Platons Dialektik: Die frühen und mittleren Dialoge 9783110870435, 3110127709, 9783110127706


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German Pages 315 [316] Year 1992

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Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung
Kapitel I: Krise und Dissens
§ 1 Krise und sprachlicher Wandel
§ 2 Krise und Typen ethischen Dissenses
Kapitel II: Die „Was ist X?“-Frage als Antwort
§ 3 Dissens und „Was ist X?“-Frage
§ 4 „Was ist X?“-Frage und poion-Frage
§ 5 „Was ist X?“-Frage und Verifikation
§ 6 „Was ist X?”-Frage und Wissen
Kapitel III: Die Beantwortung der „Was ist X?“-Frage: der Elenchos
§ 7 Wie gelangt man zum Ideenwissen? Vorüberlegungen
§ 8 Beispiele: zwei Elenchoi
§ 9 Die Regeln des Elenchos
§ 10 Elenchos und Syllogismus
§ 11 Elenchos und Wahrheit
Kapitel IV: Entfaltungen des elenktischen Verfahrens
§ 12 Prämissensicherung und die Idee des Guten
§ 13 Die Konzeption der Dialektik in der Politeia
§ 14 Anamnesis
§ 15 Das hypothetische Verfahren
Abschluß
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Verzeichnis griechischer Ausdrücke
Sachregister
Personenregister
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Platons Dialektik: Die frühen und mittleren Dialoge
 9783110870435, 3110127709, 9783110127706

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Peter Stemmer Piatons Dialektik

w DE

G

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland

Band 31

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992

Piatons Dialektik Die frühen und mittleren Dialoge

von

Peter Stemmer

Walter de Gruyter - Berlin · New York 1992

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Stemmer, Peter: Piatons Dialektik : die frühen und mittleren Dialoge / von Peter Stemmer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 31) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1990 ISBN 3-11-012770-9 NE: GT

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, D-1000 Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, D-1000 Berlin 61

Vorbemerkung Diesem Buch liegt meine Habilitationsschrift zugrunde, die 1990 an der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Karlfried Gründer, Ernst Tugendhat und Ursula Wolf danke ich für ihre Hilfe und Förderung. Mein Dank gilt auch den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie", insbesondere Wolfgang Wieland. Berlin, im April 1992

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

V

Einleitung

1

Kapitel I: Krise und Dissens

4

§1 §2

Krise und sprachlicher Wandel Krise und Typen ethischen Dissenses

Kapitel II: Die „Was ist X?"-Frage als Antwort § § § §

3 4 5 6

Dissens und „Was ist X?"-Frage „Was ist X?"-Frage und poion-Ft&ge „Was ist X?"-Frage und Verifikation „Was ist X?"-Frage und Wissen

Kapitel III: Die Beantwortung der „Was ist X?"-Frage: der Elenchos §7 §8 §9 § 10 §11

12 13 14 15

31 31 42 50 63 72

Wie gelangt man zum Ideenwissen? Vorüberlegungen . . . . 72 Beispiele: zwei Elenchoi 80 Die Regeln des Elenchos 96 Elenchos und Syllogismus 127 Elenchos und Wahrheit 142

Kapitel IV: Entfaltungen des elenktischen Verfahrens § § § §

4 12

Prämissensicherung und die Idee des Guten Die Konzeption der Dialektik in der Politela Anamnesis Das hypothetische Verfahren

Abschluß

152 152 191 225 250 271

Vili

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

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Stellenregister

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Verzeichnis griechischer Ausdrücke

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Sachregister

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Personenregister

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Einleitung „Dialektik" — so nennt Piaton das Können, das den Philosophen auszeichnet. Es besteht darin, Fragen wie, was Gutsein, was Gerechtsein, was Besonnensein ist, methodisch untersuchen zu können. Wer diese Bestimmung der Dialektik und ihre Ausführung nicht nur als eine Philosophenmeinung, als ein Stück vergangenen Denkens referieren und wiederholen können, sondern begreifen will, muß sich über zwei Fragen klarwerden: Er muß erstens verstehen, warum begriffliche Fragen der Form „Was ist X?" (wobei „ X " für ein abstraktes Nomen steht) bei Piaton in das Zentrum der Philosophie rücken. Warum sind es gerade diese Fragen, die dem Dialektiker aufgegeben sind? In den frühen und mittleren Dialogen erörtern Sokrates und seine Gesprächspartner zu einem großen Teil „Was ist X?"-Fragen, besonders solche, die nach ethischen Schlüsselbegriffen fragen. Im Charmides ist die Themafrage: „Was ist Besonnensein?", im Laches·. „Was ist Tapfersein?", im Euthjphron: „Was ist Frommsein?" Im Hippias Maior fragt Sokrates: „Was ist Schönsein?" Im Menon wie im Protagoras wird die Frage, ob, gut zu sein, lehrbar ist, zurückgeführt zu der elementareren Frage, was Gutsein ist. Ähnlich wird in der Politela die Beantwortung der Themafrage, ob es gut ist, gerecht zu sein, von der Untersuchung der Frage, was Gerechtsein ist, abhängig gemacht. Die besondere Bedeutung der „Was ist X?"-Fragen für die platonische Philosophie zeigt sich nicht nur darin, daß eine Reihe von Dialogen sich ausschließlich der Beantwortung einer Frage dieser Art widmet; sie spiegelt sich auch in der Emphase und dem Nachdruck, mit dem Sokrates sie immer wieder seinen Gesprächspartnern stellt, sowie in der Ausführlichkeit, mit der er immer neu ihren Sinn erläutert. 1 — Warum also ist die Untersuchung dieser Fragen so wichtig? Was macht ihre Untersuchung so nötig?

1

Es sei nur angemerkt, daß die „Was ist X?"-Fragen auch in den späteren Dialogen nicht verschwunden sind. Im Theaitet ist die Themafrage: „Was ist Wissen?", und im Sophistes, Politikos und Philebos geht es ebenfalls darum, zu bestimmen, was etwas ist.

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Einleitung

Zweitens muß, wer Piatons Bestimmung der Dialektik begreifen will, herausfinden, welche Methode Piaton für die Beantwortung der „Was ist X?"-Fragen konzipiert. Die Dialektik ist die Kunst, diese Fragen methodisch, in einem geordneten Verfahren zu untersuchen. Dieser Aspekt ist für Piaton so wichtig, daß er zur Bezeichnung dieser Untersuchungsform das Wort „Dialektik" einführt und sie damit nicht durch ihre Motivation, dem Streben nach Wissen, sondern durch ihre Methode, das διαλέγεσθαι, auszeichnet. Was aber heißt es, eine Frage dialektisch zu untersuchen? Wie geht eine dialektische Untersuchung vor? Es kommt hier darauf an, eine konkrete Vorstellung von der dialektischen Methode zu gewinnen. Das Konzept einer Methode hat man erst dann verstanden, wenn man sie selbst gebrauchen und mit ihr operieren könnte. Alle Erklärungen der dialektischen Methode, die diesen Test nicht bestehen, sind bloß abstrakt, sie begnügen sich vorschnell mit Vorstellungen und Redeweisen, die Plausibilität suggerieren, tatsächlich aber kein Verständnis vermitteln. Mit diesen Überlegungen sind die beiden Leitfragen der vorliegenden Untersuchung fixiert: (1) Warum ist es für Piaton so wichtig, begriffliche Fragen der Form „Was ist X?" zu untersuchen? Und: (2) Welche Methode konzipiert Piaton für die Beantwortung dieser Fragen? Die erste Frage wird in den Kapiteln I und II, die zweite in den Kapiteln III und IV untersucht. 2 Die Beantwortung dieser Fragen wird, wenn sie gelingt, nicht nur Piatons Dialektikkonzept klären, sie wird auch den Ansatz und die Anlage seines eigenen Philosophierens verständlich machen. Denn die Auffassung, die ein Philosoph von der eigentlichen philosophischen Tätigkeit hat, und seine eigene philosophische Praxis sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Piaton sieht die eigentliche philosophische Aufgabe darin, begriffliche Fragen methodisch zu untersuchen, und er führt solche Untersuchungen durch. Die Gründe für das eine zu verstehen, heißt, die Gründe für das andere zu verstehen. Zu verstehen, warum Piaton dem Dialektiker die Aufgabe stellt, „Was ist X?"-Fragen zu untersuchen, heißt, zu verstehen, warum Piaton in den frühen und mittleren Dialogen immer wieder „Was ist X?"-Fragen untersucht, stets ihre besondere Bedeutung und Wichtigkeit betont und zunehmend, in immer weiter ausgreifenden Über-

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Da sich meine Arbeit auf die Untersuchung der frühen und mittleren Dialoge beschränkt, werde ich die methodischen Reflexionen Piatons im Spätwerk, vor allem das Konzept der Dihairetik, das erstmals im Phaidros stärker in den Vordergrund tritt und in den Dialogen Sophistes, Poütikos und Philebos entfaltet wird, nicht behandeln.

Einleitung

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legungen darüber nachdenkt, wie man sie beantworten kann. Die Untersuchung der beiden genannten Leitfragen dieser Arbeit ist mithin auch und vor allem der Versuch, den Ausgangspunkt und die immer neue Aspekte einbeziehende Entfaltung der platonischen Philosophie zu begreifen und offenzulegen. Die vorliegende Studie will, indem sie ihren Leitfragen nachgeht, herausstellen, welche Probleme am Anfang der platonischen Philosophie stehen und in welcher Weise der Versuch, sie zu lösen, zu den Fragen und Themen führt, die Piaton in den untersuchten Dialogen angeht. In den folgenden vier Kapiteln soll ein kontinuierlicher Gedankengang im Ausgang von der ursprünglichen Problemlage, ein an diesen Ausgangspunkt zurückgebundener gedanklicher Zusammenbang dargestellt werden. Dies ist meine Hauptabsicht. Ihre Verwirklichung bringt es, so hoffe ich, mit sich, daß auch einiges Neue über alte Themen der Piatondeutung gesagt wird und eine Reihe von verbreiteten und reputierten Vorstellungen über Piatons Philosophie so fragwürdig werden, wie sie zu sein scheinen.

Kapitel I: Krise und Dissens § 1 Krise und sprachlicher

Wandel

Um zu verstehen, warum Piaton es für so nötig hält, die Bedeutung zentraler ethischer Wertwörter zu bestimmen, muß man sich wenigstens im Umriß klarmachen, in welcher politisch-ethischen Umwelt und unter dem Eindruck welcher theoretischen Ausdeutung der Poliswirklichkeit er beginnt, seine Philosophie zu konzipieren. Die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts war eine Krisenzeit, in der sich die schon im 6. Jahrhundert einsetzende Auflösung der überkommenen ethischen Ordnung beschleunigte und in der die Realität dieses Zerfalls auch zunehmend wahrgenommen und als bedrohlich empfunden wurde. Die traditionelle Gestalt des privaten und öffentlichen Lebens verlor ihre Selbstverständlichkeit und ihre fraglose Verbindlichkeit. Besonders im letzten Drittel des Jahrhunderts, in der Zeit also, in der Piaton aufwuchs und seine intellektuelle Formung empfing, wurde deutlich, daß die tradierten ethischen, politischen und religiösen Orientierungen ihre selbstverständliche Geltung bereits verloren hatten oder dabei waren, sie zu verlieren. Die Ursachen für den tiefgreifenden Meinungswandel in der Frage, was zu tun und zu lassen und wie insgesamt zu leben sei, lagen vor allem in zwei einschneidenden Ereignissen des 6. und 5. Jahrhunderts, dem sich rasch ausweitenden Kennenlernen anderer Kulturen und Lebensformen und dem Peloponnesischen Krieg. Durch die Perserkriege, den aufkommenden internationalen Handel, durch Bildungs- und Forschungsreisen erhielten die Griechen in dieser Zeit Kunde von der Verschiedenheit der Sitten und Bräuche bei anderen Völkern. Ihre eigene Welt war nicht mehr die Welt schlechthin. Und die Erfahrung, daß anderswo ein Verhalten akzeptiert, ja sogar geboten war, das zu Hause völlig außerhalb des Denkbaren lag, war erschütternd. Man kann diese tiefe Verunsicherung spüren, wenn Herodot über die verschiedenen Bestattungsbräuche bei Griechen und indischen Kalatiern berichtet:

Krise und sprachlicher Wandel

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„Als Dareios König war, ließ er einmal alle Griechen seiner Umgebung zu sich rufen und fragte sie, um welchen Lohn sie bereit wären, die Leichen ihrer Vater zu verspeisen. Die aber antworteten, sie würden das um keinen Preis tun. Darauf rief Dareios die indischen Kalatier, die die Leichen der Eltern essen, und fragte sie in Anwesenheit der Griechen ..., um welchen Preis sie ihre verstorbenen Väter verbrennen möchten. Sie schrieen laut auf und baten ihn inständig, solch gottlose Worte zu lassen." 1 Ähnliche Erfahrungen listen die Dissoi Logoi, eine wahrscheinlich um 400 verfaßte Schrift eines unbekannten Autors aus dem Umkreis der Sophisten, auf: „In Sparta ζ. B. gilt es als schicklich, daß die Mädchen nackt Gymnastik treiben und ohne Ärmel und Chiton daherkommen, in Ionien dagegen gilt es als unschicklich. In Makedonien erscheint es als schicklich, daß die Mädchen, ehe sie heiraten, sich der Liebe hingeben und mit einem Mann schlafen, nach der Hochzeit aber gilt nichtehelicher Geschlechtsverkehr als unschicklich; in Griechenland gilt beides als unschicklich. In Persien ist es schicklich, daß Männer sich wie Frauen schmücken und mit der Tochter, der Mutter und der Schwester schlafen; in Griechenland ist das unschicklich und gesetzwidrig." 2 Die Einsicht in die nur regionale Geltung von vermeintlich allgemein gültigen ethischen Wertvorstellungen relativierte die Autorität, die man dem heimischen Nomos beizulegen gewohnt war. Der ererbte Nomos verlor seine bis dahin fraglose Macht. Statt dessen wurde er als Inbegriff der Regeln und Gesetze erkannt, die sich die Menschen einer bestimmten Region selbst gegeben haben, um möglichst reibungslos, ihren Interessen förderlich und komfortabel zusammenzuleben. Man lernte, den Nomos als Werk des Menschen zu sehen. Aus dieser neuen Sicht ließen sich verschiedene Konsequenzen ziehen: Man konnte den menschlichen Nomos als bloß beliebige, willkürliche Konvention insgesamt verwerfen und sich nur an das halten, was man für nicht-konventionell, für nicht-variabel, nämlich natürlich hielt. Man konnte ebenso versuchen, die verschiedenen kulturellen Traditionen an einem Kriterium zu messen, das es erlaubte, eine Tradition den anderen vorzuziehen. Dieses Kriterium fand man entweder in der Naturgemäßheit, der Vernünftigkeit oder der Glückszuträglichkeit. Die Sophisten haben diese Problematik von Nomos und Physis über

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Herodot III, 3 8 , 3 - 4 (Übers.: J. Feix); vgl. auch I, 2 1 6 , 1 - 4 . Vgl. Dissoi Logoi 2 , 9 - 1 8 .

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Jahrzehnte durchdacht. 3 Ihr Ergebnis war keineswegs einmütig; einig waren sie sich nur darin, daß die überkommenen ethischen und politischen Wertvorstellungen nicht einfach deshalb Gültigkeit beanspruchen können, weil sie überkommen sind. — Doch diesseits aller Versuche, die Krise theoretisch zu meistern, bedeutete die Erfahrung der Verschiedenheit der Sitten zunächst eine Labilisierung der ererbten Moral und infolgedessen einen wachsenden, im tagtäglichen Tun realisierten ethischen Relativismus und Skeptizismus. Das zweite Ereignis, das die Auflösung der traditionellen Ordnung beschleunigte, war der Peloponnesische Krieg, der längste und verheerendste Krieg der griechischen Geschichte. Wie in jedem Krieg standen alle politischen und militärischen Handlungsvorschläge und Entscheidungen unter besonderem Legitimationsdruck. Die Qualität der Entscheidungen wird schließlich nur noch am Erfolg und Mißerfolg gemessen, den sie für die Kriegsführung bedeuten. Natürlicherweise werden in einer solchen dauerhaft angespannten Situation Kategorien der Utilität und Effektivität dominant. Wenn sich dann zeigt, daß die überlieferten Wertund Verhaltensvorstellungen und die an ihnen orientierten Entscheidungen nicht den unbedingt für nötig gehaltenen Erfolg gewährleisten, ist es sicher, daß andere Vorstellungen handlungsleitend werden. Der Krieg ist, wie Thukydides sagt, ein „gewalttätiger Lehrmeister". 4 Die Erfahrungen, zu denen er zwingt, verändern schnell und nachhaltig die Prinzipien, nach denen die Menschen ihr Handeln bestimmen. Am deutlichsten zeigte sich das Zerbrechen der überkommenen Lebens- und Verhaltensordnung in einer nicht vereinzelt bleibenden Veränderung im Gebrauch ethischer Wertwörter. Der ethischen Destabilisierung entsprach eine Auflösung des zuvor einheitlichen ethischen Sprachgebrauchs: Zentrale Wertwörter wurden nun in unterschiedlicher Weise verwandt, ihre Anwendungskriterien wurden unbewußt verschoben oder

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Vgl. hierzu bes. F. Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts (Basel 1945, N D Darmstadt 1980); W. K. C. Guthrie: The Sophists (Cambridge 1971) 5 5 - 1 3 4 ; J . de Romilly: La loi dans la pensée grecque (Paris 1971) 58 — 114; A. Dihle: Die Verschiedenheit der Sitten als Argument ethischer Theorie, in: G. B. Kerferd (ed.): The Sophists and Their Legacy (Wiesbaden 1981) 5 4 - 6 3 , 5 9 - 6 3 ; G. Β. Kerferd: The Sophistic Movement (Cambridge 1981) 111 — 130; M. Ostwald: From Popular Sovereignity to the Sovereignity o f Law. Law, Society, and Politics in Fifth-Century Athens (Berkeley 1986) 250—273; C. Farrar: The Origins of Democratic Thinking. The Invention of Politics in Classical Athens (Cambridge 1988) 1 0 6 - 1 2 3 .

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Thukydides III, 82,2: βίαιος διδάσκαλος.

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bewußt neubestimmt, die Empfehlungen und Bewertungen, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, neutralisiert oder in ihr Gegenteil verkehrt. Das Verhältnis von Wort und korrelierender Sache war seit Heraklit und Parmenides ein Gegenstand systematischen Nachdenkens; aber im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts gewann dieses Thema eine neue Dimension, weil man jetzt die gegenseitige Abhängigkeit von Sprachgebrauch und Praxis deutlicher erkannte. Man sah, wie verändertes Verhalten die Sprache veränderte, aber auch, wie eine veränderte Sprache das Verhalten der Menschen veränderte. An der Aufhellung dieses Zusammenhangs waren die Sophisten äußerst interessiert, zum einen um das ethisch-politische Geschehen ihrer Zeit in seiner Tiefenstruktur zu begreifen, zum anderen um die erkannte Macht der Sprache bewußt einzusetzen und nutzen zu können. 5 Vor allem Thukydides, selbst kein Sophist, aber mit den sophistischen Lehren vertraut und von ihnen beeinflußt, hat die sprachlichen Veränderungen unter dem Druck der andauernden Kriegssituation präzise analysiert. 6 Anläßlich des Bürgerkriegs, der im Sommer 427 in Kerkyra tobte, notiert er: „Und man veränderte die gewohnte Ansicht darüber, welche Wörter für welche Handlungen angemessen sind, nach seinem Urteil: unvernünftige Tollkühnheit galt nun als sich für die Kameraden einsetzende Tapferkeit, vorausdenkende Vorsicht als beschönigte Feigheit, Besonnenheit als kaschierte Ängstlichkeit ..." 7 Blindes Draufgängertum galt

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Vgl. zur Thematisierung der Sprache in der Sophistik C. J. Classen: Das Interesse an der Sprache bei Sokrates' Zeitgenossen (1958), in: C. J. C.: Ansätze. Beiträge zum Verständnis der frühgriechischen Philosophie (Amsterdam 1986) 217—248: D. di Cesare: La semantica nella filosofia greca (Roma 1980) 5 1 - 8 8 ; Kerferd (1981) 6 8 - 7 7 ; M. Kraus: Name und Sache. Ein Problem im frühgriechischen Denken (Amsterdam 1987) 168—199. Vgl. hierzu F. Solmsen: Thucydides' Treatment of Words and Concepts (1971), in: F. S.: Kleine Schriften III (Hildesheim 1982) 110 — 133; ders.: Intellectual Experiments of the Greek Enlightment (Princeton 1975) 8 3 - 1 2 5 ; J. B. White: When Words Lose Their Meaning (Chicago/London 1984) 5 9 - 9 2 , 2 9 9 - 3 1 4 . - Zu Thukydides' Verhältnis zur Sophistik W. Nestle: Thukydides und die Sophistik (1914), in: W. N.: Griechische Studien (Stuttgart 1948) 321—373; F. Rittelmeyer.: Thukydides und die Sophistik (Diss. Erlangen 1915); J. H. Finley: Thucydides (Cambridge, Mass. 1942) 3 6 - 7 3 ; Guthrie (1971) 8 4 - 8 8 ; H. D. Rankin: Sophists, Socratics and Cynics (London 1983) 98 — 121. Thukydides III, 82,4: και τ ή ν εϊωθυίαν άξίωσιν τ ω ν ονομάτων ές τ ά εργα ά ν τ ή λ λ α ξ α ν τ ή δικαιώσει, τόλμα μέν γ α ρ άλόγιστος ανδρεία φιλέταιρος ένομίσθη, μέλλησις δέ προμηθή; δειλία ευπρεπής, τό δέ σώφρον τ ο υ άνανδρου πρόσχημα ... — Philologische Bemerkungen zu dieser Passage bei J.T. Hogan: The άξίωσις of Words at Thucydides 3.82.4. Greek, Roman and Byzantine Studies 21 (1980) 139-149; J. Wilson: ,The Customary Meaning of Words Were Changed' — Or Were They? A Note on Thucydides 3.82.4. The Classical Quarterly 32 (1982) 1 8 - 2 0 .

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Krise und Dissens

nicht mehr als unvernünftige Tollkühnheit und wurde daher auch nicht mehr so genannt. Statt dessen sprach man von einer sich für die Freunde einsetzenden Tapferkeit. Thukydides beschreibt hier eine bedeutsame Modifikation in der Verwendung des Wertwortes „tapfer". Durch sie wird das Anwendungsfeld des Wortes neu begrenzt und zwar vergrößert: Es werden jetzt Verhaltensweisen „tapfer" genannt, die bisher „tollkühn" genannt wurden. Da die empfehlende Komponente des Wortes „tapfer" durch diese Modifikation unverändert bleibt, werden nach der Erweiterung des Anwendungsfeldes Verhaltensweisen empfohlen, die bisher mißbilligt wurden. Was bisher „tollkühn" genannt und damit mißbilligt wurde, wird jetzt „tapfer" genannt und damit empfohlen. Die Veränderung der gewohnten Ansicht darüber, welche Wörter für welche Handlungen angemessen sind, bedeutet mithin eine Veränderung der gewohnten Bewertung bestimmter Verhaltensweisen. Diese einschneidenden praktischen Konsequenzen hat die sprachliche Modifikation, weil es Wertwörter sind, deren Verwendung sich verändert. Die Frage, wie die Anwendungskriterien eines Wertwortes zu bestimmen sind, beinhaltet immer die Frage, welche Handlungen wir gutheißen und welche nicht. Es geht hier nicht um eine bloße Wortfrage, sondern um eine Sachfrage in der wertenden Einschätzung. Zwischen dem, der das Wort „tapfer" in der alten, engeren Bedeutung verwendet, und dem, der es in der neuen, weiteren Bedeutung gebraucht, besteht nicht ein verbales Mißverständnis, sondern eine sachliche Differenz. Der eine mißbilligt Handlungen, die der andere gutheißt und empfiehlt. Dieser praktische, handlungsrelevante Dissens kann nicht durch eine einfache sprachliche Ubereinkunft, sondern nur durch eine Sacherörterung aus der Welt geschafft werden. Bei bloß deskriptiven Wörtern ohne wertende Komponente bedeutet eine Neubestimmung der Anwendungskriterien hingegen nicht eine Neubewertung, sondern nur eine Neugliederung der Dinge. Wenn man jemandem die Bedeutung des Wortes „rot" erklärt, vermittelt man ein Prinzip, nach dem die Dinge eingeteilt und gegliedert werden. Wenn man hingegen die Bedeutung des Wortes „gerecht" erklärt, vermittelt man inhaltliche ethische Einschätzungen, man vermittelt ein Prinzip, nach dem die Dinge bewertet werden. Die sprachliche Unterweisung ist hier zugleich eine ethische Unterweisung. Deshalb bedeutet, die ethische Sprache zu lernen, letztlich, eine Art zu leben zu lernen. Dem entspricht, daß es ein Problem des bloßen Sprachgebrauchs ist, wenn jemand von der konventionellen Verwendung des Wortes „rot" abweicht. Man wird ihm sagen, daß es im Prinzip gleichgültig sei, wie er das Wort „rot" gebrauche, daß

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es aber, um Mißverständnisse zu vermeiden, das Beste wäre, „rot" in der üblichen Weise zu verwenden. Wenn indes jemand von der konventionellen Verwendung des Wortes „gerecht" abweicht, entsteht ein inhaltlicher ethischer Dissens. Niemand käme hier auf die Idee, zu sagen, es sei im Prinzip gleichgültig, wie er das Wort „gerecht" gebrauche, aus Gründen der leichteren Verständigung sei es aber angebracht, „gerecht" in der üblichen Weise zu verwenden. Die Verwendungsweise eines ethischen Wertwortes beinhaltet immer die Festlegung auf inhaltliche ethische Wertungen; eben deshalb indiziert die Veränderung des Sprachgebrauchs eine Veränderung in den ethischen Einstellungen und Überzeugungen. Die Umprägung der Besonnenheit in Feigheit, die Thukydides als weiteres Beispiel für den Sprachwandel anführt, ist von derselben Art wie die Umprägung der Tollkühnheit in Tapferkeit. Nur die Richtung der Umwertung ist verändert. Statt etwas traditionell Mißbilligtes in etwas Empfehlenswertes umzuwerten, wird jetzt etwas traditionell Empfohlenes in etwas, das zu mißbilligen ist, umgewertet. Die wertende Komponente des Wortes „feige" bleibt unverändert, aber seine Anwendungskriterien werden so neu bestimmt, daß Verhaltensweisen, die bisher „besonnen" genannt und damit empfohlen wurden, jetzt „feige" genannt und damit mißbilligt werden. Der Verfall der Hochschätzung der Besonnenheit und ihre schrittweise Umwertung in eine Haltung, die den Dummen und Feigen kennzeichnet, wird nicht nur von Thukydides beschrieben. Auch bei Aristophanes und Piaton finden sich Ausführungen, die diesen Wandel bezeugen. 8 Thukydides erläutert seine Beobachtung an Hand weiterer gleichsinniger Beispiele. Dabei darf man ihn nicht so verstehen, als beschriebe er eine bewußt manipulierende, persuasive Verwendung der ethischen Sprache. 9 In diesem Fall gründete der Sprachwandel nicht in einer tatsächlichen Umwertung bestimmter Verhaltensweisen. Besonnenes Handeln würde in Wirklichkeit weiterhin geschätzt und für erstrebenswert gehalten; es „feige" zu nennen, hätte nur den Grund, Feinde von tatsächlich beson-

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Vgl. Aristophanes, Wolken 1 0 7 1 - 1 0 7 4 ; Piaton, G o r g . 491e, 492b. - Siehe hierzu H. F. North: A Period of Opposition to Sôphrosynê in Greek Thought. Transactions of the American Philological Association 58 (1947) 1 — 17; dies.: Sophrosyne. Self-Knowledge and Self-Restraint in Greek Literature (Ithaca 1966); B. Witte: Die Wissenschaft v o m Guten und Bösen. Interpretationen zu Piatons .Charmides' (Berlin 1970) 10—24.

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A m deutlichsten vertritt W. Müri diese Auffassung; vgl. Politische Metonomasie (zu Thukydides 3 , 8 2 , 4 - 5 ) . Museum Helveticum 26 (1969) 6 5 - 7 9 , 7 0 f . ; siehe auch R. M. Hare: Plato (Oxford 1982) 5,77.

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nenem, aber persuasiv als feige getadeltem Verhalten abzuhalten. Thukydides beschriebe also gar keinen Wertewandel, sondern nur eine in der Kriegssituation als opportun empfundene Sprachmanipulation, die das Ziel hat, bestimmte Verhaltensweisen durch täuschende Überredung zu provozieren oder zu verhindern. Tatsächlich lassen Thukydides' Formulierungen deutlich erkennen, daß die beschriebene Veränderung des Sprachgebrauchs mit der Intention verbunden war, eine angemessene Sprache an die Stelle einer unangemessenen zu setzen: Die alte Art, Wörter und Handlungen zuzuordnen, erscheint als falsch und täuschend. Wenn etwas, was jetzt „feige" genannt wird, früher „besonnen" genannt wurde, war das eine „Bemäntelung". Die alten Benennungen waren manipulativ, sie erweckten durch „schönklingende Wörter" bei Dingen, die nicht empfehlenswert sind, den falschen Schein des Empfehlenswerten. 10 Erst die neue Art, die Dinge zu benennen, zeigt sie so, wie sie in Wirklichkeit sind. Thukydides konnte bei seinen Analysen sprachlichen Wandels auf semantische Reflexionen in der zeitgenössischen Sophistik zurückgreifen. Vor allem ist hier an den berühmten Sophisten Prodikos von Keos zu denken, der nicht nur auf Thukydides mächtigen Einfluß hatte. 11 Seine Kunst war es, die Bedeutung von sehr nahe beieinanderliegenden und scheinbar mehr oder weniger synonymen Wörtern zu unterscheiden. Piaton nannte die Kunst des Prodikos das τ α ονόματα διαιρείν.12 Prodikos geht es nicht um die Definition eines Wortes, sondern um die Unterscheidung zweier Wörter, deren Bedeutungen zu verschwimmen drohen, obwohl es wichtig ist, sie auseinanderzuhalten. In Piatons Laches unterscheidet Nikias in einer an Thuk. III, 82,4 erinnernden Überlegung Tapferkeit und Tollkühnheit, wobei er die Tapferkeit positiv und die Tollkühnheit negativ bewertet. 13 Sein Plädoyer ist, gerade wegen dieses Wertgegensatzes die Wörter „tapfer" und „tollkühn" auseinanderzuhalten und nicht, was toll-

10 Vgl. die Formulierungen πρόσχημα, δειλία εϋττρεττήζ und ιτρόφασις εύλογος in 82,4. " Vom Einfluß des Prodikos auf Thukydides spricht bereits das biographische Material über Thukydides, das Marcellinus im 3. Jahrhundert n. Chr. verarbeitet hat; vgl. vita Thuc. 36. Siehe auch H. Mayer: Prodikos von Keos und die Anfange der Synonymik bei den Griechen (Paderborn 1913) 6 0 - 7 9 ; Rittelmeyer (1915) 8 7 - 9 3 ; J. de Romilly: Les manies de Prodicos et la rigueur de la langue grecque. Museum Helveticum 43 (1986) 1 - 1 8 , 5 ff. 12 Charm. 163d; Lach. 197d; Prot. 358a. Vgl. auch Euthd. 278b und Aristoteles, Top. II, 6.112b22ff. — Ob Prodikos schon selbst diese Formulierung gebraucht hat, was durchaus glaubhaft wäre, läßt sich nicht entscheiden. Vgl. hierzu J. C. Classen: Sprachliche Deutung als Triebkraft platonischen und sokratischen Philosophierens (München 1959) 78 ff. 13 Vgl. Lach. 197a —c.

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kühn ist, „tapfer" zu nennen oder umgekehrt. Sokrates weist darauf hin, daß Nikias seine Weisheit von Damon und dieser sicher von Prodikos übernommen habe. Prodikos sei der, der unter den Sophisten wohl am besten derartige Wörter unterscheide. 14 Nikias' Distinktion von zwei Wörtern, deren Bedeutungen scheinbar gleich, in Wahrheit aber auf signifikante Weise verschieden sind, ist typisch prodikeisch. Prodikos differenzierte Wortbedeutungen, indem er darauf achtete, welche Bewertung mit der Verwendung des einen und welche mit der des anderen Wortes verbunden ist. Seine Unterscheidungen gelten überwiegend Wertwörtern, und sein Bestreben ist es vor allem, Wörter, die für empfehlenswerte Handlungen angemessen sind, von denen zu trennen, die für zu mißbilligende Handlungen angemessen sind. Es ist jeweils die handlungsleitende Komponente der Wertwörter, die die Differenzierung provoziert. 15 Über die Absichten, die Prodikos mit seinen Dihairesen verfolgt, kann man nichts Sicheres wissen. Aber ein Blick auf Thukydides legt die Vermutung nahe, daß sein Ausgangspunkt die Analyse genau solcher Bedeutungsverschiebungen und -Veränderungen ist, wie sie Thukydides in III, 82 beschreibt. Er beobachtet denselben Wandlungsprozeß, die zunehmende Uneinheitlichkeit und Undeutlichkeit in der Verwendung ethischer Wertwörter. Und seine Dihairetik ist der Versuch, dem zu begegnen, indem man die Bedeutungen benachbarter, aber unterschiedlich wertender Wertwörter sorgfältig auseinanderhält. Prodikos rekurriert auf die wahre Bedeutung der Wörter, um unsachgemäße Bedeutungsverschiebungen zu verhindern. Die richtige Bestimmung der Korrelation von Wort und Sache, das Erlernen der, wie Piaton wiederholt in bezug auf Prodikos sagt 16 , ττερί ονομάτων όρθότης ist das Gegenmittel gegen die von Prodikos wie von Thukydides diagnostizierte Auflösung des zuvor einheitlichen Sprachgebrauchs und der herrschenden Inkohärenz der Sprachverwendung. Prodikos widersetzt sich mit seiner Dihairetik der Verwischung sprachlicher Grenzziehungen und damit der Verwischung, Labilität und Unsicherheit wertender Einschätzungen. Sein Interesse an der Sprache ist, 14 15

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Lach. 197d4f.: ... ôs δή δοκεϊ τ ω ν σ ο φ ι σ τ ώ ν κ ά λ λ ι σ τ α τ α τ ο ι α ύ τ α ονόματα διαιρείυ. Das hat W. Wössner deutlich herausgestellt; vgl. Die synonymische Unterscheidung bei Thukydides und den politischen Rednern der Griechen (Diss. Berlin 1937). Siehe auch Mayer (1913) 36 f., 79. Vgl. Euthd. 277e4; Crat. 384b6. — Daß es bei der ττερί ονομάτων όρθότης um die Relation von Wort und Ding geht, geht aus Euthd. 278a deutlich hervor. Es geht darum, zu bestimmen, worauf (ètri τίνι), auf welche Dinge ein Wort „gelegt" wird (κεϊσθαι). Vgl. auch Charm. 163d und bes. Crat. 428el f.: ονόματος όρθότης έστίν α ύ τ η , ήτις ένδείξεται οίόν έστι τ ό π ρ ά γ μ α .

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so scheint es, praktisch motiviert; ihm geht es nicht um linguistisches oder lexikographisches Wissen, sondern darum, die Korrelation von Wertwort und Sache richtig zu bestimmen, damit, was in Wahrheit empfehlenswert und was in Wahrheit zu mißbilligen ist, auch tatsächlich empfohlen und mißbilligt wird.

§ 2 Krise und Typen ethischen

Dissenses

Wie hat Piaton die Krise seiner Zeit gesehen und gedeutet? Was ist für ihn ihr eigentlicher Fokus, und was ist zu tun, um ihr beizukommen? Piaton sieht die Dinge nicht anders als Thukydides und Prodikos. Auch er sieht seine Zeit durch elementare Inkohärenzen in der Verwendung der ethischen Sprache gekennzeichnet. Auch er diagnostiziert den Zerfall des zuvor einheitlichen Sprachgebrauchs. Auch er erkennt hinter den sprachlichen Veränderungen grundlegende Dissense in Fragen des privaten und öffentlichen Lebens: Die Frage, wie man handeln und leben soll, findet keine allgemein akzeptierte Antwort mehr. Der alte Konsens ist zerbrochen, ohne daß ein neuer gefunden wäre. Die, die die traditionellen Wertvorstellungen und den entsprechenden Sprachgebrauch für falsch und irreführend halten, stehen denen gegenüber, die die überkommenen Maßstäbe nach wie vor für richtig halten. In diesem Zustand der Entzweiung, des Dissenses in Fragen des Gerechten und Ungerechten, Guten und Schlechten, Nützlichen und Schädlichen sieht Piaton die größte Gefahr für eine politische Gemeinschaft. Denn eine Polis ist, wie er immer wieder hervorhebt, ohne einen Konsens in den grundlegenden ethisch-politischen Fragen auf Dauer nicht lebensfähig; sie zerfallt in Konkurrenz und Zwietracht und ist nicht in der Lage, ihre Funktion, zum Glück ihrer Bürger beizutragen, zu erfüllen. — Piaton analysiert und exemplifiziert die verschiedenen Formen ethischen Dissenses, die er für eine Zeit beschleunigter ethischer Veränderung für charakteristisch hält, am deutlichsten an den Auffassungen der Sophisten Kallikles und Thrasymachos, zwei Exponenten der rabiaten Revision hergebrachter Überzeugungen, und an der Position Euthyphrons, eines Mannes der alten Zeit, der auf der Seite der Traditionellen und Konservativen steht.

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a) Kallikles Kallikles 1 teilt mit den Intellektuellen seiner Zeit die Einsicht, daß die überkommene ethische, politische und rechtliche Ordnung ein Werk der Menschen ist: Die Menschen haben die Gesetze selbst geschaffen. Näherhin waren es, wie Kallikles glaubt, die vielen schwachen Menschen, die die Gesetze aufgestellt haben (τίθεσθαι τους νόμους). 2 oí νόμοι meint in dieser Formulierung nicht nur die Gesetze der Stadt, sondern, das vorangehende ό νόμος assoziierend, allgemein die Regeln des Verbindlichen und SichZiemenden. Die Masse der Schwachen organisierte die Regeln des Zusammenlebens zu ihrem Vorteil. Ziel ihrer Gesetzgebung war es, genauso viel zu haben wie die wenigen Starken, die von Natur aus in der Lage sind, mehr zu haben als andere. Das Ziel war also, daß die Interessen und Bedürfnisse aller in gleicher Weise Berücksichtigung finden. Entsprechend verteilten sie Lob und Tadel, Anerkennung und Mißbilligung. 3 Die Starken schüchterten sie ein, indem sie, mehr haben zu wollen, moralisch ächteten und zum Unrecht erklärten. Die Schwachen haben, so resümiert Kallikles die Entwicklung, ihr Ziel erreicht, sie haben sich gegen die Starken durchgesetzt: Mehr haben zu wollen, gilt konventionell als ungerecht und unmoralisch. 4 — Tatsächlich war den Griechen die Bestimmung der Gerechtigkeit durch die Gleichheit selbstverständlich. Sie betrachteten die sprachlichen Ausdrücke τό δίκαιον und τ ό ίσον bzw. δικαιοσύνη und ίσότης als gleichbedeutend und gegeneinander ersetzbar. 5 Kallikles bezieht sich mit seinen genealogischen Reflexionen also ohne Zweifel — unabhängig davon, wie richtig oder falsch sie sind — auf die herrschende Gerechtigkeitsvorstellung, die Gerechtigkeit als gleiche Berücksichtigung aller versteht. Man könnte vielleicht prima facie einen anderen Eindruck haben, weil Kallikles die Ethik ja als Gruppenethik konzipiert: eine Gruppe setzt sie zu ihrem eigenen Vorteil gegen eine andere Gruppe durch. Der vermittelnde Gedanke ist, daß das Interesse in 1

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Vgl. zu seiner Person und der Frage, inwieweit seine Auffassungen der Sophistik zugerechnet werden können, E. R. Dodds: Plato, Gorgias (Oxford 1959) 12—15; Kerferd (1981) 52. Gorg. 483b4ff.; vgl. auch 483b7, e4. Vgl. Gorg. 483b—c. Gorg. 483c6ff.; vgl. auch 488e7-489a7. Vgl. Gorg. 488e, 4 8 9 a - b ; siehe auch G. Vlastos: ΙΣΟΝΟΜΙΑ ΠΟΛΙΤΙΚΗ (1964), in: G. V.: Platonic Studies (Princeton 21981) 1 6 4 - 2 0 3 , 184f., n. 78; ders.: The Theory of Social Justice in the Polis in Plato's .Republic', in: H. F. North (ed.): Interpretations of Plato (Leiden 1977) 1 - 4 0 , 1 8 ff.

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diesem Fall die gleiche Berücksichtigung aller ist: Die Schwachen sehen ihren Vorteil in einer gleichen, nicht in einer sie bevorzugenden Berücksichtigung. Ursprung, Entwicklung und Intention der geltenden Gerechtigkeitsvorstellung und der ethischen Regeln und Gesetze insgesamt sind indes inzwischen längst nicht mehr bewußt. Die überkommene Ethik ist, vor allem durch die Vermittlung der ethischen Sprache von Generation zu Generation, zur zweiten Natur der urteilenden und handelnden Menschen geworden. Ja es ist nicht einmal mehr bewußt, daß sie ein Produkt menschlichen Handelns ist, mit dem man ursprünglich bestimmte Ziele und Absichten verfolgte. Dies wieder bewußt zu machen und damit zu zeigen, daß die traditionellen Vorstellungen nicht einfachhin Gültigkeit beanspruchen können, vielmehr prinzipiell auf ihre Richtigkeit hin befragt und eben auch verändert werden können, ist Aufgabe der aufklärenden Arbeit, die Kallikles mit seiner Genealogie der Moral leisten will. Kallikles nutzt die Freiheit, die ihm aus der Reflexion auf die historische Genesis der Gerechtigkeitsidee erwächst. Er beurteilt den üblicherweise als selbstverständlich geltenden Nomos. Und sein Urteil ist negativ: er lehnt den konventionellen Gerechtigkeitsbegriff ab. Denn „die Natur selbst sagt, daß es gerecht ist, daß der Bessere mehr hat als der Schlechtere und der Stärkere mehr als der Schwächere." 6 Der Starke, der mehr haben will als die Vielen, handelt nicht, wie es der menschliche Nomos will, ungerecht, sondern gerecht, und zwar gerecht „nach der Natur des Gerechten" (κατά φύσιν τ η ν τοΟ δικαίου) und „dem Nomos der Natur" (κατά νόμον γε τον της φύσεως). 7 Die widernatürlichen Gesetze, die sich die Menschen schufen, haben, an der Idee der Gleichheit orientiert, falsche Maßstäbe gesetzt und zu einem falschen Leben geführt. Deshalb ist es dringend nötig, daß die Menschen von den Fesseln ihrer unnatürlichen Gesetze und ihrer falschen Sprache, die täuscht, betäubt und vertuscht, befreit werden. 8 Kallikles' revisionäres Gerechtigkeitskonzept beinhaltet eine völlige Neubestimmung der deskriptiven Komponente des Wortes „gerecht": Eine Handlung wird nicht mehr „gerecht" genannt, wenn sie alle Beteiligten 6 7

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Gorg. 4 8 3 c 8 - d 2 . Gorg. 483e2,3. Vgl. zu der bei Thukydides V, 105,2 antizipierten Formulierung νόμο; Tfis φΟσεω; Dodds (1959) 268; Guthrie (1971) 104; T. Irwin: Plato, Gorgias (Oxford 1979) 175; Ostwald (1986) 249 f. Zum weiteren historischen Kontext H. Koester: ΝΟΜΟΣ ΦΥΣΕΩΣ. The Concept of Natural Law in Greek Thought, in: J. Neusner (ed.): Religions in Antiquity. Essays in Memory of E. R. Goodenough (Leiden 1968) 521 — 541. Vgl. Gorg. 483d—484a.

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in gleicher Weise berücksichtigt, sondern wenn sie die Überlegenheit des Stärkeren gegen die Schwächeren durchsetzt. Was Kallikles hiermit vornimmt, ist keine Bedeutungsverschiebung, nach der einiges, was bisher nicht „gerecht" genannt wurde, jetzt so genannt wird, sondern eine völlige Andersbestimmung: Was man gewöhnlich „gerecht" nennt, nennt Kallikles „ungerecht", und was man gewöhnlich „ungerecht" nennt, nennt er „gerecht". Er verkehrt die Bewertung bestimmter Handlungsweisen in das Gegenteil. Diese Umwertung impliziert, daß er „gerecht" weiter als Wertwort, und zwar als empfehlendes Wertwort verwendet. Kallikles empfiehlt mit dem Wort „gerecht" genauso, wie es traditionell immer getan worden ist; aber er empfiehlt andere Handlungsweisen. Dabei beansprucht er, auch wenn er mit seinen Werturteilen allein oder in der Minderheit ist, sehr wohl, daß es besser wäre, wenn alle so urteilten wie er. Dieser Anspruch gehört zum Sinn jedes ethischen Urteils. Kallikles ist also keineswegs ein Immoralist, er ist ein Reformer, der die ethischen Einschätzungen der Menschen verändern will. Um schwerwiegende Mißverständnisse zu vermeiden, muß Kallikles seinen abweichenden Sprachgebrauch natürlich jeweils kenntlich machen und erläutern. Eine geeignete Art, dies zu tun, ist die Verwendung der Zusätze νόμω und φύσει. Mit ihnen kann er seine Verwendung von „gerecht" leicht von der konventionellen Verwendung abheben. Mit dem Ausdruck „das dem Nomos nach Gerechte" spricht er von dem, was die Leute (aber nicht er) für gerecht halten; er referiert die konventionelle Wertung, ohne sie sich zu eigen zu machen. Sagt er hingegen, etwas sei von Natur aus gerecht, wertet und empfiehlt er im eigenen Namen. Auch wenn Kallikles, was er gelegentlich tut, „gerecht" in konventioneller Weise verwendet, ohne dies ausdrücklich durch ein hinzugesetztes νόμω anzuzeigen, ist sein Gebrauch referierend oder zitierend. Er verwendet das Wort dann gewissermaßen in Anführungsstrichen, er spricht nicht von dem, was gerecht, sondern von dem, was „gerecht" ist, d. h. von dem, was allgemein „gerecht" genannt wird. Diese Verwendung haben wir vor uns, wenn Kallikles ausführt, daß die schwachen Menschen „aus Feigheit die Besonnenheit und die Gerechtigkeit loben." 9 Da Kallikles der konventionellen Verwendung von „gerecht" und der in ihr liegenden Wertung nicht neutral, wie ein unbeteiligter Beobachter gegenübersteht, er sie vielmehr für falsch hält, gewinnt „gerecht", zitierend verwandt, wie von selbst eine negative Konnotation: Was „gerecht" ist, ist nicht gut und 9

Gorg. 492a8 f.

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empfehlenswert, sondern schlecht und untunlich. Aus dem positiv wertenden Wort wird ein negativ wertendes. Sehr deutlich zeigt sich dies, wenn Kallikles Sokrates rhetorisch fragt: „Was ist wohl für die, die auf Grund von Geburt oder eigenem Vermögen in der Lage sind, zu herrschen, in Wahrheit unattraktiver und schlechter als besonnen und gerecht zu sein?" 10 Diese Verkehrung der konventionellen Bewertung kann ihren Ausdruck auch in einer ironischen Verwendung des Wertwortes finden. Wer nicht viel von Ordnung hält, kann sagen: „Schau, wie schön ordentlich es hier ist!" und damit sein Mißfallen kundtun. Die konventionelle positive Einschätzung der Ordnung wird durch das beigefügte „schön" besonders herausgehoben und gleichzeitig ironisch in ihr Gegenteil verkehrt. Auch dieser sprachlichen Ausdrucksform bedient sich Kallikles. So fragt er Sokrates: Wie sollten die Starken und Herrschenden nicht unglücklich werden „durch dieses Schöne, die Gerechtigkeit und die Besonnenheit?" 11 Wir können, wenn wir Kallikles' Position soweit überblicken, leicht sagen, was genau zwischen ihm und denen, die „gerecht" konventionell verstehen — zu ihnen zählt auch Sokrates —, kontrovers ist. Strittig ist, welche Eigenschaften es sind, die eine Handlungsweise zu einer gerechten Handlungsweise machen, welches also die gerecht-machenden Eigenschaften sind oder, anders formuliert, welches die Kriterien sind, die die Anwendung des Wertwortes „gerecht" regeln.

b) Thrasymachos Wie Kallikles weiß Thrasymachos, daß die Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen in den Poleis regeln, Ergebnis und Ausdruck menschlicher Lebens- und Weltgestaltung sind. Menschen, und zwar bestimmte Menschen, haben die Gesetze geschaffen und damit festgelegt, was als gerecht und ungerecht gilt. 12 Sie haben dies, auch hierin stimmen Thrasymachos und Kallikles überein, in der Uberzeugung getan, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, mit diesen Gesetzen zu leben, und es ihnen weniger zuträglich wäre, mit anderen Gesetzen oder ohne Gesetze zu leben. Die Gesetze und Festlegungen dessen, was gerecht und ungerecht Gorg. 492b4 f. " Gorg. 492b8 —cl: ... Crrrò τοϋ καλοϋ τούτου, της δικαιοσύνης και τ η s σωφροσύνης ... — Ich folge hier dem Text von Dodds (1959) 134f.; vgl. auch S. 295, wo Dodds von „the contemptuous use of τούτου" spricht. 12 Rep. I, 338e. 10

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ist, dienen mithin dem Vorteil derer, die sie schaffen und durchsetzen. 13 Während Kallikles meint, die vielen Schwachen hätten die Gesetze gegen die wenigen Starken durchgesetzt und die Gesetze dienten insofern den Interessen der Schwachen, ist Thrasymachos' Grundaussage: „Das Gerechte ist nichts anderes als das, was dem Stärkeren zuträglich ist." 14 Man könnte meinen, diese Positionen seien genau entgegengesetzt; 15 tatsächlich ist die Differenz jedoch gering. Denn die Schwachen, von denen Kallikles spricht, können die für sie vorteilhaften Gesetze nur durchsetzen, weil sie stark genug sind, um die wenigen Starken zur Akzeptanz der Gesetze zu zwingen. Auch nach Kallikles ist, was als gerecht gilt, der Nutzen des Stärkeren, nämlich der sich gegen die einzelnen Starken zusammengeschlossenen Masse der für sich allein Schwächeren. Was Kallikles und Thrasymachos hier unterscheidet, ist allein, daß Thrasymachos nicht nur die eine von Kallikles bedachte Form der Durchsetzung von Gerechtigkeitsnormen berücksichtigt. Neben der Möglichkeit, daß die Masse der Schwachen sich gegen die wenigen Starken durchsetzt, sieht er, daß sich auch wenige oder nur einer gegen die anderen durchsetzen und Gesetze schaffen kann, die ihnen oder ihm zuträglich, den anderen aber abträglich sind. 16 Thrasymachos ist mehr an der Pluralität der politischen Möglichkeiten orientiert und intendiert nicht wie Kallikles eine genealogische Rekonstruktion der herrschenden Moral- und GerechtigkeitsVorstellungen. Damit hängt zusammen, daß sein Begriff des νόμιμον και δίκαιον enger und legalistischer ist: die Nomoi ändern sich mit den Regierungsformen. Thrasymachos tendiert dazu, die Nomoi — den Singular gebraucht er charakteristischerweise nicht — als Gesetze im engen Sinne, als von der jeweiligen Regierung erlassene Vorschriften zu verstehen. Für Kallikles ist der Nomos hingegen der Inbegriff aller Regeln des gemeinsamen Lebens. Sie realisieren sich nicht nur in den Gesetzen, sondern auch in sozialer Gewohnheit, Sitte und Sprache. 17 Die enge Verknüpfung des δίκαιον und νόμιμον, die Thrasymachos voraussetzt, ist im 5. und 4. Jahrhundert common sense·, was gerecht und

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Thrasymachos: Rep. I, 3 3 8 e 3 - 6 ; Kallikles: G o r g . 4 8 3 b 6 - c l . Rep. I, 338cl f.; vgl. auch 339a3£, 3 4 1 a 3 f . , 343c4, 344c7. So F. E. Sparshott: Socrates and Thrasymachus. The Monist 50 (1966) 4 2 1 - 4 5 9 , 4 3 2 f. Vgl. Rep. I, 338d7—339a4. Vgl. zu diesem engeren und weiteren Verständnis des Nomos schon bei Herodot Heinimann (1945) 78 f., zu Kallikles 1 2 3 f . ; auch E. R. Dodds: Die sophistische Bewegung und das Versagen des griechischen Liberalismus, in: E. R. D.: Der Fortschrittsgedanke in der Antike (Zürich 1977 [zuerst engl. 1 9 7 3 ] ) 1 1 3 - 1 2 9 , 2 5 6 - 2 5 8 , 1 2 0 .

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ungerecht ist, ist durch die Gesetze bestimmt. 18 Dabei darf man sich die Verbindung der beiden Begriffe nicht zu eng denken. Sie aufeinander zu beziehen, bedeutet keinen strikten Gesetzespositivismus; man konstatierte vielmehr eine allgemeine Kongruenz, die es aber zuließ, daß einzelne Nomoi als ungerecht kritisiert wurden. 1 9 Im Zuge seines soweit konventionellen Gerechtigkeitskonzepts belegt Thrasymachos mit den Wörtern „gerecht" und „ungerecht" genau diejenigen Verhaltens- und Handlungsweisen, die nach allgemeiner Auffassung so zu beurteilen sind. Er nennt die Tyrannenherrschaft „ungerecht", ebenso Tempelraub, Kidnapping, Einbruch, Raub, Diebstahl, Versklavung von Mitbürgern 2 0 , daneben Vertragsbruch und Steuerbetrug. 21 Thrasymachos bestimmt nicht wie Kallikles das Anwendungsfeld des Wortes neu. Er ist sich vielmehr mit Sokrates darin einig, welche Handlungsweisen „gerecht" oder „ungerecht" zu nennen sind. Beide bestimmen den deskriptiven Gehalt des Wortes „gerecht" konventionell; hier liegt keinerlei Dissens. 22 Was Thrasymachos von Sokrates und der üblichen Gerechtigkeitsauffassung trennt, ist seine Überzeugung, daß es unklug ist, das, was übereinstimmend als gerecht charakterisiert wird, zu tun; man soll das tun, was übereinstimmend als ungerecht charakterisiert wird. Thrasymachos 18

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Vgl. nur Antiphon, DK 87 (80), Β 44A, col. 1; Xenophon, Mem. IV, 4.12; Piaton, Apol. 31e4, 32b8 f.; Prot. 3 2 7 a 4 - b 7 ; Rep. II, 3 5 9 a 2 - 7 ; Aristoteles, Eth. Nie. V, 1. 1129a33f., bl 1 —13; siehe auch J. P. Maguire: Thrasymachus or Plato? (1971), in: C. J. Classen (Hg.): Sophistik (Darmstadt 1976) 564-588,577, n. 32; T. Irwin: Plato's Moral Theory. The Early and Middle Dialogues (Oxford 1977) 17 f. Vgl. K. J. Dover: Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle (Oxford 1974) 306 — 309; für Platon: E L. Lisi: Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffes (Königstein 1985) 283—290. — Daß Thrasymachos keinen Gesetzespositivismus lehrt, nach dem ohne jedes weitere Kriterium gerecht ist, was das Gesetz gebietet, und ungerecht, was das Gesetz verbietet, hat gegen ältere und neuere Interpretationen (vgl. bes. G. F. Hourani: Thrasymachus' Definition of Justice in Plato's Republic. Phronesis 7 [1962] 110—120) G. Β. Kerferd überzeugend nachgewiesen; vgl. The Doctrine of Thrasymachus in Plato's .Republic' (1947), in: C. J. Classen (Hg.): Sophistik (Darmstadt 1976) 545-563,546f., 549f., 561; Thrasymachus and Justice: a Reply. Phronesis 9 (1964) 12—16. Siehe auch D. J. Hadgopoulos: Thrasymachus and Legalism. Phronesis 18 (1973) 204-208. Rep. I, 344a—b. Rep. I, 343d — e; vgl. auch 3 5 1 a 6 - b 5 . So auch Sparshott (1966) 423; T.Y. Henderson: In Defense of Thrasymachus. American Philosophical Quarterly 7 (1970) 218-228,219, 223; P. P. Nicholson: Unravelling Thrasymachus' Arguments in „The Republic". Phronesis 19 (1974) 210-232,219; Irwin (1977) 180 und bes. D. Furley: Antiphon's Case Against Justice (1981), in: D. F.: Cosmic Problems. Essays on Greek and Roman Philosophy of Nature (Cambridge 1989) 66—76,66 f. sowie G. J. Boter: Thrasymachus and ΠΛΕΟΝΕΞΙΑ. Mnemosyne, Ser. IV, 39 (1986) 261-281,266 f., 278ff.

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schneidet die empfehlende Komponente des Wertwortes „gerecht" von seiner deskriptiven Komponente ab. Er löst die in der gewöhnlichen Verwendung des Wortes immer schon vollzogene Verknüpfung von Beschreibung und Empfehlung und fragt, ob etwas, das die für alles Gerechte definitiven Eigenschaften hat, wirklich empfehlenswert ist. Diese Frage ist durchaus berechtigt. Denn von einer Handlung zu sagen, sie sei so und so beschaffen und sie sei, wenn sie so und so beschaffen ist, gut und empfehlenswert, ist zweierlei. Dabei steht die zweite Aussage in keiner logischen Abhängigkeit von der ersten. Daß eine Handlung von einer bestimmten Beschaffenheit ist, impliziert nicht, daß es gut ist, diese Handlung zu tun. Indem Thrasymachos fragt, ob es gut ist, das als gerecht Klassifizierte zu tun, problematisiert er die bis dahin unbefragte Selbstverständlichkeit gerechten Handelns. Er wirft die zuvor nicht gestellte Frage nach der Vernünftigkeit gerechten Handelns auf und eröffnet damit den Raum auch für die negative Antwort, die sagt, daß es keine vernünftigen Gründe gibt, gerecht zu handeln. Das Stellen dieser Frage bedeutet eine bedeutende aufklärerische Innovation im Nachdenken über menschliches Handeln. Jetzt ist erkannt und ausgesprochen, daß es wie bei allen anderen Handlungen auch bei gerechten und moralischen Handlungen insgesamt möglich und angemessen ist, zu fragen: ist es vernünftig, so zu handeln? Thrasymachos' Antwort auf diese Frage ist negativ: Wer klug ist, handelt nicht gerecht, sondern ungerecht, nur wer dumm ist und nicht überlegt, handelt gerecht. Gerecht zu sein, ist eine „durchaus gutmeinende Dummheit" ( π ά ν υ γενναία εΰήθεια). 23 Das Wort εΰήθεια, das Thrasymachos hier gebraucht, bezeichnet ursprünglich die Eigenschaft dessen, der ein „gutes Herz", einen guten Charakter hat und auf Grund von Erziehung und Gewohnheit das Gute tut, ohne lange darüber nachzudenken. Entsprechend ist εϋήθης ursprünglich ein Wort des Lobes. Der εΰήθης ist angesehen, genießt Respekt und Anerkennung. Doch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts verliert das Wort allmählich seine laudative Funktion. Der Grund liegt in der vor allem unter dem Druck der inneren und äußeren Konflikt- und Kriegssituation sich wiederholenden und unabweisbar gewordenen Erfahrung, daß der, der ohne viel zu fragen das seit alters als gerecht und gut Anerkannte tut, häufig zu seinem eigenen Nachteil und nur zum Vorteil der anderen handelt. Man begann, den εϋήθης als jemanden zu sehen, der auf Grund seiner Gutmütigkeit und 23

Rep. I, 348cl2.

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Arglosigkeit leicht zu Schaden kommt und seine eigenen Interessen zu leicht aus den Augen verliert, εύήθης wird so zum Hohnwort; Thrasymachos wirft es Sokrates als solches wiederholt entgegen. 2 4 In gleicher Weise gewinnt εύήθεια nach und nach den Sinn von gutmeinender Einfaltigkeit und Dummheit allgemein. 25 In diesem Sinne gebraucht es Thrasymachos. Er stellt der εύήθεια des Gerechten die ευβουλία, die Wohlberatenheit und Klugheit des Ungerechten entgegen. 2 6 Natürlich stellt sich sofort die Frage, was das Kriterium klugen Handelns ist. Warum ist ungerechtes Handeln klug und gerechtes Handeln unklug? Thrasymachos' Antwort ist hier völlig klar: K l u g ist die Handlung, die dem, der sie tut, zuträglich (συμφέρον) ist, und unklug die, die dem, der sie tut, abträglich (άσύμφορον) ist. Der für Thrasymachos wie für die Sophistik insgesamt zentrale Begriff des Zuträglichen verweist auf den des eigenen Wohls und Glücks. 2 7 Etwas, was mir zuträglich ist, dient letztlich meinem Glück. 2 8 Statt zu sagen: Es ist klug, ungerecht zu sein, und unklug, gerecht zu sein, kann Thrasymachos demnach auch sagen:

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Vgl. Rep. I, 336cl, 343d2. Thukydides hat den Wandel in der Einschätzung dieser Einfältigkeit und den Wandel in der Verwendung des Wortes εύήθηζ als Zeichen des sittlichen Verfalls gedeutet: ούτω ττδσα ιδέα κατέστη κακοτροττίας δια τάς στάσεις τω Έλληνικω, και τό εϋηθες, οΰ τό γενναΐον πλείστον μετέχει, καταγελασθεν ήφανίσθη, ... (III, 83,1). — Vgl. zur Wortgeschichte von εύήθης und εύήθεια L. Schmidt: Die Ethik der alten Griechen I (Berlin 1882) 326 ff.; J . Η. H. Schmidt: Synonymik der griechischen Sprache III (Leipzig 1879, N D Amsterdam 1969) 648 ff.; Classen, Sprachliche Deutung (1959) 86 f.; J. L. Creed: Moral Values in the Age of Thucydides. The Classical Quarterly 23 (1973) 213-231,229; C. Gaudin: ΕΥΗΘΕΙΑ. La théorie platonicienne de l'innocence. Revue philosophique 106 (1981) 1 4 5 - 1 6 8 . Rep. I, 348d2. — Vgl. auch 348el—3, wo Thrasymachos sagt, ungerecht zu sein, sei Teil der σοφία, gerecht zu sein, aber das Gegenteil, sowie 348d3f. und 349d3, wo die Ungerechten φρόνιμοι genannt werden. — Das Wort ευβουλία ist im platonischen Oeuvre selten; es findet sich nur an zwei weiteren Stellen, in Rep. IV, 428b6 und Prot. 318e5 — 319a2, wo Protagoras die ευβουλία περί των οικείων ... και ττερί των τ η s πόλεως als Ziel seines Unterrichtes nennt. — Vgl. zum wortgeschichtlichen Hintergrund G. Großmann: Politische Schlagwörter der Zeit des Peloponnesischen Krieges (Diss. Basel 1950) 146 ff.; C. W. Müller: Die Kurzdialoge der Appendix Platonica (München 1975) 5 0 - 9 4 ; M. Schofield: Euboulia in the ,Iliad'. The Classical Quarterly 36 (1986) 6 - 3 1 . Vgl. zu den medizinischen Konnotationen von συμφέρον Heinimann (1945) 128ff.; H. W. Miller: ,On Ancient Medicine' and the Origin of Medicine. Transactions and Proceedings of the American Philological Association 80 (1949) 187-202,194 f.; Furley (1981) 84; zur Wortgeschichte auch P. Spahn: Das Aufkommen eines politischen Utilitarismus bei den Griechen. Saeculum 37 (1986) 8 - 2 1 , 1 2 ff. Vgl. Rep. I, 343c7 —dl, 344a2 —6; siehe hierzu im einzelnen P. Stemmer: Der Grundriß der platonischen Ethik. Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988) 529— 569,546 ff.

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Es dient letztlich dem Glück des jeweils Handelnden, ungerecht zu sein, und es schadet letztlich seinem Glück, gerecht zu sein. 29 Thrasymachos stellt die Frage, ob wir gerecht sein sollen, durch seinen Rekurs auf die Glückszuträglichkeit gerechten und ungerechten Verhaltens in einen eudaimonistischen Kontext. Dieser theoretische Grundriß seiner Überlegungen ist in keiner Weise exzentrisch; er ist Gemeingut der griechischen Ethik. Die Sophistik, Demokrit, Sokrates, Piaton und Aristoteles sind hier mit Thrasymachos einer Meinung. Der platonische Sokrates der Politela widerspricht Thrasymachos in diesem Punkt an keiner Stelle. Was Thrasymachos und Sokrates trennt, ist nicht ein Dissens über den begrifflichen Rahmen der Untersuchung, sie halten beide die Einbettung der Theorie der Gerechtigkeit in eine umfassendere Theorie des guten Lebens und des Glücks für unumgänglich; 30 was sie trennt, sind verschiedene Antworten auf die Frage, ob, gerecht zu sein, für den, der sich so verhält, zuträglich ist oder nicht. Thrasymachos sagt, in schroffem Gegensatz zu der überkommenen Auffassung: „Nein! Gerecht zu sein, ist nur der Vorteil des anderen (άλλότριον αγαθόν)." 3 1 Sokrates sagt: „Ja!" Er will zeigen, daß, gerecht zu sein, der Vorteil des anderen und der Vorteil des gerecht Handelnden ist. Es ist hier nicht der Ort, darzulegen, warum Thrasymachos meint, es sei empfehlenswert, ungerecht zu handeln, und Sokrates meint, es sei empfehlenswert, gerecht zu handeln. Es geht hier darum, die Art des Dissenses zu charakterisieren. Die Meinungsverschiedenheit betrifft das evaluative, nicht das deskriptive Element des Wertwortes „gerecht". Thrasymachos nennt die Handlungen „gerecht", die man allgemein so nennt; aber er bestreitet, daß die Empfehlung, die mit der Prädizierung dieses Wortes verbunden ist, vernünftig ist. Er sagt: „Ja, diese Handlung ist gerecht, aber man sollte sie nicht tun." Damit verkehrt er die evaluative Komponente des Wortes „gerecht" vom Positiv-Empfehlenden ins Negativ-Mißbilligende. Auf Grund dieser Abweichung wird die Verwendung des Wortes auch für Thrasymachos schwierig. Ohne Erläuterung kann er das Wort nicht gebrauchen, weil man ihm dann notwendigerweise eine Empfehlung unterstellen würde, die er gerade nicht zum Ausdruck bringen will. Er wird das Wort deshalb entweder referierend verwenden oder, wenn er nicht 29 30 31

Vgl. Rep. I, 344a2 — 6; auch 3 4 4 b l - c 2 , 3 4 7 e 2 - 4 , 3 5 2 d 2 - 4 . Vgl. Rep. I, 344el —4, 3 5 2 d 5 f . Rep. I, 343 c3.

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nur distanziert über die Wertungen anderer berichten, sondern seine eigenen Wertungen deutlich machen will, seine abweichende Position explizieren. Dies letzte tut Thrasymachos in seinem Gespräch mit Sokrates. Wenn er hier sagt, gerecht zu sein, sei unklug, dann macht er klar, daß er das Gerechtsein anders beurteilt als es gewöhnlich getan wird. Und wenn er Aussagen dieser Art wiederholt und das Gerechtsein auch durch andere negativ wertende Wörter charakterisiert und umgekehrt das Ungerechtsein durch positiv wertende Wörter, dann wird man sein Urteil, daß das, was der Tyrann tut, ungerecht ist, nicht mehr als Mißbilligung, sondern, wie es gemeint ist, als Empfehlung verstehen. Thrasymachos expliziert seine Bewertung des Gerechtseins und seine entsprechende Verwendung von „gerecht" und „ungerecht" nicht mit Hilfe von moralischen, sondern mit Hilfe von, wie man sagen kann, prudentiellutilitarischen Wertwörtern. Seine These ist ja nicht, gerecht zu sein, sei moralisch schlecht und, ungerecht zu sein, moralisch gut; seine These ist, daß, was moralisch gut ist, nämlich das Gerechtsein, glücksabträglich ist, und, was moralisch schlecht ist, nämlich das Ungerechtsein, glückszuträglich ist. Die Wörter εΰήθεια 32 , ευβουλία 3 3 , σοφία 3 4 , άρετή 3 5 , κακία 36 , συμφέρον 37 , λυσιτελής 3 8 , λυσιτελεΐυ 3 9 , φρόνιμος 40 , εύήθης 41 , αστείος 42 , άγαθός 4 3 bringen keine moralischen Wertungen, sondern solche nach Klugheits- und Utilitätsgesichtspunkten zur Sprache. Daß dies auch für die Wörter άρετή und άγαθός gilt, mag vielleicht als problematisch erscheinen. Denn άρετή und αγαθός haben zumindest in der platonischen Philosophie in Anwendung auf Menschen eine moralische Konnotation: Gut ist ein Mensch, wenn er u. a. gerecht und besonnen ist. Ein kurzer Blick auf die Funktionsweise von άρετή und άγαθός kann diese Schwierigkeit leicht ausräumen, άρετή bezeichnet die besondere Qualifiziertheit von etwas zur Erledigung der ihm eigenen Aufgabe oder Funktion (έργον).

32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Rep. I, 348cl2. Rep. I, 348d2. Rep. I, 348e2, 349a2. Indirekt: Rep. I, 3 4 8 c 2 - 4 ; direkt 348e2, 349al. Indirekt: Rep. I, 3 4 8 c 2 - 4 , e3; verneint: 3 4 8 c l l . passim. Rep. I, 348bl0. Rep. I, 348c8, d7. Rep. I, 348d3, 349d3. Rep. I, 349b5. Rep. I, 349b4; vgl. zu diesem Wort Dover (1974) 113. Rep. I, 348d4, 349d3.

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Ein Messer ζ. B. hat die Funktion, zu schneiden. Ein gutes Messer, ein Messer, das Arete hat, ist folglich ein Messer, das gut schneidet. Ein Arzt hat die Aufgabe, seine Patienten gesund zu machen. Ein guter Arzt, ein Arzt, der Arete hat, ist also ein Arzt, der seine Patienten gut, mit Erfolg gesund macht. Auf die Frage, was die dem Menschen eigene Aufgabe ist, antworten die Griechen gewöhnlich: ein Leben zu führen, das seiner besonderen, ihn von anderen Lebewesen abhebenden Eigenart entspricht. Derjenige hat demnach die menschliche Arete, der das menschliche Leben nicht nur irgendwie, sondern in qualifizierter Weise lebt, und das heißt, der ein gutes und glückliches Leben führt. Arete ist deshalb dem, der sie hat, zuträglich, sie dient seinem guten Leben, seinem Glück. 44 Die Frage, die die Geister scheidet und über eine moralische Bestimmung der menschlichen Arete entscheidet, ist, ob, gerecht und moralisch zu sein, Bedingung oder Konstituens des Glücklichseins ist. Für den, der wie Sokrates und Piaton meint: „Ja.", gewinnen αρετή und αγαθός in Anwendung auf den Menschen einen moralischen Inhalt; für den, der wie Thrasymachos meint: „Nein, Gerechtigkeit und Moralität sind glücksabträglich", gewinnen die Wörter diese moralische Bestimmung nicht, αγαθός ist der, der über die Dinge verfügt, die der Erlangung des Glücks dienlich sind oder in denen sich Glück realisiert, und dazu gehört nach Thrasymachos das Ungerechtsein. Daraus, daß Thrasymachos die Ungerechtigkeit eine άρετή und die Ungerechten αγαθοί nennt, folgt also keineswegs, daß er das Ungerechtsein moralisch empfiehlt. Genausowenig denkt Thrasymachos, wenn er eine „vollkommen ungerechte" Stadt, die andere Städte auf ungerechte Weise unterwirft und unter ihrem Joch hält, die beste (άριστη) nennt 45 , daran, dieses Verhalten moralisch zu loben. Er sagt vielmehr, indem er es „ungerecht" nennt, daß, sich so zu verhalten, unmoralisch ist; aber er lobt die Stadt dennoch aus Klugheitsgründen für ihre Handlungsweise. 46 — 44

Dies ist ein Gemeinplatz griechischen Denkens. Thrasymachos macht in seinem ironischen Satz in Rep. I, 348c7 f. deutlich, daß ά ρ ε τ ή und κ α κ ί α sich seiner Meinung nach dadurch unterscheiden, daß die ά ρ ε τ ή nützlich ist, die κ α κ ί α hingegen nicht. In den platonischen Dialogen finden sich eine Fülle von Belegen für diese Auffassung. Vgl. C. D. C. Reeve: Socrates Meets Thrasymachus. A r c h i v für Geschichte der Philosophie 67 (1985) 246 — 265,252.

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Rep. I, 3 5 1 b l — 5. Es sei nur darauf hingewiesen, daß Sokrates in der Argumentation, mit der er Thrasymachos davon zu überzeugen versucht, daß nicht die Ungerechten, sondern die Gerechten α γ α θ ο ί sind (vgl. 349d3 — 3 5 0 c l l ) , den Begriff des ά γ α θ ό ξ genau wie Thrasymachos mit denen des φρόυιμος (349e6), σ ο φ ό ς (350b5, c4f., 10 f.) und Ι τ π σ τ ή μ ω ν (350b3—6) verbindet. Vgl. zu den Fäden, die diese Begriffe verknüpfen, J. Lyons: Structural Semantics. A n Analysis of Part of the Vocabulary of Plato (Oxford 1963) 155 f., 174 f.

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Auch darin, daß Sokrates, Thrasymachos interpretierend, die Ungerechtigkeit ein καλόν (καί ίσχυρόν) nennt und Thrasymachos dem nicht widerspricht, es sogar bestätigt 47 , liegt kein Grund, anzunehmen, daß Thrasymachos die Ungerechtigkeit moralisch empfiehlt, καλός ist ein allgemeines Vorzugswort: ein καλόν ist etwas, das lobens- und vorziehenswert ist, etwas, das im Wortsinne vorzüglich ist. 48 Wird καλόν wie häufig durch ein zweites Adjektiv ergänzt, zeigt dieses an, worin der Vorzug liegt. 49 So ist klar, warum die Ungerechtigkeit für Thrasymachos ein καλόν ist: sie ist ein ίσχυρόν, etwas Kraft- und Machtvolles, in ihr realisiert sich Durchsetzungskraft, Überlegenheit, Macht, Herrschaft, für Thrasymachos alles Konstituentien des guten und glücklichen Lebens. 50 Letzten Endes ist das Ungerechtsein also ein καλόν, weil es glückszuträglich ist. Und dies gilt nicht nur für dieses καλόν, sondern für alle καλά. Denn man zieht immer nur das vor, was man für letztlich glückszuträglich hält, was letztlich dem ersten und letzten Ziel allen Tuns und Lassens, dem Glück dient. 51 Es ist nicht denkbar, daß etwas ein καλόν, aber glücksabträglich ist. Da Thrasymachos die Ungerechtigkeit für glückszuträglich hält und sie deshalb der Gerechtigkeit vorzieht, ist es klar, daß er keinen Grund hat, Sokrates zu widersprechen, wenn dieser die Ungerechtigkeit ein καλόν nennt. Eine moralische Empfehlung der Ungerechtigkeit ist damit nicht gegeben. 52 Es ist jetzt leicht zu sehen, wie sehr sich der Dissens zwischen Thrasymachos und Sokrates von dem zwischen Kallikles und Sokrates unterscheidet. Kallikles verändert völlig die deskriptiven Kriterien, die die 47 48

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Rep. I, 348e9 — 349a3. Vgl. zum Zusammenhang von καλόζ/αΐσχρόζ und έτταινεΐν/ψέγειν ζ. Β. Charm. 159d8, 11, e6, 10, 160al0, b5; Gorg. 4 8 3 b 6 - c 8 ; Pol. 306e6, 11 f.; Aristoteles, Eth. Nie. II, 9. 1109a29f.; V i l i , 1. 1155a28ff. - Siehe auch Heinimann (1945) 123 f.; Dover (1974) 6 9 - 7 3 ; P. Woodruff: Plato, Hippias Major (Oxford 1982) XII f. Vgl. auch die Formulierung καλόν και δίκαιον (ζ. Β. Gorg. 491e7; Rep. V, 464e5f.) sowie Dover (1974) 72 f. Vgl. Rep. I, 344c4ff., b6ff., 351al ff. Vgl. z . B . die Argumentation in Men. 77b6-78b2; auch Irwin (1977) 254f.; C.D.C. Reeve: Philosopher-Kings. The Argument of Plato's Republic (Princeton 1988) 153: „Happiness is the ultimate, indeed the only, criterion of choiceworthiness in lives." — Zum Verhältnis von καλόν, αγαθόν und συμφέρον vorläufig Irwin (1977) 49,165; Κ. Dover: Plato. Symposium (Cambridge 1980) 136; Woodruff (1982) 183-189. Guthrie (1971) 90, η. 1, meint, Thrasymachos habe Sokrates „unvorsichtigerweise" zugestimmt. Man mag darüber streiten, ob es von Thrasymachos klüger gewesen wäre, mögliche Mißverständnisse vorab auszuräumen. Mit Thrasymachos' polemischer Art, Sokrates seine Thesen hinzuwerfen und ihn dann machen zu lassen, verträgt es sich freilich schlecht, ausholende Erklärungen zu geben.

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Anwendung des Wortes „gerecht" bestimmen, hält aber an dem empfehlenden Gehalt des Wortes unverändert fest. Thrasymachos übernimmt hingegen die konventionelle Bestimmung des deskriptiven Elements, verkehrt aber die evaluative Komponente in ihr Gegenteil. Aus dieser Differenz folgt, daß Kallikles die Handlungen, die er empfiehlt, als gerecht empfiehlt, Thrasymachos aber die Handlungen, die er empfiehlt, als klug und zuträglich empfiehlt. Kallikles ersetzt eine Moral durch eine andere, Thrasymachos ersetzt die Moral durch ein System prudentiellen Zu- und Abratens. In diesem Punkt wurde Thrasymachos' Position häufig mißverstanden und fälschlich an die Position des Kallikles angeglichen. Man unterlegte ihm eine moralische Empfehlung des Ungerechtseins und glaubte, er lehre wie Kallikles das natürliche Recht des Stärkeren. 53 In Wahrheit fehlt bei Thrasymachos jedes naturalistische Argument. Eine Formulierung wie ή δέ γε οΤμαι φύσις αύτή άττοφαίνει54 findet sich bei ihm nicht, er verwendet die νόμω-φύσει-Formel nicht, auch stützt er seine Lehre nicht wie Kallikles durch Hinweise auf Verhaltensweisen im Tierreich. 55 Selbst wenn die Handlungen, die Kallikles und Thrasymachos empfehlen, im großen und ganzen dieselben sein mögen, sind die Unterschiede in ihren theoretischen Aussagen unübersehbar. Sie trennt eine fundamental andere Verwendung des zentralen Wertwortes „gerecht". Ihre Verwendung dieses Wortes differiert auf verschiedene Weise von dem Gebrauch, den Sokrates von diesem Wort macht. Deshalb muß Sokrates auf ganz unterschiedliche Weise gegen Kallikles und Thrasymachos argumentieren. Gegen Kallikles muß er zeigen, daß nicht diese Handlungen, sondern jene „gerecht" zu nennen sind, und gegen Thrasymachos muß er zeigen, daß die Handlungen, die sie gemeinsam „gerecht" nennen, empfehlenswert sind. 53

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Neben vielen anderen hat auch Kerferd (1947) Thrasymachos' Lehre in diesem Sinne gedeutet. E r meint, es solle klar sein, „that for Thrasymachus injustice is a moral obligation, in all the senses in which for Socrates justice is a moral obligation." (561). — Die Unterschiede zwischen Kallikles und Thrasymachos werden hervorgehoben von J . P. Maguire: Plato's Theory of Natural Law. Yale Classical Studies 10 (1947) 1 5 1 - 1 7 8 , 1 6 4 ; Guthrie (1971) 95 ff.; Maguire (1971), 572f., n. 24; Irwin (1977) 30; Furley (1981) 67; Boter (1986) 278 f. So Kallikles, Gorg. 483c8. Kerferd (1981) 122 räumt zwar ein, daß Thrasymachos die νόμοξ-φύσις-Antithese nicht verwendet, meint aber, man sei berechtigt, seine Lehre in der Sprache dieser Antithese zu reformulieren. „This is recognised early in Book II (359c3 —6) where Glaucon does not hesitate to express the problem raised by Thrasymachus in the actual terms of the nomos-physis opposition." Meines Erachtens kann der Hinweis auf die Rede Glaukons Kerferds Deutung nicht stützen. Denn Glaukon macht durch verschiedene Formulierungen klar, daß es nicht seine Intention ist, die Theorie einer bestimmten Person vorzutragen. Vgl. das plurale φασίν in 358c2 und e3 sowie das έτταινοϋντας in 361el—3.

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c) Euthyphron Euthyphron ist ein Seher und eine Autorität in religiösen Angelegenheiten. Er lebt und denkt in der religiösen Vorstellungswelt des traditionellen anthropomorphen Polytheismus. Daß die Götter, auch in ethischen Fragen, verschiedener Meinung sind, sich bekämpfen, sich gegenseitig in Fesseln legen, sich entmannen und anderes mehr, ist ihm selbstverständlich. 56 Freilich zeigt Sokrates' sich vergewissernde Nachfrage, ob er wirklich an diese Dinge glaube 5 7 , daß Euthyphron mit seinem Glauben an die homerische Götterwelt zumindest unter den denkenden Menschen seiner Zeit zu einer Minderheit gehört. Er verkörpert eine vergangene Zeit. Denn der traditionelle Glaube an die Göttergeschichten Homers und Hesiods ist spätestens seit Xenophanes Ziel einer entschiedenen und erfolgreichen Kritik. Die vormals allgemein akzeptierten Vorstellungen sind zur Zeit des Euthyphron bereits erschüttert und weitgehend obsolet. Daß er dennoch an ihnen festhält, unterscheidet seinen intellektuellen Standort deutlich von dem der Sophisten und ihrer Schüler. Kallikles und Thrasymachos versuchen im Zuge der von ihnen intendierten Aufklärung, die Menschen von Vorstellungen zu befreien und von Verhaltensweisen abzubringen, die sie bis dahin für selbstverständlich gehalten haben. Euthyphron hält indessen mit einer ihm eigenen Rigorosität an einer Form unaufgeklärter Religion fest, von der sich die Menschen bereits weitgehend befreit haben. 5 8 Euthyphron berichtet Sokrates, daß er beabsichtige, seinen Vater der (unrechtmäßigen) Tötung anzuklagen. Dies zu tun, sei, so Euthyphron, fromm (δσιον), weil, was der Vater getan habe 5 9 , unrecht und unfromm gewesen sei. — Euthyphron nennt die Tat seines Vaters nicht nur unrecht, sondern auch unfromm, weil eine Tötung ein Delikt ist, das nicht nur das Verhältnis der Menschen untereinander, sondern auch die Götter betrifft. Wer einen Menschen tötet, handelt auch den Göttern gegenüber verwerflich. Die Götter selbst mißbilligen ein solches Verbrechen und verlangen

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Vgl. Euthr. 5e—6c, 7 d - 8 e . Euthr. 6b3 f.; vgl. auch 8e6, wo Sokrates in eine Überlegung den Vorbehalt einfügt: είττερ άμφισβητοϋσιν θεοί. Vgl. Euthr. 3b9 —c2, wo Euthyphron sagt, die Leute lachten über ihn in der Volksversammlung, wenn er über die göttlichen Dinge spreche und die Zukunft voraussage. — Zur Person des Euthyphron ausführlich W. D. Furley: The Figure of Euthyphro in Plato's Dialogue. Phronesis 30 (1985) 2 0 1 - 2 0 7 . Vgl. zum Sachverhalt im einzelnen Euthr. 4c3 —d5.

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seine Wiedergutmachung. 60 Deshalb ist auch die Verfolgung einer Tötung nicht nur gerecht, sondern auch fromm. Und sie zu unterlassen, wäre unrecht und unfromm. 61 Im Gespräch zwischen Euthyphron und Sokrates geht es um die Beurteilung der beabsichtigten Anklage. Euthyphron hält sie für fromm, Sokrates zieht dieses Urteil in Zweifel. Er fürchtet, Euthyphron könne mit der Anklage etwas Unfrommes tun. „Aber bei Zeus", so fragt er Euthyphron, „glaubst du so genau über das Göttliche, das Fromme und Unfromme, wie es sich damit verhält, Bescheid zu wissen, daß du bei diesem Hergang der Dinge, wie du ihn berichtest, nicht fürchtest, daß du, indem du den Vater anklagst, deinerseits eine unfromme Handlung tust?" 62 Wie die beabsichtigte Anklage zu beurteilen ist, hängt zunächst davon ab, wie man das, was der Vater getan hat, beurteilt. War es wirklich, wie Euthyphron annimmt, eine unrechtmäßige Tötung? Hier ergeben sich bereits Schwierigkeiten und Unsicherheiten. 63 Doch selbst wenn man voraussetzt, Euthyphron habe mit seiner Einschätzung recht, ist damit noch nicht entschieden, ob die angestrebte Anklage fromm ist oder nicht. Sokrates weist auf eine Schwierigkeit hin, die mit dem Verhalten des Vaters gar nichts zu tun hat. Noch bevor er die Einzelheiten des Falles kennt, vielmehr nur weiß, daß Euthyphron eine Anklage seines Vaters wegen Tötung beabsichtigt, vermutet er, daß der Getötete ein Verwandter des Euthyphron war. Ansonsten sei nämlich nicht verständlich, warum Euthyphron die Anklage betreibe: „Denn um eines Fremden willen würdest du ihn (den Vater) vermutlich nicht anklagen." 64 Sokrates bezieht sich mit dieser Bemerkung auf die Regelungen des attischen Rechts zur Klagebefugnis. Nach ihnen besteht für die Verwandten eines Getöteten die Verpflichtung, das Verbrechen zur Anklage zu bringen, während jemand, der

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Vgl. Euthr. 9b7f., wo Sokrates sagt, Euthyphron wolle zeigen, daß das Verhalten des Vaters unrecht ist und alle Götter solches Verhalten hassen. — Zur Bedeutung von όσιος und seinem Zusammenhang mit δίκαιος M. H. A. L. Η. van der Valk: Zum Worte όσιος. Mnemosyne, Ser. III, 10 (1942) 1 1 3 - 1 4 0 ; A.W. H. Adkins: Merit and Responsibility. A Study in Greek Values (Oxford 1960) 1 3 2 - 1 3 8 ; G. Eatough: The Use of όσιος and Kindred Words in Thucydides. American Journal of Philology 92 (1971) 2 3 8 - 2 5 1 ; Dover (1974) 2 4 6 - 2 5 4 . Vgl. hierzu van der Valk (1942) 116. Euthr. 4e4 — 8. Vgl. Euthr. 4d5—9. — Zur juristischen Beurteilung dieser Schwierigkeiten S. Panagiotou: Plato's Euthyphro and the Attic Code on Homicide. Hermes 102 (1974) 419—437. Euthr. 4b4ff.

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nicht mit dem Opfer verwandt ist, klagen kann, aber nicht klagen muß. 6 5 Nun ist Euthyphron mit dem Getöteten nicht verwandt. Und deshalb meint Sokrates, er werde doch wohl angesichts der Tatsache, daß der eigene Vater der Betroffene wäre, von der Klagemöglichkeit keinen Gebrauch machen. Für die Beurteilung der Anklage wird hier wichtig, daß es der Vater ist, der angeklagt werden soll. Sokrates sieht hierin einen entscheidenden Umstand. Ganz anders Euthyphron. Für ihn ist das einzig Entscheidende, daß der Vater, wie er überzeugt ist, Unrecht getan hat. Dies zwingt ihn anzuklagen. Euthyphron sieht für sich keine andere Möglichkeit, selbst wenn ihm die rechtlichen Bestimmungen einen Entscheidungsspielraum zugestehen. Folglich kann für ihn, daß es der eigene Vater ist, den er anklagen will, kein Umstand sein, der an der Notwendigkeit der Anklage etwas ändert. „Es ist", so sagt Euthyphron zu Sokrates, „zum Lachen, daß du glaubst, es mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder oder ein Verwandter ist, und man müsse nicht allein darauf achten, ob der Täter ihn rechtmäßig getötet hat oder nicht, und ihn, wenn er rechtmäßig handelte, unbehelligt lassen, wenn er aber unrechtmäßig handelte, verfolgen, auch wenn er dein Haus- und Tischgenosse ist." 66 Euthyphron ist sich seiner Sache ganz sicher, obwohl er durchaus sieht, daß man sein Vorgehen für außergewöhnlich halten wird. 6 7

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Einige Forscher meinen, das attische Recht gewähre nur einem Verwandten des Opfers das Recht, wegen Tötung anzuklagen (oder dem Herrn, wenn ein Sklave das Opfer ist). Vgl. M. Wohlrab: Piatons Euthyphron (Leipzig 31887) 18, 19; W. A. Heidel: Plato's Euthyphro, with Introduction and Notes (New York 1902, ND 1976) 42; J. Burnet: Plato, Euthyphro, Apology of Socrates and Crito (Oxford 1924) 102; K. Latte: Mord im griechischen Recht (1933), in: K. L.: Kleine Schriften zu Religion, Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer (München 1968) 3 8 0 - 3 9 2 , 391; R. E. Allen: Plato's Euthyphro and the Earlier Theory of Forms (London 1970) 20 f.; I. Walker: Plato's Euthyphro. Introduction and Notes (Chico 1984) 55. Wäre es so, brauchte man über die Richtigkeit von Euthyphrons Anklage nicht lange nachzudenken. Denn seine Anklage wäre unmöglich, da er mit dem Opfer nicht verwandt ist. Was der Vater getan hat und wie es zu beurteilen ist, wäre ganz belanglos. Panagiotou (1974) 427 — 436 hat der Ansicht, das attische Recht gewähre nur den Verwandten des Opfers Klagerecht, widersprochen. Er zeigt, daß jemand, der nicht mit dem Opfer verwandt ist, durchaus klagen kann, aber nicht klagen muß. Zu dieser Rekonstruktion der Rechtslage stimmt, daß Sokrates nicht sagt: „Wenn das Opfer ein Fremder wäre, könntest du ja gar nicht anklagen.", sondern: „Wenn das Opfer ein Fremder wäre, würdest du den Vater vermutlich nicht anklagen." Seine Formulierung läßt die Möglichkeit einer Anklage auch im Falle eines fremden Opfers offen. — Vgl. auch D. M. MacDowell: Athenian Homicide Law (Manchester 1963) 1 6 - 1 9 ; ders.: The Law in Classical Athens (London 1978) llOf. Euthr. 4b7 —cl; vgl. auch 5 d 7 - e 2 . Vgl. Euthr. 4al.

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Die Frage, ob das, was der Vater getan hat, eine unrechtmäßige Tötung war, verlangt eine juristische Klärung. Dies müßte ein Gericht entscheiden. Hingegen ist nicht juristisch zu entscheiden, ob die von Euthyphron beabsichtigte Anklage fromm ist oder nicht. Denn das Recht bietet hier, wie gesehen, dem, der mit dem Opfer nicht verwandt ist, einen Entscheidungsspielraum. Euthyphron muß hier in eigener Verantwortung eine ethische Entscheidung fallen und vertreten. Dies bringt ihn in einen Dissens mit seiner Familie und wohl auch mit Sokrates. 68 Was ist der Grund für diesen Dissens? Es gibt keine strittigen Tatsachenfragen. Was geschehen ist, ist völlig klar. Hier liegt also nicht die Ursache für die kontroverse Beurteilung der Anklage; sie liegt vielmehr darin, daß die Beteiligten unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was es heißt, fromm zu sein. Ihre Vorstellungen davon, was das Frommsein einer Handlung ausmacht, gehen auseinander. Euthyphron verfügt über ein klares und, wie es scheint, eindeutiges Kriterium: alles, was dem, was die Götter tun, gleicht, ist fromm. Seine Begründung dafür, daß die Anklage des eigenen Vaters fromm ist, ist, daß Zeus seinen Vater in Fesseln legte, nachdem dieser Unrecht getan hatte. 69 Sokrates teilt diesen Glauben an die Götter nicht, und er zeigt, daß die so geregelte Verwendung des Wortes „fromm" zu Widersprüchen führt: Die Götter handeln in den Mythen, an die Euthyphron glaubt, nicht immer übereinstimmend, sie streiten und widersprechen sich. Legt man Euthyphrons Konzeption zu Grunde, bedeutet dies, daß einige Handlungen sowohl „fromm" als auch „unfromm" genannt werden müssen, da sie dem entsprechen, was die einen Götter tun, die anderen aber lassen. So einfach, wie Euthyphron die Dinge sieht, sind sie also nicht. Sokrates macht mit seinen Überlegungen klar, daß die Kriterien, an Hand deren man entscheidet, ob etwas „fromm" genannt werden kann, anders bestimmt werden müssen als Euthyphron es tut. Und erst wenn geklärt ist, was eine fromme Handlung definiert, kann man entscheiden, ob die beabsichtigte Anklage fromm ist oder nicht. Schon auf dem Boden des traditionellen Vielgötterglaubens ist Euthyphrons Bestimmung des Frommen, wie Sokrates zeigt, unhaltbar. Erst recht unakzeptabel ist sie dort, wo die Vorstellungen von den wie Menschen handelnden Göttern als Projektionen und schöne Mythen erkannt sind. In einer Zeit, in der über die überkommenen religiösen Vorstellungen kein Konsens mehr besteht, in der sie für die einen noch ihren alten Kredit 68 69

Vgl. Euthr. 4d5 ff. Euthr. 5e5 —6a3.

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besitzen, für die anderen aber ihre handlungs- und lebensleitende Funktion eingebüßt haben, verliert die Bedeutung des Wortes „fromm" ihre Eindeutigkeit; seine Verwendung wird problematisch und strittig. Die Anwendungskriterien müssen deshalb thematisiert und neu bestimmt werden, seine Verwendung muß gewissermaßen neu erlernt werden. Dabei ist der Dissens, der zwischen Euthyphron und Sokrates aufbricht, von anderer Art als der zwischen Kallikles und Sokrates bezüglich des Wortes „gerecht". Kallikles bestimmt die Anwendungskriterien von „gerecht" völlig neu; er nennt, was konventionell „gerecht" genannt wird, „ungerecht" und umgekehrt. Euthyphron und Sokrates sind sich hingegen wohl im großen und ganzen einig, daß bestimmte Handlungen fromm sind, bestimmte andere aber unfromm. Die Meinungsverschiedenheit bricht an einem einzelnen, ziemlich schwierigen Fall auf. Nur hier zeigt sich, daß die Verwendung des Wortes „fromm" nicht völlig einheitlich ist. In der Mehrzahl der Fälle drückt sich die verschiedene Bestimmung oder Gewichtung der Kriterien hingegen nicht in entgegengesetzten Urteilen über eine Handlung aus. Die Anwendungskriterien des Wortes „fromm" überschneiden sich fast völlig, nur an den Rändern ergeben sich Inkongruenzen. — Man nennt Wörter, deren Verwendung im großen und ganzen übereinstimmend geregelt ist, im Grenzbereich aber unsicher oder umstritten ist, „vage". Wir können demnach sagen: die Verwendung des Wortes „fromm" wird durch die religiöse Aufklärung und die Ablösung von den anthropomorphen Göttervorstellungen vage. Das Wort verschwimmt und mit ihm die Wertungen, die mit ihm zum Ausdruck gebracht werden. Soll diese Vagheit und der damit verbundene Dissens in der Frage, wie richtig zu handeln ist, ausgeräumt werden, müssen sich Sokrates und Euthyphron darüber einigen, welche Kriterien es sind, die die Anwendung des Wortes „fromm" regeln. Welches sind die Charakteristika, die etwas zu etwas Frommem machen? — Hervorzuheben bleibt noch, daß es zwischen Euthyphron und Sokrates völlig klar ist, daß es gut ist, das, was fromm ist, zu tun. Das evaluative Element des Wertwortes „fromm" ist völlig unstrittig. Es geht allein um eine genaue Bestimmung der deskriptiven Komponente.

Kapitel II: Die „Was ist X?"-Frage als Antwort § 3 Dissens und „Was ist

X?"-Frage

I. Das geeignete Mittel, einen Dissens beizulegen, ist, seinen eigentlichen, nicht immer offen zutage liegenden Ursprung und Ausgangspunkt herauszufinden, zu fixieren und ausdrücklich zu thematisieren. Bei den dargestellten Formen ethischen Dissenses liegt der Ursprung jeweils in einer Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung eines Wertwortes. In den Dissensen mit Kallikles und Euthyphron ist umstritten, auf welche Handlungen und Verhaltensweisen die Wertwörter „gerecht" und „fromm" mit Recht angewandt werden können. Und im Dissens zwischen Sokrates und Thrasymachos ist strittig, was es heißt, etwas als „gerecht" zu charakterisieren: Bedeutet es, eine Empfehlung zu geben, oder das Gegenteil? Das geeignete Mittel, diese Dissense beizulegen, ist demnach, die Bedeutung der strittigen Wertwörter ausdrücklich zu thematisieren. Genau diesen Weg geht Piaton. Das Remedium gegen die uneinheitlich gewordene Verwendung ethischer Schlüsselwörter und die damit verbundenen elementaren ethischen Dissense ist die ausdrückliche Thematisierung der Wertwörter, deren Prädikation umstritten oder fraglich geworden ist. Piaton erkennt, daß die ethischen Dissense nicht durch eine Untersuchung der Handlungsweisen, über deren Beurteilung der Dissens besteht, beizulegen sind. Diese Handlungsweisen sind jeweils der Gegenstand, aber nicht der Ursprung des Dissenses. So betrifft die Meinungsverschiedenheit zwischen Sokrates und Euthyphron die von Euthyphron geplante Anklage. Sie ist der Gegenstand des Dissenses, aber sein Ursprung liegt darin, daß sich Sokrates und Euthyphron über die Bedeutung des Wertwortes, mittels dessen sie den Gegenstand ihres Dissenses beurteilen wollen, nicht einig sind. Sie müssen deshalb, um ihren Dissens beizulegen, den Blick zunächst von dem, was beurteilt werden soll, wegnehmen und ihn auf das richten,

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mittels dessen sie urteilen wollen. Sich über die fragliche Handlung klarzuwerden, verlangt, sich zunächst von ihr abzuwenden und sich dem Prädikat zuzuwenden, das zu- oder abgesprochen werden soll. Die Disputanten müssen die Einstellung der gewöhnlichen Prädikatenverwendung aufgeben und das thematisieren, was in der Praxis des Sprechens gewöhnlich unthematisch bleibt: die Bedeutung der Prädikate. Diese Hinwendung zu den Prädikaten ergibt sich, so ungewöhnlich sie ist, in den Dissenssituationen wie von selbst. Schon die uneinheitliche Verwendung eines bloß deskriptiven Prädikats und die aus ihr resultierende Divergenz der Urteile führen zwangsläufig zu einer ausdrücklichen Erörterung des Prädikats: Wenn jemand einen Gegenstand „kariert" nennt, ein anderer ihm dieses Prädikat aber abspricht und es sicher ist, daß die beiden über denselben Gegenstand sprechen und alles Nötige über ihn wissen, wird man diese merkwürdige Situation zu bereinigen versuchen, indem man überlegt, wie das Wort „kariert" richtig zu verwenden ist. Genau diese Frage drängt sich auf, wenn jemand eine Handlung „gerecht" nennt, ein anderer aber „ungerecht" und es klar ist, daß die beiden über dieselbe Handlung sprechen und über sie alles Nötige wissen. Auch in dieser Situation wird man versuchen, den Dissens auszuräumen, indem man überlegt, wie das Wort „gerecht" richtig zu verwenden ist. — Die Parallelität dieser Hinwendung zu den strittigen Prädikaten darf freilich keinesfalls verdecken, daß mit der Frage nach der richtigen Verwendung jeweils nach zwei sehr verschiedenen Dingen gefragt wird. Im Falle des bloß deskriptiven Wortes ist die richtige Verwendung die, die der üblichen Verwendung entspricht. „Kariert" gebraucht man dann richtig, wenn man es so gebraucht, wie es üblicherweise gebraucht wird. Die Richtigkeit bemißt sich hier an der sprachlichen Konvention, an sonst nichts. Anders im Falle eines Wertwortes. Wenn Kallikles Handlungen „gerecht" nennt, die üblicherweise „ungerecht" genannt werden, dann weicht sein Sprachgebrauch von der Konvention ab, aber er würde natürlich darauf bestehen, daß seine Verwendung richtig ist und die konventionelle falsch. Offenkundig bedeutet „richtig" hier nicht „mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmend". „Richtig" ist hier vielmehr in dem Sinne verstanden, in dem wir von einer Handlung sagen, sie sei richtig, und damit nicht meinen, sie sei regelkonform, sondern es sei gut (das Beste), sie zu tun. Die Handlung ist auf diese Weise nicht relativ zu einer Regel, sondern schlichtweg richtig. In dieser nichtrelativen Weise ist „richtig" auch verwandt, wenn wir bei Wertwörtern von „richtiger Verwendung" sprechen. Denn wenn Handlungen schlichtweg richtig sind, dann auch Handlungs-

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empfehlungen, sofern sie nämlich die richtigen Handlungen empfehlen. Und da mit der Verwendung von Wertwörtern Handlungen empfohlen werden, ist ihre Verwendung in der genannten nichtrelativen Weise richtig oder falsch. Sie ist richtig, wenn sie die (schlichtweg) richtigen Handlungen empfiehlt, falsch, wenn sie die (schlichtweg) falschen Handlungen empfiehlt. So ist Kallikles überzeugt, seine Verwendung von „gerecht" sei richtig, weil „gerecht", in dieser Weise verwandt, Handlungen empfehle, die zu tun gut sei, während „gerecht", konventionell verwandt, Handlungen empfehle, die falsch und untunlich seien. Wie darüber, ob eine Handlung richtig oder falsch ist, nicht am Maßstab der allgemein akzeptierten Ansicht entschieden werden kann, so kann ebensowenig darüber, ob die Verwendungsweise eines Wertwortes richtig oder falsch ist, am Maßstab der allgemein akzeptierten Verwendung entschieden werden. Man muß entscheiden, ob die Handlung in Wahrheit, gleichgültig was die übliche Ansicht ist, richtig ist oder nicht, und ebenso, ob die Wortverwendung in Wahrheit, gleichgültig was die übliche Verwendung ist, richtig ist oder nicht. Es ist also ohne weiteres möglich, daß die Verwendung eines Wertwortes vom allgemeinen Sprachgebrauch abweicht und dennoch richtig ist. Wäre es anders, wären alle ethischen Bewertungen durch die erlernte Sprache und die sich in ihr objektivierenden Meinungen festgelegt und determiniert; jegliche ethische Neu- und Andersbewertung wäre unmöglich. — Aus dieser Überlegung folgt eine Einsicht, die, auch aus anderen Gründen, zu den Grundeinsichten der platonischen Philosophie gehört: Dissense über die richtige Verwendung von Wertwörtern können niemals durch das Nachzeichnen des allgemeinen Wortgebrauchs ausgeräumt werden. Es ist ausgeschlossen, daß Sokrates und Kallikles ihren Dissens über die Verwendung des Wortes „gerecht" beilegen können, indem sie untersuchen, wie dieses Wort üblicherweise gebraucht wird. Was sie klären müssen, ist vielmehr, wie das Wort richtig zu verwenden ist oder, wie man auch sagen kann, was es in Wahrheit heißt, gerecht zu sein.

II. Die Frage nach der richtigen Verwendungsweise eines Wertwortes läßt sich in verschiedenen Formulierungen stellen. Statt: „Wie verwendet man ,gerecht' richtig?" kann man fragen: „Was ist die wahre Bedeutung von ,gerecht'?" oder auch: „Was ist das in Wahrheit: Gerechtsein?" Diese Fragen

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fragen ohne Zweifel nach ein und demselben, und normalerweise kann man die Unterschiede ohne Schaden vernachlässigen. Im Kontext philosophischer Theoriebildung ist es hingegen angebracht, die Differenzen zu beachten. Zumindest zwei Aspekte sind wichtig: In den beiden ersten Fragen wird auf einen sprachlichen Ausdruck Bezug genommen, in der letzten Frage geschieht dies nicht. Und die erste Frage ist eine „Wie"Frage, die letzten beiden „Was"-Fragen. Die „Wie"-Frage fragt nach der Art und Weise, etwas zu tun; die „Was"-Fragen fragen hingegen nach einem Gegenstand oder suggerieren zumindest, nach einem Gegenstand zu fragen. Dabei läßt die „Was"-Frage, die nach dem Gerechtsein fragt, gar nicht erkennen, daß die Situation, aus der sie erwächst, ein Dissens über die Bedeutung eines Prädikats ist. Der Gegenstand, nach dem gefragt wird, wird gar nicht als gegenständliches Korrelat eines Prädikats angesprochen. Die Frage, was die Bedeutung von „gerecht" ist, bringt hingegen selbst dann, wenn sie als Frage nach einem Gegenstand verstanden wird, zum Ausdruck, daß der Gegenstand als einer, der einem Prädikat korreliert, interessiert. Piaton wählt die Frageform „Was ist das: Gerechtsein?" Richtiger ist es, zu sagen: er verwendet diese Frageform. Denn er verfügt nicht über die Wörter „Verwendungsweise" und „Bedeutung"; deshalb hat er nicht die drei genannten Möglichkeiten zur Auswahl, und deshalb resultiert seine Frageformulierung nicht aus einer Wahl zwischen ihnen. Piaton ergreift vielmehr, ohne über die Vor- und Nachteile verschiedener Varianten nachzudenken, die Formulierung, die für ihn die natürlichste und einfachste ist. Aber dies, und das ist wichtig zu sehen, ist die Formulierung, die eindeutig nach einem Gegenstand fragt und den Bezug zu dem Ausgangsproblem, dem Dissens über die Bedeutung eines Prädikats nicht mehr erkennen läßt. Die Frage, wie Piaton sie stellt, hat die Form „Was ist X ? " . 1 Die Variable X steht, ohne daß die Frage das, wie gesagt, selbst deutlich machte, für das gegenständliche Korrelat des Prädikats, um das es in den verschiedenen Dissensen jeweils geht. Die genaueste und deutlichste sprachliche Formel für X ist deshalb die substantivierte Form des Prädikats, also der substantivierte Infinitiv, etwa τό δίκαιον είναι. Platon wählt diese sprachliche Möglichkeit aber nur selten. 2 Öfter verwendet er ' Piaton verwendet selbst keine Variablen. Aber das ist kein Grund, nicht von der „Was ist X?"-Frage zu sprechen. 2 Vgl. z . B . τό καλόυ εΤναι, Euthd. 279a8f. (in 281a8 mit κάλλοξ aufgenommen); τό σώφρονα είναι, τό δίκαιον είναι, τό άνδρεϊον είναι, Euthd. 279b5; τό ήδύ είναι, Hipp. I, 299d3; auch τό μελλίττας είναι, Men. 72b4. Siehe auch die Infinitiv-Formulierung τό σωφρονεΐν in Charm. 167a5, 170dl; Rep. IV, 431e4.

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die nominale Modifikation des jeweiligen Prädikats, also das sprachgeschichtlich und semantisch sekundäre abstrakte Nomen, ζ. Β. δικαιοσύνη.3 Am häufigsten gebraucht er den substantivierten Infinitiv in elliptischer Form, nämlich ohne die Kopula είναι. Statt τό δίκαιον είναι verwendet Platon die kurze Form το δίκαιον.4 Diese Formulierung mit dem bloßen Adjektiv im Neutrum Singular und dem bestimmten Artikel hat jedoch gegenüber den beiden anderen Ausdrucksweisen den Nachteil, mehrdeutig zu sein, τό δίκαιον kann als elliptische Form von τό δίκαιον είναι abstrahierend verwandt sein und „das Gerechtsein" bedeuten, es kann aber ebenso „das, nämlich dieses Gerechte" sowie generalisierend „das, nämlich alles Gerechte" bedeuten. Hinzu kommt eine Verwendung, die sich einer besonderen Möglichkeit, den bestimmten Artikel zu gebrauchen, bedient. Der bestimmte Artikel kann qualitativ heraushebend und auszeichnend verwandt werden — so wie wir es tun, wenn wir ein Gipfeltreffen „das Ereignis des Jahres" nennen. Gebraucht man den Artikel in der Formel τό δίκαιον in dieser Weise, gewinnt τό δίκαιον die Bedeutung: „das in ausgezeichneter Weise Gerechte", „das beispielhaft Gerechte". Während τό δίκαιον in der Bedeutung „dieses Gerechte" und „alles Gerechte" in einer „Was ist ...?"Frage keinen Sinn gibt, paßt die Formel in den beiden anderen Bedeutungen gut in die logische Form einer solchen Frage. Die Frage τί εστί τό δίκαιον; läßt sich sinnvoll als Frage nach dem beispielhaft Gerechten wie auch als Frage nach dem Gerechtsein verstehen. An dieser Zweideutigkeit ändert Piaton nichts, indem er, was er häufig tut, zu dem Adjektiv im Neutrum Singular ein αύτό hinzusetzt.5 Dieses αυτό hebt das, nach dem gefragt ist, von anderem ab und isoliert es. Wenn Sokrates fragt: τί έστι τό δίκαιον αύτό, verdeutlicht das αύτό, daß nicht nach gerechten Dingen gefragt wird, sondern nach etwas von diesen Abgehobenem. Aber ob damit das allem Gerechten gemeinsame Gerechtsein oder etwas, das in beispielhafter Weise gerecht ist, gemeint ist, macht diese Formulierung nicht deutlich.6 Diese Zweideutigkeit der von Piaton bevorzugten For3 4 5

6

Vgl. ζ. B. Charm. 159a3; Lach. 190e3; Euthr. 14c5; Hipp. I, 292d3f. Vgl. ζ. B. Euthr. 5c9, d7, 14c4f., 1 5 c l l f.; Hipp. I, 286dl f., 287d3. Siehe ζ. Β. τό όσιον αύτό, Euthr. 5d2; αύτό τό καλόν, Hipp. I, 286d8, 288a9, 289c3, 292c9; Phdo 78d3, 100c4f.; Rep. V, 476b6f., 10, c9, VI, 493e2f., 507b5; (τό) δίκαιον αύτό, Phdo 65d4f.; αύτό άγαθόν, Rep. V I , 507b5. Vgl. hierzu auch die verschiedenen Deutungen des αύτό. E. Kapp: Der Ursprung der Logik bei den Griechen (Göttingen 1965 [zuerst engl. 1942] ) 43 schreibt: „... die .Ideen' werden aufgefaßt als mögliche Prädikate, und das ,An sich' stellt sie jenen Dingen gegenüber, von denen sie ausgesagt werden könnten." G. Patzig: Piatons Ideenlehre,

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mulierung der „Was ist X?"-Frage hat nicht nur viele Piatoninterpreten verwirrt und zum Mißverstehen der „Was ist X?"-Frage, ihres Motivs und ihrer Frageintention verleitet; sie hat auch in der Entfaltung der Ideenlehre durch Piaton selbst Folgen von schwerwiegender und weitreichender Bedeutung, ja sie vergrößert sich, wie wir sehen werden, zu einer Zweideutigkeit der Ideenlehre selbst. 7 Gerade deshalb ist es so wichtig, sich den Ausgangspunkt und die genaue Funktion der platonischen „Was ist X?"-Frage klarzumachen. Ihr Ausgangspunkt ist jeweils eine Uneinigkeit in der Verwendung eines Prädikats. Nach der Bedeutung dieses strittigen Prädikats fragt sie, und ihre Bestimmung ist ihr Ziel. Jede andere Art, diese Frage zu verstehen, schneidet sie von ihrem Sitz im Leben, von der Situation, aus der sie erwächst, ab, verselbständigt sie und nimmt ihr ihre Funktion und Bedeutung. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es hilfreich, sich bei den elliptischen Formulierungen Piatons jeweils die Kopula είναι hinzuzudenken. Auf diese Weise bleibt deutlich, daß das Adjektiv in abstrahierender Verwendung gebraucht ist und einen substantivierten Infinitiv vertritt. Auch für die Rekonstruktion der Ideenlehre und das Aufdecken ihrer Mängel und Aporien ist es elementar, sich bewußt zu sein, daß die „Was ist X?"-Frage nach der Bedeutung eines Prädikats fragt. Daß dies der Intention entspricht, die Piaton mit der „Was ist X?"Frage verbindet, zeigt nicht nur die Reflexion auf die Situation, aus der die Frage entsteht; es wird auch klar belegt durch verschiedene Passagen, in denen Piaton die elliptische Formulierung durch das abstrakte Nomen ersetzt. In Hipp. I, 292c9 —d4 fragt Sokrates Hippias: „Kannst du dich nicht erinnern, daß ich nach dem Schönen selbst (τό καλόν αυτό) gefragt habe, durch dessen Hinzukommen jeglichem zuteil wird, daß es schön ist, einem Stein, einem Holzstück, einem Menschen, einem Gott und jeder Handlung und jedem Wissen? Denn, Mensch, nach der Schönheit selbst (αύτό κάλλος) frage ich, was sie ist." Ganz ähnlich in Rep. V, 476b4—dl:

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kritisch betrachtet (1970), in: G. P.: Tatsachen, Normen, Sätze (Stuttgart 1980) 1 1 9 - 1 4 3 , 125 sagt hingegen, orientiert an den geometrischen Beispielen des Phaidon: „ ,αύτό τό ίσον'. Wir übersetzen diesen Ausdruck gewöhnlich ,das Gleiche selbst' oder ,das Gleiche an sich' ... Die Idee des Gleichen oder die Form des Gleichen ist also für Piaton vor allem das Genau-Gleiche, das Perfekt-Gleiche." — Daß αύτό die Funktion haben kann, die Abhebung einer Eigenschaft von ihren Instanzen herauszustellen, wird dadurch belegt, daß Piaton es bisweilen auch zu den abstrakten Nomina hinzusetzt. Vgl. Prot. 330d8f., 360e8; Hipp. I, 292d3; Rep. V, 476c2, 479al f., VII, 517el f.; siehe hierzu W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens (Göttingen 1982) 137. Vgl. unten § 12, S. 164 ff.

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Hier spricht Sokrates zunächst von „der Natur des Schönen selbst" (αύτοϋ του καλοϋ την φύσιν, b6 f.), dann von „dem Schönen selbst" (αύτό τό καλόν, blO), dann wechselt er zu der Formulierung „die Schönheit selbst" (αύτό κάλλος, c2) und kehrt daraufhin zu „das Schöne selbst" (αυτό καλόν, c9) zurück. 8

III. Piaton verwendet, wie wir sahen, mit der Frageform „Was ist X ? " ganz selbstverständlich die Fragevariante, die keinen Bezug auf einen sprachlichen Ausdruck nimmt. Dies wie auch, daß er über keine Wörter für Bedeutung und Yerwendungsweise verfügt, bedeutet indes nicht, daß er keine ausdrücklichen semantischen Vorstellungen hat. Er hat solche Vorstellungen, und sie sind sogar der Grund dafür, daß ihm die gegenständliche Frageform so selbstverständlich ist. Freilich sind ihm seine semantischen Annahmen so fraglos und evident, daß er sie nicht eigens zum Thema macht; er formuliert sie beiläufig, setzt sie aber nicht gegen denkbare Alternativen ab und argumentiert nicht für ihre Richtigkeit. Piatons semantische Grundannahme ist, daß es die Funktion eines Prädikats wie überhaupt jeglichen Wortes ist, für einen Gegenstand zu stehen und anzugeben, welcher aus der Gesamtheit der Gegenstände gemeint ist. Folglich bedeutet, ein Wort zu verstehen, zu wissen, welcher von allen Gegenständen der ist, für den es steht. Man versteht den Namen „Menon" und kann ihn selbst gebrauchen, wenn man weiß, welche von allen Personen Menon ist. Genauso versteht man das Prädikat „rot", wenn man weiß, welcher von allen Gegenständen das Rotsein ist. Piaton unterscheidet hier nicht zwischen der Funktion singulärer Termini und der von Prädikaten. Er gleicht die Funktion der Prädikate an die Funktion singulärer Termini an. Das Prädikat „rot" steht wie der konkrete singuläre Terminus „Menon" und wie der abstrakte singuläre Terminus „das Rotsein" für einen Gegenstand, wobei aus dieser Konzeption folgt, daß „rot" und „das Rotsein" für ein und denselben Gegenstand stehen. Im Theaitet erläutert Sokrates den Sinn der „Was ist X?"-Frage, hier der Frage, was Wissen ist. 9 In diesem Zusammenhang fragt er seinen Gesprächspartner Theaitet, 8

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Vgl. auch Euthr. 14c4f.; Phdo 74cl—5; Rep. I, 336c3 —e7. — Im pseudoplatonischen Eryxias finden sich nebeneinander die Formulierungen ... τ ! εΤναι αύτό τό πλουτεϊν (399d4f.) und ... και αύτό τό πλούσιον είναι όποιον τί έστιν (395d6f.). Theait. 146d ff.

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ob er meine, jemand verstehe den Namen einer Sache, wenn er nicht wisse, was sie sei. „Auf keinen Fall!" ist Theaitets Antwort. 10 Diese allgemeine Einsicht appliziert Sokrates dann auf das gerade Diskutierte: Wer nicht weiß, was Wissen ist, kann das Wort „Wissen" nicht verstehen. 11 Um zu bestimmen, wie ein Wort zu verstehen und zu verwenden ist, muß man also bestimmen, was der entsprechende Gegenstand ist. Auszugrenzen, wie ein sprachlicher Ausdruck zu verstehen ist, verlangt, einen Gegenstand auszugrenzen. Zu fragen: „Wie ist das Wort ,X' zu verstehen?" oder „Was ist die Bedeutung von ,Χ'Ρ", verlangt, zu fragen: „Was ist X?". Gelegentlich macht Piaton den Zusammenhang zwischen der Bestimmung des in der „Was ist X?"-Frage angezielten Gegenstandes und der Bestimmung der Bedeutung des entsprechenden sprachlichen Ausdrucks deutlich. Im Charmides sagt Sokrates, nachdem es nicht gelungen ist, zu bestimmen, was Besonnenheit ist, man habe nicht herausfinden können, auf welches der Seienden das Wort „Besonnenheit" gehöre. 12 Die Frage, die Thukydides aufgeworfen hatte und die durch die verschiedenen Dissense, die Piaton in seinen Dialogen inszeniert, hervorgetrieben wird, nämlich auf welche Dinge die Wörter „gerecht", „tapfer", „fromm", „besonnen" etc. mit Recht anzuwenden sind, nötigt im Zuge dieser semantischen Konzeption zu der Frage, was das Gerechtsein, das Tapfersein etc. ist. Die angestrebte διαίρεσις τ ω ν ονομάτων erfordert eine διαίρεσίξ τ ω ν π ρ α γ μ ά τ ω ν . — In diesem Lichte erscheint die gegenständliche Frageform nicht einfach als eine Alternative zu der Frage nach der Verwendungsweise oder der Bedeutung, sondern vielmehr als deren Fortentwicklung und Weiterführung, mit der bereits ein weiterer Untersuchungsschritt getan ist: Denn auch wenn man mit der Frage nach der Bedeutung einsetzt, führt der nächste Untersuchungsschritt unweigerlich zu der Frage nach dem entsprechenden Gegenstand. Piaton hätte demnach, selbst wenn er die drei Frageformen nach Verwendungsweise, Bedeutung und Gegenstand als Alternativen vor sich gehabt hätte und zwischen ihnen hätte wählen können, die Frage nach dem Gegenstand gewählt. Denn zu bestimmen, wie ein Wort zu verstehen ist, verlangt, zu bestimmen, welches der Gegenstand ist, den es benennt. Piatons gegenstandstheoretische Semantik, nach der Bedeutungsbestimmung Gegenstandsbestimmung ist,

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Theait. 1 4 7 b 2 f . Vgl. Theait. 1 4 7 b 4 f . Charm. 1 7 5 b 2 f f .

Dissens und „Was ist X?"-Frage

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führt in jedem Fall, ganz unabhängig davon, über welches semantische Vokabular er verfügt, zu der gegenständlichen Frageform. Den Gegenstand, den die „Was ist X?"-Frage anzielt, nennt Piaton mit einem Kunstausdruck, der freilich an den vorphilosophischen Sprachgebrauch anschließt, „Idee", είδος oder ιδέα.13 Beide Wörter sind visuelle Metaphern, abgeleitet von ίδεΐν, „sehen", und bedeuten „(sichtbare) Form", „Aussehen", „Charakteristik". Wenn Sokrates nach der Idee fragt, die allem zukommt, was zu Recht „fromm" genannt wird, fragt er nach dem einen gemeinsamen Aussehen, der einen gemeinsamen Charakteristik alles Frommen, είδος und ιδέα sind Wörter, die einer Ergänzung bedürfen. Denn wie ein Vater immer ein Vater von jemandem ist, so ist eine Form immer eine Form von etwas, das diese Form hat, ein Aussehen immer ein Aussehen von etwas, das dieses Aussehen hat, und eine Charakteristik immer eine Charakteristik von etwas, das diese Charakteristik hat. Dieser Bezug der Idee auf das, von dem sie Idee ist, wird sprachlich häufig durch eine Genitivergänzung zu είδος und ιδέα zum Ausdruck gebracht. Erst mit einer solchen Ergänzung entsteht ein sprachlicher Ausdruck, der zu verstehen gibt, wovon die Rede ist. 14 Piaton bedient sich, um das Bezogensein der Idee auf das, dessen Idee sie ist, zur Sprache zu bringen, häufig auch präpositionaler Formulierungen, ohne sich freilich auf eine bestimmte Präposition festzulegen. Er nennt die Idee τι επί πολλοίς 15 , τι έν πολλοίς 16 , τι διά πολλών 17 , τι κατά πολλών 18 und auch τι παρά πολλά. 19 Die Variation der verschiedenen Präpositionen zeigt an, daß der Bezug zwischen Idee und den Dingen, dessen Idee sie ist, nur vage bestimmt ist. 13

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Vgl. 2. B. Euthr. 5d4, 6dl0f., e3; Hipp. I, 289d4, 298b4; Men. 72c7. Piaton verwendet die beiden Wörter bedeutungsgleich; vgl. Wohlrab ( 3 1887) 25; Heidel (1902) 48, 52; Burnet (1924) 111, 116; Allen (1970) 28; Walker (1984) 72. Vgl. hierzu C. M. Gillespie: The Use of ΕΤδος and 'Ιδέα in Hippocrates. The Classical Quarterly 6 (1912) 1 7 9 - 2 0 3 , 200; W. D. Ross: Introduction, in: Aristotle's Metaphysics, ed. by W.D. R. (Oxford 1924) I, XLVIII; R. C. Cross: Logos and Forms in Plato (1954), in: R. E. Allen (ed.): Studies in Plato's Metaphysics (London 1965) 13 — 31, 28. Men. 75a4 f.; Symp. 210b3; Theait. 185c5; Soph. 240a5f.; vgl. auch Hipp. I, 300al0; Parm. 132c3, wo sich das entsprechende Verb έπεϊναι findet. Lach. 191el0f., 192a2ff., b6f.; Men. 72el, 7; Rep. Ill, 402c5; Parm. 131b5f., 150al f.; das Verb ένεϊυαι ζ. Β. in Phdo 103b8; Rep. I l l , 402c5; Parm. 131b2, 150a3. Lach. 192cl; Men. 74a9. Men. 73d 1, 74bl. Phdo 7 4 a l l . — Diese vor dem Phaidon nicht zu findende παρά-Formulierung wird von Aristoteles kritisiert; er empfiehlt die von Piaton selbst schon verwandte Formulierung τι κατά πολλών; vgl. Anal. Post. I, 11.77a5—7. — Vgl. auch Piatons Formulierungen mit τταρά- und πρόζ-Komposita Lys. 217d4, 5; Euthd. 301a4; Hipp. I, 294al, c4, 6; Gorg. 506dl: παρεΐυαι; Lys. 217b6, d8; Phdo 100d5; Soph. 247a5: παρουσία; Hipp. I, 293ell f.; Gorg. 506dl; Soph. 247a8: παραγίγνεσθαι; Hipp. I, 289d4, 8, e5, 292dl: προσγίγνεσθαι.

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Die „Was ist X?"-Frage als A n t w o r t

IV. Die platonische „Was ist X?"-Frage, die nach einer Idee, dem gegenständlichen Korrelat eines Prädikats fragt, ist nur eine von vielen Formen von „Was ist ...?"-Fragen. Diese Frageform ist in so verschiedenen Weisen zu verwenden, daß R. Robinson meinte, sie sei, isoliert von ihrem Kontext, vielleicht „the vaguest of all forms of question except an inarticulate grunt. It indicates less determinately than any other the sort of information the questioner wants." 20 Nachdem wir gesehen haben, wie Platon die „Was ist X?"-Frage gebraucht, ist es nützlich, noch einige wichtige Abgrenzungen ausdrücklich zu markieren: Erstens steht in einer platonischen „Was ist X?"-Frage an der Stelle von „X" niemals ein konkreter singulärer Terminus, sondern immer ein Prädikat oder ein entsprechendes abstraktes Nomen. Piatons Frage fragt nicht danach, zu welcher Gattung ein bestimmter einzelner Gegenstand gehört, wie die Frage: „Was ist das da für ein Gegenstand? Ist es ein Mikroskop?" Sie fragt auch nicht, mit einem Personennamen oder einem entsprechenden Pronomen an der Stelle von „X", nach dem Beruf oder der Funktion einer Person, wie die Frage: „Was ist Richard? Ist er Arzt?" und „Was ist Herr Löwe? Ist er Kreisvorsitzender?" Zweitens fragt eine platonische „Was ist X?"-Frage nicht nach einem unbekannten sprachlichen Ausdruck, wie jemand, der das Wort „Intrusion" nicht kennt und erfahren möchte, was es bedeutet, fragt: „Was heißt ,Intrusion'?" oder: „Was ist eine Intrusion?" Oder wie ein Kind, das das Wort „kariert" hört und nicht weiß, was es bedeutet, fragt: „Was heißt ,kariert'?" oder: „Was ist das: Kariertsein?" Sokrates und seinen Gesprächspartnern sind die Wörter, um die es in ihren „Was ist X?"-Fragen geht, keineswegs unbekannt. Sie haben ihre Bedeutung gelernt und können sie verwenden. Dies zeigt sich, wenn Sokrates' Gesprächspartner auf die „Was ist X?"-Frage mit der Angabe von Beispielen antworten. Wenn sie auf die Frage, was das Frommsein ist, antworten, dieses und jenes sei fromm, zeigen sie, daß sie das Wort „fromm" kennen und verwenden können. Sokrates stellt die „Was ist X?"-Frage nicht, weil die Bedeutung des entsprechenden Prädikats in der Weise unbekannt wäre, wie das Prädikat „kariert" dem Kind unbekannt ist. Sein Grund, die „Was ist X?"-Frage zu stellen, ist eine uneinheitliche und konkurrierende Verwendung wichtiger Wörter. Drittens intendiert eine platonische „Was ist X?"-Frage nicht 20

R. Robinson: Plato's Earlier Dialectic (Oxford 2 1953) 59; vgl. auch ders.: Definition (Oxford 1954) 190; L. Wittgenstein: The Blue and Brown Books (Oxford 1958) 26.

Dissens und „Was ist X?"-Frage

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die Aufzählung von Gegenständen, denen das strittige Prädikat zukommt, sondern die Bestimmung der Bedeutung des Prädikats. Wenn gefragt wird, was das Schönsein ist, ist nicht die Aufzählung von Dingen, die schön sind, gefordert, sondern Auskunft darüber, was es heißt, schön zu sein. Piaton fragt nicht τί εστί καλόν, sondern τί Ιστι το καλόν, nicht, was schön ist, sondern, was das Schönsein ist. Darauf weist Sokrates im Hippias I seinen Gesprächspartner ausdrücklich hin. 21 Dennoch wird die „Was ist X?"-Frage immer wieder in dieser Weise mißverstanden, selbst dann, wenn Sokrates die völlig eindeutige Formulierung mit einem abstrakten Nomen wählt. 22 Dies zeigt, wie sehr die Dialogpartner in ihrer Aufmerksamkeit auf die Dinge, über die gesprochen wird, fixiert sind; ihnen gelingt es nicht, sich zu den Prädikaten, mittels deren über die Dinge gesprochen wird, umzuwenden. Sie verharren in der gewohnten nicht-reflexiven Haltung dessen, der Prädikate gebraucht, aber nicht thematisiert. — Die offenbare Schwierigkeit, die übliche Haltung zu verändern, verdeutlicht noch einmal, wie exzeptionell die Reflexion ist, die die „Was ist X?"-Frage verlangt. Gewöhnlich besteht keinerlei Notwendigkeit, etwa die Bedeutung von „gerecht" zu diskutieren, weil jedermann das Wort kennt und zu gebrauchen weiß. Erst eine außergewöhnliche Situation, in der man mit dem, was man kann, nicht weiter weiß oder auf Widerspruch stößt, zwingt zu der Thematisierung des sonst unthematisch bleibenden Prädikats. Die Situation ist, was die Notwendigkeit wie die Exzeptionalität der Umwendung angeht, vergleichbar mit der Situation, in die zwei Schachspieler A und Β geraten, wenn A einen Zug macht, von dem Β meint, er sei nach den Regeln nicht möglich, A dies aber bestreitet. In dieser ungewöhnlichen Situation wird das nötig, was sonst unter Schachspielern nicht nötig ist: die Thematisierung der Regeln. Die Regeln werden normalerweise in der Praxis des Ziehens realisiert, ohne daß ihnen hierbei Aufmerksamkeit zukommt. Für die Praxis des Spiels ist es gewöhnlich nicht einmal erforderlich, daß die Spieler die Regeln formulieren können. Erst der Dissens über die Richtigkeit eines Zuges erzwingt die Reflexion über die Regeln.

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Vgl. Hipp. I, 287d—e. Vgl. Lach. 190e3 —9.

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Die „Was ist X?"-Frage als Antwort

§ 4 „Was ist X?"-Frage

und poion- Frage

Das geeignete Mittel, die dargestellten ethischen Dissense beizulegen, ist, so fanden wir, die Thematisierung der in ihrer Verwendung strittigen Wertwörter. Wenn kontrovers ist, auf welche Gegenstände ein Wertwort angewendet werden darf, bedarf es einer expliziten Bestimmung seiner deskriptiven Bedeutung. Genau diese Bestimmung zielt die platonische „Was ist X?"-Frage an. Wenn hingegen der evaluative Gehalt eines Wertwortes strittig ist, ist es erforderlich, zu klären, ob das, was bestimmte deskriptive Eigenschaften hat, gut und empfehlenswert ist. Zu fragen, ob, gerecht zu sein, gut ist, ist aber keine „Was ist X?"-Frage, es ist keine τί-, sondern eine ττοΐου-Frage. Mit ihr wird nach der Beschaffenheit von etwas gefragt. Demnach scheint es so zu sein, als habe die „Was ist X?"-Frage, wenn nicht die deskriptive, sondern die evaluative Bedeutung eines Wortes strittig ist, keine dissenslösende Funktion. Doch diese Schlußfolgerung ist, wie wir sehen werden, falsch. Die „Was ist X?"-Frage und ihre Beantwortung haben auch bei der Beilegung eines Dissenses dieses Typs eine, wenn auch modifizierte Funktion. Die Frage, ob, gerecht zu sein, gut ist, fragt nach einer Beschaffenheit des Gerechtseins, aber sie fragt nicht nach irgendeiner seiner Beschaffenheiten, sondern nach der, die normalerweise in jeder Verwendung des Prädikats „gerecht" vorausgesetzt wird. Denn etwas „gerecht" zu nennen, bedeutet in aller Regel, es auch als gut zu empfehlen. Dieses Zusammen von Beschreiben und Bewerten ist gerade die spezifische Leistung der evaluativen Wörter. Die Frage, ob, gerecht zu sein, gut ist, zeigt also eine Besonderheit, die sie von anderen ποΐον-Fragen, etwa der, ob gerecht zu sein, lehrbar ist, abhebt. Aber dies ändert natürlich nichts daran, daß sie eine ποίον- und keine τί-Frage ist. Und insofern verlangt die Beilegung des Dissenses zwischen Sokrates und Thrasymachos über das Gutsein des Gerechtseins offenbar nicht die Beantwortung einer „Was ist X?"-Frage. Man muß vielmehr die strittige ττοΐον-Frage beantworten. Dies ist durchaus richtig. Doch gelingt, wie Piaton lehrt, eine Beantwortung der ττοΐονFrage auf einem bestimmten epistemischen Niveau, nämlich dem des Wissens, nur, wenn zuvor die Frage beantwortet ist, was das ist, dessen Beschaffenheit untersucht werden soll. Die „Was ist X?"-Frage und ihre Beantwortung haben bei einem Dissens, der die evaluative Komponente eines Wertwortes betrifft, nicht die Funktion, den Dissens beizulegen, aber die, eine Dissensbeilegung auf dem epistemischen Niveau des Wissens zu ermöglichen.

,Was ist X?"-Frage und poion-Frage

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Diese Überlegung läßt sich am Dialogverlauf in Politela I verdeutlichen. Es geht hier um die Frage, was das Gerechtsein ist.1 Die Antwort, die Thrasymachos versucht, lautet: „Das Gerechte ist nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche (τό τοΰ κρείττονος συμφέρον)." 2 Indem Thrasymachos das Gerechte als etwas Zuträgliches und zwar bestimmten Menschen Zuträgliches (und anderen Menschen Abträgliches) bestimmt, zeigt er, daß seine Antwort auf die „Was ist X?"-Frage Reflexionen darüber entspringt, ob und gegebenenfalls für wen es gut und vernünftig ist, gerecht zu sein.3 Thrasymachos thematisiert damit genau das, was bis dahin in den frühen Dialogen im Kontext der verschiedenen „Was ist X?"Fragen stets unthematisiert blieb: die evaluative Funktion des Wertwortes, nach dessen Bedeutung gefragt ist. Für Sokrates entsteht so eine völlig neue Diskussionssituation. Alle seine bisherigen Gesprächspartner, Kallikles eingeschlossen, hatten ihm, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, zugestanden, daß es für den jeweils Handelnden gut ist, fromm, tapfer, besonnen, gerecht zu sein.4 Thrasymachos bestreitet nun erstmals diese Voraussetzung. Es ist hier nicht nötig, im einzelnen der Frage nachzugehen, ob Thrasymachos und Sokrates sich sofort darüber im klaren sind, daß mit der Bestimmung des Gerechten als des dem Stärkeren Zuträglichen eine Diskussion über die evaluative Komponente des Wortes „gerecht" beginnt. Es scheint so, als verstünden beide Thrasymachos' These zunächst als eine Antwort, die durch die Angabe eines identifizierenden Merkmals das Gerechte aus der Gesamtheit der Dinge auszugrenzen versucht. 5 Doch der Fortgang des Gesprächs und die Um- und Neuformulierungen der These zeigen dann deutlich, daß es Thrasymachos nicht darum geht, ein Abgrenzungskriterium des Gerechten anzugeben. Die Aussage, die er von Anbeginn an im Kopf hat und im Laufe des Gesprächs entfaltet, ist, daß das, was er und alle anderen übereinstimmend als „gerecht" bezeichnen, nicht, wie immer angenommen wird, tunlich, sondern untunlich ist. Und diese Aussage ist es, die Sokrates und Thrasymachos diskutieren. Was 1

2 3 4

5

Rep. I, 331d2, 336a9f. — Daß auch Thrasymachos dies so sieht, zeigt Rep. I, 336c3: ... είδέναι τό δίκαιον ότι εστι und c6: ... τί ... είναι τό δίκαιον. Rep. I, 338cl f.; vgl. auch I, 338e3f., 339a3f., 341a3f. Vgl. hierzu oben § 2, S. 20 f. Vgl. hierzu Charm. 1 6 0 e l 3 - 1 6 1 a l , 169b4f., 175e6-176a5, auch 159cl, 1 6 0 d l - 3 , e6f.; Lach. 192c5 —7, d8, 193d4f., 194d4f., 1 9 8 a l - 6 . Vgl. zu der Frage, ob Thrasymachos' Antwort als Definition zu verstehen ist, R. C. Cross/A. D. Woozley: Plato's Republic. A Philosophical Commentary (London 1964) 24 — 41; J. Annas: An Introduction to Plato's Republic (Oxford 1981) 38 f.

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Die „Was ist X?"-Frage als Antwort

Gerechtsein ist und wodurch sich Gerechtes und Ungerechtes unterscheiden, wird hingegen als bekannt vorausgesetzt und an keiner Stelle problematisiert. Thrasymachos' These von der Schlechtigkeit und Unvernünftigkeit des Gerechtseins ist von derselben Art wie Marxens Wort, die Religion sei Opium für das Volk. 6 Marx bestimmt mit diesem Satz auch nicht, was Religion ist; das setzt er als bekannt voraus. Er spricht vielmehr dem, was man übereinstimmend „Religion" nennt, eine Eigenschaft zu, die man ihr gewöhnlich nicht zuschreibt. Genau in dieser Weise ist Thrasymachos' These eine ποιον-, nicht eine τί-These. Hierzu paßt, daß Sokrates am Ende des Gesprächs mit Thrasymachos, als er überlegt, warum man zu keinem Ergebnis gekommen ist, ausdrücklich sagt, man habe sich gar nicht mit der Frage, was das Gerechtsein sei, beschäftigt, sondern sei unversehens in die Diskussion einer ποΐον-Frage geraten. Er habe sich von der interessanten These des Thrasymachos zu deren Erörterung verführen lassen, statt darauf zu beharren, erst einmal die Frage, was das Gerechtsein eigentlich ist, zu beantworten. Er komme sich, so sagt Sokrates, vor wie ein Naschsüchtiger, der nach allem, was aufgetragen werde, greife und davon koste, bevor er noch das Vorige richtig genossen habe. Es sei noch nicht gefunden, was gesucht werde, nämlich was die Gerechtigkeit sei, da diskutiere er schon, ob sie den, der sie besitze, glücklich mache. Solange man aber das erste nicht wisse, könne man schwerlich das zweite wissen. 7 Was Sokrates hier sagt, ist für unsere Frage, welche Funktion die „Was ist X?"-Frage bei der Beilegung eines Dissenses über die evaluative Komponente eines Wertwortes hat, wichtig. Seine These ist, daß man nicht wissen kann, ob es gut ist, gerecht zu sein, wenn man nicht zuvor weiß, was das ist: Gerechtsein. Der Beantwortung der „Was ist X?"-Frage kommt eine präliminarische Funktion zu; sie muß der eigentlich dissenslösenden Untersuchung vorausgehen, und ihre Beantwortung ist eine notwendige Bedingung dafür, einen Dissens über die evaluative Funktion eines Wertwortes beizulegen. Sokrates greift mit dieser Aussage einen Gedanken auf, den er bereits in früheren Dialogen wiederholt verwendet hat: zu wissen, wie beschaffen (ποίου) eine Sache ist, setzt voraus, zu wissen, was (τί) die Sache ist. 8 Als Sokrates im Menon gefragt wird, ob die Arete lehrbar sei 6 7 8

Diesen Vergleich gebrauchen Cross/Woozley (1964) 37. Rep. I, 354bl — c3. Prot. 360e6 —361a3, 3 6 1 b 7 - c 6 ; Gorg. 4 6 2 c l 0 - d 2 , 4 6 3 b 7 - c 7 ; Men. 7 1 a l - b 8 , 8 6 d 3 - e l , 87b2—5, 100b4ff. — Siehe zu weiteren Parallelen E. S. Thompson: The Meno of Plato (Cambridge 1901) 6 3 - 6 5 , auch R. S. Bluck: Plato's Meno (Cambridge 1961) 2 1 0 - 2 1 3 .

,Was ist X ? " - F r a g e und poion-Frage

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oder nicht, antwortet er, er wisse nicht nur nicht, ob sie lehrbar sei, er wisse nicht einmal, was sie sei. Wie sollte ich auch, so sagt er, von etwas, von dem ich nicht weiß, was (τί) es ist, wissen können, wie beschaffen (όποιον) es ist. 9 Diese τί-ττοΐον-Distinktion wird dann auch am Beispiel eines konkreten Einzeldings erläutert: O b Menon eine bestimmte Eigenschaft zukomme oder nicht, könne derjenige nicht wissen, der überhaupt nicht wisse, wer Menon sei. 10 Dieses Beispiel darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Piaton die τί-ττοϊον-Distinktion niemals ins Spiel bringt, wenn es um die Beurteilung eines konkreten Einzeldings geht, sondern nur wenn es um die Beurteilung einer abstrakten Entität wie des Gerechtseins oder des Gutseins (Arete) geht. Wie ist nun dieser nicht weiter ausgeführte und nirgendwo begründete Gedanke zu beurteilen? Leuchtet es ein, der „Was ist X?"-Frage und ihrer Beantwortung diese Priorität einzuräumen? Was einleuchtet, ist, daß man etwas identifiziert haben muß, um es auf seine Beschaffenheit hin untersuchen zu können. So muß man wissen, wer Menon ist, um untersuchen zu können, ob er braune Haare hat. Und man muß wissen, was Arete ist, um untersuchen zu können, ob sie lehrbar ist. So weit ist, was Piaton sagt, plausibel. Aber er sagt mehr als dieses. Denn er meint, man müsse, um den jeweiligen Gegenstand identifizieren zu können, die entsprechende „Was ist X?"-Frage beantworten, also explizit ein identifizierendes Kriterium angeben können. Hiermit fordert Piaton, wie es scheint, zuviel. Die Erfahrung zeigt, daß man sinnvoll über solche Fragen wie, ob, gerecht zu sein, gut ist, ob, gut (ein guter Mensch) zu sein, lehrbar ist, sprechen kann, ohne explizit bestimmen zu können, was das Gerechtsein oder was das Gutsein ist. Man kann solche Fragen untersuchen, weil man die Wörter „gerecht" und „gut" kennt, sie zu gebrauchen weiß und deshalb eine vorreflexive und unthematische Vorstellung davon hat, was das ist: Gerechtsein und Gutsein. Diese impliziten Vorstellungen reichen aus, um die in Frage stehenden Gegenstände zu identifizieren. E s bedarf, um sich auf etwas zu beziehen und über es sinnvoll reden zu können, keiner expliziten Identifikation, wie sie die „Was ist X ? " - F r a g e fordert. Wäre es anders, würde sinnvolles Miteinander-Sprechen weitgehend unmöglich.

Denn

(fast) jeder kann Wörter wie „gerecht", „tapfer", „gut" und die entsprechenden Abstrakta gebrauchen, aber (fast) niemand kann diese Wörter auch definieren.

9 10

Men. 7 1 a 3 - b 4 . Men. 7 1 b 4 — 9 .

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Die „Was ist X?"-Frage als Antwort

Piatons These, man müsse, bevor man eine ποϊον-Untersuchung vornehmen könne, erst die entsprechende „Was ist X?"-Frage beantworten, scheint also falsch zu sein. Dies ist häufig gegen Piaton behauptet worden. 11 Seine Kritiker betonen, daß es einfach ein unbestreitbares Faktum ist, daß man ττοΐον-Fragen sinnvoll untersuchen kann, ohne zuvor die entsprechenden τί-Fragen beantwortet zu haben. Dieses Faktum ist in der Tat unbestreitbar; aber es gegen Piaton zu wenden, ist verfehlt. Denn Piaton bestreitet es gar nicht. Sokrates sagt zwar zu Beginn des Menon, er wisse nicht, was Arete sei; aber dies verträgt sich damit, daß er im Laufe des Dialogs nicht wenig über die Arete spricht. Er äußert sehr genaue Vorstellungen, und zwar bevor er in der Lage ist, eine identifizierende Bestimmung zu geben. 12 Und er hält diese Äußerungen keineswegs für unsinnig. Piaton bestreitet nicht, daß sinnvolles Sprechen über ΤΓθΐον-Fragen auch dann möglich ist, wenn die Gegenstände der Aussagen nicht zuvor definiert worden sind. Er spricht, wenn er die τί-ΤΓθΐον-Distinktion verwendet, nicht von sinnvollem Sprechen, sondern von Wissen. Piatons These ist: Jemand kann nicht wissen, wie beschaffen eine Sache ist, wenn man nicht zuvor weiß, was die Sache ist. 13 Diese These entspricht dem Bemühen, Wissen und allgemein akzeptierte Meinung strikt zu unterscheiden. Natürlich hat der, der das Wort „gerecht" in der üblichen Weise verwendet, eine Vorstellung davon, was es heißt, gerecht zu sein. Und natürlich kann er deshalb die Frage, ob es gut ist, gerecht zu sein, verstehen und diskutieren. Aber er hat diese Vorstellung nicht einmal ausdrücklich formuliert, geschweige denn auf Wahrheit und Falschheit geprüft. Sie ist deshalb, obzwar weithin akzeptiert, eine bloße Meinung, mehr nicht. Genauso sind die Werturteile, die die übliche Verwendung eines Wertwortes impliziert, nur weithin akzeptiert, mehr nicht. Die Vorstellung davon, was das Gerechtsein ausmacht, ist vorreflexiv, unthematisch, meinungshaft. Es ist zwar keineswegs sinnlos, ethische Fragen auf dem Boden allgemein akzeptierter Meinungen zu diskutieren; wenn Sokrates im Menon über die Arete spricht, ohne sie zuvor definitiv bestimmt zu haben, ist sein Ausgangspunkt das, was man allgemein für Arete hält. Aber dieses Vorgehen bleibt im Bereich des Meinens, es verzichtet auf Begründung und Ausweisung und bietet insofern nur Ergebnisse von eingeschränkter

" Vgl. bes. Robinson ( 2 1953) 52; P.T. Geach: Reason and Argument (Oxford 1976) 38 ff. 12 Vgl. etwa die Passage Men. 73a—c. 13 Vgl. die Formulierungen in Men. 71a5, 6: ΕΪδέναι; 71b4: ΕΪδείην; 71b6: είδέναι; 100b4: ε'ισόμεθα; Rep. I, 354cl: είσομαι.

,Was ist X?"-Frage und

ψοίοη-Frage

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epistemischer Qualität. Damit ist klar, inwiefern die Beantwortung der „Was ist X?"-Frage notwendige Bedingung für die Beilegung eines Dissenses über die evaluative Komponente eines Wertwortes ist: sie ist notwendig, sofern die ττοΐον-Frage mit Wissen beantwortet werden soll. Die Beantwortung der „Was ist X?"-Frage löst nicht den Dissens, aber sie ermöglicht eine Dissenslösung auf dem epistemischen Niveau des Wissens. Deshalb ist es, wenn die Frage, ob es gut ist, gerecht zu sein, mit Wissen entschieden werden soll, unumgänglich, zunächst einmal ausdrücklich das zu klären, was, wenn man die Frage direkt angeht, immer schon als der Klärung unbedürftig vorausgesetzt wird, nämlich was das überhaupt ist: Gerechtsein. Es sei hier zumindest angemerkt, daß die platonische τί-ττοΐον-Distinktion, so sehr sie, deckt man ihren eigentlichen Aussagegehalt auf, an Plausibilität gewinnt, doch problematischer ist, als es Piaton erkennen läßt. Die Idee, durch eine zweigliedrige Untersuchung, zuerst die Beantwortung der τί-, dann die der ττοΐον-Frage, geradewegs zum Wissen zu gelangen, ist eine Simpliflkation. Dies zeigt sich schon in den frühen Dialogen. Denn in ihnen hat nicht die Beantwortung der „Was ist X?"-Frage eine Funktion für die Beantwortung einer ττοΐου-Frage, vielmehr hat umgekehrt die Antwort auf eine ττοΐον-Frage eine Funktion für die Beantwortung der „Was ist X?"-Frage. Wenn man überlegt, aus welchen Gründen Kallikles es eigentlich für nötig hält, den Begriff des Gerechtseins deskriptiv völlig neu zu bestimmen, wird man antworten: Er teilt erstens die traditionelle und immer selbstverständlich gewesene Prämisse, daß, gerecht zu sein, empfehlenswert ist; und er stellt zweitens fest, daß, zu tun, was traditionell als gerecht gilt, nicht empfehlenswert ist. Das heißt, Kallikles stellt fest, daß die traditionelle Bestimmung des Gerechtseins nicht der traditionellen Prämisse von der Zuträglichkeit des Gerechtseins entspricht. Beschreibung und Empfehlung kommen, so seine Analyse, in dem überkommenen Begriff des Gerechtseins nicht überein. Da ihm die Uberzeugung, das Wort „gerecht" sei empfehlend, unfraglich ist und deshalb gar nicht problematisiert wird, muß Kallikles den deskriptiven Gehalt neu bestimmen. Auf diese Weise gewinnt er einen Begriff des Gerechtseins, in dem Beschreibung und Empfehlung zusammenpassen. Kallikles verändert die deskriptive Bedeutung am Maßstab der empfehlenden. Die empfehlende Bedeutung gilt ihm als primär, und er gebraucht sie, um den beschreibenden Gehalt des Wortes zu verändern. Dem entspricht der Gang des Gesprächs im Gorgias. Kallikles und Sokrates diskutieren über die richtige deskriptive Bestimmung, indem sie überlegen, bei welcher Bestimmung

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Die „Was ist X?"-Frage als Antwort

es so ist, daß, gerecht zu sein, gut und empfehlenswert ist. Die nicht strittige empfehlende Bedeutung des Wortes „gerecht" ist der Probierstein, an dem die vorgeschlagenen deskriptiven Bestimmungen auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Genauso setzt Sokrates in den Elenchoi der frühen Dialoge immer voraus, die untersuchte Arete sei gut, zuträglich und nützlich. Und immer wieder weist er Antworten auf die verschiedenen „Was ist X?"-Fragen mit dem Argument zurück, daß es, wenn z. B. Tapfersein und Besonnensein so wie vorgeschlagen richtig bestimmt wären, Fälle gäbe, in denen es nicht empfehlenswert wäre, tapfer oder besonnen zu sein. In Charm. 169bl —5 sagt Sokrates: „... ich kann nicht akzeptieren, daß dies die Besonnenheit ist, bevor ich nicht geprüft habe, ob sie uns, wenn sie so bestimmt ist, einen Nutzen bringt oder nicht. Denn daß die Besonnenheit etwas Nützliches und Gutes ist, davon bin ich überzeugt." Die Gewißheit über die empfehlende Funktion des Wertwortes geht, das wird hier klar gesagt, der Bestimmung der deskriptiven Komponente voraus; die Gewißheit über ein ποίου, das Gut- und Zuträglichsein, lenkt hier wie in anderen frühen Dialogen die Suche nach dem τί. Die Priorität kommt nicht der Antwort auf die τί-Frage, sondern der auf die ποΐον-Frage zu. Freilich wird diese nie im Gespräch erarbeitet und argumentativ gesichert, sondern jeweils als fraglos vorausgesetzt. Aus diesem Grunde läßt sich das Vorgehen in diesen Dialogen kritisieren; sie arbeiten jeweils mit einer zwar übereinstimmend als wahr akzeptierten, aber nicht als wahr ausgewiesenen Prämisse. Die epistemische Qualität der Untersuchungsergebnisse ließe sich verbessern, wenn man die Prämisse eigens diskutierte und argumentativ stützte. Doch eine Untersuchung braucht einen Ausgangspunkt; sie kann nicht bei Null anfangen. Sie muß zunächst einmal die Uberzeugung, daß die einzelnen Aretai gut und empfehlenswert sind, voraussetzen, um von dort aus zu Ergebnissen zu kommen. Erst im Lichte der erreichten Ergebnisse kann man sich zu der Ausgangsannahme zurückwenden, sie untersuchen und dann sehen, ob sich aus ihrer Untersuchung die Notwendigkeit der Korrektur oder Modifikation der erreichten Ergebnisse ergibt. Es scheint also, als sei der wirkliche Untersuchungsgang nicht, wie Piaton suggeriert, ein einfaches Zwei-Schritt-Verfahren, sondern ein Verfahren, das die angezielte epistemische Qualität der interdependenten τί- und ποΤον-Bestimmungen nur allmählich im Hin und Her zwischen den verschiedenen Bestimmungen erreicht. — Dasselbe gilt auch für die Untersuchung, die Thrasymachos und Sokrates miteinander führen. Thrasymachos ist wie Kallikles der Meinung, daß, zu tun, was traditionell als gerecht gilt, nicht empfehlens-

,Was ist X ? " - F r a g e und p o i o n - F r a g e

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wert ist, und diagnostiziert insofern wie Kallikles eine Inkompatibilität zwischen der traditionellen deskriptiven und der traditionellen empfehlenden Verwendung des Wortes. Aber er hält anders als Kallikles den empfehlenden Gehalt für nicht so stark mit diesem Begriff verknüpft, daß er nicht abzutrennen oder zu verändern wäre. Thrasymachos hält nicht an dem empfehlenden Gehalt fest und ändert ihm entsprechend den beschreibenden Gehalt, er hält vielmehr an der deskriptiven Bestimmung fest und ändert ihr entsprechend die evaluative Verwendung. Hier bedingt die Gewißheit über das τί die Antwort auf die ττοΐον-Frage. Aber auch hier ist es so, daß die Prämisse, dieses Mal die τί-Bestimmung, nicht im Gespräch erarbeitet wurde, sondern als fraglos vorausgesetzt wurde. Auch hier läßt sich deshalb eine bessere epistemische Qualität des Ergebnisses anzielen, indem man das als unproblematisch Vorausgesetzte eigens thematisiert. Aber auch hier wird man dieses Ziel nicht mit einem bloßen zweigliedrigen Verfahren erreichen, sondern nur mit einer Methode, die den Interdependenzen zwischen τί- und ποΐον-Bestimmungen Schritt für Schritt nachgeht. Sokrates' methodische Überlegung am Ende des 1. Buches der Politela bestimmt ohne Zweifel die weitere Vorgehensweise in diesem Dialog: Die Diskutanten untersuchen zunächst, was das Gerechtsein ist, und gehen erst, nachdem sie hier ein Ergebnis erreicht haben, zu der eigentlichen Themafrage, ob es gut ist, gerecht zu sein, über. 1 4 Auf einen anderen Punkt, der für die Anlage der Politeia ebenfalls grundlegend und für die Lösung der Themafrage äußerst wichtig ist, weist Sokrates nicht ausdrücklich hin: um mit Wissen entscheiden zu können, ob, gerecht zu sein, gut ist, muß man nicht nur wissen, was Gerechtsein ist, man muß ebenso wissen, was es heißt, gut (αγαθόν) zu sein. 1 5 Und wenn man sich die Eigenart des Dissenses zwischen Sokrates und Thrasymachos noch einmal vergegenwärtigt, ist sofort klar, daß die Beantwortung dieser zweiten „Was ist X?"-Frage für die Beilegung des Dissenses viel wichtiger ist als die Frage nach dem Gerechtsein. Denn Sokrates und Thrasymachos sind sich,

14

N a c h d e m G l a u k o n u n d A d e i m a n t o s zu B e g i n n des 2. B u c h e s T h r a s y m a c h o s ' F r a g e , o b , gerecht zu sein, g u t ist, erneuert h a b e n (vgl. R e p . II, 3 5 7 a 4 — b 2 , 358c7 —d3, 3 6 7 b 2 — 5 , e l — 5), w i r d zunächst v o n II, 368c7 an untersucht, w a s G e r e c h t s e i n ist. In IV, 4 4 4 a 4 — 6 s a g t S o k r a t e s explizit, die „Was ist X ? " - F r a g e sei n u n b e a n t w o r t e t . N a c h einer n a c h g e t r a g e n e n Ü b e r l e g u n g über die U n g e r e c h t i g k e i t heißt es d a n n in IV, 4 4 4 e 7 — 4 4 5 a 2 , nun sei zu p r ü f e n , o b es zuträglich sei, gerecht zu sein. D i e s e U n t e r s u c h u n g w i r d nach d e m E x k u r s der B ü c h e r V — V I I zu B e g i n n des 8. B u c h e s wieder a u f g e n o m m e n .

15

Vgl. hierzu im einzelnen § 12, S. 158 ff.

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Die „Was ist X?"-Frage als A n t w o r t

wie dargetan, darüber, was gerecht ist, einig. Sie könnten sich also vermutlich leicht auf eine gemeinsame Definition des Gerechtseins einigen. Aber dies änderte noch nichts an ihrem Dissens. Sie blieben ohne Zweifel ungeachtet ihrer Ubereinstimmung in diesem Punkt bei ihren divergierenden Aussagen, daß, gerecht zu sein, gut bzw. schlecht ist. Denn ihr Dissens hat zwar das Gerechtsein zum Gegenstand, aber sein Ursprung liegt nicht in verschiedenen Vorstellungen vom Gerechtsein, sondern in verschiedenen Auffassungen davon, was es heißt, gut zu sein. Deshalb ist zu klären, was das ist: Gutsein, unmittelbar dissenslösend. Denn wenn man weiß, was das Gutsein von etwas ausmacht, kann man leicht herausfinden, ob das Gerechtsein die entsprechenden Charakteristika hat oder nicht. Sokrates und seine Gesprächspartner müssen also das tun, was in den frühen Dialogen immer wieder beschrieben wird: sie müssen sich von dem Gegenstand ihres Dissenses zu dem in seiner Applikation strittigen Prädikat umwenden. Wie es ζ. B. im Euthjphron, um den Dissens darüber, ob etwas fromm ist, beizulegen, nötig ist, die Frage, was es heißt, fromm zu sein, ausdrücklich zu untersuchen, so ist es in der Politeia, um den Dissens darüber, ob etwas gut ist, beizulegen, nötig, die Frage, was es heißt, gut zu sein, ausdrücklich zu untersuchen. Und tatsächlich wirft Piaton in den mittleren Büchern der Politeia ja die Frage, was es heißt, gut zu sein, auf. Er thematisiert damit genau das Prädikat, über dessen Applikation auf das Gerechtsein Sokrates und seine Gesprächspartner streiten. Der Versuch, einen Dissens über die evaluative Komponente eines Wertwortes auszuräumen, führt also noch in eine ganz andere Richtung. Er verlangt nicht nur die explizite Fixierung der deskriptiven Bedeutung. Weitaus elementarer ist die Klärung der Frage, was es überhaupt heißt, gut, zuträglich, empfehlenswert zu sein. Und auch diese Frage ist eine „Was ist X?"-Frage.

§ 5 „Was ist X?"-Frage

und

Verifikation

I. Die „Was ist X?"-Frage entspringt, so haben wir gesehen, einem ethischen Dissens. Ihn zu überwinden bzw. zu seiner Überwindung beizutragen, ist das Ziel, um dessentwillen sie aufgeworfen und beantwortet wird. Die Antwort auf eine „Was ist X?"-Frage wird mithin nicht um ihrer selbst willen gesucht. Die Bestimmung einer Idee ist kein theoretischer Selbstzweck, keine philosophische Arbeit, die ihren Sinn in sich

,Was ist X?"-Frage und Verifikation

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selbst hat. Sie dient vielmehr dem Zweck, konkrete Dinge richtig zu beurteilen. Das Aufwerfen der „Was ist X?"-Frage ist bereits eine Antwort auf einen Dissens (oder eine Aporie) in der Beurteilung eines konkreten Dings. Sie ist deshalb nicht die „primary Socratic question", als welche sie verschiedentlich mißverständlich bezeichnet wird. 1 Die ersten Fragen Sokrates' sind z. B.: Ist diese bestimmte Handlung fromm oder nicht? Ist diese bestimmte Person besonnen oder nicht? Mit diesen Fragen beginnt jeweils der Untersuchungsgang, und ihre Beantwortung ist das Untersuchungsziel. Denn ihre Beantwortung ist unmittelbar handlungsrelevant; sie führt direkt zum praktischen Handeln, um dessen epistemische Fundierung es Piaton geht. Die „Was ist X?"-Frage ist eine zweite Frage, eine Folge-Frage, die dann gestellt wird, wenn die erste Frage zunächst keine befriedigende Antwort findet. Dies verdeutlicht besonders die Komposition des Laches. Denn die „Was ist X?"-Frage wird hier auffalligerweise zum ersten Mal erst etwa in der Mitte des Dialogs gestellt. Dieser späte Beginn der Untersuchungen zu der Frage, was Tapferkeit ist, hat die Interpreten häufig erheblich irritiert, weil sie unausgesprochen oder ausgesprochen der Meinung sind, der haches und verwandte Dialoge begännen eigentlich erst mit der „Was ist X?"-Frage, mit ihr beginne erst „die eigentliche Untersuchung" und alles Vorangehende sei nicht weiter bedeutungsvolle Einleitung oder gar Einkleidung. 2 Übersehen bzw. nicht richtig verstanden wird hierbei, daß die Ausgangsfrage des Laches ist: „Wie erziehen wir unsere Kinder zu guten Menschen?" Nur weil es nicht gelingt, diese Frage befriedigend zu beantworten, bricht die „Was ist X?"Frage auf, hier die Frage, was es heißt, ein guter Mensch zu sein. Die Ausgangsfrage ist hier wie in den anderen Dialogen eine konkrete Frage der alltäglichen Lebenspraxis. Erst das Mißlingen ihrer Beantwortung erzwingt eine begriffliche Reflexion; erst im Scheitern einer unmittelbaren Beantwortung der konkreten, lebenspraktischen Frage bricht die philosophische Reflexion auf. Ihre Bedeutung liegt in diesem Bezug auf die 1

2

Vgl. Robinson ( 2 1953) 49; G. X. Santas: Socrates. Philosophy in Plato's Early Dialogues (Boston 1979) 78. Vgl. ζ. Β. C. Schaarschmidt: Die Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung der echten von den unechten untersucht (Berlin 1866) 414; H. Bonitz: Platonische Studien (Berlin 3 1886, ND Hildesheim 1968) 226; R. Dieterle: Piatons Laches und Charmides. Untersuchungen zur elenktisch-aporetischen Struktur der platonischen Frühdialoge (Diss. Freiburg 1966) 50, 54 sowie die Ausführungen von W. Steidle: Der Dialog Laches und Piatons Verhältnis zu Athen in den Frühdialogen. Museum Helveticum 7 (1950) 129 — 146, bes. 129—134 und Ch. H. Kahn: Plato's Methodology in the Laches. Revue internationale de philosophie 156/57 (1986) 7 - 2 1 , bes. 1 1 - 1 6 .

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Die „Was ist X?"-Frage als A n t w o r t

Lebenswelt; davon losgelöst ist sie ohne Belang und in ihrem Wesen gar nicht verständlich. Die Bestimmung der Idee ist für Piaton nicht das eigentliche Ziel, sondern Mittel zum Zweck; ihre Funktion ist es, Praxis zu ermöglichen und epistemisch zu fundieren. Es ist angebracht, die Einsicht, daß die „Was ist X?"-Frage und die mit ihr intendierte Ideenbestimmung in einem praktischen Funktionsgefüge stehen, hervorzuheben. Denn mit dieser Fixierung des Ausgangspunktes der platonischen Philosophie gewinnt man einen festen Halt für die Interpretation und Beurteilung der mittleren und späten Dialoge, vor allem für Piatons verstreute Aussagen über die Ideen sowie die Funktion und Notwendigkeit ihrer Erkenntnis. Man wird diese Aussagen daran prüfen dürfen, inwieweit sie die ursprüngliche Einsicht Piatons realisieren, daß die Beurteilung konkreter Dinge unter Umständen die Thematisierung der Ideen nötig macht und diese Thematisierung insofern um der Beurteilung konkreter Dinge willen geschieht. Ebenso bietet die Einsicht in die Funktion der Ideenbestimmung einen kritischen Maßstab für die Beurteilung vieler eingewurzelter Vorurteile und Mißverständnisse der platonischen Philosophie. Wenn Piatons Fragen, was die einzelnen Ideen sind, und seine Äußerungen über die formalen Eigenschaften der Ideen so verstanden werden, daß mit ihnen der Welt der konkreten Dinge eine Welt der Ideen entgegengesetzt und so in einer Verschmelzung von Gedanken Heraklits und Parmenides' eine neue dualistische Weltsicht formuliert werde, mag das ja nach weiteren Präzisierungen nicht falsch sein. Aber es trägt nichts dazu bei, die platonische Philosophie zu begreifen; es sagt nichts über die sachlichen Gründe für die zunächst zweifellos abstrus anmutende Ideenannahme, und es sagt nichts über die Herkunft der Philosophie Piatons aus der Situation der Polis im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts. Eine solche doxographische Beschreibung der Philosophie Piatons bleibt unverständlich. Philosophische Aussagen wirken, wenn sie von den Fragen, als deren Antworten sie intendiert sind, abgerissen werden, im allgemeinen abstrus und unverständlich. Deshalb gehört es zu den Aufgaben ihrer Interpretation, sie in den Fragekontext zu stellen, aus dem heraus sie formuliert sind und der ihren sachlichen und historischen Ort bestimmt. Die Funktionalität der „Was ist X?"-Frage zeigt sich nicht nur in der Praxis des platonischen Philosophierens, Piaton hat sie, wo er sein Vorgehen methodisch reflektiert, deutlich zur Sprache gebracht. Die Absicht der „Was ist X?"-Frage wird in besonders signifikanter Weise in einigen

,Was ist X?"-Frage und Verifikation ί ν α - F o r m u l i e r u n g e n expliziert. In Euthr. 6e3 —6 sagt S o k r a t e s zu

53 Euthy-

phron: Τ α ύ τ η ν τ ο ί ν υ ν με α ϋ τ ή ν δ ί δ α ξ ο ν τ η ν ϊδέαν t î ç π ο τ έ έ σ τ ι ν , ί ν α εις έκείνην α π ο β λ έ π ω ν καί χρώμευοξ α ύ τ η π α ρ α δ ε ί γ μ α τ ι , ö μεν αν τ ο ι ο ύ τ ο ν ή ώ ν αν ή συ ή ά λ λ ο ς τ ι ς π ρ ά τ τ η φ ώ δ σ ι ο ν εΤναι, δ δ' αν μ ή τ ο ι ο ύ τ ο ν , μ ή φώ. L e h r e m i c h a l s o , w a s diese I d e e selbst ist, damit ich, i n d e m ich a u f sie sehe u n d sie als M a ß s t a b g e b r a u c h e , v o n d e n j e n i g e n deiner u n d eines a n d e r e n H a n d l u n g e n , die s o b e s c h a f f e n sind, s a g e , daß sie f r o m m sind, es aber v o n d e n e n , die nicht s o b e s c h a f f e n sind, nicht s a g e . In C h a r m . 159a9 — 1 0 fordert Sokrates C h a r m i d e s auf: "Ινα τ ο ί ν υ ν τ ο π ά σ ω μ ε ν ε ί τ ε σοι [ή σ ω φ ρ ο σ ύ ν η ] ενεστιν είτε μ ή , ε ί π ε ..., τ ί