuldigen, daß er an der ferneren Beratung nicht mehr teilnehmen werde; er sei zu alt und zu vergeßlich, um in einer schwierigen Auseinandersetzung mitzuwirken. Darum wolle er sich darauf beschränken ihr zuzuhören, und dann mit Melesias das Beschlossene ausführen. Sokrates schlägt v o r : Wir wollen die Fragen, wer unsere Lehrer gewesen 2*

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L a c h e s : K a p i t e l 15 b i s 18 sind und wen wir etwa zu einem besseren Menschen erzogen haben, jetzt ruhen lassen. Vielleicht führt uns ein anderer Weg auch zum Ziele und gewährt uns wohl gar einen besseren Ausgangspunkt. Wenn wir etwas genau kennen und von ihm wissen, daß seine Einwirkung einen anderen Gegenstand besser macht, und wir ferner in der Lage sind, beide Dinge miteinander zu verbinden, so haben wir alles beisammen, um einen guten Rat zu erteilen. Sokrates erläutert das an einem Beispiel und fährt — immer in Fragen an Laches — fort: In unserem Falle sollen wir raten, auf welche Weise die T u g e n d auf die Söhne dieser Männer einzuwirken hat, damit ihre Seelen besser werden. Zu diesem Zwecke müssen wir wissen, was Tugend ist, sonst könnten wir unmöglich raten, wie sie sich die aneignen sollen. Und wenn wir wissen, was Tugend ist, müssen wir sie auch erklären können. Aber wir wollen doch lieber nicht versuchen, die Tugend im ganzen zu erläutern, denn das würde zu weitläufig werden, sondern einen ihrer Teile herausgreifen. Welchen sollen wir da wählen ? Wohl sicherlich den, dem die Übung des Fechtens in schwerer Rüstung dienen soll, und das wäre, wie man sagt, die Tapferkeit. Wenn wilderen Erklärung gefunden haben, wollen wir sehen, wie die Jünglinge sie zu erwerben haben. Versuche mir also zu erklären, was Tapferkeit ist! 8 ) Das ist nicht schwer zu sagen, meint der alte Krieger: wenn jemand in der Schlacht in Reihe und Glied bleibt und nicht flieht, so ist das ein tapferer Mann. Sokrates lobt die Antwort, bemerkt indessen ironisch, daß Laches ihn nicht ganz richtig verstanden habe, doch daran sei die unklar gestellte Frage schuld. Er weist Laches auf die Skythischen Reiterscharen hin, die auch im Fliehen (ihre Pfeile nach rückwärts abschießend) tapfer kämpften, ferner auf den Helden Aenaeas, den Homer als Meister der Flucht preise. — Diesen Einwand läßt Laches nicht gelten: Reiter und Streitwagen hätten freilich ihre eigene Kampfesweise, aber der griechische Schwerbewaffnete kämpfe so, wie er gesagt habe. — Sokrates erwidert: Dazu stimmt aber nicht das Verhalten der schwergerüsteten Spartaner in der Schlacht bei Platää; dort gingen sie fliehend zurück, bis die dichte Schlachtordnung der verfolgenden Perser sich gelockert hatte, worauf sie geschlossen kehrtmachten und die feindliche Front durchbrachen. 9 ) Laches gibt sich damit zufrieden, Sokrates wiederholt: Ich bin also schuld daran, daß du nicht richtig geantwortet hast, denn ich habe nicht richtig gefragt. Ich wollte nicht wissen, welcher Schwerbewaffnete tapfer sei, sondern wer überhaupt im Kriege tapfer ist, und zwar nicht allein im Kriege, sondern auch in den Gefahren des Meeres, in Krankheit und Not, in der Politik, ferner im Widerstande gegen Schmerz und Furcht, gegen Begierde und Lust. Mag

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jemand da standhalten oder zurückweichen, um dann wieder festen Fuß zu fassen: auch fliehend kann er seine Tapferkeit erweisen. Alle, die sich in solchen Lagen bewähren, nenne ich tapfer, die anderen feige. 10 ) Versuche also, mir die Tapferkeit hiernach noch einmal zu erklären. Welches ist die Beschaffenheit, durch die sie sich in allen diesen Fällen als ebendasselbe darstellt ? Oder verstehst du mich noch nicht ? — Noch nicht ganz. — Sokrates hilft ihm wiederum durch ein Beispiel: Schnelligkeit bemerken wir beim Laufen, in der Musik, beim Sprechen, beim Auffassen und auch sonst vielfach, fast in jeder Tätigkeit. Wenn mich nun jemand fragte: Was ist das, was man da überall mit dem Worte Schnelligkeit bezeichnet ? so würde ich sagen: es ist die Fähigkeit, in kurzer Zeit viel zu leisten. So versuche nun auch du, mir anzugeben, worin die Fähigkeit besteht, die wir in Lust und Schmerz sowie auch in anderen Verhältnissen auffanden und Tapferkeit nannten. — Laches erklärt: Wenn ich das, was hier überall auftritt, seinem Wesen nach bezeichnen soll, so würde ich sagen: es ist eine gewisse Beharrlichkeit der Seele. — Doch Sokrates setzt ihm in einigen Fragen auseinander, daß nicht jede, sondern nur die mit rechter Einsicht gepaarte Beharrlichkeit als Tapferkeit bezeichnet werden dürfe. Nur die sei gut und schön und des Namens der Tapferkeit würdig, die zu den schönsten Dingen gehöre. Dagegen sei Beharrlichkeit im Verein mit Unbesonnenheit schädlich und verderblich, also nicht schön und darum nicht tapfer. Tapferkeit sei allein das vernünftige Beharren. — Das räumt Laches ein. — Daß diese Erklärung noch nicht ausreicht, erläutert Sokrates dadurch, daß er Laches in ein Netz feingesponnener Kasuistik verwickelt. Er geht von der Frage aus, welches der Gegenstand dieser vernünftigen Beharrlichkeit sein müsse, oder ob es einerlei sei, wie sie sich betätige. Dann beginnt er: Ist jemand, der in seinen Geldgeschäften einsichtig und beharrlich verfährt, um sein Vermögen zu mehren, darum tapfer zu nennen ? — Das weist Laches weit ab. — Oder ist ein Arzt tapfer, der seiner besseren Einsicht folgt, wenn sein Sohn oder ein Patient in einer schweren Lungenentzündung zu essen und zu trinken begehrt, und trotz ihrer Bitten beharrlich sein Verbot aufrechterhält ? n ) — Auch das verneint Laches. — Wie steht es aber dann, wenn ein Krieger, gestützt auf die klare Erkenntnis der Unterlegenheit des Feindes, im K a m p f e ausharrt ? Er weiß, daß er sich auf seine Kameraden verlassen darf, daß sein Heer an Zahl und Kriegstüchtigkeit stärker, und auch das Gelände ihm günstiger ist. Würdest du den als Tapfersten rühmen oder eher seinen Gegner, der trotz des Bewußtseins seiner Unterlegenheit wacker standhält ? — Dieser Gegner scheint mir tapferer zu sein. — Aber seine Be21

L a c h e s : K a p i t e 1 20 b i s 22 harrlichkeit ist doch minder verständig als die des andern ? — Das ist richtig. — Sokrates b e n u t z t dieses falsche Zugeständnis, 1 2 ) u m seinen Gönner weiter in die Enge zu t r e i b e n : Dann wirst du also auch einen vorzüglichen Reiter für minder t a p f e r halten als einen nicht ausgebildeten, der t r o t z d e m im Reiterkampfe ausharrt ? — So scheint es. — Ebenso einen Schleuderer oder einen Bogenschützen, der ausharrt, weil er seiner K u n s t v e r t r a u t ? — Ja. — Überh a u p t wirst du jeden, der einen gefahrvollen Beruf ausübt, ohne in seiner Kunst erfahren zu sein — etwa einen Taucher oder einen Brunnenmacher —, tapferer nennen als den, der das Gewerbe gründlich v e r s t e h t ? 1 3 ) — W e r könnte dagegen etwas einwenden, Sokrates ? — Niemand, der so denkt wie du. Ist aber nicht das Verhalten derer, die sich in Gefahr begeben und in ihr ausharren, ohne ihr gewachsen zu sein, sicherlich unverständiger als das Ausharren eines hinlänglich Geübten ? — Offenbar. — D a r u m schien uns vorhin eine Beharrlichkeit ohne rechte Einsicht unschön und schädlich zu sein ? Dagegen galt uns die Tapferkeit als schön ? — Jawohl. — Und n u n gelangten wir zu dem Ergebnis, daß dieses unschöne, sinnlose Ausharren Tapferkeit sei! — Das scheint mir auch so. — Bist du damit zufrieden? — Beim Zeus, ich wahrlich nicht! — Die dorische Harmonie, der du gedachtest, haben wir allerdings diesmal verfehlt, bemerkt Sokrates etwas höhnisch, denn unsere Taten stimmen nicht zu unseren Worten. Wer unsere T a t e n sah, würde uns wohl t a p f e r nennen, wer unsere Reden hörte, aber k a u m . Doch lasse uns dem, was wir gesagt haben, wenigstens insoweit folgen, als es uns zum Ausharren e r m a h n t . Sonst möchte die Tapferkeit selbst uns auslachen, daß wir nicht tapfer nach ihr forschten, denn vielleicht ist Beharrlichkeit doch so etwas wie sie. Laches versichert ihn seiner Bereitwilligkeit: Zwar sind mir Erörterungen dieser A r t ungewohnt, doch jetzt haben sie meine Kampflust erregt, und es verdrießt mich sehr, daß ich das, was ich denke, nicht aussprechen kann. Ich weiß genau, was Tapferkeit ist, und nun ist mir die Erkenntnis mit einem Male flüchtig geworden, so daß ich sie nicht in W o r t e zu fassen vermag. — Aber als tüchtiger Jäger wirst du die Suche nicht aufgeben ? — Keineswegs. — Wollen wir Nikias bitten, uns dabei zu helfen ? Vielleicht findet er die F ä h r t e besser. — Gewiß, ich habe nichts dagegen. — Den Nikias beschwört Sokrates mit komischem Pathos, seinen von so schweren Stürmen bedrängten Freunden in ihrer Not zu helfen. Er möge ihnen sagen, was Tapferkeit sei, und sein Urteil durch Gründe belegen. — Nikias ä u ß e r t : Ich wundere mich, Sokrates, daß du deiner so oft vorgetragenen Lehre nicht gedacht h a s t : gut sei jedermann insoweit, als er wissend, schlecht, insoweit er

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L a c h e s : K a p i t e l 22 b i s 24 unwissend sei. — Da hast du ganz recht, bestätigt Sokrates. — Wenn also der Tapfere gut ist, folgert Nikias, muß er ein Wissender sein. — Hörst du das, Laches ? fragt Sokrates. — Der erwidert geringschätzig, daß er das nicht verstehe, was für ein Wissen solle denn das sein ? — Nikias erklärt nach einigen Zwischenfragen des Sokrates und einer ferneren bissigen Bemerkung seines Freundes Laches: Dieses Wissen ist die Erkenntnis, was im Kriege und in allen anderen Lebenslagen zu fürchten und was zu wagen ist. 14 ) — Diese Deutung verwirft Laches als ganz unsinnig: Wissen und Tapferkeit haben doch nichts miteinander gemein! — Ebenso gereizt entgegnet Nikias, Laches werfe ihm lediglich aus Ärger über sein eigenes Unvermögen vor, daß er ebenfalls Unsinn rede. — Das tust du doch auch, poltert Laches, und das werde ich dir beweisen: Wer besitzt das Wissen, was in Krankheiten zu fürchten ist, der Arzt oder der Tapfere ? Oder gelten dir die Ärzte als tapfer ? — Nein. — Ebenso wissen die Landwirte, wo ihrer Tätigkeit Gefahr droht, wie überhaupt jedermann weiß, was er in seinem Berufe zu scheuen hat und was er mit Zuversicht unternehmen darf. Aber darum ist man noch nicht tapfer! — Sokrates ist anscheinend erfreut darüber, daß Laches sich so schnell seine erotematische Methode angeeignet hat. Er fragt: Nun, Nikias, was meinst du dazu ? Etwas Richtiges scheint doch an dem zu sein, was Laches sagt ? — Ja, versetzt Nikias, aber es stimmt doch nicht. Der Arzt weiß nur, was dem Kranken nützlich oder schädlich ist. Dagegen weiß er nicht, ob der Kranke die Genesung nicht etwa mehr zu befürchten hat als sein körperliches Leiden. Bist du, Laches, nicht der Ansicht, daß es Menschen gibt, denen es besser ist zu sterben als zu genesen ? Ist der Tod nicht manchem ein Glück? 1 6 ) — Das meine ich freilich auch! — Warum willst du also den Ärzten eine höhere Einsicht zuerkennen als denen, die wirklich wissen, was zu fürchten und nicht zu fürchten ist, und die ich darum tapfer nenne ? — Verstehst du, was Nikias meint ? fragt Sokrates. — Ja, ich kann es mir wohl denken: er meint die Seher, das sind seine Tapferen! Denn wer könnte sonst wohl wissen, wem das Sterben besser ist als das Leben ? Und du, Nikias ? Bist du Seher oder tapfer oder keines von beiden ? — Nikias scheint die etwas plumpe Anspielung auf seine Neigung zum Aberglauben nicht zu bemerken. Er belehrt Laches ruhig: Der Seher deutet nur die Zukunft nach gewissen Anzeichen, aus ihnen ersieht er das Kommende: Tod, Krankheiten, Verlust des Vermögens, Sieg oder Niederlage im Krieg und in anderen Kämpfen. Was hiervon aber dem Menschen zum Heil oder zum Unheil dienen mag, kann der Seher ebensowenig beurteilen wie jeder

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andere. — Laches wendet sich wieder an Sokrates: Ich verstehe diesen Mann wirklich nicht. Weder Arzt noch Seher sollen t a p f e r sein, und wen er sonst etwa meint, sagt er auch nicht. Vielleicht denkt er an einen G o t t ! E r sollte offen bekennen, daß ihm seine E r k l ä r u n g mißlungen ist, aber dem sucht er sich durch Ausflüchte zu entziehen. Das h ä t t e n wir auch so machen können, aber wir waren ehrlich genug einzugestehen, daß wir uns v e r r a n n t h a t t e n . Solche Kunststücke mögen vor Gericht vielleicht einigen Sinn haben, aber hier sind sie doch nicht am Platze! — Sokrates begütigt i h n : Lasse uns Nikias doch noch einmal fragen. Wenn er uns dann etwas Richtiges sagt, werden wir ihm zustimmen, sonst wollen wir ihn eines Besseren belehren. — So frage du ihn, wenn du willst, ich habe das, wie mir scheint, schon zur Genüge get a n . — Dem steht nichts im Wege, denn du bleibst ja trotzdem Teilnehmer an unserer Beratung. Nun, Nikias, erkläre dich mir, oder vielmehr uns. Du sagtest, Tapferkeit sei das Wissen, was zu fürchten und was zu wagen i s t ? — Ja. — Aber das ist nach deiner Meinung nicht jedermanns Sache, da weder der Arzt noch der Seher diese Einsicht besitzt und darum auch nicht t a p f e r ist, solange er sie nicht hinzugewonnen h a t . — So meine ich es. — Das weiß also nicht jede Sau, wie das Sprichwort sagt, und ist d a r u m auch nicht tapfer ? — Wohl k a u m . — Da wirst du gewiß auch die Krommyonische Sau 1 6 ) nicht als t a p f e r anerkennen. Das sage ich nicht zum Scherz, sondern um darauf hinzuweisen, daß nach deiner Erklärung kein Löwe, kein Panther, kein Eber als t a p f e r bezeichnet werden darf, denn wie sollte ein Tier die Einsicht haben, zu der nur so wenige Menschen gelangen ? Demnach h ä t t e in bezug auf Tapferkeit der Löwe nichts vor dem Hirsch, der Stier nichts vor dem Affen voraus. — Hocherfreut über diese Feststellung r u f t Laches: Bei den Göttern, das hast du gut gemacht, Sokrates! Und nun sollst du, Nikias, uns bekennen, ob diese Tiere, an deren Tapferkeit niemand zweifelt, weiser sein sollen als die Menschen, oder ob du dich gar zu der B e h a u p t u n g versteigen willst, sie seien nicht t a p f e r ! — Nikias erwidert gelassen: Als tapfer erkenne ich weder ein Tier noch sonst ein Wesen an, das die Gefahr aus Unkenntnis nicht scheut, die nenne ich nicht-furchtsam und stumpf. Oder meinst du, daß mir Kinder als t a p f e r gelten könnten, weil sie in ihrem Unverstände nichts b e f ü r c h t e n ? Freiheit von Furcht ist nicht dasselbe wie Tapferkeit, denn diese beruht auf einer Umsicht, die nur wenigen zu eigen ist. Dreistigkeit und Tollheit infolge mangelnder Einsicht wirst du freilich überall antreffen, bei Männern u n d Weibern, bei Tieren und Kindern. W e n n du die, wie die Menge, t a p f e r nennst, so nenne ich sie verwegen; als Tapferkeit lasse ich nur die vernünftige Einsicht gelten. 1 7 )

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L a c h e s : K a p i t e l 26 b i s 28 Laches ist über diese Zurechtweisung empört: Da siehst du, Sokrates, wie der mit schönen Worten um sich wirft! Die anerkannt Tapferen sind ihm nichts! — Nikias äußert ironisch: Sei getrost, lieber Laches! Ich leugne durchaus nicht, daß du, wie Lamachos 18 ) und gewiß auch viele andere Athener, tapfer bist. — Nach einer gereizten Erwiderung des Laches greift Sokrates ein, um dem Streit ein Ende zu machen: Sage nichts weiter, Laches. Du weißt wohl nicht, daß Nikias seine Weisheit unserm Freunde Dämon verdankt, der dem Prodikos, 19 ) dem Meister in feinen Wortunterscheidungen, nahesteht ? — Das mag sich für einen Sophisten schicken, versetzt Laches, nicht aber für einen Mann, dem der Staat die höchsten Ämter anvertraut. — Doch Sokrates bedeutet ihn: es zieme sich einem solchen Manne aber gar wohl, hohe Einsicht zu besitzen; darum verdiene es Nikias, ernstgenommen zu werden. Laches möge nun zuhören und der Auseinandersetzung aufmerksam folgen. Hierauf geht Sokrates zum Angriff auf Nikias über. Er erinnert ihn zunächst daran, daß zu Beginn der Untersuchung die Tapferkeit als Teil der Tugend angenommen worden sei, und stellt fest, daß auch Nikias von dieser Voraussetzung ausgegangen ist. Folglich müsse es auch noch andere Teile der Tugend geben, wie Besonnenheit, Gerechtigkeit und dergleichen mehr. Er fährt fort: Darin sind wir also einig. Aber nun müssen wir uns auch darüber einigen, was wir unter dem zu Fürchtenden und zu Wagenden verstehen wollen. Jenes ist nach unserer Meinung das, was Furcht erregt, während das mit Zuversicht zu Wagende keine Furcht verursacht. Nun fürchten wir nichts Vergangenes und nichts Gegenwärtiges, vielmehr besteht eine Furcht stets in der Erwartung eines künftigen Übels. Ist das auch deine Meinung, Laches ? — - Gewiß. — Du hörst also, Nikias: Nach unserer Ansicht besteht das zu Fürchtende in künftigen Übeln, das zu Wagende ist dagegen ein Künftiges, von welchem nichts Schlimmes oder sogar Gutes zu gewärtigen ist. Stimmst du uns zu ? — Ja. — Und das Wissen, das uns dies anzeigt, nennst du Tapferkeit ? — So ist es. — Dann wollen wir uns noch über ein Drittes verständigen. Uns beiden scheint ein jegliches Wissen, mag es uns lehren, wie etwas geworden ist, oder wie es wird, oder wie ein noch nicht Entstandenes sich am besten gestalten kann und gestalten wird, eines und dasselbe zu sein. So wird die Heilkunst das Voraufgegangene, den gegenwärtigen Zustand des Kranken und das Künftige immer vermittelst ebendesselben Wissens erwägen. Und ein Wissen derselben Art leitet auch den Landwirt. Daß es sich in der Kriegskunst nicht anders verhält, werdet ihr als Feldherrn bezeugen; sie ist nicht nur auf das Gegen25

L a c h e s : K a p i t e l 28 b i s 30 wärtige, sondern vor allem auf das Künftige bedacht. Dieses K ü n f t i g e berechnet sie nach eigener Erkenntnis und verläßt sich nicht auf die W a h r s a g e r ; d a r u m verordnet auch das Gesetz, daß nicht der Seher über den Feldherrn, sondern der Feldherr über den Seher gebieten soll. 20 ) Ist das richtig, Laches ? — Gewiß. — Und was sagst du, Nikias ? R ä u m s t du uns ein, daß künftige, gegenwärtige und vergangene Dinge von ebendemselben Wissen erfaßt werden ? — Das erkennt Nikias als richtig an. Nun setzt ihm Sokrates auseinander, was aus diesem Zugeständnis folgt: Wenn die Tapferkeit ein Wissen ist, und wenn kein Unterschied besteht, ob der Gegenstand eines Wissens in der Gegenwart, Vergangenheit oder Z u k u n f t liegt, so darf auch das Wissen des Tapferen nicht auf die Z u k u n f t eingeschränkt werden. Mithin kann es nicht lediglich die Erkenntnis des zu Fürchtenden und zu Wagenden sein, weil deren Gegenstände, wie zugestanden, künftige Übel oder künftige Güter sind; vielmehr m ü ß t e sich das Wissen des Tapferen auch auf die Gegenwart und Vergangenheit erstrecken. 2 1 ) Nach dieser Feststellung f ü h r t Sokrates dem Nikias zu Gemüte: Du hast uns also die Tapferkeit nur etwa zu einem Drittel gedeutet, aber wir wünschten sie doch ganz erklärt zu haben. Nach deiner D e u t u n g wäre sie nicht nur das Wissen, was zu fürchten und zu wagen ist, sondern ganz allgemein die Erkenntnis fast alles Guten und Schlimmen in jeglicher Zeit (Kai TTAVTCOS EXOVTGOV). Willst du deine Erklärung dahin berichtigen? — Das wird wohl notwendig sein. — Dann erwäge aber, Verehrter: Wenn ein Mensch ein so vollkommenes Wissen vom Guten und Bösen besitzt, daß er erkennt, wie es sich gestaltet, gestalten wird und gestaltet hat, so sage mir, was ihm da noch an vollkommener Tugend fehlen könnte ? Meinst du, daß ein solcher Mensch, der einzig fähig wäre, stets das Böse zu meiden und das Gute zu wirken, nicht auch Besonnenheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit besäße ? — Das ist, wie mir scheint, sehr erwägenswert. — Also wäre das, von dem d u jetzt redest, nicht ein Teil der Tugend, sondern die Tugend ganz ? — Vermutlich. — Indessen h a t t e n wir angenommen, daß die Tapferkeit n u r einer der Teile der Tugend sei? — Ja. — Das scheint nun aber nicht der Fall zu sein ? — Nein. 22 ) — Also haben wir nicht herausgefunden, was Tapferkeit ist ? — Schwerlich. — Laches t r i u m p h i e r t : Wie schade, Nikias! Ich h a t t e bestimmt geglaubt, d a ß dir das gelingen würde, da du meine Antworten an Sokrates so vornehm belächeltest. Da hoffte ich wirklich, du h ä t t e s t mit Dämons Weisheit schon das Richtige e n t d e c k t ! — Nikias weist diesen Hohn scharf z u r ü c k : Das ist deiner würdig, Laches! Es k ü m m e r t dich nicht, daß du selbst nichts

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L a c h e s : K a p i t e l 30 u n d 31 wußtest, du lauertest nur darauf, ob es mir ebenso ergehen würde wie dir. Aber daß du, gleich mir, kein Urteil über Dinge hast, die jeder seines Wertes bewußte Mann kennen müßte, ist dir offenbar ganz gleichgültig. Wie die meisten Menschen siehst du eben n u r auf andere, nicht auf dich. Was ich gesagt habe, scheint mir durchaus nicht verfehlt zu sein; und wenn es noch nicht ausreichend ist, werde ich zur Berichtigung der Mängel mit anderen zu Rate gehen, auch mit Dämon, über den du lachst, obwohl du ihn nicht kennst. W e n n wir das Rechte finden, werde ich es dir mitteilen, denn du bedarfst der Belehrung noch sehr. — Ja, Nikias, erwidert Ladies, du bist weise. T r o t z d e m möchte ich unseren Freunden Lysimachos und Melesias nicht empfehlen, ihre Söhne uns anzuvertrauen, sondern, wie ich zu A n f a n g schon sagte, sich an Sokrates zu halten. Wenn meine Söhne in diesem Alter wären, t ä t e ich das auch. — Damit ist Nikias einverstanden, er fügt hinzu: Auch ich habe Sokrates schon oft gebeten, sich meines Sohnes Nikeratos anzunehmen, doch verweist er mich immer an andere. 2 3 ) Nun siehe, Lysimachos, ob du bei ihm besseres Gehör findest. Auf die vertrauensvolle Bitte des Greises a n t w o r t e t Sokrates ausweichend: Es wäre arg, einem Menschen, der nach dem Guten strebt, Hilfe und Beistand zu verweigern. So würde ich dir gern zu Diensten stehen, wenn ich heute bewiesen hätte, daß ich besser unterrichtet bin, als diese beiden Männer. Aber das ist nicht der Fall; wir gerieten in dieselben Verlegenheiten, und ich habe nichts vor ihnen voraus. Höret darum meinen R a t : Wir alle sollten, ohne Geld und Mühe zu scheuen, nach dem besten Lehrer suchen, dessen bedürfen wir zuerst für uns und sodann für die Jünglinge. So unwissend wie jetzt dürfen wir nicht bleiben! Und wenn uns jemand auslacht, daß wir in unserm Alter noch Schüler werden wollen, so werden wir ihm mit Homer sagen, daß einem Bedürftigen die Scham nicht f r o m m t ; kein S p o t t soll uns hindern, nach besten K r ä f t e n auf unser Wohl und das Heil der Jünglinge bedacht zu sein. — Lysimachos billigt den Vorschlag und versichert, daß er als der älteste am fleißigsten mit den jungen Leuten lernen werde. E r lädt Sokrates dringend ein, ihn am nächsten Morgen zu besuchen. — Das werde ich tun, verspricht Sokrates, wenn Gott will.

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okrates erzählt einem nicht genannten Freunde: Nach meiner Rückkehr aus dem Heerlager vor Potidaea suchte ich sogleich am nächsten Morgen frohgemut die so lang entbehrten Stätten anregender Gespräche wieder auf. In der Palaestra des Taureas fand ich eine große Gesellschaft vor, zumeist gute Bekannte. Sie wußten noch nichts von meiner Heimkehr, und als sie mich nun so unerwartet eintreten sahen, bekundeten sie schon von weitem ihre freudige Überraschung. Chairephon, närrisch wie immer, stürzte auf mich zu, ergriff meine Hand und rief: „Mein Sokrates, wie bist du heil aus der Schlacht gekommen ?" Denn es hatte kurz vor meiner Abfahrt ein blutiges Gefecht stattgefunden, über das gerade soeben die ersten Nachrichten eingelaufen waren. — So, wie du mich siehst, erwiderte ich. — Hier wurde gemeldet, daß der Kampf sehr schwer gewesen sei und viele bekannte Athener gefallen wären ? — Das ist richtig. — Und du hast mitgekämpft ? — Gewiß. — So setze dich zu uns und erzähle, wir wissen noch nichts Näheres! — Mit diesen Worten geleitete er mich zu Kritias, dem Sohne des Kallaischros. Ich setzte mich an dessen Seite nieder, begrüßte ihn und die andern und berichtete einem jeden, was er aus dem Felde zu hören wünschte. 1 ) Nachdem die Wißbegier der Fragenden befriedigt war, erkundigte ich mich nach dem, was mich interessierte: wie es daheim um die Pflege der Weisheit bestellt sei, und ob sich in der athenischen Jugend der eine oder der andere durch Geist oder Schönheit auszeichne. Kritias deutete auf den Eingang, wo mehrere junge Leute, gefolgt von einer großen Schar anderer, lärmend und zankend sichtbar wurden; er erklärte mir: Wie es um die schönen Knaben steht, wirst du sehr bald wissen; diese, die du kommen siehst, sind die Verehrer und Vorläufer dessen, der jetzt als der allerschönste gepriesen wird. Er scheint also in der Nähe zu sein. — Wer ist denn der ? fragte ich. — Du kennst ihn; als du in den Krieg zogest, war er noch ein Kind, es ist mein Vetter Charmides, der Sohn meines Oheims Glaukon. — Ja, den kenne ich. 29

Charmides: Kapitel 3 und

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Er war mir schon damals aufgefallen, inzwischen muß er wohl prächtig herangewachsen sein. — Du wirst ihn sogleich sehen, versetzte Kritias, und da t r a t Charmides auch schon ein. Ja, mein Freund, ich tauge zwar wenig zur Beurteilung jugendlicher Schönheit, denn schön dünken mich in ihrer ersten Jugendblüte fast alle K n a b e n . Aber der außerordentliche Reiz dieser hochgewachsenen Gestalt wirkte auf mich wie ein Wunder. Jeder schien in ihn verliebt zu sein, denn bei seinem E i n t r i t t machte sich eine allgemeine Erregung bemerkbar, und hinter ihm gewahrte ich einen ganzen Troß von Liebhabern. Daß die Männer sich so gebärdeten, wunderte mich weniger, aber sogar die Buben, selbst die allerkleinsten, schauten nur auf ihn und staunten ihn an wie ein Götterbild. Chairephon rief mir zu: Nun, Sokrates, wie gefällt dir der Jüngling, ist sein Antlitz nicht schön? — Sehr schön, bestätigte ich. — Aber wenn er sich entkleidet h a t , wirst du über seiner herrlichen Gestalt die Schönheit seiner Gesichtszüge gar nicht mehr beachten! — Die andern sagten dasselbe; ich bemerkte d a z u : Beim Herakles, der junge Mann ist unwiderstehlich, nur ein weniges m ü ß t e er außerdem noch besitzen. — Und das w ä r e ? fragte Kritias. — E i n e schöne Seele! Aber, Kritias, daran wird es gewiß nicht fehlen, s t a m m t er doch aus deinem Hause! — So ist es, edel und schön ist auch seine Gesinnung. — Dann wollen wir zuerst seine Seele enthüllen und sie eher beschauen als den Leib. Er ist ja wohl reif genug, um ein Gespräch nicht zu scheuen ? — Ohne Zweifel. Er strebt nach Erkenntnis, dazu ist er, wie seine Freunde und er selbst meinen, ein trefflicher Poet. — Diese Gabe, lieber Kritias, war eurem Hause von jeher zu eigen, ihr v e r d a n k t sie eurer Verwandtschaft mit Solon. 2 ) Aber lasse ihn doch zu uns kommen, damit ich ihn näher kennenlerne. Selbst wenn er noch jünger wäre, würde eine Unterredung mit ihm in deiner Gegenwart nicht unschicklich sein, da du sein Vetter und Vormund bist. 3 ) — Kritias gebot seinem Bedienten: Sage dem Charmides, er möge zu mir kommen, ich h ä t t e hier einen Arzt für sein Leiden, über das er neulich klagte. Mir erklärte er: Charmides leidet morgens nach dem Aufstehen an Kopfschmerzen. Tue doch so, als ob du ein Mittel dagegen hättest. — Das soll geschehen, versprach ich, möge er nur kommen. Charmides kam, und es gab alsbald ein großes Gelächter. Denn alle beeilten sich, ihm Platz zu machen, jeder schob seinen Nachbarn zur Seite, damit Charmides sich neben ihn setze; von den beiden, die auf den Eckplätzen saßen, wurde der eine durch diese Drängelei zum Aufstehen genötigt, der andere wurde u n s a n f t von der Bank geschoben und fiel rücklings auf den Fußboden. Charmides setzte sich zwischen Kritias und mich. Ich m u ß dir

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Charmides: Kapitel 4 und 5 gestehen, daß es mir da etwas schwül zumute wurde, die stolze Zuversicht, daß die Unterhaltung mit dem Knaben ein leichtes Spiel sein werde, schwand sehr schnell dahin. Als Kritias ihm sagte, ich sei der kundige Arzt, schaute er mich mit einem bezaubernden Blick seiner schönen Augen an, um mich zu fragen; die ganze Gesellschaft, alles was sich in der Palaestra aufhielt, stand dichtgedrängt um uns herum; und nun, alter Freund, bot sich mir auch noch durch einen Schlitz seines Gewandes ein Anblick dar, bei dem es mich heiß überlief. Ich mußte des Kydias gedenken: wie sehr hatte der liebeserfahrene Dichter recht, als er einen Freund vor dem Umgang mit einem schönen Knaben warnte: „Gehe nicht als Reh mit dem Löwen zur Jagd!" So fühlte auch ich mich als Beute eines Ungetümes. Doch raffte ich mich zusammen und erwiderte auf seine Frage, daß ich ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen hätte. — Was ist es denn ? fragte er weiter. — Ich erklärte ihm, es sei ein Heilkraut, aber es müsse ein Zauberspruch hinzukommen, ohne den nütze es nicht. — So werde ich mir diesen Spruch abschreiben, meinte er. — Mit oder ohne meine Erlaubnis? — Er lachte und sprach: Mit deiner Erlaubnis, Sokrates! — Siehe da, du weißt sogar schon, wie ich heiße ? — Gewiß, wir Jungen reden oft von dir; ich erinnere mich auch aus meiner Kindheit, daß du mit Kritias gut bekannt bist. — Das ist ja schön. Um so lieber will ich dir nun auseinandersetzen, welche Bewandtnis es mit dem Zauberspruch hat, soeben wußte ich noch nicht recht, wie ich dir das klarmachen sollte. Denn der Spruch heilt nicht allein den Kopfschmerz. Du hast wohl schon gehört, daß ein tüchtiger Arzt dem Augenkranken sagt: „Ich kann die Augen nicht gesund machen, ohne auch den Kopf zu behandeln; und es wäre ferner eine große Torheit, wenn man wähnen wollte, der Kopf könne allein, ohne eine gründliche Behandlung des ganzen Körpers geheilt werden." Deshalb untersucht ein gewissenhafter Arzt den ganzen Leib seines Patienten und begründet die Heilung eines erkrankten Teiles auf die Wiederherstellung des Ganzen. Ist dir das bekannt ? — Jawohl. — Und du siehst ein, daß das richtig ist ? — Ganz sicher. — Nach diesem Zugeständnis des schönen Jünglings schöpfte ich wieder Mut, ich gewann meine Sicherheit allmählich zurück und erzählte ihm weiter: Den Zauberspruch lernte ich im Felde von einem der thrakischen Ärzte aus der Schule des Zalmoxis, 4 ) von denen man sagt, daß sie sogar Menschen unsterblich machen könnten. Dieser Thraker billigte zwar jenes Verfahren der griechischen Ärzte, doch genügte es ihm noch nicht. Denn — so sagte er — unser König Zalmoxis, in Wahrheit ein Gott, sprach also: „Wie man ein krankes Auge nicht ohne den Kopf behandeln darf und den Kopf nicht 31

Charmides: Kapitel 5 und 6 ohne den ganzen Leib, so soll man auch den Leib nicht zu heilen suchen, ohne die Seele mit einzubeziehen. Das wissen die griechischen Ärzte nicht, und darum mißlingen ihre Kuren zumeist. Sie wissen nicht, daß Leib und Seele eine Einheit sind, von welcher kein Teil gesunden kann, solange die Verfassung des Ganzen notleidet. Alles Gute und alles Schlechte im Menschen und in seinem Leibe hat aber seinen Quell in der Seele, und darum ist die Pflege der Seele das Wichtigste. Das rechte Mittel sind gewiße Zaubersprüche, weise Lehren, durch die unsere Seele zur B e s o n n e n h e i t gelangt. Wenn sie die gewonnen hat, so ist es leicht, den Kopf und den Körper gesunden zu lassen." Dem fügte der Thraker hinzu: „Lasse dich deshalb von niemandem bereden, ihm den Kopf zu behandeln, wenn er dir nicht gestattet, zuvor seine Seele durch Zauberspruch zu reinigen. Weder Reichtum, noch vornehme Abkunft, noch Schönheit darf dich zu dem Mißgriff verleiten, den Leib ohne die Seele heilen zu wollen." Das mußte ich ihm eidlich geloben, und darum kann icli mich deines Kopfes nur annehmen, wenn du mir erlaubst, zuvor deine Seele mit den Zaubersprüchen des Thrakers zu bannen, so wie er es mir gebot. Sonst wüßte ich nicht, wie dir zu helfen wäre, mein lieber Charmides! Kritias bemerkte: Da wäre ja das Leiden unseres Charmides geradezu ein Glücksfall, wenn der Kopfschmerz ihn nötigte, auf die Läuterung seines Sinnes bedacht zu sein. Doch glaube mir, Sokrates: nicht allein durch Körperschönheit zeichnet er sich vor seinen Altersgenossen aus, sondern vor allem auch durch die Eigenschaft, der dein Zauberspruch dienen soll, die Besonnenheit. — Das hatte ich auch nicht anders erwartet, versetzte ich. Denn mich dünkt, Charmides: schwerlich dürfte man in Athen zwei Geschlechter finden, deren Verbindung eine schönere und edlere Nachkommenschaft verhieße, als die beiden Häuser, aus denen du abstammst. 5 ) Das Geschlecht eures Ahnherrn Dropides ist von Solon, von Anakreon und anderen Dichtern wegen der Schönheit, der Tugend und der glückhaften Art seiner Männer besungen worden, und nicht geringer ist deine Abkunft von mütterlicher Seite. Dein Oheim Pyrilampes 6 ) wurde überall als der schönste und stattlichste Mann bewundert, sooft er auf weiten Reisen als Gesandter zum Großkönig und zu anderen Höfen kam. Auch sonst steht das Geschlecht deiner Mutter dem deines Vaters nicht nach. So ist es ganz natürlich, daß du kraft einer solchen Abkunft überall der Erste bist. Deine Gestalt, lieber Sohn des Glaukon, hat sicherlich den Vergleich mit keinem deiner Vorfahren zu scheuen, und wenn dir in demselben Grade Besonnenheit zuteil wurde, so hat deine Mutter ein Kind des Glückes geboren. Bist du besonnen, wie Kritias sagt, und besitzest du diese Gabe in rechtem Maße, dann bedarfst du keines Zauberspruches,

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Charmides:

Kapitel

6 und 7

und ich dürfte dir das Mittel gegen den Kopfschmerz ohne weiteres geben. Sonst müßte ich freilich erst die Beschwörung vornehmen. Sage mir deshalb selbst: glaubst du, wie Kritias, daß du schon genug Besonnenheit besitzest, oder scheint es dir noch daran zu fehlen ? — Charmides errötete, und diese schamhafte Verlegenheit, die seiner Jugend so wohl anstand, erhöhte noch den Reiz seiner Züge. Recht schicklich war auch seine Erwiderung: Es ist schwer, Sokrates, deine Frage geradeheraus zu beantworten. Wenn ich bekennen wollte, nicht besonnen zu sein, würde ich etwas Unnatürliches sagen, denn das möchte wohl niemand von sich selbst behaupten; und außerdem würde ich damit Kritias und viele andere, die mich für besonnen halten, eines Irrtums zeihen. Wenn ich ihnen aber zustimmte, so würde ich mich selbst loben und deshalb vielleicht anmaßend zu sein scheinen. Ich weiß also nicht recht, was ich antworten soll. — Dagegen ist nichts einzuwenden, erwiderte ich. So lasse uns denn gemeinsam nachforschen, wie es um dich steht, damit du nicht wider deinen Willen zu einer Äußerung gedrängt wirst, und ich nicht voreilig mit der Heilung beginne. Ist dir das recht, oder wollen wir es lieber unterlassen ? — Nein, es ist mir sehr lieb, verfahre so, wie du es für richtig hältst. — Sokrates geht hierauf zum Thema des Dialoges über: es soll versucht werden, das Wesen der Besonnenheit — der „Sophrosyne" — zu erklären. 7 ) E r setzt dem Charmides auseinander: Wenn Besonnenheit in dir ist, wirst du auch eine Anschauung (ocTaÖricns) von ihr haben, nach welcher du dir eine Meinung bilden kannst, was sie nach ihrer Art und ihrem Wesen sein mag. Zu reden hast du gelernt, versuche also, diese Meinung in Worte zu fassen. 8 ) — Nach einigem Zögern erklärt Charmides: Die Besonnenheit scheint mir darin zu bestehen, alles Tun in gelassener Ruhe und in schicklicher Weise auszuführen, beim Gehen auf der Straße, beim Sprechen und überall sonst dessen stets eingedenk zu sein. So möchte ich mit einem Worte sagen: Das, wonach du fragst, ist eine gewisse Gelassenheit (r)auxi6-n-|s).9) — So sagt man wohl, die Gelassenen nennt man besonnen, bemerkt Sokrates dazu. Ihm gefällt indessen die auch wohl etwas altklug klingende Deutung nicht, vielleicht vermutet er in ihr gar einen der Jugend gefährlichen Hang zur Gemächlichkeit. 1 0 ) E r nötigt Charmides deshalb durch zahlreiche Fragen zu dem Eingeständnis, daß es in vielen Dingen, wie beim Erlernen des Lesens und Schreibens-, im Musikunterricht, in gymnastischen Übungen und Wettkämpfen, nicht auf Ruhe und Gelassenheit, sondern auf behende Auffassung, schnellen Entschluß und tatkräftiges Handeln ankomme. In diesen Fällen sei also Gelassenheit durchaus nicht so schön, wie die ihr entgegengesetzten Vorzüge. 3

V e r i n g , Piatons Dialoge 3

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C h a r m i d e s : K a p i t e l 7 bis 9 Da aber die Besonnenheit ohne jede Einschränkung schön sein müsse, so sei kein Grund ersichtlich, sie nur dem Gelassenen zuzuerkennen. 11 ) Sokrates ermuntert den Jüngling, nochmals in sich selbst hineinzublicken, um das Wesen der Besonnenheit aus ihren Einwirkungen auf seine Seele zu erkennen. Nach einer Weile eifrigen Nachsinnens erwidert Charmides: Die Besonnenheit scheint mir zu bewirken, daß der Mensch schamhaft wird, und darum möchte ich sie geradezu als Schamhaftigkeit 1 2 ) bezeichnen. —• Sokrates macht mit dieser Erklärung noch weniger Umstände als mit der ersten. Er zitiert einen Vers aus der Odyssee (17,352), in welchem Homer sagt, daß einem darbenden Menschen die Scham nicht fromme, und folgert daraus: die Schamhaftigkeit sei also nicht immer gut, dagegen sei die Besonnenheit unter allen Umständen ein Gut, demnach dürfe sie der Schamhaftigkeit nicht gleichgesetzt werden. Charmides wagt darauf noch einen dritten Erklärungsversuch: Soeben fällt mir ein Ausspruch ein, den ich irgendwo hörte: Besonnenheit sei, das Seinige zu tun. 13 ) — Siehe da, fragt Sokrates, das hast du wohl von Kritias oder sonst einem weisen Manne gelernt? — Eilig fällt Kritias ein: Von mir gewiß nicht, also wohl von einem andern! — Charmides setzt hinzu: Es kommt ja auch wohl nicht darauf an, von wem ich das gehört habe ? — Durchaus nicht, bestätigt Sokrates, wir haben nur darauf zu achten, ob die Erklärung stimmt. Sokrates errät vermutlich, daß der Jüngling seinem Vetter Kritias etwas nur halb Verstandenes nachgesprochen hat, und will nun mit Hilfe leicht zu widerlegender Sophismen feststellen, inwieweit er etwa den Sinn des Ausspruchs erfaßt habe. Seine Einwendungen lauten: Habt ihr denn beim Schreibunterricht immer nur euren Namen geschrieben oder auch andere, die Namen eurer Feinde nicht minder als die eurer Freunde ? Und da Lesen und Schreiben offenbar ein Tun ist, so habt ihr nicht nur das Eurige getan ? Und das war doch nicht etwa ein überflüssiges, vielgeschäftiges, unbesonnenes T u n ? Ferner: Was würde wohl aus einem Staate werden, wenn jeder nur das Seinige tun dürfte, sich also seine Schuhe und Kleider selbst machen müßte, und es niemandem gestattet wäre, etwas für andere zu tun ? Wäre das Besonnenheit ? 14 ) — Charmides weiß dagegen nichts zu sagen. Sokrates fragt weiter: Der Ausspruch ist also rätselhaft, was mag der Mann sich dabei gedacht haben ? Oder war es etwa ein dummer Mensch ? — 0 nein, er schien mir recht weise zu sein. — Dann stehen wir eben vor einem Rätsel! Kannst du mir sagen, was es bedeutet: das Seinige t u n ? — Das weiß ich wahrlich nicht. Vielleicht hat der Mann, der den Ausspruch t a t , selbst nicht einmal

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C h a r m i d e s : K a p i t e l 9 b i s 11 gewußt, was er sich dabei dachte! — Charmides lächelt bei diesen Worten und schaut seinen Vetter Kritias mit einem vielsagenden Blick an. Die List gelingt: Kritias, dessen Ungeduld dem Sokrates schon aufgefallen war, kann der Begier, vor der Versammlung zu glänzen, nach dieser Herausforderung nicht länger widerstehen. So ist Charmides des lästigen Examens ledig, und nun mag sein Vormund sehen, wie er mit Sokrates fertig wird. Zornig wie ein Dichter, dem ein schlechter Schauspieler eine wirkungsvolle Rolle verpatzt, fährt Kritias sein Mündel an: Weil du nicht weißt, was der Satz bedeutet, Besonnenheit sei, das Seinige zu tun, glaubst du, daß der Mann, von dem er stammt, das auch nicht gewußt habe ? Hier greift Sokrates begütigend ein: Es ist doch nicht zu verwundern, mein lieber Kritias, daß ein junger Mensch von solchen Dingen noch nichts weiß; du, als älterer, im Denken geübter Mann, wirst sicherlich besser unterrichtet sein. Es ist mir deshalb lieber, die Untersuchung mit dir weiterzuführen, wenn du den Satz dir zu eigen machen willst. Damit beginnt die ernsthafte Erörterung des Themas, zunächst freilich kommt es nur zu einem Gefecht um Worte. Sokrates fragt: Machen die Handwerker nur das Ihrige, oder machen sie auch Sachen für andere ? Sind sie also besonnen ? — Was steht dem entgegen, versetzt Kritias verwundert. — Von mir aus nichts, aber wie ist damit der Satz zu vereinbaren, Besonnenheit sei, das Seinige zu tun ? — Kritias setzt ihm darauf in langer Rede auseinander: Tun (TrpctTTEiv), machen (ttoieIv) und wirken (¿pyctjecrOai) sei nicht dasselbe. Darum sage Hesiod: Kein W e r k sei Schande, 16 ) nicht etwa: kein T u n sei Schande, zum Beispiel Schuhe machen, Fische feilbieten, gewerbsmäßige Unzucht treiben. Als Werk bezeichne der Dichter nur die schöne und nützliche Leistung, nur diese gelte ihm als das dem Menschen Eigene, 16 ) alles Schädliche dagegen als fremd. Demnach sei anzunehmen, daß auch Hesiod, wie jeder Verständige, den als besonnen anerkenne, der das Seinige tue. Sokrates erwidert kühl: Es war mir schon bei deinen ersten Worten klar, worauf du hinauswolltest: du nennst das „Eigene" und das „Seine" gut und das Machen des Guten ein Tun. Unterscheidungen dieser Art habe ich von Prodikos oft genug vernommen 17 ). Ich stelle dir frei, alle Wörter so zu gebrauchen, wie es dir beliebt, nur mußt du mir jedesmal sagen, auf welchen Gegenstand sie sich beziehen. Erkläre mir jetzt also, ob du das Tun oder Machen des Guten, oder wie du es sonst nennen willst, als Besonnenheit bezeichnest. — So ist es, bestätigt Kritias. —• Besonnen ist also, wer das Gute, nicht wer das Schlechte macht ? — Rist äu denn nicht dieser Meinung ? — Darauf kommt es nicht an, wir haben ja nicht meine, sondern deine Ansichten zu prüfen! — So sage 3*

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C h a r m i d e s : K a p i t e l 11 b i s 13 ich denn: Wer Schlechtes und nicht Gutes t u t , ist nicht besonnen, wer Gutes und nicht Schlechtes t u t , ist besonnen. Unter Besonnenheit verstehe ich also das Tun des Guten. — Vielleicht hast du recht, bemerkt Sokrates, indessen scheinst du zu meinen, daß jemand besonnen sein könne, ohne sich dessen bewußt zu sein ? — Das meine ich durchaus nicht! — Sokrates begründet den etwas gesucht klingenden Einwand folgendermaßen: Der Arzt, der einen Kranken heilt, nützt diesem und sich selbst, er t u t das Rechte und handelt insofern besonnen. Wissen aber die Ärzte und Handwerker in jedem Falle, ob sie ihr Werk auch zu ihrem Nutzen durchführen ? Sie sind doch oft darüber im unklaren, und dann fehlt ihnen, mögen sie zum Nutzen oder zum Schaden tätig sein, die S e l b s t e r k e n n t n i s des eigenen Tuns. Demnach scheint es möglich zu sein, daß jemand besonnen handelt, aber nicht weiß, daß er besonnen ist? 1 8 ) Das kann nicht sein, erklärt Kritias. Wenn du meinst, daß das aus meiner Erklärung zu folgern sei, gebe ich sie preis. Ich will lieber ohne Scheu eingestehen, etwas Falsches gesagt zu haben, als einzuräumen, daß ein Mensch, der sich selbst nicht kennt, besonnen sein könnte. Ja, fast möchte ich behaupten, gerade das sei Besonnenheit, sich selbst zu erkennen. Der Verfasser der Inschrift am Delphischen Tempel tat recht daran, die Eintretenden nicht mit dem üblichen Spruche„Sei willkommen" zu begrüßen, sondern ihnen zuzurufen: „Erkenne dich selbst." Diese Mahnung zur Besonnenheit entspricht dem geweihten Orte sehr viel besser, mit ihr empfängt nun der Gott die zu ihm Einkehrenden. Zwar spricht er als Seher auch hier ein Rätselwort, indessen ist kein Zweifel, daß „Erkenne dich selbst" und „Sei besonnen" dasselbe bedeutet. Immerhin ist es nicht ganz leicht zu verstehen, und auch die haben es mißverstanden, die später dem Tempel andere Sprüche widmeten, wie „Nichts im Übermaß" oder „Auf Bürgschaft folgt Not". Sie wähnten, daß der Spruch „Erkenne dich selbst" ebenfalls nur ein guter Rat sei, und verkannten in ihm den Gruß des Gottes. So will ich das vordem Gesagte auf sich beruhen lassen; vielleicht bist du dem Richtigen näher gekommen, vielleicht ich. Sonderlich klar war ja nichts von alledem. Aber jetzt will ich für den Satz streiten: „Besonnenheit ist Selbsterkenntnis", wenn du mir nicht zustimmst. Sokrates erwidert: Du redest, als ob ich nach Dingen fragte, die ich genau zu kennen vermeinte, sodaß ich dir sofort Bescheid geben könnte. Aber so steht es nicht: ich weiß nichts und muß deshalb mit dir den Sachverhalt untersuchen. Wenn wir damit fertig sind, werde ich dir sagen können, ob ich dir zustimme, bis dahin mußt du dich gedulden. — So beginne denn, versetzt Kritias. —

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C h a r m i d e s : K a p i t e l 13 u n d 14 Ich erwäge schon, fährt Sokrates fort: Wenn das Wesen der Besonnenheit im Erkennen besteht, so muß sie doch wohl ein Wissen sein, und zwar ein Wissen von etwas? — Jawohl, sie ist die Erkenntnis seiner selbst. 19 ) •—• Ist nicht auch die Heilkunst ein Wissen, eine Erkenntnis des Heilsamen? •— Gewiß. — Und wenn du mich fragtest, welchen Nutzen uns die Heilkunst vermöge dieses Wissens gewährt und was sie leistet, so würde ich sagen: ihr schönes Werk ist die Gesundheit. — Einverstanden. — So ist auch die Baukunst ein Wissen vom Bauwesen, ihre Leistungen sind Bauten, und dasselbe Verhältnis ist in allen anderen Künsten ebenfalls aufzufinden. Wenn nun die Besonnenheit ein Wissen ist, und zwar, wie du angibst, die Erkenntnis seiner selbst, so mußt du mir auch sagen können, welche vorzügliche, ihres Namens würdige Leistung sie hervorbringt! — Diese Frage, Sokrates, ist nicht richtig gestellt, denn die Besonnenheit steht mit den anderen Zweigen des Wissens nicht in Übereinstimmung, so wie auch diese einander nicht gleich sind. Du würdest mir zum Beispiel in der Rechenkunst und der Geometrie keine Leistungen nennen können, wie sie die Baukunst mit ihren Bauten und die Weberei mit ihren Tuchen aufzuweisen haben. — Das ist wahr, aber ich kann dir in jeder Kunst den Gegenstand ihres Wissens angeben und dir nachweisen, daß er etwas anderes ist als dieses Wissen selbst. Gegenstand der Rechenkunst ist das Gerade und Ungerade nebst den sich daraus ergebenden Verhältnissen, und das ist doch etwas anderes als die Kunst des Rechnens selbst ? — Allerdings. — Ferner sind der Gegenstand der Statik das Schwere und Leichte, die Gewichte, also wiederum etwas anderes ? — Ja. — Dann nenne mir das, was als Gegenstand der Besonnenheit von ihr verschieden ist! Kritias erklärt ärgerlich: Deine Frage läuft wiederum darauf hinaus, daß du nach einer nicht vorhandenen Übereinstimmung suchst, du übersiehst den Unterschied der Besonnenheit von allem anderen Wissen. Der besteht darin, daß sie allein eine Erkenntnis ihrer selbst ist, 20 ) während sich sonst alles Wissen auf einen anderen, von ihr verschiedenen Gegenstand richtet. Das kann dir doch unmöglich entgangen sein! Es scheint mir aber, daß du gerade das zu t u n gedenkst, was du vorhin von dir wiesest: anstatt die Untersuchung zu fördern, gehst du jetzt nur darauf aus, mich zu widerlegen. — Wie kannst du mir das zutrauen ? entgegnet Sokrates etwas boshaft. Wenn ich je eine Widerlegung versuchen sollte, so geschieht das immer in der Absicht, in der ich mich selbst prüfe: ob ich mir etwa einbilde zu wissen, was ich in Wirklichkeit nicht weiß. So behalte ich stets das Ziel im Auge, die gestellte Aufgabe zu lösen, um mir und vielleicht auch meinen Freunden zu nützen. Wäre es

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C h a r m i d e s : K a p i t e l 14 u n d 15 denn nicht ein Gewinn für alle, das Wesen der Dinge zu ergründen ? — Ohne Zweifel. — Dann rede ganz unbesorgt und frage nicht danach, ob Kritias oder Sokrates widerlegt werden wird, sondern warte getrost ab, welchen Ausgang die Untersuchung nimmt! — Das werde ich t u n ; was du verlangst, scheint mir recht und billig zu sein. — Gut, dann sage mir, was du von der Besonnenheit hältst. — Kritias nimmt seine letzte Erklärung wieder auf und erweitert sie dahin: von allem Wissen sei einzig Besonnenheit die Erkenntnis ihrer selbst und jeglichen anderen Wissens. Sokrates fragt: Demnach müßte sie als Wissen des Wissens auch das Wissen des Nichtwissens sein ? Kritias bejaht die Frage, worauf Sokrates weiter feststellt: Also ist allein der Besonnene fähig, sich selbst zu erkennen und zu erforschen, was er weiß und nicht weiß; nicht minder vermag nur er zu beurteilen, was andere wissen oder nicht wissen, und ob sie mit Recht oder mit Unrecht wissend zu sein glauben. Besonnenheit, besonnen sein, sich selbst erkennen ist demnach nichts anderes als die Erkenntnis, was man weiß und nicht weiß ? So meintest du das doch ? — Ja, so ist es. — Lasse uns denn nochmals von vorne anheben und erwägen. Erstens: Ist es überhaupt möglich, von dem, was man weiß und nicht weiß, auch zu wissen, daß man es weiß und nicht weiß ? Zweitens, gesetzt daß es möglich ist: wozu nützte uns ein solches Wissen ? — Ja, bestätigt Kritias, das müssen wir sehen! — So siehe du zu, mein lieber Kritias, ob du hier besseren Rat findest als ich, denn ich bin in großer Verlegenheit. Wenn sich alles so verhält, wie du meinst, gäbe es also ein Wissen, das sich selbst, alles andere Wissen und alles Nichtwissen erkennt. Das müßte aber etwas ganz Seltsames sein, denn dergleichen findet man sonst nirgends. Könntest du dir etwa ein Sehen vorstellen, das nichts sieht als sich selbst und alles andere Sehen und Nichtsehen, dagegen sonst nichts, auch keine Farbe, wahrnimmt ? Oder ein Hören, das keinen Laut vernimmt, sondern nur sich selbst und alles andere Hören und Nichthören hört ? Wende das auf alle Sinneswahrnehmungen an und erwäge, ob es wohl eine Wahrnehmung geben könnte, die nichts wäre als Wahrnehmung der Wahrnehmung und Wahrnehmung ihrer selbst ? Erwäge ferner, ob du dir eine Begierde vorstellen kannst, die nicht nach Lust verlangt, sondern nur nach sich selbst und nach den anderen Begierden? Oder ein Wollen, das nichts G u t e s will, sondern nur sich und das andere Wollen ? Sokrates führt diesen Gedanken mit sichtlichem Behagen noch an drei anderen Beispielen — Eros, Furcht, Meinung — weiter durch und schließt daraus: Es wäre also wirklich höchst seltsam, wenn es ein Wissen gäbe, das nicht

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C h a r m i d e s : K a p i t e l 15 b i s 17 ein Erfassen von Kenntnissen wäre, vielmehr lediglich ein Wissen von sich selbst und allem anderen Wissen. Doch wollen wir diese Annahme nicht ohne weiteres abweisen, sondern näher auf sie eingehen. 21 ) Sokrates erläutert: Irgendeinen Inhalt müsse dieses Wissen des Wissens aber doch haben, sonst sei es gänzlich gegenstandslos; wie ja auch die Bezeichnungen größer, schwerer, älter gegenstandslos würden, sobald ihre Gegensätze: kleiner, leichter, jünger ihnen nicht mehr gegenüberständen. 22 ) Ferner: wenn irgendein Ding ein Vermögen in bezug auf sich selbst haben solle, so müsse es auch die Beschaffenheit besitzen, die eine solche Einwirkung ermögliche. Sokrates kommt auf die schon im vorigen Kapitel gebrauchten Beispiele, Hören des Hörens und Sehen des Sehens, zurück: Das Hören sei Wahrnehmung einer Stimme; wenn es sich selbst hören sollte, müßte es also auch selbst eine Stimme haben. Und da ein Sehen ohne Farbe nicht möglich sei, so müsse ein Sehen, das sich selbst erblicke, eine Farbe haben. Aus diesen Beispielen werde ersichtlich, daß die Annahme einer Beschaffenheit, die nur auf sich selbst Bezug habe, höchst bedenklich sei. In einzelnen Fällen möchte sie vielleicht haltbar sein, wie in den erwähnten Fällen des Hörens und Sehens; auch eine Bewegung, die sich selbst bewege, eine Wärme, die sich selbst erhitze, könne man sich allenfalls vorstellen. 23 ) Indessen werde nur ein großer Denker ergründen können, ob und in welchen Fällen das möglich sei, und ob das Wissen des Besonnenen auch dahin gehöre. Er getraue sich nicht an diese Frage heran, jedenfalls nicht, bevor der Nutzen eines solchen Wissens feststehe. Daß die Besonnenheit gut und nützlich sei, glaube er allerdings. Sokrates schließt mit der Aufforderung: Aber du, lieber Kritias, mußt den Beweis erbringen, daß jene Möglichkeit besteht und daß uns daraus ein Nutzen erwachsen würde, wenn du deine Erklärung, Besonnenheit sei das Wissen des Wissens und demgemäß auch des Nichtwissens, aufrechterhalten willst. Diese Zumutung versetzt Kritias begreiflicherweise in arge Verlegenheit. Indessen mag er seine Batlosigkeit angesichts der großen Zuhörerschar nicht eingestehen, sondern sucht sie durch einige nichtssagende Äußerungen zu verbergen. Schließlich kommt Sokrates ihm zu Hilfe. Er schlägt vor, die schwierige Frage, ob es ein Wissen des Wissens geben könne, auf sich beruhen zu lassen und einstweilen anzunehmen, daß es sich so verhalte. Ob die Annahme begründet sei, möge später einmal nachgeprüft werden. Zunächst sei dann aber zu entscheiden, wie dieses Wissen erkennen lasse, was wir wissen und nicht wissen. Denn darin sollten ja Selbsterkenntnis und Besonnenheit bestehen. — Ja, so ist es, äußert Kritias erfreut. Wer ein solches

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Wissen hat, muß von gleicher Art sein, ebenso wie jemand schnell oder schön ist, wenn er Schnelligkeit oder Schönheit besitzt. Nicht anders verhält es sich mit der Erkenntnis. Wer eine Erkenntnis von sich hat, ist ein sich selbst Erkennender. — Das bezweifle ich nicht, bemerkt Sokrates zu dieser geistvollen Lösung, ich frage aber: Warum muß dieser Erkennende notwendig wissen, was er weiß und was er nicht weiß ? — Weil das ganz dasselbe ist! — Eben das verstehe ich nicht. Ein Wissen des Wissens kann doch nicht mehr leisten, als feststellen, daß das, was man weiß, ein Wissen und das, was man nicht weiß, kein Wissen ist ? Sonst ist doch jedes Wissen bestimmbar und von jeglichem anderen Wissen deutlich zu unterscheiden: die Heilkunst ist die Erkenntnis des Heilsamen, die Staatskunst die Erkenntnis der Gerechtigkeit. Jene Selbsterkenntnis wäre aber ein bloßes Wissen, und wenn jemand allein dieses besäße, ohne außerdem noch etwa Kenntnisse vom Heilsamen und Gerechten zu haben, so würde er zwar wissen, daß er weiß und Wissen ihm zu eigen ist, aber das wäre auch alles. Denn das Heilsame erkennt man vermittelst der Heilkunst, nicht durch Besonnenheit, die Harmonie erkennt man allein vermittelst der Musik, das Bauen allein vermittelst der Baukunst: wie kann da die Besonnenheit eine Erkenntnis begründen ? Wenn sie nur ein Wissen des Wissens ist, so wird jemand, der nur dieses Wissen hat, eben auch nur wissen, d a ß er weiß, nicht aber w a s er weiß. Deshalb würde der Besonnene garnicht fähig sein, den, der ein besonderes Wissen zu haben behauptet, daraufhin zu prüfen, ob er es wirklich besitzt. Wenn er einen Arzt examinieren wollte, so müßte er außer der Besonnenheit auch noch das hierzu erforderliche Fachwissen haben. Sonst würde er allenfalls wohl erkennen, daß der Arzt etwas weiß, aber dieses Wissen bliebe ihm fremd. Und wenn wir gar annehmen wollten, daß allein der Besonnene wissend sei, so gelangten wir zu dem Ergebnis, daß ein tüchtiger Arzt zwar das der Gesundheit Nützliche und Schädliche kennt und doch eigentlich nichts weiß. Sokrates entwickelt diese Gedanken in breitester Ausführlichkeit und fragt alsdann weiter: Nun sage mir, Kritias, zu was uns die Besonnenheit nütze ist, gesetzt, daß es sich so mit ihr verhält ? Wenn sie uns befähigte, andere Menschen ebenso genau zu beurteilen, wie uns selbst, so wäre sie freilich ein großes Gut. Unser Leben würde dann frei von Mißgriffen sein, denn wir hätten an ihr ein sicheres Mittel, uns und unsere Schutzbefohlenen vor Ungemach zu bewahren. Weder ihnen noch uns selbst würden wir gestatten, etwas zu unternehmen, zu dem unsere Fähigkeiten nicht ausreichen, vielmehr würden wir zu jeder Aufgabe den rechten Mann herausfinden, dem das nötige Wissen zu eigen ist. Da wäre im Hause und im Staate alles aufs schönste geordnet:

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vollkommene Einsicht würde jedes Unternehmen bestens gelingen lassen und überallhin Glück und Segen verbreiten. Sahen wir aber nicht, daß wir ein Wissen dieser Art nirgends entdeckten ? — Das ist richtig, bekennt Kritias. — Indessen könnte die sichere Erkenntnis des Wissens und Nichtwissens uns wenigstens dazu helfen, alles Lehrbare leichter aufzufassen und auf jedem Gebiet zu schärferen Einsichten zu gelangen, da wir ja zu jedem Studium jenes Wissen 24 ) mitbrächten. Und zur Beurteilung, ob ein Mann sein Fach beherrscht, werden die, denen nur Fachkenntnisse zu Gebote stehen, weitaus weniger befähigt sein als jemand, der sich außerdem noch dieses Wissen erworben hat. Das, mein Freund, wäre also wohl der Nutzen der Besonnenheit, doch wir schauten nach Höherem aus und erwarteten noch mehr von ihr ? — Das mag sein.25) — Ja, vielleicht, sagt Sokrates nachdenklich. Aber vielleicht ist unsere ganze Betrachtung fehlgegangen, denn mir ist jetzt manches gar nicht mehr verständlich. Lasse uns indessen daran festhalten, daß eine Erkenntnis der Erkenntnis möglich sei, und daß die Besonnenheit darin bestehe, zu wissen was man weiß und nicht weiß; und dann wollen wir noch einmal genau zusehen, ob uns daraus wirklich ein Nutzen erwachsen würde. Wir glaubten entdeckt zu haben, daß diese Besonnenheit als Hüterin des Hauses und des Staates ein hohes Gut sein müsse, und das scheint mir jetzt fraglich zu s e i n ! — W a r u m denn ? fragt Kritias erstaunt. — Weil wir gar zu bereitwillig eingeräumt haben, es sei ein großes Gut, wenn jeder Mensch nur das betriebe, was er verstünde, und das andere tüchtigen Kennern überließe. — Und das soll unrichtig sein?! — Ich glaube, ja. — Da redest du wahrlich sonderbar! — Beim Hunde! 2 6 ) das scheint mir auch so. Ich befürchte wirklich, daß wir fehlgegangen sind, weil mir unklar ist, welches Gut aus der Besonnenheit hervorgehen könnte, wenn sie so sein soll, wie wir sie erklärten. — Nun sage uns endlich, was du meinst, damit wir dich verstehen, mahnt Kritias ungeduldig. —• Es kann sein, daß meine Einfälle ganz töricht sind, doch mag ich sie nicht ohne weiteres abweisen, sondern möchte sie gründlich klären. Höre denn meinen Traum und sage mir, ob er aus der hörnernen oder elfenbeinernen Pforte kommt. 27 ) In lebhaften Farben schildert Sokrates noch einmal die Vorzüge des von der Besonnenheit beherrschten Lebens, falls diese, der Erklärung gemäß, die Erkenntnis der Erkenntnis sei: Keinem Pfuscher wird es mehr gelingen, uns zu täuschen; unzuverlässige Schiffer, schlechte Ärzte, unfähige Feldherrn wird es nicht mehr geben, denn zur Ausübung einer jeden Kunst, eines jeden Gewerbes werden nur die wirklich Berufenen zugelassen werden. So 41

C h a r m i d e s : K a p i t e l 21 u n d 22 würden wir sicher zur See fahren, von Krankheiten minder geplagt werden und im Kriege nichts zu befürchten haben. Kleidung und Schuhzeug, Geschirr und Gerät werden tadellos sein, weil nur tüchtige Handwerker für uns arbeiten. Dann würden wir am Ende auch eine zuverlässige Wahrsagekunst haben, denn wir vermöchten die echten Propheten von den falschen zu unterscheiden. So lebten wir ganz nach der Erkenntnis, die Besonnenheit würde über uns wachen und jede Einmischung der Unkenntnis verhüten. 28 ) Daß uns ein solches Leben aber auch Heil und Glück bereiten müßte, sehe ich noch nicht ein, mein lieber Kritias! — Jedoch, meint dieser, wirst du schwerlich einen Weg zum Glück finden, wenn du so wenig von der Erkenntnis hältst. — Sokrates erwidert: Es fehlt mir auch nur noch eine Kleinigkeit, über die du mich aufklären mußt: Welche Erkenntnis meinst du ? Etwa das Wissen des Schusters, des Schmieds, des Webers, des Zimmermanns ? — Durchaus nicht. — Dann darfst du nicht bei der Behauptung bleiben, daß die Erkenntnis glücklich mache, da du diese Wissenden nicht als glücklich anerkennst. Du scheinst das Glück von einer bestimmten Art der Erkenntnis abhängig zu machen ? Meinst du etwa den, der alles Künftige erschaut, den Seher ? — Ja, den und noch manchen anderen, versetzt Kritias, anscheinend etwas gereizt. — Wohl einen, dem außer dem Künftigen auch alles Vergangene und Gegenwärtige kund ist ? Denn das wäre doch wohl der höchste Grad der Erkenntnis ? — Ohne Zweifel. — Du solltest mir angeben, welches Wissen glücklich macht. Oder leistet das doch jede Erkenntnis ? — Keineswegs. — Welche denn zu allermeist ? Ist es die Kunst des Sehers? Oder des Brettspielers? — Was soll das! — Oder die Rechenkunst ? — Nein. — Oder die Heilkunst ? — Die schon eher. — Welches ist denn nun das Wissen, auf das es eigentlich ankommt ? — Es ist das Wissen, durch welches man das Gute und das Schlechte erkennt. — Nach solcher Bedrängnis hat Kritias endlich die Antwort gefunden, die Sokrates haben wollte. 29 ) Er äußert ironisch: Du Arger, so lange verbärgest du mir, daß nicht das einsichtsvolle Leben, auch nicht eine umfassende Kenntnis alles Wißbaren, sondern einzig die Erkenntnis des Guten und Schlechten glücklich macht! — Aber gegen diese Erklärung erhebt er ein gewichtiges Bedenken: diese hohe Erkenntnis ist nicht Besonnenheit! Er setzt seinem Freunde auseinander: Die Handwerker, Schiffer, Ärzte werden auch ohne dieses Wissen ihre Aufgaben erfüllen können; ob sie aber gut und nützlich wirken, werden wir nicht erkennen, wenn uns dieses Wissen fehlt. Und diese Erkenntnis des Guten und Schlechten kann uns die Besonnenheit nicht gewähren, denn sie ist nach deiner Erklärung lediglich das Wissen des Wissens

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und Nichtwissens. Nützlich ist nur die Erkenntnis des Guten, die Besonnenheit ist demnach kein nutzbares Wissen. — Warum denn nicht ? wendet Kritias ein, als Wissen des Wissens steht sie doch über allem anderen Wissen; und indem sie uns zur Erkenntnis des Guten führt, stiftet sie doch auch Nutzen ? — Sokrates läßt das nicht gelten. E r stellt die Gegenfrage: Was leistet denn dieses Wissen ? Vermag es einen Kranken zu heilen oder irgendein kunstvolles Werk zu schaffen ? Haben wir nicht immer daran festgehalten, daß es nur ein Wissen des Wissens ohne Kenntnisse von anderen Dingen ist ? — Das muß Kritias zugeben. — Sokrates folgert: Die Besonnenheit schafft also nicht Gesundheit und auch sonst kein nützliches Werk, denn das ist, wie wir sahen, die Aufgabe der einzelnen Künste. Wie könnte sie also nützlich sein, wenn sie nichts Nutzbringendes zutage fördert ? — Dagegen weiß Kritias nichts mehr einzuwenden, er gibt sich — vorzeitig! — geschlagen. 3 0 ) Nach dieser Niederlage seines Freundes nimmt Sokrates bereitwilligst, aber mit durchsichtiger Ironie, die Schuld am Mißlingen der Untersuchung auf sich: Wie du siehst, lieber Kritias, hatte ich mit gutem Grunde befürchtet, daß ich zu einer so schweren Aufgabe nicht tauge. Sonst hätten wir nicht zu dem Ergebnis gelangen können, die Besonnenheit, die von allen Menschen als herrlichstes Gut anerkannt wird, sei unnütz. Wir sind vollständig unterlegen, mit aller Mühe konnten wir nicht herausfinden, welchem Dinge der Schöpfer unserer Sprache den Namen Besonnenheit gegeben hat. Da räumten wir vieles ein, was nachher nicht stimmen wollte. Wir redeten von einem Wissen des Wissens, doch der Verlauf der Beweisführung gestattete uns nicht, die Existenz eines solchen Wissens anzunehmen. Wir behaupteten, mit diesem Wissen auch jedes andere Wissen beurteilen zu können, aber auch das erwies sich als unhaltbar. Wir hatten diese Behauptung gewagt, um dem Besonnenen die Fähigkeit zuzuerkennen, von dem, was er weiß, zu wissen, daß er es weiß, und von dem, was er nicht weiß, zu wissen, daß er es nicht weiß. Und das war das Widersinnigste von allem! W i r bedachten nicht, daß es ganz unmöglich ist, etwas von dem zu wissen, was man ganz und gar nicht weiß. So kamen wir schmählich zuschanden, als unsere Bemühungen um die Wahrheit schließlich mit der Feststellung endeten, daß die Besonnenheit ein unnützes Ding sei! Mich verdrießt das um meinetwillen weniger. Aber um dich, mein Charmides, ist es mir leid, daß du, so edel an Gestalt und so besonnen in deinem Wesen, von dieser Besonnenheit keinen Nutzen haben sollst. Noch mehr ärgert es mich, daß ich den Zauberspruch des Thrakers mit Mühe auswendig gelernt habe, da er nun ebenfalls unnütz ist. Aber ich möchte doch nicht annehmen, daß sich alles so verhält, sondern glaube eher, daß mein

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Ungeschick mich irregeführt hat. Ich vermute, daß die Besonnenheit dennoch ein großes Gut ist, und daß du dein Glück finden wirst, wenn du sie besitzest. Nun siehe, ob sie dir zu eigen ist, dann brauchst du den Zauberspruch nicht und darfst mich für einen Schwätzer halten. Indessen magst du darauf vertrauen, daß du, je mehr Besonnenheit du dir aneignest, auch um so viel glücklicher werden wirst. Charmides entgegnet: Ich weiß wahrlich nicht, ob ich mich besonnen nennen darf oder nicht. Wie sollte ich darüber urteilen können, wenn, wie du behauptest, nicht einmal ihr imstande seid, das Wesen dieser Tugend zu ergründen ? Aber, daß ich des Zauberspruches nicht bedürfen sollte, glaube ich dir nicht, und darum soll mich nichts hindern, mich T a g für T a g von dir bezaubern zu lassen, bis du selbst sagst, es sei genug. — Tue das, gebietet Kritias ihm, und wenn du Sokrates auf Schritt und Tritt getreulich folgst, so werde ich daraus den besten Beweis deiner Besonnenheit ersehen. — Sei unbesorgt, verspricht Charmides, es wäre schlimm, wenn ich dir, meinem Vormunde, nicht gehorsam sein wollte. — Was gedenkt ihr beiden da zu beschließen ? ruft Sokrates aus. — Nichts, versetzt Charmides, es ist schon beschlossene Sache. — Und ich habe da nicht mitzureden, sondern soll mich von dir zwingen lassen ? — Ich werde dich nötigenfalls zwingen, mein Vormund will es so. — Dann bleibt mir freilich wohl nichts übrig, als mich zu fügen, denn wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast und dazu noch Gewalt brauchen willst, kann niemand dir widerstehen. — So widerstehe auch du nicht! — Gewiß nicht, ich gebe jeden Widerstand auf. —

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EUTHYPHRON

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or der Halle des Gerichtsherrn, des Archon Basileus, begegnen sich Sokrates und Euthyphron. 1 ) Euthyphron wundert sich, den Philosophen diesmal nicht in einer Ringschule der athenischen Jugend, sondern an der von ihm stets gemiedenen Gerichtsstelle vorzufinden. Damit hat es denn auch eine besondere Bewandtnis: die Anklage des Meietos — nur dieser wird hier als Ankläger genannt —, auf Grund derer Sokrates später zum Tode verurteilt wurde, war bei dem Archon eingegangen. Sokrates erzählt: Ich kenne meinen Ankläger kaum, er scheint noch jung und unbedeutend zu sein. Vielleicht kennst du ihn: Meietos aus dem Demos Pitthos, ein Mensch mit glattgestrichenem Haar, spärlichem Bart und krummer Nase ? — Nein, den kenne ich nicht; was steht denn in seiner Klageschrift ? — 0 , versetzt Sokrates, die ist gar nicht so übel. Obwohl er selbst noch sehr jung ist, scheint er doch schon zu wissen, wie die Jugend verdorben wird und wer ihre Verführer sind. Zu diesen gehöre nach seiner Meinung auch ich, und darum verklagt er mich bei der mütterlich sorgsamen Stadt. Vielleicht ist er der einzige unter unseren Staatsmännern, der seine Aufgabe richtig begriffen hat. Er will zuerst die Jugend schützen und ihre Verderber ausrotten, bevor er sein heilsames Werk durch die Sorge um das Wohl der Alten vollendet.— Das wäre recht schön, versetzt Euthyphron, aber ich befürchte das Gegenteil. Wenn er gegen dich frevelt, so frevelt er gegen den Staat und beginnt geradezu beim heiligen Herde. Was wirft er dir denn vor ? — Ich soll ein Erfinder von Göttern sein, neue Gottheiten einführen und die alten nicht achten. — Ich verstehe, Sokrates, er meint dein Daemonion, dessen Stimme du so oft zu hören glaubst. 2 ) Leider weiß er, daß er mit solchen Verleumdungen bei der Menge willige Ohren findet. Auch mich verlachen sie ja wie einen Narren, wenn ich in der Volksversammlung von göttlichen Dingen rede und ihnen die Zukunft verkünde. Und es trifft doch alles ein, was ich prophezeie! Aber dieses Neides auf unsere Geistesgaben werden wir nicht achten, sondern unbeirrt auf unserem Wege fortschreiten! —

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E u t h y p h r o n : Kapitel 3 und 4 Ausgelacht zu werden ist nicht schlimm, mein lieber Euthyphron. Im übrigen lassen die Athener jeden, der ihnen verdächtig ist, frei gewähren, solange er nicht als Lehrer seiner Weisheit auftritt. Erst dann werden sie böse. — Darauf möchte ich es allerdings nicht ankommen lassen! — Nun. du hast nichts zu befürchten. Denn du gehst mit deiner Weisheit sparsam um, während ich anscheinend in dem Rufe stehe, aus lauter Menschenfreundlichkeit allzu freigebig mit meinen Belehrungen zu sein. Man sagt, daß ich nicht nur keine Bezahlung annähme, sondern sogar noch Geld dazulegen würde, wenn ich sonst keine Zuhörer fände. Wenn die Athener mich jetzt nur auslachen, wird es eine lustige Gerichtsverhandlung geben, wenn sie aber Ernst machen, so kann niemand wissen, wie das endet, mit Ausnahme von euch Sehern. — So schlimm wird es wohl nicht werden, lieber Sokrates, du wirst sicherlich deinen Prozeß ebenso erfolgreich zu Ende führen, wie ich den meinigen. Welchen Prozeß führst du denn ? erkundigt sich Sokrates, bist du Kläger oder Angeklagter? — Kläger! — Wen verklagst d u ? — Man hält mich für toll, wenn ich das sage. — Du belangst wohl gar einen Menschen, der dir davonfliegt ? — Das wird er wohl bleiben lassen, er ist schon hochbetagt. — Und wer ist es ? — Mein Vater. — Dein Vater, mein Bester ?! — Allerdings. — Und die Anklage lautet ? — Auf Mord. •— Beim Herakles! Das geht über den einfachen Menschenverstand hinaus; um das zu wagen, muß man es in der Weisheit schon sehr weit gebracht haben! — Ja, sehr weit, beim Zeus! — Hat denn dein Vater einen deiner Angehörigen umgebracht ? Gewiß doch, denn wegen der Tötung eines Fremden würdest du gegen ihn sicherlich keine Anklage wegen Mordes erheben! •— Es ist lächerlich, Sokrates, hier einen Unterschied zu machen. Es kommt nur darauf an, ob die Tötung rechtmäßig war oder nicht. Geschah sie widerrechtlich, so gebietet die Pflicht, den Täter gerichtlich zu belangen, selbst wenn es ein Haus- oder Tischgenosse ist. 3 ) Denn wir verfallen der gleichen Blutschuld, wenn wir in Kenntnis der Tat mit dem Mörder zusammenleben und nicht uns durch die Strafverfolgung und ihn durch die Strafe entsühnen. Euthyphron erzählt darauf den Fall: Als wir auf der Insel Naxos ein Gut bewirtschafteten, hatte ein in meinen Diensten stehender Tagelöhner im Rausche einen unserer Sklaven erschlagen. Mein Vater fesselte den Mann, warf ihn in ein Verließ und entsandte einen Boten nach Athen, um bei dem Ausleger des heiligen Rechtes anzufragen, was mit dem Menschen zu geschehen hätte. Inzwischen kümmerte er sich nicht weiter um ihn, da es ja gleichgültig sei, was aus ihm würde, und so starb der Gefesselte vor Hunger und Frost eines elenden Todes, bevor der Bote zurückkehrte. Nun toben

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E u t h y p h r o n : K a p i t e l 4 bis 6 der Vater und die Verwandten über meine Klage. Sie halten mir vor, daß er den Mann doch nicht einmal vorsätzlich getötet hätte, und der Tote überdies selbst eines Mordes schuldig gewesen sei. So behaupten sie, daß ich unfromm handele, aber von göttlichen Dingen und von wahrer Frömmigkeit verstehen sie eben nichts. — Eindringlich hält ihm Sokrates vor: Besitzest du denn eine so genaue Kenntnis vom Göttlichen, eine so tiefe Einsicht, was fromm und unfromm ist, daß du nicht zu befürchten brauchst, an deinem Vater zu freveln, wenn du ihn auf Mord verklagst ? •— Die stolze Antwort lautet: Euthyphron würde wenig taugen und sich nicht über die gemeine Menge erheben, wenn er das nicht sehr genau wüßte! Nach diesem Bekenntnis findet Sokrates seinen Humor wieder. Er bemerkt: Dann, mein vortrefflicher Euthyphron, wäre es für mich wohl das Beste, bei Dir in die Lehre zu gehen. Ich werde vor der Einlassung auf die Klage dem Meietos insinuieren, daß ich mir stets große Mühe gegeben habe, vom Göttlichen Kenntnis zu erhalten, und daß ich jetzt, infolge seiner Anklage, dein Schüler geworden bin. Ich werde ihm sagen: Erkennst du Euthyphron als Sachverständigen an ? So darfst du mich nicht weiter verfolgen. Wenn nicht, so mußt du erst ihn belangen, denn der wäre dann noch schuldiger als ich, weil er a l t e Leute zugrunde richtete: seinen Vater durch das Gericht und mich durch falsche Lehren. Und wenn Meietos daraufhin seine Klage nicht zurücknimmt, würde ich vor Gericht dasselbe sagen. — Ingrimmig versetzt Euthyphron: Wenn Meietos sich erdreisten sollte mich anzuklagen, würde ich schon herausfinden, wo es mit ihm faul steht, und er würde dann sein Urteil früher haben als ich! — Eben darum, lieber Freund, will ich dein Schüler werden, ich weiß wohl, daß Meietos sich nicht an dich heranwagt, mich aber um so schärfer ins Auge gefaßt hat. Teile mir nun mit, was du so sicher zu wissen behauptest. Was ist in bezug auf Mord und alle anderen Dinge heilig und unheilig? Ist das Fromme in jeder Handlung sich selbst gleich und das Unfromme überall dessen Gegenteil ? Ist auch dieses sich immer gleich, sodaß alles Unfromme stets die eine Idee des Frommen 4 ) in sich birgt ? — Genau so verhält es sich, bestätigt Euthyphron. — So sage mir: was verstehst du unter dem Frommen und dem Unfrommen? Euthyphron belehrt ihn: Fromm ist das, was ich zu t u n im Begriffe bin: Mord, Tempelraub und ähnliche Verbrechen gerichtlich zu verfolgen, einerlei, ob der Schuldige der eigene Vater, die Mutter oder sonst irgend jemand ist; unfromm ist dagegen die Unterlassung der Strafverfolgung. Daß es sich nicht anders verhält, magst du aus dem folgenden gewichtigen Beispiel er-

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Euthyphron:

Kapitel

6 bis 8

sehen: Zeus, der höchste und gerechteste Gott, hat seinen V a t e r in Banden geschlagen und entmannt, weil er den Frevel begangen hatte, seine eigenen Kinder zu verschlingen. Mir aber zürnt man, weil ich den Frevel meines Vaters verfolge! Ist das nicht widersinnig? •— Sokrates entgegnet: Nun begreife ich, warum ich wegen Gottlosigkeit angeklagt werde; denn wenn mir jemand derartige Geschichten von den Göttern erzählt, so mag ich nicht daran glauben. Dir als einem Kenner wage ich Unwissender nicht zu widersprechen; aber sage mir beim Gotte der Freundschaft: glaubst du wirklich, daß solche Dinge geschehen sind ? 5 ) — Glaube mir, Sokrates, es gibt noch viel erstaunlichere Dinge, von denen die Menge nichts weiß! — So behauptest du also, daß auch unter den Göttern Kriege und Kämpfe, Haß und Feindschaften stattfinden, wie sie von den Dichtern und Malern geschildert werden ? Darstellungen dieser Art sehen wir ja auch auf dem Gewände der Göttin (Athene), wenn ihr Standbild an den großen Panathenäen zur Akropolis geleitet wird. Ist das alles wahr ? — Nicht nur das, Sokrates, ich könnte dir Göttergeschichten erzählen, über die du dich noch mehr entsetzen würdest. — Das würde mich nicht wundern, doch erzähle sie mir lieber ein andermal und versuche jetzt, meine Frage genauer zu beantworten. Du hast mich nicht belehrt, was das Fromme ist, sondern nur behauptet, daß dein Vorhaben, deinen Vater wegen Mordes zu belangen, fromm sei. — Da Euthyphron die Berechtigung dieses Einwandes nicht einzusehen vermag, setzt ihm Sokrates auseinander: du nennst doch außer diesem auch noch vieles andere f r o m m ? Ich habe dich aber nicht geheißen, mir aus dieser Mannigfaltigkeit das eine oder andere Fromme anzugeben, sondern fragte dich nach der Grundform (Eidos), vermöge derer alles Fromme fromm ist. Du hast eingeräumt, daß gemäß einem Urbilde (Idea) das Unfromme unfromm und das Fromme fromm ist. Belehre mich also, welche Bewandtnis es mit dieser Idee hat, damit ich sie festhalten und nach diesem Vorbilde beurteilen kann, welche Handlungen als fromm oder als unfromm anzusehen sind, seien es deine oder die eines anderen. — Euthyphron erwidert zuversichtlich: Das kann ich dir ebenfalls sagen. Fromm ist das den Göttern Wohlgefällige, unfromm das ihnen nicht Wohlgefällige. — Sehr schön, Euthyphron, du hast geantwortet, wie ich es wünschte. Ob die Antwort richtig ist, weiß ich allerdings noch nicht, aber das wirst du mir wohl auch noch beweisen. Das den Göttern Wohlgefällige und der ihnen wohlgefällige Mensch sind also fromm, das ihnen Verhaßte und der ihnen verhaßte Mensch dagegen unfromm. Nicht wahr, so ist es ? Denn das Fromme und Unfromme sind doch vollkommene Gegensätze ?

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E u t y p h r o n : K a p i t e l 8 b i s 10 Wenn nun die Götter im Streit liegen, so bestehen unter ihnen Meinungsverschiedenheiten und Feindschaften. Welche Meinungsverschiedenheiten erregen denn Zorn und Feindschaft ? Wenn wir uns über die Richtigkeit einer Zahl streiten, so werden wir uns darüber nicht erzürnen, sondern die Rechenkunst zu Rate ziehen. Sie wird unsern Streit entscheiden und damit unsern Frieden wiederherstellen. Ebenso wird es sein, wenn wir über die Größe eines Gegenstandes oder über dessen Gewicht uneins sind; auch da würden Maßstab und Waage jeder Feindschaft vorbeugen. Wohl aber könnten wir uns ernstlich entzweien, wenn wir über Recht und Unrecht, Schön und Häßlich, Gut und Böse streiten. Darum würden auch nur Meinungsverschiedenheiten dieser Art dahin führen, daß die Götter in Hader und Feindschaft verfallen, wenn das je geschieht, indem die einen lieben, was die andern hassen. Dann führen sie Krieg gegeneinander, weil die einen das für ungerecht erklären, was die andern für gerecht halten. Hiernach wird eines und dasselbe von einigen Göttern geliebt, von anderen aber gehaßt, das ihnen Wohlgefällige und Mißfällige ist also das Gleiche. Folglich müßte aus diesen Gründen auch das Fromme und das Unfromme dasselbe sein! — So scheint es, gesteht Euthyphron. — Meine Frage hast du also nicht beantwortet, Verehrtester, fährt Sokrates fort. Wenn du deinen Vater züchtigst, so wird das vermutlich dem Zeus wohlgefällig, dem Kronos und dem Uranos aber mißfällig sein, dem Hephaestos lieb, der Hera dagegen verhaßt. 6 ) — Aber darüber, meint Euthyphron, werden die Götter nicht streiten, daß ein Mörder zu bestrafen ist. — Mit einiger Mühe macht ihm Sokrates klar: Die Frage, ob begangenes Unrecht gesühnt werden muß, ist auch unter Menschen nicht streitig. Wenn sich die Parteien vor Gericht bekämpfen, so streiten sie immer nur darum, wer von ihnen unrecht hat. Daß jede Missetat Strafe verdient, wagt nicht einmal der Böse zu leugnen, er bestreitet nur, etwas Böses getan zu haben. Darum können auch die Götter allein über Recht und Unrecht miteinander hadern, gesetzt daß je ein Hader unter ihnen stattfindet. Ihre Meinungsverschiedenheiten werden sich stets auf Handlungen beziehen, die den einen wohlgetan, den anderen mißgetan zu sein scheinen. Nun beweise mir, lieber Euthyphron, warum alle Götter der Meinung sein müssen: jener Tagelöhner, der von dem Herrn des erschlagenen Sklaven gefesselt wurde und vor der Rückkehr des nach Athen entsandten Boten starb, sei widerrechtlich ums Leben gebracht worden, und du hättest deshalb die Pflicht, deinen Vater wegen Mordes vor Gericht zu stellen. Wenn du mir nachweist, daß die Götter einstimmig diese Handlungsweise gutheißen, 4

V e r i n g , Piatons Dialoge 3

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E u t h y p h r o n : K a p i t e l 10 b i s 12 werde ich niemals aufhören, das Lob deiner Weisheit zu verkünden! — Das könnte ich dir klar beweisen, Sokrates, aber es ist nicht so einfach. — Ich verstehe, du hältst mich für schwerfälliger als die Richter. Denen wirst du schon klarmachen, daß die Tat ungerecht und allen Göttern verhaßt ist. — Allerdings, wenn sie mich anhören. — Sie werden dich anhören, wenn du ihnen verständig zu reden scheinst. Inzwischen habe ich mir überlegt, daß ich aus dem von mir gewünschten Beweise doch nicht lernen würde, was das Fromme und das Unfromme ist. Es könnte sich daraus nichts mehr ergeben, als daß die Tat deines Vaters allen Göttern verhaßt wäre; damit hätten wir aber, wie wir sahen, noch keine Erklärung des Frommen und des Unfrommen gefunden. Ich erlasse dir deshalb den Beweis, es mag sich so verhalten, wie du sagst. Wollen wir uns anstatt dessen nicht lieber auf den folgenden allgemeinen Satz zu stützen suchen: was alle Götter hassen, ist unfromm, was alle Götter lieben, ist fromm ? was einige von ihnen hassen, andere lieben, mag beides oder keines von beiden sein. — Euthyphron ist damit einverstanden. — Dann siehe zu, fährt Sokrates fort, ob du mir daraus die versprochene Belehrung ableiten kannst. Dürfen wir diesen Satz unbesehen annehmen, oder wollen wir prüfen, ob er richtig ist ? — Euthyphron hält die These für unanfechtbar, hat aber gegen die vorgeschlagene Untersuchung nichts einzuwenden. Sokrates beginnt mit der Frage: Wird das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt, oder ist es fromm, weil es von ihnen geliebt wird ? Den Sinn dieser Unterscheidung macht er seinem Genossen durch eine umständliche, in zahlreichen Fragen entwickelte Auseinandersetzung deutlich: Wir unterscheiden ein Getragenes und ein Tragendes, ein Angetriebenes und ein Antreibendes, ein Gesehenes und ein Sehendes. Ebenso gibt es ein Geliebtes und, verschieden von ihm, ein Liebendes. Das Getragene ist nur darum ein Getragenes, weil es getragen wird, das Angetriebene darum ein Angetriebenes, weil es angetrieben wird, und das Gesehene ein Gesehenes, weil es gesehen wird. Man darf also nicht sagen, daß etwas deshalb gesehen wird, weil es ein Gesehenes ist, sondern: weil es gesehen wird, ist es ein Gesehenes. Und so weiter. Siehst du schon, Euthyphron, worauf ich hinaus will ? Wenn ein Ding irgend etwas wird oder erleidet, w i r d es nicht, weil es ein Werdendes ist, vielmehr ist es ein Werdendes, weil es wird; es erleidet nichts, weil es ein Erleidendes ist, sondern ist ein Erleidendes, weil es etwas erleidet. Nun ist das Geliebte entweder ein Werdendes oder ein Erleidendes. Demgemäß wird es vom Liebenden nicht geliebt, weil es ein Geliebtes ist, sondern es ist ein Geliebtes, weil es geliebt wird. Wenn wir hieraus die Nutzanwendung auf das Fromme 50

E u t h y p h r o n : K a p i t e l 12 u n d 1 3 ziehen, so werden wir sagen müssen: es w i r d v o n a l l e n G ö t t e r n g e l i e b t , weil es f r o m m ist. Nicht etwa ist es deshalb fromm,weil es von den Göttern geliebt wird, insofern ist es ein Geliebtes und ein den Göttern Wohlgefälliges. Folglich ist weder das den Göttern Wohlgefällige fromm, noch das Fromme den Göttern wohlgefällig, wie du meintest, mein lieber Euthyphron, sondern beides sind durchaus verschiedene Dinge! •— Inwiefern denn?! — Wie wir feststellten, wird das Fromme geliebt, weil es fromm ist, es ist nicht etwa fromm, weil es geliebt wird. Dagegen verhält es sich mit dem der Gottheit Wohlgefälligen gerade umgekehrt: Dieses ist eben darum wohlgefällig, weil es geliebt wird; nicht wird es geliebt, weil es wohlgefällig ist. Ein solcher Gegensatz wäre nicht möglich, wenn das den Göttern Wohlgefällige und das Fromme dasselbe wären. 7 ) Sokrates beweist dem Euthyphron noch einmal mit erstaunlicher Zungenfertigkeit, daß es sich nicht anders verhalten könne, und spottet dann des gelehrten Gottesmannes: Es scheint also, mein Teurer, daß du nicht gesonnen bist, mich über das eigentliche Wesen des Frommen aufzuklären, denn du gibst mir nur an, was es erleidet: daß es nämlich von allen Göttern geliebt wird. Beginne nun von neuem und verhehle mir nicht, warum das Fromme seinem Wesen nach den Göttern lieb sein muß, oder welche Bewandtnis es sonst mit ihm hat. Sage mir also geradeheraus: was ist das Fromme und was ist das Unfromme ? — Euthyphron gesteht: Ich weiß nicht, wie ich dir meine Gedanken deutlich machen soll. Alles, was wir aufstellen, geht uns davon und hält nicht Stich. Sokrates erwidert: Dann gleichen also deine Erklärungen den Statuen meines Stammvaters Daedalos! 8 ) Wenn ich sie aufgestellt hätte, dürftest du vielleicht über meine Verwandtschaft mit ihm spotten und behaupten, daß sie mir deshalb nicht standhielten, aber siehe, es sind deine Aufstellungen, die dir nicht feststehen wollen! — Ärgerlich versetzt Euthyphron: Mir würden sie schon stehenbleiben, aber du scheinst mir der Daedalos zu sein, der sie davonlaufen läßt. •— Dann wäre ich also noch ein größerer Künstler als jener Mann! Denn der machte nur seine eigenen Gestalten wandelbar, ich dagegen, wie es scheint, sogar fremde. Aber das geschieht wider meinen Willen; mir wäre es lieber, daß sie unverrückt stehenblieben und mir nicht infolge daedalischer Künste zu Tantalosgaben würden. Doch genug davon. Wenn das Schwelgen in Weisheit dich unlustig macht, muß ich sehen, ob mir etwas einfällt, mit dessen Hilfe du mich belehren könntest. Dürfen wir etwa folgenden Satz als gesichert annehmen: Alles Fromme ist gerecht ? — Ja. — Ist darum auch alles Gerechte fromm, oder ist nur einiges 4*

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E u t h y p h r o n : K a p i t e l 13 b i s 16 Gerechte fromm, anderes dagegen von anderer Art ? — Das verstehe ich nicht ganz! — Siehst du, das kommt vom Schwelgen in hoher Weisheit! Aber nun strenge dich ein wenig an, was ich frage, ist nicht so schwer zu begreifen. Der Dichter singt: Zeus, den Allvater, wagst du nicht mit Namen zu nennen, Denn überall, wo die Furcht uns bindet, empfinden wir Scham auch. 9 ) Ich bin anderer Meinung. Wir fürchten vieles, wie Krankheit und Armut, ohne uns zu schämen; wenn wir dagegen Scham empfinden, so hegen wir immer gleichzeitig Furcht, nämlich Furcht vor der Schande. Deshalb müssen wir das Dichterwort umkehren: Wo Scham ist, da ist auch Furcht. Die Furcht umschließt einen größeren Umkreis als die Scham, diese bildet nur einen Teil von ihr. Es verhält sich da ebenso wie mit den Zahlen. Das Ungerade ist nur ein Teil der Zahl; wo das Ungerade ist, da ist folglich immer die Zahl, dagegen ist das Ungerade nicht in jeder Zahl anzutreffen. Jetzt wirst du meine Frage verstehen, ob überall, wo das Gerechte angetroffen wird, auch das Fromme zu finden ist. Oder ist nur soviel richtig, daß das Fromme einen Teil des Gerechten ausmacht ? — So ist es. — Dann werden wir anzugeben haben, welchen Teil des Gerechten wir als fromm bezeichnen wollen. Auf die Frage, welcher Teil der Zahl das Gerade ist, würde ich antworten: es ist der Teil, der zwei gleichlange Schenkel besitzt und infolgedessen nicht schief steht. Nun belehre du mich über das Verhältnis des Frommen zum Gerechten ebenso, damit wir dem Meietos sagen können, er möge mich mit der Klage auf Gottlosigkeit nicht weiter behelligen; denn ich hätte mich inzwischen gebessert, da ich von dir gelernt hätte, was gottesfürchtig und fromm ist. — Euthyphron erklärt darauf: Gottesfurcht und Frömmigkeit scheint mir der Teil des Gerechten zu sein, der sich mit der Pflege der Götter befaßt. Der andere Teil des Gerechten gilt der Pflege der Menschen. — Das ist recht schön gesagt, äußert Sokrates, nur vermisse ich eine Kleinigkeit: ich verstehe noch nicht ganz, welcher Art Pflege du meinst. Sicherlich eine andere, als wir sie sonst ausüben. Weitläufig setzt er auseinander: Auf die Pflege der Pferde, der Hunde, des Viehes versteht sich nicht ein jeder, sondern nur der geübte Tierpfleger. Der Zweck der Pflege ist, den Tieren zu nützen, sie besser zu machen. Das ist indessen wohl schwerlich der Zweck der Pflege der Götter ? — Ganz und gar nicht, bestätigt Euthyphron, diese Pflege gleicht dem Dienste, den der Sklave seinem Herrn zu leisten hat. — Gut, die Frömmigkeit ist also der den Göttern gewidmete Dienst. Nun entspricht jedem Dienste eine Leistung. Wir ordnen uns dem Arzte unter,

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Euthyphron:

K a p i t e l 16 b i s 18

damit er uns Gesundheit schaffe, den Schiffsbauern und den Baumeistern, damit sie uns Schiffe und Häuser bauen. Nenne mir denn die herrliche Leistung, die von den Göttern vollbracht wird, wenn sie von unseren Diensten Gebrauch machen ? Du mußt es j a wissen, da du selbst sagst, daß du von allen Menschen am besten über göttliche Dinge Bescheid weißt! — Das ist auch so, betont Euthyphron nachdrücklich; um so kläglicher fällt seine Antwort aus: die Götter vollbringen Vieles und Schönes! — Das t u n auch die Feldherrn und die Bauern, hält ihm Sokrates vor; ihre Hauptleistungen sind aber, daß sie uns den Sieg in der Schlacht und das tägliche Brot schaffen. Welches ist nun unter dem Vielen und Schönen, das die Götter vollbringen, deren Hauptleistung? — Euthyphron bekennt hierauf, was ihm als wahre Frömmigkeit gilt: Ich erwähnte schon, Sokrates, daß es sehr schwer ist, das zu begreifen. Soviel kann ich dir jedoch mit schlichten Worten eröffnen: Wer es versteht, im Gebet und beim Opfer so zu sprechen und zu verfahren, wie es den Göttern wohlgefällig ist, der übt wahre, das Vaterhaus und das Vaterland erhaltende Frömmigkeit. Wer darin Fehler macht, begeht ein unfrommes Werk und richtet alles zugrunde. Begreiflicherweise ist Sokrates von diesem Bekenntnis zur pharisäischen Werkheiligkeit wenig erbaut. Das hättest du mir längst ohne so große Umschweife sagen können, bemerkt er höhnisch, aber du bist offenbar nicht sehr willig, mich zu belehren. Denn du wärest dem Richtigen schon ganz nahe und wichest ihm doch wieder aus! Das ist schade, ich hätte sonst von dir gelernt, was Frömmigkeit ist. 1 0 ) Doch als Fragender muß ich dir auf deinem Wege folgen. Du sagtest, die Frömmigkeit sei das Wissen, wie man zu beten und zu opfern, also: wie man die Götter zu bitten und zu beschenken hat ? — Du hast mich ganz vortrefflich verstanden. — Ich begehre auch sehr nach deiner Weisheit, mein Lieber, und achte genau darauf, daß mir nichts entgeht. Sage mir nun, worin der Dienst besteht, den wir den Göttern zu widmen haben: nur darin, sie zu bitten und zu beschenken? — Freilich. •—• Nach diesen Zugeständnissen ist die Widerlegung nicht schwer. Der Götterdienst würde unter diesen Umständen ein reines Handelsgeschäft sein, das Opfer wäre die Gegengabe des Frommen für erbetene Huld. Überdies würden die Götter bei diesem Handel gröblich übervorteilt werden. Denn es gibt kein Gut, das der Mensch nicht ihnen verdankt; und als einzige Gegenleistung gewährte er ihnen armselige Opfergaben, die ihnen nicht den mindesten Nutzen bringen. — Euthyphron räumt das ein; er will sogar den Ausdruck „Handelsgeschäft" gelten lassen, wenn dem Sokrates das Wort gefalle. Dennoch, meint er, seien die Opfer den Göttern

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Euthyphron:

K a p i t e l 18 b i s 20

keineswegs wertlos, sie nähmen die Huldigungen der Menschen wohlgefällig auf. Sokrates fragt: So ist das Fromme den Göttern nur wohlgefällig, im übrigen ihnen zu nichts nütze und nicht lieb ? — Doch, es ist ihnen sogar sehr lieb! — Das Fromme wäre hiernach, wie es scheint, wiederum das, was den Göttern lieb ist? — Ganz gewiß! — Mit dieser unüberlegten Antwort ist die Auseinandersetzung beendet. Sokrates führt seinem Gegner zu Gemüte: Wunderst du dich nun noch darüber, daß deine Erklärungen nicht standhalten, sondern dir davonlaufen ? Mir warfest du vor, daß ich sie, als ein Daedalos, davonzulaufen lehre, aber du verstehst diese Kunst noch besser, denn du lehrst sie gar, sich im Kreise zu drehen! Siehst du nicht, daß wir wieder auf demselben Punkt angelangt sind, den wir längst verlassen haben ? Wir hatten doch festgestellt, daß das Fromme und das den Göttern Wohlgefällige nicht dasselbe, sondern durchaus verschieden ist. Erinnerst du dich ? — Ja. — Also haben wir entweder damals oder jetzt geirrt und müssen nun wieder von vorn anfangen. Sage mir doch endlich die Wahrheit! Was ist das Fromme? Du weißt es ja ganz gewiß! Sonst würdest du es sicherlich nicht wagen, gegen deinen alten Vater wegen eines umgekommenen Knechtes Klage auf Mord zu erheben! Vielmehr würdest du den Zorn der Götter fürchten und dich vor den Menschen schämen. Nun sprich und verheimliche mir nichts mehr! — Ein andermal, Sokrates, es ist die höchste Zeit, daß ich fortgehe. — Was tust du, mein Freund! ruft Sokrates in komischem Pathos, du betrügst mich um eine große Hoffnung: daß ich von dir lernen würde, was fromm und unfromm ist. Nun kann ich dem Meietos nicht entgegenhalten, daß ich dank deiner Unterweisung im Göttlichen wissend geworden wäre und hinfort nicht mehr unbedacht reden, sondern ein besseres Leben beginnen würde! —

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ION VORBEMERKUNGEN

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er kleine Dialog aus Piatons Frühzeit galt lange als das Werk eines Nachahmers, noch Ritter (Piaton 1199) bezeichnet ihn, ohne Gründe anzugeben, als unecht, ebenso Natorp; in der 2. Auflage seiner Ideenlehre (S. 526) allerdings unter Vorbehalt. Dagegen sind neuerdings Friedländer und Hildebrandt überzeugend für die auch schon von Wilamowitz-Moellendorff anerkannte Echtheit der Schrift eingetreten. Wie es scheint, haben die den Dialog ablehnenden Forscher hauptsächlich an der noch etwas dürftigen Dialektik dieses Frühwerks Anstoß genommen. Doch wird man bemerken, daß Piaton den Aufwand an Dialektik dem geistigen Vermögen des Gegners anzupassen pflegt, mit dem sich Sokrates auseinandersetzt. Hier hat er es mit einem ganz unbehilflichen Widersacher zu tun, und dessen Nichtigkeit sollte vielleicht gerade durch die Art gekennzeichnet werden, wie ihn Sokrates im zweiten Teile des Dialoges mit wunderlichen Einfällen zum Narren hält. Überdies ist die Dialektik hier nur Beiwerk, das Kernstück des Dialoges bildet die in dessen Mitte liegende Rede des Sokrates über einen Gedanken, mit dem sich Piaton oft befaßt h a t : daß große Dichtungen nicht aus bewußter Reflexion hervorgehen, sondern ihren eigentlichen Grund in den Tiefen des Unterbewußtseins einer gottbegnadeten Künstlerseele haben. Wir begegnen diesem Gedanken in Piatons Werken mehrfach (s. Anm. 4), im Ion hat er ihn am ausführlichsten entwickelt. In der Wahl dieses Themas bewährt schon der junge Piaton seinen Scharfblick für zeitlose Probleme; und dazu schildert er in der mit dramatischer Meisterschaft charakterisierten Person des Rhapsoden Ion aus Ephesos den zu allen Zeiten wiederkehrenden Typus eines glänzenden, aber geistig unbedeutenden Bühnenkünstlers. Diesen sonderbaren Kontrast einer hochentwickelten, jedoch rein instinktiven Bühnenbegabung zu dem Unvermögen, den reproduzierten geistigen Gehalt des

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Ion: Vorbemerkungen und Kapitel 1 Kunstwerks bewußt zu erfassen, hatte Zelter lebhaft empfunden, als er seinem Freunde Goethe sein Urteil über zwei berühmte Berliner Schauspieler, Devrient und Fleck, in seiner derben Art mitteilte. Devrients unvergleichlicher Shylock hatte ihm die tiefe Tragik dieser finsteren Gestalt erschlossen, und Fleck galt ihm als der wahre, echte Wallenstein, den er niemals vergessen werde. Aber dann fährt er fort: „Was aber ans Unglaubliche grenzt und mich jedesmal in Schrecken gesetzt h a t : beide sprachen am anderen Ort über ihre Rollen und das Stück wie gewanderte Schneidergesellen." (Brief vom 7. Januar 1831.) Piaton gibt uns im Ion die Lösung dieses Rätsels: wie der Dichter, schöpft auch der Schauspieler seine Gestaltungskraft aus dem Unbewußten; geheimnisvolle, „göttliche" Kräfte reißen ihn, und mit ihm die Zuschauer hin 1 ). Ion wird als eitler Künstler eingeführt, der nur einen Dichter gelten läßt und keinen anderen seiner Beachtung für wert hält. Man sieht, daß Piaton auch da eine typische Erscheinung entdeckt hat, die in der Gestalt dos eingebildeten Snob noch heute auf allen Gebieten der Kunst anzutreffen ist. Merkwürdigerweise ist Ion der einzige Platonische Dialog, den Goethe ausführlich besprochen hat. Er beurteilt ihn ziemlich geringschätzig, doch läßt schon die Überschrift des Aufsatzes: ,,Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung" (Kunst und Altertum, W. A. 41 2 S. 169) erkennen, daß sein Groll hauptsächlich seinem ehemaligen Jugendfreunde, dem bigott gewordenen Fritz Stolberg galt, der in einer Übersetzung mehrerer Platonischer Dialoge aus Sokrates einen Vorläufer des Christentums gemacht hatte. Mit Recht tadelt es Goethe, daß Stolberg diesen „aristophanischen" Dialog als ein „kanonisches Buch" behandelt und diese Jugendschrift den reifsten Meisterwerken Piatons als gleichwertig zur Seite gestellt habe: „wahrscheinlich, weil darin von göttlicher Eingebung die Rede sei." Beherzigenswert ist übrigens auch heute noch die Mahnung, mit der Goethe seine Abhandlung beschließt: „Gewiß, wer uns auseinandersetzte, was Männer wie Plato im Ernst, Scherz und Halbscherz, was sie aus Überzeugung oder nur discursive gesagt haben, würde uns einen außerordentlichen Dienst erzeigen und zu unserer Bildung unendlich viel beitragen; denn die Zeit ist vorbei, da die Sibyllen unter der Erde weissagten; wir fordern Kritik und wollen urtheilen, ehe wir etwas annehmen und auf uns anwenden." J o n erscheint auf einer Kunstreise in Athen. Er kommt aus Epidauros, wo •*er auf dem Asklepiosfest den ersten Preis gewann; bei den bevorstehenden Panathenäen gedenkt er ebenfalls im Wettstreit zu siegen. Sokrates begrüßt

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Ion: K a p i t e l 1 b i s 3 ihn mit freundlich-ironischen Komplimenten, er sagt ihm: Ich habe euch Rhapsoden oft beneidet. Wie wunderbar ist der Anblick, wenn ihr in prächtigen Gewändern vor dem Publikum auftretet, und wie schön ist euer Beruf, der euch mit allen Meisterwerken der Dichtkunst vertraut macht, vorzüglich mit den Epen Homers, des größten und göttlichsten Sängers. D a lernt ihr, euch nicht nur die Verse einzuprägen, sondern auch tief in den Geist der Dichtungen einzudringen. Denn wer könnte je als Rhapsode bedeutend werden, wenn er es nicht verstände, seinen Zuhörern den Sinn des Vorgetragenen zu erschließen ? Doch das vermöchte er nicht, wenn er ihn selbst nicht erfaßt hätte. — Das ist sehr wahr, versetzt Ion, und gerade darauf verwende ich die meiste Mühe. Sie hat sich aber auch gelohnt, denn weder Metrodoros, noch Stesimbrotos, noch Glaukon 2 ) haben über Homer so viel Gutes und Treffendes gesagt wie ich. — Wie schön, Ion! Du wirst doch gewiß so freundlich sein, mir eine Probe deiner Erklärungskunst zu gönnen? — Sehr gerne! Es ist auch wirklich der Mühe wert zu hören, wie fein die Bemerkungen sind, mit denen ich meinen Homer beleuchte. Ich hätte es verdient, mit dem goldenen Kranze der Homeriden gekrönt zu werden. 3 ) •— Zu gelegener Zeit werde ich dich anhören, verspricht Sokrates. Jetzt sage mir nur dies: Verstehst du dich allein auf Homer, oder sprichst du ebenso vortrefflich über Hesiod und Archilochos ? — Nein, ich beschränke mich ganz auf Homer, das genügt mir vollständig. — Wir finden doch aber bei Homer und Hesiod häufig dieselben Gedanken ? — Gewiß. — Würdest du auch da den Homer besser deuten als den Hesiod ? — Wenn beide dasselbe sagen, kann ich sie natürlich auch beide gleichmäßig gut erklären. — Wie aber, wenn sie Verschiedenes sagen ? Das kommt doch auch vor, zum Beispiel in ihren Äußerungen über die Seher! — Freilich. — Würdest du diese Abweichungen und Ubereinstimmungen besser beurteilen können als ein guter Seher ? — Nein. — Und wenn du Seher wärest und die Übereinstimmungen richtig kritisiertest, so müßtest du doch auch ein zutreffendes Urteil über die Abweichungen haben ? — Offenbar. — Dann ist es aber nicht möglich, daß du allein den Homer verstehst. Er besingt doch ganz dasselbe wie die anderen Dichter: den Krieg, das Zusammentreffen guter und schlechter, unwissender und wissender Menschen, die Götter- und Heldengeschlechter? — Ion räumt das ein, doch erklärt er, Homer dichte anders als die anderen Dichter, und zwar sehr viel besser. Darauf setzt ihm Sokrates umständlich auseinander, daß er diese Überlegenheit Homers doch nur zu erkennen vermöge, wenn er die andern Dichter ebensowohl zu beurteilen verstände. Ob jemand in irgendeinem Fache mehr oder weniger tüchtig sei, könne immer

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I o n : K a p i t e l 3 bis 5 nur der entscheiden, der das ganze Fach beherrsche. Es sei also klar, daß Ion sich auf die andern Dichter nicht minder gut verstehen müsse als auf Homer; er habe ihm ja eingeräumt, daß sie alle dasselbe besängen. Ion fragt: Wie kommt es denn aber, daß ich nicht aufmerken kann, wenn jemand von diesen andern Dichtern spricht ? Da verstumme ich, werde gedankenlos und schlafe allmählich ein. Wenn dann aber Homers Name genannt wird, werde ich sofort wieder wach, gebe scharf acht, und es kommen mir gute Einfälle. — Das ist nicht schwer zu erraten, bedeutet ihn Sokrates, du redest von Homer eben nicht als Kenner, denn sonst könntest du über jeden Dichter sprechen. Oder ist etwa die Dichtkunst nicht ein Ganzes ? — Doch. — Nimm irgendeine andere Kunst und erwäge, ob es sich nicht überall ebenso verhält! Darf ich dir das erläutern ? — Ja gewiß, ich höre gern, was ihr weisen Männer sagt. — Ich wünschte, du sprächest wahr, Ion! Weise seid indessen nur ihr, ihr Rhapsoden und Schauspieler nebst euren Dichtern. Ich rede nur schlichte Wahrheiten, wie es einem schlichten Manne zukommt. Siehe doch, wie einfach und banal das ist, was ich dir deutlich zu machen suche. Ist nicht auch die Malkunst ein Ganzes ? — Ja. — Und es gibt gute und schlechte Maler ? — Natürlich. — Fandest du denn schon einen Menschen, der etwa nur über Polygnotos klug zu sprechen weiß, aber verstummt und einschläft, wenn die Rede auf andere Maler kommt ? Und erst aufwacht, wenn man ihn nach seinem Polygnotos fragt ? — Wahrhaftig nicht. — Oder kennst du jemand, der nur die Plastik des Daedalos, Epeios, Theodoras erklären kann, aber versagt, wenn er sich über die Wrerke anderer Bildhauer äußern soll ? — Auch das nicht. — So wirst du auch keinen Freund der Musik und Rhapsodik finden, der zwar den Olympos, Thamyras, Orpheus, Phemios zu beurteilen, aber nicht zu entscheiden vermag, was dem Rhapsoden Ion aus Ephesos gelungen oder mißlungen ist. — Ion behauptet: Ich habe zwar nichts dagegen einzuwenden, doch weiß ich genau, daß niemand so gut über Homer spricht wie ich, und das bestätigt mir jeder. Von anderen Dichtern kann ich nichts sagen. Überlege du nun, wie das zu erklären ist. — Sokrates führt in einer längeren Rede aus: Ich will dir angeben, worin mir der Grund dessen zu liegen scheint. Die Gabe, über Homer zu reden, verdankst du nicht einem schulgerechten Wissen, sondern einer göttlichen Macht, die sich in dir regt. Es verhält sich damit so, wie mit dem Steine, den man gewöhnlich den herakleischen nennt, Euripides bezeichnet ihn als Magneten. Dieser Stein zieht nicht nur eiserne Ringe an, sondern überträgt auch seine Anziehungskraft auf sie, so daß ein Ring den andern festhält und schließlich eine ganze Kette von Ringen an dem Magnetstein hängt. So erfüllt

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Ion: Kapitel 5 und 6 die Muse zunächst einige Jünger mit ihrer göttlichen Kraft, diese ziehen darauf andere an, bis sich schließlich eine Kette begeisterter Menschen aneinander schließt. Denn alle guten Dichter schaffen ihre Werke nicht handwerksmäßig, sondern im Banne eines göttlichen Wahnes. Wie die Korybanten nicht tanzen, solange sie bei klarer Besinnung sind, findet der dichtende Musiker (HEXOTTOIÖS) seine Weisen erst dann, wenn er, der Welt entrückt, in Rhythmus und Harmonie versinkt, besessen wie die Bakchen, die aus fließenden Gewässern Milch und Honig schlürfen. Sagen die Dichter doch selbst, daß sie in den Gärten und Tälern der Musen ihre Lieder aus honigströmenden Bächen schöpfen, den Bienen gleich und beflügelt wie sie. Und fürwahr ist der Dichter ein leichtbeflügeltes, heiliges Wesen, unfähig zu schaffen, solange er nicht des Gottes voll und des Verstandes ledig ist. Bei klarer Besinnung vermag kein Mensch zu dichten oder zu weissagen. 4 ) Ebenso wie du, wenn du deinen Homer deutest, verfährt der Dichter nicht mit bewußter Kunst, sondern wird von einer göttlichen Macht geleitet. Nur das kann er gestalten, was die Muse ihm eingibt: dem einen Dithyramben, dem andern Tanzweisen, Heldenlieder, Dramen. Wenn das nicht aus göttlicher Kraft hervorginge, sondern nach Regeln zu erlernen wäre, müßte jeder Dichter alle Gebiete seiner Kunst beherrschen. So zeigt der Gott, indem er seinen Dienern, den Dichtern, Wahrsagern und Sehern, die Besinnung raubt, daß diese nicht aus eigenen Kräften wirken und schaffen, sondern daß seine Stimme aus ihnen ertönt. Das beweist uns Tynnichos der Chalkidier, dem sonst kein gutes Werk gelingen wollte, und der dennoch den verbreitetsten und wohl schönsten aller Gesänge, den Päan, 5 ) zu dichten vermochte, nach seinem eigenen Bekenntnis ein Geschenk der Musen. Damit wir nicht daran zweifeln sollten, daß alle hohe Dichtung nicht Menschenwerk ist, sondern von den Göttern stammt, deren Dolmetsch die Dichter sind, ließ die Gottheit den schlechtesten Dichter das schönste Lied singen. Scheint das auch dir, Ion, wahr zu sein? — Beim Zeus, ja! Deine Worte haben mich seltsam ergriffen, es wird so sein, daß gute Dichter nach göttlicher Fügung eine göttliche Sendung erfüllen. •— Sokrates fährt fort: Nun seid ihr Rhapsoden die Yerkünder der Dichter? — Auch das ist wahr. — Ihr seid also Dolmetsch eines Dolmetschen ? — Nichts anderes. — Dann erkläre mir, was ich wissen möchte, und verhehle mir nichts: Wenn du deine Zuhörer am tiefsten ergreifst: wenn du ihnen den Odysseus schilderst, wie er sich den Freiern Penelopes zu erkennen gibt, um sie zu züchtigen, oder den Achilleus, wie er auf Hektor losstürmt, oder das Leid der Andromache, der Hekabe, des Priamos —, bleibst du da in klarer Besinnung,

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Ion: K a p i t e l 6 bis 8 oder fühlst du dich nach Ithaka und Troja entrückt, wo du die Begebenheiten zu schauen und mitzuerleben wähnst ? — Das hast du vortrefflich bemerkt, erwidert Ion erfreut, ich will dir auch nichts verbergen: Wenn ich etwas Trauriges vortrage, füllt sich mein Auge mit Tränen; ist es aber etwas Schreckliches, so ergreift mich die Furcht, es klopft mir das Herz und es sträubt sich mir das Haar. — Was bedeutet das, Ion ? Ist der bei Sinnen, der in seinem Prachtgewande, mit goldenem Kranze geschmückt, bei Opfern und Festen weint? Der in Furcht gerät, inmitten von mehr als 20000 Menschen, die ihm freundlich gesonnen sind und gar nicht daran denken, ihm etwas zuleide zu tun ? — Nein, gewiß nicht. — Weißt du, daß ihr die Menge der Zuhörer in dieselbe Stimmung versetzt ? — Das weiß ich recht wohl. Ich bemerke ja von der Bühne aus, wie sie weinen, wild blicken und staunen. Darauf achte ich sehr genau. Wenn ich sehe, daß sie weinen, darf ich lachen, denn es winkt mir reicher Lohn; wenn sie aber lachen, muß ich weinen, weil ich dann kein Geld bekomme. 6 ) Sokrates beachtet dieses schöne Bekenntnis nicht weiter und führt seinen Gedankengang zu Ende: Weißt du denn auch, daß der Zuschauer der letzte jener Ringe ist, die mit magnetischer Kraft durchdrungen werden? Der mittlere Ring ist der Rhapsode und Schauspieler, der erste der Dichter. Die Kraft entströmt aber dem Gotte, der die Seelen der Menschen begeistert und sie dahin lenkt, wohin er sie führen will; der fügt die Ringe aneinander und erfüllt sie mit seinem Zauber. Wie die Kette der Eisenringe an dem Magnetstein hängt, so haftet an dem Dichter eine Reihe von Menschen, Chorsänger, Chormeister und deren Gehilfen. Und von den Dichtern ist der eine an diese, der andere an jene Muse gekettet, wir sagen von ihnen: sie sind besessen. Sodann hat jeder Dichter seine Anhänger, die einen begeistert Orpheus, andere Musäos, die meisten zieht aber Homer in seinen Bann. Zu denen gehörst du, Ion! Deshalb schläfst du ein und bist um Worte verlegen, wenn jemand das Lied eines anderen Dichters singt; wenn aber ein Sang Homers ertönt, erwachst du sogleich, deine Seele schwingt sich empor und macht dich beredt. Dann sprichst du nicht nach kunstverständiger Einsicht, sondern nach göttlicher Fügung und in göttlicher Begeisterung, wie die Korybanten nur die Weise ihres Gottes vernehmen und nur durch sie zur Verzückung hingerissen werden. Das ist der Grund, warum du nur über Homer zu sprechen weißt, da redest du nicht als Kunstverständiger, sondern wirst von einer göttlichen Macht getrieben. Ion bemerkt dazu: Was du da sagst, ist vortrefflich, doch wirst du mir schwerlich einreden, daß ich Homer als Besessener und Verzückter preise. Davon

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I o n : K a p i t e l 8 b i s 10 kannst du dich selbst überzeugen, wenn du mich reden hörst. — Aber du verstehst dich doch wohl kaum auf alles, was Homer besingt, sondern nur auf einiges? — Nein, auf alles! — Sokrates macht darauf die Probe, wie es um das Kunstverständnis des Rhapsoden bestellt ist. Er läßt sich von ihm die Stelle rezitieren, wo Nestor seinem Sohne Antilochos Anweisungen gibt, wie er seinen Wagen in dem von Achilleus veranstalteten Rennen zum Siege steuern soll (Ilias 23, 335IT.). Dann fragt er: Wer kann nun entscheiden, ob diese Ratschläge richtig sind, ein Arzt oder ein Wagenlenker? — Ion antwortet: ein Wagenlenker. — Sokrates erläutert ihm: So hat jede Kunst ihr eigenes Gebiet, das nur der Sachkundige beherrscht; die Leistungen des Schiffers können wir nicht vermittelst der Heilkunde beurteilen, und diese nicht vermittelst der Baukunst. Er führt dies umständlich aus und fragt weiter: Wer wird hiernach besser zu beurteilen vermögen, ob die Ratschläge Homers in den von dir vorgetragenen Versen sachgemäß sind, ob dem Dichter also die Stelle gelungen ist ? Ein Wagenlenker oder du ? — Ion bestätigt gehorsam: ein Wagenlenker.') — Natürlich, fügt Sokrates hinzu, du bist Rhapsode und nicht Rennfahrer; von dessen Kunst verstehst du nichts, denn diese beiden Künste sind durchaus verschieden, und jede von ihnen hat ihre eigenen Gegenstände. Er gibt Ion ein zweites homerisches Beispiel: Der Dichter läßt Hekamede, die Sklavin und Bettgenossin Nestors, dem verwundeten Machaon einen Heiltrank aus starkem Wein, Zwiebeln und Ziegenkäse brauen (Ilias 11, 639f; der hier zitierte V. 640 weicht von der üblichen Lesart ab). Wer kann nun die Güte dieses Rezeptes beurteilen: der Rhapsode oder der Arzt ? —• Der Arzt, lautet Ions Antwort. — Darauf zitiert Sokrates die Verse, in denen Homer die pfeilschnell ins Meer hinabtauchende Götterbotin Iris der Bleikugel an einer Angelschnur vergleicht. (Ilias 24, 80fT.). Er fragt, wer feststellen könne, ob das gewählte Gleichnis gut erdacht sei, der Rhapsode oder der Fischer ? Schließlich trägt er zwei Proben homerischer Mantik vor: die Todesverkündigung des Sehers Theoklymenos an die Freier der Penelope (Odyssee 20, 351 ff.) und die Erzählung von dem Adler und der Schlange, dem warnenden Wunderzeichen vor dem Sturme der Troer auf die Verschanzungen der Griechen (Ilias 12, 200ff.). Ion soll ihm sagen, ob die Kritik solcher Dichtersteilen Sache des Rhapsoden oder des kundigen Sehers sei ? Nachdem Ion alle Fragen wunschgemäß beantwortet hat, fordert Sokrates ihn auf: Nun gib mir an, was aus Homers Dichtungen der Kritik des Rhapsoden zugänglich ist, und was nur andere beurteilen können. Du kennst Homer ja besser als ich. — Ion behauptet: der Rhapsode weiß alles zu erklären! •— 6i

I o n : K a p i t e l 10 b i s 12 Du hast ein schlechtes Gedächtnis, bedeutet ihn Sokrates, und das ist für einen Rhapsoden besonders mißlich! — Was habe ich denn vergessen ? — Entsinnst du dich nicht, was du mir soeben eingeräumt hast ? Daß die Kunst des Rhapsoden von der des Wagenlenkers durchaus verschieden ist und nur die in ihrem Bereich liegenden Dinge zu beurteilen vermag ? — Ja. — So versteht der Rhapsode eben nicht alles ? — Doch, abgesehen vielleicht von solchen Sachen. — Also doch nicht alles! Nun sage mir, was er versteht ? — Das Schickliche, meine ich. Der Rhapsode weiß, wie es einem Manne und einem Weibe, einem Sklaven und einem Freien, einem Gebieter und einem Untergebenen zu reden geziemt. 8 ) — Sokrates läßt indessen auch das nicht gelten: Wie ein Kapitän im Seesturm, ein Hirtensklave bei der Wartung seiner Herde, eine Frau am Webstuhl zu reden hat, kann doch wohl nur ein Seemann, ein Hirt, ein Weber wissen. — Das gibt Ion zu; dagegen erwidert er auf die nächste Frage, ob der Rhapsode etwa wisse, wie ein Feldherr seine Soldaten anzufeuern habe, sehr entschieden: Ja, das weiß er! — Wie ? fragt Sokrates erstaunt, was hat denn die Rhapsodik mit der Kriegskunst zu schaffen ? — Ich weiß jedenfalls sehr wohl, wie es einem Feldherrn zu reden geziemt, wiederholt Ion hartnäckig. — Nun ja, vielleicht bist du auch Stratege, versetzt Sokrates. Wenn du Reiter und zugleich Kitharaspieler wärest, würdest du allerdings gut und schlecht gerittene Pferde unterscheiden können, aber das lehrte dich doch nicht die Musik ? —• Nein, die Reitkunst. — Und die Fertigkeit eines Musikers würdest du ebensowenig vermittelst der Reitkunst erkennen ? — Nein. — Worauf beruhen also deine Kenntnisse vom Kriegswesen ? Auf der Rhapsodik oder auf der Kriegskunst ? — Darin sehe ich keinen Unterschied. — Wirklich nicht ? Sind denn das nicht zwei ganz verschiedene Künste ? — Nach meiner Ansicht nein. — Ein guter Rhapsode wäre also auch ein guter Heerführer ? — Ganz gewiß, Sokrates! — Und ein guter Heerführer demnach ebenfalls ein guter Rhapsode ? — Nein, das glaube ich nicht. — Und trotzdem behauptest du, daß ein guter Rhapsode auch ein guter Feldherr sein würde ? — Jawohl. — Du bist doch der beste griechische Rhapsode ? — Bei weitem der beste! — Bist du denn auch der beste griechische Stratege ? — Wisse, Sokrates, auch das habe ich aus den Werken Homers gelernt! — Aber bei den Göttern, ruft Sokrates aus, dann erkläre mir, warum du als Rhapsode umherziehst, anstatt dich zum Feldherrn wählen zu lassen! Oder meinst du, daß in Griechenland Mangel an sieggekrönten Rhapsoden sei, nicht aber an hervorragenden Heerführern? — Ion schützt vor: Ephesos steht unter athenischem Schutz und bedarf deshalb keines Feldherrn. Und als

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I o n : K a p i t e l 12 Ephesier habe ich keine Aussicht, in Athen oder Sparta zum Strategen ernannt zu werden. — Aber mein Bester! Kennst du denn nicht den Apollodoros aus Kyzikos, den wir Athener oft zum Strategen gewählt haben, obwohl er Bürger einer fremden Stadt war ? Auch dem Phanosthenes aus Andros und dem Herakleides aus Klazomenae haben wir die Feldherrnwürde und andere hohe Staatsämter anvertraut, weil sie sich als tüchtige Männer erwiesen hatten. Warum sollten wir also dem Ephesier Ion diese Würde vorenthalten, zumal ihr Ephesier attischen Blutes seid und deine Stadt keiner anderen nachsteht ? — 9 ) Indessen hat Sokrates keine Lust, das Gespräch noch weiter fortzusetzen, er schließt: Wenn du, Ion, wirklich die Fähigkeit besitzst, deinen Homer mit gründlicher Einsicht zu preisen, so ist es sehr unrecht, mir eine Probe dieser Begabung vorzuenthalten, denn das hattest du mir versprochen. Doch du entzogest dich dem mit der Behendigkeit eines Proteus, schließlich verwandeltest du dich gar in einen Feldherrn! Wenn du nun wirklich Kenner bist, so hast du nicht Wort gehalten, bist also ein ungerechter Mensch. Wenn du aber kein Kenner bist und, wie ich sagte, nur in göttlicher Begeisterung, ohne eigentliches Wissen den Homer zu künden vermagst, dann hast du freilich kein Unrecht getan. Jetzt wähle, was du in meinen Augen sein willst, ein ungerechter oder ein göttlicher Mann! — Das ist ein großer Unterschied, Sokrates! Viel lieber will ich göttlich heißen. — Nun, das will ich dir gerne zugestehen, lieber Ion; als göttlicher, nicht aber als wissender Lobredner magst du deinen Homer preisen.

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DIE HIPPIAS-DIALOGE VORBEMERKUNGEN

U

ber die Echtheit der beiden Hippias-Dialoge ist viel gestritten worden.

Gegenwärtig wird der „Kleine Hippias" allgemein als ein Werk Piatons anerkannt, und neuerdings haben sich sehr gewichtige Stimmen auch für die Echtheit des größeren Dialoges ausgesprochen. E s bestehen indessen noch Zweifel, die vielleicht nicht ganz abzuweisen sind. Die klägliche Rolle, die dem Hippias in diesem Dialoge zugeteilt wird, steht in einem schroffen Gegensatz zu der fast ritterlich zu nennenden Polemik Piatons gegen die beiden anderen Häupter der Sophistik, Protagoras und Gorgias. In den nach ihnen benannten Dialogen hat sich Piaton sichtlich bemüht, Schatten und Licht gerecht zu verteilen und neben den Schwächen auch die geistige Kultur dieser Männer hervortreten zu lassen. Protagoras scheidet aus seinem Kampfe mit Sokrates als ein Mann von vornehmer Gesinnung: er nimmt seine Niederlage gelassen hin und sagt dem jugendlichen Sieger Sokrates eine glänzende Zukunft voraus. Ebenso läßt die Polemik gegen die Relativitätslehre des Protagoras im Theaetet bei aller Schärfe doch immer die Achtung erkennen, die Piaton diesem Gegner nicht vorenthielt. Im Gorgias hebt Piaton den weiten Abstand dieses würdevollen Diplomaten und Rhetors von seinem Schüler Polos, einem Sophisten des gemeinen Schlages, nachdrücklich hervor; er erweist dort sogar dem Gorgias die Ehre, ihn nicht zu den Sophisten zu rechnen. 1 ) So erscheinen Protagoras und Gorgias als wirkliche Gegner eines Sokrates, würdig, von ihm in ernsten Auseinandersetzungen bekämpft zu werden. Auch des Prodikos gedenkt Piaton zwar niemals ohne Ironie, aber stets mit einem gewissen freundlichen Wohlwollen. Dagegen ist der Hippias des größeren Dialoges eine fast aristophanische Komödienfigur, wie sie Piaton sonst nirgends gezeichnet hat, abgesehen von Euthydemos, einem Sophisten ganz niederen Ranges. Im ersten Hauptteil 5

V e r i n g , Piatons Dialoge 3

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Die

H ip p i a s - D i a lo g e : V o r b e m e r k u n g e n

des Werkes tischt Hippias als philosophische Erklärungen drei Albernheiten auf, deren Absurdität jedes erlaubte Maß überschreitet, und im zweiten Teile läßt er sich mit unglaublichster Einfalt von Sokrates f ü n f m a l nacheinander zum Narren halten. Die wahre Gestalt des weltgewandten, vielbewunderten Polyhistors ist hier derartig verzerrt, daß m a n Piaton eine derartige Kampfesweise nicht ohne weiteres zutrauen möchte. Es mag sein, daß die maßlose Eitelkeit des vermutlich auch höchst geldgierigen Menschen den besonderen Widerwillen Piatons erregt hat, indessen wird er sich wie jeder echte Künstler darüber klar gewesen sein, daß eine K a r i k a t u r die charakteristischen Züge der dargestellten Person erfassen soll und nicht in völlige Willkür ausarten darf. Fernere Bedenken ergeben sich aus der Komposition des Werkes. Die Einleitung ist so breit angelegt, daß sich daraus ein auffälliges Mißverhältnis zwischen dem Vorspiel u n d den beiden Teilen des Dialoges ergibt. Auch das wäre allenfalls dadurch zu erklären, daß Hippias als Possenfigur auftreten sollte, und daß Piaton deshalb die Einleitung zu einer wirkungsvollen Komödienszene ausgestaltet hätte. Aber ungewöhnlich wäre dieses Verfahren auf jeden Fall. Im Hinblick auf dieses starke Hervortreten des dramatischen Spieles erscheint es als besonders auffällig, daß sich hier die Handlung allein zwischen Sokrates und Hippias abspielt, während Piaton sonst alle anderen K ä m p f e des Sokrates mit Sophisten stets vor einem größeren oder kleineren Zuhörerkreise stattfinden l ä ß t ; da fehlt niemals das einem bedeutungsvollen Ereignis gebührende Publikum, auch im Kleinen Hippias nicht. 2 ) Indessen würden diese und andere Besonderheiten nicht ausschlaggebend sein, wenn wir in dem Großen Hippias ein frühes Jugendwerk Piatons ersehen dürfen. Wir wissen, daß er sich in seiner Jugend als dramatischer Dichter versucht hatte, und da wäre es nicht zu verwundern, wenn in der Übergangszeit zum philosophischen Schaffen noch einmal die Lust am Fabulieren in ihm die Oberhand gewonnen hätte. Damit würde sich auch die Merkwürdigkeit aufklären, daß Piaton gerade diesem Hippias zwei seiner Dialoge gewidmet h a t . Es läge dann die V e r m u t u n g nahe, daß er diesen ersten Versuch später als Fehlgriff erachtet und deshalb beschlossen h ä t t e , die jugendliche Abirrung von seinem Wege durch ein reiferes Werk auszugleichen. Die im Großen Hippias vorkommenden Anspielungen auf die Platonische Idee scheinen mir diese A n n a h m e nicht ganz auszuschließen, ähnliche Stellen findet m a n auch in anderen Jugendwerken. Nach der Sprachstatistik soll allerdings der Dialog in die Schaffenszeit Piatons zwischen dem Symposion und dem Phaedon fallen. Da aber das nach dem

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Der kleine

Hippias: Kapitel 1 und 2

Inhalt der Schrift ganz unmöglich ist, — man beachte auch die noch sehr ungelenke, manchmal fast unerträglich breite Art der Beweisführung! —, würde diese Feststellung eher den Verdacht bestärken, daß sie von einem Nachahmer Piatons verfaßt worden sei. (Vgl. Friedländer, Piaton II 116, Anm.). Es wäre indessen kein schlechter Nachahmer, sondern ein scharfsinniger und witziger Schriftsteller gewesen, der neben einer gründlichen Kenntnis der Werke des Meisters zugleich die Fähigkeit besessen hätte, sein Vorbild täuschend ähnlich zu kopieren. Der Humor Piatons ist hier freilich sehr viel gröber aufgetragen als in den unzweifelhaft echten Werken, es fehlt, wie v. Wilamowitz (Piaton II 329) bemerkt, die Platonische Charis. Indessen ist der Dialog wert, in die Schriften Piatons aufgenommen zu werden, wenn auch einstweilen noch unter Vorbehalt. Ich lasse ihn auf den wohl sicherlich echten Kleinen Hippias folgen. Leider sind beide Dialoge sehr schwer zu verdeutschen, weil ihre sophistischen Subtilitäten durchweg auf der Eigenart der griechischen Sprache beruhen und deshalb nur annähernd und nicht ohne einige sprachliche Gewaltsamkeiten wiedergegeben werden können.

DER KLEINE HIPPIAS

D

er berühmte Sophist Hippias aus Elis verweilt auf einer seiner Reisen in Athen; dort hat er soeben einen Vortrag über Homer und die Dichtkunst beendet. Die Zuhörer haben sich entfernt, in der Halle sind außer dem Vortragenden nur noch Eudikos — anscheinend der Gastfreund des Hippias —, Sokrates und einige andere zurückgeblieben. 2 ) Dem Eudikos ist es aufgefallen, daß Sokrates die prunkvolle Rede schweigend aufgenommen hat, ohne ein Wort des Beifalls oder des Mißfallens zu äußern; er ersucht ihn deshalb, sich in dem noch versammelten engeren Kreise frei auszusprechen. Sokrates bekennt, daß ihm eine Ergänzung des Vortrages willkommen sein würde. Apemantos, des Eudikos Vater, habe einmal bemerkt, daß die Ilias als Dichtung ebenso hoch über der Odyssee stehe, wie der Charakter des Achilleus über dem des Odysseus. Darum möchte er gern hören, wie Hippias diese beiden Helden beurteile. Auf die Frage des Eudikos, ob er dem Wunsche des Sokrates genügen wolle, erwidert der Sophist würdevoll: Wenn sich die Hellenen zu den olympischen Spielen versammeln, pflege auch ich mich einzufinden, um dort, im heiligen Tempel, einem jeden zu willfahren, der eine meiner großen Reden zu hören 5*

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Der kleine H i p p i a s : K a p i t e l 2 bis 5 oder ein Frage an mich zu richten wünscht. Warum sollte ich also hier einer Frage des Sokrates aus dem Wege gehen ? — Es muß herrlich sein, bemerkt Sokrates, an jedem Festspieljahre mit so hoher Weisheit gerüstet in das olympische Heiligtum einzuziehen. Vermutlich wird keiner der Athleten, die dort in die Schranken treten, der Stärke seines Körpers so vertrauen dürfen, wie du der Kraft deines Geistes! — So ist es, Sokrates! Ich habe in Olympia meinen Meister noch nicht gefunden. — Das hast du schön gesagt, Hippias! Und so wird dieser Ruhm deiner Vaterstadt Elis und deinen Eltern zu einem herrlichen Denkmal der Weisheit. Belehre uns nun über Achilleus und Odysseus. Wer von ihnen ist der Edlere, und worin besteht der Unterschied ? Während deines Vortrages habe ich dich nicht gestört, aber jetzt sind wir unter uns, und Eudikos ermutigt mich zu meiner Frage. — Ich bin gerne bereit, Sokrates, dir das noch deutlicher zu erklären, als es in meinem Vortrage geschah. Homer hat Achilleus als den edelsten Helden dargestellt,Nestor als den weisesten und Odysseus als den verschlagensten. — Sehr schön, Hippias. Dein Urteil über Achilleus und Nestor hatte ich sogleich verstanden, doch vermag ich nicht einzusehen, inwiefern Homer den Odysseus als den Verschlagensten dargestellt haben soll. Hat er nicht auch Achilleus als verschlagen geschildert ? — Durchaus nicht, Sokrates, der Achill Homers ist schlicht und gerade. Als sich die Bittgesandtschaft bei ihm einfindet, sagt er dem Odysseus: 3 ) Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus, Höre mein Wort, wie redlich und wahr ich dir es verkünde, Was ich reiflich erwog und zu vollenden gedenke. Denn ich hasse jeden so sehr wie des Aldes Pforten, Der ein andres im Herzen birgt und ein anderes redet. Doch ich sage dir an, was auch gewißlich geschehn wird. In diesen Versen tritt der Gegensatz der Charaktere deutlich hervor: Achilleus ist wahrhaft und schlicht, Odysseus verschlagen und lügnerisch. — Nun begreife ich! Wie es scheint, gilt dir der Verschlagene als Lügner? — Allerdings. Odysseus erscheint überall als verschlagener Lügner, in der Ilias wie in der Odyssee. — Also hat Homer den wahrhaften und den lügenhaften Mann in zwei Personen einander gegenübergestellt ? •— Ganz recht. — Hältst auch du diese Unterscheidung für richtig? — Natürlich; es wäre ja arg, wenn es sich anders verhielte! — In der nun folgenden „Widerlegung" dieser Erklärung zeigt Sokrates, daß er als Meister in Fangschlüssen jedem Sophisten überlegen ist. Er beginnt: Den Homer wollen wir beiseite lassen, zumal wir ihn nicht fragen können,

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Der kleine H i p p i a s : K a p i t e l 5 bis 7 welches seine dichterischen Absichten gewesen sind. Antworte du mir, als sein Anwalt, an seiner Statt. — So frage denn, aber fasse dich kurz! — Hältst du die Lügner für tüchtig, etwas zu leisten, oder für untüchtig, wie die Kranken ?4) — Ich halte sie für tüchtig, insonderheit zur Täuschung durch Trug. — Also für tüchtig und verschlagen ? — Ja. — Und woher stammt diese Tüchtigkeit und Verschlagenheit ? Aus Einfalt und Beschränktheit, oder aus Schlauheit und einer Art Einsicht? •— Ganz sicher aus Schlauheit und Einsicht. — Sie sind also einsichtige Menschen, wie es scheint? — Das versteht sich! — Als einsichtige Menschen werden sie sich dann auch auf das verstehen, was sie tun ? — Das verstehen sie sehr gründlich, und eben darum sind sie schlimme Bösewichte. — Sind sie im Besitz der Einsicht unbelehrt oder weise ?5) — Jedenfalls sind sie weise im Betrügen. — Sokrates faßt diese Ergebnisse zunächst noch einmal zusammen. Nach Hippias sind die Lügner in ihrer Lügenhaftigkeit tüchtig, einsichtig, verständnisvoll und weise; ferner stehen Lügner und Wahrhaftige im schärfsten Gegensatz. 6 ) Dann fragt er: Was bedeutet das? Sind die Lügner tüchtig, wenn sie lügen wollen, oder untüchtig? — Natürlich tüchtig. — Also sind sie tüchtig und weise im Lügen ? — Ja. — Wer aber untüchtig zum Lügen und darin unbelehrt ist, würde doch kein Lügner sein können ? — Das stimmt. — Hingegen nennst du jeden tüchtig, der t u t , was er will und wann er es will, gesetzt daß ihn nicht Krankheit oder ähnliche Hindernisse hemmen? 7 ) — Ja. — Dann sage mir, Hippias, du bist doch Meister der Rechenkunst ? — Die beherrsche ich zu allermeist! — Mithin würdest du auf die Frage, wieviel dreimal siebenhundert sind, schneller und zuverlässiger als andere eine wahrheitsgemäße Auskunft geben können, wenn du das wolltest ? — Natürlich. — Darum, weil du hierin der Tüchtigste und Weiseste bist ? — Ja. — Folglich auch der Beste in diesem Fache ? — Freilich auch der Beste! — Und darauf beruht deine Tüchtigkeit, die Wahrheit zu sagen? — Das meine ich! — Nun lasse uns sehen, wie es sich mit der Lüge beim Rechnen verhält, gib mir auch darüber in deiner würdigen und vornehmen Art Bescheid! Würdest du als hervorragendster Rechner nicht auch am besten lügen können, wenn du auf eine Frage nicht die richtige Lösung eines Rechenexempels geben wolltest ? Ein minder tüchtiger Rechner, der den Fragenden belügen will, könnte ja gerade infolge seiner Unwissenheit zufällig auf die richtige Zahl geraten und demnach entgegen seiner Absicht die Wahrheit sagen ?! Aber du, als Weiser, würdest doch niemals fehlgreifen, wenn du lügen willst ? — Gewiß, es ist so, wie du sagst. •— Man kann also auch beim Rechnen lügen ? — Allerdings. —

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D e r k l e i n e H i p p i a s : K a p i t e l 8 b i s 10 Ein solcher Lügner muß, wie du einräumtest, die nötige Tüchtigkeit besitzen, und du gäbest auch zu, daß jemand, der dieser Tüchtigkeit ermangelt, nicht fähig zur Lüge ist. — Das habe ich allerdings eingeräumt. — Ferner ergab es sich, daß du über die höchste Tüchtigkeit verfügst, beim Rechnen zu lügen ? — Ja, auch das habe ich zugestanden. — Aber gleichermaßen vermagst du auch die W a h r h e i t zu sagen ? — Gewiß. — So ist einer und derselbe, der Gute, nämlich der gute Rechenmeister, t ü c h t i g zur Lüge und tüchtig zur Wahrheit. W e n n aber dieser Gute zu beidem tüchtig ist, so ist der W a h r h a f t i g e um nichts b e s s e r als der Lügner, denn wir sehen, daß hier derselbe Mensch zur Lüge und zur W a h r h e i t t a u g t . Folglich ist es nicht richtig, daß zwischen dem Lügner und dem W a h r h a f t e n ein Gegensatz besteht! 8 ) — Das scheint in diesem Falle allerdings nicht zuzutreffen, bekennt Hippias kleinlaut. — Doch Sokrates beweist ihm mit Hilfe desselben Taschenspielerkunststücks, daß es sich in den anderen Wissenschaften, in denen Hippias als Autorität gilt, nicht anders verhalte: Der gute Geometer sei ebenso tüchtig, die Wahrheit zu sagen wie zu lügen, und dasselbe treffe auf den guten Astronomen zu. Auch in diesen Fällen sei, falls eine Lüge stattfinde, stets der Gute, der Wissende, lügnerisch und w a h r h a f t , 9 ) während der Unwissende auch nicht zur Lüge tauge. Widerwillig, aber gänzlich hilflos r ä u m t Hippias diese Schlußfolgerungen ein. Sokrates kann es sich nicht versagen, seines unterlegenen Gegners zu spotten. Mit stark aufgetragener Ironie hält er dem eitlen Prahler dessen Bild vor Augen: Wohlan, Hippias, forsche unentwegt in allen Wissenschaften, ob das irgendwo anders ist! Du rühmtest dich ja hier auf dem Markte, wo du bei den Wechslertischen den neidlichen H o r t deines Wissens zur Schau stelltest, daß du ungefähr auf jedem Gebiete der weiseste Mensch seiest. Da hörte ich von dir, daß einst in Olympia alles, was du auf dem Leibe trügest, das WTerk deiner eigenen H ä n d e war. Deine Ringe hattest du selbst geschmiedet und graviert, das Salbfläschchen und die Badekratze waren Erzeugnisse deiner Geschicklichkeit, deine Gewänder h a t t e s t du gewoben, deine Sandalen eigenhändig angefertigt. Das größte W u n d e r und ein Zeugnis höchster Meisterschaft war aber der feine Gürtel in kunstvoller persischer Arbeit, auch den h a t t e s t du geflochten! Überdies hattest du eine Menge eigener Dichtungen mitgebracht: Epen, Tragödien, Dithyramben, dazu Reden und Schriften aller Art. Nicht minder wärest du in den Wissenschaften, deren wir vorhin schon gedachten, als Lehrer aufgetreten, ferner in R h y t h m i k , Harmonie, Grammatik und noch vielem andern, wenn mich nicht mein Gedächtnis täuscht — aber fast h ä t t e ich vergessen, daß die Gedächtniskunst dein be-

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sonderer Stolz ist! Und was mag mir sonst wohl noch entfallen sein! Halte denn Umschau in deinem Reiche — es ist ja groß genug! — wie auch in anderen Gebieten des Wissens, und sage mir dann, ob irgendwo, n a c h d e m , w a s w i r e i n a n d e r e i n g e r ä u m t h a b e n , der Lügner und der W a h r h a f t e verschieden und nicht eine und dieselbe Person sind. Forsche, wo du willst, du wirst es in keiner Weisheit oder Schlauheit, oder wie du sagen magst, anders finden. Denn das gibt es nicht. Sonst nenne es! — J a , Sokrates, bekennt Hippias in sichtlicher Verlegenheit, in diesem Augenblick k a n n ich das nicht sagen. — Wohl auch k ü n f t i g nicht, f ä h r t Sokrates fort. W e n n ich aber recht habe, so erwäge, was daraus folgt. — Ich verstehe nicht, was du meinst, Sokrates. — Vielleicht verschmähst du es, dich jetzt deiner Gedächtniskunst zu bedienen, weil du ihrer nicht zu bedürfen glaubst. So muß ich dir die Erinnerung auffrischen: Sagtest du nicht, Achilleus sei wahrhaft, Odysseus aber lügnerisch und verschlagen ? — Ja. — Aber nun wirst du einsehen, daß derselbe Mensch lügnerisch und w a h r h a f t ist. W e n n also Odysseus Lügner ist, so ist er auch w a h r h a f t , und wenn Achilleus w a h r h a f t ist, so ist er auch Lügner. Mithin sind die beiden Helden nicht verschieden oder gar Gegensätze, sondern einander gleich! — Voller Zorn über den ihm gespielten Streich entgegnet Hippias: Immer, Sokrates, verlegst du dich auf solche Mätzchen! Du suchst dir irgendeinen trügerischen Beweisgrund heraus, um ihn auf die Spitze zu treiben, a n s t a t t auf das Große und Ganze auszugehen. Ich k a n n dir soviele Beweise geben, wie du willst, daß der Achilleus Homers truglos und edler ist als sein Odysseus, dieser dagegen ränkevoll, verlogen und schlechter. W e n n es dir beliebt, magst du deine Gegengründe anführen, w a r u m Odysseus besser sein soll, dann werden diese hier um so leichter beurteilen können, wer von uns beiden recht h a t . Sokrates sucht den Ergrimmten durch höfliche Worte, die freilich wieder mit kräftiger Ironie durchsetzt sind, zu beschwichtigen: Ich bestreite keineswegs, lieber Hippias, daß du weiser bist als ich. Indessen ist es meine Gewohnheit, aufzumerken, wenn jemand redet, zumal wenn der Vortragende mir weise zu sein scheint. Dann suche ich den Sinn zu erfassen, ich frage und betrachte die einzelnen Sätze, ob sie zueinander stimmen, damit ich daraus lerne. Mit den Reden unbedeutender Menschen befasse ich mich dagegen nicht näher. Du wirst daraus stets ersehen können, ob ich jemand für weise halte und mir aus seinen Belehrungen einen Nutzen verspreche. So geschah es auch hier: als du vorhin sagtest, daß Achill in den von dir vorgetragenen Versen zum Odysseus als einem Schwindler spreche, fragte ich mich, ob du wohl das Rechte getroffen haben möchtest. Denn der verschlagene Odysseus erscheint

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nirgendwo als Lügner, Achilleus ist dagegen wirklich verschlagen in deinem Sinne, er lügt doch! Zuerst beteuert er in den von dir zitierten Versen: Denn ich hasse jeden so sehr wie des Aides Pforten, Der ein andres im Herzen birgt und ein anderes redet. Un mittelbar darauf erklärt er, daß er sich nicht umstimmen lassen und nicht im trojanischen Lande bleiben werde. Seine Worte lauten: Morgen bring' ich ein Opfer dem Zeus und den anderen Göttern, Rüste die Schiffe und ziehe sie in die Fluten des Meeres. Schaue dir an, wenn dich solches freut, wie dann meine Schiffe Fahren dahin beim Morgenrot in des Hellespontos Wogen und an den Borden die rudernden Männer sich rühren! Und, so mir glückliche Fahrt der Gestadenerschüttrer verstattet, Werd' ich am dritten Tage zur fruchtbaren Phthia gelangen. Vorher hatte er in seinem Streite mit Agamemnon ungefähr dasselbe gesagt: Jetzo fahre ich heim nach Phthia! Es frommet mir besser, Dorthin zu lenken den Kiel der stolzen Schiffe, doch du wirst, Da du mir Schande schufest, wohl schwerlich noch Schätze erraffen! Ungeachtet dieser Versicherungen vor dem versammelten Kriegsvolk und gegenüber seinen Freunden macht Achill durchaus keine Anstalten zur Abfahrt, sondern setzt sich höchst vornehm über sein Wort hinweg! Darum bat ich dich, meinen Zweifel zu beheben, wer von diesen beiden Helden in Homers Darstellung der edlere sei. Ich halte sie beide für höchst vortrefflich, und es dünkt mich schwer zu entscheiden, wem in Hinblick auf Lüge und Wahrhaftigkeit und jegliche andere Tugend der Preis gebührt. Beide dürften in jeder Beziehung ziemlich gleichwertig sein. Der weise Hippias vermag nicht einmal diese Fehldeutung zu berichtigen. 10 ) Er wendet ein: Du bist im Irrtum, Sokrates. Achilleus lügt nicht arglistig, sondern sagt gegen seinen Willen die Unwahrheit, denn zum Bleiben veranlaßt ihn erst später die Niederlage des griechischen Heeres. Dagegen lügt Odysseus vorsätzlich und aus Berechnung. -— Du willst mich täuschen, versetzt Sokrates, und bedienst dich der Künste des Odysseus! -— Durchaus nicht, wie kommst du darauf ? — Du hast gesagt, daß Achilleus nicht arglistig lüge. Aber dieser Prahler ist doch in seiner Unaufrichtigkeit und Arglist so dreist, daß er selbst den klugen Odysseus hinters Licht führt. Denn der bemerkt offenbar die Widersprüche nicht, in denen Achilleus sich ergeht. — Was meinst du damit ? — Hast du nicht beachtet, daß er dem Aias sagt, 72

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er wolle bleiben, nachdem er eben erst dem Odysseus erklärt hat, daß er absegeln werde? — Wo steht d a s ? — In den Versen: Wahrlich werd' ich nicht eher zum blutigen Streite mich stellen, E h e des waltenden Priamos Sohn, der göttliche Hektor, Bis zu den Schiffen und Zelten der Myrmidonen gelangt ist, Argos Helden erschlagend und euch die Schiffe verbrennend. Doch wird dem mutigen Recken vor meinen Schiffen und Zelten Sicherlich schwinden die Kampfesbegierde, das denk' ich! Sollte der von dem weisen Chiron erzogene Sohn der Göttin Thetis wirklich so gedankenlos gewesen sein, daß er bei diesen Worten an Aias vergessen haben könnte, was er kurz vorher dem Odysseus gesagt h a t t e ? E r muß doch wohl Odysseus f ü r einen Tölpel gehalten haben, dem er an List und Trug weit überlegen sei ? — Das scheint mir nicht, versetzt Hippias. Wenn Achilleus sich zu Aias anders äußerte als gegenüber dem Odysseus, so geschah das, weil er sich in seiner edlen Einfalt umstimmen ließ. Odysseus spricht aber immer aus Berechnung, mag er die Wahrheit sagen oder lügen. — Folglich scheint mir Odysseus besser zu sein als Achilleus. — Ganz und gar nicht, Sokrates! — F a n d e n wir denn nicht vorhin, daß die freiwillig Lügenden besser sind als die unfreiwillig Lügenden ? n ) — Aber das ist doch nicht richtig! Wie kann jemand, der absichtlich und arglistig ein Unrecht begeht, besser sein als ein Mensch, der unfreiwillig f e h l t ? Wir lassen alle Nachsicht walten, wenn jemand unwissentlich die Unwahrheit sagt oder sonst etwas Böses t u t ; auch das Gesetz bedroht die vorsätzliche T a t strenger als die ungewollte. —• Sokrates hält es f ü r rätlich, eine längere Rede vorauszuschicken, bevor er seinen Gegner durch fernere Kunstgriffe zur Anerkennung der verwegenen Paradoxie zwingt, daß der „freiwillige Lügner" besser sei als der „unfreiwillige". E r f ü h r t aus: Wie du siehst, Hippias, habe ich die Wahrheit gesagt, als ich dir bekannte, wie unersättlich in Fragen an weise Männer ich bin. Vielleicht ist das mein einziger Vorzug, im übrigen mag es um mich nicht sonderlich bestellt sein. Wie gering mein Wissen ist, wird mir jedesmal klar, wenn ich mit einem der bedeutenden Weisen zusammentreffe, deren R u h m , wie der deine, ganz Griechenland erfüllt. Dann stellt es sich heraus, daß mir fast alles anders erscheint als euch. Ist es nun nicht das sicherste Zeugnis der Unwissenheit, anders zu denken als weise M ä n n e r ? Doch r e t t e t mich meine einzige gute Gabe: ich schäme mich nicht zu lernen, sondern frage und forsche, von Herzen dankbar f ü r jede Belehrung. Ich würde mich niemals erkühnen, das Erlernte als mein geistiges

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Eigentum auszugeben, sondern verkünde stets freudig das Lob des weisen Urhebers, wenn ich eine mir erteilte Lehre weiterverbreite. Ohne Zweifel ist es meine Schuld, daß ich deinen letzten Ausspruch nicht einsehe und dir widersprechen muß. Mir scheint, daß unter denen, die Unrecht t u n , lügen und betrügen, die freiwillig Fehlenden besser sind als die unfreiwillig Handelnden. Zuweilen werde ich wohl an dieser Meinung irre, weil ich eben nichts Rechtes weiß, aber jetzt ergreift sie mich mit plötzlicher Gewalt wie ein Fieber. Ich v e r m u t e die Ursache dieses Zustandes in unseren Feststellungen, nach denen es doch den Anschein hat, als ob der unfreiwillig Handelnde niedriger stände als der freie Täter. So b i t t e ich dich: heile mir meine Seele. Wenn du mich von der Unwissenheit befreist, erweisest du mir einen größeren Dienst, als wenn du meinen Leib von einer Krankheit heiltest. Halte mir indessen keinen Vortrag; dadurch würdest du mich nicht heilen, denn ich weiß im Voraus, daß ich dir nicht folgen könnte. Erlaube mir, dich zu fragen, und antworte mir wie seither, du wirst keinen Schaden davon haben. Eudikos, der die Unterhaltung angeregt h a t t e , soll die Bitte befürworten. Dieses Ersuchen ist nicht überflüssig, denn Hippias ist begreiflicherweise mißtrauisch geworden. Unwirsch sagt er, daß Sokrates jede Untersuchung verwirre, und zwar aus Tücke. — Nein, beteuert Sokrates, das geschieht ganz unfreiwillig, denn sonst wäre ich ja scharfsinnig und weise. Vergönne deshalb auch mir die Nachsicht, auf die, wie du sagtest, der unfreiwillig Fehlende ein Anrecht hat. — Eudikos erinnert den Sophisten an seine zu Beginn des Dialoges abgegebene stolze Erklärung, daß er keiner Frage ausweiche, und so läßt Hippias sich schließlich dem Freunde zuliebe darauf ein, Sokrates noch einmal Rede zu stehen. Sokrates beginnt mit der biederen Versicherung, daß er wirklich nur auf eine sachgemäße Klärung des aufgestellten Problems ausgehe. Dann stellt er in schneller Aufeinanderfolge zunächst nur ganz kurze Fragen, um seinem Gegner keine Zeit zur Überlegung zu lassen und ihn auf irreführende Prämissen festzulegen. Er f r a g t : Nennst du zuweilen einen Läufer g u t ? — Freilich. — Auch wohl schlecht? — Ja. — Je nachdem er gut oder schlecht l ä u f t ? — Ja. — Und zwar läuft der Langsame schlecht, der Schnelle g u t ? — Ja. — Beim Wettlauf ist also Schnelligkeit gut, Langsamkeit schlecht ? — Ja natürlich. — Welcher Läufer ist nun besser, der freiwillig langsam Laufende oder der unfreiwillig Langsame ? — Der Freiwillige. — Ist das Laufen ein T u n ? — Gewiß. — Mithin auch eine Leistung ? — J a . — Der schlechte Läufer vollbringt demnach eine schlechte und häßliche Leistung ? — Das ist doch klar. — Und schlecht läuft, wer

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D e r k l e i n e H i p p i a s : K a p i t e l 16 u n d 17 langsam läuft ? — J a . — Folglich vollbringt der gute Läufer diese schlechte und häßliche Leistung freiwillig, der schlechte unfreiwillig ? — So scheint es wohl, gesteht Hippias. Ebenso umständlich weiter fragend stellt Sokrates fest, daß es sich im Ringkampf nicht anders v e r h ä l t : Der Ringer, der sich von seinem Gegner willig zu Boden werfen läßt und so mit Absicht eine schlechte Leistung zeigt, ist besser als der unfreiwillig Besiegte. — Sage mir, f r a g t Sokrates sodann, etwas weiter ausholend: Ist es ü b e r h a u p t bei allen Leibesübungen nicht so, daß der körperlich Bessere kraftvoll und schwächlich aufzutreten und damit beides zu leisten vermag, das Häßliche und das Schöne ? W e n n ein solcher mit schlechten körperlichen Leistungen aufwartet, so t u t er das doch freiwillig, der Schlechtere aber unfreiwillig ? — Mit der K ö r p e r k r a f t scheint es sich so zu verhalten. —- Und mit der edlen H a l t u n g nicht a u c h ? Werden nicht unschöne Bewegungen eines vorzüglichen Körpers freiwillig, die eines gemeinen Körpers dagegen unfreiwillig stattfinden ? — So ist es. — Dann werden wir die freiwillig unschickliche H a l t u n g dem vortrefflichen, die unfreiwillig unschickliche dagegen dem gemeinen Körper zuerkennen. — E s scheint so. — W a s sagst du von der Stimme ? Ist sie besser, wenn sie freiwillig falsch singt, oder wenn das unfreiwillig geschieht ? — Freiwillig ist besser. — Also ist die unfreiwillig fehlende übler ? — Ja. — Möchtest du n u n lieber das Gute oder das Schlechte h a b e n ? — Das Gute! — Dann würdest du Füße, die freiwillig hinken, lieber haben wollen als unfreiwillig hinkende ? — Gewiß. -— Hinkende F ü ß e sind doch übel und mißgestaltet ? — Ja. — Nachdem Sokrates noch festgestellt hat, daß Augen, mit denen man unfreiwillig schlecht sieht, minder wünschenswert sind als die, mit denen man freiwillig ungenau ausschaut, f a ß t er die letzten Ergebnisse in der Frage zusammen: Es gilt also für Ohren, Nase, Mund und alle Sinneswerkzeuge übereinstimmend, daß wir die freiwillig Schlechtes leistenden Organe den unfreiwillig versagenden vorziehen, weil jene gut, diese minderwertig sind ? — Das scheint mir auch, bestätigt Hippias. Die nächste Frage l a u t e t : Mit welchen Geräten würdest du lieber umgehen: werden es die sein, mit denen m a n freiwillig schlecht arbeitet, oder solche, mit denen man unfreiwillig schlechte Leistungen zustande bringt ? Ist zum Beispiel ein Ruder besser, mit dem man freiwillig schlecht steuert, oder das, mit dem die Fehler unfreiwillig geschehen ? — Selbst diese einfältige Frage läßt sich der offenbar schon ganz in Verwirrung geratene Hippias gefallen; und die nächste, ob dasselbe f ü r alle anderen Instrumente, wie Bogen, Flöte, Lyra gelte, b e j a h t er ebenfalls geduldig. Daraufhin kann es Sokrates wagen,

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auch die Seele in sein Spiel einzubeziehen. In einem k ü h n e n Übergang fragt er: Möchtest du ein Pferd mit einer solchen Seele besitzen, daß du freiwillig schlecht reiten kannst, oder wäre dir eine Pferdeseele lieber, mit der du unfreiwillig schlecht auskommst ? Jene ist doch wohl die bessere ? •— Ja. — Denn man k a n n mit der besseren Pferdeseele schlechte Leistungen freiwillig vollziehen, während dies mit der schlechten Pferdeseele unfreiwillig geschieht ? — Allerdings. — Und dasselbe gilt für die Seele der H u n d e und der anderen Lebewesen ? — Ja. — Ist nicht d a r u m eine Bogenschützenseele vorzuziehen, die freiwillig vorbeischießt, a n s t a t t derer, die unfreiwillig f e h l t ? Denn jene ist doch in der Schießkunst besser? — J a . — A l s o i s t e i n e S e e l e , d i e u n f r e i w i l l i g f e h l t , s c h l e c h t e r a l s d i e f r e i w i l l i g f e h l e n d e ? — Beim Bogenschießen ja, a n t w o r t e t Hippias. Doch gelingt es ihm nicht, sich durch diese Einschränkung zu retten, denn Sokrates läßt sich sein Opfer nicht mehr entschlüpfen. Eiligst fragt er weiter: Verhält es sich etwa in der Heilkunst anders ? Ist nicht die Seele, die in der Behandlung eines K r a n k e n freiwillig Schlechtes leistet, kundiger ? — Ja. — Sie ist also in dieser Kunst die bessere ? — Gewiß. — Gewahren wir dasselbe nicht auch in der Musik und ü b e r h a u p t in allen Wissenschaften und Künsten ? Leistet nicht überall die bessere Seele das Schlechte, Häßliche, Fehlerhafte freiwillig, die gemeinere dagegen unfreiwillig? — Es scheint so. — W ü r d e n wir Sklavenseelen vorziehen, die freiwillig fehlen und Übles anrichten, oder solche, die das unfreiwillig tun ? Jene sind doch besser zu gebrauchen ? — J a . — Darauf setzt Sokrates seinen Gegner mit dem nächsten Zuge m a t t : Auch wir möchten doch eine möglichst gute Seele haben ? Und die Seele, die freiwillig Böses t u t , wird besser sein als die unfreiwillig fehlende ? — Das wäre ja arg, Sokrates, wenn die freiwilligen Frevler besser sein sollten als die unfreiwilligen! — Indessen, mein lieber Hippias, scheint es sich nach dem Ergebnis unserer Untersuchung nicht anders zu verhalten. — Mir aber scheint das nicht so! — Wirklich nicht ? Ich glaubte, daß du damit einverstanden seiest. Antworte mir dann weiter: Ist nicht die Gerechtigkeit entweder ein Vermögen (SOvanis) oder ein Wissen oder beides ? Eines davon muß die Gerechtigkeit doch notwendig sein ? — Ja. — W e n n sie ein Vermögen ist, so m ü ß t e hiernach jede Seele um so gerechter sein, je mehr sie v e r m a g ? Denn wir fanden, daß eine solche die bessere ist. — Das ist richtig. — Ist sie aber ein Wissen, so wird die weisere Seele die gerechtere, die unwissende Seele die ungerechtere sein ? — J a . — Und wenn sie beides ist, so wäre die Seele, die beides, Wissen und Vermögen, besitzt, die gerechtere, dagegen die unwissendere (und unvermögendere) 1 2 ) die ungerechtere ? Muß es nicht notwendig so sein ?•—Vermutlich.—

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Der große H i p p i a s : K a p i t e l 1 Folglich müßte diese vermögendere und weisere Seele, die wir als die bessere befanden, doch wohl vermögender sein, in jeglicher Betätigung beides zu schaffen, das Schöne und das Häßliche ? — Ja. — Falls sie nun etwa Häßliches wirkt, so leistet sie das offenbar freiwillig vermittelst ihres Vermögens und ihrer Kenntnisse. Eines hiervon oder beides zusammen fanden wir aber in der Gerechtigkeit ? — So schien es. — Und Unrecht tun heißt man Schlechtes t u n ; sich des Unrechts zu enthalten ist dagegen schön? — Ja. — Folglich wird die vermögendere und bessere Seele, falls sie Unrecht tut, dieses freiwillig begehen, die schlechte dagegen unfreiwillig ? — Anscheinend ja. — Der gute Mensch hat doch eine gute Seele, der schlechte Mensch eine schlechte ? — Ja. — So ist es der gute Mensch, der freiwillig Unrecht tut, während der böse unfreiwillig frevelt, sofern der gute Mensch eine gute Seele hat ? — Die hat er natürlich. — Folglich ist der Mensch, welcher freiwillig fehlt und freiwillig Häßliches und Ungerechtes tut, einzig der gute, mein lieber Hippias, gesetzt, daß es einen solchen Menschen überhaupt gibt. 13 ) — Das kann ich dir nicht zugeben, Sokrates! — Ich mir auch nicht. Aber aus unserer Beweisführung ergab sich das zwingend, einstweilen wenigstens. Doch erwähnte ich ja schon, daß ich hier beständig schwanke und niemals bei derselben Ansicht verharre. Wenn ich wie alle Unbelehrten in die Irre gehe, so ist das nicht weiter zu verwundern. Schlimm ist es aber, daß ihr weisen Männer ebenso unsicher seid und wir deshalb auch bei euch keinen Rat finden! — Darauf weiß Hippias nichts zu erwidern.

DER GROSSE HIPPIAS

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n diesem Dialoge treten Sokrates und Hippias allein auf. Sokrates begrüßt den Sophisten so herzlich wie einen alten Freund: Siehe da, Hippias der Schöne und Weise! So bist du endlich einmal wieder zu uns nach Athen gekommen! — Ich hatte keine Zeit, Sokrates, erwidert Hippias. Sooft mein Elis eines tüchtigen Gesandten bedarf, fällt die Wahl stets auf mich. Ich hatte in den letzten Jahren zahlreiche Staatsaufträge in mehreren Städten zu besorgen, besonders in Sparta, wo ich die meisten und schwierigsten Verhandlungen zu führen hatte. Deshalb war mir ein Besuch Athens nicht möglich. — Wahrlich, versichert Sokrates mit erheuchelter Bewunderung, das heißt ein Weiser und ein vollkommener Mensch sein! Du verstehst dich nicht nur darauf, von jungen Schülern hohe Honorare einzuziehen und sie mit noch wert-

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Der große H i p p i a s : K a p i t e l 1 bis 6 volleren Unterweisungen zu vergelten 1 ), sondern leistest deiner Vaterstadt auch als S t a a t s m a n n die rühmlichsten Dienste. Aber sage mir doch: w a r u m haben sich wohl die alten Weisen, von Thaies bis zum Anaxagoras, so ganz der Politik ferngehalten ? — Sie waren dazu nicht fähig, ihre Begabung reichte nicht aus, um außer ihren Studien auch noch Staatsgeschäfte zu betreiben. — So h ä t t e n wir also in der Philosophie denselben Fortschritt zu verzeichnen, den wir in allen Künsten gewahren. Wie die alten Meister im Vergleich mit denen von heute Anfänger sind, so sind die alten Weisen nichts gegen euch Sophisten. Bias würde sich wohl ebenso lächerlich ausnehmen wie, nach der Meinung unserer Bildhauer, Daedalos, wenn die beiden in unserer Zeit mit ihren Werken hervorträten ? 2 ) — Das ist durchaus richtig. Indessen pflege ich meine Vorgänger mehr zu loben als meine Zeitgenossen. Ich scheue zwar den Neid der Lebenden, doch fürchte ich den Zorn der Toten noch mehr. 3 ) Der boshafte Sokrates reizt den Sophisten daraufhin durch eine lebhafte Schilderung der großen Erfolge, die Gorgias, Prodikos, Protagoras in Athen erzielt h a t t e n . Die, bemerkt er, verstanden sich besser auf ihr Geschäft als die einfältigen Alten in ihrer Blindheit gegen den Wert des Geldes! — Unmutig bedeutet ihn Hippias: Von schönen Erfolgen kennst du noch gar nichts. Staunen würdest du, wenn du wüßtest, wieviel Geld ich verdient habe. Als ich in Sizilien a u f t r a t , habe ich die Erfolge, die Protagoras dort vor mir gehabt hatte, weitaus überboten. In kurzer Zeit waren mehr als 150 Minen beisammen, und selbst eine armselige Kleinstadt t r u g mir über 20 Minen ein. 4 ) Als ich meinem Vater das Geld brachte, waren er und meine Landsleute außer sich vor Erstaunen. Ich glaube wohl, daß ich allein mehr eingenommen habe als zwei beliebige Sophisten zusammen. — Sokrates äußert dazu mit fast offenem H o h n : Daran erkenne ich nicht allein deine Weisheit, sondern auch den gewaltigen Fortschritt unserer Zeit. Wie töricht d ü n k t uns doch jetzt dieser Anaxagoras, der sich in seiner W e l t f r e m d h e i t nicht einmal sein reiches E r b g u t zu erhalten wußte! So unweise ging er mit seiner Weisheit u m ! Auch von anderen alten Denkern erzählt m a n ähnliche Dinge, aber du erkanntest, daß der Weise zu allererst f ü r sich selbst weise sein m u ß . Weise sein heißt heute Geld verdienen, soviel wie nur möglich! Nun erzähle mir noch, wo du das meiste Geld eingenommen hast. Ohne Zweifel in S p a r t a ? Denn dorthin kämest du ja am häufigsten. — Nein, beim Zeus, dort ganz und gar nicht. — Wie ? hast du da gar die geringsten E i n n a h m e n gehabt ? — Ach nein, ü b e r h a u p t keine! — Die Ursachen dieses bedauerlichen Mißerfolges setzt Hippias dem teilnehmen-

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Der große H i p p i a s : K a p i t e l 6 und 7 den Freunde, der ihn mit einer Flut neugieriger Fragen überschüttet, eingehend auseinander. Die Spartaner waren ihm zu konservativ. Sie hatten ihn zwar als Gesandten eines befreundeten Staates ehrenvoll aufgenommen, auch seine Vorlesungen aufmerksam angehört und höflich belobt, doch hatten sie ihm ihre Söhne nicht anvertraut. In dem zähen Festhalten an ihren bewährten Erziehungsgrundsätzen behüteten sie offenbar die Jugend sehr sorgfältig vor der Ansteckung durch sophistische Lehren. Mit gut gespielter Entrüstung fragt Sokrates, wie es denn möglich sei, daß das wegen seiner guten Gesetze hochgepriesene Sparta seiner Jugend die Segnungen einer modernen Bildung vorenthalte ? Doch nimmt Hippias die Spartaner in Schutz: Das Gesetz schreibe ihnen nun einmal die vaterländische Erziehung vor, und daran sei nichts zu ändern. Dagegen demonstriert Sokrates im lebhaften Gcspräch, daß dies ein höchst schädliches, fortschrittsfeindliches Gesetz sei, das mit den höheren Geboten und Zwecken einer jeden Gesetzgebung im Widerspruch stehe und deshalb überhaupt kein Gesetz, sondern eine Gesetzwidrigkeit wäre. 5 ) Hippias hat gegen diese Ansichten nichts einzuwenden. Auf weitere Fragen, was denn eigentlich den Spartanern an seinen Lehren gefallen habe, muß er eingestehen, daß er ihnen weder seine Astronomie und Mathematik, noch seine Grammatik und Musiktheorie vortragen durfte; sie seien so ungebildet, daß viele von ihnen nicht einmal rechnen könnten. Nur seine Vorträge über mythische Genealogien, Städtegründungen und Archäologie hätten sie gern angehört. 6 ) — Dann sei froh, bemerkt Sokrates, daß sie von dir nicht die Namen der athenischen Archonten von Solon bis auf die Gegenwart verlangt haben! — Auch das würde mir keine Schwierigkeiten machen, behauptet Hippias, wenn ich 50 Namen hintereinander einmal gehört habe, kann ich sie dir alle aus dem Kopfe hersagen. — Ganz recht! Ich vergaß, daß du auch Meister in der Gedächtniskunst bist. Jetzt verstehe ich, welche Freude die Spartaner an der Fülle deines Wissens gefunden haben. Sie ließen sich von dir Märchen erzählen, wie sie die Kinder gern von alten Frauen hören. — Ohne auf diese anzügliche Bemerkung einzugehen, erzählt Hippias weiter: Für Athen habe ich noch etwas Besseres in Bereitschaft. Ich hielt neulich einen sehr schönen Vortrag über die schönsten Lebensziele des Jünglings. Darin lasse ich den jungen Neoptolemos nach Trojas Zerstörung den greisen Nestor fragen, was ein Jüngling zu tun habe, um den höchsten Ruhm zu gewinnen, und Nestor gibt ihm darauf die allerschönsten Lehren. Das, und auch sonst noch manches Bedeutende, gedenke ich hier übermorgen im Hörsaal des Phaedostratos vorzutragen, Eudikos bat mich darum. Lasse dir

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Der große H i p p i a s : K a p i t e l 7 bis 9 den Vortrag nicht entgehen und bringe auch andere mit, die einen geistvollen Vortrag zu schätzen wissen. 7 ) Das soll, wenn Gott will, geschehen, verspricht Sokrates. Doch verstatte mir jetzt noch eine einfache Frage: es hat sich schön getroffen, daß deine Worte mich an eine Verlegenheit gemahnten, in die ich neulich geriet. Als ich in einem Gespräche einiges als häßlich, anderes als schön bezeichnete, fragte mich jemand spöttisch: „Woher stammt denn dein Wissen vom Schönen und Häßlichen? Kannst du mir erklären, was d a s S c h ö n e i s t ? " Da verstummte ich, denn in meiner Beschränktheit wußte ich darauf nichts zu erwidern. Ärgerlich ging ich fort, schalt mich tüchtig aus und schwur, mich von dem ersten weisen Manne, den ich träfe, belehren zu lassen, auf daß ich meinem Widersacher mit besserem Rüstzeug gegenübertreten könnte. So ist es schön, daß ich dich hier treffe. Du mußt mir nun das Schöne genau erklären, damit ich besser Bescheid weiß und mich nicht noch einmal lächerlich mache. Dich wird das wenig mühen, denn das, wonach ich frage, ist ja nur ein winziger Teil deines umfassenden Wissens! — Gewiß, bestätigt Hippias, nur eine Kleinigkeit, gar nicht der Rede wert! — Das ist vortrefflich, und so werden wir mit dem Manne schon fertig werden. Erlaube mir jedoch, mich an dessen Stelle zu setzen und dir einige Fragen vorzulegen, denn daraus werde ich das Nötige am sichersten erlernen. Einwendungen zu machen verstehe ich ganz gut. — Frage, soviel du willst. Diese Sache ist, wie gesagt, höchst einfach, es gibt sehr viel schwierigere Dinge, über die ich dich nicht minder gründlich belehren könnte, so daß du von niemandem eine Widerlegung zu besorgen hättest. — Sokrates beginnt: Wenn jener Mensch deinen Vortrag über schöne Bestrebungen angehört hätte, so würde er dich nach seiner Gewohnheit zu allererst nach d e m S c h ö n e n fragen, etwa in der Art: Sind die Gerechten vermöge der Gerechtigkeit gerecht? Hippias bejaht die Frage, ebenso die folgenden: Also i s t die Gerechtigkeit doch etwas? Sind ferner die Weisen vermöge der Weisheit weise und alle guten Dinge vermöge des Guten gut ? Und zwar darum, weil die Weisheit und das Gute etwas sind ? Denn sonst könnte das nicht der Fall sein. Demnach wäre auch alles Schöne vermöge des Schönen schön? Und auch dieses würde etwas sein? Dann sage mir: was ist dieses Schöne ? — Das versetzt den Sophisten sichtlich in Verlegenheit. Unsicher fragt er: Nicht wahr, Sokrates, der Mann wünscht zu wissen, was schön ist ? — Wohl kaum, sondern was d a s S c h ö n e ist. Siehst du darin keinen Unterschied ? — Nein, es ist dasselbe. Nun, du mußt das ja wissen. Doch beantworte ihm die Frage so, wie er sie stellt! — Gut, dann werde ich ihm darauf eine

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D e r g r o ß e H i p p i a s : K a p i t e l 9 b i s 11 Antwort geben, die er nicht widerlegen kann: Ein schönes Mädchen ist etwas Schönes! 8 ) — Das war schön und sinnig gesagt! Ich werde also keinen Verweis zu befürchten haben, wenn ich mir diesen Ausspruch zu eigen mache ? — Warum denn, Sokrates ? Jedermann wird dir zustimmen! — Mag sein. Doch jener wird mich fragen: was ist denn das Schöne selbst, vermöge dessen alle Dinge, die du schön nennst, schön sind ? Darauf müßte ich antworten: Wenn ein schönes Mädchen etwas Schönes ist, so ist es eben das, wodurch die Dinge schön sind. — Wird er versuchen, Sokrates, das zu widerlegen ? Und würde er sich damit nicht lächerlich machen ? — Versuchen wird er es ganz sicher, aber ob sich er damit lächerlich machen würde, steht noch dahin. Ich will dir sagen, was er mir vorhalten wird: ,,Du bist naiv, Sokrates! Ist denn nicht auch eine schöne Stute etwas Schönes, was sogar ein göttlicher Spruch bezeugt ?" Das, Hippias, werden wir wohl zugeben müssen, denn wir werden nicht leugnen können, daß das Schöne schön ist. — Du hast recht, Sokrates, und der Gott hat recht, auch wir züchten daheim sehr schöne Stuten. — Darauf wird er fragen: „Ist nicht ferner eine schöne Lyra etwas Schönes ?" — Ja. — Und dann kommt ganz sicher die Frage, ob nicht auch ein schöner Topf etwas Schönes sei ? — Wer ist denn eigentlich dieser Mensch, der in eine ernste Betrachtung solche gemeine Dinge hineinzubringen wagt ? — Nun, er ist nicht gerade geistreich, sondern ein gewöhnlicher Mensch, der nichts als die Wahrheit sucht. Aber wir werden ihm eine Antwort geben müssen: am Ende kann doch selbst ein Topf ganz schön sein, wenn er von einem tüchtigen Meister nach den Regeln der Kunst wohl geformt und sorgsam gebrannt ist ? — Das mag sein, aber ein Topf ist doch nicht wert, in der Art schön genannt zu werden, wie wir von einem schönen Mädchen oder einer schönen Stute reden! — Dann dürfen wir wohl unsern Mann auf den Ausspruch Heraklits verweisen, daß der schönste Affe im Vergleich mit dem Menschen häßlich sei; und demgemäß lehre der weise Hippias, der schönste Topf sei häßlich gegenüber dem Geschlechte der Mädchen ? — Ganz recht. — Vernimm denn, was unser Widersacher dazu sagen wird: „Wenn ihr das Geschlecht der Mädchen dem Göttergeschlecht gegenüberstellt, wird sich dasselbe herausstellen: die schönste Jungfrau wird häßlich erscheinen. Dem entspricht ein zweiter Ausspruch Heraklits, daß der weiseste Mensch sich gegenüber einem Gotte in seiner Weisheit, Schönheit und allem andern wie ein Affe ausnehmen würde." Wollen wir ihm das einräumen, Hippias ? — Gewiß. — Aber dann wird er mich auslachen: „Entsinnst du dich noch, Sokrates, wonach du gefragt wurdest ?" „Freilich, ich sollte angeben, was 6

V e r i n g , Piatons Dialoge 3

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Kapitel

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das Schöne selbst (an sich) ist." „ U n d da nennst du mir Dinge, die nach deinem eigenen Zugeständnis ebensowohl häßlich wie schön sein können ?" — Der Mann hat ganz recht, bemerkt Hippias gleichmütig, im Vergleich mit den Göttern ist das Menschengeschlecht allerdings nicht schön. — Doch wird er mir klarmachen: „ W e n n ich gefragt hätte, was schön und zugleich auch häßlich ist, so wäre deine Antwort richtig gewesen. Aber ich fragte nach dem Schönen selbst, das allen Dingen Schönheit und Glanz verleiht, wenn seine Gestalt (Eidos) zu ihnen hinzutritt. Und du redest mir von Mädchen und Pferden ?" — Ja, erklärt Hippias, wenn es das ist, was dieser einfältige Mensch sucht, dann ist die Antwort ganz leicht zu finden! Von schönen Sachen versteht er offenbar gar nichts. Sage ihm n u r : Dieses Schöne, das allen Dingen Glanz verleiht und sie in Schönheit erstrahlen läßt, wenn es zu ihnen hinzutritt, ist kein anderes als das Gold! Dann wird ihm schon die Lust vergehen, mit dir zu streiten, denn jedermann weiß doch, wie schön sich alles ausnimmt, zu dem sich das Gold gesellt, mag es vorher auch noch so häßlich gewesen sein. 9 ) Sokrates versetzt: Mit der Erklärung wird sich dieser schreckliche Mensch nicht begnügen, sondern mich außerdem noch verhöhnen. Er wird einwenden: „ W a r u m hat der berühmte Phidias denn wohl die Augen, das Antlitz und die Füße des Standbildes der Athene in Elfenbein dargestellt anstatt in Gold ?10) In Gold h ä t t e das doch viel schöner ausfallen müssen ? H a t er nicht gewußt, daß das Gold alle Dinge schön macht ?" — Nun, meint Hippias, wir werden sagen, daß auch das Elfenbein schön ist. — Aber das Auge der Göttin hat der Künstler nicht ganz aus Elfenbein gebildet, sondern in dessen Mitte einen edlen Stein eingesetzt, dessen Wirkung zum Elfenbein stimmte. Oder gilt dir ein schöner Stein nicht als schön ? — Doch, wenn er schicklich ist. — Und wenn er unschicklich ist, würde er häßlich sein ? — Das kannst du dem Manne einräumen. — Daraus wird er folgern: „ D u siehst, mein Weiser, Elfenbein und Gold machen die Dinge nur schön, wo sie schicklich sind, am unschicklichen Ort wirken sie dagegen unschön." Wollen wir das einräumen ? — Soviel werden wir zugestehen, daß das Schickliche überall seinen Gegenstand schön macht. — Dann wird er fragen: „Schickt sich denn zu unserm schönen Topfe, wenn ein schöner Brei darin kocht, ein goldener Rührlöffel oder ein Löffel aus Feigenholz ?" Jetzt wird Hippias ernstlich böse: Dieser Mensch ist ja ein Flegel! Willst du mir nicht seinen Namen sagen ? — Du würdest ihn nicht kennen, erwidert Sokrates ausweichend. Doch läßt er sich nicht hindern, dem Erzürnten ausführlich klarzumachen, daß der Holzlöffel im besagten Falle schicklicher sein

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würde. Er verleiht dem Brei einen würzigen Geschmack und gefährdet den Topf nicht, den ein goldener Löffel vielleicht zertrümmern würde, so daß der treffliche Brei ins Feuer flösse und die Hungernden ungesättigt ließe. — Nun ja, der Holzlöflei mag schicklicher sein, versetzt Hippias, aber mit einem Menschen, der solches Zeug schwätzt, würde ich mich nicht einlassen! — Daran tust du recht, mein Freund. Zu deiner schönen Kleidung, deinem feinen Schuhwerk und deiner in ganz Hellas gepriesenen Weisheit würde sich ein solcher Umgang nicht schicken. Zu mir paßt er schon besser. Sage mir indessen: muß ich eingestehen, daß der Holzlöffel, der sich als schicklicher erwiesen hat, ebendarum auch schöner ist als der goldene ? — In dieser Bedrängnis redet der Sophist freundlicher: Soll ich dir, lieber Sokrates, eine Erklärung des Schönen geben, die dich mit einem Schlage über alles lästige Gerede hinwegsetzen würde ? — Aber gewiß, doch beantworte mir zuerst meine letzte Frage. — Sage jenem, wenn du willst, daß der Holzlöffel schöner sei. — Also ist Gold durchaus nicht schöner als Feigenholz. Nun gib mir deine neue Erklärung! — Wie mir scheint, fragt Hippias, suchst du zur Erklärung des Schönen nach dem, was unter keinen Umständen irgendwem und irgendwo häßlich erscheinen kann ? — So ist es, Hippias, diesmal hast du mich vortrefflich verstanden. — Höre denn: Das Schönste ist jedem Manne au aller Zeit und an allen Orten, reich, gesund, von den Hellenen geehrt, «in hohes Alter zu erreichen und nach schöner Bestattung der Eltern selbst eine schöne und prächtige Beisetzung durch seine Nachkommen zu erhalten. — Sokrates jubelt: 0 , wie prächtig und so ganz deiner würdig ist dieser Ausspruch! Wie soll ich dir danken, daß du dich so um mich bemühst! Aber leider werden wir unserm schlimmen Gegner damit nicht beikommen, er wird noch ärger lachen als zuvor. Außerdem wird er mich prügeln, wenn er gerade einen Stock zur Hand hat und ich nicht davonlaufe. Und das mit Recht! fügt Sokrates auf mehrere entrüstete Zwischenbemerkungen des Hippias hinzu; dann gibt er ihm folgende Aufklärung: Erlaube mir, jenen Mann auch weiterhin auftreten zu lassen, damit die bösen Worte, die er mir zu sagen hat, nicht dich treffen. Mich würde er etwa so anfahren: „Glaubst du vielleicht, keine Prügel zu verdienen, wenn du einen solchen Dithyrambus anstimmst und so abscheulich an meiner Frage vorbeisingst ? Kannst du dir nicht merken, daß ich nach dem an sich Schönen frage, das durch sein Hinzutreten alle Gegenstände schön macht, mögen es Steine oder Hölzer, Menschen oder Götter, Taten oder Kenntnisse sein ? Und das kann ich dir nicht begreiflich machen, gerade als ob an deiner Stelle ein Klotz ohne Ohr und Hirn d a l ä g e ? " 6*

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D e r g r o ß e H i p p i a s K a p i t e l 15 b i s 17 Würdest du böse sein, wenn ich schüchtern sagte: Aber so hat mich Hippias belehrt, und ich habe ihn nicht anders befragt als du mich! — Ich weiß ganz bestimmt, versetzt Hippias unwirsch, daß das von mir Angegebene schön für alle ist und auch künftig allen schön erscheinen wird! — Wird es denn auch in aller Zukunft so sein ? wird jener wissen wollen, denn das Schöne muß doch immer schön sein? — Gewiß. — Also auch immer schön g e w e s e n s e i n ? — Auch das. — Darauf führt Sokrates namens des Unbekannten dem Hippias zu Gemüte, daß das, was er schön nenne, nicht zu allen Zeiten „für alle" schön sei, nämlich nicht für Götter und Göttersöhne. Sei es nicht geradezu eine Lästerung, von den Göttern zu behaupten, daß es ihnen schön sei, begraben zu werden ? Und darum könne man wohl auch von den Göttersöhnen nicht sagen, es sei schön für sie, ihre Väter zu bestatten ? So gesucht albern die Fragen sind, so wenig weiß sich Hippias ihrer zu erwehren. Sokrates schließt: es werde ihm also vorgehalten werden, daß er mit dieser Erklärung ebensowenig Glück gehabt habe wie vorhin mit dem Mädchen und dem Topfe, vielmehr sei das Ergebnis noch komischer ausgefallen. Er habe abermals etwas als unbedingt schön bezeichnet, das unter Umständen als unschön gelten müsse. So sei er auch jetzt nicht fähig, die Frage nach dem Wesen des Schönen zu beantworten. Hippias schweigt und bekundet damit, daß er am Ende seiner Weisheit angelangt ist. Indessen beliebt es dem Sokrates, sein Spiel noch fortzusetzen. Bis hierhin hatte er gezeigt, daß der Sophist ihm keine Erklärung des Schönen geben könne, jetzt (in dem zweiten Hauptteil des Dialoges) wird er ihm beweisen, daß er ebenso unfähig ist, gegebene Erklärungen kritisch zu beurteilen. Sokrates erzählt: So schnöde behandelt dieser Mensch mich fast immer, doch scheint er zuweilen etwas Mitleid mit meiner mangelhaften Bildung zu haben und gibt mir dann wohl einmal einen guten Wink. Vielleicht würde er jetzt sagen: „Mit solchen Antworten, mein guter Sokrates, mußt du mich verschonen, denn die sind gar zu einfältig und harmlos. Überlege dir lieber, ob das Schöne etwa in dem zu finden sein möchte, dessen du vorhin schon gedachtest: dem S c h i c k l i c h e n ?" Auf solche Anregungen pflege ich bereitwilligst einzugehen, weil ich selbst nichts Gescheites weiß. Was hältst du davon ? Scheint dir das Schickliche schön zu sein ? — Ohne Zweifel, Sokrates. — Aber wir wollen doch recht vorsichtig sein. — Ja natürlich. — Sehen wir also zu, welche Bewandtnis es mit dem Schicklichen hat. Ist es das, was durch sein Hinzutreten die Dinge schön e r s c h e i n e n läßt, oder das, was sie

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D e r g r o ß e H i p p i a s : K a p i t e l 17 b i s 19 schön s e i n läßt? Oder trifft keines von beiden zu? — Ich meine, äußert Hippias zögernd, — daß es die Dinge schön erscheinen l ä ß t ? ergänzt Sokrates. Wie zum Beispiel eine schickliche Tracht auch einen häßlichen Menschen verschönert ? Aber dann wäre das Schickliche ein Trug, es würde uns über das Schöne täuschen und könnte also nicht das sein, was wir suchen. Denn wir forschen doch nach dem, vermöge dessen alle Dinge schön s i n d . Es muß sich hier ebenso verhalten wie mit dem, vermöge dessen die Dinge groß sind, dem Überragenden. Das macht ein jegliches groß, wenn es auch nicht so zu sein scheint. Dem entspräche das Schickliche aber nicht, wenn es, wie du meinst, die Dinge nur schöner erscheinen läßt. —• Nein, Sokrates, das Schickliche bewirkt durch seine Gegenwart, daß die Dinge schön sind und auch schön erscheinen. — So müßte also das wirklich Schöne auch immer schön zu sein scheinen, wenn das vorhanden ist, was ihm den Schein verleiht ? - Allerdings. — Demnach, fährt Sokrates fort, müßte alles, was an gesetzlichen Einrichtungen und menschlichen Bestrebungen wirklich schön ist, auch allen Menschen schön zu sein scheinen. Sehen wir nicht aber, daß die Menschen darüber aufs heftigste streiten und das Rechte verkennen ? — Ja, sie verkennen es. — Und das wäre doch nicht möglich, wenn Wirklichkeit und Schein Hand in Hand gingen ? Ich halte es überhaupt für ausgeschlossen, daß Schein und Wirklichkeit gleichermaßen durch eines und dasselbe hervorgerufen werden können; das ist weder im Schönen der Fall, noch sonst irgendwo. Darum müssen wir uns entscheiden, ob das Schickliche das schöne Sein oder den schönen Schein begründet. — Dann würde ich sagen: den schönen Schein. — Doch damit ist uns leider die Erkenntnis des Schönen davongeflogen, denn das Schickliche wäre dann ein anderes als das wirklich Schöne! — Ja, beim Zeus, ich sehe das zu meiner Verwunderung. — Dennoch wollen wir den Mut nicht sinken lassen, wir kommen wohl noch auf das Richtige. — Freilich, Sokrates, das ist auch gar nicht so schwer. Ich werde es schon finden, wenn ich allein bin und ein klein wenig darüber nachdenke. — Sei nicht so stolz, Hippias, du siehst doch, welche Not uns das Schöne macht! Reize es nicht noch mehr, sonst möchte es uns ganz und gar davonlaufen. Aber verzeihe! Ich glaube dir gern, daß du es finden wirst, wenn du allein bist, doch beschwöre ich dich: finde es hier und jetzt, oder suche es mit mir! Wenn wir Erfolg haben, werde ich dich ganz gewiß nicht mit Fragen behelligen, was du in einsamen Stunden entdeckt hast. Erlaube mir, dir eine neue Erklärung vorzulegen, aber passe gut auf, daß ich nicht wieder etwas Verkehrtes sage: Schön soll uns sein, was z w e c k -

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D e r g r o ß e H i p p i a s : K a p i t e l 19 b i s 21 m ä ß i g ist. 1 1 ) Auf diesen Einfall brachte mich folgendes. Schön nennen wir ein Auge, wenn es zum Sehen vermögend und zweckmäßig ist. Nicht wahr ? — J a . — So nennen wir auch einen Körper schön, sei es zum Laufe oder zum Ringkampf, und in demselben Sinne reden wir von einem schönen Pferde, einem schönen Hahn, einer schönen Wachtel, 1 2 ) von schönen Geräten, Fahrzeugen und Werkzeugen aller Art, ferner von schönen Gesetzen und Betätigungen und dergleichen mehr. Überall achten wir auf die naturgemäße Gestaltung des Gegenstandes; wir erwägen, wodurch, wozu und wann er zweckmäßig ist, und nennen alsdann das Zweckmäßige schön, das Unzweckmäßige häßlich. Bist du damit einverstanden ? — Jawohl. — Nun ist doch alles, was vermögend ist etwas zu leisten, insofern auch zweckmäßig, das Unvermögende dagegen unzweckmäßig? — Gewiß. — Also ist das Unvermögen häßlich, das Vermögen schön ? — Das ist sehr richtig. Besonders deutlich sehen wir es in der Politik: Macht im Staate zu besitzen ist das Schönste von allem, Unvermögen das Häßlichste! — Vortreffllich! Ist etwa aus d i e s e m Grunde die Weisheit das Allerschönste, die Torheit das Allerhäßlichste ? •— Daran zweifelst du, Sokrates ? — Auf dieses schöne Bekenntnis läßt Sokrates die Widerlegung der aufgestellten These folgen. Sie ist sehr gesucht und im Grunde recht dürftig, doch scheint sie dem Sokrates für diesen Sophisten gut genug zu sein. Ihr Gedankengang ist: Niemand kann etwas ausrichten, wenn ihm zu seinem Vorhaben das Wissen und das Vermögen fehlt. Nun begehen die Menschen von Jugend auf viel mehr Böses als Gutes, s i e f e h l e n u n f r e i w i l l i g . Auch hierzu müssen sie ein Vermögen besitzen. 1 3 ) Dürfen wir aber das Vermögen, Böses zu tun, und das Zweckmäßige, das schlechten Zwecken dient, schön nennen ? — Hippias durchschaut den Trug nicht, er erkennt an, daß das Zweckmäßige und Vermögende nicht das Schöne sei, weil das Schöne nur Gutes zu wirken vermöge. — Jedenfalls, stellt Sokrates fest, ist die Annahme, das Vermögende und Zweckmäßige sei schlechthin schön, uns zerflattert. Aber wir wollten doch wohl eigentlich sagen: das Schöne ist das Zweckmäßige und Vermögende zu guten Werken. Dieses Vermögen gilt uns als nützlich ? — J a . — Und wir reden in diesem Sinne von schönen Leibern, schönen Bräuchen und preisen die Weisheit nebst vielem andern als schön, weil alles das uns nützlich ist ? — Offenbar. — Das Nützliche wäre folglich das Schöne. Ist es so, Hippias ? — Ohne Zweifel. 14 ) — Mit der Folgerung: das N ü t z l i c h e bewirkt das G u t e , demnach ist es die Ursache des Guten, ist Hippias ebenfalls einverstanden. Darauf gründet Sokrates die Widerlegung. Höchst umständlich macht er

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dem Hippias klar, daß die Ursache von ihrer W i r k u n g verschieden, das Wirk e n d e stets ein anderes ist als das Bewirkte. Daraus folgert er: W e n n also d a s S c h ö n e die Ursache des Guten ist, so sind beide verschieden, mithin ist weder das Gute schön, noch das Schöne g u t ! Dieses Ergebnis behagt dem Hippias zwar wenig — mir auch nicht, f ü g t Sokrates höhnisch hinzu —, aber den Trugschluß erkennt er nicht. Sokrates fährt f o r t : So sind wir abermals gescheitert und haben uns wohl gar noch lächerlicher gemacht als vorhin mit unserm schönen Mädchen. Nun bin ich ganz ratlos. Weißt du noch einen Ausweg? — J e t z t nicht, aber wenn ich allein wäre, würde ich ihn schon finden! — Darauf k a n n ich nicht warten. Und siehe, soeben fällt mir etwas ein! Könnte das Schöne nicht das sein, was uns Lust bereitet ? Ich meine natürlich nicht jede Lust, sondern die etwa, die wir vermittelst d e s S e h e n s u n d H ö r e n s genießen. Wir erfreuen uns doch an schönen Menschen und bunter Zier, an Gemälden und Statuen, an schönen Stimmen und aller Musik, an Reden und Dichtungen ? Würden wir da nicht unsern dreisten Gegner zum Schweigen bringen, wenn wir ihm erklärten: Das Schöne ist das Lust volle, welches uns das Sehen und Hören verschafft ? — Das scheint mir eine ausgezeichnete Erklärung zu sein. — Ja, aber sie p a ß t nicht recht auf schöne Bestrebungen und Gesetze. Die müßten doch wohl in anderer Art schön sein ? — Ach, vielleicht gerät der Mensch gar nicht auf diesen Einfall! — Ganz gewiß aber der, vor dem ich mich am meisten schämen würde, wenn er mich auf faulen Ausflüchten e r t a p p t e ! — Wer ist denn d e r ? — Das ist Sokrates, der Sohn des Sophroniskos! Der erlaubt mir nicht, ein Wissen vorzutäuschen, das ich nicht besitze! — Nun, ich gebe ja auch zu, daß es mit den Gesetzen eine andere Bewandtnis haben muß. — Sei getrost, Hippias, am E n d e kommen wir über dieses Bedenken hinweg. Denn es könnte sich herausstellen, daß Bestrebungen und Gesetze doch irgendwie mit den Wahrnehmungen zusammenhängen, die uns durch den Gesichts- und Gehörsinn gegeben werden. Lassen wir also die Gesetze vorläufig ganz beiseite. Doch wird m a n uns fragen, w a r u m wir die Lust, die uns andere Sinne gewähren, wie die Freuden des Essens, des Trinkens u n d der Liebe, nicht ebenfalls schön nennen, oder ob wir diese ü b e r h a u p t nicht als Lust anerkennen ? — Das werden wir nicht behaupten dürfen. — Aber wir werden erwidern: Jene Sinnesfreuden gelten uns darum nicht als schön, weil man uns auslachen würde, wenn wir Essen oder Wohlgerüche 1 5 ) als schön ausgäben, a n s t a t t sie als angenehm zu bezeichnen. Und gar der Liebesgenuß, der die höchsten Grade der Lust hervorruft, ist dermaßen häßlich, d a ß wir

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uns ihm nur im Verborgenen hingeben. Dazu würde unser Gegner vermutlich b e m e r k e n : „ I h r scheut euch wohl, diese Lüste schön zu nennen, weil sie nicht f ü r schön gehalten werden ? Aber ich suche nicht nach dem, was den Menschen schön zu sein scheint, sondern was schön ist." Da werden wir ihn fragen müssen, was er gegen unsere E r k l ä r u n g einzuwenden hat. Sie wird ihm wohl nicht mißfallen, aber er wird wissen wollen, ob uns die nicht durch Sehen und Hören bereitete Lust als nicht schön gilt. Werden wir das zugeben ? — Ja. — Sokrates schreitet nun als Sprecher des ungenannten Gegners zur Widerlegung der aufgestellten These. E r stützt die Beweisführung natürlich nicht etwa auf ästhetische oder psychologische Gründe, sondern wiederum auf Paradoxien. E s verlohnt sich k a u m , auf die mit behaglicher Breite ausgesponnenen Einzelheiten allzusehr einzugehen. Zunächst stellt Sokrates den Sinn der These fest; sie besagt, daß die Lust des Sehens, die Lust des Hörens und beide zusammengenommen schön sind. Festgestellt wird ferner, daß der Grund der Schönheit einer Lust nicht im Sehen gesucht werden dürfe, weil sonst die Lust des Hörens nicht schön sei, und dementsprechend auch nicht im Hören. Es müsse vielmehr ein gemeinsames Merkmal gefunden werden, das auf die Lust des Sehens, die Lust des Hörens, sowie auf beide zusammen zutreffe. Ein Merkmal, das zwar auf beide zusammen, nicht aber auf jede von beiden paßt, könne also nicht der Grund der Schönheit sein. —• Aber das gibt es doch auch gar nicht, wendet Hippias ein, wie könnte eine Beschaffenheit, die jedes der beiden hat, den beiden zusammen fehlen ? Diese Äußerung f ü h r t auf den Knalleffekt des Dialoges, worauf der Leser ein ganzes Kapitel hindurch vorbereitet wird. Sokrates bezweifelt in ironischen Bemerkungen beharrlich die Berechtigung des Einwandes, Hippias beteuert dagegen, daß hier nur ein völliger Ignorant fehlgreifen könne. Eindringlich stellt er Sokrates vor: Du wirst mir niemals beweisen, daß uns beiden eine Beschaffenheit fehlen könne, die sowohl bei dir wie bei mir vorhanden ist. Siehe doch n u r : Wenn wir beide gerecht sind, muß jeder von uns beiden ebenfalls gerecht sein; wenn wir beide gesund sind, so ist auch jeder von uns gesund! Dasselbe demonstriert Hippias an mehreren anderen Beispielen. Sokrates erkennt das als richtig an und erhält daraufhin von dem nun wieder siegesgewissen Sophisten eine gewaltige Strafpredigt über die Kleinlichkeit seiner Denkweise, die ihn zur Erkenntnis der großen Zusammenhänge des Seins untauglich mache und zu so törichten Zweifeln verleite. Hierauf spielt Sokrates seinen Trumpf aus: Ja, Hippias, ich Dummer h a t t e wirklich geglaubt, jeder von uns beiden sei e i n e r , wir beiden zusammen wären das aber nicht, sondern wären z w e i ! Aber jetzt habe ich von dir ge-

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lernt: wenn wir beiden zwei sind, muß auch jeder einzelne von uns zwei sein. Nach der Hippiaslehre von den großen Zusammenhängen des Seins kann es sich gar nicht anders verhalten: wie beides ist, muß auch jedes einzelne sein und ebenso umgekehrt. Du hast mich vollständig überzeugt, und ich bitte nur noch um eine Aufklärung: Sind wir, ich und du, einer, oder bist du zwei und ich zwei ? — Was meinst du damit ? fragt der düpierte Sophist erschrocken. — Genau das, was ich sage. Deutlicher wollte ich nicht werden, um deinen Zorn nicht zu reizen. Sage mir doch: ist nicht jeder von uns einer? Und ist es nicht die Beschaffenheit eines jeden von uns, einer zu sein ?16) — Das ist richtig. — Dann ist jeder von uns ungerade, denn eins ist doch wohl eine ungerade Zahl ? — Ja. — Sind wir zusammen denn auch ungerade, obwohl wir zwei sind ? — Das kann nicht sein. — Also gerade ? — Freilich. —Aber darum ist nicht jeder von uns gerade ? — Nein. — Folglich ist es nicht so, daß beide das sind, was der einzelne ist, und daß der einzelne das sein muß, was beide zusammen sind. — In diesen Fällen nicht, ruft Hippias, wohl aber in denen, die ich genannt habe! — Doch Sokrates bedeutet ihn: Es genügt schon, daß dein Satz nicht überall gilt, sondern nur auf einige Fälle zutrifft. Nun gedenke dessen, was wir vorhin festgestellt hatten: schön könnten die Lust des Sehens und die des Hörens nur vermöge einer Beschaffenheit sein, die jede von ihnen und beide zusammen besäßen. Daraus folgerte ich: Wenn beide schön sind, so muß eine wesentliche Eigenschaft (oücrioc), die wir bei beiden antreffen, der Grund der Schönheit sein, nicht aber eine solche, die auf einer Seite fehlt. Und das ist auch jetzt noch meine Meinung. — Sodann nimmt Sokrates die Untersuchung vom Anfang an wieder auf. Ganz willkürlich legt er die These jetzt dahin aus, daß allein die durch Sehen u n d durch das Hören hervorgerufene Lust als schön bezeichnet worden sei; und dieses Doppelmerkmal paßt natürlich nicht auf die Freuden des Sehens allein und auf die des Hörens allein. — Wollen wir nun, fragt er, beide schön nennen, jede von beiden aber nicht ? — Daran hindert uns wohl nichts, meint Hippias. — Doch, erklärt Sokrates, dem stehen die von dir aufgezählten Fälle entgegen, in denen wir bei jedem einzelnen Gegenstande und bei beiden zusammen dieselbe Beschaffenheit vorfanden. Dagegen steht in dem von mir angegebenen Falle jener Annahme nichts im Wege. Wohin gehört nun das Schöne ? Es scheint mir widersinnig zu sein, daß zwar wir beide schön wären, nicht aber jeder von uns, oder daß jeder von uns schön wäre, nicht aber auch wir beide. Was hältst du davon ? — Ich bin deiner Ansicht. — Daran tust du wohl, mein Freund, denn damit ist diese lästige Untersuchung endgültig erledigt.

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Der große H i p p i a s : K a p i t e l

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Wenn das Schöne von dieser Art ist, so kann die durch das Sehen u n d Hören hervorgerufene Lust nicht das Schöne sein, weil sie nur beides zusammen, nicht aber jedes von beiden schön gestaltet. — So ist es, erkennt der ratlose Hippias an. — Unser Gegner, f ä h r t Sokrates fort, wird also feststellen, daß unsere Erklärung mißglückt ist. Er wird uns fragen, w a r u m wir denn eigentlich den Freuden des Sehens und Hörens einen so hohen R a n g einräumen und sie im Gegensatz zu jeder anderen Lust schön nennen ? Darauf könnten wir wohl nur erwidern, daß wir sie deshalb so hoch stellen, weil sie die u n s c h ä d l i c h s t e n und besten Freuden sind. 1 7 ) Das trifft auf jede von ihnen und auf beide zu. Oder weißt du ein anderes Merkmal anzugeben ? — Nein, sie sind wirklich die besten. — Demnach, wird unser Gegner folgern, gilt euch die n ü t z l i c h e Lust als das Schöne ? Das scheint so, würde ich sagen, und was meinst du ? •—• Ich bin derselben Ansicht, erwidert Hippias arglos. E r h ä t t e bemerken müssen, daß dieses Argument schon verbraucht ist (s. Kap. 21), doch haben ihn die Fechterstreiche des Sokrates so hart mitgenommen, daß sein berühmtes Gedächtnis versagt. So muß er sich bedeuten lassen, daß er auf einen bereits widerlegten Satz hereingefallen sei. Der unerbittliche Gegner werde ihm den vorhin geführten Beweis vorhalten, daß das Nützliche als die Ursache des Guten von diesem verschieden sei, woraus sich dann ergeben habe, daß weder das Gute schön, noch das Schöne gut sein könnte. Das, verkündet Sokrates triumphierend, werden wir einräumen müssen, denn es wäre unrecht, dem die Wahrheit Redenden zu widerstreiten! Nun reißt dem Hippias endlich die Geduld. Mit verhaltenem Zorn redet e r : Was soll das eigentlich, Sokrates ? Ich habe dir schon einmal gesagt, daß du nichts zutage förderst als wertlose Splitter und Späne zerhackter Gedanken. Wertvoll und schön ist es dagegen, vor Gerichten und Behörden durch die Kunst der Rede den herrlichsten Siegespreis zu erringen: sich und seinen Freunden die Freiheit und das Leben zu retten. Das ist der Mühe wert, aber mit u n f r u c h t b a r e n Haarspaltereien sollte man sich nicht abgeben, d a m i t man nicht f ü r einen Narren gehalten werde, der leeres Geschwätz mit E r n s t betreibt, wie das jetzt hier geschah! Sokrates erwidert: Du bist ein glücklicher Mensch, mein lieber Hippias! Denn du weißt, was der Mensch treiben soll, und verstehst es gründlich, diese Einsicht zu nutzen. Doch mich führt ein dämonisches Geschick in der Irre u m h e r ; und wenn ich euch Weisen mein Unvermögen entdecke, werde ich von euch gescholten u n d m u ß mir sagen lassen, wie kleinlich und nichtig mein Trachten ist. Wenn ich mich aber von euch gewinnen lasse und rede

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D e r g r o ß e H i p p i a s : K a p i t e l 30 wie ihr: es sei viel besser, in schönen Reden vor Gericht und dem Volke zu glänzen, so werde ich von anderen hart angefahren, zumal von dem, der mich immer widerlegt. E r ist mein Nächster und wohnt in demselben Hause. 1 8 ) Wenn ich ihm daheim solche Anschauungen vortrage, fragt er: „ S c h ä m s t du dich denn nicht, von schönen Lebenszielen zu reden, 1 9 ) da du doch eingestehen m u ß t , daß du vom Wesen des Schönen nicht das Geringste weißt ? Das weißt du nicht und wähnst doch, es sei dir besser, zu leben als tot zu sein ?" So ist es mein Los, von euch und von ihm geschmäht zu werden. Indessen muß ich das wohl ertragen, vielleicht dient es zu meinem Heil. Zum mindesten glaube ich, aus dem Umgang mit ihm und mit euch den Nutzen gezogen zu haben, daß ich die Wahrheit des Sprichworts erkenne: schwer ist das Schöne!

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MENEXENOS VORBEMERKUNGEN

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er Menexenos ist, wie Friedländer zutreffend bemerkt, die verwirrendste Schrift Piatons. Zunächst ist er kein eigentlicher Dialog. Nur die Einleitung und der Schluß sind in Gesprächsform gehalten, im übrigen besteht der Inhalt aus einer großen Staatsrede, die Piaton seinen Sokrates nach dem Korinthischen Kriege — im Jahre 386, also dreizehn Jahre nach seinem Tode! — auf die gefallenen athenischen Krieger halten läßt. Dazu verheißt das einleitende Gespräch nichts Gutes: Sokrates ergeht sich in derbster Ironie über die in den athenischen Epitaphien herrschende patriotische Phrase und behauptet schließlich, daß jeder einigermaßen geschulte Redner imstande sein müsse, eine solche Leichenrede nötigenfalls zu improvisieren: seines Erfolges beim athenischen Demos dürfe der Redner immer gewiß sein, wenn er ihn nur recht kräftig lobe. Um seinem Zuhörer Menexenos das zu beweisen, trägt er ihm die den Inhalt der Schrift bildende Rede vor, er sucht ihm weiszumachen, daß die berühmte Aspasia, seine „Lehrerin der Redekunst", sie gerade soeben aus dem Stegreif verfaßt und ihm zum Auswendiglernen aufgegeben habe. Die Rede beginnt denn auch ganz in dem überladenen Stil der damals herrschenden Gorgianischen Rhetorik, mit den üblichen Lobpreisungen des athenischen Volkes wird nicht gekargt, so daß man zunächst wirklich eine Satire zu lesen glaubt. Aber dann gerät Piaton immer mehr in ein echtes Pathos, die anfängliche Ironie geht fast unmerklich in eine Wärme des Tones über, die unmöglich erkünstelt sein kann. Auf die Athener hat die Rede stark und nachhaltig gewirkt, noch zu Lebzeiten Ciceros wurde sie alljährlich bei den öffentlichen Gedächtnisfeiern zur Ehrung der gefallenen Bürger vorgetragen. Piaton hat also diesmal seinen Lesern ein schweres Rätsel aufgegeben. Im vorigen Jahrhundert suchte man diese Schwierigkeiten dadurch zu erledigen,

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Menexenos: Vorbemerkungen und Kapitel

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daß man den Menexenos — und zwar fast einstimmig! — als eine Fälschung verwarf. Aber das geht nicht an, an der Echtheit der Schrift ist nicht zu zweifeln. Spätere Erklärer t a t e n sie als eine belanglose Gelegenheitsschrift ohne philosophischen Gehalt ab, die einer wunderlichen Laune Piatons ihre Entstehung verdanke. In neuester Zeit haben dagegen Friedländer (Piaton II, 219 ff.) und Hildebrandt (Piaton 144 ff.) das kleine Werk mit Entschiedenheit verteidigt und dessen Sinn durch tiefer angelegte Erklärungen zu erfassen versucht. A m weitesten geht Hildebrandt. E r ersieht den Zweck der Schrift in der Absicht Piatons, sich nach der Rückkehr von seiner ersten großen Reise mit seinem athenischen Volke auszusöhnen. E r habe ferner beweisen wollen, daß er die im Gorgias so heftig b e k ä m p f t e n Künste der Rhetorik nicht minder gut beherrsche als die besten Meister der Redekunst. (S. 145). Endlich glaubt Hildebrandt aus der Rede den „großen Ruf zur nationalen E r n e u e r u n g " Griechenlands herauszuhören. Piaton habe in ihr die Sinnlosigkeit der Bruderkämpfe unter den hellenischen Staaten dargestellt, um diese zu einem nationalen Bunde gegen die Barbaren aufzurufen. (S. 151.) Ganz aufzulösen ist indessen der scharfe Kontrast der gehäuften Ironien im einleitenden Gespräch zu einer solchen ernsten Tendenz des Werkes wohl nicht; obwohl zuzugeben ist, daß Sokrates, der entschiedenste Gegner aller Schönrednerei, nicht ohne einige Scherze als Festredner eingeführt werden konnte. Bestehen bleibt außerdem die Unvereinbarkeit mehrerer Stellen der Rede mit den politischen Grundanschauungen Piatons, die er niemals verleugnet hat und auch hier gewiß nicht im Ernste preisgeben wollte. Mehrere große Gedanken in der Rede des Sokrates werden den Leser sehr stark an die neueste Geschichte unseres deutschen Vaterlandes gemahnen.

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okrates trifft auf der Straße seinen Schüler Menexenos, 1 ) er fragt i h n : Kommst du vom Markte oder woher sonst ? — Vom Markte, Sokrates, und zwar aus dem Rathause. — Was f ü h r t dich denn ins Rathaus ? Gewiß glaubst du, an Bildung und Philosophie schon vollauf genug in dich aufgenommen zu haben, so daß du dich nun höheren Aufgaben widmen k a n n s t : so jung du bist, gedenkst du uns Ältere zu regieren, damit euer Haus niemals aufhöre, uns mit Staatslenkern zu versehen ? — Wenn du kein Bedenken hast und mir zuredest, als S t a a t s m a n n aufzutreten, werde ich das t u n , sonst werde ich es lassen. In das R a t h a u s ging ich aber aus einem anderen G r u n d e : ich habe vernommen, daß der R a t den Redner wählen wollte, der die Rede zum

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M e n e x e n o s : K a p i t e l l bis 3 Gedächtnis der Gefallenen halten soll. Von der bevorstehenden Totenfeier h a s t du doch wohl gehört ? — Gewiß, wen haben sie denn gewählt ? — Bis j e t z t noch keinen, sie haben die Wahl auf morgen v e r t a g t ; vermutlich werden sie sich für Archinos oder Dion entscheiden. 2 ) — J a Menexenos, es scheint doch in mancher Hinsicht recht schön zu sein, im Kriege zu fallen. Auch der Ärmste wird dann ehrenvoll bestattet, und ganz unbedeutende Menschen erhalten ihr Lob aus dem Munde weiser Männer, die sie nicht mit ein paar gleichgültigen Worten, sondern in einer sorgsam ausgefeilten Rede preisen. Die verstehen es so kunstvoll und schön, einem jeden die verdienten oder auch nicht verdienten Lobsprüche zuzuteilen, daß wir alle voller Entzücken zuhören, wie sie unsere Stadt, die Gefallenen, unsere Vorfahren aus vergangenen Zeiten und uns selbst in jeder nur möglichen Weise rühmen. Ich fühle mich immer über mich selbst erhoben, wenn ich so belobt werde, stehe wie bezaubert da, und es d ü n k t mich, auf einmal größer, edler und besser geworden zu sein. Ich blicke stolz auf die anwesenden Fremden, von denen mich gewöhnlich einige begleiten, und glaube zu bemerken, daß sie mich bewundernd anschauen. Denn auch sie stehen sichtlich unter demselben E i n d r u c k : geb a n n t von der Gewalt der Rede scheinen sie eine noch höhere Meinung von mir und von der Herrlichkeit unserer S t a d t zu gewinnen. Diese Begeisterung hält bei mir länger als drei Tage an, so lange klingt der Nachhall der Stimme des Redners und seiner Worte in meinen Ohren fort. Erst am vierten oder f ü n f t e n Tage komme ich allmählich zu mir und weiß wieder, wo ich bin; bis dahin wähne ich fast auf den Inseln der Seligen zu weilen. So groß ist die Kunst unserer Redner! Du kannst es doch nicht lassen, versetzt Menexenos, über unsere Redner zu spotten. Doch diesmal wird der Gewählte sich k a u m seiner Aufgabe sonderlich freuen; die Wahl k o m m t so spät, daß er seine Rede wohl gar improvisieren muß. — Das ist nicht so schlimm, mein Bester, diese Männer haben solche Reden immer in Bereitschaft; und schließlich ist es auch nicht allzu schwer, dergleichen zu improvisieren. Anders wäre es, wenn Athener vor Peloponnesiern oder Peloponnesier vor Athenern gerühmt werden sollten, dazu bedürfte es allerdings eines ganz hervorragenden Redners. Doch wenn sich jemand b e m ü h t , die zu loben, zu denen er spricht, braucht er sich u m den Erfolg nicht zu sorgen. — Wirklich n i c h t ? — Beim Zeus, gewiß nicht! — Würdest du denn auch deiner Sache sicher sein, wenn die Wahl auf dich fiele und du die Rede halten müßtest ? — Das wäre durchaus nicht zu verwundern, denn ich h a b e das Glück, von einer außerordentlich bedeutenden Lehrerin der Beredsamkeit unterwiesen zu werden. Die hat schon viele zu

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Menexenos: K a p i t e l 3 bis 5 guten Rednern ausgebildet, vor allem den großen Perikles, den Sohn des Xanthippos. — Wer ist denn die ? Sicherlich wohl Aspasia ? —• Die meine ich, und ferner auch Konnos, den Sohn des Metrobios. Das sind meine beiden Lehrmeister: er unterweist mich in der Musik und sie in der Rhetorik. Wer eine solche Schule gehabt hat, sollte doch wohl reden können! Indessen wäre eine so gute Ausbildung hier nicht einmal nötig. Selbst wenn jemand schlechtere Lehrer gehabt hat, etwa Lampros als Musiklehrer und als Lehrer der Rhetorik den Antiphon, so müßte er doch fähig sein, vor Athenern rühmlich zu bestehen, wenn er Athener preist. 3 ) Was würdest du zu sagen haben, wenn du zu reden hättest ? fragt Menexenos. — Aus Eigenem wohl nichts, doch hörte ich gestern von Aspasia eine Gedächtnisrede auf die Gefallenen. Auch sie hatte von der Wahl eines Redners zur Totenfeier gehört, und da belehrte sie mich, wie eine solche Rede zu gestalten sei. Einiges erfand sie frei, anderes entnahm sie, wie mir schien, unbenutzten Aufzeichnungen zur Ausarbeitung der Leichenrede, die sie seinerzeit für Perikles verfaßt hatte. 4 ) — Hast du irn Gedächtnis behalten, was Aspasia sprach? — Das will ich meinen! Ich mußte es auswendig lernen und hätte von ihr wegen meines trägen Gedächtnisses beinahe Schläge bekommen. — Nun, so trage mir es vor! — Ja, ich fürchte nur, daß meine Lehrerin sehr zornig werden wird, wenn ich ihre Rede anderen mitteile. — Laß das, Sokrates. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du mich hören ließest, was du zu sagen hast, mag das nun von Aspasia stammen oder von irgendeinem anderen. — Wirst du mich aber nicht auslachen, wenn ich alter Mann solche Scherze treibe ? — Durchaus nicht, rede unbesorgt. — Gut, dann will ich dir den Gefallen t u n ; dir könnte ich wohl nichts abschlagen, selbst wenn du mich hießest, nackt vor dir zu tanzen. Außerdem sind wir ja unter uns. Aspasia begann etwa folgendermaßen: Durch die Tat haben wir den Toten die ihnen gebührenden Ehren erwiesen: die ganze Stadt und ihre Angehörigen haben sie feierlich zu Grabe getragen, und so wandeln sie nun den ihnen vom Schicksal bestimmten Weg. Jetzt soll ihnen nach altem Brauch durch meine Worte gehuldigt werden, denn das Andenken verdienstvoller Männer ist würdig zu preisen, auf daß es im Gedächtnis der Zuhörer fortlebe. Es ist die Aufgabe einer solchen Rede, den Abgeschiedenen Lob und Dank zu sagen, die Lebenden aufzurichten, die Kinder und Brüder der Gefallenen zur Nacheiferung ihres edlen Mutes anzuspornen, ihren Vätern, Müttern und Großeltern Trost zu spenden. Wie ist eine solche Rede zu gestalten ? Wie hat ein würdiges Lob dieser Männer zu beginnen, die uns als Lebende

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Menexenos:

K a p i t e l 5 bis 8

mit freudigem Stolz erfüllten und durch ihren Tod uns Sicherheit und Freiheit erkauften ? Es scheint mir geboten zu sein, zunächst den Ursprung ihrer edlen Art aufzuzeigen: zu Tüchtigen wurden sie, weil sie von Tüchtigen abstammten. So will ich zuerst den Adel ihres Blutes preisen, dann ihre Bildung und Erziehung, und schließlich ihre Taten, durch die sie sich so hoher Gaben als wert erwiesen haben. Als Edle waren sie geboren. Ihre Vorfahren kamen nicht aus fremdem Lande hierher, sie ließen ihre Kinder nicht als geduldete Schützlinge der Stadt zurück: als Ureinwohner sind sie unserer heimatlichen Erde entsprossen, 5 ) die sie nicht als Stiefmutter empfangen, vielmehr als wahre Mutter gehegt hat und diese Toten nun wieder in ihren Schoß aufnahm. Es ist meine Pflicht, den Ruhm dieser Mutter und damit den Adel ihrer Söhne zu verkünden. Unser Land verdient es wahrlich, nicht allein von uns, sondern von allen Menschen gepriesen zu werden, insonderheit darum, weil es von den Göttern geliebt wird. Das beweist der Streit der Götter um Attika und dessen Entscheidung: wie sollte ein Land, das die Götter so wert hielten, nicht jedes Lobes würdig sein ? 6 ) Sodann hat es vor anderen Ländern den Vorzug, daß es keine Raubtiere erzeugte; unter allen lebenden Wesen erkor es sich den Menschen, als das einzige Geschöpf, das die Gerechtigkeit und die Götter ehrt. Daß wir unser Land im wahren Sinne des Wortes Mutter nennen dürfen, ersehen wir daraus: Jede Mutter birgt die Nahrung in sich, deren das Kind bedarf; wenn man feststellen will, ob ein Kind echt oder untergeschoben ist, untersucht man die Brust der Frau, die es geboren haben soll: findet, man da keinen Nahrungsquell, so hat sie auch nicht geboren. Eben dadurch erweist sich unsere Heimat als echte Mutter, denn einzig sie hat vor allen anderen Ländern zuerst Weizen und Gerste hervorgebracht, damit ihre Kinder die dem Menschen zuträgliche Speisung fänden. 7 ) Und jenes Merkmal gilt noch mehr für die Erde als für das Weib: nicht hat die Erde dem Weibe Geburt und Ernähren nachgeahmt, sondern das Weib der Erde. Mit ihren Früchten kargte unsere Mutter nicht, die spendete sie freigebig auch anderen Völkern; dazu schuf sie uns den Ölbaum, zur Erquickung nach fleißiger Arbeit. So ließ sie ihre Kinder wachsen und gedeihen, und als sie zu Männern herangereift waren, gab sie diese in die Hut der Götter, deren Namen an diesem Orte unausgesprochen zu bleiben haben. 8 ) Die wurden unsere Erzieher und Lehrmeister, sie lehrten uns alles, dessen wir zur Erhaltung unseres Lebens bedürfen: die Künste des Friedens und den Gebrauch der Waffen. Die so edel geborenen und so trefflich erzogenen Vorfahren unserer Gefallenen begründeten eine staatliche Ordnung und Gemeinschaft. Auch dessen habe 7

V e r i n g , Piatons Dialoge 3

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Menexenos:

Kapitel 8 und 9

ich in Kürze zu gedenken, denn der Staat ist die Schule des Menschen: guter Menschen, wenn er gut, schlechter Menschen, wenn er schlecht ist. Wie unser Staat sich als vortrefflicher Erzieher bewährt hat, wie die heute Lebenden und diese Toten ihm ihre tüchtige Art verdanken, m u ß ich darstellen. Von Anbeginn war unsere Staatsverfassung die Aristokratie, und an ihr haben wir bis zum heutigen Tage beständig festgehalten. Wenn einige unsern Staat eine Demokratie, andere anders zu benennen belieben, so ist er dennoch in Wahrheit durchaus aristokratisch, eine Herrschaft der Besten, gutgeheißen durch die Masse des Volkes. Auch Könige haben wir noch, zwar nicht mehr erbliche, sondern gewählte. 9 ) Die Macht liegt freilich bei der großen Menge, doch überträgt sie die S t a a t s ä m t e r und damit die Ausübung der staatlichen Gewalt denen, die ihr die Besten zu sein scheinen. Keinem Bürger, mag er unansehnlich, arm oder von niederer H e r k u n f t sein, ist der Zugang zu diesen Ämtern verschlossen; und ebenso gewähren die entgegengesetzten Eigenschaften niemandem einen besonderen Vorzug, wie das in anderen Staaten der Fall ist. Bei uns gilt einzig das Gebot: wer als tüchtig und rechtschaffen erachtet wird, soll regieren und gebieten. Der Grund dieser Rechtsordnung ist die H e r k u n f t aus gleichem Blute. Andere Staaten sind aus Menschen verschiedener A b s t a m m u n g und ungleicher Art hervorgegangen; dem entspricht die Ungleichheit in ihren Verfassungen, den tyrannischen und oligarchischen Regierungen, wo die Volksgenossen einander als Herren und Knechte gegenüberstehen. Wir aber sind als Brüder, als Söhne einer und derselben Mutter aufgewachsen. D a r u m dulden wir weder Knechte noch Herren: das gleiche Blut verlangt nach der Gleichheit vor dem Gesetz und verstattet keine andere Rangordnung als die nach Verdienst und Einsicht. 1 0 ) In dieser vollkommenen Freiheit sind die Väter der Gefallenen, sie selbst und unsere Väter aufgewachsen, dank dieses edlen Blutes haben sie zum Heil aller Menschen herrliche Taten vollbracht, jeder für sich und alle vereinigt im Dienste des Staates. Immer waren sie sich der Pflicht bewußt, gegen Griechen f ü r die Freiheit der Griechen und gegen die Barbaren für die Freiheit aller Hellenen zu streiten. Um alle Großtaten unserer Väter zu schildern — den Krieg gegen Eumolpos, die Amazonenschlacht und die Abwehr anderer Angriffe, wie wir die Argeer vor den Kadmeern, die Herakliden vor den Argeern schützten —•, dazu reicht die Zeit nicht aus, auch haben das die Dichter in allbekannten Liedern schon zur Genüge besungen. Mit denen will ich nicht wetteifern, der Wettstreit einer schlichten Rede mit ihren schwungvollen Versen wäre auch zu ungleich. 11 ) So will ich dessen gedenken, was bisher noch kein Dichter würdig besang.

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Das sind zuerst die Perserkriege. Als die Perser schon ganz Asien unterjocht hatten und nun auch Europa zu unterwerfen gedachten, geboten die Söhne dieses Landes, unsere Vorfahren, ihnen Einhalt; und deren Heldentum verdient vor allem anderen gepriesen zu werden. Wenn wir es recht würdigen wollen, müssen wir uns in die Zeit versetzen, da ganz Asien schon dem dritten Großkönig untertänig war. Der hochgesinnte Kyros hatte die Perser von der Herrschaft der Meder befreit und diese zu seinen Knechten gemacht; darauf gewann er Asien bis zur ägyptischen Grenze. Sein Sohn Kambyses eroberte Ägypten und Libyen bis zu den unzugänglichen Wüsten, und als dritter hatte Dareios die Grenzen seines Reiches zu Lande bis an das Gebiet der Skythen ausgedehnt. Mit seinen Schiffen beherrschte er das Meer und die Inseln. Niemand wagte es, ihm zu trotzen, alle hatten sich mit dem Gedanken an die Knechtschaft abgefunden, nachdem ihr so viele große und streitbare Völker verfallen waren. Unter dem Vorwande, daß wir und die Bürger von Eretria einen Anschlag auf Sardes planten, rüstete der König ein Heer von 500 000 Mann und entsandte es auf Transportschiffen gegen uns, unter dem Geleit von 300 Kriegsschiffen. 1 2 ) Seinem Feldherrn Datis befahl er, ihm die Eretrier und Athener gefangen vorzuführen, sonst habe er seinen Kopf verwirkt. Datis wandte sich zuerst gegen die Eretrier, die als tapfere Krieger angesehen und an Zahl nicht gering waren; gleichwohl bezwang er die Stadt in drei Tagen. Damit ihm kein Eretrier entkomme, hatte er seine Soldaten eine Kette rings um die Stadt bilden lassen, von einem Meeresufer zum andern, indem jeder seinen Nebenmännern die Hände reichte. So wurde das ganze Stadtgebiet eingeschlossen und abgesucht, um der Weisung des Königs zu genügen. Nach der Eroberung Eretrias landeten die Perser bei Marathon, sie wähnten, daß sich die Athener ebenso leicht fangen lassen würden. In dieser Not leistete kein griechischer S t a a t den Eretriern und uns Hilfe und Beistand mit alleiniger Ausnahme der Spartaner; und auch die trafen erst am Tage nach der Schlacht ein. 13 ) Alle anderen Griechen hemmte die Furcht, sie blieben untätig, weil sie sich nicht unmittelbar bedroht fühlten. Wer diese Lage erwägt, wird das Heldentum der Männer ermessen können, die bei Marathon dem Barbarenheere entgegentraten, den asiatischen Hochmut brachen und das erste Siegeszeichen einer persischen Niederlage errichteten. Sie wurden dadurch zu Führern der Griechen, denn sie lehrten sie, daß die persische Macht nicht unbezwinglich sei, daß jede Übermacht und aller Reichtum der echten Tapferkeit unterliegen muß. Darum darf ich sagen: jene Männer sind nicht allein u n s e r e Väter, sondern auch die Väter der hellenischen Freiheit gewesen, sie l*

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M e n e x e n o s : K a p i t e l 10 b i s 13 haben die Unabhängigkeit des ganzen Festlandes nicht minder gerettet als die unsrige. Denn aus ihren T a t e n gewannen die Griechen den Mut, als Schüler der Marathonkämpfer den Krieg u m ihre Freiheit zu bestehen. Diesen Männern ist also der erste Preis zuzuerkennen, der zweite gebührt den Siegern in den Seeschlachten von Salamis und Artemision. 1 4 ) Das Höchste, was zu ihrem R u h m e gesagt werden darf, ist aber, daß sie sich als würdige Nachfolger der Sieger von Marathon bewährt haben. Die h a t t e n den Griechen die Überlegenheit eines kleinen tapferen Landheeres über barbarische Massen bewiesen, indessen galt die Seemacht der Perser mit ihren unerschöpflichen Hilfsquellen noch als unbezwinglich. Von dieser Sorge befreiten das griechische Volk unsere Seeleute: nach den Marathonkämpfern haben auch sie die Hellenen gelehrt, die Barbaren nicht mehr zu fürchten. So f ü h r t e n unsere Vorfahren diese Kriege um die Freiheit ihrer V a t e r s t a d t und ihrer griechischen Stammesverwandten zum siegreichen Ende. Nachdem dann der Friede geschlossen und Athen zu hohem Ansehen gelangt war, ereignete sich das, was dem Erfolgreichen so oft begegnet: es regte sich Eifersucht und Neid gegen unsere Stadt. Infolgedessen wurde sie gegen ihren Willen in einen Krieg mit Griechen verwickelt. Für die Freiheit der Böoter zog Athen zu Felde, bei Tanagra kam es zur Schlacht mit den Spartanern, die unentschieden blieb. 15 ) Aber nach dem Abzüge der Spartaner besiegten wir die von ihnen im Stich gelassenen Thebaner in einer dreitägigen Schlacht bei Oinophyta und führten die zu Unrecht vertriebenen (böotischen) Verbannten in ihre Heimatstädte zurück. Die in diesen Kämpfen Gefallenen sind die ersten nach den Perserkriegen, die an dieser Stelle ehrenvoll beigesetzt wurden. F ü r die Freiheit von Hellenen haben sie gegen Hellenen gekämpft, als tapfere Männer haben sie den Unterdrückten die Unabhängigkeit erstritten. Alsdann brach ein großer Krieg aus. Alle Hellenen zogen gegen uns zu Felde und verheerten unser L a n d ; das war ihr Dank für die ihnen erwiesenen Wohlt a t e n . Doch besiegten wir sie zur See, und auf der Insel Sphagia (Sphakteria) nahmen wir die Spartaner, ihre Führer, gefangen. Wir h ä t t e n sie t ö t e n können, doch schonten wir sie, gaben sie ihrem Vaterlande zurück und schlössen Frieden. 1 6 ) Denn wir sind des Glaubens, daß man gegen Stammesgenossen nur bis zum Siege kämpfen, nicht aber aus Haß die Gemeinschaft der griechischen S t ä m m e zerstören soll; einen Vernichtungskrieg mag m a n gegen Barbaren führen. 1 7 ) D a r u m ist es gerecht, die Männer zu rühmen, die in diesem Kriege gefallen sind und nun hier ruhen. Sie haben denen, die d a r a n zweifeln möchten, klar bewiesen, daß die Athener in den Perserkriegen von keiner anderen Stadt an Tapferkeit übertroffen worden sind, denn sie h a b e n IOO

M e n e x e n o s : K a p i t e l 13 u n d 14 die ersten der Hellenen, mit denen sie einst gemeinsam gegen die Barbaren stritten, im Kampfe besiegt und so gezeigt, daß sie ihnen aus eigener Kraft überlegen waren. Bald nach dem Friedensschlüsse begann ein dritter, unerwartet schrecklicher Krieg, in dem viele wackere Männer fielen und nun hier ruhen. Vielen von ihnen war es vergönnt gewesen, zahlreiche Siegeszeichen in Sizilien zu errichten, wohin sie ausgezogen waren, um die Freiheit der Leontiner zu schützen. Dort aber gerieten sie in Not, weil unsere Stadt ihnen in die weite Ferne keine ausreichende Hilfe nachsenden konnte. In dieser verzweifelten Lage verloren sie den Mut und gingen zugrunde; doch ehrten die Feinde ihre edle Gesinnung mehr, als es Freunde zu tun pflegen. 18 ) Viele andere blieben in den Seeschlachten am Hellespont, wo sie an einem Tage alle feindlichen Schiffe nahmen und manchen anderen Kampf siegreich bestanden. Unerwartet schrecklich nannte ich den Krieg, weil unsere Gegner sich in ihrem Neide nicht scheuten, durch Gesandte die Hilfe des verhaßtesten Feindes der Hellenen, des Großkönigs, anzurufen. Den hatten sie einst im Bunde mit uns aus dem Lande gejagt, und nun führten sie ihn zurück, den Barbaren gegen Hellenen, um alle Griechen und Barbaren gegen uns aufzubieten. Doch da zeigte sich der Mut und die Kraft unserer Stadt. Als der Feind unsere Flotte bei Mytilene eingeschlossen hatte und unseres Zusammenbruchs sicher zu sein wähnte, rüsteten wir mit dem letzten Aufgebot aller Bürger 60 Schiffe aus, besiegten den Feind in einer vielbewunderten, heldenhaften Schlacht und befreiten die Freunde. Ein widriges Geschick fügte es, daß unsere Toten nach der Seeschlacht nicht aus dem Meere aufgenommen werden konnten, doch ruhen sie hier. 19 ) Auch ihrer haben wir in Ehren zu gedenken, denn diese Tapferen hatten schon durch andere Siege den Ruf befestigt, daß unsere Stadt niemals, auch nicht durch die gesammelte Macht aller Völker, zu bezwingen sei. Und das ist wahr: u n s e r e Z w i e t r a c h t , n i c h t die K r a f t d e r F e i n d e h a t u n s die N i e d e r l a g e b e r e i t e t ; b i s zum h e u t i g e n T a g e w ü r d e n w i r u n b e s i e g t g e b l i e b e n sein, doch w a r e n wir s e l b s t u n s e r e eigenen Besieger und unsere eigenen Besiegten. Dieser innere Hader dauerte fort, als der äußere Krieg sein Ende gefunden hatte. Indessen wurden diese Kämpfe in der Art ausgetragen, daß man jedem Staate, über den das Schicksal eine solche Krankheit verhängt, nur einen ebensolchen Ablauf des Unheils wünschen könnte. Wie freundlich und liebevoll versöhnten sich die Bürger aus dem Piräos und der Stadt miteinander, zur großen Enttäuschung unserer hellenischen Widersacher! Wie schonend wurde der eleusinische Krieg beigelegt! Die Ursache dessen ist IOI

M e n e x e n o s : K a p i t e l 14 b i s 16 keine andere als die Gemeinschaft des Blutes, das nicht in Worten, sondern durch die Tat den festesten Bund begründet. Es geziemt sich, auch derer zu gedenken, die in diesen Bürgerkämpfen durch Bürgerhand fielen, und sie durch die uns zu Gebote stehenden Mittel zu versöhnen: durch Gebete und Opfer bei dieser Feier. Wir beten zu denen, in deren Obhut sie jetzt sind, da auch wir uns ja miteinander ausgesöhnt haben. Denn nicht aus Bosheit und Haß haben sie sich befehdet, sondern aus Mißgeschick. Das bezeugen wir, die Lebenden, die der gleichen Abkunft sind wie sie: Wir verzeihen uns, was wir uns angetan und was wir voneinander erlitten haben. 20 ) Hierauf durfte sich unsere Stadt einige Jahre der Ruhe und des Friedens erfreuen. Sie verzieh es den Barbaren, denen wir arg genug zugesetzt hatten, daß sie sich gegen uns zu kräftiger Gegenwehr erhoben, aber wir zürnten den Griechen, denn die hatten uns mit bitterem Undank gelohnt, als sie sich mit den Barbaren verbündeten, als sie uns die Schiffe nahmen, die einstmals ihre Retter gewesen waren, und die Mauern unserer Stadt schleiften, die ihnen die ihrigen erhalten hatten. 2 1 ) Deswegen gab die Stadt es auf, griechischen Staaten noch fernerhin Schutz zu gewähren, gleichviel, ob ihre Freiheit von den Barbaren oder von Hellenen bedroht wurde. Denn nachdem Athen, die Vorkämpferin der griechischen Freiheit, gefallen war, erkannten die Spartaner, daß nun der Weg zur Unterjochung der anderen Griechen ihnen offenstehe. Und so geschah es denn auch. Warum sollte ich diese Vorgänge ausführlich schildern ? Sie liegen ja nicht weit zurück; wir alle erinnern uns noch, wie die führenden griechischen Staaten, Argos, Böotien, Korinth, voller Schrecken uns um Hilfe anriefen, und wie wir sodann das göttlichste Wunder erlebten: daß endlich sogar der Großkönig in dieser Stadt, die er vordem so gern vernichtet hätte, seine einzige Retterin aus schwerster Bedrängnis ersah. Da könnte man unserer Stadt vielleicht mit einigem Recht den Vorwurf machen, daß sie sich stets allzu bereitwillig und mitleidig der Schwächeren angenommen hat. Auch damals konnte sie es nicht über sich gewinnen, dem Vorsatze treu zu bleiben: keinen derer, von denen sie so bitteres Unrecht erlitten hatte, vor der Knechtschaft zu bewahren. Sie gab ihren Bitten nach und eilte ihnen zu Hilfe. Den griechischen Staaten erstritt sie die Unabhängigkeit, so daß sie in Freiheit leben konnten, bis sie einander wiederum unterjochten. Doch konnte sie sich nicht entschließen, dem Großkönig unmittelbar beizustehen, denn sie scheute die Siegeszeichen von Marathon, Salamis und Plataeae; indessen erlaubte sie Verbannten und Freiwilligen, für den König zu kämpfen, und rettete ihn dadurch, wie allseitig anerkannt wird, aus seiner Not. Nachdem sie die zer102

M e n e x e n o s : K a p i t e l 16 b i s 18 störten Mauern und ihre Flotte wiederhergestellt hatte, nahm sie den Krieg gegen die Spartaner zum Schutze der von ihnen bedrängten Parier wieder auf. 22 ) So kam es, daß der König unsere Stadt wieder zu fürchten begann, da er sah, wie die Spartaner zur See unterlagen. Darum forderte er von uns die Preisgabe der griechischen Städte auf dem asiatischen Festlande, die ihm die Spartaner ehemals ausgeliefert hatten. Er hoffte, daß wir diese Zumutung zurückweisen würden, und daß er dann einen Vorwand hätte, den Bund mit uns und den mit uns vereinigten griechischen Staaten zu kündigen. Diese, die Korinther, Argeer, Böoter, täuschten ihn in dieser Erwartung: sie bewilligten die Forderung und schwuren, ihm die gewünschten Städte zu überlassen, wenn sie weiterhin Hilfsgelder von ihm erhielten. Wir allein lehnten es ab, die Städte aufzuopfern und den Eid zu schwören. So edel und frei, so fest und gesund ist der Sinn unserer Stadt, so tief ihre Abneigung gegen die Barbaren, denn wir sind reinsten hellenischen Blutes, unvermischt mit barbarischem. Es ist kein Geschlecht unter uns, das seine Abstammung von einem Pelops, Kadmos, Ägyptos, Danaos oder von einem anderen jener Stammväter herleitete, die nach ihrer Herkunft Barbaren und nur dem Gesetze nach Griechen sind. Unter uns wohnen keine Mischlinge dieser Art, und das hat in unserer Stadt einen echten Haß gegen alles fremdartige Wesen großgezogen. 23 ) Indessen hatte unser Widerstand gegen die schändliche und ruchlose Auslieferung griechischer Städte an die Barbaren wiederum zur Folge, daß wir vereinsamt dastanden, wie damals, als wir zuerst der Übermacht erlagen. Doch beendeten wir mit Hilfe der Gottheit diesmal den Krieg glücklicher: wir behielten unsere Flotte, unsere Mauern und unsere Kolonien; und auch unsere Feinde waren froh, des Krieges ledig zu sein. Leider haben wir auch in diesen Feldzügen viele wackere Männer verloren, teils bei Korinth infolge der mißlichen Beschaffenheit der Gegend, teils in Lechaeon durch Verrat. Tapfer waren auch jene, die den König befreiten und die Spartaner vom Meere vertrieben. Ihre Verdienste rufe ich euch ins Gedächtnis zurück, auf daß ihr deren Andenken gebührendermaßen in Ehren haltet. 24 ) Das sind die Taten der Männer, die hier ruhen sollen, und derer, die vor ihnen für unsere Stadt gefallen sind. Viel Großes und Herrliches habe ich von ihnen erzählt, mehr noch und Größeres mußte ich übergehen, denn eine Reihe von Tagen und Nächten würde nicht ausreichen, um alles zu schildern. Dessen eingedenk soll jedermann die Nachkommen der Toten mahnen, fest wie im Kriege, den Vorfahren gleich, in Reihe und Glied zu stehen und niemals

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M e n e x e n o s : K a p i t e l 18 b i s 20 feige zurückzuweichen. Nun rufe ich euch auf, ihr Söhne tapferer Männer, und ebenso werde ich euch künftig, sooft mir einer von euch begegnet, an eure Pflicht erinnern: stets nach echter Männlichkeit zu streben. Jetzt will ich aussprechen, was eure Väter uns auftrugen, als sie ins Feld zogen, was wir euch ausrichten sollten, falls sie nicht wiederkehrten. Was ich von ihnen vernahm, würden sie selbst euch sagen, wenn sie es vermöchten. So höret nun aus meinen Worten ihre Stimme! Sie sprachen: Ihr Kinder, daß ihr von Edlen s t a m m t , beweist euch unser Tun. Ein unrühmliches Leben stand uns offen, doch gehen wir lieber einem ehrenvollen Tode entgegen, als euch der Schmach zu überliefern und unserm ganzen Geschlecht Schande zu bereiten. Wir glauben, daß dem, der die Seinigen entehrt, das Leben nicht mehr lebenswert ist, und daß einem solchen Manne kein Gott u n d kein Mensch freund sein kann, weder auf Erden, noch unter der Erde nach seinem Abscheiden. Gedenket deshalb unserer Mahnung: was ihr auch tun möget, geschehe in redlicher Gesinnung, in der Erkenntnis, daß ohne sie aller Besitz und jegliches Streben eitel und unwürdig ist. Dem Feigen frommt weder Reichtum, denn der wird die Beute anderer, noch adeln ihn Schönheit und Kraft, weil sie ihm nicht gemäß sind und deshalb seine Nichtigkeit, nur noch mehr hervortreten lassen. Jedes Wissen ohne Gerechtigkeit und Tugend offenbart sich als niedere Verschlagenheit, nicht als echte Weisheit. Darum soll euer erstes und euer letztes Bestreben sein, wenn möglich noch höheren R u h m zu gewinnen als wir und unsere Väter. Wisset, daß wir in Unehren bestehen, wenn man uns besser nennt als euch, daß man uns aber glücklich preisen wird, wenn wir uns geringer erweisen als ihr. Am sichersten werdet ihr dieses Ziel erreichen, wenn ihr den Ruhm eurer Ahnen nicht mißbraucht, sondern euch sagt, daß es nichts Schmählicheres gibt, als auf die Taten seiner Väter zu pochen, um durch sie, nicht durch eigenes Verdienst, zu hohem Ansehen zu gelangen. Der R u h m der Vorfahren ist gewiß ein kostbarer Schatz, doch unwürdig ist es, ihn zu vergeuden, ihn nicht ungeschmälert den Kindern zu hinterlassen, weil m a n aus eigener K r a f t nichts an Gütern und Ehren hinzuzugewinnen vermochte. Beherzigt ihr dies, so werdet ihr als Freunde zu Freunden kommen, wenn euch dereinst das Geschick zu uns herabf ü h r t ; sonst aber werden wir euch nicht freundlich empfangen. Das sei unsern Kindern gesagt. Unsern Vätern und Müttern sollt ihr freundlich zureden, das Unglück, wenn es je geschähe, mit Gelassenheit hinzunehmen; ihr d ü r f t nicht in ihre Wehklagen einstimmen, denn sie haben an ihrem Leid schon genug zu tragen. Das möget ihr heilen und lindern. Erinnert sie daran, daß die Götter ihren

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M e n e x e n o s : K a p i t e l 20 u n d 21 höchsten Wunsch erfüllt haben: denn sie beteten ja nicht, daß ihnen unsterbliche Kinder geboren werden möchten, sondern treffliche und geachtete; und dieses höchste Gut ist ihnen zuteil geworden. Nur selten geschieht im Leben des Menschen alles nach seinen Wünschen, darum sollen sie tapfer ert r a g e n , was das Schicksal fügt. Dann werden sie sich als echte Väter wackerer Söhne bewähren; wenn sie aber verzagen, werden sie den Verdacht erregen, daß sie unsere Väter nicht sind, oder daß man uns zu Unrecht lobt. Das sei ferne: es ist ihre Pflicht, selbst unsere wirksamsten Lobredner zu sein, durch ihr Verhalten zu beweisen, daß sie in Wahrheit die Väter von Männern sind. Ein altes und schönes Sprichwort s a g t : „Nichts im Ü b e r m a ß " . Wer sein Glück ganz oder doch zumeist auf sich selbst gründet, nicht aber auf andere Menschen, von deren Gedeihen oder Verderb alsdann sein eigenes Wohlergehen abhängig wird, der hat den rechten Weg zu seinem Heil gefunden, der ist der Besonnene, Tapfere, Einsichtige. 2,i ) Der wird jenes Sprichworts gedenken, wenn ihm Besitz und Kinder verliehen oder genommen werden, er wird sich nicht übermäßiger Freude oder maßloser Trauer hingeben, weil er sich selbst vertraut. Möchten auch unsere Väter von solcher Art sein, das ist imser Wunsch und unser Begehr. Wir werden ihnen das Vorbild geben: wenn wir sterben müssen, wollen wir ohne sehr zu grollen und ohne zu zagen in den Tod gehen. So bitten wir unsere Väter und Mütter, in derselben ruhigen Fassung den Rest ihrer Tage zu verleben und dessen gewiß zu sein, daß sie uns durch Weinen und Klagen keine Freude bereiten können. Wenn je zu den Abgeschiedenen eine Kunde von den Lebenden dringt, werden wir es ihnen nicht danken, daß sie sich selbst quälen und mit ihrem Schicksal h a d e r n ; doch wenn sie es geduldig und gelassen ertragen, werden wir dankbare Freude empfinden. Unser Los ist das edelste, das dem Menschen zuteil werden kann, deshalb sollen sie es eher preisen als beklagen. Unserer Frauen und unserer Kinder mögen sie sich annehmen und diese sorgsam erziehen, das wird sie am leichtesten über ihren Kummer hinwegheben. Solches ist richtiger, würdiger und uns erwünschter. Das ist unsere Botschaft an unsere Hinterbliebenen. Den Staat ersuchen wir, für unsere Väter und Söhne zu sorgen, diesen eine gute Erziehung zu geben und jene in ihrem Alter nicht darben zu lassen. Doch vertrauen wir, daß der Staat auch ohne unsere Mahnung seine Fürsorge walten lassen wird. Soviel, ihr Eltern und Kinder der Gefallenen, h a t t e ich euch auszurichten, und ich t a t es gern. Nun bitte ich euch Kinder, den Vätern nachzueifern, und euch Eltern, guten Mutes zu sein. Jeder von uns Bürgern und der Staat wird eures Alters pflegen, wo er einen Bedürftigen erblickt. Ihr kennt die

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Menexenos: Kapitel

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Gesetze, die der Staat zur Versorgung der Kinder und Eltern seiner gefallenen Krieger erlassen hat, ihr wißt, wie strenge er es allen Bürgern und insonderheit den höchsten Behörden aufgegeben hat, die Väter und Mütter der Toten vor jeglicher Unbill zu schützen. Und die Kinder erzieht er so, daß sie es nicht empfinden sollen, verwaist zu sein, er selbst versieht an ihnen die Stelle des Vaters, solange sie unmündig sind. Den Mündigen händigt er ihr Vermögen aus, er verleiht ihnen die volle Waffenrüstung mit der Mahnung, sie ihrer Väter würdig zu tragen, damit ein jeder in vollem WafTenschmuck u n t e r guten Vorzeichen in das väterliche Haus einziehe und als Herr dort walte. Das Andenken der Gefallenen hält der S t a a t allezeit in E h r e n ; außer den Trauerfeiern im Familienkreise findet alljährlich eine öffentliche Gedenkfeier s t a t t , mit Kampfspielen, Pferderennen und musischen Veranstaltungen jeglicher A r t . So ehrt der S t a a t seine Gefallenen, gleichsam als ihr E r b e und Sohn, als Vater ihrer Kinder, als Pfleger ihrer Eltern, immerfort sorgsam und getreu. Dessen eingedenk werdet ihr euer Leid gelassener ertragen. Dann werdet ihr den Toten und den Lebenden wohlgefälliger sein, und es wird euch leichter gelingen, Dienste zu empfangen und zu erwidern. Nun stimmet die Totenklage an und gehet heim, ihr und die anderen. 2 6 ) Nach diesem Vortrage n i m m t Sokrates das Gespräch mit seinem jungen Freunde wieder auf: Das, Menexenos, ist die Rede der Milesierin Aspasia! — Beim Zeus, versetzt der, diese Aspasia m u ß ein wunderbares Weib sein, wenn sie als Frau eine solche Rede zu ersinnen vermag! — Ja, wenn du das nicht glauben willst, so komme doch mit zu ihr und höre sie selbst! — Ich bin ihr oft genug begegnet und weiß, was ich von ihr zu halten habe. — Nun also! Und du bewunderst sie nicht und dankst ihr nicht die Mühe? — Gewiß, Sokrates, ich bin sehr d a n k b a r für die Rede, mag sie von ihr oder von einem anderen verfaßt sein. Vor allem danke ich aber dem, der sie mir vortrug! — Gut. Doch verrate mich nicht, damit ich dir künftig noch manche schöne Staatsrede Aspasias wiedergeben kann. — Sei getrost, ich v e r r a t e nichts, teile mir nur alles mit! — Jawohl, das soll geschehen. —

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EUTHYDEMOS VORBEMERKUNGEN

A

ls Piaton den E u t h y d e m o s schrieb, war das Zeitalter der großen Sophistik vorüber, Protagoras, Gorgias, Prodikos, Hippias gehörten schon der Vergangenheit an. Um so lärmender trieben deren Nachfolger ihr Wesen. Nach echter Epigonenart bemühten sie sich nicht um die Pflege des Wertvollen, das jene Männer, jeder in seiner Art, geschaffen h a t t e n , sondern hielten sich gerade an das, was schon längst das Wort „ S o p h i s t " in Verruf gebracht hatte. Unbedenklich suchten sie das von ihren Vorgängern hinterlassene Geistesgut so auszumünzen, wie es ihnen und ihrem Publikum gemäß war. Die Skepsis der älteren, ernsten Sophistik wandelte sich unter ihren Händen in die dreisteste Verleugnung alles Wahren, Guten, Schönen. Nichts ist wahr, und andererseits gibt es auch keinen I r r t u m , alles hat nur relativ Gültigkeit, nichts steht fest: so lautete das Dogma, das sie der gläubigen Menge verkündeten. Als Werkzeug zu dieser zersetzenden Kritik an allen W e r t e n diente ihnen die Kunst des Disputierens, in der schon ihre Vorgänger geglänzt hatten. Die Fertigkeit, „die schwächere Sache zu stärkeren zur machen", steigerten sie zur höchsten Virtuosität, sie machten sich anheischig, jeden Satz nach Belieben zu beweisen oder zu widerlegen. Mit diesen Künsten suchten sie die Jugend zu gewinnen, und dazu verhießen ihr diese Verächter alles Edlen die Lehre der Tugend. Allerdings verstanden sie unter „ T u g e n d " etwas ganz anderes als Sokrates und Piaton, nämlich die Fähigkeit, sich im Leben rücksichtslos durchzusetzen, mit allen Mitteln Macht und Ansehen zu gewinnen, also den nacktesten Egoismus. In dieser Art betrieben sie die Streitkunst, die „Eristik", als lohnendes Gewerbe. Die athenische Jugend lief ihnen in Scharen zu, besonders h a t t e n sie es natürlich auf reiche Jünglinge abgesehen, von denen hohe Honorare zu erwarten waren. Dieser großen Gefahr für das geistige Leben Athens h a t t e Piaton zu begegnen, IO7

Euthydemos:

Vorbemerkungen

es galt, die athenische Jugend und d a m i t die Z u k u n f t des V a t e r l a n d e s von diesen Verführern zu retten. N a c h d e m er sich mit den H ä u p t e r n und eigentlichen Begründern der Schule in den nach ihnen benannten Dialogen auseinandergesetzt hatte, begibt sich Piaton in diesem Dialoge in jene Niederungen der Sophistik. Zu ihren Vertretern wählt er ein seltsames B r ü d e r p a a r , E u t h y demos und Dionysodoros. Die beiden waren nach A t h e n eingewandert und h a t t e n sich dort z u n ä c h s t als Fechtmeister ihr B r o t verdient. A b e r dann h a t t e n sie sich der lohnenderen und weniger mühsamen A u f g a b e zugewandt, die Jugend im K a m p f mit den geistigen W a f f e n der Sophistik auszubilden. Piaton läßt sie uns ihre Fechterstreiche vorführen, als eine Blütenlese aus dem, was die Sophisten dieses Schlages ihrem P u b l i k u m zu bieten w a g t e n . Einer W i d e r l e g u n g w ü r d i g t er ihre Trugschlüsse nicht, er treibt sie vielmehr auf die Spitze und gibt sie dadurch der verdienten Lächerlichkeit preis. 1 ) Sokrates, der es sonst nicht liebt, sich ausfragen zu lassen, läßt sich diesmal entgegen seiner G e w o h n h e i t dazu herbei, den Sophisten Rede zu stehen; auch den absurdesten B e w e i s k e t t e n gibt er sich, manchmal freilich mit kräftigen Seitenhieben, willig gefangen. Z u m Verständnis dieser wunderlichen R e d e k ä m p f e m u ß man sich folgendes gegenwärtig h a l t e n : W i e die Idee des A g o n , der Entfesselung aller K r ä f t e durch den freien W e t t k a m p f , das ganze K u l t u r l e b e n der Griechen beherrschte, 2 ) galt ihnen auch die K u n s t des Disputierens nicht als Mittel zur A u f f i n d u n g wahrer Erkenntnisse, sondern als ein geistiger R i n g k a m p f , in dem der Gegner nach den Regeln dieses Sportes zu Falle zu bringen war. E s wird eine These aufgestellt, man einigt sich auf gewisse V o r a u s s e t z u n g e n : und wenn dann dem Angreifenden der Nachweis g l ü c k t , daß These und Voraussetzungen nicht übereinstimmen, so hat er gesiegt, die These gilt damit als erledigt. Der Leser wird sich mancher Beweise entsinnen, durch die auch der Sokrates P i a t o n s mit seinem Gegner zugleich einen ganz richtigen, nur unzureichend formulierten und begründeten G e d a n k e n „ w i d e r l e g t " . D o c h bleiben die eigentlichen Z w e c k e der Auseinandersetzung, das redliche, unermüdliche Forschen nach der W a h r h e i t und die A n l e i t u n g zu einem methodischen Denken, hier immer deutlich erkennbar. Diesen polaren Gegensatz der somatischen, stets auf die geistige und sittliche E r w e c k u n g des Schülers ausgehenden Methode und dem zur F l a c h h e i t im D e n k e n und zur Gewissenlosigkeit im Handeln v e r f ü h r e n d e n Gaukelspiel der Sophistik hebt P i a t o n im E u t h y demos scharf und anschaulich hervor. E r l ä ß t auch Sokrates das W o r t ergreifen, um an einem eindrucksvollen Beispiel zu zeigen, wie ein wirklicher Jugendbildner zu reden h a t . V o n diesem E r n s t sind die beiden Helden dieses 108

Euthydemos:

Vorbemerkungen

Dialoges weit entfernt. Sie gehen lediglich darauf aus, ihre Gegner in eine Falle zu locken, und wenn ihnen das gelingt, so ist damit das Unsinnigste als wahr, das evident Richtige als falsch bewiesen. Mit besonderer Vorliebe mißbrauchen sie zur Düpierung ihrer Gegner den Doppelsinn der Worte, wozu ihnen die Besonderheiten der griechischen Sprache weit wirksamere H a n d h a b e n bieten, als es im Deutschen der Fall ist. Möglich waren diese Taschenspielerkunststücke indessen nur in einer Zeit, in der von einer wirklichen Logik noch keine Rede sein konnte. Die damals herrschende Anarchie des Denkens, das Unvermögen zu festen Begriffsbildungen erklären es allein, daß ein geistig so hochstehendes Volk wie die Athener sich an solchen tollen Ausgeburten eines freilich erstaunlichen Scharfsinns begeistern konnte. In dieser Hinsicht ist Piatons E u t h y d e m o s ein unschätzbares Dokument zur Geistesgeschichte des griechischen Volkes, oder auch, wenn m a n will, zur Pathologie des menschlichen Denkens überhaupt. Denn man darf keineswegs annehmen, daß Piaton die hier vorkommenden Trugschlüsse frei erfunden habe; sie sind zum großen Teile nachweisbar echt, nur, wie schon bemerkt, mehr oder weniger als Karikaturen nachgezeichnet. Piaton belebt diesen Dialog durch eine große Zahl von Gesprächsteilnehmern. Als witziger, schlagfertiger Sekundant des Sokrates erscheint der junge, uns schon aus dem Lysis bekannte K t e s i p p o s mit seinem Liebling K l e i n i a s , einem Knaben aus vornehmem, reichem Hause; sein Vater Axiochos war ein Oheim dos Alkibiades. Den Verlauf der H a n d l u n g erzählt Sokrates dem K r i t o n . Über die langjährige enge Freundschaft, die diesen tüchtigen, aber etwas nüchternen Geschäftsmann mit Sokrates verband, geben der nach ihm benannte Dialog und der Phaedon Aufschluß. E u t h y d e m o s war in Wirklichkeit nicht so närrisch, wie ihn Piaton schildert, eine von diesem Sophisten verfaßte Schrift hat sogar Aristoteles seiner Beachtung gewürdigt. D i o n y s o d o r o s wird in Xenophons Memorabilien (III 1, 1) erwähnt. Sonst ist von den beiden Brüdern nichts Näheres b e k a n n t . Ich habe in der Wiedergabe dieses Dialoges nur geringfügige Kürzungen vorgenommen, abgesehen von dem stärker gekürzten Schlüsse. Eine weitergehende Zusammenfassung des Textes schien mir nicht zulässig zu sein: Piaton h a t im Aufbau und in der D u r c h f ü h r u n g des Dialoges ein Meisterwerk geschaffen, von welchem nur die Vollständigkeit der Darstellung ein getreues Abbild geben kann.

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Euthydemos:

S

Kapitell

okrates ist im Gespräch mit Kriton, seinem alten Freunde. Kriton f r a g t : Wer war der, mit dem du dich gestern im Lykeion 3 ) unterhieltest ? Es stand eine so dichte Menge u m euch herum, daß ich von eurer Unterredung nichts deutlich vernahm. Nach dem, was ich über die Köpfe der Zuhörer hinweg sehen konnte, schien der, mit dem du sprachest, ein Fremder zu sein ? — Wen meinst du, Kriton ? Es war nicht einer, sondern zwei. — Ich meine den, der als dritter von rechts neben dir saß. Zwischen euch bemerkte ich des Axiochos jungen Sohn, der t ü c h t i g herangewachsen ist. Er scheint etwa so alt zu sein wie mein Sohn Kritobulos, aber der ist klein und schmächtig, jener dagegen hochgewachsen und von edler, schöner Gestalt. — Der Mann, nach dem du fragst, ist Euthydemos, und der andere, der links neben mir saß, sein Bruder Dionysodoros, auch dieser n a h m an dem Gespräch teil. — Ich kenne keinen von den beiden, sie sind wohl neuangekommene Sophisten ? Woher stammen sie denn ? Und was ist ihre Weisheit ? Sokrates berichtet i h m : Sie stammen, glaubeich, aus Chios und waren nach Thurii ausgewandert. 4 ) Dort wurden sie vertrieben und halten sich nun seit mehreren Jahren hierzulande auf. Aber ihre Weisheit, nach der du dich erkundigtest, ist w a h r h a f t erstaunlich! Bei ihnen habe ich erst eigentlich gelernt, was man unter einem echten Pankratisten zu verstehen hat. 5 ) Sie sind Meister in aller Gymnastik, dazu glänzende Fechter in schwerer Rüstung u n d lehren diese K u n s t bereitwilligst einen jeden, der sie bezahlt. Ferner sind sie außerordentlich tüchtige Gerichtsredner und unterweisen auch andere im Schreiben und Vortragen solcher Reden. Ehemals h a t t e n sie sich auf diese Betätigungen beschränkt, neuerdings haben sie sich indessen auch das Letzte angeeignet, das ihnen an der vollkommenen Meisterschaft im Kämpfen jeglicher Art noch fehlte: mit Worten streiten sie jetzt ebenfalls so, daß niemand ihnen widerstehen k a n n ; sie widerlegen schlechterdings alles, mag es wahr oder falsch sein. Deshalb habe ich mich entschlossen, zu ihnen in die Lehre zu gehen, denn sie verheißen, daß sie jeden beliebigen darin ebenso tüchtig machen würden. — Wie, Sokrates, fürchtest du nicht, daß du zu einem solchen Studium schon reichlich alt bist ? —• Durchaus nicht, lieber Kriton. Diese haben die Streitkunst doch auch erst in vorgerückten Jahren erlernt, vor einem oder zwei Jahren wußten sie davon noch nichts. Ich befürchte nur, daß ich ihnen Schande machen könnte, wie dem Konnos, der mich im Kitharaspiel unterrichtet. 6 ) Die Knaben, die meine Mitschüler sind, lachen über meine Ungeschicklichkeit und nennen Konnos einen Greisenlehrer. Es könnte deshalb sein, daß jene mich nicht aufnehmen wollen, weil ich ihnen zu b e j a h r t bin. Beim Konnos habe ich mir dadurch geholfen, daß ich ihm IIO

Euthydemos:

Kapitel

1 bis 3

andere Männer meines Alters als Schüler zuführte, und dasselbe gedenke ich j e t z t ebenfalls zu t u n . Hast du nicht Lust, dich mir anzuschließen ? Als Lockmittel könnten uns deine Söhne dienen; wenn sie von denen hören, werden sie uns annehmen, u m diese als Schüler hinzuzugewinnen. — Wenn du das für richtig hältst, habe ich nichts dagegen. Doch sage mir zunächst, worin die Weisheit dieser Männer besteht, damit ich sehe, was wir von ihnen lernen können. — Das will ich dir nicht vorenthalten, ich habe gut aufgepaßt und werde dir alles von A n f a n g an erzählen: Wie durch eine göttliche Fügung war ich in dem Auskleideraum, wo du mich sähest, ganz allein und wollte gerade fortgehen. Doch da k a m mir das gewohnte Zeichen, mein Dämonion riet mir zu bleiben. 7 ) Und siehe! Kurz darauf t r a t e n E u t h y d e m o s und Dionysodoros ein, mit vielen anderen, die ihre Schüler zu sein schienen. Sie gingen in der Halle auf und ab, und als sie einige Male kehrtgemacht h a t t e n , erschien Kleinias, von dem du richtig sagtest, daß er recht schön herangewachsen sei. I h m folgten seine zahlreichen Verehrer, u n t e r ihnen Ktesippos, ein junger Mensch von edler Art, aber voller J u g e n d ü b e r m u t . Als Kleinias mich einsam dasitzen sah, kam er sogleich zu mir und setzte sich rechts neben mich, wie du bemerktest. E u t h y demos und Dionysodoros blieben darauf stehen und tuschelten miteinander, es entging mir nicht, daß sie nach uns blickten. 8 ) Dann kamen sie herbei, Euthydemos setzte sich neben den Knaben, Dionysodoros zu meiner Linken, die andern ließen sich nieder, wo sie Platz fanden. Ich begrüßte die Fremden, da ich sie von früher her kannte, und sagte zu Kleinias: Diese beiden, E u t h y d e mos und Dionysodoros, sind weise Lehrer, und zwar nicht in Kleinigkeiten, sondern in großen Dingen. Sie sind Kenner der Kriegskunst, kennen alles, was ein künftiger Feldherr lernen muß, Strategie, T a k t i k und das Fechten in schwerer Rüstung. Sie lehren auch, wie man vor den Gerichten seine Sache zu führen h a t . Da lachten die beiden und schauten einander an. E u t h y demos sprach: Das treiben wir gar nicht mehr ernsthaft, sondern n u r noch nebenbei! Voller E r s t a u n e n versetzte ich: Da m ü ß t ihr freilich eine hohe Aufgabe erkoren haben, wenn so Bedeutendes euch zur Nebensache ward. Sagt mir doch, bei den Göttern, was ihr betreibt! — Die Tugend, Sokrates, vermeinen wir besser lehren zu können als jeder andere und überdies schneller! O Zeus, rief ich aus, das ist j a großartig! Woher k a m euch dieser Fund ? Bisher wußte ich nur, daß ihr zu fechten verständet, denn das h a t t e t ihr öffentlich bekanntgegeben, als ihr nach Athen kämet. W e n n ihr jetzt aber dieses hohe Wissen besitzt, so seid mir gnädig; wie Götter muß ich euch bitten, mir meine W o r t e zu verzeihen. Ist es denn auch wirklich wahr ? Die III

Euthydemos:

Kapitel

3 bis

5

Größe eurer Verheißung wird meinen Z w e i f e l entschuldigen. —

Wisse, So-

krates, es ist so, erwiderten sie. — Dann preise ich euch um dieses Besitztums willen glücklich, mehr als den Großkönig mit seinem Reiche.

Saget mir j e t z t

aber, ob ihr gewillt seid, uns eure W e i s h e i t zu zeigen ? — E b e n darum sind wir g e k o m m e n , w i r lehren sie jeden, der sie erlernen will. — Das wollen w i r alle, ich bürge d a f ü r !

Zunächst ich, dann Kleinias, ebenso Ktesippos hier

und diese andern. — Die standen alle mit den A n h ä n g e r n der beiden F r e m d e n um uns herum, auch Ktesippos hatte sich erhoben und v o r uns aufgestellt, um besser zu hören und zu sehen, denn seinen L i e b l i n g Kleinias hatte er v o n seinem P l a t z nicht anschauen können, weil ihm die Aussicht verdeckt

war.

E r stimmte mir eifrig bei, und sie alle baten die beiden um eine P r o b e ihrer Kunst. Ich f ü g t e hinzu: Ihr w e r d e t uns gewiß diesen Gefallen gern erweisen.

Es

m a g freilich nicht leicht sein, uns alles zu erklären; sagt mir deshalb zunächst nur. ob ihr allein den zu einem tüchtigen Mann heranbilden könnt, der euch aus Überzeugung f o l g t , oder überhaupt einen jeden, m a g er an der Lehrbarkeit der T u g e n d zweifeln oder euch nicht als die rechten Lehrer anerkennen. Das macht keinen Unterschied aus, versicherte Dionysodoros. —• A l s o seid ihr die Männer, die besser als jeder andere zur Philosophie und zur T u g e n d anzuleiten v e r m ö g e n ? —

Das glauben wir allerdings, Sokrates. - -

So laßt

alles andere vorerst beiseite und sucht diesen Jüngling zu überzeugen, man Philosophie und T u g e n d zu pflegen hat. daß er so trefflich wie möglich werde.

Wir

Sein V a t e r ist Axiochos, sein Groß-

v a t e r der ältere Alkibiades, der junge A l k i b i a d e s also sein V e t t e r . ist Kleinias.

daß

alle haben den W u n s c h , Sein N a m e

E r ist noch sehr jung, und w i r haben deshalb die begreifliche

Sorge, daß man ihn auf A b w e g e führen und verderben möchte. ihr uns sehr gelegen.

Da k o m m t

So redet mit ihm in unserer Gegenwart, wenn euch

das nichts ausmacht. —

E u t h y d e m o s versprach zuversichtlich: Das

uns gar nichts aus, wenn der Jüngling nur antworten will. —

macht

Daran ist er

gewöhnt, versetzte ich, diese hier haben ihm schon viele Fragen

vorgelegt,

und er w a r nie um eine A n t w o r t verlegen. W i e soll ich dir, K r i t o n , das, was nun geschah, gehörig erzählen ? Es ist wahrlich nicht leicht, solche unermeßliche W e i s h e i t wiederzugeben. W i e die D i c h t e r muß ich mit einem Anruf an die Musen und ihre gedächtnisreiche beginnen, auf daß sie mir helfen.

Mutter

Die erste F r a g e des E u t h y d e m o s l a u t e t e

e t w a : W e l c h e Menschen lernen, Kleinias, die klugen oder die dummen ? K n a b e n versetzte die schwere F r a g e sichtlich in Verlegenheit, er und blickte mich hilfesuchend an. 112

Den

errötete

Ich sprach ihm Mut z u : a n t w o r t e

nur

Euthydemos: Kapitel 5 und 6 dreist, vielleicht trägst du großen Gewinn davon. Dionysodoros flüsterte mir mit lächelnder Miene zu: der Junge mag sagen, was er will, widerlegt wird er doch. Inzwischen hatte Kleinias schon geantwortet, bevor ich ihm einen Wink geben konnte, vorsichtig zu sein: die Klugen seien die Lernenden. Darauf nahm ihn Euthydemos folgendermaßen ins Verhör: Weißt du, was ein Lehrer ist ? •— Ja. — Er ist Lehrer von Lernenden, wie der Musiklehrer und der Schreiblehrer dich und deine Mitschüler unterwiesen ? — Ja. — Ihr lerntet von ihnen und wußtet noch nicht, was ihr lerntet? — Nein. — Wäret ihr also klug, als ihr das noch nicht wußtet ? —• Nein. — Dann also dumm ? — Jawohl. — Ihr wäret daher dumm, als ihr lerntet ? — Kleinias nickte. — Folglich, lieber Kleinias, lernen die Dummen, nicht die Klugen, wie du meinst. Da war es, wie wenn ein Chormeister seinem Chor das Einsatzzeichen gibt: das Gefolge der beiden Brüder brach in ein tosendes Gelächter aus. Und bevor der Knabe wieder zu Atem gekommen war, überfiel ihn Dionysodoros mit der Frage: Wie war es aber, wenn der Lehrer euch etwas vortrug, lernten das die Klugen oder die Dummen ? — Die Klugen, lautete des Kleinias Antwort. — Also lernen die Klugen und nicht die Dummen, du hast dem Euthydemos falsch geantwortet. Wiederum gaben die Verehrer der beiden Männer durch Lärmen und Lachen ihren Beifall kund, wir andern staunten und schwiegen. Euthydemos bemerkte das und suchte unsere Bewunderung noch zu steigern. Mit einer eleganten Wendung, gleich einem gewandten Tänzer, fragte er weiter: Was lernen denn die Lernenden, Kleinias, was sie wissen oder was sie nicht wissen? Dionysodoros flüsterte mir abermals ins Ohr: Jetzt wird es ihm geradeso ergehen wie eben. — Mein Gott, sagte ich, das vorige war schon schlimm genug. — Solche Fragen stellen wir immer, da findet niemand einen Ausweg! — Nun, euren Schülern scheint das ja sehr zu imponieren. — Mittlerweile hatte Kleinias geantwortet: die Lernenden lernten, was sie nicht wüßten; worauf ihn Euthydemos in derselben Weise befragte wie zuvor: Sage mir, kennst du die Buchstaben ? — Ja. — Alle ? — Ja, alle. — Wenn dir nun der Lehrer etwas vorspricht und buchstabiert, so spricht er doch Buchstaben aus ? — Ja. — Also trägt er dir etwas vor, das du kennst, denn du kennst ja alle Buchstaben ?— Auch das gab Kleinias zu. — Du lernst also, was du kennst, oder könnte das jemand lernen, der von den Buchstaben nichts weiß ? — Nein, ich lerne. —• Demnach lernst du, was du weißt, da du alle Buchstaben kennst ? — So ist es. — Folglich war deine Antwort falsch! •— Euthydemos hatte das Wort kaum gesprochen, als es Dionysodoros wie einen Ball auffing, um den Knaben weiter zu bedrängen: Euthydemos hat dich irregeführt, mein g

V e r i n g , Piatons Dialoge 3

113

Euthydemos:

Kapitel 6 und 7

Lieber, antworte mir. Lernen bedeutet doch wohl, sich ein Wissen anzueignen ? — Ja. — Dagegen besitzt der Nichtwissende die Erkenntnis nicht ? — Nein. — Wer eignet sich nun etwas an: der, der es schon besitzt, oder der, der es nicht besitzt ? — Der es nicht besitzt. — Die Nichtwissenden gehören aber, wie du zugestandest, zu denen, die noch nicht besitzen? — Kleinias nickte. — Die Lernenden sind demnach Empfangende, nicht aber Besitzende ? — Ja. — Folglich lernen die Nichtwissenden, lieber Kleinias, nicht die Wissenden. Wie ein Ringkämpfer schickte Euthydemos sich zum dritten Gange an, um Kleinias endgültig niederzuwerfen. Da t a t mir der wie begossen dasitzende Junge leid; ich griff ein, damit er nicht gänzlich verzage, und sprach zu i h m : Über diese ungewohnten Reden darfst du dich nicht wundern; wahrscheinlich errätst du nicht, warum diese Männer so mit dir umgehen. Aber du weißt doch, wie es bei der Weihe eines K o r y b a n t e n zugeht: da setzt man den Novizen auf einen Thron, den die Weihenden unter allerlei Späßen umtanzen. So treiben auch diese Fremden ihren Spaß mit dir, um dir nachher die Weihen zu erteilen. Stelle dir also vor, daß du jetzt in die Anfangsgründe der heiligen Sophistik eingeweiht wurdest. Denn, wie Prodikos sagt, soll man zuerst den richtigen Gebrauch der Worte erlernen, 9 ) und darum führten die Fremden dir zu Gemüte, daß du den Doppelsinn des Wortes „lernen" noch nicht kanntest. Es bedeutet erstens: eine Kenntnis von Dingen zu erwerben, von denen m a n überhaupt nichts wußte, und zweitens: bereits vorhandene Kenntnisse auf einen neuen Gegenstand anzuwenden, um ihn, wie man zumeist sagt, zu begreifen. Aber man kann das auch „lernen" nennen. Das ist dir noch fremd, und deshalb konntest du nicht wissen, daß dasselbe Wort „lernen" auf Wissende und Unwissende angewendet wird. Ähnlich verhielt es sich mit der zweiten Frage: ob man lernt, was man weiß, oder was man nicht weiß. Doch sind das wissenschaftliche Scherze, und zwar deshalb, weil niemand, selbst wenn er diese Tricks sämtlich beherrscht, damit zu einer wirklichen Erkenntnis der Dinge gelangt. Sie taugen nur dazu, jemandem unter Mißbrauch des Sinnes der Worte einen Streich zu spielen, wie wenn m a n einen Menschen durch Beinstellen zu Falle bringt, oder ihm, wenn er sich setzen will, den Schemel hinterrücks fortzieht und dann darüber lacht, daß er am Boden liegt. Du kannst also glauben, daß alles nur Spaß war. Ihren Ernst wirst du schon auch noch kennen lernen, und dazu werde ich dir behilflich sein. Sie haben mir versprochen, dich auf den Weg der Weisheit zu führen. Und so, E u t h y d e m o s und Dionysodoros, laßt das ein Spiel gewesen sein, wir haben genug davon. F ü h r t jetzt den Jüngling zu der Erkennt-

114

Euthydemos: Kapitel 7 und 8 nis, wie man Tugend und Weisheit zu pflegen hat. Ich will euch ein Beispiel geben, wie ich mir das vorstelle, und wie ich es von euch zu hören wünsche. L a c h t mich nicht aus, wenn euch meine Weise allzu dilettantenhaft d ü n k t , m e i n Verlangen nach eurer Weisheit ist so groß, daß ich den Versuch wage. H ö r e t also ruhig zu, ihr und eure Schüler. Du aber, Sohn des Axiochos, a n t w o r t e mir: Wollen alle Menschen, daß es ihnen wohlergeht ? Oder ist schon diese Frage lächerlich ? Denn wer sollte nicht wünschen, daß es ihm wohlergehe ? — Sicherlich niemand. — Schön, d a n n müssen wir sehen, wie wir dahin gelangen. E t w a durch den Gewinn vieler Güter ? Oder ist diese Frage noch einfältiger? Denn es kann ja gar nicht anders sein! — Gewiß nicht. — Was nennen wir denn Güter ? Auch das ist leicht zu entscheiden, jeder wird uns sagen: der Reichtum ist ein Gut. Nicht w a h r ? — Gewiß. — Aber auch Gesundheit, Schönheit und ein gestählter Körper ? — Auch das. — Sodann edle A b k u n f t , Macht und Ehre ? — Ja. —• Und was sonst noch ? E t w a Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit ? Dürfen wir diese unbedenklich den G ü t e r n zurechnen, oder haben wir Widerspruch zu gewärtigen ? Was meinst d u ? — Ich halte sie für Güter. — Recht so. Und welche Stelle sollen wir der Weisheit anweisen ? — Auch sie gehört zu den Gütern. — Dann überlege dir, ob wir kein nennenswertes Gut vergessen haben ? — Ich glaube nicht. — Doch, versetzte ich nachdenklich, wenn ich nicht irre, haben wir gerade das größte Gut übergangen. — Welches d e n n ? — Das gute Glück, Kleinias! Das nennt ja ein jeder, auch der Einfältigste, das höchste aller Güter! — Das ist wahr. — Ich sann indessen nochmals nach und sagte: Beinahe h ä t t e n wir uns nun wirklich vor den Fremden blamiert! — W a r u m ? — Weil wir des Glückes schon gedacht hatten und es jetzt nochmals anführen. — Was schadet d a s ? — Es ist lächerlich, das schon Erledigte noch einmal vorzubringen! — Das verstehe ich noch nicht recht. — Nun, das Glück liegt ja in der Weisheit! Das müßte jedes Kind einsehen. — Doch er verwunderte sich darüber, so j u n g und töricht ist er noch. Ich suchte ihm das auf folgende Weise klarzumachen: Du wirst doch wissen, daß im Flötenspiel der kundige Spieler den glücklichsten Erfolg hat, ebenso wie der Schreibmeister im Schreiben ? Und in den Gefahren des Meeres befinden wir uns sicherlich am glücklichsten unter der Obhut eines zuverlässigen K a p i t ä n s ? Ferner: mit wem möchtest du im Kriege Gefahr und Glück teilen, mit einem weisen Feldherrn oder mit einem unerfahrenen ? Würdest du dich als Kranker einem unwissenden Arzte anvertrauen oder einem weisen ? — Einem weisen. — Weil du überzeugt bist, mit einem Weisen glücklicher zu fahren als mit einem Unweisen ? — 8*

ii5

Euthydemos:

Kapitel 9

J a . — Du siehst also, daß die Weisheit überall dem Menschen Glück bringt. Sie wird niemals fehlgreifen, denn sonst wäre sie nicht Weisheit. Schließlich einigten wir uns dahin: Wo Weisheit ist, h a t m a n des Glückes genug. Dann fragte ich weiter: Wir h a t t e n zugestanden, daß es uns glücklich u n d wohl ergehe, wenn uns viele Güter zu Gebote ständen. Würde das der Fall sein, wenn sie unnütz sind, oder nur dann, wenn sie uns nützen ? — N u r dann. — Können sie uns nützlich sein, wenn wir sie besitzen, aber nicht gebrauchen ? Wenn wir zum Beispiel reichlich Speise und Trank haben, aber nicht essen und nicht trinken ? — Nein. — Verhält es sich mit den Handwerkern nicht ebenso? Welchen Nutzen könnte ein Handwerksmeister, etwa ein Zimmermann, von seinen Vorräten und Werkzeugen haben, wenn er von diesem Besitz keinen Gebrauch macht ? — Keinen. — Und wenn jemand Reichtum und alle Güter, die wir vorhin aufzählten, in seinem Besitz h ä t t e , aber sich ihrer nicht bediente: würde ihn dann der bloße Besitz glücklich m a c h e n ? — Nein. — Also genügt der Besitz nicht zum Glück; man m u ß ihn gebrauchen, sonst nützt er nicht. Ist denn aber der Besitz und dessen Gebrauch schon ausreichend, um uns glücklich zu machen ? — Das genügt wohl. — Immer ? Einerlei, ob man davon den rechten oder einen falschen Gebrauch macht ? — Nein, nur wenn man richtig verfährt. — Sehr schön! Wer sich einer Sache nicht zu bedienen weiß, soll sie liegen lassen, sonst richtet er nur Unheil an. Denke nun an die Verwendung und Bearbeitung des Bauholzes; darauf versteht sich doch wohl nur die Kunst des Zimmermannes ? — J a . — Gilt das nicht auch für den Gebrauch der Güter, die wir an erster Stelle nannten, Reichtum, Gesundheit, Schönheit ? Muß uns nicht auch da die rechte Erkenntnis leiten? — Nichts anderes. •— Ja. Denn diese f ü h r t uns nicht nur zum Glück, sondern auch zum Erfolge, was wir auch besitzen und t u n mögen. Und beim Zeus! gibt es denn ü b e r h a u p t ein Besitztum, das uns ohne Einsicht und Wissen nützen könnte ? Wird ein unverständiger Mensch, der mit reichen Gütern ausgestattet ist und vieles unternimmt, irgendwelchen Nutzen davontragen ? Je weniger er wagt, desto weniger greift er fehl, um so sicherer ist er vor Mißgeschick und demnach um so glücklicher. Wer wird nun weniger unternehmen, der Arme oder der Reiche ? Der Starke oder der Schwache ? Der Angesehene oder der Unangesehene ? Der besonnen Tapfere oder der Feige ? Der Fleißige oder der Träge ? Der Langsame oder der Behende ? — In allen diesen und anderen Fragen waren wir derselben Meinung. 10 ) — Zusammenfassend, lieber Kleinias, dürfen wir also sagen: Alles was wir Güter nennen, ist nicht an und f ü r sich g u t ; vielmehr werden diese zu ärgeren Übeln als deren Gegensätze, wenn

116

E u t h y d e m o s : K a p i t e l 9 b i s 11 die Torheit die Oberhand hat, und zwar um so mehr, je leichter sie der schlechten Führung zu Gebote stehen. Aber unter der Leitung der Einsicht und Weisheit gewinnen sie höchsten Wert. Was folgt daraus ? Allein die Weisheit ist ein Gut, alles andere weder gut noch übel. Wir sahen also, daß wir alle glücklich sein wollen, daß wir dieses Ziel nur durch den rechten Gebrauch unserer Besitztümer erreichen können, und daß uns hierzu einzig die Erkenntnis anleitet. Es folgt daraus, daß sich jeder bemühen muß, soviel Einsicht wie möglich zu gewinnen. Ist es so ? — Ja. — Darum ist es weitaus wertvoller, vom Vater und den Vormündern dieses Gut zu erhalten, als Schätze und Geld zu erben; auch Freunde und Liebhaber, Mitbürger und Fremde sollen wir inständig bitten, uns Weisheit zu verleihen. Da ist es nicht schimpflich und verwerflich, dem Liebhaber oder einem anderen Menschen dienstbar zu sein, willig soll man ihnen im Streben nach Weisheit jeden edlen Dienst erweisen. — Oder denkst du darüber anders ? — Nein, es ist so. — Ja, gesetzt daß die Weisheit lehrbar ist und nicht den Menschen von selbst zufällt! Und diese Frage müssen wir noch entscheiden, wir haben uns über sie noch nicht geeinigt. — Mir scheint die Weisheit lehrbar zu sein, erklärte Kleinias. — Voller Freude rief ich aus: Das war eine gute Antwort, du vortrefflichster Mensch, durch sie hast du mir eine lange Auseinandersetzung erspart! 11 ) Wenn du also der Meinung bist, daß die Weisheit lehrbar sei und allein das Glück des Menschen begründe, so wirst du anerkennen müssen, daß es notwendig ist, sich der Philosophie zu widmen und bei diesem Entschluß fest zu beharren. — Ganz gewiß, Sokrates, ich werde keine Mühe scheuen. — Das vernahm ich gern und wandte mich dann wieder an Euthydemos und Dionysodoros: Dies ist mein Beispiel, so denke ich mir eine rechte Anleitung zur Tugend, wenn auch mein Versuch einigermaßen laienhaft ausgefallen sein mag. Jetzt möge einer von euch das Gleiche schulgerecht vortragen. Sonst fahret da fort, wo ich aufhörte, und erklärt dem Kleinias, ob man sich zu diesem Behuf alles Wissen aneignen muß, oder ob ein Wissen genügt, um uns glücklich und gut zu machen, und welcher Art dieses Wissen ist. Wie ich schon sagte, liegt uns viel daran, daß der Jüngling so weise wie möglich werde. Damit, Kriton, beschloß ich meine Rede. Ich war nun sehr gespannt, wie die Fremden meine Worte aufnehmen und wie sie es anstellen würden, dem Knaben den Weg zur Weisheit und Tugend zu weisen. Zuerst nahm der ältere der beiden, Dionysodoros, das Wort, und wir hofften, von ihm etwas Wunderbares zu vernehmen. In dieser Erwartung wurden wir auch nicht getäuscht, 117

Euthydemos:

K a p i t e l 11 u n d 12

und du wirst staunen, wenn du hörst, wie seine Anleitung zur Tugend ausfiel. E r begann: Du sagtest, Sokrates, daß ihr den dringenden Wunsch hättet, dieser Jüngling möge weise werden. W a r euch das Ernst oder Scherz ? — Mir schien es, daß die beiden unsere erste Aufforderung, sich mit dem Knaben zu befassen, als Scherz aufgefaßt und deshalb Scherz mit ihm getrieben hätten. So versicherte ich nachdrücklich, es sei uns großer Ernst. —• Dann siehe dich vor, Sokrates, versetzte jener, daß du nicht widerrufen m u ß t , was du soeben b e h a u p t e t e s t ! — Das werde ich niemals t u n ! — So wünscht ihr wirklich, daß er weise w i r d ? — Bestimmt. — Ist er jetzt weise oder n i c h t ? — Auf Weisheit erhebt er keinen Anspruch, er ist bescheiden. — Ihr wollt indessen, daß er weise werde und nicht unwissend sei ? — Ja. — Er soll also werden, was er nicht ist, und nicht der sein, der er ist ? — Da geriet ich in Schrecken. E r bemerkte meine Bestürzung und f u h r f o r t : W e n n er nicht der sein soll, der er ist, so wollt ihr ihn offenbar vernichten ? Das wären mir aber rechte Freunde und Liebhaber, die den größten W e r t darauf legten, daß ihr Liebling zugrunde ginge! Diese Bemerkung versetzte Ktesippos in solche Empörung, daß er laut ausrief: Du Thurischer Fremdling, wenn es nicht unschicklich wäre, würde ich sagen: Das falle auf dein H a u p t zurück! Du lügst, wenn du mir eine solche Absicht andichtest! Es ist schon ein Frevel, überhaupt so etwas zu sagen: daß ich das Verderben dieses Knaben wünschte! I h m erwiderte Euthydemos : Ja, hältst du es denn für möglich, daß jemand etwas Unwahres sagt ? 12 ) - - Ja, beim Zeus, sonst m ü ß t e ich toll sein! — Spricht denn der von dem Gegenstande, von dem die Rede ist, oder n i c h t ? — Ja. — Und wenn er das tut, so spricht er doch von keinem anderen Dinge als von diesem ? — Ohne Zweifel. ---- Das ist also ein Seiendes, unterschieden von den anderen seienden Dingen? -— Gewiß. — Er redet demnach von dem, was wirklich i s t ? — Ja. — Wer aber ausspricht, was wirklich ist, sagt die Wahrheit. Folglich hat Dionvsodoros nicht gelogen. — Ja, aber er h a t dennoch etwas gesagt, was nicht wirklich ist. — W a s ist denn das, was nicht wirklich ist ? Das ist doch das Nichtseiende ? Und ist das Nichtseiende jemals seiend ? — Niemals. — Ist es also möglich, mit dem Nichtseienden etwas vorzunehmen ? Kann man es etwa machen ? — Schwerlich. — Tun die Redner nichts, wenn sie vor dem Volke sprechen ? — Doch. — Dann machen sie doch etwas ? — Ja. — Die Rede ist also ein Machen und Tun ? — Ja. — Darum redet auch keiner, was nicht wirklich ist, denn sonst würde er es machen, aber du hast zugestanden, daß m a n das Nichtseiende nicht machen kann. Folglich m u ß t du zugeben, daß Dionysodoros sagt, was wirklich i s t , also wahr ist. — Beim Himmel,

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Euthydemos:

K a p i t e l 12 b i s 14

erwiderte Ktesippos, er mag wohl von dem reden, was ist, aber nicht, wie es ist. •— Wie, Ktesippos, gibt es denn Menschen, die so von den Dingen reden, wie sie sind ? — Die gibt es allerdings, das t u n alle rechtschaffenen u n d wahrheitsliebenden Männer! — So ? Ist das Gute nicht gut, das Schlechte nicht schlecht ? — Ja. — Und die Rechtschaffenen reden so, wie die Dinge sind ? Sie reden also schlecht, wenn sie von Schlechten sprechen ? — Ja, natürlich, auf schlechte Menschen sind sie schlecht zu sprechen. H ü t e dich d a r u m , schlecht zu sein, sonst reden die Guten schlecht von dir! — Und von den Langen, folgerte Euthydemos, reden sie lang und von den Stürmischen stürmisch ? •— J a gewiß, und die Abgeschmackten nennen sie abgeschmackt, nebst deren Reden! — Du schimpfst, Ktesippos, du schimpfst, bemerkte Dionysodoros. — Ich schimpfe nicht, denn dich habe ich gern und gebe dir n u r den freundschaftlichen Rat, in meiner Gegenwart nicht zu behaupten, ich wolle den Untergang derer, die mir lieb sind! — Da schien es mir geraten zu sein, der Ausartung des Gespräches in Zänkereien vorzubeugen. Lächelnd sagte ich: Lieber Ktesippos, mir scheint, daß wir die Gaben dieser Fremden freundlich aufnehmen müssen und nicht um Worte streiten dürfen. Der Sinn ihrer W o r t e war vielleicht, daß der unwissende Mensch untergehen und als Wissender wiedererstehen soll. Wenn sie diese Kunst verstehen — und daran ist nach ihren Versicherungen k a u m zu zweifeln —, so wollen wir sie ruhig gewähren lassen. Mögen sie also dem Jüngling und uns allen den Untergang bereiten, um uns in vernünftige Menschen umzuwandeln. Wenn ihr Jungen euch davor fürchtet, mögen sie an mir, wie an einem wertlosen Karischen Sklaven, ihre Kunst versuchen, an mir altem Manne wäre ja nicht viel verloren. So vertraue ich mich dem Dionysodoros wie einer Medea an, er mag mich in Stücke zerhacken und kochen, wenn er einen neuen Menschen aus mir machen kann. 1 3 ) Ktesippos erklärte: Auch mit mir mögen die Fremden machen, was sie wollen. Sie dürfen mich noch mehr schinden als bisher, wenn nur mein Fell nicht schließlich zum Schlauche wird, wie es mit dem des Marsyas geschah. 14 ) Dionysodoros darf nicht glauben, daß ich ihm zürne, ich widersprach ihm nur, und das ist kein Schimpfen. Dionysodoros fragte ihn: Du redest, als ob es ein Widersprechen wirklich gäbe ? — J a freilich, soll das etwa nicht möglich sein ? — Nun, du wirst mir schwerlich beweisen können, daß du jemals einem anderen widersprochen h a s t ! — Das mag sein; aber lasse uns sehen, ob ich dir das jetzt nicht beweise, da Ktesippos dem Dionysodoros widerspricht ? — Das gedenkst du zu beweisen ? Kann m a n von allen Dingen etwas aussagen ? — Natürlich. 119

Euthydemos:

Kapitel

14 u n d 15

— W a s ist und was nicht ist? — Was ist. — Richtig. Du erinnerst dich, Ktesippos, was soeben nachgewiesen wurde: niemand sagt aus, was nicht ist, denn v o m Nichtseienden kann man nicht sprechen. — Was schadet das ? Widersprechen wir uns darum etwa nicht ? — Widersprechen wir uns, wenn wir von einem Gegenstand reden, den wir beide kennen ? Oder würden wir dann dasselbe sagen ? — Ja. —• Oder wäre ein Widerspruch möglich, wenn wir beide nichts aussagen, was sich auf einen zu bestimmenden Gegenstand bezieht ? Dann würde doch keiner von uns diesen gemeint haben ? — Nein. — Und drittens: wenn ich von einer Sache rede, du aber von einer anderen, so widersprechen wir uns doch auch nicht ? — Da verstummte Ktesippos. Mir schien das Gesagte indessen etwas wunderlich zu sein, und ich bemerkte deshalb: Was du ausführtest, Dionysodoros, habe ich schon von vielen anderen, insonderheit von Protagoras, vernommen, und vor diesem hatten es bereits ältere weise Männer gelehrt. Doch habe ich das niemals recht begriffen, denn es scheint mir, daß man damit nicht allein die anderen, sondern sich auch selbst schlägt. Von dir hoffe ich nun am besten zu lernen, was daran wahr ist. Der Sinn läuft doch wohl darauf hinaus: Unwahres zu sagen ist unmöglich, man sagt entweder Wahres oder überhaupt nichts ? — Das stimmt. — Aber selbst dann kann man doch falsche Vorstellungen haben ? — Auch das nicht. — So gibt es überhaupt keine falsche Meinung? — Nein. — Folglich auch keine Unwissenheit und keine unwissenden Menschen ? — Nein. — Sagst du das nur, um etwas recht Sonderbares zu behaupten, oder glaubst du wirklich, daß kein Mensch unwissend sei ? — Widerlege mich doch, wenn du kannst! — W i e kann denn jemand widerlegen, wenn es nichts Falsches gibt ? — Nein, das ist eben nicht möglich, bestätigte Euthydemos. 1 5 ) — Von dir habe ich auch gar keine Widerlegung erwartet, setzte eiligst Dionysodoros hinzu, denn ein Unmögliches kann man niemandem zumuten. — 0 Euthydemos, sagte ich, leider bin ich zu beschränkt, um solche Feinheiten zu verstehen. Deshalb wird dir eine Frage, die ich an dich richten möchte, vielleicht sehr einfältig zu sein scheinen. N i m m sie nachsichtig auf und sage mir zunächst: Wenn niemand Unwahres sagen oder meinen und demnach auch nicht unwissend sein kann, so ist es doch auch nicht möglich, in der Ausführung einer Handlung einen Fehler zu machen ? W o l l t ihr das behaupten? — Jawohl. — Dann vernimm meine einfältige Frage: W e n gedenkt ihr denn zu belehren, wenn wir weder im Handeln, noch im Reden, noch im Denken einen Fehler begehen können ? Habt ihr uns nicht erklärt, daß ihr es am besten verständet, jeden in der Tugend zu unterweisen, der nach ihr begehre ? 120

E u t h y d e m o s : K a p i t e l 16 Dionysodoros entgegnete: Bist du denn so vertrocknet, Sokrates, daß du auf eine Äußerung zurückkommst, die ich vorhin getan habe ? Nächstens wirst du dich gar auf etwas berufen, das ich vorm Jahr einmal sagte! Weißt du denn nichts aus dem zu machen, wovon jetzt die Rede ist ? — Das ist auch gar nicht leicht, versetzte ich, Aussprüche so weiser Männer sind ja zumeist dunkel. So weiß ich nicht, was deine letzte Frage sagen will: sie bedeutet anscheinend, daß ich unfähig sei, dich zu widerlegen ? — Mit dir werde ich schnell fertig werden, antworte nur! — Bevor du mir geantwortet h a s t ? — Willst du mir antworten oder nicht ? — Ist denn das recht ? — Ja, gewiß. — Warum denn ? Weil du so weise bist, daß du allein entscheiden kannst, wer zu fragen und wer zu antworten hat ? — Lasse doch endlich das Schwatzen und steh mir Rede! Du hast ja anerkannt, daß ich weise bin. — Gewiß, mein Bester, befrage mich also. — Nun denn: Denken die beseelten oder die unbeseelten Wesen ? — Die beseelten. — Kennst du einen beseelten Satz ? — Wahrlich, nein. — Wie konntest du denn soeben fragen, was meine Frage sagen wolle ? — Weil ich infolge meiner Ungewandtheit vielleicht im Ausdruck fehlgriff. Oder ist meine Annahme, daß jeder Satz etwas besagen solle, nicht einmal falsch ? Wenn sie richtig ist, wirst du mich trotz deiner Weisheit nicht widerlegen; griff ich aber fehl, so wirst du ebensowenig mit mir fertig werden, denn du hast behauptet, daß es nicht möglich sei, fehlzugreifen. Und das hattest du nicht vor einem Jahre gesagt, sondern gerade jetzt! Mit dem Satz, daß es keine Widerlegung gebe, ist wirklich nichts anzufangen, er fällt selbst mit, wenn er andere zu Falle bringt. Daran wird auch eure Kunst nichts ändern, trotz eurer Meisterschaft in der Unterscheidung der Wortbedeutungen! — Ktesippos stimmte mir eifrig zu: Ja, darin seid ihr allerdings Meister, ihr Männer aus Thurii oder Chios oder woher ihr sonst zu stammen euch rühmt! Was ihr treibt, ist nichts als leeres Gerede! Da befürchtete ich wiederum den Ausbruch eines Zankes und sprach: Lieber Ktesippos, ich muß dich an das erinnern, was ich vorhin dem Kleinias sagte. Auch du unterschätzt die Weisheit dieser Männer und verkennst, daß sie einstweilen noch nicht gesonnen sind, mit ihr hervorzutreten. Wie Proteus, der ägyptische Sophist, treiben sie ein Gaukelspiel mit uns. Da wollen wir es halten wie Menelaos und sie nicht loslassen, bis sie sich uns in ihrer wahren Gestalt gezeigt haben. 16 ) Dann werden wir gewiß etwas Herrliches erschauen, und darum wollen wie sie inständigst bitten. Ich will ihnen abermals an einem Beispiel zeigen, was wir von ihnen erwarten, und an das anknüpfen, was ich zuletzt mit Kleinias besprochen habe. Vielleicht werden sie sich dann meiner erbarmen und ebenfalls zum Ernst übergehen.

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K a p i t e l 17

Dich, Kleinias, bitte ich, meinem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen. Wenn ich nicht irre, hatten wir uns zuletzt dahin geeinigt, daß m a n sich der Philosophie widmen müsse ? — Ja. — Das heißt, Erkenntnis zu erwerben ? — J a . — Welche Erkenntnis ist nun die rechte ? Doch wohl die, die uns Nutzen gewährt ? — Ja. — Würde uns die Erkenntnis nützen, wo auf Erden das meiste Gold verborgen liegt ? — Vielleicht. — Wir sahen indessen, daß uns alles Gold nicht nützen würde, wenn wir uns nicht auf dessen Gebrauch verstehen. Erinnerst du dich ? — Ja. — Ebensowenig f r o m m t e alles andere Wissen dem, der das nicht zu nutzen wüßte, was er mit dessen Hilfe gewinnt. Nicht wahr ? — Ja. — Selbst die Kunst, den Menschen unsterblich zu machen, würde uns ohne Nutzen sein, wenn wir mit der Unsterblichkeit nichts zu gewinnen wüßten. Deshalb bedarf es einer Erkenntnis, in der sich die Fähigkeit, etwas zu schaffen, mit der Befähigung vereinigt, von ihm den rechten Gebrauch zu machen. — Das leuchtet mir ein. — So genügt es nicht, ein tüchtiger Instrumentenmacher zu sein, man muß auch verstehen, auf dem Instrument zu spielen. W : ürde uns dagegen die Kunst, Reden zu erfinden, glücklich machen ? Das glaube ich nicht. -— W a r u m nicht ? — - Weil es viele Männer gibt, die Reden schreiben, aber selbst für sie keine Verwendung haben, sondern sie anderen zum Gebrauch überlassen, die keine Rede ausarbeiten können. Also ist hier die Kunst des Schaffens von der des Gebrauches verschieden. —Das hast du richtig bewiesen, Kleinias. Doch h a t t e ich gedacht, hier die von uns gesuchte, den Menschen beglückende Kunst gefunden zu haben. Mich dünken die Meister im Entwerfen von Reden hochweise Männer zu sein, und ihre Kunst halte ich für göttlich und groß. Sie ist ein Teil der Beschwörungskunst und steht ihr an Wert k a u m nach. Denn diese beschwört Schlangen, Spinnen, Skorpione und anderes Gezücht, ferner auch Krankheiten; jene aber den Pöbel, der in den Geschworenengerichten und Volksversammlungen sein Wesen treibt. Oder denkst du anders ? — Nein, ebenso. — W;o könnten wir dann diese Kunst finden ? — Das weiß ich wahrlich nicht. — Aber ich glaube sie entdeckt zu h a b e n : die Feldherrnkunst scheint mir mehr als jede andere zu beglücken! — Der Meinung bin ich nicht, versetzte Kleinias, sie ist eine J a g d k u n s t und betreibt Menschenjagd. 1 7 ) — W a s willst du damit sagen ? — Keine J a g d k u n s t leistet mehr, als ihrer Beute nachzustellen. Ist das aber gelungen, so weiß der Jäger selbst nichts mit ihr anzufangen, der Weidmann oder Fischer gibt sie deshalb dem Koch. Ebenso verfahren die Mathematiker und Astronomen. Auch sie sind Jäger, weil sie mit ihren Figuren und Berechnungen nichts erschaffen, sondern nur das Vorhandene erjagen und darstellen. 1 8 ) Ihre Entdeckungen überlassen sie dann, wenn sie 122

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halbwegs besonnen sind, den Dialektikern (den Philosophen), damit diese von ihnen den rechten Gebrauch machen. — Das läßt sich hören, mein schöner und weiser Kleinias, aber bist du deiner Sache auch sicher ? — J a freilich. Und nicht anders steht es mit den Feldherrn. Diese liefern ihre Eroberungen aus denselben Gründen an die S t a a t s m ä n n e r ab, gleich den Wachtelfängern, die ihren F a n g an die Züchter abgeben. W e n n es also eine Kunst gibt, die das E r j a g t e und Erworbene auch zu nutzen versteht, so ist das sicherlich nicht die Kunst des Feldherrn. — W a s erzählst du mir da, unterbricht ihn Kriton, das soll dieser junge Mensch gesagt haben ? — Glaubst du mir das nicht ? — Nein, Sokrates. W e n n er so sprechen könnte, b e d ü r f t e er weder des E u t h y d e m o s noch eines anderen Lehrers. — Dann irre ich wohl, sollte es etwa Ktesippos gesagt haben ? — Ach, der! — Wer mag es denn gewesen sein ? E u t h y d e m o s oder Dionysodoros bestimmt nicht, gehört habe ich es aber. So war es wohl ein bedeutenderer Mann. — Das scheint mir auch so. Nun erzähle weiter: fandet ihr die gesuchte Kunst ? — Nein, mein Teurer, das schlug fehl, wir machten uns lächerlich wie die nach Lerchen haschenden Kinder. Jedes Wissen, auf das wir kamen, schien uns zunächst das richtige zu sein, aber alles flog uns davon. Ich will dich mit den Einzelheiten verschonen. Zuletzt gerieten wir auf die königliche Kunst und glaubten am Ziele zu sein; doch da h a t t e n wir uns in ein L a b y r i n t h verirrt. — Wie kam das ? — Wir meinten, die Staatskunst und die königliche Kunst sei dasselbe; und die sei es, die von allen Werken der Feldherrnkunst und der anderen Künste Besitz ergreife, weil sie allein fähig sei, über deren Verwendung zu entscheiden. So schien uns diese die gesuchte Kunst zu sein, als die treibende K r a f t alles guten Gelingens im S t a a t e : nach des Aeschylos W o r t allein am Staatsruder sitzend, alles lenkend und leitend, alles Gedeihen schaffend. — Und das war nicht richtig, Sokrates ? — Urteile selbst. Wir erwogen: welches Werk schafft denn die königliche Kunst ? Oder schafft sie ü b e r h a u p t keines ? W e n n ich dich nach den Leistungen der Heilkunst und des Landbaues fragte, so würdest du gewiß sagen: ihre Werke sind die Gesundheit und das tägliche Brot ? — Jawohl. — Kannst du mir nun ebenso leicht die Werke der königlichen Kunst angeben ? — Nein, beim Zeus! — Nun, uns gelang das auch nicht. Du wirst mir aber zugeben, rlaß sie nützlich sein müßte, wenn sie die von uns gesuchte Kunst sein soll ? — Gewiß. — Dann m u ß sie uns doch ein Gut gewähren ? — Notwendig. — Aber als Gut galt uns nur ein bestimmtes Wissen ? — So sagtest du. — Die Staatskunst schafft freilich vieles: Freiheit, Wohlstand, inneren Frieden; aber das schien uns weder ein Gut noch ein Übel zu sein, die Staatskunst

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E u t h y d e m o s : K a p i t e l 19 u n d 20 m ü ß t e die Bürger überdies einsichtig machen, damit sie aus ihren Gaben Nutzen und Glück zu gewinnen vermöchten. — Das s t i m m t allerdings zu dem, worüber ihr euch geeinigt h a t t e t . — Macht denn die königliche Kunst die Menschen weise und glücklich ? — W a r u m nicht ? — Wirklich alle Menschen ? Begründet sie jegliches Wissen, auch das des Schusters und Zimmermannes ? — Schwerlich. — Welches wäre also diese Erkenntnis und wie sollen wir sie nutzen ? Die rechte Kunst soll nichts schaffen, was an sich weder gut noch übel ist, sie soll keine andere Erkenntnis, gewähren als ihre eigenste. Wäre das etwa das Wissen, wie m a n andere tüchtig macht ? — Vermutlich. — W'orin aber tüchtig ? Darin, auch andere tüchtig zu machen, und diese wiederum andere ? Jedoch vermochten wir den eigentlichen Inhalt und Gegenstand dieser Tüchtigkeit nicht zu erkennen, denn alles, was die Staatskunst im einzelnen leistet, h a t t e uns ja nicht genügt. So gerieten wir in die größte Verlegenheit und wußten nicht mehr aus noch ein. 19 ) In dieser Not flehte ich die Fremden an wie ein Schiffbrüchiger die Dioskuren, mich und den Jüngling zu retten, uns ernstlich die zu einer würdigen Lebensführung hinleitende Erkenntnis aufzuzeigen. — W a r E u t h y d e m o s hierzu bereit ? — Natürlich, mein Lieber, sehr gnädig begann er folgendermaßen zu reden: Soll ich dich das Wissen lehren, um das ihr euch so lange vergeblich b e m ü h t h a b t , oder soll ich dir zeigen, daß du es schon besitzest ? — Wenn du das vermagst, du wunderbarer Mensch, so beweise mir, daß ich wissend bin; das wäre mir altem Manne bequemer als noch zu lernen. — Gut, so antworte mir. E t w a s weißt du doch ? — Ja, Kleinigkeiten. — Das genügt. Hältst du es für möglich, daß etwas das ist, was es nicht ist ? — Nein. — Du weißt etwas, folglich bist du wissend ? — J a , wissend in bezug auf etwas. — Das m a c h t nichts aus, als Wissender m u ß t du alles wissen. — Aber das ist doch nicht so, ich weiß ja vieles nicht! — W e n n du aber etwas nicht weißt, bist du ein Nichtwissender? — Ja, doch nur in bezug darauf! — Wärest du darum etwa kein Nichtwissender ? Soeben bekanntest du indessen, wissend zu sein. Dann wärest du also zugleich, was du bist und was du nicht bist ? — Sehr brav, E u t h y demos, du verstehst dein Handwerk. Ich besitze demnach die Erkenntnis, nach der ich suchte, weil ich alles weiß, wenn ich etwas weiß. Ist es so ? — Genau so, du überführst dich mit deinen eigenen Worten. — Nun, mir ergeht es nicht schlimmer als euch beiden, und das tröstet mich. Gibt es nicht einiges, das ihr wißt, und anderes, das ihr nicht wißt ? — Da irrst du sehr! rief Dionysodoros. — Dann wißt ihr wohl nichts ? —• Das wäre schlimm. — So wißt ihr alles, weil ihr etwas wißt ? —• Geradeso wie du, Sokrates. — Das ist herrlich! Wissen denn auch die anderen Menschen alles oder n i c h t s ? — Natürlich; sie können

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E u t h y d e m o s : K a p i t e l 20 b i s 22 unmöglich eines wissen und anderes nicht wissen, denn sonst wären sie wissend u n d unwissend zumal. —• Bei den Göttern, Dionysodoros, jetzt sehe ich, daß ihr e r n s t h a f t redet! Nun zeigt mir, ob ihr wirklich alles wißt. W i ß t ihr zu zimmern und zu schustern ? — Gewiß. — Versteht ihr Schuhe zu flicken ? — Ja, wir können sie auch besohlen. —• Und könnt ihr die Sterne und den Sand zählen ? — Dachtest du, Sokrates, daß wir dir das nicht einräumen würden ? — Da griff Ktesippos ein: Dann, Dionysodoros, gib mir ein Zeugnis, daß du die W a h r h e i t sprichst. Weißt du, wieviel Zähne E u t h y d e m o s hat, und weiß er, wieviele du hast ? — Du hörtest doch, daß wir alles wissen, genügt dir das nicht ? — Nein, ich bestehe darauf, daß die Probe gemacht wird. Wenn ihr uns die Zahlen nennt und wir beim Nachzählen finden, daß sie richtig sind, wollen wir euch alles andere glauben. — Doch darauf wollten sie nicht eingehen, sie hielten es für Spott. Ktesippos setzte ihnen indessen weiter zu und fragte schließlich nach den unanständigsten Dingen. Sie blieben aber trotzig wie die wilden Eber, die in die Jagdspieße rennen, und wiederholten i m m e r : sie wüßten das. Darauf fragte ich Euthydemos, ob Dionysodoros mit seinen alten Gliedern zu tanzen und gar den Schwertertanz auszuführen verstände ? — Er versteht alles, lautete die Antwort. — Ist das erst jetzt der Fall, oder habt ihr schon als Kinder und Säuglinge alles gewußt ? — Auch schon damals, behaupteten sie. Euthydemos setzte hinzu: Glaubst du das nicht, Sokrates ? — Wenn du mir antworten willst, wirst, du erkennen müssen, daß diese wunderbare Weisheit auch dir zu eigen ist. — Das würde mir sehr lieb sein. Was Besseres könnte ich wünschen, als zu erfahren, daß ich mein Leben lang unbewußt wissend gewesen bin ? — Euthydemos f r a g t e : Weißt du etwas, Sokrates ? — Ja. — Dann weißt du doch vermittelst dessen, wodurch du wissend bist ? — Freilich, du meinst gewiß die Seele ? — Schämst du dich nicht, Sokrates, mit Fragen zu kommen, wenn du zu antworten hast ? — Darf ich nicht fragen, wenn ich dich nicht verstehe ? — Du verstehst doch meine Worte, richte dich nach dem, was du hörst! — Und wenn ich mir bei deinen Worten etwas anderes denke als du und dir dann eine fehlgehende A n t w o r t gebe ? — Damit würde mir schon gedient sein, dir allerdings wohl nicht! — Ich werde nicht antworten, ehe ich dich nicht verstanden habe. — Du bist eben ein alter Schwätzer! — Da merkte ich, daß er sehr böse auf mich war. Ich gedachte meines Musiklehrers Konnos, der ebenfalls böse wird, wenn ich ihm widerspreche, und sich dann nicht mehr um mich b e k ü m m e r t . Darauf wollte ich es hier nicht ankommen lassen, denn ich begehrte sehr, Schüler des E u t h y d e m o s zu werden. Ich begütigte ihn deshalb und bat ihn fortzufahren. E r begann von neuem: Gibt es etwas,

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vermittelst dessen du wissend bist ? — Ja, die Seele. — Da macht dieser Mensch schon wieder einen unnützen Zusatz, rief E u t h y d e m o s aus. Ich will nicht wissen was das ist, vermittelst dessen du weißt, sondern ob du durch irgend etwas wissend bist! — Ich entschuldigte mich und gab die gewünschte Antwort. — Ist dieses i m m e r dasselbe, fragte er weiter, oder bald dieses, bald jenes? — Immer dasselbe, sooft ich etwas weiß. 20 ) — K a n n s t du diese überflüssigen Bemerkungen nicht unterlassen ? Beantworte die Frage noch einmal! — Also: immer. — Kannst du etwas vermittelst eines anderen wissen, oder weißt du mit diesem a l l e s ? — Ja, alles was ich weiß. — Was machst du da wieder ? — Verzeihe mir, ich nehme den Zusatz zurück. — Das verlange ich gar nicht einmal. Könntest du alles wissen, wenn du nicht alles weißt ? — Das wäre ein Wunder. —• So, nun magst du hinzusetzen, was dir beliebt, du hast mir zugestanden, alles zu wissen! — J a freilich, meinen Vorbehalt: „sooft ich etwas weiß", mußte ich ja aufgeben. — Einerlei, du hast mir zugestanden, du wüßtest a l l e s und wüßtest i m m e r . Folglich hast du dieses Wissen gehabt, als du ein Kind wärest, als du geboren und als du erzeugt wurdest. Und bevor Himmel und Erde waren, hast du alles gewußt, wenn du ü b e r h a u p t weißt. Auch künftig wirst du alles wissen, wenn es mir beliebt. 2 1 ) — Möchte dir das belieben, verehrter E u t h y d e m o s ! Ich fürchte nur, daß das nicht ausreicht, wenn es nicht auch deinem Bruder beliebt.- 22 ) Ich will jetzt nicht mehr leugnen, daß ich alles weiß, wenn euch weisen Männern das richtig zu sein scheint,. Belehre mich aber, wie es sich mit meinem Wissen verhält, wenn ich sage: „die Tugendhaften sind ungerecht". Weiß ich das oder weiß ich es nicht ? — Das weißt du. — Was denn ? — Daß die Tugendhaften n i c h t ungerecht sind. — Das weiß ich freilich längst, ich möchte aber wissen, wo ich gelernt habe, daß die Tugendhaften ungerecht sind ? — Das hast du nirgends gelernt, antwortete Dionysodoros. 2 3 ) — Also weiß ich es nicht. — E u t h y d e m o s schalt seinen B r u d e r : Du verdirbst uns den Beweis; siehst du denn nicht, daß Sokrates dann nicht alles weiß und demnach wissend und unwissend zugleich wäre ? — Dionysodoros bekam einen roten Kopf, und ich fragte weiter: Was sagst du da, E u t h y d e m o s ? Wie kann dein Bruder Falsches sagen, da er doch alles weiß ? — Bin ich denn des Euthydemos Bruder ? fiel Dionysodoros eiligst ein. — Verschone mich damit, mein Guter, bat ich, bis E u t h y d e m o s mich belehrt h a t . — Du willst mir entrinnen, Sokrates, und antwortest deshalb nicht. — Das möchte ich allerdings. Jeder von euch ist mir allein schon überlegen, und nun soll ich gar gegen euch beide streiten! Da m ü ß t e ich stärker sein als Herakles, denn selbst der vermochte nicht, sich gleichzeitig gegen zwei Ungetüme zu wehren. Als er mit der H y d r a k ä m p f t e 126

E u t h y d e m o s : K a p i t e l 23 b i s 25 — dieser Erzsopliistin, der jedesmal mehrere Köpfe nachwuchsen, wenn man ihr einen abgeschlagen h a t t e — und ihn dabei ein anderer, soeben ans Land gekommener Sophist, der Krebs, hinterrücks zwickte, m u ß t e er seinen Neffen Iolaos zu Hilfe rufen. Mein Iolaos 24 ) würde mir leider wenig helfen können. Schön, versetzte Dionysodoros, nun kannst du mir wohl antworten, nachdem du das zur Sprache gebracht hast. W a r Iolaos mehr des Herakles Neffe als deiner? — Es bleibt mir wohl nichts übrig, als mich dir zu fügen, sagte ich; d u bist neidisch und gönnst mir die Weisheit deines Bruders nicht. Ich meine: Iolaos war mein Neffe nicht, denn mein Bruder Patrokles war nicht sein Vater. —• Dein Bruder hieß Patrokles ? — Ja, aber er ist nur von mütterlicher Seite mein Bruder, nicht von väterlicher. — Also ist er dein Bruder und nicht dein Bruder ? — Von väterlicher Seite nicht; mein Vater war Sophroniskos, seiner Chairedemos. — Vater wären also beide ? — Ja, der eine ist mein Vater, der andere seiner. — So ist Chairedemos ein anderer als V a t e r ? — Als mein Vater! — Also doch ein anderer als Vater. Oder bist du dasselbe wie ein Stein ? —• Einstweilen noch nicht, aber du wirst es schon noch dahin bringen! — W e n n du anders als Stein bist, so bist du kein Stein, und wenn du anders als Gold bist, so bist du kein Gold. — Das stimmt. — Folglich ist Chairedemos, wenn er anders ist als Vater, auch nicht Vater. — Das scheint allerdings so, m u ß t e ich einräumen. — Euthydemos setzte hinzu: Wenn aber Chairedemos Vater ist, so ist Sophroniskos ein anderer als Vater, daher nicht Vater, d u bist also vaterlos, Sokrates! — Hier mischte sich Ktesippos ein: Verhält es sich mit eurem Vater nicht ebenso ? Ist er ein anderer als mein Vater ? — Keineswegs. — Also derselbe ? — Ja. — Das wäre allerdings übel. Aber sage mir, E u t h y d e m o s : Ist er nur mein Vater oder auch Vater der anderen Menschen ? — Natürlich, derselbe kann unmöglich Vater und nicht Vater sein. Kann etwa Gold nicht Gold und Mensch nicht Mensch sein ? — Du bringst alles durcheinander; soll etwa dein Vater wirklich Vater aller Menschen sein ? — Das ist er! — Auch von Pferden und allen anderen Tieren ? — Von allen. — Gilt das auch f ü r deine Mutter ? — Ja. — Sie wäre also auch die Mutter der Seeigel ? — Gewiß, auch deine. — Und du wärst Bruder der Kälber, Hündchen und Ferkel ? — Genau so wie du. — Und überdies wäre dein Vater ein Hund ? — Wie deiner. — Das wirst du mir einräumen müssen! rief Dionysodoros dazwischen. Hast du einen H u n d ? — Ja, einen recht bissigen! — Hat er Junge gezeugt ? — J a . — Ist also deren Vater ? — Ja. — Und er ist dein ? — Ja. —• So ist er dein und Vater, mithin dein Vater, u n d du bist Bruder der jungen H u n d e ! D a n n sage mir noch: Schlägst du deinen H u n d zuweilen? Ktesippos sagte lachend: Gewiß, und dich möchte ich auch prügeln, doch

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geht das leider nicht. — Demnach prügelst du deinen V a t e r ? — Ja, und noch mehr Prügel h ä t t e dein Vater verdient, weil er so weise Söhne gezeugt hat. Immerhin hat eure Weisheit ihm, dem Hundevater, gewiß schon viel Gutes eingebracht. — V i e l des Guten bedarf weder er noch du. — Auch du nicht, E u t h y d e m o s ? — Ebensowenig wie jeder andere. Ist es dem K r a n k e n gut, Arznei zu trinken, oder dem Krieger gut, mit Waffen gerüstet zu sein? — J a , ich k a n n mir schon denken, was nun k o m m t ! — Das wirst du sehen. Wenn es dem Kranken gut ist, Arznei zu trinken, müßte er da nicht recht viel zu sich nehmen, möglichst ein ganzes Fuder ? — Natürlich, gesetzt daß er so groß ist wie der Koloß in Delphi! —• Aber im Kriege wäre es gut, soviele Speere und Schilde zu tragen wie möglich ? — Ohne Zweifel. Oder reicht ein Speer und ein Schild immer a u s ? — Allerdings. — Würdest du, Euthydemos, den Riesen Geryones (mit seinen drei Leibern) oder den (hundertarmigen) Briareus so spärlich a u s r ü s t e n ? Das solltet ihr Fechtmeister doch besser wissen! — Darauf wußte E u t h y d e m o s nichts zu erwidern. Dionysodoros kam ihm zu Hilfe: Ist auch das Gold ein Gut ? — Ja, davon möchte ich recht viel haben. — Und du meinst, Gutes m ü ß t e man immer und überall haben ? — Ja. — Also auch Gold ? Man wäre demnach am glücklichsten daran, wenn man drei Talente Gold im Leibe, eines im Kopf und in jedem Auge ein Goldstück hätte ? — Nun, bei den Skythen gelten die als die glücklichsten und angesehensten Männer, die in ihren Schädeln viel Gold haben. Und das Erstaunlichste ist: sie trinken aus ihren Schädeln und schauen beim Gelage in sie hinein. 2 5 ) Denn das sind doch i h r e Schädel, gemäß deinem Argument vom Hundevater! •— Darauf fragte E u t h y d e m o s 2 6 ) : Was schauen denn die Skythen, die anderen Menschen und du ? Doch wohl nur das, was am Sehen teilhat ? — Ja. — So siehst du unsere Röcke ? — Ja. — Sehen die Röcke nun auch ? Wenn sie am Sehen teilhaben, müßten sie doch sehen können. Was sehen sie denn ? — Nichts. Sie sehen also. Glaubst du mir das nicht, E u t h y d e m o s ? Du t r ä u m s t anscheinend, ohne zu schlafen, und wenn es möglich wäre, nichts sagend zu reden, würde dir das ebenfalls bestens gelingen! — Dionysodoros w a n d t e dagegen ein: Kann man denn nicht schweigend reden ? — Nein. — Auch nicht redend schweigen ? — Noch weniger. — Wenn du n u n „ S t e i n " oder „ H o l z " oder „ E i s e n " sagst, so sagst du doch Schweigendes a u s ? — Geh nur einmal in eine Schmiede, da wirst du hören, wie laut das Eisen u n t e r dem H a m m e r schreit! J e t z t beweist mir das andere, daß man redend schweigen k a n n ! •—• Du siehst, Kriton, Ktesippos ging t ü c h t i g ins Zeug, um vor seinem Liebling Ehre einzulegen. Euthydemos erklärte i h m : Wenn du schweigst so schweigst du doch von allem. — Ja. — Zu „allem" gehört aber auch das 128

E u t h y d e m o s : K a p i t e l 26 b i s 28 Reden! — Schweigt denn alles ? fragte Ktesippos. — Das nicht. — Oder redet alles ? — Ja, was spricht, redet allerdings. — Danach fragte ich nicht, ich will wissen, ob alles redet oder schweigt. — Höhnisch bedeutete ihn Dionysodoros: Beides und keines von beiden ist der Fall; und damit wirst du dich wohl zufrieden geben müssen! — Doch Ktesippos brach in ein schallendes Gelächter aus und sagte: Hast du das gehört, Euthydemos? Dein Bruder behauptet, daß von einem und demselben Gegenstand zwei entgegengesetzte Aussagen möglich seien! Damit ist er geschlagen und erledigt! 27 ) Kleinias lachte laut auf, und Ktesippos reckte sich stolz zu seiner ganzen Größe empor. Wie schlau ist er doch! Er kann diese Kunststücke nur den beiden Brüdern abgelernt haben, denn solche Weisheit ist sonst nirgends zu finden. Indessen tadelte ich Kleinias: Wie kannst du über so ernste und schöne Dinge lachen? Sogleich fragte mich Dionysodoros: Sähest du denn je ein schönes Ding? — Ja gewiß, sehr viele! — Waren sie von d e m Schönen verschieden, oder waren sie dasselbe ?28) — Diese Frage versetzte mich in arge Verlegenheit, warum hatte ich auch nicht den Mund gehalten! Doch gab ich zur Antwort: Sie sind verschieden vom Schönen an sich, aber etwas Schönheit gesellt sich jedem schönen Dinge zu. — Also wenn sich ein Ochse zu dir gesellt, bist du ein Ochs, und da ich jetzt bei dir bin, bist du Dionysodoros ? — Halte ein! bat ich. — Wie kann denn das Verschiedene ein Verschiedenes werden, fuhr er fort, wenn Verschiedenes sich zum Verschiedenen gesellt ? — Da beschloß ich zu zeigen, daß auch ich im Verlaufe der Unterredung zugelernt hätte, und fragte ihn, ob ihm das so schwierig erschiene ? — Natürlich, versetzte er, das ist eben nicht so! — Nun, Dionysodoros, ist das Schöne nicht schön und das Häßliche nicht häßlich ? — Wenn es mir beliebt, ja. — Und beliebt es dir, mir das zuzugeben ? — Gewiß. — Aber dasselbe ist dasselbe und das Verschiedene verschieden! Jedes Kind würde begreifen, daß das Verschiedene verschieden ist, aber du scheinst das geflissentlich übersehen zu wollen, denn du verstehst dich auf dein Handwerk und weißt, was eurer dialektischen Kunst zukommt. 29 ) — Weißt du denn, fragte Dionysodoros weiter, was jedem Meister zukommt ? Zum Beispiel das Schmieden ? — Dem Schmiede. — Und Töpfe zu machen ? — Dem Töpfer. — Ferner das Hacken, Braten und Kochen des Fleisches ? — Dem Koch. — Und wenn man jemandem das zuteil werden läßt, was ihm zukommt, so handelt man recht ? — Ja. — Also handelt man recht, wenn man den Koch zerhackt und brät; und den Schmied soll man schmieden und aus dem Töpfer einen Topf machen! — Beim Poseidon, rief ich aus, jetzt hast du den Gipfel deiner Weisheit erklommen. Wird sie mir jemals so zuteil werden, Dionysodoros, daß ich sie V e r i n g , Piatons Dialoge 3

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E u t h y d e m o s : K a p i t e l 28 u n d 29 mein nennen darf ? — Was nennst du denn dein ? Wohl das, mit dem du machen kannst, was du willst; wie du Rinder und Schafe nach deinem Belieben verkaufst, verschenkst oder irgendeinem Gotte opferst, wenn sie dir gehören ? — Ja. — Und wenn du mit einem Wesen nicht so verfahren darfst, so ist es nicht dein ? — Ich dachte mir wohl, daß jetzt wieder etwas sehr Schönes zutage treten würde, und stimmte eiligst zu, um es recht bald zu hören. — Dionysodoros schwieg eine Weile und schien tief nachzusinnen. Dann fragte er: Hast du, Sokrates, Zeus als Gott deines Hauses? Da wußte ich, was kommen würde, und suchte dem zu entrinnen. Ich erwiderte ihm: Nein, den habe ich nicht! — Da bist du ja ein ganz gottloser Mensch und kein echter Athener, wenn du keine Hausgötter und keine Heiligtümer hast! — Gemach, mein Lieber, die habe ich, aber wir Athener verehren Apollon als Hausgott, Zeus und Athene sind die Schutzgottheiten unserer Phratrien. — Das genügt mir auch, du hast also Apollon, Zeus und Athene? — Ja, als meine Ahnen und Herren. — Sie sind demnach dein, das hast du mir zugegeben. --Ja, das mußte ich, was sollte ich denn machen ? — Außerdem gäbest du mir zu, daß du mit jedem Wesen, das dein ist, nach deinem Belieben verfahren darfst. Sind nun die Götter nicht auch Weesen? — Ja. — Folglich darfst du sie verkaufen, verschenken und mit ihnen umgehen, wie es dir beliebt ? — Da saß ich wie vernichtet da und konnte kein Wort herausbringen. Ktesippos wollte mir beistehen und rief: Donnerwetter, Herakles! Was ist das ein Gerede! Doch Dionysodoros fertigte ihn kurz ab: Ist Herakles ein Donnerwetter, oder ist ein Donnerwetter Herakles? — Daraufhin gab auch Ktesippos den Kampf auf und erkannte unsere Gegner als unüberwindlich an. Jetzt war unter den Anwesenden keiner mehr, der nicht die Kunst dieser Männer aufs höchste gepriesen hätte, vor Jubel und Freude wollten sie sich schier umbringen. Bis dahin hatten nur die Freunde der beiden gelegentlich einige besondere Glanzleistungen mit Beifall begrüßt, aber nun schienen mir sogar die Säulen des Lykeion in das Tosen miteinzustimmen. Auch ich mußte eingestehen, daß ich niemals so weise Männer sah, und bekannte ihnen: Gepriesen sei euer Geist, der euch gestattet, so viel Herrliches in so kurzer Zeit zu vollbringen! Am meisten bewundere ich jedoch, daß ihr in edlem Stolze so ganz auf den Beifall hochstehender Männer verzichtet und euch mit denen begnügt, die euresgleichen sind. Denn außer diesen wird wohl niemand von euren Reden sonderlich entzückt sein; wer anders denkt als ihr, wird sich vermutlich eher schämen, mit solchen Künsten zu siegen, als durch sie besiegt zu werden. Mit euren Beweisen, daß es nichts Gutes, nichts Schönes, nichts Weises gibt, daß überhaupt nichts vom anderen verschieden ist, bringt

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E u t h y d e m o s : K a p i t e l 29 b i s 31 ihr zwar alle Menschen zum Schweigen, aber ihr verschließt euch damit auch selbst den Mund; und diese liebenswürdige Selbstbescheidung nimmt euren Behauptungen alle Schärfe. Dazu ist eure Technik so einfach, daß sie jeder in kürzester Zeit erlernen kann. Das fiel mir vorhin schon am Ktesippos auf: wie schnell gelang es ihm, sie euch abzulauschen! Aber darin liegt auch eine gewisse Gefahr, und ich rate euch deshalb, eure Kunst nicht in aller Öffentlichkeit zu betreiben, sonst eignet sie jeder sich an, und keiner dankt euch dann mehr für eure Gaben. Am besten wäre es, ihr übtet euch nur, wenn ihr allein seid; und wenn ihr je einen anderen als Teilnehmer zulaßt, so sei es nur jemand, der euch dafür bezahlt. Auch euren Schülern solltet ihr es zur Pflicht machen, nur miteinander, niemals aber mit Fremden zu disputieren. Nur das Seltene ist kostbar, das Billigste ist das Wasser, und doch ist es nach Pindar das Beste. Und nun nehmt mich und Kleinias als Schüler auf! Damit, Kriton, war das Gespräch beendet, wir redeten noch einige Worte miteinander und gingen dann fort. Überlege dir nun, ob du mein Mitschüler werden willst. Diese Männer versichern ja, daß sie für Geld jeden ausbilden können, ohne Unterschied der Veranlagung und des Alters, und ferner, was für dich wichtig ist, ohne Störung in seinem Beruf. Kriton erwidert: Ja, Sokrates, lernen möchte ich gewiß gern, aber ich passe doch wohl nicht recht zu diesem Euthydemos, sondern gehöre eher zu denen, die nicht seinesgleichen sind, die, wie du sagtest, sich lieber durch solche Kunststücke besiegen lassen, als mit ihnen zu siegen. Belehren will ich dich nicht, aber ich möchte dir etwas erzählen, was mir gestern begegnete. Als ich in der Nähe des Lykeion noch ein wenig umherging, trat einer von denen, die mit dir fortgingen, auf mich zu. Es war ein Mann, der als sehr klug gilt, ein angesehener Gerichtsredner. Er erkundigte sich, warum ich die Reden so weiser Männer nicht mit angehört hätte, worauf ich ihm sagte, daß mir der Andrang zu groß gewesen wäre. — Das ist schade, meinte er, denn ein so elendes Geschwätz wirst du kaum jemals gehört haben! — Aber, versetzteich, die Philosophie ist doch ein sehr schätzbares Gut ? — Wirklich ? fragte er. Jedenfalls würdest du dich deines Freundes Sokrates geschämt haben. Wie kann er sich mit solchen Menschen einlassen! —• Was hältst du davon, Sokrates ? Ich bin zwar nicht ganz seiner Meinung, doch scheint er mir darin recht zu haben, daß es besser wäre, mit Leuten dieser Art keine öffentliche Disputation zu führen. — Ja, Kriton, aber es sind doch erstaunliche Menschen; ich weiß indessen nicht recht, was ich erwidern soll. Der Mann, mit dem du sprachest, war also ein Gerichtsredner ? — Nein, ein Redner ist er eigentlich nicht. Er tritt niemals selbst vor Gericht auf, sondern verfaßt Reden für andere. — Dann verwundert 9*

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mich sein abfälliges Urteil über die Philosophie nicht. Denn diese Männer stehen, nach Prodikos, auf der Grenzscheide zwischen dem Philosophen und dem S t a a t s m a n n . Sie halten sich für weiser als alle anderen; und wenn das nicht allgemein a n e r k a n n t wird, so sind nach ihrer Ansicht allein die Philosophen daran schuld. D a r u m bekämpfen sie diese als ihre Nebenbuhler. Von der Philosophie eignen sie sich soviel an, wie es sie nützlich d ü n k t , ebenso von der S t a a t s k u n s t ; und damit fallen ihnen nach ihrer Meinung die Früchte dieser Wissenschaften zu, ohne daß sie es nötig hätten, sich in bedenkliche Streitfragen einzulassen. — Ist das nicht so, Sokrates ? - - Wenn man sie reden Kört, mag es leidlich klingen, doch viel Wahres ist nicht daran. Sie verstehen nicht, welche Bewandtnis es mit einem Mittleren h a t . Wenn etwas zwischen zwei guten Dingen liegt und an beiden teilhat, ist es schlechter als beide. Ist das eine gut, das andere schlecht, so ist das Mittlere besser als dieses, schlechter als jenes. Besser als beide k a n n es nur sein, wenn beide schlecht sind. Wenn jene sich also besser dünken als die Philosophen und die Staatsmänner, so müßten sie beide Wissenschaften für schlecht erklären. Das werden sie indessen schwerlich t u n wollen; t r o t z d e m beanspruchen sie die erste Stelle, obwohl ihnen nur die dritte gebührt. Aber darob wollen wir ihnen nicht zürnen: jeder Mann ist ehrenwert, der ernsthaft nachdenkt und für seine redliche Überzeugung tapfer streitet. 3 0 ) Kriton vertraut dem Freunde hierauf seine Sorgen um seine Söhne a n : Mein Jüngster ist noch klein, doch Kritobulos ist jetzt in den Jahren, in denen er eines guten Erziehers bedarf. Nach jeder Unterredung mit dir frage ich mich, warum wir so wenig auf die Erziehung unserer Söhne bedacht sind. Wir sammeln Reichtümer für sie an, bemühen uns, sie mit Töchtern edler Häuser zu vermählen, und sorgen in jeder Weise f ü r ihr Wohlergehen, doch für ihr geistiges Wohl t u n wir nichts. Wenn ich mich dann aber nach denen umsehe, die sich als Erzieher ausgeben, so graut es mir jedesmal. Und deshalb weiß ich nicht, ob ich meinen Sohn zur Philosophie hinleiten soll. 31 ) — So ist es überall, lieber Kriton, bedeutet ihn Sokrates. In jedem Beruf findest du unfähige Menschen in Menge, tüchtige nur selten. Ist es in der Gymnastik, im Erwerbsleben, in der Rhetorik, in der Strategie anders ? Macht sich da nicht überall das lächerlichste Unvermögen breit ? Würdest du aber deshalb deinem Sohne jede Betätigung dieser Art verbieten ? — Nein, Sokrates, das wäre ein Fehler. — So beachte nicht die Menschen, die sich mit der Philosophie befassen, sondern prüfe sie selbst. W e n n sie dir dann wertlos zu sein scheint, so warne jeden vor ihr, nicht nur die Deinen; aber wenn du sie als so wertvoll erkennst wie ich, so vertraue dich ihr an, dich und deine Söhne!

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KRATYLOS VORBEMERKUNGEN

M

it diesem Dialoge begibt sich Piaton in das Gebiet der Sprachphilosophie.

Es wird eine These und eine Antithese aufgestellt; die These lautet: Es gibt eine natürliche Richtigkeit der Namen (Hauptwörter), diese stehen in jeder Sprache mit den durch sie benannten Dingen in vollkommener Übereinstimmung. Was dieser Anforderung nicht entspricht, ist nicht Name. Dagegen besagt die Antithese: Alle Namen beruhen lediglich auf der Übereinkunft der Menschen, auf Brauch und Sitte, mithin auf Zufall und Willkür. — Im ersten Teile des Dialoges wird ein Beweis der These gegeben, der im Schlußteil durch einen Gegenbeweis entkräftet wird; indessen richtet sich der Gegenbeweis im wesentlichen nur gegen die scholastische Fassung und Übersteigerung einer an sich wertvollen und fruchtbaren Erkenntnis. Wie in den meisten Dialogen überläßt es Piaton dem Leser auch hier, seine wahre Meinung zu erraten, doch ist der Grundgedanke der Schrift nicht allzuschwer zu erkennen: Die Sprache ist nicht ein Erzeugnis der Übereinkunft und des Zufalls, sondern ist ein K u n s t w e r k , gebildet nach festen, wenngleich geheimnisvollen Gesetzen, in die wir deshalb nur einen unzureichenden Einblick zu gewinnen vermögen (Kap. 9, 35, 36). Der größte Teil des Dialoges besteht aus einer bunten Fülle von Etymologien. Zu Piatons Zeit waren etymologische Studien zu einer wissenschaftlichen Mode geworden, wobei den Griechen, wie v. Wilamowitz (Piaton I 292) bemerkt, die Durchsichtigkeit ihrer Sprache zu Hilfe kam. Piaton erkannte den unfruchtbaren Dilettantismus dieser unreifen Versuche, denn von einer wissenschaftlichen Etymologie konnte damals natürlich noch keine Rede sein. So bemühte er sich, die Leistungen seiner Zeitgenossen in frohem Übermut zu parodieren; durch reichlich eingestreute Ironie hat er dafür gesorgt, daß kein Leser seine Exzesse als ernstgemeint aufnehmen kann. Deutlich

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Kratylos:

Vorbemerkungen

erkennbar ist aber, daß Piaton als Meister der Sprache auch auf diesem Gebiete seinen Zeitgenossen weit voraus war. Ich habe diesen Teil des Dialoges sehr stark gekürzt, weil etymologische Ableitungen nur den Sprachkundigen genügend verständlich zu machen sind. Einige Proben, die sich einigermaßen zur Wiedergabe eignen, werden auch dem Leser, dem das Griechische fremd ist, ein ungefähres Bild dieses geistvollen und witzigen Spieles geben. Es geht auch nicht allzuviel dadurch verloren. Denn von der Literatur, gegen die Piaton polemisiert, ist nichts erhalten geblieben als einige Buchtitel, wir wissen deshalb nicht, auf wen und auf was seine Scherze zielen. Auch im übrigen habe ich in dem sehr breit angelegten Dialoge größere Kürzungen vorgenommen als sonst; ich hoffe, daß der wertvolle Gehalt des Werkes, das sich keineswegs auf sprachphilosophische Untersuchungen beschränkt — unter anderm auch wertvolle Hinweise auf die Platonische Idee enthält —, dadurch um so wirksamer hervortritt. Die Personen, mit denen sich Sokrates auseinandersetzt, sind K r a t y l o s als Verfechter der These, H e r m o g e n e s als Vertreter der Antithese. Kratylos hat, wie Aristoteles berichtet, Piaton in die Lehren Heraklits eingeführt. An der Heraklitischen Philosophie übt Piaton in diesem Dialoge eine scharfe Kritik, doch richtet sie sich weniger gegen den Meister als dessen Schule, die ihm gründlich verhaßt war. Seinen einstigen Lehrer hat Piaton daher als den Vertreter dieser Schule hier nicht gerade glimpflich, aber doch mit Achtung behandelt. Hermogenes war ein armer Halbbruder des reichen Kallias, vielleicht illegitimer Abkunft, da an einer Stelle des Dialoges erwähnt wird, daß er von dem großen Vermögen seines Vaters nichts geerbt habe. Er war ein treuer Schüler des Sokrates; bei dessen Tode war er nach dem Bericht im Phaedon zugegen. Zum Schluß möchte ich auf eine Merkwürdigkeit aufmerksam machen, die in der Literatur zu diesem Dialoge, soviel ich sehe, noch nicht hervorgehoben worden ist: die These des Kratylos ist indisch. In einem Aufsatz „Indische Logik" (Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft von 1928, S. 75) schreibt Betty Heimann: „Ein Teil des Wesens ist nach magischer Vorstellung (der Inder) auch der Name. Wer den Namen eines Dinges kennt, der kennt das Ding selber. Name und Ding decken sich irgendwie im Wesentlichen." Und wörtlich so, wie der zweite Satz des Zitates lautet, erklärt Kratylos (Kap. 42) die Bedeutung seiner These: „Wer die Namen kennt, der kennt auch die Dinge." Nun ist es zwar richtig, daß derselbe Satz — worauf St. Schayer in demselben Jahrbuch, S. 54f., hinweist — in der indischen und in der griechischen Philosophie einen völlig anderen Sinn haben kann, aber in

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Kratylos: Vorbemerkungen und Kapitel 1 diesem Falle darf doch von einer zufälligen, äußerlichen Übereinstimmung wohl nicht die Rede sein. Es ist daher die Frage, ob derselbe Gedanke, der aus der Eigenart des indischen Denkens durchaus folgerichtig hervorgegangen ist, auch in Griechenland unter ganz anderen geistigen Vorbedingungen entstehen konnte, oder ob er auf irgendwelchen dunklen Wegen zu den Herakliteern durchgedrungen sein mag. Es würde überhaupt für einen gründlichen Kenner der indischen und der griechischen Philosophie eine dankbare Aufgabe sein, die auffallend zahlreichen Übereinstimmungen Piatons mit der Philosophie der Inder eingehend darzustellen und kritisch zu beleuchten. Auf die engen Beziehungen dieses Dialoges zum Theaetet habe ich in den Anmerkungen hingewiesen.

S

okrates trifft Hermogenes und Kratylos im Gespräch. Hermogenes beklagt sich bei ihm über die Unfreundlichkeit seines Genossen: E r hat die Behauptung aufgestellt, daß ein jegliches den seinem Wesen entsprechenden richtigen Namen habe. Bezeichnungen, die auf einer Übereinkunft beruhten, seien keine Namen, sondern lediglich Erzeugnisse eines willkürlichen Sprachgebrauches; dagegen herrsche in der griechischen wie auch in jeder fremden Sprache eine naturgemäße Richtigkeit der Benennungen. Ich fragte ihn, ob er richtig Kratylos, Sokrates richtig Sokrates hieße. Das bejahte er; auf meine weitere Frage, ob überhaupt jeder Mensch seinen richtigen Namen führe, sagte er mir: „Dein Name ist nicht Hermogenes, auch wenn dich alle Menschen so nennen. 1 )" Eine Erklärung dieses Ausspruchs gibt er mir trotz meiner Bitten nicht, er hüllt sich in Schweigen; doch t u t er so, als ob er ein tiefes Wissen besäße, das er nur auszusprechen brauchte, um mich zu überzeugen. 2 ) Versuche du nun, ob du seinen Orakelspruch zu deuten vermagst; noch lieber wäre es mir, wenn du mir deine Meinung über die Richtigkeit der Benennungen mitteilen wolltest. Sokrates tröstet seinen Schüler: Lieber Hermogenes, alles Schöne ist schwer zu erfassen, und so ist es auch nicht leicht zu erkennen, welche Bewandtnis es mit den Namen hat. Vielleicht könnte ich dir darüber Aufschluß geben, wenn ich den großen Fünfzigdrachmenvortrag des Prodikos 3 ) gehört hätte, aber leider konnte ich nur seinen billigen Eindrachmenvortrag besuchen. Indessen bin ich bereit, den Sachverhalt mit dir und Kratylos zu untersuchen. Wenn er dir sagte, Hermogenes sei nicht dein richtiger Name, so wollte er wohl darauf anspielen, daß deine Bemühungen reich zu werden immer fehlschlagen. 4 )

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Kratylos:

Kapitel2bis4

Hermogenes t r ä g t ihm darauf seine eigenen Ansichten vor: Ich kann mich n i c h t davon überzeugen, daß die Richtigkeit der Namen auf etwas anderem b e r u h t , als auf Brauch und Übereinkunft. Ich halte jeden Namen für richtig; u n d wenn man einem Gegenstand einen neuen Namen beilegt, ist der neue ebenso richtig wie der alte. So geben wir ja oft einem neuerworbenen Sklaven einen a n d e r e n Namen. Doch will ich mich gern belehren lassen, wenn ich irren sollte. Sokrates erwidert: Vielleicht ist daran etwas Wahres. Du meinst also: f ü r jede Sache sei der Name gültig, den man ihr gegeben habe, einerlei, ob ein einzelner oder der Staat ihn bestimmt hat ? — Ja. — Wenn also jemand „ P f e r d " nennt, was sonst „Mensch" heißt, so heißt derselbe Gegenstand zwar allgemein Mensch, dem einzelnen aber P f e r d ? - - Ja. - Sokrates fragt weiter: Gibt es eine wahre und eine falsche Aussage? -— Ja. - Und wahr ist die Aussage, wenn sie angibt, was ist, falsch dagegen, wenn sie angibt, was nicht ist ? Man k a n n also das Wirkliche und das Nichtwirkliche aussagen? 5 ) — Ja. — Kann nun eine Aussage zwar als Ganzes wahr sein, ein Teil von ihr dagegen falsch? --- Nein. — Und auch der kleinste Teil m u ß richtig sein? — J a . — Der kleinste Teil einer Aussage ist aber das W o r t ? — Ja. —- Es gibt also richtige und falsche Namen ? — Ja. — Und trotzdem soll jeder beliebige Name, den man einer Sache beilegt, richtig sein ? -— Ich k a n n mir das nicht anders erklären, versetzt Hermogenes. Wie es mir freisteht, den Namen, mit dem ich eine Sache benenne, als richtig zu erachten, so magst du dich mit demselben Recht eines anderen Wortes bedienen. Wir sehen doch auch, daß derselbe Gegenstand in verschiedenen griechischen S t ä d t e n mit verschiedenen Namen benannt wird! 6 ) - Dann, lieber Hermogenes, müssen wir untersuchen, ob es sich mit den wirklichen Dingen ebenso verhält. Haben sie für jeden Menschen eine besondere Existenz, gemäß dem Satze des Protagoras, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei; wonach für mich alles so i s t , wie es mir e r s c h e i n t , f ü r dich so, wie es dir erscheint ? Oder erkennst du an, daß im Wesen der Dinge etwas Festes enthalten sein muß ? - Diese Gedanken, bekennt Hermogenes, haben sich mir schon oft aufgedrängt, doch vermag ich dem Protagoras nicht ganz zu folgen. —- Den Sokrates verdrießt offenbar dieses „nicht g a n z " . Er hält seinem Schüler v o r : Glaubst du etwa auch nicht ganz, daß es schlechte Menschen g i b t ? — Doch! Schlimme Erfahrungen haben mich belehrt, daß viele Menschen ganz schlecht sind. — Aber recht gute Menschen sind dir doch auch wohl begegnet? — Gewiß, jedoch nur sehr wenige. — Scheinen dir diese nicht ganz vernünftig, die ganz schlechten dagegen ganz unvernünftig zu sein ? — Ja. — Dann m u ß es dir auch einleuchten, daß die Lehre des Prota-

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Kratylos: Kapitel 4bis 8 goras falsch ist. Denn wenn die Dinge einem jeden so sind, wie sie ihm erscheinen, wenn also für jeden das wahr ist, was ihm wahr erscheint, so ist kein Mensch klüger als der andere, zwischen V e r n u n f t und U n v e r n u n f t bes t ä n d e kein Unterschied. 7 ) Ebensowenig wirst du der B e h a u p t u n g des Euthydemos beipflichten, daß allen Menschen zu aller Zeit alles gleichmäßig zu eigen sei. 8 ) Auch dann k ö n n t e es weder gute noch schlechte Menschen geben, wenn alle an allem gleichmäßig Anteil haben. Wenn aber nicht alles gleichmäßig stets allen zu eigen ist und nicht jedes Ding für jeden eine besondere Existenz h a t , so ist klar, daß die Dinge einen festen Bestand haben müssen, nicht von uns abhängig, kein Spiel unserer Einbildungen sind; vielmehr wird alles Wirkliche so sein, wie die N a t u r es schuf. Zum Wirklichen gehören auch die Handlungen ? — J a . — Dann dürfen auch diese nicht nach Gutdünken ausgeführt werden, sondern so, wie es ihrem Wesen gemäß ist. Wenn man schneidet oder brennt, hat das nicht in beliebiger Weise zu geschehen, sondern muß kunstgerecht nach bestimmten Regeln und mit dem richtigen Werkzeuge stattfinden, sonst wird die Operation nicht gelingen. 9 ) Und mit allen anderen Handlungen verhält es sich doch auch so ? — Gewiß. — Ist auch das Sprechen eine H a n d l u n g ? -— Ja. - - Dürfen wir also sprechen, wie es uns beliebt, oder werden wir das Richtige nur dann treffen, wenn wir reden, wie es die Sache erfordert, und uns hierzu der richtigen Ausdrücke bedienen ? — So ist es. — Ein wesentlicher Teil der Rede sind aber die Benennungen ? Ja. — Darum dürfen wir auch da nicht nach unserem Belieben verfahren, sondern haben die Dinge nach ihrem Wesen zu bezeichnen, vermittelst der Wörter, die der N a t u r der Dinge entsprechen. Wir sahen, daß wir zum Schneiden eines Werkzeuges bedürfen ? — Ja. — Ebenfalls zum Weben und Bohren ? - - Ja. — Demnach werden wir auch zum Benennen ein Werkzeug handhaben müssen ? — Ohne Zweifel. —• Wessen bedürfen wir zum Bohren ? — Des Bohrers. — Und zum Weben ? — Des Weberschiffchens. — Und zum Benennen ? — Des Namens. — Folglich ist auch der Name ein Werkzeug. — Sokrates setzt dem Hermogenes in weiteren Fragen auseinander: Wie der Weber die Knäuel seines Garnes vermittelst des Weberschiffchens nach Kette und Einschlag sondert, so scheiden wir vermittelst der Benennungen die verworrene Masse des Seienden zum Behufe der Verständigung und Belehrung. Da haben wir uns ebenso an bestimmte Regeln zu halten wie der Weber, der sein H a n d w e r k richtig betreibt. Nun stellen die Handwerker ihre Werkzeuge nicht selbst her: der Weber bezieht sein Schiffchen vom Schreiner

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K r a t y l o s : K a p i t e 1 8 b i s 10 und dieser seinen Bohrer vom Schmied. So schafft sich auch der Belehrende seine Werkzeuge, die Namen, nicht selbst, er entnimmt sie dem Gesetz. Der Mann, der ihm diese Werkzeuge schafft, ist also der Gesetzgeber (der Sprache), der s e l t e n s t e aller K ü n s t l e r . Worauf wird der Gesetzgeber sein Augenmerk richten, wenn er die Namen festsetzt ? Er verfährt nicht anders als der Schreiner, der ein Weberschiffchen anfertigt. Wenn dem hierbei das Schiffchen zerbricht, so wird er das neue nicht nach dem Muster des zerbrochenen arbeiten, sondern nach der I d e e (Eidos), nach welcher er das zerbrochene begonnen hatte. Diese Idee dürfen wir deshalb mit vollem Recht als das Weberschiffchen an sich bezeichnen. Nun gibt es zwar mannigfach verschiedene Weberschiffchen, denn für jedes Material, das der Weber zu verarbeiten hat, grobes und feines, Wolle und Leinen, bedarf er des passenden Schiffchens; doch birgt ein jedes von ihnen jene Idee in sich, so verschieden sie auch ausfallen mögen. Von allen anderen Werkzeugen gilt dasselbe. Auch der Schmied darf seine Bohrer nicht beliebig gestalten, sondern hat zu jedem die Form zu finden, die dessen Zweck erfüllt. 10 ) Vor derselben Aufgabe steht der Gesetzgeber, wenn er ein wirklicher Sprachschöpfer sein will. Stets auf das schauend, was der Name an sich ist, wird er die Namen so ersinnen, daß sie dem Wesen ihrer Gegenstände entsprechen, und auch in die Buchstaben und Silben diesen Sinn hineinzulegen wissen. Daß nicht jeder Gesetzgeber dieselben Silben wählt, ist durchaus erklärlich, stellt doch auch nicht jeder Schmied seine Werkzeuge aus demselben Eisen her. Wenn der Schmied aber sein Material getreu nach der Idee (Idea) des zu schaffenden Werkzeuges formt, so macht es nichts aus, ob er dieses oder jenes Eisen verwendet, ob er Grieche oder Ausländer ist. Ebenso ist es ohne Belang, aus welchem Material der Gesetzgeber die Sprache gestaltet, ob griechische oder fremde Wörter daraus entstehen, wenn er nur jeden Gegenstand der Idee gemäß benennt. Dann wird der griechische Gesetzgeber nicht schlechter sein als irgendein anderer. Das Urteil über die Tauglichkeit eines Instrumentes steht indessen nicht dem Meister zu, der es angefertigt hat, sondern dem, der von ihm den richtigen Gebrauch zu machen versteht. Sokrates erläutert das an mehreren Beispielen und fragt: Wer ist also dazu berufen, das Werk des Gesetzgebers zu prüfen und zu entscheiden, ob es ihm gelungen ist ? Auch in diesem Falle kann das kein anderer sein als der Mann, der dieses Werkzeug zu handhaben, zu fragen und zu antworten weiß: der Dialektiker (der Philosoph). Du siehst daraus, Hermogenes, daß die Festsetzung der Namen durchaus keine geringe Aufgabe ist, die jedem beliebigen überlassen bleiben könnte. So behält Kratylos mit I38

K r a t y l o s : K a p i t e l 10 b i s 12 seiner Behauptung recht, daß die Namen in der Natur der Dinge ihren Grund haben, daß ein Sprachbildner nur der ist, der die Gabe besitzt, die Dinge nach ihrem Wesen zu benennen, die Idee eines jeden Gegenstandes den Buchstaben und Silben aufzuprägen. — Hermogenes erkennt an, daß er gegen diese Beweisführung nichts einwenden könne, doch ist er von der Richtigkeit des Ergebnisses noch nicht ganz überzeugt. Er bittet Sokrates, ihn zu belehren, was unter der Richtigkeit der Benennungen zu verstehen sei. Sokrates versetzt: Du vergißt, lieber Hermogenes, daß ich davon nichts weiß. Inzwischen ist uns aber doch schon soviel klar geworden, daß die Annahme einer natürlichen Richtigkeit der Namen zu Recht besteht, daß mithin nicht jeder befugt ist, alles nach seinem Belieben zu benennen. Wenn du mehr wissen willst, müssen wir weiter forschen. Welchen Weg würden wir da einzuschlagen haben ? Das Beste wäre wohl, daß wir uns an berufene Kenner wendeten und sie durch Geld und gute Worte zu gewinnen suchten. Das wären die Sophisten, denen ja auch dein Bruder Kallias große Summen gezahlt hat, um weise zu werden. 11 ) So reich wie er bist du allerdings nicht, da dir kein Anteil an dem Vermögen eures Vaters zufiel. Bitte deshalb deinen Bruder, dir die Weisheit mitzuteilen, die er von Protagoras erwarb! — Da Hermogenes von dieser Zumutung nicht sonderlich erbaut ist, schlägt Sokrates ihm vor, dann die Dichter und vor allem Homer zu Rate zu ziehen. — Was sagt denn Homer von Benennungen ? fragt Hermogenes. — Gar manches, belehrt ihn Sokrates. Bedeutend ist vor allem, was er uns über die Unterschiede der Namen mitteilt, die Götter und Menschen demselben Gegenstande beilegen. Von dem Flußgott, mit dem Hephaestos kämpft, sagt er, er werde von den Göttern Xanthos genannt, von den Menschen dagegen Skamander. (Ilias 20, 74.) Hieltest du es nicht für einen großen Gewinn, zu wissen, warum Xanthos der richtige Name ist ? — Ja freilich, bestätigt Hermogenes. — Sokrates gibt ihm darauf noch zwei andere Beispiele dieser Art und bemerkt dazu: Zur Erklärung dieser Verschiedenheiten reichen leider unsere Fähigkeiten nicht aus. Leichter ist jedoch die Beurteilung der beiden Namen, die Homer dem Sohne Hektors gibt: Skamandrios und Astyanax. Welchen von diesen beiden hält Homer wohl für den richtigeren ? — Das weiß ich wahrlich nicht! — Es ist doch aber wahrscheinlich, daß die von verständigen Menschen gewählten Namen richtiger sind als die, deren sich minder Verständige bedienen ? — Gewiß. — Im allgemeinen sind wohl die Männer verständiger als die Frauen ? — Ja. — Dann erwäge, was Homer sagt: der Knabe werde von den T r o e r n Astyanax genannt; Skamandrios nannten ihn demnach offenbar die troischen Frauen ? — Vermutlich. —

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K r a t y l o s : K a p i t e l 12 b i s 14 Auch Homer hat sicherlich die troischen Männer für verständiger gehalten als ihre Weiber ? — Ja. — Dann dürfte ihm auch der Name Astyanax als der richtigere gegolten haben. — So scheint es. 12 ) — Siehst du auch ein, warum der Name richtig ist ? Mir ist das noch nicht ganz klar. — Auch mir nicht. — Aber wir können vielleicht die Absicht des Dichters erraten. Er sagt, daß allein Hektor die Stadt und ihre hohen Mauern beschirmt habe. Dann wäre Astyanax (Herr der S t a d t ) die rechte Bezeichnung für Hektors Sohn. Den Namen Hektor (Anker) hat Homer offenbar aus demselben Grunde gewählt, auf jeden Fall p a ß t er vortrefflich auf einen Herrscher. 1 3 ) Oder hältst du meine Vermutung, daß Homer auf die Richtigkeit der Namen Wert gelegt hat, für trügerisch ? — Keineswegs. Mir scheint es auch durchaus recht zu sein, das Junge eines Löwen „Löwe" zu nennen und das eines Pferdes „ P f e r d " ; es sei denn, daß etwa eine Stute wider die Natur ein Kalb wirft oder aus einem Weibe als Mißgeburt ein Tier zur Welt kommt. Und für Bäume und Pflanzen gilt dasselbe. Nicht w a h r ? — Ja. — - Sehr gut. Aber gib acht, daß ich dich nicht irreführe! Hiernach müßte der Sohn eines Königs auch König heißen. Bei solchen Benennungen k o m m t es indessen nicht auf die Buchstaben und Silben an, wenn nur der Name das Wesen des Benannten richtig wiedergibt. Auch unsere griechischen Buchstaben bezeichnen wir ja nur zum Teil mit ihren Lauten, wie E, U, O, GO, größtenteils aber durch Wörter, also durch eine Kombination ihres Lautes mit anderen Lauten. Doch sind auch diese Namen richtige Bezeichnungen des Lautcharakters der Buchstaben, der Gesetzgeber hat deshalb seine Aufgabe gut gelöst. Nun wird von einem König ein königlicher Mensch, von einem Guten ein Guter, von einem Edlen ein Edler erzeugt werden. Dem müssen auch ihre Namen entsprechen, sofern nicht ein Abkömmling aus der Art schlägt. In den Silben dieser Namen ist dagegen jede Mannigfaltigkeit zulässig. Der Kundige wird sich durch Fortlassungen, Zusätze und Verschiebungen einzelner Buchstaben nicht täuschen lassen; ebensowenig wie der Arzt die Ident i t ä t einer Medizin verkennt, wenn ihr durch Zutaten eine andere F a r b e oder ein anderes Aroma gegeben wurde. Wir bemerkten, daß Astyanax und Hektor richtige Herrschernamen sind, und so werden wir auch sonst noch Königsnamen finden, die aus ganz anderen Buchstaben gebildet sind, wie Archepolis (Burmeister). Feldherrennamen sind Agis (Herzog), Polemarchos (Heerwart), Eupolemos (Wehrmann); andere, wie Iatrokles (Gutheil) und Akesilaos (Helferich) deuten auf einen Arzt. E n t a r t e t e Abkömmlinge haben natürlich keinen Anspruch auf den Namen, der ihnen nach ihrer A b k u n f t zustehen würde. Gottlose Söhne eines F r o m m e n

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K r a t y l o s : K a p i t e l 14 bis 16 dürfen nicht Theophilos (Gottlieb) oder Mnesitheos (Fürchtegott) heißen, man muß ihnen die entgegengesetzten Namen geben, wenn die Namensrichtigkeit gewahrt werden soll. Sehr treffend dünkt mich der Name des Sohnes des Agamemnon, mag er zufällig entstanden oder von einem Dichter ersonnen sein, denn „Orestes" (Berger) bezeichnet vortrefflich den Trotz einer ungezügelten, an einen wilden Bergbewohner gemahnenden Sinnesart. 14 ) — In derselben Weise deutet Sokrates, oft mit Hilfe verwegenster Etymologien, die Namen der Tantaiiden: Agamemnon, Atreus, Pelops, Tantalos, sodann die Götternamen Zeus, Kronos, Uranos. Er beschließt die lange Auseinandersetzung mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß ihm nicht die ganze Göttergenealogie Hesiods gegenwärtig sei. Denn sonst würde er nicht eher rasten, bis er an diesen sämtlichen Götternamen erprobt hätte, ob die Weisheit auch fernerhin stichhalten werde, die sich so urplötzlich seiner bemächtigt habe. — Ja, bemerkt Hermogenes, du scheinst mir wahrlich in Sehersprüchen zu reden, wie ein Verzückter. — Ich weiß auch, erklärt ihm Sokrates, was mich in diesen Zustand versetzt hat: ich weilte heute früh lange Zeit bei Euthyphron und hörte ihm zu; seine dämonische Weisheit hat nicht nur meine Ohren, sondern auch meine ganze Seele erfüllt. So wollen wir heute fortfahren, uns diesem Zauber hinzugeben. Doch morgen müssen wir uns durch eine Entsühnung reinigen und zu diesem Zweck einen geeigneten Mann ausfindig machen, sei es ein Priester oder ein Sophist. Was sollen wir zunächst in Angriff nehmen ? Die richtige Methode haben wir gefunden und wollen nun sehen, ob die Namen selbst uns weiterhin bezeugen werden, daß sie nicht ein Werk des Zufalls sind, sondern eine gewisse Richtigkeit besitzen. Die Namen der Heroen und Menschen könnten sich allerdings als trügerisch erweisen, denn die sind oft den Vorfahren entlehnt und passen nicht auf die Benannten. Zuweilen sollen sie diesen auch nur einen guten Wunsch auf den Lebensweg mitgeben: wie Eutychides (Seligmann), Sosias (Heilmann), Theophilos (Gottlieb) und viele andere. Das Richtige werden wir eher dort finden, wo Ewigwährendes benannt worden ist; vielleicht sind sogar Namen dieser Art göttlichen, nicht menschlichen Ursprungs. Wir werden daher mit den Göttern zu beginnen haben. Mir scheint, daß unsere ältesten Vorfahren, wie heutzutage noch manche Barbaren, ursprünglich nur Naturgottheiten verehrt hatten: die Sonne und die Sterne. Sie gewahrten, daß sich diese immerfort in Bewegung befinden, und nannten sie deshalb als Laufende (Theontes) Götter (Theoi); diesen Namen übertrugen sie dann

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K r a t y l o s : K a p i t e l 16 u n d 17 später auf die jüngeren Gottheiten. Ist das nicht sehr wahrscheinlich ? — Ganz sicher. — Und wie erklären wir uns den Namen Dämon ? Gedenke dessen, was Hesiod von dem goldenen Zeitalter singt: als dieses Geschlecht dahinsank, wurden die Abgeschiedenen heilige, dem Unheil wehrende Dämonen genannt, treue Beschützer der Menschen. Sie sind also gute Wesen und darum einsichtsvoll (Daemones). Daraus stammt der Name Dämonen, noch heute ehren wir ja hervorragend gute Menschen unseres eisernen Zeitalters durch die Bezeichnung „dämonisch". Ebensoleicht ist der Name Heros zu deuten, er ist von Eros abzuleiten. Denn die Heroen sind Halbgötter, sie entstammen dem Liebesbunde eines Gottes mit einem Menschenweibe, oder einer Göttin mit einem sterblichen Manne. Vielleicht gestattet uns indessen unser attischer Sprachgebrauch noch eine andere Erklärung: Diese H e r o e n sind vermutlich gewaltige R h e t o r e n gewesen, dazu tüchtige, im Fragen (Erotan) geübte Dialektiker; und so mag es sein, daß aus dem Heroengeschlecht die Zunft der Rhetoren und Sophisten hervorgegangen ist. Sehr viel schwieriger ist dagegen das Wort Anthropos, der Name des Menschen. Kannst du ihn erklären ? — Wie soll ich das wissen ? Und selbst wenn ich imstande wäre, eine Erklärung zu finden, würde ich mich nicht darum bemühen, weil du das sehr viel besser verstehst! — Ja, du vertraust der Begeisterung, in die mich Euthyphron versetzt hat ? — Gewiß. — Das ist auch ganz recht, gerade soeben gibt sie mir einen feinen Gedanken ein. Immerhin muß ich mich vorsehen, heute nicht über Gebühr weise zu werden. WTie ich vorhin schon sagte, haben wir übrigens zu erwägen, daß bei der Wortbildung häufig Buchstaben fortgelassen oder eingeschoben werden; ferner wird zuweilen ein kurzer Satz in einen Namen umgewandelt. — Nach dieser Vorbereitung gibt Sokrates denn auch eine sehr kühne Ableitung des Wortes Anthropos. Mit Hilfe mehrerer griechischer Wörter sucht er den Namen daraus abzuleiten, daß der Mensch als einziges Geschöpf die Dinge nicht nur sehe, sondern auch bemüht sei, sie durch Betrachtung zu ergründen. Hermogenes bittet darauf, ihm zu erläutern, wie Seele und Leib zu ihren Namen gekommen seien. Sokrates belehrt ihn: Mit dem Worte Psyche hat man wohl das benennen wollen, was dem Leibe das Leben gibt, indem es ihm das Vermögen zu atmen verleiht (Psyche = Hauch). Aber Euthyphron und seine Genossen werden vermutlich diese Erklärung als zu einfach und kunstlos zurückweisen. Darum will ich dir lieber noch eine andere vortragen. Vielleicht ist mit P s y c h e das gemeint, was, nach Anaxagoras, d i e P h y s i s erhält (¡XEI)So wird aus „Physeche" „Psyche" geworden sein. — Diese gesuchte Erklärung gefällt dem Hermogenes sehr viel besser als die erste, (richtige!). — So

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K r a t y l o s : K a p i t e l 17 b i s 20 ist es auch, bemerkt Sokrates ironisch, gegen diese Erklärung nimmt sich unsere erste ganz armselig aus. In der Ableitung des Wortes Sorna, Leib, folgt Sokrates der Erklärung, die er im Gorgias, Kap. 47 (493 A), gegeben hatte: der Leib ist das Grab (Sema) der Seele. Darauf läßt er noch eine ähnliche Erklärung folgen: die Orphiker lehren, daß die Seele zur Büßung alter Schuld in den Leib gebannt sei; darum nannte man ihn Sorna, denn dieses Wort bedeutet ja auch „Behältnis, Gewahrsam". Alsdann bittet ihn Hermogenes, auf die Götternamen zurückzukommen. Sokrates meint: Das Beste wäre wohl, einfach einzugestehen, daß wir von den Göttern nichts wissen und auch die Namen nicht kennen, die sie sich beilegen. Nur diese sind ihre richtigen Namen. Allenfalls dürfen wir uns mit den Götternamen befassen, deren wir uns im Gebet bedienen, weil wir annehmen, daß die Götter sie gern hören. Das werden sie uns gestatten, denn wir bekennen ja, daß wir damit keine Betrachtungen über ihr wirkliches Wesen anstellen wollen. 15 ) Sokrates will also die Götternamen aus den Vorstellungen ableiten, die sich die Menschen von den Göttern gebildet haben. Er versucht zunächst, an dem Namen der Hestia, der Göttin des häuslichen Herdes, den Nachweis zu führen, daß man diese Urgottheit als das Prinzip des ersten Anstoßes, den Ursprung aller Bewegung, habe bezeichnen wollen. Damit ist er bei der Lehre Heraklits von d e m ewigen Fluß der Dinge angelangt. 16 ) Diese tiefe Weisheit, sagt Sokrates mit verborgener Ironie, daß alles unaufhaltsam dahinströme, nichts feststehe, daß man nie zum zweitenmal in denselben Fluß hineinsteige, 17 ) liege auch dem Glauben an die anderen Urgottheiten zugrunde. Von dem Urstrom Okeanos, den Homer als den Stammvater des Göttergeschlechtes bezeichne, sage ein orphischer Vers, daß er seine Schwester Tethys gefreit und als erster das Werk der Zeugung begonnen habe. 18 ) Tethys sei offenbar der Name einer Quellgottheit. Es folgt darauf eine Deutung des Namens des Poseidon, des Herrn der Meere. Interessanter ist die Betrachtung, die Sokrates dem Beherrscher der Unterwelt zuteil werden läßt: Seine Namen sind Pluton und Hades. Der erste bezieht sich auf Plutos, den Reichtum, der aus den Tiefen der Erde gewonnen wird, der Name Hades deutet auf das Unsichtbare (Aeides). Doch scheuen die Menschen das Unheimliche dieses Wortes und ziehen deshalb den Namen Pluton vor. Sie fürchten aber den Gott ohne Grund, sein wahres Wesen verkennen sie. Sage mir, Hermogenes: Was fesselt die Menschen stärker, der Zwang oder die Begierde ? — Weitaus mehr die Begierde! — Wenn also

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K r a t y l o s : K a p i t e l 20 b i s 23 Hades die Menschen durch das stärkste Band festhält, so kann das nur die stärkste aller Begierden sein, und die ist das Verlangen nach sittlicher Läuterung. Dieses Glück gewährt der Gott der Unterwelt den Seelen. Niemand versteht herrlicher zu reden als er, der vollendetste aller Sophisten; und mit diesen Künsten bezaubert er die zu ihm Abgeschiedenen so, daß keiner von ihnen zur Erde zurückkehren will. So spendet er als freigebigster Wohltäter nicht allein den Lebenden, sondern auch den Toten die kostbarsten Gaben aus der Fülle seines Reichtums, trägt daher seinen Namen Pluton mit Recht. Als echter Philosoph nimmt er die Menschen erst dann zu sich, wenn ihre Seelen vom Leibe und dessen niederen Begierden freigeworden sind und allein nach reiner Tugend begehren. Solange sie noch den Leidenschaften des Leibes unterworfen waren, hätten sie selbst die starken Fesseln seines Vaters Kronos nicht halten können. Auch bedeutet der Name Hades nicht das Unsichtbare (Aeides), sondern deutet auf das hohe Wissen (Eidenai) dieses Gottes. 19 ) Darauf folgt in einer langen Auseinandersetzung die Erklärung der Götternamen Demeter, Hera, Persephone, Apollon, Musen, Leto, Artemis, Dionysos, Aphrodite, Pallas Athene, Hephaestos, Ares. Besonders kunstvoll entwickelt Sokrates die Etymologie des Namens des Musengottes, des Schutzherrn der Philosophie: In dem Namen Apollon spiegele sich das vierfache Wesen des Gottes wider, der als Heilgott die Menschen von Leiden und Schuld erlöse (Apolyon), als wahrsagender Gott die schlichte (Haploun) Wahrheit verkünde, als göttlicher Bogenschütze immer treffe (Aei bällon) und als Gott der Musik die Töne der Harmonie „zugleich bewege" (Homo-polon, was gleichbedeutend sein soll mit A-polon). Die anderen Ableitungen, ein wunderliches Gemisch von Scharfsinn und übermütiger Laune, wird mir der Leser gewiß gern erlassen. Der Grundgedanke ist überall der, daß auch die Götternamen nicht willkürlich erfunden, sondern Zeugnisse der Weisheit der Vorfahren seien, die in jeden dieser Namen einen tiefen Sinn hineingelegt hätten. Nach Beendigung dieser Aufzählung erklärt Sokrates, es sei nun genug mit den Götternamen. Eine Frage stellt er dem Hermogenes noch frei, damit er sehe, „welche Renner Euthyphrons Rosse seien". (Nach Ilias 5, 221.) Hermogenes bittet, ihm noch den Namen Hermes zu erläutern, der ihn besonders interessiert, weil Kratylos ihm das Recht bestritten hatte, sich nach Hermes zu nennen. Sokrates erzählt ihm, daß Hermes als Herold der Götter und als Gott der Händler und Gauner die Kunst des Redens begründet habe, der Name laute daher eigentlich Eiremes (sipeiv |ivr|cränEvos), woraus Hermes geworden sei. — Dann, bekennt Hermogenes, habe ich allerdings keinen Anspruch auf meinen Namen, denn im Reden bin ich ungewandt. So-

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K r a t y l o s : K a p i t e l 24 b i s 27 krates erklärt ihm darauf noch den Namen des Hermessohnes Pan, der in der Doppelgestalt seines göttlichen Oberleibes und seines tierischen Unterkörpers die wahre und die falsche Rede verkörpere und darum Pan heiße, weil die Rede alles (pan) auszusprechen vermöge! Nun wünscht Hermogenes die Namen Sonne, Mond, Sterne, Erde, Äther, Luft, Feuer, Wasser, Jahr und Jahreszeiten erklärt zu haben. — Das ist etwas viel auf einmal, seufzt Sokrates, indessen löst er diese Aufgabe nahezu restlos. Nur einmal, in der Etymologie des Wortes Feuer, läßt ihn „Euthyphrons Muse" im Stich. Doch ficht ihn das nicht weiter an. Er sagt dem Hermogenes, daß er in solchen Fällen einen guten Ausweg habe: wenn er einen Namen nicht zu deuten wisse, behaupte er, es sei ein unerklärbares Wort barbarischen Ursprungs. Übrigens scheine das auf das Feuer sogar wirklich zuzutreffen, denn die Phryger bezeichneten es mit fast demselben Namen. 2 0 ) Hermogenes bittet sodann um Aufklärung über die „schönen" Namen, die mit der Tugend zusammenhingen: Einsicht, Verständnis, Gerechtigkeit. - Das ist sehr schwer, bedeutet ihn Sokrates, aber da ich mir einmal das Löwenfell umgeworfen habe, darf ich nicht verzagen. Das Wissen und die Erkenntnis müssen wir hinzunehmen. — Bevor Sokrates auf das neue Thema eingeht, schickt er die folgende Betrachtung voraus: Den Wortschöpfern der Vorzeit scheint es ebenso ergangen zu sein wie den weisen Männern der Gegenwart. Die drehen sich bei ihren Forschungen solange im Kreise umher, bis sie schwindlig werden, und dann kommt es ihnen so vor, als ob die Dinge sich drehten und immerfort in Bewegung wären. Darum wähnen sie, daß an diesen nichts Festes und Dauerndes sei, sondern alles rastlos dahinfließe, in jeglicher Bewegung und im ewigen Werden. Diese Auffassung werden wir in allen Wörtern wiederfinden, die wir jetzt zu besprechen haben. Einsicht (Phronesis) ist offenbar die Wahrnehmung einer Bewegung (Phoras Noesis). — Die anderen Namen dieser Art deutet Sokrates in derselben Manier, was natürlich seiner wirklichen Meinung schnurstracks zuwiderläuft und darum auch im letzten Teile des Dialoges berichtigt wird. Sehr merkwürdig ist die Erklärung des Gerechten. Sokrates führt aus: Die Männer, die annehmen, daß das All in ewiger Bewegung sei, lehren uns, daß die große Masse der Dinge zwar immerfort angetrieben werde, es gebe aber eines, das alles andere durchdringe und dadurch die Ursache alles Werdens sei. 21 ) Dieses Eine, das alles zu durchdringen vermag, muß deshalb das Feinste und Schnellste sein. Und da es über allem waltet, ist dieses Durchdringende (Diaion) nichts anderes als das Gerechte (Dikaion), nur ist hier des Wohlklangs wegen ein k eingeschoben. Insoweit sind sich die Anhänger der Lehre 10

Vering, Piatons Dialoge 3

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Kratylos:

K a p i t e l 27 b i s 29

v o m Fluß der Dinge einig. W e n n m a n sie aber fragt, welches denn das Wesen dieser obersten Ursache sei, erhält m a n zur Antwort, daß man mehr frage als sich zieme, denn m a n suche die Schranken der Erkenntnis zu überspringen. Um mich zufriedenzustellen, gibt indessen wohl der eine an, dieses Gerechte sei die mit ihren Strahlen alles durchdringende und erwärmende Sonne. Ein anderer, dem ich diesen weisen Ausspruch vortrage, fragt mich aber, ob denn die Gerechtigkeit nach Sonnenuntergang aus der Welt verschwände ? Nicht die Sonne, sondern das Feuer sei das Alldurchdringende. Ein dritter nennt a n s t a t t dessen die W ä r m e ; ein vierter verwirft das alles als lächerlich und gibt dem Anaxagoras recht: Das Alldurchdringende sei die Allwalterin Vernunft. Sokrates f ä h r t in seinen Erklärungen fori, immer alles auf Bewegungen oder den Widerstand gegen sie zurückführend. Schließlich wird sogar Hermogenes ein wenig bedenklich: die etymologischen Verwegenheiten seines Lehrers scheinen ihm zu weit zu gehen. Doch Sokrates erklärt i h m : Ohne eine gewisse Kühnheit können wir hier nichts ausrichten. Die ursprüngliche Fassung der Namen, wie sie in grauer Vorzeit festgesetzt wurden, ist längst verschüttet, teils durch die Bemühungen derer, die sich für berufen hielten, die alten Namen zu verschönern, teils durch die Abschleifung der Silben im Laufe der Zeit. Sokrates belegt das durch zwei Beispiele und macht dann ein überraschendes Zugeständnis: Wenn man freilich das Recht für sich in Anspruch nimmt, in die Wörter nach Belieben Buchstaben einzuschalten oder daraus zu streichen, so ist es leicht, jeden Namen jedem Dinge anzupassen. 2 2 ) Achte du als tüchtiger Schiedsrichter darauf, daß ich das erlaubte Maß nicht überschreite. — Das werde ich t u n , verspricht Hermogenes. — Aber du darfst es damit auch nicht allzu genau nehmen, sonst raubst du mir die K r a f t ! Denn ich komme jetzt zu dem H a u p t s t ü c k unserer Untersuchung: was bedeuten die Worte T u g e n d u n d Schlechtigkeit ? Die Tugend (Arete) ist das leichte Dahinströmen des ungehemmten Flusses der guten Seele. Deshalb n a n n t e man sie die Immerströmende (Aeirete), woraus Arete wurde. 2 3 ) Dagegen ist die Feigheit eine schwere Fessel, ein Unvermögen, vorwärts zu schreiten. Feigheit und Schlechtigkeit sind also dasselbe. — Sokrates gibt noch eine zweite, weniger bedeutende Erklärung des Wortes Tugend und bespricht in diesem Zusammenhange noch einiges andere. Hermogenes bemerkt, daß ihm Sokrates eine eigentliche Erklärung der Schlechtigkeit (Kakia) nicht gegeben habe. Sokrates erwidert: Das kann ich auch nicht, und d a r u m mache ich wiederum von meinem Kunstgriff Gebrauch: ich behaupte, Kakia ist ein barbarisches Wort.

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K r a t y l o s : K a p i t e l 30 b i s 33 Sokrates erläutert darauf in kühnsten Etymologien die Herkunft der Worte Schön und Häßlich und geht dann auf die Bitte des Hermogenes zu den Worten über, die mit dem Guten und Schönen im Zusammenhange ständen, wie Förderlich, Nützlich, Gewinnbringend, und zu deren Gegenteilen: Schädlich und Nachteilig. Die Ableitungen geschehen wieder in dem Sinne, daß das Nützliche, Gute auf die Förderung der Bewegung, das Schädliche, Schlechte auf deren Hemmung bezogen wird. Hierbei stößt Sokrates auf das Wort Deon, Pflicht. Das paßt nicht in das System hinein, weil es aus dem Verbum deo, binden, hervorgegangen ist und demnach auf ein Hemmendes, „Schlechtes", hinweist. Sokrates weiß sich indessen zu helfen: Hier, behauptet er, liegt einer der Fälle vor, in denen die ursprüngliche Wortbedeutung in ihr Gegenteil verkehrt worden ist, das Wort muß ursprünglich „Dion", durchdringend, gelautet haben. Hermogenes fragt weiter: Wie erklärst du die Worte Schmerz, Lust, Begierde ? Sokrates gibt auch diese Erklärungen nach demselben Schema, das Lustvolle auf Bewegung, die Unlust auf Bewegungshemmungen zurückführend. Darauf folgen Meinung, Wille, Notwendigkeit. Dann will Hermogenes Auskunft über „das Schönste und Herrlichste" haben: Was bedeuten die Namen Wahrheit, Irrtum, das Seiende, und endlich das Wort, welches das eigentliche Thema unserer Unterredung bildet, der Name ? — Sokrates, der des Spieles müde geworden ist, gibt diesmal kurze Erklärungen: Onoma, Name, bezeichnet das Forgehen (|juaiEC70ai) nach dem Seienden, dem On; Pseudos, Irrtum, bedeutet das Gegenteil der Bewegung, es ist aus Katheudein, Schlafen, abgeleitet. Das Seiende, On, ist das sich Bewegende, Ion; das Nichtseiende demgemäß das sich nicht Bewegende (also Feststehende). Mit dieser ärgsten Ketzerei beschließt Sokrates die endlos lange Reihe der Etymologien. Als der unersättliche Hermogenes dann noch zu wissen begehrt, welche Bewandtnis es mit dem Fließenden und dem Bindenden habe, erteilt ihm Sokrates eine ernsthaftere Antwort: Ich könnte auch jetzt von dem bewährten Auskunftsmittel Gebrauch machen, diese Namen als unerklärbare Fremdwörter auszugeben, oder ich könnte dir sagen, daß sie im Laufe langer Zeiten durch den Sprachgebrauch zur Unkenntlichkeit abgeschliffen worden sind. Aber das werde ich nicht tun, sondern der Frage auf den Grund gehen. Bedenke, daß alle Namenserklärungen schließlich ein Ende haben müssen. Wenn man ein Wort aus dem anderen deutet und zu dessen Erklärung wiederum auf andere zurückgreift, so muß man beim beständigen Fortschreiten auf diesem Wege schließlich bei den Urwörtern anlangen, die das Grundmaterial aller Wortbildungen enthalten und deshalb nicht mehr abge10*

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K r a t y l o s : K a p i t e l 33 b i s 35 leitet werden können. Zu diesen Elementen gehören ohne Zweifel auch die Worte, nach denen du fragtest. 2 4 ) Allerdings müssen auch sie ihre natürliche Richtigkeit haben, doch ist diese nach einem anderen Verfahren zu ermitteln. Achte darauf, ob mir das gelingt, oder ob ich wieder auf närrische Einfälle gerate. Wie wir sahen, bestand die Richtigkeit der abgeleiteten Namen darin, daß sie das Wesen ihres Gegenstandes bezeichnen. Da es nun für alle Namen, vom ersten bis zum letzten, nur eine Art der Richtigkeit geben kann, so müssen die Urwörter dasselbe leisten wie die aus ihnen abgeleiteten Wortbildungen. Wie mögen sie aber entstanden sein ? E t w a so ähnlich wie die Gebärdensprache der Stummen, die den zu bezeichnenden Gegenstand, z. B. ein Pferd, durch nachahmende Gestikulationen anzudeuten suchen ? Möglich wäre doch auch eine solche unmittelbare Darstellung vermittelst der Stimme; in diesen Fällen wäre also der Name eine N a c h a h m u n g des Gegenstandes durch Laute. Ich meine damit übrigens nicht die Nachahmung von Tierstimmen, denn wer das Krähen eines Hahnes oder das Blöken eines Schafes n a c h a h m t , benennt dadurch das Tier nicht. Ferner haben wir die Nachahmungen, die das Werk der Kunst sind, die des Tondichters und des Malers, von denen zu unterscheiden, deren sich der Spraclibildner bedient. Jedem Dinge k o m m t ein Ton, vielen auch eine Farbe zu. Deren Nachahmung ist die Aufgabe der Malerei und der Tonkunst. 2 5 ) Außerdem besitzt aber jedes Ding noch ein Drittes, sein Wesen — wie auch Farbe und Ton ihr eigenes Wesen haben—, und dessen Nachbildung ist die Aufgabe des Namenschöpfers. 2 6 ) Sokrates fährt fort — nach seiner Gewohnheit immer in Fragen an Hermogenes — : Demgemäß haben wir festzustellen, ob die Namen des Fließens, Fortschreitens, Festhaltens, nach denen du fragtest, mit ihren Buchstaben und Silben ihren Gegenstand richtig treffen, ob sie demnach als sinngemäße Nachahmungen anzuerkennen sind. Außerdem müssen wir untersuchen, ob sie die einzigen Urwörter sind, oder ob es außer ihnen noch viele andere gibt, was wir als wahrscheinlich annehmen dürfen. Wie gestaltet nun der Sprachschöpfer seine Nachahmungen ? Da er sich hierbei der Buchstaben und Silben bedient, werden wir mit der Einteilung der Buchstaben zu beginnen haben; gerade so, wie man in der R h y t h m i k mit den Quantitäten der L a u t e beginnt, um dann zu den Silben überzugehen und darauf die rhythmischen Gesetze aufzubauen. So werden wir zuerst die Vokale, Halbvokale und Konsonanten unterscheiden und untersuchen, wie sie nach ihren Charakteren geeignet sind, die wesentlichen Eigenschaften der Dinge zu kennzeichnen. Zuweilen genügt f ü r ein Ding ein Laut, zumeist ist jedoch eine Lautmischung

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K r a t y l o s : K a p i t e l 35 b i s 37 erforderlich. Daraus werden wir ersehen, wie die Laute, einzeln oder gemischt, auf die Dinge zu übertragen sind, wie die Maler teils reine Farben, teils Farbenmischungen anwenden, um die natürlichen Farben ihrer Gegenstände wiederzugeben. Wir werden erkennen, wie aus Buchstaben die Silben, aus Silben Namen (Hauptwörter) und Aussagewörter (Zeitwörter) zu bilden sind, und wie aus ihnen das schöne Kunstwerk der Rede hervorgeht. So ist die Sprache von den alten Meistern geschaffen worden, und unsere Aufgabe ist es nun, ihr Verfahren zu ergründen und zu beurteilen. Traust du dir die Fähigkeit zu, diese Untersuchung durchzuführen, Hermogenes ? — Das kann ich nicht! — Ich auch nicht, bekennt Sokrates. Wollen wir deshalb die Sache ruhen lassen oder doch den Versuch machen, ob wir wenigstens einen kleinen Einblick zu gewinnen vermögen ? Wir müßten uns freilich mit demselben Vorbehalt decken, den wir vorhin in bezug auf die Götter gemacht haben: wir gestanden ein, daß die Wahrheit der Götternamen uns verschlossen bleibe und wir auf Vermutungen angewiesen seien. In derselben Weise würden wir, so gut es gehen will, auch hier nach dem Wege zu forschen haben, der uns auf annehmbare Ergebnisse führen könnte, gesetzt daß es überhaupt einen solchen Weg gibt. Bist du damit einverstanden? — Ganz und gar! — Auf den ersten Blick möchte die Annahme, daß die Dinge durch die Buchstaben und Silben ihrer Namen ergründbar seien, fast lächerlich erscheinen, aber es muß doch wohl so sein. Denn eine bessere Erklärung der Urwörter wird man schwerlich finden, wenn man nicht den Kunstgriff der Tragödiendichter anwenden will: Wo die sich nicht mehr zu helfen wissen, lassen sie einen Gott aus der Versenkung erscheinen, der den dramatischen Knoten löst. So könnten wir auch einem Gotte die Erfindung der Urwörter zuschreiben. Wir könnten auch sagen, daß diese von älteren Barbarenvölkern übernommen worden oder wegen ihrer Herkunft aus uralten Zeiten unerklärbar seien. Doch das wären Ausflüchte. Wer bekennen muß, die Urwörter nicht deuten zu können, wird auch eingestehen müssen, daß er die aus ihnen abgeleiteten Wörter ebensowenig versteht. Meine Gedanken scheinen mir zwar lächerlich und verwegen zu sein, doch will ich sie dir nicht vorenthalten, vielleicht findest du dann etwas Besseres. Der Buchstabe R, bei dessen Aussprache sich die Zunge in stärkster Schwingung befindet, diente offenbar dem Sprachbildner als trefflichstes Werkzeug zur Bezeichnung alles Bewegten, darum enthalten alle Wörter, die sich auf Bewegung beziehen, das R als Hauptmerkmal. Ferner wird das Rauhe und Harte durch das R gekennzeichnet. Das durchdringende I bezeichnet das Feinste, das überall einzudringen vermag. (Siehe Kap. 27.) Der gehauchten

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Kratylos: Kapitel

37 u n d 38

Laute bediente sich der Sprachbildner richtig zur Nachbildung alles Hauchartigen. Das T und das D, die aus dem festen Anpressen der Zunge entstehen, sind die Mittel zur Bezeichnung des Gebundenen und Stillstehenden, während das leicht dahingleitende L bei den Namen Verwendung findet, die auf ein Glattes, Flüchtiges hindeuten. Das gaumige G eignet sich zur Nachahmung des Klebrigen. Der Nasallaut N, der nach innen dringt, paßt deshalb auf alles Innerliche. Von den Vokalen dienen die beiden großen, das A und das E (Eta) zur Benennung der Größen und Längen; das offene 0 (Omikron) bezeichnet dagegen alles Runde. Sokrates belegt alles durch Beispiele an griechischen Wörtern und schiebt in den Anfang der Darstellung noch nachträglich eine etymologische Ableitung des Wortes Kinesis, Bewegung, ein. E r schließt: So erkläre i c h mir die Richtigkeit der Namen, und nun lasse uns sehen, ob Kratylos anderer Ansicht ist. Mit sichtlicher Genugtuung bemerkt Hermogenes: Ich sagte vorhin schon, wie sehr es mich verdroß, daß Kratylos sein angebliches Wissen von der Richtigkeit der Namen für sich behält; es blieb mir deshalb dunkel, ob er wirklich etwas weiß. Nun erkläre dich aber, Kratylos, ob du Sokrates zustimmst oder ihm etwas Besseres entgegenhalten k a n n s t ! —• Kratylos f r a g t : Wie, Hermogenes ? Dünkt es dich so leicht, etwas sofort zu begreifen, und dazu noch eine so überaus schwierige Sache? — Durchaus nicht; indessen ist uns, wie Hesiod sagt, oft schon geholfen, wenn man zu Geringem Geringes hinzufügt. Wenn du uns diese Wohltat zu erweisen vermagst, darfst du nicht länger schweigen. Damit h a t Hermogenes seine Rolle ausgespielt, im Folgenden setzt sich Sokrates mit Kratylos auseinander. Er sagt i h m : Es liegt mir fern, das von mir Vorgetragene als gesichert anzusehen, es ist lediglich das Ergebnis der mit Hermogenes angestellten Betrachtungen. Du weißt sicherlich Besseres, denn du hast über diese Fragen gewiß schon nachgedacht und wohl auch von anderen wertvolle Belehrungen erhalten. Betrachte mich deshalb als deinen Schüler. - Es ist so, wie du sagst, erwidert Kratylos, und vielleicht könntest du von mir lernen. Ich fürchte jedoch, daß das nicht der Fall sein wird. Wie Achilleus dem Telamonier Aias könnte auch ich dir sagen: du hast mir fast ganz aus der Seele gesprochen; sei es, daß E u t h y p h r o n oder eine andere Muse aus dir redet. — Ich staune auch selbst über meine Weisheit, lieber Kratylos, doch t r a u e ich ihr nicht ganz. Es ist deshalb wohl besser, nochmals alles gründlich nachzuprüfen. Das Schlimmste ist, sich selbst zu betrügen, denn der Lügner sitzt dann in uns, und wir werden ihn nicht wieder los. Nach unserer B e h a u p t u n g besteht die Namensrichtigkeit darin, daß das W o r t das

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Kratylos:

K a p i t e l 38 u n d 39

Wesen der Sache anzeigt. Ist das richtig ? — Ohne Zweifel. — Das W o r t wäre also das Werkzeug der Belehrung, diese wäre eine Kunst und h ä t t e ihre Meister ? — Ja, die Gesetzgeber der Sprache, wie du sie n a n n t e s t . — Gleicht diese Kunst den anderen Künsten ? Es gibt gute und schlechte Maler, gute und schlechte Baumeister. Gibt es ebenso auch gute u n d schlechte Gesetzgeber? — Nein. — Mithin auch keine schlechten Gesetze? — Nein. 27 ) Folglich kann auch kein Name mehr oder weniger gut sein? — Nein. — Sondern alle Namen sind richtig? — Ja, gesetzt daß sie wirklich Namen sind. — Wie steht es denn mit Hermogenes, dem du das Recht absprachest, sich nach Hermes zu nennen ? Willst du damit sagen, daß er zwar den Namen hat, aber ihn mit Unrecht f ü h r t ? — E r h a t ihn ü b e r h a u p t nicht, sondern scheint ihn nur zu h a b e n ; es ist der Name dessen, dem er gebührt. — Wir nennen ihn aber doch so: sagen wir damit etwas Falsches ? — Was meinst du damit ? — Ach so, du folgst der Lehre, daß es ganz unmöglich ist, etwas Falsches zu sagen? Das hört man ja oft, jetzt und schon seit langer Zeit! - Das ist aber auch ganz richtig! Wer etwas sagt, sagt doch etwas Wirkliches! 28 ) — Diese Weisheit ist zu fein für meinen alten Kopf. Kann man wirklich nichts Falsches sagen ? Stelle dir vor, daß dich im Auslande j e m a n d für Hermogenes hielte und dich mit der Anrede begrüßte: „Sei willkommen, Sohn des Smikrion!" Gälte diese Anrede dir, oder dem Hermogenes, oder niemandem ? — Sie wäre eine Äußerung ohne Sinn. — Also doch eine Äußerung! Ist sie nun wahr oder falsch? — Sie ist ein leerer Schall, wie der Ton eines angeschlagenen Kessels. Sokrates sieht ein, daß seinem zähen Gegner auf diesem Wege nicht beizukommen ist, und sucht sich daher mit ihm auf eine andere Weise zu verständigen. Er einigt sich mit ihm auf folgende Sätze: Gegenstand und Name sind verschiedene Dinge, und zwar ist der Name die Nachahmung seines Gegenstandes, wie auch ein Bild Nachahmung ist, wenngleich etwas anderer Art. D a r u m ist es möglich, Bilder und Namen auf bestimmte Gegenstände zu beziehen, sie ihnen zuzuteilen. Wenn man ein Bild auf die Person bezieht, die der Maler dargestellt hat, so ist die Zuteilung richtig, sonst aber falsch. Sokrates folgert daraus: Dasselbe muß auch gelten, wenn Namen auf Gegenstände bezogen werden. Teilt m a n einem Gegenstande seinen Namen zu, so ist die Zuteilung richtig und wahr, gibt man den Namen einem fremden Gegenstande, so ist sie irrtümlich, mithin falsch. Ebendas will Kratylos nicht gelten lassen: bei Bildern sei allerdings eine falsche Zuteilung möglich, nicht aber bei Namen. Ein Name müsse immer richtig sein. Doch Sokrates macht ihm ohne sonderliche Mühe klar, daß ein solcher Unterschied nicht 151

K r a t y l o s : K a p i t e l 39 u n d 40 bestehe. Wie man einem Menschen sagen könne: „Dies ist dein Bild!" so könne man ihm ebensowohl sagen: „Das ist dein Name". — Das räumt Kratylos herablassend ein. — Es verlohnt sich auch nicht, darüber zu streiten, fügt Sokrates hinzu. Im übrigen mag es dahingestellt bleiben, wie es sich mit der falschen Aussage verhält: uns muß genügen, daß hier wie dort falsche Zuteilungen vorkommen können. Das wollen wir „falsch reden" nennen. Wenn es nun möglich ist, einer Sache einen falschen Namen zu geben, so muß es auch möglich sein, ihr ein falsches Aussagewort beizulegen. Namen (Hauptwort) und Aussagewort (Zeitwort) bilden aber einen Satz. 29 ) Sokrates führt weiter aus: Wenn ein Maler alle Farben und Züge der abgebildeten Person richtig wiedergibt, so ist das Bild gut; wenn er Wesentliches fortläßt oder Ungehöriges hinzutut, ist es dagegen schlecht. Ebenso schafft der Sprachbildner, der das Wesen einer Sache durch Buchstaben und Silben wiederzugeben sucht, nur dann ein gutes Abbild, wenn er die passenden wählt und nichts Unpassendes hinzusetzt. Sonst bildet er zwar auch Namen, aber keine guten. Mithin gibt es gute und schlechte Wortschöpfer wie gute und schlechte Maler, mithin auch gute und schlechte Gesetzgeber. — Kratylos muß das zugeben. Indessen wendet er ein: Wenn wir in einem Namen einen Buchstaben ändern oder fortlassen, so haben wir doch das Wort nicht etwa unrichtig, sondern überhaupt nicht geschrieben, denn es steht dann etwas ganz anderes da! — Das darf uns nicht beirren, erwidert Sokrates. Richtig ist zwar, daß aus einer Zahl, der man eine Einheit nimmt, eine andere Zahl wird, aber auf Qualitäten, insonderheit auf B'lder, trifft das nicht zu. Im Gegenteil! Ein Bild m u ß seinem Wesen nach unvollständig sein. Eine Reproduktion, die mit dem Original vollkommen übereinstimmte, wäre keine Nachbildung mehr, sondern ein zweites Original. Wenn etwa ein Gott ein Wesen schüfe, genau so wie du, nicht nur deinem Äußeren gleich wie ein Bild des Malers, so würde das nicht das Abbild des Kratylos, sondern ein zweiter Kratylos sein. Nicht war ? -— Ja. — Dieselbe Wunderlichkeit würden wir gewahren, wenn Name und Sache ganz dasselbe wären; wir hätten damit die Sache doppelt und vermöchten nicht zu unterscheiden, welches von beiden Name und welches Sache wäre. Du darfst also einräumen, daß die Namen teils gut, teils schlecht sind. Name bleibt Name, auch wenn einmal ein Buchstabe hineingeraten ist, der nicht in ihn hineingehört; trotzdem kann er, ebenso wie ein mangelhafter Satz, noch immer seinem Zweck dienen. Uns muß genügen, daß ein Wort im wesentlichen den Anforderungen entspricht, die ich zuletzt mit Hermogenes aufgestellt habe. (Siehe Kap. 35,37.) Das wollen wir getrost zugeben, damit

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K r a t y l o s : K a p i t e l 40 u n d 41 wir nicht in Buße verfallen, wie in Ägina die Nachtschwärmer, die sich zu später Stunde auf der Straße umhertreiben. Denn auch wir könnten leicht zu Schaden kommen, wenn wir auf dem Wege zur Wahrheit allzu sehr umherschweifen; lasse uns deshalb nicht pedantisch sein. Wenn du bestreiten willst, daß der Name ein Abbild seines Gegenstandes ist, mußt du dich nach einem anderen Erklärungsgrunde der natürlichen Richtigkeit der Namen umsehen. — Kratylos erklärt, daß er darüber nicht länger streiten wolle, so sehr es ihm mißfalle, daß ein nicht richtig gebildetes Wort trotzdem ein Name sein solle. Sokrates setzt ihm darauf noch einmal den Sachverhalt auseinander: Wenn die Namen Abbilder der Dinge sind und wenn es Urwörter gibt, so können diese nur vermittelst ihrer Buchstaben den Dingen angeglichen werden. Sonst müssen wir uns für die Annahme des Hermogenes entscheiden, daß die Namen durch Übereinkunft zufällig entstanden sind, daß man sie also ebenso beliebig miteinander vertauschen kann. — Diese Annahme scheint dem Kratylos völlig unannehmbar zu sein, er zieht vor, sich mit der vorgeschlagenen Erklärung abzufinden. — Dann, schließt Sokrates, muß aber zwischen den Eigenschaften der Buchstaben und denen der Dinge eine gewisse Übereinstimmung bestehen. Wie der Maler kein Bild schaffen könnte, wenn seine Farben nicht mit den natürlichen Farben der Dinge übereinstimmten, könnte auch der Sprachbildner kein rechtes Abbild herstellen, wenn sein Material, die Buchstaben, nicht zu den Dingen stimmen würde. Nachdem sich Sokrates überzeugt hat, daß Kratylos gegen seine Ausführungen nichts mehr zu erinnern weiß, schickt er sich an, das so mühsam gewonnene Ergebnis wieder umzustoßen. Er macht Kratylos darauf aufmerksam, daß die Lautlehre, auf die er sich mit Hermogenes geeinigt habe, nicht überall zutreffe, besonders, wenn man die Verschiedenheiten der griechischen Mundarten mit berücksichtige. Zur Bezeichnung des Fließens, der Bewegung und des Harten diene nicht überall das R, und auch sonst finde man vielfach Abweichungen von der angenommenen Regel vor. In diesen Fällen bestehe eine Übereinstimmung zwischen den Eigenschaften der Dinge und denen der Buchstaben nicht. Kratylos will dieses Mißverhältnis auf die im Laufe der Zeit eingetretenen Lautverschiebungen zurückführen, auf die sich ja auch Sokrates in seinen Worterklärungen berufen habe. — Wie erklärst du es denn, fragt Sokrates, daß derartige Worte trotzdem zur Verständigung ausreichen ? — Das beruht auf der Gewohnheit, meint Kratylos. — Sokrates hält ihm jedoch vor: Eine solche Gewohnheit wäre aber wohl kaum etwas anderes i53r

K r a t y l o s : K a p i t e l 41 u n d 42 als eine Übereinkunft ? Das mag dahingestellt bleiben, doch werden wir allerdings nicht leugnen können, daß viele Namen wirklich auf Gewohnheit beruhen, und daß auch sie zur Verständigung genügen. Das gilt besonders für die Zahlworte, in denen m a n unmöglich eine Übereinstimmung mit den nach ihnen benannten Ziffern herausfinden kann. Auch mir würde es gewiß sehr lieb sein, wenn alle Namen ihren Gegenständen so ähnlich wären wie n u r möglich, aber dieser Wunsch darf uns nicht zu gezwungenen Erklärungen verleiten. Wir werden uns mit der Feststellung zu begnügen haben, daß der Name um so besser ist, je mehr er zur Sache stimmt, um so schlechter, je mehr er davon abweicht. Und nun sage mir: Worin besteht die Wirksamkeit der Namen, und was vermögen sie zu leisten? — Kratylos erklärt: Sie belehren, wie mich d ü n k t , und es ist leicht einzusehen: wer die Namen kennt, der kennt auch die Dinge. 30 ) - Du scheinst damit sagen zu wollen, fragt Sokrates: die Einsicht in den Namen einer Sachc eröffnet auch die Einsicht in deren Wesen; denn Name und Sache stimmen überein, und alles Übereinstimmende wird durch dieselbe Erkenntnisart e r f a ß t ? ----- Ganz recht. — Dann sage mir, ob dieses Verfahren das einzige ist, uns über das Wesen der Dinge zu belehren, oder ob es noch ein anderes, wenn auch minder gutes gibt ? — Nein, es ist das einzige. — Macht es nur die Dinge greifbar, oder lehrt es uns auch, sie zu ergründen ? — Beides. - Erwäge aber, ob nicht darin eine gewisse Gefahr liegt: wer sich allein von den Namen leiten läßt, wird doch leicht irregeführt werden können? - — Wieso ? —- Nun, der erste Sprachbildner schuf doch die Namen nach seiner Erkenntnis der Dinge; und wo er geirrt haben sollte, würde er auch uns t ä u schen. — Das ist nicht so, Sokrates. Der erste Sprachbildner war ein Wissender, denn sonst h ä t t e er überhaupt keine Namen schaffen können. Die sicherste Gewähr dafür, daß der Gesetzgeber in der Wahl seiner Namen nicht fehlgegriffen hat, liegt in ihrer durchgängigen Übereinstimmung. Du hast ja selbst nachgewiesen, daß sie nach einem festen Plane gebildet worden sind. — Sokrates wendet dagegen ein: Gleichwohl wäre es möglich, daß der Grundgedanke des Sprachschöpfers falsch gewesen ist. Ein folgerichtiges System läßt sich auch auf einer falschen Voraussetzung aufbauen, wenn m a n ihr alles einzelne mit einiger Gewalt anpaßt. In einer Zeichnung, in die sich zu A n f a n g ein Fehler eingeschlichen hat, können alle Proportionen richtig sein, wenn sie der Zeichner auf den Fehler abgestimmt hat. D a r u m haben wir gerade auf den Anfang eines jeden Unternehmens besonders scharf zu achten. 3 1 ) Der Sprachbildner ging nach unserer Feststellung von der Anschauung aus, daß sich alle Dinge beständig im Flusse befänden, und nach

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K r a t y l o s : K a p i t e l 42 u n d 43 diesem Grundgedanken suchte er uns das Wesen der Dinge durch Worte zu offenbaren ? — Ja, so ist es. — Hier setzt Sokrates mit seiner Kritik ein. Er macht Kratylos darauf aufmerksam, daß die Namen, die er vorhin auf die Bewegung zurückgeführt hatte, sich ebensowohl auf den Stillstand zurückführen ließen. Das weist er an den Worten Episteme (Wissen), Historia (Forschung), Mneme (Gedächtnis) schlagend nach. Überdies, fügt er hinzu, gestattet die Art und Weise der Ausdeutung, nach der ich verfuhr, den schlimmsten Dingen die schönste Bedeutung beizulegen. Auch das beweist Sokrates an zwei Beispielen und bemerkt dazu: Wer das weiter verfolgt, wird noch sehr viel mehr auffinden, um die entgegengesetzte Ansicht zu begründen: daß die Namen der Dinge nicht auf ein Bewegtes, sondern auf ein Feststehendes hindeuten. — Aber, Sokrates, die meisten Namen deuten doch auf ein Bewegtes! - - Was hilft uns das? Gedenkst du etwa, die Namen wie Stimmzettel zu zählen und über die Wahrheit nach der Mehrzahl der Stimmen zu entscheiden ? — Nein, das geht nicht an, bekennt Kratylos. Sokrates widerlegt darauf die Behauptung des Kratylos, daß die Erkenntnis der Namen der Erkenntnis der Dinge voraufgehe. Die sehr ausführliche Widerlegung ist im Grunde höchst einfach. Abgeleitete Namen lassen sich zwar aus den Wörtern erklären, die ihnen zugrunde liegen, aber bei den Urwörtern versagt dieses Hilfsmittel, diese können also nur aus der Erkenntnis des Wesens der Dinge hervorgegangen sein. Es verhält sich daher gerade umgekehrt als Kratylos annimmt: die Erkenntnis der Dinge muß der Erkenntnis der Namen voraufgegangen sein. Kratylos gibt zu, daß dieses Argument nicht ohne Belang sei. Er nimmt seine Zuflucht zu der Vermutung, daß die Urwörter von einer göttlichen Macht stammten und darum richtig sein müßten. Sokrates verschmäht es, ihm zu sagen, daß das eine bereits gerügte leere Ausflucht ist (Siehe Kap. 36), sondern weist ihn darauf hin, daß er damit einen Gott für die Zweideutigkeit der Namen verantwortlich mache; denn wie nachgewiesen, ließen sich diese beliebig im Sinne der Bewegung und im Sinne des Stillstandes erklären. — Viele Wörter, betont Kratylos, sind aber keine wirklichen Namen! — Welche sind denn richtig ? fragt Sokrates. Wir sind doch darin einig, daß hier die Mehrheit nicht maßgebend ist ? — Gewiß. — Wie sollen wir dann den Streit entscheiden ? Jedenfalls nicht wiederum durch Namen, vielmehr nach einem anderen Prinzip, das uns das Wesen der Dinge erschließt ? — Ja. — Es muß also die Möglichkeit bestehen, die Dinge auch ohne Zuhilfenahme von Namen zu begreifen. Welchen Weg würden wir da einzuschlagen haben ? Sicherlich wohl den natürlichsten und

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K r a t y l o s : K a p i t e l 43 u n d 44 geradesten: die Dinge durch sich selbst und zwar nach ihren Verwandtschaften zu erklären, 32 ) denn ein Fremdes, von ihnen Verschiedenes würde uns immer auf ein ebensolches Fremdartiges verweisen. Aber, beim Zeus! Wir waren doch darin einig, daß richtig gebildete Namen gute Abbilder der Dinge sind! Gesetzt nun, daß zwei Möglichkeiten bestehen: durch die Namen zur Erkenntnis der Dinge zu kommen, oder sie unmittelbar zu begreifen; welche Einsicht wäre dann schöner und klarer: aus dem Bilde zu erkennen, ob es wohlgelungen ist, und dadurch zur Wahrheit zu gelangen, oder umgekehrt, in der Wahrheit die Wahrheit zu finden und daraus abzunehmen, ob das Bild der Wahrheit entspricht? 3 3 ) — Das zweite wird richtiger sein, erkennt Kratylos an. — Zur Erklärung der Dinge werden vielleicht unsere Kräfte nicht ausreichen, doch muß uns die Einsicht genügen, daß es sehr viel besser ist, die Dinge nicht aus ihren Namen, sondern unmittelbar zu erforschen. Zum Schluß gibt Sokrates eine Kritik der Lehre Heraklits: 34 ) Haben die alten Meister der Sprache wirklich die Namen im Sinne der Lehre erdacht, daß alles unaufhörlich im Flusse, nichts beständig sei ? Mir scheint es, daß sie so dachten. Aber wir müssen fragen, ob das auch richtig ist. Sollten sie vielleicht selbst in einen Strudel geraten sein und uns mit hineingezogen haben ? Vernimm, was ich so oft träume: Gibt es ein Schönes an sich, ein Gutes an sich und noch manches andere derselben Art ? --- Das scheint auch mir so. -•Dann wollen wir nicht an ein schönes Gesicht oder dergleichen denken, denn alles das ist allerdings in beständiger Wandlung, sondern wollen uns fragen, ob das Schöne an sich immer unwandelbar beharrt. Wie könnte es der Erkenntnis greifbar sein, wenn es unaufhörlich wechselnd dahinströmte und jedesmal unseren Händen entglitte, wenn wir es zu fassen suchen ? Kann etwas, das niemals in demselben Zustande verharrt, ein festes Sein haben ? Und könnte das unwandelbar Beharrende sich je verändern oder bewegen, da es niemals aus seiner Idee (Idea!) scheidet? Das stets Wechselnde kann nicht Gegenstand der Erkenntnis sein: in dem Moment, in dem wir es ins Auge fassen, wird es schon anders. Es gäbe überhaupt keine Erkenntnis, wenn nichts feststeht, denn auch sie würde dann dem unaufhörlichen Wechsel unterworfen sein. I s t aber das Erkennende und das zu Erkennende, ist das Schöne, das Gute, gibt es das, was wir das Wesen der Dinge nennen, so ist alles das dem Flusse der Dinge entrückt. 35 ) Ob sich alles so verhält, wie Heraklit und seine Nachfolger meinen, will ich dahingestellt sein lassen. Aber kein Verständiger wird sein Heil auf bloße Namen bauen, sich im blinden Vertrauen auf die Männer, die sie erfunden haben, weise dünken, um dann zu behaupten, alle Dinge seien morsch und gingen I56

Kratylos:

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dahin wie Töpferware. Menschen dieser Art gleichen denen, die am Schnupfenfluß leiden und sich deshalb einbilden, daß auch alles andere mit einem Katarrh behaftet sei. Wir werden also nichts ohne gründliche Prüfung als wahr anerkennen. Forsche darum unverdrossen weiter, und wenn du das Rechte findest, so teile es mir mit! — Höchst selbstbewußt versetzt Kratylos: Das werde ich tun. Wisse aber, daß ich in diesen Dingen keineswegs unbewandert bin und nach gründlicher Erwägung die Lehre Heraklits für die bessere halte. — Schön, belehre mich darüber ein andermal, lieber Kratylos. Jetzt begib dich, wie du gedachtest, aufs Land und nimm Hermogenes mit! — So soll es sein, versäume auch du nicht, nochmals über alles nachzudenken. —

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ANMERKUNGEN L Y S I S M Ein Knabenfest, durch das die athenische Jugend dem Hermes als dem Schutzherrn S. 3 der Ringschulen huldigte. Von Lysis ist nichts Näheres bekannt. Eine aufgefundene Grabschrift trägt jedoch den Namen einer Lysistochter und bestätigt die Angaben Piatons über isthmische Siege ihres Hauses und dessen mythischen Stammvater (v. Wilamowitz, Piaton I 188.). Ktesippos und Menexenos werden im Phaedon unter denen genannt, die beim Tode des Sokrates zugegen waren, Menexenos tritt in dem nach ihm benannten Dialoge wieder auf. Hippotliales soll ein Schüler Piatons gewesen sein. 3 ) In diesen verfänglichen Fragen, die Sokrates hier und im folgenden dem Knaben vor- S. 6 legt, nützt er die Mehrdeutigkeit des Wortes q>iAos (lieb, freund), das im Griechischen aktivisch und passivisch, substantivisch und adjektivisch verwendet wird, weidlich aus. Die sophistischen Kunststücke, die er daraus entwickelt, lassen sich im Deutschen nur unvollkommen wiedergeben, im Urtext klingt alles natürlicher. 4 1 Vers aus der Odyssee. 5 ) Lysis bemerkt nicht, daß Sokrates den Begriff der Gleichheit so überspitzt hat, daß S. 7 er unbrauchbar geworden ist. Eine solche absolute Gleichheit gibt es im wirklichen Leben überhaupt nicht. Gleichwohl liegt der bizarren Beweisführung ein gesunder und fruchtbarer Gedanke zugrunde. Innige Freundschaften erhalten gerade durch die Verschiedenheiten in den Charakteren und Veranlagungen g l e i c h g e s i n n t e r Menschen ihren hohen Wert, hier sucht der Freund im Freunde das, was ihm selber fehlt. Dieser Gedanke kehrt im nächsten Kapitel wieder. — Die Wahrheit des hier angefochtenen alten Wortes, daß die Gleichheit Freundschaft stiftet, erkennt Piaton in den Gesetzen (VI, 5) ausdrücklich an, ebenso im Gorgias, Kap. 66. — Im Phaedros (Kap. 36) heißt es: „Das Schicksal will, daß niemals der Schlechte dem Schlechten freund, der Gute dem Guten nicht freund sei." °) Es ist leicht ersichtlich, daß dieser Beweis ebenso trügerisch ist wie der vorige. „Niemand ist gut, denn der alleinige Gott", sagt Jesus. 7 ) Diese Ausführungen sind höchst interessant, sie führen uns die von Goethe in ihrer S. 8 Tiefe erkannten Probleme der Polarität und der Wahlverwandtschaften vor Augen! s ) Die Mängel der voraufgegangenen Beweise werden jetzt berichtigt. 9 ) Diese Lehre nimmt Piaton im Gastmahl, Kap 23, wieder auf und gibt ihr dort einen S. 9

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tieferen Sinn. Auch sonst kehrt dieser echt sokratische Gedanke in Piatons Schriften mehrfach wieder. Man erwartet: „ u n s lieb ist". Aber Sokrates verübt hier einen Taschenspielerstreich mit dem Worte