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German Pages 551 [552] Year 2019
David Meißner
Natur, Norm, Name Sprache und Wirklichkeit in Platons »Kratylos«
Paradeigmata · Band 38
Meiner
PAR ADEIGMATA 38
PAR ADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
DAV ID MEISSNER
Natur, Norm, Name Sprache und Wirklichkeit in Platons »Kratylos«
FEL I X MEINER VERL AG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3698-2 ISBN eBook 978-3-7873-3699-9
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Zugleich: Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2018. © Felix Meiner Verlag Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Druck: Josef Spinner, Ottersweier. Printed in Germany. www.meiner.de
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Problematik des Kratylos 10 | Ansatz der Studie 14 | Aufbau der Studie 22
Prolog: Hermogenes’ Perspektive auf Namen (383a–386e) . . . . . . .
I.
Ein Konventionalist, zwei Konventionalismen: Hermogenes’ problematische Positionierung (383a–386e) . . . . . . . . . . . . . . .
27 29
Schwacher Konventionalismus, Starker Konventionalismus (383a–385b) 31 | Wahre und falsche Namen? (385b–d) 41 | Konventionalismus, Relativismus und Objektivität (385d–386e) 58
Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie (386e–391b) . . . . . . . . . . . . . .
75
Überblick über den ersten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (387a–b und 389a–d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Die Natur von Handlungen und das Funktionalitätsprinzip (387a–b) 87 | Das Spezifische Funktionalitätsprinzip (389a–d) 99
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (I): Die Aufgabe des Namens (387b–389a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nennen als Teilhandlung des Sprechens (387b–388c) 117 | Der normative Charakter von Sokrates’ Bestimmung des Nennens 132 | Die naturalistische Wende
113
(388c–389a) 146
IV. Exkurs: Subjektausdrücke und Eigennamen . . . . . . . . . . . . . . .
159
Die Irrelevanz der Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat 159 | Das Problem der Eigennamen 168
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (II): Richtige Namen, unrichtige Namen (389b–d) . . . . . . . . . . . . . . Namen und Ideen 190 | Die Exklusivitätsthese 197 | Logisch komplexe Namen und die Erweiterte Exklusivitätsthese 212 | Überdeterminierte und unterdeterminierte Namen 223 | Das kritische Potenzial der Erweiterten Exklusivitätsthese 234
187
6
VI.
Inhalt
Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen: Der Moderate Naturalismus (389d–390a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Hypernaturalismus und Moderater Naturalismus 251 | Der Weg zum Moderaten Naturalismus (I): Die Metaphysik des Namens 264 | Der Weg zum Moderaten Naturalismus (II): Konvention und natürliche Richtigkeit 274
VII. An den Grenzen der Werkzeug-Analogie: Gebrauch und Evaluation von Namen durch den Dialektiker (390b–d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zusammenspiel zwischen Nomothet und Dialektiker 298 | Grenzen der Werkzeug-Analogie (I): Der Gebrauch von Namen 312 | Grenzen der Werkzeug-
295
Analogie (II): Die Evaluation von Namen 329
Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS (391b–435d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
Überblick über den zweiten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
VIII. Eine Homerische Irrfahrt: Der Übergang von der WerkzeugAnalogie zur etymologischen Sektion (391b–394e) Sokrates’ Argumentation in 391b–394e: Eine Analyse 352 | Alternativlos? Platons
351
doppelbödige Inszenierung des Schritts zur Deskriptionsthese 371
IX.
(Not) Putting Metaphysics First: Die Etymologien (394e–422c) . . . . .
393
Die griechische Sprache im Zeugenstand (I): Platons subversive Diskreditierung der Deskriptionsthese 399 | Etymologie, Flusstheorie und Relativismus 410 | Exkurs: Scherz oder Ernst – Der epistemische Status der Etymologien 422 | Die Grenzen der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit 434
X.
Die Vollendung des Hypernaturalismus (422c–427d) . . . . . . . . . . . 443 Mimetische Theorie und funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (422c–424a) 448 | Die griechische Sprache im Zeugenstand (II): Platons subversive Diskreditierung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit (424a–427d) 463 | Die ausbuchstabierte Wirklichkeit 469
XI.
Die Unhaltbarkeit des Hypernaturalismus (427d–435d) . . . . . . . . . Das Ende eines »Selbstbetrugs« (427d–430a) 483 | Anlage, Verlauf und Ergebnis
481
von Sokrates’ Kritik des Hypernaturalismus (430a–435d) 495
Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
505
Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis . . Index Locorum . . . . . Personenregister . . . . . Sachregister . . . . . . .
515 517 529 541 545
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2017/18 von der philosophischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München angenommen wurde. Auf dem Weg zur Abgabe der Dissertation und dann zur Veröffentlichung dieses Buchs bin ich von vielen Seiten und in vielfältiger Weise unterstützt worden. Mein erster Dank gilt Thomas Buchheim. Nicht nur hat er durch seine rege gedankliche Anteilnahme, seine stete Gesprächsbereitschaft und sein großes Vertrauen das Entstehen dieses Buchs ermöglicht; er hat mir außerdem einen philosophischen Mut vorgelebt, der, so hoffe ich, seine Spuren in meiner Arbeit hinterlassen hat. Zu danken habe ich an zweiter Stelle Peter Adamson, der nicht nur ein hilfreiches Zweitgutachten zu meiner Dissertation verfasst hat, sondern mir auch bei ihrer Ausarbeitung großzügig mit Rat und Tat zur Seite stand. Christof Rapp, auf dessen offenes Ohr ich mich in den letzten Jahren stets verlassen konnte, danke ich für sein prägnantes Drittgutachten. Mein Dank gilt weiterhin Fiona Leigh, die mir zu Beginn der Arbeit an diesem Buch einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt am University College London ermöglicht und die weitere Durchführung meines Projekts durch wichtige Impulse unterstützt hat. Marcel Simon-Gadhof, Manfred Meiner und Johann Meiner möchte ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Paradeigmata und für die vertrauensvolle Zusammenarbeit danken. Der VG Wort (Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft) schulde ich Dank für einen Druckkostenzuschuss. In den letzten Jahren durfte ich meine Thesen und Argumente mehrfach vor einem fachkundigen Publikum zur Diskussion stellen: in dem von Thomas Buchheim geleiteten Oberseminar, dem von Peter Adamson, Oliver Primavesi und Christof Rapp geleiteten Research Seminar an der Munich School of Ancient Philosophy sowie bei der Jahrestagung der Northern Association for Ancient Philosophy in St. Andrews. Für diese Gelegenheiten bin ich ebenso dankbar wie für die kritischen Rückmeldungen der Zuhörerinnen und Zuhörer. Bei der Fertigstellung des Manuskripts konnte ich mich auf ein ganzes Team von Korrektoren verlassen, dem ich sehr dankbar bin. Mein Vater hat das gesamte Manuskript gelesen und an vielen Stellen verbessert. Nora Wachsmann, Hannah Rapp, Saskia Müller und Tobias Stosiek haben einzelne Kapitel überprüft und mich vor vielen Fehlern bewahrt. Gleiches gilt für Dörte Teske, die meine Übersetzungen aus dem Griechischen durchgesehen hat. Mein größter Dank gilt schließlich Hannes Kerber, der mich vor zehn Jahren mit sanfter Gewalt zur Teilnahme an meinem ersten Platon-Seminar bewegt hat
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Vorwort
und seither mit den Konsequenzen leben muss. Er war während der Arbeit an diesem Buch nicht nur mein wichtigster philosophischer Gesprächspartner, der mit seinen Ideen und Einwänden viel zu meinem Verständnis des Kratylos beigetragen hat: Als erster und letzter Leser aller Teile des Manuskripts hat er meine Gedanken noch durch den vorläufigsten Ausdruck hindurch mit Geduld und Scharfsinn so gut zu fassen bekommen, dass seine Ratschläge und seine Kritik mir bei der Suche nach einem besseren Ausdruck stets ein verlässlicher Kompass waren. Einen größeren philosophischen Freundschaftsdienst kann ich mir nicht vorstellen. * Während der Arbeit an meiner Dissertation bestätigte sich zu meiner großen Freude, was ich zuvor schon vermutet hatte: »Familie« wird, mit Aristoteles gesprochen, in vielen Bedeutungen ausgesagt. Ich möchte mich nicht an einer Auflösung der Mehrdeutigkeit versuchen, sondern dieses Buch all denen widmen, die mir Familie sind. In the order of appearance: Kornelia, Ulrich und Philipp Meißner, Silvia Scholz, Ulrike Schock, Anneliese und Ewald (†) Böke, Michaela, Hannah und Michael Rapp, Judith Bodendörfer, Hannes Kerber, Saskia Müller, Nora Wachsmann, Manuela Avallone, Hannah Kilgenstein, Antonia Avallone-Kerber – und Dorothea Wagner, die kurz vor dem Abschluss der Arbeit an diesem Buch in mein Leben getreten ist und es seitdem zum Leuchten bringt.
Einleitung
Der Kratylos ist der einzige Dialog Platons, der sich ganz der Untersuchung der Sprache in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit widmet.1 Er behandelt allerdings eine Frage – die Frage nach der »Richtigkeit der Namen« –, die auf den ersten Blick gar keine philosophische Diskussion zu erfordern scheint, weil sie vom gesunden Menschenverstand zufriedenstellend beantwortet wird: Dass es beispielsweise im Deutschen richtig ist, den Namen »Hund« für Hunde zu verwenden, während im Griechischen kuôn, im Englischen »dog« und im Französischen »chien« richtige Namen für Hunde sind, ist offenkundig auf die Konventionen zurückzuführen, die in den betreffenden Sprachgemeinschaften in Kraft sind. Keineswegs scheint dafür ein natürliches Entsprechungsverhältnis zwischen diesen Namen und der Art der Hunde verantwortlich zu sein; jeder beliebige andere Name könnte schließlich, so möchte man meinen, durch die Etablierung einer passenden Konvention zum richtigen Namen für diese (oder eine beliebige andere) Art gemacht werden. Genau dies ist die Position, die Hermogenes zu Beginn des Kratylos vertritt: Konfrontiert mit der ominösen These seines Gesprächspartners Kratylos, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, zeigt er sich überzeugt, dass es keine »andere Richtigkeit der Namen (onomatos orthotês)2 gibt als Konvention und Vereinbarung« (384d1 f.).3 Damit formuliert er – weil im Griechischen nicht nur Eigen- und Gattungsnamen, sondern auch Adjektive und sogar Verben im Infinitiv und in Partizipialformen als onoma bezeichnet werden4 – eine höchst allFür diese Studie ist die Frage, in welcher Phase seines Schaffens Platon den Kratylos geschrieben hat, irrelevant. Auch die Frage nach dem Verhältnis des Kratylos zu den sprachphilosophischen Ansätzen der Vorgänger und Zeitgenossen Platons wird keine Rolle spielen. Über die Schlüsse, die sich im Hinblick auf diese Ansätze aus den relevanten Fragmenten und Testimonien ziehen lassen, informiert zuverlässig Kraus (1987). Immer noch lesenswert ist in dieser Hinsicht auch Steinthal (21890), 168–182. 2 Der Singular onomatos wird hier als Kollektivsingular aufgefasst. 3 Alle Übersetzungen von Passagen aus dem Kratylos stammen vom Verfasser dieser Studie, schließen aber in vielen Fällen an die hervorragenden Übertragungen an, die von Dalimier und Ademollo (2011) erarbeitet worden sind. Zugrunde gelegt wird dabei in der Regel der von E. A. Duke, W. F. Hicken, W. S. M. Nicoll, D. B. Robinson und J. C. G. Strachan in der Oxford Classical Texts-Edition (OCT) des Kratylos von 1995 etablierte griechische Text. Abweichungen von diesem Text werden stets vermerkt und begründet. Alle anderen Dialoge Platons werden nach Burnets Edition zitiert. 4 Vgl. dazu die hilfreiche Übersicht bei Crivelli (2012), 223f. Die traditionelle Übersetzung von onoma mit »Name« soll im Folgenden dennoch beibehalten werden. Alternativen wie »Ausdruck« oder »Wort« sind deutlich irreführender und werden zudem in dieser Studie zur Kenn1
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Einleitung
gemeine, aber aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes eben auch höchst plausible Behauptung. Irritierenderweise macht sich aber Sokrates, der den Streit zwischen Hermogenes und Kratylos entscheiden soll, diese Behauptung keineswegs zu eigen. Ganz im Gegenteil bestätigt er nach einer knappen Auseinandersetzung mit Hermogenes’ Konventionalismus5 in 390d–391b die These des Kratylos, und zwar auf der Grundlage eines elaborierten Arguments. Seinem eigenen Anspruch nach scheint also der Kratylos den common sense Lügen zu strafen – muss man doch, wenn man Sokrates’ Argument akzeptiert, zugeben, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt.
Die Problematik des Kratylos
Aber rechtfertigt Sokrates’ Argumentation im Kratylos tatsächlich die Schlussfolgerung, dass Namen einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen? Will man diese Frage beantworten, sollte man zunächst klären, was die These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, überhaupt besagt. Weil dies ohne einen guten Überblick über den Kratylos nicht möglich ist, sei hier kurz skizziert, in welchen Bahnen Sokrates’ Untersuchung im Anschluss an Hermogenes’ Stellungnahme verläuft: Nach kurzer Vorbereitung (383a–386e) entwickelt Sokrates schon in 386e–390d sein Argument für die These, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat« (391a8); dabei stützt er sich auf eine Analogie zwischen Namen und Werkzeugen, die, so sein Kerngedanke, gleichermaßen von Natur aus für eine bestimmte Aufgabe geeignet und in diesem Sinne natürlicherweise richtig sein müssen. Hermogenes gesteht daraufhin die Widerlegung seiner Position ein, bittet Sokrates aber im selben Zug um eine genauere Explikation des erreichten Ergebnisses. Sokrates kommt dieser Bitte nach, indem er in 391b–394e die Hypothese aufstellt, ein natürlicherweise richtiger Name für bestimmte Gegenstände müsse seiner etymologischen Bedeutung nach zu diesen Gegenständen passen – was beispielsweise erklären würde, wieso »Apfelbaum« ein richtiger Name für Apfelbäume und »Birnbaum« ein richtiger Name für Birnbäume ist. Damit läutet er diejenige Phase des Dialogs ein, die dem Kratylos den Ruf eingetragen hat, zwar »in der Tat ein lustiges Buch«6 , aber kein philosophisches Werk ersten Ranges zu sein: In der Passage 394e–422c entwickelt Sokrates – mit teils abenteuerlichen Resultaten – etymologische Analysen von mehr als 100 griechischen zeichnung sprachlicher Einheiten eingesetzt, die zwar Namen zu sein scheinen, aber – gemessen am Standard der natürlichen Richtigkeit – keine genuinen Namen sind. 5 Dieses gängige Label für Hermogenes’ Position geht zurück auf Kretzmann (1971). 6 Wilamowitz-Moellendorff (51959), 229.
Einleitung
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Ausdrücken, um nachzuweisen, dass ihre Richtigkeit von ihrer etymologischen Bedeutung abhängig ist. Am Ende dieses langen Abschnitts steht freilich die Einsicht, dass es auch Namen geben muss, deren Richtigkeit nicht unter Rekurs auf ihre etymologische Bedeutung erklärt werden kann, weil andernfalls ein infiniter Regress droht. In seiner Auseinandersetzung mit dieser Schwierigkeit in 422c–427d verfällt Sokrates auf den Gedanken, die Richtigkeit dieser Namen müsse darauf zurückzuführen sein, dass man bei ihrer Artikulation eine Nachahmung (ein mimêma) der benannten Gegenstände produziere – müsse also, wie man sagen könnte, auf ihren mimetischen Gehalt zurückzuführen sein. Wiederum bemüht er sich, diese Hypothese durch die Betrachtung gebräuchlicher griechischer Ausdrücke zu belegen. Daraufhin fordert Hermogenes Kratylos auf, Stellung zu den von Sokrates vorgetragenen Überlegungen zu beziehen. Kratylos ist vollauf einverstanden mit allem, was Sokrates bisher über die natürliche Richtigkeit der Namen gesagt hat; Sokrates selbst hält hingegen eine kritische Revision der erreichten Ergebnisse für erforderlich, die er gemeinsam mit Kratylos durchführen will. Wie gleich zu Beginn ihres sich anschließenden Gesprächs deutlich wird, legt Kratylos diese Ergebnisse auf eine denkbar radikale Weise aus: Er nimmt nämlich an, dass ein Ausdruck, der seiner etymologischen Bedeutung beziehungsweise seinem mimetischen Gehalt nach nicht exakt zu bestimmten Gegenständen passt, kein Name für diese Gegenstände sein kann, auch wenn er allgemein für einen solchen gehalten wird. Zudem geht er davon aus, ein Name könne überhaupt nur auf Gegenstände angewendet werden, zu denen er in diesem Sinne exakt passt, und lasse sich daher gar nicht falsch gebrauchen (428e–430a). Sokrates zeigt in der Folge (430a–435a) erst, dass die Möglichkeit der Fehlanwendung von Namen in jedem Fall zugegeben werden muss, und dann, dass zwischen der etymologischen Bedeutung beziehungsweise dem mimetischen Gehalt eines Namens und den benannten Gegenständen kein exaktes Entsprechungsverhältnis bestehen muss. Schließlich demonstriert er am Beispiel des griechischen Ausdrucks für Härte, sklêrotês (beziehungsweise sklêron), dass für die Richtigkeit mancher Namen Konvention und Gewohnheit (mit)verantwortlich sein müssen. Aus seinen Überlegungen leitet Sokrates im Hinblick auf die Richtigkeit der Namen eine frustrierend uneindeutige Konklusion ab (435a–d): Während er in 435a8 zunächst die Position zu bestätigen scheint, die Hermogenes zu Beginn des Dialogs eingenommen hat, greift er kurz darauf dreimal auf deutlich vorsichtigere Formulierungen zurück, durch die er sich nur auf die These verpflichtet, dass Konvention und Gewohnheit einen Beitrag zur Richtigkeit der Namen leisten, ohne dabei diesen Beitrag genauer zu charakterisieren. Den naheliegenden negativen Schluss, dass es keine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, zieht Sokrates hingegen nirgendwo explizit. Damit ist das letzte Wort zur onomatos orthotês gesprochen: Im Schlussteil des Dialogs (435d–440e) widmet sich Sokrates
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Einleitung
nämlich der Widerlegung von Kratylos’ Behauptung, man könne zu Erkenntnis über Gegenstände nur durch die Betrachtung ihrer Namen gelangen, und dem Nachweis, dass eine Herakliteisch gedachte – also in allen Hinsichten instabile – Wirklichkeit echte Erkenntnis unmöglich machen würde. In Anbetracht des Dialogverlaufs scheint klar zu sein, was man zugibt, wenn man die These akzeptiert, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen: Man gibt zu, dass ein Ausdruck genau dann ein richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist, wenn er seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt nach zu diesen Gegenständen passt. Umso unklarer ist aber, welchen Schluss ein Leser des Kratylos aus der von Platon inszenierten Untersuchung ziehen soll. Zielt Platon darauf ab, seinen Leser von der Plausibilität dieser These zu überzeugen? Oder doch vielmehr darauf, ihre Falschheit deutlich werden zu lassen? Welche der beiden genannten Alternativen zutrifft, ist in der Sekundärliteratur zum Kratylos höchst umstritten, obwohl die Beantwortung genau dieser Frage ihr Hauptanliegen ist. Dementsprechend wird die Kratylos-Forschung von zwei gegenläufigen Interpretationsströmungen dominiert, denen sich die drei wichtigsten Gesamtinterpretationen des Kratylos der letzten Jahrzehnte – nämlich die Studien Rachel Barneys, David Sedleys und Francesco Ademollos7 – zuordnen lassen: Interpreten der ersten, anti-konventionalistischen Strömung wie Barney und Sedley sind der Annahme verpflichtet, Platon wolle seine Leser davon überzeugen, dass ein richtiger Name für bestimmte Gegenstände ein Ausdruck ist, dessen etymologische Bedeutung oder dessen mimetischer Gehalt zu diesen Gegenständen passt. Verteidiger einer solchen Interpretation charakterisieren Platon aber selbstverständlich nicht als Vertreter der so radikalen wie unhaltbaren sprachphilosophischen Position, die Kratylos in seinem Gespräch mit Sokrates einnimmt, sondern als Vertreter einer abgeschwächten Version dieser Position, die gegen die in 430a–435a entwickelten Argumente immun ist. Dementsprechend zeigt, so die anti-konventionalistische Deutung, der Kratylos einerseits, dass zwar die Richtigkeit eines Namens davon abhängt, wie gut seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt zu den benannten Gegenständen passt; andererseits zeigt er aber auch, dass ein Ausdruck, dessen etymologische Bedeutung oder dessen mimetischer Gehalt nicht sonderlich gut zu bestimmten Gegenständen passt, dank einer entsprechenden Konvention als Name für diese Gegenstände fungieren kann.8 Vertreter der zweiten, konventionalistischen Strömung wie Ademollo machen sich hingegen für eine weniger Barney (2001), Sedley (2003), Ademollo (2011). So auch Grote (21865), ch. XXIX, Benfey (1866), Robin (1942), Weingartner (1970), Anagnostopoulos (1973/74), Fine (1977), Palmer (1989). 7 8
Einleitung
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nuancierte Interpretation stark: Sie gehen davon aus, dass es Platon im Kratylos letztlich darum zu tun ist, die Behauptung einer natürlichen Richtigkeit der Namen zurückzuweisen und Hermogenes’ anfängliche Einschätzung zu bestätigen, nach der es keine »andere Richtigkeit der Namen gibt als Konvention und Vereinbarung«.9 Weil keine dieser beiden Interpretationsalternativen sich am Text eindeutig bestätigen lässt, hat ihre Konkurrenz zu einem Patt geführt, dem sich allem Anschein nach nur durch die Kür eines Siegers nach Punkten entkommen lässt. Diese unbefriedigende Situation ist freilich nur ein Symptom und eine Folge der Ambivalenz, die nicht nur für die merkwürdig oszillierende Konklusion von Sokrates’ Untersuchung der onomatos orthotês, sondern auch für den in ihr kulminierenden Argumentationsgang charakteristisch ist. Sokrates’ Ausführungen scheinen die Unhaltbarkeit beider Positionen zu belegen, die sich im Hinblick auf die Richtigkeit der Namen einnehmen lassen: Er widerlegt die These, es gebe keine natürliche Richtigkeit der Namen, bereits im Rahmen der sogenannten Werkzeug-Analogie mit einem Argument, dessen Stichhaltigkeit im weiteren Dialogverlauf nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Die These, Namen unterlägen insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit, als ihre etymologische Bedeutung oder ihr mimetischer Gehalt zu den benannten Gegenständen passen muss, ist ihrerseits angesichts des Arguments, mit dem Sokrates in 434c–435a die Richtigkeit des Namens sklêrotês auf Gewohnheit oder Konvention zurückführt, extrem unplausibel. Sokrates macht an dieser Stelle ja nur geltend, dass sklêrotês dank einer entsprechenden Gewohnheit oder Konvention als richtiger Name für Härte gelten kann, obwohl der mimetische Gehalt dieses Ausdrucks nicht zur Eigenschaft der Härte passt. Wie in der Sekundärliteratur immer wieder bemerkt worden ist,10 scheint eine Verallgemeinerung dieser Überlegung die Schlussfolgerung unausweichlich zu machen, dass für die Richtigkeit der Namen nicht ihre etymologische Bedeutung oder ihr mimetischer Gehalt verantwortlich sein kann, sondern nur eine Gewohnheit oder Konvention. Es ist eine berechtigte Frage, wieso Sokrates darauf verzichtet, diese Schlussfolgerung zu ziehen, und sich stattdessen damit bescheidet, von einem Beitrag der Konvention zur Richtigkeit der Namen zu sprechen. Dessen ungeachtet ist aber festzuhalten, dass seine Betrachtungen den Lesern des Kratylos einen guten Grund geben, auch die These zurückzuweisen, die Richtigkeit der Namen hänge von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt ab. So auch Lanzalaco (1955), Guzzo (1956), Robinson (1956), Bestor (1980), Rehn (1982), Schofield (1982), Levin (1995), Keller (2000), Ademollo (2009). 10 Vgl. dazu insbesondere Schofield (1982), 70–81, und Ademollo (2011), 390–424. Aber auch Barney als Vertreterin der anti-konventionalistischen Interpretationsströmung macht diese Beobachtung: Barney (2001), 135. 9
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Einleitung
Dass sich in der Konkurrenz zwischen dem anti-konventionalistischen und dem konventionalistischen Interpretationsansatz kein eindeutiger Sieger ausmachen lässt, ist demzufolge nicht etwa dem Umstand geschuldet, dass beide Ansätze dem argumentativen Profil von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen gleich gut gerecht werden. Vielmehr passen sie gleichermaßen schlecht zu diesem Profil: Beide Ansätze vermögen nämlich der bemerkenswerten Tatsache nicht Rechnung zu tragen, dass Sokrates im Rahmen seiner Untersuchung sowohl die These, es gebe keine natürliche Richtigkeit der Namen, als auch die These, Namen seien insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen, als ihre etymologische Bedeutung oder ihr mimetischer Gehalt zu den benannten Gegenständen passen muss, widerlegt.
Ansatz der Studie
Die für die bisherige Kratylos-Forschung maßgebliche Frage, welche der beiden diskutierten Thesen Sokrates’ Überlegungen zur Richtigkeit der Namen stützen – die These, es gebe keine natürliche Richtigkeit der Namen, oder die These, die Richtigkeit der Namen hänge von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt ab –, führt demnach in eine Aporie. Sollte man sich also vielleicht bei einer Auseinandersetzung mit dem Kratylos gar nicht von dieser Frage leiten lassen? Tatsächlich läuft man Gefahr, ein wesentliches Strukturmerkmal des im Kratylos entfalteten Argumentationsgangs zu übersehen, wenn man ihn daraufhin untersucht, welche der beiden Thesen zur Richtigkeit der Namen er bestätigt und welche er widerlegt. Bei einer solchen Untersuchung verliert man nämlich allzu leicht aus dem Blick, dass diese beiden Thesen ganz unterschiedliche Stellen in der argumentativen Bewegung des Kratylos besetzen – dass sie sich, wie man sagen könnte, in ihrem dialektischen Status unterscheiden. Dieser dialektische Statusunterschied kommt darin zum Ausdruck, dass die von Hermogenes formulierte Behauptung, es gebe keine natürliche Richtigkeit der Namen, den Ausgangspunkt von Sokrates’ Überlegungen bildet, während die Behauptung, Namen seien insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen, als ihre etymologische Bedeutung oder ihr mimetischer Gehalt zu den benannten Gegenständen passen muss, erst im Dialogverlauf schrittweise aufgestellt und schließlich kritisch diskutiert wird. Indem Platon dem Dialog diese Oberflächenstruktur verleiht, trägt er der Tatsache Rechnung, dass es keiner aufwendigen philosophischen Betrachtung bedarf, um Hermogenes’ These zu motivieren oder ihr Plausibilität zu verschaffen. Hermogenes selbst beruft sich dementsprechend auch nur auf ein oder zwei empirische Beobachtungen, um seine These zu stützen, und beschränkt sich ansonsten darauf, die Unver-
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ständlichkeit der Behauptung, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, zu monieren. Platon scheint also Hermogenes – wie insbesondere in der älteren Sekundärliteratur zum Kratylos oft übersehen wurde11 – bewusst als Vertreter des common sense in Szene zu setzen, der eine Art dialektische Nullhypothese formuliert: eine Position, die dem gesunden Menschenverstand entspricht und daher argumentativ nur dann ausführlicher abgesichert und verteidigt werden muss, wenn stichhaltige Gründe gegen sie ins Feld geführt werden. Tatsächlich bringt Hermogenes mit seiner Behauptung, es gebe keine »andere Richtigkeit der Namen als Konvention und Vereinbarung«, ja einen Gedanken zum Ausdruck, der ganz auf der Linie eines reflektierten, erfahrungsgesättigten common sense liegt und auch für viele zeitgenössische Leser des Kratylos unmittelbar einleuchtend gewesen sein muss. Im Hinblick auf diese These, die am Anfang von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen steht, stellt sich also nicht die Frage, warum man sie vertreten sollte, sondern die Frage, warum man sie nicht vertreten sollte. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Platon Sokrates die These, Namen seien insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen, als ihre etymologische Bedeutung oder ihr mimetischer Gehalt zu den benannten Gegenständen passen muss, in einem Dialog mit Hermogenes entwickeln und ihn dabei zunächst dessen konventionalistische Position widerlegen lässt: Denn wer hinsichtlich der onomatos orthotês irgendeine von der dialektischen Nullhypothese abweichende Position vertreten will, kann offenbar nur dann dem Vorwurf unfundierten sprachphilosophischen Querulantentums entgehen, wenn er einem Vertreter der Nullhypothese Gründe darlegen kann, die ihn dazu zwingen oder es zumindest naheliegend machen, seine Position zugunsten der Alternativposition aufzugeben. Im Hinblick auf jede solche Alternativposition stellt sich demnach nicht die Frage, warum man sie nicht vertreten sollte, sondern die Frage, warum man sie vertreten sollte; und es besteht kein Anlass, sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen, solange diese Frage nicht beantwortet worden ist. Dementsprechend treibt Sokrates zunächst großen Aufwand, um im Gespräch mit Hermogenes die Annahme plausibel zu machen, die Richtigkeit der Namen sei von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängig, und beginnt erst dann damit, sie im Gespräch mit Kratylos auf ihre problematischen Implikationen hin zu untersuchen. Zu Beginn des Dialogs kann Sokrates die Behauptung eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung, die er Kratylos in 384c bereits andeutungsweise unterstellt, hingegen noch als schalen Witz auf Kosten des Hermogenes abtun. 11
Darauf wird im ersten Kapitel genauer einzugehen sein.
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Es ist demnach zwar nicht falsch, zu fragen, welche der beiden diskutierten Thesen der Argumentationsgang des Kratylos bestätigt oder widerlegt. Aber in die Irre führen könnte diese Fragestellung durchaus, weil sie dem dialektischen Statusunterschied dieser Thesen nicht Rechnung trägt; weil sie also der Tatsache nicht Rechnung trägt, dass die zweite These nur dann nicht leichthin abgetan werden kann, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit der ersten These plausibilisieren lässt, während die erste These nicht erst in der Auseinandersetzung mit der zweiten These plausibilisiert werden muss, um vertretbar zu sein. Es ist deshalb angezeigt, sich bei der Lektüre des Kratylos von einer Frage leiten zu lassen, deren Formulierung dem dialektischen Statusunterschied der beiden Thesen Ausdruck verleiht: der Frage nämlich, ob Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen einem Konventionalisten wie Hermogenes, der im Einklang mit dem common sense keine »andere Richtigkeit der Namen als Konvention und Vereinbarung« anerkennt, insgesamt – also trotz Sokrates’ Kritik an Kratylos’ naturalistischer Gegenthese – einen guten Grund dafür liefert, seine Position zugunsten der Behauptung aufzugeben, dass Namen insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen, als ihre etymologische Bedeutung oder ihr mimetischer Gehalt zu den benannten Gegenständen passen muss. Wer klären will, welcher Schluss aus Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu ziehen ist, sollte also nicht den Fehler begehen, diese Untersuchung als Diskussion zweier gleichgeordneter und gleichberechtigter Alternativen aufzufassen, sondern sich stattdessen in erster Linie Klarheit darüber verschaffen, wie genau Sokrates Hermogenes dazu bringt, die Rückführung der Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung oder ihren mimetischen Gehalt ohne größeren Widerstand zu akzeptieren – und was unter argumentationslogischen Gesichtspunkten von seinem Vorgehen zu halten ist. Nimmt man eine solche, auf die dialektische Struktur des Kratylos abgestimmte Perspektive ein, fällt ein strukturelles Merkmal von Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes ins Auge, dem weder anti-konventionalistische noch konventionalistische Interpretationen Beachtung schenken. Sokrates etabliert nämlich im Rahmen der Werkzeug-Analogie das Ergebnis, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, bevor er eine Verbindung zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung (und schließlich auch, in manchen Fällen, ihrem mimetischen Gehalt) herstellt. Platon scheint bei seiner Inszenierung des Austauschs zwischen Sokrates und Hermogenes in 390d–391b, der den Abschluss der Werkzeug-Analogie bildet, sogar darauf aus zu sein, den Abstand zwischen dem, was bisher erreicht ist, und dem, was im Dialog folgen wird, so deutlich zu markieren wie nur möglich:
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Es scheint also, Hermogenes, die Festsetzung der Namen nicht, wie du glaubst, etwas Geringfügiges zu sein, und weder die Sache geringfügiger Männer noch die der erstbesten. Und Kratylos sagt die Wahrheit, wenn er sagt, dass die Namen den Dingen von Natur aus zugehören […]. – Ich weiß nicht, Sokrates, wie man dem, was du sagst, widersprechen soll. Es ist allerdings wahrscheinlich nicht leicht, so plötzlich überzeugt zu werden, sondern ich glaube, dass ich so leichter überzeugt würde, wenn du mir aufzeigtest, was deiner Behauptung nach die natürliche Richtigkeit der Namen ist. – Ich, mein lieber Hermogenes, meine keine [bestimmte Richtigkeit], sondern du hast vergessen, was ich kurz zuvor sagte, dass ich es nicht wisse, aber mit dir untersuchen wolle. Indem wir nun aber untersuchen, du und ich, ist uns über den vorherigen Stand hinaus schon so viel klar, dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat […]. Also müssen wir im nächsten Schritt untersuchen, wenn du es zu wissen begehrst, was nun wohl seine Richtigkeit ist.12
Mit Abschluss der Werkzeug-Analogie ist demnach klar, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt; was man sich unter dieser natürlichen Richtigkeit vorzustellen hat, ist hingegen, wie Hermogenes zurecht moniert, noch keineswegs klar, und soll daher in der Folge untersucht werden. Wie genau diese Abgrenzung zu verstehen ist, ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist allein die Beobachtung entscheidend, dass man dann, wenn man Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes in ihrer argumentativen Logik durchsichtig machen will, nicht einfach davon ausgehen kann, dass die These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, genau dann wahr ist, wenn auch die These, die Richtigkeit der Namen sei von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängig, wahr ist. Es könnte sich zweifellos herausstellen, dass es sich so verhält: Möglicherweise entwickelt Sokrates ja im Anschluss an die Werkzeug-Analogie die einzig mögliche oder zumindest die plausibelste Antwort auf die Frage des Hermogenes, was man sich unter der natürlichen Richtigkeit der Namen vorzustellen habe. Aber nach allem, was Platon Sokrates sagen lässt, könnte es sich auch 390d9–391b5: Κινδυνεύει ἄρα, ὦ Ἑρμόγενες, εἶναι οὐ φαῦλον, ὡς σὺ οἴει, ἡ τοῦ ὀνόματος θέσις, οὐδὲ φαύλων ἀνδρῶν οὐδὲ τῶν ἐπιτυχόντων. καὶ Κρατύλος ἀληθῆ λέγει λέγων φύσει τὰ ὀνόματα εἶναι τοῖς πράγμασι […]. – Οὐκ ἔχω, ὦ Σώκρατες, ὅπως χρὴ πρὸς ἃ λέγεις ἐναντιοῦσθαι. ἴσως μέντοι οὐ ῥᾴδιόν ἐστιν οὕτως ἐξαίφνης πεισθῆναι, ἀλλὰ δοκῶ μοι ὧδε ἂν μᾶλλον πείθεσθαι, εἴ μοι δείξειας ἥντινα φῂς εἶναι τὴν φύσει ὀρθότητα ὀνόματος. – Ἐγὼ μέν, ὦ μακάριε Ἑρμόγενες, οὐδεμίαν λέγω, ἀλλ᾽ ἐπελάθου γε ὧν ὀλίγον πρότερον ἔλεγον, ὅτι οὐκ εἰδείην ἀλλὰ σκεψοίμην μετὰ σοῦ. νῦν δὲ σκοπουμένοις ἡμῖν, ἐμοί τε καὶ σοί, τοσοῦτον μὲν ἤδη φαίνεται παρὰ τὰ πρότερα, φύσει τέ τινα ὀρθότητα ἔχον εἶναι τὸ ὄνομα […]. οὐκοῦν τὸ μετὰ τοῦτο χρὴ ζητεῖν, εἴπερ ἐπιθυμεῖς εἰδέναι, ἥτις ποτ᾽ αὖ ἐστιν αὐτοῦ ἡ ὀρθότης. 12
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anders verhalten; und es grenzte an hermeneutische Verantwortungslosigkeit, sich in der Auseinandersetzung mit dem Kratylos von einer Fragestellung leiten zu lassen, die dieser Möglichkeit nicht explizit Rechnung trägt. An die Stelle der Frage, ob Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen einem Konventionalisten wie Hermogenes insgesamt einen guten Grund dafür liefert, seine Position zugunsten der These aufzugeben, dass die Richtigkeit der Namen von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängt, werden also zwei Fragen treten müssen: (1) Liefert Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen einem Konventionalisten wie Hermogenes insgesamt einen guten Grund dafür, seine Position zugunsten der These aufzugeben, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt? (2) Liefert sie ihm weiterhin einen guten Grund dafür, die These zu akzeptieren, dass ein Ausdruck genau dann ein richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist, wenn seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt zu diesen Gegenständen passt? Damit sind die beiden Leitfragen formuliert, die in der vorliegenden Studie beantwortet werden sollen. Indem man zwischen ihnen differenziert und Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen mithin aus einem anderen Blickwinkel betrachtet als anti-konventionalistische und konventionalistische Interpretationen – die gerade der Verzicht auf eine solche Differenzierung verbindet –, trifft man keine Vorentscheidung zuungunsten einer der beiden gängigen Interpretationslinien: Denn es ist ja nicht ausgeschlossen, dass die Antwort auf beide Leitfragen positiv ausfällt, was eine anti-konventionalistische Interpretation des Kratylos nahelegen würde; und ebenso wenig ist auszuschließen, dass die Antwort in beiden Fällen negativ ausfällt, was wiederum stark für eine konventionalistische Deutung sprechen würde. Die Differenzierung der beiden Leitfragen macht es also keineswegs unmöglich, einen anti-konventionalistischen oder einen konventionalistischen Schluss aus dem Argumentationsgang des Kratylos zu ziehen. Sie gibt aber den Blick auf eine dritte Möglichkeit frei, die für denjenigen, der einen der beiden gängigen Interpretationsansätze verfolgt, als solche gar nicht erkennbar ist. Sollte nämlich die Antwort auf die erste Leitfrage positiv, die auf die zweite Leitfrage hingegen negativ ausfallen, wird man aus Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen den Schluss ziehen müssen, dass Namen zwar einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen, diesen Standard aber nicht dank ihrer etymologischen Bedeutung oder ihres mimetischen Gehalts erfüllen. Dieser Schluss brächte ganz eigene philosophische Herausforderungen mit sich – machte er es doch erforderlich, zu erklären, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen macht, wenn es nicht seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt ist. Die Vermutung, dass er dennoch gezogen werden muss, ist angesichts der argumentativen Dialektik des Kratylos freilich nicht leicht von der Hand zu weisen: Zu genau entspricht er der
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merkwürdigen Doppelgesichtigkeit von Sokrates’ Überlegungen, die sowohl die These, es gebe keine natürliche Richtigkeit der Namen, als auch die These, die Richtigkeit der Namen sei von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängig, zu widerlegen scheinen. Ein zentrales Ziel der vorliegenden Studie wird es daher sein, zu überprüfen, ob sich diese Vermutung bestätigen lässt. Es soll damit nicht suggeriert werden, der Kratylos sei bisher noch nie aus einer solchen Perspektive betrachtet worden. Auch wenn die einschlägige Forschungsliteratur von dem Antagonismus anti-konventionalistischer und konventionalistischer Interpretationen beherrscht wird, gibt es einige wenige Arbeiten, die für eine strikte Trennung zwischen der Frage, ob es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, und der Frage, ob die Richtigkeit der Namen von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängig ist, plädieren und ebenfalls die Vermutung zu belegen suchen, der Argumentationsgang des Dialogs rechtfertige eine positive Antwort auf die erste, aber eine negative Antwort auf die zweite Frage.13 In dieser Hinsicht kann und muss die vorliegende Studie keinen Anspruch auf Originalität erheben, sondern versteht sich als sorgfältige Ausarbeitung einer Grundidee, die in den betreffenden Arbeiten – Aufsätze und kurze Studien allesamt – stets nur sehr skizzenhaft entwickelt wird. Innovativ ist aber der Modus der Ausarbeitung, die konsequent an dem Ziel orientiert ist, die Gründe durchsichtig zu machen, die den Überlegungen des Sokrates zufolge einen Konventionalisten wie Hermogenes dazu zwingen, seine Position zugunsten einer bestimmten Alternative aufzugeben, oder umgekehrt das Fehlen eines guten Grundes für einen solchen Schritt erkennbar werden zu lassen. Wie sehr bisherige Interpreten diese Aufgabe vernachlässigt haben, ist erstaunlich – sollte man doch annehmen, dass jede philosophische Auseinandersetzung mit dem Kratylos an der Frage ausgerichtet sein muss, wie überzeugend die Argumente sind, die Sokrates in seinem Gespräch mit Hermogenes (und später mit Kratylos) entwickelt. Das Problem ist allerdings, dass Diskussionen dieser Frage in aller Regel einer ganz bestimmten Vorstellung davon anhängen, wie philosophische Argumente in philosophischen Texten idealerweise präsentiert werden sollten: so nämlich, dass jede Prämisse, die für die Ableitung der Schlussfolgerung unverzichtbar ist, explizit ausgewiesen und nach Möglichkeit auch gegen naheliegende Einwände verteidigt wird; dass also ein möglichst vollständiges Bild des argumentativen Terrains gezeichnet wird, das der Leser überblicken soll. Es bedarf nur einer kurzen Überlegung, um zu erkennen, dass auf gravierende Schwierigkeiten stoßen wird, wer dem Kratylos – oder irgendeinem ande13 So zuerst Kretzmann (1971). Vgl. Kahn (1973), Heitsch (1984) bzw. (1985) und Ackrill (1994). In eine ähnliche Richtung argumentieren auch Gold (1978) und Ketchum (1979).
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ren Platonischen Dialog – ohne Weiteres ein solches Bild entnehmen zu können glaubt. Denn die Argumente, die in einem solchen Dialog entwickelt werden, zielen stets darauf ab, einen bestimmten Gesprächspartner, der auf bestimmte Vorannahmen verpflichtet ist oder bestimmte Vorurteile hat, von der Wahrheit oder Falschheit einer bestimmten Position zu überzeugen. Der Gesprächspartner, der diese Überzeugungsarbeit zu leisten hat, wird dementsprechend Argumente entwickeln, die jemanden mit diesen Vorannahmen und Vorurteilen von der abzuleitenden Schlussfolgerung überzeugen sollen. Er unterliegt dabei nicht der Verpflichtung, nur auf wahre Prämissen zurückzugreifen oder es kenntlich zu machen, wenn er auf eine in seinen Augen falsche Prämisse zurückgreift. Er unterliegt auch nicht der Verpflichtung, alle Prämissen, die für die Ableitung der Schlussfolgerung erforderlich sind, explizit zu machen: Wenn die Prämissen, die er einführt, diese Schlussfolgerung im Verbund mit den Vorannahmen seines Mitunterredners rechtfertigen, erreicht er sein argumentatives Ziel auch dann, wenn diese Vorannahmen implizit bleiben. Er unterliegt schließlich auch nicht der Verpflichtung, die Prämissen, auf denen sein Argument beruht, gegen naheliegende Einwände zu verteidigen: Er muss nur sicherstellen, dass sein Mitunterredner sie akzeptiert.14 Man sollte demnach nicht annehmen, dass Sokrates im Kratylos die Gründe, die gegebenenfalls dafür sprechen, von der konventionalistischen Position des Hermogenes zugunsten einer Alternative abzurücken, im Dialog vollständig explizit macht: Er wird mit der Explikation dieser Gründe nicht weiter gehen, als nötig ist, um Hermogenes zu überzeugen. Dieser an sich trivialen Beobachtung wird in der hermeneutischen Praxis kaum je konsequent Rechnung getragen. Auseinandersetzungen mit dem Kratylos rekonstruieren in aller Regel Sokrates’ Argumentation, soweit sie an der Textoberfläche präsent ist – und kritisieren sie dann als unvollständig oder fehlerhaft,15 erklären, wieso sie sich aus Platons Perspektive zwingend oder zumindest plausibel ausnehmen könnte,16 oder behaupten, Platon inszeniere argumentative Lücken bewusst, um seine Leser zum eigen14 Diesen Überlegungen lässt sich entnehmen, dass ein Gesprächspartner in einem Platonischen Dialog dem von Fine (1990), 87, formulierten »dialectical requirement« unterliegt: dass er sich also nur auf Prämissen berufen darf, die auch der jeweils andere Gesprächspartner akzeptiert. Aber sie zeigen darüber hinaus auch, dass ein Gesprächspartner bestimmten anderen Verpflichtungen nicht unterliegt: dass er also etwa nicht all diejenigen Prämissen explizit machen muss, auf deren Wahrheit er sich bei der Ableitung einer Schlussfolgerung verlässt, und dass er sich nicht ausschließlich auf Prämissen verlassen muss, die er selbst für wahr hält. 15 So mit besonderer Verve Robinson (1956). 16 So versuchen sowohl Barney (2001) als auch Sedley (2003) in ihren Studien zu zeigen, dass die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt Platon durchaus plausibel vorgekommen sein könnte, auch wenn sie heutigen Lesern des Kratylos wenig plausibel vorkommt.
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ständigen Nachdenken auf nicht näher beschriebenen Pfaden anzuregen.17 Nicht gefragt wird hingegen, welche impliziten Annahmen und Überzeugungen aufseiten des Hermogenes dafür verantwortlich sein könnten, dass er sich Sokrates’ Argumentation nicht entziehen kann. Genau das ist aber die Aufgabe, die der Leser eines Platonischen Dialogs zu bewältigen hat: Er muss, wenn er einen Überblick über das argumentative Terrain gewinnen will, durch das der Dialog führt, selbst in einen Dialog mit diesem Dialog eintreten – muss also einerseits jeden einzelnen Schritt im Hinblick auf mögliche Einwände und Alternativen untersuchen, andererseits aber auch fragen, warum die jeweilige Dialogfigur solche Einwände nicht vorbringt und solche alternativen Schritte nicht vorschlägt. Dabei muss gar nicht unterstellt werden, dass der Dialogfigur selbst die Gründe für ihr Tun und Lassen vollständig transparent sind. Unterstellt werden muss nur, dass Platon sie nicht ohne guten philosophischen Grund bestimmte Richtungen einschlagen lässt und andere nicht, sondern bei seiner Inszenierung stets an dem Ziel orientiert ist, den Dialog, den sein Leser mit dem inszenierten Dialog führt, in geeignete Bahnen zu lenken. Die Ausrichtung der vorliegenden Studie an den beiden Fragen, ob Sokrates in seiner Untersuchung der Richtigkeit der Namen einem Konventionalisten wie Hermogenes einen guten Grund liefert, die Annahme einer natürlichen Richtigkeit der Namen zu akzeptieren, und ob er ihm einen guten Grund liefert, von einem Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt auszugehen, trägt der Tatsache Rechnung, dass der philosophische Gehalt des Kratylos sich nur einem Leser erschließen wird, der sich der beschriebenen Herausforderung stellt: der also jeden gedanklichen Schritt, den Hermogenes mitvollzieht, einerseits im Hinblick auf mögliche Alternativen untersucht, andererseits aber auch damit rechnet, dass Hermogenes die fraglichen Alternativen aus bestimmten Gründen nicht wahrnimmt, und diese Gründe durchsichtig zu machen versucht. (Selbstverständlich muss sich ein solcher Leser auch fragen, warum Kratylos in seinem Gespräch mit Sokrates eine Position vertritt, die radikaler und kontraintuitiver nicht sein könnte. Wie sich im Verlauf dieser Studie zeigen wird, ist diese Frage aber überraschenderweise aufs Engste mit der Frage verbunden, wieso Hermogenes der Rückführung der Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung beziehungsweise ihren mimetischen Gehalt nichts entgegenzusetzen hat.) Es ist also letztlich die von Platon gelenkte Erkenntnisbewegung eines aufmerksamen Lesers, die in dieser Studie nachzuzeichnen sein wird. Tatsächlich ist für einen solchen Leser der Dialog mit dem Kratylos auch alles andere als eine akademische Fingerübung oder ein philosophisches Glasperlenspiel. Denn indem 17
So insbesondere Heitsch (1984). Vgl. aber auch Ademollo (2011), 102 f. und passim.
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er sich Aufschluss über die Vorannahmen und Vorurteile verschafft, die Hermogenes’ Blick auf Namen und Sprache informieren, und sie kritisch hinterfragt, wird er sich auch Rechenschaft über die eigenen Vorannahmen und Vorurteile ablegen und sie gegebenenfalls aufgeben oder modifizieren müssen. Mehr noch: Nachdem Hermogenes zu Beginn des Dialogs eine Position einnimmt, die dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen scheint und daher von den meisten Lesern des Kratylos geteilt werden dürfte, liegt sogar die Vermutung nahe, dass Platon mit Hermogenes eine Figur gestaltet, deren Vorannahmen und Vorurteile sich mit denen eines typischen Lesers decken. Wenn diese Vermutung sich bestätigt – und sie wird sich bestätigen –, fällt die Erkenntnisbewegung, die eine gelungene Interpretation des Kratylos nachzuzeichnen hat, mit der kritischen Selbstprüfung eines Lesers zusammen, der Namen und Sprache aus der Perspektive des common sense betrachtet. Der Modus, in dem die vorliegende Studie ihre beiden Leitfragen untersucht, dient der Erschließung dieser Dimension des Kratylos. Es ist eine Dimension, die in der bisherigen Forschungsliteratur aufgrund einer mangelnden Sensibilität für die hermeneutischen Implikationen der Dialogform nicht bemerkt worden ist.18 Dabei verleiht sie dem Kratylos eine philosophische Brisanz, die weit über diejenige der Fragen hinausgeht, die üblicherweise im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit diesem Dialog stehen. Denn der Blickwinkel des common sense, aus dem Hermogenes Namen und Sprache betrachtet, hat in den letzten 2400 Jahren nichts von seiner Attraktivität verloren. Der kritischen Selbstprüfung, die Platon seinen Lesern abverlangt, haben wir uns daher ebenso zu unterziehen wie seine Zeitgenossen. Es sind unsere vermeintlichen Gewissheiten, die der Kratylos infragestellt.
Aufbau der Studie
Der Ansatz dieser Studie ist bestimmt von der Differenzierung zwischen ihren beiden Leitfragen und einem auf die hermeneutischen Herausforderungen der Dialogform abgestimmten Untersuchungsmodus. Dieser Ansatz hat eine unorthodoxe Schwerpunktsetzung zur Folge, die sich im Aufbau der vorliegenden In den letzten drei Jahrzehnten hat das Interesse an diesen Implikationen einen deutlichen Aufschwung genommen – was sich an zahlreichen Publikationen erkennen lässt, von denen hier nur die wichtigsten genannt seien: Arieti (1991), Klagge/Smith (1992), Gill/McCabe (1996), Kahn (1996), Gonzalez (1998), Press (2000), Blondell (2002), Rowe (2007) und Cotton (2014). Die vorliegende Studie soll keine allgemeine Antwort auf die Frage geben, wie man einen Platonischen Dialog zu lesen hat; sie setzt lediglich voraus, dass sich der philosophische Gehalt eines solchen Dialogs nur einem Leser erschließen kann, der sich auf die beschriebene Weise aktiv mit ihm auseinandersetzt, und untersucht im Ausgang von dieser Voraussetzung den Kratylos. 18
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Arbeit widerspiegelt. An die Rekonstruktion der Position des Hermogenes in ihrem als Prolog fungierenden ersten Kapitel schließen sich in ihrem ersten Teil nämlich sechs Kapitel zur Werkzeug-Analogie an, die nur sehr kurze Abschnitte des Dialogs thematisieren, aber für mehr als die Hälfte des Umfangs dieser Studie verantwortlich sind. Weitaus knapper behandeln hingegen die vier Kapitel des zweiten Teils die restlichen Etappen von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen, die insgesamt fast 45 Stephanus-Seiten umfassen: also Sokrates’ Formulierung der Hypothese, die Richtigkeit der Namen müsse auf ihre etymologische Bedeutung zurückzuführen sein, in 391b–394e; seinen Versuch, diese Hypothese durch etymologische Analysen von gebräuchlichen griechischen Ausdrücken zu bestätigen, in 394e–422c; seine Rückführung der Richtigkeit der Namen, die sich etymologisch nicht analysieren lassen, auf ihren mimetischen Gehalt in 422c–427d; und schließlich seine Auseinandersetzung mit Kratylos’ Thesen zur Richtigkeit der Namen, die mit dem uneindeutigen Abschluss der gesamten Untersuchung in 435a–d endet. Während der Passage 435d–440e kein eigenes Kapitel gewidmet ist, weil sie nicht im engeren Sinne die Frage nach der Richtigkeit der Namen betrifft, erhellen die Analysen dieser Studie auch ihren Stellenwert. Die damit vorgenommene Gewichtung der Sektionen des Kratylos kommt einer Inversion der Verhältnisse gleich, die an der Dialogoberfläche herrschen: Aus der Perspektive der vorliegenden Studie bildet die wenig umfangreiche WerkzeugAnalogie das philosophische Gravitationszentrum der Untersuchung der Richtigkeit der Namen, obwohl sie auf den ersten Blick nur zu Sokrates’ ausgedehnten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung beziehungsweise ihrem mimetischen Gehalt hinzuführen scheint. Das hier präsentierte Bild der inneren Organisation des Kratylos unterscheidet sich somit wesentlich von demjenigen Bild, das die bisher maßgeblichen Gesamtinterpretationen – insbesondere die schon erwähnten Studien Rachel Barneys, David Sedleys und Francesco Ademollos – zeichnen: Diese Gesamtinterpretationen nehmen die Verhältnisse, die an der Dialogoberfläche bestehen, für bare Münze und widmen ihre Aufmerksamkeit dementsprechend in erster Linie Sokrates’ Ausarbeitung und anschließender Kritik der These, die Richtigkeit der Namen sei von ihrer etymologischen Bedeutung beziehungsweise ihrem mimetischen Gehalt abhängig. Dieser Ansatz hat im Hinblick auf die Binnenlogik von Sokrates’ argumentativem Vorgehen im Anschluss an die WerkzeugAnalogie zu vielen wichtigen Einsichten geführt, von denen die vorliegende Studie in ihrem zweiten Teil profitiert. Zu einer überzeugenden Antwort auf die Frage, welcher Schluss aus der gesamten Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu ziehen ist, hat er allerdings nicht geführt; stattdessen hat er das Patt zwischen konventionalistischen und anti-konventionalistischen Interpretationen zementiert.
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Aus dieser unbefriedigenden Lage kann man sich befreien, wenn man einmal auf den Unterschied zwischen den beiden Leitfragen dieser Studie aufmerksam geworden ist, und sich zudem klar gemacht hat, dass der volle philosophische Gehalt des Dialogs über die Richtigkeit der Namen sich nur einem aufmerksamen Leser erschließen kann, der zu einer kritischen Auseinandersetzung mit eigenen Vorannahmen bereit ist: Denn dann wird man in der Werkzeug-Analogie das Zentrum des Kratylos erkennen und so eine überzeugende Antwort auf die Frage entwickeln können, welcher Schluss aus Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu ziehen ist. Diese These wird die vorliegende Studie in den folgenden Schritten entfalten und verteidigen: Zunächst wird im ersten Kapitel zu zeigen sein, dass Hermogenes mit einer Konzeption des Namens operiert, die ganz dem common sense entspricht und daher auch für die typischen Leser des Kratylos sehr einleuchtend sein dürfte – zugleich aber eine umsichtige Formulierung konventionalistischer Intuitionen unmöglich macht und Hermogenes daher, wie in seinem Gespräch mit Sokrates schnell deutlich wird, einer Aporie ausliefert. Sokrates knüpft in der Werkzeug-Analogie an diesen ersten Teil seiner Auseinandersetzung mit Hermogenes an, um nachzuweisen, dass Namen tatsächlich einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen. Das zweite, dritte, vierte und fünfte Kapitel werden die einzelnen Schritte dieses Arguments nachzeichnen, seine Implikationen und Voraussetzung klären und es gegen naheliegende Einwände verteidigen. Dabei wird deutlich werden, dass Sokrates einem Konventionalisten wie Hermogenes mit seiner – bisher von der Forschung massiv unterschätzten – Argumentation tatsächlich einen guten Grund dafür liefert, von einer natürlichen Richtigkeit der Namen auszugehen. Wie das anschließende sechste Kapitel plausibel machen soll, implizieren seine Ausführungen aber keineswegs, dass Namen den Standard natürlicher Richtigkeit dank ihrer etymologischen Bedeutung oder ihres mimetischen Gehalts erfüllen müssen; ganz im Gegenteil regen sie einen aufmerksamen Leser dazu an, eine andere, mit konventionalistischen Intuitionen kompatible Antwort auf die Frage zu finden, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck natürlicherweise richtig ist. Auch wenn, wie das siebte Kapitel zeigen soll, der Vergleich zwischen Namen und Werkzeugen in bestimmten Hinsichten an Grenzen stößt, ermöglicht er es einem solchen Leser doch, im Hinblick auf die Richtigkeit der Namen zu einer sehr plausiblen naturalistischen Position vorzudringen. Wie ebenfalls aus dem sechsten Kapitel hervorgehen wird, ist ein solcher plausibler Naturalismus allerdings nur für denjenigen erreichbar, der sich bereits von der naiven Konzeption des Namens gelöst hat, mit der Hermogenes zu Beginn seines Gesprächs mit Sokrates operiert. Hermogenes selbst löst sich nicht von ihr, und auch die allermeisten Leser werden sie zumindest bei ihrer ersten Lektüre
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der Werkzeug-Analogie nicht in Frage stellen. Wie im achten, neunten und zehnten Kapitel herausgearbeitet werden soll, gibt es dann, wenn man diese Konzeption des Namens zugrunde legt, keine andere Möglichkeit, als die Frage, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck den Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt, so zu beantworten, wie Sokrates es im Anschluss an die Werkzeug-Analogie tut: unter Rekurs auf die etymologische Bedeutung beziehungsweise den mimetischen Gehalt von Ausdrücken. Platon macht seinen Lesern durch die Inszenierung dieses Dialogteils also mit gnadenloser Konsequenz bewusst, auf welche Position ihre eigenen Vorannahmen sie verpflichten. Die Unhaltbarkeit dieser Position wird in Sokrates’ Gespräch mit Kratylos deutlich. Wie das elfte und letzte Kapitel zeigen wird, führt die Einsicht in die Unhaltbarkeit der von Kratylos vertretenen Thesen allerdings in eine Sackgasse: Denn sie scheint zu implizieren, dass Namen keinem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen, obwohl Sokrates in der Werkzeug-Analogie doch gerade die Existenz eines solchen Standards nachgewiesen hat. In diese Aporie lässt Platon seine Leser geraten, um sie zu einer Umkehr zu bewegen – zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie und ihren eigenen Vorannahmen, die in die Erkenntnisbewegung münden kann, die das sechste Kapitel beschreibt. Durch die invertierte Gewichtung der Dialogteile wird also eine geschlossene Interpretation von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen im Kratylos möglich, wie sie bisher noch nicht entwickelt werden konnte. Was sich im Vergleich mit dem in der Sekundärliteratur dominierenden Ansatz wie eine Verkehrung ausnehmen mag, ist alles andere als eine Verkehrung: Wenn Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen tatsächlich, wie im Phaidros (264c2–5) gefordert, gebaut ist wie der Körper eines Lebewesens – dann stellt die vorliegende Studie sie vom Kopf wieder auf die Füße.
Prolog: Hermogenes’ Perspektive auf Namen (383a–386e)
I. Ein Konventionalist, zwei Konventionalismen: Hermogenes’ problematische Positionierung (383a–386e) Am Anfang des Kratylos steht die Beschwerde des Hermogenes über die Unverständlichkeit der These, mit der Kratylos ihn offenbar fast zur Weißglut getrieben hat: Kratylos hier sagt, Sokrates, dass es für jedes der Seienden von Natur aus eine Richtigkeit des Namens gebe, und was einige vereinbart haben, um [etwas] zu nennen, indem sie einen Teil ihrer Stimme aussprechen und [es so] nennen, dies ist kein Name; sondern eine gewisse Richtigkeit der Namen1 sei naturgegeben, dieselbe für alle, sowohl Hellenen als auch Barbaren. […] Und wenn ich frage und zu wissen verlange, was er eigentlich meint, macht er überhaupt nichts klar und behandelt mich ironisch, indem er vorgibt, er denke selbst bei sich an etwas bestimmtes – als wisse er etwas darüber, was, wenn er es nur klar sagen wollte, auch mich wohl dazu brächte, zuzustimmen und zu sagen, was er selbst gerade sagt.2
Hermogenes’ Ärger über Kratylos’ wenig entgegenkommendes Verhalten wird noch gesteigert durch dessen Behauptung, »Hermogenes« sei, gemessen an dem mysteriösen Kriterium natürlicher Richtigkeit, gar nicht der Name des Hermogenes, während »Kratylos« durchaus der Name des Kratylos sei und »Sokrates« der Name des Sokrates.3 In seiner Frustration zieht Hermogenes Sokrates zu seinem Gespräch mit Kratylos hinzu und bittet ihn, entweder »den Orakelspruch des Kratylos auszulegen« (384a5) oder aber seine eigene Meinung zum Thema der Richtigkeit der Namen vorzustellen. Es ist grammatikalisch falsch und inhaltlich potenziell irreführend, onomatos orthotêta in 383a4 f. wie Schleiermacher mit »richtige Benennung« zu übersetzen – vgl. Heitsch (1984), 62 mit Anm. 88. Inhaltlich potenziell irreführend ist diese Übersetzung deswegen, weil aus der Tatsache, dass es eine natürliche Richtigkeit des Namens für jedes Seiende gibt, nicht folgt, dass es für jedes Seiende genau einen natürlicherweise richtigen Namen gibt – wie schon Horn (1904), 20, fälschlicherweise annimmt. 2 383a4–384a4: Κρατύλος φησὶν ὅδε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ὀρθότητα εἶναι ἑκάστῳ τῶν ὄντων φύσει πεφυκυῖαν, καὶ οὐ τοῦτο εἶναι ὄνομα ὃ ἄν τινες συνθέμενοι καλεῖν καλῶσι, τῆς αὑτῶν φωνῆς μόριον ἐπιφθεγγόμενοι, ἀλλὰ ὀρθότητά τινα τῶν ὀνομάτων πεφυκέναι καὶ Ἕλλησι καὶ βαρβάροις τὴν αὐτὴν ἅπασιν. […] καὶ ἐμοῦ ἐρωτῶντος καὶ προθυμουμένου εἰδέναι ὅτι ποτὲ λέγει, οὔτε ἀποσαφεῖ οὐδὲν εἰρωνεύεταί τε πρός με, προσποιούμενός τι αὐτὸς ἐν ἑαυτῷ διανοεῖσθαι ὡς εἰδὼς περὶ αὐτοῦ, ὃ εἰ βούλοιτο σαφῶς εἰπεῖν, ποιήσειεν ἂν καὶ ἐμὲ ὁμολογεῖν καὶ λέγειν ἅπερ αὐτὸς λέγει. 3 Kratylos wird auf diese Behauptung an einem Wendepunkt des Dialogs – nämlich in 429c4– 6 – zurückkommen. 1
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
Auch wenn Sokrates sofort mit einer Interpretation von Kratylos’ These aufwarten kann – demnach sei Kratylos in erster Linie darauf aus, Hermogenes zu verspotten (384c4 f.), weil dessen Name seiner Etymologie nach am besten auf einen Abkömmling des Hermes passen würde, also auf jemanden, der im Gegensatz zu Hermogenes Erfolg in finanziellen Dingen vorzuweisen hat4 –, wird ein unvoreingenommener Leser Kratylos’ These zunächst nicht weniger verständnislos gegenüberstehen als Hermogenes: Es ist ja tatsächlich vollkommen unklar, was Kratylos meint, wenn er behauptet, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen und »Hermogenes« sei nicht der Name des Hermogenes, auch wenn alle Menschen ihn so nennen mögen. Hermogenes’ in 383a5–7 schon anklingende Überzeugung, dass es gerade diese Gewohnheit ist, ihn »Hermogenes« zu nennen, die »Hermogenes« zu einem richtigen Namen für seine eigene Person macht, scheint hingegen ganz dem gesunden Menschenverstand verpflichtet zu sein. Die allermeisten Leser werden sich daher bei der Lektüre des Dialogbeginns zwangsläufig mit Hermogenes als der Stimme des common sense identifizieren und Kratylos als Urheber unverständlicher Tiefsinnigkeiten (oder, wenn sie Sokrates’ Auslegung von Kratylos’ These Glauben schenken, als Urheber flacher Witze) mit Skepsis betrachten. Als Hermogenes seine eigene konventionalistische Position wenig später explizit formuliert, beginnt Sokrates allerdings sofort damit, ihn auf eine schwer durchschaubare Art und Weise ins Kreuzverhör zu nehmen: Zunächst (385a1– b1) lässt Sokrates ihn bestätigen, dass seiner Meinung nach nicht nur Gruppen von Sprechern, sondern auch einzelne Sprecher darüber entscheiden können, was der richtige Name für bestimmte Gegenstände ist; dann (385b2–d1) entwickelt Sokrates ein mehr schlecht als recht in den Gesprächszusammenhang sich einfügendes Argument für die Schlussfolgerung, dass wahre und falsche Namen gesagt werden können; und schließlich (385d2–386e5) weist er den Protagoreischen Relativismus zurück, den Hermogenes, wie er in 386a5–7 bekennt, schon als radikalen Ausweg aus einer nicht näher beschriebenen Aporie in Betracht gezogen hat. Die Zurückweisung des Relativismus bildet nicht nur den Schlusspunkt des ersten Teils von Sokrates’ Gespräch mit Hermogenes, sondern auch die Grundlage für den in der direkt anschließenden Werkzeug-Analogie entfalteten Gedankengang. Wie sich im Lauf des Gesprächs zeigen wird, hat Sokrates mit dieser Vermutung den Nagel auf den Kopf getroffen: Kratylos nimmt tatsächlich an, dass die natürliche Richtigkeit vieler Namen in der Übereinstimmung ihres etymologischen Gehalts mit der Natur des Namensträgers besteht. Bemerkenswert ist dabei, dass Sokrates gleich in seinem ersten Gesprächsbeitrag diese Konkretisierung der zunächst abstrakt formulierten These von der natürlichen Namensrichtigkeit als einen nicht besonders raffinierten Witz auf Kosten des Hermogenes charakterisiert und damit die Aura des Tiefsinns durchbricht, mit der sich Kratylos als Vertreter dieser These umgibt. Vgl. dazu die Überlegungen der Einleitung: S. o., 14–16. 4
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Die Exposition von Hermogenes’ These in 383a–386e ist, wie sich bereits dieser kurzen Zusammenfassung entnehmen lässt, von einer merkwürdigen Ambivalenz geprägt: Einerseits scheint Hermogenes nur festhalten zu wollen, was sich aus der Perspektive des common sense über die Richtigkeit der Namen sagen lässt; andererseits bringt Sokrates seine Position mit dem Protagoreischen Relativismus in Verbindung, der offenbar die Auflösung einer Schwierigkeit verspricht, mit der Hermogenes zu kämpfen hat. Wie die im vorliegenden Kapitel zu entwickelnde Analyse der Passage 383a–386e zeigen soll, ist diese Ambivalenz dem Umstand geschuldet, dass Hermogenes zwar tatsächlich einen naheliegenden und plausiblen Gedanken zum Ausdruck bringen will, dabei aber auf eine wichtige begriffliche Differenzierung verzichtet und sich deswegen einer Aporie ausliefert, der nur durch einen so radikalen Schritt wie die Flucht in den Relativismus zu entkommen ist. Platons Inszenierung des ersten, zur Werkzeug-Analogie hinführenden Dialogabschnitts zielt darauf ab, einen aufmerksamen Leser die Notwendigkeit der von Hermogenes selbst nicht getroffenen begrifflichen Differenzierung erkennen zu lassen und ihn so in die Lage zu versetzen, die konventionalistische Position umsichtiger zu formulieren, als Hermogenes es tut. Schon auf den ersten Seiten des Kratylos beginnt Platon also, seinen Leser durch den virtuosen Einsatz der Dialogform so zu führen, wie es in der Einleitung beschrieben wurde: Er lässt ihn Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen aus der Perspektive des Hermogenes verfolgen – und ermöglicht es ihm gleichzeitig, sich der Limitationen dieser Perspektive bewusst zu werden und sie zugunsten einer adäquateren Betrachtungsweise hinter sich zu lassen.
SCHWACHER KONVENTIONALISMUS, STARKER KONVENTIONALISMUS (383a–385b)
Hermogenes ist, nachdem er seinem Ärger über Kratylos Luft gemacht hat, sofort bereit, eine klare eigene These zur Richtigkeit der Namen zu formulieren. Anders als Kratylos präsentiert er sich dabei nicht als enigmatischer Denker, der mit Rätselsprüchen um sich wirft, sondern als Beobachter alltäglicher Sprachpraxis, der mithilfe des gesunden Menschenverstandes seine Schlüsse zieht: Und wahrlich, Sokrates, ich kann meinesteils nicht überzeugt werden, dass es irgendeine andere Richtigkeit der Namen gibt als Konvention und Vereinbarung, obwohl ich schon oft sowohl mit diesem als auch mit vielen anderen diskutiert habe.5 Denn es scheint mir, dass, welchen Namen jemand für etwas festsetzt, dieser der richtige ist; und dass, wenn man wiederum einen anderen an die Stelle 5 Hermogenes verwendet insgesamt vier Terme, um kenntlich zu machen, worin die Richtigkeit der Namen seiner Meinung nach besteht: synthêkê, homologia (beide 384d1 f.), nomos (d6)
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
setzt, jenen aber nicht mehr zum Nennen verwendet, der zweite nicht weniger richtig ist als der erste – wie wenn wir unsere Sklaven umbenennen. Denn zu keiner Sache gehört irgendein Name von Natur aus, sondern durch Brauch und Gewohnheit derer, die Namen zur Gewohnheit gemacht haben6 und zur Benennung verwenden.7
Seine Position bekräftigt er im Grundsatz etwas später noch einmal in Reaktion auf eine Nachfrage des Sokrates, verschärft dabei aber seine ursprüngliche These insofern, als er nun auch die Möglichkeit von Benennungskonventionen anerkennt, die nur von einem einzigen Sprecher befolgt werden: Ich kenne nämlich, Sokrates, keine andere Richtigkeit der Namen als diese, dass es mir möglich ist, jedes Ding mit einem Namen zu nennen, den ich festgesetzt habe, dir aber mit einem anderen, den du deinerseits [festgesetzt hast]. So sehe ich auch, dass jede einzelne Stadt für dieselben Dinge eigene festgelegte Namen hat, sowohl Hellenen im Vergleich zu den anderen Hellenen als auch Hellenen im Vergleich zu Barbaren.8
Auch wenn man diese Verschärfung in Rechnung stellt, scheint es doch ein im Grunde sehr einleuchtender Gedanke zu sein, den Hermogenes zu Beginn seines Gesprächs mit Sokrates zu formulieren sucht: der Gedanke nämlich, dass die Lautfolgen, die als Namen für bestimmte Gegenstände fungieren, sich nach Belieben austauschen lassen. Sein Ausgangspunkt ist dabei offenbar die Opposition gegen die Behauptung, »Hermogenes« sei deswegen nicht sein eigener Name, weil er nicht dem unspezifisch bleibenden Standard natürlicher Richtigkeit genügt, und ethos (d7). Hier werden diese Terme mit »Konvention«, »Vereinbarung«, »Brauch« und »Gewohnheit« wiedergegeben. 6 Auch Schleiermacher, Fowler, Reeve und Ademollo (2011), 41, gehen davon aus, dass ἐθίζω hier transitiv gebraucht wird und von d6 ausgehend ὀνόματα als Objekt zu ergänzen ist. Ein intransitiver Gebrauch dieses Verbs im Aktiv, den einige Übersetzer unterstellen (z. B. Dalimier: »de ceux qui ont coutume de donner les appelations«; Barney (2001), 26: »of those who are accustomed so to call«) ist sonst offenbar erst im ersten Jahrhundert vor Christus bezeugt (LSJ ἐθίζω II). 7 384c10–d7: Καὶ μὴν ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, πολλάκις δὴ καὶ τούτῳ διαλεχθεὶς καὶ ἄλλοις πολλοῖς, οὐ δύναμαι πεισθῆναι ὡς ἄλλη τις ὀρθότης ὀνόματος ἢ συνθήκη καὶ ὁμολογία. ἐμοὶ γὰρ δοκεῖ ὅτι ἄν τίς τῳ θῆται ὄνομα, τοῦτο εἶναι τὸ ὀρθόν· καὶ ἂν αὖθίς γε ἕτερον μεταθῆται, ἐκεῖνο δὲ μηκέτι καλῇ, οὐδὲν ἧττον τὸ ὕστερον ὀρθῶς ἔχειν τοῦ προτέρου, ὥσπερ τοῖς οἰκέταις ἡμεῖς μετατιθέμεθα· οὐ γὰρ φύσει ἑκάστῳ πεφυκέναι ὄνομα οὐδὲν οὐδενί, ἀλλὰ νόμῳ καὶ ἔθει τῶν ἐθισάντων τε καὶ καλούντων. 8 385d7–e3: Οὐ γὰρ ἔχω ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ἄλλην ὀρθότητα ἢ ταύτην, ἐμοὶ μὲν ἕτερον εἶναι καλεῖν ἑκάστῳ ὄνομα, ὃ ἐγὼ ἐθέμην, σοὶ δὲ ἕτερον, ὃ αὖ σύ. οὕτω δὲ καὶ ταῖς πόλεσιν ὁρῶ ἰδίᾳ ἑκάσταις ἐπὶ τοῖς αὐτοῖς κείμενα ὀνόματα, καὶ Ἕλλησι παρὰ τοὺς ἄλλους Ἕλληνας, καὶ Ἕλλησι παρὰ βαρβάρους.
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dem Kratylos zufolge ein Name für Hermogenes (und auch jeder andere Name für jeden anderen Gegenstand) genügen müsste. Dieser Behauptung setzt Hermogenes die These entgegen, »Hermogenes« sei deswegen sehr wohl sein Name, weil die Konvention in Kraft ist, diesen Namen für ihn zu verwenden. Aber da es eben nur die Konvention ist, die die Lautfolge *Hermogenes*9 zu einem Namen für seine eigene Person macht, muss Hermogenes annehmen, dass sich durch die Ablösung dieser Konvention durch eine andere Konvention jede beliebige Lautfolge zu einem Namen für seine eigene Person machen ließe. Wie Hermogenes in 384d5 erwähnt, gibt es ja tatsächlich Fälle, in denen zuerst eine Lautfolge als Name für eine Person fungiert, und dann, nach Etablierung einer neuen Konvention, eine andere Lautfolge;10 und außerdem haben, wie Hermogenes in 385d9–e3 festhält, verschiedene Sprachgemeinschaften verschiedene Lautfolgen zu Namen für dieselben Gegenstände gemacht. Man könnte einwenden, dass Hermogenes zwar vielleicht eine überzeugende Antwort auf die Frage präsentiert, was eine Lautfolge zu einem Namen für bestimmte Gegenstände macht, nicht aber auf die Frage, was eine Lautfolge zu einem richtigen Namen für bestimmte Gegenstände macht. Aber weder er noch Kratylos scheinen einen Unterschied zwischen diesen beiden Fragen zu machen: Wenn Kratylos bestreitet, dass »Hermogenes« den natürlichen Standard erfüllt, den ein Name für Hermogenes erfüllen müsste, will er damit seiner in 383b6 f. zitierten Auskunft zufolge behaupten, dass »Hermogenes« gar nicht als Name für seinen Gesprächspartner gelten kann; und wenn Hermogenes die These formuliert, es gebe keine »andere Richtigkeit der Namen als Konvention und Vereinbarung«, will er offenbar darauf hinaus, dass »Konvention und Vereinbarung« darüber entscheiden, welche Lautfolgen als Namen für welche Gegenstände fungieren. Liest man Hermogenes’ Gleichsetzung der Richtigkeit der Namen mit »Konvention und Vereinbarung« dementsprechend als eine Antwort auf die Frage, was eine Lautfolge zu einem Namen für bestimmte Gegenstände macht, bringt sie tatsächlich einen naheliegenden und plausiblen Gedanken zum Ausdruck. Bemerkenswerterweise ist Hermogenes in der einschlägigen Sekundärliteratur dennoch oftmals als sprachphilosophischer Extremist oder aber als verwirrter Da der Unterschied zwischen bloßen Lautfolgen und eingeführten Namen für die Überlegungen dieser Studie von zentraler Bedeutung ist, soll bei der Nennung von Lautfolgen auf diese Asterisk-Notation zurückgegriffen werden. 10 Einem Sklaven einen neuen Namen zu geben, ist freilich ein Willkürakt, der das Eigenrecht des Benannten dementiert. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Platon Hermogenes dieses Beispiel wählen lässt – denn wie sich noch zeigen wird, droht Hermogenes’ Position tatsächlich, die benannten Gegenstände zu Sklaven menschlicher Benennungspraxis zu degradieren. Vgl. Eckl (2003), 17. 9
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
Dilettant charakterisiert worden.11 Zwei Vorwürfe sind dabei immer wieder gegen ihn erhoben worden: Zum einen bewerte Hermogenes jede Verwendung eines Namens als gleichermaßen korrekt und nivelliere so den Unterschied zwischen korrekten und inkorrekten Namensverwendungen – und damit letztlich auch den Unterschied zwischen wahren und falschen Aussagen. Der entscheidende Punkt sei dabei sein Verzicht auf die Differenzierung zwischen der Einführung eines Namens für bestimmte Gegenstände, bei der tatsächlich keine Fehler möglich seien, weil jede beliebige Lautfolge zu einem Namen für die betreffenden Gegenstände gemacht werden könne, und der Verwendung eines eingeführten Namens, die eben sehr wohl korrekt oder inkorrekt sein könne.12 Zum anderen verweisen seine Kritiker auf den folgenden Austausch des Hermogenes mit Sokrates, in dem Hermogenes die Möglichkeit von Benennungskonventionen einräumt, die von nur einem Sprecher befolgt werden. Damit scheint er die Möglichkeit einer Privatsprache anzuerkennen – was Wittgenstein-geschulten Interpreten natürlich als sprachphilosophischer Sündenfall gelten muss:13 Du sagst, was jemand ein jedes nennt, das ist der Name für jedes? – So scheint es mir. – Sowohl wenn ein Einzelner als auch wenn eine Stadt [es bei diesem Namen] nennt? – Das behaupte ich. – Nun denn: Wenn ich ein beliebiges unter den Seienden – zum Beispiel, was wir nun »Mensch« nennen, wenn ich dies als »Pferd« bezeichne, was wir aber nun »Pferd« nennen, dies als »Mensch« bezeichne, wird der Name für dasselbe öffentlich »Mensch«, privatim aber »Pferd« sein? Und wiederum [wird der Name für das andere] privatim »Mensch«, öffentlich aber »Pferd« sein? Meinst du es so? – So scheint es mir.14 Zu diesem oder einem ähnlich harten Urteil kommen unter anderem die folgenden Interpreten: Robinson (1956), 338; Weingartner (1970), 6 f.; Anagnostopoulos (1972), 696 und 700 f.; Gosling (1973), 204; Kahn (1973), 158 f.; Williams (1982), 90; Heitsch (1984), 10–20; MacKenzie (1986), 126; Palmer (1988), 44–50; Baxter (1992), 18; Bagwell (2011), 18 f.; und Diehl (2012), 24 f. Seit Rachel Barneys überzeugender Kritik an derartigen Interpretationen in ihrem Artikel »Plato on Conventionalism« (in: Phronesis 42 [1997], 143–162) wird Hermogenes von den meisten Kommentatoren milder beurteilt; in den beiden wichtigen Kommentaren von Sedley (2003), 51–54, und Ademollo (2011), 37–48, wird er dementsprechend als ein Vertreter des common sense charakterisiert. 12 Vgl. Gold (1978), 242 f., Williams (1982), 90, MacKenzie (1986), 126, und Diehl (2012), 23. 13 Alle in Anm. 11 als Kritiker des Hermogenes genannten Autoren halten die Anerkennung der Möglichkeit privater Benennungskonventionen für eine entscheidende Schwäche der Position des Hermogenes. Uneinigkeit besteht lediglich in der Frage, ob Hermogenes selbst von Anfang an die Möglichkeit privater Benennungskonventionen behaupten will, wie die meisten Interpreten annehmen, oder Sokrates es ist, der ihn durch ein geschicktes Manöver dazu bringt, diese Behauptung zu treffen, wie etwa Gosling (1973), 200–206, und Heitsch (1984), 12, glauben. 14 385a2–b1: Ὃ ἂν φῂς καλῇ τις ἕκαστον, τοῦθ’ ἑκάστῳ ὄνομα; – Ἔμοιγε δοκεῖ. – Καὶ ἐὰν ἰδιώτης καλῇ καὶ ἐὰν πόλις; – Φημί. – Τί οὖν; ἐὰν ἐγὼ καλῶ ὁτιοῦν τῶν ὄντων, οἷον ὃ νῦν καλοῦμεν ἄνθρωπον, ἐὰν ἐγὼ τοῦτο ἵππον προσαγορεύω, ὃ δὲ νῦν ἵππον, ἄνθρωπον, ἔσται 11
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Wie Rachel Barney gezeigt hat,15 erweist sich allerdings bei genauerer Betrachtung keiner dieser beiden Vorwürfe gegen Hermogenes als berechtigt. Was den ersten Vorwurf anbetrifft, wird nämlich bei einer sorgfältigen Lektüre der beiden bereits zitierten Passagen 384c10–d7 und 385d7–e3, in denen Hermogenes seine Position darlegt, deutlich, dass Hermogenes sogar terminologisch unterscheidet zwischen dem Akt des tithenai, der Festsetzung eines Namens für bestimmte Gegenstände, und dem Akt des kalein, der Verwendung des Namens für einen Gegenstand.16 Sein Beispiel der Umbenennung eines Sklaven legt die Vermutung nahe, dass Hermogenes sich die Etablierung einer Benennungskonvention vorstellt wie einen Taufakt:17 So dürften seine eigenen Eltern nach der Geburt die Konvention etabliert haben, die Lautfolge *Hermogenes* als Namen für ihren Sohn zu verwenden, und so den Namen »Hermogenes« eingeführt haben; sie hätten aber auch keinen Fehler gemacht, wenn sie stattdessen die Lautfolge *Sokrates* oder *Kratylos* zu seinem Namen gemacht hätten. Während also auf der Ebene des tithenai keine Fehler gemacht werden können, sind auf der Ebene des kalein Fehler durchaus möglich: So ist es beispielsweise inkorrekt, den einmal eingeführten Namen »Hermogenes« auf Sokrates anzuwenden. Hermogenes ist dabei nur konsequent, wenn er anerkennt, dass eine Konvention wie diejenige, die Lautfolge *Hermogenes* als Namen für seine eigene Person zu verwenden, jederzeit durch eine andere Konvention ersetzt werden kann. Natürlich können häufige Konventionsänderungen die Kommunikation verkomplizieren, aber es spricht nicht gegen Hermogenes’ Position, dass sie diese theo-
δημοσίᾳ μὲν ὄνομα ἄνθρωπος τῷ αὐτῷ, ἰδίᾳ δὲ ἵππος; καὶ ἰδίᾳ μὲν αὖ ἄνθρωπος, δημοσίᾳ δὲ ἵππος; οὕτω λέγεις; – Ἔμοιγε δοκεῖ. In a2 wäre statt der von Burnet, den Herausgebern des OCT und Ademollo (2011), 42, Anm. 19, im Ausgang von T (m. rec. in Ven. app. cl. 4.54) vertretenen und hier zugrunde gelegten Lesart ὃ ἂν φῂς καλῇ τις ἕκαστον auch ὃ ἐὰν θῇ καλεῖν τις ἕκαστον denkbar – so Meridier, Fowler, Dalimier, Reeve, und Barney (2001), 147 mit Anm. 13. Zwar kann sich diese Lesart auf die meisten Handschriften der Familien β und W stützen, aber dennoch ist die Lektüre von T als lectio difficilior vorzuziehen. 15 Siehe Barney (1997). 16 Siehe insbesondere seine Formulierungen in 384d2–5 – ἐμοὶ γὰρ δοκεῖ ὅτι ἄν τίς τῳ θῆται ὄνομα, τοῦτο εἶναι τὸ ὀρθόν· καὶ ἂν αὖθίς γε ἕτερον μεταθῆται, ἐκεῖνο δὲ μηκέτι καλῇ, οὐδὲν ἧττον τὸ ὕστερον ὀρθῶς ἔχειν τοῦ προτέρου – und 385d7–9 – οὐ γὰρ ἔχω ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ἄλλην ὀρθότητα ἢ ταύτην, ἐμοὶ μὲν ἕτερον εἶναι καλεῖν ἑκάστῳ ὄνομα, ὃ ἐγὼ ἐθέμην, σοὶ δὲ ἕτερον, ὃ αὖ σύ (Kursivierung jeweils nicht im Original). Vgl. zur Differenzierung zwischen tithenai und kalein Barney (1997), 149 f. Bereits Richardson (1976), 136 f., hat in diesem Sinne für eine wohlwollende Interpretation der Position des Hermogenes plädiert, ohne diese Interpretation im Detail zu belegen. 17 Man beachte in diesem Zusammenhang, dass die Benennung eines Kindes ein Fall von tihenai ist (LSJ τίθημι A.IV: »give a child a name at one’s own discretion«).
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
retische Möglichkeit nicht ausschließt.18 Prinzipiell kann auch dann zwischen der Einführung eines Namens durch die Etablierung einer Konvention und den folgenden Verwendungen des Namens unterschieden werden, wenn häufige Konventionswechsel es schwierig machen sollten, in concreto zu erkennen, welcher möglicherweise sogar privaten Konvention ein Akt des Namensgebrauchs folgt. Unterstellt man Hermogenes trotz seiner konsequenten Verwendung der Terme tithenai und kalein die Verkennung dieses prinzipiellen Unterschiedes, schreibt man ihm ohne Not eine extremistische oder sehr schlecht durchdachte Position zu und verstößt damit gegen das Prinzip wohlwollender Interpretation.19 Man wird Hermogenes also nicht vorwerfen können, dass er der Differenz zwischen korrektem und inkorrektem Namensgebrauch deswegen nicht Rechnung tragen kann, weil er nicht zwischen der Einführung eines Namens für bestimmte Gegenstände und seiner nachfolgenden Verwendung unterscheidet. Wie aber verhält es sich mit dem zweiten, auf Hermogenes’ Anerkennung der Möglichkeit von privaten Benennungskonventionen in 385a6–b1 gemünzten Vorwurf? Seine Kritiker befürchten, dass Hermogenes sich mit diesem Schritt auf einen Konventionalismus verpflichtet, der die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Namensverwendungen abhängig macht von den Entscheidungen und Meinungen einzelner Sprecher und deswegen in einem unhaltbaren Subjektivismus zu münden droht.20 Hinter ihrer Befürchtung scheint das folgende – kaum je explizit gemachte – Argument zu stehen: (1) Angenommen, eine Benennungskonvention wird nur von einem einzigen Sprecher – er heiße Monas – befolgt. (2) Unter dieser Voraussetzung kann nur Monas beurteilen, ob eine bestimmte Verwendung des Namens, dessen Gebrauch durch diese Konvention regiert wird, richtig oder falsch ist. Barney (1997), 154, stellt in diesem Zusammenhang aber mit Recht fest: »And even at the level of practice, matters are not really so grim. I may accept Hermogenes’ views and never choose to avail myself of a private naming convention. Hermogenes himself does not: it is Cratylus who speaks opaquely. (Interpreters tend to talk as though Hermogenes demanded that everyone adopt constantly changing private naming connventions.)« 19 Selbstverständlich ist die Anwendung dieses Prinzips auf Platonische Dialoge eine diffi zile Angelegenheit, weil Platon in einigen Fällen Figuren nicht die bestmögliche Version einer These vertreten lässt. Im Fall des Hermogenes gibt es aber keinen Hinweis darauf, dass Platon eine solche Strategie verfolgt – ganz im Gegenteil erhält Hermogenes sogar Gelegenheit, sich gegen den Protagoreischen Relativismus abzugrenzen, den er als extremistischer Konventionalist akzeptieren müsste, und gibt auf Sokrates’ Frage in 385d7–e3 eine Antwort, die im Hinblick auf die terminologische Differenzierung zwischen tithenai und kalein an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. 20 Auch in diesem Punkt sind sich die in Anm. 11 genannten Kritiker des Hermogenes einig. 18
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(3) Das aber bedeutet, dass die Verwendung des Namens für einen Gegenstand genau dann richtig ist, wenn Monas sie für richtig hält, und genau dann falsch ist, wenn Monas sie für falsch hält. (4) Daraus folgt, dass Aussagen, die mithilfe des Namens getroffen werden, genau dann wahr sind, wenn Monas sie für wahr hält, und genau dann falsch, wenn Monas sie für falsch hält. (4) impliziert nur einen partiellen Subjektivismus, weil das Argument sich auf die Betrachtung einer einzigen Benennungskonvention beschränkt hat. Aber wenn man annähme, dass Monas ausschließlich privaten Benennungskonventionen folgt, ließe sich die stärkere Schlussfolgerung ziehen, dass die Wahrheit oder Falschheit all seiner Aussagen einzig und allein von seinen Meinungen und Entscheidungen abhängig ist. Wäre das vorgestellte Argument valide, könnte es daher tatsächlich als reductio ad absurdum von Hermogenes’ Anerkennung der Möglichkeit privater Benennungskonventionen gelten. Starke Zweifel an der Validität des skizzierten Arguments sind freilich allein schon deswegen angebracht, weil sich offenbar ein analoges Argument für die These konstruieren lässt, dass dann, wenn genau tausend Sprecher eine bestimmte Benennungskonvention befolgen, die Richtigkeit oder Falschheit von Verwendungen des betreffenden Namens nicht von den Meinungen und Entscheidungen dieser tausend Sprecher unabhängig sein kann. Akzeptiert man die vermeintliche reductio ad absurdum von Hermogenes’ Anerkennung der Möglichkeit privater Benennungskonventionen, wird man daher die Objektivität des Unterschieds zwischen korrekten und inkorrekten Verwendungen eines Namens generell in Frage stellen müssen. Umgekehrt ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, warum es für zwanzig, fünf oder zwei Sprecher möglich sein sollte, teilweise oder gänzlich anderen Benennungskonventionen zu folgen als der Rest ihrer Sprachgemeinschaft, aber nicht für einen einzelnen Sprecher.21 Bei genauerer Betrachtung wird auch deutlich, wie problematisch der für das Argument entscheidende Übergang von (2) zu (3) ist. Dieser Übergang wäre nur dann plausibel, wenn (2) besagte, dass es für andere Sprecher prinzipiell unmöglich ist, die Verwendung des von Monas’ privater Benennungskonvention regierten Namens kompetent als richtig oder falsch zu beurteilen. Wenn (2) hingegen nur besagt, dass de facto nur Monas zu einem kompetenten Urteil in der Lage ist, weil er beispielsweise die fragliche Benennungskonvention geheim hält, es aber für andere Sprecher nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, diese Benennungskon-
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Vgl. zu diesem letzten Punkt Rijlaarsdam (1978), 48 f.
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vention ebenfalls zu befolgen und ihre Einhaltung kompetent zu beurteilen, kann man den Schluss auf (3) offenbar vermeiden.22 Hermogenes scheint aber nur im Sinne der zweiten, unproblematischen Interpretation von (2) behaupten zu wollen, dass ein einzelner Sprecher eine Benennungskonvention etablieren kann, der de facto nur er folgt; er scheint keineswegs die Möglichkeit von privaten Benennungskonventionen einzuräumen, die von anderen Sprechern aus prinzipiellen Gründen nicht befolgt werden können. Dementsprechend stellt er nirgendwo die These auf, es sei im Falle einer privaten Benennungskonvention von den Meinungen und Entscheidungen des sie befolgenden Sprechers abhängig, ob eine konkrete Namensverwendung korrekt oder inkorrekt ist.23 Seine Unterscheidung zwischen tithenai und kalein, zwischen dem Akt der Festsetzung eines Namens und dem Akt seines Gebrauchs, lässt sich auch in diesem Fall gewinnbringend einsetzen: Auch ein einzelner Sprecher kann neue Benennungskonventionen einführen und ist vollkommen souverän in seiner Entscheidung, welche Lautfolge er zu einem Namen für bestimmte Gegenstände machen möchte (tithenai); aber ob der eingeführte Name richtig oder falsch gebraucht wird (kalein), hängt nicht von ihm ab. Hermogenes ist also tatsächlich darum bemüht, dem gesunden Menschenverstand im Angesicht der enigmatischen Aphorismen des Kratylos eine Stimme zu verleihen. Die bisherigen Überlegungen legen die Vermutung nahe, dass Hermogenes dabei folgendes Prinzip zum Ausdruck zu bringen versucht: Schwacher Konventionalismus:24 Wenn eine Lautfolge durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem (richtigen) Namen für bestimmte Gegenstände gemacht werden kann, so kann auch jede beliebige andere Lautfolge durch die Etablierung einer alternativen Konvention zu einem (richtigen) Namen für diese Gegenstände gemacht werden.25 Auch Wittgensteins Überlegungen zu einer privaten Sprache, die ein Mensch zur Notation seiner Empfindungen nutzt (Philosophische Untersuchungen, §§243–315), müssen nicht als Nachweis der Undenkbarkeit einer Sprache interpretiert werden, die de facto nur ein Sprecher spricht, sondern können auch als Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer notwendigerweise privaten Sprache gelesen werden. Im Ausgang von einer ganz ähnlichen Differenzierung gelangt David Lewis zu der These, man könne auch im Falle eines sein ganzes Leben in Isolation verbringenden Menschen, der auf wundersamen Wegen seine eigene Sprache entwickelt, cum grano salis davon sprechen, dass dieser Mensch sprachlichen Konventionen folgt: »We might think of the situation as one in which a convention prevails in the population of different time-slices of the same man« (Lewis (1983), 182). 23 Zu einem ähnlichen Urteil kommen neben Barney (1997), 152–156, auch Keller (2000), 288 f., Sedley (2003), 53 f., Rotondaro (2005), 44 f., und Ademollo (2011), 43–48. 24 Der SCHWACHE KONVENTIONALISMUS entspricht Palmers »superficial conventionalism«: Palmer (1988), 27. 25 Ließe sich dieses Prinzip nicht einfacher folgendermaßen formulieren: »Eine beliebige 22
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Der Schwache Konventionalismus ist, zumindest auf den ersten Blick, eine sehr plausible Position – denn es scheint sich schwerlich bestreiten zu lassen, dass es (abgesehen von bestimmten praktischen Schwierigkeiten26) nichts gibt, was Sprecher daran hindern könnte, eine beliebige Lautfolge zu einem Namen für bestimmte Gegenstände zu machen. Formulierte Hermogenes unzweideutig diese und nur diese Position, wäre daher schwer zu erkennen, was Sokrates gegen ihn vorbringen könnte. Aber während der Schwache Konventionalismus aller Wahrscheinlichkeit nach der adäquate Ausdruck dessen ist, was Hermogenes zu sagen versucht und aufgrund seiner empirischen Beobachtungen auch sagen sollte, verzichtet Hermogenes selbst auf eine subtile begriffliche Unterscheidung, ohne die sich der Schwache Konventionalismus nicht klar formulieren lässt – die Unterscheidung zwischen Namen für Gegenstände und (bloßen) Lautfolgen. Trifft man diese Unterscheidung, wird man die Situation, in der Monas alle Menschen als »Pferd« bezeichnet, während alle anderen Sprecher des Deutschen Pferde so nennen, nicht mehr als eine Situation beschreiben müssen, in der ein und derselbe Name auf zwei verschiedene Weisen eingesetzt wird: Man wird vielmehr sagen können, dass Monas und die anderen Sprecher zwei verschiedene Namen verwenden, die in ihrer Lautgestalt übereinstimmen, oder dass sie aus ein und derselben Lautfolge durch die Etablierung entsprechender Konventionen verschiedene Namen gemacht haben. Welch großen Vorteil eine solche Beschreibungsweise hat, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch deutlich werden. Hermogenes differenziert nun aber in seinen Ausführungen nicht nur nicht zwischen Lautfolgen und Namen: Der allererste Satz seines bereits zu Beginn des vorliegenden Abschnitts zitierten Referats der Position des Kratylos legt sogar die (in der Sekundärliteratur weithin akzeptierte)27 Vermutung nahe, dass er ganz Lautfolge kann durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem (richtigen) Namen für bestimmte Gegenstände gemacht werden«? Hier wird deswegen die umständlichere Formulierung gewählt, weil nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden kann, dass sich für bestimmte Sets von Gegenständen – etwa das Set, das sich aus dem Autor dieser Zeilen, der Zahl 5 und dem Petersdom zusammensetzt – überhaupt kein richtiger Name einführen lässt. Wie sich später zeigen wird, scheint zumindest Sokrates tatsächlich anzunehmen, dass sich für eine Klasse von Gegenständen nur dann ein richtiger Name einführen lässt, wenn diese Gegenstände eine echte Art bilden, die von einer gemeinsamen ousia zusammengehalten wird: Vgl. dazu die Überlegungen des dritten Kapitels. Dieser Zusammenhang dürfte freilich Hermogenes keineswegs klar vor Augen stehen. Insofern involviert die Behauptung, der SCHWACHE KONVENTIONALISMUS sei der adäquate Ausdruck des Gedankens, den Hermogenes zu formulieren sucht, eine Idealisierung. 26 So wird es beispielsweise kaum möglich sein, eine unaussprechliche Lautfolge zu einem Namen für bestimmte Gegenstände zu machen; und ebenso verhält es sich mit einer Lautfolge, die so lang ist, dass sie sich gar nicht mehr in einem Stück aussprechen lässt. 27 Die betreffenden Autoren vertreten oft auch die Annahme, Platon selbst setze Namen und
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
bewusst von der Voraussetzung ausgeht, ein Name für bestimmte Gegenstände sei ein morion tês phônês, ein »Teil der Stimme« – und damit nichts anderes als eine Lautfolge.28 Hermogenes würde demnach die Situation, in der eine Sprachgemeinschaft die Lautfolge *Hermogenes* zu einem Namen für seine eigene Person und eine andere Sprachgemeinschaft sie zu einem Gattungsnamen für die Menschen gemacht hat, anders beschreiben als soeben geschehen – als eine Situation nämlich, in der zwei Sprachgemeinschaften denselben Namen auf unterschiedliche Weisen einzusetzen gewöhnt sind. Nur vor dem Hintergrund seiner Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen ergibt auch Hermogenes’ bereits zitierte Behauptung Sinn, »dass, welchen Namen jemand für etwas festsetzt, dieser der richtige ist; und dass, wenn man wiederum einen anderen an die Stelle setzt, jenen aber nicht mehr zum Nennen verwendet, der zweite nicht weniger richtig ist als der erste.« Diese Behauptung setzt nämlich offenkundig voraus, dass Namen sprachliche Einheiten sind, deren Identität nicht davon abhängt, wie Sprecher sie gewohnheitsmäßig verwenden. Namen in diesem Sinne mit Lautfolgen zu identifizieren ist auf den ersten Blick auch durchaus einleuchtend, insbesondere für jemanden wie Hermogenes, der sich im Sinne des common sense gern auf das stützt, was sich empirisch beobachten lässt; denn einen sinnlich wahrnehmbaren Unterschied zwischen Namen und Lautfolgen gibt es eben nicht.29 Nimmt man Hermogenes beim Wort und verzichtet darauf, zur Klärung seiner Position auf die von ihm selbst nicht vorgenommene Differenzierung zwischen Lautfolgen und Namen zurückzugreifen, wird man ihm also die folgende These zuschreiben müssen: Starker Konventionalismus:30 Es hängt einzig und allein von menschlichen
Lautfolgen gleich: So etwa Anagnostopoulos (1972), 693 f.; Bestor (1980), 310 f.; Baxter (1992), 10; Ackrill (1994), 20 f.; Barney (2001), 7 f.; Ademollo (2011), 2 f. Aber auch die allermeisten Interpreten, die nicht explizit von einer Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen ausgehen, verzichten auf die entscheidende Klarstellung, dass ein und dieselbe Lautfolge von verschiedenen Sprachgemeinschaften zu verschiedenen Namen gemacht werden kann. Die hervorragenden Aufsätze von Gold (1978) und Ketchum (1979) sind in dieser Hinsicht Ausnahmen. 28 Vgl. Barney (2001), 7. 29 Vgl. zu diesem Punkt die Überlegungen des sechsten Kapitels. 30 Der STARKE KONVENTIONALISMUS fällt nicht mit Palmers »extreme conventionalism« zusammen: »extreme conventionalism […] asserts that the distinctions we make among things exist only by convention« (Palmer (1988), 28). Palmers Versuch, einige von Hermogenes’ Behauptungen als Stellungnahmen für einen »extreme conventionalism« zu interpretieren (Palmer (1988), 44–50), überzeugt nicht – Hermogenes ist weit davon entfernt, irgendwelche skandalösen Thesen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aufzustellen. Der »extreme conventionalism« ist allerdings – aus Gründen, die Hermogenes selbst nicht recht zu durchschauen scheint – eine
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Entscheidungen ab, ob ein Name ein (richtiger) Name für bestimmte Gegenstände ist oder nicht.31
Der Starke Konventionalismus dürfte dem Reflexionsstand der allermeisten Leser zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit dem Kratylos entsprechen: Denn auch ihre direkte Erfahrung zwingt sie nicht zu einer Differenzierung zwischen Namen und Lautfolgen. Ebenso wenig wie Hermogenes selbst haben sie sich freilich aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst dafür entschieden, den Starken Konventionalismus statt des Schwachen Konventionalismus zu vertreten – der Unterschied zwischen diesen beiden Thesen ist ja nur für denjenigen überhaupt zu erkennen, der sich bereits von der Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen gelöst hat. Dabei handelt es sich um einen höchst bedeutungsvollen Unterschied: Denn während der Starke Konventionalismus offenkundig mit der Behauptung einer natürlichen Richtigkeit der Namen unverträglich ist, lässt sich auf den ersten Blick nicht erkennen, ob das für den Schwachen Konventionalismus auch gilt. Hermogenes’ feste Überzeugung, seine sehr plausiblen konventionalistschen Intuitionen seien mit dieser Behauptung unvereinbar, verdankt sich also möglicherweise der Tatsache, dass er seinen Intuitionen durch eine Formulierung Ausdruck verleiht, die im Hinblick auf die Frage nach der Richtigkeit der Namen eine falsche Eindeutigkeit vorgaukelt. Wie unglücklich diese Formulierung tatsächlich ist, werden die beiden folgenden Abschnitte zeigen.
Wahre und falsche Namen? (385b–d)
Im direkten Anschluss an die bereits zitierte Anerkennung der Möglichkeit privater Benennungskonventionen durch Hermogenes in 385a2–b1 entwickelt Sokrates ein in der Sekundärliteratur höchst umstrittenes Argument, ohne deutlich zu machen, in welchem Verhältnis dieses Argument und seine Schlussfolgerung zu Hermogenes’ Überlegungen stehen. Sokrates bemüht sich dabei um den Nachweis, dass es deswegen möglich sein muss, wahre und falsche Namen zu sagen, weil es möglich ist, wahre und falsche Sätze zu formulieren: mögliche Implikation des STARKEN KONVENTIONALISMUS: Vgl. dazu die Überlegungen im dritten Abschnitt dieses Kapitels. Anders als Palmer schreibt Ketchum (1979), 134, Hermogenes eine These zu, die dem STARKEN KONVENTIONALISMUS sehr nahe kommt: »For any name ›x‹ and any thing y it is possible for ›x‹ to be a name of y.« Ketchum sieht auch ganz richtig, dass sich das Argument der Werkzeug-Analogie gegen diese These richtet: S. u., Anm. 74 im dritten Kapitel. 31 Bei der Formulierung des STARKEN KONVENTIONALISMUS , der ja widerspiegeln soll, was Hermogenes tatsächlich sagt, wurde auf die in Anm. 25 erwähnte Idealisierung verzichtet.
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
Nun los, sage mir dies: Nennst du etwas Wahres sagen und Falsches? – Tue ich. – Also gibt es einen wahren Satz32 und einen falschen? – Sicherlich. – Ist also derjenige, welcher von dem, was ist, sagt, wie33 es ist, wahr, und derjenige, welcher [sagt], wie es nicht ist, falsch? – Ja. – Dies ist also möglich, mit einem Satz das zu sagen, was ist und was nicht ist?34 – Sicherlich. – Der wahre Satz aber, ist der als Ganzer wahr, seine Teile hingegen nicht wahr? – Nein, sondern auch die Teile. – Und sind die großen Teile wahr, die kleinen hingegen nicht? Oder alle? – Alle, glaube ich. – Gibt es nun irgendetwas anderes, das du als einen kleineren Teil des Satzes sagst als einen Namen? – Nein, sondern dieser ist am kleinsten. – Also auch der Name, der des wahren Satzes, wird gesagt? – Ja. – Und zwar wahr, wie du sagst. – Ja. – Aber ist der Teil des falschen Satzes nicht falsch? – Das behaupte ich. – Es ist also möglich, einen falschen und einen wahren Namen zu sagen, wenn auch [einen wahren und falschen] Satz? – Wie denn auch nicht?35
Kein anderer Passus des Kratylos dürfte wohl so viel kritische Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben wie dieser. Allem Anschein nach präsentiert Sokrates hier nämlich ein schlechtes Argument für eine falsche Konklusion, deren Relevanz für den dialektischen Kontext nicht zu erkennen ist. Falsch scheint die Konklusion seines Arguments deswegen zu sein, weil Namen als unstrukturierte sprachliche 32 Auch wenn Platon eine längere Rede, ein Argument, eine Erklärung, eine Definition etc. ebenfalls als λόγος bezeichnen kann, macht der Kontext, in dem es auf die Wahrheitsfähigkeit des λόγος ankommt, die Wiedergabe mit »Satz« sehr plausibel. 33 Zur Rechtfertigung der Übersetzung von ὡς mit »wie« statt mit »dass« s. Ademollo (2011), 50–53. 34 Pfeiffer (1972), 92 f., argumentiert dafür, die Frage Ἔστιν ἄρα τοῦτο, λόγῳ λέγειν τὰ ὄντα τε καὶ μή; nicht im Sinne von Ἔστιν ἄρα τοῦτο, λόγῳ λέγειν τὰ ὄντα τε καὶ τὰ μὴ ὄντα; aufzufassen, wie es in der vorgeschlagenen Übersetzung im Einklang mit beinah allen verfügbaren Übersetzungen getan wird, sondern im Sinne von Ἔστιν ἄρα τοῦτο, λόγῳ λέγειν τὰ ὄντα τε καὶ μὴ τὰ ὄντα λέγειν; – was ihn zu der Übersetzung »This, then, is possible: in discourse to say the things that are and not [to say the things that are]« führt. Seiner Meinung nach ist dieses Verständnis des Satzes der üblichen Interpretation vorzuziehen, weil es nicht das Problem des Nichtseienden aufwerfe, das Platon erst im Sophistes löse. Es scheint allerdings, als werde dieses Problem ohnehin schon von dem ὡς οὐκ ἔστιν in 385b8 aufgeworfen, so dass Pfeiffers Vorschlag diesbezüglich keinen Gewinn bringt. 35 385b2–d1: Φέρε δή μοι τόδε εἰπέ· καλεῖς τι ἀληθῆ λέγειν καὶ ψευδῆ; – Ἔγωγε. – Οὐκοῦν εἴη ἂν λόγος ἀληθής, ὁ δὲ ψευδής; – Πάνυ γε. – Ἆρ’ οὖν οὗτος ὃς ἂν τὰ ὄντα λέγῃ ὡς ἔστιν, ἀληθής·ὃς δ’ ἂν ὡς οὐκ ἔστιν, ψευδής; – Ναί. – Ἔστιν ἄρα τοῦτο, λόγῳ λέγειν τὰ ὄντα τε καὶ μή; – Πάνυ γε. – Ὁ λόγος δ’ ἐστὶν ὁ ἀληθὴς πότερον μὲν ὅλος ἀληθής, τὰ μόρια δ’ αὐτοῦ οὐκ ἀληθῆ; – Οὔκ, ἀλλὰ καὶ τὰ μόρια. – Πότερον δὲ τὰ μὲν μεγάλα μόρια ἀληθῆ, τὰ δὲ σμικρὰ οὔ· ἢ πάντα; – Πάντα, οἶμαι ἔγωγε. – Ἔστιν οὖν ὅτι λέγεις λόγου σμικρότερον μόριον ἄλλο ἢ ὄνομα; – Οὔκ, ἀλλὰ τοῦτο σμικρότατον. – Καὶ τὸ ὄνομα ἄρα τὸ τοῦ ἀληθοῦς λόγου λέγεται; – Ναί. – Ἀληθές γε, ὡς φῄς. – Ναί. – Τὸ δὲ τοῦ ψεύδους μόριον οὐ ψεῦδος; – Φημί. – Ἔστιν ἄρα ὄνομα ψεῦδος καὶ ἀληθὲς λέγειν, εἴπερ καὶ λόγον; – Πῶς γὰρ οὔ;
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Einheiten im Gegensatz zu Sätzen nicht wahr oder falsch sein können, wie Platon selbst den Eleatischen Fremden im Sophistes (261c–263d) zeigen lässt. Schlecht ist Sokrates’ Argument auf den ersten Blick deswegen, weil er aus der Tatsache, dass einem Satz als einer komplexen sprachlichen Einheit die Eigenschaft der Wahrheit oder Falschheit zukommt, zu schließen scheint, dass den Namen als Teilen dieser komplexen Einheit dieselbe Eigenschaft zukommen muss. Das aber ist ein offenkundiger Fehlschluss, der in der angelsächsischen Sekundärliteratur als »fallacy of division«36 bekannt ist. Die dialektische Relevanz von Sokrates’ Argument schließlich ist deswegen nicht zu erkennen, weil es weder der Schärfung der Position des Hermogenes zu dienen noch die Modifikation oder gar die Aufgabe dieser Position erforderlich zu machen scheint – wie Hermogenes’ völlig unbeeindruckte Bekräftigung seiner These im direkten Anschluss an Sokrates’ Schlussfolgerung (385d7–e3) zeigt. Insbesondere diese letzte, extrem hartnäckige Schwierigkeit 37 hat sogar zu massiven Eingriffen in den Text Anlass gegeben, die keinerlei Rückhalt in den 36 Robinson (1956), 328. Den Fehlschluss diagnostiziert aber auch schon Schaarschmidt (1865), 332 f. – und wertet seine Diagnose als einen Beleg für die Inauthentizität des Kratylos. 37 Schofield (1972), 248, stützt seine These, Sokrates’ Argument könne nicht an die Stelle zwischen 385b1 und 385d2 gehören, zudem auf die philologische Beobachtung, dass der Übergang von der Reaktion des Hermogenes auf die Konklusion des Arguments in 385d1 zu den unmittelbar folgenden Zeilen d2 f., in denen Sokrates eine Rückfrage zur Position des Hermogenes stellt, sprachlich holprig wirkt. Denn Sokrates verwendet in dieser Rückfrage – »Wovon also jeder sagt, dass es der Name für etwas ist, dies ist der Name für jeden?« – den Partikel ara, der üblicherweise eine Schlussfolgerung anzeigt, die aus unmittelbar zuvor eingeräumten Prämissen gezogen werden kann. Sokrates’ Frage kann aber nicht als Versuch interpretiert werden, einen Schluss aus den Ausführungen der vorangehenden Zeilen zu ziehen – denn diese Ausführungen sollten zeigen, dass wahre und falsche Namen gesagt werden, und sind für die Frage des Sokrates irrelevant. Unmittelbar anknüpfen könnte diese Frage hingegen an die Antwort des Hermogenes in 385b1, mit der er die Möglichkeit privater Benennungskonventionen einräumt. Es gibt allerdings durchaus Stellen im Platonischen Corpus, an denen ara eingesetzt wird, um eine Schlussfolgerung zu markieren, die nicht aus unmittelbar zuvor eingeräumten Prämissen abgeleitet wird. So verhält es sich beispielsweise in Kri. 50e7–51a7, wo Sokrates als Verkörperung der Gesetze der polis die folgende Doppelfrage stellt: ἢ πρὸς μὲν ἄρα σοι τὸν πατέρα οὐκ ἐξ ἴσου ἦν τὸ δίκαιον καὶ πρὸς δεσπότην, εἴ σοι ὢν ἐτύγχανεν, ὥστε ἅπερ πάσχοις ταῦτα καὶ ἀντιποιεῖν, οὔτε κακῶς ἀκούοντα, ἀντιλέγειν οὔτε τυπτόμενον ἀντιτύπτειν οὔτε ἄλλα τοιαῦτα πολλά· πρὸς δὲ τὴν πατρίδα ἄρα καὶ τοὺς νόμους ἐξέσται σοι, ὥστε, ἐάν σε ἐπιχειρῶμεν ἡμεῖς ἀπολλύναι δίκαιον ἡγούμενοι εἶναι, καὶ σὺ δὲ ἡμᾶς τοὺς νόμους καὶ τὴν πατρίδα καθ᾽ ὅσον δύνασαι ἐπιχειρήσεις ἀνταπολλύναι, καὶ φήσεις ταῦτα ποιῶν δίκαια πράττειν, ὁ τῇ ἀληθείᾳ τῆς ἀρετῆς ἐπιμελόμενος; Das ἄρα in 50e7 muss sich dabei auf die in 48b–49e etablierte Prämisse zurückbeziehen, es sei nie richtig, einen ungerechten Akt durch einen weiteren ungerechten Akt zu vergelten; dass dieses Ergebnis als Basis für einen Schluss fungieren soll, wird auch durch das ἐκ τούτων δὴ ἄθρει in 49e9 bestätigt. Schofields Annahme, das ara in 385d2 könne sich nicht auf 385b1 zurückbeziehen, ist demnach zurückzuweisen. Es gibt daher keinen zwingenden philologischen Grund für die Streichung
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
Handschriften finden: Zum einen ist für eine Umstellung des überlieferten Textes plädiert worden, bei der Sokrates’ Argument von der Stelle zwischen 385b1 und 385d2, an der es allen Handschriften zufolge steht, an die Stelle zwischen 387c5 und 387c6 gerückt werden sollte, wo es sich dieser Interpretation zufolge gut in den Gedankengang einfügt.38 Zum anderen ist die mindestens ebenso radikale These vertreten worden, dass dieses Argument überhaupt nicht in die finale Version des Kratylos gehört und daher aus dem Text entfernt werden sollte.39 Wie die folgenden Überlegungen zeigen sollen, ist es allerdings vollkommen unnötig, sich der Passage 385b2–d1 mit der philologischen Brechstange statt mit dem philosophischen Skalpell zu nähern. Dabei soll (i) zunächst Sokrates’ Konklusion gegen den Vorwurf des logischen Kategorienfehlers verteidigt werden. Dann wird (ii) zu demonstrieren sein, dass die Einschätzung, Sokrates’ Argument beruhe auf der »fallacy of division«, zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, sich aus seinen Ausführungen aber dennoch eine überzeugende Begründung für seine Schlussfolgerung gewinnen lässt. Vor allem aber wird (iii) die Unverzichtbarkeit dieser Schlussfolgerung für die philosophische Dynamik des Gesprächs zwischen Sokrates und Hermogenes nachgewiesen werden. Sokrates erreicht nämlich, wie sich zeigen wird, in 385b2–d1 eine neue Bestimmung des oder Transposition von 385b2–d1. (Freilich wäre es sogar dann, wenn man Schofields Argument akzeptieren müsste, unverantwortlich, makroinvasiv die ganze Passage 385b2–d1 zu streichen oder zu transponieren, statt mikroinvasiv eine Modifikation von Sokrates’ Frage in 385d2 f. vorzunehmen, etwa die Ersetzung oder Streichung des ara. Radikale Maßnahmen, wie Schofield sie vorschlägt, wären höchstens dann gerechtfertigt, wenn sich wirklich nicht erklären ließe, wieso Platon dieses Argument an dieser Stelle platziert haben sollte.) 38 Dieser Vorschlag wird in Schofield (1972) entwickelt und von Reeve und Barney (2001), 28 Anm. 9, akzeptiert. 39 Diesen Schluss scheinen die Herausgeber der OCT-Ausgabe zu ziehen, wenn sie Sokrates’ Argument an seiner von den Handschriften überlieferten Stelle nur eingeklammert abdrucken. Sie unternehmen allerdings nicht den Versuch, zu erklären, wieso die Passage von allen Handschriften an dieser Stelle überliefert wird. Diesbezüglich vertritt David Sedley die abenteuerliche These, Sokrates’ Argument sei Teil einer vorläufigen Version des Kratylos gewesen, die Platon vor seiner im Sophistes präsentierten Entdeckung der logischen Struktur von Sätzen verfasst habe (Sedley (2003), 10–13). Platon selbst habe die Passage zwar bei der Endredaktion des Dialogs gestrichen, aber bei einer der ersten Editionen habe ein Herausgeber, dem auch die früheren Versionen des Kratylos bekannt gewesen seien, sie als Marginalie aufgenommen. Schließlich sei sie in einem frühen Stadium des Überlieferungsprozesses durch die Unaufmerksamkeit von Kopisten vom Rand wieder in den Haupttext gelangt, wo alle Handschriften sie platzieren. Sedleys Überlegungen stützen Schofields negativen Befund, Sokrates’ Argument könne nicht an die von den Handschriften überlieferte Stelle gehören, nicht durch zusätzliche Gründe, sondern beziehen ihre Plausibilität allein aus der Tatsache, dass sie eine Erklärung für die Präsenz der Passage in den Handschriften anbieten. Lässt sich daher Schofields negativer Befund entkräften, gibt es keinen Grund, Sedleys Räuberpistole Glauben zu schenken.
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Namens als sprachliche Einheit, deren Verwendung einen bestimmten Beitrag zur Formulierung wahrer und falscher Sätze leistet – und schafft so die Grundlage für seine weitere Auseinandersetzung mit Hermogenes’ Position. (i) Untersucht man die Kritik, die an der Konklusion des Sokrates in 385c16 f. geübt worden ist, stellt man schnell fest, dass sie auf einer selten explizit gemachten Hintergrundannahme beruht. Wer Sokrates unterstellt, er verkenne den entscheidenden logischen Unterschied zwischen Namen und Aussagesätzen, wenn er die Möglichkeit falscher und wahrer Namen behaupte, geht nämlich davon aus, dass es Sokrates darum zu tun ist, dem Namen als einem isolierten sprachlichen Ausdruck einen Wahrheitswert zuzuerkennen. Wäre dies der Fall, müsste man tatsächlich einen gravierenden Kategorienfehler diagnostizieren – denn Namen wie »Sokrates« oder »kahlköpfig« sind als isolierte sprachliche Ausdrücke offenbar weder wahr noch falsch, während dem aus ihnen gebildeten Aussagesatz »Sokrates ist kahlköpfig« ein Wahrheitswert zukommt. Eine solche Interpretation der Konklusion des Arguments ist aber keineswegs zwingend.40 Sokrates spricht zwar von wahren und falschen Namen, aber in seiner Schlussfolgerung scheint er sich um eine präzisere Formulierung seiner These zu bemühen:41 »Es ist also möglich, einen falschen und einen wahren Namen zu sagen, wenn auch [einen wahren und falschen] Satz.« Wollte Sokrates wirklich behaupten, dass Namen als isolierte sprachliche Ausdrücke wahr oder falsch sind, hielte er wohl kaum die Möglichkeit einer bestimmten sprachlichen Handlung, nämlich die des Sagens von falschen und wahren Namen, als Resultat seiner Argumentation fest. Ganz im Gegenteil liegt die Vermutung nahe, dass für Sokrates der Wahrheitswert des Namens an seinen Gebrauch im Vollzug dieser sprachlichen Handlung gekoppelt ist. Zu fragen ist unter dieser Voraussetzung freilich, welche sprachliche Handlung Sokrates als onoma alêthes legein, als ›Sagen eines wahren Namens‹ bezeichnen würde. Am aussichtsreichsten erscheint es, das Sagen eines wahren (oder falschen) Namens als eine sprachliche Handlung zu bestimmen, die sich auf einen Gegenstand bezieht, auf den der Name korrekter- oder inkorrekterweise angewendet wird. Einen Namen zu sagen hieße demzufolge, ihn als Namen für einen bestimmten Gegenstand zu gebrauchen; und ein solcher Gebrauch kann richtig oder unrichtig sein. In diesem Sinne können alle sprachlichen Ausdrücke, die im Kratylos trotz ihres unterschiedlichen grammatikalischen Profils als onomata bezeichnet werden, richtig oder falsch für einen Gegenstand gebraucht werden: Eine ähnliche – und ähnlich begründete – Diagnose stellen bereits die Aufsätze von Lorenz/Mittelstraß (1967), Luce (1969a), Kahn (1973) und Fine (1977). 41 Darauf weist zurecht Luce (1969a), 224, hin. 40
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
Ein Eigenname wie »Sokrates« kann korrekterweise auf Sokrates angewendet werden, aber ebenso auch ein Gattungsname wie »Mensch«, ein Adjektiv wie »kahlköpfig« oder ein Partizip wie »philosophierend«; inkorrekt wäre hingegen der Gebrauch von gewissen anderen Namen für Sokrates, beispielsweise »Kratylos«, »Regenwurm«, »hübsch« oder »fernsehend«. (Obwohl im Kratylos finite Verbformen im Gegensatz zu infiniten Verbformen nicht als onomata bezeichnet werden, scheint im Übrigen nichts dagegen zu sprechen, auch die Äußerung des Satzes »Sokrates sitzt« als eine Anwendung des onoma »Sitzen« auf Sokrates zu beschreiben. Das widerspricht auch nicht den Ausführungen des Eleatischen Fremden im Sophistes, führt doch dieser in 261d–262a die Unterscheidung zwischen onomata und rhêmata als eine Binnendifferenzierung zwischen verschiedenen Arten von onomata ein.) Zwischen der Richtigkeit der Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand und der Wahrheit der atomaren Aussage, die durch seinen Einsatz über den Gegenstand gemacht werden kann, besteht nun zweifellos ein enger Zusammenhang: Denn offenbar ist es genau dann richtig, den Namen »N« auf den Gegenstand X anzuwenden, wenn der atomare Aussagesatz »X ist N« wahr ist; und umgekehrt ist es genau dann nicht richtig, den Namen »N« auf den Gegenstand X anzuwenden, wenn der atomare Aussagesatz »X ist N« falsch ist. Diese Äquivalenzbeziehung bietet eine gute Motivation für die auf den ersten Blick dubiose Formulierung der Schlussfolgerung, es sei »möglich, einen falschen und einen wahren Namen zu sagen«: Wenn man die wohlwollende Interpretation akzeptiert, nach der Sokrates bei seiner Schlussfolgerung die Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand im Blick hat, ist auch die Annahme naheliegend, dass er einen richtig beziehungsweise unrichtig angewendeten Namen deswegen als wahren beziehungsweise falschen Namen bezeichnet, weil die seiner Anwendung korrespondierende atomare Aussage wahr beziehungsweise falsch ist.42 Diesen Zusammenhang hat auch W.V.O. Quine vor Augen, wenn er in seinen Methods of Logic erklärt, Terme seinen ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen: »It is the peculiarity of a statement to be true or false. It is the peculiarity of a term, on the other hand, to be true of many objects, or one, or none, and false of the rest.«43 Greift man Quines Formulierung auf, gelangt man zu dem Prinzip, dass Unter dieser Voraussetzung kann man Sokrates nicht ohne weiteres mit Fine (1977), 296, vorwerfen, das Wort »wahr« äquivok zu benutzen, auch wenn es natürlich einen Unterschied macht, ob man einen Namen im erläuterten Sinne wahr nennt oder einen Aussagesatz. Aber da ein Name nicht per se wahr ist, sondern nur insofern seine Anwendung auf einen Gegenstand einer wahren atomaren Aussage entspricht, ist die Rede von wahren Namen so eng an die Rede von wahren Aussagen gebunden, dass der Vorwurf der Äquivokation nicht haltbar scheint. 43 Quine (21959), 65. Auf die Parallele zwischen Sokrates’ Rede von wahren und falschen Namen und Quines Ausführungen verweist auch Fine (1977), 295 f. mit Anm. 18. 42
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ein wahrer Name genau dann gesagt wird, wenn ein Name, der ›wahr von‹ einem bestimmten Gegenstand ist, auf ihn angewendet wird. Sokrates selbst hebt an einer späteren Stelle des Kratylos hervor, dass die Anwendung eines Namens auf eine Sache nicht nur als richtig (orthos) und unrichtig (ouk orthos), sondern auch als wahr (alêthes) und falsch (pseudos) bewertet werden kann. Er vergleicht in dieser Passage die Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand mit der Zuordnung eines Bildes zu einem Gegenstand – beide Zuordnungsleistungen können korrekt oder inkorrekt sein. Freilich ist sein Argument an diesem Punkt des Dialoges mehr als nur ein Analogieschluss, liegt ihm doch die von Kratylos (aber nicht notwendigerweise auch von Sokrates selbst) vertretene Annahme zugrunde, Namen seien, genau wie Bilder, Nachahmungen. Entscheidend für den gegenwärtigen Zusammenhang ist aber die Tatsache, dass die Zuordnung im Fall der Namen und nur in diesem Fall als wahr oder falsch bewertet werden kann: Eine solche Zuteilung [einer durch Ähnlichkeit angemessenen Nachahmung], Freund, nenne ich nämlich »richtig« im Falle beider [Arten von] Nachahmungen, sowohl der Bilder als auch der Namen, im Falle der Namen aber zusätzlich zu »richtig« auch »wahr«; die andere [Zuteilung], die Gabe und Anwendung des Unähnlichen, aber [nenne ich] »nicht richtig«, und »falsch«, wenn es sich um Namen handelt.44
Sokrates spricht hier zwar nicht direkt von wahren und falschen Namen, sondern von wahren oder falschen Zuteilungen von Namen; aber gerade diese Kopplung des Wahrheitswerts an eine sprachliche Handlung passt gut zu der These, dass Sokrates auch in der Konklusion seines in 385b2–d1 entfalteten Arguments nicht dem Namen in Isolation, sondern nur in seiner Anwendung auf einen bestimmten Gegenstand einen Wahrheitswert zuerkennt. Aber auch in einem zweiten Punkt harmoniert die zitierte Passage mit der vorgeschlagenen Rekonstruktion seiner Konklusion. Denn es ist plausibel, dass der Grund für Sokrates’ Entscheidung, ausschließlich im Fall von Namen nicht nur von richtiger und unrichtiger, sondern auch von wahrer und falscher Zuteilung zu sprechen, in der Korrespondenz zwischen richtigen beziehungsweise unrichtigen Namensanwendungen und wahren beziehungsweise falschen atomaren Aussagesätzen zu suchen ist.45
430d2–7: Τὴν τοιαύτην γάρ, ὦ ἑταῖρε, καλῶ ἔγωγε διανομὴν ἐπ’ ἀμφοτέροις μὲν τοῖς μιμήμασιν, τοῖς τε ζῴοις καὶ τοῖς ὀνόμασιν, ὀρθήν, ἐπὶ δὲ τοῖς ὀνόμασι πρὸς τῷ ὀρθὴν καὶ ἀληθῆ· τὴν δ’ ἑτέραν, τὴν τοῦ ἀνομοίου δόσιν τε καὶ ἐπιφοράν, οὐκ ὀρθήν, καὶ ψευδῆ ὅταν ἐπ’ ὀνόμασιν ᾖ. 45 Vgl. Williams (1982), 88. 44
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Die zuletzt zitierte Passage stützt daher die folgende Explikation der Schlussfolgerung des von Sokrates in 385b2–d1 entwickelten Arguments:46 Man kann einen Namen einem Gegenstand korrekt oder inkorrekt zuteilen, ihn also korrekter- oder inkorrekterweise auf ihn anwenden. Eine korrekte oder inkorrekte Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand kann deswegen sinnvollerweise auch als wahr oder falsch bezeichnet werden, weil ihr ein wahrer oder falscher atomarer Aussagesatz korrespondiert; und statt von einer wahren oder falschen Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand kann man auch von der Anwendung eines wahren oder falschen Namens auf den fraglichen Gegenstand sprechen. Fasst man die Rede von wahren und falschen Namen so auf, scheint sie keinen logischen Kategorienfehler darzustellen. (Man wird sie übrigens auch nicht als terminologische Kapriole abtun können. So heißt es an einer in diesem Zusammenhang oft zitierten Stelle des Politikos explizit: »Und wiederum die Kunst der Verfertigung der Kette und des Fadens – wenn sie jemand ›Weberei‹ nennt, sagt er einen unpassenden (paradoxon) und falschen (pseudos) Namen.«47) Eine solche Interpretation von Sokrates’ Konklusion wirft die Frage auf, in welchen Fällen mit einem Namen die Handlung des onoma legein, der (korrekten oder inkorrekten) Anwendung dieses Namens auf einen Gegenstand, vollzogen wird. Zweifellos geschieht dies dann, wenn der Name die Rolle eines Prädikatausdrucks in einem atomaren Aussagesatz spielt; ein solcher Namensgebrauch ist gewissermaßen der paradigmatische Fall des onoma legein. Aber die Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand könnte auch auf andere Weise vollzogen werden – etwa indem durch eine Zeigegeste ein Gegenstand herausgegriffen und dann durch die Artikulation des Namens zum Ausdruck gebracht wird, um was für einen Gegenstand es sich handelt. Eine Überlegung, die Sokrates in seinem Gespräch mit Kratylos in 429e–430a anstellt, legt die Vermutung nahe, dass er den Einsatz eines Namens zum Grüßen einer Person ebenfalls als Akt der (korrekten oder inkorrekten) Anwendung des betreffenden Namens auf diese Person Sie stützt sie unabhängig davon, ob Sokrates die Annahme, Namen seien Nachahmungen der ousia ihres Trägers, letztlich akzeptieren oder zurückweisen würde; denn seine Überlegung in der Passage rechtfertigt die Behauptung, eine inkorrekte Zuordnung von Namen zu Gegenständen sei möglich, auch dann, wenn Namen nicht als Nachahmungen aufgefasst werden; vgl. Schofield (1972), 247 f. 47 Pol. 281a12–b1: Καὶ μὴν τήν γε αὖ στήμονος ἐργαστικὴν καὶ κρόκης εἴ τις ὑφαντικὴν προσαγορεύει, παράδοξόν τε καὶ ψεῦδος ὄνομα λέγει. Auch an einigen anderen Stellen, insbesondere in dihairetischen Kontexten, wird in einem ähnlichen Sinne die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Verwendung eines Namens diskutiert, auch wenn dabei nicht explizit von wahren oder falschen Namen die Rede ist: Siehe etwa Soph. 221a, 221d, 223a, 224c sowie Pol. 259a und 275d–e. Platon lässt seine Dialogfiguren solche Formulierungen mitunter auch verwenden, wenn sie nicht mit einer dihairetischen Untersuchung beschäftigt sind – charakteristisch sind die Stellen Euthphr. 14e, Gorg. 448b/c, Phd. 99b, Tht. 157b, Pol. 296b, Ti. 49b und Phil. 34a. 46
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anerkennen würde.48 Auch wenn Sokrates in dieser Hinsicht mit expliziten Auskünften geizt, wird man jedenfalls mit der Möglichkeit zu rechnen haben, dass er weitaus mehr sprachliche Akte als Vollzüge des onoma legein einstufen würde als nur den Einsatz eines Namens als Prädikatausdruck eines atomaren Aussagesatzes. De facto scheint Sokrates sogar die problematische These zu vertreten, dass auch der Subjektausdruck eines atomaren Aussagesatzes (korrekter- oder inkorrekterweise) auf den Aussagegegenstand angewendet wird; darauf wird im Zuge der nun anstehenden Diskussion der Qualität des von Sokrates entwickelten Arguments noch ausführlicher einzugehen sein. (ii) Nachdem eine haltbare Interpretation von Sokrates’ Konklusion entwickelt werden konnte, ist nun das Argument für diese Konklusion zu überprüfen und, wenn möglich, gegen den Vorwurf zu verteidigen, es basiere auf einem Fehlschluss. Die Überlegungen des Sokrates lassen sich in die folgenden Schritte aufgliedern: (S1) Da es möglich ist, Wahres und Falsches zu sagen, ist es auch möglich, wahre und falsche Aussagesätze zu formulieren (385b2–6). (S2) Alle Teile eines wahren Aussagesatzes sind wahr (385c1–6). (S3) Ein Name wird als kleinster Teil eines Aussagesatzes gesagt (385c7–9). (S4) Der Name in einem wahren Aussagesatz wird als wahrer Name gesagt (385c10–13). (S5) Der Teil eines falschen Aussagesatzes ist falsch (385c14 f.). (S6) Daher ist es möglich, wahre und falsche Namen zu sagen (385c16–d1). Bei der Interpretation dieses Arguments empfiehlt es sich, zunächst zu rekonstruieren, wie Sokrates die These begründet, es sei möglich, wahre Namen zu sagen; wenn dies gelungen ist, sollte sich das nur angedeutete korrespondierende Argument für die Möglichkeit des Sagens falscher Namen besser verstehen lassen. Die Grundstruktur des Arguments für die Möglichkeit des Sagens wahrer Namen ist nicht schwer zu durchschauen. Sokrates schließt offenbar aus der Möglichkeit wahrer Aussagesätze, es müsse möglich sein, wahre Namen zu sagen: (P1) Es ist möglich, wahre Aussagesätze zu formulieren. In 429e3–7 scheint Sokrates nämlich davon auszugehen, dass jemand, der eine Person mit einem falschen Namen anspricht, im selben Sinne etwas Falsches sagt wie jemand, der einen unwahren Satz äußert. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels. 48
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(P2) Wann immer ein wahrer Aussagesatz formuliert wird, wird auch ein wahrer Name gesagt. (K) Also ist es möglich, wahre Namen zu sagen. (P2) wird von Sokrates nicht explizit formuliert, ist aber eine Implikation von (S4). In diesem Schritt scheint Sokrates die These zu formulieren, dass alle in einem wahren Aussagesatz verwendeten Namen wahr sind; dass mit to onoma to tou alêthous logou in 385c10 nur einer der Namen in einem wahren Aussagesatz gemeint sein könnte, ist hingegen angesichts der Allgemeinheit seiner Behauptung in (S2), nach der alle Teile eines wahren Aussagesatzes wahr seien, sehr unwahrscheinlich.49 Anscheinend folgert daher Sokrates (S4) aus (S2), was bedeutet, dass in (S2) die entscheidende Prämisse seines Arguments formuliert sein müsste. Unglücklicherweise ist es just dieser Schritt (S2), der dem Argument den Vorwurf der »fallacy of division« eingetragen hat. Denn hier scheint Sokrates sich darauf zu verlassen, dass immer dann, wenn ein Komplex gleich welcher Art eine Eigenschaft hat, auch alle Teile des Komplexes die betreffende Eigenschaft haben müssen – was offensichtlich nicht zutrifft. Dementsprechend scheint denn auch die These, alle Teile eines wahren Aussagesatzes seien wahr, unabhängig davon falsch zu sein, was man als ›Teil‹ eines Aussagesatzes anerkennt.50 Insbesondere ist auch nicht jeder Name in einem wahren Aussagesatz ein wahrer Name für den Aussagegegenstand: Der Aussagesatz »Sokrates ist nicht dumm« ist beispielsweise gerade deswegen wahr, weil »dumm« ein falscher Name für Sokrates ist. (S2) ist also in seiner uneingeschränkten Form nicht zu halten, und auch die in (S4) formulierte Annahme ist zweifellos falsch, wenn man sie auf jeden Namen in jedem Aussagesatz bezieht. Es ist allerdings sehr fragwürdig, ob Sokrates bei seiner Argumentation die Möglichkeit negierter und logisch komplexer Aussagesätze überhaupt in Rechnung stellt, oder ob er nicht vielmehr den basalen Fall der atomaren Aussagesätze der Form »X ist N« vor Augen hat. Geht man davon aus, dass Sokrates’ Ausführungen sich nur auf solche Aussagesätze beziehen, lässt sich (S2) nicht mehr so leicht zurückweisen: Denn in einem wahren atomaren Aussagesatz Freilich geht es Sokrates in (S2) in erster Linie darum, dass sowohl die kleinsten als auch die größten Teile eines wahren Aussagesatzes wahr sein müssen, und weniger darum, dass alle kleinsten Teile eines wahren Aussagesatzes wahr sein müssen; aber eine positive Antwort auf seine Frage in 385c4 f. scheint sich dennoch schlecht mit der Annahme vereinbaren zu lassen, dass manche kleinsten Teile eines wahren Aussagesatzes auch falsch sein können. 50 Namen scheinen jedenfalls zu den kleinsten Teilen von Aussagesätzen zu gehören – aber ob Sokrates beispielsweise auch Negationspartikel als kleinste Teile von Aussagesätzen anerkennen würde, ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Ebenso unklar ist, welches die großen Teile des logos sind, von denen Sokrates in 385c4 spricht. Naheliegend ist die Vermutung, dass jedenfalls die Teilsätze eines logisch komplexen Aussagesatzes ›große Teile‹ dieses Satzes wären. 49
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wie »Sokrates ist stülpnasig« sind der als Subjektausdruck fungierende Name »Sokrates« und der als Prädikatausdruck fungierende Name »stülpnasig« zweifellos wahre Namen für Sokrates als Gegenstand der Aussage.51 Für wahre atomare Aussagesätze scheint tatsächlich zu gelten, dass alle ihre Teile wahr sind. Wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, ist die Sachlage allerdings etwas komplizierter – Sokrates’ Rückgriff auf (S2) ist nämlich auch bei einer Einschränkung der Betrachtung auf atomare Aussagesätze nicht unproblematisch. Das wird dann deutlich, wenn man sich den gravierenden Unterschied zwischen den Funktionen bewusst macht, die von den beiden Namen »Sokrates« und »stülpnasig« in dem Aussagesatz »Sokrates ist stülpnasig« erfüllt werden: Durch den Einsatz des Namens »Sokrates« wird festgelegt, auf welchen Gegenstand sich der Aussagesatz bezieht; durch den Einsatz des Namens »stülpnasig« wird hingegen etwas über diesen Gegenstand ausgesagt.52 Der entscheidende Punkt ist nun, dass man angesichts dieser funktionalen Differenz nicht davon sprechen kann, bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist stülpnasig« werde der Name »Sokrates« in derselben Weise auf Sokrates als Gegenstand der Aussage angewendet wie der Name »stülpnasig«: Denn um von der Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand sprechen zu können, muss offenbar unabhängig von dem Akt der Anwendung feststehen, um welchen Gegenstand es sich handelt. Nur unter dieser Voraussetzung ergibt es auch Sinn, die Anwendung des Namens auf den Gegenstand ›korrekt‹ zu nennen oder sie als onoma alêthes legein einzustufen. Da der Name »Sokrates« in dem Satz »Sokrates ist stülpnasig« nicht auf einen bereits irgendwie herausgegriffenen Gegenstand angewendet wird, sondern im Gegenteil dem Herausgreifen eines Gegenstandes dient, ist eine Fehlanwendung gar nicht möglich – was bedeutet, dass auch nicht von einer korrekten Anwendung des Namens auf den herausgegriffenen Gegenstand die Rede sein kann.53 Die Frage, ob es richtig oder falsch ist, den Namen »Sokrates« bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist stülpnasig« auf den Aussagegegenstand anzuwenden, ist daher im Gegensatz zu der Frage, ob es richtig oder falsch ist, den Namen »stülpnasig« auf ihn anzuwenden, sinnlos; und ebenso sinnlos ist es, zu behaupten, »Sokrates« werde bei der Äußerung dieses Satzes als wahrer Name gesagt.54 Man könnte einwenden, dass man durchaus eine Perspektive einnehmen kann, aus der es sinnvoll ist, den Gebrauch des Namens »Sokrates« in dem Satz »Sokrates ist stülpnasig« als eine korrekte Anwendung von »Sokrates« auf Sokrates zu betrachten: Wenn beispielsweise Hermogenes den Entschluss gefasst 51 52 53 54
So Kahn (1973), 160 f., Fine (1977), 296 f., Ackrill (1994), 37. Das ist eines der zentralen Ergebnisse der Überlegungen des Fremden in Soph. 261c–263d. Das wird von den in Anm. 51 genannten Interpreten übersehen. Freilich ist »Sokrates« dennoch in Quines Sinne ›wahr von‹ Sokrates.
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
hat, Sokrates als stülpnasig zu charakterisieren, wird er nur dann Erfolg haben und eine wahre Aussage über Sokrates treffen, wenn er auch tatsächlich den Namen »Sokrates« und nicht etwa den Namen »Theaitetos« einsetzt, um den Gegenstand seiner Aussage festzulegen. Stellt man in diesem Sinne die Intentionen und Entschlüsse des Sprechers in Rechnung, scheint Sokrates unabhängig von dem Einsatz des Namens »Sokrates« als derjenige Gegenstand festzustehen, auf den dieser Name korrekterweise angewendet wird. Würde Hermogenes in der beschriebenen Situation den Satz »Theaitetos ist stülpnasig« äußern, hätte man es hingegen mit einer inkorrekten Anwendung des Namens »Theaitetos« auf Sokrates als den intendierten Aussagegegenstand zu tun. Aber ein solcher Schachzug zur Verteidigung von Sokrates’ Argument schadet mehr, als er einbringt: Denn wenn man den Namen »Theaitetos« in dem Satz »Theaitetos ist stülpnasig« als falschen Namen betrachtet, weil es inkorrekt ist, ihn auf Sokrates als den intendierten Aussagegegenstand anzuwenden, kappt man die Verbindung zwischen der Wahrheit des Satzes und der Wahrheit seiner Teile, auf die es Sokrates in seinem Argument ja gerade ankommt. Schließlich ist der Satz »Theaitetos ist stülpnasig« wahr – und zwar unabhängig davon, ob eigentlich eine Aussage über Sokrates oder irgendeinen anderen Gegenstand getroffen werden sollte. Wertet man daher in der beschriebenen Situation »Theaitetos« als einen falschen Namen für den intendierten Bezugsgegenstand Sokrates, müsste man zugeben, dass der Satz »Theaitetos ist stülpnasig« wahr ist, obwohl er einen falschen Namen enthält – und damit leugnen, dass (S2) für atomare Aussagesätze gültig ist. Der Rekurs auf die Entschlüsse und Intentionen des Sprechers mag also zwar vielleicht einen Weg eröffnen, um den Gebrauch eines Namens als Subjektausdruck eines Aussagesatzes ebenfalls als Anwendung des Namens auf einen Gegenstand charakterisieren zu können; aber wenn Sokrates behauptet, alle Teile eines wahren (atomaren) Aussagesatzes seien wahr, kann er unmöglich meinen, dass der Subjektausdruck eines wahren (atomaren) Aussagesatzes ein wahrer Name für den intendierten Aussagegegenstand sein muss. Auch bei einer Beschränkung der Betrachtung auf atomare Aussagesätze muss also (S2) zurückgewiesen werden. Freilich wäre (P2) auch dann schon hinreichend abgesichert, wenn klar wäre, dass einer der beiden Namen in einem atomaren Aussagesatz korrekterweise auf den Aussagegegenstand angewendet werden und somit wahr sein muss. Das aber ist unzweifelhaft der Fall – denn wenn ein Aussagesatz der Form »X ist N« wahr sein soll, muss offenbar die Anwendung des Namens »N« auf den Gegenstand X korrekt sein. Zumindest zwischen der Wahrheit dieses Teils eines atomaren Aussagesatzes und der Wahrheit des ganzen Satzes besteht also tatsächlich der von Sokrates behauptete Zusammenhang. Da man angesichts dieser Beobachtung (P2) seine Anerkennung nicht verweigern kann und (P1) offensichtlich gültig ist, lässt sich aus Sokrates’ Ausführungen ein
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überzeugendes Argument für die These gewinnen, es sei möglich, wahre Namen zu sagen.55 Nun werden bei der Äußerung eines falschen Aussagesatzes der Form »X ist N« zwar nicht beide Namen fälschlicherweise auf den Aussagegegenstand X angewendet56 – denn offenkundig kann auch in diesem Fall gar nicht von einer Anwendung des Namens »X« auf den Aussagegegenstand die Rede sein, die sich als korrekt oder inkorrekt bewerten ließe –, wohl aber wird der Name »N« falsch angewendet. Daher wird man auch der Prämisse (P2*) und dem folgenden, von ihr abhängigen Argument seine Zustimmung nicht verweigern können: (P1*) Es ist möglich, wahre beziehungsweise falsche (atomare) Aussagesätze zu formulieren. (P2*) Wann immer ein wahrer beziehungsweise falscher (atomarer) Aussagesatz formuliert wird, wird ein wahrer beziehungsweise falscher Name gesagt. (K*) Also ist es möglich, wahre beziehungsweise falsche Namen zu sagen. Man kann Sokrates demnach zwar nicht völlig von dem Vorwurf entlasten, in 385b2–d1 ein schlechtes Argument für (K*) vorzutragen; aber man wird zumindest anerkennen müssen, dass seine Überlegungen dann, wenn man sie mit entsprechenden Qualifikationen versieht und von übertriebenen Generalisierungen befreit, seine Schlussfolgerung durchaus zu rechtfertigen vermögen. Die vorgetragene Apologie des Sokrates lässt die Frage offen, aus welchem Grund Platon ihn bei seinen Überlegungen auf die falsche Annahme zurückMan könnte einwenden, dass dieses Argument einzig und allein auf der Stipulation beruht, den Namen »N« in einem wahren Aussagesatz »X ist N« als ›wahren Namen‹ zu bezeichnen. Aber dieser Einwand verfängt nicht, da die fragliche Stipulation, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, ihrerseits auf einer wichtigen Einsicht in den Zusammenhang zwischen den Wahrheitsbedingungen eines Aussagesatzes und den Namen, aus denen er aufgebaut ist, beruht. 56 Die Formulierung von (S5) in 385c14 lässt keine eindeutige Entscheidung darüber zu, ob Sokrates sich auf alle Namen in einem Aussagesatz bezieht oder nur auf einen Namen. Sprachlich liegt es näher, den definiten Artikel in to morion als Ausdruck einer Generalisierung zu verstehen – in diesem Sinne scheint er auch in 385c10 verwendet zu werden (vgl. Ademollo (2011), 60). Andererseits verzichtet Sokrates auffälligerweise im Fall des falschen Aussagesatzes darauf, seine Behauptung explizit auf alle Teile des Satzes zu beziehen, während er im Fall des wahren Aussagesatzes in 385c5 ausdrücklich allen Teilen des wahren Satzes Wahrheit zuschreibt. (Auf diesen Unterschied macht Kahn (1973), 160 f., aufmerksam.) Stellt man zudem in Rechnung, dass man Sokrates bei einer generalisierenden Interpretation von (S5) eine offensichtlich falsche Annahme unterstellen müsste, sprechen insgesamt gute Gründe dafür, diese sprachlich naheliegende Deutung nicht zu akzeptieren, sondern stattdessen anzunehmen, dass Sokrates aus der Falschheit einer Aussage nur die Falschheit eines im Aussagesatzes verwendeten Namens ableitet. 55
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
greifen lassen sollte, bei der Äußerung eines wahren atomaren Aussagesatzes werde sowohl der Subjekt- als auch der Prädikatausdruck korrekt auf den Aussagegegenstand angewendet, wenn er seine Schlussfolgerung doch auch auf Basis der schwächeren, aber dafür gültigen Prämisse (P2) ziehen könnte. Mit dieser Frage lässt sich auf zwei verschiedene Weisen umgehen: Entweder man nimmt an, dass Platon selbst sich nicht darüber im Klaren ist, dass der Einsatz eines Namens als Subjektausdruck eines atomaren Aussagesatzes nicht im selben Sinne wie der Einsatz eines Namens als Prädikatausdruck als korrekte Anwendung auf den Aussagegegenstand beschrieben werden kann;57 oder man versucht zu erklären, wieso Platon Sokrates und Hermogenes diese Komplikation ignorieren lässt, obwohl sie ihm selbst klar vor Augen steht. Will man den zweiten dieser beiden Wege einschlagen, erscheint es am aussichtsreichsten, von der Beobachtung auszugehen, dass es Hermogenes ist, der sich in 385c6 mit einem emphatischen panta, oimai egôge die problematische Annahme zu eigen macht, alle Teile eines wahren Aussagesatzes seien wahr. Vielleicht lässt also, so könnte man vermuten, Platon Sokrates die Tatsache ausnutzen, dass der in logischen Angelegenheiten möglicherweise nicht ganz trittsichere Hermogenes unkritisch von der Übertragung des Wahrheitswerts eines Aussagesatzes auf alle seine Teile ausgeht, um so mit minimalem Aufwand eine Konklusion zu erreichen, die eigentlich eine differenziertere und logisch anspruchsvollere Begründung erfordern würde.58 Allerding lässt Platon im gesamten Kratylos Sokrates nichts sagen, was ein klares Bewusstsein für den Umstand verriete, dass bei der Äußerung eines atomaren Aussagesatzes nur der Prädikatausdruck, nicht aber der Subjektausdruck (korrekter- oder inkorrekterweise) auf den Aussagegegenstand angewendet wird. Ganz im Gegenteil deutet, wie noch zu diskutieren sein wird,59 Sokrates’ Charakterisierung der Handlung des Nennens in 388b10 f. sogar darauf hin, dass er in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen dem Einsatz eines Namens als Subjektausdruck eines atomaren Aussagesatzes und seinem Das kann man auch dann übersehen, wenn man das im Sophistes erreichte Ergebnis verinnerlicht hat, dass mit dem Subjektausdruck eines Aussagesatzes ein Gegenstand herausgegriffen und mit dem Prädikatausdruck etwas über diesen Gegenstand gesagt wird: Denn der Subjektausdruck ist ja dennoch im Sinne Quines ›wahr von‹ dem Aussagegegenstand; er wird eben nur nicht korrekterweise auf diesen Gegenstand angewendet und damit als wahrer Name gesagt. 58 Vgl. Ademollo (2011), 55. Eckl (2003), 42–46, vertritt die bedenkenswerte These, Hermogenes akzeptiere diesen Schluss deswegen, weil er Sätze als Aneinanderreihungen von Lautfolgen und nicht als logisch artikulierte Einheiten konzipiere. Allerdings hält Eckl nicht nur den von Sokrates vorgetragenen Schluss für dubios, sondern auch – zu Unrecht – Sokrates’ Konklusion für offenkundig falsch. 59 Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des dritten und im ersten Abschnitt des vierten Kapitels. 57
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Einsatz als Prädikatausdruck macht. Der Untersuchung des Kratylos scheint also die falsche Annahme zugrunde zu liegen, dass bei der Äußerung eines atomaren Aussagesatzes sowohl mit dem Prädikat- als auch mit dem Subjektausdruck die Handlung des onoma legein, der Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand vollzogen wird. Die Implikationen dieses Befundes werden im dritten und vierten Kapitel der vorliegenden Studie noch zu thematisieren sein. (iii) Wie bisher gezeigt werden konnte, ist Sokrates’ These, es sei möglich, wahre und falsche Namen zu sagen, vom Vorwurf des logischen Kategorienfehlers freizusprechen; und aus seinen Ausführungen in 385b2–d1 lässt sich auch ein stichhaltiges Argument für diese These gewinnen. Zu klären bleibt die entscheidende Frage, welchen Beitrag zur Gedankenbewegung des Kratylos Sokrates’ Argumentation leistet. In der Sekundärliteratur werden Sokrates’ Überlegungen oftmals als direktes oder indirektes Argument für die Behauptung gelesen, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen. Interpreten, die in 385b2–d1 ein direktes Argument für diese Behauptung entdecken, sind auf die Annahme verpflichtet, mit der Anerkennung des Unterschieds zwischen wahren und falschen Namen sei die Anerkennung eines natürlichen Standards der Richtigkeit von Namen verbunden.60 Eine solche Interpretation wäre aber nur dann überzeugend, wenn ein Name, der in Quines Sinne ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen ist, als natürlicherweise richtiger Name für sie gelten müsste – und es ist an dieser Stelle des Dialogs vollkommen unklar, wieso ein solcher Zusammenhang zwischen Wahrheit und natürlicher Richtigkeit bestehen sollte.61 Da auch Sokrates keinerlei Anstalten macht, seine Schlussfolgerung als Beleg für die Annahme einer natürlichen Richtigkeit der Namen zu deuten, wird man seine Überlegungen kaum als direktes Argument für diese Annahme verstehen können. Es erscheint allerdings auch nicht viel aussichtsreicher, den Passus 385b2–d1 als ein Argument zu lesen, das diese Annahme indirekt stützt, indem es die von Hermogenes vertretene konventionalistische Gegenposition widerlegt:62 Denn weder Hermogenes noch Sokrates scheinen Sokrates’ Schlussfolgerung für inkompatiDas behaupten beispielsweise Robinson (1956), 328, Lorenz/Mittelstraß (1967), 5–7, und Bagwell (2011), 20. Auch Sedley (2003), 12 mit Anm. 25, geht davon aus, dass Platon bei der Abfassung von 385b2–d1 ein Argument für die These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, formulieren wollte – das er allerdings bei einer späteren Überarbeitung aus dem Text entfernt habe. 61 De facto muss, wie sich im dritten Kapitel zeigen wird, ein Name, damit er ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen sein kann, ein natürlicherweise richtiger Name für diese Gegenstände sein – aber dieser Zusammenhang wird erst durch Sokrates’ Überlegungen in der WerkzeugAnalogie erkennbar und kann hier daher noch keine Rolle spielen. 62 Diese Deutung wird bereits von Horn (1904), 22 f., vertreten; zudem in jüngerer Zeit bei60
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
bel mit jener Position zu halten;63 und da Hermogenes dank seiner Differenzierung zwischen tithenai und kalein durchaus zwischen richtigem und falschem Namensgebrauch unterscheiden kann, ist er auf den ersten Blick tatsächlich nicht gezwungen, auch nur ein Iota von seiner These abzurücken.64 Es wäre auch denkbar, dass Sokrates in 385b2–d1 Hermogenes’ Position nicht attackieren, sondern besser verständlich machen will. Die Verfechter dieses Interpretationsansatzes65 gehen von der Beobachtung aus, dass Hermogenes’ Behauptung in 385a/b, ein Mensch könne auch korrekterweise als »Pferd« bezeichnet werden, den Verdacht erwecken kann, Hermogenes leugne die Möglichkeit falschen Sprechens; Sokrates müsse daher prüfen, ob ein solcher Verdacht berechtigt ist oder nicht. Während diese Beobachtung durchaus zutreffend ist, bleibt rätselhaft, wieso Platon auf die Klarstellung des Hermogenes, er halte falsches ebenso wie wahres Sprechen für möglich, ein Argument für die Möglichkeit des Sagens falscher und wahrer Namen folgen lassen sollte.66 Da »Platon, ebenso wie die Natur, nichts umsonst tut« 67, wird man daher auch diese Antwort auf die Frage nach der dialektischen Funktion der Passage 385b2–d1 als unbefriedigend zurückweisen müssen. Wie aber ist diese Frage dann zu beantworten? Das ist allein deswegen nicht leicht zu erkennen, weil nicht klar ist, worin überhaupt der philosophische Mehrwert des Ergebnisses liegen sollte, dass wahre und falsche Namen gesagt, also Namen korrekt oder inkorrekt auf Gegenstände angewendet werden können. Wenn Sokrates diese Schlussfolgerung formuliert, scheint er auf den ersten Blick nicht viel mehr zu tun, als eine Selbstverständlichkeit festzuhalten und das Anwendungsgebiet des Wahrheitsbegriffs durch eine sehr einleuchtende Stipulation ausspielsweise von Kretzmann (1971), 127, Gaiser (1974), 20 und 34, Fine (1977), 295, Gold (1978), 242 f., Denyer (1991), 71–75, und Bagwell (2011), 20. 63 Das wird schon von Richardson (1976), 136 f., bemerkt und genau wie später von Barney (2001), 32, gegen die These ins Feld geführt, Sokrates widerlege Hermogenes in dieser Passage. 64 Wie sich gezeigt hat, lässt sich die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Namensgebrauch auch dann treffen, wenn der relevanten Benennungskonvention de facto nur ein Sprecher folgt. Man kann also auch nicht mit Anagnostopoulos (1972), 701, annehmen, dass in 385b2–d1 Hermogenes’ Position teilweise – nämlich in ihrer Anerkennung privater Benennungskonventionen – widerlegt wird. 65 Eine solche Deutung wurde zuerst von Richardson (1976), 136 f., vorgeschlagen und ist in jüngster Zeit vor allem von Ademollo (2011), 65–68, verteidigt worden. 66 Ademollo (2011), 65, weicht genau dieser Frage aus, wenn er schreibt: »Hence in our passage Socrates takes care to ascertain Hermogenes’ view on truth and falsehood. He finds that Hermogenes is so far from approving of those sophistic arguments that he is ready to acknowledge not only the standard distinction between true and false sentences […], but also an extra distinction between true and false names.« 67 Den an Aristoteles’ Bemerkung über die Natur in Pol. I 2 angelehnten Aphorismus »Plato, like nature, does nothing without purpose« prägt Clay (2000), 10.
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zuweiten. Bei genauerer Betrachtung erweist sich ein solches Urteil indessen als voreilig: Denn was Sokrates in 385b2–d1 aufdeckt, ist der systematische Zusammenhang zwischen den Wahrheitsbedingungen und damit auch dem Wahrheitswert eines (atomaren) Aussagesatzes einerseits und seinen Teilen andererseits. Dass der Satz »Sokrates ist sterblich« unter einer bestimmten Bedingung wahr ist (die de facto erfüllt ist), der Satz »Sokrates ist ein Sophist« hingegen unter einer bestimmten anderen Bedingung wahr wäre (die de facto nicht erfüllt ist), kann demnach darauf zurückgeführt werden, dass im ersten Satz der Name »sterblich«, im zweiten Satz hingegen der Name »Sophist« als Prädikatausdruck fungiert.68 Aus dieser Warte betrachtet erscheint Sokrates’ Gedankengang als archaischer Vorgänger der Einsicht, dass sich die Wahrheitsbedingungen eines jeden Satzes bestimmen lassen, wenn man die kleinsten sprachlichen Einheiten kennt, aus denen alle Sätze gebildet werden, und um die Regeln ihrer Verknüpfung weiß – eine Einsicht, die beispielsweise für Donald Davidsons Sprachphilosophie zentral ist.69 Im Kratylos ist freilich Sokrates nur am Rande an Sätzen interessiert; im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen Namen als Grundbausteine von Sätzen. Aber die Einsicht in den systematischen Zusammenhang zwischen den Wahrheitsbedingungen eines atomaren Aussagesatzes und den Namen, aus denen er sich zusammensetzt, lässt sich nicht nur nutzbar machen, um eine systematische Theorie der Wahrheitsbedingungen von Sätzen im Sinne Davidsons auszuarbeiten, sondern wirft auch eine neues Licht auf den Namen als den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung des Kratylos: Denn wenn man Sokrates’ Argument samt seiner Konklusion akzeptiert, wird man den Namen als eine sprachliche Einheit charakterisieren, durch deren Verwendung im Kontext eines (atomaren) Aussagesatzes ein bestimmter Beitrag zur Festlegung der Wahrheitsbedingungen dieses Aussagesatzes geleistet wird, und damit ein Beitrag dazu, dass eine bestimmte Aussage und keine andere getroffen wird.70 Sokrates’ Überlegungen erlauben es nicht, diesen Beitrag präzise zu charakterisieren.71 Aber zumindest die folgende Annäherung ist möglich: Ein Name ist demnach eine sprachliche Einheit »N«, für die gilt, dass für jeden Gegenstand X der atomare Aussagesatz »X ist N« entweder wahr oder falsch ist72 – eine sprachliche Einheit also, deren Dass es Platon um diese Pointe geht, erkennt ganz richtig schon Horn (1904), 22 f. Siehe insbesondere Davidson (1967). 70 Man könnte sich fragen, ob der Beitrag, den ein Name in dieser Hinsicht leistet, nicht auch davon abhängt, ob er als Subjekt- oder als Prädikatausdruck eines Satzes eingesetzt wird. Vgl. zu dieser Schwierigkeit die Überlegungen des vierten Kapitels. 71 Wie sich im dritten Kapitel zeigen wird, handelt es sich bei diesem Beitrag um die Unterscheidung einer Art von Gegenständen beziehungsweise deren ousia für einen Hörer. 72 Es wäre auch denkbar, dass für manche Gegenstände X der Satz »X ist N« weder wahr noch falsch ist; aber von dieser Komplikation soll hier abgesehen werden. 68 69
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Anwendung auf Gegenstände entweder korrekt oder inkorrekt ist, und die demnach in Quines Sinne ›wahr von‹ manchen Gegenständen, einem Gegenstand oder keinem Gegenstand ist und ›falsch von‹ allen anderen Gegenständen. Der springende Punkt ist nun, dass diese höchst plausible Charakterisierung des Namens trotz ihrer Vorläufigkeit die Untersuchung der onomatos orthotês auf eine neue Grundlage stellt. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, kann man sie nämlich nicht mit dem von Hermogenes formulierten Starken Konventionalismus kombinieren, ohne in eine Aporie zu geraten, der sich nur durch den Rekurs auf den Protagoreischen Relativismus (oder eine ähnlich extremistische These) entkommen lässt. Hermogenes, der keinen Grund hat, das in 385b2–d1 entfaltete Argument zurückzuweisen, könnte daher an seiner Behauptung, jeder Name lasse sich durch eine entsprechende Entscheidung zu einem Namen für beliebige Gegenstände machen, nur zu einem sehr hohen Preis festhalten, den zu zahlen er nicht gewillt ist.73 Diesen Zusammenhang und seine Konsequenzen soll die nachfolgende Analyse der Passage 385d–386e nachvollziehbar machen – und so jedem Zweifel an der dialektischen Relevanz des Ergebnisses, es sei »möglich, einen falschen und einen wahren Namen zu sagen«, endgültig den Boden entziehen.
Konventionalismus, Relativismus und Objektivität (385d–386e)
Sokrates richtet, nachdem er sein Argument in 385b2–d1 zum Abschluss gebracht hat, zunächst zwei Rückfragen an Hermogenes: »Wovon also jeder sagt, dass es der Name für etwas ist, dies ist der Name für jeden74? […] Und von wie vielen Namen jemand sagt, dass sie zu jedem Ding gehören, so viele werden zu ihm gehören, und zwar dann, wann immer er es sagt?«75 Hermogenes reagiert in 385d7 Zumindest insofern ist das in 385b2–d1 formulierte Argument also gegen den von Hermogenes vertretenen Konventionalismus gerichtet. Aber es ist eben keine direkte Widerlegung dieser Position, sondern bereitet nur die Aufdeckung ihrer relativistischen Implikationen vor. 74 Das ἑκάστῳ in 385d3 könnte entweder ein Neutrum oder ein Maskulinum sein. Ersteres würde die Wiedergabe mit »Wovon also jeder sagt, dass es der Name für etwas ist, dies ist der Name für jedes?« erfordern, was den Übersetzungen von Dalimier, Minio-Paluello und Schofield (1972), 246, entspricht; die hier vorgeschlagene Übersetzung beruht hingegen auf der zweiten Interpretation von ἑκάστῳ, die etwa von Fowler, Reeve, Barney (2001), 28, und Ademollo (2011), 72 f., geteilt wird und sich deswegen empfiehlt, weil ἕκαστος und nicht ἕκαστον im vorangehenden Relativsatz verwendet wird. Allerdings muss man, wie Ademollo (ebd.) zurecht bemerkt, zugeben, dass die erste Übersetzung insofern besser zu den Fragen in 385a2 und d5 f. passen würde, als dort jeweils ἕκαστον für das benannte Objekt und τις für das benennende Subjekt verwendet wird. 75 385d2–6: Ὃ ἂν ἄρα ἕκαστος φῇ τῳ ὄνομα εἶναι, τοῦτό ἐστιν ἑκάστῳ ὄνομα; […] Ἦ καὶ ὁπόσα ἂν φῇ τις ἑκάστῳ ὀνόματα εἶναι, τοσαῦτα ἔσται καὶ τότε ὁπόταν φῇ; 73
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auf diese Fragen mit einer klaren, weiter oben bereits thematisierten Bekräftigung seiner Position. Daraufhin gibt Sokrates dem Gespräch eine auf den ersten Blick überraschende Wendung, indem er Hermogenes zunächst nach seiner Einstellung zu den relativistischen Thesen des Protagoras fragt, um diese Thesen anschließend mit einem Argument zu widerlegen, dessen Stichhaltigkeit Protagoras, »wenn er bis zum Nacken aus der Erde auftauchte« (Tht. 171d1 f.), vermutlich vehement bestreiten würde:76 Auf geht’s, Hermogenes, lass uns sehen, ob sich dir auch die Seienden so zu verhalten scheinen, dass ihr Sein77 für jeden privat ist, wie Protagoras behauptete, indem er sagte, »aller Dinge Maß« sei der Mensch, dass also die Dinge, wie sie mir zu sein scheinen, so für mich sind, wie [sie] aber dir [zu sein scheinen], so für dich [sind]? Oder scheinen sie dir für sich irgendeine Stabilität des Seins zu haben? – Manchmal, Sokrates, bin ich schon aus Ratlosigkeit auch dahin getrieben worden – zu dem, was Protagoras behauptet; aber so ganz glaube ich freilich nicht,78 dass es sich so verhält. […] – Auch dies, denke ich, scheint dir jedenfalls sicher, dass es deswegen, weil es Klugheit und Dummheit gibt, völlig unmöglich ist, dass Protagoras die Wahrheit sagt. Denn es wäre in Wahrheit nicht der eine irgendwie klüger als der andere, wenn das, was jedem scheint, für jeden wahr wäre. – Das stimmt. – Aber du glaubst auch nicht, denke ich, im Sinne des Euthydemos, dass allen alles in derselben Weise zugleich und immer zukommt.79 Denn Denn in Tht. 166d–167d lässt Platon den wiederauferstandenen Protagoras gerade die entscheidende Prämisse des von Sokrates im Kratylos vorgebrachten und im Theaitetos (161b–162a) in einer polemischeren Variante eingesetzten Arguments bestreiten: S. u., Anm. 101. 77 Zur Übersetzung von οὐσία mit »Sein« statt mit »Wesen« oder »Essenz« s. u., 70. 78 Oft wird Hermogenes’ οὐ πάνυ τι im Sinne von »schwerlich«, »kaum« oder »keineswegs« verstanden. Möglich ist aber auch die schwächere Übersetzung »nicht (so) ganz« wie in Euthyd. 286e9 und Prt. 321b7. Sie scheint besser zu der Tatsache zu passen, dass Hermogenes offenbar mitunter durchaus versucht war, einen Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren, und wird deshalb hier in Übereinstimmung mit Sedley (1996), 98 mit Anm. 43, adaptiert. 79 Es gibt zwei Möglichkeiten, die Formulierung πᾶσι πάντα ὁμοίως εἶναι ἅμα καὶ ἀεί zu verstehen: Einerseits könnte damit, wie in der vorgeschlagenen Übersetzung angenommen wird, gemeint sein, dass allen Gegenständen alle Eigenschaften gleichermaßen gleichzeitig und zu allen Zeitpunkten zukommen – der Dativ πᾶσι wäre dann possessiv aufzufassen; andererseits könnte aber auch gemeint sein, dass alles sich für alle Personen zu allen Zeitpunkten auf dieselbe Weise verhält – der Dativ wäre dann als ethischer Dativ aufzufassen. Letzteres hieße vermutlich, dass ein Gegenstand eine Eigenschaft genau dann aufweist, wenn alle Personen immer der Meinung sind, dass er diese Eigenschaft aufweist, und ließe sich bei dieser Deutung an einige rabulistische Argumente der Sophisten Euthydemos (auf den Sokrates sich hier mit Sicherheit bezieht) und Dionysodoros in Euthyd. 293b–296d anknüpfen, wie Ademollo (2011), 85 f., nachweist, der auf dieser Grundlage für diese zweite Deutung optiert. Für die erste Interpretationsmöglichkeit, die der vorgeschlagenen Übersetzung zugrunde 76
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auch so wären nicht die einen gut, die anderen schlecht, wenn allen in derselben Weise und immer sowohl Tugend als auch Schlechtigkeit zukäme. – Das ist wahr. – Wenn also weder allen alles in derselben Weise zugleich und immer zukommt, noch jedes Seiende für jeden privat ist, ist klar, dass die Dinge für sich irgendein eigenes stabiles Sein haben: Sie sind nicht in Bezug auf uns und werden nicht von uns durch unsere Vorstellungen hin und her gezogen, 80 sondern bestehen für sich in Bezug auf ihr eigenes Sein, wie es für sie natürlich ist.81
Wie im Fall der Passage 385b2–d1 ist nicht unmittelbar zu erkennen, inwiefern es sich bei Sokrates’ Überlegungen um eine Auseinandersetzung mit der Position des Hermogenes handelt. Da erstens Hermogenes selbst in 386a5–7 einräumt, den Protagoreischen Relativismus fast schon als Ausweg aus einer Aporie akzeptiert zu haben, und da zweitens Sokrates in der Werkzeug-Analogie aus der Falschheit des Relativismus zu folgern scheint, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, liegt es nahe, einen Konnex zwischen Hermogenes’ Position und dem Protagoreischen Relativismus (oder auch der These des Euthydemos) zu vermuten.82 liegt, sprechen zwei Gründe: Erstens bedarf es, wie Ademollos Ausführungen an der genannten Stelle zeigen, einer recht guten Kenntnis des Euthydemos, um die Pointe der zweiten Interpretation überhaupt verständlich zu machen, während die erste Interpretationsoption keine derartigen Verständnisprobleme aufwirft. Zweitens entspräche nach dieser Interpretation die Frage, ob Hermogenes ein Anhänger des Euthydemos ist, in einem bestimmten Sinne genau der Frage des Sokrates in 385d5 f. (s. u., 63 f.), während die Frage nach seiner Einstellung zu Protagoras der unmittelbar vorhergehenden Frage in 385d2 f. entspricht – was für einen sehr klaren Aufbau der gesamten Passage 385d–386e sorgen würde. 80 Die vorgeschlagene Übersetzung beruht auf der Annahme, dass ὑφ’ ἡμῶν ἑλκόμενα ἄνω καὶ κάτω eine Einheit bildet (»von uns […] hin und her gezogen«). Fowler und Méridier fügen ein Komma nach ὑφ’ ἡμῶν ein; in der verbesserten Schleiermacher-Übersetzung heißt es dementsprechend: »nicht nur in bezug auf uns oder von uns hervorgebracht, hin und her gezogen nach unserer Einbildung«. 81 385e4–386e4: Φέρε δὴ ἴδωμεν, ὦ Ἑρμόγενες, πότερον καὶ τὰ ὄντα οὕτως ἔχειν σοι φαίνεται, ἰδίᾳ αὐτῶν ἡ οὐσία εἶναι ἑκάστῳ, ὥσπερ Πρωταγόρας ἔλεγεν λέγων «πάντων χρημάτων μέτρον» εἶναι ἄνθρωπον, ὡς ἄρα οἷα μὲν ἂν ἐμοὶ φαίνηται τὰ πράγματα εἶναι, τοιαῦτα μὲν ἔστιν ἐμοί, οἷα δ’ ἂν σοί, τοιαῦτα δὲ σοί, ἢ ἔχειν δοκεῖ σοι αὐτὰ αὑτῶν τινα βεβαιότητα τῆς οὐσίας; – Ἤδη ποτὲ ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, ἀπορῶν καὶ ἐνταῦθα ἐξηνέχθην εἰς ἅπερ Πρωταγόρας λέγει· οὐ πάνυ τι μέντοι μοι δοκεῖ οὕτως ἔχειν. […] – Καὶ ταῦτά γε, ὡς ἐγᾦμαι, σοὶ πάνυ δοκεῖ, φρονήσεως οὔσης καὶ ἀφροσύνης μὴ πάνυ δυνατὸν εἶναι Πρωταγόραν ἀληθῆ λέγειν· οὐδὲν γὰρ ἄν που τῇ ἀληθείᾳ ὁ ἕτερος τοῦ ἑτέρου φρονιμώτερος εἴη, εἴπερ ἃ ἂν ἑκάστῳ δοκῇ ἑκάστῳ ἀληθῆ ἔσται. – Ἔστι ταῦτα. – Ἀλλὰ μὴν οὐδὲ κατ’ Εὐθύδημόν γε οἶμαι σοὶ δοκεῖ πᾶσι πάντα ὁμοίως εἶναι ἅμα καὶ ἀεί· οὐδὲ γὰρ ἂν οὕτως εἶεν οἱ μὲν χρηστοί, οἱ δὲ πονηροί, εἰ ὁμοίως ἅπασι καὶ ἀεὶ ἀρετή τε καὶ κακία εἴη. – Ἀληθῆ λέγεις. – Οὐκοῦν εἰ μήτε πᾶσι πάντα ἐστὶν ὁμοίως ἅμα καὶ ἀεί, μήτε ἑκάστῳ ἰδίᾳ ἕκαστον, δῆλον δὴ ὅτι αὐτὰ αὑτῶν οὐσίαν ἔχοντά τινα βέβαιόν ἐστι τὰ πράγματα, οὐ πρὸς ἡμᾶς οὐδὲ ὑφ’ ἡμῶν ἑλκόμενα ἄνω καὶ κάτω τῷ ἡμετέρῳ φαντάσματι, ἀλλὰ καθ’ αὑτὰ πρὸς τὴν αὑτῶν οὐσίαν ἔχοντα ᾗπερ πέφυκεν. 82 So bereits White (1976), 133, 149 Anm. 3 und 150 Anm. 9, MacKenzie (1986), 129, Palmer
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Dass Platon Hermogenes eine Aporie zwar erwähnen, aber nicht näher charakterisieren lässt, ist nun sicherlich kein Zufall: Er stellt damit seine Leser vor die Aufgabe, sich klar zu machen, wieso man die Position des Hermogenes, die sie selbst ja in aller Regel sehr einleuchtend finden dürften, nicht vertreten kann, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, die sich nur unter Rückgriff auf eine so radikale These wie den Protagoreischen Relativismus auflösen lassen. Diese Aufgabe ist für diejenigen Leser gut zu bewältigen, denen der Gehalt der in 385b2–d1 begründeten Schlussfolgerung, es sei »möglich, einen falschen und einen wahren Namen zu sagen«, klar vor Augen steht: für Leser also, die verstanden haben, dass Sokrates mit dieser Schlussfolgerung Namen als sprachliche Einheiten charakterisiert, die ›wahr von‹ oder ›falsch von‹ Gegenständen sind, auf die sie im Rahmen von Aussagesätzen angewendet werden. Solche Leser können nämlich leicht erkennen, dass der Starke Konventionalismus, den Hermogenes formuliert, dann in eine Aporie führt, wenn man ihn mit dieser Charakterisierung von Namen kombiniert. Das gilt deswegen, weil der Starke Konventionalismus besagt, dass ein und derselbe Name durch entsprechende Entscheidungen zu einem richtigen Namen für verschiedene Gegenstände gemacht werden kann. So ist Hermogenes’ Überlegungen zufolge ja beispielsweise ein und derselbe Name »Mensch« gleichzeitig ein richtiger Name für alle Menschen und ein richtiger Name für alle Pferde, wenn alle konformistischen Sprecher des Deutschen der Konvention folgen, ihn als einen Namen für Menschen einzusetzen, während der non-konformistische Monas der Konvention folgt, ihn als einen Namen für Pferde einzusetzen. Da ein (richtiger) Name für bestimmte Gegenstände aber offenbar auch ›wahr von‹ genau diesen Gegenständen und ›falsch von‹ allen anderen Gegenständen ist, 83 muss Hermogenes annehmen, dass in dieser Situation gilt: (1988), 44–50, und Silverman (1992a), 31–34. Alle diese Interpreten stützen indessen ihre Diagnose auf die von Barney (1997) widerlegte Annahme, Hermogenes differenziere nicht zwischen der Einführung eines Namens und der Verwendung eines bereits eingeführten Namens. Barney (2001), 36–41, schlägt daher eine alternative Interpretation vor: Ihrer Meinung nach bringt Sokrates den Relativismus deswegen ins Spiel, weil Hermogenes vor der Wahl steht, entweder den Relativismus akzeptieren oder aber einräumen zu müssen, dass manche Be nennungskonventionen objektiv besser sind als andere. Denn Benennungskonventionen spiegeln Barneys Überlegungen zufolge (genau wie alle anderen Konventionen auch) immer Meinungen über die Wirklichkeit wieder; und wenn man den Relativismus ablehnt und dementsprechend Meinungen als objektiv wahr oder falsch bewertet, muss man – so Barney – auch einräumen, dass manche Benennungskonventionen deswegen objektiv besser sind als andere, weil sie im Gegensatz zu diesen wahre Meinungen widerspiegeln. Eine Widerlegung von Barneys Interpretation bietet Meißner (in Vorbereitung-2). 83 Diese Voraussetzung ist so offensichtlich, dass sie nie explizit formuliert wird – denn wer würde bezweifeln, dass dann, wenn es sich bei »N« um einen (richtigen) Namen für den Gegenstand X handelt, der Satz »X ist N« wahr ist?
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
(1) Der Name »Mensch« ist ›wahr von‹ Sokrates und ›falsch von‹ Sokrates. Dieses Ergebnis scheint Hermogenes auf die Annahme zu verpflichten, dass es gleichzeitig der Fall und nicht der Fall ist, dass Sokrates ein Mensch ist. Denn es scheint sich kaum bestreiten zu lassen, dass gilt: (2) Wenn der Name »N« ›wahr von‹ dem Gegenstand X ist, ist es der Fall, dass X N ist; und wenn der Name »N« ›falsch von‹ dem Gegenstand X ist, ist es nicht der Fall, dass X N ist.84 Aus (1) und (2) folgt aber offensichtlich: (3) Es ist der Fall und nicht der Fall, dass Sokrates ein Mensch ist.85 Mit dieser Schlussfolgerung befindet man sich zweifellos in einer Aporie. Will man nicht das Widerspruchsprinzip aufgeben, bleibt einem keine andere Wahl, als sie durch eine Relativierung von (3) zu entschärfen86 – also anzunehmen, dass es für die konformistischen Sprecher des Deutschen, die der Anwendung des Namens »Mensch« auf Sokrates zustimmen, der Fall ist, dass Sokrates ein Mensch ist, während es für Monas, der die Anwendung des Namens »Mensch« auf Sokrates nicht für korrekt hält, nicht der Fall ist, dass Sokrates ein Mensch ist. Unter dieser Voraussetzung hat aber die Frage, ob Sokrates ein Mensch ist, keine objektive Antwort: Man kann nur noch sagen, dass er für all diejenigen Sprecher, die die Anwendung des Namens »Mensch« auf ihn für korrekt halten, ein Mensch ist, und für all diejenigen Sprecher, die die Anwendung des Namens »Mensch« auf ihn für inkorrekt halten, kein Mensch ist. Und da sich dieses Ergebnis generalisieren lässt – nachdem ja die Anwendung eines jeden Namens auf einen Gegenstand nur für diejenigen Sprecher korrekt ist, die sie auf der GrundMan könnte einwenden, dass (2) nur gültig ist, wenn der erwähnte Name »N« zu derjenigen Sprache gehört, in der (2) formuliert ist – in diesem Fall also zum Deutschen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich zwar, dass der Name »Mensch«, der ›falsch von‹ Sokrates ist, tatsächlich nicht zur deutschen Sprache gehört, sondern zu Monas’ Sprache; aber darauf könnte sich Hermogenes, der davon ausgeht, dass Monas und die übrigen Sprecher des Deutschen denselben Namen »Mensch« unterschiedlich verwenden, ja gerade nicht berufen, um (2) zu attackieren. Hermogenes’ Problem liegt nicht in (2), sondern in (1): Er kann dem Schluss auf (3) nur entkommen, indem er entweder zwischen dem deutschen Namen »Mensch« und Monas’ Namen »Mensch« unterscheidet oder die Wahrheitszuschreibung auf die Sprache von Monas respektive auf das Deutsche relativiert. Vgl. zu diesen Optionen die weiteren Überlegungen des gegenwärtigen Abschnitts. 85 Meißner (in Vorbereitung-2) bietet eine ausführliche Verteidigung dieses Arguments. 86 Eine ganz ähnliche Überlegung stellt Sokrates in Tht. 152b–c an. 84
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lage einer entsprechenden Festlegung als korrekt beurteilen87 –, scheint Sokrates’ relativistische Schlussfolgerung, »dass die Dinge, wie sie mir zu sein scheinen, so für mich sind, wie [sie] aber für dich [zu sein scheinen], so für dich [sind]«, für den Vertreter des Starken Konventionalismus unausweichlich zu sein.88 Demnach hätte ein beliebiger Gegenstand dann, wenn er irgendeiner Person P irgendeine Eigenschaft E89 zu haben scheint, für P auch tatsächlich die Eigenschaft E; und die Frage, ob diesem Gegenstand die Eigenschaft E unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen zukommt, wäre gar nicht sinnvoll. Hermogenes’ These, jeder beliebige Name könne durch eine entsprechende Entscheidung zu einem Namen für beliebige Gegenstände gemacht werden, hat also in Kombination mit der Annahme, Namen seien ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen und ›falsch von‹ allen anderen Gegenständen, ohne Zweifel Konsequenzen, die nur für einen Protagoreischen Relativisten akzeptabel sind. Von seiner positiven Antwort auf die erste der beiden Rückfragen des Sokrates – »Wovon also jeder sagt, dass es der Name für etwas ist, dies ist der Name für jeden?« – führt also tatsächlich ein direkter Weg in den Relativismus. Ein ebenso direkter Weg scheint von seiner positiven Antwort auf Sokrates’ zweite Rückfrage – »Und von wie vielen Namen jemand sagt, dass sie zu jedem Ding gehören, so viele werden zu ihm gehören, und zwar dann, wann immer er es sagt?« – zur These des Euthydemos zu führen, dass »allen alles in derselben Weise zugleich und immer zukommt«; denn daraus, dass (1*) »Mensch« und »Pferd« ›wahr von‹ Sokrates Streng genommen ist es Monas’ Entscheidung, den Namen »Mensch« für Pferde zu verwenden, die in der Logik dieses Arguments dafür sorgt, dass beispielsweise Bukephalos für Monas ein Mensch ist. Man hätte es demnach mit einer dezisionistischen Variante des Relativismus zu tun, der zufolge die Gegenstände für eine jede Person so sind, wie sie will, dass sie sind. Auch in diesem Fall wären die Gegenstände nicht unabhängig von unseren mentalen Zuständen so, wie sie sind – und allein darauf scheint es Platon anzukommen. Auch in 386e–387d lässt er Sokrates dementsprechend nicht scharf unterscheiden zwischen der These, dass wir Handlungen so ausführen können, wie wir wollen, und der These, dass wir Handlungen so ausführen können, wie wir es für richtig halten. Wie Grote (21865), 513 f., zurecht anmerkt, führt die Ausblendung dieses Unterschieds zu einer aller Wahrscheinlichkeit nach inadäquaten Rekonstruktion von Protagoras’ Position – aber Adäquatheit in dieser Hinsicht scheint zumindest an dieser Stelle auch nicht Platons erste Priorität zu sein. 88 Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Gegenstand für alle Mitglieder einer bestimmten Gruppe eine bestimmte Eigenschaft zu haben scheint und sie damit für die Mitglieder dieser Gruppe auch tatsächlich hat – dass also etwa für alle Sprecher des Deutschen außer Monas Sokrates ein Mensch ist. 89 Eine Einschränkung des Relativismus auf bestimmte Eigenschaften – etwa die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften – scheint nicht intendiert zu sein und wäre angesichts der Tatsache, dass sich Sokrates’ Argument für (3) auf jeden beliebigen Namen übertragen ließe, auch nicht zu rechtfertigen. 87
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sind, folgt mit (2), dass (3*) Sokrates ein Mensch und ein Pferd zugleich ist. Da allerdings der Protagoreische Relativismus auch (3*) entschärfen kann, während zumindest unklar ist, wie die These des Euthydemos zu (3) passt,90 wäre Hermogenes im Zweifelsfall besser beraten, den Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren. Daran scheint er ohnehin nicht vorbeizukommen, wenn er an seiner These festhalten will, jeder beliebige Name könne durch eine entsprechende Entscheidung zu einem Namen für beliebige Gegenstände gemacht werden, ohne dadurch in einen Konflikt mit dem in 385b2–d1 entwickelten Argument zu geraten. Es ist also diese These, die Hermogenes in Nöte bringt, und nicht – oder nicht in erster Linie – seine Anerkennung privater Benennungskonventionen. Auch wenn Hermogenes davon ausginge, dass nur Sprechergruppen Benennungskonventionen einführen können, wäre er schließlich mit der analogen Schwierigkeit konfrontiert, dass für verschiedene Sprechergruppen derselbe Name zugleich ›wahr von‹ und ›falsch von‹ denselben Gegenständen sein kann.91 Um einen Vertreter des Starken Konventionalismus auf diese Weise zu widerlegen, muss man nicht unbedingt auf die semi-technische Formulierung zurückgreifen, nach der Namen ›wahr von‹ oder ›falsch von‹ Gegenständen sind.92 Entscheidend ist der sachliche Zusammenhang, den Sokrates in 385b2–d1 ans Licht bringt: Namen sind sprachliche Einheiten, für die es wesentlich ist, dass sie dann, wenn sie im Rahmen eines Aussagesatzes auf einen Gegenstand angewendet werden, den Wahrheitswert der getroffenen Aussage bestimmen. Dieser Denn für Protagoras besagt ja (3*) nur, dass Sokrates für Monas ein Pferd ist, für die konformistischen Sprecher des Deutschen hingegen ein Mensch. Ob Euthydemos’ These umgekehrt aber auch zu erklären vermag, wie Sokrates zugleich ein Mensch und kein Mensch sein kann, erscheint zweifelhaft. 91 Man könnte sich fragen, ob Hermogenes’ Unterscheidung zwischen dem Akt des tithenai, der Einführung eines Namens für bestimmte Gegenstände, und dem Akt des kalein, der (korrekten oder inkorrekten) Anwendung eines bereits eingeführten Namens auf einen Gegenstand, ihm diese Schwierigkeit nicht vom Leib halten sollte. De facto erklärt aber diese Unterscheidung für sich genommen nicht, wie die Anwendung des Namens »Mensch« auf Sokrates korrekt sein kann, wenn ein konformistischer Sprecher des Deutschen sie vollzieht, aber inkorrekt, wenn Monas sie vollzieht. Um dies zu erklären, muss man, wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels deutlich werden wird, entweder annehmen, dass Monas und der konformistische Sprecher des Deutschen gar nicht denselben Namen auf Sokrates anwenden, oder man muss Korrektheit und Inkorrektheit der Anwendung des Namens und damit auch Wahrheit und Falschheit entsprechender Aussagesätze auf die von Monas und dem konformistischen Sprecher des Deutschen befolgte Konvention relativieren. Die Unterscheidung zwischen tithenai und kalein kann sicherlich dabei helfen, sich dieser beiden Möglichkeiten bewusst zu werden, nimmt einem diese Aufgabe aber keineswegs ab. 92 Hermogenes selbst jedenfalls dürfte mit dieser Schwierigkeit bisher nur in einer weniger expliziten Gestalt konfrontiert gewesen sein – er könnte beispielsweise darauf aufmerksam geworden sein, dass seiner These zufolge der Satz »Sokrates ist ein Mensch« sowohl wahr als auch falsch und daher Sokrates sowohl ein Mensch als auch kein Mensch sein muss. 90
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Zusammenhang ist es, der den Vertreter der These, ein und derselbe Name könne durch die Einführung entsprechender Konventionen zu einem Namen für ganz verschiedene Gegenstandsklassen gemacht werden, in die beschriebene Aporie geraten lässt und ihn damit empfänglich für die Verlockungen des Protagoreischen Relativismus macht. Wer – wie Hermogenes – nicht bereit ist, den Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren, kann daher umgekehrt nicht an dieser These, kann also nicht am Starken Konventionalismus festhalten; denn zu bestreiten, dass Namen im erläuterten Sinne ›wahr oder falsch gesagt‹ werden können, ist keine Option. Ein Leser, der sich im Ausgang von Sokrates’ Überlegungen in 385b2–d1 erschlossen hat, in welche Aporie Hermogenes geraten ist, wird also erkennen, dass die von diesem zu Beginn des Dialogs formulierte – und auf den ersten Blick ja auch sehr einleuchtende – Position nicht oder jedenfalls nur zu einem absurd hohen Preis zu halten ist. Aber muss Hermogenes deswegen tatsächlich die Waffen strecken und die konventionalistischen Intuitionen aufgeben, die er durch die Formulierung des unhaltbaren Starken Konventionalismus zum Ausdruck zu bringen versucht? Ein Leser, der diese Intuitionen teilt und daher an ihrer Verteidigung interessiert ist, wird sich diese Frage zweifellos vorlegen, nachdem er die Aporie rekonstruiert hat, in die der Starke Konventionalismus führt. Und er kann durch ihre Untersuchung zu einer entscheidenden Einsicht vorstoßen: Denn tatsächlich lässt Sokrates’ Argumentation in 385b2–d1 nicht nur den Konnex zwischen dem Starken Konventionalismus und dem Protagoreischen Relativismus deutlich werden – sondern legt bei genauerer Betrachtung auch eine Differenzierung zwischen Namen und Lautfolgen nahe, die eine umsichtigere Formulierung konventionalistischer Intuitionen ermöglicht. Wenn man nämlich im Sinne dieser Argumentation den Namen als eine sprachliche Einheit charakterisiert, die einen bestimmten Beitrag zur Festlegung der Wahrheitsbedingungen der Sätze leistet, in denen sie vorkommt, ist diese Differenzierung äußerst naheliegend: Im beschriebenen Beispielfall leistet Monas’ »Mensch« schließlich nicht denselben Beitrag zur Festlegung der Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen wie der deutsche Name »Mensch«; vielmehr scheint Monas die Lautfolge *Mensch* zu einem anderen Namen gemacht zu haben als diejenigen Sprecher des Deutschen, die diese Lautfolge durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem Namen für Menschen gemacht haben.93 Unterschiede Hermogenes konsequent zwischen Namen und Lautfolgen, könnte er sich die probleAuch Gold (1978) und Ketchum (1979) kommen zu der Schlussfolgerung, dass im Kratylos die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen in Frage gestellt wird; aber sie sehen nicht, dass diese wichtige Pointe bereits in 385b2–d1 vorbereitet wird (auch wenn zumindest Ketchum betont, dass Hermogenes zwecks Präzisierung seiner Position klären müsste, ob für ihn ein Name eine Lautfolge ist: 135 f.). 93
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matische Konsequenz, dass derselbe Name ›wahr von‹ und ›falsch von‹ denselben Gegenständen sein kann, leicht vom Leib halten.94 Es hat daher einen guten Sinn, wenn Platon Sokrates nach der Zurückweisung des Relativismus Hermogenes’ Position nicht für widerlegt erklären lässt, obwohl die These, die Hermogenes de facto formuliert, nur unter Inkaufnahme relativistischer Konsequenzen zu halten ist: Denn der Gedanke, den Hermogenes zum Ausdruck zu bringen versucht, hat sich noch nicht als falsch erwiesen – inadäquat ist nur seine Formulierung. Nun könnte man einwenden, dass die Unterscheidung zwischen Lautfolgen und Namen keineswegs die einzige Möglichkeit ist, die Hermogenes hat, um diesen Gedanken umsichtiger zu formulieren und sich so gegen Schwierigkeiten abzusichern: Er könnte sich nämlich stattdessen auch darum bemühen, die Diagnose, dass derselbe Name ›wahr von‹ und ›falsch von‹ denselben Gegenständen sein kann, als harmlos zu erweisen. Zu diesem Zweck könnte Hermogenes auf eine geeignete Relativierung dieser Diagnose dringen. Demnach wäre etwa der Name »Mensch« in Relation zu der von den Sprechern des Deutschen befolgten Verwendungskonvention ›wahr von‹ Menschen, ›falsch von‹ Menschen hingegen in Relation zu der von Monas befolgten Verwendungskonvention; ihm kämen also bei genauerer Betrachtung keine miteinander unvereinbaren Eigenschaften zu. Allgemein gesprochen, wäre ein Name nie in einem absoluten Sinne ›wahr von‹ Gegenständen, sondern immer nur relativ zu einer einzelnen Konvention beziehungsweise relativ zu der betreffenden Sprache;95 und auch ein Satz könnte dementsprechend nie in einem absoluten Sinne wahr sein, sondern nur relativ zu einer bestimmten Sprache.96 Eine solche Relativierung der Rede von Wahrheit auf bestimmte Sprachen ist technisch möglich, wie Alfred Tarskis formale Theorie der Wahrheit eindrucksvoll bezeugt.97 Dieser Weg stünde Hermogenes also tatsächlich offen. Aber technische Machbarkeit verbürgt in diesem Fall eben keineswegs sprachphilosophische Plausibilität: Denn de facto würde man ja, wenn ein Sprecher einen Satz äußert, nicht behaupten wollen, dass dieser Satz in Relation zu bestimmten Sprachen wahr, in Relation zu bestimmten Sprachen falsch und in Relation zu Das sieht auch Keller (2000), 290, integriert diese Beobachtung aber nicht in seine Interpretation des Kratylos. 95 Freilich wäre ein Name in den meisten Fällen in Relation zu einer bestimmten Sprache weder ›wahr von‹ noch ›falsch von‹ irgendwelchen Gegenständen – »Grünkohl« dürfte etwa in Relation zu den allermeisten Sprachen außer dem Deutschen weder ›wahr von‹ noch ›falsch von‹ irgendetwas sein. Gleiches gilt für die Wahrheit von Sätzen. 96 Ob ein Satz in einer bestimmten Sprache wahr ist, hinge dabei nicht davon ab, ob die Sprecher dieser Sprache ihn für wahr halten – die Relativierung des Wahrheitsprädikats zieht also gerade keinen Relativismus à la Protagoras nach sich. 97 Tarski entfaltet diese Theorie in seiner epochemachenden Arbeit »Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen« (in: Studia Philosophica 1 [1936], 261–405). 94
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den allermeisten Sprachen schlicht sinnlos ist; man würde vielmehr annehmen, dass der geäußerte Satz zu einer bestimmten Sprache gehört und ohne jede Relativierung wahr oder falsch ist. Es ist viel artifizieller und viel weiter von dem unrelativierten Wahrheitsbegriff des alltäglichen Sprechens und Denkens entfernt, den Aussagesatz »Sokrates ist ein Mensch« als wahr in Relation zum Deutschen, falsch in Relation zu Monas’ Sprache und sinnlos in Relation zu allen anderen Sprachen einzustufen, als davon auszugehen, dass Monas und ein konformistischer Sprecher des Deutschen nicht denselben Satz aussprechen,98 wenn sie die Lautfolge *Sokrates ist ein Mensch* artikulieren; und demnach auch viel unnatürlicher, anzunehmen, dass der Name »Mensch« in Relation zum Deutschen ›wahr von‹ Menschen, in Relation zu Monas’ Sprache ›wahr von‹ Pferden und in Relation zu allen anderen Sprachen weder wahr noch falsch von irgendwelchen Gegenständen ist, als davon auszugehen, dass Monas und ein konformistischer Sprecher des Deutschen nicht denselben Namen verwenden, wenn sie die Lautfolge *Mensch* artikulieren.99 Hermogenes hätte also zwar die Möglichkeit, durch ein Relativierungsmanöver à la Tarski der Schlussfolgerung, dass derselbe Name ›wahr von‹ und ›falsch von‹ denselben Gegenständen sein kann, ihren Schrecken zu nehmen, würde sich damit aber ohne Not weit von dem unrelativierten Wahrheitsbegriff des common sense entfernen.100 Er könnte freilich auch an seiner Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen festhalten, dieser Schlussfolgerung seine Anerkennung verweigern und darauf beharren, dass diejenigen sprachlichen Einheiten, die ›wahr von‹ und ›falsch von‹ Gegenständen sind, nicht als ›Namen‹ bezeichnet, sondern mit irgendeinem anderen Titel versehen werden sollten. Aber auch das ist keine sonderlich attraktive Option, erlaubte sie es Hermogenes doch nicht, an der Annahme festzuhalten, dass ein Name sich dadurch auszeichnet, dass seine Man kann selbstverständlich die Lautfolge *Sokrates ist ein Mensch* dennoch weiterhin einen Aussagesatz nennen, muss sich aber darüber im Klaren sein, dass man dann dem Ausdruck »Aussagesatz« einen neuen Sinn verliehen hat – denn üblicherweise würde man davon ausgehen, dass ein Aussagesatz einen Wahrheitswert hat. Dementsprechend müsste man sagen, dass Monas und ein konformistischer Sprecher des Deutschen in einem gewissen Sinne denselben Aussagesatz aussprechen, wenn sie die Lautfolge *Sokrates ist ein Mensch* artikulieren, in einem anderen Sinne hingegen nicht denselben Aussagesatz aussprechen. 99 Die Überlegung der vorhergehenden Anmerkung lässt sich auf diesen Fall übertragen: Man kann daran festhalten, auch die bloße Lautfolge als »Name« zu bezeichnen, muss aber dann beachten, dass der Ausdruck »Name« doppeldeutig ist, weil er zum einen eine bloße Lautfolge bezeichnen kann, zum anderen aber auch eine sprachliche Einheit, die ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen und ›falsch von‹ allen anderen Gegenständen ist. 100 Ein weiterer sprachphilosophischer Nachteil dieses Manövers besteht darin, dass es den Eindruck erweckt, als seien bloße Lautfolgen für sich genommen schon sprachliche Einheiten, die gleichsam nur darauf warten, in dieser oder jener Weise verwendet zu werden. Dass dieses Bild naiv ist, werden die Überlegungen des sechsten Kapitels dieser Studie zeigen. 98
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Anwendung auf Gegenstände korrekt oder inkorrekt sein kann. Wenn Hermogenes diese höchst plausible Annahme nicht aufgeben und der Protagoreische Relativismus oder die artifizielle Relativierung des Wahrheitsprädikats für ihn nicht in Frage kommen, sollte er seine Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen aufgeben und annehmen, dass Monas’ Name »Pferd« nicht derselbe Name ist wie der deutsche Name »Pferd«. Unterschiede Hermogenes auf diese Weise zwischen Namen und Lautfolgen, würde für ihn die Differenz zwischen dem Starken Konventionalismus und dem Schwachen Konventionalismus erkennbar; und er könnte den Starken Konventionalismus wegen seiner drohenden relativistischen Konsequenzen aufgeben, bis auf Weiteres aber am Schwachen Konventionalismus festhalten. Sokrates’ Überlegung in 385b2–d1 kann also (insbesondere in Kombination mit seiner anschließenden Diskussion des Relativismus) auch als eine subtil formulierte Einladung an Hermogenes betrachtet werden, seine Konzeption des Namens zu überdenken und auf diese Weise seine Position zu schärfen und gegen Probleme abzusichern. Hermogenes selbst scheint allerdings weit davon entfernt zu sein, diese Einladung anzunehmen oder auch nur als solche zu begreifen: Er stellt gar nicht die Frage, wie man die sprachlichen Einheiten, die ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen und ›falsch von‹ allen anderen Gegenständen sind, näher zu charakterisieren hat, und hinterfragt daher auch die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nicht. Dem expliziten Austausch zwischen Hermogenes und Sokrates fehlt daher eine Tiefendimension, die für einen aufmerksamen Leser, der sich mit Hermogenes als Vertreter des common sense identifiziert, aber über mehr Zeit (und vielleicht auch über mehr Geistesgegenwart) verfügt als er, präsent ist. Platons Inszenierung der Hinführung zur Werkzeug-Analogie in 383a–386e ist insofern durch eine gewisse Doppelbödigkeit gekennzeichnet: Auf der Ebene des Gesprächs zwischen Sokrates und Hermogenes ist keine Alternative zum Starken Konventionalismus als Formulierung konventionalistischer Intuitionen erkennbar; Hermogenes kann diese Intuitionen daher nicht zum Ausdruck bringen, ohne sich einer Aporie auszuliefern, der er nur durch die Flucht in den Relativismus entkommen kann. Für einen Leser, der auf die in der Einleitung beschriebene Weise in einen Dialog mit dem Dialog zwischen Sokrates und Hermogenes eintritt, wird hingegen erkennbar, dass mit dem Schwachen Konventionalismus eine solche Alternative dann zur Verfügung steht, wenn man zwischen Namen und Lautfolgen unterscheidet. Da er Hermogenes’ konventionalistische Intuitionen teilen dürfte, wird er den weiteren Argumentationsgang des Kratylos aus der Perspektive eines Vertreters des Schwachen Konventionalismus verfolgen. Damit ist im Hinblick auf die beiden Leitfragen der vorliegenden Studie ein erstes wichtiges Zwischenergebnis erreicht: Ein Konventionalist wie Hermogenes
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hat in jedem Fall einen guten Grund, den mit der Behauptung einer natürlichen Richtigkeit der Namen unverträglichen Starken Konventionalismus, der aus der Perspektive des common sense auf den ersten Blick sehr einleuchtend erscheint, zugunsten des subtileren Schwachen Konventionalismus aufzugeben. Zugleich ist aber auch klar, dass die Frage, für welche weiteren Schritte Sokrates einem Konventionalisten wie Hermogenes gute Gründe liefert, strikt von der Frage zu trennen ist, auf welche weiteren Schritte Sokrates’ Argumentation Hermogenes aus dessen eigener Perspektive verpflichtet. Ein Konventionalist wie Hermogenes – oder, mit anderen Worten, ein typischer Leser des Kratylos – hat schließlich einstweilen keinen guten Grund, seine konventionalistischen Intuitionen aufzugeben, nur weil der Starke Konventionalismus in eine Aporie führt, während es für Hermogenes, der sich nicht von der Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen löst, durchaus so scheinen mag, als könne er an seinen konventionalistischen Intuitionen nicht festhalten. Zu rechnen ist damit, dass Hermogenes auch im weiteren Untersuchungsgang Schlüsse für unausweichlich halten wird, die ein Konventionalist wie er eigentlich nicht akzeptieren muss; und zu fragen sein wird daher stets, welchen Schlüssen ein Vertreter des Schwachen Konventionalismus mit gutem Grund zustimmen kann. Das Argument, das einen solchen Konventionalisten von der Behauptung einer natürlichen Richtigkeit der Namen überzeugen müsste, entwickelt Sokrates freilich noch nicht in der Passage 383a–386e, sondern erst in der sich anschließenden Werkzeug-Analogie. Insbesondere durch seine Zurückweisung des Protagoreischen Relativismus in 385e–386e bereitet er aber diesem Argument auf unauffällige Art und Weise den Boden, wie hier, um das vorliegende Kapitel abzuschließen und zugleich einen Ausblick auf die folgenden Kapitel zu geben, noch in der gebotenen Kürze darzustellen ist. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht die Überlegung, die Sokrates gegen den Relativismus ins Feld führt: Denn ihre zentrale Prämisse, nach der in einer relativistisch verfassten Wirklichkeit absurderweise kein Unterschied zwischen klugen und weniger klugen und damit zwischen guten und schlechten Menschen gemacht werden könnte, muss ein überzeugter Relativist, wie Sokrates selbst im Theaitetos bemerkt, nicht akzeptieren.101 Entscheidend ist vielmehr, Denn auch ein Relativist kann zwischen klugen und unklugen Menschen unterscheiden, wenn er Klugheit als die Fähigkeit bestimmt, bei sich (und eventuell auch anderen) Empfindungsund Meinungszustände herbeizuführen, die für ihn (oder andere) nützlich sind: Tht. 166d–167d. Vgl. dazu Burnyeat (1990), 22–28. Platon lässt demzufolge Sokrates im Kratylos ein Argument vorbringen, dessen Stichhaltigkeit ein anderer Dialog zumindest zweifelhaft macht. Das muss nicht bedeuten, dass Platon erst nach der Abfassung des Kratylos diese Schwachstelle des Arguments identifiziert hat, sondern kann auch ein Hinweis darauf sein, dass er in 385e–386e (wie in vielen anderen Fällen) nicht an 101
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dass diese Überlegung hinreicht, um Hermogenes von einer – freilich nur sehr skizzenhaften – anti-relativistischen Beschreibung der Wirklichkeit zu überzeugen, die als ontologische Basis der weiteren Untersuchung fungieren wird. Im Zentrum dieser Beschreibung der Wirklichkeit steht die These, »dass die Dinge für sich irgendein eigenes stabiles Sein (ousia) haben« und »nicht in Bezug auf uns [sind] und […] nicht von uns durch unsere Vorstellungen hin und her gezogen« werden. Umgekehrt lässt sich Sokrates’ Rekonstruktion zufolge der Protagoreische Relativismus auch auf die These zuspitzen, die ousia oder das »Sein« der Gegenstände sei »für jeden privat«. Was damit gemeint ist, wird verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass dann, wenn Protagoras recht hat, die Frage, ob Sokrates ein Mensch ist, in ihrer unrelativierten Form gar nicht beantwortet werden kann; beantwortet werden kann nur die Frage, ob Sokrates für Hermogenes ein Mensch ist, oder die Frage, ob er für Kratylos ein Mensch ist. In diesem Sinne ist in einer relativistischen Welt das Mensch-Sein »für jeden privat«: Man kann in einer solchen Welt gar nicht ohne Relativierung vom Mensch-Sein sprechen, sondern muss unterscheiden zwischen dem Mensch-Sein-für-Sokrates, dem Mensch-Sein-für-Hermogenes, dem Mensch-Sein-für-Kratylos etc. Demzufolge ist die Rede von der Privatheit der ousia zunächst einmal nur eine alternative Weise, dem relativistischen Kerngedanken Ausdruck zu verleihen, dass alle Gegenstände für einen Beobachter stets so sind, wie sie ihm zu sein scheinen – was sehr gut zu Sokrates’ Vorgehen stimmt: Denn Sokrates erläutert ja in 385e4–386a3 die Behauptung, die ousia der Gegenstände sei »für jeden privat«, indem er sie ohne weiteren Kommentar mit der These gleichsetzt, »dass die Dinge, wie sie mir zu sein scheinen, so für mich sind, wie [sie] aber für dich [zu sein scheinen], so für dich [sind]«. Statt davon zu sprechen, dass Gegenstände niemals objektiv und betrachterunabhängig E sein können, sondern stets nur für einen Betrachter P, kann man demnach auch davon sprechen, dass das E-Sein »für jeden privat ist«. (Um die Selbstverständlichkeit, mit der Sokrates wegen der engen Verwandtschaft zwischen den Termen einai und ousia im Griechischen zwischen diesen beiden Redeweisen hin und herwechseln kann, auch im Deutschen spürbar werden zu lassen, soll ousia in dieser Studie konsequent mit »Sein« oder – insbesondere dann, wenn ein Plural zu bilden ist – mit »Seinsweise« übersetzt werden.102) Lehnt man hingegen Protagoras’ These ab, wird man eine objektive Antwort auf die Frage, ob Sokrates ein Mensch ist, für möglich halten – eine Antwort also, der endgültigen Widerlegung einer These interessiert ist, sondern Sokrates bewusst mit einem einfacheren Argument ausstattet, das auf den Meinungen seines Gesprächspartners aufbaut und hinreicht, zumindest ihn zu überzeugen. 102 Ähnlich z. B. Szaif (21998), 459 mit Anm. 156. Mit »essence« bzw. »essenza« übersetzen dagegen Grote (21865), 507, Méridier und Minio-Paluello. Vgl. dazu Anm. 108.
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die nicht davon abhängt, ob irgendjemand meint oder will, dass Sokrates ein Mensch ist, oder Sokrates als Menschen wahrnimmt. Wenn Sokrates wirklich ein Mensch ist, ist er es nicht für jemanden, sondern simpliciter und unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen. Sokrates’ Mensch-Sein ist also, so könnte man diesen Gedanken umformulieren, insofern stabil, als es betrachterunabhängig ist. Die Stabilität der ousia scheint daher nicht (oder nicht in erster Linie) als diachrone Konstanz aufzufassen zu sein,103 sondern als Unabhängigkeit von den ihrerseits oftmals volatilen Meinungen und Festsetzungen einzelner Personen oder Gruppen.104 Sokrates ist vielerlei in dieser stabilen, betrachterunabhängigen Weise – er ist ja beispielsweise zweifellos stülpnasig, kahlköpfig und ein Philosoph. Hat Sokrates also viele stabile ousiai? Dagegen spricht auf den ersten Blick, dass in 385d–386e stets nur behauptet wird, Gegenstände besäßen eine stabile ousia, während niemals im Plural von ousiai gesprochen wird.105 Dieses Problem lässt sich allerdings leicht lösen: Sokrates scheint es nämlich in erster Linie gar nicht um die Stabilität der ousia einzelner Gegenstände zu gehen, sondern um die Stabilität der ousia von Gegenständen (vgl. ta onta in 385e4 f. sowie ta pragmata in 386a2 und e1 f.). Sokrates steht, so darf man vor diesem Hintergrund vermuten, folgender Zusammenhang vor Augen: Allen Gegenständen, die wirklich E sind, kommt das E-Sein als eine stabile ousia betrachterunabhängig zu – den Menschen kommt also das Mensch-Sein betrachterunabhängig zu, den Stülpnasigen das Stülpnasig-Sein und den Philosophen das Philosoph-Sein. Einem einzelnen Gegenstand werden daher zwar in einem gewissen Sinne immer mehrere ousiai zukommen; qua Angehöriger einer Art von Gegenständen hat er aber nur eine ousia, die auch allen anderen Angehörigen der betreffenden Art zukommt. Die Pointe von Sokrates’ anti-relativistischen Überlegungen ist demnach, dass vollkommen unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen feststeht, wie Gegenstände sind106 – dass also unabhänGleichwohl scheint für Platon ein Zusammenhang zu bestehen zwischen der Leugnung jeglicher diachroner Konstanz durch eine radikale Flusstheorie und der Protagoreischen Leugnung der Stabilität der ousia. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des neunten Kapitels dieser Studie. 104 So ganz richtig Burnyeat (1990), 49 Anm. 64. 105 Interessanterweise wird in allen Platonischen Dialogen zusammengenommen das Wort ousia nur siebenmal im Plural verwendet – der Genitiv Plural ousias kommt fünfmal, der Dativ Plural ousiais zweimal vor. 106 Es gibt freilich Fälle, in denen der Wahrheitswert eines Aussagesatzes über einen Gegenstand nicht unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen feststehen kann – dann nämlich, wenn der Aussagesatz behauptet, dass ein Mensch etwas wahrnimmt, meint oder entscheidet. Aber diesem Ausnahmefall ließe sich durch entsprechende Einschränkungen leicht Rechnung tragen. 103
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Hermogenes’ Perspektive auf Namen
gig von möglichen Betrachtern manche Gegenstände Menschen sind, manche Gegenstände Bäume und manche Gegenstände rot. Die These von der Stabilität der ousia scheint nichts weiter zu besagen, als dass all das, was wirklich auf bestimmte Weise ist, objektiv oder betrachterunabhängig so ist.107 Man wüsste gern mehr über Seinsweisen oder ousiai und ihr Verhältnis zu den Gegenständen, denen sie zukommen; und es liegt nahe, zu diesem Zweck auf die in anderen Dialogen ausgearbeitete Platonische Ontologie und insbesondere die Ideenannahme zu rekurrieren. Tatsächlich ist, wie sich in nachfolgenden Kapiteln zeigen wird, die Rede von stabilen ousiai ontologisch geladen.108 Aber das darf nicht den Blick darauf verstellen, dass Platon mindestens in 385d–386e bestrebt zu sein scheint, Sokrates’ kurze Skizze einer anti-relativistischen Position möglichst frei zu halten von theoretischem Ballast, und ihn an dieser Stelle offenbar bewusst das ontologische Profil der postulierten stabilen ousiai nicht weiter schärfen lässt als unbedingt notwendig. Was hinter dieser auf den ersten Blick überraschenden ontologischen Zurückhaltung stecken könnte, wird zu gegebener Zeit noch zu diskutieren sein.109 Mit der Fokussierung auf die stabile ousia von Gegenständen geht nun eine zunächst unauffällig bleibende, für den weiteren Verlauf des Kratylos aber entscheidende Verschiebung der Perspektive auf den Namen als den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung einher: Hermogenes’ Position geht aus einer Reflexion auf das Verhältnis zwischen Namen und Gegenständen hervor110 – eine Reflexion, die ihn wegen der naiven Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen zu der ihrem Buchstaben nach höchst problematischen These geführt hat, jeder Name könne durch eine entsprechende Entscheidung zu einem Namen für bestimmte Gegenstände gemacht werden. Sokrates’ Argument in 385b2–d1 wirft ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Namen und benannten Gegenständen, indem es verdeutlicht, dass man durch die Anwendung eines Namens Es wären natürlich auch eingeschränkte Versionen dieser These denkbar – denn es erscheint ja, um ein Beispiel von Wright (1992), 7–11, aufzugreifen, durchaus fraglich, ob das, was lustig ist, wirklich unabhängig von menschlichen Meinungen und Wahrnehmungen lustig sein kann. Von Sokrates wird diese Möglichkeit allerdings nicht erwogen. 108 Deswegen macht es sich Ademollo (2011), 77, in einem gewissen Sinne zu einfach, wenn er über den Terminus ousia sagt: »The term here cannot have the typical meaning ›essence‹, which many interpreters ascribe to it, and which it seems to acquire later in the discussion […], because Protagoras’ thesis is not especially concerned with the essence of things. Rather, οὐσία must be a mere nominalization of the copula and stand in for any property […].« Denn während eine Übersetzung von ousia mit »Sein« an dieser Stelle sicherlich angemessener ist, ist bei Platon der Weg von einem kopulativ gebrauchten einai zu der auf eine Definition einer Essenz abzielenden ti esti-Frage sehr kurz. 109 Siehe dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des fünften Kapitels. 110 Vgl. Palumbo (2005), 69, der ebenfalls auf den Perspektivwechsel hinweist, der mit der Einführung der Konzeption stabiler ousiai einhergeht. 107
I. Ein Konventionalist, zwei Konventionalismen
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auf diejenigen Gegenstände, deren Name er ist, etwas Wahres sagt, durch seine Anwendung auf alle anderen Gegenstände hingegen etwas Falsches. Sokrates’ Überlegungen in 385d–386e führen nun noch einen Schritt über dieses Ergebnis hinaus, weil die Thematisierung der ousia der mit einem Namen wie »Mensch« benannten Gegenstände eine vertiefte Analyse des sprachlichen Aktes ermöglicht, der durch die Anwendung des betreffenden Namens auf einen Gegenstand vollzogen wird: Zieht man nämlich die Konsequenzen aus dem, was Sokrates sagt, gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass durch die Anwendung des Namens »Mensch« auf einen Gegenstand diesem Gegenstand das Mensch-Sein zugesprochen wird, und dass die dabei getroffene Aussage genau dann wahr ist, wenn dem betreffenden Gegenstand das Mensch-Sein auch tatsächlich zukommt. Generalisiert man diesen Befund, wird man davon ausgehen, dass die Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand deswegen als wahr oder falsch bewertet werden kann, weil durch den Einsatz des Namens eine bestimmte ousia herausgegriffen wird, die dem betreffenden Gegenstand unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen entweder zukommt oder nicht zukommt. Träfe diese Diagnose zu, müsste bei der Untersuchung der Richtigkeit der Namen nicht das zweistellige Verhältnis zwischen Name und zu benennenden Gegenständen, sondern das dreistellige Verhältnis zwischen dem Namen, den zu benennenden Gegenständen und ihrer ousia betrachtet werden. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, vollzieht sich diese in 385d–386e angebahnte Neuausrichtung der Untersuchung tatsächlich in der Werkzeug-Analogie. Dort kulminiert sie schließlich in der Bestimmung des Namens als eines Werkzeugs zur Unterscheidung der ousia in 388b, die Sokrates zu der Schlussfolgerung führen wird, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt.
Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie (386e–391b)
Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Überblick über den ersten Teil
Bereits im ersten Stadium von Sokrates’ Auseinandersetzung mit der Position des Hermogenes verschiebt sich, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, der Blickwinkel, aus dem die beiden Gesprächspartner den Namen als Gegenstand ihrer Untersuchung betrachten: Während Hermogenes bei der Formulierung seiner konventionalistischen Intuitionen Namen und Lautfolgen gleichsetzt, entwickelt Sokrates im Rahmen des Arguments, das er in 385b2–d1 vorträgt, eine von dieser Gleichsetzung unabhängige Charakterisierung des Namens – die de facto sogar geeignet ist, einem Leser, der Hermogenes’ Intuitionen teilt, den Unterschied zwischen Namen und Lautfolgen vor Augen zu führen. Dieser Charakterisierung zufolge ist ein Name eine sprachliche Einheit, die beim Treffen einer Aussage korrekter- oder inkorrekterweise auf den Aussagegegenstand angewendet wird und dementsprechend ›wahr von‹ oder ›falsch von‹ diesem Gegenstand gesagt wird. Der Name ist, mit anderen Worten, eine sprachliche Einheit, mit der eine bestimmte sprachliche Handlung vollzogen wird. Wenn Sokrates daher im direkten Anschluss an seine Widerlegung des Protagoreischen Relativismus in 385e–386e eine Analogie zwischen Namen und alltäglichen Werkzeugen wie Messern oder Bohrern zu entwickeln beginnt, die ihn schließlich zu der in 391a formulierten Konklusion führen wird, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat«, setzt er mit seiner Untersuchung nicht etwa, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, neu an. Ganz im Gegenteil: Wenn der Name eine sprachliche Einheit ist, die dem Vollzug einer bestimmten sprachlichen Handlung dient, ist es durchaus naheliegend, ihn – wie Sokrates es in der Werkzeug-Analogie tut – mit Gebrauchsgegenständen zu vergleichen, die ebenfalls dem Vollzug bestimmter Handlungen dienen. Sokrates’ Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass sein Argument gegen den Relativismus es rechtfertigt, nicht nur Gegenständen eine stabile ousia, sondern auch Handlungen eine eigene Natur zuzuschreiben, der gemäß sie vollzogen werden müssen. Wie er einer Diskussion der als Beispiele herangezogenen Handlungen des Schneidens und Brennens entnimmt, folgt daraus insbesondere, dass Handlungen mit einem Werkzeug durchgeführt werden müssen, das ihrer Natur entspricht (387a2–b7). Dieses Ergebnis appliziert er in der Folge (387b8–388c2) auf die Handlung des Nennens (onomazein), die als Teilhandlung des Sprechens (legein) ebenfalls eine eigene Natur hat. Als Werkzeug des Nennens muss der Name daher auch eine natürliche Anforderung erfüllen – er muss sich, so geht aus der näheren Bestimmung des Nennens durch Sokrates hervor, »zur Belehrung und zur Unterscheidung des Seins« (388b13–c1) eignen. Das aber bedeutet, wie
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Sokrates in einer Art Zwischenfazit dieser ersten Etappe der Werkzeug-Analogie festhält (388c3–389a4), dass Namen nur von einem Fachmann eingeführt werden können, der über die entsprechende technê verfügt: dem nomothetês nämlich, dem Brauchsetzer oder Gesetzgeber, »der bei den Menschen von den Handwerkern als seltenster auftritt« (389a2 f.). In der zweiten Etappe der Werkzeug-Analogie (389a5–390a8) thematisiert Sokrates die Frage, unter welchen Bedingungen einem Nomotheten die Einführung eines Namens gelingt, der die zuvor beschriebene natürliche Anforderung erfüllt. Ein Vergleich mit der Produktion alltäglicher Werkzeuge führt zu einer auf den ersten Blick ziemlich verwickelten Antwort: Demnach muss ein Nomothet, um einen solchen Namen einzuführen, einerseits »auf jenes selbst, was ein Name ist« (389d6 f.), sehen – muss sich also, wie aus dem Kontext deutlich wird, an der Idee des Namens orientieren. Andererseits darf er aber auch den spezifischen Zweck nicht aus den Augen verlieren, dem der einzuführende Name dienen soll, und muss dementsprechend »die jedem angemessene Idee des Namens in Silben welcher Art auch immer« (390a6 f.) wiedergeben – also, so wird man annehmen dürfen, die Idee eines für den betreffenden Zweck geeigneten Namens. In der dritten und letzten Etappe der Werkzeug-Analogie (390a9–d6) erörtert Sokrates schließlich die Frage, wer zu beurteilen versteht, ob ein Nomothet bei seiner Tätigkeit die soeben beschriebenen Maßgaben berücksichtigt und dementsprechend einen Namen eingeführt hat, der den Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt. Wiederum verlässt sich Sokrates dabei auf die Analogie zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen: Deren Tauglichkeit weiß nämlich stets derjenige einzuschätzen, der sie auch gut zu gebrauchen vermag; und da der Fachmann für den guten Gebrauch von Namen der Dialektiker ist, muss er, so schließt Sokrates ein letztes Mal per analogiam, für die kritische Evaluation der Produkte des Nomotheten zuständig sein. Am Ende dieser dreiteiligen tour de force ist dem in der Einleitung bereits zitierten Fazit des Sokrates zufolge immerhin schon klar, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt. Aber haben seine Überlegungen Hermogenes tatsächlich einen guten Grund geliefert, diese Schlussfolgerung zu akzeptieren? Um diese Frage – die erste der beiden Leitfragen der vorliegenden Studie – angemessen beantworten zu können, ist zunächst einmal zu klären, wie genau es zu verstehen ist, wenn Sokrates auf der Grundlage seines Vergleichs zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen behauptet, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat«. Man scheint schließlich gar nicht ohne Weiteres davon ausgehen zu können, dass damit überhaupt eine scharf konturierte sprachphilosophische These formuliert ist. Hermogenes zumindest ist an dieser Stelle noch nicht klar, was die natürliche Richtigkeit der Namen ist, und auch Sokrates selbst nimmt für sich nicht in Anspruch, in dieser Hinsicht bereits Bescheid zu wissen.
Überblick über den ersten Teil
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So überrascht es nicht, wenn viele Interpreten des Kratylos annehmen, dass erst Sokrates’ anschließende Rückführung der Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung beziehungsweise ihren mimetischen Gehalt zeigt, was mit der Behauptung gemeint ist, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen (s. u., 248–250 mit Anm. 6 und 7). Wie die Rekonstruktion des Gedankengangs der Werkzeug-Analogie, die in den folgenden Kapiteln entwickelt werden soll, zeigen wird, ist diese Annahme falsch: Sokrates gewinnt aus dem Vergleich zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen eine klar umrissene Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen, die seiner Schlussfolgerung, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat«, einen präzise definierten Gehalt verleiht. Dieser Konzeption zufolge zeichnet sich ein natürlicherweise richtiger Name für bestimmte Gegenstände dadurch aus, dass ein Sprecher mit ihm die stabile ousia, die diesen Gegenständen gemeinsam ist, herausgreifen und so einen Beitrag zur Belehrung eines Hörers leisten kann; seine natürliche Richtigkeit fällt zusammen mit seiner Eignung für den Vollzug dieser Handlung, wie beispielsweise die natürliche Richtigkeit eines Bohrers zusammenfällt mit seiner Eignung für bestimmte Bohrungen. Wenn Sokrates dementsprechend auf der Grundlage seiner Ausführungen in der Werkzeug-Analogie behauptet, Namen seien einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen, so ist damit gemeint, dass als Name für bestimmte Gegenstände nur eine sprachliche Einheit gelten kann, die eine solche Eignung aufweist. Ihre Überzeugungskraft verdanken die Überlegungen, die Sokrates zu diesem Ergebnis führen, einer streng normativen Betrachtungsweise der menschlichen Sprachpraxis – eine Betrachtungsweise, die zwar einige kontraintuitive Weiterungen hat, aber gleichzeitig im common sense verwurzelt ist und daher von seinen Anhängern, zu denen sowohl Hermogenes als auch die allermeisten Leser des Kratylos zählen dürften, nicht leichthin abgelehnt werden kann. Wie sich zeigen wird, lohnt dementsprechend der prototypische Entwurf einer normativen Sprachphilosophie, den Sokrates in der Werkzeug-Analogie entwickelt, eine eingehende Auseinandersetzung. Diese hier in gedrängter Form skizzierte Interpretation der Werkzeug-Analogie wird eine positive Antwort auf die erste Leitfrage der vorliegenden Studie rechtfertigen: Tatsächlich gibt es für einen Konventionalisten wie Hermogenes einen guten Grund, die These zu akzeptieren, dass Namen einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen sind. Sie wird aber auch zeigen, wie wichtig es ist, diese Frage von der zweiten Leitfrage zu unterscheiden – der Frage, ob es für einen Konventionalisten wie Hermogenes einen guten Grund gibt, einen Zusammenhang zwischen der Richtigkeit eines Namens und seiner etymologischen Bedeutung (oder seinem mimetischen Gehalt) anzunehmen. Denn Sokrates beschreibt zwar in der Werkzeug-Analogie einen Standard der natür-
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
lichen Richtigkeit, den Namen seiner Argumentation zufolge erfüllen müssen – aber er erklärt eben nicht, wovon es abhängt, ob eine sprachliche Einheit diesen Standard erfüllt. Hermogenes und die Leser des Kratylos sind daher nach Abschluss der Werkzeug-Analogie auf einem ähnlichen Informationsstand wie jemand, der davon überzeugt worden ist, Skalpelle seien insofern einem Standard natürlicher Richtigkeit unterworfen, als sie tauglich für den Vollzug einer bestimmten medizinischen Operation sein müssen, aber noch nicht weiß, was über die Tauglichkeit eines Gegenstandes für den Vollzug dieser Operation entscheidet. Hermogenes’ Bitte, Sokrates möge ihm doch auseinandersetzen, was die natürliche Richtigkeit der Namen ist, muss als Ausdruck dieser unbefriedigenden Lage verstanden werden. Die in den folgenden Kapiteln entwickelte Interpretation der Werkzeug-Analogie wird also insgesamt Anlass zu einer Neubewertung des Beitrags geben, den die Analogie zur Gedankenbewegung des Kratylos leistet. Weite Teile der bisherigen Forschungsliteratur werden von dem Vorurteil dominiert, die ebenso allegorisch wie abstrakt anmutende Überlegung, die Sokrates in diesem Abschnitt seines Dialogs mit Hermogenes anstellt, solle eigentlich nur zur Untersuchung der These hinleiten, die Richtigkeit eines Namens sei von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängig (s. u., 248–251). Aufgrund dieses Vorurteils geht die Mehrzahl der Kratylos-Interpreten davon aus, dass es nicht sinnvoll ist, die Werkzeug-Analogie auf einen präzisen, von der weiteren Dialogentwicklung unabhängigen argumentativen Ertrag hin zu befragen. Aber sogar Interpreten, die der Werkzeug-Analogie größeres philosophisches Eigengewicht zuschreiben, tun sich ausgesprochen schwer damit, sie überzeugend ins Verhältnis zum Dialogkontext zu setzen (s. u., 249 Anm. 5). Die in dieser Studie vorgelegte Interpretation der Werkzeug-Analogie zeigt hingegen, dass Sokrates’ Argumentation einerseits zu einem klar definierten, signifikanten und gut abgesicherten Ergebnis führt und andererseits eine ebenso klar definierte Frage aufwirft, die den weiteren Untersuchungsgang bestimmt: Sie zeigt nämlich einerseits, dass Namen insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen sind, als sie zum Herausgreifen der stabilen ousia der zu benennenden Gegenstände geeignet sein müssen, und gibt andererseits den Gesprächspartnern die Frage auf, was darüber entscheidet, ob ein sprachlicher Ausdruck diesen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt. Dass die Überlegungen, die Sokrates in der langen, an die Werkzeug-Analogie anschließenden Passage 391b–427d zur etymologischen Bedeutung beziehungsweise zum mimetischen Gehalt von gebräuchlichen griechischen Namen anstellt, tatsächlich als Versuch verstanden werden müssen, jene Frage zu beantworten, wird freilich erst die Diskussion dieser Passage belegen können. Erst sie wird auch endgültig klären können, ob Sokrates Hermogenes einen guten Grund dafür
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liefert, die Richtigkeit von Namen mit ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt in Verbindung zu bringen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Werkzeug-Analogie im Hinblick auf diese Frage – die zweite Leitfrage der vorliegenden Studie – keine Rückschlüsse zulässt. Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird nämlich deutlich, dass Sokrates zumindest in diesem Abschnitt des Dialogs nicht die geringsten Anstalten macht, Hermogenes einen solchen Grund darzulegen. Nichts von dem, was Sokrates im Rahmen der Werkzeug-Analogie sagt, legt die Hypothese nahe, dass Namen den beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit dank ihrer etymologischen Bedeutung oder ihres mimetischen Gehalts erfüllen. Wie sich im Zuge der folgenden Untersuchung der Werkzeug-Analogie zeigen wird, gewinnt dieser auf den ersten Blick unspektakuläre Befund dann an Brisanz, wenn man den Reflexionsstand des aufmerksamen Lesers in Rechnung stellt, auf den Platon seine Inszenierung der Werkzeug-Analogie abstimmt. Ein solcher Leser wird nämlich Hermogenes’ konventionalistische Intuitionen teilen, ihnen aber, wie im letzten Kapitel schon deutlich geworden ist, nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Hinführung zur Werkzeug-Analogie umsichtiger Ausdruck verleihen als Hermogenes selbst: Er wird zwischen Namen und Lautfolgen unterscheiden und dementsprechend bewusst den Schwachen Konventionalismus anstelle des Starken Konventionalismus vertreten. Dass ihm die Argumentation der Werkzeug-Analogie keinen Grund liefert, den Schwachen Konventionalismus aufzugeben, wird dieser Leser nun leicht feststellen können. Das aber macht es für ihn äußerst naheliegend, sich zu fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen eine sprachliche Einheit mit beliebiger Lautgestalt den von Sokrates beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen kann. Tatsächlich leitet Platon durch die sorgfältige Gestaltung des Vergleichs zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs in 389a–390a seinen Leser bei der Entwicklung einer Antwort auf diese Frage sogar auf eine höchst kunstvolle Art und Weise an. So führt Platon ihn zu der Einsicht, dass es eine plausible, mit konventionalistischen Intuitionen kompatible Alternative zu den von Sokrates im weiteren Dialogverlauf entwickelten Thesen zum Zusammenhang zwischen der natürlichen Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung beziehungsweise ihrem mimetischen Gehalt gibt. Dieser wesentliche Aspekt der Inszenierung der Werkzeug-Analogie, der sie zum philosophischen Gravitationszentrum des Kratylos macht, ist bisher von keinem ihrer Interpreten bemerkt worden (s. u., 273 Anm. 42). Umso radikaler muss im Vergleich mit dem gegenwärtigen Forschungsstand die Neubewertung der Analogie ausfallen, zu der die nachfolgenden Überlegungen Anlass geben: Platon nutzt den Vergleich von Namen mit gewöhnlichen Werkzeugen demnach
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
nicht nur, um Sokrates das Ergebnis etablieren zu lassen, dass es einen Standard der natürlichen Richtigkeit gibt, den Namen erfüllen müssen, und so die Frage aufzuwerfen, wovon es abhängt, ob eine sprachliche Einheit diesen Standard erfüllt: Er nutzt ihn auch, um einen aufmerksamen Leser, der sich im Sinne der Einleitung auf einen kritischen Dialog mit dem Dialog zwischen Sokrates und Hermogenes einlässt, zu einer Antwort auf diese Frage hinzuleiten, die keinen Zusammenhang zwischen der Richtigkeit eines Namens und seiner etymologischen Bedeutung beziehungsweise seinem mimetischen Gehalt herstellt. Angesichts dieser Diagnose liegt die Vermutung sehr nahe, dass die Antwort auf die zweite Leitfrage der vorliegenden Studie negativ ausfallen muss: dass es für einen Konventionalisten wie Hermogenes also keinen guten Grund gibt, von einem Zusammenhang zwischen der Richtigkeit eines Namens und seiner etymologischen Bedeutung beziehungsweise seinem mimetischen Gehalt auszugehen. Tatsächlich wird, so kann hier schon vorweggenommen werden, die Analyse der Passage 391b–427d diese Vermutung bestätigen. Kombiniert man dieses Analyseergebnis mit der in den folgenden Kapiteln zu entwickelnden Interpretation der Werkzeug-Analogie, kann man ein sehr geschlossenes Bild der philosophischen Agenda zeichnen, die Platon bei seiner Komposition von Sokrates’ Auseinandersetzung mit der konventionalistischen Position des Hermogenes verfolgt – ein Bild, das insbesondere die konsequente Doppelbödigkeit augenfällig macht, die für die Inszenierung dieser Auseinandersetzung charakteristisch ist. Die Doppelbödigkeit der Hinleitung zur Werkzeug-Analogie ist im vorangegangenen Kapitel bereits herausgearbeitet worden: Auf der Ebene seines Dialogs mit Sokrates formuliert Hermogenes den Starken Konventionalismus, dessen Abgleiten in den Protagoreischen Relativismus er nicht verhindern kann; auf der Ebene des Dialogs mit diesem Dialog, zu dem Platon einen aufmerksamen, an der Verteidigung seiner eigenen konventionalistischen Intuitionen interessierten Leser anregt, wird erkennbar, dass der Schwache Konventionalismus ein gegen das Abgleiten in den Protagoreischen Relativismus gefeiter Ausdruck dessen ist, was Hermogenes zu sagen versucht. Wie die vorliegende Studie in ihrer Gesamtheit zeigen wird, verleiht diese Doppelbödigkeit auch dem weiteren Untersuchungsgang sein spezifisches Gepräge: Auf der Ebene des Dialogs zwischen Sokrates und Hermogenes ist der Schwache Konventionalismus als Alternative zum Starken Konventionalismus nicht präsent. Die Frage, ob sich die Schlussfolgerung der Werkzeug-Analogie nicht mit dem Schwachen Konventionalismus vereinbaren lässt, kann sich den beiden Gesprächspartnern daher gar nicht stellen. Unter diesen Rahmenbedingungen erscheint auch der Weg, den Sokrates nach der Werkzeug-Analogie beschreitet, tatsächlich alternativlos. Auf der Ebene des Dialogs, den ein aufmerksamer Leser mit dem Kratylos führt, eröffnet sich mit der Abgrenzung des Schwachen Konventiona-
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lismus vom Starken Konventionalismus hingegen ein von Platon auf sehr geschickte Weise abgesteckter Weg zu der Einsicht, wovon es abhängt, ob eine sprachliche Einheit mit beliebiger Lautgestalt den von Sokrates in der WerkzeugAnalogie beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen erfüllt. Auf dieser Ebene erweisen sich nicht etwa die konventionalistischen Intuitionen des Lesers als falsch: Es zeigt sich vielmehr, dass ihre Validität nichts an seiner Verpflichtung auf die Anerkennung eines Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen ändert. Indem Platon Sokrates und Hermogenes dieses Ergebnis in ihrem Gespräch nicht erreichen lässt, zwingt er seinen Leser dazu, in der (von ihm in bestimmte Bahnen gelenkten) Auseinandersetzung mit den Überlegungen der Werkzeug-Analogie selbstständig eine Erkenntnisbewegung zu vollziehen, an deren Endpunkt er Namen und Benennungskonventionen aus einer ganz anderen Perspektive betrachten wird als zu ihrem Beginn. Wenn Platon bei seiner Inszenierung des Kratylos demnach nicht die Strategie verfolgt, einen aufmerksamen Leser im Hinblick auf die Frage nach der natürlichen Richtigkeit der Namen von einer bestimmten Position zu überzeugen, indem er sie von den Dialogfiguren explizit formulieren und durch Argumente stützen lässt, sondern diesen Leser dazu anregen und anleiten will, sich im Ausgang von seinen eigenen Vorannahmen eine solche Position selbst zu erarbeiten – dann ist es nicht verwunderlich, dass bisher alle Versuche gescheitert sind, eine Passage zu identifizieren, in der Platon seine eigene Position zu dieser Frage preisgibt. Insbesondere ist es, wie an dieser Stelle schon vorweggenommen werden kann, auch nicht verwunderlich, dass der Abschluss der Untersuchung der Frage nach der natürlichen Richtigkeit der Namen in 435a–d in dieser Hinsicht die bereits in der Einleitung beschriebene große Enttäuschung ist. Auch bei seiner Gestaltung dieser Passage bleibt nämlich Platon seiner Inszenierungsstrategie treu und lässt Sokrates so argumentieren, als stehe er vor einer Wahl zwischen der These des Hermogenes, nach der es keine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, und der These des Kratylos, nach der sich die Richtigkeit eines Namens seiner etymologischen Bedeutung beziehungsweise seinem mimetischen Gehalt verdankt – wobei Sokrates nicht in der Lage zu sein scheint, sich für eine der beiden Alternativen zu entscheiden, sondern in einer merkwürdigen Oszillationsbewegung einer klaren Festlegung ausweicht. Tatsächlich ist eine solche Festlegung deswegen nicht möglich, weil sie Sokrates dazu zwänge, entweder das bisher unwiderlegte Argument der Werkzeug-Analogie oder die ebenfalls sehr überzeugenden Argumente gegen Kratylos’ These zu ignorieren. Der unschlüssige Schluss von Sokrates’ Untersuchung zur natürlichen Richtigkeit der Namen darf daher keinesfalls als Ausdruck der Position Platons missverstanden und dementsprechend einer Lektüre unterzogen werden, die auf Biegen und Brechen um die Herstellung doktrinaler Klarheit bemüht ist. Er ist vielmehr Ausdruck der
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Entscheidung Platons, auf der Ebene des inszenierten Dialogs zwischen Sokrates und Hermogenes beziehungsweise Sokrates und Kratylos diejenige Alternativposition komplett auszublenden, auf die ein Leser verpflichtet ist, der an seinen konventionalistischen Intuitionen festhalten will und zugleich die Konklusion der Werkzeug-Analogie akzeptiert. Einen solchen Leser zu einem selbstständigen Perspektivwechsel zu provozieren, der ihn schließlich zu dieser Alternativposition führen wird, ist Platons Intention bei der Inszenierung des Kratylos. * Die folgenden Kapitel werden durch die Rekonstruktion des Gedankengangs der Werkzeug-Analogie das Fundament für die soeben vorgreifend skizzierte Interpretation der Inszenierungsstrategie und der philosophischen Agenda schaffen, die Platon bei seiner Gestaltung von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen verfolgt. Dieses Ziel soll in vier Schritten erreicht werden: (1) Im ersten Schritt wird das direkt anschließende zweite Kapitel Sokrates’ Überlegungen zur natürlichen Richtigkeit von gewöhnlichen Werkzeugen analysieren, um so im Hinblick auf das Modell, an dem sich Sokrates bei seiner Entwicklung einer Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen orientiert, Klarheit zu schaffen. (2) Die nächsten drei Kapitel widmen sich dann der Aufgabe, ein scharf konturiertes Bild dieser Konzeption zu zeichnen und dabei zugleich nachzuweisen, dass ein Konventionalist wie Hermogenes tatsächlich einen guten Grund hat, sich diese Konzeption zu eigen zu machen und die These zu akzeptieren, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen. (3) Im nächsten Schritt soll das sechste Kapitel zeigen, wie Platon den Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs nutzt, um einen aufmerksamen Leser zu einer mit konventionalistischen Intuitionen kompatiblen Antwort auf die Frage zu lenken, was darüber entscheidet, ob eine sprachliche Einheit den von Sokrates beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt. (4) Im letzten Schritt sollen schließlich im siebten Kapitel Sokrates’ Überlegungen zur Überprüfung der natürlichen Richtigkeit von Namen durch einen Dialektiker untersucht werden, anhand derer sich auch die Grenzen des so fruchtbaren Vergleichs zwischen Namen und Werkzeugen deutlich machen lassen. II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (387a–b und 389a–d) Wie genau ist es zu verstehen, wenn Sokrates in direkter Anknüpfung an seine Widerlegung des Protagoreischen Relativismus behauptet, dass Handlungen eine eigene Natur haben und daher mit einem naturgemäßen Werkzeug zu vollziehen sind? Und in welchem Sinne müssen dieser Behauptung zufolge Werkzeuge für bestimmte Handlungen einen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen? Wer die Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen rekonstruieren will, deren Modellierung Sokrates’ Betrachtung von alltäglichen Werkzeugen dient, tut gut daran, seine Aufmerksamkeit zunächst diesen Fragen zuzuwenden. In der Sekundärliteratur werden sie oft vernachlässigt, weil auf den ersten Blick die Annahme sehr naheliegend ist, dass man einen Handlungsvollzug, den man als naturgemäß ausweist, auf diese Weise von anderen Vollzügen der betreffenden Handlung abgrenzt, die nicht naturgemäß und daher weniger gut gelungen sind. Unter dem naturgemäßen Vollzug einer Handlung hätte man sich demnach eine gute oder sogar optimale Handlungsausführung vorzustellen – und dementsprechend davon auszugehen, dass ein Werkzeug genau dann natürlicherweise richtig ist, wenn es eine exzellente Handlungsausführung ermöglicht. Ein Messer als ›natürlicherweise richtig‹ zu charakterisieren, hieße also, es als Elite-Messer auszuweisen, mit dem sich beispielsweise ganz besonders saubere Schnitte setzen lassen. Entsprechend weit verbreitet ist in der Sekundärliteratur die Annahme, Sokrates entwickle in der Werkzeug-Analogie eine Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen, der zufolge ein natürlicherweise richtiger Name ein ausgezeichneter Name ist, mit dem sich die Handlung des Nennens besonders gut ausführen lässt.1 Es wäre allerdings fahrlässig, diese Annahme zu akzeptieren, ohne zuvor die Interpretation von Sokrates’ Ausführungen zur natürlichen Richtigkeit gewöhnlicher Werkzeuge, auf der sie basiert, einer kritischen Prüfung unterzogen zu haben; zu groß ist die Gefahr, die Untersuchung der WerkzeugAnalogie gleich zu Beginn durch eine unvorsichtige Weichenstellung auf ein falsches Gleis zu lenken. Tatsächlich werden die Überlegungen dieses Kapitels zu einer ganz anderen Weichenstellung führen. Sie werden nämlich zeigen, dass Sokrates ein Werkzeug So etwa Crombie (1963), 475; Weingartner (1970), 18 f.; Kretzmann (1971), 130 f.; Anagnostopoulos (1973/74), 331 f.; Baxter (1992), 32 und 40; Sedley (2003), 64 f. und 78–80. Zumindest Anagnostopoulos ist allerdings vollkommen klar, dass Sokrates’ Überlegungen in der Werkzeug-Analogie in eine andere Richtung weisen: Anagnostopoulos (1973/74), 331 Anm. 20, und Anagnostopoulos (1972). 1
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
nicht dann als ›natürlicherweise richtig‹ charakterisiert, wenn es besonders gut für den Vollzug einer bestimmten Handlung geeignet ist, sondern dann, wenn sich diese Handlung mit ihm überhaupt vollziehen lässt. Ein natürlicherweise richtiges Messer ist demnach für Sokrates keineswegs ein exzellentes Messer, sondern eines, das die Minimalanforderungen erfüllt, die jedes echte Messer zu erfüllen hat.2 Dieser Befund hat die brisante Konsequenz, dass auch die Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen, die Sokrates auf der Grundlage des Vergleichs zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen entwickelt, nicht so gebaut sein kann, wie vielfach angenommen wird: Ein natürlicherweise richtiger Name kann sich für Sokrates nicht durch seine besonders ausgeprägte Eignung für den Vollzug des Nennens auszeichnen – er muss sich vielmehr dadurch auszeichnen, dass sich das Nennen mit ihm überhaupt durchführen lässt. Der Kontrastfall zu einem natürlicherweise richtigen Namen ist unter dieser Voraussetzung kein schlechter Name, sondern eine sprachliche Einheit, die insofern gar nicht mehr als Name gelten kann, als sich mit ihr die Handlung des Nennens nicht vollziehen lässt; und die Charakterisierung eines Namens als ›natürlicherweise richtig‹ weist ihn nicht als einen guten, sondern viel eher als einen genuinen oder echten3 Namen aus.4 Francesco Ademollo sieht ganz richtig, dass sich Sokrates in der Werkzeug-Analogie nur für die Frage interessiert, ob mit einem Artefakt eine bestimmte Handlung vollzogen werden kann oder ob jeder Versuch, es in dieser Weise einzusetzen, zum Scheitern verurteilt ist: Ademollo (2011), 98 und 130 f. Ademollo behauptet allerdings, eine solche dichotomische Entgegensetzung sei einem »misleading ›all-or-nothing‹ outlook« (131) geschuldet, den ein aufmerksamer Leser möglicherweise zugunsten einer nuancierteren Position überwinden solle. Wie die vorliegende Studie in ihrer Gesamtheit zeigen wird, ist die beschriebene Dichotomie für die Gedankenbewegung des Kratylos absolut unverzichtbar und sollte daher keineswegs auf eine vorübergehende Eintrübung von Sokrates’ Urteilskraft zurückgeführt werden, die Platon zum Zweck der Leseraktivierung inszeniert. 3 Wir verwenden den Ausdruck »richtig« ganz unproblematisch, um Echtheit zu attestieren, wenn wir beispielsweise über Katzengold sagen, es sei kein »richtiges« Gold – denn damit charakterisieren wir Katzengold nicht als minderwertiges Gold, sondern stellen fest, dass es nur Gold zu sein scheint, aber in Wirklichkeit keines ist. Dass auch Platon orthos in diesem Sinne verwenden kann, zeigt sehr eindrücklich eine Passage aus dem Politikos, in der der eleatische Fremde dem jüngeren Sokrates erklärt, bei den politeiai, die nicht richtig sind, handele es sich eigentlich gar nicht wirklich um politeiai: […] ἕωσπερ ἂν ἐπιστήμῃ καὶ τῷ δικαίῳ προσχρώμενοι σῴζοντες ἐκ χείρονος βελτίω ποιῶσι κατὰ δύναμιν, ταύτην τότε καὶ κατὰ τοὺς τοιούτους ὅρους ἡμῖν μόνην ὀρθὴν πολιτείαν εἶναι ῥητέον· ὅσας δ᾽ ἄλλας λέγομεν, οὐ γνησίας οὐδ᾽ ὄντως οὔσας λεκτέον […] (Pol. 293d8–e3, Kursivierung nicht im Original). Siehe LSJ ὀρθός A.III.3. für weitere Belegstellen. 4 Die These, ein richtiger Name sei ein genuiner Name, ähnelt dem Buchstaben nach der laut Ademollo von allen Teilnehmern des Gesprächs akzeptierten »Redundancy Conception of correctness«, der zufolge die Charakterisierung eines Ausdrucks als richtiger Name nicht mehr und nicht weniger besagt als seine Charakterisierung als Name (Ademollo (2011), 3 f.). Aber hier han2
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Die genauen Konturen von Sokrates’ Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen sollen erst in den nächsten drei Kapiteln herausgearbeitet werden. Hier ist es einstweilen nur darum zu tun, durch die minutiöse Rekonstruktion der auf die Modellierung dieser Konzeption abzweckenden Betrachtung alltäglicher Werkzeuge die These zu entfalten und abzusichern, Sokrates setze die natürliche Richtigkeit eines Werkzeugs mit seiner grundsätzlichen Eignung für eine bestimmte Handlung gleich. Dieses Ziel soll, Sokrates’ eigenem Vorgehen in der Werkzeug-Analogie entsprechend, in zwei Schritten erreicht werden: Zunächst gilt es, den Zusammenhang zwischen der Annahme, Handlungen seien ihrer eigenen Natur gemäß zu vollziehen, und der Anerkennung natürlicher Standards für Werkzeuge zu rekonstruieren, den Sokrates in 387a–b herstellt. Im Anschluss daran wird zu untersuchen sein, wie Sokrates, indem er in 389a–d die Herstellung eines Werkzeugs als Aufgabe für einen an der entsprechenden Idee orientierten Fachmann ausweist, die in 387a–b gewonnene Konzeption der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen weiterentwickelt. Dabei wird stets darauf zu achten sein, den Modellcharakter der mitunter skurril anmutenden Ausführungen zu Messern, Bohrern und Weberschiffchen nicht aus den Augen zu verlieren: Sokrates geht es nicht darum, die wissenschaftliche Befassung mit solchen Werkzeugen voranzubringen, sondern einen Begriff ihrer natürlichen Richtigkeit zu erarbeiten, der sich mit Gewinn auf den Fall des Namens übertragen lässt. Solange er mit seinen Ausführungen dieses Ziel erreicht, ist ihr analytischer Eigenwert nur von nachgeordneter Bedeutung.
Die Natur von Handlungen und das FUNKTIONALITÄTSPRINZIP (387a–b)
Zu Beginn der Werkzeug-Analogie schließt Sokrates ohne Umschweife an die anti-relativistische These, die Dinge besäßen ihre eigene, stabile ousia, mit einer entsprechenden These über Handlungen an: Wäre es dann möglich, dass zwar die Dinge5 selbst so von Natur aus sind, die zu ihnen gehörigen Handlungen6 aber nicht auf dieselbe Weise? Oder sind nicht auch diese eine bestimmte Art des Seienden, die Handlungen? – Sicherlich auch diese! – Also werden auch die Handlungen nach ihrer eigenen Natur vollzogen, nicht delt es sich tatsächlich um eine Entsprechung nur dem Buchstaben, nicht aber dem Geist nach (s. u., 197 Anm. 18). 5 Diese Übersetzung von αἱ πράξεις αὐτῶν ist derjenigen von Sedley (2003) nachgebildet (56: »the actions belonging to them«), die ebenso wie die griechische Formulierung offenlässt, ob die Dinge die Handlungen vollziehen, die Handlungen sich auf die Dinge beziehen oder die Handlungen eine Unterart der Dinge bilden. 6 Offenbar greift αὐτὰ das πράγματα aus 386e1 auf.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
nach unserer Meinung. Wenn wir beispielsweise versuchen, irgendeines von den Seienden zu schneiden, sollen wir jedes schneiden, wie wir wollen und mit was wir wollen? Oder werden wir dann schneiden und etwas erreichen und dies richtig verrichten, wenn wir jedes schneiden wollen nach der Natur des Schneidens und Geschnitten-Werdens und mit dem natürlicherweise geeigneten [Werkzeug], wenn aber naturwidrig, dann werden wir scheitern und nichts verrichten? – So scheint es mir. – Auch wenn wir daher versuchen, etwas zu brennen, muss man also nicht nach jeder beliebigen Meinung brennen, sondern nach der richtigen? Und das heißt, wie es für jedes natürlich ist, gebrannt zu werden und es zu brennen, und mit dem [Werkzeug], das natürlich ist? – So ist es. – So verhält es sich also auch in den anderen Fällen? – Sicherlich.7
Sokrates’ Überlegung in dieser Passage gliedert sich in drei Schritte: Zunächst gibt er ein abstraktes Argument für die These, auch der Vollzug von Handlungen unterliege natürlichen, von menschlichen Meinungen unabhängigen Standards, die erfüllt werden müssen, wenn die Handlung vollzogen werden soll. In einem zweiten Schritt konkretisiert er diese These am Beispiel des Schneidens, um schließlich in einem dritten Schritt das Beispiel des Brennens zu diskutieren. Um sich Aufschluss über das Profil von Sokrates’ gedanklichem Dreischritt zu verschaffen, muss man sich zunächst die Frage vorlegen, was die These besagt, dass »auch die Handlungen nach ihrer eigenen Natur vollzogen« werden. Geht man von der Kontrastierung des naturgemäßen mit dem bloß vermeintlichen Vollzug einer Handlung aus, dürfte die Pointe von Sokrates’ Ausführungen genau derjenigen seiner anti-relativistischen Überlegungen zur Stabilität der ousia entsprechen. In diesem Zusammenhang ging es ihm darum, dass es von menschlichen Meinungen und Entscheidungen vollkommen unabhängig ist, ob einem Ding eine bestimmte ousia zukommt oder nicht; Sokrates wäre beispielsweise auch dann ein Philosoph, wenn alle Beobachter der Meinung wären, er sei kein Philosoph, sondern ein Sophist. Ebenso scheint es sich nun mit Handlungen zu verhalten: Ob eine konkrete Tätigkeit als Vollzug einer bestimmten Handlung gelten kann oder nicht, ist demnach vollkommen unabhängig von unseren Mei386e6–387b7: Πότερον οὖν αὐτὰ μὲν ἂν εἴη οὕτω πεφυκότα, αἱ δὲ πράξεις αὐτῶν οὐ κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον; ἢ οὐ καὶ αὗται ἕν τι εἶδος τῶν ὄντων εἰσίν, αἱ πράξεις; – Πάνυ γε καὶ αὗται. – Κατὰ τὴν αὑτῶν ἄρα φύσιν καὶ αἱ πράξεις πράττονται, οὐ κατὰ τὴν ἡμετέραν δόξαν. οἷον ἐάν τι ἐπιχειρήσωμεν ἡμεῖς τῶν ὄντων τέμνειν, πότερον ἡμῖν τμητέον ἕκαστον ὡς ἂν ἡμεῖς βουλώμεθα καὶ ᾧ ἂν βουληθῶμεν, ἢ ἐὰν μὲν κατὰ τὴν φύσιν βουληθῶμεν ἕκαστον τέμνειν τοῦ τέμνειν τε καὶ τέμνεσθαι καὶ ᾧ πέφυκε, τεμοῦμέν τε καὶ πλέον τι ἡμῖν ἔσται καὶ ὀρθῶς πράξομεν τοῦτο, ἐὰν δὲ παρὰ φύσιν, ἐξαμαρτησόμεθά τε καὶ οὐδὲν πράξομεν; – Ἔμοιγε δοκεῖ οὕτω. – Οὐκοῦν καὶ ἐὰν κάειν τι ἐπιχειρήσωμεν, οὐ κατὰ πᾶσαν δόξαν δεῖ κάειν, ἀλλὰ κατὰ τὴν ὀρθήν; αὕτη δ’ ἐστὶν ᾗ ἐπεφύκει ἕκαστον κάεσθαί τε καὶ κάειν καὶ ᾧ ἐπεφύκει; – Ἔστι ταῦτα. – Οὐκοῦν καὶ τἆλλα οὕτω; – Πάνυ γε. 7
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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nungen und Entscheidungen. Wenn Hermogenes beispielsweise angesichts einer verschlossenen Tür »Sesam öffne dich!« murmelt und der festen Überzeugung ist, die Tür auf diese Weise geöffnet zu haben, kann seine Tätigkeit offenbar trotzdem nicht als Vollzug der Handlung des Türöffnens gelten; und ebenso verhielte es sich dann, wenn aus irgendwelchen Gründen nicht nur Hermogenes, sondern alle Menschen der Meinung wären, Türen seien auf diese Weise zu öffnen. Die Beispiele, die Sokrates nennt, sprechen stark dafür, dass für ihn Handlungen in einem sehr anspruchsvollen und robusten Sinne eine eigene Natur haben. Um sich das klar zu machen, vergleiche man Handlungen wie Brennen, Schneiden oder Bohren mit der Aktivität8 des Fußballspielens. Es gehört sicherlich zum Wesen dieser Aktivität, dass sie mit einem runden Ball einer bestimmten Größe vollzogen wird, der von keinem der Spieler außer den Torhütern mit den Händen berührt werden darf; jede Aktivität, die diesen Anforderungen nicht genügt, kann nicht als Vollzug des Fußballspielens gelten, weil sie seinem Wesen nicht entspricht. Aber in einem solchen Fall scheint man trotzdem nur mit Einschränkungen davon sprechen zu können, es gebe natürliche Standards für die Aktivität des Fußballspielens – denn es ist einzig und allein von menschlichen Entscheidungen abhängig, dass sie statt mit zwei ovalen Rugbybällen mit einem Fußball vollzogen werden muss, der während der ganzen Spieldauer statt nur in den ersten 20 Minuten von keinem Feldspieler mit der Hand berührt werden darf.9 Wenn man von der Natur des Fußballspielens spricht, sollte man sich daher der Tatsache bewusst sein, dass diese Natur vollkommen abhängig ist von menschlichen Festsetzungen und daher nur in einem wenig anspruchsvollen Sinne überhaupt als Natur gelten kann. Anders verhält es sich mit den von Sokrates diskutierten medizinischen Handlungen des Schneidens und Brennens oder mit der Handlung des Bohrens. Denn diesen Handlungen scheint eine Natur in einem anspruchsvolleren Sinne zuzukommen: Ihr Vollzug erfordert nämlich eine Weise des Umgangs mit Gegenständen, die das Erreichen eines bestimmten Ziels ermöglicht – sowohl das Schneiden und Brennen als auch das Bohren müssen zu einer spezifischen Modifikation ihres jeweiligen Gegenstandes führen. Da die Natur der Gegenstände aber von unseren Meinungen und Entscheidungen unabhängig ist, muss auch die Natur der auf solche Modifikationen abzielenden Handlungen in diesem Sinne objektiv 8 Wenn im Folgenden von der ›Aktivität‹ statt der ›Handlung‹ des Fußballspielens die Rede ist, dann deswegen, weil die hier angestellten Überlegungen es fraglich erscheinen lassen, ob Sokrates das Fußballspielen überhaupt als Handlung mit einer eigenen Natur anerkennen würde. 9 Natürlich ist es, solange die entsprechenden Konventionen in Kraft sind, nicht oder zumindest nicht direkt von menschlichen Entscheidungen abhängig, ob eine Aktivität als Vollzug der Handlung des Fußballspielens zu gelten hat oder nicht; der entscheidende Punkt ist aber, dass es von menschlichen Entscheidungen abhängig ist, was die Natur des Fußballspielens ausmacht.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
sein.10 Was die Natur des Schneidens oder Brennens ausmacht, hängt demnach davon ab, wie das Ziel, einen Gegenstand zu schneiden oder zu brennen, erreicht werden kann; und genau diese Bindung des erfolgreichen Vollzugs der Handlung an das Erreichen eines Ziels im Umgang mit Gegenständen unterscheidet solche Handlungen von einer Aktivität wie dem Fußballspielen. Angesichts aller von Sokrates angeführten Beispiele – Brennen, Schneiden und Bohren sind in dieser Hinsicht nämlich keine Ausnahme – erscheint daher die Vermutung plausibel, dass für Sokrates Handlungen Modi des zielführenden Umgangs mit Gegenständen der objektiven Wirklichkeit sind und eine eigene, von unseren Meinungen und Entscheidungen unabhängige Natur eben deswegen haben, weil sie in dieser Weise auf Gegenstände bezogen sind. Sokrates legt sich dabei nicht darauf fest, dass das fragliche Ziel in einem externen Produkt oder der Herbeiführung einer Veränderung bestehen muss – nach allem, was er sagt, könnte es auch im Vollzug der Handlung selbst liegen. Diese Deutung seiner Ausführungen lässt sich gut mit dem abstrakten Argument in Einklang bringen, das er zu Beginn der zitierten Passage (386e6–8) entwickelt, um die These zu begründen, Handlungen besäßen ihre eigene Natur. Denn diesem Argument nach folgt daraus, dass die Dinge von Natur aus ihre stabilen ousiai haben, dass auch »die zu ihnen gehörigen Handlungen«, hai praxeis autôn, »nach ihrer eigenen Natur vollzogen werden« müssen; und dieser Ableitung lässt sich jedenfalls dann ein guter Sinn abgewinnen, wenn man hai praxeis autôn als »die auf sie [d. h. die Dinge] bezogenen Handlungen« – also als Variante der später verwendeten Formulierung praxis peri ta pragmata (387c10) – versteht11 und dementsprechend Sokrates’ Argument als eine kondensierte Fassung der soeben angestellten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen der Gegenstandsbezogenheit von Handlungen und ihrer von menschlichen Meinungen und Entscheidungen unabhängigen Natur auffasst.12 Auch Weingartner (1970), 16 f., weist darauf hin, dass die These, Handlungen hätten ihre eigene Natur, dann einleuchtend ist, wenn man den Vollzug einer Handlung mit dem Erreichen eines Ziels im Umgang mit Gegenständen der objektiven Wirklichkeit identifiziert. 11 Vgl. die Übersetzung von Dalimier: »les actions auxquelles elles ressortissent«. So auch Derbolav (1972), 186; Silverman (1992a), 35; und mit ausführlicher Begründung Sedley (2003), 56–58. 12 Es soll hier nicht suggeriert werden, dass dies die einzig mögliche Lesart des Arguments ist. Eine alternative Lesart lässt sich dann entwickeln, wenn man den Genitiv autôn in hai praxeis autôn als partitiven Genitiv auffasst, also »die zu ihnen gehörigen Handlungen« im Sinne von »die Handlungen unter ihnen« versteht, und dementsprechend annimmt, dass die praxeis für Sokrates unter die pragmata zu zählen sind und daher trivialerweise in den Gültigkeitsbereich der anti-relativistischen Konklusion seiner Auseinandersetzung mit der These des Protagoras fallen. Ademollo (2011), 96 f., der diese Deutung ausführlich verteidigt, macht darauf aufmerksam, dass sie es erlaubt, der Frage des Sokrates in 386e6 f., ob die Handlungen nicht auch eine Art des 10
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Die skizzierte Interpretation von Sokrates’ Argument in 386e6–8 gewinnt dann an Plausibilität, wenn man sich vor Augen führt, dass im Verlauf seiner Ausführungen die Bindung der Natur von Handlungen an die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, immer stärker in den Vordergrund rückt: In seinem ersten Beispiel blendet er diese Bindung noch aus und spricht einfach nur von der »Natur des Schneidens und Geschnitten-Werdens«13, gemäß derer man jeden Gegenstand schneiden müsse. Aber bereits in seinem zweiten Beispiel scheint der Bezug auf Gegenstände zur Natur der Handlung des Brennens zu gehören: Man müsse nämlich, wie Sokrates erklärt, so brennen, »wie es für jedes natürlich ist, Seienden bilden, einen klaren Sinn abzugewinnen – zumindest dann, wenn man zusätzlich noch annimmt, dass Sokrates nicht zwischen Dingen und Seienden unterscheidet, also pragmata und onta gleichsetzt: Denn unter dieser Voraussetzung könnte man die Frage als eine Rückversicherung verstehen, durch die Sokrates sicherstellt, dass auch Hermogenes Handlungen als pragmata auffasst und ihnen daher im Sinne der vorangegangenen Überlegungen eine eigene Natur zuschreiben muss. Geht man indessen davon aus, dass Sokrates pragmata und onta nicht ohne Weiteres gleichsetzt, ließe sich im Einklang mit der bisher am ausführlichsten von Sedley entwickelten und hier adaptierten Interpretation eine etwas andere Funktion der Frage ausmachen: Man kann dann nämlich annehmen, dass Sokrates mit seiner Rückfrage dem möglichen Einwand zuvorkommen will, dass Handlungen keinen mit den Dingen vergleichbaren ontologischen Status haben und deshalb nicht wie diese eigene Naturen haben können – die Einordnung der Handlungen unter die onta würde demnach sicherstellen, dass sie überhaupt zum Bereich dessen gehören, was eine eigene Natur aufweisen kann. Wenn sich die Funktion der Einordnung der Handlungen unter das Seiende tatsächlich so erklären lässt, ist der letzte der drei Einwände, die Ademollo (2011), 96 Anm. 4, gegen Sedleys Interpretation vorbringt, zurückzuweisen – denn Sedley wäre dann nicht, wie Ademollo glaubt, gezwungen, diese Einordnung als ein nur angedeutetes zweites Argument für Sokrates’ Konklusion anzusehen, sondern könnte es als Sicherung der Voraussetzung des tatsächlich vorgebrachten Arguments interpretieren, das von der Bezogenheit der Handlungen auf Dinge ausgeht. Ademollos erster Einwand besteht in der Feststellung, Sokrates schränke seine Schlussfolgerung in 387a1 f. nicht auf Handlungen ein, die sich auf Dinge beziehen, was sich seiner Meinung nach wohl schlecht mit der entsprechenden Einschränkung des Arguments in Einklang bringen lässt; aber da unklar ist, ob Sokrates nicht stillschweigend davon ausgeht, dass für alle genuinen Handlungen der Umgang mit Dingen (im weitesten Sinne des Wortes) wesentlich ist, andernfalls aber auch denkbar wäre, dass die eingeschränkte Gültigkeit seiner Konklusion aus dem argumentativen Kontext deutlich ist, ist dieser Einwand nicht zwingend. Sein zweiter Einwand beruht auf der Beobachtung, dass Sokrates in seinem ersten Beispiel, das sich mit der Handlung des Schneidens beschäftigt, nicht explizit auf die Natur des jeweils zu schneidenden Gegenstandes eingeht, was auf den ersten Blick gegen Sedleys Interpretation spricht. Aber dieser Einwand büßt entscheidend an Plausibilität ein, wenn man in Rechnung stellt, dass Sokrates’ zweites Beispiel in 387b2–4, wie Ademollo selbst zugibt (ebd., 98 f.), gerade die geforderte Verbindung zwischen der Natur des Bezugsgegenstandes einer Handlung und der Natur der Handlung herstellt. 13 Dass mit dem passiven τέμνεσθαι zumindest ein impliziter Bezug auf die zu schneidenden Gegenstände verbunden ist, erkennt schon Horn (1904), 25. Vgl. dazu auch Hiller (2001), 16 f.
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gebrannt zu werden und es zu brennen, und mit dem [Werkzeug], das natürlich ist« (Kursivierung nicht im Original). Bei dieser subtilen Änderung in der Formulierung handelt es sich nicht, wie man zunächst denken könnte, um einen Zufall: Im direkten Anschluss an die zitierte Passage 386e6–387b7 behauptet Sokrates nämlich explizit, es sei erforderlich, dass »man in der Weise und mit dem [Werkzeug] spricht, wie es natürlich ist, dass man über die Dinge spricht und dass über sie gesprochen wird« (387c1 f.), und charakterisiert im nächsten Schritt das Sprechen explizit als praxis peri ta pragmata, als »Handlung in Bezug auf die Dinge« (387c10). Vollends im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht der Zusammenhang zwischen der Gegenstandsbezogenheit von Handlungen und der Existenz von natürlichen Standards für ihre Durchführung schließlich, als Sokrates in seinen Überlegungen zur Produktion von Werkzeugen (389a–390a) aufzeigt, dass es von den zu bearbeitenden Gegenständen oder Materialien abhängt, mit welchem Werkzeug die betreffende Handlung ihrer Natur gemäß vollzogen werden muss. Es ist daher angesichts des Kontexts gerechtfertigt, das von Sokrates in 386e6–8 entwickelte Argument für die These, Handlungen besäßen eine eigene Natur, tatsächlich als kondensierte Fassung des folgenden Gedankengangs aufzufassen: Handlungen sind zielführende Weisen des Umgangs mit Gegenständen. Da Gegenstände von Natur aus über stabile ousiai verfügen, also in ihrer Beschaffenheit nicht von unseren Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen abhängen, hat auch die Frage, ob durch eine bestimmte Weise des Umgangs mit Gegenständen das jeweilige Handlungsziel erreicht und dementsprechend die Handlung wirklich vollzogen wird, eine in diesem Sinne objektive Antwort; und man kann daher davon sprechen, dass Handlungen eine von uns unabhängige Natur haben, der eine Aktivität entsprechen muss, wenn sie als Vollzug der Handlung soll gelten können.14 Es sei zumindest kurz darauf hingewiesen, dass es ein durchaus vielversprechender Ansatz ist, die Existenz von natürlichen oder objektiven Standards für den Vollzug von Handlungen darauf zurückzuführen, dass diese Handlungen an Gegenständen ansetzen müssen, die ihrerseits in ihren Eigenschaften von uns unabhängig sind. In der modernen Philosophie macht man sich diesen Erklärungszusammenhang interessanterweise mitunter in umgekehrter Richtung zunutze – indem man nämlich, um eine realistische Ontologie zu rechtfertigen, von der Beobachtung ausgeht, dass es nicht von unseren Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen abhängt, ob ein Handlungsversuch Erfolg hat oder scheitert, und geltend macht, dass diese Beobachtung sich am besten erklären lässt, wenn man annimmt, dass die Gegenstände, an denen wir mit unseren Handlungsversuchen ansetzen, zumindest in einigen ihrer Eigenschaften nicht von uns abhängen (und zudem Naturgesetzen unterstehen, die ebenfalls von uns unabhängig sind). So argumentieren etwa Putnam (1978), 99–103, und Field (1986), 78–105; vgl. zu einem solchen Schluss auf die beste Erklärung aber die kritischen Bemerkungen bei Devitt (21991), 97–101. Jedenfalls lässt sich die Objektivität des Unterschieds zwischen scheiternden und gelingenden Versuchen, im Umgang mit Gegenständen bestimmte Ziele zu erreichen, nur schwer bestrei14
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Am Beispiel des Schneidens erläutert Sokrates nun, welche von der Natur einer Handlung vorgegebenen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Handlungsversuch als erfolgreich und die betreffende Handlung als durchgeführt gelten kann. Seiner Analyse zufolge muss ein Handlungsversuch, um als erfolgreicher Vollzug des Schneidens gelten zu können, zum einen auf eine der Natur des Schneidens entsprechende Weise und zum anderen mit einem der Natur des Schneidens entsprechenden Werkzeug durchgeführt werden. Wenn man ihn beim Wort nehmen darf, sind diese beiden Bedingungen gemeinsam hinreichend für den Vollzug des Schneidens. Das ist auf den ersten Blick auch sehr einleuchtend: Ein Mensch, der glaubt, man schneide Dinge, indem man mit der Messerspitze auf sie zeige, wird auch mit dem besten Messer keinen Erfolg beim Schneiden haben; und ebenso wird derjenige scheitern, der beschließt, als Werkzeug für seine perfekt eingeübten Schneidebewegungen eine Zahnbürste zu benutzen. Wird hingegen ein Messer kompetent gehandhabt, scheint dem erfolgreichen Vollzug des Schneidens nichts im Weg zu stehen. Sokrates’ Analyse scheint sich problemlos auf alle Handlungen übertragen zu lassen, die mit einem Werkzeug vollzogen werden müssen.15 Um ihre Konsequenzen im Hinblick auf den Begriff der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen richtig einschätzen zu können, muss man sich zunächst vor Augen führen, dass Sokrates im Beispiel des Schneidens ebenso wie in allen anderen Beispielen mit einer dichotomischen Entgegensetzung von genuinen Handlungsvollzügen und scheiternden Handlungsversuchen operiert. Nachdem Sokrates an zwei Stellen davon spricht, man könne nur »richtig« (orthôs, 387a7 und c1) handeln, wenn man ein geeignetes Werkzeug auf geeignete Weise einsetze, könnte man bei einer flüchtig-selektiven Lektüre stattdessen den Eindruck gewinnen, eine Handlung lasse sich richtig oder unrichtig ausführen, und sich zu der Annahme verleiten lassen, der Unterschied zwischen einer richtigen und einer unrichtigen Handlungsausführung falle mit dem zwischen einer guten und einer schlechten Handlungsausführung zusammen.16 Aber diese Annahme ist zweifellos falsch: Denn wie sich Sokrates dreimal von Hermogenes bestätigen lässt, wird dann, wenn ein ten, weil wir diesen Unterschied mit teils harmlosen, teils existenziellen Konsequenzen am eigenen Leib erfahren können. Die These, es gebe Standards für den Vollzug der entsprechenden Handlungen, die in einem robusten Sinne naturgegeben sind, hat daher eine hohe intuitive Plausibilität, die sie zu einem hervorragenden Ausgangspunkt für die Überlegungen der WerkzeugAnalogie macht. 15 Sokrates beschäftigt sich an keiner Stelle mit Handlungen, die nicht mit einem Werkzeug vollzogen werden müssen, verpflichtet sich aber auch nicht auf die Annahme, es könne solche Handlungen nicht geben. 16 Dieser Fehler unterläuft beispielsweise Sedley (2003), 57, wenn er im Hinblick auf die Handlung des Sprechens schreibt: »Therefore, speaking can be done in accordance with, or contrary to, its own nature, i.e. well or badly« (Kursivierung nicht im Original). Die dichotomischen
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Handlungsversuch nicht richtig – also nicht mit einem geeigneten Werkzeug oder auf geeignete Weise – durchgeführt wird, die angezielte Handlung überhaupt nicht vollzogen (387a8 f.: exhamartêsometha te kai ouden praxomen; 387c3 f.: exhamartêsetai te kai ouden poiêsei; 387d8: allôs de ou). Wenn Sokrates eine Tätigkeit als ›richtige‹ Handlung bestimmten Typs charakterisiert, kann daher nicht gemeint sein, dass es sich um einen besonders gut gelungenen Handlungsvollzug handelt; vielmehr muss gemeint sein, dass die angezielte Handlung überhaupt als durchgeführt und die Tätigkeit dementsprechend als wirklicher oder genuiner Handlungsvollzug gelten kann. Da es bei Handlungen wie dem Schneiden, dem Brennen oder dem Bohren zweifellos einen Unterschied gibt zwischen solchen Handlungsversuchen, die ihr Ziel erreichen und zum Vollzug der Handlung führen, und solchen Handlungsversuchen, die so stümperhaft durchgeführt werden, dass von einem genuinen Vollzug der Handlung nicht mehr die Rede sein kann, erscheint es auch durchaus legitim, wie Sokrates mit einer dichotomischen Entgegensetzung von scheiternden Handlungsversuchen und richtigen oder genuinen Handlungen zu operieren. Zumal diese Entgegensetzung sich ja durchaus mit der Anerkennung von qualitativen Differenzen in der Handlungsausführung vereinbaren lässt:17 Sowohl Hippokrates als auch ein bereits fortgeschrittener Schüler werden im Gegensatz zu einem Laien die medizinische Operation des Schneidens durchführen können; aber Hippokrates wird die Handlung des Schneidens dennoch besser ausführen können als sein Schüler – er wird weniger Mühe haben, den Schnitt zu setzen, wird eine weniger schlimme Wunde hinterlassen et cetera.18
Entgegensetzungen von genuinen Handlungen und scheiternden Handlungsvollzügen werden von Sedley nicht diskutiert. 17 Ademollo (2011), 98, sieht, dass Sokrates der Möglichkeit von Qualitätsabstufungen durchaus Rechnung tragen könnte, macht es ihm aber zum Vorwurf, dass er dies nicht explizit tut, sondern an seinem »misleading ›all-or-nothing‹ outlook« (131) festhält. Ademollo erklärt aber nicht, was falsch daran sein sollte, sich auf den – ja zweifellos höchst relevanten – Unterschied zwischen scheiternden Handlungsversuchen und gelingenden Handlungsvollzügen zu konzentrieren. 18 Die Existenz solcher gradueller Qualitätsunterschiede kann offenbar zu einer Vagheitsproblematik führen, weil sich die Grenze zwischen solchen Handlungsversuchen, die zwar schlecht durchgeführt werden, aber gerade noch erfolgreich sind, und Handlungsversuchen, die so schlecht durchgeführt sind, dass sie als gescheitert gelten müssen, nicht genau bestimmten lässt. Aber man kann diese Problematik anerkennen, ohne deswegen die Entgegensetzung zwischen scheiternden Handlungsversuchen und genuinen Handlungsvollzügen aufgeben zu müssen. Wenn man einen epistemischen Vagheitsbegriff à la Williamson (1994) zugrunde legt, kann man sogar an der Annahme einer scharfen Grenze zwischen scheiternden Handlungsversuchen und genuinen Handlungsvollzügen festhalten, und die Vagheitsproblematik darauf zurückführen, dass wir nicht feststellen können, wo genau diese Grenze verläuft.
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Sokrates’ Analyse der Bedingungen gelingenden Handelns ist freilich kein Selbstzweck: Sie zeigt, inwiefern Werkzeuge einem natürlichen Standard unterliegen. Denn sie markiert einen Unterschied zwischen solchen Gegenständen, mittels derer dank ihrer natürlichen Eignung eine bestimmte Handlung vollzogen werden kann, und solchen Gegenständen, mit denen sie mangels natürlicher Eignung nicht vollzogen werden kann. Von ›natürlicher‹ Eignung kann in diesem Zusammenhang deswegen gesprochen werden, weil durch die Natur der betreffenden Handlung determiniert ist,19 wie ein Gegenstand beschaffen sein muss, um sich zu ihrer Durchführung zu eignen. Von unseren Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen ist es dementsprechend vollkommen unabhängig, ob sich ein bestimmter Gegenstand beispielsweise für den Vollzug des Schneidens oder des Bohrens eignet.20 Sokrates bezeichnet zwar an dieser Stelle diejenigen Gegenstände, die natürlicherweise geeignet für den Vollzug einer Handlung sind, nicht als Werkzeuge; aber dass dies gemeint sein muss, ist angesichts seines wiederholten Rückgriffs auf den dativus instrumentalis evident und wird schließlich an späterer Stelle, nämlich in 387d–388a, auch explizit bestätigt. Ein Werkzeug für eine bestimmte Handlung hat also insofern eine natürliche Anforderung zu erfüllen, als es objektiv für den Vollzug der Handlung geeignet sein muss. Da Sokrates, wie sich gezeigt hat, nur an dem Unterschied zwischen genuinen Handlungsvollzügen und scheiternden Handlungsversuchen, nicht aber an den graduellen Abstufungen der Qualität von Handlungsvollzügen interessiert ist, ist damit nur gefordert, dass sich mit einem Werkzeug die betreffende Handlung überhaupt vollziehen lässt, nicht, dass sie mit ihm besonders leicht oder in einer besonders hohen Qualität ausgeführt werden kann. Diese Überlegungen zeigen, in welchem Sinne Werkzeuge einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen. Sie etablieren nämlich das
Die Natur der Handlung wiederum ist, wenn die bisher angestellten Überlegungen stichhaltig sind, nicht unabhängig von den Gegenständen, an denen die Handlung vollzogen wird. Es ist daher etwas irreführend, wenn Horn (1904), 25, schreibt: »Bei jeder Handlung kommen mithin zwei Gesichtspunkte in Betracht: die Eigenart der Handlung selbst, und die Eigenart des Dinges an dem sie vollzogen wird (sic)«; denn der Bezug auf bestimmte Gegenstände ist Teil der Natur der Handlung. 20 In einem gewissen Sinne hängt es freilich doch von uns und unseren Fertigkeiten ab, wie ein Gegenstand beschaffen sein muss, damit sich bestimmte Handlungen mit ihm vollziehen lassen: Denn Wesen mit anderen, den unseren möglicherweise überlegenen Fähigkeiten könnten vielleicht mit einem Gegenstand bestimmte Handlungen auch dann vollziehen, wenn wir Menschen dazu nicht in der Lage wären. Aber eine solche Relativierung des Begriffs der natürlichen Richtigkeit auf den Menschen und seine Kapazitäten wäre mit Sokrates’ Überlegungen auch durchaus verträglich. 19
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Funktionalitätsprinzip: Etwas ist genau dann ein natürlicherweise richtiges Werkzeug bestimmten Typs, wenn sich mit ihm bei entsprechender Kompetenz die Handlung vollziehen lässt, zu deren Ausführung Werkzeuge dieses Typs dienen.
Auch wenn Sokrates es in der Werkzeug-Analogie bemerkenswerterweise weitgehend 21 vermeidet, explizit von der ›Richtigkeit‹ von Werkzeugen zu sprechen,22 entwickelt er offenkundig bereits in 387a–b der Sache nach eine Konzeption der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen, die dem Funktionalitätsprinzip verpflichtet ist. Im Fall des Namens führt dementsprechend eine kontinuierliche gedankliche Entwicklung von der Feststellung, man müsse das Nennen mit dem Werkzeug vollziehen, mit dem es natürlich ist (387d4–8), über die Auskunft, dieses Werkzeug sei der Name (388a6–8), und die Forderung, ein Name müsse durch die Wiedergabe einer entsprechenden Idee geschaffen werden (389d4–390a10), zu Sokrates’ Fazit, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat« (391a8). Werkzeuge unterliegen in diesem Sinne zweifellos einem Standard der natürlichen Richtigkeit. Gegenstände, die diesem Standard genügen, sind, so lässt sich nun als gesichert festhalten, keine exzellenten Werkzeuge, sondern genügen nur der Minimalanforderung, dass sich mit ihnen eine bestimmte Handlung vollziehen lässt. Ganz unabhängig davon, ob sie tatsächlich als Werkzeuge für den Vollzug dieser Handlung eingesetzt werden, erfüllen sie also die basale Voraussetzung, die solche Werkzeuge erfüllen müssen. Gegenstände andererseits, die dem beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit nicht genügen, können dementsprechend gar nicht mehr als genuine oder echte Werkzeuge gelten. Auch wenn man natürlicherweise richtige Werkzeuge, die überhaupt für den Vollzug einer bestimmten Handlung geeignet sind, und Gegenstände, die dazu nicht geeignet sind, einander dichotomisch entgegensetzt, 23 kann man aber offenbar anerkennen, dass manche Werkzeuge besser für den Vollzug der betreffenden Handlung geeignet sind als andere. Die Konzeption der natürlichen Richtigkeit, die im Funktionalitätsprinzip zum Ausdruck kommt, abstraDie einzige Ausnahme bildet 390a1 f., wo Sokrates erklärt, dass es mit einem Werkzeug »seine Richtigkeit hat« (orthôs echei), solange der Handwerker in ihm die adäquate Idee wiedergegeben hat. 22 Wieso Sokrates das tut, ist auf den ersten Blick nicht klar. Es könnte sein, dass er den Titel der Richtigkeit für Namen reservieren will und daher dann, wenn es allgemein um Werkzeuge geht, lieber von ›natürlicher Eignung‹ spricht. 23 Dass es Sokrates in der Werkzeug-Analogie um diesen Kontrast geht, sieht ganz klar Anagnostopoulos (1972), 705 – auch wenn er annimmt, dass der Fall des Namens im weiteren Dialogverlauf anderes behandelt wird. 21
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hiert von solchen graduellen Unterschieden, schließt aber ihre Existenz nicht aus.24 Für den Gedankengang der Werkzeug-Analogie ist das Funktionalitätsprinzip von grundlegender Bedeutung. Gleichwohl gilt es, seine Aussagekraft nicht zu überschätzen: Denn die Konzeption der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen, die es zum Ausdruck bringt, ist in ihrer allgemeinen Version rein formal.25 Platon führt dies seinen Lesern auf subtile Weise in 388a2–7 vor Augen, indem er Sokrates drei Fälle besprechen lässt, in denen der Name des Werkzeugs sehr eng mit dem Namen der zu vollziehenden Handlung zusammenhängt:26 Das trupanon ist demnach das Werkzeug zum trupan, die kerkis das Werkzeug zum kerkizein und das onoma das Werkzeug zum onomazein.27 Eine solche Auskunft ist offenkundig nur für denjenigen informativ, der die genannten Handlungen genauer zu bestimmen vermag. Solange man aber etwa die Handlung des kerkizein nicht genauer bestimmen kann, solange man über sie vielleicht sogar nur weiß, dass sie mit einer kerkis ausgeführt werden muss, ist mit dem Funktionalitätsprinzip offenbar noch keine gehaltvolle Charakterisierung natürlicherweise richtiger kerkeis gewonnen. Um im Ausgang vom Funktionalitätsprinzip zu einer gehaltvollen Konzeption der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen eines bestimmten Typs zu gelangen, gilt es daher, die durchzuführende Handlung möglichst präzise zu beschreiben – also die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen eine Aktivität als Handlungsvollzug gelten kann. Nachdem für Sokrates, wie sich gezeigt hat, Handlungen zielführende Weisen des Umgangs mit Gegenständen sind, ist zu erwarten, dass eine Antwort auf diese Frage eine Spezifizierung des Ziels beinhalten muss, das durch den erfolgreichen Handlungsvollzug erreicht wird. So geht Sokrates auch tatsächlich vor, als er die Handlung des kerkizein zu charakterisieren versucht, um zu klären, was eine richtige kerkis auszeichnet:
24 Man könnte freilich unter Berufung auf Rep. 352d8–353b1 gegen das FUNKTIONALITÄTSPRINZIP einwenden, dass ein Gegenstand üblicherweise nicht schon dann als Werkzeug für eine bestimmte Handlung anerkannt wird, wenn sich mit ihm diese Handlung vollziehen lässt, sondern nur dann, wenn er sich besonders gut für den Vollzug der Handlung eignet. Meißner (in Vorbereitung-3) entkräftet diesen Einwand. 25 Vgl. zu den folgenden Überlegungen die Bemerkungen zum »vacuous use of functional language« bei Tharey (1964), 308 f. 26 Diese philologische Beobachtung macht auch Anagnostopoulos (1972), 706 f. 27 Die sprachliche Auffälligkeit dieser Passage muss beabsichtigt sein: Denn Platon hätte Sokrates ja auch weiterhin die Handlungen des temnein und kaein, die sich für ein solches Wortspiel nicht eignen, als Beispiele behandeln lassen können, statt mit den Handlungen des trupan und des kerkizein zwei neue Beispielfälle einzuführen.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Wenn ich also fragte: »Was für ein Werkzeug war die kerkis?« – [wäre die Antwort] nicht: das, womit wir kerkizieren28? – Doch. – Aber was tun wir, wenn wir kerkizieren? Sondern wir nicht den Einschlag und die Kettfäden, die durcheinanderliegen? – Ja. – Wirst du in dieser Weise also auch über den Bohrer und über alle anderen [Werkzeuge] Auskunft geben können? – Sicher.29
Der Vollzug des kerkizein ist demnach genau dann gelungen, wenn eine Sonderung von Einschlag und Kettfäden erreicht worden ist; und eine zum kerkizein geeignete und daher im Sinne des Funktionalitätsprinzips natürlicherweise richtige kerkis zeichnet sich dadurch aus, dass sich durch ihren Einsatz bei entsprechender Kompetenz eine solche Sonderung durchführen lässt. (Es ist übrigens nicht ganz leicht, dieser Bestimmung der Aufgabe der kerkis Sinn abzugewinnen: Denn wenn, wie üblicherweise angenommen wird,30 die kerkis mit dem Weberschiffchen zu identifizieren ist, würde man weit eher die Verknüpfung des Einschlags mit den Kettfäden, nicht aber ihre Sonderung für das Ziel ihrer Verwendung halten. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist dieses irritierende Detail nicht von Belang. Im nächsten Kapitel wird sich allerdings zeigen, dass es einen Schlüssel für das rechte Verständnis von Sokrates’ Bestimmung des Nennens bereithält – was auch erklärt, wieso die kerkis in der Werkzeug-Analogie als Leitbeispiel fungiert. Um die Sache nicht durch eine hier noch nicht zu rechtfertigende Wiedergabe vorzuentscheiden, soll einstweilen auf eine Übersetzung der griechischen Terme kerkis und kerkizein verzichtet werden.) Mit dieser Bestimmung des kerkizein ist ein gehaltvoller Begriff der natürlichen Richtigkeit von kerkeis gewonnen; und auf demselben Weg ließen sich, wie Sokrates andeutet, aus dem Funktionalitätsprinzip gehaltvolle Begriffe der natürlichen Richtigkeit von Bohrern und allen anderen Werkzeugtypen generieren. Von entscheidender Bedeutung ist nun aber die Beobachtung, dass auch der Begriff der natürlichen Richtigkeit von kerkeis in einem gewissen Sinne noch keine Antwort auf die Frage liefert, wie ein Gegenstand beschaffen sein muss, um als natürlicherweise richtige kerkis gelten zu können: Ihm ist zwar zu entnehmen, dass ein Gegenstand zur Sonderung von Einschlag und Kettfäden geeignet sein muss, wenn er eine natürlicherweise richtige kerkis sein soll; nicht zu entnehmen ist ihm aber, was einem Gegenstand diese Eignung verleiht – wie also beispielsEine echte Übersetzung von kerkizein soll an dieser Stelle vermieden werden. 388a10–b6: Εἰ οὖν ἐγὼ ἐροίμην »Τί ἦν ὄργανον ἡ κερκίς;« οὐχ ᾧ κερκίζομεν; – Ναί. – Κερκίζοντες δὲ τί δρῶμεν; οὐ τὴν κρόκην καὶ τοὺς στήμονας συγκεχυμένους διακρίνομεν; – Ναί. – Οὐκοῦν καὶ περὶ τρυπάνου ἕξεις οὕτως εἰπεῖν καὶ περὶ τῶν ἄλλων; – Πάνυ γε. 30 Der einzige Interpret, der diese Identifikation in Frage stellt, scheint – unter Berufung auf den im Haupttext genannten Grund – Ademollo zu sein: Ademollo (2011), 108. Vgl. zu seinem Alternativvorschlag Anm. 23 im dritten Kapitel dieser Studie. 28
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weise ein Stück Holz geformt sein muss, um für die Sonderung von Einschlag und Kettfäden geeignet zu sein. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit von kerkeis, der sich aus dem Funktionalitätsprinzip gewinnen lässt, ist funktionalistisch: Er identifiziert die natürliche Richtigkeit von kerkeis mit ihrer Funktionstüchtigkeit, lässt aber keine Rückschlüsse im Hinblick darauf zu, was einen Gegenstand zu einer funktionstüchtigen kerkis macht. Eine Antwort auf die Frage, wie ein Gegenstand beschaffen sein muss, um für den Vollzug einer bestimmten Handlung geeignet und damit ein natürlicherweise richtiges Werkzeug für ihre Durchführung zu sein, soll im Folgenden als eine Theorie der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen des betreffenden Typs gegen den funktionalistischen Begriff ihrer natürlichen Richtigkeit abgegrenzt werden. Im Rahmen der Werkzeug-Analogie entwickelt Sokrates keine Theorie der natürlichen Richtigkeit eines Werkzeugs und insbesondere auch keine Theorie der natürlichen Richtigkeit von Namen. Aber indem er in 389a–d die Voraussetzungen diskutiert, unter denen einem Handwerker die Herstellung von natürlicherweise richtigen Werkzeugen gelingt, schafft er, wie die Überlegungen des folgenden Abschnitts zeigen werden, zumindest die Grundlage für die Konstruktion einer solchen Theorie.
Das SPEZIFISCHE FUNKTIONALITÄTSPRINZIP (389a–d)
Um die Bedingungen der Produktion eines natürlicherweise richtigen Namens zu erläutern, greift Sokrates wiederum auf die Beispiele der kerkis und – weniger ausführlich – des Bohrers zurück. Seine diesbezüglichen Ausführungen,31 die es nun im Hinblick auf ihre Implikationen für die Thematik der natürlichen Richtigkeit zu analysieren gilt, seien hier einmal im Zusammenhang zitiert: Worauf sieht der Zimmermann, wenn er die kerkis macht? Etwa nicht auf ein solches, dem es von Natur zukommt, zu kerkizieren? – Sicher. – Wie aber? Wenn ihm die kerkis zerbricht, während er sie herstellt, wird er wieder eine andere verfertigen, indem er auf die zerbrochene sieht – oder auf diejenige Idee, auf die [sehend] er auch die verfertigte, die er zerbrochen hat? – Auf jene Idee, scheint mir. – Also könnten wir jene mit vollem Recht ›die Sache selbst, die eine kerkis ist‹ nennen? – So scheint es mir. – Ist es also, wann immer man für ein dünnes Kleidungsstück oder ein dickes oder ein leinenes oder wollenes oder für eines welcher Sorte auch immer eine kerkis herstellen muss, zum einen erforderlich, dass alle die Sie sind bisher kaum je mit der gebührenden Aufmerksamkeit für ihre Einbindung in den argumentativen Kontext der Werkzeug-Analogie diskutiert worden. Eine Ausnahme sind die hilfreichen Überlegungen bei Anagnostopoulos (1972), 712–715. 31
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Idee der kerkis haben, aber zum anderen auch, welche für jedes natürlicherweise am schönsten ist, dass man diese Natur in jedem Werk wiedergibt?32 – Ja. – Und in derselben Weise bei den anderen Werkzeugen: Das für jedes natürlicherweise geeignete Werkzeug muss man herausfinden und es in dem wiedergeben, woraus man [das Werkzeug] macht – nicht ein solches [Werkzeug], wie er33 will, sondern ein solches, wie es natürlich ist. Denn man muss, wie es scheint, den natürlicherweise für jedes geeigneten Bohrer in das Eisen zu legen verstehen. – Sicher. – Und die natürlicherweise für jedes geeignete kerkis in Holz. – So ist es. – Denn jede kerkis gehörte, wie es scheint, von Natur aus zu jeder Sorte von Gewebe, 34 und so verhält es sich auch in den anderen Fällen. – Ja.35
Es sei kurz festgehalten, was Sokrates hier sagt, um so den Rahmen für mögliche Interpretationen abzustecken: Ein Handwerker muss sich, um ein bestimmtes Werkzeug zu produzieren, an der Idee dieses Werkzeugs orientieren oder auf sie blicken (blepein pros, 389b2 f.). Damit ist aber offenbar noch keine vollständige Beschreibung der Erfolgsbedingungen seiner Tätigkeit gegeben: Denn wie Sokrates ausführt, muss es ihm auch gelingen, diejenige Idee in sein Produkt zu legen (tithenai, 389c7) oder in seinem Produkt wiederzugeben (apodidomai, 389c4 f.), die zu der spezifischen Version der Handlung passt, die mit dem Werkzeug vollzogen werden soll – also etwa die Idee36 der für das Kerkizieren von LeiDiese am Rande des Ungrammatischen sich bewegende Wendung soll die nicht eben übersichtliche Syntax der griechischen Formulierung – οἵα δ’ ἑκάστῳ καλλίστη ἐπεφύκει, ταύτην ἀποδιδόναι τὴν φύσιν εἰς τὸ ἔργον ἕκαστον – möglichst genau widerspiegeln. Ähnlich übersetzt Ademollo (2011), 129: »[…] but the nature which is best for each thing, this one must assign to each product«. 33 Der Satz wird von dem subjektlosen δεῖ regiert, aber mit αὐτός stellt Sokrates den Bezug auf den Handwerker her. 34 Vgl. zu Sokrates’ Rekurs auf die eidê hyphasmatos die Überlegungen im ersten Abschnitt des fünften Kapitels dieser Arbeit. 35 389a6–d3: Ποῖ βλέπων ὁ τέκτων τὴν κερκίδα ποιεῖ; ἆρ’ οὐ πρὸς τοιοῦτόν τι ὃ ἐπεφύκει κερκίζειν; – Πάνυ γε. – Τί δέ; ἂν καταγῇ αὐτῷ ἡ κερκὶς ποιοῦντι, πότερον πάλιν ποιήσει ἄλλην πρὸς τὴν κατεαγυῖαν βλέπων, ἢ πρὸς ἐκεῖνο τὸ εἶδος πρὸς ὅπερ καὶ ἣν κατέαξεν ἐποίει; – Πρὸς ἐκεῖνο, ἔμοιγε δοκεῖ. – Οὐκοῦν ἐκεῖνο δικαιότατ’ ἂν αὐτὸ ὃ ἔστιν κερκὶς καλέσαιμεν; – Ἔμοιγε δοκεῖ. – Οὐκοῦν ἐπειδὰν δέῃ λεπτῷ ἱματίῳ ἢ παχεῖ ἢ λινῷ ἢ ἐρεῷ ἢ ὁποιῳοῦν τινι κερκίδα ποιεῖν, πάσας μὲν δεῖ τὸ τῆς κερκίδος ἔχειν εἶδος, οἵα δ’ ἑκάστῳ καλλίστη ἐπεφύκει, ταύτην ἀποδιδόναι τὴν φύσιν εἰς τὸ ἔργον ἕκαστον; – Ναί. – Καὶ περὶ τῶν ἄλλων δὴ ὀργάνων ὁ αὐτὸς τρόπος· τὸ φύσει ἑκάστῳ πεφυκὸς ὄργανον ἐξευρόντα δεῖ ἀποδοῦναι εἰς ἐκεῖνο ἐξ οὗ ἂν ποιῇ, οὐχ οἷον ἂν αὐτὸς βουληθῇ, ἀλλ’ οἷον ἐπεφύκει. τὸ φύσει γὰρ ἑκάστῳ, ὡς ἔοικε, τρύπανον πεφυκὸς εἰς τὸν σίδηρον δεῖ ἐπίστασθαι τιθέναι. – Πάνυ γε. – Καὶ τὴν φύσει κερκίδα ἑκάστῳ πεφυκυῖαν εἰς ξύλον. – Ἔστι ταῦτα. – Φύσει γὰρ ἦν ἑκάστῳ εἴδει ὑφάσματος, ὡς ἔοικεν, ἑκάστη κερκίς, καὶ τἆλλα οὕτως. – Ναί. 36 Man könnte versucht sein, mit Calvert (1970), 29–33, den Status dieser Entität als Idee in Frage zu stellen, weil Sokrates für sie oft eine passende Abwandlung des pleonastischen Aus32
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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nengewebe geeigneten kerkis. Wie der vorliegende Abschnitt zeigen soll, erlaubt es der Rekurs auf die allgemeinen und spezifischen Ideen von Werkzeugen Sokrates, das Funktionalitätsprinzip neu zu fassen und so den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen in einer entscheidenden Hinsicht weiterzuentwickeln. Den Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung des Begriffs der natürlichen Richtigkeit bildet Sokrates’ These, ein Zimmermann müsse bei der Herstellung einer kerkis auf die Idee der kerkis blicken. Die visuelle Metaphorik, mit der Sokrates hier operiert, ist aus anderen Passagen des Platonischen Werkes, in denen es um den Bezug auf Ideen geht, wohlbekannt 37 und wird auch in einigen weiteren Fällen eingesetzt, um den kognitiven Aspekt der Tätigkeit eines Handwerkers zu beschreiben.38 Wenn in derartigen Kontexten von dem (apo)blepein pros, dem Hinblicken auf eine Idee die Rede ist, ist damit stets die Konzentration des Handwerkers auf denjenigen Standard gemeint, den sein Werk zu erfüllen hat.39 Auch in der Werkzeug-Analogie hebt Sokrates in 389b1–3 darauf ab, dass ein kompetenter Zimmermann sich nicht auf seine Vertrautheit mit konkreten kerkeis verlassen wird, wenn er eine zerbrochene kerkis ersetzen soll, sondern im Gegensatz zu einem Laien die Anforderungen kennt, die ein Artefakt erfüllen muss, um als kerkis brauchbar zu sein.40 drucks to physei hekastô pephykos organon verwendet (389c4; vgl. die Abwandlungen in c6 f., c10, d4 f. und wieder 390e3), statt sie als eidos zu bezeichnen. Die vermeintliche terminologische Differenzierung löst sich allerdings bei näherer Betrachtung in Luft auf, wie Luce (1965), 24, zeigt: Sokrates bezieht sich nämlich an späterer Stelle offenbar nicht auf die allgemeine Idee des Namens, sondern auf die spezifische Idee eines bestimmten Namenstypus, wenn er von der »jedem angemessene[n] Idee des Namens« spricht (390a6 f.: to tou onomatos eidos to proshêkon hekastô; vgl. proshêkon eidos kerkidos in b1 f.), und im selben Sinne von der Idee des »Namen[s], der jedem kraft seiner Natur zugehört« (390e3 f.: to tê physei onoma on hekastô, worauf sich autou to eidos eindeutig zurückbezieht). Man kommt also nicht umhin, Sokrates die These zuzuschreiben, dass ein Handwerker, der ein natürlicherweise richtiges Werkzeug für eine Handlung bestimmten Typs herstellen will, zu diesem Zweck sowohl an der entsprechenden allgemeinen Idee des Werkzeugs als auch an der spezifischen Idee des für eine spezielle Version dieser Handlung geeigneten Werkzeugs orientiert sein muss. Vgl. dazu auch Kahn (1996), 364 f. 37 Einschlägig ist in dieser Hinsicht z. B. Euthphr. 6e4–7: Tαύτην τοίνυν με αὐτὴν δίδαξον τὴν ἰδέαν τίς ποτέ ἐστιν, ἵνα εἰς ἐκείνην ἀποβλέπων καὶ χρώμενος αὐτῇ παραδείγματι, ὃ μὲν ἂν τοιοῦτον ᾖ ὧν ἂν ἢ σὺ ἢ ἄλλος τις πράττῃ φῶ ὅσιον εἶναι, ὃ δ᾽ ἂν μὴ τοιοῦτον, μὴ φῶ. 38 Siehe z. B. Gorg. 503d6–e4, Rep. 596b6–10 und Leg. 965b7–c3. 39 Vgl. dazu die erhellenden Überlegungen bei Wieland (21999), 146–150. 40 Das bedeutet natürlich nicht, dass praktische Erfahrung und empirische Generalisierungen für den Erwerb des Wissens, das einen kompetenten Handwerker auszeichnet, keine Rolle spielen. Es ist daher nur schwer nachzuvollziehen, wie Robinson (1956), 333, Platon vorwerfen kann, er setze eine mystische Ideenschau an die Stelle der erfahrungsgesättigten Fertigkeit eines Handwerkers. Alles, was Platon Sokrates hier sagen lässt, ist, dass ein kompetenter Handwerker nicht darauf angewiesen ist, ein zerbrochenes Werkzeug nachzubilden, um es zu ersetzen, son-
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Der Standard, an dem ein Handwerker seine Tätigkeit ausrichtet, ist dabei offenbar abhängig von der Handlung, deren Vollzug das Werkzeug ermöglichen soll. Dementsprechend wird der Orientierungspunkt des Zimmermanns von Sokrates zunächst nicht als eidos der kerkis (so explizit erst in 389b3 und 10) oder als »die Sache selbst, die eine kerkis ist« (389b5: auto ho estin kerkis)41 eingeführt, sondern ganz unterminologisch als »ein solches, dem es von Natur zukommt, zu kerkizieren« (389a7-8: toiouton ti ho epephykei kerkizei).42 Mit dieser Wendung greift Sokrates offenbar die im ersten, bereits diskutierten Abschnitt der Werkzeug-Analogie mehrfach verwendeten instrumentellen Dativkonstruktionen hô epephykei (387b4) beziehungsweise hô pephyke (387a6, c1 f., d4 f.) auf. Wie sich gezeigt hat, verwendet Sokrates solche Dativkonstruktionen, um Gegenstände auszuzeichnen, die sich im Sinne des Funktionalitätsprinzips für den Vollzug einer bestimmten Handlung eignen. Demnach wird man davon ausgehen können, dass es einem Zimmermann genau dann gelingt, ein Werkzeug zu fertigen, mit dem sich die Handlung des kerkizein vollziehen lässt, wenn er sich bei seiner Tätigkeit an der allgemeinen Idee der kerkis orientiert, so dass sein Produkt diese Idee »hat« (to tês kerkidos echein eidos, 389b9 f.) – also vermutlich an ihr teilhat.43 Wollte man diese Schlussfolgerung vermeiden, müsste man nicht nur unplausiblerweise bestreiten, dass sich Sokrates mit der Wendung toiouton ti ho epephykei kerkizei auf die markanten Dativkonstruktionen im ersten Teil der Werkzeug-Analogie zurückbezieht: Man müsste auch erklären, wieso er zunächst dern sich auf sein Wissen darum verlassen kann, was ein brauchbares Werkzeug der benötigten Art auszeichnet – und das scheint sich kaum bestreiten zu lassen. Siehe auch Anagnostopoulos (1972), 716 f., für eine überzeugende Kritik von Robinsons Thesen. 41 Die Wendung auto ho estin X wird an vielen Stellen des Platonischen Werks verwendet, um die Idee von X zu bezeichnen (s. etwa Sym. 211c8–d1; Phd. 74d6, 78d2–4; Rep. 532a7, 597a2). Im Phaidon wird sie explizit als dialektischer terminus technicus ausgewiesen: Oὐ γὰρ περὶ τοῦ ἴσου νῦν ὁ λόγος ἡμῖν μᾶλλόν τι ἢ καὶ περὶ αὐτοῦ τοῦ καλοῦ καὶ αὐτοῦ τοῦ, ἀγαθοῦ καὶ δικαίου καὶ ὁσίου καί, ὅπερ λέγω, περὶ ἁπάντων οἷς ἐπισφραγιζόμεθα τὸ ‘αὐτὸ ὃ ἔστι’ καὶ ἐν ταῖς ἐρωτήσεσιν ἐρωτῶντες καὶ ἐν ταῖς ἀποκρίσεσιν ἀποκρινόμενοι (75c10–d3). Daraus Rückschlüsse auf die relative Datierung des Kratylos und des Phaidon zu ziehen, wie es unter anderem Sedley (2007), 72 f., und Ademollo (2011), 126 f., mit diametral entgegengesetzten Ergebnissen tun, erscheint allerdings gewagt. 42 Wiederum überrascht daher Robinsons kritisches Urteil: »While correctly using the analogy of cutting to show that there is a right and wrong in names (387A), Socrates fails to remark that the rightness of a knife depends on the purpose you have in mind. While correctly saying that the carpenter tries to make an ideal shuttle, he implies that what constitutes an ideal shuttle is nothing to do with its purpose or its success in achieving that purpose« (Robinson (1956), 333). Alles, was Sokrates über die Produktion natürlicherweise richtiger Werkzeuge sagt, ist der Annahme verpflichtet, dass es von der Natur der zu vollziehenden Handlungen abhängt, wie diese Werkzeuge beschaffen sein müssen. 43 Dass dies der Sache nach gemeint sein muss, scheint sich kaum bezweifeln zu lassen, auch wenn Sokrates in der Werkzeug-Analogie ohne diese semi-technische Vokabel auskommt.
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Werkzeuge, mit denen sich Handlungen vollziehen lassen, von Gegenständen unterscheiden sollte, mit denen sie sich nicht vollziehen lassen, um dann ohne jede Vorwarnung zu einer Betrachtung der Bedingung der Produktion von Werkzeugen überzugehen, die nicht an diese Unterscheidung anknüpft.44 Sokrates’ Rekurs auf die allgemeinen Ideen von Werkzeugen dient also einer Analyse der Bedingungen der erfolgreichen Produktion von Werkzeugen, die natürlicherweise richtig im Sinne des Funktionalitätsprinzips sind. Man kann sich freilich fragen, ob eine solche Analyse nicht auch geleistet werden könnte, ohne Ideen von Werkzeugen zu postulieren. Denn, so ließe sich argumentieren, die Behauptung, ein Zimmermann müsse sich an der Idee der kerkis orientieren, um eine natürlicherweise richtige kerkis herzustellen, scheint ja nur zu besagen, dass ein Zimmermann wissen muss, was ein für das kerkizein geeignetes Werkzeug auszeichnet, um ein solches Werkzeug herstellen zu können; und die Behauptung, ein Werkzeuge müsse die Idee der kerkis »haben«, um als natürlicherweise richtige kerkis gelten zu können, scheint nur zu besagen, dass ein Werkzeug für den Vollzug des kerkizein geeignet sein muss, um als natürlicherweise richtige kerkis gelten zu können. Was aber sollte es dann einbringen, eine Idee der kerkis zu postulieren? Warum nicht ohne ein derartiges Postulat die Frage untersuchen, worin die natürliche Eignung und damit die natürliche Richtigkeit einer kerkis besteht, und was ein Zimmermann dementsprechend wissen muss, um eine natürlicherweise richtige kerkis herstellen zu können?45 Aus diesem Einwand spricht ein falsches Verständnis davon, was es im Kontext der Platonischen Dialoge heißt, eine Frage wie diejenige zu untersuchen, worin die natürliche Eignung und damit die natürliche Richtigkeit einer kerkis besteht. Denn wenn in den Dialogen im Ausgang von der Feststellung, dass eine Vielzahl von Dingen eine Gemeinsamkeit aufweist, die Frage untersucht wird, worin diese Gemeinsamkeit besteht, wird in aller Regel das gemeinsame Das spricht insbesondere gegen die These, die Orientierung an der allgemeinen Idee eines Werkzeugs sei eine notwendige Voraussetzung für die Produktion eines exzellenten Werkzeugs des betreffenden Typs, nicht aber für die Produktion eines Artefakts, das die Minimalanforderungen an Werkzeuge dieses Typs erfüllt – eine These, auf die sich beispielsweise Weingartner (1970), 18–20, und Baxter (1992), 43–45, zu verpflichten scheinen. Dass es um diese Minimalanforderungen geht, sieht ganz richtig Anagnostopoulos (1972), 712. 45 Diesen Einwand wird man insbesondere dann überzeugend finden, wenn man sich – wie es z. B. Goldschmidt (1940), 77 f., Taylor (61949), 81, und Ross (1953), 19 f., zu tun scheinen – unter der Idee der kerkis eine ideale, aber immaterielle kerkis vorstellt, die das Vorbild abgibt, dem alle materiellen kerkeis möglichst nahe zu kommen haben. Anagnostopoulos (1972), 712–714, macht hingegen ganz im Sinne der hier entwickelten Interpretation darauf aufmerksam, dass Sokrates, indem er auf die Idee der kerkis zu sprechen kommt, die Eignung für den Vollzug des kerkizein als solche in den Blick nimmt. 44
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eidos dieser Dinge als Gegenstand der Untersuchung anvisiert.46 Die Ansetzung eines solchen eidos scheint also kein Postulat zu sein, das irgendwann im Verlauf der Untersuchung einer solchen Frage eingeführt werden kann, um diese Untersuchung voranzubringen; vielmehr scheint die Frage, worin die thematisierte Gemeinsamkeit besteht, sich gar nicht von der Frage nach dem entsprechenden eidos unterscheiden zu lassen.47 Durch die Bezugnahme auf eine solches eidos wird ein Perspektivwechsel vollzogen, durch den eine aussichtsreiche Untersuchung erst möglich wird – plakativ formuliert: eine Abwendung von den Dingen, die eine Gemeinsamkeit aufweisen, und eine Hinwendung zu der Gemeinsamkeit als solcher. Wer daher moniert, dass Sokrates darüber sprechen sollte, was das Produkt eines Zimmermanns zu einem natürlicherweise für das kerkizein geeigneten Werkzeug und somit zu einer natürlicherweise richtigen kerkis macht, statt umständlicher- und überflüssigerweise von dem eidos der kerkis zu handeln, übersieht, dass die Thematisierung dieses eidos für Sokrates gerade der Weg ist, das in den Blick zu bekommen, was allen natürlicherweise für das kerkizein geeigneten Werkzeugen gemeinsam ist. Sokrates’ Einführung der allgemeinen Ideen von Werkzeugen lässt sich daher ebenfalls am sinnvollsten als Perspektivwechsel beschreiben: Während zuvor die Aufmerksamkeit den natürlicherweise geeigneten oder richtigen Werkzeugen galt, geht es nun um die natürliche Eignung oder Richtigkeit als solche – um die Frage also, worin die natürliche Eignung oder Richtigkeit eines Werkzeugs besteht. Die Perspektive, die Sokrates nun einnimmt, ist demnach die Perspektive einer Theorie der natürlichen Richtigkeit von Werkzeugen – auch wenn an dieser Stelle mit einer Ausarbeitung einer solchen Theorie noch nicht einmal begonnen, sondern erst der Gegenstand der Theorie festgelegt wurde. Freilich darf man nicht übersehen, dass es sich bei dem Wissen eines Zimmermanns um ein know-how handelt, nicht um eine explizite Theorie: Wie man aus einem Holzblock eine natürlicherweise richtige kerkis macht, weiß ein Zimmermann in dem Sinne, dass er eine solche kerkis tatsächlich herstellen kann. Dazu ist es nicht erforderlich, dass er explizit angeben kann, unter welchen Bedingungen ein Artefakt eine natürlicherweise richtige kerkis ist – ebenso wenig, wie man dann, wenn man Fahrrad fahren kann, notwendigerweise anzugeben 46
Typisch sind in dieser Hinsicht beispielsweise die beiden Passagen Euthphr. 6d/e und Men.
72c/d. Wieland (21999), 150, hält dementsprechend zurecht fest: »Wer Ideen in Frage stellen will, kommt immer schon zu spät.« Er arbeitet auch überzeugend heraus, wie unproblematisch sich die Bezugnahme auf Ideen in aller Regel in den Untersuchungszusammenhang der Dialoge einfügt: Wieland (21999), 132–150. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des fünften Kapitels dieser Studie. 47
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weiß, unter welchen Bedingungen ein Bewegungsablauf den Erhalt des Gleichgewichts auf einem Fahrrad garantiert. Sicherlich ist ein Zimmermann kraft seiner praktisch-technischen Kompetenz in einer Position, aus der heraus sich bei entsprechenden reflexiven Anstrengungen aussichtsreiche explizite Vermutungen darüber entwickeln ließen, was ein Artefakt zu einer natürlicherweise richtigen kerkis macht; aber bei dem in seiner kompetenten und erfolgreichen Tätigkeit sich manifestierenden Wissen des Zimmermanns scheint es sich – zumindest in erster Linie – um non-propositionales Wissen zu handeln. Wenn man seine Expertise unter dem Rubrum des ›Ideenwissens‹ behandelt, sollte man daher nicht aus den Augen verlieren, dass es sich nicht um ein Wissen über die Idee der kerkis handelt: Die Orientierung des Zimmermanns an dieser Idee äußert sich eben nicht darin, dass er gut begründete, wahre Thesen über sie oder den von ihr gesetzten Standard der natürlichen Richtigkeit von kerkeis vertritt. Allem Anschein nach muss der Zimmermann ja noch nicht einmal wissen, dass er bei der Produktion einer kerkis an einer Idee orientiert ist; diese Charakterisierung der Sachlage scheint vielmehr die eines Philosophen zu sein, der auf die Kompetenz des Zimmermanns reflektiert.48 Dennoch eignet sich die Analyse der Erfolgsbedingungen handwerklicher Tätigkeit hervorragend dazu, die Aufmerksamkeit auf die natürliche Eignung des Werkzeugs als solche und damit auf die entsprechende Idee des Werkzeugs zu lenken, weil diese Tätigkeit an der natürlichen Eignung als einer technisch-praktischen Norm ausgerichtet ist und ein – wenn auch in aller Regel non-propositionales – Wissen darum verkörpert, worin sie besteht. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit eines bestimmten Werkzeugs würde nun eben das explizit machen, was bei seiner erfolgreichen Produktion implizit bleibt.49 Wenn Sokrates also die Produktion einer kerkis durch einen Zimmermann beschreibt und dabei dessen Orientierung an der allgemeinen Idee der kerkis als Bedingung für den Erfolg des Produktionsversuchs ausweist, verrät er damit tatsächlich nichts über die natürliche Richtigkeit von kerkeis, was über das Funktionalitätsprinzip hinausginge; aber er nimmt dadurch zum ersten Mal insofern die Perspektive einer Theorie der natürlichen Richtigkeit von kerkeis ein, als er die natürliche Eignung oder Richtigkeit dieser Werkzeuge als solche zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, und gibt zugleich zu erkennen, dass Wissen darum, worin die natürliche Richtigkeit von kerkeis besteht, verfügbar sein muss, weil kompetente Zimmermänner in Gestalt ihres know-how über ein solches Wissen zweifellos verfügen. In diesem Sinne spielt die Einführung der allgemeinen Ideen von Werkzeugen Vgl. dazu Wieland (21999), 146–148. Soweit es sich explizit machen lässt – es könnte durchaus sein, dass eine abgeschlossene Theorie das non-propositionale Wissen eines Handwerkers nicht vollständig explizit machen kann. 48 49
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unbestreitbar eine unverzichtbare Rolle für den Gedankengang der WerkzeugAnalogie. Wie aber ist nun vor diesem Hintergrund die Behauptung des Sokrates zu verstehen, der Handwerker könne sich bei der Produktion eines natürlicherweise richtigen Werkzeugs nicht nur an der entsprechenden allgemeinen Idee orientieren, sondern müsse auch »das für jedes50 natürlicherweise geeignete Werkzeug […] herausfinden und es in dem wiedergeben, woraus man [das Werkzeug] macht«? Um sich klar zu machen, was diese Behauptung besagt, ist es hilfreich, sich zunächst Aufschluss darüber zu verschaffen, welche Einzelfälle es sind, die Sokrates im Sinn hat. Während sowohl Hermogenes im Prolog als auch Sokrates in der Werkzeug-Analogie eigentlich dazu tendieren, hekaston ohne ein komplettierendes Nomen und vor allem auch ohne entsprechende Erklärung zu verwenden,51 lässt sich an dieser Stelle ausnahmsweise eindeutig feststellen, was gemeint ist: Denn Sokrates unterscheidet schon in 389b8 f. kerkeis danach, ob sie für die Fertigung dicker oder dünner und leinener oder wollener Kleidungsstücke geeignet sein sollen, und zieht daraus in 389d1 f. die Schlussfolgerung, dass die kerkeis von Natur aus den einzelnen eidê oder den einzelnen Sorten oder Arten des Gewebes zugeordnet sind. Sokrates scheint also anzunehmen, dass es für jedes Werkzeug nicht nur eine entsprechende allgemeine Idee gibt, sondern für jede Art des mit dem Werkzeug zu bearbeitenden Materials eine Idee52 des speziell für die Bearbeitung dieses Materials geeigneten Werkzeugs. Man darf davon ausgehen, dass Sokrates’ Analyse zufolge einem Handwerker genau dann die Produktion eines Werkzeugs gelingt, mit dem sich ein bestimmtes Material bearbeiten lässt, wenn er die Idee des für die Bearbeitung dieses Materials angemessenen Werkzeugs in seinem Produkt wiederzugeben versteht.53 Wie sich die allgemeine Idee eines Werkzeugs und die entsprechenden speziellen Ideen der für die Bearbeitung bestimmter Materialarten geeigneten Werkzeuge zueinander verhalten, erläutert Sokrates nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit.54 Klar ist lediglich, dass ein Handwerker nur dann ein natürlicherKursivierung nicht im Text. Dieser Befund wird im ersten Abschnitt des fünften Kapitels dieser Studie ausführlich belegt und diskutiert. 52 Dass es sich tatsächlich um eine Idee handelt und nicht um eine Entität mit einem weniger illustren ontologischen Pedigree, unterliegt, wie bereits in Anm. 36 gezeigt wurde, angesichts des Textbefundes keinem Zweifel. 53 Wollte man diesen Schluss nicht akzeptieren, müsste man stattdessen die These verteidigen, dass beispielsweise die Wiedergabe der Idee der für die Bearbeitung von Wolle geeigneten kerkis erforderlich ist, um eine besonders gut zum Kerkizieren von Wolle geeignete kerkis herzustellen. Aber wie Meißner (in Vorbereitung-3) zeigt, lässt diese These sich nicht halten. 54 Auch wenn hier von ›spezifischen‹ Ideen die Rede ist, gibt es keinen Hinweis darauf, dass Sokrates’ Ausführungen von einer Aristotelischen Gattungs-Art-Logik geprägt sind. Vor dem 50 51
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weise richtiges Werkzeug produzieren wird, wenn er sich sowohl an der allgemeinen Idee dieses Werkzeugs orientiert als auch eine der entsprechenden spezifischen Ideen in seinem Produkt wiedergibt. Sokrates’ Formulierung in 389b8–c1 scheint zwar auf den ersten Blick nicht auszuschließen, dass es Fälle geben könnte, in denen ein Zimmermann keine für die Bearbeitung eines bestimmten Materials geeignete kerkis schaffen muss und sich deswegen nur an der allgemeinen Idee der kerkis zu orientieren hat; nimmt man aber seine folgenden Aussagen zum Nennwert, muss ein Handwerker in jedem Fall auch die Idee eines für die Bearbeitung eines bestimmten Materials geeigneten Werkzeugs in seinem Produkt wiedergeben, wenn es sich bei diesem Produkt um ein natürlicherweise richtiges Werkzeug handeln soll.55 Das macht die Vermutung sehr plausibel, dass die beiden Bedingungen – Orientierung der Produktion an der allgemeinen Idee eines Werkzeugs und Wiedergabe einer entsprechenden spezifischen Idee im Produkt – nicht unabhängig voneinander zu erfüllen sind: dass also ein Handwerker nur in Orientierung an der allgemeinen Idee eines Werkzeugs ein natürlicherweise richtiges Werkzeug schaffen kann, indem er eine entsprechende spezifische Idee in seinem Produkt wiedergibt.56 Führt man sich vor Augen, was für ein Werkzeug ein Handwerker produziert, wenn er sich beispielsweise sowohl an der allgemeinen Idee der kerkis orientiert als auch die Idee der für die Bearbeitung von Wolle geeigneten kerkis in seinem Produkt wiedergibt, erhärtet sich diese Hypothese. Denn wie sich gezeigt hat, Hintergrund der Ausführungen des Eleatischen Fremden in Soph. 257c7–d8 wäre es denkbar, dass es sich bei den spezifischen Ideen eines Werkzeugs stattdessen um Teile der entsprechenden allgemeinen Idee handelt. Eine systematische, technisch höchst anspruchsvolle Rekonstruktion der Rede von ›Teilen‹ von Ideen mit den Mitteln der modernen Prädikatenlogik bietet im Ausgang vom Sophistes Hochholzer (2016). Hochholzers Argumentation zeigt, dass die Teil-Ganzes-Relation eine der Grundrelationen der Platonischen Ideenlogik ist – was die Vermutung, dass die spezifischen Ideen eines Werkzeugs als Teile der entsprechenden allgemeinen Idee anzusehen sind, umso plausibler macht. 55 Es ist nicht ganz klar, ob Anagnostopoulos (1972), 714 f., diese Einschätzung teilt, wenn er im Hinblick auf 389b8–c1 ausführt: »Suppose, to use the same example, that in order for a thing to perform function Φ (weaving), it must have X and Y. Now, the point Socrates is making here is that in order to use this thing for making different kinds of material, it must have, besides X and Y, some other conditions also, X1 and Y1, which are dictated by the particular nature of the material. So while the carpenter fixes his mind on X and Y and gives these to all his products for weaving, he also gives (X1, Y1) or (X 2, Y2) or etc., to some of his products which are to be used on particular materials.« Die entscheidende Frage, die Anagnostopoulos gar nicht stellt, ist nämlich, ob ein Produkt des Zimmermanns nur X und Y haben kann, ohne X1 und Y1 oder X 2 und Y2 oder irgendein anderes Set von Eigenschaften zu haben, das ihm die Eignung für die Bearbeitung eines spezifischen Materials verleiht. Hier soll eine negative Antwort auf diese Frage verteidigt werden. 56 So ganz richtig Ademollo (2011), 130.
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garantiert die Erfüllung der ersten Bedingung, dass sich mit seinem Produkt die Handlung des kerkizein vollziehen lässt, während die Erfüllung der zweiten Bedingung garantiert, dass sich mit seinem Produkt Wolle kerkizieren lässt. Offensichtlich lässt sich aber kein Werkzeug produzieren, das zwar für das Kerkizieren von Wolle geeignet ist, aber nicht den Vollzug des Kerkizierens ermöglicht. Deswegen muss durch die Wiedergabe der Idee der für das Bearbeiten von Wolle geeigneten kerkis in einem Werkzeug garantiert sein, dass dieses Werkzeug auch die allgemeine Idee der kerkis »hat« und daher natürlicherweise geeignet für den Vollzug des Kerkizierens ist; und allgemein gesprochen muss durch die Wiedergabe der Idee eines für die Bearbeitung eines bestimmten Materials geeigneten Werkzeugs garantiert sein, dass das resultierende Produkt auch die allgemeine Idee dieses Werkzeugs »hat« und sich für den Vollzug der betreffenden Handlung eignet. Da umgekehrt Sokrates darauf beharrt, dass bei der Produktion eines natürlicherweise richtigen Werkzeugs stets auch eine entsprechende spezifische Idee wiedergegeben werden muss,57 scheint die Wiedergabe einer solchen Idee der einzige Weg für einen Handwerker zu sein, ein Produkt zu fertigen, das die betreffende allgemeine Idee »hat«. Ein Zimmermann kann demnach nur sicherstellen, dass sein Produkt die Idee der kerkis »hat«, indem er in ihm die Idee einer für die Bearbeitung von Wolle geeigneten kerkis oder die Idee einer für die Bearbeitung von Leinen geeigneten kerkis oder irgendeine andere spezifische Idee wiedergibt. Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dieser Analyse im Hinblick auf die natürliche Richtigkeit von Werkzeugen? Sokrates’ Untersuchung war bisher geprägt vom Funktionalitätsprinzip, dem zufolge ein natürlicherweise richtiges Werkzeug für eine bestimmte Handlung ein Gegenstand ist, mit dem sich die Handlung bei entsprechender Kompetenz vollziehen lässt. Dieses Prinzip bleibt offenbar in Kraft, und zwar in Gestalt der Forderung, ein Handwerker müsse sich an der allgemeinen Idee des zu verfertigenden Werkzeugs orientieren, damit sein Produkt diese Idee »hat«. Aber Sokrates’ Ausführungen zu den korrespondierenden spezifischen Ideen implizieren, dass die Eignung eines Werkzeugs für den Vollzug einer Handlung immer als Eignung für den Vollzug dieser Handlung in einer spezifischen Version vorliegen muss.58 Demnach kann ein Werkzeug Man könnte geltend machen, dass Sokrates’ Verwendung von δεῖ in 389b9, c4, c7 und d6 nicht notwendigerweise zeigt, dass ein Handwerker die betreffenden spezifischen Ideen wiedergeben muss, sondern möglicherweise nur, dass er sie wiedergeben sollte. Aber da Sokrates an drei dieser vier Stellen durch die Verwendung von δεῖ auch seiner Forderung nach Orientierung an den entsprechenden allgemeinen Ideen Ausdruck verleiht und kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Handwerker sich an diesen Ideen orientieren muss, wenn er natürlicherweise richtige Werkzeuge herstellen will, indiziert δεῖ hier tatsächlich Notwendigkeit. 58 Was nicht bedeuten muss, dass sie stets in nur einer spezifischen Form auftritt: S. u., Anm. 62. 57
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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nicht bloß generisch zum Vollzug des kerkizein geeignet sein; stattdessen muss die Eignung für das Kerkizieren als Eignung für das Kerkizieren von Wolle oder als Eignung für das Kerkizieren von Leinen oder als Eignung für das Kerkizieren irgendeiner anderen Art von Gewebe realisiert sein. Auch natürliche Richtigkeit kann daher nicht bloß in generischer Form vorliegen – es gilt vielmehr das Spezifische Funktionalitätsprinzip: Etwas ist genau dann ein natürlicherweise richtiges Werkzeug bestimmten Typs, wenn sich mit ihm bei entsprechender Kompetenz die Handlung, zu deren Ausführung Werkzeuge dieses Typs dienen, in einer ihrer spezifischen Versionen ausführen lässt.59
Diese Pointe wird von Sokrates bereits im Rahmen seiner Überlegungen zur Natur von Handlungen vorbereitet – wenn auch sehr unauffällig: Während er nämlich im Hinblick auf das Schneiden behauptet, man müsse »jedes schneiden nach der Natur des Schneidens und Geschnitten-Werdens und mit dem natürlicherweise geeigneten [Werkzeug]«, heißt es im Hinblick auf das Brennen, man müsse so brennen, »wie es für jedes natürlich ist, gebrannt zu werden und es zu brennen, und mit dem [Werkzeug], das natürlich ist«. Die gegenüber der ersten Formulierung verschobene Position des hekaston in der zweiten Formulierung suggeriert, dass die Antwort auf die Frage, welches Werkzeug natürlicherweise für das Brennen eines bestimmten Gegenstandes geeignet ist, auch davon abhängt, um was für einen Gegenstand es sich handelt. Das würde genau der von Sokrates in 389b–d skizzierten Position entsprechen, nach der die natürliche Eignung für den VollUm einem Missverständnis vorzubeugen: Das SPEZIFISCHE FUNKTIONALITÄTSPRINZIP bringt keine Relativierung der natürlichen Richtigkeit mit sich. Denn auch, wenn man eine ausschließlich für die Bearbeitung von Wolle geeignete kerkis in Relation zu der Handlung des Kerkizierens von Leinen betrachtet und ihre Untauglichkeit für diese Aufgabe feststellt, muss man sie doch als natürlicherweise richtige kerkis anerkennen. Die Tatsache, dass einem Gegenstand eine Eigenschaft nur in einer spezifischen Ausprägung und nicht in ihren anderen Ausprägungen zukommt, hat nämlich offenbar nicht zur Folge, dass es eine Frage der Betrachtungsweise ist, ob dem Gegenstand die betreffende Eigenschaft zukommt oder nicht. Wenn daher das Produkt eines Handwerkers natürlicherweise geeignet ist für den Vollzug einer bestimmten Handlung in einer spezifischen Version, muss es in einem absoluten Sinne als natürlicherweise richtiges Werkzeug des betreffenden Typs gelten; eine Relativierung auf eine Betrachtungsweise wäre hier völlig fehl am Platz. Dementsprechend kann auch nur dann mit Recht festgestellt werden, dass es sich bei dem Produkt eines Handwerkers nicht um ein natürlicherweise richtiges Werkzeug bestimmten Typs handelt, wenn es sich für den Vollzug keiner einzigen Version der betreffenden Handlung eignet. (Dessen ungeachtet kann man sich natürlich einen Fall vorstellen, in dem ein Zimmermann eine kerkis herstellen will, die für die Bearbeitung von Wolle geeignet ist, dabei aber versehentlich die falsche spezifische Idee der kerkis wiedergibt und ein Werkzeug herstellt, das für die Bearbeitung von Leinen, aber eben nicht für die Bearbeitung von Wolle geeignet ist. In einem gewissen Sinne wird man davon sprechen können, dass die Bemühungen des Zimmermanns gescheitert sind – aber dennoch hätte er in einem solchen Szenario eine natürlicherweise richtige kerkis geschaffen.) 59
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
zug einer Handlung nie bloß in generischer Form vorliegen kann, sondern immer als Eignung für den Vollzug der Handlung an einer bestimmten Material- oder Gegenstandsart realisiert sein muss. Bei der Entfaltung dieser Position knüpft Sokrates dann auch ganz explizit an seine gleich zu Beginn der Werkzeug-Analogie formulierte und dann geradezu mantrahaft wiederholte60 Grundannahme an, man könne eine Handlung nicht auf die Weise und mit dem Werkzeug vollziehen, wie man will oder es für richtig hält, sondern nur auf die naturgemäße Weise und mit dem naturgemäßen Werkzeug: Ein Handwerker müsse nämlich, so seine die Ausführungen in 387a–b sprachlich genau spiegelnde Forderung in 389c4–7, »das für jedes natürlicherweise geeignete Werkzeug […] herausfinden und es in dem wiedergeben, woraus man [das Werkzeug] macht – nicht ein solches [Werkzeug], wie er will, sondern ein solches, wie es natürlich ist«. Dass Sokrates’ Diskussion der Natur von Handlungen den Keim für seine spätere Analyse der Bedingungen erfolgreicher Werkzeugproduktion enthält, nimmt bei näherer Überlegung nicht wunder. Denn wenn man sich fragt, wieso man annehmen sollte, dass die natürliche Eignung für den Vollzug einer Handlung immer nur als natürliche Eignung für den Vollzug einer ihrer spezifischen Versionen vorliegen kann, erscheint es am aussichtsreichsten, von der bereits im letzten Abschnitt formulierten Beobachtung auszugehen, dass für Sokrates Handlungen Weisen des zielführenden Umgangs mit Dingen sind: So wird beispielsweise durch den Vollzug des kerkizein das Ziel der Sonderung von Kettfäden und Einschlag erreicht. Wie sich gezeigt hat, ist es gerade die Gegenstandsbezogenheit von Handlungen, der sich die Plausibilität der These verdankt, sie besäßen eine eigene Natur. Unter dieser Voraussetzung ist es aber nur konsequent, anzunehmen, dass die Natur der Handlung je nach Art des Gegenstandes, auf den sie sich bezieht oder an dem sie sich vollzieht, unterschiedliche Standards für gelingenden Handlungsvollzug vorgibt. Wie man das Ziel erreicht, Einschlag und Kettfäden zu sondern, wird beispielsweise auch davon abhängen, zu welcher Gewebeart Einschlag und Kettfäden gehören; und es wäre daher durchaus folgerichtig, nicht nur eine allgemeine Natur des Kerkizierens anzunehmen, sondern auch eine spezifische Natur des Kerkizierens von Wolle, von Leinen und von anderen Gewebearten. Versteht man dementsprechend unter einer ›Version‹ einer Handlungsausführung ihren Vollzug an einer bestimmten Art der handlungstypischen Bezugsgegenstände, 61 scheint jedenfalls die Behauptung sehr einleuchtend, es gehöre zur Natur einer Handlung, dass sie in einer bestimmten Version vollzogen werden muss; und ebenso einleuchtend erscheint dann Siehe 387a2, a4, b2 f., b11–c1 sowie d5 f. Welche Versionen der Handlung es gibt, wird demnach davon abhängen, welche für den Vollzug der Handlung relevanten Artunterschiede es zwischen den Bezugsgegenständen gibt. 60 61
II. Das Modell für den Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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die Behauptung, die Eignung eines Werkzeugs für den Vollzug einer Handlung müsse immer als Eignung für den Vollzug einer Handlung in einer spezifischen Version realisiert sein.62 Die Neufassung des Funktionalitätsprinzips als Spezifisches Funktionalitätsprinzip fügt sich also hervorragend in den Gedankengang der Werkzeug-Analogie ein. Warum Sokrates zwar bereits zu Beginn der Werkzeug-Analogie andeutet, dass das Funktionalitätsprinzip im Sinne des Spezifischen Funktionalitätsprinzips zu verstehen ist, dies aber trotzdem erst in seiner Diskussion der Ideen von Werkzeugen explizit macht, lässt sich gut erklären, wenn man die These akzeptiert, dass die Einführung dieser Ideen insbesondere dazu dient, die Aufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, worin die natürliche Richtigkeit von Werkzeugen besteht: Um einzusehen, warum die natürliche Richtigkeit eines Werkzeugs nie in einer bloß generischen Form vorliegen kann, sondern immer als natürliche Richtigkeit für den Vollzug einer Handlung in einer bestimmten Version realisiert ist, muss man nämlich seine natürliche Richtigkeit als solche zum Untersuchungsgegenstand machen; und genau das tut der fraglichen These zufolge Sokrates, indem er die allgemeinen Ideen von Werkzeugen einführt. Auch das Spezifische Funktionalitätsprinzip lässt noch keine Rückschlüsse darauf zu, worin die natürliche Richtigkeit eines bestimmten Werkzeugs besteht, und bietet somit noch keine Theorie seiner natürlichen Richtigkeit. Es zeigt aber, dass eine solche Theorie sich an der Frage zu orientieren haben wird, worin die natürliche Eignung derartiger Werkzeuge für den Vollzug der betreffenden Handlung in ihren spezifischen Versionen besteht. Indem man also den gehaltvollen Begriff der natürlichen Richtigkeit des fraglichen Werkzeugs, der sich aus dem Funktionalitätsprinzip generieren lässt, im Sinne des Spezifischen Funktionalitätsprinzips weiterentwickelt, gelangt man in eine Position, aus der sich dann eine passende Theorie der natürlichen Richtigkeit entwickeln lässt. Auf genau diese Weise geht, wie die folgenden Kapitel zeigen, Sokrates auch bei seinen Überlegungen zur natürlichen Richtigkeit der Namen vor.
Dass die Eignung für den Vollzug einer bestimmten Handlung niemals in einer rein generischen Form vorliegen kann, bedeutet nicht, dass sie als Eignung für den Vollzug genau einer spezifischen Version dieser Handlung realisiert sein muss – warum sollte ein Werkzeug die generische Eignung nicht in mehreren spezifischen Formen realisieren? Nur dann, wenn man Sokrates’ Ausführungen aus der Perspektive der Aristotelischen Gattungs-Art-Logik interpretiert, wird man davon ausgehen müssen, dass die Eignung für den Vollzug einer spezifischen Version eines generischen Handlungstyps exklusiv ist. Aber nichts in dem, was Sokrates sagt, gibt Anlass zu der Vermutung, dass er das Verhältnis zwischen der allgemeinen Idee eines Werkzeugs und den entsprechenden spezifischen Ideen aristotelikôs auffasst. 62
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (I): Die Aufgabe des Namens (387b–389a) Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, rechtfertigen Sokrates’ Überlegungen in 386e–387b die Schlussfolgerung, dass das Werkzeug für eine bestimmte Handlung insofern einen Standard der natürlichen Richtigkeit zu erfüllen hat, als sich mit ihm diese Handlung (bei entsprechender Kompetenz) vollziehen lassen muss. Sokrates etabliert in dieser Passage also das Funktionalitätsprinzip, aus dem sich für jeden Werkzeugtyp ein Begriff der natürlichen Richtigkeit gewinnen lässt. Im direkt anschließenden Passus 387b–389a appliziert er nun diese Ergebnisse auf den Fall des Namens. Dabei gliedern sich seine Ausführungen in drei Schritte: Im ersten Schritt (387b8–d9) argumentiert Sokrates für die These, dass die Handlung des Nennens (onomazein) als Teilhandlung des Sprechens (legein) deswegen eine eigene Natur hat, weil auch die Handlung des Sprechens eine eigene Natur hat. Das Nennen muss demnach, so Sokrates weiter, ebenso wie das Brennen oder das Schneiden mit einem von Natur aus geeigneten Werkzeug vollzogen werden. Der Übersicht halber sei die fragliche Passage hier einmal im Zusammenhang zitiert: Ist nicht auch das Sprechen eine von den Handlungen? – Ja. – Wird man also richtig sprechen, wenn man in der Weise spricht, wie man meint, dass man sprechen soll, oder wird man eher dann etwas erreichen und sprechen, wenn man in der Weise und mit dem [Werkzeug] spricht, wie es natürlich ist, dass man über die Dinge spricht und dass über sie gesprochen wird, und womit; wenn aber nicht, wird man scheitern und nichts ausrichten? – Es scheint mir so zu sein, wie du sagst. – Ist also das Nennen Teil des Sprechens? Denn indem man nennt1, nehme ich an, spricht man die Sätze.2 – Sicher. – Auch das Nennen ist also eine Handlung, wenn tatsächlich auch das Sprechen eine Handlung in Bezug auf die Dinge war? – Ja. – Aber die Handlungen schienen uns nicht relativ zu uns zu sein, sondern eine ihnen zugehörige eigene Natur zu haben? – So ist es. – Also muss man Alle Handschriften der beiden Familien β und δ haben in 387c6/7 ονομάζοντες, was alle Herausgeber außer Burnet akzeptieren. Burnet gelangt von dem καὶ διονομάζοντες, das T an dieser Stelle hat, zu διονομάζοντες. Bei Platon kommt eine Form von διονομάζω sonst nur an einer Stelle des Politikos (263d5) vor, an der es sich auf den Akt der Abgrenzung einer Gattung durch die Prägung eines Namens für diese Gattung bezieht. Da es an dieser Stelle des Kratylos aber um die Verwendung eines Namens beim Sprechen und nicht um die Einführung des Namens zur Abgrenzung einer Gattung geht, ist Burnets Lesart unplausibel. 2 Nachdem in 385b2–d1 ein logos ein wahrheitsfähiger Aussagesatz war, dürfte sich Sokrates auch hier auf derartige Sätze beziehen. 1
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
auch nennen, wie es natürlich ist, dass man die Dinge nennt und dass sie genannt werden, und womit, aber nicht, wie wir wollen, wenn irgendeine Übereinstimmung mit den vorherigen Ausführungen bestehen soll? Und so würden wir etwas erreichen und nennen, sonst aber nicht? – So scheint es mir.3
Damit ist sichergestellt, dass sich mittels des Funktionalitätsprinzips ein Begriff der natürlichen Richtigkeit desjenigen Werkzeugs gewinnen lässt, mit dem die Handlung des Nennens vollzogen wird. Im nächsten Schritt (387d10– 388c2) identifiziert Sokrates den Namen als das Werkzeug des Nennens, um dann in Anlehnung an die im letzten Kapitel bereits kurz angesprochene Charakterisierung des kerkizein als Aufgabe der kerkis auch das Nennen als Aufgabe des Namens genauer zu bestimmen: Wenn ich dann fragte: »Was für ein Werkzeug war die kerkis?« – [wäre die Antwort] nicht: das, womit wir kerkizieren? – Doch. – Aber was tun wir, wenn wir kerkizieren? Sondern wir nicht den Einschlag und die Kettfäden, die durcheinanderliegen? – Ja. – Wirst du in dieser Weise also auch über den Bohrer und alle anderen [Werkzeuge] Auskunft geben können? – Sicher. – Kannst du dann auch über den Namen in dieser Weise Auskunft geben? Was tun wir, wenn wir mit dem Namen, der ein Werkzeug ist, nennen? – Das kann ich nicht sagen. – Wir lehren einander etwas und unterscheiden die Gegenstände, wie sie sich verhalten, oder etwa nicht? – Sicher. – Also ist ein Name ein Werkzeug zur Belehrung und zur Unterscheidung des Seins4, wie die kerkis für das Gewebe. – Ja.5 387b8–d9: Ἆρ’ οὖν οὐ καὶ τὸ λέγειν μία τις τῶν πράξεών ἐστιν; – Ναί. – Πότερον οὖν ᾗ ἄν τῳ δοκῇ λεκτέον εἶναι, ταύτῃ λέγων ὀρθῶς λέξει, ἢ ἐὰν μὲν ᾗ πέφυκε τὰ πράγματα λέγειν τε καὶ λέγεσθαι καὶ ᾧ, ταύτῃ καὶ τούτῳ λέγῃ, πλέον τέ τι ποιήσει καὶ ἐρεῖ· ἂν δὲ μή, ἐξαμαρτήσεταί τε καὶ οὐδὲν ποιήσει; – Οὕτω μοι δοκεῖ ὡς λέγεις. – Οὐκοῦν τοῦ λέγειν μόριον τὸ ὀνομάζειν; ονομάζοντες γάρ που λέγουσι τοὺς λόγους. – Πάνυ γε. – Οὐκοῦν καὶ τὸ ὀνομάζειν πρᾶξίς τίς ἐστιν, εἴπερ καὶ τὸ λέγειν πρᾶξίς τις ἦν περὶ τὰ πράγματα; – Ναί. – Αἱ δὲ πράξεις ἐφάνησαν ἡμῖν οὐ πρὸς ἡμᾶς οὖσαι, ἀλλ’ αὑτῶν τινα ἰδίαν φύσιν ἔχουσαι; – Ἔστι ταῦτα. – Οὐκοῦν καὶ ὀνομαστέον ᾗ πέφυκε τὰ πράγματα ὀνομάζειν τε καὶ ὀνομάζεσθαι καὶ ᾧ, ἀλλ’ οὐχ ᾗ ἂν ἡμεῖς βουληθῶμεν, εἴπερ τι τοῖς ἔμπροσθεν μέλλει ὁμολογούμενον εἶναι; καὶ οὕτω μὲν ἂν πλέον τι ποιοῖμεν καὶ ὀνομάζοιμεν, ἄλλως δὲ οὔ; – Φαίνεταί μοι. 4 Da hier im Singular von der ousia die Rede ist, scheint die Übersetzung mit »Sein« angemessen; insbesondere bei der Pluralbildung wird im Folgenden aber wieder auf »Seinsweise(n)« zurückzugreifen sein. 5 388a10–c2: Εἰ οὖν ἐγὼ ἐροίμην »Τί ἦν ὄργανον ἡ κερκίς;« οὐχ ᾧ κερκίζομεν; – Ναί. – Κερκίζοντες δὲ τί δρῶμεν; οὐ τὴν κρόκην καὶ τοὺς στήμονας συγκεχυμένους διακρίνομεν; – Ναί. – Οὐκοῦν καὶ περὶ τρυπάνου ἕξεις οὕτως εἰπεῖν καὶ περὶ τῶν ἄλλων; – Πάνυ γε. – Ἔχεις δὴ καὶ περὶ ὀνόματος οὕτως εἰπεῖν; ὀργάνῳ ὄντι τῷ ὀνόματι ὀνομάζοντες τί ποιοῦμεν; – Οὐκ ἔχω λέγειν. – Ἆρ’ οὐ διδάσκομέν τι ἀλλήλους καὶ τὰ πράγματα διακρίνομεν ᾗ ἔχει; – Πάνυ γε. – Ὄνομα ἄρα διδασκαλικόν τί ἐστιν ὄργανον καὶ διακριτικὸν τῆς οὐσίας ὥσπερ κερκὶς ὑφάσματος. – Ναί. 3
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Eine Bestimmung des Ziels, das man durch die Verwendung eines Werkzeugs zu erreichen sucht, ist, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, der entscheidende Schritt, der von dem allgemeinen und abstrakten Funktionalitätsprinzip zu einem gehaltvollen Begriff der natürlichen Richtigkeit des betreffenden Werkzeugs führt. Mit Sokrates’ Bestimmung des Nennens als der Aufgabe des Namens ist daher ein solcher Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen gewonnen: Demnach haben Namen insofern einen Standard der natürlichen Richtigkeit zu erfüllen, als sie geeignet zur »Belehrung und zur Unterscheidung des Seins« sein müssen. In einem dritten Schritt (388c3–389a4) zieht Sokrates, nachdem er zunächst den Lehrmeister oder didaskalikos als Fachmann für guten Namensgebrauch ausgewiesen hat, eine Art Zwischenfazit seiner bisherigen Überlegungen: Demnach können Namen nicht von beliebigen Sprechern eingeführt werden, sondern nur von einem Spezialisten, der über die entsprechende technê verfügt. Bei diesem Spezialisten handelt es sich, wie Sokrates dem verdutzten Hermogenes eröffnet, um niemand anderen als den Nomotheten – den Schöpfer von Gesetzen oder Bräuchen, »der bei den Menschen von den Handwerkern als seltenster auftritt« (389a2 f.). In 387b–389a werden also entscheidende Weichenstellungen für den weiteren Verlauf von Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes vorgenommen: Denn Sokrates legt hier mit der Entwicklung des Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen den Grundstein für seine erst in 390d–391a explizit gezogene Schlussfolgerung, dass Namen einem Standard natürlicher Richtigkeit unterliegen; und die für Hermogenes’ Position zentrale These, ein jeder könne Namen nach Gutdünken setzen, kann er sogar schon am Ende seines Zwischenfazits in 388e7–389a4 für widerlegt erklären. Will man die Gedankenbewegung der Werkzeug-Analogie nachvollziehen, ist man daher gut beraten, sich insbesondere um ein möglichst genaues Verständnis der Passage 387b–388c zu bemühen, in der Sokrates sein markantes Zwischenfazit vorbereitet. Umso problematischer ist es, dass viele Interpreten des Kratylos dieser Passage vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenken und sich stattdessen – wenn sie sich überhaupt ausführlicher mit der Werkzeug-Analogie befassen – auf Sokrates’ Ausführungen zu der Idee des Namens in 389a–390a konzentrieren.6 Dass weite Teile der Sekun6 Ein extremes Beispiel für diese Tendenz ist Rachel Barney, die in ihrer (freilich ohnehin äußerst knappen) Diskussion der Werkzeug-Analogie Sokrates’ Bestimmung des Nennens in 388b10–c1 genau eine Seite widmet und auf die Ausführungen in 387b–d, die diese Bestimmung vorbereiten, überhaupt nicht eingeht: Barney (2001), 44 f. Aber auch die etwas ausführlicheren Diskussionen bei Sedley (2001), 58–61, und Ademollo (2011), 100–114, bieten keine eingehende philosophische Auseinandersetzung mit Sokrates’ Gedankengang, obwohl ja kein Zweifel daran bestehen kann, dass die Bestimmung der Aufgabe des Namens von zentraler Bedeutung für die
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
därliteratur an dieser Stelle einen blinden Fleck haben, ist sicherlich nicht zuletzt dem Eindruck der Skizzenhaftigkeit geschuldet, den Sokrates’ Überlegungen in 387b–388c auf den ersten Blick erwecken: Schließlich stützt sich Sokrates zur Begründung seiner Behauptung, auch das Nennen sei eine Handlung mit einer eigenen Natur, auf die beiden Annahmen, das Sprechen sei eine Handlung mit einer eigenen Natur und das Nennen eine Teilhandlung des Sprechens, ohne zu erklären, wie diese durchaus erklärungsbedürftigen Annahmen zu verstehen sind; und dementsprechend ist seine Begründung auch nicht hilfreich, wenn es darum geht, die von Sokrates ebenfalls mit keinem Wort erläuterte Bestimmung des Nennens als gegenseitige Belehrung und Unterscheidung der ousia nachzuvollziehen. Da man insofern weder den Ausgangs- noch den Endpunkt von Sokrates’ Gedankengang zu fassen zu bekommen scheint, liegt es nahe, sich mit der defätistischen Feststellung zu bescheiden, dass es der Text in diesem Fall nicht zulässt, Sokrates eine klare Position zuzuschreiben.7 Wie das vorliegende Kapitel zeigen soll, ist Defätismus in diesem Zusammenhang fehl am Platz: Ein Leser, der Sokrates’ Ausführungen über das Nennen und den Namen in 387b–388c nicht isoliert betrachtet, sondern sich bewusst macht, dass sie an die zur Werkzeug-Analogie hinführende Diskussion der Position des Hermogenes in 385a–386e anknüpfen, 8 wird sie nämlich als Antwort auf die von dieser Diskussion aufgeworfene Frage verstehen können, welcher Beitrag durch die Verwendung eines Namens im Rahmen der Artikulation eines Aussagesatzes zum Vollzug eines klar definierten Aussageaktes geleistet wird. Diese These soll im ersten Abschnitt dieses Kapitels entfaltet und verteidigt werden. Wie dann im zweiten Abschnitt herauszuarbeiten sein wird, weist Sokrates’ Bestimmung des Nennens insofern einen normativen Charakter auf, als sie impliziert, dass die Verwendung eines Wortes nicht als Vollzug des Nennens anerkannt werden Untersuchung des Kratylos sein muss. Arbeiten wie Kretzmann (1971), Anagnostopoulos (1972), Gold (1978), Ketchum (1979) und Heitsch (1984), die ansonsten in vielen Hinsichten höchst erhellend sind, mangelt es ebenfalls an Gründlichkeit im Umgang mit Sokrates’ Ausführungen in 387b–388c; sie alle konzentrieren sich auf Sokrates’ Ausführungen zu der Idee des Namens. Nicht weniger knapp, aber hilfreich für die Interpretation der Passage 387b–388c sind die Überlegungen bei Ackrill (1994), 14–18. 7 Im Hintergrund scheint dabei oftmals die Annahme zu stehen, dass Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens gar keine eigenständige These ist, sondern erst in Verbindung mit der etymologischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen klare Konturen gewinnt. Vgl. dazu die Überlegungen im »Überblick über den ersten Teil«. 8 Den bereits im ersten Kapitel kritisch diskutierten Überlegungen von Schofield (1972) ist also zumindest insofern zuzustimmen, als tatsächlich die Argumentation in 387c/d nicht ohne Rekurs auf den Passus 385b2–d1 verständlich wird. Was Schofield nicht bemerkt, ist allerdings, dass Sokrates’ Überlegung in 387b–388c den gesamten in 385a–386e entfalteten gedanklichen Zusammenhang voraussetzt. Es wäre daher geradezu widersinnig, 385b2–d1 aus diesem Kontext herauszulösen und in die Werkzeug-Analogie zu verpflanzen.
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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kann, wenn sie nicht zur »Belehrung und zur Unterscheidung der ousia« führt. Da diese normative Konzeption des Nennens allem Anschein nach in einer normativen Konzeption des legein verankert ist, der zufolge nur das Treffen einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage als Vollzug des legein gelten kann, wird zu diskutieren sein, wie plausibel diese normative Konzeption des legein ist. Der dritte Abschnitt soll schließlich die Konturen des Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen nachzeichnen, der sich aus der normativen Bestimmung des Nennens ergibt, und auf dieser Grundlage den Stand von Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes’ Position zusammenfassen, der mit der Entwicklung dieses Begriffs erreicht ist und sich in dem Zwischenfazit widerspiegelt, das Sokrates in 388c3–389a4 zieht.
Das Nennen als Teilhandlung des Sprechens (387b–388c)
Sokrates rekurriert mit seiner Frage in 387c6 f., ob nicht »das Nennen Teil des Sprechens« sei, zweifellos auf seine Diskussion des Namens als kleinster Teil des logos; sehr gute Gründe oder eine sehr ausgeprägte Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung wären erforderlich, um trotz der eindeutigen Parallele zwischen der Charakterisierung des onoma als [tou] logou morion in 385c7 f. und des onomazein als tou legein morion eine andere Interpretation dieser Frage vertreten zu können.9 Namen sind, so zeigt den Überlegungen des ersten Kapitels dieser Studie zufolge Sokrates’ Argument in 385b2–d1, sprachliche Einheiten, deren Verwendung in (atomaren) Aussagesätzen einen bestimmten Beitrag dazu leistet, dass durch die Artikulation dieser Sätze bestimmte Aussagen mit klar definierten Wahrheitsbedingungen getroffen werden. Sokrates macht freilich diese gewichtige Implikation seiner Überlegungen nicht sofort explizit und erläutert zunächst auch nicht, wie dieser Beitrag näherhin zu bestimmen ist. Aber seine auf den ersten Blick etwas unvermittelt anmutende Thematisierung des Nennens als derjenigen Handlung, deren Vollzug die Verwendung eines Namens dient, führt den in 385b2–d1 entfalteten Gedankengang sehr konsequent fort: Denn die Frage, welcher Beitrag durch die Verwendung eines Namens zur Festlegung der Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen zu leisten ist, lässt sich offenkundig in die Frage umwandeln, wie man die Teilhandlung des Aussagens, die durch die Verwendung eines Namens im Kontext eines Aussagesatzes durchzuführen ist, Wie Schofield richtig sieht, bestünde die einzige Alternative zu dieser Interpretation darin, 387c6 f. als die Frage aufzufassen, ob es sich beim onomazein um eine Unterart des legein handele. Ebenso richtig ist freilich seine Einschätzung, dass angesichts der Passage 385b2–d1 nichts für diese alternative Interpretation spricht, und seine Schlussfolgerung: »[…] naming can be a part of speaking only in the sense in which a name is part of a sentence« (Schofield (1972), 250). 9
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
zu charakterisieren hat.10 Wenn Sokrates in 387b–388c also die handlungszentrierte Betrachtungsweise seiner bisherigen Diskussion der Richtigkeit von Werkzeugen auf den Fall des Namens überträgt, vollzieht er damit keineswegs einen plötzlichen Richtungswechsel, sondern setzt mit seiner Überlegung an genau dem Punkt wieder ein, an den ihn sein Argument in 385b2–d1 geführt hat.11 Bei seiner Formulierung dieses Arguments scheint Sokrates, wie im ersten Kapitel deutlich geworden ist, davon auszugehen, dass sowohl der Subjekt- als auch der Prädikatausdruck bei der Äußerung eines atomaren Aussagesatzes der Form »X ist N« korrekt oder inkorrekt auf den Gegenstand der Aussage angewendet und in diesem Sinne ›wahr‹ oder ›falsch‹ gesagt werden.12 Eine genauere Betrachtung hat es allerdings als irreführend erwiesen, von einer (wahren oder falschen) Anwendung des als Subjektausdruck fungierenden Namens auf den Gegenstand der getroffenen Aussage zu sprechen. Aus diesem Grund soll hier die Frage, inwiefern die Verwendung eines Namens als Subjektausdruck eines Satzes als eine »Belehrung und Unterscheidung der ousia« beschrieben werden kann, zunächst ausgeblendet werden: Denn wenn Sokrates’ These, dass Namen als Teil eines Satzes wahr sein können, nur im Hinblick auf Namen plausibel ist, die als Prädikatausdruck fungieren, ist zumindest die Vermutung naheliegend, dass auch seine Charakterisierung des Beitrags zum Treffen einer Aussage, der durch die Verwendung eines Namens erbracht wird, sich am besten im Hinblick auf die Verwendung eines Namens als Prädikatausdruck nachvollziehen lassen wird. Wie plausibel eine Übertragung dieser Charakterisierung auf den potenziell problematischeren Fall der Verwendung eines Namens als Subjektausdruck eines Satzes ist, soll erst im nächsten Kapitel untersucht werden. Vor dem Hintergrund von Sokrates’ Ausführungen in 385a–386e ist nun aber die Bestimmung des Beitrags, der durch Einsatz eines Namens als Prädikatausdruck eines Aussagesatzes zum Vollzug eines bestimmten Aussageakts geleistet Damit ist ausgeschlossen, dass Sokrates den Akt der Einführung eines Namens meint, wenn er vom onomazein spricht (vgl. Buchheim (1993), 105) – denn offenbar kann ein Name nur dann im Kontext wahrheitsfähiger Sätze verwendet werden, wenn er zuvor bereits eingeführt wurde. Kretzmanns Deutung von Sokrates’ Charakterisierung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia«, der zufolge Sokrates auf diese Weise in erster Linie den Akt der Einführung eines Namens beschreibt (Kretzmann (1971), 128), ist daher zu verwerfen; gleiches gilt für die vergleichbare Interpretation Barneys (Barney (2001), 43). Es ist zweifellos richtig, dass onomazein auch den Akt der Einführung oder Vergabe eines Namens bezeichnen kann; aber angesichts des Rückgriffs auf 385b2–d1 kann dies in 387c/d unmöglich gemeint sein. 11 Freilich hat Sokrates durch seine Auseinandersetzung mit dem Protagoreischen Relativismus in 385d–386e und seine anti-relativistische Diskussion der Natur von Handlungen in 386e–387b neue, günstige Bedingungen für die Wiederaufnahme seiner Überlegungen geschaffen. 12 Vgl. zu diesem Sinn von ›wahr‹ die Überlegungen im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels. 10
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wird, als »Unterscheidung der ousia« nicht sonderlich überraschend. Der Sache nach ließ sich diese Bestimmung nämlich schon der Auseinandersetzung mit dem Relativismus entnehmen, die Sokrates in 385e–386e führt. Diese Auseinandersetzung wird, wie die Analysen des ersten Kapitels gezeigt haben, deswegen angestrengt, weil Hermogenes auf die Annahme verpflichtet ist, ein und derselbe Name – beispielsweise »Pferd« – könne für einen Sprecher – wie beispielsweise den Individualisten Monas – ›wahr von‹ Sokrates und für einen anderen, konformistischeren Sprecher ›falsch von‹ Sokrates sein; und daraus ließe sich die relativistische Schlussfolgerung ziehen, dass es von der Willkür des jeweiligen Sprechers oder der jeweiligen Sprechergruppe abhängig ist, ob Sokrates ein Pferd ist oder nicht. In diesem Fall wäre, so erklärt Sokrates, die ousia der Pferde privat: Es ergäbe demnach keinen Sinn, simpliciter vom Pferd-Sein zu sprechen, sondern man müsste unterscheiden zwischen dem Pferd-Sein-für-Sokrates, dem PferdSein-für-Hermogenes, dem Pferd-Sein-für-Monas et cetera. Gegen eine solche Relativierung wendet sich Sokrates mit seiner These von der Stabilität der ousia: Das Pferd-Sein und die anderen Seinsweisen oder ousiai sind insofern stabil, als sie Gegenständen betrachterunabhängig entweder zukommen oder nicht zukommen. Ein Konventionalist wie Hermogenes, der den Protagoreischen Relativismus im Einklang mit dem common sense ablehnen muss, wird daher nicht leugnen können, dass in einem Satz wie »Sokrates ist ein Pferd« durch die Verwendung des deutschen Namens »Pferd« eine stabile ousia herausgegriffen wird – nämlich die ousia der Pferde –, während durch die Verwendung des Monadischen Namens »Pferd« eine andere stabile ousia – nämlich diejenige der Menschen – herausgegriffen wird.13 Allgemeiner gesprochen: Wenn durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist N« gesagt werden soll, dass der Gegenstand X objektiv in einer bestimmten Weise ist, und wenn man, wie Sokrates es tut, ohne Weiteres von der Formulierung, ein Gegenstand sei objektiv in einer bestimmten Weise, übergehen kann zu der Formulierung, dem Gegenstand komme eine bestimmte stabile ousia zu – dann muss es in einem solchen Aussagesatz die Aufgabe des Namens »N« sein, diejenige ousia, die es dem Aussagegegenstand zuzuschreiben gilt, auszusondern und von allen anderen ousiai zu unterscheiden.14 Indem Sokrates die Aufgabe eines Namens als »Unterscheidung der ousia« charakterisiert, macht er demzufolge nur das explizit, was in seinem Vorgespräch mit Hermogenes bereits angelegt war. Er vollzieht also mit dieser Charakterisierung tatsächlich den am Ende des ersten Kapitels bereits kurz beschriebenen Perspektivwechsel, der sich in seiner Auseinandersetzung mit Hermogenes’ PosiWas es sehr naheliegend macht, anzunehmen, dass Monas nicht denselben Namen verwendet wie die anderen Sprecher des Deutschen. Vgl. dazu die Überlegungen im dritten Abschnitt des ersten Kapitels. 14 Das sieht auch Ackrill (1994), 18. 13
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tion anbahnt: Er löst sich von Hermogenes’ Fokussierung auf das Verhältnis zwischen einem Namen und den benannten Gegenständen und rückt stattdessen das Verhältnis zwischen dem Namen und der ousia der benannten Gegenstände in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei verliert er die Gegenstände keineswegs aus dem Blick: Unmittelbar bevor er in 388b13–c1 die »Unterscheidung der ousia« zur Aufgabe des Namens erklärt, behauptet er schließlich in 388b10 f., man unterscheide beim Nennen »die Gegenstände, wie sie sich verhalten« (ta pragmata hê echei). Aber die entscheidende Pointe dieser Formulierung verbirgt sich, wie man nach kurzer Überlegung erkennt, in dem zunächst so unscheinbaren Zusatz hê echei: Denn wie dieser Zusatz zeigt, werden durch einen Namen wie »Pferd« bestimmte Gegenstände nur insofern unterschieden, als es sich mit ihnen in bestimmter Weise verhält oder sie in bestimmter Weise sind. Unterschieden werden durch diesen Namen also die Pferde qua Pferde, oder, wie man auch sagen könnte, die Pferde als eine Art von Gegenständen von allen anderen Gegenstandsarten.15 Man kann also, statt von der Unterscheidung einer ousia durch einen Namen zu sprechen, auch von der Unterscheidung derjenigen Gegenstände, denen diese ousia zukommt, als einer Art sprechen. Aber da es die gemeinsame ousia ist, die Gegenstände als eine Art zusammenhält, und die Gegenstände durch einen Namen nur im Hinblick auf diese Gemeinsamkeit unterschieden werden, ist es eigentlich treffender, die Aufgabe eines Namens als »Unterscheidung der ousia« einer bestimmten Art von Gegenständen zu beschreiben. (Im Folgenden sollen daher auch nur Gruppen von Gegenständen, die durch eine gemeinsame ousia zusammengehalten werden, als ›Arten‹ bezeichnet werden.) Der Übergang von Sokrates’ Charakterisierung der mit einem Namen zu vollziehenden Handlung in 388b10 f. zu ihrer Charakterisierung in 388b13–c1 macht demnach den beschriebenen Perspektivwechsel offiziell: Die erste Charakterisierung konzentriert sich noch auf das für Hermogenes zentrale Verhältnis zwiDas sieht richtig Sedley (2001), 60: »A name […] marks off some species as a species«. Sokrates geht es demnach nicht in erster Linie darum, dass mit einem Namen einzelne Gegenstände von anderen Gegenständen unterschieden werden können, wie Bestor (1980), 312, annimmt: »Plato has Socrates insist that the basic onoma function is to discriminate one thing from other things, to distinguish what is the subject at hand from the zillions of things that are not the subjects at hand. The existence of the onoma ›table‹, for instance, enables us to mark off the kitchen table from the chairs around it.« Wäre dies die zentrale Funktion des Namens, wäre seine Charakterisierung als Werkzeug zur Unterscheidung der ousia völlig unverständlich. Das bedeutet zwar nicht, dass ein Name nicht auch eingesetzt werden kann, um in einem Satz wie »Dieser Tisch wackelt« einen bestimmten Tisch zum Thema zu machen. Aber in diesen Fall ist es nicht der Name allein, der die Unterscheidungsleistung erbringt – vielmehr bedarf es eines Demonstrativpronomens, um zu klären, um welches Mitglied der herausgegriffenen Art der Tische es geht. Ähnlich wie Bestor scheint Ademollo (2011), 111, die Bestimmung der Aufgabe des Namens zu verstehen. 15
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schen einem Namen und den benannten Gegenständen, lässt dabei aber bereits deutlich werden, dass durch einen Namen Gegenstände nur als eine Art unterschieden werden. Die zweite, durch ein ara angeschlossene Charakterisierung stellt dann klar, dass es sensu strictu die allen Artangehörigen gemeinsame ousia ist, die auf diesem Wege unterschieden wird. Ein solcher Wechsel der Blickrichtung ist aus vielen Platonischen Dialogen wohlbekannt: Denn oft bemerken dialektisch unerfahrene Gesprächspartner des Sokrates nicht, dass ein Name für eine bestimmte Art von Gegenständen sich eigentlich auf das bezieht, was allen Angehörigen dieser Art gemeinsam ist, sondern halten die Bezugnahme auf die benannten Gegenstände für die einzige Funktion des Namens.16 Insofern ist Sokrates’ Bestimmung des Nennens nicht nur die logische Konsequenz seines im Vorgespräch mit Hermogenes entfalteten Gedankengangs: Sie macht auch eine sprachphilosophische Grundannahme explizit, die in den übrigen Dialogen nicht eigens thematisiert wird, Sokrates’ dialektischer Praxis aber ihr unverwechselbares Gepräge verleiht.17 Die von Sokrates’ Argument in 385b2–d1 offengelassene und in seiner Auseinandersetzung mit dem Relativismus nur sehr implizit verhandelte Frage nach dem Beitrag, den die Verwendung eines Namens als Prädikatausdruck eines Aussagesatzes dazu leistet, dass durch die Äußerung dieses Satzes eine bestimmte Aussage mit klar definierten Wahrheitsbedingungen getroffen wird, ist damit explizit beantwortet: Bei diesem Beitrag handelt es sich um die »Unterscheidung der ousia« einer Art von Gegenständen. Das onomazein ist, wenn man von dieser Bestimmung ausgeht, tatsächlich nur eine Teilhandlung des Aussagens. Denn einen Akt des Aussagens vollzieht man, indem man durch die Äußerung eines Satzes wie »Bukephalos ist ein Pferd« diejenige Seinsweise von dem Aussagegegenstand prädiziert, die durch den Einsatz des Prädikatausdrucks unterschieden wird; mit der bloßen Unterscheidung der betreffenden Seinsweise ist es nicht getan. Das Prädizieren selbst ist hingegen offenbar keine Teilhandlung des Aussagens, sondern fällt mit ihm zusammen. Der Akt des onomazein, der in dem deutschen Satz »Bukephalos ist ein Pferd« mit dem Namen »Pferd« vollzogen wird, kann daher auch nicht gut als Anwendung dieses Namens auf das Pferd Alexanders des Großen beschrieben werden – denn durch diese Anwendung wird eben schon die Aussage getroffen, dass Bukephalos ein Pferd ist. Dementsprechend antworten viele Gesprächspartner auf eine ti esti-Frage, indem sie Anwendungsfälle des infragestehenden Begriffs aufzählen: Siehe etwa Lach. 190e–192a, Men. 71e–72c und Tht. 146c–147c. Stets weist Sokrates darauf hin, dass es ihm um die Bestimmung dessen geht, was all diesen Anwendungsfällen gemeinsam ist. 17 Vgl. zur revolutionären Bedeutung der Thematisierung der gemeinsamen ousia einer Vielzahl von gleichnamigen Gegenstände Penner (1987), 1–56. 16
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Selbstverständlich kann man das deutsche Wort »nennen«, ebenso wie das griechische onomazein,18 in diesem Sinne gebrauchen: Mit dem Satz »Sokrates nannte Kratylos einen Scharlatan« kann man beispielsweise (auf eine etwas merkwürdige Art und Weise) zum Ausdruck bringen, dass Sokrates die Aussage getroffen hat, dass Kratylos ein Scharlatan ist. Es kann also nicht das Nennen in diesem Sinne sein, das Sokrates als eine Teilhandlung des Sprechens ausweist – und tatsächlich scheint Sokrates für den Akt der Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand ja auch die Wendung onoma legein (385c10 und c16) zu reservieren, die insofern sehr treffend ist, als sie diesen Akt als einen Vollzug des Sprechens ausweist. Das onomazein als Teilhandlung eines solchen Vollzugs, wie Sokrates es in 388b13–c1 beschreibt, ist hingegen der Beitrag, den die Verwendung eines Namens wie »Pferd« gleichermaßen zu den durch die Äußerung der Sätze »Bukephalos ist ein Pferd«, »Fury ist ein Pferd«, »Sokrates ist ein Pferd« und aller anderen Sätze dieser Form vollzogenen Akten des Aussagens leistet: Eben die Unterscheidung der ousia der Pferde.19 Diese Unterscheidungsleistung muss erbracht werden, damit durch die Äußerung des jeweiligen Satzes die unterschiedene ousia im Modus des Aussagens mit dem Aussagegegenstand verknüpft werden kann; durch die Äußerung einer satzähnlichen Struktur wie *Sokrates ist ein Blip* kann eine solche Verknüpfung nicht geleistet werden, weil die Lautfolge *Blip* kein Name ist und dementsprechend keine ousia unterscheidet. In der Rede vom onoma legein deutet sich nun eine Besonderheit des Verhältnisses zwischen dieser Handlung und der von ihr umfassten Handlung des onomazein an: Denn allem Anschein nach wird ja das Nennen, also das Herausgreifen einer Seinsweise, mit demselben Werkzeug vollzogen wie das Prädizieren dieser Seinsweise von einem Gegenstand. Zweifellos kann der Akt des Prädizierens nur vollzogen werden, wenn der Gegenstand bestimmt ist, von dem die betreffende Seinsweise prädiziert wird; und in vollständigen Aussagesätzen wird er durch den Einsatz eines weiteren Namens bestimmt, der die Rolle des Subjektausdrucks spielt. Aber der Akt des Prädizierens der Seinsweise von dem einmal festgelegten Aussagegegenstand scheint mit eben jenem sprachlichen Werkzeug vollzogen zu werden, mit dem auch die Unterscheidung dieser Seinsweise vollzogen wird. Dementsprechend kann ein Akt des Prädizierens auch durchgeführt werden, ohne dass dabei ein weiterer Name zum Einsatz käme: Wer auf einen Gegenstand zeigt und »Pferd« sagt, kann auf diese Weise den betreffenden Gegenstand als Pferd charakterisieren. Wird ein Name im richtigen Kontext verwendet, scheint er demzufolge zugleich Werkzeug der Unterscheidung einer Siehe etwa Prot. 313c1 und Gorg. 448b6. Es wird noch zu zeigen sein, dass dieser Beitrag mit dem Namen »Pferd« auch in einem Satz wie »Pferde sind Säugetiere« geleistet wird. 18 19
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Seinsweise und Werkzeug der Prädikation dieser Seinsweise von einem Gegenstand zu sein.20 Ist sich Platon bewusst, dass ein Name, der als Prädikatausdruck eines Aussagesatzes eingesetzt wird, eine solche Doppelrolle spielt – also allem Anschein nach 21 sowohl als Werkzeug der Unterscheidung einer Seinsweise als auch als Werkzeug der Prädikation dieser Seinsweise von dem Aussagegegenstand fungiert? In 387c1 f. behauptet Sokrates jedenfalls, auch das Aussagen müsse mit einem adäquaten Werkzeug vollzogen werden; und angesichts seines ostentativen Operierens mit der Wendung onoma legein wäre es nicht überraschend, wenn es sich bei diesem Werkzeug um den Namen handelte.22 Bei genauerer Betrachtung der Passage 387b–388c lässt sich aber noch ein weitaus eindeutigerer Beleg für diese Vermutung finden – ein Beleg zudem, der für die Annahme spricht, dass sich Platon der Doppelrolle des Namens als Werkzeug des onomazein und Werkzeug des legein nicht nur bewusst ist, sondern ihr sogar einiges Gewicht beimisst. Es ist die im letzten Kapitel bereits kurz angesprochene Bestimmung der Handlung des kerkizein in 388a10–b3, die diesen Beleg liefert. Sie sei hier noch einmal zitiert: Wenn ich […] fragte: »Was für ein Werkzeug war die kerkis?« – [wäre die Antwort] nicht: das, womit wir kerkizieren? – Doch. – Aber was tun wir, wenn wir kerkizieren? Sondern wir nicht den Einschlag und die Kettfäden, die durcheinander liegen? – Ja.
Sokrates knüpft bei seiner zweiten Charakterisierung der Aufgabe des Namens in 388b13–c1 explizit an diese Charakterisierung der Aufgabe der kerkis an, wenn er erklärt, der Name sei »ein Werkzeug […] zur Unterscheidung des Seins, wie die kerkis für das Gewebe«. Was diesen auf den ersten Blick so eingängigen Vergleich zu einer ebenso verwickelten wie philosophisch lohnenden Angelegenheit werden lässt, ist die bereits im vorangegangenen Kapitel konstatierte Merkwürdigkeit von Sokrates’ 20 Vgl. Strawsons Beobachtung, dass der Prädikatausdruck »is wise« in einem Satz wie »Socrates is wise« anzeigt, dass durch die Äußerung des Satzes ein Aussageakt vollzogen wird: »This expression introduces being wise just as Socrates introduces Socrates. But it does not merely introduce its term […]. It introduces its term in a quite distinctive and important style, viz. the assertive or propositional style« (Strawson (1959), 149). 21 Vgl. aber Anm. 32. 22 Wenn man diese Annahme vermeiden will, muss man stattdessen davon ausgehen, dass Sätze als die Werkzeuge des Sprechens anzusehen sind (vgl. Ademollo (2011), 101: »Speaking, by its very nature, is done with sentences, not knives or drills«). Dass ist aber deswegen unwahrscheinlich, weil Sokrates die Handlung des Sprechens als eine komplexe Handlung beschreibt, die das Nennen integriert, statt das Werkzeug des Sprechens als komplexes Werkzeug zu charakterisieren, das sich aus verschiedenen Werkzeugen des Benennens zusammensetzt.
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Beschreibung der Handlung des kerkizein. Ist nämlich, wie von Interpreten des Kratylos gemeinhin angenommen wird, die kerkis mit dem Weberschiffchen zu identifizieren, wäre es weitaus naheliegender, die Verwebung des Einschlags mit den Kettfäden zur Aufgabe der kerkis zu erklären, nicht ihre Sonderung.23 Da es aber auch kein anderes Werkzeug zu geben scheint, das allein einer solchen Sonderung dient, ist Sokrates’ Charakterisierung des kerkizein zunächst alles andere als hilfreich, wenn man zu verstehen sucht, was für ein Werkzeug die kerkis ist. Die Rätselhaftigkeit dieser Charakterisierung wird dadurch noch erhöht, dass von der Handlung der kerkizein in keinem einzigen erhaltenen Werk der griechischen Literatur24 die Rede ist, das vor dem Kratylos abgefasst wurde25 (während die kerkis durchaus einige Auftritte hat 26). Platon, der ja oftmals als Namensschöpfer tätig wird, könnte den Terminus kerkizein demnach sogar selbst erfunden haben. In jedem Fall gibt er aber seinen Lesern durch die Bestimmung des kerkizein insofern ein Rätsel auf, als kein Werkzeug – und schon gar nicht das Weberschiffchen – einzig und allein die Aufgabe hat, Einschlag und Kettfäden voneinander zu trennen. Des Rätsels Lösung nähert man sich, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Weberschiffchen zwar letztlich der Verwebung des Einschlags mit den Kettfäden dient, eine solche Verwebung aber nur möglich ist, wenn der Einschlag zuvor von den Kettfäden separiert worden ist und im Prozess des Verwebens auch von ihnen abgesondert bleibt: Ohne die diakritische Leistung der Absonderung des Einschlags könnte ja nicht dieser bestimmte Faden gezielt durch die Kettfäden hindurchgeführt und so mit ihnen verwoben werden. Es ist nun aber offenkundig tatsächlich kein anderes Werkzeug als das Weberschiffchen, das dafür sorgt, das der Einschlag von den Kettfäden abgesondert wird und es auch im Prozess der Verknüpfung noch bleibt. Das Weberschiffchen hat also sowohl eine synkritische als auch eine diakritische Funktion: Es dient der Verwebung des Einschlags mit Das bemerkt Ademollo (2011), 108. Er schlägt deswegen unter Berufung auf die textilhistorischen Arbeiten von Landercy (1933), Crowfoot (1936/7) und Barber (1991) vor, die kerkis mit dem »pin-beater« zu identifizieren – einem Gerät, mit dem der Einschlag in die richtige Position gebracht und die Kettfäden für die Passage des Einschlags vorbereitet werden. Wie Sokrates’ Charakterisierung des kerkizein auf die Funktion des »pin-beater« passt und wieso in Platons Augen ausgerechnet ein Vergleich mit dem »pin-beater« die Betrachtung des Namens voranbringen sollte, bleibt indessen Ademollos Geheimnis. Buchheim (1993), 105 f., diagnostiziert das beschriebene Problem ebenfalls, zieht aus seiner Diagnose aber im Gegensatz zu Ademollo den richtigen Schluss, dass es sich bei dem Namen auch um ein Werkzeug des legein handeln muss. 24 Zugrundegelegt ist dabei der Kanon des Thesaurus Linguae Graecae. 25 Platon selbst benutzt diesen Ausdruck außerhalb des Kratylos auch nur ein einziges Mal, nämlich in Soph. 226b8; und auch bei Aristoteles taucht er nur in Pol. 1253b37 auf. Zwei Verwendungen aus hellenistischer Zeit sind belegt: Siehe Anthologia Palatina 6.174 und 288. 26 Siehe etwa Il. XXII 448 und Od. V 62. 23
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den Kettfäden; aber diese Verknüpfungsleistung kann mit ihm nur vollzogen werden, weil und indem mit ihm auch die Absonderung des Einschlags von den Kettfäden – also eben das von Sokrates in 388a10–b3 beschriebene kerkizein – bewerkstelligt wird. Identifiziert man die kerkis mit dem Weberschiffchen, wird man das kerkizein also durchaus als eine, wenn auch nicht als die einzige Aufgabe der kerkis charakterisieren können. Dass auch Platon selbst der kerkis eine solche Doppelfunktion zuschreibt, geht ganz klar aus der dihairetischen Einteilung aller zur Weberei gehörigen Künste hervor, die er den Eleatischen Fremden in einer nicht enden wollenden Passage des Politikos (279a–283a) vornehmen lässt:27 Denn wie in 282b–c erklärt wird, zerfällt die gesamte Wollbereitung (talasiourgikê) in einen verbindenden oder synkritischen und einen trennenden oder diakritischen Teil – und zu letzterem gehört den Ausführungen des Fremden zufolge die Hälfte der kerkistikê, der Kunst der Handhabung der kerkis.28 Demnach muss Platon eine zweite Hälfte der kerkistikê kennen, die zum synkritischen Teil der Wollbereitung gehört;29 er muss also, ganz im Sinne der soeben vorgetragenen Überlegungen, annehmen, dass die kerkis sowohl eine diakritische als auch eine synkritische Aufgabe hat. Und tatsächlich beschreibt denn auch der eleatische Fremde in 310e9 den Prozess der Verflechtung, auf den sich auch ein Inhaber der politischen Kunst verstehen muss, als ein synkerkizein.30 Es gibt genügend andere Werkzeuge mit einer in irgendeinem Sinne sondernden oder unterscheidenden Funktion, mit denen Platon den Namen hätte vergleichen können. Wenn er ihn stattdessen mit dem Weberschiffchen verSayre (2006), 92–112, bietet eine peinlich genaue Analyse von Sokrates’ dihairetischer Artikulation der Webkunst. 28 Pol. 282b1–c3: Tῆς δὴ ταλασιουργικῆς δύο τμήματά ἐστον, καὶ τούτοιν ἑκάτερον ἅμα δυοῖν πεφύκατον τέχναιν μέρη. – Πῶς; – Tὸ μὲν ξαντικὸν καὶ τὸ τῆς κερκιστικῆς ἥμισυ καὶ ὅσα τὰ συγκείμενα ἀπ᾽ ἀλλήλων ἀφίστησι, πᾶν τοῦτο ὡς ἓν φράζειν τῆς τε ταλασιουργίας αὐτῆς ἐστί που, καὶ μεγάλα τινὲ κατὰ πάντα ἡμῖν ἤστην τέχνα, ἡ συγκριτική τε καὶ διακριτική. – Nαί. – Tῆς τοίνυν διακριτικῆς ἥ τε ξαντικὴ καὶ τὰ νυνδὴ ῥηθέντα ἅπαντά ἐστιν· ἡ γὰρ ἐν ἐρίοις τε καὶ στήμοσι διακριτική, κερκίδι μὲν ἄλλον τρόπον γιγνομένη, χερσὶ δὲ ἕτερον, ἔσχεν ὅσα ἀρτίως ὀνόματα ἐρρήθη. τὸ μὲν ξαντικὸν καὶ τὸ τῆς κερκιστικῆς ἥμισυ wird man wiedergeben müssen als ›das Kämmen und die Hälfte der Kunst der kerkis‹ – so verstehen auch Schleiermacher, Campbell (1867), Benardete (1984) und Rowe (1995) die griechische Konstruktion. Ademollos Übersetzungsvorschlag – »the half [i.e the segment of the wool-working craft] that contains carding and the craft of the κερκίς« (Ademollo (2011), 108 Anm. 28) – ist angesichts des Nominativs τὸ ξαντικόν wenig plausibel. 29 Bei dieser Hälfte dürfte es sich um die in Pol. 283a3–8 schließlich definierte Webkunst oder hyphantikê handeln. Dazu passt sehr gut, dass Sokrates in der Werkzeug-Analogie des Kratylos die Handhabung der kerkis zur Sache des hyphantês erklärt (388c3–10). Vgl. zu diesem Punkt die folgenden Überlegungen des gegenwärtigen Abschnitts. 30 Dieses Verb hat hier seinen einzigen Auftritt in der gesamten erhaltenen griechischen Literatur. 27
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gleicht, das eine diakritische Funktion hat, letztlich aber einer synkritischen Aufgabe dient,31 hat er es zweifellos auf die bereits beschriebene Doppelrolle des Namens abgesehen: Mit einem Namen, der als Prädikatausdruck eines Aussagesatzes fungiert, wird eine Seinsweise unterschieden; aber diese Unterscheidungsleistung steht im Dienste der synkritischen Handlung des Prädizierens dieser Seinsweise von dem Aussagegegenstand, des onoma legein, die ebenfalls mit dem Namen vollzogen wird.32 Der Name ist also zwar unmittelbar Werkzeug des ono31 Diese Doppelrolle der kerkis kommt auch in der paradox scheinenden Behauptung zum Ausdruck, die kerkis sei ein Werkzeug zur Sonderung des Gewebes (388c1), die den Eindruck erweckt, als diene eine kerkis dazu, ein bereits bestehendes Gewebe aufzulösen. Aber gemeint ist ohne Zweifel, dass die kerkis im Prozess der Herstellung eines Gewebes dessen eine Komponente von den anderen Komponenten getrennt hält. Man wird aus Sokrates’ Formulierung daher keineswegs mit Palumbo (2005), 82, schließen können, dass durch den Einsatz eines Namens eine ousia erst geschaffen wird wie durch den Einsatz einer kerkis ein Gewebe. 32 Es soll hier nicht verhehlt werden, dass diese These bei genauerer Betrachtung weitaus problematischer ist, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Um sich der Problematik anzunähern, betrachte man ein Konditional wie »Wenn Sokrates ein Pferd ist, ist Sokrates ein Säugetier«. Im Antezedens dieses Konditionals wird der Name »Pferd« eingesetzt, um die Seinsweise der Pferde herauszugreifen. Aber wie zuerst von Frege bemerkt wurde, kann keine Rede davon sein, dass durch den Einsatz dieses Namens die herausgegriffene Seinsweise auch von Sokrates prädiziert wird: Denn wer den Satz »Wenn Sokrates ein Pferd ist, ist Sokrates ein Säugetier« ausspricht, sagt eben keineswegs, dass Sokrates ein Pferd ist. In diesem Fall ist der Name »Pferd« nur Werkzeug des onomazein, nicht aber Werkzeug des onoma legein. Auch bei einer Frage wie »Ist Sokrates ein Pferd?« wird der Akt des Nennens, aber nicht der Akt des Prädizierens vollzogen. (Besonders klar formuliert wird die Unterscheidung zwischen dem Ausdrücken eines Gedankens und dem Behaupten seiner Wahrheit in Frege (1918/19a), 62 f., und Frege (1918/19b), 151 f.) Nun haben aber die Sätze »Sokrates ist ein Pferd« und »Wenn Sokrates ein Pferd ist, ist Sokrates ein Säugetier« eine offenkundige Gemeinsamkeit; denn in beiden Sätzen wird, um mit Frege zu sprechen, der Gedanke ausgedrückt, dass Sokrates ein Pferd ist. Allerdings wird im ersten Satz die Wahrheit dieses Gedankens behauptet, während er nur ein Teil des komplexen Gedankens ist, den der zweite Satz ausdrückt. Freges Analyse zufolge sollte man daher auch im Hinblick auf einen Satz wie »Sokrates ist ein Pferd« scharf zwischen dem Ausdrücken eines Gedankens einerseits und dem Behaupten der Wahrheit dieses Gedankens andererseits unterscheiden – selbst wenn durch die Äußerung eines solchen Satzes diese beiden Handlungen in einem Zug ausgeführt werden können (Frege (1918/19a), 62). Unter dieser Voraussetzung ist es aber irreführend, den Akt des Aussagens oder Behauptens, der durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd« vollzogen wird, als ein Prädizieren der Seinsweise der Pferde von Sokrates zu beschreiben: Denn diese Beschreibung verwischt eben gerade den entscheidenden Unterschied zwischen dem Akt der Formulierung des Gedankens, dass Sokrates ein Pferd ist, und dem Akt der Behauptung der Wahrheit dieses Gedankens. Das aber bedeutet, dass man dann, wenn man Freges Analyse akzeptiert, auch nicht mehr davon sprechen kann, dass mit dem Namen »Pferd« bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd« die Handlung des onoma legein vollzogen wird. Platon nimmt zweifellos an, dass bei der Äußerung des Satzes eine solche Handlung vollzogen wird; und er scheint auch keine andere Wahl zu haben, weil er das Aussagen oder Urteilen
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mazein, dient aber letztlich, wenn seine Verwendung in einen geeigneten Kontext eingebettet ist,33 dem Vollzug des legein. Hat man diese Doppelrolle des Namens klar vor Augen, wird man auch ein Element von Sokrates’ Bestimmung des Nennens richtig einschätzen können, das andernfalls leicht zu Missverständnissen führt. Dieser Bestimmung zufolge unterscheiden wir nämlich nicht nur die ousia einer Art von Gegenständen, wenn wir mit dem Namen die Handlung des Nennens vollziehen, sondern »lehren einander etwas«; und dementsprechend ist der Name nicht nur ein organon diakritikon tês ousias, sondern ein organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias. Tatsächlich ist es der didaktische Aspekt der Aufgabe des Namens, den Sokrates im unmittelbaren Anschluss an deren Charakterisierung in 388b10–c1 in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt: Ist nun das Weberschiffchen ein Werkzeug der Weberei? – Wie nicht? – Ein Weberei-Fachmann wird also ein Weberschiffchen gut gebrauchen, ›gut‹ aber heißt: in einer der Weberei angemessenen Weise; und ein Fachmann für das Unterrichten [wird] einen Namen [gut gebrauchen], ›gut‹ aber heißt: in einer dem Unterrichten angemessenen Weise. – Ja.34
An späterer Stelle (390c2–12) kommt Sokrates sogar noch einmal auf diesen didaktischen Fachmann zurück, beschreibt ihn als eine Person, die zu fragen und zu antworten versteht, und enthüllt schließlich, auf wen diese Charakterisierung gemünzt ist: Der didaskalikos ist demnach niemand anderes als der dialektikos, der Dialektiker oder Philosoph. Angesichts dieser Akzentuierung der didaktischen oder dialektischen Funktion von Namen liegt nun auf den ersten Blick die Vermutung nahe, dass Sokrates bei seiner Diskussion der natürlichen Richtigkeit der Namen in der WerkzeugAnalogie auf eine bestimmte, besonders hochwertige Form des Namensgebrauchs als ein Verknüpfen des prädizierten Gehalts mit dem Aussagegegenstand konzipiert (Soph. 262e13–15). Es soll hier nicht der Versuch unternommen werden, diese Konzeption des Aussagens und die mit ihr verbundene Konzeption des Prädizierens gegen die machtvollen Argumente Freges zu verteidigen. Für die Bestimmung des onomazein sind die Schwierigkeiten von Platons Konzeption des Aussagens ohnehin unerheblich – aus einer Fregeanischen Perspektive könnte man durchaus zugestehen, dass im Vollzug des Aussagens eine ousia unterschieden werden muss, weil nur so ein auf seine Wahrheit hin zu beurteilender gedanklicher Gehalt zum Ausdruck gebracht werden kann. 33 Diese Formulierung provoziert die Frage, was geschieht, wenn ein Name nicht in einem geeigneten Kontext wie etwa einem Aussagesatz eingesetzt wird. Vgl. dazu die Überlegungen des siebten Kapitels: S.u., 316 mit Anm. 33. 34 388c3–8: Ὑφαντικὸν δέ γε ἡ κερκίς; – Πῶς δ’ οὔ; – Ὑφαντικὸς μὲν ἄρα κερκίδι καλῶς χρήσεται, καλῶς δ’ ἐστὶν ὑφαντικῶς· διδασκαλικὸς δὲ ὀνόματι, καλῶς δ’ ἐστὶ διδασκαλικῶς. – Ναί.
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fokussiert ist (kalôs chrêsetai, 388d1), wie sie für dialektische Untersuchungen charakteristisch ist. Dabei wird man zum einen sicherlich an die Verwendung eines Namens im Zuge der Formulierung einer ti esti-Frage beziehungsweise der Antwort auf eine solche Frage denken, die im Erfolgsfall eine Definition der ousia liefert, auf die sich die Frage richtete; zum anderen aber auch an den Einsatz von Namen zur naturgemäßen, kat’ eidê durchgeführten Einteilung eines Wirklichkeitsfeldes bei einer dihairetischen Untersuchung.35 Das wiederum scheint die Schlussfolgerung plausibel zu machen, Sokrates gehe es in der Werkzeug-Analogie und insbesondere bei seiner Bestimmung des Nennens und des Namens in 388b10–c1 gar nicht um den Beitrag, den die Verwendung eines Namens zu profanen Aussageakten leistet, wie sie durch die Äußerung von Sätzen wie »Sokrates ist ein Pferd« ausgeführt werden, sondern um eine besonders anspruchsvolle Form des Nennens, die nur im Kontext dialektischer Untersuchungen vollzogen wird. Sokrates würde demnach nur solche Namen als natürlicherweise richtig gelten lassen, die sich für diese besonders anspruchsvolle Form des Nennens eignen.36 Diese Schlussfolgerung aber stünde in einem so direkten wie klaren Widerspruch mit dem Funktionalitätsprinzip, dem zufolge es einen natürlicherweise richtigen Namen auszeichnet, überhaupt für den Vollzug des Nennens geeignet zu sein. Die Unhaltbarkeit einer solchen Deutung von Sokrates’ Einlassungen zum ›guten‹ Gebrauch des Namens durch einen Dialektiker wird indessen sofort erkennbar, wenn man sich vor Augen führt, wie konsequent Sokrates in der soeben zitierten Passage 388c3–8 die Analogie zwischen dem onomazein sowie dem onoma einerseits und dem kerkizein sowie der kerkis andererseits fortführt. Sokrates vergleicht nämlich die kompetente Verwendung eines Namens durch einen Dialektiker nicht mit einer besonders gut gelungenen Ausführung des kerkizein; und er behauptet auch nicht, der gute Gebrauch einer kerkis sei Sache eines in der kerkistikê bewanderten Fachmanns, der sein Werkzeug kerkistikôs zu handhaben wisse.37 Stattdessen erklärt Sokrates die kerkis zunächst zu einem 35 Die Bedeutung von Namen für die richtige Durchführung einer dihairetischen Untersuchung ist sowohl von Interpreten des Kratylos – wie etwa Levinson (1957), 37 f., Kretzmann (1971), 128 und 130, sowie Barney (2001), 100 – als auch von Autoren, die sich mit dem dihairetischen Verfahren auseinandersetzen – wie etwa Moravcsik (1973a), 160–162, und Lane (1998), 25–27, – klar gesehen worden. 36 So geht etwa Ademollo (2011), 114, davon aus, dass Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens nur dann zutrifft, wenn man sie auf die Verwendung von Namen im Kontext einer dihairetischen Untersuchung bezieht: »If […] speech is for philosophy, […] names may well be for division. And although, strictly speaking, this is not yet sufficient to vindicate Socrates’ first definition (b7–11) of the name’s function, it is sufficient to vindicate the second (b13–c1), which does not refer to what we do on every act of naming […].« Ganz ähnlich Sedley (2003), 61. 37 Weder kerkistikê noch kerkistikôs sind gebräuchliche Terme: Ersterer kommt in der gesam-
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hyphantikon organon, einem Werkzeug der Weberei, um dann den hyphantikos, den Weberei-Fachmann, als Experten für ihren guten, hyphantikôs durchgeführten Gebrauch auszuweisen. Diese Wendung des Gesprächs ist deswegen von großem Interesse, weil das hyphainein im Gegensatz zum kerkizein ohne jeden Zweifel eine Verknüpfungsleistung ist – im Politikos wird die Webkunst oder hyphantikê dementsprechend sogar explizit definiert als »der in der Wollbereitung sich findende Teil der verbindenden Kunst«, der »durch gerades Einschießen des Einschlags in die Kette ein Geflecht hervorbringt«.38 Sokrates’ Ausführungen bestätigen also zum einen die These, dass Platon der kerkis sowohl die diakritische Funktion der Absonderung des Einschlags von den Kettfäden als auch die synkritische Funktion der Verknüpfung des Einschlags mit den Kettfäden – eben die Funktion des hyphainein – zuschreibt. Zum anderen lässt sich ihnen aber auch entnehmen, was man sich unter einem guten Gebrauch der kerkis vorzustellen hat: Denn nimmt man Sokrates beim Wort, ist es eben die Handlung des hyphainein, nicht aber die Handlung des kerkizein, die ein Fachmann gut auszuführen versteht. Das ist auch der Sache nach höchst plausibel; schließlich scheint es bei der Absonderung des Einschlags von den Kettfäden durch eine kerkis nicht sonderlich viel Spielraum für qualitative Differenzen zu geben,39 während die Herstellung eines Gewebes ganz offensichtlich besser oder schlechter gelingen kann. Der Logik des Vergleichs zwischen dem Namen und dem Weberschiffchen gemäß muss es daher die Handlung des legein und nicht die in sie eingebettete Handlung des onomazein sein, die von dem Dialektiker als Fachmann für das Unterrichten besser ausgeführt werden kann als von einem Laien. Und wiederum ist, wie man nach kurzer Überlegung erkennt, diese Pointe der Sache nach höchst plausibel: Vergleicht man nämlich die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist gerecht« mit der Formulierung einer ti esti-Frage wie »Was ist das Gerechte?« oder einer Antwort auf die Frage wie etwa »Das Gerechte ist das Tun des Seinigen«, fällt auf, dass in allen drei Fällen durch den Einsatz des Namens »gerecht« gleichermaßen die ousia des Gerechten herausgegriffen wird. Ebenso wird man mit dem Namen »Pferd« unabhängig davon, ob man ihn im Zuge einer dihairetischen ten erhaltenen griechischen Literatur nur ein einziges Mal vor – nämlich in der bereits zitierten Passage Pol. 282b4 –7 (vgl. Sayre (2006), 106 f.) –, letzterer wird überhaupt nicht verwendet. Aber wie die Passage aus dem Politikos zeigt, kennt Platon bei der Prägung von Neologismen keinerlei Skrupel, wenn es der Sache dienlich ist. 38 Pol. 283a4–8: Tὸ γὰρ συγκριτικῆς τῆς ἐν ταλασιουργίᾳ μόριον ὅταν εὐθυπλοκίᾳ κρόκης καὶ στήμονος ἀπεργάζηται πλέγμα, τὸ μὲν πλεχθὲν σύμπαν ἐσθῆτα ἐρεᾶν, τὴν δ᾽ ἐπὶ τούτῳ τέχνην οὖσαν προσαγορεύομεν ὑφαντικήν. Zitiert wird Schleiermachers Übersetzung. 39 Was nicht bedeutet, dass man bei dem Versuch, diese Sonderungsleistung zu vollziehen, nicht scheitern kann; aber erfolgreiche Handlungsvollzüge können sich in ihrer Qualität eben nicht nennenswert unterscheiden.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Untersuchung oder im Kontext eines Satzes wie »Sokrates ist ein Pferd« einsetzt, stets die Art der Pferde herausgreifen. Der qualitative Unterschied, der zwischen dialektischem und alltäglichem Namensgebrauch besteht, ist demnach nicht auf der Ebene des onomazein angesiedelt. Für qualitative Unterschiede scheint es auf dieser Ebene auch gar keinen Spielraum zu geben: Entweder die Unterscheidung einer ousia gelingt, und die Handlung des Nennens kann als vollzogen gelten; oder es wird keine ousia unterschieden, und die Handlung des Nennens ist, wie man aus Sokrates’ kompromissloser Formulierung in 387d4–8 schließen kann, gar nicht vollzogen worden. Angesiedelt ist der Unterschied zwischen dialektischem und alltäglichem Namensgebrauch vielmehr auf der Ebene des legein: So macht der logos des Dialektikers, der eine ti esti-Frage zu beantworten sucht, die durch den betreffenden Namen herausgegriffene ousia explizit zum Thema einer Untersuchung, während sie bei der Äußerung eines Satzes durch einen durchschnittlichen Sprecher zwar ebenfalls herausgegriffen wird, dabei aber unthematisch bleibt;40 und am Ende einer Dihairese steht ein logos, der die in ihrem Vollzug unterschiedenen Arten in ein Verhältnis zueinander setzt. In diesen beiden Fällen ist der Gebrauch von Namen eingebettet in Vollzüge des legein, die zur Vermittlung oder zum Erwerb41 von echtem Wissen führen können – und damit zu einer Belehrung im anspruchsvollsten Sinne.42 Bei der Äußerung von Sätzen wie »Sokrates ist gerecht« ist die Verwendung von Namen hingegen in Vollzüge des legein eingebunden, die nur in einem weit bescheideneren Sinne als belehrend gelten können: Durch die Äußerung eines solchen Satzes kann ein Sprecher den anderen darüber belehren oder informieren, wie es sich – seiner möglicherweise falschen Meinung nach43 – mit Sokrates verhält. Echtes Wissen wird auf diese Weise aber auch Selbstverständlich unterscheidet sich das dialektische legein auch noch in anderen Hinsichten vom alltäglichen Sprechen, insbesondere durch seine durchgängige Orientierung an argumentativer Absicherung des Gesagten. Aber dennoch ist und bleibt es das zentrale Charakteristikum dialektischen Sprechens, eine ousia als solche zum Thema zu machen. 41 Da Platon annimmt, dass Wissen der Seele des Unwissenden nicht einfach eingesetzt werden kann »wie blinden Augen Sehvermögen« (Rep. 518c1 f.: οἷον τυφλοῖς ὀφθαλμοῖς ὄψιν ἐντιθέντες), sondern Resultat einer sorgsam choreografierten, den vollen Einsatz des Schülers fordernden »Umwendung der Seele« (Rep. 521c6: ψυχῆς περιαγωγή) ist, dürfte für ihn jeder Fall von Wissensvermittlung auch ein Fall aktiven Wissenserwerbs sein – und dementsprechend kein Gegensatz zwischen Erwerb und Vermittlung bestehen. 42 Freilich setzt derjenige, der eine ti esti-Frage wie »Was ist das Gerechte?« durch die Formulierung eines Satzes wie »Das Gerechte ist das Tun des Seinigen« beantwortet, den Namen »gerecht« nicht ein, um die Handlung des onoma legein zu vollziehen. Aber in einem weiteren Sinne wird man auch in diesem Fall sagen können, dass »gerecht« als Werkzeug des Sprechens und nicht nur als Werkzeug des Nennens verwendet wird. 43 Freilich wird man die Äußerung eines falschen Satzes nur mit starken Einschränkungen als eine Belehrung gelten lassen können. Aber auch ein Satz wie »Sokrates ist ein Pferd« hat einen 40
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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dann, wenn der Sprecher mit seiner Einschätzung richtigliegt, nicht notwendigerweise vermittelt. Wenn man beachtet, dass Platon im Hinblick auf die Frage, ob genuines Wissen über vergängliche und wandelbare Gegenstände überhaupt möglich ist, an verschiedenen Stellen einen markanten Pessimismus an den Tag legt,44 scheint es zweifelhaft, ob sich in seinen Augen durch die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist gerecht« ein solches Wissen auch nur im günstigsten Fall vermitteln lässt. Wenn der Dialektiker als kompetenter Nutzer von Namen eine so zentrale Stellung in Sokrates’ Überlegungen einnimmt, ja sogar gegen Ende der Werkzeug-Analogie als Richter über die Produkte des Namensschöpfers ausgewiesen wird, muss Sokrates das legein von seiner höchsten, der Vermittlung oder dem Erwerb echten Wissens dienenden Form her denken. Aber wie die hier angestellten Überlegungen zeigen, wäre es völlig verfehlt, das dialektische legein dem alltäglichen legein pauschal entgegenzustellen und so zu tun, als gäbe es nichts, was diese beiden sprachlichen Vollzüge verbindet. Der Dialektiker macht, insbesondere dann, wenn er eine ti esti-Frage untersucht und möglicherweise sogar beantwortet, eine ousia explizit zum Thema, die das alltägliche Sprechen deswegen nicht zum Thema macht, weil es die Gegenstände, denen diese ousia zugeschrieben wird, in den Mittelpunkt rückt; er vollzieht also genau den Blickwechsel, der sich in Sokrates’ Doppelbestimmung der Aufgabe des Namens in 388b10–c1 widerspiegelt. Insofern ist es gerade die Handlung des onomazein, die das alltägliche mit dem dialektischen Sprechen verbindet. Der Beitrag, der durch die Verwendung eines Namens zur Belehrung in ihrer bescheidensten und ihrer hochwertigsten Form geleistet wird, ist demnach stets derselbe – die Unterscheidung einer ousia. Damit ist durchsichtig gemacht, was Sokrates meint, wenn er »Belehrung und Unterscheidung der ousia« zur Aufgabe des Namens erklärt: Der Name muss, indem durch seinen Einsatz eine ousia herausgegriffen wird, zu der Belehrung beitragen, die durch den Akt des legein vollzogen wird, in den sein Einsatz eingebunden ist.45 Um auf eine kurze Formel für diesen komplexen Zusammenhang zurückgreifen zu können, soll in den folgenden Abschnitten und Kapiteln davon gesprochen werden, dass durch den
Informationsgehalt; und der Beitrag, der durch die Verwendung des Namens »Pferd« zur Bestimmung des Informationsgehalts eines Satzes geleistet wird, ist unabhängig von dem Wahrheitswert dieses Satzes. 44 So etwa in Rep. 476a–479d und Ti. 27d–28a. 45 Dass Belehrung und Unterscheidung einer ousia nicht zwei voneinander unabhängige Funktionen des Namens sind, sehen auch Ackrill (1994), 17 f., Sedley (2003), 60 f., und Ademollo (2011), 111. Wenig überzeugend erscheint es hingegen, mit Schofield (1982), 61 f. Anm. 2, die didaktische gegen die diakritische Funktion des Namens auszuspielen.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Namen die ousia einer Art für einen Hörer unterschieden wird46 – eben denjenigen Hörer, den es zu belehren gilt.47
Der normative Charakter von Sokrates’ Bestimmung des Nennens
Wie im letzten Kapitel herausgearbeitet werden konnte, hat im Kontext der Werkzeug-Analogie die explizite Bestimmung derjenigen Handlung, die mit einem Werkzeug zu vollziehen ist, einen normativen Charakter: Einer solchen Bestimmung lässt sich nämlich entnehmen, welche Anforderung eine bestimmte Aktivität erfüllen muss, wenn sie als Vollzug der betreffenden Handlung zählen soll. Der Einsatz einer kerkis kann beispielsweise nur dann als Vollzug des kerkizein gelten, wenn das Ziel der Sonderung von Einschlag und Kettfäden erreicht wird. Den normativen Charakter von Sokrates’ Bestimmung des Nennens übersieht man indessen nur allzu leicht. Denn in einem gewissen Sinne scheint es selbstverständlich zu sein, dass dann, wenn »X« der Eigenname eines Gegenstandes und »N« ein gebräuchlicher Name ist, durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist N« über den Gegenstand X gesagt wird, dass er in einer bestimmten Weise ist: Durch die Äußerung eines solchen Satzes wird über den Gegenstand X gesagt, dass er N ist. Dann aber scheint es auch selbstverständlich zu sein, dass durch den Einsatz des Namens »N« eine ousia oder eine Seinsweise herausgegriffen wird – denn offenbar wird ja die Seinsweise der »N« genannten Gegenstände beziehungsweise das N-Sein herausgegriffen. Dieser Überlegung zufolge würde beispielsweise eine ousia auch durch die Verwendung eines Ausdrucks wie »Pfensch« herausgegriffen, der genau dann auf einen Gegenstand anzuwenden ist, wenn es sich um einen Menschen oder um ein Pferd handelt; und ebenso durch jeden Ausdruck, über dessen korrekte Anwendung unter den relevanten Sprechern hinreichende Einigkeit besteht oder hergestellt werden kann. Interpretiert man sie auf diese Weise, ist Sokrates’ Bestimmung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art von Gegenständen allerdings nicht mit der bereits vor der Werkzeug-Analogie etablierten These zu vereinbaren, »dass Man sollte nicht annehmen, dass durch die Verwendung eines Namens für jeden beliebigen Hörer eine bestimmte ousia herausgegriffen wird – für einen Hörer, der nicht die Sprache dessen spricht, der den Namen verwendet, wird dies nicht möglich sein. Es kommt daher nur darauf an, dass es für einen Hörer prinzipiell möglich ist, zu verstehen, welche ousia der Sprecher mit einem Namen herausgreift. 47 Tht. 189e–190a legt die Vermutung nahe, dass man in einem inneren Dialog auch sich selbst belehren kann. Sokratesʼ Formulierung in 388b10 f. macht es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass Platon, wie Demos (1964), 597, vermutet, den Namen als ein Werkzeug ansieht, mit dem ein Sprecher in erster Linie sich selbst belehrt. 46
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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die Dinge für sich irgendeine eigene stabile ousia haben« (386d6–e1). Denn wenn man diese These akzeptiert, kann man daraus, dass die Sprecher einer Sprache einen Ausdruck auf eine Gruppe von Gegenständen anwenden, zweifellos nicht folgern, dass diesen Gegenständen eine gemeinsame ousia zukommt. Geht man von der Stabilität der ousia aus, wird man nämlich, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat, annehmen, dass es nicht von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen – und damit auch nicht von menschlichen Konventionen – abhängt, welche Gruppen von Gegenständen durch eine gemeinsame ousia zusammengehalten werden und mithin, wie sich vor dem Hintergrund der Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts sagen lässt, eine Art bilden; oder dass es, plakativer gesprochen, nicht von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen – und damit auch nicht von menschlichen Konventionen – abhängt, welche ousiai es gibt. Auch wenn also beispielsweise die Gewohnheit bestünde, für Pferde und Menschen gleichermaßen den Namen »Pfensch« zu verwenden, würde dies nichts daran ändern, dass die Gruppe der Pferde und der Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von einer gemeinsamen ousia zusammengehalten wird. Dieser Überlegung zufolge wird man angesichts der von Sokrates’ vorausgesetzten Stabilität der ousia nicht ohne Weiteres behaupten können, dass durch die Verwendung eines jeden gebräuchlichen Ausdrucks, der alle syntaktischen Anforderungen an einen Namen erfüllt, auch tatsächlich die Handlung des Nennens vollzogen wird. Vielmehr muss ein sprachlicher Akt ein bestimmtes Ziel im Umgang mit den Gegenständen der Wirklichkeit erreichen, um als Vollzug des Nennens gelten zu können: Er muss in der Unterscheidung einer Art von Gegenständen resultieren, die durch eine ousia zusammengehalten werden. Auch die Handlung des Nennens hat demnach in einem starken Sinne eine Natur,48 weil sie eine Form des zielführenden Umgangs mit Gegenständen ist und als solche objektiven49 Erfolgsbedingungen unterliegt. (Dabei versteht es sich von selbst, dass im Nennen keine Modifikation von Gegenständen, kein Eingriff in die Wirklichkeit angezielt wird.50 Aber da das Nennen objektive, von der Verfasstheit der Wirklichkeit vorgegebene Erfolgsbedingungen hat, ist der Vergleich mit
Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des vorangehenden Kapitels. Wobei die Unterscheidung einer ousia für einen Hörer freilich de facto auch Erfolgsbedingungen hat, die von seinem Vorwissen etc. abhängen. Aber da es für die natürliche Richtigkeit eines Namens nur darauf ankommt, dass er die Unterscheidung einer ousia für einen Hörer prinzipiell möglich macht (vgl. Anm. 46), darf dieser Punkt vernachlässigt werden. 50 Wie beispielsweise Ackrill (1994), 15 f., zurecht bemerkt. Daraus folgt aber nicht, wie Ackrill anzunehmen scheint, dass die objektiven Erfolgsbedingungen des Nennens nicht von der Verfasstheit der Wirklichkeit abhängen. 48 49
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Handlungen wie dem Bohren oder dem Schneiden in dieser Hinsicht keineswegs irreführend.) Es handelt sich demnach bei Sokrates’ Bestimmung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art von Gegenständen für einen Hörer um eine brisante These. Akzeptiert man nämlich diese Bestimmung, wird man mit der Möglichkeit zu rechnen haben, dass Akte der Verwendung eines gebräuchlichen Ausdrucks, die man gemeinhin als Vollzüge des Nennens durch den Gebrauch eines Namens einstufen würde, de facto nicht der Natur des Nennens entsprechen, weil sie nicht in der Unterscheidung einer ousia resultieren, und insofern nur als scheiternde Versuche gelten können, die Handlung des Nennens zu vollziehen. Dann aber hat man aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit der Möglichkeit von Fällen zu rechnen, in denen durch die Äußerung eines Satzes die Handlung des Sprechens – oder, wie man angesichts der Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts wird sagen können, die Handlung des Aussagens51 – nicht vollzogen wird, obwohl in diesem Satz gebräuchliche und allgemein für Namen gehaltene Wörter als Subjekt- und als Prädikatausdruck fungieren. Denn wenn die Verwendung von mindestens einem dieser Ausdrücke nicht als genuiner Vollzug des Nennens gelten kann, ist eine Teilhandlung des Aussagens nicht vollzogen; und da eine komplexe Handlung nur vollzogen werden kann, indem alle zu ihr gehörigen Teilhandlungen vollzogen werden, dürfte in einem solchen Fall durch die Äußerung des betreffenden Satzes ebenso wenig eine Aussage getroffen werden wie durch die Artikulation der satzähnlichen Struktur *Sokrates ist ein Blip*. Wenn Sokrates mit seiner Bestimmung des Nennens in 388b10–c1 demnach nicht einfach beschreibt, was wir tun, wenn wir einen Ausdruck verwenden, der gemeinhin für einen Namen gehalten wird, sondern den natürlichen Standard angibt, den ein Akt der Verwendung eines solchen Ausdrucks erfüllen muss, um als Vollzug des Nennens gelten zu können – wieso sollte man diese Bestimmung dann akzeptieren? Im Sinne der Strategie dieses Kapitels empfiehlt es sich, diese Frage zunächst im Hinblick auf die Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck eines Satzes zu erörtern. Wieso also sollte man einen solchen Akt nur dann als einen Vollzug des Nennens gelten lassen, wenn durch die Verwendung des Wortes die ousia einer Art von Gegenständen herausgegriffen wird? Sokrates’ abstraktes Argument in 387b8–d9, das in der Einführung zum vorliegenden Kapitel bereits zitiert wurde, liefert einen wichtigen Hinweis darauf, wie diese Frage zu beantworten ist. Sokrates’ Ausführungen beruhen nämlich auf dem Gedanken, dass die Handlung des Nennens deswegen eine eigene Natur Ob es einer Perspektivverengung gleichkommt, die Handlung des Sprechens mit der Handlung des Aussagens zu identifizieren, wird im weiteren Verlauf des gegenwärtigen Abschnitts noch zu diskutieren sein. 51
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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hat, weil die Handlung des Aussagens, deren Teil sie ist, eine eigene Natur hat. Die Antwort auf die Frage, wieso das Nennen nur durch die Unterscheidung der ousia einer Art von Gegenständen für einen Hörer vollzogen werden kann, dürfte demnach zusammenfallen mit der Antwort auf die Frage, wieso man die Äußerung eines Satzes dann nicht als Vollzug der Handlung des Aussagens ansehen sollte, wenn durch den Einsatz des Wortes, das als Prädikatausdruck des Satzes fungiert, keine ousia herausgegriffen wird. Welchen Grund gibt es also für einen Konventionalisten wie Hermogenes, anzunehmen, dass eine Aussage über einen Gegenstand nur getroffen werden kann, indem (durch die Verwendung des als Prädikatausdruck fungierenden Namens) eine ousia unterschieden und (durch den gesamten Satz) einem Gegenstand zugeschrieben wird? Sokrates beantwortet diese Frage nicht explizit, und Hermogenes forciert sie nicht, obwohl (oder gerade weil) er sicherlich nicht durchschaut, was in 387b8– d9 vor sich geht. Aber ein Leser, der sich mit Hermogenes identifiziert, kann und muss sie sich stellen, wenn er – ganz wie in der Einleitung zu dieser Studie beschrieben – herausfinden will, worauf nicht nur Hermogenes, sondern er selbst verpflichtet ist. Und er hat auch gute Chancen, sie zu beantworten, wenn er die Kontinuität zwischen den Überlegungen der Werkzeug-Analogie und Sokrates’ Ausführungen in 383a–386e erkennt, und wenn er sich insbesondere fragt, was diese Ausführungen über die Natur des legein beziehungsweise des Aussagens verraten. Wie das in 385b2–d1 vorgetragene Argument zeigt, ist für Sokrates nämlich der maßgebliche Fall des Aussagens die Formulierung eines atomaren Aussagesatzes, der wahr oder falsch, aber zumindest wahrheitsfähig ist. Weiterhin gehen Sokrates und Hermogenes, wie ihre gemeinsame Ablehnung des Relativismus in 385e–386e deutlich macht, davon aus, dass durch die Formulierung eines wahren atomaren Aussagesatzes über einen Gegenstand gesagt wird, wie er unabhängig von allen menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen wirklich ist. Schon die Hinführung zur Werkzeug-Analogie in 383a–386e beinhaltet also, wie für einen aufmerksamen Leser gut zu erkennen ist, eine implizite Charakterisierung des Aussagens als einer Handlung, die durch die Äußerung eines atomaren Satzes vollzogen wird, der zu objektiver Wahrheit fähig ist. Das ist nun eine Charakterisierung, die zwar der modernen Logik zufolge noch ergänzt werden muss um eine – leicht zu bewerkstelligende – Erläuterung des Aufbaus logisch komplexer Aussagesätze aus atomaren Aussagesätzen, von einem Konventionalisten wie Hermogenes aber jedenfalls nicht ohne Weiteres zurückgewiesen werden kann. Wahrheitsfähigkeit als wesentliches Kennzeichen von Aussagen auszuweisen, scheint schließlich genau dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen; und auch die Annahme, dass die Antwort auf die Frage nach dem Wahrheitswert einer Aussage objektiv sein muss und nicht von menschlichen
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen abhängen darf, ist zweifellos im präreflexiven Anti-Relativismus des common sense verwurzelt.52 Ein Leser, der im Rückgriff auf die Passage 383a–386e zu klären versucht, auf welche Annahmen im Hinblick auf die Natur des Aussagens er selbst ebenso wie Hermogenes verpflichtet ist, wird also zu der Einsicht gelangen, dass Aussagen sich aus seiner eigenen Perspektive durch ihre Fähigkeit zu objektiver Wahrheit auszeichnen. Unter dieser Voraussetzung ist nun aber klar, wieso eine atomare Aussage über einen Gegenstand nur getroffen werden kann, indem (durch die Verwendung des als Prädikatausdruck fungierenden Namens) eine ousia unterschieden und (durch den gesamten Satz) einem Gegenstand zugeschrieben wird.53 Denn wenn unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen feststeht, auf welche Weisen ein Gegenstand sein kann oder welche ousiai es gibt, wird man nur sagen können, wie der Gegenstand unabhängig von allen menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen ist, indem man ihm eine dieser Seinsweisen oder ousiai zuschreibt. Äußert man einen (atomaren) Aussagesatz, ohne dabei dem Aussagegegenstand eine ousia zuzuschreiben, kann man daher keine Aussage treffen, die zu objektiver Wahrheit auch nur fähig ist – denn der Gegenstand könnte in diesem Fall überhaupt nicht unabhängig von allen menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen auf die Weise sein, wie es durch die Äußerung des Satzes behauptet wird. Ganz ähnlich scheint es sich mit Aussagen zu verhalten, die sich auf eine ousia beziehen: Wenn durch die Äußerung des Satzes »Der Mensch ist ein Lebewesen« eine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage über die ousia der Menschen – also darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein – getroffen werden soll, muss durch den Einsatz des Ausdrucks »Lebewesen« zweifellos auch eine ousia herausgegriffen werden.54 Für einen Leser, der sich unter Rückgriff auf Sokrates’ Überlegungen in 385b–386e mit dessen auf den ersten Blick so opaken Ausführungen in 387b8– d9 auseinandersetzt, werden diese Ausführungen also als komprimierte Fassung eines Gedankengangs verständlich, der von einer dem common sense entsprechenden Konzeption des Aussagens ausgeht, sie normativ wendet und auf dieser Basis die normative Bestimmung des Nennens in 388b10–c1 begründet: Die Handlung des Aussagens muss demzufolge ihrer Natur nach durch das Treffen einer Aussage vollzogen werden, die den Anspruch hat, den Aussagegegenstand so zu repräsentieren, wie er unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Diese Annahme wird man freilich in einer Hinsicht einschränken müssen: Denn es ist offensichtlich, dass Aussagen über menschliche Wahrnehmungen. Meinungen oder Entscheidungen nicht unabhängig von Wahrnehmungen, Meinungen oder Entscheidungen wahr oder falsch sind. 53 Falls es in einem Platonischen Universum auch relationale ousiai gibt, ließen sich freilich auch atomare Aussagen über mehrere Gegenstände treffen. 54 Vgl. zur Interpretation von Sätzen dieser Form Vlastos (1974). 52
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Meinungen und Entscheidungen ist – durch das Treffen einer zu objektiver Wahrheit fähigen (atomaren) Aussage.55 Das Nennen als diejenige Teilhandlung des Aussagens, die durch den Einsatz eines Namens als Prädikatausdruck eines (atomaren) Aussagesatzes ausgeführt wird, muss zum Vollzug des Aussagens beitragen, indem es festlegt, wie der Aussagegegenstand der zu treffenden Aussage zufolge ist.56 Das Nennen kann sich daher seiner Natur nach nur als Unterscheidung einer Seinsweise beziehungsweise einer ousia vollziehen;57 und insofern es auf diese Weise den Informationsgehalt der getroffenen Aussage (mit)bestimmt, ist es eine Form der Belehrung. Dieser Gedankengang liefert einem Konventionalisten wie Hermogenes, dem die zugrunde liegende Konzeption des Aussagens einleuchten dürfte, zumindest auf den ersten Blick tatsächlich einen guten Grund, die normative Bestimmung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« einer Art zu akzeptieren.58 Dass diese Bestimmung auch dann plausibel ist, wenn man in Rechnung stellt, dass Namen nicht nur als Prädikatausdrücke, sondern auch als Subjektausdrücke von Aussagesätzen fungieren können, wird im nächsten Kapitel zu zeigen sein. Einstweilen gilt es aber, sich den sprachphilosophischen Witz der Forderung, durch den Einsatz eines Namens als Prädikatausdruck eines Satzes müsse eine stabile ousia herausgegriffen werden, vor Augen zu führen, indem man sich 55 Sokrates kann hingegen unmöglich meinen, dass die Handlung des legein nur durch das Treffen einer objektiv wahren Aussage vollzogen werden kann, wie z. B. Reeve (1998), xvi f., annimmt – denn Sokrates’ Argument in 385b2–d1 setzt ja voraus, dass auch falsches legein möglich ist. Aus Sokrates’ Formulierung in 387b10–c4 sollte man daher keinesfalls – wie es beispielsweise Denyer (1991), 70, tut – ableiten, dass für ihn über ein einzelnes pragma überhaupt nur seiner Natur gemäß gesprochen werden kann – also nur, indem über es eine wahre Aussage getroffen wird. Eine weniger wohlwollende und schlechter zu Sokrates’ Argument in 385b2–d1 passende Auslegung ist kaum vorstellbar. Man wird daher zunächst einmal davon auszugehen haben, dass es sich in diesem Fall um eine generische Anforderung handelt: Wann eine Aktivität als Vollzug des legein gelten kann, hängt demnach davon ab, wie die Dinge liegen – welche stabilen ousiai die Gegenstände der Wirklichkeit also aufweisen. Aber es ist auch durchaus möglich, Sokrates’ Formulierung als Ausdruck der Forderung nach einer Abstimmung des Aussagens auf spezifische Fälle zu verstehen: Wer über die Gegenstände einer Art eine Aussage treffen möchte, wird nämlich zweifellos scheitern, wenn er nicht den richtigen Namen für diese Art verwendet. (Vgl. zu solchen Aussagen die Überlegungen im ersten Abschnitt des nächsten Kapitels.) 56 Diesen Zusammenhang arbeitet auch Ackrill (1994), 14–18, im Grundsatz richtig heraus. 57 Auf die Frage, wieso es sich nicht auch als Unterscheidung eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes vollziehen kann, wird im nächsten Kapitel einzugehen sein. 58 Die Beobachtung, dass sich auch logisch komplexe Aussagen mit Anspruch auf objektive Wahrheit treffen lassen, schränkt die Plausibilität dieses Arguments auf den ersten Blick nicht im Geringsten ein: Denn solche Aussagen scheinen sich ja nur durch die Verknüpfung logisch atomarer Aussagesätze treffen zu lassen. Wie der dritte Abschnitt des fünften Kapitels zeigen wird, bringen logisch komplexe Aussagen allerdings bei genauerer Betrachtung doch ein gewisses Problem mit sich.
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den Zusammenhang zwischen dieser Forderung und der Ablehnung des Protagoreischen Relativismus vergegenwärtigt: Wäre die Wirklichkeit so verfasst, wie der Protagoreische Relativismus es behauptet, gäbe es überhaupt nicht die Möglichkeit, objektiv wahre oder falsche Aussagen über Gegenstände zu treffen. Denn eine Aussage könnte immer nur für einen Betrachter wahr sein, und wäre es für ihn genau dann, wenn sie ihm wahr zu sein schiene. Ist die Wirklichkeit hingegen so verfasst, wie Sokrates es in seiner Auseinandersetzung mit dem Protagoreischen Relativismus behauptet – haben die Gegenstände also stabile ousiai –, besteht zumindest die Möglichkeit, zu objektiver Wahrheit fähige Aussagen über diese Gegenstände zu treffen. Entscheidend ist aber, dass wir diese Möglichkeit nur nutzen, wenn wir in unseren Aussagen Gegenständen diejenigen ousiai zuschreiben, die ihnen auch tatsächlich unabhängig von unserem Dafürhalten zukommen können. Gelingt es uns hingegen nicht, mit dem als Prädikatausdruck eines Satzes fungierenden Wort eine solche ousia herauszugreifen, haben wir sozusagen die Chance vertan, durch die Äußerung des Satzes eine Aussage mit Anspruch auf objektive Wahrheit zu treffen. Im Hintergrund von Sokrates’ Argument in 387b8–d9 und der auf es aufbauenden Bestimmung des Nennens in 388b10–c1 steht also ein ganz bestimmtes Bild des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit: Wenn die Beschaffenheit der Wirklichkeit es möglich macht, zu objektiver Wahrheit fähige Aussagen zu treffen, sollte man einen sprachlichen Akt nur dann als Vollzug der Handlung des Aussagens gelten lassen, wenn durch ihn auch tatsächlich eine Aussage getroffen wird, die zu objektiver Wahrheit fähig ist – und dementsprechend sollte man den Akt der Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck eines Satzes nur dann als Vollzug des Nennens und damit als Vollzug einer Teilhandlung des Aussagens anerkennen, wenn durch ihn eine ousia herausgegriffen wird. Sokrates’ normative Charakterisierung des Nennens ist folglich in einem klar konturierten Bild des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit verankert, das einen bestimmten sprachlichen Vollzug – nämlich das Treffen von Aussagen, die zu objektiver Wahrheit fähig sind – ins Zentrum rückt und sich seine Perspektive auf die Aufgabe des Namens von dieser Grundentscheidung vorgeben lässt. Gegen ein solches Bild lässt sich nun aber ein grundsätzlicher Einwand erheben, der auch die Plausibilität von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens zweifelhaft macht. Dieser Einwand beruht auf der Beobachtung, dass die Konzentration auf das Aussagen als sprachlichen Zentralvollzug mit einer massiven Einengung des sprachphilosophischen Horizonts einherzugehen scheint. Denn offenbar werden Namen ja nicht nur im Kontext von Sätzen verwendet, durch deren Äußerung Aussagen getroffen werden sollen: So kann der Name »Pferd« eingesetzt werden, um den Befehl »Bring’ die Pferde in den Stall«, und der Name »Schüler«, um den Gruß »Guten Morgen, liebe Schüler« zu
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formulieren. Auf den ersten Blick ist nun nicht zu erkennen, wieso man davon ausgehen sollte, dass Handlungen wie Befehlen oder Grüßen durch die Äußerung solcher Sätze nur dann vollzogen werden, wenn durch den Gebrauch der betreffenden Namen jeweils die ousia einer Art herausgegriffen wird. Warum, so ließe sich zugespitzt fragen, sollte man sich dann aber eine normative Bestimmung des Nennens von der Rolle vorgeben lassen, die Namen in Aussagesätzen spielen, obwohl es so viele andere sprachliche Kontexte gibt, zu denen Namen einen Beitrag leisten? Und wieso sollte man den Namen als ein Werkzeug charakterisieren, mit dem sich eine Teilhandlung des Aussagens vollziehen lässt, wenn es so viele andere sprachliche Handlungen gibt, die den Gebrauch eines Namens involvieren?59 Lässt sich dieser Einwand entkräften? Man könnte zunächst versucht sein, andere sprachliche Handlungen auf irgendeine Weise an die Handlung des Aussagens anzugleichen, um so die These zu plausibilisieren, durch die Verwendung eines Namens müsse in (fast) allen sprachlichen Handlungskontexten eine ousia herausgegriffen werden.60 Im weiteren Verlauf des Kratylos findet sich eine Es ist sicherlich gut möglich, dass dann, wenn durch die Verwendung eines Namens im Kontext eines Satzes eine ousia herausgegriffen wird, auch in anderen sprachlichen Handlungskontexten durch seine Verwendung diese ousia herausgegriffen wird. Die entscheidende Frage ist aber, ob in diesen Kontexten die Unterscheidung einer ousia wirklich erforderlich ist – ob sich also, mit anderen Worten, in Anbetracht dieser Kontexte die Bestimmung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« als eine normative Bestimmung aufrechterhalten lässt. 60 Aus einer modernen sprachphilosophischen Perspektive könnte es naheliegend scheinen, auf die Sprechakttheorie – insbesondere in der systematischen Gestalt, die ihr John Searle in seinem Speech Acts (London 1969) im Rückgriff auf die bahnbrechenden Überlegungen J.L. Austins in seinem How to Do Things with Words (Oxford 1962) verliehen hat – zurückzugreifen, um den Gebrauch eines Namens in verschiedenen sprachlichen Handlungskontexten an seinen Gebrauch im Kontext des Aussagens anzugleichen. Denn die Sprechakttheorie erkennt zwar an, dass die Vielfalt sprachlicher Handlungen irreduzibel ist und dass es daher ein Fehler wäre, alle sprachlichen Äußerungen als verkappte Vollzüge des Aussagens zu behandeln. Aber zugleich ermöglicht sie eine Analyse solcher Äußerungen, die unterscheidet zwischen dem illokutionären Akt, der durch die Äußerung vollzogen wird, und dem propositionalen Gehalt einer solchen Äußerung. Folgt man dieser Analyse, wird man davon ausgehen, dass beispielsweise die Aussage »Sokrates ist gerecht«, die Frage »Ist Sokrates gerecht?«, der Befehl »Sokrates, sei gerecht!« und der Wunsch »Wäre Sokrates doch gerecht!« denselben propositionalen Gehalt haben, sich aber als illokutionäre Akte unterscheiden, weil sie ganz und gar unterschiedlichen Regeln unterliegen. Der entscheidende Punkt ist nun, dass man unter dieser Voraussetzung davon ausgehen kann, dass durch die Verwendung eines Namens im Rahmen des Vollzugs sehr vieler sprachlicher Handlungen dieselbe Aufgabe erfüllt werden muss wie im Rahmen des Aussagens – nämlich die Aufgabe, einen Beitrag zur Formulierung eines propositionalen Gehaltes zu leisten. Da es der propositionale Gehalt ist, der wahr oder falsch ist, scheint sich das Argument für die normative Bestimmung des Nennens, das sich aus der Betrachtung von Aussagen ergeben hat, auch auf den Einsatz von Namen in anderen sprachlichen Handlungskontexten übertragen zu lassen: 59
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Passage, die darauf hinzudeuten scheint, dass Sokrates selbst zumindest manche sprachlichen Handlungen an den Fall des Aussagens angleichen würde. In 429e3–430a4 reagiert er nämlich folgendermaßen auf Kratylos’ Behauptung, man könnte nichts Falsches sagen (429d4–6): Zum Beispiel, wenn jemand, der dir in der Fremde begegnet, deine Hand ergriffe und spräche: »Willkommen, athenischer Fremder, Sohn des Smikrion Hermogenes«, würde dieser dies sagen (legein) oder es behaupten oder es sprechen, oder würde er so nicht dich, sondern diesen Hermogenes hier ansprechen? Oder niemanden? – Mir scheint, Sokrates, dass dieser es nur vergeblich von sich gäbe. – Auch damit bin ich zufrieden. Würde nun derjenige, der dies von sich gäbe, es wahr von sich geben oder falsch? Oder einen Teil davon wahr, einen anderen aber falsch? Denn auch dies wäre schon ausreichend.61
Sokrates scheint hier, wie im ersten Kapitel ausgeführt wurde, davon auszugehen, dass bei diesem Gruß mit dem Namen »Hermogenes« die Handlung des onoma legein, der Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand (in diesem Fall Kratylos) ebenso vollzogen wird wie bei der Äußerung des Satzes »Kratylos ist Hermogenes«, und dass demnach in beiden Fällen etwas Falsches gesagt wird. Könnte man also vielleicht dem skizzierten Einwand begegnen, indem man argumentiert, dass auch im Kontext sprachlicher Handlungen, die von der Handlung des AussaWann immer die Verwendung eines Namens zur Formulierung eines propositionalen Gehalts beitragen soll, müsste sie demnach (zumindest unter Platonischen Vorzeichen) in der Unterscheidung einer ousia resultieren, wenn der betreffende propositionale Gehalt zu objektiver Wahrheit fähig sein soll. Bei näherer Betrachtung wird allerdings zweifelhaft, ob dieses von der Sprechakttheorie inspirierte Argument tatsächlich zeigt, was es zeigen soll. Denn wenn man voraussetzt, dass beispielsweise bei der Äußerung eines Wunsches oder eines Befehls ein propositionaler Gehalt formuliert wird, drängt sich die Frage auf, aus welchem Grund es wichtig sein sollte, dass dieser propositionale Gehalt zu objektiver Wahrheit fähig ist. Hätte man es etwa nicht mehr mit einem Wunsch oder einem Befehl zu tun, wenn der betreffende propositionale Gehalt nicht in Platons Sinne zu objektiver Wahrheit fähig wäre? Das ist zumindest auf den ersten Blick nicht sonderlich einleuchtend. Aus der Sprechakttheorie scheint sich daher nicht ohne Weiteres ein Argument für die normative Bestimmung des Nennens in 388b10–c1 gewinnen zu lassen, das der Tatsache Rechnung trägt, dass Namen in einer Vielzahl verschiedener Handlungskontexte eingesetzt werden können. Aus einem ganz ähnlichen Grund ist, wie die weiteren Überlegungen zeigen werden, auch der Versuch zum Scheitern verurteilt, diese Bestimmung durch eine Angleichung von sprachlichen Akten wie dem Akt des Grüßens an die Handlung des onoma legein zu verteidigen. 61 429e3–430a4: Oἷον εἴ τις ἀπαντήσας σοι ἐπὶ ξενίας, λαβόμενος τῆς χειρὸς εἴποι· »χαῖρε, ὦ ξένε Ἀθηναῖε, ὑὲ Σμικρίωνος Ἑρμόγενες,« οὗτος λέξειεν ἂν ταῦτα ἢ φαίη ἂν ταῦτα ἢ εἴποι ἂν ταῦτα ἢ προσείποι ἂν οὕτω σὲ μὲν οὔ, Ἑρμογένη δὲ τόνδε; ἢ οὐδένα; – Ἐμοὶ μὲν δοκεῖ, ὦ Σώκρατες, ἄλλως ἂν οὗτος ταῦτα φθέγξασθαι. – Ἀλλ᾽ ἀγαπητὸν καὶ τοῦτο. πότερον γὰρ ἀληθῆ ἂν φθέγξαιτο ταῦτα ὁ φθεγξάμενος ἢ ψευδῆ; ἢ τὸ μέν τι αὐτῶν ἀληθές, τὸ δὲ ψεῦδος; καὶ γὰρ ἂν καὶ τοῦτο ἐξαρκοῖ.
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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gens verschieden sind, der Einsatz eines Namens dem Vollzug des onoma legein, also der Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand dient? Möglicherweise hat Platon tatsächlich angenommen, dass jede Verwendung eines Namens sich in diesem Sinne als Anwendung auf einen Gegenstand vollzieht und es insofern keinen Unterschied zwischen der Verwendung eines Namens in einem Aussagesatz und seiner Verwendung in anderen Kontexten gibt – das soll hier nicht bestritten werden. Aber das Beispiel des Grußes zeigt auch, welche Probleme ein solcher Ansatz mit sich bringt: Denn wenn man davon ausgeht, dass bei dem an Kratylos gerichteten Gruß »Willkommen, athenischer Fremder, Sohn des Smikrion Hermogenes« der Name »Hermogenes« ebenso auf Kratylos angewendet wird wie bei der Äußerung des Satzes »Kratylos ist Hermogenes«, läuft man Gefahr, die gravierenden Unterschiede zwischen der Handlung des Grüßens und der Handlung des Aussagens aus den Augen zu verlieren. Die Handlung des Grüßens ist, wie viele andere sprachliche Handlungen auch, nicht durch ihren Bezug zur Wahrheit definiert. Dass man den Gruß »Willkommen, athenischer Fremder, Sohn des Smikrion Hermogenes« überhaupt als einen Fall falschen Sprechens einstufen kann, verdankt sich der speziellen Form dieses Grußes – hätte der Fremde Kratylos gegenüber ein einfaches »Sei gegrüßt« geäußert, könnte von Wahrheit oder Falschheit gar nicht die Rede sein. Die Handlung des Grüßens steht offenbar nicht unter der Wahrheitsnorm, sondern unter bestimmten anderen Normen, die aber unter anderem auch implizieren, dass man den Gegrüßten nicht mit einem falschen Namen ansprechen soll. Aber sogar wenn man zugesteht, dass das Grüßen einer der Wahrheitsnorm zumindest eng verwandten Anforderung unterliegt, weil es mit einem Namen ausgeführt werden sollte, der ›wahr von‹ der gegrüßten Person ist, bleibt vollkommen unklar, warum es darauf ankommen sollte, dass der Name objektiv ›wahr von‹ der gegrüßten Person ist. Aber kann man nicht genauso fragen, wieso es dann, wenn eine Aussage getroffen wird, darauf ankommen sollte, dass der als Prädikatausdruck fungierende Name objektiv ›wahr von‹ dem Aussagegegenstand ist oder zumindest sein kann? Warum sollte die Handlung des Aussagens nur durch das Treffen einer Aussage vollzogen werden können, die zu objektiver Wahrheit zumindest fähig ist? Sicherlich – eine solche Konzeption des Aussagens entspricht, wie bereits erläutert wurde, dem common sense. Aber wie ebenfalls schon deutlich geworden ist, hat sie in Kombination mit der Annahme stabiler ousiai möglicherweise die kontraintuitive Konsequenz, dass bestimmte sprachliche Handlungen, die man gemeinhin als Vollzüge des Aussagens anerkennen würde, nicht mehr als genuine Aussageakte anerkannt werden können. Es drängt sich daher die Frage auf, aus welchem Grund ein Vertreter des common sense wie Hermogenes in Anbetracht dieser kontraintuitiven Konsequenzen nicht zurückrudern und seine Annahme,
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
dass Aussagen zu objektiver Wahrheit fähig sein müssen, aufgeben sollte, um weiterhin all diejenigen sprachlichen Akte, die Vollzüge des Aussagens oder des Nennens zu sein scheinen, als solche anerkennen zu können. Ob man die Fähigkeit zur objektiven Wahrheit trotz der skizzierten Implikationen dieser Position zum definierenden Kennzeichen genuiner Aussagen erklärt oder nicht, hängt davon ab, wie man Sinn(e) und Zweck(e) der Praxis des Treffens und Evaluierens von Aussagen und allgemeiner Sinn(e) und Zweck(e) sprachlichen Austausches beschreiben würde. Geht man beispielsweise mit dem Sophisten Gorgias, wie er von Platon im gleichnamigen Dialog porträtiert wird,62 davon aus, dass der Einsatz von Sprache ein – bei kunstgerechter Handhabung höchst effektives – Mittel63 ist, um das Verhalten anderer Menschen so zu manipulieren, dass es den eigenen Zielen dient, wird man sich kaum dafür interessieren, ob durch die Äußerung eines Aussagesatzes eine Aussage getroffen wird, die zu objektiver Wahrheit fähig ist, oder nicht.64 Anders verhält es sich, wenn man, wie Sokrates es angesichts seiner Charakterisierung des Namens als organon didaskalikon und der Einführung des Dialektikers als Fachmann für den Gebrauch von Namen ohne Zweifel tut, annimmt, dass unsere Praxis des Treffens und Evaluierens von Aussagen letztlich auf das Ziel des Wissenserwerbs oder der Wissensvermittlung ausgerichtet ist und dementsprechend in ihren konkreten Ausprägungen daran gemessen werden muss, inwiefern sie diesem Ziel dienlich ist. Denn wenn (propositionales) Wissen immer Wissen darüber ist, wie es sich mit dem Gegenstand des Wissens wirklich – also unabhängig von unseren Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen – verhält, ist klar, aus welchem Grund man trotz der drohenden kontraintuitiven Konsequenzen nicht davon abrücken sollte, die Fähigkeit zur objektiven Wahrheit zum definierenden Merkmal genuiner Aussagen zu erklären: Nur wenn Aussagen zu objektiver Wahrheit fähig sind, können sie selbst einen Wissensanspruch repräsentieren oder eine Rolle im Kontext der Rechtfertigung eines Wissensanspruchs spielen.65 Siehe insbesondere Gorg. 452d–453a. Von Gorgias selbst ist der pointierte Vergleich der Rede mit einem Heilmittel oder einer Droge überliefert: »Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie Verordnung von Drogen zur Konstitution der Körper.« (DK B11, 14: Tὸν αὐτὸν δὲ λόγον ἔχει ἥ τε τοῦ λόγου δύναμις πρὸς τὴν τῆς ψυχῆς τάξιν ἥ τε τῶν φαρμάκων τάξις πρὸς τὴν τῶν σωμάτων φύσιν. Zitiert ist Buchheims Übersetzung.) 64 Moderne Vertreter einer pragmatistischen Sprachauffassung sind teilweise sogar noch einen Schritt weitergegangen und haben behauptet, dass eine Aussage p genau dann wahr ist, wenn es langfristig nützlich oder überlebensdienlich ist, zu glauben, dass p. In diese Richtung argumentiert beispielsweise James (1907), 197–236; vgl. zu den Unklarheiten von James’ Argumentation aber die kritischen Bemerkungen bei Kirkham (1992), 87–101. 65 Wobei nicht klar ist, ob für Platon die objektive Wahrheit eines Satzes garantiert, dass man sensu strictu wissen kann, dass es sich so verhält, wie der Satz behauptet. So wäre es beispiels62
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III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Demnach ist es nicht nur im Sinne des common sense, von einer genuinen Aussage zu fordern, dass sie zu objektiver Wahrheit fähig sein muss: Es gibt – zumindest unter Platonischen Vorzeichen – auch einen guten Grund, an dieser Forderung festzuhalten, selbst wenn sie kontraintuitive Konsequenzen haben mag. Diese Einsicht wirft nun aber auch ein neues Licht auf die Frage, wieso man eine normative Bestimmung des Nennens und eine entsprechende normative Bestimmung des Namens davon abhängig machen sollte, was durch die Verwendung eines Namens im Kontext eines Aussagesatzes geleistet werden muss. Die bisherige Auseinandersetzung mit dieser Frage folgte der Strategie, durch eine möglichst weitgehende Angleichung anderer sprachlicher Handlungen an das Aussagen sicherzustellen, dass die Verwendung eines Namens nur dann einen Beitrag zum Vollzug dieser Handlungen leisten kann, wenn sie in der Unterscheidung einer ousia resultiert; aber die Crux dieser Strategie bestand darin, dass diese Handlungen nicht wie das Aussagen auf Wahrheit ausgerichtet sind – was es unbegründet erscheinen ließe, sie an einer Forderung zu messen, die der Forderung entspricht, dass genuine Aussagen zu objektiver Wahrheit fähig sein müssen. Wenn Platon diese Forderung deswegen aufstellt, weil sich für ihn eine genuine Aussage dadurch auszeichnet, dass sie einen Wissensanspruch repräsentiert oder zur Validierung eines Wissensanspruchs beitragen kann, lässt sich möglicherweise ein weitaus simplerer Grund dafür ausmachen, dass Sokrates seine normative Bestimmung des Nennens gewinnt, indem er die Frage betrachtet, welcher Beitrag durch die Verwendung eines Namens zum Vollzug des Aussagens geleistet werden muss. Denn unter dieser Voraussetzung liegt die Vermutung nahe, dass Platon Sprache insgesamt in erster Linie als ein organon betrachtet haben könnte, das der Formulierung, Prüfung und Rechtfertigung von Wissensansprüchen und der Vermittlung von bereits erworbenem Wissen dient – und damit in erster Linie als ein organon, mit dem sich Aussagen treffen und auf ihre Wahrheit hin untersuchen lassen. In diesem Fall wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn Platon eine normative Bestimmung des Nennens davon abhängig machte, was durch die Verwendung eines Namens im Kontext eines Satzes geleistet werden muss, wenn durch die Äußerung des ganzen Satzes die Handlung des Aussagens vollzogen werden soll; und es wäre nur konsequent, die Aufgabe des Namens zu charakterisieren, indem man die Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Name im Kontext der Formulierung, Prüfung und Rechtfertigung von Wissensansprüchen leisten muss. weise denkbar, dass der Satz »Sokrates ist ein Mensch« zwar objektiv wahr ist, man aber deswegen nicht in einem starken Sinne wissen kann, dass Sokrates ein Mensch ist, weil man über einen wandelbaren und vergänglichen Gegenstand wie Sokrates kein genuines Wissen haben kann.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Betrachtet man Sprache als Erkenntnisinstrument, wird man das Aussagen für die paradigmatische sprachliche Handlung halten und wenig Interesse daran haben, die Rolle zu analysieren, die Namen in anderen sprachlichen Handlungskontexten spielen; oder man wird, wie Platon es zumindest im Fall des Grüßens ja auch zu tun scheint, dazu neigen, diese anderen Handlungskontexte dem Aussagen anzugleichen und deswegen davon ausgehen, dass sie keiner besonderen philosophischen Aufmerksamkeit bedürfen. (Eine Sonderrolle scheint in dieser Hinsicht allerdings die Handlung des Fragens zu spielen, deren kompetente Ausführung Sokrates’ Erklärung in 390c2–12 zufolge dem Dialektiker obliegt: Denn eine berühmte Passage des Theaitetos (189e4–190a8)66 deutet darauf hin, dass für Platon jeder Akt des Aussagens oder Urteilens als ein Antworten auf eine – möglicherweise nur in foro interno gestellte – Frage aufzufassen ist. Das Fragen ist demnach vermutlich dem legein nicht als ein weiterer sprachlicher Vollzug an die Seite zu stellen, sondern müsste als ein notwendiges Moment seiner Ausführung betrachtet werden.) Freilich kann man wiederum einwenden, es komme einer unverantwortlichen Simplifizierung gleich, Sprache in diesem Sinne als ein Erkenntnisinstrument zu beschreiben; denn ohne Zweifel nutzen Menschen als Wesen, deren ganze Existenz von ihrer Sprachlichkeit durchdrungen ist, Sprache zu unübersehbar vielen Zwecken, die in aller Regel nichts mit dem Ideal einer wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit zu tun haben. Es ist daher sicherlich einer der bleibenden Erträge der Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Gefahren einer solchen Perspektivverengung aufgezeigt zu haben.67 Platon könnte allerdings durchaus zugeben, dass Menschen Sprache zu den verschiedensten Zwecken einsetzen, ohne deswegen die normative These aufgeben zu müssen, Sprache solle in erster Linie zum Zweck des Wissenserwerbs eingesetzt werden. Unter Platonischen Vorzeichen scheint es sogar kaum möglich zu sein, diese These zu verwerfen: Denn wenn man, wie es in vielen Platonischen Dialogen getan wird, annimmt, dass das menschliche Leben auf das Ziel des Wissenserwerbs ausgerichtet sein sollte, weil nur Wissen ein nicht nur gut scheinendes, Tὸ δὲ διανοεῖσθαι ἆρ᾽ ὅπερ ἐγὼ καλεῖς; – Tί καλῶν; – Λόγον ὃν αὐτὴ πρὸς αὑτὴν ἡ ψυχὴ διεξέρχεται περὶ ὧν ἂν σκοπῇ. ὥς γε μὴ εἰδώς σοι ἀποφαίνομαι. τοῦτο γάρ μοι ἰνδάλλεται διανοουμένη οὐκ ἄλλο τι ἢ διαλέγεσθαι, αὐτὴ ἑαυτὴν ἐρωτῶσα καὶ ἀποκρινομένη, καὶ φάσκουσα καὶ οὐ φάσκουσα. ὅταν δὲ ὁρίσασα, εἴτε βραδύτερον εἴτε καὶ ὀξύτερον ἐπᾴξασα, τὸ αὐτὸ ἤδη φῇ καὶ μὴ διστάζῃ, δόξαν ταύτην τίθεμεν αὐτῆς. ὥστ᾽ ἔγωγε τὸ δοξάζειν λέγειν καλῶ καὶ τὴν δόξαν λόγον εἰρημένον, οὐ μέντοι πρὸς ἄλλον οὐδὲ φωνῇ, ἀλλὰ σιγῇ πρὸς αὑτόν· σὺ δὲ τί; – Kἀγώ. 67 Dass in diesem Punkt die kontinentale und die analytische Tradition konvergieren, kann niemandem entgehen, der den (an Heideggers späte Arbeiten zur Sprache anknüpfenden) dritten Teil von Gadamers Wahrheit und Methode mit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen vergleicht. 66
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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sondern tatsächlich gutes Leben ermöglicht,68 wird man kaum abstreiten können, dass auch der Sprachgebrauch als wesentlicher Teil menschlichen Lebens diesem Ziel zu dienen hat. Es ist daher verfehlt, den Vorwurf der Perspektivverengung gegen die Platonische Sprachphilosophie zu richten, weil sie Sprache als ein Erkenntnisinstrument konzipiert: Wenn überhaupt, muss man diesen Vorwurf gegen die gesamte Platonische Philosophie richten, die eine teleologische Konzeption des Menschen voraussetzt, die ihn von seiner Rolle als epistemisches Subjekt her versteht.69 Gegen diesen Vorwurf soll Platon hier nicht verteidigt werden. Es kann aber zumindest festgehalten werden, dass es angesichts der Grundausrichtung der Platonischen Philosophie nur konsequent ist, eine normative Bestimmung des Nennens und eine entsprechende normative Bestimmung des Namens zu geben, die sich an der Rolle orientiert, die Namen in Sätzen zu spielen haben, durch deren Äußerung Aussagen getroffen werden sollen, die zu objektiver Wahrheit fähig sind. Auch ein sehr kritischer Konventionalist hat also tatsächlich einen guten Grund, Sokrates’ normative Bestimmung des Nennens zu akzeptieren, obwohl sich aus ihr möglicherweise kontraintuitive Konsequenzen ergeben. Welche Konsequenzen dies im Einzelnen sein könnten, ist freilich an dieser Stelle des Kratylos noch nicht abzusehen, weil das Konzept der ousia nach wie vor unterbelichtet ist. So bleibt einstweilen unklar, unter welchen Bedingungen Gegenstände von einer stabilen ousia zusammengehalten werden beziehungsweise welche stabilen ousiai es gibt – und damit auch, unter welchen Bedingungen durch den Einsatz eines gebräuchlichen Ausdrucks keine solche ousia herausgegriffen und die Handlung des Nennens vollzogen werden kann. Um diese Unklarheit auszuräumen, wird man die Frage beantworten müssen, in welchen spezifischen Versionen sich die Handlung des Nennens durchführen lässt. Wie das vorangehende Kapitel gezeigt hat, wendet sich Sokrates den spezifischen Versionen von Handlungen erst im Zuge seiner Diskussion der Voraussetzungen erfolgreicher Werkzeugproduktion in 389a–390a zu. Auf die Frage, in welchen spezifischen Versionen das Nennen vollzogen werden kann und welche sprachlichen Akte im Umkehrschluss nicht als Vollzüge des Nennens anzuerkennen sind, kann daher erst bei der Analyse dieser Passage eingegangen werden, der sich das fünfte Kapitel dieser Studie widmen wird. Erst in diesem Kapitel werden also die Implikationen von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens deutlicher hervortreten; und erst am Ende Selbstverständlich ist nicht jedes Wissen gleichermaßen wertvoll: Wie bereits der Euthydemos zeigt, setzt ein gutes Leben insbesondere auch das Wissen um den guten Gebrauch anderer Kenntnisse voraus (Euthyd. 288d–293a). Wie aus den zentralen Büchern der Politeia erhellt, ist dieses Wissen auf die Idee des Guten bezogen. 69 Eine sehr pointierte Rekonstruktion des Platonischen Personenbegriffs, die diesem Kerngedanken Platons Rechnung trägt, bietet Gerson (2003). 68
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
dieses Kapitels wird ein abschließendes Urteil darüber möglich sein, wie plausibel diese Bestimmung ist, wenn man ihre Implikationen in Rechnung stellt. Was in jedem Fall dafür spricht, sie zu akzeptieren, ist indessen schon im vorliegenden Abschnitt deutlich geworden: Sie ist die logische Konsequenz einer Konzeption des Aussagens, die im common sense verwurzelt ist und sich vor dem Hintergrund von Platons teleologischer Anthropologie auch nur schwer ablehnen lässt.
Die naturalistische Wende (388c–389a)
Was ist nun mit der Etablierung der in den letzten beiden Abschnitten diskutierten normativen Bestimmung des Nennens im Hinblick auf die Frage nach der Richtigkeit der Namen gewonnen? Es ist nicht schwer zu erkennen (und wurde dennoch äußert selten erkannt70), dass Sokrates’ Charakterisierung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« einer Art einen entscheidenden Wendepunkt in seiner Untersuchung dieser Frage markiert. Denn nachdem erstens das in 387b8–d9 entwickelte Argument gezeigt hat, dass das Nennen ebenso wie das Brennen, Schneiden oder Bohren in einem sehr robusten Sinne eine eigene Natur hat und sein Vollzug daher ebenso wie der Vollzug dieser Handlungen objektiven Erfolgsbedingungen unterliegt, Sokrates zweitens in 388b10–c1 aber auch eine überzeugende Bestimmung dieser Natur gelungen ist, lässt sich aus dem Funktionalitätsprinzip ein plausibler Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen als der Werkzeuge des Nennens gewinnen: Demnach handelt es sich bei einem Ausdruck genau dann um einen natürlicherweise richtigen Namen, wenn sich mit ihm (bei entsprechender Kompetenz) durch die Unterscheidung der ousia einer Art zur Belehrung eines Hörers beitragen lässt.71 Dieser Begriff der natürlichen Richtigkeit des Namens ist es, der in Sokrates’ Charakterisierung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias zum Ausdruck kommt. Es ist unbedingt zu beachten, dass diese Charakterisierung einen natürlicherweise richtigen Namen nicht etwa als einen besonders hochwertigen Namen ausweist. Schließlich kann ja die Handlung des Nennens ihrer Natur nach überhaupt nur als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« Vgl. dazu den »Überblick über den ersten Teil«. Dementsprechend ist Kahn (1973), 152 f., zuzustimmen, wenn er – allerdings ohne Rekurs auf Sokrates’ Bestimmung des Nennens – behauptet, die Frage nach der Richtigkeit der Namen beinhalte die folgende Frage: »What are some of the minimum conditions that must be satisfied by the name-relation or more generally by the sign-function of language, in order for words to serve in communicating information, that is, in order for true and false statements to be possible?« Kahns Ansatz ist allerdings in derselben Hinsicht unzulänglich wie derjenige der in Anm. 74 genannten Autoren. 70
71
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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einer Art vollzogen werden; und wie Sokrates in 387d4–8 im Einklang mit dem Funktionalitätsprinzip in aller Deutlichkeit erklärt, muss diese Handlung mit dem ›natürlichen‹ Werkzeug ausgeführt werden, wenn sie überhaupt vollzogen werden soll. Ganz wie es die Überlegungen des letzten Kapitels erwarten ließen, ist Sokrates’ Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen also funktionalistisch: Er grenzt sprachliche Einheiten, die sich zum Vollzug des Nennens eignen und mithin als genuine Namen anzuerkennen sind, gegen sprachliche Einheiten ab, die zum Vollzug des Nennens ungeeignet sind und daher gar nicht als genuine Namen gelten können.72 Dieser funktionalistische Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen, den die Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias auf eine handliche Formel bringt, ist ein – wenn nicht das – zentrale Ergebnis der Werkzeug-Analogie; und er bestimmt, wie sich im weiteren Verlauf dieser Studie zeigen wird, die Entwicklung, die Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen im Anschluss an die Werkzeug-Analogie nimmt, in all ihren Schritten. Im gegenwärtigen Zusammenhang gilt es nun aber zunächst, sich den Stand der Auseinandersetzung mit Hermogenes’ Position vor Augen zu führen, den Sokrates mit der Etablierung des funktionalistischen Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen erreicht hat. Ein Konventionalist wie Hermogenes kann, wenn er sich auf dem im letzten Abschnitt beschriebenen Weg bewusst gemacht hat, was für die Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias spricht, nicht mehr ohne Weiteres bestreiten, dass Namen einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen. Aus Sokrates’ Überlegungen in 387b8–d9 lässt sich schließlich, wenn man sie im Lichte seiner Ausführungen in 385b–386e betrachtet, ein gutes Argument für die These gewinnen, dass eine sprachliche Einheit genau dann als Name anzuerkennen ist, wenn sie eine von der Natur des Nennens (und damit mittelbar von der Verfasstheit der Wirklichkeit) vorgegebene Anforderung erfüllt: Wenn sie nämlich zur »Belehrung und zur Unterscheidung der ousia« eingesetzt werden kann. Nun ist dies eine generische Anforderung: Sie zu erfüllen ist hinreichend und notwendig dafür, dass eine sprachliche Einheit ein Name für irgendwelche Gegenstände ist, nicht dafür, dass sie ein Name für bestimmte Gegenstände ist. Hermogenes interessiert sich zu Beginn des Dialogs hingegen nur für die – von ihm entschieden verneinte – Frage, ob ein Name für bestimmte Gegenstände natürliche Anforderungen erfüllen muss. Er übersieht dabei völlig, dass Namen auch einem generischen Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen könnten, und scheint daher davon auszugehen, dass man für beliebige Gegenstandsklassen 72 Was nicht bedeutet, dass Sokrates eine »Redundancy Conception of correctness« im Sinne Ademollos vertritt: S. u., 197 Anm. 18.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
nach Gutdünken Namen einführen kann.73 Mindestens in diesem Punkt überführt ihn Sokrates mit seiner Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias der Naivität: Denn dieser Bestimmung zufolge hat man einen Namen nicht schon dann eingeführt, wenn einem die Prägung eines Ausdrucks für eine beliebige Gegenstandsklasse gelungen ist – sondern nur dann, wenn es sich bei dieser Gegenstandsklasse um eine echte Art handelt, die von einer stabilen ousia zusammengehalten wird.74 Aber wie sich im vorangehenden Kapitel herausgestellt hat, ist für den Gedankengang der Werkzeug-Analogie der Schritt vom Funktionalitätsprinzip zum Spezifischen Funktionalitätsprinzip entscheidend – und mithin die Einsicht, dass die natürliche Richtigkeit eines Werkzeugs niemals in einer rein generischen Form vorliegen kann, sondern immer als Eignung für eine spezifische Version der jeweiligen Handlung realisiert sein muss. Das ist im Fall des Namens sogar besonders einleuchtend: Denn offenbar ist es ja stets die ousia einer bestimmten Art von Gegenständen, für deren Unterscheidung ein Name geeignet sein muss. So ergeben sich aus dem generischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen, auf dessen Anerkennung einen Konventionalisten wie Hermogenes die Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias verpflichtet, gleichsam automatisch eine Reihe von spezifischen Standards der natürlichen Richtigkeit, dem Werkzeuge für die verschiedenen spezifischen Versionen des Nennens gerecht werden müssen. Ein Konventionalist wie Hermogenes muss dieser Logik zufolge auch anerkennen, dass ein Name für eine bestimmte Art von Gegenständen (wie etwa die Art der Pferde oder der Menschen) einen solchen spezifischen Standard der natürlichen Richtigkeit zu erfüllen hat: Ein Name für eine Gegenstandsart muss sich eben dazu eignen, die Auf die Frage nach den Ursachen für die Ignoranz, die Hermogenes in dieser Hinsicht an den Tag legt, wird im sechsten Kapitel zurückzukommen sein. 74 Diese Dimension von Sokrates’ Argumentation wird von denjenigen Autoren, die im Sinne dieser Studie scharf unterscheiden zwischen der These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, und der These, die Richtigkeit der Namen hänge ab von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt, durchaus gesehen, wenn auch in aller Regel nicht mit seiner Bestimmung des Nennens, sondern nur mit seinen Ausführungen zu der Idee des Namens in Verbindung gebracht: So etwa Kretzmann (1971), 130 f.; Heitsch (1984), 72 f.; Palmer (1989), 77–93; Ackrill (1994), 22. Mit der Ausnahme Ketchums (s. Ketchum (1979), 137 f.) ist allerdings bisher von allen Interpreten übersehen worden, dass sich aus dem generischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen eine Reihe von spezifischen Standards der natürlichen Richtigkeit ergeben, denen Namen für einzelne Gegenstandsarten gerecht werden müssen – beziehungsweise dass die Überlegungen der Werkzeug-Analogie die Frage aufwerfen, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart ist. Wie Meißner (in Vorbereitung-1) im Detail nachweist, macht dieses Versäumnis ein adäquates Verständnis der Werkzeug-Analogie und letztlich des gesamten Kratylos unmöglich. 73
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stabile ousia dieser Gegenstandsart herauszugreifen und so zur Belehrung eines Hörers beizutragen. Worauf dieser auf den ersten Blick sehr simple Gedankengang einen solchen Konventionalisten im Einzelnen verpflichtet, ist beim gegenwärtigen Untersuchungsstand noch nicht klar. Denn zum einen wendet sich Sokrates, wie bereits erwähnt wurde, den spezifischen Versionen des Nennens und den entsprechenden spezifischen Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen erst bei seiner Beschreibung der Tätigkeit eines kompetenten Namensschöpfers in 389a–390a zu, die das Thema des fünften Kapitels der vorliegenden Studie bildet. Welche Implikationen es hat, den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit zu akzeptieren, wird daher erst am Ende dieses Kapitels feststehen. Zum anderen fragt sich aber auch, wovon es abhängt, ob ein Ausdruck dazu geeignet ist, durch die Unterscheidung der stabilen ousia einer Gegenstandsart zur Belehrung eines Hörers beizutragen. Wie im letzten Kapitel herausgearbeitet wurde, muss man zur Beantwortung dieser Frage über den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen hinausgehen und eine zu ihm passende Theorie der natürlichen Richtigkeit entwickeln. Solange eine solche Theorie noch nicht gefunden ist, lässt sich nicht beurteilen, inwieweit ein Konventionalist wie Hermogenes angesichts der Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias von seiner Position abrücken muss; insbesondere lässt sich nicht beurteilen, ob ein solcher Konventionalist nicht zumindest am Schwachen Konventionalismus festhalten und annehmen kann, dass sich jede beliebige Lautfolge durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem natürlicherweise richtigen Namen für jede beliebige Gegenstandsart machen lässt. Auch wenn die Charakterisierung des Namens als Werkzeug »zur Belehrung und zur Unterscheidung der ousia« einer Art also durchaus noch Fragen offenlässt, die erst der weitere Verlauf der Werkzeug-Analogie beantwortet, ist sie ein Markstein der Untersuchung der Richtigkeit der Namen – impliziert sie doch in jedem Fall, dass Namen einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen. Dementsprechend kann Sokrates im direkten Anschluss an diese Charakterisierung und die mit ihr eng verbundene Einführung des didaskalikos als Fachmann für guten Namensgebrauch im Rahmen seines Zwischenfazits Hermogenes zum ersten Mal direkt widersprechen – und festhalten, dass die Einführung von Namen eben nicht von jedem beliebigen Sprecher bewerkstelligt werden kann, sondern nur von einem Fachmann, der über die entsprechende technê verfügt: Wessen Werk wird nun der Weber gut gebrauchen, wenn er das Weberschiffchen gebraucht? – Das des Zimmermanns. – Aber ist jeder ein Zimmermann, oder derjenige, der die Kunst hat? – Derjenige, der die Kunst hat. – Und wessen Werk
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wird der Bohrmeister gut gebrauchen, wenn er den Bohrer gebraucht? – Das des Schmiedes. – Ist dann jeder ein Schmied oder derjenige, der die Kunst hat? – Derjenige, der die Kunst hat. – Halten wir das fest. Aber wessen Werk wird der Fachmann im Unterrichten gebrauchen, wenn er den Namen gebraucht? – Auch das weiß ich nicht. – Kannst du auch das nicht sagen, wer uns die Namen überliefert, die wir gebrauchen? – Nein. – Scheint es dir etwa nicht der Brauch (nomos)75 zu sein, der sie uns überliefert? – So scheint es. – Eines Nomotheten Werk wird also der Fachmann im Unterrichten gebrauchen, wenn er einen Namen gebraucht? – So scheint es mir. – Aber scheint dir jeder Mann ein Nomothet zu sein oder derjenige, der die Kunst hat? – Derjenige, der die Kunst hat. – Es ist also, Hermogenes, nicht Sache jeden Mannes, Namen zu setzen, sondern die eines Namensschöpfers; dieser aber ist, wie es scheint, der Nomothet, der bei den Menschen von den Handwerkern als seltenster auftritt. – So scheint es.76
Es ist nicht schwer zu erkennen, wie sich dieses Zwischenfazit aus Sokrates’ bisherigen Überlegungen ergibt: Mit der Entwicklung eines tragfähigen Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen ist klar, dass es einen objektiven Unterschied gibt zwischen richtigen Namen, mit denen sich die Handlung des Nennens vollziehen lässt, und sprachlichen Einheiten, die den Standard der natürlichen Richtigkeit nicht erfüllen und folglich nicht zum Vollzug des Nennens geeignet sind – ebenso, wie es einen objektiven Unterschied gibt zwischen richtigen kerkeis, mit denen sich die Handlung des Kerkizierens durchführen lässt, und Artefakten, die den natürlichen Anforderungen an kerkeis nicht genügen und daher nicht zum Vollzug des Kerkizierens eingesetzt werden können. Das aber bedeutet, dass man beim Versuch, einen Namen einzuführen, objektiv richtig vorgehen und reüssieren oder objektiv falsch vorgehen und scheitern kann – ebenso, wie man bei der Wenn Sokrates hier von nomos und nicht etwa von synthêkê spricht, so tut er dies mit Sicherheit, um zu betonen, dass uns Benennungskonventionen in aller Regel in der Gestalt unhinterfragter Traditionen begegnen, deren Ursprung sich historisch kaum verorten lässt. Eine Benennungskonvention ist, so wird durch diese Wortwahl insinuiert, eben doch mehr als eine bloße Vereinbarung, die jederzeit durch eine beliebige andere Vereinbarung abgelöst werden kann. 76 388c9–389a4: Τῷ τίνος οὖν ἔργῳ ὁ ὑφάντης καλῶς χρήσεται ὅταν τῇ κερκίδι χρῆται; – Τῷ τοῦ τέκτονος. – Πᾶς δὲ τέκτων ἢ ὁ τὴν τέχνην ἔχων; – Ὁ τὴν τέχνην. – Τῷ τίνος δὲ ἔργῳ ὁ τρυπητὴς καλῶς χρήσεται ὅταν τῷ τρυπάνῳ χρῆται; – Τῷ τοῦ χαλκέως. – Ἆρ’ οὖν πᾶς χαλκεὺς ἢ ὁ τὴν τέχνην ἔχων; – Ὁ τὴν τέχνην. – Εἶεν. τῷ δὲ τίνος ἔργῳ ὁ διδασκαλικὸς χρήσεται ὅταν τῷ ὀνόματι χρῆται; – Οὐδὲ τοῦτ’ ἔχω. – Οὐδὲ τοῦτό γ’ ἔχεις εἰπεῖν, τίς παραδίδωσιν ἡμῖν τὰ ὀνόματα οἷς χρώμεθα; – Οὐ δῆτα. – Ἆρ’ οὐχὶ ὁ νόμος δοκεῖ σοι ὁ παραδιδοὺς αὐτά; – Ἔοικεν. – Νομοθέτου ἄρα ἔργῳ χρήσεται ὁ διδασκαλικὸς ὅταν ὀνόματι χρῆται; – Δοκεῖ μοι. – Νομοθέτης δέ σοι δοκεῖ πᾶς εἶναι ἀνὴρ ἢ ὁ τὴν τέχνην ἔχων; – Ὁ τὴν τέχνην. – Οὐκ ἄρα παντὸς ἀνδρός, ὦ Ἑρμόγενες, ὄνομα θέσθαι ἀλλά τινος ὀνοματουργοῦ· οὗτος δ’ ἐστίν, ὡς ἔοικεν, ὁ νομοθέτης, ὃς δὴ τῶν δημιουργῶν σπανιώτατος ἐν ἀνθρώποις γίγνεται. – Ἔοικεν. 75
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Produktion einer kerkis objektiv richtig und objektiv falsch liegen kann. Und weil die Einführung eines Namens nicht nach Gutdünken erfolgen kann, sondern am Standard der natürlichen Richtigkeit orientiert sein muss, ist sie ebenso Sache eines Fachmanns wie die Produktion einer kerkis. Was Sokrates in 388c9–389a4 als Ergebnis des ersten Abschnitts der Werkzeug-Analogie festhält, ist demnach zwar insofern von einer skizzenhaften Vorläufigkeit gekennzeichnet, als einstweilen noch nicht klar ist, wie genau ein Fachmann bei der Einführung von Namen vorzugehen hat und wie weit die Parallele zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion einer kerkis wirklich trägt; 77 aber der Grundgedanke hinter Sokrates’ Zwischenfazit ist dennoch sehr einleuchtend. Die Art und Weise, in der Sokrates sein Zwischenfazit ableitet, ist allerdings bei genauerer Betrachtung höchst bemerkenswert. Denn er begnügt sich ja nicht mit der Feststellung, dass Namen – wie alle anderen Werkzeuge auch – nicht von Laien, sondern von Experten gefertigt werden müssen, sondern legt auch besonderen Wert darauf, den Nomotheten als den Experten für die Produktion von Namen auszuweisen. Irritierenderweise scheint Sokrates damit aber keine Prämisse für seine weitere Argumentation zu etablieren: Der Hersteller des NamensWerkzeugs wird zwar im weiteren Verlauf der Werkzeug-Analogie konsequent So bemerkt Keller (2000), 292 f., zurecht, dass ein Konventionalist wie Hermogenes die Aussagekraft dieses Vergleichs kritisch hinterfragen könnte: »The conventionalist can say that a name is a tool, but not a particularly specialised tool. A name is like a paper-weight. A paperweight is a tool with an important function, but it need not be made by an expert craftsman; if the paper-weight conforms to the undemanding standards of having one flat surface and a size and weight within a certain generous range, then it will do its job perfectly well. In the same way, a name has a very important function, and there are some requirements that apply to its creation. It should not be too long, it should not be too difficult to pronounce and it should divide being in the way in which being is actually divided. Like the paper-weight, however, the specific shape and constituting material of the name are not important. Whatever the particular (pronounceable) sounds that make up the name, it will do the job. Once again, Hermogenes can resist Socrates’ argument by denying his premise. A name is a tool, but it is not a tool like a shuttle.« So richtig Kellers Beobachtung ist, dass es dem Konventionalisten an dieser Stelle des Dialogs freisteht, Sokrates’ Behauptung zu hinterfragen, die Einführung von Namen könne nur von einem äußert seltenen Fachmann vorgenommen werden – er scheint zu übersehen, dass die Annahme, die Herstellung eines Werkzeugs zur Unterscheidung der ousia sei eine anspruchsvolle Aufgabe, zumindest auch nicht unplausibel ist. Seine Ausführungen zeigen aber auch, wieso er diese Annahme für unplausibel halten muss: Keller geht, weil er wie Hermogenes Namen mit Lautfolgen gleichsetzt, offenkundig davon aus, dass die Aufgabe des Nomotheten sich darin erschöpft, eine Lautfolge auszuwählen, die als Name für eine bestimmte Art von Gegenständen fungieren soll – und diese Aufgabe scheint tatsächlich nicht sonderlich anspruchsvoll zu sein. Wie das sechste Kapitel dieser Studie zeigen wird, lässt sich dann, wenn man die Gleichsetzung von Namen mit Lautfolgen aufgibt, erkennen, dass der Nomothet es eigentlich mit einer Herausforderung ganz anderer Art zu tun haben dürfte. 77
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
mit dem Nomotheten identifiziert (389a5, d5, d9, 390a5, a8, c2, d5), aber Sokrates zieht aus dieser Identifikation keine Schlüsse78 – sieht man davon ab, dass er in 389a3 f. die Seltenheit von Nomotheten betont, um Hermogenes die besondere Schwierigkeit der Einführung von Namen vor Augen zu führen. Dennoch ist, wie sich bei näherer Überlegung zeigt, die Einführung der Figur des Nomotheten in die Werkzeug-Analogie keineswegs ein pittoreskes, aber letztlich irrelevantes Detail. Ganz im Gegenteil: Indem Platon diese Figur auf den Plan treten lässt, greift er die konventionalistischen Intuitionen auf, die seine Leser mit Hermogenes teilen dürften, bettet sie auf überraschende Weise in den gedanklichen Rahmen der Werkzeug-Analogie ein und eröffnet so eine fruchtbare neue Perspektive auf das Verhältnis zwischen natürlicher Richtigkeit und Konvention. Um diese These zu erläutern, empfiehlt es sich, von den merkwürdigen Reaktionen auszugehen, die Hermogenes an den Tag legt, als Sokrates ihn zur Identität des Namensschöpfers befragt. Zweimal zeigt sich Hermogenes ratlos – zunächst angesichts der Frage, »wessen Werk […] der Fachmann im Unterrichten [gebrauchen wird], wenn er den Namen gebraucht«, und dann auch angesichts der zweiten Frage, »wer uns die Namen überliefert, die wir gebrauchen«. Insbesondere Hermogenes’ Unfähigkeit, auf diese zweite Frage zu antworten, ist auf den ersten Blick erstaunlich: Er selbst hat schließlich zu Beginn des Dialogs seine eigene Position in der Behauptung zusammengefasst, dass »zu keiner Sache […] irgendein Name von Natur aus [gehört], sondern durch nomos und Gewohnheit derer, die Namen zur Gewohnheit gemacht haben und zur Benennung verwenden« (384d5-7). Wieso kommt er also kurze Zeit später nicht darauf, dass es der nomos ist, der den Sprechern die Namen an die Hand gibt, die sie verwenden? Ist es nicht seiner eigenen These zufolge ein durch seine Eltern etablierter nomos, der dafür sorgt, dass er den Eigenamen »Hermogenes« trägt, und ein nomos unbekannten Ursprungs, auf den es zurückzuführen ist, dass Pferde »Pferde« und Kühe »Kühe« genannt werden? Noch erstaunlicher als die Ratlosigkeit des Hermogenes ist allerdings der Gleichmut, mit dem er die Schlussfolgerung zur Kenntnis nimmt, die Sokrates zieht, nachdem er festgestellt hat, dass der nomos den Sprechern die von ihnen benutzten Namen zur Verfügung stellt und daher der Namensschöpfer als Nomothet zu identifizieren ist: Weil ein Nomothet nämlich, so Sokrates’ Argument, über eine technê verfügen muss, kann nicht jeder beliebige Sprecher seine Rolle übernehmen; und weil die technê des Nomotheten äußerst selten ist, dürften tatsächlich sogar nur sehr wenige Sprecher in der Lage sein, sich erfolgreich als Namensschöpfer zu betätigen. Hermogenes scheint nun geradezu verpflichtet, 78 Erst zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos in 429a wird Sokrates sich auf die Identifikation des Namensschöpfers mit dem Nomotheten stützen.
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gegen diesen Gedankengang Einspruch zu erheben. Denn seine konventionalistische Position beruht, wie auch das soeben angeführte Zitat in Erinnerung ruft, auf dem Gegensatz zwischen physis und nomos; und während es sicherlich viele verschiedene Möglichkeiten gibt, diesen Gegensatz auszubuchstabieren,79 dürfte er doch in jedem Fall gekoppelt sein an den Kontrast zwischen der Unverfügbarkeit und Unabänderlichkeit bestimmter naturgegebener Tatsachen und der unumschränkt scheinenden Souveränität, mit der menschliche Gemeinschaften ihre eigenen Regeln und Konventionen festsetzen und auch wieder ersetzen können. Das, was nur durch nomos gilt, kann demnach seine Gültigkeit jederzeit einbüßen, weil eine Änderung des nomos durch eine menschliche Entscheidung jederzeit möglich ist; und wenn es keine absoluten Maßstäbe gibt, die an einen nomos angelegt werden können, lässt sich bei einer solchen Entscheidung streng genommen auch nichts richtig oder falsch machen. In diesem Sinne scheint die Festsetzung eines nomos epistemisch anspruchslos: Sie erfordert auf den ersten Blick keine speziellen Kompetenzen, wie sie immer dann vonnöten sind, wenn im zielgerichteten Umgang mit der Wirklichkeit gewisse von der physis vorgegebene und daher unabänderliche Tatsachen nicht ignoriert werden können – etwa bei der Produktion eines funktionstüchtigen Werkzeugs. Wenn Hermogenes in Abgrenzung gegen den opaken Naturalismus des Kratylos die These formuliert, die Richtigkeit von Namen sei allein Sache des nomos, nicht aber der physis, ist sie genau in diesem Sinne zu verstehen: Für Hermogenes macht ein nomos es richtig, den Ausdruck »Hermogenes« für seine eigene Person und den Ausdruck »Pferd« für Pferde zu verwenden; diese nomoi ließen sich aber seiner Analyse zufolge jederzeit durch andere ersetzen, die beispielsweise die Verwendung des Ausdrucks »Sokrates« für Hermogenes und die Verwendung des Ausdrucks »Kuh« für Pferde vorschreiben könnten. Er geht dabei offenbar davon aus, dass die Einführung eines neuen nomos keine Aufgabe ist, an der man scheitern könnte und die daher von einem Experten erfüllt werden muss – auf die Nachfrage des Sokrates hin räumt er ja sogar ein, dass prinzipiell jeder beliebige Sprecher seine eigenen Benennungskonventionen etablieren kann. Hermogenes sollte daher zum einen selbst auf die Idee kommen, dass derjenige ein Produzent von Namen ist, der Benennungskonventionen festlegt und insofern als Nomothet fungiert; und zum anderen sollte er energisch gegen die These des Sokrates protestieren, dass es sich bei dem Nomotheten um einen sehr raren Experten handelt, und stattdessen angesichts der epistemischen Anspruchslosigkeit der Festsetzung von Benennungskonventionen darauf pochen, dass jeder Sprecher erfolgreich die Rolle des Nomotheten spielen kann. Er tut indessen 79 Einen gründlichen Überblick zur nomos-physis-Antithese im griechischen Denken bis zur Zeit Platons bieten Heinimann (1945) und Casertano (1972).
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
nichts dergleichen: Er ist völlig ratlos, als Sokrates ihn fragt, wer für die Produktion von Namen zuständig ist, und er reagiert mit einem apathischen eoiken auf die Behauptung der Exzeptionalität des Nomotheten, die in einem diametralen Gegensatz zu seiner eigenen Position steht. Wie für einen aufmerksamen Leser, der an der Verteidigung seiner eigenen konventionalistischen Intuitionen interessiert ist und daher aktiv Partei für Hermogenes ergreift, bei näherer Überlegung gut zu erkennen ist, hat es allerdings seinen Grund, dass Hermogenes auf diese Weise reagiert: Mit der Beschreibung des Namens als Werkzeug scheint sich Sokrates (zumindest bei oberflächlicher Betrachtung) schon so weit von den konventionalistischen Intuitionen des Hermogenes entfernt zu haben, dass es auf den ersten Blick sehr überraschend ist, wenn der Akt der Festsetzung eines nomos nun auf einmal wieder eine zentrale Rolle bei der Einführung eines Namens spielen soll. Der entscheidende Punkt ist aber, dass man diese Rolle unter der Voraussetzung, dass es sich beim Namen tatsächlich um ein organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias handelt, auch ganz anders beschreiben muss, als es Hermogenes als Repräsentanten des konventionalistischen common sense zu Beginn des Dialogs vorschwebt: Wie gerade noch einmal erläutert wurde, scheint Hermogenes ja davon auszugehen, dass es keinen Maßstab gibt, an dem sich eine Benennungskonvention messen lassen müsste, und dass demnach bei der Festsetzung einer Benennungskonvention streng genommen nichts falsch (und somit auch nichts richtig) gemacht werden kann. Wenn aber durch die Festsetzung eines nomos einer Sprachgemeinschaft ein sprachliches Werkzeug zur Verfügung gestellt werden soll, mit dem sich zwecks Belehrung die ousia einer Art unterscheiden lässt, gibt es offenbar sehr wohl einen Maßstab, an dem sich dieser nomos messen lassen muss: Gelingt es dem Nomotheten nämlich nicht, den Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft durch die Etablierung des nomos ein solches Werkzeug an die Hand zu geben, muss man diesen nomos offenbar als Fehlschlag bewerten. Nachdem Hermogenes zugegeben hat, dass die Handlung des Nennens ihrer Natur nach durch die Unterscheidung einer ousia vollzogen werden muss und der Name als Werkzeug für diese Handlung zu definieren ist, könnte er daher auch nicht einfach durch den Verweis auf die uneingeschränkte Souveränität des nomos bestreiten, dass die Einführung eines Namens durch die Festsetzung einer Benennungskonvention objektiven Erfolgsbedingungen unterliegt und dementsprechend von einem Experten durchgeführt werden muss. (Man beachte, dass der Nomothet für diesen Gedankengang tatsächlich nur in seiner Rolle als Inhaber einer technê von Belang ist, nicht aber als eine zu einem konkreten Zeitpunkt in Aktion tretende historische Person.80 In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt mit der Ein80
Sokrates’ Beschreibung der Tätigkeit des Nomotheten in der Werkzeug-Analogie ist dem-
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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führung des Nomotheten daher nicht die Frage, wer wann die Namen eingeführt hat, die Sprecher des Griechischen zur Zeit Platons benutzen,81 sondern die Frage, unter welchen Bedingungen die Einführung eines Namens gelingt, der dem von der physis vorgegebenen Richtigkeitsstandard genügt. Das schließt nicht aus, dass Platon von der Existenz prähistorischer Nomotheten ausgeht, auf die große Teile des altgriechischen Vokabulars zurückgehen; aber es mindert das Interesse dieser Frage erheblich.)82 Wenn demnach Sokrates auf der Grundlage seiner Bestimmung des Namens als »Werkzeug zur Belehrung und zur Unterscheidung der ousia« einer Art behauptet, dass Namen von einem Nomotheten und damit von einem sehr selten anzutreffenden Fachmann eingeführt werden müssen, und Hermogenes auf diese Behauptung mit einer Mischung aus Überraschung und Apathie reagiert, so lässt Platon durch diese Inszenierung deutlich werden, wie sich ein konventionalistischer Grundgedanke aufgreifen und durch seine Einbettung in den Analyserahmen der Werkzeug-Analogie zugleich auf verblüffende Weise naturalistisch wenden lässt:83 Es ist demnach durchaus richtig, dass ein Name, wie der Konventionalist Hermogenes behauptet, nur durch die Etablierung einer Konvention eingeführt werden kann; aber diese Konvention muss sicherstellen, dass der einentsprechend konsequent im Präsens gehalten, wie Robinson (1955), 225 f., zurecht bemerkt. Damit rückt die konkrete historische Dimension dieser Tätigkeit in den Hintergrund. 81 Dass der Kratylos nicht die Frage nach dem historischen Ursprung der Sprache untersucht, hatte bereits im 19. Jahrhundert Julius Deutschle richtig erkannt (Deutschle (1852), 44); durchgesetzt hat sich diese Position allerdings erst mit den einflussreichen Aufsätzen Richard Robinsons (Robinson (1955), 224–226) und Detlev Fehlings (Fehling (1965), 218–229). 82 Vgl. für eine ausführliche Diskussion dieser Punkte Meißner (in Vorbereitung-4). 83 Baxter (1992), 49, geht davon aus, dass die Tatsache, dass Hermogenes den kompetenten Namensgeber nicht selbst als Nomothet identifiziert, als eine Warnung an den Leser zu verstehen ist, Sokrates’ Überlegung an dieser Stelle nicht unkritisch zu folgen. Das ist sicherlich richtig. Allerdings sieht Baxter nicht, dass auch ein kritischer Konventionalist angesichts der Bestimmung des Namens als Werkzeug zur Belehrung und zur Unterscheidung der ousia einen guten Grund hat, der These zuzustimmen, dass die Einführung eines brauchbaren Namens eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die nur bei entsprechender Kompetenz erfüllt werden kann. Ähnlich wie Baxter argumentiert Demand (1975), 108. Ihrer Interpretation zufolge zielt Platon mit der Einführung der Figur des Nomotheten ausschließlich darauf ab, auf die Gefahr der Irreführung durch Namen hinzuweisen: »The Nomothetes is brought in again and again simply because its name itself makes the very point which the discussion as a whole makes: that you cannot learn from names«; denn dieser Name für den Namensschöpfer deute darauf hin, dass Namen ihre Funktion kraft nomos, aber nicht kraft physis erfüllen, was aber Sokrates’ Position widerspreche. Diese Interpretation Demands ist sicherlich eine Übertreibung, die den Blick auf die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen nomos und physis verstellt, die Sokrates durch die Einführung des Nomotheten als eines außergewöhnlich seltenen Sachverständigen vollzieht, weil sie mit der unhinterfragten Voraussetzung eines diametralen Gegensatzes zwischen nomos und physis operiert; vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit Demand in Churchill (1983).
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
geführte Name den relevanten Standard natürlicher Richtigkeit erfüllt und sich zur Unterscheidung einer ousia eignet, und ist daher von einem kompetenten Fachmann zu etablieren. Nomos und physis werden auf diese Weise in ein neues Verhältnis zueinander gerückt: Nur durch den nomos stehen uns Namen zu Verfügung; aber das bedeutet eben nicht, dass physis in diesem Zusammenhang irrelevant ist, sondern ganz im Gegenteil, dass der nomos selbst es ist, der sich am Maßstab der physis84 messen lassen muss.85 Sokrates’ Zwischenfazit markiert demzufolge nicht nur den Abschluss der ersten Etappe der Werkzeug-Analogie: Die Identifikation des Fachmanns für die Einführung von Namen als Nomothet gibt zugleich auch der Untersuchung der Frage, welche konkreten Schritte zu ergreifen sind, um ein organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias zu schaffen – und damit der Suche nach einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen – die Richtung vor: Denn ein Nomothet stellt, wie auch Sokrates’ Formulierung in 388d12 f. eindeutig zeigt, anderen Sprechern ja ganz offenkundig ein solches Werkzeug zur Verfügung, indem er einen nomos etabliert beziehungsweise eine Benennungskonvention einführt. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen wird demnach die folgende Frage zu beantworten haben: Unter welchen Bedingungen gelingt es einem Nomotheten, durch die Etablierung einer Benennungskonvention sich und anderen Sprechern ein »Werkzeug zur Belehrung und zur Unterscheidung der ousia« zur Verfügung zu stellen? Platon lässt Sokrates diese Frage in der Werkzeug-Analogie freilich nicht explizit stellen, geschweige denn beantworten; aber durch seine Inszenierung von Sokrates’ Zwischenfazit sorgt er dafür, dass sie sich einem aufmerksamen, dem Gang der Untersuchung aus Hermogenes’ Perspektive folgenden Leser aufdrängt. Ein solcher Leser wird sich, wenn er in der Auseinandersetzung mit der Hinführung zur Werkzeug-Analogie den im ersten Kapitel dieser Studie beschriebenen Schritt vom unhaltbaren Starken Konventionalismus zum Schwachen Konventionalismus vollzogen hat, insbesondere fragen, ob und gegebenenfalls wie ein Nomothet durch die Etablierung einer Benennungskonvention aus einer beliebigen Lautfolge einen Namen machen kann, der »zur Belehrung und Die physis, auf die es dabei in erster Linie ankommt, ist die physis des Nennens – denn sie bestimmt, wofür der Name geeignet sein muss. Da das Nennen, wie sich gezeigt hat, für Sokrates eine Weise des zielführenden Umgangs mit den Gegenständen der Wirklichkeit ist, muss eine Benennungskonvention sich zumindest indirekt auch an der physis im Sinne des Gesamtzusammenhangs naturgegebener Tatsachen messen lassen. 85 Sedley bringt diese Pointe gut zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Thus the opposition underlying the debate, as Socrates constructs it, is not to be understood as one between nomos and physis as such, but as one between mere custom on the one hand, and custom founded on nature on the other« (Sedley (2003), 68; vgl. die ausgezeichnete Diskussion dieses Punktes bei Robinson (1955), 230–234). 84
III. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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zur Unterscheidung der ousia« geeignet ist. Das sechste Kapitel dieser Studie wird zeigen, dass ein Leser, der sich unter dieser Fragestellung gründlich mit Sokrates’ Vergleich zwischen der Schöpfung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs in 389d–390a auseinandersetzt, eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen entwickeln kann, die mit dem Schwachen Konventionalismus kompatibel ist – nämlich den Moderaten Naturalismus. So betrachtet, ist die Einführung der Figur des Nomotheten als Fachmann für die Schöpfung von Namen alles andere als eine Nebensächlichkeit: Vielmehr ist sie, so wird im weiteren Verlauf dieser Studie deutlich werden, ein wesentlicher Baustein von Platons Inszenierungsstrategie, die darauf abzielt, seinen Lesern eine adäquate Perspektive auf Namen und ihre Richtigkeit zu verschaffen.
IV. Exkurs: Subjektausdrücke und Eigennamen
Wie im letzten Kapitel nachgewiesen werden konnte, gibt es auf den ersten Blick einen guten Grund, die Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck eines Satzes nur dann als einen Vollzug des Nennens anzuerkennen, wenn sie in der Unterscheidung einer ousia resultiert: Denn nur in diesem Fall kann durch die Äußerung des Satzes eine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden. Ausgeblendet wurde dabei allerdings die Frage, ob es auch sinnvoll ist, die Verwendung eines Namens als Subjektausdruck eines Aussagesatzes an Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens zu messen. Sie soll im gegenwärtigen Kapitel untersucht werden. Dabei wird sich im ersten Abschnitt zeigen, dass der Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat keine Schwierigkeiten für einen Verteidiger dieser Bestimmung mit sich bringt, wohl aber der Unterschied zwischen Eigennamen und generellen Termen. Welche Möglichkeiten es gibt, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, wird im zweiten Abschnitt zu diskutieren sein. Insgesamt haben die folgenden Überlegungen insofern den Charakter eines Exkurses, als sie sich einer Thematik widmen, die Sokrates – aus Gründen, die so gut wie möglich zu rekonstruieren sein werden – in der Werkzeug-Analogie nicht anspricht. Der Sache nach ist ein solcher Exkurs aber zweifellos notwendig, um die Tragfähigkeit von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens zu erweisen – und mithin die Plausibilität der funktionalistischen Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen, die sich, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, aus dieser Bestimmung ergibt.
Die Irrelevanz der Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat
Wie die Passage 385b2–d1 zeigt, nimmt Sokrates eine Perspektive auf den Akt der Verwendung eines Namens als Subjektausdruck eines Satzes ein, aus der sich gar nicht erkennen lässt, wieso die Anwendung seiner normativen Bestimmung des Nennens auf diesen Akt problematisch sein sollte: Denn Sokrates geht offenkundig davon aus, dass bei der Äußerung eines Satzes auch der Subjektausdruck dieses Satzes auf einen Gegenstand angewendet wird, und dass der Satz nur dann wahr sein kann, wenn die Anwendung des Subjektausdrucks auf diesen Gegenstand ›wahr‹ ist. Unter dieser Voraussetzung lässt sich aber das Argument für die These, die Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck eines Satzes sei nur dann als Vollzug des Nennens anzuerkennen, wenn sie in der Unterscheidung einer ousia resultiert, problemlos auf die Verwendung eines Wortes als Subjekt-
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
ausdruck übertragen: Denn würde durch diesen Akt keine ousia herausgegriffen, wäre die Anwendung des Subjektausdrucks auf den betreffenden Gegenstand nicht zu objektiver ›Wahrheit‹ fähig; und damit wäre auch der ganze Satz nicht zu objektiver Wahrheit fähig, weil ja die ›Wahrheit‹ der Anwendung des Subjektausdrucks auf den betreffenden Gegenstand ex hypothesi Bedingung der Wahrheit des ganzen Satzes ist. Wie im ersten Kapitel erläutert wurde, trifft allerdings die Voraussetzung dieses Gedankengangs nicht zu: Der Subjektausdruck eines Satzes wird bei der Äußerung des Satzes nicht auf einen Gegenstand angewendet; ein onoma legein findet in diesem Fall nicht statt. Die Frage ist dementsprechend, inwiefern diese Tatsache die Reichweite oder die Plausibilität der Bestimmung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art einschränkt. Das ist, wohlgemerkt, nicht die Frage nach der Position, die Sokrates im Hinblick auf die Plausibilität und die Reichweite seiner Bestimmung des Nennens im Kratylos vertritt oder nach den manifesten1 Gründen für seine Positionierung: Nach allem, was Sokrates im Kratylos sagt, ergibt sich für ihn aus der Betrachtung des Akts der Verwendung eines Wortes als Subjektausdruck eines Satzes keine Einschränkung der Reichweite oder Plausibilität seiner Bestimmung des Nennens, weil er den in diesem Zusammenhang relevanten Unterschied zwischen der Verwendung eines Wortes als Subjektausdruck und der Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck eines Satzes ausblendet. Ziel dieses Abschnitts ist es daher vielmehr, den sprachphilosophischen Flurschaden abzuschätzen, den die Ausblendung dieses Unterschieds nach sich zieht. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, sich den Unterschied zwischen der Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck und der Verwendung eines Wortes als Subjektausdruck noch einmal am Beispiel eines Satzes wie »Sokrates ist ein Mensch« vor Augen zu führen. Der Name »Mensch« wird bei der Äußerung dieses Satzes auf Sokrates angewendet, um über Sokrates zu sagen, dass er der Art der Menschen angehört beziehungsweise dass ihm die ousia dieser Art zukommt. Dass es Sokrates ist, auf den der Name »Mensch« durch die Äußerung des Satzes angewendet wird, liegt offenbar daran, dass Sokrates durch den Einsatz des Wortes »Sokrates« als derjenige Gegenstand identifiziert wird, auf den sich die Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass zumindest Platon sich zwar des Unterschieds zwischen der Verwendung eines Wortes als Prädikatausdruck eines Satzes und der Verwendung eines Wortes als Subjektausdruck eines Satzes durchaus bewusst ist, aber davon ausgeht, dass dieser Unterschied aus bestimmten anderen Gründen die Reichweite und die Plausibilität der Bestimmung des Nennens in 388b10–c1 nicht einschränkt. In diesem Fall wäre die Ausblendung dieses Unterschieds durch Sokrates vielleicht nur ein Mittel, um auf einem kürzeren Wege zu einem Ergebnis zu kommen, das ansonsten nur auf einem längeren und komplizierteren Weg erreichbar gewesen wäre. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels. 1
IV. Exkurs: Subjektausdrücke und Eigennamen
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getroffene Aussage bezieht. Demzufolge wird aber durch die Äußerung des Satzes das Wort »Sokrates« nicht in einem vergleichbaren Sinne auf Sokrates angewendet wie der Name »Mensch«: Denn um in einem solchen Sinne von einer Anwendung des Wortes auf Sokrates sprechen zu können, müsste unabhängig von der Verwendung dieses Wortes feststehen, auf welchen Gegenstand es durch die Artikulation des Satzes angewendet wird – was offensichtlich nicht der Fall ist.2 Durch die Verwendung des Wortes »Sokrates« wird also ein Gegenstand oder ein pragma herausgegriffen; darin erschöpft sich allem Anschein nach der Beitrag, der durch die Verwendung dieses Wortes zum Vollzug des Aussagens geleitet wird. Wie aus 385e–386e klar hervorgeht und an späterer Stelle (423d–e) auch noch einmal bestätigt wird, sind pragmata und ousiai voneinander zu unterscheiden: Demnach kommt eine ousia einem Gegenstand zu, insofern er einer bestimmten Art von Gegenständen angehört, und kann deswegen nicht mit ihm identisch sein. Wenn also durch den Einsatz des Wortes »Sokrates« nur Sokrates als derjenige Gegenstand herausgegriffen wird, auf den sich der Satz »Sokrates ist ein Mensch« bezieht, wird mit diesem Wort jedenfalls nicht die Unterscheidung einer ousia vollzogen – und dementsprechend, wenn man von Sokrates’ Bestimmung des Nennens ausgeht, auch nicht die Handlung des Nennens. Das aber scheint zu bedeuten, dass bei dem Versuch, durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd« eine Aussage zu treffen, eine Teilhandlung des Aussagens nicht vollzogen wird und daher der gesamte Versuch, eine Aussage zu treffen, als gescheitert gelten muss. Wenn diese Überlegung stichhaltig ist, hat Sokrates’ Bestimmung des Nennens extrem kontraintuitive, ja nachgerade absurde Konsequenzen. Diese Konsequenzen ergeben sich allerdings, wie eine genauere Betrachtung zeigt, dem soeben skizzierten Argument zufolge nicht daraus, dass diese Bestimmung nicht auf den Akt der Verwendung eines Wortes als Subjektausdruck eines Satzes passt. Das wird an einem Satz wie »Kratylos ist Sokrates« deutlich, durch dessen Äußerung (fälschlicherweise) von Kratylos behauptet wird, er sei mit Sokrates identisch. Denn in einem solchen Satz ist »Sokrates« aus grammatikalischer Perspektive Teil des Prädikats »ist Sokrates«. Durch die Verwendung von »Sokrates« wird aber auch in diesem Fall keine ousia herausgegriffen, sondern der Gegenstand Sokrates; und durch die Äußerung des ganzen Satzes wird behauptet, dass die beiden Gegenstände Kratylos und Sokrates zueinander in der Relation der Identität stehen.3 Wo auch immer in einem Satz ein Eigenname verwendet wird, scheint er also nicht der Unterscheidung einer ousia zu dienen.
2 3
Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels. Siehe 136 Anm. 53 und 198 Anm. 20 zu Relationen und Relationsausdrücken.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Angesichts dieses Befundes liegt es nahe, die Gegenprobe zu machen und sich zu fragen, inwiefern die Tatsache, dass ein Name, der kein Eigenname ist, auch als Subjektausdruck eines Satzes fungieren kann, Schwierigkeiten für die Bestimmung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art aufwirft. Völlig unproblematisch sind in dieser Hinsicht Sätze wie »Das Pferd ist ein vierfüßiges Säugetier« oder »Das Gerechte ist das Tun des Seinigen«, durch deren Äußerung eine ti esti-Frage (ganz oder teilweise) beantwortet wird; denn der Subjektausdruck solcher Aussagesätze dient, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, ja gerade dazu, eine ousia zum Thema zu machen, die im alltäglichen Sprechen unthematisch bleibt.4 Größere Schwierigkeiten scheinen auf den ersten Blick Sätze wie »Pferde sind Lebewesen« mit sich zu bringen. Denn bei einer oberflächlichen Betrachtung kann man leicht den Eindruck gewinnen, durch den Einsatz des Namens »Pferd« werde in einem solchen Satz eine Reihe von Gegenständen herausgegriffen – ganz so, als leiste dieser Name einen Beitrag zu der durch die Äußerung des Satzes getroffenen Aussage, der auch durch die Verwendung einer Reihe von Eigennamen geleistet werden könnte. Unter dieser Voraussetzung würde durch die Äußerung des gesamten Satzes dieselbe Behauptung aufgestellt wie durch die Äußerung des Satzes »Bukephalos und … und Fury sind Lebewesen«, der durch die Verwendung entsprechender Eigennamen alle Pferde aufzählt und sie als Lebewesen charakterisiert. Demzufolge würde man durch die Äußerung der beiden Sätze »Alle N1 sind P« und »Alle N2 sind P« genau dann dieselbe Aussage treffen, wenn die Klasse der Gegenstände, auf die der Name »N1« korrekterweise angewendet werden kann, mit der Klasse der Gegenstände zusammenfällt, auf die der Name »N2« korrekterweise angewendet werden kann. Da aber die Koextensionalität der beiden Namen eine völlig kontingente Tatsache sein kann, werden ohne jeden Zweifel durch zwei Sätze dieser Form zwei verschiedene Aussagen getroffen.5 Durch die Äußerung des Satzes »Pferde sind Lebewesen« kann demnach nicht dieselbe Aussage getroffen werden wie durch die Äußerung des Satzes »Bukephalos und … und Fury sind Lebewesen«. Wie aber ist der Satz »Pferde sind Lebewesen« dann zu verstehen? Aus der Perspektive der von Frege in seiner Begriffsschrift begründeten modernen Logik hat die durch die Äußerung dieses Satzes getroffene Aussage die logische Form einer konditionalen Allaussage: Mit dem Satz wird demnach nicht Bezug auf Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels. Eine so scharfsinnige wie gründliche Auseinandersetzung mit der in der Geschichte der (Sprach-)Philosophie weit verbreiteten Tendenz, die Relation zwischen einem allgemeinen Terminus und den Gegenständen, auf die er zutrifft, nicht klar genug gegen die Relation zwischen einem Eigennamen und seinem Referenten abzugrenzen, bietet Geach (1962). Vgl. auch die kritischen Überlegungen zum undifferenzierten Umgang mit dem Begriff ›Referenz‹, der zur Verdeckung der Unterschiede zwischen diesen Relationen führt, bei Alston (2012). 4 5
IV. Exkurs: Subjektausdrücke und Eigennamen
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alle Pferde genommen, um über sie zu sagen, dass sie Lebewesen sind; vielmehr wird gesagt, dass für jeden Gegenstand gilt, dass er ein Lebewesen ist, wenn er ein Pferd ist: ∀x(x ist ein Pferd → x ist ein Lebewesen). Der – auch von Frege selbst betonte6 – Clou dieser Analyse liegt darin, dass sie die logische Irrelevanz der grammatischen Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat augenfällig macht: Der Beitrag, der durch die Verwendung des Namens »Pferd« zur Handlung des Aussagens geleistet wird, ist nicht prinzipiell von dem verschieden, der durch die Verwendung des Namens »Lebewesen« geleistet wird. Wenn die Überlegungen des letzten Kapitels stichhaltig sind, gibt es vor dem Hintergrund dieser Analyse aber auch einen guten Grund, anzunehmen, dass durch die Äußerung des Satzes »Pferde sind Lebewesen« nur dann die Handlung des Aussagens vollzogen werden kann, wenn durch den Einsatz des Namens »Pferd« (ebenso wie durch den Einsatz des Namens »Lebewesen«) eine ousia herausgegriffen wird: Denn die durch den Satz » ∀x(x ist ein Pferd → x ist ein Lebewesen)« getroffene Allaussage ist genau dann zu objektiver Wahrheit fähig, wenn für jeden einzelnen Gegenstand X durch den Satz »X ist ein Pferd → X ist ein Lebewesen« eine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen wird. Das wiederum kann nur dann der Fall sein, wenn für jeden Gegenstand X die durch die Äußerung des Satzes »X ist ein Pferd« getroffene Aussage zu objektiver Wahrheit fähig ist7 – was wiederum der Argumentation des vorangehenden Kapitels zufolge nur dann der Fall ist, wenn durch den Namen »Pferd« eine ousia herausgegriffen wird.8 Auf eine ganz ähnliche Weise lässt sich auch dafür argumentieren, dass durch die Verwendung des Namens »Pferd« in einem Satz wie »Manche Pferde werden mindestens einmal in ihrem Leben von einem großen Philosophen umarmt« die ousia der Art der Pferde herausgegriffen wird. Aus der Perspektive der modernen Logik würde man die durch die Äußerung dieses Satzes getroffene Aussage nämlich als eine Existenzaussage der Form »∃x (x ist ein Pferd und x wird mindestens einmal in seinem Leben von einem großen Philosophen umarmt)« rekonstruieren; und man wird annehmen können, dass eine solche Existenzaussage nur dann zu objektiver Wahrheit fähig ist, wenn Aussagen der Form »X ist ein Pferd« zu objektiver Wahrheit fähig sind – was wiederum unter Platonischen Vorzeichen Frege (1879), 17; Frege (1892a), 197 f. Freilich behauptet man durch die Äußerung des Satzes »Pferde sind Säugetiere« nicht die Wahrheit irgendeines Satzes der Form »X ist ein Pferd«, sondern eben nur die Wahrheit aller Sätze der Form »Wenn X ein Pferd ist, so ist X ein Säugetier«. Das aber bedeutet, dass bei der Äußerung des Satzes »Pferde sind Säugetiere« mit dem Namen »Pferd« die Handlung des onoma legein ebenso wenig durchgeführt wird wie mit dem Namen »Säugetier«: Keiner dieser beiden Namen wird auf einen oder gar auf jeden Gegenstand angewendet. Vgl. dazu Anm. 9. 8 Auch diese These muss noch in einer Hinsicht eingeschränkt werden, wie der dritte Abschnitt des nächsten Kapitels zeigen wird. 6 7
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nur dann der Fall sein kann, wenn durch den Namen »Pferd« eine ousia herausgegriffen wird. Man wird freilich sofort einwenden, Platon sei nicht Frege und der Kratylos nicht die Begriffsschrift, und geltend machen, dass die skizzierte Begründung für die These, auch durch den Subjektausdruck eines Satzes müsse – zumindest dann, wenn es sich nicht um einen Eigennamen handelt – eine ousia herausgegriffen werden, wenn durch die Artikulation des ganzen Satzes eine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden soll, völlig außerhalb des Platonischen Horizonts liegt. Dieser Einwand hat insofern seine Berechtigung, als Platon einen Satz wie »Pferde sind Lebewesen« sicherlich nicht als Ausdruck einer konditionalen Allaussage gedeutet hätte. Was Platon aber durchaus hätte sehen können, ist, dass der Wahrheitswert der durch die Äußerung dieses Satzes getroffenen Aussage davon abhängt, auf welche Gegenstände der Name »Pferd« korrekterweise angewendet werden kann, oder für welche Gegenstände X der Satz »X ist ein Pferd« wahr ist, weil es korrekt sein muss, den Namen »Lebewesen« auf diese Gegenstände anzuwenden, damit die getroffene Aussage wahr ist. Das hätte ihm einen guten Grund gegeben, anzunehmen, dass durch die Verwendung des Namens »Pferd« in dem Satz »Pferde sind Lebewesen« genauso eine ousia herausgegriffen werden muss wie durch seine Verwendung in einem Satz der Form »X ist ein Pferd«. Offenkundig ist dies nicht die Begründung für diese Forderung, die sich aus Sokrates’ Annahme ergibt, auch der Subjektausdruck eines Satzes werde durch die Artikulation des Satzes auf Gegenstände angewendet.9 Es ist daher nicht zu leugnen, dass sich aus Sokrates’ Ausführungen im Kratylos keine gute Begründung für diese Forderung rekonstruieren lässt. Aber in diesem Abschnitt ist es darum zu tun, den Schaden abzuschätzen, der sich aus dieser Diagnose im Hinblick auf die Reichweite und Plausibilität der Bestimmung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art ergibt. Und diesbezüglich kann eine zumindest partielle Entwarnung gegeben werden: Durch die Verwendung eines Namens wie »Pferd« in Sätzen wie »Pferde sind Lebewesen« und »Manche Pferde werden mindestens einmal in ihrem Leben von einem großen Philosophen umarmt« muss, wenn die durch die Äußerung des Satzes getroffene Aussage im Sinne Platons zu Tatsächlich wird ja der Name »Pferd« bei der Äußerung eines solchen Satzes auch nicht auf Gegenstände angewendet, die Handlung des onoma legein mit ihm also nicht vollzogen (vgl. Anm. 7). Hier zeigt sich, dass es sich, um mit Frege zu sprechen, beim onomazein um eine Teilhandlung des Formulierens eines zu objektiver Wahrheit fähigen Gedankens handelt, die von der Handlung des Behauptens der Wahrheit dieses Gedankens unterschieden werden muss (vgl. Anm. 32 im vorangegangenen Kapitel). Auch unter dieser Voraussetzung lässt sich aber, wie die obigen Überlegungen zeigen, die Bestimmung der Aufgabe des Namens als Unterscheidung der ousia einer Art rechtfertigen. 9
IV. Exkurs: Subjektausdrücke und Eigennamen
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objektiver Wahrheit fähig sein soll, eine ousia herausgegriffen werden. Bei der Äußerung solcher Sätze muss daher tatsächlich sowohl durch die Verwendung des Subjekt- als auch durch die Verwendung des Prädikatausdrucks eine Handlung vollzogen werden, die der normativen Bestimmung des Nennens in 388b10– c1 entspricht, wenn insgesamt die Handlung des Aussagens vollzogen werden soll. Es gibt ohne Zweifel noch zahllose andere Formen von Sätzen, in denen ein Name wie »Pferd« den Subjektausdruck bildet oder Teil des Subjektausdrucks ist;10 und es soll hier gar nicht erst der Versuch unternommen werden, all diese Formen zu sichten und die Frage zu untersuchen, wie sich ihre logische Struktur unter der Annahme rekonstruieren lässt, durch die Verwendung des Namens als (Teil des) Subjektausdruck(s) werde eine ousia herausgegriffen. Eine solche Kasuistik wäre nicht nur deswegen wenig lohnend, weil die beiden für eine wissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit unverzichtbaren Satzformen – nämlich Allsätze und Existenzsätze11 – bereits besprochen wurden und keine Schwierigkeiten für Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens bereithalten; sie würde vor allem auch von dem zentralen Problem für einen Verteidiger dieser Bestimmung ablenken, das inzwischen offen zutage liegt. Wie bereits vermutet, liegt dieses Problem eben nicht darin, dass Sokrates’ normative Bestimmung des Nennens sich nicht sinnvollerweise auf den Einsatz von Namen als Subjektausdruck von Aussagesätzen anwenden lässt, sondern darin, dass sie es unmöglich macht, die Verwendung eines Eigennamens als Vollzug des Nennens anzuerkenSo gibt es beispielsweise Sätze wie »Pferde sind vierbeinig« oder »Pferde sind geduldig«, durch deren Äußerung man keine konditionale Allaussage im strikten Sinne aufstellen, sondern vielmehr sagen würde, dass Pferde in der Regel oder typischerweise vierbeinig oder geduldig sind; denn man würde diese beiden Sätze sicherlich nicht als falsch bewerten, wenn man erfährt, dass es ein ungeduldiges, dreibeiniges Pferd gibt. Einen ganz ähnlichen Sinn haben die in Thompson (2008), 63–82, ausführlich diskutierten »natural historical judgments« wie »Die Eule ist ein nachtaktives Tier«. Ein genereller Term wie »Pferd« kann auch eingesetzt werden, um in Sätzen wie »Dieses Pferd ist geduldig« oder »Mein Pferd ist geduldig« im Verbund mit einem Demonstrativ- oder Possessivpronomen einen einzelnen Gegenstand herauszugreifen. Auch in diesem Fall werden durch den Einsatz des Namens »Pferd« nicht alle Pferde herausgegriffen; vielmehr scheint auch hier die Art der Pferde unterschieden zu werden, um einen bestimmten Gegenstand über seine Zugehörigkeit zu dieser Art herausgreifen zu können. Es ist allerdings, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, zuzugeben, dass sich die Forderung, durch die Verwendung eines generellen Terms müsse eine von einer ousia zusammengehaltene Art von Gegenständen herausgegriffen werden, nicht halten ließe, wenn generelle Terme in erster Linie auf diese Weise eingesetzt würden. 11 Für Platon sind freilich aller Wahrscheinlichkeit nach Sätze wie »Das Gerechte ist das Tun des Seinigen« beziehungsweise die mit ihnen getroffenen Aussagen von deutlich größerer Bedeutung als Sätze der Form »(Alle) Pferde sind Lebewesen« und »Manche Pferde sind geduldig«, deren Stellenwert nur vor dem Hintergrund einer ausgearbeiteten Syllogistik erkennbar wird. 10
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
nen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Verwendung als Subjektoder als (Teil des) Prädikatausdruck(s) handelt. Dieses Verdikt beruht auf der Annahme, dass durch den Einsatz eines Eigennamens nur ein Gegenstand, nicht aber eine ousia herausgegriffen wird. Will man Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens verteidigen, kann es daher naheliegend scheinen, diese Annahme in Zweifel zu ziehen. Ist es, so könnte man in diesem Sinne fragen, wirklich völlig undenkbar, dass durch die Verwendung eines Eigennamens wie »Kratylos« im Kontext eines Satzes wie »Kratylos ist ein Mensch« eine ousia herausgegriffen wird und damit auch die Art der Gegenstände, denen diese ousia zukommt? Es müsste sich freilich um eine ousia handeln, die nur einem einzigen Gegenstand zukommt, wenn gewährleistet sein soll, dass durch die Äußerung des Satzes »Kratylos ist ein Mensch« genau dann eine wahre Aussage getroffen wird, wenn ein bestimmter Gegenstand – nämlich Kratylos – ein Mensch ist; aber warum sollte es keine ousiai geben, die nur einem einzigen Gegenstand zukommen? Unter dieser Voraussetzung würde durch die Verwendung des Namens »Kratylos« in dem Satz »Kratylos ist ein Mensch« ebenso wenig Kratylos herausgegriffen wie durch die Verwendung des Namens »Pferd« in dem Satz »Pferde sind Lebewesen« Fury, Bukephalos und alle anderen Pferde herausgegriffen werden; vielmehr würde durch die Äußerung jenes Satzes eine konditionale Allaussage der Gestalt » ∀x(x kommt die ousia der Art des Kratylos zu → x ist ein Mensch)« oder aber eine Existenzaussage der Gestalt »∃x(x kommt die ousia der Art des Kratylos zu ∧ ∀y(y kommt die ousia der Art des Kratylos zu → y = x) ∧ x ist ein Mensch)«12 getroffen.13 Es ist allerdings vollkommen unklar, wie man sich beispielsweise die ousia vorzustellen hat, die Kratylos und nur Kratylos zukommen soll. Wenn man eine solche ousia ansetzt, geht man davon aus, dass es eine bestimmte Bedingung gibt, die ein Gegenstand genau dann erfüllt, wenn es sich bei diesem Gegenstand um Kratylos handelt.14 Aber was sollte das für eine Bedingung sein? Wie sähe eine Definition aus, durch die diese Bedingung expliziert und die Frage ti 12 In Russell (1905) und Russell (1910/11) wird eine ähnliche Analyse von Sätzen wie »Kratylos ist ein Mensch« entwickelt: Demnach gibt es eine komplexe Beschreibung bzw. einen offenen Satz »D(x)«, so dass gilt, dass der Satz »Kratylos ist ein Mensch« nur ein verkürzter Ausdruck für diejenige Proposition ist, die der Satz »∃x(D(x) ˄ ∀y(D(y) → x = y) ˄ x ist ein Mensch)« zum Ausdruck bringt. 13 Es ist unklar, ob man auch trägerlosen Namen wie »Sherlock Holmes« ousiai entsprechen lassen kann. Wenn man es tut, wird die Einschätzung des Wahrheitswerts eines Satzes wie »Sherlock Holmes ist ein Mensch« davon abhängen, ob man ihn als »∀x(x kommt die ousia der Art des Sherlock Holmes zu → x ist ein Mensch)« oder als »∃x(x kommt die ousia der Art des Sherlock Holmes zu ˄ ∀y(y kommt die ousia der Art des Sherlock Holmes zu → y = x) ˄ x ist ein Mensch)« interpretiert. 14 Kratylos dürfte diese Bedingung nicht bloß kontingenterweise erfüllen. Denn ansonsten
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esti Kratylos? beantwortet würde? Es scheint eine extrem gewagte These zu sein, dass sich eine solche ti esti-Frage überhaupt beantworten lässt; ganz sicher ist es keine These, der Platon zustimmen würde.15 Zudem gibt es zwar durchaus einen Grund für die Annahme, dass alle Pferde eine gemeinsame ousia haben – nämlich die Erklärungsbedürftigkeit der Ähnlichkeit der Pferde untereinander –, aber eben keinen entsprechenden Grund für die Annahme, dass Kratylos eine ousia zukommt, die keinem anderen Gegenstand zukommt. Wenn nichts für die Ansetzung einer solchen ousia spricht als der Wunsch, die Anwendbarkeit von Sokrates’ Bestimmung des Nennens auf den Akt der Verwendung eines Eigennamens sicherzustellen, sollte man sich offenbar eher dieses Wunsches entschlagen als mit dem Postulat von ousiai individueller Gegenstände ein asylum ignorantiae bereitzustellen.16 Aber ist es tatsächlich unmöglich, eine Bedingung anzugeben, die von Kratylos und nur von Kratylos erfüllt wird? Könnte es sich nicht um die Bedingung handeln, mit Kratylos identisch zu sein? Und könnte man in diesem Fall nicht doch behaupten, dass durch die Verwendung des Eigennamens »Kratylos« eine ousia beziehungsweise eine Seinsweise herausgegriffen wird – nämlich das MitKratylos-identisch-Sein? In diesem Fall hätte man den Satz »Kratylos ist ein Mensch« im Sinne von » ∀x(x ist identisch mit Kratylos → x ist ein Mensch)« oder »∃x(x ist identisch mit Kratylos ∧ x ist ein Mensch)«17 aufzufassen. Freilich erkennt man an dieser Paraphrase sofort, wieso es nicht sinnvoll ist, das Herausgreifen des Mit-Kratylos-identisch-Seins zur Aufgabe des Eigennamens »Kratylos« zu erklären: Denn in den Sätzen » ∀x(x ist identisch mit Kratylos → x ist ein Mensch)« und »∃x(x ist identisch mit Kratylos ∧ x ist ein Mensch)« wird dieser Eigenname ja schließlich auch verwendet und dient ganz offensichtlich einzig und allein dazu, einen Gegenstand – nämlich Kratylos – herauszugreifen. Es bleibt also dabei: Gemessen an Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens kann die Verwendung eines Eigennamens wie »Kratylos« in Sätzen wie »Kratylos ist ein Mensch« oder »Sokrates ist Kratylos« nicht als Vollzug des Nennens gelten. Wie bereits erläutert wurde, ist das auf den ersten Blick ein hochgradig problematisches Ergebnis: Denn es scheint zu implizieren, dass ein Sprecher, der derartige Sätze äußert, eine unverzichtbare Teilhandlung des Aussagens nicht könnte ein Gegenstand auch dann zur Art des Kratylos gehören, wenn er die Bedingung nicht erfüllte – was bei der ousia einer Art offenbar ausgeschlossen ist. 15 Dass sich eine überzeugende metaphysische Begründung für die Ablehnung dieser These aus der Diskussion der chôra im Timaios (48e–52d) gewinnen lässt, zeigt Beere (2016). 16 Auch Silverman (2002), 87, hält fest, dass (materielle) Einzeldinge für Platon keine ousia haben können. 17 Die Interpretation ∃x(x ist identisch mit Kratylos ˄ ∀y(y ist identisch mit Kratylos → y = x) ˄ x ist ein Mensch)« wäre aufgrund der Transitivität der Identitätsrelation offenkundig redundant.
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vollzieht und dementsprechend mit seinem Versuch, eine Aussage zu treffen, scheitert. Der nächste Abschnitt wird sich der Frage widmen, ob und gegebenenfalls wie sich die normative Charakterisierung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art in Anbetracht dieses Problems der Eigennamen verteidigen lässt. Einstweilen gilt es aber, das positive Resultat der Überlegungen des vorliegenden Abschnitts nicht aus dem Blick zu verlieren: Schließlich konnte gezeigt werden, dass es – anders, als man zunächst erwarten würde – durchaus sinnvoll ist, die Verwendung eines generellen Terms unabhängig davon, ob er als Subjektoder als Prädikatausdruck eines Aussagesatzes fungiert, an Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens zu messen. Der Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat ist also in dieser Hinsicht nicht von Belang – ein genereller Term muss, welche Rolle auch immer er in einem Aussagesatz spielt, eine ousia herausgreifen, wenn durch die Äußerung des gesamten Satzes eine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden soll. Die Anerkennung dieses von Sokrates ignorierten Unterschieds ändert also nichts an der Plausibilität der These, dass mindestens alle generellen Terme den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen müssen.
Das Problem der Eigennamen
Wenn durch die Verwendung eines Eigennamens keine ousia herausgegriffen wird, scheint sich Sokrates’ normative Bestimmung des Nennens leicht ad absurdum führen zu lassen – denn man könnte aus ihr unter dieser Voraussetzung, wie im letzten Abschnitt erläutert wurde, allem Anschein nach im Handumdrehen ableiten, dass durch die Äußerung eines Satzes wie »Kratylos ist ein Mensch« die Handlung des Aussagens nicht vollzogen wird. Dieser Gedankengang ist fraglos sehr suggestiv. Bei näherer Überlegung scheint es für einen Verteidiger von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens allerdings einen bequemen Weg zu geben, die skizzierte reductio ad absurdum auszuhebeln. Das wird dann erkennbar, wenn man eine Variante dieser reductio betrachtet, die sicherlich niemanden im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte davon abhalten würde, an Sokrates’ Bestimmung festzuhalten: Man sehe also für einen Moment davon ab, dass Platon vermutlich keine adäquate Konzeption der logischen Verknüpfung von Aussagegehalten hatte,18 und lege sich den Satz »Sokrates ist ein Sophist oder Sokrates ist ein Philosoph« vor, der genau dann wahr ist, wenn mindestens einer der Sätze »Sokrates ist ein Sophist« und »Sokrates ist ein Philosoph« wahr ist. Durch die Verwendung des Wortes »oder« wird nun sicherlich ein wichtiger Beitrag zu der 18
Vgl. dazu die Überlegungen im dritten Abschnitt des anschließenden Kapitels.
IV. Exkurs: Subjektausdrücke und Eigennamen
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Handlung des Aussagens geleistet, die durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Sophist oder Sokrates ist ein Philosoph« vollzogen wird – durch die Verwendung dieses Wortes werden zwei Aussagegehalte disjunktiv verknüpft. Insofern wird durch den Einsatz von »oder« im Kontext eines Satzes eine Teilhandlung des Aussagens vollzogen. Aber offenkundig kann nicht davon die Rede sein, dass diese Teilhandlung die Unterscheidung der ousia einer Art ist; und daher wird man auch nicht behaupten können, es sei die Handlung des Nennens, die durch den Einsatz des Wortes »oder« vollzogen wird. Überträgt man stur das Argumentationsmuster der skizzierten reductio auf diesen Fall, wird man die Verwendung von »oder« als einen gescheiterten Versuch, die Handlung des Nennens zu vollziehen, einstufen, und dementsprechend zu der absurden Schlussfolgerung gelangen, durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Sophist oder Sokrates ist ein Philosoph« könne die Handlung des Aussagens nicht vollzogen werden.19 Es ist offensichtlich, was mit einer solchen reductio nicht stimmt: Die Annahme, das Nennen sei eine Teilhandlung des Aussagens, die vollzogen werden muss, damit das Aussagen vollzogen werden kann, impliziert nicht, dass der Vollzug des Aussagens nicht auch den Vollzug anderer Teilhandlungen involvieren kann – wie etwa die Teilhandlung der disjunktiven Verknüpfung von Aussagegehalten. Dass mit bestimmten Wörtern nicht die Handlung des Nennens vollzogen werden kann, heißt also nicht, dass man ihre Verwendung als gescheiterten Versuch einstufen muss, diese Handlung zu vollziehen; es kann auch heißen, dass ihr Einsatz dem Vollzug einer anderen Handlung dient. Es ist daher ebenso lächerlich, das Wort »oder« zu einem unbrauchbaren Namen zu erklären, wie einen funktionstüchtigen Hammer zu einer unbrauchbaren kerkis: Denn damit mäße man sie an ihrer Tauglichkeit für eine Aufgabe, für die sie gar nicht gedacht sind. Der Fall der Verwendung eines Eigennamens wie »Kratylos« ist freilich etwas anders gelagert: Denn in Platons Griechisch ist ein Eigenname, anders als ein Wort wie »oder«, ganz selbstverständlich ein onoma; und man würde daher davon ausgehen, dass es die Handlung des onomazein sein muss, die durch die Verwendung eines Eigennamens vollzogen wird, und nicht irgendeine andere Handlung. Der Sache nach wäre es aber durchaus angemessen, zwei Teilhandlungen unterschiedlichen Typs voneinander abzugrenzen, die vollzogen werden, wenn durch die Äußerung eines Satzes wie »Kratylos ist ein Mensch« eine Es kann natürlich sein, dass durch die Äußerung dieses speziellen Satzes die Handlung des Aussagens tatsächlich nicht vollzogen wird, weil der Satz »Sokrates ist ein Sophist« oder der Satz »Sokrates ist ein Philosoph« nicht zu objektiver Wahrheit im Sinne Platons fähig ist. Die Absurdität der Schlussfolgerung liegt aber darin, dass sie sich aus dem skizzierten Argument für jeden Satz der Form »p oder q« ableiten lässt – auch dann, wenn garantiert ist, dass sowohl »p« als auch »q« zu objektiver Wahrheit fähig sind. 19
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Aussage getroffen wird: Zum einen die Unterscheidung einer ousia durch den Einsatz des Namens »Mensch«, zum anderen die Unterscheidung eines Gegenstandes durch den Einsatz des Eigennamens »Kratylos«. Man könnte die Ähnlichkeit dieser beiden Unterscheidungsleistungen betonen und dementsprechend eine Lanze dafür brechen, von zwei verschiedenen Spezies desselben generischen Handlungstyps zu sprechen statt von zwei verschiedenen Handlungstypen; 20 aber vielleicht ist das gar nicht ratsam angesichts der gravierenden Unterschiede, die zwischen sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenständen und den stabilen ousiai zu bestehen scheinen, die ihnen zukommen. In jedem Fall aber kann man argumentieren, dass es verfehlt ist, die Verwendung des Namens »Kratylos« im Kontext eines Satzes wie »Kratylos ist ein Mensch« als einen gescheiterten Versuch zu betrachten, durch die Unterscheidung einer ousia zum Vollzug des Aussagens beizutragen: Es handelt sich vielmehr um einen gelungenen Versuch, einen Gegenstand herauszugreifen und als denjenigen festzulegen, auf den sich die getroffene Aussage bezieht. Auch der Vollzug dieser Teilhandlung des Aussagens unterläge vermutlich natürlichen Anforderungen: Denn es ist zumindest eine sehr plausible Annahme, dass die getroffene Aussage nur dann zu objektiver Wahrheit fähig ist, wenn durch den Einsatz des Eigennamens ein real existierender Gegenstand herausgegriffen wird und nicht etwa eine fiktive Person wie Sherlock Holmes oder Odysseus.21 Um Sokrates’ Überlegungen zur natürlichen Richtigkeit der Namen in der Werkzeug-Analogie aus einer modernen sprachphilosophischen Perspektive möglichst wohlwollend zu interpretieren, wäre es also angebracht, sie nur auf generelle Terme zu beziehen und dementsprechend davon auszugehen, dass generelle Terme der natürlichen Anforderung unterliegen, dass sich durch ihre Verwendung im Kontext eines Satzes eine ousia herausgreifen lassen muss. EigenSo etwa Peter Strawson, der in beiden Fällen von der »introduction of a term« sprechen würde, aber zwischen Fällen unterscheidet, in denen ein Einzelding, und Fällen, in denen eine Universalie eingeführt wird: Strawson (1959), 146 f. und passim. 21 Dementsprechend nimmt Frege an, dass ein Satz wie »Sherlock Holmes ist ein Mensch« weder wahr noch falsch ist: Frege (1892b), 32 f. Anders wird man die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit eines solchen Satzes beantworten, wenn man mit Russell (1905) und Russell (1910/11) davon ausgeht, dass es einen offenen Satz »D(x)« gibt, so dass der Satz »Sherlock Holmes ist ein Mensch« nur ein verkürzter Ausdruck für diejenige Proposition ist, die der Satz »∃x(D(x) ˄ ∀y(D(y) → x = y) ˄ x ist ein Mensch)« zum Ausdruck bringt – denn diese Proposition ist objektiv falsch. Auch Frege nimmt freilich an, dass ein Satz wie »Sherlock Holmes ist ein Mensch« Sinn hat und einen Gedanken zum Ausdruck bringt (ebd.) – er muss also keineswegs zugeben, dass ein solcher Satz im selben Sinne bedeutungslos ist wie eine zufällige Lautfolge. Schriebe man Platon die These zu, dass durch die Äußerung eines Satzes wie »Sherlock Holmes ist ein Mensch« die Handlung des Aussagens nicht vollzogen werden kann, sollte man auch eine Antwort auf die Frage bereithalten, was diesen Satz von einer bedeutungslosen Lautfolge unterscheidet. 20
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namen müssten demnach, weil sie zum Vollzug einer anderen Teilhandlung des Aussagens dienen, einer anderen natürlichen Anforderung genügen; sie wären nicht unbrauchbare Werkzeug für das Nennen, sondern Werkzeuge mit anderer Aufgabe. Freilich ist im Kratylos nicht die Spur einer solchen Differenzierung zwischen der Aufgabe eines Eigennamens und der Aufgabe eines generellen Terms zu finden.22 Sokrates beschließt zwar in 397a–b, Namen von Menschen nicht mehr auf ihre natürliche Richtigkeit hin zu überprüfen, weil ihr etymologischer Gehalt seiner Erläuterung zufolge oftmals nur einen Wunsch für die Zukunft des Benannten widerspiegelt;23 aber dabei geht er offenkundig gerade davon aus, dass Eigennamen grundsätzlich derselben Anforderung unterliegen wie generelle Terme, diese aber in aller Regel nicht erfüllen. Da Platons Figuren sowohl im Kratylos als auch in den anderen Dialogen Eigennamen und generelle Terme ohne jeden Ansatz zu einer systematischen Binnendifferenzierung 24 konsequent als onomata bezeichnen, wäre es auch sehr merkwürdig, wenn Sokrates’ Ausführungen zur onomatos orthotês sich nicht auf Eigennamen bezögen. Es mag also zwar tatsächlich einen bequemen Weg geben, Sokrates’ normative Bestimmung des Nennens gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie führe bei der Anwendung auf den Fall der Eigennamen zu absurden Konsequenzen. Aber da Sokrates selbst diesen Weg offenkundig nicht beschreitet, sondern es für sinnvoll zu halten scheint, die Verwendung von generellen Termen und Eigennamen gleichermaßen an dieser Bestimmung zu messen, kommt man dann, wenn man Sokrates nicht als Vertreter einer unmotivierten Extremposition abstempeln möchte, nicht um eine Auseinandersetzung mit der Frage herum, welche philosophischen Gründe es dafür geben könnte, die Verwendung eines Eigennamens nicht als Vollzug einer zweiten Teilhandlung des Aussagens anzuerkennen, sondern sie als einen scheiternden Versuch zu werten, einen Beitrag zur Handlung des Aussagens zu leisten. Dieser Befund schmälert allerdings keineswegs den Wert der Einsicht, dass sich eine reductio ad absurdum von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens durch die Unterscheidung zweier Teilhandlungen des Aussagens problemlos In Soph. 262e4–263a11 kommen der eleatische Fremde und Theaitetos einer solchen Differenzierung nahe. Aber der Fremde operiert nicht mit dem Gegensatz zwischen pragmata und ousiai, sondern mit demjenigen zwischen pragmata und praxeis. 23 Wobei es ihm (vorgeblich) darum geht, den Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung zu demonstrieren. 24 Die Unterscheidung zwischen onomata und rhêmata aus Soph. 262a hat nichts mit einer solchen Binnendifferenzierung zu tun, zählen doch sowohl generelle Terme wie »Pferd« und »Löwe« als auch Eigennamen wie »Theaitetos« als onomata (262b9–c2 und 262e12–263a2); außerdem werden ja die rhêmata nur als eine Unterart der onomata eingeführt (261d1–6). 22
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blockieren ließe. Man sollte diesen Ansatz zur Verteidigung der Bestimmung vielmehr als eine Rückfallstrategie betrachten: Wenn sich kein guter Grund dafür finden lassen sollte, die Verwendung eines Eigennamens als einen gescheiterten Versuch einzustufen, die Handlung des Nennens zu vollziehen, wird man zwar konstatieren müssen, dass Sokrates’ Charakterisierung des Nennens den Eigennamen und ihrer Funktionsweise nicht gerecht wird; aber man wird zumindest daran festhalten können, dass diese Charakterisierung im Hinblick auf generelle Terme völlig adäquat ist und eigentlich nur der Ergänzung durch eine geeignete Charakterisierung der Aufgabe von Eigennamen bedarf. Auch damit wäre eine sehr weitgehende Verteidigung seiner Position gelungen. Im Folgenden sollen nun aber zwei Ansätze zur Beantwortung der Frage diskutiert werden, welchen Grund es dafür geben könnte, die Verwendung eines Eigennamens als einen scheiternden Versuch zu werten, einen Beitrag zur Handlung des Aussagens zu leisten. Der erste Antwortversuch (i) geht von der Beobachtung aus, dass Sokrates im Kratylos anzunehmen scheint, dass Eigennamen sich nicht notwendigerweise nur auf eine Person beziehen, sondern ›wahr von‹ mehreren Personen sein können und sich insofern gar nicht von generellen Termen unterscheiden. Wie sich zeigen wird, ist es auch keineswegs so abwegig, wie es zunächst scheinen mag, Eigennamen in diesem Sinne als verkappte generelle Terme zu konzipieren. Bei einer solchen Konzeption von Eigennamen gäbe es tatsächlich ein klares Motiv dafür, die Verwendung eines Eigennamens als gescheiterten Versuch zu bewerten, die Handlung des Nennens zu vollziehen. Eine genauere Betrachtung wird allerdings zu dem Ergebnis führen, dass dieses Motiv, so nachvollziehbar es auch sein mag, es letztlich doch nicht zu rechtfertigen vermag, die Verwendung von Eigennamen an Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens zu messen. Will man sich daher nicht auf die skizzierte Rückfallstrategie zur Verteidigung dieser Bestimmung verlassen, wird man einen zweiten, radikaleren Ansatz (ii) verfolgen und die scheinbar selbstverständliche Annahme in Frage stellen müssen, durch die Unterscheidung eines einzelnen Gegenstandes könne ein Beitrag zur Formulierung einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage geleistet werden. Am Ende der Diskussion dieser beiden Ansätze wird keine abgesicherte Antwort auf die Frage stehen, wie Platon (oder Sokrates) die Funktion von Eigennamen einschätzt – für eine solche Antwort ist die Indizienlage nicht ausreichend. Wohl aber wird eine Antwort auf die Frage gefunden sein, welche Optionen unter Platonischen Vorzeichen demjenigen zur Verfügung stehen, der die These verteidigen will, die Verwendung eines Eigennamens müsse als gescheiterter Versuch bewertet werden, einen Beitrag zum Vollzug des Aussagens zu leisten.
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(i) Der Unterschied zwischen Eigennamen und generellen Termen scheint deswegen unbestreitbar zu sein, weil ein Eigenname wie »Hermogenes« notwendigerweise ›wahr von‹ genau einem Gegenstand ist,25 während ein genereller Term wie »Pferd« in aller Regel ›wahr von‹ mehreren Gegenständen, aber jedenfalls nicht notwendigerweise ›wahr von‹ nur einem Gegenstand ist.26 Es gibt aber im Kratylos eine Passage, die Zweifel daran weckt, ob Sokrates diese Annahme teilt. In 391b–394d, also im direkten Anschluss an die Werkzeug-Analogie, versucht Sokrates nämlich einen Ansatz zur Beantwortung von Hermogenes’ Frage zu finden, worin die natürliche Richtigkeit der Namen bestehe, und untersucht zu diesem Zweck die Gründe für die angeblich 27 von Homer in seiner Ilias zum Ausdruck gebrachte Einschätzung, »Astyanax« sei ein richtiger Name für den Sohn von Hektor, dem Beschützer Trojas. Dabei gelangt er zu der Hypothese, »Astyanax« sei aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für einen Stadtherren – ebenso, wie »Eupolemos« ein richtiger Name für einen Strategen und »Iatrokles« ein richtiger Name für einen Arzt sei. Sokrates scheint also nicht anzunehmen, dass Eigennamen wie »Astyanax«, »Eupolemos« oder »Iatrokles« richtige Namen und damit ›wahr von‹ jeweils nur einer Person sind, sondern vielmehr, dass sie ›wahr von‹ allen Personen sind, auf die ihr etymologischer Gehalt passt.28 Nun sind, wie das achte Kapitel dieser Studie im Detail nachweisen wird, Sokrates’ Ausführungen in 391b–394e gespickt mit Ungenauigkeiten und Fehlern, die viel zu auffällig sind, um Platon guten hermeneutischen Gewissens die These zuschreiben zu können, ein Name wie »Astyanax« sei aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für alle Stadtherren. Bemerkenswerterweise scheint Platons Inszenierung aber nicht darauf hinzudeuten, dass er diese These deswegen für problematisch hält, weil ein Eigenname wie »Astyanax« notwendigerweise ›wahr von‹ genau einem Gegenstand sein muss – ihm scheint es ausschließlich darauf anzukommen, seinen Lesern die Fragwürdigkeit der Rückführung der Richtigkeit der Namen auf ihren etymologischen Gehalt vor Augen zu führen. Die so klare prinzipielle Unterscheidung zwischen Eigennamen und generellen Termen, die wir zu treffen gewohnt sind, scheint weder in Freilich: Es wird noch viele andere Eigennamen mit derselben Lautgestalt geben, die ›wahr von‹ verschiedenen Personen sind. 26 Es mag freilich generelle Terme wie »allmächtig« geben, die aus bestimmten Gründen notwendigerweise ›wahr von‹ höchstens einem Gegenstand sein können. Aber diese Notwendigkeit ist dann nicht, wie es sich im Fall der Eigennamen zu verhalten scheint, auf die logische Kategorie zurückzuführen, der dieser Term angehört. 27 Dass es enorm fragwürdig es ist, Homer diese Einschätzung zu unterstellen, wird im achten Kapitel noch zu zeigen sein. 28 Er behandelt jeden dieser Namen als onoma tou genous, als Gattungsnamen: S. u., 370 Anm. 41. 25
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der Passage 391b–394e noch auch im weiteren Dialogverlauf eine nennenswerte Rolle zu spielen.29 Die These, es handele sich bei Eigennamen um Terme, die wie klassische Begriffswörter eine Extension haben, die in aller Regel mehrere Gegenstände umfasst, ist keineswegs so absurd, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. In der zeitgenössischen Debatte ist eine solche Position beispielsweise von Tyler Burge vertreten worden, dessen Ansatz inzwischen von vielen anderen Autoren aufgegriffen und modifiziert worden ist.30 Burge formuliert seine zentrale Behauptung folgendermaßen: A proper name is a predicate true of an object if and only if the object is given that name in an appropriate way. […] A proper name is a predicate in its own right. Failure to appreciate this point has stemmed largely from concentrating on singular, unmodified uses of proper names: Alfred studies in Princeton. But proper names take the plural: There are relatively few Alfreds in Princeton. They also take indefinite and definite articles: An Alfred Russell joined the club today. The Alfred who joined the club today was a baboon. And quantifiers: Some Alfreds are crazy; some are sane. Proper names are usually used in singular and unmodified form. But there is nothing ungrammatical about the above sentences.31
Demnach gehören zur Extension des Namens »Sokrates« all diejenigen Gegenstände, denen im Rahmen eines regulären Taufaktes dieser Name gegeben wurde. Will man eine solche Position plausibel machen, muss man freilich erklären, wie es sein kann, dass durch den Einsatz des Namens »Sokrates« in einem Satz wie »Sokrates war der wichtigste Lehrer Platons« offenkundig doch genau ein Gegenstand herausgegriffen wird. Aber das ist nicht unmöglich – auch ein genereller Term kann schließlich eingesetzt werden, um sich auf einen bestimmten Gegenstand zu beziehen: In geeigneten Kontexten ist es möglich, sich mit der Äußerung von Sätzen wie »Das Kind mag seine Geschenke nicht«, »Unser Tannenbaum hat Feuer gefangen« oder »Dieser Weihnachtsmanndarsteller ist eine Zumutung« auf einen Gegenstand zu beziehen, um etwas über ihn zu sagen. Dass man durch die Verwendung des Namens »Sokrates« eine bestimmte Person herausgreifen kann, S. Anm. 41 im achten Kapitel für ähnliche und konkurrierende Diagnosen in der Sekundärliteratur. 30 Siehe etwa Bach (1981), Geurts (1997) und Fara (2015). 31 Burge (1973), 428 f. 29
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könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Verwendung eines Eigennamens in vielen Fällen eine indexikalische Dimension hat, die sich aber, anders als in den Fällen »das Kind«, »unser Tannenbaum« oder »dieser Weihnachtsmanndarsteller«, nicht notwendigerweise im Gebrauch eines Artikels oder eines Possessivoder Demonstrativpronomens niederschlägt.32 Durch einen Eigennamen wird demnach in einer typischen Kommunikationssituation deswegen ein Gegenstand herausgegriffen, weil Sprecher und Hörer einen Bezugsrahmen teilen, zu dem nur ein Träger dieses Eigennamens gehört, so dass klar ist, dass es dem Sprecher um diesen Gegenstand geht.33 Man würde also durchaus nicht gegen das principle of charity verstoßen, wenn man Sokrates angesichts seiner Ausführungen in 391b–394d die Annahme zuschriebe, dass Eigennamen verkappte generelle Terme sind, zu deren Extension alle Träger des Eigennamens (und keine anderen Gegenstände) gehören. Diese Annahme hat zudem phänomenologisch eine gewisse Plausibilität, scheint es doch auf den ersten Blick tatsächlich keinen großen Unterschied zwischen einem Eigennamen wie »Sokrates« und einem generellen Term wie »Löwe« zu geben: Beide Ausdrücke werden schließlich korrekterweise auf bestimmte Gegenstände angewendet, während ihre Anwendung auf alle anderen Gegenstände inkorrekt ist.34 Es ist also durchaus nicht abwegig, Sokrates’ Vergleich der Eigennamen »Astyanax« und »Hektor« mit generellen Termen wie »Löwe« für bare Münze zu nehmen und davon auszugehen, dass er Eigennamen keinen Sonderstatus zuerkennt. Es dürfte nun schon klar sein, welches Motiv es unter dieser Voraussetzung dafür geben könnte, auch die Verwendung von Eigennamen an Sokrates’ normaSo Burge (1973), 432: »Roughly, singular unmodified proper names, functioning as singular terms, have the same semantical structure as the phrase ›that book‹. Unlike other predicates, proper names are usually (though, as we have seen, not always) used with the help of speaker-reference and context, to pick out a particular. For this reason demonstratives are not ordinarily attached to proper names, although, of course, they may be so attached. In general, modifications of proper names occur when the speaker is not relying on them, unsupplemented, to pick out a particular. But whether or not the speaker’s act of reference is explicitly supplemented with a demonstrative like ›this‹ is semantically irrelevant.« 33 Dieses Bild ist insbesondere dann plausibel, wenn man zur Gegenprobe Fälle betrachtet, in denen dem gemeinsamen Bezugsrahmen nicht nur ein Träger des verwendeten Eigennamens angehört. Äußert beispielsweise X gegenüber Y den Satz »Peter ist als Weihnachtsmanndarsteller eine Zumutung«, und kennen X und Y beide mehrere Träger des Namens »Peter«, wäre die natürlich Reaktion von Y die Nachfrage »Welchen Peter meinst du?« 34 Freilich muss man nicht in diesem Sinne davon ausgehen, dass es derselbe Name ist, der korrekterweise auf den Gesprächspartner von Kratylos und Hermogenes im Kratylos und den Gesprächspartner des Eleatischen Fremden im Politikos angewendet werden kann – man kann auch annehmen, dass es sich um einen Fall von Homonymie handelt und man es de facto mit zwei verschiedenen Namen zu tun hat. 32
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
tiver Bestimmung des Nennens als Unterscheidung der ousia einer Art zu messen: Wenn nämlich kein prinzipieller Unterschied zwischen einem Eigennamen wie »Astyanax« und einem generellen Term wie »Mensch« besteht, kann auch kein prinzipieller Unterschied zwischen einem Satz wie »Der Sohn des Hektor ist (ein) Astyanax« und einem Satz wie »Der Sohn des Hektor ist ein Mensch« bestehen; insbesondere würde durch die Äußerung des ersten Satzes keine Identitätsbehauptung aufgestellt,35 sondern die Aussage getroffen, dass der Sohn des Hektor zur Extension des Namens »Astyanax« gehört. Dann aber muss, wenn diese Aussage zu objektiver Wahrheit fähig sein soll, durch die Verwendung des Namens »Astyanax« ebenso eine ousia herausgegriffen werden wie durch die Verwendung des Namens »Mensch« – diese Schlussfolgerung ließe sich nur dann vermeiden, wenn durch »Astyanax« ein Gegenstand herausgegriffen würde, was aber ex hypothesi nicht der Fall ist. Da es aber keine stabile ousia geben dürfte, die allen Trägern des Namens »Astyanax« zukommt, kann durch die Äußerung des Satzes »Der Sohn des Hektor ist (ein) Astyanax« aller Wahrscheinlichkeit nach keine im Sinne Platons zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden, und es schiene durchaus angemessen, die Verwendung des Namens »Astyanax« als einen scheiternden Versuch zu bewerten, durch die Unterscheidung einer ousia einen Beitrag zum Vollzug des Aussagens zu leisten. Es ist angesichts der Passage 391b–394d sehr gut vorstellbar, dass Platon in diesem Sinne keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Eigennamen und generellen Termen sieht und dementsprechend auch gar keinen Grund hat, dem Verhältnis zwischen der normativen Bestimmung der Aufgabe des Namens und der Praxis der Verwendung von Eigennamen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wenn man diese Erklärung seines Vorgehens im Kratylos für plausibel hält, darf man allerdings seine Augen nicht verschließen vor einer entscheidenden Schwäche der gerade skizzierten Begründung für die These, dass auch Eigennamen der von Sokrates in 388b10–c1 formulierten normativen Bestimmung zu genügen haben. Diese Schwäche wird erkennbar, wenn man sich bewusst macht, dass sogar dann, wenn man Eigennamen als verkappte generelle Terme einstuft, daran festzuhalten ist, dass Eigennamen hauptsächlich eingesetzt werden, um bestimmte Gegenstände herauszugreifen.36 Sätze wie »Zu den tausend wichtigsten Persönlichkeiten der englischen Geschichte gehören zwei Francis Bacons« werden, obwohl sie nicht ungrammatikalisch sind, nicht besonders häufig geäußert, und noch viel seltener hat man es mit Sätzen wie »Alle Francis Bacons sind Genies« zu tun; die Regel sind Sätze wie »Francis Bacon war einer der wichtigsten Natürlich könnte auch der Satz »Der Sohn des Hektor ist Astyanax« eine Identitätsaussage zum Ausdruck bringen, wie es beispielsweise der Satz »Dieses Pferd ist mein Pferd« tut; aber das gilt nicht für den Satz »Der Sohn des Hektor ist ein Astyanax«. 36 Vgl. zu diesem Punkt Bach (2015), 778 f. 35
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britischen Maler des 20. Jahrhunderts«, in denen mithilfe des Eigennamens der Bezug auf eine bestimmte Person hergestellt wird. Man könnte sich nun vorstellen, dass auch ein klassischer genereller Term wie »Pferd« auf diese Weise verwendet wird: dass er also hauptsächlich in Sätzen wie »Dieses Pferd ist durstig« oder »Mein Pferd muss zum Tierarzt« eingesetzt wird, um im Verbund mit einem entsprechenden Demonstrativ- oder Possessivpronomen ein bestimmtes Pferd als Gegenstand der betreffenden Aussage herauszugreifen, und nur selten in Sätzen wie »Bukephalos ist ein Pferd« oder »Alle Pferde sind Lebewesen«. Die entscheidende Frage ist nun, ob es in diesem Szenario einen guten Grund gäbe, an der Forderung festzuhalten, durch den Einsatz des Namens »Pferd« müsse sich eine ousia unterscheiden lassen. Man kann darauf verweisen, dass dann, wenn diese Forderung nicht erfüllt ist, durch die Äußerung von Sätzen wie »Bukephalos ist ein Pferd« und »Alle Pferde sind Lebewesen« keine in Platons Sinne zu objektiver Wahrheit fähigen Aussagen getroffen werden könnten. Aber andererseits schiene der Name »Pferd« seine Kernaufgabe nichtsdestoweniger erfüllen zu können: Denn solange die Sprecher der jeweiligen Sprache sich darüber einig sind, welche Gegenstände »Pferd« zu nennen sind und welche nicht, können sie durch Wendungen wie »Mein Pferd« oder »Dieses Pferd« bestimmte Gegenstände herausgreifen – und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Gegenstände eine gemeinsame ousia haben und eine Art bilden. Genau so scheint es sich nun im Fall der Eigennamen de facto zu verhalten: Die verschiedenen Francis Bacons – nicht nur der Philosoph und der Maler, sondern auch alle anderen Träger des Namens – haben sicherlich keine ousia gemeinsam, was bedeutet, dass sich mit dem Satz »Der wichtigste britische Maler des 20. Jahrhunderts war (ein) Francis Bacon« keine in Platons Sinne zu objektiver Wahrheit fähige Aussage treffen lässt. Aber in dem Satz »Francis Bacon war der wichtigste britische Maler des 20. Jahrhunderts« wird der Name »Francis Bacon« nur eingesetzt, um eine Person herauszugreifen, und trägt auf diese Weise zum Vollzug des Aussagens bei. Es wäre daher auch dann verfehlt, Eigennamen an Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens zu messen, wenn sie tatsächlich als verkappte generelle Terme aufzufassen wären – denn es handelte sich eben um generelle Terme, die wie der Name »Pferd« im beschriebenen kontrafaktischen Szenario in erster Linie eingesetzt werden, um (unter Ausnutzung kontextueller Faktoren und nötigenfalls auch unter Einsatz indexikalischer Ausdrücke) einen Gegenstand herauszugreifen. Stellt man sich die Frage, wieso der soeben skizzierte Versuch, durch die Angleichung von Eigennamen an generelle Terme das Problem der Eigennamen zu lösen, zum Scheitern verurteilt ist, wird der eigentliche Kern dieses Problems erkennbar: Sobald man nämlich einräumt, dass nicht nur durch die Unterscheidung einer ousia, sondern auch durch die Unterscheidung eines Gegenstandes ein
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Beitrag zur Formulierung einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage geleistet werden kann, wird man unabhängig davon, ob man Eigennamen als verkappte generelle Terme einstuft oder nicht, auch zugeben müssen, dass Eigennamen zumindest in erster Linie Werkzeuge für den Vollzug dieser zweiten Teilhandlung des Aussagens sind und es daher nicht sinnvoll ist, ihre Verwendung an Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens zu messen. In letzter Analyse gibt es daher nur zwei Möglichkeiten, diese Bestimmung zu verteidigen: Entweder man erkennt die Unterscheidung eines Gegenstandes als eigenständige Teilhandlung des Aussagens an und beschränkt im Sinne der zu Beginn dieses Abschnitts skizzierten Rückfallstrategie den Anwendungsbereich der Charakterisierung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias; oder man bestreitet, dass durch die Unterscheidung eines Gegenstandes ein Beitrag zur Formulierung einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage geleistet wird. Welche Erfolgsaussichten diese zweite, konfrontative Strategie für den Umgang mit dem Problem der Eigennamen unter Platonischen Vorzeichen hat, wird nun zu untersuchen sein. (ii) Auf den ersten Blick scheint man philosophisches Harakiri zu betreiben, wenn man leugnet, dass durch die Verwendung eines Eigennamens wie »Kratylos« in Sätzen wie »Kratylos ist ein Mensch« ein Beitrag zur Formulierung einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage geleistet wird – denn dieser Beispielsatz scheint eben ohne jeden Zweifel zu objektiver Wahrheit fähig zu sein. Das gilt auch für einen Satz wie »Der erste Lehrer Platons war Kratylos«, in dem mit dem Namen »Kratylos« tatsächlich die für Sokrates’ Ansatz zentrale Handlung des onoma legein, die Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand, vollzogen zu werden scheint.37 Was sollte also an Sätzen der Form »X ist Kratylos«, in denen der Eigenname »Kratylos« auf irgendeinen Gegenstand angewendet wird, auszusetzen sein? Durch die Äußerung eines solchen Satzes wird über den jeweiligen Gegenstand gesagt, dass er mit Kratylos identisch ist; und die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand mit Kratylos identisch ist, scheint stets eine objektive Antwort zu haben. Da dieses Verdikt im Fall eines Lebewesens wie Kratylos prima facie tatsächlich enorm plausibel ist, betrachte man stattdessen zunächst den Fall eines Artefakts, für das – aus welchen Gründen auch immer – ein Eigenname eingeführt wird. Man nehme also beispielsweise an, dass der junge, bereits sehr von sich eingenommene Kratylos beim alternden Polyklet eine lebensgroße Bronzestatue seiner selbst in Auftrag gegeben hat, die er direkt nach ihrer Fertigstellung auf den Namen »Solytark« tauft. Wie verhält es sich nun mit Sätzen der Form 37
Vgl. aber Anm. 9.
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»X ist Solytark«? Durch die Äußerung eines solchen Satzes wird offenbar über einen Gegenstand gesagt, dass er mit der von Polyklet gefertigten Bronzestatue identisch ist. Ist eine solche Aussage zu objektiver Wahrheit fähig? Eine positive Antwort auf diese Frage ist sehr naheliegend, wenn man Sätze wie »Sokrates ist Solytark«, »Hermogenes ist Solytark« oder auch »Solytark ist Solytark« vor Augen hat – durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist Solytark« wird, so möchte man dann sagen, genau dann eine objektiv wahre Aussage getroffen, wenn »Solytark« oder ein anderer Eigenname der Statue an die Stelle des »X« tritt, und ein objektiv falscher Satz in allen anderen Fällen. Dass hier die sprachliche Form eine falsche Eindeutigkeit vorgaukelt, lässt sich indessen gut erkennen, wenn man sich vor Augen führt, dass Kratylos’ Statue mit der Zeit Veränderungen durchläuft, die unter Umständen auch sehr radikal ausfallen können – sie kann beispielsweise bei einem Erdbeben schwer beschädigt und dann von einem unbegabten Assistenten des Polyklet notdürftig restauriert werden. Ist es nun objektiv richtig oder objektiv falsch, den Namen »Solytark« auf die schwer beschädigte Statue oder das Ergebnis der Restaurationsbemühungen anzuwenden? Allgemeiner gefragt: Gibt es einen objektiven, von menschlichen Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen unabhängigen Unterschied zwischen Fällen, in denen Solytark als derselbe Gegenstand eine Veränderung durchläuft, und Fällen, in denen Solytark am Ende eines Prozesses nicht mehr existiert?38 Wenn es einen solchen Unterschied nicht gibt, wird man nicht an der Behauptung festhalten können, dass Aussagen, die durch die Äußerung von Sätzen der Form »X ist (identisch mit) Solytark« getroffen werden, unabhängig von menschlichen Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen wahr sein können. Das entscheidende Problem liegt offenkundig darin, dass die von Polyklet geschaffene Statue eine Vielzahl von materiellen Teilen hat, die ohnehin beständigen Mikroveränderungen ausgesetzt sind und mitunter auch von so extremen Prozessen wie einem Erdbeben betroffen sind. Denn wenn die materielle Zusammensetzung eines Gegenstandes nie exakt dieselbe bleibt, wird die Frage drängend, ob es etwas gibt, was die Identität dieses Gegenstandes über die Zeit hinweg garantiert, oder ob es nicht vielmehr einzig und allein unsere Betrachtungsweise ist, die den Eindruck eines persistierenden Gegenstandes erzeugt. Diese Frage ist offenkundig eng mit der Frage verknüpft, ob es etwas gibt, was dafür verantwortlich ist, dass eine Vielzahl von Materialpartien einen Gegenstand bildet, oder ob sich der Eindruck, es mit einem einheitlichen Gegenstand zu tun zu haben, unserer Betrachtungsweise verdankt: Denn wenn die Einheit des Gegenstandes eine Funktion unserer Betrachtungsweise ist, dürfte es sich auch mit dem Erhalt 38 Vgl. zum Umgang mit Fragen zum Verhältnis zwischen Veränderung und Persistenz in der antiken Philosophie Rapp (1995), 59–74.
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dieser Einheit über die Zeit hinweg nicht anders verhalten; wenn aber umgekehrt ein von unserer Betrachtungsweise unabhängiges Prinzip die Einheit des Gegenstandes garantiert, dürfte es auch die Persistenzbedingungen des Gegenstandes bestimmen. Im Hinblick auf Artefakte lässt sich nun mit guten Gründen die These vertreten, dass die Rede von ihrer Einheit und ihrer Identität über die Zeit hinweg kein solches fundamentum in re hat.39 In diesem Fall wird man aber auch davon ausgehen müssen, dass durch die Äußerung von Sätzen der Form »X ist (identisch mit) Solytark« keine Aussagen getroffen werden können, die zu objektiver Wahrheit fähig sind. Es ließe sich demnach also durchaus ein nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisendes Argument für die These konstruieren, dass die Verwendung eines Ausdrucks, den man üblicherweise als Eigennamen für ein Artefakt betrachten würde, als Teil des Prädikatausdrucks eines Satzes dafür sorgt, dass durch die Äußerung des betreffenden Satzes die Handlung des Aussagens nicht vollzogen werden kann; ein Argument noch dazu, das zu der Position Platons, der die philosophischen Herausforderungen, die sich aus den unaufhörlichen Veränderungen im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren ergeben, ohne Zweifel sehr ernst genommen hat, grundsätzlich gut zu passen scheint. Freilich verwendet man nur sehr selten Eigennamen für Artefakte – getauft werden in aller Regel Kinder, nicht Statuen. Im Hinblick auf Lebewesen scheint aber die Rede von ihrer Einheit und ihrer Identität über die Zeit hinweg sehr wohl ein fundamentum in re zu haben: Die Einheit eines Lebewesens ist durch seinen Lebensvollzug garantiert; und das Lebewesen persistiert, solange dieser Lebensvollzug anhält.40 Es nimmt daher nicht wunder, dass in der zeitgenössischen Debatte auch Philosophen, die im Hinblick auf den Einheitscharakter von Artefakten skeptisch sind, in aller Regel41 nicht daran zweifeln, dass es sich bei Lebewesen um Gegenstände handelt, deren Einheit und Persistenz von unserer Betrachtungsweise unabhängig sind.42 Ob allerdings Platon diese verbreitete Van Inwagen (1990), 124–141, argumentiert sogar für die These, dass es Artefakte nicht gibt, und dass Sätze über die Persistenz von Artefakten daher nicht sensu strictu wahrheitsfähig sind. (Freilich nimmt van Inwagen an, dass sich Paraphrasen dieser Sätze finden lassen, die ihrerseits sehr wohl wahrheitsfähig sind.) Hübner (2007), 244–251, schlägt in Anlehnung an Heller (1990) vor, Artefakte als »konventionelle Objekte« zu behandeln, deren »Fortdauer […] Entscheidungssache ist« (245). 40 Dass auch Aristoteles annimmt, dass der kontinuierliche Lebensvollzug das fundamentum in re der Persistenz und Identität eines Lebewesens ist, zeigt überzeugend Hübner (1999). Van Inwagen (1990) greift diesen Aristotelischen Gedanken auf und macht ihn zum Grundstein seiner Ontologie. 41 Eine prominente Ausnahme ist Peter Unger, der beispielsweise in Unger (1979) und Unger (1980) die These vertritt, dass es keine Lebewesen gibt. 42 Dass es außer den Lebewesen keine anderen komplexen materiellen Gegenstände gibt, 39
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Einschätzung teilt, ist eine ganz andere Frage. Die Vermutung, dass er es nicht oder nur mit starken Einschränkungen tut, liegt zumindest nahe angesichts einer berühmten Passage aus dem Symposion, in der Diotima im Gespräch mit Sokrates den erotischen Zeugungstrieb der Tiere als Variante des menschlichen Verlangens nach Unsterblichkeit beschreibt: Denn ganz ebenso wie dort sucht auch hier die sterbliche Natur nach Vermögen, immer zu sein und unsterblich. Sie vermag es aber nur auf diese Art durch die Erzeugung, dass immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt. Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, dass es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, ungeachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und altes verliert an Haaren, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe. […] Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, dass es durchaus immer dasselbe wäre wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes neues solches zurücklässt, wie es selbst war.43
Diotima ist sich sicherlich bewusst, dass man üblicherweise sagen würde, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner Sokrates um ›denselben Menschen‹ handelt wie bei dem Kind, das seine Eltern auf den Namen »Sokrates« getauft haben. Aber wenn man ihre Ausführungen für bare Münze nimmt, ist das eine irreführende Charakterisierung der Sachlage: Denn Diotima scheint anzunehmen, dass sich zwischen der Geburt dieses Kindes und ihrem Gespräch mit dem erwachsenen Sokrates eine Serie von Prozessen abgespielt hat, die nicht als Veränderungen ein und desselben Gegenstandes eingestuft werden sollten, sondern als Genesen eines jeweils neuen, aber seinem Vorgänger durch qualitative Übereinstimmung verbundenen menschlichen Wesens. Was sich für einen Betrachter wie der Fortbestand eines Gegenstandes ausnehmen mag, ist in Wirklichkeit eine lückenlose Kette des Auftretens immer neuer, einander sehr ähnlicher Menschen.
die zu objektiver Persistenz fähig sind, ist bekanntermaßen die zentrale These von Van Inwagen (1990). 43 Symp. 207c9–208b2: Ἐνταῦθα γὰρ τὸν αὐτὸν ἐκείνῳ λόγον ἡ θνητὴ φύσις ζητεῖ κατὰ τὸ δυνατὸν ἀεί τε εἶναι καὶ ἀθάνατος. δύναται δὲ ταύτῃ μόνον, τῇ γενέσει, ὅτι ἀεὶ καταλείπει ἕτερον νέον ἀντὶ τοῦ παλαιοῦ, ἐπεὶ καὶ ἐν ᾧ ἓν ἕκαστον τῶν ζῴων ζῆν καλεῖται καὶ εἶναι τὸ αὐτό – οἷον ἐκ παιδαρίου ὁ αὐτὸς λέγεται ἕως ἂν πρεσβύτης γένηται· οὗτος μέντοι οὐδέποτε τὰ αὐτὰ ἔχων ἐν αὑτῷ ὅμως ὁ αὐτὸς καλεῖται, ἀλλὰ νέος ἀεὶ γιγνόμενος, τὰ δὲ ἀπολλύς, καὶ κατὰ τὰς τρίχας καὶ σάρκα καὶ ὀστᾶ καὶ αἷμα καὶ σύμπαν τὸ σῶμα. […] τούτῳ γὰρ τῷ τρόπῳ πᾶν τὸ θνητὸν σῴζεται, οὐ τῷ παντάπασιν τὸ αὐτὸ ἀεὶ εἶναι ὥσπερ τὸ θεῖον, ἀλλὰ τῷ τὸ ἀπιὸν καὶ παλαιούμενον ἕτερον νέον ἐγκαταλείπειν οἷον αὐτὸ ἦν. Die zitierte Übersetzung ist diejenige Schleiermachers.
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In diesem Fall wird man aber, wenn man nicht davon ausgehen möchte, dass jede noch so minimale Veränderung streng genommen als Genese eines neuen Menschen beschrieben werden müsste, kaum annehmen können, dass es einen objektiven Unterschied gibt zwischen Fällen, in denen ein und derselbe Mensch eine Veränderung durchläuft, und Fällen, in denen ein Prozess das Ende der Existenz eines Menschen und den Beginn der Existenz eines anderen Menschen bedeutet. Woran sollte sich dieser Unterschied schließlich festmachen lassen? An der Zahl der Haare, die der Mensch im Zuge eines Prozesses verliert, oder der Zahl der Blutkörperchen, die neu produziert werden? Die Persistenz des Lebewesens droht zu einer Frage der Betrachtungsweise zu werden, wenn sie nicht durch die Kontinuität des Lebensvollzugs garantiert ist: Es stünde dann nicht unabhängig von unseren Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen fest, ob Diotima am Ende ihrer Rede über den eros noch mit demselben Menschen spricht wie zu Beginn – es gäbe keine Antwort auf die Frage, wie es sich in dieser Hinsicht tatsächlich verhält. Mehr noch: Wenn die Persistenz eines Lebewesens nicht durch seinen andauernden Lebensvollzug gewährleistet ist und mithin zu einer Frage der Betrachtungsweise wird, dürfte es auch kein fundamentum in re dafür geben, das Lebewesen überhaupt als eine Einheit zu betrachten statt als einen losen Verbund von Teilchen – müsste es doch gerade der Lebensvollzug sein, der diese Teilchen zu einer Einheit macht, die Veränderungen als dieselbe Einheit überdauern kann. Unter dieser Voraussetzung könnte es offenbar nicht objektiv richtig oder falsch sein, wenn Diotima den Namen »Sokrates« oder irgendeinen anderen Eigennamen auf ihren Gesprächspartner anwendet, um zu sagen, dass dieser mit dem Träger des Eigennamens identisch ist. Denn nicht nur gäbe es keinen objektiven Unterschied zwischen Fällen, in denen der Träger des Eigennamens mit ihrem Gesprächspartner identisch ist, und Fällen, in denen er es nicht ist: Vielmehr könnte man eigentlich gar nicht davon sprechen, dass es so etwas wie einen Träger des Eigennamens »Sokrates« – also eine mit sich selbst identische und zur Persistenz fähige Entität – unabhängig von unserer Betrachtungsweise überhaupt gibt. Wenn Diotima einen Satz wie »Mein bester Schüler in erotischen Angelegenheiten ist Sokrates« äußert, würde sie demnach deswegen keine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage treffen, weil das, was sie sagt, unmöglich widerspiegeln kann, wie es sich in der Wirklichkeit verhält – weil dem Namen »Sokrates« keine Entität entspricht, die als selbstidentische in der Wirklichkeit vorkommt. Nicht anders verhielte es sich dann, wenn ein Eigenname wie »Sokrates« als Subjektausdruck eines Satzes wie »Sokrates ist ein Mensch« fungiert. Denn wenn es keinen in seiner Einheit und Persistenz von unserer Betrachtungsweise unabhängigen Gegenstand gibt, der durch den Einsatz des Namens »Sokrates« herausgegriffen wird, kann auch die Aussage, die man durch die Äußerung eines
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solchen Satzes trifft, unmöglich widerspiegeln, wie es sich in der Wirklichkeit verhält – kann also diese Aussage unmöglich zu objektiver Wahrheit fähig sein. Ist der ontologische Status materieller Einzelgegenstände tatsächlich so prekär, wie Diotimas Ausführungen es vermuten lassen, kann daher die mit einem Eigennamen auszuführende Handlung des Herausgreifens solcher (Pseudo-) Gegenstände in keinem Fall als Beitrag zur Formulierung einer genuinen Aussage anerkannt werden.44 Akzeptiert man einen solchen Befund, wird freilich die Frage drängend, ob und auf welche Weise man überhaupt Aussagen über sinnlich Wahrnehmbares und Veränderliches treffen kann, die zu objektiver Wahrheit fähig sind. Eine radikale Antwort auf diese Frage, die auf der Linie einer extremen Zweiweltentheorie liegt, wie sie Platon mitunter zugeschrieben wird,45 wäre die Leugnung der Möglichkeit solcher Aussagen, verbunden mit der Behauptung, dass sich eben nur über Ideen – also über die von Platon de facto angesetzten stabilen ousiai46 – objektiv wahre Aussagen treffen lassen. Aber diese Schlussfolgerung ist überstürzt: Schließlich scheint es nicht ausgeschlossen zu sein, durch die Äußerung entsprechender Sätze zu konstatieren, dass zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine bestimmte Idee in Form eines Abbildes präsent ist; und es ist nicht abzusehen, warum solche Aussagen nicht zu objektiver Wahrheit fähig sein sollten. Eine Sprache, die außer Namen für Ideen nur Indikatoren für Orte und Zeitpunkte enthielte (und vielleicht logische Junktoren) würde stark der ›primitiven‹ Sprache des feature placing ähneln, die Peter Strawson konstruiert, um Thomas Buchheim verdanke ich den Hinweis, dass man als Aufgabe eines Ausdrucks, den man gemeinhin als den Eigennamen eines Lebewesens einstufen würde, auch das Herausgreifen einer Seele betrachten könnte. Seelen scheint Platon nun – im Gegensatz zu materiellen Gegenständen – als Entitäten anzuerkennen, auch wenn er ihnen zweifellos nicht dieselbe ontologische Dignität zuschreibt wie den Ideen; diesen merkwürdigen Zwischenstatus der Seelen illustrieren beispielsweise Sokrates’ Überlegungen in Phd. 78b–84b. Dementsprechend scheint sich nicht ohne Weiteres ausschließen zu lassen, dass die Platonische Ontologie es erlauben würde, das Herausgreifen einer Seele mittels eines Eigennamens als eine genuine Teilhandlung des Aussagens anzuerkennen. Um in dieser Hinsicht wirklich Klarheit zu schaffen, müsste man freilich Platons Seelentheorie in all ihren ontologischen Konsequenzen rekonstruieren. Ob die Dialoge eine solche Rekonstruktion überhaupt erlauben, ist zweifelhaft; ein entsprechender Versuch kann und soll hier nicht unternommen werden. 45 Die Zweiweltentheorie besagt, dass Wissen sich stets auf Ideen und niemals auf sinnlich wahrnehmbare Einzelgegenstände bezieht, während Meinung umgekehrt stets auf sinnlich wahrnehmbare Einzelgegenstände und niemals auf Ideen bezogen ist. Die Zweiweltentheorie impliziert nicht, dass Aussagen über sinnlich wahrnehmbare Einzeldinge nicht zu objektiver Wahrheit fähig sind, passt aber zumindest gut zu einer solchen Annahme. Für die These, Platon habe eine Zweiweltentheorie vertreten, argumentieren beispielsweise Cross/Woozley (1964), 164 f., Vlastos (1965), Brentlinger (1972) und Hintikka (1973). Siehe Fine (1978) und Fine (1990) für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser These. 46 Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des nächsten Kapitels. 44
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
die Limitationen einer Sprache zu eruieren, die keine Möglichkeit des singulären Bezugs auf Einzelgegenstände bereithält.47 Sicherlich wäre die Ausdruckskraft einer solchen Sprache viel geringer als diejenige unserer Sprache, die entsprechende Ausdrücke und insbesondere auch Eigennamen enthält. Aber es wäre zumindest denkbar, dass sich mit einer um Indikatoren für Orte und Zeitpunkte angereicherten Ideensprache alles sagen lässt, was in einem Platonisch gedachten Universum tatsächlich der Fall sein kann: Wenn eine empirische Tatsache für Platon immer die Gestalt hat, dass eine Idee an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Form eines Abbildes präsent ist, aber niemals die Gestalt, dass einem persistierenden Objekt durch die Teilhabe an einer Idee ein Attribut zukommt,48 wird eine solche Sprache die adäquate Repräsentation von Tatsachen ermöglichen, während die Verwendung von Eigennamen nicht nur unnötig wäre, sondern zur Folge hätte, dass Aussagen getroffen würden, die nicht zu objektiver Wahrheit fähig sind. Unter dieser Voraussetzung hätte man allen Grund, die Verwendung eines Eigennamens im Kontext eines Satzes nicht als Vollzug einer Teilhandlung des Aussagens anzuerkennen. Um die These, in einer Platonischen Ontologie sei kein Platz für materielle Gegenstände, deren Persistenz und Einheit objektiven Bedingungen unterliegt, zu verteidigen, ist es freilich nicht ausreichend, sich auf eine einzige Passage aus dem Symposion zu stützen. Eine angemessene Verteidigung dieser These kann und soll hier nicht geleistet werden. Für die Zwecke der Diskussion des Problems der Eigennamen ist aber auch die Diagnose völlig ausreichend, dass es unter Platonischen Vorzeichen zumindest fraglich ist, ob es objektive Kriterien für die Einheit und die Persistenz von materiellen Gegenständen gibt. Denn unter dieser Voraussetzung ist es eben auch fraglich, ob sich durch die Unterscheidung eines Gegenstandes ein Beitrag zur Formulierung einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage leisten lässt. Bei einer solchen Sachlage stehen einem Verteidiger von Sokrates’ normativer Bestimmung der Aufgabe des Namens nämlich tatsächlich zwei Optionen zur Verfügung: Entweder er bemüht sich um eine adäquate Absicherung der Hypothese, dass in einem Platonischen Universum die Unterscheidung eines (materiellen) Gegenstandes nicht als eine zweite Teilhandlung des Aussagens anerkannt werden sollte, sondern als scheiternder Versuch gelten
47 Strawson (1959), 214–225. McDowell (1973), 144 f., vertritt die These, dass Platon eine solche Sprache für ein angemessenes Instrument zur Beschreibung der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit gehalten haben könnte. 48 Diesen Schluss könnte man aus Ti. 48e–52d durchaus ziehen. Freilich ist die Interpretation dieser Passage höchst umstritten – wie schnell klar wird, wenn man die einschlägigen Analysen betrachtet und vergleicht: Siehe z. B. Cherniss (1954), Zeyl (1975), Silverman (1992b) und Beere (2016).
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muss, einen Beitrag zum Vollzug dieser Handlung zu leisten;49 oder er verlässt sich auf die weit weniger radikale Rückfallstrategie, erkennt die Unterscheidung eines Gegenstandes als Teilhandlung des Aussagens an und verteidigt eine entsprechend eingeschränkte Version von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens.50 Hier soll keine Empfehlung für eine dieser beiden Strategien ausgesprochen werden. Als ein wesentliches Resultat der Überlegungen des vorliegenden Abschnitts kann aber jedenfalls festgehalten werden, dass hinter der Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Problem der Eigennamen letztlich die Frage nach dem ontologischen Status von (materiellen) Einzelgegenständen steht, die zu der sprachphilosophischen Frage nach dem Status der Handlung des Herausgreifens eines (materiellen) Gegenstandes Anlass gibt. Zu konstatieren ist weiterhin, dass das Problem der Eigennamen keinesfalls die Aufgabe von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens erzwingt – sondern höchstens eine Einschränkung ihres Geltungsbereichs. Dementsprechend entwertet es auch nicht den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen, sondern stellt allenfalls seine Anwendbarkeit auf Eigennamen in Frage. Die vorliegende Studie wird sich daher in ihrem weiteren Verlauf ganz auf generelle Terme konzentrieren, nachdem in diesem Kapitel deutlich gemacht werden konnte, auf welchen Wegen sich die Schwierigkeiten entschärfen lassen, vor die einen Verteidiger dieses Begriffs der natürlichen Richtigkeit die Eigennamen stellen.
Zu klären wäre bei einer derartigen Verteidigung von Sokrates’ Bestimmung auch, ob es in einem Platonischen Universum neben den Ideen und den sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenständen möglicherweise auch noch abstrakte Gegenstände wie beispielsweise Zahlen gibt, und welchen Status die sprachliche Bezugnahme auf solche Gegenstände gegebenenfalls hätte. 50 Möglich wäre auch eine Kombination dieser beiden Strategien: So könnte man argumentieren, dass nur durch die Unterscheidung bestimmter Gegenstände – etwa durch die Unterscheidung von Lebewesen – ein Beitrag zum Vollzug des Aussagens geleistet werden kann, nicht aber durch die Unterscheidung anderer Gegenstände – etwa durch die Unterscheidung von Artefakten. 49
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen (II): Richtige Namen, unrichtige Namen (389b–d) Sokrates entwickelt in 387b–388c einen funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen, dem zufolge eine sprachliche Einheit genau dann ein natürlicherweise richtiger – und somit: ein echter oder genuiner – Name ist, wenn sich mit ihm durch die Unterscheidung der ousia einer Art zur Belehrung eines Hörers beitragen lässt. Diesen funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit kann, wie die Überlegungen der beiden vorangehenden Kapitel gezeigt haben, auch ein Konventionalist wie Hermogenes in Anbetracht von Sokrates’ Überlegungen zur Natur des Nennens nicht ohne Weiteres ablehnen. Es erscheint daher folgerichtig, wenn Sokrates in 388c–389a die Einführung von Namen zur Sache eines kompetenten Fachmanns erklärt – zur Sache des Nomotheten. Im direkten Anschluss an dieses Zwischenfazit beginnt nun die zweite Etappe der Werkzeug-Analogie, in der Sokrates der Herausforderung, die ein Nomothet bei der Einführung eines Namens zu bewältigen hat, ein klareres Profil zu verleihen versucht, indem er sie mit der Herausforderung vergleicht, die sich einem Handwerker bei der Produktion eines Werkzeugs stellt. Sokrates macht dabei zunächst darauf aufmerksam, dass ein Handwerker sich an der allgemeinen Idee des zu produzierenden Werkzeugs orientieren muss, um dann am Beispiel des Weberschiffchens einen Schritt weiterzugehen und die Forderung aufzustellen, bei der Fertigung des Werkzeugs müsse auch diejenige spezifische Idee wiedergegeben werden, die der zu bewältigenden Aufgabe zugeordnet ist: Ist es also, wann immer man für ein dünnes Kleidungsstück oder ein dickes oder ein leinenes oder wollenes oder für eines welcher Sorte auch immer ein Weberschiffchen herstellen muss, zum einen erforderlich, dass alle die Idee des Weberschiffchens haben, aber zum anderen auch, welche für jedes natürlicherweise am schönsten ist, dass man diese Natur in jedem Werk wiedergibt? – Ja. – Und in derselben Weise bei den anderen Werkzeugen: Das für jedes natürlicherweise geeignete Werkzeug muss man herausfinden und es in dem wiedergeben, woraus man [das Werkzeug] macht – nicht ein solches [Werkzeug], wie er will, sondern ein solches, wie es natürlich ist. Denn man muss, wie es scheint, den natürlicherweise für jedes geeigneten Bohrer in das Eisen zu legen verstehen. – Sicher. – Und das natürlicherweise für jedes geeignete Weberschiffchen in Holz. – So ist es. – Denn jedes Weberschiffchen gehörte, wie es scheint, von Natur aus zu jeder Sorte von Gewebe, und so verhält es sich auch in den anderen Fällen. – Ja. – Also gilt auch für den natürlicherweise für jedes geeigneten Namen, mein Bester, dass jener Nomothet ihn in die Buchstaben und Silben zu legen verstehen und alle Namen
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
herstellen und festlegen muss, indem er auf jenes selbst, was ein Name ist, sieht, wenn er eine Namensgeber-Autorität sein will? […] – Sicher.1
Die innere Logik dieses gedanklichen Schritts ist im zweiten Kapitel der vorliegenden Studie bereits erörtert worden. Die Forderung, ein Handwerker müsse bei der Produktion eines Weberschiffchens auf die entsprechende allgemeine Idee »blicken«, besagt demnach zunächst einmal nur, dass seine Tätigkeit an dem entsprechenden funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit orientiert sein muss, wenn sie von Erfolg gekrönt sein soll. Indem Sokrates die allgemeine Idee eines Werkzeugs wie des Weberschiffchens thematisiert, richtet er seine Aufmerksamkeit zum ersten Mal auf den betreffenden funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit als solchen statt, wie zuvor, auf die einzelnen Werkzeuge, die diesen Standard zu erfüllen haben. Das erlaubt es ihm, eine bisher nur angedeutete Pointe2 mit großer Emphase explizit zu formulieren: Hinter der These, ein Handwerker müsse sich bei der Produktion eines Werkzeugs wie des Weberschiffchens nicht nur an der entsprechenden allgemeinen Idee orientieren, sondern auch das »für jedes natürlicherweise geeignete Werkzeug […] in dem wiedergeben, woraus man [das Werk] macht«, steht nämlich die Einsicht, dass die Eignung eines Werkzeugs für eine bestimmte Handlung nie in einer rein generischen Form realisiert sein kann, sondern stets als Eignung für eine spezifische Version dieser Handlung vorliegen muss – etwa als Eignung für die Bearbeitung von Wolle oder von Leinen. Aus dem generischen Standard der natürlichen Richtigkeit eines solchen Werkzeugs, der dem Funktionalitätsprinzip entspricht, ergeben sich demzufolge eine ganze Reihe von spezifischen Standards der natürlichen Richtigkeit, die das Spezifische Funktionalitätsprinzip in abstracto beschreibt. Dem Spezifischen Funktionalitätsprinzip lässt sich entnehmen, welche Frage zu beantworten ist, um die in 387b–388c im Ausgang vom Funktio389b8–390a4: Οὐκοῦν ἐπειδὰν δέῃ λεπτῷ ἱματίῳ ἢ παχεῖ ἢ λινῷ ἢ ἐρεῷ ἢ ὁποιῳοῦν τινι κερκίδα ποιεῖν, πάσας μὲν δεῖ τὸ τῆς κερκίδος ἔχειν εἶδος, οἵα δ’ ἑκάστῳ καλλίστη ἐπεφύκει, ταύτην ἀποδιδόναι τὴν φύσιν εἰς τὸ ἔργον ἕκαστον; – Ναί. – Καὶ περὶ τῶν ἄλλων δὴ ὀργάνων ὁ αὐτὸς τρόπος· τὸ φύσει ἑκάστῳ πεφυκὸς ὄργανον ἐξευρόντα δεῖ ἀποδοῦναι εἰς ἐκεῖνο ἐξ οὗ ἂν ποιῇ, οὐχ οἷον ἂν αὐτὸς βουληθῇ, ἀλλ’ οἷον ἐπεφύκει. τὸ φύσει γὰρ ἑκάστῳ, ὡς ἔοικε, τρύπανον πεφυκὸς εἰς τὸν σίδηρον δεῖ ἐπίστασθαι τιθέναι. – Πάνυ γε. – Καὶ τὴν φύσει κερκίδα ἑκάστῳ πεφυκυῖαν εἰς ξύλον. – Ἔστι ταῦτα. – Φύσει γὰρ ἦν ἑκάστῳ εἴδει ὑφάσματος, ὡς ἔοικεν, ἑκάστη κερκίς, καὶ τἆλλα οὕτως. – Ναί. – Ἆρ’ οὖν, ὦ βέλτιστε, καὶ τὸ ἑκάστῳ φύσει πεφυκὸς ὄνομα τὸν νομοθέτην ἐκεῖνον εἰς τοὺς φθόγγους καὶ τὰς συλλαβὰς δεῖ ἐπίστασθαι τιθέναι, καὶ βλέποντα πρὸς αὐτὸ ἐκεῖνο ὃ ἔστιν ὄνομα, πάντα τὰ ὀνόματα ποιεῖν τε καὶ τίθεσθαι, εἰ μέλλει κύριος εἶναι ὀνομάτων θέτης; […] – Πάνυ γε. Die Passage 389b8–d3 wurde im zweiten Kapitel dieser Studie bereits zitiert. 2 Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels. 1
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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nalitätsprinzip begonnene Konstruktion des Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen abzuschließen: die Frage nämlich, welches die spezifischen Versionen der Handlung des Nennens sind, für deren Vollzug ein kompetenter Nomothet durch die Wiedergabe der entsprechenden Ideen in den »Buchstaben und Silben« geeignete sprachliche Werkzeuge bereitstellen muss, und in welchen spezifischen Versionen die natürliche Richtigkeit der Namen dementsprechend realisiert sein kann. Erst mit der Beantwortung dieser Frage wird auch klar sein, welche – möglicherweise massiv kontraintuitiven – Weiterungen die Anerkennung des funktionalistischen Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen hat; erst dann wird mithin auch ein abschließendes Urteil darüber möglich sein, ob ein Konventionalist wie Hermogenes diesen Standard tatsächlich anerkennen sollte. Nachdem sich Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens in 388b10–c1 zumindest schon entnehmen lässt, dass es sich bei den spezifischen Versionen des Nennens um spezifische Versionen der »Belehrung und Unterscheidung der ousia« handeln muss, sollen die folgenden Überlegungen die These explizieren und verteidigen, dass man eine spezifische Version dieser Handlung genau dann vollzieht, wenn man mittels eines geeigneten sprachlichen Werkzeugs eine Platonische Idee herausgreift und damit einen Beitrag zur Belehrung eines Hörers leistet. Ein natürlicherweise richtiger Name ist demnach stets ein natürlicherweise richtiger Name für eine Idee beziehungsweise die Art der an ihr teilhabenden Gegenstände – eine sprachliche Einheit also, mit der sich die betreffende Idee für einen Hörer unterscheiden lässt. Damit ist die Konstruktion eines gehaltvollen Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen vollendet. Zugleich ist klar, was eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zu leisten hat: Sie muss im Hinblick auf jedes eidos die Frage beantworten, was darüber entscheidet, ob sich mit einer sprachlichen Einheit dieses eidos und damit auch die Art der an ihm teilhabenden Gegenstände herausgreifen lässt. Die skizzierte Interpretation von Sokrates’ knappen und zunächst sehr opak anmutenden Ausführungen zu den spezifischen Ideen des Namens soll im ersten Abschnitt dieses Kapitels abgesichert werden. Wie der zweite Abschnitt deutlich machen wird, liegt die eigentliche Schwierigkeit für einen Interpreten des Kratylos aber gar nicht in der vermeintlichen Undurchsichtigkeit oder Vagheit dieser Ausführungen, sondern vielmehr darin, dass sich weder aus dem Kratylos noch aus den anderen Platonischen Dialogen eine Antwort auf die Frage gewinnen zu lassen scheint, welche Ideen es gibt. Dieser Befund muss offenkundig Zweifel an der Intelligibilität der These wecken, ein natürlicherweise richtiger Name zeichne sich durch seine Eignung für die Unterscheidung einer Idee aus. Weite Teile des zweiten Abschnitts, aber insbesondere auch die drei restlichen Abschnitte des vorliegenden Kapitels verstehen sich daher als Versuch, zu einem konstruktiven
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Umgang mit dieser Schwierigkeit zu kommen, um ein möglichst klares Bild von Sokrates’ sprachphilosophischer Position und ihren Implikationen zu gewinnen.
Namen und Ideen
Auf den ersten Blick scheinen Sokrates’ Ausführungen zu den spezifischen Ideen des Namens nicht sonderlich hilfreich zu sein, wenn es um die Frage geht, in welchen spezifischen Versionen die Handlung des Nennens vollzogen werden kann und in welchen spezifischen Versionen die natürliche Eignung für den Vollzug der Handlung des Nennens dementsprechend vorliegen kann. Ebenso uninformativ muten in dieser Hinsicht auch seine Ausführungen zu den spezifischen Ideen der anderen Werkzeuge an: Denn Sokrates spricht stets nur von dem physei hekastô pephykos organon (389c4; vgl. to physei hekastô trupanon pephykos in 389c6 f., hê physei kerkis hekastô pephykia in 389c9 und to hekastô physei pephykos onoma in 389d4 f.), das der Handwerker in das betreffende Material zu legen habe, oder bedient sich einer anderen Wendung, die seinen Gesprächspartner und Platons Leser im Dunkeln darüber lässt, auf welche spezifischen Fälle der Handwerker seine Produkte abzustimmen hat. Ausgerechnet im Fall der kerkis, dessen besonders enge Verbindung mit dem Fall des Namens durch die Parallelität der Formulierungen in 388b1 f. und 388b10 f. bereits betont wurde, wird Sokrates einmal deutlicher: »[W]ann immer man für ein dünnes Kleidungsstück oder ein dickes oder ein leinenes oder wollenes oder für eines welcher Sorte auch immer ein Weberschiffchen herstellt«, so seine Forderung, müsse man die passende spezifische Idee der kerkis im anzufertigenden Produkt wiedergeben. Es geht ihm hier offenbar nicht darum, dass man für die Herstellung eines jeden individuellen Kleidungsstücks eine eigene kerkis benötigt, sondern darum, dass eine bestimmte Sorte von Kleidungsstücken eine passende Art von kerkis erfordert; und um welche Art von kerkis es sich dabei handelt, scheint von dem Material abzuhängen, aus dem das Kleidungsstück gefertigt werden soll. Das bestätigt Sokrates explizit in 389d1 f.: »[J]edes Weberschiffchen gehörte, wie es scheint, von Natur aus zu jedem eidos von Gewebe (hekastô eidei hyphasmatos), und so verhält es sich auch in den anderen Fällen«. Welche kerkis ein Zimmermann zu konstruieren hat, hängt also von dem eidos des zu bearbeitenden Gewebes ab, und dementsprechend scheint es für jedes dieser eidê eine spezifische Idee der ihm angemessenen kerkis zu geben. Im direkten Anschluss an dieses Zwischenfazit stellt Sokrates nun in 389d4–6 die These auf, es gelte »auch für den natürlicherweise für jedes geeigneten Namen […], dass der Nomothet ihn in die Buchstaben und Silben zu legen verstehen […] muss«. Da Sokrates unmittelbar zuvor klargemacht hat, dass es sich bei der physei
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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kerkis hekastô pephykia um die physei kerkis hekastô eidei hyphasmatos pephykia handelt, um dann sogar noch explizit zu behaupten, so verhalte es sich auch in den anderen Fällen (kai talla houtôs, 389d2), wird man davon ausgehen dürfen, dass auch die Wendung to hekastô physei pephykos onoma in diesem Sinne als formelhafte Abkürzung für to hekastô eidei physei pephykos onoma aufzufassen ist. Freilich kann es sich in diesem Fall nicht mehr um eidê des Gewebes handeln, auf die der Nomothet seine Produkte durch die Wiedergabe der entsprechenden spezifischen Ideen des Namens abstimmen muss; da der Name nicht, wie die kerkis, zur Sonderung von Einschlag und Kettfäden (388b1 f.) eingesetzt wird, sondern ganz allgemein zur Sonderung der »Gegenstände, wie sie sich verhalten« (388b10 f.), beziehungsweise zur Sonderung ihrer Seinsweise (ousia), muss es sich vielmehr um die eidê des Seienden überhaupt handeln – um die Ideen. Wenn der Nomothet also ein organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias durch die Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens produziert, schafft er damit ein Werkzeug, das für das Herausgreifen einer bestimmten Idee – etwa der Idee des Gerechten oder der Idee des Menschen – geeignet ist. Die spezifischen Versionen der Sonderungsleistung des Nennens, für die dem Spezifischen Funktionalitätsprinzip zufolge die natürlicherweise richtigen Namen geeignet sein müssen, wenn sie überhaupt für den Vollzug des Nennens geeignet sein sollen, sind also Unterscheidungen von Ideen.3 Man könnte einwenden, dass man aus der Tatsache, dass Sokrates Gewebearten als eidê bezeichnet, keine weitreichenden Rückschlüsse im Hinblick auf seine Konzeption der spezifischen Ideen des Namens ziehen sollte. Denn Platon lässt seine Dialogfiguren oft, auch im Kratylos,4 ohne besonderen philosophischen Akzent von eidê sprechen – keineswegs ist dabei stets an Platonische Ideen gedacht, die ja, wie man annehmen möchte, ein bestimmtes epistemologisches und ontologisches Profil aufweisen. In 389d1 f. scheint nicht in einem solch philosophisch anspruchsvollen Sinne von eidê die Rede zu sein: Der Begriff wird ohne die Emphase gebraucht, die man in diesem Fall erwarten würde, sondern ganz im Gegenteil mit einer Beiläufigkeit, die der Alltäglichkeit der Unterscheidung verschiedener Arten oder Sorten von Gewebe entspricht und vermuten lassen könnte, Platon habe sich ohne weitere Hintergedanken für die Verwendung dieses Terminus entschieden. So überzeugend sich dieses Verdikt auf den ersten Blick ausnehmen mag, so wenig hält seine Begründung einer kritischen Prüfung stand. Zwar ist der Verweis auf die eidê hyphasmatos sicherlich von einer alltäglichen Beiläufigkeit, die Zu diesem Schluss kommen bereits Kretzmann (1971), 131, und Kahn (1973), 163. Beide Interpreten erkennen allerdings nicht, dass die Formulierung in 389d1 f. einen direkten, wenn auch sehr leicht zu übersehenden Beleg für ihre These bereithält. 4 Hier allerdings nur einmal, nämlich in 411a1. 3
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
es in den allermeisten Kontexten höchst unplausibel machen würde, ihm Gewicht beizumessen. Das gilt allerdings nicht für den Kontext der Werkzeug-Analogie: Wie bereits herausgearbeitet werden konnte, ist die gesamte Werkzeug-Analogie von der Annahme geprägt, dass Handlungen mit einem natürlicherweise geeigneten Werkzeug vollzogen werden müssen, wenn sie überhaupt gelingen sollen. Schon früh beginnt Sokrates, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass eine Handlung bestimmten Typs immer in einer auf die spezifische Beschaffenheit ihrer Bezugsgegenstände abgestimmten Art und Weise und mit einem entsprechenden Werkzeug vollzogen werden muss. Dabei setzt er stets das Wort hekaston ein, um kenntlich zu machen, dass die Eignung eines Werkzeugs niemals generisch ist, sondern immer nur relativ auf den jeweiligen Einzelfall besteht, und verleiht diesem Prinzip sogar durch seine terminologische Entscheidung Ausdruck, die bei der Herstellung eines konkreten Werkzeugs in der Materie wiederzugebende Idee als physei hekastô pephykos organon zu bezeichnen. Auffälligerweise wird nun aber das Wort hekaston nur in einem einzigen der elf Fälle, in denen Sokrates es in diesem Sinne verwendet, 5 durch ein Nomen komplettiert6 – nämlich ausgerechnet in 389d1 f., unmittelbar bevor Sokrates die entscheidende Pointe setzt und die Wiedergabe des hekastô physei pephykos onoma im Buchstaben- und Silbenmaterial fordert. In allen anderen Fällen macht er hingegen nicht explizit, wie die Einzelfälle geartet sind, auf die ein Werkzeug abgestimmt werden muss. Offenkundig ist aber diese Frage entscheidend für das rechte Verständnis der Rede von dem physei hekastô pephykos organon und insbesondere dem hekastô physei pephykos onoma. Die Frage nach dem Komplement von hekaston wird demnach zwar nicht als grammatikalische, wohl aber als philosophische Frage im Verlauf der WerkzeugAnalogie immer drängender, um schließlich mit dem Postulat des hekastô physei pephykos onoma vollends in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Wenn man daher nicht davon ausgehen will, dass ein Autor wie Platon aus Bequemlichkeit zehnmal auf die Komplettierung von hekaston durch ein Nomen verzichtet, nur um sich bei der elften, unmittelbar vor der ersten Erwähnung des ominösen hekastô physei pephykos onoma platzierten Verwendung des Wortes in einem plötzlichen Anfall grammatikalischen Pflichtbewusstseins zu einer 387a4, a5, b4, 389b10, c4, c6, c9, d1, d4, 390a6 und e3. Man könnte einwenden, dass in 387a4 und a5 angesichts des ti tôn ontôn in 387a2 f. die Ergänzung des hekaston durch on sehr naheliegend ist. Das ist durchaus richtig, würde aber ebensowenig wie die Verwendung von hekaston ohne ein Nomen die Frage beantworten, um welche Einzelfälle es Sokrates geht – die These, hekaston on erfordere ein spezifisches Werkzeug, lässt offen, ob jedem einzelnen konkreten Gegenstand ein eigenes Werkzeug angemessen ist oder ob für alle Gegenstände einer bestimmten Beschaffenheit dasselbe Werkzeug eingesetzt werden kann. Vgl. zur Doppeldeutigkeit der Rede von ta onta im Kratylos Calvert (1970), 43 f. 5 6
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Komplettierung durch das zwar in der Alltagssprache verwurzelte, aber eben keineswegs philosophisch unbelastete Nomen eidos aufzuraffen – dann ist nur eine Schlussfolgerung möglich: Platon will offenbar zum einen erreichen, dass jeder aufmerksame Leser sich die Frage stellt, was das Gebot der Abstimmung auf spezifische Einzelfälle insbesondere im Fall des Namens genau besagt, und zum anderen andeuten, wie diese Frage zu beantworten ist: Abgestimmt werden muss ein Namens-Werkzeug auf ein bestimmtes eidos. Auf den ersten Blick mag es freilich befremdlich anmuten, dass Platon diese wichtige Pointe durch seine Inszenierung geradezu versteckt, statt Sokrates eine klare Erklärung der Zusammenhänge in den Mund zu legen. Was hinter dieser Inszenierung steckt, wird dann verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Frage, welche spezifischen Versionen der Handlung des Nennens als der Aufgabe des Namens es gibt, sich dem aufmerksamen Leser auch in einer etwas anderen Gestalt bereits vor Sokrates’ Ausführungen zu den spezifischen Ideen des Namens schon aufdrängt: Denn wie sich Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« einer Art von Gegenständen entnehmen zu lassen scheint, muss sich das Nennen immer als Unterscheidung einer ganz bestimmten ousia beziehungsweise als Unterscheidung der ousia einer ganz bestimmten Art von Gegenständen vollziehen – eine rein generische Unterscheidungsleistung dieses Typs scheint es nicht geben zu können. Die Frage nach der angemessenen Komplettierung des hekaston in der Wendung hekastô physei pephykos onoma ist daher nur eine Variante der von Sokrates’ normativer Bestimmung des Nennens aufgeworfenen Frage, wie man sich die stabilen ouisai vorzustellen hat, die Sokrates in seiner Auseinandersetzung mit dem Protagoreischen Relativismus postuliert; und mit der in 389d1 f. angedeuteten Antwort auf jene Frage ist daher auch klar, dass es sich bei diesen stabilen ousiai für Platon um die Ideen handelt. Warum Platon Sokrates zwar explizit gegen eine relativistische Ontologie argumentieren und auch die anti-relativistische Behauptung stabiler ousiai formulieren und begründen lässt, aber dann nur auf subtile Weise andeutet, dass diese Behauptung im Sinne der Ideenannahme zu explizieren ist, lässt sich nun aber gut erklären: Denn einerseits betont er durch diese Inszenierung die Eigenständigkeit der anti-relativistischen These, die Sokrates in 385e–386e entwickelt. Dass Dinge unabhängig von unseren Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen auf bestimmte Weisen sind und in diesem Sinne stabile ousiai haben, kann man nämlich auch dann zugeben, wenn man die Platonische Ontologie und insbesondere die Annahme transzendenter Ideen ablehnt – vorausgesetzt, man kann auf eine alternative Explikation des Postulats stabiler ousiai zurückgreifen.7 7
Es ist eine naheliegende, aber hier nicht zu diskutierende Frage, ob Aristoteles eine solche
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Dementsprechend ist auch die Bestimmung des Namens als organon diakritikon tês ousias als solche von der Platonischen Ontologie und insbesondere der Ideenannahme unabhängig – diese Bestimmung wäre mit einer alternativen Explikation des Postulats stabiler ousiai durchaus vereinbar, hätte dann aber unter Umständen völlig andere sprachphilosophische Konsequenzen. So kann Platon Sokrates eine Bestimmung des Nennens beziehungsweise des Namens entwickeln lassen, die zwar einer ontologischen Explikation bedarf, aber dafür auch so allgemein ist, dass sie mit verschiedenen anti-relativistischen ontologischen Entwürfen kompatibel ist. Andererseits rückt Platon durch seine Inszenierung die Frage nach dem ontologischen Profil der stabilen ousiai gerade in den Vordergrund, indem er Sokrates sie nicht explizit, sondern höchstens andeutungsweise beantworten lässt. Tatsächlich können, wie sich im weiteren Verlauf dieser Studie zeigen wird, weite Teile von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen in diesem Sinne als ein indirekter Beleg für die Unabdingbarkeit einer Ontologie gelesen werden, die das Postulat stabiler ousiai und somit auch die Möglichkeiten objektiv wahren Sprechens über die Wirklichkeit absichert.8 Das gilt umso mehr, als im Dialogverlauf mit der Herakliteischen Flusslehre Stück für Stück eine Ontologie in den Vordergrund rückt, die nicht ohne Weiteres mit der Annahme stabiler ousiai zu vereinbaren ist.9 Die ontologische Zurückhaltung, die Platon Sokrates in der Werkzeug-Analogie üben lässt, ist also keineswegs darauf zurückzuführen, dass er ontologische Fragen ausblendet – vielmehr sensibilisiert er auf diese Weise seine Leser für die Notwendigkeit einer fundierten Auseinandersetzung mit ihnen.10 Platons eigene Antwort auf diese Fragen involviert, so wird man auch auf der Grundlage der anderen Dialoge mit Sicherheit sagen können,11 die Annahme der Ideen als transzendenter12 und unveränderlicher, aber dennoch kausal wirksamer Explikation vorlegt. Zumindest scheint es aber tatsächlich keinen Grund zu geben, warum man nicht, wie Aristoteles es zu tun scheint, annehmen sollte, dass ousiai sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen immanent sein können. 8 So ganz richtig Kahn (1973), 153. Kahn bemerkt auch, dass die Annahme stabiler ousiai nicht notwendigerweise im Sinne der Ideenannahme ausbuchstabiert werden müsste: Ebd., 159. Ganz ähnlich argumentiert schon Benfey (1866), 207 und 220, der klar sieht, dass die im Kratylos angestellte Untersuchung keinen Beweis für die Existenz Platonischer Ideen liefert, wohl aber einen Hinweis darauf, dass Platons Version einer anti-relativistischen Ontologie der Ideenannahme verpflichtet ist. 9 Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des neunten Kapitels. 10 Im Hinblick auf den Theaitetos, in dem die Ideen auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen scheinen, ist bekanntermaßen eine ähnliche These von Cornford (1935) vertreten worden. Siehe Owen (1953) für eine einflussreiche kritische Auseinandersetzung mit Cornfords Interpretation und ihren Implikationen. 11 Siehe etwa Phd. 76d–e und 78c–79a; Rep. 485a/b und 525b; Phdr. 247c; Ti. 28c–29c. 12 Für viele Platoninterpreten ist die Erörterung der Frage, ob in einem bestimmten Dialog
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Entitäten, die nur dem Denken, nicht aber der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind; und wenn die in diesem Kapitel entwickelte Deutung der Passage 389d des Kratylos richtig ist, lässt Platon Sokrates hier andeuten, dass die Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias, das der Nomothet in Orientierung an dem hekastô physei pephykos onoma schaffen muss, im Lichte dieser Annahme zu interpretieren ist. Aber indem er Sokrates hier im Modus der Andeutung verbleiben lässt, stellt Platon sicher, dass die Bestimmung des Namens und die von ihr aufgeworfene Frage nach der ontologischen Valenz der Annahme stabiler ousiai im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, nicht aber die Platonische Antwort auf diese Frage und die sich aus ihr ergebende Interpretation dieser Bestimmung. Platon entwickelt also seine Theorie des Nennens und des Namens bis zu einem Punkt, an dem noch fundamentalere philosophische Untersuchungen erforderlich wären – die zwar nicht im Kratylos, wohl aber in anderen Dialogen durchgeführt werden. Auch im weiteren Verlauf des Kratylos vermeidet Platon dementsprechend einerseits eine explizite Identifikation der stabilen ousiai mit den Ideen, streut aber andererseits genügend Hinweise, um einen aufmerksamen Leser auf die richtige Spur zu bringen.13 Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man die beiden Passagen 423e und 439c–440b zusammen betrachtet: In der ersten dieser beiden Passagen, die kurz nach Abschluss der etymologischen Untersuchungen zur Begründung der These beiträgt, ein richtiger Name müsse eine Nachahmung der ousia des Benannten sein, stellt Sokrates mit größtmöglicher Allgemeinheit die folgende Frage: »Zuallererst die Farbe und die Stimme selbst – hat nicht jedes von diesen eine gewisse ousia, und so auch alles andere, was dieser Bezeichnung für würdig gehalten wird, ›sein‹?«14 – was Hermogenes bejaht. Während es Sokrates also an dieser Stelle noch vermeidet, direkt von Ideen zu sprechen, gibt er in der zweiten Passage, die sich als eine Art Epilog an den Abschluss seiner Auseinandersetzung mit Kratylos in 439b anschließt, seine ontologische Zurückhaltung auf, um die von den etymologischen Analysen nahegelegte Vorstellung, alle Dinge seien stets im Fluss, direkt zu attackieren: die Ideen ›schon‹ oder ›noch nicht‹ als transzendente Entitäten konzipiert werden, eine Art philosophiehistorisches Steckenpferd. Ganz abgesehen davon, dass man an der Fruchtbarkeit dieser Fragestellung durchaus Zweifel haben kann, hängt für die hier entwickelte Interpretation der Werkzeug-Analogie nichts davon ab, ob die Ideen, die durch Namen unterschieden werden sollen, transzendent sind oder nicht. 13 Dass die im Kratylos angestellte Untersuchung in einem gewissen Sinne auf die Ideenannahme verweist, ist bereits von vielen Interpreten bemerkt worden: Siehe z. B. Grote (21865), 537 f., Benfey (1866), 207, und Ross (1953), 20 f. Kahn (1973), 163, sieht, dass Platon auf diese Weise seine eigene Antwort auf die Frage andeutet, wie man sich stabile ousiai vorzustellen hat. 14 423e2–5. Diese Passage wird im zehnten Kapitel in ihrem argumentativen Kontext diskutiert: S.u., 449, sowie Anm. 19 für den griechischen Originaltext.
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Denn prüfe nur, wunderbarer Kratylos, was zumindest ich oft träume. Sollen wir sagen, dass es ein Schönes selbst gibt und ein Gutes [selbst] und ein jedes der Seienden auf diese Weise, oder nicht? – Ich meine, dass es das gibt, Sokrates. – […] Wie könnte also das etwas sein, was sich nie in der gleichen Weise verhält? Denn wenn es sich irgendwann gleich verhält, verändert es sich in dieser Zeit doch offenbar überhaupt nicht. Wenn es sich aber immer in der gleichen Weise verhält und dasselbe ist, wie könnte dies sich wohl verändern oder bewegen, obwohl es gar nicht von seiner Idee abweicht (mêden exhistamenon tês hautou ideas)?15
Beide Passagen lohnen zweifellos eine eingehende Diskussion. Im gegenwärtigen Zusammenhang kommt es aber allein auf den Konnex zwischen den Begriffen des Seins, der ousia und der Idee an, der in der Zusammenschau erkennbar wird: Für alles, was »seiend« genannt zu werden verdient – Farbe, Gestalt, aber offenbar auch das Schöne und das Gute –, gibt es der ersten Passage zufolge eine ousia, genauso, wie es nach der zweiten Passage das jeweilige Seiende selbst – wie etwa das Schöne selbst – gibt, das aufgrund seiner Unveränderlichkeit Gegenstand der Erkenntnis sein kann und von Sokrates in 439e als Idee charakterisiert wird.16 Zugegebenermaßen behauptet Sokrates nicht explizit, dass es nur diese ousiai und nur diese Ideen gibt; aber die Alternative, eine ousia oder eine Idee für etwas anzusetzen, was nicht den Status des Seienden hat, erscheint äußerst unplausibel. Unter dieser Voraussetzung lässt sich aber die Schlussfolgerung kaum vermeiden, dass die Idee eines jeden Seienden die entsprechende ousia ist und es abgesehen von den Ideen keine ousiai gibt – wie sonst sollte man den von Sokrates offenbar angenommenen Zusammenhang zwischen Seienden, Ideen und ousiai erklären?17 Man muss also davon ausgehen, dass Platon, wenn er Sokrates von stabilen ousiai sprechen lässt, keine anderen Entitäten im Sinn hat als die Ideen. 439c6–e5: Σκέψαι γάρ, ὦ θαυμάσιε Κρατύλε, ὃ ἔγωγε πολλάκις ὀνειρώττω. πότερον φῶμέν τι εἶναι αὐτὸ καλὸν καὶ ἀγαθὸν καὶ ἓν ἕκαστον τῶν ὄντων οὕτω, ἢ μή; – Ἔμοιγε δοκεῖ, ὦ Σώκρατες, εἶναι. – […] Πῶς οὖν ἂν εἴη τὶ ἐκεῖνο ὃ μηδέποτε ὡσαύτως ἔχει; εἰ γάρ ποτε ὡσαύτως ἴσχει, ἔν γ᾽ ἐκείνῳ τῷ χρόνῳ δῆλον ὅτι οὐδὲν μεταβαίνει· εἰ δὲ ἀεὶ ὡσαύτως ἔχει καὶ τὸ αὐτό ἐστι, πῶς ἂν τοῦτό γε μεταβάλλοι ἢ κινοῖτο, μηδὲν ἐξιστάμενον τῆς αὑτοῦ ἰδέας; 16 Man könnte natürlich angesichts der etwas ungewöhnlichen Formulierung in 439e4 f. bestreiten, dass es sich bei der idea tatsächlich um eine Platonische Idee handelt; aber vor dem Hintergrund der mit Sicherheit nicht zufälligerweise stark an Phd. 65d erinnernden Ausführungen in 439c/d erscheint ein solches Manöver wenig aussichtsreich. 17 Insbesondere in der älteren Sekundärliteratur wird mitunter auch für die These argumentiert, dass etwa die Idee des Schönen nicht mit der ousia des Schönen identisch ist, sondern ebenso durch die ousia des Schönen charakterisiert ist wie die Gegenstände, die an der Idee des Schönen teilhaben – mit dem einzigen Unterschied, dass die Schönheit dieser Gegenstände in irgendeinem näher zu spezifizierenden Sinne defizient, die der Idee hingegen vollkommen ist: So etwa Taylor (1908), 41, Shorey (1933), 172 f., und Ross (21953), 23–25; siehe Nehamas (1975) für eine nuancierte Auseinandersetzung mit dieser These. Auch wenn in dieser Studie davon ausge15
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Es kann demnach als gesichert gelten, dass der Nomothet einen Namen herstellt, mit dem sich die Handlung der Unterscheidung einer bestimmten Idee vollziehen lässt, wenn es ihm gelingt, die entsprechende spezifische Idee im Silben- und Buchstabenmaterial wiederzugeben. Das Spezifische Funktionalitätsprinzip, dem zufolge ein Ausdruck genau dann ein natürlicherweise richtiger Name ist, wenn sich mit ihm die Handlung des Nennens in einer spezifischen Version vollziehen lässt, impliziert also, dass ein Ausdruck genau dann ein natürlicherweise richtiger Name ist, wenn sich mit ihm eine bestimmte Idee – und damit auch die Art der Gegenstände, die an dieser Idee teilhaben – für einen Hörer herausgreifen lässt. Kann hingegen mit einem Ausdruck keine Idee für einen Hörer herausgegriffen werden, ist er für den Vollzug der Handlung des Nennens in keiner ihrer spezifischen Versionen geeignet – und daher überhaupt nicht geeignet für den Vollzug des Nennens. Ein solcher Ausdruck hat an keiner der spezifischen Ideen des Namens teil und somit auch nicht an der generischen Idee des Namens; er kann daher eigentlich gar nicht als genuiner Name gelten, auch wenn er sich von einem solchen aus einer grammatikalischen Perspektive nicht unterscheiden mag.18
Die E XKLUSIVITÄTSTHESE
Dieses Ergebnis markiert den Ausgangspunkt für den Schritt von dem Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen zu einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen: Denn eine solche Theorie hat eben die Frage zu beantworten, unter gangen wird, dass die Idee von X die ousia von X ist, ist festzuhalten, dass auch diejenigen Interpreten, die diese Identität leugnen, annehmen, dass jeder Idee genau eine ousia korrespondiert und umgekehrt. Insofern müssten auch sie zugeben, dass die Unterscheidung einer ousia mit der Unterscheidung eines eidos zusammenfällt. 18 Dass ein richtiger Name für eine Idee und die an ihr teilhabenden Gegenstände nichts anderes ist als ein genuiner oder echter Name für diese Idee und diese Gegenstände, bedeutet nicht, dass ein Ausdruck im Sinne von Ademollos »›Redundancy Conception‹ of correctness« (Ademollo (2011), 3) genau dann ein richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist, wenn die relevanten Sprecher ihn gewohnheitsmäßig für diese Gegenstände verwenden. So wird beispielsweise der griechische Ausdruck barbaros gewohnheitsmäßig für all diejenigen Menschen verwendet, die keine Hellenen sind, ist aber deswegen nicht nur kein richtiger Name für diese Menschen, sondern überhaupt kein richtiger Name, weil es keine Idee gibt, an der alle nichthellenischen Menschen teilhaben (s.u., 203 f.). Für diejenigen Gruppierungen von Gegenständen, die nicht von einer gemeinsamen ousia zusammengehalten werden, kann es demnach gar keinen richtigen Namen geben. Ademollos Interpretation verpflichtet ihn hingegen letztlich auf die Annahme, dass ein Ausdruck genau dann ein richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist, wenn die relevanten Sprecher ihn dafür halten beziehungsweise ihn als solchen behandeln – und diese Annahme ist mit dem Ansatz der Werkzeug-Analogie offenbar nicht zu vereinbaren.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
welchen Bedingungen die Tätigkeit des Nomotheten zur Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens im Silben- und Buchstabenmaterial und damit zur Produktion eines für die entsprechende Version des Nennens geeigneten Namens führt. Dass der Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Herstellung eines Werkzeugs einen aufmerksamen Leser zu der Einsicht führt, dass diese Frage im Sinne des Moderaten Naturalismus zu beantworten ist, wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein. Einstweilen gilt es aber, die Konturen des rekonstruierten Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen weiter zu schärfen – und dabei insbesondere auch sein kritisches Potenzial zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zweck nehme man an, mit einem bestimmten Ausdruck – etwa dem Wort »kahlköpfig« – könne keine Idee unterschieden werden; und man betrachte den Akt der Anwendung dieses Ausdrucks auf einen Gegenstand wie Sokrates, der durch die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist kahlköpfig« vollzogen wird.19 Solche Sätze dienen dazu, die Handlung des Aussagens zu vollziehen. Der Vollzug dieser Handlung setzt aber Sokrates’ Analyse zufolge den Vollzug der Teilhandlung des onomazein voraus – was, wie bereits im dritten Kapitel herausgearbeitet wurde, bedeutet, dass durch die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist kahlköpfig«, dessen Prädikatausdruck kein natürlicherweise richtiger Name ist, die Handlung des Aussagens nicht vollzogen werden kann: Denn da der Prädikatausdruck ex hypothesi kein natürlicherweise richtiger Name ist, kann mit ihm die Handlung des Nennens nicht vollzogen werden, so dass eine Voraussetzung für den Vollzug des Aussagens nicht erfüllt ist. Verallgemeinert man diese Überlegungen, ergibt sich aus Sokrates’ Bestimmung der natürlichen Richtigkeit der Namen die folgende Exklusivitätsthese: Durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist N« wird genau dann eine genuine Aussage über den Gegenstand X getroffen, wenn »N« ein natürlicherweise richtiger Name ist, durch dessen Einsatz eine Idee herausgegriffen wird; andernfalls scheitert der Versuch, durch die Äußerung des Satzes die Handlung des Aussagens zu vollziehen.20
Der Einfachheit halber wird hier vorausgesetzt, dass genuine Aussagen über sinnlich wahrnehmbare Gegenstände möglich sind. Sollte dies – was nach den Überlegungen des vorangehenden Kapitels zumindest denkbar scheint – in einem Platonischen Universum nicht der Fall sein, müsste man Akte der Anwendung eines Ausdrucks auf bestimmte Raum-Zeit-Portionen studieren – was die folgende Diskussion verkomplizieren, an ihrer Grundausrichtung aber nichts ändern würde. 20 Falls es in einem Platonischen Universum auch relationale Ideen geben sollte, wäre die E XKLUSIVITÄTSTHESE entsprechend anzupassen. 19
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Es ist letztlich die Exklusivitätsthese, der Sokrates’ Bestimmung der natürlichen Richtigkeit der Namen ihr normativ-kritisches Potenzial verdankt: Denn sie stellt klar, was davon abhängt, ob ein Ausdruck die Anforderung an einen natürlicherweise richtigen Namen erfüllt oder nicht. Könnte man nicht auf die Exklusivitätsthese (oder eine ähnliche These) zurückgreifen, ließe sich schlecht erklären, wieso man Ausdrücke überhaupt an der von Sokrates formulierten Norm der natürlichen Richtigkeit messen sollte; kann sie vorausgesetzt werden, stellt sich diese Frage hingegen überhaupt nicht mehr. Was dafür spricht, die Exklusivitätsthese zu akzeptieren, zeigen die Überlegungen des dritten Kapitels zum Begriff der ousia: Ein Gegenstand ist genau dann tatsächlich in bestimmter Weise – so der Ausgangspunkt dieser Überlegungen –, wenn ihm eine entsprechende ousia zukommt; und deswegen muss, wenn durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist N« eine genuine, zu objektiver Wahrheit fähige Aussage über einen Gegenstand X getroffen werden soll, durch den Einsatz des Namens »N« eine ousia herausgegriffen werden. Handelt es sich nun bei den stabilen ousiai, die Sokrates in 385e–386e postuliert, um die Ideen, folgt daraus, dass ein Gegenstand genau dann in bestimmter Weise ist, wenn er an der entsprechenden Idee teilhat.21 Demnach hängt es einzig und allein davon ab, an welchen Ideen ein Gegenstand teilhat, wie dieser Gegenstand ist oder wie es sich mit ihm verhält. Hätte man also beispielsweise eine vollständige Liste der Ideen, an denen Sokrates teilhat, wüsste man lückenlos darüber Bescheid, wie es sich tatsächlich mit Sokrates verhält; und hätte man eine solche Liste für jeden einzelnen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand, wüsste man vollständig darüber Bescheid, was in der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit der Fall ist (und was nicht). Die Tatsachen sind in diesem Sinne von allen menschlichen Entscheidungen, Wahrnehmungen und Meinungen vollkommen unabhängig. Insbesondere sind sie auch davon unabhängig, ob Menschen über sprachliche Mittel verfügen, um ihr Bestehen zu behaupten. Wir müssen entdecken, was tatsächlich der Fall ist, und ein zur Beschaffenheit der Wirklichkeit passendes begriffliches Instrumentarium entwickeln; aber unser begriffliches Instrumentarium hat keinerlei Einfluss darauf, was wirklich der Fall ist und was nicht. Welche Aussagen lassen sich unter dieser Voraussetzung über einen Gegenstand wie Sokrates mit einem Anspruch auf objektive Wahrheit treffen? In jedem Fall sind all diejenigen Aussagen zu objektiver Wahrheit zumindest fähig, die Sokrates’ Teilhabe an einer Idee konstatieren; denn Sokrates mag zwar de facto nicht an dieser Idee teilhaben, aber das Teilhaben an ihr ist zumindest eine Bedingung, die Gegenstände wirklich erfüllen können und in manchen Fällen auch erfüllen. Wenn solche Aussagen zu objektiver Wahrheit fähig sind, wird 21
Wie aus den bereits zitierten Passagen 423e2–5 und 439c6–e5 klar hervorgeht.
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man freilich auch einräumen müssen, dass sie sich mittels logischer Operationen zu komplexen Aussagen verbinden lassen, die ihrerseits zu objektiver Wahrheit fähig sind: Wenn beispielweise die Aussage, dass Sokrates ein Pferd ist, und die Aussage, dass Sokrates ein Mensch ist, beide zu objektiver Wahrheit fähig sind, weil es sowohl die Idee des Pferdes als auch die Idee des Menschen gibt, wird man auch zugestehen müssen, dass die Aussage, dass Sokrates ein Pferd ist oder Sokrates ein Mensch ist, zu objektiver Wahrheit fähig ist; denn ihr Wahrheitswert hängt ja funktional von dem Wahrheitswert der beiden Teilaussagen ab. Aber Aussagen über Sokrates, die nicht entweder seine Teilhabe an einer Idee konstatieren oder durch logische Verknüpfung aus Aussagen gebildet sind, die ihrerseits seine Teilhabe an einer Idee konstatieren, scheinen zu objektiver Wahrheit nicht fähig sein zu können: Denn wie sollte man auf diesem Wege über Sokrates etwas sagen können, was zumindest der Fall sein könnte, wenn doch ein Gegenstand wie Sokrates nur durch die Teilhabe an Ideen überhaupt auf bestimmte Weise sein kann? Hätte man also eine Liste aller Ideen, wüsste man lückenlos darüber Bescheid, auf welche Weisen Gegenstände sein können; und damit wüsste man auch lückenlos darüber Bescheid, welche Aussagen sich über Gegenstände mit einem Anspruch auf objektive Wahrheit treffen lassen. Wenn man nun davon ausgeht, dass Platon, dem das moderne Konzept der Wahrheitsfunktionalität nicht zur Verfügung steht, nicht mit der Möglichkeit rechnet, mehrere Aussagen durch logische Operationen wie Konjunktion oder Disjunktion zu einer logisch komplexen Aussage zu verknüpfen, 22 wird man auch davon ausgehen müssen, dass für ihn die soeben skizzierte Überlegung die Schlussfolgerung unausweichlich macht, dass man eine genuine Aussage über einen Gegenstand nur treffen kann, indem man über ihn sagt, dass er an einer bestimmten Idee teilhat: indem man also durch die Äußerung eines entsprechenden Satzes einen Namen auf ihn anwendet, durch dessen Einsatz eine Idee herausgegriffen wird. Blendet man in diesem Sinne das Phänomen logischer Komplexität aus, scheint es daher vor dem Hintergrund der Platonischen Ontologie tatsächlich plausibel zu sein, die Exklusivitätsthese zu vertreten – zumindest dann, wenn man die Vorannahme teilt, dass sich eine genuine Aussage über einen Gegenstand nur treffen lässt, indem man über diesen Gegenstand etwas sagt, was zumindest wirklich der Fall sein könnte. Dieses Argument für die Exklusivitätsthese ist sehr suggestiv – aber gleichzeitig auch sehr abstrakt. Seine Abstraktheit ist in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass es auf den Begriff der Idee rekurriert, ohne dass klar zu sein scheint, unter welchen Bedingungen einer phänomenalen Vielheit von Gegen22 Mit der Möglichkeit negativer Aussagen rechnet Platon allerdings durchaus; darauf wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein.
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ständen eine Idee als Einheitsprinzip entspricht, und welche Ideen es dementsprechend gibt. Es verhilft daher nicht zu einem genaueren Verständnis des kritischen Potenzials der Exklusivitätsthese: Denn es lässt nicht nur die Frage unbeantwortet, bei welchen gebräuchlichen Ausdrücken es sich nicht um natürlicherweise richtige Namen – und somit, wie man sagen könnte, um unrichtige Namen – handelt, sondern macht nicht einmal ansatzweise Kriterien namhaft, an denen man sich orientieren kann, wenn man überprüfen will, ob ein bestimmter Ausdruck zur Unterscheidung einer Idee geeignet und damit ein natürlicherweise richtiger Name ist oder nicht; es stellt, mit anderen Worten, keine Handhabe zur Verfügung, um zu untersuchen, ob es einem Nomotheten bei der Einführung eines neuen Wortes in die Sprache gelungen ist, eine spezifische Idee des Namens im Silben- und Buchstabenmaterial wiederzugeben, oder ob er an dieser Aufgabe gescheitert ist. Darin liegt nun aber keine geringfügige Schwierigkeit: Denn wenn nicht einmal im Grundsatz klar wäre, wie man feststellen kann, ob durch den Einsatz eines Ausdrucks eine Idee herausgegriffen wird, wäre der Eindruck, man habe es bei der Exklusivitätsthese mit einer klaren sprachphilosophischen These zu tun, nichts als eine Illusion. Auf was sich ein Konventionalist wie Hermogenes verpflichtet, wenn er den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen akzeptiert, und welche – möglicherweise höchst unplausiblen – Konsequenzen er in diesem Fall zu tragen hätte, bliebe somit trotz der Anbindung der Rede von stabilen ousiai an die Ideenannahme vollkommen schleierhaft. Das Problem, dass aus den Platonischen Dialogen nicht hervorzugehen scheint, unter welchen Bedingungen man von der Existenz einer bestimmten Idee ausgehen kann, ist ein notorisches Ärgernis für Interpreten, die sich um eine systematische Rekonstruktion der Platonischen Ontologie im Sinne einer Ideenlehre bemühen. In der älteren Forschung ist eine Tendenz zu beobachten, dieses Problem zu verdrängen und sich darauf zu verlassen, dass für Platon jedem gebräuchlichen generellen Term eine Idee entspricht.23 Aber während es einige wenige Stellen in den Dialogen geben mag, die bei einer oberflächlichen Lektüre diese Interpretationslinie zu stützen scheinen, 24 enthält der Politikos eine So bereits Ritter (1830), 270 f.; dann in expliziter Anknüpfung an Ritter Zeller (41889), 701 f., Anm. 1, und im Anschluss an Zeller Ross (21953), 79. 24 So verpflichtet Sokrates im Phaidon seine Mitunterredner auf die These, »dass jegliches eidos etwas ist und durch Teilnahme an ihnen die anderen Dinge ihren Beinamen (eponymia) von ihnen erhalten« (Phd. 102a10–b2: Ὡς μὲν ἐγὼ οἶμαι, ἐπεὶ αὐτῷ ταῦτα συνεχωρήθη, καὶ ὡμολογεῖτο εἶναί τι ἕκαστον τῶν εἰδῶν καὶ τούτων τἆλλα μεταλαμβάνοντα αὐτῶν τούτων τὴν ἐπωνυμίαν ἴσχειν […];); im zehnten Buch der Politeia beginnt er seine Untersuchung zum Wesen der mimêsis mit der folgenden methodologischen Frage an Glaukon: »Willst du also, dass wir die Betrachtung hierbei anfangen nach der gewohnten Methode? Nämlich ein eidos pflegen wir doch jedesmal aufzustellen für jegliches Viele, dem wir denselben Namen beilegen« (Rep. 596a5–7: Bούλει οὖν ἐνθένδε ἀρξώμεθα ἐπισκοποῦντες, ἐκ τῆς εἰωθυίας μεθόδου; εἶδος γάρ 23
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Passage, die keinen Zweifel daran zulässt, dass Platon damit rechnet, dass mit manchen generellen Termen kein eidos herausgegriffen werden kann. Dort gibt nämlich der Eleatische Fremde auf die Frage des jüngeren Sokrates, was an seiner dihairetischen Unterscheidung zwischen der Zucht (trophê) von Menschen und der Zucht aller anderen Tiere nicht richtig gewesen sei, die folgende Antwort: Dieses, wie wenn jemand die menschliche Gattung (genos) in zwei Teile teilen wollte und täte es, wie hier bei uns die meisten zu unterscheiden pflegen, dass sie das Hellenische als eines von allem übrigen absondern für sich, alle anderen unzähligen Gattungen insgesamt aber, die gar nichts untereinander gemein haben und gar nicht übereinstimmen, mit einer einzigen Benennung (klêsis) Barbaren heißen und aufgrund dieser einen Benennung erwarten, dass sie eine Gattung sind [.]25
Insgesamt sei die Regel zu beachten, dass zwar dann, »wenn es ein eidos von etwas gibt, ebendieses notwendig auch ein Teil (meros) derselben Sache sein wird, wovon es auch ein eidos genannt wird, dass aber, was ein Teil sei, auch ein eidos sein müsse, gar nicht notwendig ist.«26 Während vieles an dieser Auskunft und ihren ontologischen Implikationen umstritten ist – insbesondere die Frage, mit πού τι ἓν ἕκαστον εἰώθαμεν τίθεσθαι περὶ ἕκαστα τὰ πολλά, οἷς ταὐτὸν ὄνομα ἐπιφέρομεν); und im Menon scheint er anzunehmen, dass die Tatsache, dass das Runde und alle anderen Formen oder Gestalten mit dem gemeinsamen Namen »Gestalt« (schêma) bezeichnet werden, die folgende Frage motiviert, die sich vor dem Hintergrund seiner Ausführungen in 72c/d eindeutig auf das eidos der Gestalt richtet: »Was ist doch dieses, was das Runde nicht minder unter sich begreift als das Gerade, was du eben Gestalt nennst, und behauptest, das Runde sei nicht mehr Gestalt als das Gerade?« (Men. 74d7–e2: Ὅτι ἐστὶν τοῦτο ὃ οὐδὲν ἧττον κατέχει τὸ στρογγύλον ἢ τὸ εὐθύ, ὃ δὴ ὀνομάζεις σχῆμα καὶ οὐδὲν μᾶλλον φῂς τὸ στρογγύλον σχῆμα εἶναι ἢ τὸ εὐθύ;). – Zitiert ist jeweils Schleiermachers Übersetzung. Bei näherer Betrachtung rechtfertigen die zitierten Passagen es allerdings nicht, Platon eine solch starke und zudem philosophisch höchst unattraktive These zu unterstellen. Im Hinblick auf die Stelle aus dem Phaidon ist dies offensichtlich: Hier wird nur behauptet, dass sich dann, wenn viele Dinge an einer Idee teilhaben, der Name dieser Idee als Beiname auf diese Dinge überträgt, aber nicht, dass es dann, wenn viele Dinge auf dieselbe Weise benannt werden, eine Idee geben muss, an der sie alle teilhaben. Anders verhält es sich mit den Stellen aus dem Menon und der Politeia, in denen Sokrates aus der Tatsache, dass bestimmte Dinge einen Namen teilen, abzuleiten scheint, dass es ein entsprechendes eidos geben muss. Aber Sokratesʼ Ausführungen zeigen nicht, dass es sich bei der Ansetzung eines solchen eidos um mehr handelt als um eine Hypothese, die am Anfang einer dialektischen Untersuchung steht und der Bestätigung durch den erfolgreichen Vollzug dieser Untersuchung bedarf. (Ähnlich behandelt diese Stellen Crivelli (2008), 219.) 25 Pol. 262c10–d6: Tοιόνδε, οἷον εἴ τις τἀνθρώπινον ἐπιχειρήσας δίχα διελέσθαι γένος διαιροῖ καθάπερ οἱ πολλοὶ τῶν ἐνθάδε διανέμουσι, τὸ μὲν Ἑλληνικὸν ὡς ἓν ἀπὸ πάντων ἀφαιροῦντες χωρίς, σύμπασι δὲ τοῖς ἄλλοις γένεσιν, ἀπείροις οὖσι καὶ ἀμείκτοις καὶ ἀσυμφώνοις πρὸς ἄλληλα, βάρβαρον μιᾷ κλήσει προσειπόντες αὐτό, διὰ ταύτην τὴν μίαν κλῆσιν καὶ γένος ἓν αὐτὸ εἶναι προσδοκῶσιν [.] Übersetzung nach Schleiermacher. 26 Pol. 263b8–10: Ὡς εἶδος μὲν ὅταν ᾖ του, καὶ μέρος αὐτὸ ἀναγκαῖον εἶναι τοῦ πράγματος ὅτουπερ ἂν εἶδος λέγηται· μέρος δὲ εἶδος οὐδεμία ἀνάγκη. Übersetzung nach Schleiermacher.
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welchem Teilbegriff der Fremde hier operiert 27 –, geht aus ihr doch zumindest eindeutig hervor, dass nicht jeder sprachlichen Einteilung von Gegenständen durch einen generellen Term ein eidos oder eine Idee (vgl. ideai in 262b7) entspricht.28 Bei näherer Überlegung wird auch schnell ersichtlich, aus welchem Grund es höchst fragwürdig wäre, anzunehmen, dass jedem gebräuchlichen generellen Term eine Idee entspricht: Denn offenbar lässt sich mittels zweiter Namen für Ideen ohne Weiteres ein neuer genereller Term einführen, den man seinerseits nicht als Name für eine Idee anerkennen wollen wird.29 So kann beispielsweise mittels der Namen »Pferd« und »Mensch«, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf Ideen beziehen, der generelle Term »Pfensch« eingeführt werden, indem festgelegt wird, dass ein Gegenstand genau dann als »Pfensch« zu bezeichnen ist, wenn es sich um ein Pferd oder um einen Menschen handelt. Nun scheint es aber keinen Grund zu geben, von der Existenz einer Idee des Pfenschen auszugehen, ist doch keine Gemeinsamkeit von Menschen und Pferden auszumachen, die sie von allen anderen Gegenständen unterscheidet. Wenn man eine Idee des Pferdes und eine Idee des Menschen ansetzt, ist es daher allem Anschein nach vollkommen überflüssig, auch noch eine Idee des Pfenschen zu postulieren. »Pfensch« wäre demnach ein genereller Term, dem keine Idee korrespondiert. Der Fall des griechischen Ausdrucks barbaros scheint nun ganz ähnlich gelagert zu sein: Denn seine Verwendung unterliegt offenbar der Regel, dass ein Gegenstand genau dann ein barbaros zu nennen ist, wenn es sich um einen Menschen, aber nicht um einen Hellenen handelt; und da es, wie der Fremde in 262d4 explizit erläutert, keine Gemeinsamkeit der nicht-hellenischen Menschen gibt, die sie von allen anderen Gegenständen unterscheidet,30 spricht dieselbe Erwägung gegen die Ansetzung einer Idee des barbaros wie gegen die Ansetzung einer Idee des Pfenschen. (Es ist freilich nicht ganz klar, ob die Regel für die Verwendung des Ausdrucks barbaros sich ebenso wie ex hypothesi die Regel für die VerEntscheidend ist dabei, ob man mit Moravscik (1973a) und (1973b) sowie Hochholzer (2016) davon ausgeht, dass ein Teil eines genos eine intensionale Entität ist, oder mit Cohen (1973) und Sayre (2006), 206–240, annimmt, dass es sich bei einem solchen Teil um eine Klasse handelt. Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob man dihairetische Schnitte katʼ eidê als Teilungen von genê in eidê (Moravscik, Hochholzer) oder als Teilungen von Klassen in Unterklassen in Orientierung an eidê (Cohen, Sayre) auffasst, was wiederum für das Verständnis der ontologischen Hintergrundtheorie der dihairetischen Methode entscheidend ist. 28 Die Rede von der ›Entsprechung‹ oder ›Korrespondenz‹ zwischen einem Namen und einer Idee ist freilich, wie sich im siebten Kapitel zeigen wird, der Sachlage nicht ganz angemessen. 29 Vgl. dazu Kretzmann (1971), 131 f. 30 Es versteht sich von selbst, dass die nicht-hellenischen Menschen Gemeinsamkeiten aufweisen – sie sind alle Menschen, Säugetiere etc. Aber sie scheinen eben keine Gemeinsamkeit aufzuweisen, die sie nicht auch noch mit anderen Gegenständen verbindet. 27
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wendung des Ausdrucks »Pfensch« mittels zweier genuiner Namen formulieren lässt, denen Ideen entsprechen: Denn ob es sich bei dem Ausdruck hellenikos, der für die Formulierung jener Regel unverzichtbar ist, um einen solchen Namen handelt, scheint zumindest zweifelhaft zu sein. Der Fremde scheint aber – möglicherweise des Beispiels halber – in 262d3 vorauszusetzen, dass es ein genos der Hellenen gibt; und diese Voraussetzung soll auch den weiteren Überlegungen dieses Kapitels zugrunde gelegt werden.) Man wird Platon daher die Annahme, jedem gebräuchlichen generellen Term entspreche eine Idee, kaum zuschreiben wollen, weil sie angesichts der unbegrenzten Möglichkeiten zur Einführung genereller Terme durch die Etablierung idiosynkratischer Benennungskonventionen eine Ideenvermehrung praeter necessitatem erzwänge. Diese Annahme wäre auch schlecht zu vereinbaren mit dem Status der Ideen als stabile ousiai: Denn Stabilität scheint im Zusammenhang von Sokrates’ Auseinandersetzung mit dem Relativismus unmittelbar vor der Werkzeug-Analogie ja gerade Unabhängigkeit von allen menschlichen Meinungen und Entscheidungen zu bedeuten. Wenn die Ideen die stabilen ousiai sind, die Sokrates hier gegen den Relativismus postuliert, kann es also keinesfalls von tatsächlich bestehenden oder möglichen Benennungskonventionen abhängig sein, welche Ideen es gibt. Das Problem, das nicht nur das Ziel einer systematischen Rekonstruktion der Platonischen Ontologie gefährdet, sondern auch die Intelligibilität der Exklusivitätsthese bedroht, lässt sich demnach nicht durch Verdrängung aus der Welt schaffen: Nicht jedem gebräuchlichen generellen Term entspricht eine Idee; aber zugleich scheint sich den Platonischen Dialogen nicht entnehmen zu lassen, anhand welcher Kriterien man zu überprüfen hat, welchen generellen Termen eine Idee entspricht. Für den Umgang mit diesem Problem ist es allerdings überaus hilfreich, sich zu fragen, wieso seine Verdrängung so leichtfällt, ja von bestimmen Passagen geradezu provoziert zu werden scheint. Dabei kann man von einer Beobachtung ausgehen, die bereits für die im zweiten Kapitel dieser Studie verfolgte Strategie zur Verteidigung des Postulats der Ideen von Werkzeugen wie der kerkis oder dem Bohrer von zentraler Bedeutung war: Demnach ist die Ansetzung und explizite Thematisierung eines eidos oder einer Idee als Einheitsprinzip einer phänomenalen Vielheit von Gegenständen, die eine bestimmte Gemeinsamkeit aufzuweisen scheinen, kein Schritt, der einer philosophischen Rechtfertigung bedürfte; er wird von Sokrates vielmehr mit einer gewissen Routine vollzogen und von seinen Gesprächspartnern stets ohne Widerstand hingenommen.31 Angesichts des 31 Mit den Giganten haben in der sogenannten Gigantomachie des Sophistes (246a–249d) Denker einen Auftritt, die konsequent jegliches unkörperliche Sein und damit auch die Existenz
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Status der Ideen als ousiai oder Seinsweisen ist dieses Vorgehen auch nicht weiter verwunderlich: Denn wenn bestimmte Gegenstände tatsächlich eine Gemeinsamkeit aufweisen, müssen sie offenbar in einer bestimmten Weise sein, in der alle anderen Gegenstände nicht sind; und indem man die Sprache auf ihr eidos bringt, thematisiert man nichts anderes als diese ihre Seinsweise. Der entscheidende Punkt ist nun, dass man dann, wenn die Konvention besteht, einen Ausdruck »N« für bestimmte Gegenstände zu verwenden, ganz automatisch davon ausgeht, dass diese Gegenstände alle tatsächlich oder wirklich in einer bestimmten Weise sind – dass sie alle tatsächlich oder wirklich N sind.32 Denn wie sich im dritten Kapitel dieser Studie gezeigt hat, ist unserer Praxis des Aussagens die Annahme eingeschrieben, dass wir durch die Artikulation eines Satzes der Form »X ist N« sagen, dass X unabhängig von allen menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen wirklich N ist. Aus der Perspektive eines Dialektikers sind durchschnittliche Sprecher, die unter dieser Annahme mit einem Ausdruck operieren, daher verpflichtet, die Existenz einer entsprechenden Idee anzuerkennen – auch wenn sie sich dieser Verpflichtung in aller Regel nicht bewusst sind, bevor der Dialektiker sie thematisiert. Bei genauerer Betrachtung kann sich dann freilich erweisen, dass es keine korrespondierende Idee gibt und dementsprechend die Annahme, durch die Anwendung des jeweiligen Ausdrucks auf Gegenstände könne gesagt werden, wie diese Gegenstände wirklich sind, nicht zu halten ist.33 So scheint es sich mit dem Ausdruck barbaros zu verhalten: Nachdem es keine Idee oder Seinsweise des barbaros gibt, sind die mit diesem Ausdruck bezeichneten Gegenstände nicht wirklich barbaroi; was die Anwendung des Ausdrucks auf sie rechtfertigt, ist vielmehr die Tatsache, dass sie einerseits wirklich Menschen und andererseits wirklich keine Hellenen sind.34 Aber die dialektische Hypothese, dass einem bestimmten genevon Ideen leugnen. Bezeichnenderweise kann man mit ihnen, wie der Fremde in 246c–d erläutert, nicht direkt, sondern nur über einen dialektischen Mittelsmann sprechen. Wer eidê leugnet, ist, so suggeriert diese Passage, eigentlich gar nicht gesprächsfähig. 32 Deswegen fiel es im dritten Kapitel auch zunächst schwer, das normativ-kritische Potenzial von Sokrates’ Bestimmung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« einer Art zu erkennen. 33 Es ist eine bedenkenswerte Frage, ob diese Annahme in den meisten Fällen falsch sein könnte, ohne dass unsere Praxis des Treffens von Aussagen dadurch ihren Sinn verlöre. Auf den ersten Blick ist aber nicht zu erkennen, wieso eine Sprachgemeinschaft nicht zunächst mit einem Set von Ausdrücken operieren können sollte, die sich zum größten Teil nicht auf Ideen zu beziehen. Vgl. dazu Anm. 50 im sechsten Kapitel. 34 Eine ganz ähnliche Position scheint van Inwagen (1990), 6 f., zu skizzieren: »I suppose that what there is, is never a matter of stipulation or convention. […] I do not, of course, deny that one can appropriate or invent a word or phrase and stipulate a meaning for it – thereby establishing a convention among those who agree to use that word or phrase in the sense one has stipulated, a convention that will have the consequence that certain existential sentences express truths. I
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rellen Term eine Idee entspricht, ist trotz solcher Gegenbeispiele von einem Sprecher, der im Sinne des common sense an die objektive Wahrheit seiner Aussagen glaubt, nicht ohne Weiteres zurückzuweisen. Diese Überlegung liefert eine Antwort auf die Frage, wieso die Platonischen Dialoge den Eindruck erwecken können, jedem gebräuchlichen generellen Term korrespondiere eine Idee. Sie zeigt aber auch, warum der Versuch, notwendige und hinreichende Bedingungen für den Ideenbezug von generellen Termen namhaft zu machen, so problematisch ist. Schließlich impliziert sie, dass die Frage nach Kriterien, anhand derer man überprüfen kann, welche Ideen es gibt, letztlich mit der Frage nach Kriterien zusammenfällt, anhand derer man überprüfen kann, was unabhängig von menschlichen Meinungen und Entscheidungen wirklich der Fall ist. Auf diese Frage wird man aber keine allgemeine und informative Antwort erwarten können: Denn das Konzept des Wirklich-der-Fall-Seins scheint so basal zu sein, dass es kaum möglich sein dürfte, seine Verwendung unter Rekurs auf noch basalere Konzepte zu explizieren.35 Wie aus den Überlegungen dieses Abschnitts folgt, scheint aber das Konzept der Idee im Denkrahmen der Platonischen Philosophie nicht minder basal zu sein als das Konzept des Wirklich-der-Fall-Seins; und es dürfte daher ebenfalls unmöglich sein, die Regeln für das korrekte Operieren mit dem Konzept der Idee unter Rekurs auf basalere Konzepte zu explizieren. Es zeugt von Platons überlegener philosophischer Einsicht, dass er einen entsprechenden Versuch niemals unternimmt. Aber fallen damit die Exklusivitätsthese und letztlich auch der funktionalistische Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen nicht der völligen Obskurität anheim? Das wäre dann der Fall, wenn ihre Intelligibilität davon abhinge, dass sich ein Set von Kriterien angeben lässt, anhand derer überprüft werden kann, ob einem generellen Term eine Idee entspricht oder nicht. Aber bevor man den Stab über der Exklusivitätsthese bricht, weil sich ein solches Set von Kriterien aus dem erläuterten prinzipiellen Grund nicht etablieren lassen wird, gilt es zu beachten, dass Sokrates selbst es im Kratylos keineswegs für unmöglich zu halten scheint, Ausdrücke, die den Standard natürlicher Richtigkeit nicht erfüllen, von solchen zu unterscheiden, die ihn erfüllen: Schließlich schreibt er dem can stipulate that, or adopt the convention that, I shall call something a ›dwod‹ if it is either a dog or a squid. And I can go on to say (correctly) that there are dwods; but this thing I can go on to say is correct only because there are animals of at least one of the kinds dog or squid. Whether there are dogs or squids, however, is not a matter that can be settled by establishing conventions [.]« 35 Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt Kit Fine im Hinblick auf das Konzept der Realität: »I myself do not see any way to define the concept of reality in essentially different terms; the metaphysical circle of ideas to which it belongs is one from which there appears to be no escape« (Fine (2009), 175). Vgl. zu Fines Umgang mit diesem Befund Anm. 37.
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Dialektiker die Aufgabe zu, die Produkte des Nomotheten kritisch zu evaluieren (390b–d); und diese Aufgabenbeschreibung passt nur allzu gut zu der in vielen Dialogen beschriebenen Fähigkeit des Dialektikers, Fälle zu erkennen, in denen eine phänomenale Mannigfaltigkeit von einer Idee zusammengehalten wird.36 Ein Dialektiker scheint also herausfinden zu können, welchen Ausdrücken Ideen entsprechen. Man wird daher Sokrates nicht vorwerfen können, dass er diese Frage ignoriert oder vernachlässigt – nur fällt die Antwort, die er gibt, anders aus, als man es zunächst erwarten würde: Sokrates versucht eben gar nicht erst, ein Set von hinreichenden und notwendigen Bedingungen anzugeben, die erfüllt sein müssen, wenn einem gebräuchlichen Ausdruck eine Idee entsprechen soll – und zwar weder im Kratylos noch in irgendeinem anderen Dialog. Stattdessen benennt er die Kompetenz, die erforderlich ist, um bestimmte phänomenale Mannigfaltigkeiten als von Ideen zusammengehaltene Einheiten zu erkennen, beschreibt diese Kompetenz (wie es auch der Eleatische Fremde im Sophistes und im Politikos tut) und übt sie vor allem in Ansätzen auch selbst aus (was ihn wiederum mit dem Eleatischen Fremden verbindet).37 Man befindet sich daher auf einem Holzweg, wenn man die Verfügbarkeit einer Ideenlehre – eines Doktrinensystems, dem sich entnehmen lässt, welchen generellen Termen Ideen korrespondieren – für eine conditio sine qua non der Intelligibilität der Exklusivitätsthese hält: Denn die Figur des Dialektikers scheint ein Wissen um den richtigen Umgang mit dem Begriff der Ideen zu verkörpern, das sich aufgrund der Unmöglichkeit der vollständigen Explikation dieses Begriffs mittels basalerer Begriffe nicht verlustfrei durch die Formulierung eines Doktrinensystems zum Ausdruck bringen lässt, sondern untrennbar mit seiner kompetenten dialektischen Praxis verbunden ist;38 ganz so, wie auch das Wissen eines Handwerkers, der ein bestimmtes Werkzeug zu fertigen versteht, den Überlegungen des zweiten Kapitels dieser Studie zufolge nicht als Wissen um die Wahrheit einer Reihe von Sätzen aufzufassen ist. Es ist daher zwar zweifellos geboten, in der Auseinandersetzung mit den Platonischen Dialogen ein möglichst präzises Verständnis der Rede von den Ideen und damit auch ein möglichst präzises Verständnis der Exklusivitätsthese anzustreben. Nur hätte man sich So z. B. in Phdr. 266b–c und Pol. 284e–285b. Vgl. zum Verhältnis dieser Kompetenz des Dialektikers zur Kompetenz des Nomotheten die Überlegungen im ersten Abschnitt des siebten Kapitels. 37 Kit Fine wählt einen ganz ähnlichen Weg, um die Intelligibilität des undefinierbaren Konzepts der Realität sicherzustellen: Er beschreibt in Fine (2002), §§ 5–10, im Detail, wie man Fragen über das, was realiter der Fall ist, systematisch untersucht. 38 Diese These vertritt auch Wieland in seinem Kapitel »Ideen ohne Ideenlehre«: Wieland (21999), 125–150. Wieland richtet sich mit seinen Überlegungen aber vor allem gegen eine Vergegenständlichung der Ideen. 36
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dabei an einem anderen Ideal der Präzision zu orientieren, als man es bei philosophischen Untersuchungen zu tun gewohnt ist: Man hätte nämlich eine möglichst große Vertrautheit mit guter dialektischer Praxis anzustreben – bis hin zu dem Punkt, an dem man selbst kompetent genug ist, um zu erkennen, ob hinter einer phänomenalen Mannigfaltigkeit eine Idee als Einheitsprinzip steht. Es hat daher einen guten Grund, wenn Platon dem subtilen Verweis auf die Ideen in 389d den weit weniger subtilen Verweis auf die Kompetenz des Dialektikers in 390b–d an die Seite stellt: Was die Ideen sind, wird hinlänglich eben nur derjenige verstehen, der diese Kompetenz in ihrer Struktur durchdrungen hat und sie bestenfalls auch selbst auszuüben vermag. Der Fortschritt, der mit der Einsicht verbunden ist, dass ein Name genau dann für eine spezifische Version des Nennens geeignet und somit ein organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias ist, wenn er zur Unterscheidung einer Idee beziehungsweise der Art der an ihr teilhabenden Gegenstände eingesetzt werden kann, liegt also nicht darin, dass sich dank der Identifikation der stabilen ousiai mit den Ideen plötzlich notwendige und hinreichende Kriterien angeben ließen, anhand derer sich Ausdrücke, die den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen, von solchen Ausdrücken unterscheiden lassen, für die das nicht gilt: Er liegt vielmehr darin, dass angesichts dieser Identifikation klar ist, welche Kompetenz ein fundiertes Urteil darüber möglich macht, ob es sich bei einem bestimmten Ausdruck um ein organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias handelt – die dialektische Kompetenz des Umgangs mit den eidê der Wirklichkeit.39 Um sich ein genaues Verständnis der Exklusivitätsthese zu erarbeiten, müsste man demnach idealerweise eine gründliche Analyse der dialektischen Praxis des Umgangs mit den Ideen und dem Ideenbegriff, wie sie in den Platonischen Dialogen vorgeführt und beschrieben wird, entwickeln.40 Eine solche Analyse kann und soll hier freilich nicht geleistet werden – zumal sie, wie die Überlegungen des gegenwärtigen Abschnitts gezeigt haben, auch nicht zu einer generellen Antwort auf die Frage führen würde, welchen gebräuchlichen Ausdrücken eine Idee entspricht und welchen nicht. Für die Zwecke einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Exklusivitätsthese und der mit ihr verbundenen Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen ist es aber zweifellos notwendig, zumindest eine Vorstellung davon zu haben, auf welche Weise(n) ein Nomothet an der Aufgabe scheitern kann, eine der spezifischen Ideen des Namens in die Silben und Buchstaben zu legen und so einen natürDementsprechend wird der Fachmann für den Gebrauch von Namen erst nach der Beschreibung der Aufgabe des Nomotheten, die zu diesem gedanklichen Fortschritt führt, mit dem dialektikos identifiziert (390c10 f.), während er zuvor nur als didaskalikos bezeichnet wird. 40 Eine solche Analyse strebt Monique Dixsaut in ihrer vorzüglichen Studie Métamorphoses de la dialectique dans les dialogues de Platon (Paris 2001) an. 39
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licherweise richtigen Namen zu produzieren – eine Vorstellung davon also, auf welche Weise(n) gebräuchliche Ausdrücke den von Sokrates in Anschlag gebrachten Standard der natürlichen Richtigkeit verfehlen können. Nachdem klar ist, dass ein Set von hinreichenden und notwendigen Bedingungen für die Erfüllung dieses Standards sich nicht aufstellen lassen wird, erscheint es naheliegend, sich stattdessen um die Beantwortung der folgenden Frage zu bemühen: Angenommen, eine Sprache enthält zwar einen Namen für jede Idee, aber bisher keine anderen generellen Terme – auf welche Weise(n) könnte ein inkompetenter Nomothet eine solche ›Ideensprache‹ um generelle Terme erweitern, denen ex hypothesi keine Idee entspricht? Eine Untersuchung dieser Frage ist nicht mit dem aussichtslosen Unterfangen zu verwechseln, allgemeine Kriterien für die Unterscheidung zwischen natürlicherweise richtigen Namen und Ausdrücken, mit denen sich keine Idee herausgreifen lässt, zu etablieren: Denn indem man sie anstrengt, versetzt man sich ja in eine kontrafaktische Situation, in der bereits bekannt ist, welche Ideen es gibt, um sich Aufschluss darüber zu verschaffen, wie Ausdrücke in die Sprache eingeführt werden können, denen keine dieser Ideen korrespondiert. Auf diesem Wege kann man offenbar keine absolute, sondern nur eine relative Klärung der Frage erreichen, unter welchen Bedingungen sprachlichen Ausdrücken keine Idee korrespondiert – relativ nämlich auf eine bestimmte Hypothese darüber, welche Ideen es gibt. Auch eine solche hypothetisch-relative Klärung – eine ›zweitbeste Fahrt‹ gleichsam – ist aber keineswegs ohne Wert, vermittelt sie doch, wie sich zeigen wird, ein für die Zwecke dieser Studie hinreichend deutliches Bild davon, wie man sich Ausdrücke vorzustellen hat, mit denen sich keine Idee unterscheiden lässt. Die nächsten beiden Abschnitte werden durch eine relative Klärung dieses Zuschnitts das kritische Potenzial der Exklusivitätsthese möglichst deutlich hervortreten lassen und so den Boden für ihre Verteidigung bereiten, die im abschließenden fünften Abschnitt geleistet werden soll. Das übergreifende Ziel dieser Überlegungen ist also ein doppeltes: Einerseits sollen sie im Hinblick auf die Frage nach den Konsequenzen, die man zu tragen hat, wenn man den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen und mithin die Exklusivitätsthese akzeptiert, so viel Klarheit schaffen, wie es im Rahmen einer ›zweitbesten Fahrt‹ möglich ist. Andererseits sollen sie zeigen, dass diese Konsequenzen auch für einen Konventionalisten wie Hermogenes durchaus tragbar sind – und so die These endgültig absichern, dass ein solcher Konventionalist in Anbetracht von Sokrates’ Überlegungen zur Natur des Sprechens und Nennens in 387b–388c den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen anerkennen sollte. Ausgehen können die folgenden Betrachtungen dabei von der Tatsache, dass mit dem Ausdruck barbaros ein klares Beispiel für einen unrichtigen Namen vor-
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zuliegen scheint. Es bietet sich daher an, sich in einem ersten Schritt der Frage zu widmen, welche Art von Fehler ein inkompetenter Nomothet beginge, wenn er eine bereits komplette Ideensprache durch die Einführung des Ausdrucks barbaros ergänzte. Wie bereits kurz diskutiert wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die Problematik des Ausdrucks barbaros, der offenbar genau dann auf einen Gegenstand anzuwenden ist, wenn er ein Mensch, aber kein hellenikos ist, der Problematik des Ausdrucks »Pfensch« gleicht, der genau dann auf einen Gegenstand anzuwenden ist, wenn er ein Pferd oder ein Mensch ist. Ganz allgemein lässt sich diese Problematik folgendermaßen beschreiben: Wenn die Namen »N1«, …, »Ni« alle zur Ideensprache gehören, lässt sich ein neuer Ausdruck »N« einführen, indem man die Regel etabliert, dass jeder Satz der Form »X ist N« genau dann wahr ist, wenn ein entsprechender logisch komplexer Satz wahr ist, der aus der syntaktisch korrekten Verknüpfung von Sätzen der Form »X ist N1«, …, »X ist Ni« mittels logischer Junktoren hervorgeht. Derartige Ausdrücke sollen im Folgenden als logisch komplexe Namen bezeichnet werden. Man wird nun davon auszugehen haben, dass einem logisch komplexen Namen in aller Regel41 keine Idee entspricht: Denn der Wahrheitswert des Satzes »X ist N« ist ja per definitionem fixiert durch die Beziehungen, in denen der Gegenstand X zu denjenigen Ideen steht, die den Namen »N1«, …, »Ni« korrespondieren; und es wäre dementsprechend überflüssig, eine Idee anzusetzen, an der genau diejenigen Gegenstände teilhaben, auf die der Ausdruck »N« korrekterweise angewendet werden kann. So ist ja beispielsweise der Satz »X ist ein Pfensch« genau dann wahr, wenn X an der Idee des Pferdes oder an der Idee des Menschen teilhat – weswegen es wenig Sinn zu ergeben scheint, eine Idee des Pfenschen zu postulieren, an der all diejenigen Gegenstände X teilhaben, für die der Satz »X ist ein Pfensch« wahr ist. Eine echte Gemeinsamkeit, die sie von allen anderen Gegenständen unterscheidet, dürften die Gegenstände, die zur Extension eines logisch komplexen Namens gehören, demnach höchstens in Ausnahmefällen aufweisen. Nachdem der Eleatische Fremde in der zitierten Passage aus dem Politikos – wenn auch möglicherweise nur des Beispiels halber – vorauszusetzen scheint, dass dem Ausdruck hellenikos eine Idee entspricht, ist es auf den ersten Blick sehr naheliegend, den Ausdruck barbaros als einen logisch komplexen Namen zu betrachten: Denn sein Gebrauch scheint einzig und allein der Regel zu unterliegen, dass ein Satz der Form »X ist ein barbaros« genau dann wahr ist, wenn der ihm entsprechende Satz der Form »X ist ein Mensch, aber X ist nicht hellenikos« Es ist nicht auszuschließen, dass es Fälle gibt, in denen sich die Gegenstände, die zur Extension eines logisch komplexen Namens gehören, von allen anderen Gegenständen dadurch unterscheiden, dass sie an einer bestimmten Idee teilhaben. 41
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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wahr ist. Will man daher im Ausgang von diesem klaren Beispiel für einen Ausdruck, mit dem sich keine Idee herausgreifen lässt, das kritische Potenzial der Exklusivitätsthese aufhellen und so die Konturen des von Sokrates beschriebenen Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen schärfen, empfiehlt es sich, mit einer Untersuchung des Verhältnisses zwischen diesem Standard und den logisch komplexen Namen zu beginnen.42 Dieser Aufgabe widmet sich der nächste Abschnitt. Er wird zu dem – prima facie durchaus überraschenden – Ergebnis führen, dass es verfehlt ist, logisch komplexe Namen an bewusstem Standard zu messen und deswegen als unrichtigen Namen einzustufen, weil sich mit ihnen keine Idee herausgreifen lässt. An den logisch komplexen Namen lässt sich demnach, wie zu zeigen sein wird, das kritische Potenzial der Exklusivitätsthese wider Erwarten nicht studieren. Im Ausgang von diesem negativen Befund wird der anschließende Abschnitt dann aber zwei Typen von Ausdrücken diskutieren können, an denen sich dieses kritische Potenzial tatsächlich studieren lässt. Der abschließende fünfte Abschnitt dieses Kapitels wird dementsprechend die Implikationen zu plausibilisieren haben, die sich im Hinblick auf diese beiden Ausdruckstypen aus der Exklusivitätsthese ergeben. Zwei kurze Bemerkungen zur Methodik seien dieser Untersuchung noch vorausgeschickt: Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die Diskussion der folgenden drei Abschnitte insofern spekulativ ist, als sie keine Rekonstruktion einer Überlegung bietet, die im Kratylos oder einem anderen Platonischen Dialog entwickelt wird. Stattdessen verfolgt sie – sozusagen auf eigene Faust – eine Sachfrage, die von Sokrates’ Ausführungen im Kratylos, aber auch von vielen Passagen in anderen Dialogen, die das Verhältnis zwischen sprachlichen Ausdrücken und Ideen betreffen, provoziert, aber nicht in der Weise beantwortet wird, wie es hier geschehen soll. Zum anderen ist zu betonen, dass diesen Ausführungen die Annahme zugrunde liegt, dass es von der Konvention abhängt, die den Gebrauch eines Ausdrucks regiert, ob sich mit diesem Ausdruck eine Idee herausgreifen lässt oder nicht. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens scheint, wie die nächsten Kapitel zeigen werden, Platon selbst diese Annahme zu teilen; und zweitens ist (zumindest für den Autor dieser Zeilen) vollkommen unklar, wie man dann, wenn man diese Annahme zurückweist, zu einem konstruktiven Umgang mit der Frage finden soll, welche Erweiterungen der Ideensprache durch unrichtige Namen möglich sind.
Auch Kretzmann (1971), 131 f., Fine (1977), 295, und Crivelli (2012), 218, gehen davon aus, dass sich das kritische Potenzial der im Kratylos skizzierten Position anhand der logisch komplexen Namen studieren lässt. 42
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Logisch komplexe Namen und die ERWEITERTE E XKLUSIVITÄTSTHESE
An den logisch komplexen Namen scheint sich auf den ersten Blick nicht nur das kritische Potenzial der Exklusivitätsthese illustrieren zu lassen, sondern auch ihre Implausibilität: Denn wenn man davon ausgeht, dass solchen Ausdrücken in aller Regel deswegen keine Idee korrespondieren dürfte, weil die Gegenstände, auf die sie angewendet werden, sich nicht durch eine bestimmte Gemeinsamkeit von allen anderen Gegenständen unterscheiden, scheint man der Exklusivitätsthese zufolge bestreiten zu müssen, dass sie zum Treffen von Aussagen eingesetzt werden können, die zu objektiver Wahrheit fähig sind. Ein Vertreter der Exklusivitätsthese scheint also leugnen zu müssen, dass Aussagesätze wie »Sokrates ist ein Pfensch«43 und »Alle Pfenschen sind Säugetiere« zu objektiver Wahrheit fähig sind. Das aber würde implizieren, dass auch die Aussagesätze »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« und »Alle Gegenstände, die ein Pferd oder ein Mensch sind, sind Säugetiere« nicht zu objektiver Wahrheit fähig sind – was ex hypothesi nicht der Fall sein kann, weil die Existenz der Idee des Pferdes und der Idee des Menschen vorausgesetzt ist. Betrachtet man die logisch komplexen Namen als Testfall für die Plausibilität der normativ-kritischen Implikationen der Exklusivitätsthese, scheint das Testergebnis daher auf den ersten Blick negativ zu sein: Da es möglich ist, mittels logisch komplexer Namen Aussagen zu treffen, die zu objektiver Wahrheit fähig sind, kann die Exklusivitätsthese nicht richtig sein; und es scheint daher fragwürdig, generelle Terme nur dann als genuine Namen anzuerkennen, wenn sich mit ihnen eine Idee herausgreifen lässt. Man könnte versucht sein, dieses Problem aus der Welt zu schaffen, indem man bestreitet, dass es für Platon überhaupt als Problem erkennbar war. Platon stand schließlich, so wird man zurecht sagen, noch kein Konzept logischer Komplexität zur Verfügung, wie die moderne Logik es entwickelt hat.44 Nun weiß man freilich nicht, wie Platon mit einem Satz der Gestalt »Sokrates ist ein Mensch oder Sokrates ist ein Pferd« umgegangen wäre. Aber wenn man von Aristoteles’ Umgang mit logischer Komplexität in De interpretatione 11 (20b12–30) und insbesondere auch in Sophistici elenchi 17 (175b39–176a18) ausgeht, liegt die Vermutung nahe, dass Platon nicht ohne Weiteres eingeräumt hätte, dass durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Philosoph und Sokrates ist stülpnasig« eine konjunktive Aussage getroffen wird, die dann wahr ist, wenn die beiden Konjunkte wahr sind, und dann falsch, wenn mindestens eines der Konjunkte Hier wird des Beispiels halber vorausgesetzt, dass dieser Satz nicht deswegen nicht zu objektiver Wahrheit fähig ist, weil in ihm ein Eigenname die Rolle des Subjektausdrucks spielt. 44 Vgl. zum Umgang antiker Logiker mit (logischen) Konnektoren nach Platon die nuancierte Diskussion bei Barnes (2007), 168–263. 43
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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falsch ist.45 Dementsprechend ist es auch denkbar, dass Platon nicht annimmt, dass durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« eine (disjunktive) Aussage getroffen wird, sondern eher die Position einnehmen würde, dass man einen Sprecher, der einen solchen Satz äußert, fragen müsste, welche der beiden Aussagen er denn nun treffen möchte. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, würde Platon offenkundig auch nicht einräumen, dass durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« eine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden kann, und das Problem logisch komplexer Namen würde sich für ihn nicht stellen. Diese Exkulpation Platons ist unter philosophiehistorischen Gesichtspunkten zweifellos sehr respektabel. Sie suggeriert allerdings, dass es de facto ein Fehler ist, logisch komplexe Namen nicht als genuine Namen anzuerkennen, auch wenn Platon es unmöglich als Fehler erkennen konnte. Wie die folgenden Überlegungen zeigen sollen, ist das aber gar nicht der Fall: Es gibt tatsächlich auch dann einen guten Grund dafür, ein Wort wie »Pfensch« nicht als einen genuinen Namen gelten zu lassen, wenn man mit der Möglichkeit logisch komplexer Aussagen rechnet. Allerdings – und das ist die zweite zentrale These dieses Abschnitts – verpflichtet man sich mit der Anerkennung dieses Grundes nicht auf die Schlussfolgerung, dass durch die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist ein Pfensch« keine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden kann; zu ziehen ist vielmehr die Schlussfolgerung, dass Wörter wie »Pfensch« eine besondere Rolle für den Vollzug des Aussagens spielen, die sie von den echten Namen unterscheidet.46 Diese Thesen werden dann verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass es sich bei einem Satz wie »Sokrates ist ein Pfensch« letztlich um eine Abkürzung für den Satz »Sokrates ist ein Mensch oder Sokrates ist ein Pferd« handelt. Diese Wie Dummett (21981), 336 f., bemerkt, ist ja auch tatsächlich richtig, dass es keinen großen Unterschied macht, ob man eine Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Philosoph und Sokrates ist stülpnasig« als einen Fall beschreibt, in dem ein Sprecher eine konjunktive Aussage trifft, oder als einen Fall, in dem er zwei atomare Aussagen trifft. Anders verhält es sich, wenn man ein Konditional wie »Wenn gilt, dass Sokrates ein Philosoph ist und Sokrates stülpnasig ist, dann gibt es stülpnasige Philosophen« betrachtet – um einem solchen Konditional einen Wahrheitswert zuschreiben zu können, muss man nämlich offenbar annehmen, dass es sich bei seinem Antezedens um eine Aussage handelt, von deren Wahrheitswert der Wahrheitswert des Konditionals abhängt. (Dazu Dummett, ebd.: »›And‹ is an important word in the language precisely because it can occur in a sentence in which it is not the principal logical operator [.]«) Freilich wird dieser Unterschied nur dann erkennbar, wenn man bereits über eine Konzeption logischer Komplexität verfügt und insbesondere Konditionale aus einer modernen Perspektive sieht – was für Platon nicht zu gelten scheint. 46 Die folgende Explikation und Rechtfertigung dieser beiden Thesen stützt sich auf die Überlegungen zum Unterschied zwischen ›einfachen‹ und ›komplexen‹ Prädikaten sowie zur Unvollständigkeit der komplexen Prädikate bei Dummett (21981), 27–33. 45
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Einsicht ist deswegen von großer Bedeutung, weil es zu groben Missverständnissen führen kann, wenn man dem Abkürzungscharakter eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks nicht Rechnung trägt. Um ein ziemlich unsubtiles Beispiel für diese Gefahr zu geben, sei angenommen, dass eine Sprachgemeinschaft beschließt, anstelle des (aus unerfindlichen Gründen) sehr häufig verwendeten Satzes »Sokrates ist stülpnasig« in Zukunft auch den Ausdruck »Stülp« als eine Abkürzung für diesen Satz zu verwenden – wenn ein Sprecher also »Stülp« sagt, trifft er damit die Aussage, dass Sokrates stülpnasig ist. Wenn man sich nun nicht klar macht, dass es sich bei »Stülp« um eine reine Abkürzung handelt, wird man möglicherweise die Frage für berechtigt halten, welcher Teil der Lautfolge *Stülp* die Funktion hat, auf Sokrates zu referieren; denn schließlich kann keine Aussage über einen Gegenstand getroffen werden, ohne auf diesen Gegenstand zu referieren, und es scheint, als müsse das Referieren als Teilhandlung des Aussagens in diesem Fall eine Teilhandlung der Äußerung der Lautfolge *Stülp* und damit die Äußerung eines Teils dieser Lautfolge sein. Gleichzeitig ist aber völlig klar, dass diese Frage keineswegs berechtigt sein muss – denn es muss offenbar keinen Teil der Lautfolge *Stülp* geben, durch dessen Äußerung der Bezug auf Sokrates hergestellt wird. Wäre dies der Fall, hätte die Sprachgemeinschaft keine echte Abkürzung eingeführt, sondern höchstens einen neuen Namen für Sokrates.47 Auf den ersten Blick scheint freilich der Satz »Sokrates ist ein Pfensch« nicht im selben Sinne eine Abkürzung für den Satz »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« zu sein wie der Ausdruck »Stülp« für den Satz »Sokrates ist stülpnasig«. Denn der Satz »Sokrates ist ein Pfensch« ist, anders als der Ausdruck »Stülp«, aus Teilen aufgebaut, die auch im Kontext anderer Sätze vorkommen können und dort auf dieselbe Weise wie in dem Satz »Sokrates ist ein Pfensch« dazu beitragen, dass durch die Äußerung dieser Sätze eine bestimmte Aussage getroffen wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass man einer Täuschung unterliegt, wenn man annimmt, dass durch die Verwendung des Namens »Pfensch« in dem Satz »Sokrates ist ein Pfensch« ebenso ein klar abgrenzbarer Beitrag zum Vollzug des Aussagens geleistet wird wie durch die Verwendung des Namens »Mensch« in dem Satz »Sokrates ist ein Mensch«. Da nämlich durch die ÄußeDer Fehler des Arguments für die These, es müsse einen Teil der Lautfolge *Stülp* geben, durch dessen Äußerung die Handlung des Referierens vollzogen wird, liegt in der verfehlten Gleichsetzung zwischen der Handlung, die durch die Äußerung der Lautfolge *Stülp* vollzogen wird – also der Handlung des Aussagens –, und der bloßen Äußerung dieser Lautfolge. Denn wenn man diesen Unterschied berücksichtigt, wird man auch zwischen den Teilen der Handlung des Aussagens und den Teilen der Äußerung der Lautfolge unterscheiden. Diese Unterschiede kommen normalerweise nicht zum Tragen, weil zwischen den Teilen einer sprachlichen Handlung und den Teilen des Ausdrucks, durch dessen Äußerung sie vollzogen wird, oft ein Verhältnis zumindest ungefährer Korrespondenz besteht; deutlicher werden sie erst in Fällen, in denen dieses Korrespondenzverhältnis nicht besteht, insbesondere bei Abkürzungen wie »Stülp«. 47
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rung des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« ex hypothesi dieselbe Aussage getroffen wird wie durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch«, wird man davon ausgehen müssen, dass bei der Äußerung dieser beiden Sätze auch dieselben Teilhandlungen des Aussagens vollzogen werden. An dem Satz »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« lässt sich erkennen, welche Teilhandlungen das sind: Offenbar wird in beiden Disjunkten durch die Verwendung des Eigennamens »Sokrates« jeweils Sokrates herausgegriffen sowie durch die Verwendung des Namens »Pferd« im ersten Disjunkt die Idee des Pferdes und durch die Verwendung des Namens »Mensch« im zweiten Disjunkt die Idee des Menschen; zudem wird auf einer höheren logischen Ebene48 durch die Verwendung des Konnektors »oder« die Verknüpfung der beiden Disjunkte zu einer disjunktiven Aussage vollzogen. Nun scheint die Vermutung naheliegend, dass sich diese Teilhandlungen in der folgenden Weise säuberlich auf die Teile des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« aufteilen lassen: Durch den Einsatz des Eigennamens »Sokrates« werden die beiden Akte des Herausgreifens von Sokrates vollzogen, und durch den Einsatz des Wortes »Pfensch« das Herausgreifen der Idee des Menschen und der Idee des Pferdes sowie die disjunktive Verknüpfung. Aber es lässt sich leicht erkennen, dass die Aufgaben keineswegs so klar verteilt sind – denn es ist offensichtlich erklärungsbedürftig, dass durch den Einsatz des Namens »Sokrates« bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« zwei Akte des Herausgreifens von Sokrates vollzogen werden, während durch eine Verwendung eines Eigennamens doch eigentlich ein referentieller Akt vollzogen wird. Um an der Annahme festzuhalten, allein durch die Verwendung des Eigennamens »Sokrates« werde bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« zweimal auf Sokrates referiert, müsste man schon einen sehr ausgeprägten Glauben an die magischen Kräfte der Sprache haben. De facto ist natürlich kein Zaubertrick vonnöten, um mit der Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« zweimal auf Sokrates zu referieren und so die Aussage zu treffen, dass Sokrates ein Mensch ist oder Sokrates ein Pferd ist: Es ist nur so, dass – ganz wie im Fall des Ausdrucks »Stülp« – diese beiden Teilhandlungen nicht einem Teil des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« zugeordnet werden können, sondern durch die Äußerung des gesamten Satzes vollzogen werden. Ließen sie sich einem Teil des Satzes zuordnen, müsste sich der andere Teil des Satzes ersetzen lassen, ohne dass sich etwas am Vollzug dieser beiden Teilhandlungen änderte. Aber das ist nicht der Fall: Ersetzt man »Sokrates« durch »Kratylos«, erhält man den Satz »Kratylos ist ein Pfensch«, durch dessen Äußerung offenbar zweimal Kratylos herausgegriffen wird, aber nicht Sokrates; und ersetzt 48
Denn das »oder« verknüpft Aussagen, die ja ihrerseits schon logisch artikuliert sind.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
man »Pfensch« durch »Mensch«, erhält man den Satz »Sokrates ist ein Mensch«, bei dessen Äußerung offenbar nur ein Akt des Herausgreifens von Sokrates vollzogen wird.49 Wenn die Verwendung des Namens »Pfensch« im Kontext eines Satzes keinen in diesem Sinne abgrenzbaren Beitrag dazu leistet, dass eine bestimmte Aussage getroffen wird, so wird durch seine Verwendung offenbar auch keine abgrenzbare Teilhandlung des Aussagens vollzogen – insbesondere auch nicht die Handlung des onomazein. Mithin gibt es einen guten Grund, ein Wort wie »Pfensch« nicht als genuinen Namen anzuerkennen. Das Argument für diese These lässt sich offenbar verallgemeinern: Denn wenn festgelegt wird, dass ein Gegenstand genau dann »(ein) Rothaus« zu nennen ist, wenn er rot und ein Haus ist, so dass durch einen Satz der Gestalt »X ist ein Rothaus« per stipulationem dieselbe Aussage getroffen wird wie durch den Satz »X ist ein Haus und X ist rot«, wird durch die Verwendung des Wortes »Rothaus« aus demselben Grund keine abgrenzbare Teilhandlung des Aussagens vollzogen, aus dem auch durch die Verwendung von »Pfensch« keine solche Teilhandlung vollzogen wird; in beiden Fällen sorgt nämlich nur der kombinierte Einsatz des betreffenden Wortes mit dem jeweiligen Subjektausdruck im Kontext des gesamten Aussagesatzes dafür, dass zwei Akte des Referierens auf den jeweiligen Gegenstand der Aussage vollzogen werden. Gleiches gilt auch für Wörter, deren Anwendungsbedingungen mithilfe eines Konditionals oder Bikonditionals festgelegt werden. Insgesamt scheint es daher plausibel zu sein, einen logisch komplexen Namen deswegen nicht als echten Namen gelten zu lassen, weil sich ein echter Name, wie Platon voraussetzt, dadurch auszeichnet, dass durch seine Verwendung im Kontext eines Satzes eine Teilhandlung des Aussagens vollzogen werden kann.50 Man könnte versucht sein, den Spieß umzudrehen und zu behaupten, dass auch bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Mensch« durch die Verwendung des Eigennamens »Sokrates« kein klar abgrenzbarer Beitrag zur Handlung des Aussagens geleistet wird, weil man bei einer Ersetzung von »Mensch« durch »Pfensch« den Satz »Sokrates ist ein Pfensch« erhält, durch dessen Äußerung (unter anderem) zwei Akte des Herausgreifens von Sokrates vollzogen werden. Aber das wäre nur dann ein Problem, wenn man voraussetzen dürfte, dass sich diese beiden Akte allein der Verwendung des Eigennamens »Sokrates« in diesem Satz zurechnen lassen – und genau das steht ja in Frage. 50 Der Unterschied zwischen genuinen und logisch komplexen Namen, der hier herausgearbeitet wird, besteht also nicht etwa darin, dass sich mit jenen, aber nicht mit diesen eine klar abgrenzbare Teilhandlung des Aussagens in Isolation vollziehen lässt; vielmehr geht es darum, dass durch einen genuinen Namen, der in einen Aussagesatz eingebunden ist, eine klar abgrenzbare Teilhandlung des betreffenden Aussageakts vollzogen wird, während dies für einen logisch komplexen Namen, der in einen Aussagesatz eingebunden ist, nicht gilt. Ob für Platon eine solche Teilhandlung auch durch den isolierten Einsatz eines genuinen Namens vollzogen werden kann, ist hingegen weiterhin offen: Vgl. dazu Anm. 33 im siebten Kapitel. 49
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Indessen bedarf dieses Ergebnis noch einer Einschränkung – die bisher vorgebrachten Überlegungen zeigen nämlich nicht, warum ein Wort wie »Nensch« nicht als Name anerkannt werden sollte, dessen Gebrauch von der Regel geleitet wird, dass es für einen Gegenstand genau dann zu verwenden ist, wenn dieser Gegenstand kein Mensch ist. Denn dieser Regel zufolge wird durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Nensch« dieselbe Aussage getroffen wie durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist kein Mensch« bzw. »Es gilt nicht, dass Sokrates ein Mensch ist«; und der eine Akt des Referierens auf Sokrates, der bei der Äußerung der nicht abgekürzten Sätze durch die Verwendung des Eigennamens »Sokrates« vollzogen wird, wird zweifellos auch bei der Äußerung des abgekürzten Satzes durch den Einsatz dieses Eigennamens ausgeführt, ohne dass der Prädikatausdruck »Nensch« irgendetwas mit dem Vollzug der Teilhandlung des Referierens zu tun hätte. Auf den ersten Blick scheint daher das Wort »Nensch« einen klar abgrenzbaren Beitrag zu der getroffenen Aussage zu leisten, indem es die Funktion des Herausgreifens der Idee des Menschen mit derjenigen der Aussagennegation verbindet. Man könnte sich freilich dagegen sperren, die Kombination dieser beiden Funktionen als einen einheitlichen Beitrag zum Vollzug des Aussagens gelten zu lassen, und auf dieser Grundlage dafür argumentieren, dass ein Ausdruck wie »Nensch« nicht als echter Name gelten sollte. Aber wenn man die Analyse negativer Aussagen betrachtet, die Platon den Eleatischen Fremden im Sophistes entwickeln lässt (257b–258c), scheint ein solches Manöver gar nicht nötig zu sein: Denn der Fremde scheint hier für die These zu plädieren, dass ein Satz der Form »X ist nicht N« genau dann wahr ist, wenn X an der Idee des Verschiedenen-vonN oder des Nicht-N teilhat.51 Bei einer solchen Interpretation negativer Aussagen wird man aber Ausdrücke wie »Nensch« deswegen problemlos als genuine Namen anerkennen können, weil sie der Unterscheidung einer Idee dienen.52 Es hat nicht an Versuchen gemangelt, meist unter Verweis auf die Unterscheidung zwischen eidê und merê in Pol. 262a–264b und 265a für die These zu argumentieren, dass die Teile des Verschiedenen nicht als eidê angesehen werden müssen – so etwa Cornford (1935), 293, Cherniss (1944), 263–265, Ross (21953), 167 f., Dixsaut (1991), 196 f., Fine (1993), 115, und Berman (1996), 36. Keinem dieser Interpreten gelingt es aber, den Eindruck zu entkräften, dass diese These angesichts der Passage Soph. 258a1–9 extrem unplausibel ist, in der der Fremde konstatiert: Ὡμοίως ἄρα τὸ μὴ μέγα καὶ τὸ μέγα αὐτὸ εἶναι λεκτέον; – Ὡμοίως. – Oὐκοῦν καὶ τὸ μὴ δίκαιον τῷ δικαίῳ κατὰ ταὐτὰ θετέον πρὸς τὸ μηδέν τι μᾶλλον εἶναι θάτερον θατέρου; – Tί μήν; – Kαὶ τἆλλα δὴ ταύτῃ λέξομεν, ἐπείπερ ἡ θατέρου φύσις ἐφάνη τῶν ὄντων οὖσα, ἐκείνης δὲ οὔσης ἀνάγκη δὴ καὶ τὰ μόρια αὐτῆς μηδενὸς ἧττον ὄντα τιθέναι. 52 Eine negative Aussage über einen Gegenstand unterschiede sich demnach, was ihre Wahrheitsbedingungen anbetrifft, nicht prinzipiell von einer positiven Aussage über diesen Gegenstand: Bedingung der Wahrheit wäre in beiden Fällen die Teilhabe des betreffenden Gegenstands an einer Idee. Eine strukturell analoge Position scheint Frege zu vertreten, der dafür plädiert, der Unterscheidung zwischen verneinenden und bejahenden Urteilen und Gedanken 51
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Trägt man dieser Einschränkung Rechnung, kann die erste der beiden zu Beginn dieses Abschnitts formulierten Thesen als hinreichend abgesichert gelten: Durch die Verwendung eines logisch komplexen Namens wird, wenn es sich nicht um einen Namen wie »Nensch« handelt,53 im Kontext eines Satzes kein abgrenzbarer Beitrag zur Handlung des Aussagens geleistet. Logisch komplexe Namen sollte man daher nicht als Werkzeuge zum Vollzug von Teilhandlungen des Aussagens anerkennen – und demzufolge nicht als echte Namen. Wenn daher festgelegt wird, dass ein Satz der Form »X ist ein Pfensch« genau dann wahr sein soll, wenn der Satz »X ist ein Pferd oder X ist ein Mensch« wahr ist, kann man zwar davon sprechen, dass mit »Pfensch« ein neues Wort in die betreffende Sprache eingeführt wird; aber noch treffender wäre es, dies als eine Situation zu beschreiben, in der auf systematische Weise für alle Sätze einer bestimmten Form Abkürzungen eingeführt werden, in denen zwar stets der Ausdruck »Pfensch« vorkommt, aber eben keine klar abgrenzbare Rolle spielt. Folgt daraus, dass man die Verwendung des Ausdrucks »Pfensch« in dem Satz »Sokrates ist ein Pfensch« als einen Versuch bewerten muss, die Handlung des Nennens zu vollziehen, der nicht auf ein zum Nennen geeignetes Werkzeug zurückgreift und deswegen scheitert? Unter dieser Voraussetzung müsste man auch die Äußerung des ganzen Satzes als einen scheiternden Versuch bewerten, die Handlung des Aussagens zu vollziehen – was absurd wäre, weil durch die Äußerung dieses Satzes die objektiv wahre Aussage getroffen wird, dass Sokrates ein Pferd ist oder Sokrates ein Mensch ist. Aber sobald man den Abkürzungscharakter des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« verstanden hat, wird man auch aufgrund ihrer Unklarheit zu entraten: »Es [ist] gar nicht leicht […], anzugeben, was ein verneinendes Urteil (ein verneinender Gedanke) sei. Man betrachte die Sätze ›Christus ist unsterblich‹, ›Christus lebt ewig‹, ›Christus ist nicht unsterblich‹, ›Christus lebt nicht ewig‹. Wo haben wir nun hier einen bejahenden, wo einen verneinenden Gedanken? […] Man sieht, zu welchen kniffligen Fragen der Ausdruck ›verneinendes Urteil‹ (verneinender Gedanke) führen kann. Endlose, mit großem Scharfsinn geführte und doch im wesentlichen unfruchtbare Streite können die Folge sein. Deshalb stimme ich dafür, daß man die Unterscheidung von verneinenden und bejahenden Urteilen oder Gedanken so lange ruhen lasse, bis man ein Kennzeichen habe, von dem man in jedem Falle ein verneinendes Urteil von einem bejahenden mit Sicherheit unterscheiden könne. […] Ich bezweifle zunächst noch, daß dies gelingen werde« (Frege (1918/19b), 150 f.). 53 Wenn es, wie in der vorangegangenen Anmerkung erörtert wurde, angesichts des Postulats negativer Ideen keinen logisch oder ontologisch relevanten Unterschied zwischen positiven und negativen Aussagen gibt, scheint es freilich auch keinen Grund zu geben, negative Aussagen im Gegensatz zu positiven Aussagen als logisch komplex zu betrachten; dementsprechend behandelt beispielsweise Frege (1923/26) die Gedanken, die durch die Negation eines atomaren Aussagesatzes ausgedrückt werden, auch nicht als Gedankengefüge. Unter dieser Voraussetzung liegt aber die Frage nahe, ob es überhaupt sinnvoll ist, Ausdrücke wie »Nensch« als logisch komplexe Namen zu behandeln, oder ob man nicht vielmehr die Definition der logisch komplexen Namen so modifizieren sollte, dass sie auf solche Ausdrücke nicht mehr zutrifft.
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einsehen, dass durch die Äußerung des gesamten Satzes die Handlung des Aussagens mit all ihren Teilhandlungen vollzogen wird, zu denen auch zwei Akte des onomazein gehören. Es ist daher zwar richtig, dass der Ausdruck »Pfensch« nicht eingesetzt werden kann, um eine Idee herauszugreifen und die Handlung des Nennens zu vollziehen; aber das ist auch gar nicht der Maßstab, dem ein logisch komplexer Name entsprechen muss: Er ist gemeinsamer Teil einer Reihe von systematisch eingeführten, satzförmigen Abkürzungen für andere Sätze und muss sich daher nicht daran messen lassen, ob er den Vollzug einer bestimmten Teilhandlung des Aussagens ermöglicht. Wenn man erkannt hat, dass logisch komplexe Namen in diesem Sinne sui generis sind, kann man einräumen, dass sie in Sätzen vorkommen können, durch deren Äußerung die Handlung des Aussagens vollzogen wird, obwohl durch ihre Verwendung nicht der klar abgrenzbare Beitrag des Herausgreifens einer Idee zum Vollzug des Aussagens geleistet wird. Man kann daher an der normativen Bestimmung des Nennens als Unterscheidung einer Idee und der entsprechenden normativen Bestimmung des Namens festhalten, ohne bestreiten zu müssen, dass durch die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist ein Pfensch« die Handlung des Aussagens inklusive der Teilhandlung des Nennens vollzogen werden kann, obwohl »Pfensch« kein natürlicherweise richtiger Name im Sinne der Werkzeug-Analogie ist.54 Man könnte einwenden, dass man diese Strategie für den Umgang mit logisch komplexen Namen offenkundig nicht verfolgen kann, ohne in einen Konflikt mit der – für die Werkzeug-Analogie zentralen – These zu geraten, dass die Handlung des Nennens, genau wie andere Handlungen auch, mit einem adäquaten Werkzeug vollzogen werden muss, wenn sie überhaupt vollzogen soll. Denn wenn, so die Überlegung, durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pfensch« ein Akt des Aussagens vollzogen werden kann, der den Akt des Herausgreifens der Idee des Pferdes und den Akt des Herausgreifens der Idee des Menschen und In diesem Zusammenhang ist wiederum ein Vergleich des logisch komplexen Namens »Pfensch« mit dem Konnektor »oder«, wie er in dem Satz »Sokrates ist ein Mensch oder Sokrates ist ein Pferd« verwendet wird, instruktiv (vgl. dazu die Diskussion der Eigennamen im vierten Kapitel). Der Konnektor »oder« ähnelt dem logisch komplexen Namen »Pfensch« nämlich darin, dass durch seine Verwendung sicherlich ebenfalls keine Idee herausgegriffen wird, ohne dass daraus folgen würde, dass durch die Äußerung eines Satzes, der ein »oder« enthält, die Handlung des Aussagens nicht vollzogen werden kann. Mit dem »oder« wird eine andere (und logisch höherstufige) Teilhandlung des Aussagens als das Nennen vollzogen, und daher ergibt es offenbar keinen Sinn, den Konnektor »oder« an Sokrates’ normativer Bestimmung des Namens zu messen und auf dieser Grundlage zu einem unbrauchbaren Namen zu erklären. Mit logisch komplexen Namen wie »Pfensch« verhält es sich etwas anders: Sie dienen nicht dazu, eine andere Teilhandlung des Aussagens als das Nennen zu vollziehen, sondern fungieren als gemeinsamer Teil einer Reihe von systematisch erzeugten satzförmigen Abkürzungen anderer Sätze. Es wäre aber gleichermaßen verfehlt, sie daran zu messen, ob sie das Herausgreifen einer Idee ermöglichen. 54
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damit zwei Akte des Nennens involviert, kann die Verwendung eines adäquaten Werkzeugs offenbar keine notwendige Bedingung für den Vollzug des Nennens sein; schließlich enthält ja der Satz »Sokrates ist ein Pfensch« weder ein für das Herausgreifen der Idee des Pferdes noch ein für das Herausgreifen der Idee des Menschen geeignetes Werkzeug. Mit dem Zugeständnis, dass die Handlung des Nennens auch ohne ein adäquates Werkzeug vollzogen werden kann, verlöre aber die Rede von natürlicherweise richtigen Namen schlagartig ihr Interesse. Wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt, ergibt sich freilich diese Schwierigkeit nicht aus dem Zugeständnis, dass sich durch die Äußerung von Sätzen, deren Prädikatausdruck ein logisch komplexer Name ist, die Handlung des Aussagens vollziehen lässt. Geht man nämlich im Sinne der zu Beginn dieses Abschnitts angestellten Überlegungen davon aus, dass die Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft unter der Voraussetzung, dass sie eine entsprechende Konvention etabliert haben, durch die Äußerung einer in grammatikalischer Hinsicht ganz und gar teillosen Lauteinheit wie »Stülp« beispielsweise die Aussage treffen können, dass Sokrates stülpnasig ist, bekommt man es ohnehin mit dieser Schwierigkeit zu tun: Denn ex hypothesi ist kein Teil der Lautfolge »Stülp« ein Werkzeug zur Unterscheidung der (hier des Arguments halber einmal zu postulierenden) Idee der Stülpnasigkeit; und wenn man nicht annehmen möchte, dass eine Aussage auch getroffen werden kann, ohne dass die Teilhandlungen des Aussagens wie insbesondere das Nennen vollzogen werden, scheint sich die Schlussfolgerung nicht vermeiden zu lassen, dass die Handlung des Nennens, die bei der Äußerung des Satzes »Sokrates ist stülpnasig« durch den Einsatz des Namens »stülpnasig« vollzogen wird, auch ohne ein solches Werkzeug vollzogen werden kann. Aber zeigt der Fall der Abkürzung »Stülp« tatsächlich, dass sich die Handlung des Nennens ohne ein geeignetes sprachliches Werkzeug vollziehen lässt? Das wird man deswegen kaum sagen wollen, weil die Möglichkeit, durch die Äußerung von »Stülp« die Handlung des Treffens einer bestimmten Aussage inklusive ihrer Teilhandlungen zu vollziehen, im beschriebenen Szenario gleichsam parasitär von der Möglichkeit abhängig ist, diese Handlung durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist stülpnasig« zu vollziehen. Und genauso verhält es sich mit dem Satz »Sokrates ist ein Pfensch«: Durch die Äußerung dieses Satzes lässt sich nur deswegen die Aussage treffen, dass Sokrates ein Pferd ist oder Sokrates ein Mensch ist, weil er durch die Abkürzungskonvention mit dem Satz »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« verbunden ist, in dem die Namen »Pferd« und »Mensch« verwendet werden, um die Idee des Pferdes und die Idee des Menschen herauszugreifen. Angesichts dieses parasitären Abhängigkeitsverhältnisses wäre es irreführend, zu behaupten, dass in einer Sprachgemeinschaft, die den logisch komplexen Namen »Pfensch« verwendet, die Ideen des Pferdes und des
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Menschen ohne die sprachlichen Werkzeuge »Pferd« und »Mensch« herausgegriffen werden können: Angemessener wäre es wohl, von einem indirekten oder vermittelten Gebrauch dieser Werkzeuge zu sprechen.55 Aber unabhängig davon, wie man das Verhältnis zwischen der Äußerung einer Abkürzung wie »Sokrates ist ein Pfensch« und dem Akt der Verwendung der Namen »Pferd« und »Mensch« möglichst treffend beschreibt, wird man die Tatsache, dass sich die Handlung des Aussagens inklusive der Teilhandlung des Nennens auch durch eine solche Abkürzung vollziehen lässt, wohl kaum ernsthaft als Beleg dafür werten können, dass es keines adäquaten sprachlichen Werkzeugs bedarf, um die Handlung des Nennens vollziehen zu können.56 Es ist zuzugeben, dass es im Fall physischer Werkzeuge wie Bohrer oder Messer nicht die Möglichkeit zu geben scheint, sie in der beschriebenen Weise indirekt zu verwenden; aber es ist auch zu erwarten, dass die Analogie zwischen Namen und solchen Werkzeugen bestimmten Einschränkungen unterliegt. 56 Man könnte freilich versuchen, in Anlehnung an §§ 20–21 von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen ein leicht modifiziertes Argument für die These zu konstruieren, dass es keinen adäquaten Namen braucht, um die Handlung des Nennens zu vollziehen: So könnte man sich eine Sprachgemeinschaft vorstellen, die – aus welchen Gründen auch immer – über Namen für alle Ideen bis auf die Idee des Pferdes und die Idee des Menschen verfügt. Die Sprecher dieser Sprache können offenbar keinen Ausdruck wie »Pfensch« in ihrem Vokabular haben, dessen Verwendung einzig und allein der Regel unterliegt, dass der Satz »X ist ein Pfensch« genau dann wahr ist, wenn der Satz »X ist ein Pferd oder X ist ein Mensch« wahr ist. Aber sie könnten über einen Ausdruck wie »Merd« verfügen, für den Folgendes gilt: Kompetente Sprecher der betreffenden Sprache bewerten de facto nicht nur die Anwendung dieses Ausdrucks auf einen Gegenstand genau dann als korrekt, wenn es sich bei diesem Gegenstand um ein Pferd oder um einen Menschen handelt (wobei sie natürlich nicht auf entsprechende Namen zurückgreifen können, um ihre eigene Verwendungspraxis zu beschreiben); für sie spielt der Satz »X ist ein Merd« auch dieselbe inferentielle Rolle, wie es in einer um die Namen »Pferd« und »Mensch« erweiterten Sprache der Satz »X ist ein Pferd oder X ist ein Mensch« täte – abgesehen davon natürlich, dass in dieser erweiterten Sprache, nicht aber in der ursprünglichen Sprache Sätze in Schlüsse eingebunden werden können, die die Namen »Pferd« oder »Mensch« enthalten. In diesem Szenario kann offensichtlich keine Rede davon sein, dass Sätze der Form »X ist ein Merd« Abkürzungen für Sätze der Form »X ist ein Pferd oder X ist ein Mensch« sind, weil Sätze der letzteren Form sich in der beschriebenen Sprache ja gar nicht formulieren lassen; und es kann demnach auch keine Rede davon sein, dass bei der Äußerung eines Satzes der Form »X ist ein Merd« die Namen »Pferd« und »Mensch« beziehungsweise irgendwelche anderen Namen für die Idee des Pferdes und die Idee des Menschen in indirekter oder vermittelter Weise gebraucht werden. Wenn man nun davon ausgehen darf, dass die Sprecher der betreffenden Sprachgemeinschaft dennoch durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Merd« dieselbe Aussage treffen können, die man in einer vollständigen Ideensprache durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« treffen würde, scheint sich die Schlussfolgerung nicht vermeiden zu lassen, dass es möglich ist, die Idee des Pferdes und die Idee des Menschen herauszugreifen, ohne über Namen für diese Ideen zu verfügen. Man könnte einwenden, dass das beschriebene Szenario sehr unplausibel ist – wie sollten 55
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Damit ist auch das zweite der beiden zu Beginn dieses Abschnitts formulierten Ziele erreicht: Es ist gezeigt, dass man auch dann, wenn man einen logisch komplexen Namen wie »Pfensch« nicht als genuinen Namen anerkennt, nicht leugnen muss, dass Aussagesätze, in denen solche Namen vorkommen, zu objektiver Wahrheit fähig sind. Wer (anders als aller Wahrscheinlichkeit nach Platon) mit der Möglichkeit logisch komplexer Aussagen rechnet, wird daher zwar zweifellos nur eine modifizierte Form der Exklusivitätsthese vertreten können – nämlich die Erweiterte Exklusivitätsthese: Durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist N« wird genau dann eine genuine Aussage über den Gegenstand X getroffen, wenn »N« ein natürlicherweise richtiger Name ist, durch dessen Einsatz eine Idee herausgegriffen wird, oder ein logisch komplexer Name; andernfalls scheitert der Versuch, durch die Äußerung des Satzes die Handlung des Aussagens zu vollziehen.
Aber man wird deswegen nicht zugeben müssen, dass die normative Bestimmung des Namens als Werkzeug zur Unterscheidung einer Idee zu eng ist. Ein logisch komplexer Name fungiert nämlich, so wird man als Ergebnis des vorliegenden Abschnitts festhalten können, als gemeinsamer Teil einer Reihe von systematisch generierten satzförmigen Abkürzungen für andere Sätze und muss sich daher nicht daran messen lassen, ob durch seinen Einsatz ein abgrenzbarer Beitrag zur Handlung des Aussagens geleistet wird – er ist kein unrichtiger Name. Ein Verteidiger der Ideensprache kann also darauf hinweisen, dass man logisch komplexe Namen nicht braucht, um alle genuinen Aussagen treffen zu können, die sich überhaupt treffen lassen, und scheint die Möglichkeit ihrer Einführung ansonsten gelassen ignorieren zu können. Sprecher, die nicht über Namen wie »Pferd« und »Mensch« verfügen, darauf kommen, einen Namen wie »Merd« einzuführen? Aber solange man nicht bereit ist, die Intelligibilität des beschriebenen Szenarios zu bestreiten, würde man mit einer solchen Plausibilitätserwägung nichts gegen die These ausrichten, dass es möglich ist, eine Idee herauszugreifen, ohne über einen Namen für diese Idee zu verfügen. Aussichtsreicher erschiene es daher, die Annahme zu attackieren, dass in dem beschriebenen Szenario durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Merd« dieselbe Aussage getroffen werden kann, die sich in einer Ideensprache durch die Äußerung des Satzes »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« treffen lässt – die Aussage nämlich, dass Sokrates ein Pferd ist oder Sokrates ein Mensch ist. Denn man könnte argumentieren, dass es für den Aussagegehalt des Satzes »Sokrates ist ein Pferd oder Sokrates ist ein Mensch« entscheidend ist, dass man diesem Satz seine Zustimmung nicht verweigern kann, wenn man den Satz »Sokrates ist ein Pferd« oder »Sokrates ist ein Mensch« für wahr hält, und dass dieser Satz zudem in mannigfachen inferentiellen Beziehungen zu anderen Sätzen steht, die die Namen »Pferd« oder »Mensch« enthalten.
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Es ist nun einerseits ohne jeden Zweifel ein wichtiger Befund, dass die Möglichkeit, logisch komplexe Namen einzuführen, keine Schwierigkeiten für Sokrates’ Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen aufwirft. Andererseits wird angesichts dieses Befundes aber die Frage nur noch drängender, unter welchen Bedingungen ein Nomothet, der einen genuinen Namen zu produzieren versucht, mit seinem Vorhaben scheitert und einen Ausdruck in die Sprache einführt, der für den Vollzug des Nennens als Teilhandlung des Aussagens ungeeignet ist. Denn wenn die logisch komplexen Namen keine in diesem Sinne unrichtigen Namen sind, ist es auf den ersten Blick ganz und gar schleierhaft, wie man sich einen unrichtigen Namen vorzustellen hat; und nicht minder ungreifbar scheint unter dieser Voraussetzung das normativ-kritische Potenzial der Erweiterten Exklusivitätsthese zu sein. Offenkundig bedarf es eines Neuansatzes, um in dieser Sache Klarheit zu schaffen.
Überdeterminierte und unterdeterminierte Namen
Um einen solchen Neuansatz zu gewinnen, kann man wiederum von einer Betrachtung des Ausdrucks barbaros ausgehen. Den Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts lag die – auf den ersten Blick sehr plausible – Hypothese zugrunde, es handele sich bei diesem Ausdruck um einen logisch komplexen Namen: Demnach unterstände sein Gebrauch einzig und allein der Regel, dass ein Gegenstand genau dann barbaros zu nennen ist, wenn er ein Mensch, aber kein Hellene ist. Unter dieser Voraussetzung wäre, wie sich gezeigt hat, barbaros zwar sicherlich kein natürlicherweise richtiger Name, aber eben auch kein unrichtiger Name, der nicht für den Einsatz in Aussagesätzen geeignet ist, die zu objektiver Wahrheit fähig sind; er wäre, mit anderen Worten, eine so unnötige wie unschädliche Erweiterung der Ideensprache.57 Es ist allerdings schwierig, sich des Eindrucks zu erwehren, dass ein Wort wie barbaros deswegen problematisch ist, weil seine Extension eine Klasse von Gegenständen ist, die keinerlei echte Gemeinsamkeit aufweisen, die sie von allen anderen Gegenständen unterscheidet. Bei näherer Überlegung drängt sich die Vermutung auf, dass ein solches Wort zwar nicht schon deswegen problematisch sein muss, weil die zu seiner Extension gehörigen Gegenstände keine solche Gemeinsamkeit aufweisen, wohl aber deswegen problematisch sein kann, weil
Freilich wäre ein solcher Name nicht dazu geeignet, eine auf eine ousia bezogene ti estiFrage zu stellen; und auch für den Einsatz im Vollzug einer dihairetischen Untersuchung wäre er untauglich. 57
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
sein Gebrauch die falsche Annahme widerspiegelt, dass die betreffenden Gegenstände eine echte Art bilden. In dieser Hinsicht bietet sich das griechische Substantiv barbaros tatsächlich für eine Fallstudie an:58 Es kann einerseits kein Zweifel daran bestehen, dass ein durchschnittlicher Sprecher des Griechischen zur Zeit Platons davon ausgeht, dass zur Extension des Ausdrucks barbaros gerade diejenigen Gegenstände gehören, die Menschen, aber keine Hellenen sind. Andererseits wäre ein solcher durchschnittlicher Sprecher aber sicherlich auch bereit, aus dem Satz »Xerxes ist ein barbaros« bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen und durch die Äußerung von Sätzen wie »Xerxes ist brutal« oder »Xerxes ist unzivilisiert« zum Ausdruck zu bringen.59 Nimmt man eine gewisse Idealisierung in Kauf, kann man sogar davon ausgehen, dass ein kompetenter Gebrauch des Ausdrucks barbaros die Bereitschaft voraussetzt, solche Schlüsse zu ziehen: Dass ein Sprecher also dann, wenn er einen Satz wie »Xerxes ist ein barbaros« äußert, aber Sätzen wie »Xerxes ist unzivilisiert« oder »Xerxes ist brutal« seine Zustimmung verweigert, einen Fehler macht und entweder diese Schlussfolgerungen akzeptieren oder sich von seiner Äußerung des Satzes »Xerxes ist ein barbaros« distanzieren müsste.60 Der entscheidende Punkt ist nun, dass Sätze der Form »X ist ein barbaros« unter dieser Voraussetzung mehr zu sein scheinen als bloße Abkürzungen für Sätze der Form »X ist ein Mensch und es gilt nicht, dass X ein Hellene ist«. Die Verfügbarkeit einer Abkürzung für einen bestimmten Satz sollte schließlich nichts daran ändern, welche Inferenzen ein Sprecher akzeptieren muss, wenn er diesen Satz äußert. Man würde aber eigentlich nicht davon ausgehen, dass ein Sprecher, der den Satz »Xerxes ist ein Mensch, aber Xerxes ist kein Hellene« äußert, einen Fehler begeht, wenn er Sätzen wie »Xerxes ist brutal« und »Xerxes ist unzivilisiert« seine Zustimmung verweigert; wenn er diesen Sätzen angesichts Wobei es weniger darauf ankommt, dass die folgenden Überlegungen zum Gebrauch von barbaros tatsächlich der historischen Realität entsprechen, als darauf, dass man sich sehr gut Sprachgemeinschaften vorstellen kann, die einen Ausdruck wie barbaros in der im Folgenden beschriebenen Weise gebrauchen. 59 In diese Richtung scheint sich nach den Perserkriegen die Bedeutung des Wortes barbaros verschoben zu haben – siehe LSJ βάρβαρος II. Vgl. Vlassopoulos (2013) für eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit diesem klassischen Bild der Entwicklung des Konzepts des barbaros. 60 Dummetts Analyse zufolge ist der französische Ausdruck ›Boche‹, der in pejorativer Absicht für Deutsche verwendet wird, ein ähnlicher Fall: »The condition for applying the term [›Boche‹] to someone is that he is of German nationality; the consequences of its application are that he is barbarous and more prone to cruelty than other Europeans. We should envisage the connections in both directions as sufficiently tight as to be involved in the very meaning of the word: neither could be severed without altering its meaning. Someone who rejects the word does so because he does not want to permit a transition from the grounds for applying the term to the consequences of doing so« (Dummett (21981), 454). 58
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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seiner Äußerung des Satzes »Xerxes ist ein Mensch und es gilt nicht, dass Xerxes ein Hellene ist« zustimmen muss, dann nur deswegen, weil seine Sprache den Ausdruck barbaros enthält, was es möglich macht, aus diesem Satz zunächst den Satz »Xerxes ist ein barbaros« und aus diesem Satz dann Sätze wie »Xerxes ist brutal« und »Xerxes ist unzivilisiert« abzuleiten.61 Das Wort barbaros ist demnach offenbar gar kein logisch komplexer Name, spielt also nicht bloß die Rolle eines gemeinsamen Teils einer Reihe systematisch generierter satzförmiger Abkürzungen für andere Sätze; es führt, bildlich gesprochen, ein Eigenleben. Wenn es sich nun bei Sätzen der Form »X ist ein barbaros« in diesem Sinne nicht um Abkürzungen für Sätze der Form »X ist ein Mensch und es gilt nicht, dass X ein Hellene ist« handelt, ist aber auch nicht gewährleistet, dass durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist ein barbaros« eine Aussage getroffen werden kann, die zu objektiver Wahrheit zumindest fähig ist. Wenn ein solcher Satz keine Abkürzung für andere Sätze ist, wäre es nur dann möglich, durch seine Äußerung eine solche Aussage zu treffen, wenn durch den Einsatz des Wortes barbaros eine Art von Gegenständen beziehungsweise die betreffende Idee herausgegriffen wird. Wenn daher das Wort barbaros tatsächlich kein logisch komplexer Name ist, muss es sich an Sokrates normativer Bestimmung des Namens messen lassen; und da es allem Anschein nach kein eidos gibt, an dem ausschließlich alle barbaroi teilhaben, wird man davon ausgehen müssen, dass das Wort barbaros diesem Maßstab nicht genügt und daher kein zum Vollzug des Nennens geeignetes Werkzeug ist. Das bedeutet, dass der Erweiterten Exklusivitätsthese zufolge durch die Äußerung eines Satzes wie »Xerxes ist ein barbaros« keine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden kann. Barbaros scheint also doch ein unrichtiger Name zu sein. Die vorgetragene Überlegung scheint sich verallgemeinern zu lassen: Wenn ein Ausdruck »A« von einer Verwendungskonvention regiert wird, die erstens sicherstellt, dass dieser Ausdruck dieselbe Extension hat wie ein logisch komplexer Name »N«, aber zweitens auch dafür sorgt, dass sich aus Sätzen der Form »X ist A« Schlüsse ziehen lassen, die sich aus Sätzen der Form »X ist N« nicht oder nur via dem entsprechenden Satz der Form »X ist A« ziehen lassen, dürfte »A« in aller Regel62 weder ein logisch komplexer Name noch ein natürlicherweise richDummett würde davon sprechen, dass die Ergänzung des Vokabulars der Ideensprache um den Ausdruck barbaros eine »non-conservative extension« der Ideensprache wäre, wie sein Umgang mit dem Ausdruck »Boche« zeigt: »The addition of the term ›Boche‹ to a language which did not previously contain it would be to produce a non-conservative extension, i. e. one in which certain statements which did not contain the term were inferrable from other statements not containing it which were not previously inferrable.« (ebd.) 62 Es mag freilich Ausnahmefälle geben, in denen genau die Gegenstände, die zur Extension eines logisch komplexen Namens gehören, an einer bestimmten Idee teilhaben. In solchen Aus61
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
tiger Name sein und kann also der Erweiterten Exklusivitätsthese zufolge nicht eingesetzt werden, um eine Aussage zu treffen, die zu objektiver Wahrheit fähig ist. Der Gebrauch von »A« spiegelt in diesem Fall die falsche Annahme wider, dass die Gegenstände, die zur Extension von »A« gehören, eine echte, durch eine gemeinsame ousia zusammengehaltene Art bilden: Denn nur unter dieser Annahme wäre es sinnvoll, davon auszugehen, dass die zur Extension von »A« gehörigen Gegenstände Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich nicht darauf zurückführen lassen, dass sie die Anwendungsbedingungen für den logisch komplexen Namen »N« erfüllen, und dementsprechend aus Sätzen der Form »X ist A« Schlüsse zu ziehen, die sich aus entsprechenden Sätzen der Form »X ist N« nicht ohne Weiteres ziehen ließen.63 Man könnte in einem solchen Fall auch davon sprechen, dass die Bedingungen der korrekten Anwendung des Ausdrucks »A« auf einen Gegenstand überdeterminiert sind: Denn während einerseits seine Anwendung auf einen Gegenstand X durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist A« genau dann als korrekt zu gelten hat, wenn auch die Anwendung des logisch komplexen Namens »N« auf X korrekt ist, wird man andererseits ex hypothesi den Satz »X ist A« nur dann als wahr anerkennen können, wenn man auch die Schlüsse als wahr anerkennt, die sich aus diesem Satz, nicht aber aus dem Satz »X ist N« ziehen lassen. Diese Überdetermination scheint nicht problematisch zu sein, solange die betreffenden Schlüsse de facto wahr sind – solange also beispielsweise die Menschen, auf die man den Ausdruck barbaros anwendet, zufälligerweise tatsächlich brutal und unzivilisiert sind. Sie wird aber dann zum Problem, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist – wenn man es also beispielsweise mit Menschen zu tun hat, die zwar keine Hellenen sind, aber zivilisiert und sanftmütig. Denn in einem solchen Fall ist unklar, ob die Anwendung des betreffenden Ausdrucks auf die fraglichen Gegenstände korrekt ist oder nicht. Ausdrücke, deren Anwendungsbedingungen in diesem Sinne überdeterminiert sind, sollen im Folgenden als überdeterminierte Namen bezeichnet werden. Als erstes Teilergebnis dieses Abschnitts kann daher festgehalten werden, dass es sich bei den überdeterminierten Namen, anders als bei den logisch komplexen Namen, in aller Regel tatsächlich um unrichtige Namen handeln dürfte, mit nahmefällen könnte die Verwendung eines überdeterminierten Namens mit derselben Extension wie der betreffende logisch komplexe Name die wahre Annahme widerspiegeln, dass die zu seiner Extension gehörigen Gegenstände eine Art bilden; und er wäre demnach möglicherweise kein unrichtiger Name. 63 Vgl. Quine (1969), 114–116, zu dem naheliegenden Gedanken, dass man mit einem Ausdruck »A« nur dann induktiv verifizierbare Allaussagen der Form »Alle A sind B« treffen kann, wenn »A« eine (natürliche) Art bezeichnet. Quine zeigt sich freilich sehr skeptisch, was den wissenschaftlichen Wert des Begriffs der ›natürlichen Art‹ angeht.
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denen sich der Erweiterten Exklusivitätsthese zufolge nicht zum Vollzug des Aussagens beitragen lässt. Ein Nomothet, der einen solchen Namen in die Sprache einführt, scheitert demnach an seiner Aufgabe, durch die Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens einen natürlicherweise richtigen Namen zu schaffen. Dass dies nur allzu leicht geschieht, kann man sich vorstellen: Denn da es ein wirkmächtiges Interesse daran gibt, Gruppierungen von Gegenständen ausfindig zu machen, die durch eine echte Gemeinsamkeit zusammengehalten werden, dürften Fehleinschätzungen in dieser Hinsicht nicht ausbleiben.64 Aber selbst wenn ein Nomothet keiner solchen Fehleinschätzung unterliegt und seine Sprache (aus welchen Gründen auch immer)65 um einen logisch komplexen Namen erweitert, kann ein solcher Name leicht ein über seine Rolle als Teil einer Reihe von Abkürzungen hinausgehendes Eigenleben entwickeln und sich letztlich in einen überdeterminierten Namen verwandeln.66 Unrichtige Namen dieser Art dürften daher keineswegs selten sein. Ein überdeterminierter Name zeichnet sich dadurch aus, dass die Bedingungen für seine korrekte Anwendung auf Gegenstände überdeterminiert sind – was bedeutet, dass seine Anwendung auf bestimmte Gegenstände zugleich korrekt und inkorrekt zu sein scheint. Es liegt nun die Frage nahe, ob nicht auch umgekehrt Fälle denkbar sind, in denen die Bedingungen des korrekten Gebrauchs eines Namens unterdeterminiert sind und seine Anwendung auf bestimmte Gegenstände daher weder eindeutig korrekt noch eindeutig inkorrekt zu sein scheint. Auf den ersten Blick liegt es in diesem Zusammenhang nahe, an das vergleichsweise eng umgrenzte Problem der Vagheit zu denken: Es ist schließlich wohlbekannt, dass die Bedingungen für die korrekte Anwendung eines Ausdrucks wie »kahlköpfig« insofern unscharf sind, als nicht klar bestimmt ist, wie Das gilt umso mehr, als der Nomothet selbst ja keineswegs einen Standpunkt außerhalb der Wirklichkeit, die es begrifflich zu artikulieren gilt, einnimmt, sondern ganz konkret in ihr verortet ist – also beispielsweise selbst Teil einer Gruppe von Menschen ist, die in einem bestimmten Gebiet beheimatet ist und von einer gemeinsamen Kultur zusammengehalten wird. Dass es nur allzu verführerisch ist, die Differenz zwischen sich selbst als Mitglied einer bestimmten Gruppe und all dem, was nicht zu dieser Gruppe gehört, für ein Strukturmerkmal der Wirklichkeit zu halten, zeigt Pol. 263d/e: Denn hier erklärt der Eleatische Fremde im Zuge eines bemerkenswerten Gedankenexperiments, dass die als besonders klug geltenden Kraniche dann, wenn ihnen eine Sprache zu Gebote stünde, sicherlich alle Lebewesen außer sich selbst mit einem Ausdruck bezeichnen und damit den bedeutsamen Unterschied zwischen den Menschen und den anderen Tieren ignorieren würden. 65 Dass es mitunter praktisch sein kann, durch die Einführung eines logisch komplexen Namens eine Abkürzungsmöglichkeit bereitzustellen, ist ja durchaus vorstellbar. 66 Dieser Gefahr wird ein guter Dialektiker vermutlich vorbeugen, indem er auch logisch komplexe Namen aus der Sprache verbannt, obwohl sie für sich genommen unschädliche Erweiterungen der Sprache sind. 64
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viele Haare ein Mensch höchstens auf dem Kopf haben darf, um noch als kahlköpfig gelten zu können; und dementsprechend gibt es Grenzfälle, in denen die Anwendung des Ausdrucks »kahlköpfig« auf einen Menschen weder eindeutig korrekt noch eindeutig inkorrekt zu sein scheint.67 Aber das Phänomen, dass sich für die korrekte Anwendung eines Namens auf einen Gegenstand keine scharfen Bedingungen angeben lassen, ist viel weiter verbreitet, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dieses Phänomen lässt sich am Beispiel des Ausdrucks »Spiel« gut erläutern, dessen Verwendung Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen bekanntermaßen diskutiert. Ausgangspunkt für seine Diskussion ist dabei die Frage, ob all diejenigen Aktivitäten,68 die als »Spiel« bezeichnet werden können, tatsächlich eine Gemeinsamkeit aufweisen, die den Gebrauch des Namens leitet. Wie Wittgenstein bemerkt, gibt es zwischen verschiedenen Arten von Spielen ganz verschiedene Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeitsbeziehungen, aber kein gemeinsames Charakteristikum, dass sich tatsächlich durch all diese Arten hindurchzöge: So könnte man zunächst vermuten, dass es in allen Spielen »Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden«69 geben müsse; aber diese Beschreibung wird kaum auf das Spiel von Kindern zutreffen, die so tun, als betrieben sie einen Kaufmannsladen. Man könnte auch vermuten, dass alle Spiele der Unterhaltung oder Zerstreuung der Spielenden dienen; aber dies dürfte beispielsweise für das Schachspiel, in dem zwei Großmeister gegeneinander antreten, nicht gelten, während in diesem Fall wiederum der Aspekt der Konkurrenz besonders stark ausgeprägt ist. Insgesamt scheinen die Spiele ein Netz zu bilden, das von den verschiedensten, einander überlappenden Verwandtschaftsbeziehungen zusammengehalten wird; und ähnlich verhält es sich Wittgenstein zufolge auch mit dem Ausdruck »Zahl«, der Anwendung auf Ordinalzahlen, Kardinalzahlen, reelle Zahlen, imaginäre Zahlen etc. findet: »Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.«70 Dadurch ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die Verwendungsbedingungen von Namen wie »Zahl« und »Spiel« ebenso wie diejenige des Namens »Pfensch« durch eine Disjunktion von Charakteristika gegeben sein könnten. Tatsächlich erwägt Wittgenstein diese Möglichkeit, ohne sie sich aber zu eigen zu machen:
Wer mit Williamson (1994) einen epistemischen Begriff der Vagheit voraussetzt, wird freilich annehmen, dass es durchaus eine klare Grenze zwischen dem korrekten und dem inkorrekten Gebrauch des Ausdrucks »kahlköpfig« gibt, wir diese Grenze aber nicht kennen können. 68 Für die Zwecke dieser Diskussion sollen Aktivitäten als Gegenstände behandelt werden. 69 Philosophische Untersuchungen, § 66 70 Philosophische Untersuchungen, § 67 67
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Wenn aber einer sagen wollte: »Also ist allen diesen Gebilden [den verschiedenartigen Zahlen] etwas gemeinsam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten« – so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern. »Gut; so ist also der Begriff der Zahl für dich erklärt als die logische Summe jener einzelnen miteinander verwandten Begriffe: Kardinalzahl, Rationalzahl, reele Zahl, etc., und gleicherweise der Begriff des Spiels als logische Summe entsprechender Teilbegriffe.« – Dies muß nicht sein. Denn ich kann so dem Begriff ›Zahl‹ feste Grenzen geben, d. h. das Wort »Zahl« zur Bezeichnung eines fest begrenzten Begriffs gebrauchen, aber ich kann es auch so gebrauchen, daß der Umfang des Begriffs nicht durch eine Grenze abgeschlossen ist. Und so verwenden wir ja das Wort »Spiel«. Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort »Spiel« angewendet hast.)71
Wittgenstein bestreitet also nicht die Möglichkeit einer stipulativen Definition, die festlegen würde, dass etwas genau dann ein Spiel ist, wenn es ein Brettspiel oder ein Kartenspiel oder ein Reigenspiel etc. ist, oder wenn es eine Konkurrenz von Spielenden involviert oder die Spielenden unterhält oder durch ein festes Regelwerk geleitet wird etc. Der wesentliche Punkt ist aber, dass eine solche Stipulation unserem Gebrauch des Wortes »Spiel« nicht entspräche – die Verwendung dieses Wortes hätte nach einer stipulativen Grenzziehung deswegen eine andere Valenz als zuvor. Ins Platonische Vokabular dieser Arbeit übersetzt stellt sich Wittgensteins Gedankengang daher folgendermaßen dar: Es gibt keine ousia, auf die sich der Ausdruck »Spiel« bezöge, keine Idee, die durch ihn herausgegriffen wird – und damit keine Bedingung, die von allen Spielen erfüllt wird, keine Gemeinsamkeit, die sie alle aufweisen. Aber – und das unterscheidet den Ausdruck »Spiel« von logisch komplexen Namen wie »Pfensch« – die Behauptung, eine Aktivität sei ein Spiel, ist auch keine Abkürzung für eine logisch komplexe Aussage, die sich aus Aussagen zusammensetzt, deren Prädikatausdrücke sich auf ousiai beziehen. Vielmehr handelt es sich bei »Spiel« um einen unterdeterminierten Namen: um einen Ausdruck, dessen Anwendung auf Gegenstände in Orientierung an Regeln als korrekt oder inkorrekt evaluiert wird, die sich auf der Basis der bisherigen Evaluationspraxis nicht von den Regeln für die Verwen-
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Philosophische Untersuchungen, §§ 67–68.
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dung verschiedener logisch komplexer (oder auch natürlicherweise richtiger)72 Namen unterscheiden lassen, aber nicht festlegen, wie seine Anwendung auf solche Gegenstände zu bewerten ist, die zur Extension mancher, aber nicht all dieser Namen gehören. Nachdem die unterdeterminierten Namen per definitionem weder genuine Namen im Sinne von Sokrates’ normativer Bestimmung der Aufgabe des Namens noch logisch komplexe Namen sind, lassen sich mit ihnen der Erweiterten Exklusivitätsthese zufolge keine Aussagen treffen, die zu objektiver Wahrheit fähig sind. Bei den unterdeterminierten Namen handelt es sich, mit anderen Worten, um unrichtige Namen. Wie die Überdeterminiertheit ist freilich auch die Unterdeterminiertheit in vielen Fällen gar nicht als Problem erkennbar: Meist wird die Anwendung eines unterdeterminierten Namens auf einen Gegenstand entweder eindeutig korrekt oder eindeutig inkorrekt sein. Aber in manchen Fällen wird eben auch nicht ersichtlich sein, ob die verschiedenen Ähnlichkeitsbeziehungen, in denen ein bestimmter Gegenstand mit solchen Gegenständen steht, auf die der betreffende Ausdruck ohne jeden Zweifel anzuwenden ist, hinreichen, um seine Anwendung auf diesen Gegenstand korrekt zu machen. Anders als bei einem überdeterminierten Namen konfligieren in einem solchen Szenario nicht verschiedene Aspekte der fraglichen Verwendungskonvention, so dass man es zugleich mit einem korrekten und einem inkorrekten Gebrauch des Ausdrucks zu tun hat: Diese Verwendungskonvention scheint im Hinblick auf die Frage nach der Korrektheit des Ausdrucksgebrauchs nicht zwei miteinander unverträgliche Antworten bereitzuhalten, sondern überhaupt keine Antwort – so dass es weder richtig noch falsch zu sein scheint, den Ausdruck auf den problematischen Gegenstand anzuwenden. (Es ist eine interessante Frage, ob die Regeln für den Gebrauch eines Ausdrucks wie »gesund«, der Aristoteles’ Analyse zufolge pros hen – also in Orientierung an einem zentralen Anwendungsfall auf verschiedene, aber eben eng zusammenhängende Weisen – verwendet wird,73 Es scheint auch denkbar, dass die Verwendung eines unterdeterminierten Namens in Orientierung an Regeln als korrekt oder inkorrekt beurteilt wird, die sich nicht von den Regeln für die Verwendung verschiedener natürlicherweise richtiger Namen unterscheiden lassen, aber nicht festlegen, wie seine Anwendung auf solche Gegenstände zu bewerten ist, die zur Extension mancher, aber nicht all dieser Namen gehören. Fraglich ist hingegen, ob ein Ausdruck auch dann als unterdeterminierter Name einzustufen ist, wenn seine Anwendung auf Gegenstände in Orientierung an Regeln als korrekt oder inkorrekt evaluiert wird, die sich auf der Basis der bisherigen Evaluationspraxis nicht von den Regeln für die Verwendung mindestens eines logisch komplexen und genau eines natürlicherweise richtigen Namens unterscheiden lassen: Denn man könnte argumentieren, dass der Verwendung des Ausdrucks in einem solchen Fall de facto klare Grenzen – nämlich die Grenzen der Verwendung des betreffenden natürlicherweise richtigen Namens – gezogen sind, auch wenn Sprecher dies nicht wissen mögen. 73 Siehe Met. 1003a34–b6: »Sondern so wie auch alles ›Gesunde‹ mit Beziehung auf die 72
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ebenfalls in diesem Sinne offen sind. Verhält es sich so, wäre »gesund« als unterdeteminierter Name einzustufen. Verhält es sich nicht so – was angesichts der Analogie zwischen »gesund« und »seiend« naheliegend scheint –, müsste man den Ausdruck »gesund« aus der Perspektive des vorliegenden Kapitels wohl als logisch komplexen Namen charakterisieren, auch wenn man damit der komplexen Binnenstruktur seines Gebrauch nicht gerecht würde, oder annehmen, dass *gesund* die gemeinsame Lautgestalt verschiedener Namen ist, von denen einer eine zentrale, für den Gebrauch der anderen Namen mit dieser Lautgestalt maßgebliche Rolle spielt.74) Man könnte einwenden, dass Wittgensteins Diagnose, der Verwendung eines Ausdrucks wie »Spiel« seien keine klaren Grenzen gezogen, durchaus nicht über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint. Wieso sollte man, so ließe sich kritisch fragen, nicht stattdessen annehmen, dass es sehr wohl eine Gemeinsamkeit gibt, die alle Spiele im Gegensatz zu allen anderen Aktivitäten aufweisen, wir aber diese Gemeinsamkeit noch nicht entdeckt haben? Die dihairetische Untersuchung des Sophistes deutet darauf hin, dass Platon selbst annimmt, dass der Name »Sophist« ein Beispiel für einen Ausdruck ist, dessen alltägliche Verwendung einem komplexen Geflecht von Regeln unterliegt, die auf den ersten Blick keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen für seine korrekte Anwendung auf einen Gegenstand determinieren: So nennt man, wenn man den ersten sechs Dihairesen (221c–231e) Glauben schenken darf, eine Person dann einen Sophisten, wenn sie die Kunst der Jagd auf junge Männer durch Überredung beherrscht (221c–223b), aber auch, wenn sie die Kunst des Verkaufs bestimmter Kenntnisse innehat (223c–224e) oder die Kunst, sich in Streitgesprächen durchzusetzen (224e–226a); und sogar einen Künstler der Seelenreinigung, der – wie Sokrates – seine Gesprächspartner von unbegründeten Wissensansprüchen befreit, scheinen viele Sprecher bereitwillig als Sophisten bezeichnen zu wollen, auch wenn der Eleatische Fremde selbst sich mit dieser Praxis nicht völlig einverstanden zeigt (226b–231b). Die Verwendung des Namens »Sophist« scheint also auf den ersten Blick von einem ebenso offenen und flexiblen Geflecht von Regeln geprägt zu sein wie die Verwendung des Namens »Spiel« der Analyse Wittgensteins zufolge. Gesundheit , weil es die Gesundheit entweder erhält oder bewirkt oder ein Anzeichen von ihr ist oder sie aufzunehmen vermag, […] so wird auch ›seiend‹ zwar in vielen Bedeutungen verwendet, aber stets mit Beziehung auf ein Prinzip« (ἀλλ᾽ ὥσπερ καὶ τὸ ὑγιεινὸν ἅπαν πρὸς ὑγίειαν, τὸ μὲν τῷ φυλάττειν τὸ δὲ τῷ ποιεῖν τὸ δὲ τῷ σημεῖον εἶναι τῆς ὑγιείας τὸ δ᾽ ὅτι δεκτικὸν αὐτῆς, […] οὕτω δὲ καὶ τὸ ὂν λέγεται πολλαχῶς μὲν ἀλλ᾽ ἅπαν πρὸς μίαν ἀρχήν. Zitiert ist die Übersetzung von Szlezák (1975).) 74 Vgl. Shields (1999), 102–127, für eine sehr subtile Diskussion dieses Aristotelischen Beispiels und seiner systematischen Relevanz. Auch Shields’ Überlegungen scheinen keine eindeutige Antwort auf die Frage zu beinhalten, ob der Verwendung des Ausdrucks »gesund« klare Grenzen gezogen sind oder nicht.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Aber der Fortgang des Sophistes zeigt, dass die Klasse der Sophisten dennoch von mehr zusammengehalten wird als einem losen Netz von Familienähnlichkeiten: Wie der Eleatische Fremde in seiner siebten Dihairese schließlich feststellt, ist eine Person nämlich genau dann ein Sophist, wenn sie sich darauf versteht, in Streitgesprächen den falschen Anschein der Allwissenheit und Weisheit zu erwecken (232b–236d und 264c–268d). Demnach gibt es gar keine echten Grenzfälle, in denen nicht feststeht, ob die Anwendung des Namens »Sophist« auf einen Gegenstand korrekt ist oder nicht. Der Eindruck, dass beispielsweise die Anwendung dieses Namens auf Sokrates ein solcher Grenzfall ist, hat der Analyse des Eleatischen Fremden zufolge kein fundamentum in re, sondern ist allein der Tatsache geschuldet, dass der alltägliche Gebrauch des Namens nicht von Wissen um die definierende Charakteristik der Sophisten geleitet wird: Tatsächlich ist es objektiv falsch, Sokrates als Sophisten zu bezeichnen. Warum sollte Platon nicht annehmen, dass es sich mit dem Namen »Spiel« ganz ähnlich verhält – dass wir also zwar vielleicht nicht angeben können, was die hinreichenden und notwendigen Bedingungen für die korrekte Anwendung dieses Namens auf eine Aktivität sind, aus unserer Unwissenheit aber nicht folgt, dass es solche Bedingungen nicht gibt? Während eine solche Analyse sicherlich in manchen Fällen überzeugend sein mag, scheint es wenig plausibel, anzunehmen, dass es stets eine klare Grenze zwischen korrekten und inkorrekten Anwendungen eines Namens auf Gegenstände gibt, die sozusagen nur darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Betrachtet man die Regeln, denen unsere Verwendung des Namens »Spiel« unterliegt, wird man kaum leugnen können, dass mitunter nicht feststeht, ob die Anwendung des Namens auf eine bestimmte Aktivität im Sinne dieser Regeln korrekt ist oder nicht. Wenn man diese Frage in einem konkreten Fall diskutiert, scheinen daher divergierende Antworten möglich zu sein, ohne dass eine dieser Antworten richtig und die andere falsch ist: Vielmehr handelt es sich um verschiedene Vorschläge zur partiellen Schärfung der Regeln, die den Gebrauch des Namens leiten. Unter Umständen kann eine solche Schärfung auch so umfassend ausfallen, dass sie tatsächlich zu einer Stipulation von hinreichenden und notwendigen Anwendungsbedingungen und damit zur Ersetzung des unterdeterminierten Namens durch einen logisch komplexen oder einen natürlicherweise richtigen Namen führt; aber das bedeutet eben, um auf Wittgensteins Formulierung zurückzugreifen, nur, dass man scharfe Grenzen ziehen kann, und nicht, dass sie bereits gezogen sind und von uns entdeckt werden können. Es führt daher kein Weg an der Schlussfolgerung vorbei, dass im alltäglichen Sprechen auf unterdeterminierte Namen zurückgegriffen wird – dass also Ausdrücke im Gebrauch sind, die weder natürlicherweise richtige Namen noch logisch komplexen Namen sind und daher der Erweiterten Exklusivitäts-
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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these zufolge nicht für den Vollzug des Aussagens geeignet sind. Tatsächlich dürfte Unterdeterminiertheit sogar ein ziemlich verbreitetes Phänomen sein: Denn das in seinem Gebrauch von Wittgenstein so gründlich beschriebene Wort »Spiel« steht ja nur paradigmatisch für all diejenigen Ausdrücke, die Sprecher nicht verwenden, obwohl sich keine scharfen Bedingungen für ihre Anwendung angeben lassen, sondern gerade weil die Praxis ihres Gebrauchs von einer Offenheit und Flexibilität charakterisiert ist, die aus einer idealisierenden Perspektive als Schwäche erscheinen mag, für die Sprecher einer Sprache aber von größtem Nutzen ist. Eine Sprache, die nur Namen für Ideen (und möglicherweise logisch komplexe Namen) enthält, ist demgegenüber eine Sprache, in der die Grenzen des korrekten Wortgebrauchs durch die Strukturprinzipien der Wirklichkeit vorgegeben sind und die daher keinen Raum lässt für pragmatische Flexibilität oder gar den kreativen Umgang mit Ausdrücken, der beispielsweise das metaphorische Sprechen ermöglicht – und insofern eine Sprache, die ärmer ist als alle Sprachen, die tatsächlich im Gebrauch sind. Sogar ein Philosoph wie Frege, der wie kein Zweiter auf die mangelnde Wissenschaftstauglichkeit der Alltagssprache hingewiesen hat, der er durch die Entwicklung seiner Begriffsschrift abhelfen wollte, erkennt an, dass dieser Mangel die Kehrseite eines bedeutenden Vorzugs ist: Die hervorgehobenen Mängel [der natürlichen Sprache] haben ihren Grund in einer gewissen Weichheit und Veränderlichkeit der Sprache, die andererseits Bedingung ihrer Entwicklungsfähigkeit und vielseitigen Tauglichkeit ist. Die Sprache kann in dieser Hinsicht mit der Hand verglichen werden, die uns trotz ihrer Fähigkeit, sich den verschiedensten Aufgaben anzupassen, nicht genügt. Wir schaffen uns künstliche Hände, Werkzeuge für besondere Zwecke, die so genau arbeiten, wie die Hand es nicht vermöchte. Und wodurch wird diese Genauigkeit möglich? Durch eben die Starrheit und Unveränderlichkeit der Teile, deren Mangel die Hand so vielseitig geschickt macht.75
Stellt man im Sinne Freges in Rechnung, dass die Genauigkeit und Eindeutigkeit, die insbesondere für die Formulierung und Überprüfung von Wissensansprüchen erforderlich sind,76 für die Zwecke alltäglichen Sprechens oftmals hinderlich wären, wird man damit zu rechnen haben, dass es sich bei vielen gebräuchlichen Ausdrücken um unterdeterminierte Namen handelt. Ob Platon diese Diagnose teilt, ist zugegebenermaßen unklar.77 Für die gegenwärtige Diskussion ist diese Frege (1882), 52. Dass auch Platon Sprache in erster Linie als Erkenntnisinstrument betrachtet, wurde im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels dieser Studie erläutert. 77 Platon würde zwar, wie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels erläutert wurde, vermutlich davon ausgehen, dass der Praxis des Gebrauchs eines Namens die – freilich in der Regel implizit bleibende – Annahme eingeschrieben ist, dass der betreffende Name sich auf eine Idee bezieht 75 76
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Frage allerdings auch von untergeordneter Bedeutung: Denn um zu klären, wie man sich unrichtige Namen vorzustellen hat, und auf diese Weise das kritische Potenzial der Erweiterten Exklusivitätsthese zu erhellen, ist es nicht unbedingt notwendig, im Hinblick auf den Verbreitungsgrad der unrichtigen Namen Position zu beziehen. Insgesamt scheint es daher, als könne ein Nomothet bei dem Versuch, einen neuen Namen in die Sprache einzuführen, zwei einander entgegengesetzte Fehler machen: Er kann entweder eine Konvention etablieren, die die Anwendungsbedingungen des eingeführten Ausdrucks überdeterminiert, so dass seine Anwendung auf bestimmte Gegenstände zugleich korrekt und inkorrekt zu sein scheint; der unrichtige Name barbaros ist vermutlich das Resultat einer solchen Fehlleistung. Oder er kann daran scheitern, klare Grenzen für den korrekten Gebrauch des Ausdrucks zu ziehen, so dass seine Anwendung auf bestimmte Gegenstände weder als eindeutig korrekt noch als eindeutig inkorrekt bewertet werden kann; so scheint es sich etwa im Fall des Ausdrucks »Spiel« zu verhalten. Sowohl die überdeterminierten als auch die unterdeterminierten Namen sind den Überlegungen dieses Abschnitts zufolge also anders als die logisch komplexen Namen keine zwar überflüssigen, aber letztlich unschädlichen Ergänzungen der Ideensprache – sie sind unrichtige Namen, die ein guter Dialektiker aus dem Verkehr ziehen müsste.
Das kritische Potenzial der ERWEITERTEN E XKLUSIVITÄTSTHESE
Die Überlegungen des letzten Abschnitts vermitteln ein für die Zwecke der gegenwärtigen Diskussion hinreichend klares Bild von den normativ-kritischen Implikationen der Erweiterten Exklusivitätsthese: Demnach können weder überdeterminierte noch unterdeterminierte Namen eingesetzt werden, um durch den Vollzug des Nennens zum Vollzug des Aussagens beizutragen; weder durch die Äußerung eines Satzes wie »Xerxes ist ein Barbar« noch durch die Äußerung eines Satzes wie »Schach ist ein Spiel« lässt sich demnach eine Aussage treffen. Wie radikal diese Konsequenz ist, wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Sokrates mit einer dichotomischen Entgegensetzung zwischen Fällen, in denen eine angezielte Handlung mittels eines geeigneten Werkzeugs vollzogen wird, und Fällen, in denen der Handlungsversuch scheitert und somit gar keine Handlung vollzogen wird, operiert. Nimmt man Sokrates’ Auskunft in 387d7 f. für bare Münze, führt man also keine Handlung durch, wenn man Ausdrücke und somit nicht unterdeterminiert ist. Aber das scheint ihn nicht auf die These zu verpflichten, dass diese Annahme in den meisten Fällen auch tatsächlich wahr ist: S. o., Anm. 33.
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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wie »Barbar« oder »Spiel« verwendet – was zu bedeuten scheint, dass man auch keine Handlung durchführen kann, indem man Sätze wie »Xerxes ist ein Barbar« oder »Schach ist ein Spiel« äußert. Damit kann freilich nicht gemeint sein, dass man nichts tut, wenn man solche Sätze artikuliert; offenkundig produziert man ja zumindest bestimmte Laute. Gemeint sein muss vielmehr, dass man dabei an dem Ziel scheitert, etwas zu sagen – ganz so, als produziere man nur Laute, wenn man die Sätze »Xerxes ist ein Barbar« oder »Schach ist ein Spiel« ausspricht. Das ist zweifellos eine höchst kontraintuitive Diagnose – denn dass man etwas sagt, wenn man Sätze wie »Xerxes ist ein Barbar« oder »Schach ist ein Spiel« äußert, lässt sich schwerlich bestreiten. Es kann daher auf den ersten Blick scheinen, als sei man angesichts unseres meist völlig unproblematischen Umgangs mit überdeterminierten und unterdeterminierten Namen gezwungen, die Erweiterte Exklusivitätsthese zurückzuweisen und damit Sokrates’ Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen die Grundlage zu entziehen. So zu reagieren hieße allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das wird dann erkennbar, wenn man sich bewusst macht, dass am Beginn der modernen Sprachphilosophie eine Position steht, die zu einer ähnlich kontraintuitiven Diagnose führt: Frege stellt bekanntlich die Forderung auf, dass durch die Definition eines Begriffs für jeden Gegenstand festgelegt sein muss, ob dieser Gegenstand unter den Begriff fällt oder nicht.78 Nur unter dieser Voraussetzung sei nämlich die Allgemeingültigkeit logischer Gesetze garantiert und damit die Wahrheit von Konklusionen, die sich kraft dieser Gesetze aus wahren Prämissen ableiten lassen.79 Im zweiten Band seiner Grundgesetze der Arithmetik zieht Frege in einer berühmt-berüchtigten Passage daraus die Schlussfolgerung, dass ein Begriff, der dieser Anforderung scharfer Begrenztheit nicht genügt, eigentlich nicht als Begriff anzuerkennen ist, und dementsprechend ein Satz, der einen Gegenstand einem solchen unscharfen Begriff subsumiert, keinen klar fassbaren Sinn hat:80 Eine Definition eines Begriffes (möglichen Prädikates) muss vollständig sein, sie muss für jeden Gegenstand unzweideutig bestimmen, ob er unter den Begriff falle (ob das Prädikat mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden könne) oder nicht. […] Man kann dies bildlich so ausdrücken: der Begriff muss scharf begrenzt sein. Wenn man sich Begriffe ihrem Umfange nach durch Bezirke in der Ebene versinnlicht, so ist das freilich ein Gleichnis, das nur mit Vorsicht gebraucht werden Frege (1891), 19 f. Frege (1891), 20. Siehe Diamond (1991), 168–174, für eine höchst erhellende Rekonstruktion der Gründe für diese These Freges. 80 Insbesondere Wittgenstein hat sich in seinen Philosophischen Untersuchungen intensiv mit dieser Doktrin Freges auseinandergesetzt (§§ 69–88 und passim). 78
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
darf, hier aber gute Dienste leisten kann. Einem unscharf begrenzten Begriffe würde ein Bezirk entsprechen, der nicht überall eine scharfe Grenzlinie hätte, sondern stellenweise ganz verschwimmend in die Umgebung überginge. Das wäre eigentlich gar kein Bezirk; und so wird ein unscharf definirter Begriff mit Unrecht Begriff genannt. Solche begriffsartigen Bildungen kann die Logik nicht als Begriffe anerkennen; es ist unmöglich, von ihnen genaue Gesetze aufzustellen. […] Hätte z. B. der Satz ›jede Quadratwurzel aus 9 ist ungerade‹ wohl überhaupt einen fassbaren Sinn, wenn Quadratwurzel aus 9 nicht ein scharf begrenzter Begriff wäre? Hat die Frage ›Sind wir noch Christen?‹ eigentlich einen Sinn, wenn nicht bestimmt ist, von wem das Prädikat Christ mit Wahrheit ausgesagt werden kann, und wem es abgesprochen werden muss?81
Nachdem sowohl die Anwendung der überdeterminierten Namen als auch die Anwendung der unterdeterminierten Namen auf Gegenstände nicht in jedem Fall eindeutig als korrekt oder inkorrekt bewertet werden kann, folgt aus dieser Behauptung Freges, dass derartige Ausdrücke für ihn keinen Begriff bezeichnen und demnach nicht zur Bildung sinnvoller Sätze eingesetzt werden können. Auch Frege würde also die logische Dignität von Sätzen wie »Schach ist ein Spiel« oder »Xerxes ist ein Barbar« radikal abwerten. Freilich ist, wie man sofort geltend machen wird, Freges Sinnbegriff technisch – er würde sicherlich nicht behaupten, dass ein Satz, der einen Gegenstand einem unscharfen Begriff subsumiert, auf dieselbe Weise keinen fassbaren Sinn hat wie ein Schmerzensschrei oder eine zufällige Lautfolge, 82 sondern nur, dass ein solcher Satz keinen Gedanken zum Ausdruck bringt, der die Rolle einer Prämisse oder eine Konklusion in einem den logischen Gesetzen entsprechenden und daher wahrheitserhaltenden Schluss spielen kann. Wenn Freges Überlegungen ihn dazu führen, bestimmten Sätzen, die im alltäglichen Verstande sicherlich nicht sinnlos sind, einen fassbaren Sinn abzusprechen, so ist diese Einschätzung also einer außergewöhnlich strengen Betrachtungsweise geschuldet, die von dem zweifellos bestehenden Unterschied zwischen bedeutungslosen Lauten und Sätzen wie »Schach ist ein Spiel« abstrahiert, die einen Gegenstand einem unscharf definierten Begriff subsumieren. Was diese strenge Betrachtungsweise motiviert, liegt im Falle Freges offen zutage: Ihm geht es in erster Linie darum, ob ein Satz eine Rolle in inferentiell artikulierten Rechtfertigungskontexten spielen Frege (1903), § 56. An mindestens einer Stelle scheint Frege sogar bereit zu sein, Begriffswörtern, die sich nicht auf einen scharf definierten Begriff beziehen, einen Sinn zuzuschreiben: nämlich in seinen »Ausführungen über Sinn und Bedeutung« (in: G. Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlaß. Mit Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie und Register hrsg. v. G. Gabriel, Hamburg 42001, 25–34, hier: 32). Siehe dazu Diamond (1991), 145–160. 81
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V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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kann und insofern von epistemischer Relevanz ist; all diejenigen menschlichen Äußerungen, die eine solche Rolle nicht spielen können, scheinen für ihn gleichermaßen unterinteressant zu sein, und zwar unabhängig davon, ob es sich nun um Schmerzenslaute oder um Sätze handelt, denen man gemeinhin einen Sinn zugestehen würde. Eine solche Perspektive auf die Sprache einzunehmen, scheint auf den ersten Blick nicht illegitim zu sein – zumindest solange man sich dadurch nicht auf die Leugnung der Unterschiede verpflichtet, von denen man abstrahiert. Solange also Frege auf der Grundlage seines strikten Sinnbegriffes der Differenz zwischen bedeutungslosen Lauten und Sätzen, die man üblicherweise als sinnvoll betrachten würde, Rechnung tragen kann, spricht nichts dagegen, mit diesem Sinnbegriff zu operieren. Bevor man die Erweiterte Exklusivitätsthese verwirft, weil sie die kontraintuitive Konsequenz hat, dass man nichts sagt, wenn man Sätze wie »Schach ist ein Spiel« oder »Xerxes ist ein Barbar« äußert, sollte man daher überprüfen, ob man mit dieser Konsequenz nicht ähnlich umgehen kann wie mit Freges These, solche Sätze seien nicht sinnvoll. Wie sich im dritten Kapitel dieser Studie gezeigt hat, ist Platons Blick auf die Sprache ja nicht minder streng als derjenige Freges: Platon erkennt demnach die Äußerung eines Sprechers nur dann als einen Vollzug des legein an, wenn der Sprecher durch diese Äußerung eine Aussage trifft, die zu objektiver Wahrheit fähig ist; in allen anderen Fällen würde er nicht einräumen, dass der Sprecher etwas sagt. Diese Betrachtungsweise abstrahiert ebenso wie diejenige Freges von den zweifellos vorhandenen Unterschieden zwischen der Äußerung einer zufälligen Lautfolge oder eines Schmerzensschreis, die niemand als Vollzüge des legein gelten lassen würde, und der Äußerung von Sätzen wie »Schach ist ein Spiel« oder »Xerxes ist ein Barbar«, durch die aus der Perspektive des common sense offenkundig etwas gesagt wird. Folgt man der Argumentation des dritten Kapitels, dürfte sie auch ganz ähnlich motiviert sein wie Freges Betrachtungsweise: Denn auch Platon ist allem Anschein nach nur daran interessiert, ob Äußerungen eine Rolle in epistemischen Kontexten spielen können oder nicht, und kann daher die in anderen Hinsichten höchst bedeutsamen Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Äußerungen getrost ignorieren, die eine solche Rolle deswegen nicht spielen können, weil sie nicht zu objektiver Wahrheit fähig sind.83 Dass durch die Äußerung von Sätzen wie »Schach ist ein Spiel« oder »Xerxes ist ein Barbar« keine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen werden kann, ist einsichtig, wenn man mit Platon davon ausgeht, dass eine solche Aussage über einen Gegenstand deswegen nur durch die Behauptung eine Teilhabe 83 Wobei für Platon – anders als für Frege – vor allem ti esti-Fragen beziehungsweise die Antworten auf solche Fragen epistemisch relevant sein dürften.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
an einer Idee getroffen werden kann, weil ein Gegenstand nur durch die Teilhabe an einer Idee wirklich in bestimmter Weise sein kann. Interessiert man sich wie Platon nur für den Unterschied zwischen Äußerungen, die aufgrund ihrer Fähigkeit zur objektiven Wahrheit epistemisch relevant sind, und Äußerungen, für die das nicht gilt, spricht zunächst einmal nichts dagegen, unter Absehung von allen anderen Differenzen nur jene, nicht aber diese Äußerungen als Vollzüge des legein anzuerkennen. Um einen aussichtslosen Konflikt mit dem common sense zu vermeiden, der völlig zurecht den Unterschied zwischen bedeutungslosen Äußerungen und »Schach ist ein Spiel« oder »Xerxes ist ein Barbar« betont, wird man aber zumindest zeigen müssen, wie sich diesem Unterschied auf der Grundlage der strikten, auf die Fähigkeit zur objektiven Wahrheit abstellenden Konzeption des legein Rechnung tragen lässt. Man wird also, um es etwas konkreter zu formulieren, erklären müssen, inwiefern die Äußerung von Sätzen wie »Schach ist ein Spiel« oder »Xerxes ist ein Barbar«, obwohl sie nicht sensu strictu als Vollzug des legein anerkannt werden kann, einem solchen Vollzug viel näher kommt als das Ausstoßen eines Schmerzensschreis oder die Artikulation einer bedeutungslosen Lautfolge; ganz so, wie ein Vertreter der Fregeanischen Position wird erklären müssen, inwiefern solche Sätze, obwohl sie streng genommen keinen fassbaren Sinn haben, der strikt verstandenen Sinnhaftigkeit dennoch näher kommen als ein bedeutungsloser Ausdruck.84 (Die Frage, was es bedeutet, mit einem Versuch, die Handlung des legein zu vollziehen, diesem Ziel näherzukommen als mit einem anderen Versuch, stellt sich übrigens vor dem Hintergrund der Werkzeug-Analogie sowieso: Denn auch wenn Sokrates bei der Entfaltung dieser Analogie dichotomisch zwischen scheiternden Handlungsversuchen und gelingenden Handlungsvollzügen unterscheidet, ist ja vollkommen klar, dass beispielsweise bestimmte scheiternde Versuche, mit einem Messer einen medizinischen Schnitt zu setzen, dem Erfolg näher sind als andere; und die Vermutung liegt nahe, dass es sich im Fall des legein ähnlich verhalten könnte.) Wie sich die damit gestellte Aufgabe bewältigen und die der Erweiterten Exklusivitätsthese zugrunde liegende strenge Betrachtungsweise absichern lässt, soll hier zunächst am Beispiel des unterdeterminierten Namens »Spiel« untersucht werden; wie sich zeigen wird, kann der Fall eines überdeterminierten Namens wie »Barbar« nämlich ganz ähnlich behandelt werden. Um zu verstehen, inwiefern ein Sprecher bei der Äußerung eines Satzes wie »Schach ist ein Spiel« dem Vollzug des Aussagens nahekommt, obwohl es ihm nicht gelingt, tatsächlich eine Aussage zu treffen, rufe man sich zunächst in Erinnerung, dass ein unterdeterminierter Name gleichsam per definitionem in einem speziellen 84 Diamond (1991), 163–168, bietet eine solche Erklärung. Die weiteren Überlegungen dieses Abschnitts lehnen sich eng an ihre Diskussion an.
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Verhältnis zu verschiedenen logisch komplexen (oder auch verschiedenen natürlicherweise richtigen) Namen steht: Denn es handelt sich ja um einen Ausdruck, dessen Anwendung auf Gegenstände in Orientierung an Regeln als korrekt oder inkorrekt evaluiert wird, die sich auf der Basis der bisherigen Evaluationspraxis nicht von den Regeln für die Verwendung verschiedener logisch komplexer (oder natürlicherweise richtiger) Namen unterscheiden lassen, aber nicht festlegen, wie seine Anwendung auf solche Gegenstände zu bewerten ist, die zur Extension mancher, aber nicht all dieser Namen gehören. Diese abstrakte Beschreibung lässt sich gut anhand eines – zugegebenermaßen sehr schematischen – Szenarios konkretisieren: Man nehme also an, dass die Sprecher der betreffenden Sprache die Anwendung des Ausdrucks »Spiel« auf eine Aktivität bisher dann als korrekt betrachtet haben, wenn diese Aktivität entweder an den Ideen A, B und C teilhat oder an den Ideen B, C und D oder an den Ideen A und D; in allen anderen Fällen haben sie die Anwendung dieses Ausdrucks auf eine Aktivität bisher hingegen als inkorrekt zurückgewiesen. Weiterhin nehme man an, dass es genau eine Klasse von Aktivitäten gibt, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit den bekannten Spielen Anwendungsfälle des Ausdrucks »Spiel« sein könnten, den Sprechern der Sprache aber bisher noch nicht untergekommen sind – Aktivitäten nämlich, die an den Ideen A, C und E, aber nicht an den Ideen B und D teilhaben. Wenn bei der Konfrontation mit einer solchen Aktivität die Frage aufkommt, ob sie »Spiel« zu nennen ist, gibt es nun genau zwei Möglichkeiten, die Regeln für die Verwendung des Ausdrucks »Spiel« so zu schärfen, dass es nicht zu einem Konflikt mit der bisherigen Gebrauchspraxis kommt: Entweder man legt fest, dass etwas genau dann »Spiel« zu nennen ist, wenn es an den Ideen A, B und C teilhat oder an den Ideen B, C und D oder an den Ideen A und D; oder man legt fest, dass etwas genau dann »Spiel« zu nennen ist, wenn es an den Ideen A, B und C teilhat oder an den Ideen B, C und D oder an den Ideen A und D oder an den Ideen A, C und E. Beide Festlegungen ziehen, in Wittgensteins Worten, eine klare Grenze, wo vorher keine war; beide führen dazu, dass der Ausdruck »Spiel« nach der Grenzziehung nicht länger als unscharfer Name gelten kann, sondern als logisch komplexer Name eingestuft werden muss.85 Je nachdem, ob sich die Sprecher entscheiden, Aktivitäten, die an den Ideen A, C und E teilhaben, als Anwendungsfälle des Ausdrucks »Spiel« gelten zu
Man könnte sich fragen, ob »Spiel« nach einer solchen Schärfung überhaupt noch dasselbe Wort ist wie vor der Schärfung, oder ob nicht vielmehr ein Wort, dessen Verwendung unzureichend geregelt war, aus dem Verkehr gezogen und ein neues Wort, dessen Verwendung klar geregelt ist, in die Sprache eingeführt worden ist. Aber da die bisherigen Verwendungsregeln nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur geschärft werden, erschiene diese Charakterisierung der Sachlage sehr unplausibel. 85
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
lassen oder nicht, verwenden sie also nach der Schärfung den logisch komplexen Namen »Spiel«1 oder den logisch komplexen Namen »Spiel«2. Für den gegenwärtigen Zusammenhang kommt es aber in erster Linie darauf an, wie man die Sachlage vor der Grenzziehung zu charakterisieren hat. Ex hypothesi verwenden Sprecher in dieser Situation weder den logisch komplexen Namen »Spiel«1 noch den logisch komplexen Namen »Spiel«2, sondern den unterdeterminierten Namen »Spiel«. Betrachtet man das Verhältnis zwischen dem Ausdruck »Spiel« und den beiden logisch komplexen Namen »Spiel«1 und »Spiel«2, fällt ein neues Licht auf die Frage, in welchem Sinne durch die Äußerung eines Satzes wie »Schach ist ein Spiel« keine zu objektiver Wahrheit fähige Aussage getroffen und somit aus Platons Perspektive nichts gesagt wird: Das Problem liegt nämlich offenkundig darin, dass nicht feststeht, welche von zwei möglichen Aussagen durch die Äußerung dieses Satzes getroffen wird – ob es die Aussage ist, die der Satz »Schach ist ein Spiel1« zum Ausdruck brächte, oder die Aussage, die der Satz »Schach ist ein Spiel2« zum Ausdruck brächte. Mit der Äußerung des Satzes »Schach ist ein Spiel« fällt man also gleichsam zwischen zwei genuine Aussageakte und scheitert daran, sich auf das Bestehen klar definierter Bedingungen zu verpflichten.86 Zugleich lässt sich dieser Beschreibung der Sachlage aber auch entnehmen, welcher Unterschied zwischen der Äußerung eines Satzes der Form »X ist ein Spiel« und der Artikulation einer bedeutungslosen Lautfolge oder dem Ausstoßen eines Schmerzensschreis besteht: Denn in vielen Fällen macht es eben keinen Unterschied, ob man über eine Aktivität X die Aussage trifft, die der Satz »X ist ein Spiel1« ausdrückt, oder die Aussage, die der Satz »X ist ein Spiel2« ausdrückt: Solange man nicht über eine ›problematische‹ Aktivität spricht, die an den Ideen A, C und E, aber nicht an den Ideen B und D teilhat, haben diese beiden Aussagen nämlich denselben Wahrheitswert. Geht man also davon aus, dass Schach keine ›problematische‹ Aktivität ist, sondern beispielsweise an den Ideen A, B und C, nicht aber an den Ideen D und E teilhat, kann man dem Satz ohne Schwierigkeiten einen Wahrheitswert zuschreiben: Denn unabhängig davon, welche der beiden Optionen zur Schärfung der Verwendungsregeln für den Ausdruck »Spiel« man wählt, muss man den Satz »Schach ist ein Spiel« nach der Schärfung als objektiv wahr anerkennen. Es verhält sich daher ganz so, als würde durch die Äußerung dieses Satzes auch schon vor der Schärfung eine zu objektiver Wahrheit fähige (und in diesem Fall auch wahre) Aussage getroffen; aber tatsächlich hat dieser Satz einen Wahrheitswert ja nicht aus eigenem Recht, sondern nur Zu einer solchen Weise des Scheiterns scheint es im Fall nicht-sprachlicher Handlungen kein Äquivalent zu geben: Benutzt man beispielsweise einen Bohrer, wird man kaum einen Akt durchführen können, der in irgendeinem Sinne zwischen zwei erfolgreiche Vollzüge des Bohrens fällt. 86
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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insofern, als alle Aussagen, die durch die Äußerung dieses Satzes nach den verschiedenen möglichen Schärfungen der Verwendungsregeln für den Ausdruck »Spiel« getroffen werden könnten, in ihrem Wahrheitswert übereinstimmen. Die Wahrheitsfähigkeit des Satzes »Schach ist ein Spiel« ist also parasitär: Im eigentlichen Sinne wahrheitsfähig sind nur die Aussagen, die durch die Anwendung des in seinen Verwendungsregeln in verschiedenen Weisen geschärften Ausdrucks »Spiel« auf die Aktivität Schach getroffen werden. 87 Dieser subtile Punkt spielt freilich in der Praxis oftmals keine große Rolle: Wenn in einem Satz nicht gerade der Ausdruck »Spiel« auf eine ›problematische‹ Aktivität angewendet wird, die an den Ideen A, C und E teilhat, nicht aber an den Ideen B und D, lässt sich ja von der Wahrheit oder Falschheit dieses Satzes sprechen, ohne dass der parasitäre Status dieser Zuschreibungen ins Auge fiele. In alltäglichen Kommunikationssituationen kommt daher die Frage, ob durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist ein Spiel« die Aussage getroffen wird, die der Satz »X ist ein Spiel1« ausdrückt, oder die Aussage, die der Satz »X ist ein Spiel2« ausdrückt, in der Regel einfach nicht auf; und wenn sie doch aufkommt, kann man die Unklarheit leicht aus der Welt schaffen, indem man sich für eine der beiden möglichen Schärfungen der Verwendungsregel für den Ausdruck »Spiel« entscheidet. Man kann daher Platons strenge Betrachtungsweise akzeptieren und behaupten, dass durch die Äußerung eines solchen Satzes sensu strictu nichts gesagt wird, ohne deswegen den gravierenden Unterschied zwischen Äußerungen dieser Art und der Artikulation einer bedeutungslosen Lautfolge oder dem Ausstoßen eines Schmerzensschreis leugnen zu müssen. Ganz im Gegenteil lässt sich, wie die soeben angestellte Überlegung deutlich macht, diese Behauptung sehr gut mit einer Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man Sätze betrachtet, in denen der unscharfe Name »Schach« auf eine ›problematische‹ Aktivität angewendet wird – eine Aktivität also, die an den Ideen A, C und E teilhat, nicht aber an den Ideen B und D: Denn die disjunktive Aussage, dass diese Aktivität an den Ideen A, B und C teilhat oder sie an den Ideen B, C und D teilhat oder sie an den Ideen A und D teilhat, unterscheidet sich offenbar in ihrem Wahrheitswert von der disjunktiven Aussage, dass diese Aktivität an den Ideen A, B und C teilhat oder sie an den Ideen B, C und D teilhat oder sie an den Ideen A und D teilhat oder sie an den Ideen A, C und E teilhat. Sätzen, in denen der unscharfe Name »Spiel« auf eine ›problematische‹ Aktivität angewendet wird, kann daher kein Wahrheitswert zugeschrieben werden. Auch für Sätze der Form »Alle Spiele sind N« kann sich unter Umständen eine solche Schwierigkeit ergeben: Dann nämlich, wenn zwar alle Aktivitäten, die an den Ideen A, B und C oder an den Ideen B, C und D oder an den Ideen A und D teilhaben, zur Extension des generellen Terms »N« gehören, nicht aber alle Aktivitäten, die an den Ideen A, C und E teilhaben. Was diese problematischen Fälle zeigen, ist, dass die Rede von dem Wahrheitswert von Sätzen der Form »X ist ein Spiel« nur dann sinnvoll ist, wenn damit nicht mehr gemeint ist, als dass der betreffende Satz nach jeder akzeptablen Schärfung der Verwendungsregeln für den Ausdruck »Spiel« denselben Wahrheitswert hat; es kann nicht gemeint sein, dass durch die Äußerung des Satzes eine Aussage getroffen wird, die aus eigenem Recht zu objektiver Wahrheit fähig ist. 87
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Charakterisierung des Status derartiger Äußerungen verbinden, die ihrer Nähe zu genuinen Aussageakten Rechnung trägt. Entscheidend ist dabei die Beobachtung, dass zwar nicht klar ist, was durch die Äußerung eines Satzes der Form »X ist ein Spiel« gesagt wird, aber dennoch der Bereich dessen, was durch die Äußerung des Satzes gesagt sein könnte, durch die bisherige Praxis der Verwendung des Ausdrucks »Spiel« zumindest schon stark eingegrenzt ist. Man bewegt sich mit der Äußerung eines solchen Satzes also gleichsam schon im Koordinatensystem möglicher Aussageakte, ohne aber eine klar definierte Position in diesem System zu beziehen. Da sich diese Analyse offenbar auf andere unterdeterminierte Namen übertragen lässt, lassen sich die normativ-kritischen Implikationen, die die Erweiterte Exklusivitätsthese im Hinblick auf diese Ausdrücke hat, ihrer kontraintuitiven Natur zum Trotz durchaus verteidigen. Man erkennt leicht, dass sich mit den Implikationen, die diese These im Hinblick auf überdeterminierte Namen wie »Barbar« hat, auf analoge Weise umgehen lässt. Das Problem mit diesem Namen bestand ja darin, dass ein Satz der Form »X ist ein Barbar« einerseits genau dann wahr zu sein scheint, wenn der Satz »X ist ein Mensch und X ist nicht hellenisch« wahr ist, die Wahrheit des Satzes »X ist ein Barbar« aber andererseits auch als Garant für die Wahrheit des Satzes »X ist brutal« behandelt wird. Nimmt man nun zur Vereinfachung des Beispiels an, dass »X ist brutal« der einzige Schluss ist, auf den man sich durch die Äußerung von »X ist ein Barbar«, aber nicht (oder zumindest nicht unmittelbar) durch die Äußerung des Satzes »X ist ein Mensch und X ist nicht hellenisch« verpflichtet, lässt sich der Status des Satzes »X ist ein Barbar« ähnlich charakterisieren wie der Status des Satzes »X ist ein Spiel«: Denn offenbar ist nicht klar, ob durch die Äußerung jenes Satzes die Aussage getroffen wird, dass X ein Mensch, aber nicht hellenisch ist, oder die Aussage, dass X ein Mensch und brutal, aber nicht hellenisch ist; es ist vielmehr ganz so, als würden per impossibile durch eine solche Äußerung beide Aussagen zugleich getroffen. Auch hierbei kommt man dem Vollzug eines Aussageaktes zweifellos viel näher als beim Artikulieren einer bedeutungslosen Lautfolge oder beim Ausstoßen eines Schmerzensschreis; und die verbleibende Unklarheit ließe sich durch eine Modifikation88 der Verwendungskonvention ausräumen, nach der die Sprecher entweder den logisch komplexen Namen »Barbar«1 für alle Menschen, die keine Hellenen sind, einsetzen und auf den Schluss von »X ist ein Barbar1« auf »X ist brutal« verzichten würden, oder aber den logisch komplexen Von einer ›Schärfung‹ wird man in diesem Fall nicht ohne Weiteres sprechen können: Denn wenn sich die Sprecher entscheiden, in Zukunft den logisch komplexen Namen »Barbar«1 für alle Menschen, die keine Hellenen sind, einzusetzen, hätte man es ja eher mit einer Entschärfung der Verwendungskonvention zu tun. 88
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Namen »Barbar«2 für alle brutalen Menschen, die keine Hellenen sind, verwenden würden.89 Man kann demnach an dem im letzten Abschnitt begründeten Verdikt festhalten: Bei den unterdeterminierten und bei den überdeterminierten Namen handelt es sich um unrichtige Namen; wenn ein Nomothet einen dieser Namen in die Sprache einführt, begeht er einen Fehler, den ein guter Dialektiker korrigieren wird. Es handelt sich nämlich bei solchen Namen um Ausdrücke, mittels derer tatsächlich, wie man der Erweiterten Exklusivitätsthese entnehmen kann, das Aussagen nicht vollzogen und somit sensu strictu nichts gesagt werden kann – was aber, wie die Überlegungen dieses Abschnitts gezeigt haben, eben keineswegs bedeutet, dass man bei ihrer Verwendung so weit davon entfernt ist, etwas zu sagen, wie bei der Artikulation einer bedeutungslosen Lautfolge oder beim Ausstoßen eines Schmerzensschreis. An den unterdeterminierten und den überdeterminierten Namen lässt sich also wie vermutet das normativ-kritische Potenzial der Erweiterten Exklusivitätsthese und damit das normativ-kritische Potenzial von Sokrates’ Bestimmung der Aufgabe des Namens studieren. Die Zweifel an der Intelligibilität des von Sokrates etablierten Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen, von denen die Überlegungen dieses Kapitels ihren Ausgang nahmen, sind mithin so weitgehend ausgeräumt, wie es im Rahmen einer ›zweitbesten Fahrt‹ möglich ist. Zugleich ist auch deutlich geworden, dass die auf den ersten Blick so kontraintuitiven Konsequenzen, die man zu tragen hat, wenn man diesen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen akzeptiert, auch für einen dem common sense verpflichteten Konventionalisten wie Hermogenes durchaus tragbar sind. Ein solcher Konventionalist hat daher in Anbetracht von Sokrates’ Ausführungen zur Natur des Sprechens und des Nennens insgesamt einen guten Grund, den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen anzuerkennen und sich Platons strenge Betrachtungsweise der Sprache zu eigen zu machen – ist es doch ganz im Sinne des common sense, die Fähigkeit zu objektiver Wahrheit im Einklang mit der (Erweiterten) Exklusivitätsthese als das wesentliche Charakteristikum genuiner Aussagen anzusehen. Setzt man zudem noch mit Platon (und Frege) voraus, dass Sprache in erster Linie dem Erwerb und der Vermittlung von Wissen zu dienen hat, hat man nicht nur einen guten Grund, den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen anzuerkennen – man hat dann, wie es scheint, gar keine andere Wahl. Es ist allerdings, so sei zum Abschluss dieses Kapitels noch in Form eines kurzen Ausblicks festgehalten, von großer Bedeutung, die prinzipiellen LimitatiTatsächlich scheint sich, wenn man die Verwendung des deutschen Ausdrucks »Barbar« betrachtet, eine dritte Variante durchgesetzt zu haben – denn diesen Ausdruck scheint man auf jeden brutalen und unzivilisierten Menschen anwenden zu können. 89
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onen der vorgetragenen Verteidigung von Platons strenger Betrachtungsweise der Sprache klar zu sehen. Diese Limitationen werden dann augenfällig, wenn man seine Aufmerksamkeit auf eine stillschweigende Voraussetzung richtet, der die soeben entfaltete Explikation und Rechtfertigung der These, man könne durch den Einsatz eines unterdeterminierten (oder überdeterminierten) Namens sensu strictu nichts sagen, ihre Überzeugungskraft verdankt: die Voraussetzung nämlich, dass es völlig unproblematisch ist, durch die explizite Stipulation einer Verwendungsregel eine klare Grenze zu ziehen zwischen Gegenständen, auf die ein bestimmter Name korrekterweise anzuwenden ist, und Gegenständen, für die das nicht gilt. Auf den ersten Blick scheint ja auch nichts einfacher zu sein: Was sollte Sprecher schließlich daran hindern, eine explizite Regel wie »Von nun an sind all diejenigen Aktivitäten als ›Spiel‹ zu bezeichnen, die A, B und C sind oder B, C und D oder A und D« einzuführen, um so den Zustand der Unterdetermination zu beenden? Dass Sprecher eine solche Regel stipulieren können, unterliegt nun auch keinem Zweifel. Durchaus zweifelhaft ist aber die Vorstellung, die Möglichkeit einer solchen Regelung zeige, dass sich die Unschärfe, die für den Gebrauch eines unterdeterminierten Namens wie »Spiel« charakteristisch ist, durch die Etablierung eines umfassenden Regelsystems zumindest theoretisch aus der Sprache verbannen ließe und insofern als ein Phänomen betrachtet werden muss, das der sprachlichen Praxis gleichsam nur per accidens anhaftet: Denn wer durch die Stipulation einer expliziten Verwendungsregel klare Grenzen zieht, kann dies nur unter Rückgriff auf andere gebräuchliche Ausdrücke tun, deren Anwendungsbedingungen bereits klar sein müssen. Nun ist es freilich denkbar, dass auch der Gebrauch dieser Ausdrücke bereits einer expliziten Regel unterliegt, oder sich eine solche Regel nötigenfalls stipulieren lässt; aber offenkundig verschiebt man durch den Verweis auf diese Option die Frage, was die Schärfe und Klarheit der neu gezogenen Grenzen garantiert, nur um einen Schritt, anstatt sie zu beantworten. Wer einen infiniten Regress oder einen vitiösen Zirkel vermeiden will, kann sich daher nicht auf die Möglichkeit der Stipulation expliziter Verwendungsregeln berufen, um zu belegen, dass sich die Sprache zumindest im Prinzip von derjenigen Offenheit und Unschärfe, die den Gebrauch des Ausdrucks »Spiel« von dem Gebrauch anderer Ausdrücke zu unterscheiden scheint, befreien ließe. Man verfehlt also das Phänomen begrifflicher Begrenztheit, wenn man es vom expliziten Ziehen von Grenzen her denkt – setzt man doch auf diese Weise immer schon das voraus, was man eigentlich erklären will. Die Herausforderung, vor die Wittgensteins Betrachtungen zum Ausdruck »Spiel« (und selbstverständlich auch seine Diskussion der Problematik des Regelfolgens)90 den Verteidiger einer normativen sprachphilosophischen Position 90
Philosophische Untersuchungen, §§ 185–202 und passim.
V. Der Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
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wie derjenigen Platons oder Freges stellt, ist also anders gelagert und grundsätzlicher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Wittgenstein ist es nicht (oder nicht in erster Linie) um den Nachweis zu tun, dass die Ausdrücke, die wir alltäglich verwenden, der angesetzten Norm oftmals nicht genügen – dass die Grenzen ihrer Anwendbarkeit also deswegen oftmals nicht klar sind, weil sie nicht auf eine stabile ousia beziehungsweise einen klar definierten Begriff bezogen sind –, ohne uns deswegen weniger gute Dienste zu leisten; einen solchen Nachweis könnte man schließlich, wie die Überlegungen dieses Abschnitts gezeigt haben, akzeptieren, ohne dadurch zur Preisgabe des Ideals gezwungen zu sein, an dem Platon und Frege unsere sprachliche Praxis zu messen scheinen. Wittgenstein scheint es vielmehr darum zu gehen, dieses Ideal als solches zu attackieren. Seine Philosophischen Untersuchungen werfen nämlich die Frage auf, ob die Offenheit und Flexibilität, die den Gebrauch eines Wortes wie »Spiel« kennzeichnet, nicht für unser Operieren mit sprachlichen Ausdrücken generell charakteristisch ist; und ob es daher nicht sinnlos ist, die Regeln für die Anwendung dieser Ausdrücke an einem – letztlich unausweisbaren – Maßstab absoluter Schärfe oder Klarheit zu messen und dann als unscharf oder unklar zu brandmarken.91 Wäre dem tatsächlich so, könnte man nur verstehen, was es heißt, die Anwendung eines Ausdrucks auf einen Gegenstand als objektiv korrekt oder inkorrekt zu bewerten, indem man unsere vermeintlich defizitäre Praxis des Umgangs mit Ausdrücken wie »Spiel« genau studiert;92 nicht aber, indem man den Bezug auf eine stabile ousia beziehungsweise einen scharf definierten Begriff zur Norm macht, deren Die Alltagssprache aus einer solchen Perspektive zu betrachten und zu bewerten, kommt nach Wittgensteins programmatischer Bemerkung in § 81 seiner Philosophischen Untersuchungen, der als direkte Replik auf Freges Ausführungen zur Notwendigkeit scharf definierter Begriffe gelesen werden kann, einem Missverständnis gleich: »F.P. Ramsey hat einmal im Gespräch mit mir betont, die Logik sei eine ›normative‹ Wissenschaft. Genau welche Idee ihm dabei vorschwebte, weiß ich nicht; sie war aber zweifellos eng verwandt mit der, die mir erst später aufgegangen ist: daß wir nämlich in der Philosophie den Gebrauch der Wörter oft mit Spielen, Kalkülen nach festen Regeln vergleichen, aber nicht sagen können, wer die Sprache gebraucht, müsse ein solches Spiel spielen. – Sagt man nun aber, daß unser sprachlicher Ausdruck sich solchen Kalkülen nur nähert, so steht man damit unmittelbar am Rande eines Mißverständnisses. Denn so kann es scheinen, als redeten wir in der Logik von einer idealen Sprache. […] Während die Logik doch nicht von der Sprache […] handelt in dem Sinne, wie ein Naturwissenschaft von einer Naturerscheinung, und man höchstens sagen kann, wir konstruierten ideale Sprachen. Aber hier wäre das Wort ›ideal‹ irreführend, denn das klingt, als wären diese Sprachen besser, vollkommener, als unsere Umgangssprachen; und als brauchte es den Logiker, damit er den Menschen endlich zeigt, wie ein richtiger Satz ausschaut.« 92 Man wird freilich auch den wissenschaftlichen Gebrauch von Ausdrücken studieren müssen, der weit weniger von Offenheit und Flexibilität geprägt ist als die alltägliche Sprachpraxis – ohne dabei aber die Verwurzelung der Wissenschafts- in der Alltagssprache aus dem Blick zu verlieren. 91
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Erfüllung die Klarheit der Anwendungsbedingungen des betreffenden Ausdrucks sichert. Dies dürfte die tiefste Schwierigkeit sein, der man sich gegenübergestellt sieht, wenn man die von Sokrates’ in Vorschlag gebrachte normative Bestimmung der Aufgabe des Namens und die mit ihr aufs Engste verbundene Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen durchgängig absichern will – eine Schwierigkeit, die sich in etwas anderer Form auch demjenigen präsentiert, der Freges Forderung nach scharf definierten Begriffen zu verteidigen sucht. Ihrer Grundsätzlichkeit wegen kann sie, wie sich von selbst verstehen dürfte, im Rahmen einer Studie zum Kratylos nicht angemessen behandelt werden. Es muss daher genügen, diese Schwierigkeit hier klar benannt und damit den Punkt markiert zu haben, an dem die vorliegende Studie über sich selbst hinausweist.
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen: Der MODERATE NATURALISMUS (389d–390a) Im letzten Kapitel konnte die Rekonstruktion des funktionalistischen Begriffs der natürlichen Richtigkeit, der in Sokrates’ normativer Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias zum Ausdruck kommt, abgeschlossen werden. Zugleich wurde die positive Antwort auf die erste Leitfrage dieser Studie, die bereits die Überlegungen des dritten und des vierten Kapitels nahelegten, endgültig abgesichert: Ein Konventionalist wie Hermogenes hat in der Tat einen guten Grund, den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen anzuerkennen und mithin zuzugestehen, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt – auch wenn dieses Zugeständnis Konsequenzen hat, die auf den ersten Blick dem gesunden Menschenverstand massiv widersprechen. Ein solcher Konventionalist hat nämlich, wenn er im Einklang mit dem common sense die Fähigkeit zu objektiver Wahrheit für ein wesentliches Charakteristikum von genuinen Aussagen hält, einen guten Grund, sich die normative Bestimmung des Nennens als »Belehrung und Unterscheidung der ousia« einer Art zu eigen zu machen, was ihn auf die Anerkennung des funktionalistischen Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen verpflichtet. Aus diesem generischen Standard ergeben sich, wie im letzten Kapitel nachvollzogen wurde, eine Reihe spezifischer Standards, die Namen für bestimmte Gegenstandsarten zu erfüllen haben: Als Namen für eine bestimmte Gegenstandsart wird man einen Ausdruck demnach nur dann anerkennen können, wenn er für die entsprechende spezifische Version des Nennens geeignet ist – wenn sich mit ihm also durch die Unterscheidung der stabilen ousia dieser Gegenstandsart beziehungsweise der Idee, an der all ihre Angehörigen teilhaben, zur Belehrung eines Hörers beitragen lässt. (Da Sokrates selbst die stabilen ousiai nur andeutungsweise mit den Ideen identifiziert, soll im Folgenden weiterhin von ›ousiai‹ statt von ›Ideen‹ gesprochen werden.1) Wenn also der deutsche Name »Pferd« nicht, wie der Starke Konventionalismus behauptet, durch eine Entscheidung zu einem Namen für die Art der Menschen gemacht werden kann und umgekehrt der deutsche Name »Mensch« auch nicht zu einem Namen für die Art der Pferde – dann muss dies darauf 1 Dadurch geht nichts an Präzision verloren: Denn ein Set von Kriterien, anhand derer man entscheiden kann, welchen Ausdrücken eine Idee entspricht und welchen nicht, lässt sich ebenso wenig entwickeln wie ein Set von Kriterien, anhand derer man entscheiden kann, welchen Ausdrücken eine stabile ousia entspricht und welchen nicht. Wichtig ist nur, dass angesichts der Identifikation der ousiai mit den Ideen klar ist, dass ein Dialektiker diese Frage(n) kompetent untersuchen kann. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
zurückzuführen sein, dass der Name »Pferd« objektiv zur Unterscheidung der ousia der Pferde, aber nicht zur Unterscheidung der ousia der Menschen geeignet ist, der Name »Mensch« hingegen zur Unterscheidung der ousia der Menschen, aber nicht zur Unterscheidung der ousia der Pferde. So viel ist klar angesichts der Überlegungen zu den spezifischen Ideen des Namens, die Sokrates in 389d–390a anstellt. Noch nicht klar ist indessen, was etwa dem Namen »Pferd« die Eignung zur Unterscheidung der Art der Pferde2 verleiht und ihn zu einem natürlicherweise richtigen Namen für diese Art macht. Verpflichten Sokrates’ bisherige Ausführungen Hermogenes vielleicht am Ende sogar schon auf die Annahme, die Eignung eines Namens für eine spezifische Version des Nennens müsse etwas mit seiner Lautgestalt und möglicherweise auch mit seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt zu tun haben, wie es der spätere Dialogverlauf suggeriert? Es ist die Aufgabe einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, diese Frage zu beantworten – also zu beschreiben, was genau ein Nomothet tun muss, um einen natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Gegenstandsart einzuführen. Erhofft man sich von Sokrates’ Überlegungen zur Einführung von Namen durch den Nomotheten in 389d4–390a10 eine solche Beschreibung, wird man allerdings enttäuscht. Denn diese (im letzten Kapitel in Teilen schon besprochenen) Überlegungen, die hier einmal im Zusammenhang zitiert seien, scheinen auf den ersten Blick keinerlei Rückschlüsse darauf zuzulassen, wie eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen aussehen könnte: Also gilt auch für den natürlicherweise für jedes geeigneten Namen, mein Bester, dass jener Nomothet ihn in die Buchstaben und Silben zu legen verstehen und alle Namen herstellen und festlegen muss, indem er auf jenes selbst, was ein Name ist, sieht, wenn er eine Namensgeber-Autorität sein will? Und wenn nicht jeder Nomothet [den natürlicherweise für jedes geeigneten Namen] in dieselben Silben legt, darf dies einem nicht entgehen. Denn auch nicht jeder Schmied legt [das natürlicherweise geeignete Werkzeug] in dasselbe Eisen, obwohl er dasselbe Werkzeug für denselben Zweck herstellt; aber solange er dieselbe Idee wiedergibt, sei es in demselben oder in anderem Eisen, hat es mit dem Werkzeug nichtsdestoweniger seine Richtigkeit, ob jemand es hier oder bei den Barbaren herstellt. Oder? – Sicher. – Also wirst du so auch über den Nomotheten, sowohl den hiesigen als auch den bei den Barbaren, denken: Solange er die jedem angemessene Idee des Namens in Silben welcher Art auch immer wiedergibt, ist der hiesige kein schlechterer Nomothet als der an irgendeinem anderen Ort? – Sicher.3 Es sei daran erinnert, dass die Unterscheidung der ousia einer Art mit der Unterscheidung der Art zusammenfällt. 3 389d4–390a10: Ἆρ’ οὖν, ὦ βέλτιστε, καὶ τὸ ἑκάστῳ φύσει πεφυκὸς ὄνομα τὸν νομοθέτην 2
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Während Sokrates an dieser Stelle unmissverständlich die Wiedergabe der passenden spezifischen Idee des Namens zur notwendigen und hinreichenden Bedingung für die Einführung eines Namens erklärt, der für den Vollzug einer bestimmten spezifischen Version des Nennens geeignet ist, scheint er fast nichts darüber zu sagen, wie man sich die Wiedergabe einer solchen Idee vorzustellen hat. Nur zwei Dinge sind klar: Erstens muss eine solche Idee in Buchstaben und Silben wiedergegeben werden; und zweitens kann dieselbe Idee in verschiedenen Buchstaben und Silben wiedergegeben werden. Einen zusätzlichen dritten Anhaltspunkt gewinnt man dann, wenn man beachtet, dass Sokrates den Namensschöpfer als einen Nomotheten charakterisiert. Denn wie schon im dritten Kapitel dieser Studie festgestellt wurde und auch in der einschlägigen Sekundärliteratur weitgehend anerkannt ist, impliziert diese Charakterisierung, dass die Bereitstellung eines sprachlichen Werkzeugs, das an einer spezifischen Idee des Namens teilhat und daher für eine spezifische Version des Nennens geeignet ist, durch die Einführung eines nomos – eines Brauchs oder einer Konvention4 – erfolgt. Das scheint aber auch schon alles zu sein, was sich Sokrates’ Ausführungen entnehmen lässt; eine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen es einem Nomotheten gelingt, seiner Sprachgemeinschaft durch die Etablierung einer Konvention ein sprachliches Werkzeug zur Verfügung zu stellen, das sich für den Vollzug einer spezifischen Version des Nennens eignet und somit ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart ist, scheinen sie nicht bereitzuhalten. Die Offenheit und Deutungsbedürftigkeit dessen, was Sokrates in 389d4–390a10 über die Wiedergabe spezifischer Namens-Ideen in Buchstaben und Silben zu sagen hat, ist zwar oft bemerkt, aber selten angemessen gewürdigt worden.5 Allzu leicht ist es, sich der philosophischen Herausforderung, vor die ἐκεῖνον εἰς τοὺς φθόγγους καὶ τὰς συλλαβὰς δεῖ ἐπίστασθαι τιθέναι, καὶ βλέποντα πρὸς αὐτὸ ἐκεῖνο ὃ ἔστιν ὄνομα, πάντα τὰ ὀνόματα ποιεῖν τε καὶ τίθεσθαι, εἰ μέλλει κύριος εἶναι ὀνομάτων θέτης; εἰ δὲ μὴ εἰς τὰς αὐτὰς συλλαβὰς ἕκαστος ὁ νομοθέτης τίθησιν, οὐδὲν δεῖ τοῦτο ἀγνοεῖν· οὐδὲ γὰρ εἰς τὸν αὐτὸν σίδηρον ἅπας χαλκεὺς τίθησιν, τοῦ αὐτοῦ ἕνεκα ποιῶν τὸ αὐτὸ ὄργανον· ἀλλ’ ὅμως, ἕως ἂν τὴν αὐτὴν ἰδέαν ἀποδιδῷ, ἐάντε ἐν ἄλλῳ σιδήρῳ, ὅμως ὀρθῶς ἔχει τὸ ὄργανον, ἐάντε ἐνθάδε ἐάντε ἐν βαρβάροις τις ποιῇ. ἦ γάρ; – Πάνυ γε. – Οὐκοῦν οὕτως ἀξιώσεις καὶ τὸν νομοθέτην τόν τε ἐνθάδε καὶ τὸν ἐν τοῖς βαρβάροις, ἕως ἂν τὸ τοῦ ὀνόματος εἶδος ἀποδιδῷ τὸ προσῆκον ἑκάστῳ ἐν ὁποιαισοῦν συλλαβαῖς, οὐδὲν χείρω νομοθέτην εἶναι τὸν ἐνθάδε ἢ τὸν ὁπουοῦν ἄλλοθι; – Πάνυ γε. (Die Passage 389d4–390a4 wurde – mit einer längeren Auslassung – bereits zu Beginn des letzten Kapitels zitiert.) 4 Vgl. zur Valenz des Ausdrucks nomos Anm. 75 im dritten Kapitel. 5 Es gibt einige Interpreten, die zurecht betonen, dass Sokrates’ Forderung nach Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens in erster Linie besagt, dass der Nomothet stets einen Namen für eine ousia oder eine Idee einführen muss, und Platon nicht die Annahme eines Zusammenhangs zwischen natürlicher Richtigkeit in diesem Sinne und etymologischer Bedeutung oder
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
einen diese Offenheit stellt, zu entziehen, indem man sich die eigene Perspektive auf Sokrates’ Ausführungen von der Entwicklung vorgeben lässt, die der Kratylos nach der Werkzeug-Analogie nimmt. Wer dies tut, wird annehmen, dass Platon Sokrates hier zwar nicht explizit sagen lässt, dass ein Nomothet genau dann einen natürlicherweise richtigen Namen einführt, wenn er eine Konvention etabliert, die einer Art von Gegenständen einen Ausdruck als Namen zuordnet, dessen etymologische Bedeutung (beziehungsweise dessen mimetischer Gehalt) in einem bestimmten Sinne zu ihrer ousia passt – dass aber angesichts des weiteren Untersuchungsgangs gar nichts anderes gemeint sein kann.6 Der Sinn der Passage 389d4–390a10 erschlösse sich demnach nur demjenigen, der sie als skizzenhaften Vorgriff auf die Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen deutet, die Sokrates im Anschluss an die Werkzeug-Analogie zu entfalten beginnen wird. Diese Annahme liegt nicht nur den einflussreichsten ausgearbeiteten Gesamtinterpretationen des Kratylos zugrunde, sondern – in expliziter oder impliziter Form – auch vielen weniger umfassenden Auseinandersetzungen mit diesem Diamimetischem Gehalt zuschreiben: Kretzmann (1971), 130 f., Kahn (1973), 162–166, Palmer (1989), 88–91, Ackrill (1994), 19–23; einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch Gold (1978), Ketchum (1979) und Heitsch (1984), 63–73. Keiner dieser Interpreten beantwortet allerdings die Frage, was ein Nomothet tun muss, um einen Namen für eine Art oder eine Idee zu schaffen, und inwiefern seine produktive Tätigkeit derjenigen eines Schmiedes gleicht; ihre These, Sokrates’ Beschreibung in 389d4–390a10 stehe nicht im Widerspruch zu konventionalistischen Intuitionen, bleibt daher eine trockene Versicherung. Imogen Smith hat dieses Versäumnis unlängst in einem hilfreichen Aufsatz klar benannt und zurückgeführt auf eine mangelnde Differenzierung zwischen der Funktion, die ein Werkzeug erfüllt, und den Eigenschaften, die ihm die Erfüllung dieser Funktion ermöglichen: Smith (2014), 84 f. Die Schlussfolgerung, die sie aus ihrer Diagnose zieht, überzeugt allerdings nicht: S. u., Anm. 27. 6 Vertreter dieser Interpretationslinie leugnen also durchaus nicht, dass in 389d4–390a10 von der etymologischen Bedeutung oder dem mimetischen Gehalt von Namen nicht die Rede ist und daher theoretisch andere Interpretationen von Sokrates’ Ausführungen denkbar wären; aber sie gehen dennoch davon aus, dass Platons Leser in diesen Ausführungen einen skizzenhaften Vorgriff auf die im Anschluss entwickelte Theorie der natürlichen Richtigkeit erkennen sollen. Besonders klar wird diese Position von Ademollo formuliert: »The letter of what Socrates says is, strictly speaking, compatible with conventionalism […]. Yet when Socrates refers to the specific form of name as τὸ ἑκάστῳ φύσει πεφυκὸς ὄνομα (d4–5) he is clearly echoing the clause ὀνόματος ὀρθότητα εἶναι ἑκάστῳ τῶν ὄντων φύσει πεφυκυῖαν, whereby Cratylus’ thesis was first introduced (383a); and the very analogy with the tools, the conclusion Socrates will draw at 390de, and the way he will subsequently develop it at length, all press us to assume something more, i.e. that the information which a name must supply about its referent […] is a matter of how the name is materially made, hence of its etymology. It is this assumption that makes the argument into a refutation of conventionalism« (Ademollo (2011), 135). Bemerkenswerterweise geht Ademollo mit keinem Wort darauf ein, dass ein Konventionalist wie Hermogenes ganz offenkundig nicht den geringsten Grund hat, die fragliche Annahme zu akzeptieren. Ähnlich wie Ademollo verstehen Sokrates’ Ausführungen beispielsweise Gould (1969), 21, Keller (2000), 293 f., Barney (2001), 45–48, und Sedley (2003), 65 f.
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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log.7 Sie zu desavouieren und eine alternative Deutung der Passage 389d4–390a10 als Baustein der von Platon inszenierten Untersuchung der natürlichen Richtigkeit der Namen plausibel zu machen, ist das zentrale Anliegen dieses Kapitels. Dabei wird zu zeigen sein, dass Platon diese Passage nutzt, um einem aufmerksamen und selbstkritischen Leser, der durch seine Lektüre der Hinführung zur Werkzeug-Analogie bereits Hermogenes’ Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen in Frage zu stellen gelernt hat,8 einen neuen Blick auf das Verhältnis zwischen Namen und Lautfolgen zu vermitteln, der ihm die Konstruktion einer alternativen Theorie der natürlichen Richtigkeit ermöglicht: der Theorie des Moderaten Naturalismus nämlich, die den Schwachen Konventionalismus als umsichtigen Ausdruck konventionalistischer Intuitionen inkorporiert.9
HYPERNATURALISMUS und MODERATER NATURALISMUS
Was besagt die angeblich in 389d4–390a10 schon vorweggenommene These, ein Nomothet führe genau dann einen natürlicherweise richtigen Namen ein, wenn er eine Konvention etabliert, die einer Art von Gegenständen einen Ausdruck als Namen zuordnet, dessen etymologische Bedeutung (beziehungsweise dessen mimetischer Gehalt) in einem bestimmten Sinne zu der ousia dieser Gegenstände passt? Der Sinn dieser These lässt sich am besten an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Wenn die natürliche Richtigkeit eines Namens tatsächlich von seiner etymologischen Bedeutung (oder seinem mimetischen Gehalt) abhängig ist, hat der Nomothet, der die Konvention eingeführt hat, alle Angehörigen der Art der Apfelbäume »Apfelbaum« zu nennen, den Sprechern des Deutschen auf diese Weise einen natürlicherweise richtigen Namen zur Verfügung gestellt, der für die Unterscheidung der Apfelbäume beziehungsweise der entsprechenden Idee geeignet ist. Hätte er dagegen die Konvention eingeführt, alle Angehörigen dieser Art »Birnbaum« zu nennen, wäre er an der Aufgabe gescheitert, einen natürlicherweise richtigen Namen für die Art der Apfelbäume einzuführen. Betrachtet man die Oberfläche, die einem der Kratylos darbietet, mag es plausibel scheinen, Sokrates’ Beschreibung der Tätigkeit des Nomotheten in 389d4–390a10 in diesem Sinne als skizzenhafte Vorwegnahme seiner späteren 7 So z. B. Horn (1904), 28; Robinson (1955), 227; Crombie (1963), 478; Gould (1969), 21 f.; Weingartner (1970), 20 f.; Fine (1977), 297; Guthrie (1978), 20 f.; Bröcker (31985), 335 f.; Barney (2001), 45; Sedley (2003), 63–65 und passim; Ademollo (2011), 111–113 und passim. 8 Vgl. dazu die Überlegungen des ersten Kapitels. 9 Die Anregungen und kritischen Bemerkungen Hannes Kerbers waren mir eine große Hilfe bei der Ausarbeitung der These, dass Platon seine Inszenierung der Passage 389d4–390a10 an dem Ziel ausrichtet, seinen Lesern die Konstruktion des MODERATEN NATURALISMUS zu ermöglichen.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Überlegungen zum Zusammenhang zwischen natürlicher Richtigkeit und etymologischer Bedeutung (beziehungsweise mimetischem Gehalt) zu verstehen. Bei näherer Überlegung wird allerdings schnell klar, wie fragwürdig die Annahme ist, Platon inszeniere in 389d4–390a10 einen solchen Vorgriff auf die weitere Entwicklung der Untersuchung. Tatsächlich passt nämlich die Charakterisierung der Tätigkeit des Nomotheten, die Sokrates in dieser Passage gibt, nicht sonderlich gut zu seiner im weiteren Verlauf des Kratylos entwickelten Theorie, der zufolge die natürliche Richtigkeit eines Namens von seiner Etymologie oder seinem mimetischen Gehalt abhängig ist: Denn zum einen betont Sokrates in 390a6, der Nomothet könne einen Namen aus »Silben welcher Art auch immer« fertigen – was zu implizieren scheint, dass in dem Ausdruck »Birnbaum« dieselbe spezifische Idee des Namens wiedergegeben sein könnte wie in dem Ausdruck »Apfelbaum«. Das muss freilich nicht zwangsläufig gemeint sein: Sokrates sagt schließlich nur, dass es nicht von Belang ist, aus welchen Silben ein Nomothet einen Namen fertigt, »solange er die jedem angemessene Idee des Namens in Silben welcher Art auch immer wiedergibt«. Es könnte ihm also auch in erster Linie darum gehen, den Eindruck zu vermeiden, nur ein bestimmtes Lautsystem – wie etwa das hellenische – sei geeignet, um richtige Namen zu produzieren; und diese Pointe wäre durchaus mit der These kompatibel, dass es immer bestimmte Elemente solcher Lautsysteme sind, die in bestimmter Weise zusammengesetzt werden müssen, wenn eine bestimmte spezifische Idee des Namens wiedergegeben werden soll.10 Indessen dürfte sich kaum bestreiten lassen, dass es bei einer unvoreingenommenen Lektüre von Sokrates’ Erklärung in 390a4–7 deutlich plausibler erscheint, von der völligen Freiheit des Nomotheten bei der Wahl der Silben und Buchstaben, in denen er eine spezifische Idee des Namens wiedergeben möchte, auszugehen – was mit der Rückführung der natürlichen Richtigkeit des Namens auf seine etymologische Bedeutung oder seinen mimetischen Gehalt nicht zu vereinbaren ist. Zum anderen könnte dann, wenn es einzig und allein von der etymologischen Bedeutung (oder dem mimetischen Gehalt) eines Ausdrucks abhinge, ob er an einer bestimmten spezifischen Idee des Namens teilhat oder nicht, keine Rede davon sein, dass ein Nomothet eine solche Idee in die Silben und Buchstaben legt und so einen natürlicherweise richtigen Namen schafft, indem er einen nomos etabliert. Denn in diesem Fall wäre ja beispielsweise der Ausdruck »Apfelbaum« ex hypothesi ganz unabhängig davon, welche Verwendungsregel ein Nomothet für ihn einführt, ein natürlicherweise richtiger Name für die Art der Apfelbäume. Für die Frage, ob einem Nomotheten mit der Einführung eines Ausdrucks die Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens gelungen ist, wäre es also voll10
Vgl. dazu Rijlaarsdam (1978), 109 f.
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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kommen irrelevant, welche Konvention er für den Gebrauch des betreffenden Ausdrucks etabliert hat: Der Ausdruck »Apfelbaum« hätte an derjenigen spezifischen Idee des Namens, die bei der Produktion eines für die Unterscheidung der Art der Apfelbäume geeigneten Namens wiederzugeben ist, auch dann teil, wenn der Nomothet seine Anwendung auf Birnbäume oder Dreiecke vorgeschrieben hätte. Um die im Anschluss an die Werkzeug-Analogie entwickelte Theorie, der zufolge die natürliche Richtigkeit eines Namens von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängig ist, mit Sokrates’ Beschreibung der Tätigkeit des Nomotheten in 389d4–390a10 in Einklang zu bringen, muss man daher die in dieser Passage beschriebene Produktion eines natürlicherweise richtigen Namens durch die Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens von der Etablierung einer Konvention für den Gebrauch des produzierten Namens unterscheiden. Der Nomothet würde demnach, vereinfacht gesagt,11 in zwei Schritten vorgehen:12 In einem ersten Schritt würde er bestimmte Silben zu einem Ausdruck wie »Apfelbaum« zusammensetzen, der im Erfolgsfall an derjenigen spezifischen Idee des Namens teilhat, deren Wiedergabe der Nomothet anstrebt. In einem zweiten Schritt würde er dann durch die Etablierung einer passenden Konvention den zusammengesetzten Ausdruck in die Sprache seiner Sprachgemeinschaft einführen und den Angehörigen dieser Gemeinschaft so ein sprachliches Werkzeug zur Unterscheidung einer bestimmten Art wie etwa derjenigen der Apfelbäume zur Verfügung stellen. Dieser zweite Schritt hätte aber mit der Produktion des sprachlichen Werkzeugs nichts mehr zu tun, sondern ließe sich vielleicht am besten mit der Formulierung einer Gebrauchsanweisung für ein bereits produziertes Werkzeug vergleichen: Denn durch die Etablierung der Konvention, alle Angehörigen der Art der Apfelbäume »Apfelbaum« zu nennen, verschafft der Nomothet dem Ausdruck »Apfelbaum« ja eben keineswegs die Eignung für die Unterscheidung dieser Art, sondern weist die Angehörigen Von einer Vereinfachung muss man in diesem Zusammenhang deswegen sprechen, weil die beiden Schritte durchaus im Zuge eines Aktes vollzogen werden können. Wenn ein Nomothet den anderen Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft gegenüber die Regel formuliert »Die Angehörigen derjenigen Art von Bäumen, die Äpfel tragen, sind von nun an allesamt als ›Apfelbaum‹ zu bezeichnen«, kann er durch diesen einen Akt zugleich die Silben *Ap*, *fel* und *baum* zu dem Ausdruck »Apfelbaum« zusammensetzen und diesen Ausdruck der Art der Apfelbäume als Name zuordnen. Aber auch in diesem Fall lassen sich die Bildung des Namens und seine Zuordnung als zwei Aspekte (wenn auch nicht als zwei aufeinanderfolgende Schritte) seiner Tätigkeit unterscheiden. 12 Das sieht ganz klar Reeve: »A successful name-giver must […] perform to tasks. First, he must construct names that express the natures of things; he must be a name-maker. Second, he must assign names to things correctly, that is to say, no name must be assigned to a thing unless it expresses its nature; he must be a rule-setter« (xlviii). 11
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seiner Sprachgemeinschaft nur in seinen eignungs- und bestimmungsgemäßen Gebrauch ein. Verfügt hingegen – aus welchen Gründen auch immer – der Nomothet, dass der Ausdruck »Apfelbaum« auf alle Angehörigen der Art der Birnbäume anzuwenden ist, begeht er einen ähnlichen Fehler wie ein Zimmermann, der seinen Kunden mitteilt, dass sie ein von ihm produziertes Weberschiffchen, das sich eigentlich für die Bearbeitung von Wolle eignet, zur Bearbeitung von Leinen verwenden sollen. Eine irreführende Gebrauchsanweisung dieser Art würde aber nichts daran ändern, dass es dem Nomotheten in seinem ersten Arbeitsschritt gelungen ist, eine spezifische Idee des Namens in die Silben *Ap*, *fel* und *baum* zu legen und so einen natürlicherweise richtigen Namen für die Art der Apfelbäume zu produzieren; sie würde nur dafür sorgen, dass alle Mitglieder seiner Sprachgemeinschaft diesen Namen nicht zur Bewältigung derjenigen Aufgabe einsetzen würden, für die er geeignet ist.13 Einem guten Nomotheten wird nun zwar die Fehlzuordnung eines natürlicherweise richtigen Namens kaum unterlaufen. Entscheidend ist aber, dass man dann, wenn man die natürliche Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung oder ihren mimetischen Gehalt zurückführt, gezwungen ist, zumindest die Möglichkeit solcher Fehlzuordnungen anzuerkennen, weil man unter dieser Voraussetzung zwischen der Bildung eines natürlicherweise richtigen Namens durch die Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens in Silben und Buchstaben und der Zuordnung dieses Namens zu einer bestimmten Gegenstandsart durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention unterscheiden muss.14 Erkennt man in Sokrates’ Beschreibung der Herstellung eines natürlicherweise richtigen Namens einen Vorgriff auf die von ihm später entfaltete Theorie der natürlichen Richtigkeit, muss man also nicht nur mit einer einigermaßen artifiziellen Interpretation der Bemerkung über die Freiheit des Nomotheten bei der Es ist freilich nicht ausgeschlossen, die These, die natürliche Richtigkeit eines Namens sei von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängig, in einer abgeschwächten Variante zu vertreten und anzunehmen, dass ein Nomothet genau dann einen natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen schafft, wenn er dieser Art einen Ausdruck, der seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt nach zu ihrer ousia passt, als Namen zuordnet. In diesem Fall wäre die Etablierung eines nomos Teil der Produktion eines natürlicherweise richtigen Namens, und es wäre weniger problematisch, dass die Bildung eines Namens als Aufgabe eines Nomotheten ausgewiesen wird. Die zentrale Schwierigkeit für einen Verteidiger der These, dass die Passage 389d4–390a10 als skizzenhafte Vorwegnahme der später entfalteten Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen gelesen werden muss, bliebe aber dennoch bestehen; vgl. dazu die weiteren Überlegungen des vorliegenden Abschnitts. 14 Es sei denn, man leugnet wie Kratylos in 429b–c, dass eine verfehlte Zuordnung überhaupt eine Zuordnung ist. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des elften Kapitels. 13
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Wahl seines Silben- und Buchstabenmaterials vorliebnehmen: Man muss auch die Konsequenz akzeptieren, dass es gerade nicht die Expertise eines Nomotheten ist, die zur Wiedergabe von spezifischen Ideen des Namens und damit zur Produktion natürlicherweise richtiger Namen befähigt, weil diese Expertise erst bei der Zuordnung bereits produzierter Namen eine Rolle spielt. Diese Schwierigkeiten machen es freilich nur weniger plausibel, aber keineswegs unmöglich, die Passage 389d4–390a10 als skizzenhafte Vorwegnahme des erst im weiteren Dialogverlauf explizit formulierten Gedankens zu lesen, die natürliche Richtigkeit eines Namens sei von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängig; ein unerschrockener Anhänger dieser Lesart wird sie in Kauf nehmen und darauf beharren, dass es sich um Detailprobleme handelt, die einen Interpreten nicht daran hindern sollten, im Interesse einer geschlossenen Deutung des Kratylos die Beschreibung der Produktion natürlicherweise richtiger Namen als Blaupause für den weiteren Untersuchungsgang zu betrachten. Bei einer solchen Betrachtungsweise sieht man sich allerdings, wie eine kurze Überlegung zeigt, mit einem dritten, weitaus gravierenderen Problem konfrontiert, das sich keineswegs so nonchalant abtun lässt. Dieses Problem wird dann ersichtlich, wenn man sich das Profil des in den letzten Kapiteln rekonstruierten Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen vergegenwärtigt: Der Analyse dieser Kapitel zufolge zeichnet sich ja ein natürlicherweise richtiger Name im Sinne des Spezifischen Funktionalitätsprinzips dadurch aus, dass sich mit ihm die Handlung des Nennens in einer ihrer spezifischen Versionen vollziehen lässt – dass sich also mit ihm durch die Unterscheidung einer bestimmten Idee beziehungsweise der Art der an ihr teilhabenden Gegenstände zur Belehrung beitragen lässt. Einen solchen Namen produziert der Nomothet genau dann, wenn er die entsprechende spezifische Idee des Namens in die Buchstaben und Silben legt, während er dann, wenn er dieses Ziel nicht erreicht, eine sprachliche Einheit schafft, mit der sich die avisierte Version des Nennens überhaupt nicht vollziehen lässt.15 Erkennt man in Sokrates’ Beschreibung der Tätigkeit des Nomotheten in 389d4–390a10 einen Vorgriff auf die in der Folge entfaltete Theorie der natürlichen Richtigkeit, muss man sie demnach als skizzenhaften Ausdruck des Gedankens lesen, dass es einzig und allein von der etymologischen Bedeutung oder dem mimetischen Gehalt eines Ausdrucks abhängig ist, ob sich mit ihm eine bestimmte Idee beziehungsweise die Art der an ihr teilhabenden Gegenstände für einen Hörer herausgreifen lässt. Völlig unabhängig wäre die Eignung Er könnte in einem solchen Fall freilich aus Versehen eine sprachliche Einheit schaffen, mit der sich eine andere Version des Nennens vollziehen lässt, und damit einen natürlicherweise richtigen Namen für eine andere Art von Gegenständen. Im gegenwärtigen Zusammenhang kommt es indessen nur darauf an, dass die angezielte Version des Nennens sich mit dem Produkt des Nomotheten jedenfalls nicht vollziehen ließe. 15
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
des Ausdrucks für diese Aufgabe hingegen von der Konvention, die der Nomothet – wie soeben beschrieben – im zweiten Schritt seiner Tätigkeit für seine Verwendung zu etablieren hat, um ihn auf diesem Wege seiner Sprachgemeinschaft als Werkzeug zur Verfügung zu stellen. Konkreter formuliert: Wenn die natürliche Richtigkeit der Namen tatsächlich auf ihre etymologische Bedeutung oder ihren mimetischen Gehalt zurückzuführen ist, ist es unmöglich, mit dem Ausdruck »Apfelbaum« die Art der Birnbäume beziehungsweise die entsprechende Idee herauszugreifen – und zwar auch dann, wenn ein inkompetenter Nomothet die Regel einführt, diesen Ausdruck als Namen für die Art der Birnbäume einzusetzen, und alle Mitglieder seiner Sprachgemeinschaft sich an diese Regel halten.16 Mit dem Ausdruck »Apfelbaum« lässt sich keine andere Art als diejenige der Apfelbäume herausgreifen, ganz unabhängig davon, ob der Nomothet eine entsprechende Konvention einführt oder nicht – ebenso, wie sich mit einem nur für die Bearbeitung von Wolle geeigneten Weberschiffchen eben kein anderes Material als Wolle bearbeiten lässt,17 ganz unabhängig davon, welche Gebrauchsanweisung der Produzent des Weberschiffchens formulieren mag. So verstanden wäre die Passage 389d4–390a10 die Antizipation einer höchst radikalen und kontraintuitiven sprachphilosophischen Position, die man als Hypernaturalismus charakterisieren könnte. Zu dieser Position wird sich Kratylos in 429b–c bekennen, indem er erklärt, dass allein die etymologische Bedeutung oder der mimetische Gehalt eines Ausdrucks darüber entscheidet, welche Art von Gegenständen18 durch seine Verwendung herausgegriffen werden kann. Interpreten, die 389d4–390a10 als Antizipation der von Sokrates entwickelten Theorie der natürlichen Richtigkeit verstehen, sind freilich in aller Regel dieser Konsequenz ihrer Interpretation nicht gewahr. Sie erkennen nämlich nicht, dass die Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen, die Sokrates in der Werkzeug-Analogie skizziert, auf dem (Spezifischen) Funktionalitätsprinzip beruht, und nehmen dementsprechend an, dass es einen natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen auszeichnet, besonders gut zur Belehrung über diese Gegenstandsart und ihre ousia geeignet zu sein. Der Ausdruck »Apfelbaum« wäre demnach deswegen ein natürlicherweise richtiger Name für die Art der Apfelbäume, weil er eine Information darüber enkodiert, was die Angehörigen dieser Art als solche ausmacht, und so die dialek-
Das sieht ganz klar Ketchum (1979), 135. Vgl. 111 Anm. 62 zum Status der Annahme, dass mit einem natürlicherweise richtigen Werkzeug stets nur genau eine spezifische Version einer Handlung vollzogen werden kann. 18 In 429b–c wird freilich der Eigenname »Hermogenes« als Beispiel betrachtet; aber Kratylos scheint ihn nicht als einen Eigennamen zu behandeln, sondern als richtigen Namen für all diejenigen Menschen, deren Stammvater Hermes ist. 16 17
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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tische Suche nach einer Definition der ousia dieser Art überflüssig macht19 oder zumindest erleichtert.20 Der Ausdruck »Birnbaum« hingegen wäre kein natürlicherweise richtiger Name für die Art der Apfelbäume, weil er sich schlecht zur Belehrung über diese Art eignet; aber dennoch könnte ein Nomothet ihn durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem Namen für die Art der Apfelbäume machen und den Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft so ein – allerdings minderwertiges – Werkzeug zur Unterscheidung ihrer ousia für einen Hörer zur Verfügung stellen.21 Um ein etwas weniger banales Beispiel zu geben: So argumentiert Barney (2001), 102–104, für die These, dass ein guter Nomothet Sokrates’ Überlegungen zufolge im Idealfall den zu benennenden Arten Ausdrücke als Namen zuordnet, die Definitionen ihrer ousiai enkodieren, und auf diese Weise zumindest denjenigen, der sich auf etymologische Analysen versteht, der Aufgabe enthebt, selbst nach diesen Definitionen zu suchen. 20 In diesem Sinne nimmt David Sedley an, ein guter Nomothet ordne den Arten, die es zu benennen gilt, Namen zu, die eine Untersuchung der auf die ousia dieser Arten gerichteten ti esti-Fragen erleichtern, ohne sie aber überflüssig zu machen. Der Ausdruck eudaimonia ist seiner Meinung nach in diesem Sinne das gelungene Produkt eines kompetenten Nomotheten. Da Sedleys Begründung für diese These ebenso interessant wie verwickelt ist, sei sie hier im Zusammenhang zitiert: »It is not always appreciated that Plato, much like Aristotle after him, has a double concept of happiness – one political, one intellectual. The key to understanding both kinds is, in his view, to see that happiness consists in being governed by nous – intellect or intelligence. In book IV of the Laws, the political type of happiness is elucidated through the myth of the reign of Cronos. This deity represents nous, and when in power he provided mankind with good government through the intermediacy of daimons, thus producing in the human race complete eudaimonia: the etymology of this word as ›being well (eu) governed through daimons‹ is no more than implicit in the text of the Laws, but, it seems to me, beyond doubt. The meaning of the myth is that modern human beings, to achieve happiness, must imitate the reign of Cronos, both in their private and in their public lives. […] There is also an etymological route to understanding intellectual eudaimonia – Plato’s counterpart to the contemplative form of happiness extolled by Aristotle in Nicomachean Ethics X. According to Timaeus 90b–c, the immortal intellectual component of each human soul is assigned to it as a guardian spirit or daimon, so that true happiness consists in the good condition of that daimon or intellect, once again eu-daimonia« (Sedley (2003), 38 f.). An späterer Stelle kommt Sedley dann auf diese Überlegung zurück, um zu erklären, wieso der Name eudaimonia nach Sokrates’ Analyse im höchsten Maße natürlicherweise richtig ist: »The word seems perfectly constructed for the facilitation of dialectic, being such as to nudge the pupil in the right direction, yet without making redundant the interrogative process which lies at the heart of the dialectical method. Here at least, it seems, the original name-maker must have had privileged access to the truth, and encoded it with just the degree of obliqueness demanded by the task, forcing the rest of us to work out its true meaning through our own inquiries« (ebd., 63). 21 Sedley unterstellt freilich Platon die Annahme, ein Ausdruck, dessen etymologische Bedeutung oder dessen mimetischer Gehalt zu schlecht zu der ousia einer Art passt, könnte auch dann nicht zur Unterscheidung dieser Art eingesetzt werden, wenn eine entsprechende Konvention in Kraft ist: Sedley (2003), 145 und 148 f. Er unternimmt aber nicht den Versuch, zu erklären, aus welchen Gründen Platon eine so unplausible These vertreten haben sollte. Vgl. dazu Anm. 33 im elften Kapitel. 19
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Der Ausdruck »Wasser« könnte zwar, wenn eine passende Konvention in Kraft wäre, eingesetzt werden, um die Idee des Wassers22 herauszugreifen, wäre aber trotzdem kein natürlicherweise richtiger Name für diese Idee, weil er nicht einmal einen Hinweis darauf bereithält, wie sie zu definieren ist; anders verhielte es sich mit dem Ausdruck »Dihydrogenmonoxid«, der eine vollständige Definition des Elements Wasser enkodiert und seine wissenschaftliche Untersuchung unnötig macht. Sokrates’ Beschreibung der Herstellung von Namen in 389d4–390a10 wäre demnach als skizzenhafte Vorwegnahme des Gedankens zu verstehen, dass ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Art von Gegenständen dank seiner etymologischen Bedeutung oder seines mimetischen Gehalts die dialektische Untersuchung der ousia dieser Art einfacher oder gar überflüssig machen muss;23 nicht intendiert wäre hingegen ein Vorgriff auf die hypernaturalistische These, es sei einzig und allein von der etymologischen Bedeutung oder dem mimetischen Gehalt eines Ausdrucks abhängig, ob sich eine bestimmte Art von Gegenständen mit ihm herausgreifen lässt oder nicht. Nachdem sich im zweiten Kapitel dieser Studie das (Spezifische) Funktionalitätsprinzip als Basis des Gedankengangs der Werkzeug-Analogie erwiesen hat, muss eine solche Deutung der Passage 389d4–390a10 als unhaltbar gelten. Wenn hier etwas vorweggenommen wird, kann es nur eine Antwort auf die Frage sein, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Art im Sinne des (Spezifischen) Funktionalitätsprinzips macht – was also dafür sorgt, dass sich mit ihm diese Art für einen Hörer herausgreifen lässt. Diese Frage kann man aber nicht beantworten, indem man darauf hinweist, dass manche Ausdrücke dank ihrer etymologischen Bedeutung oder ihres mimetischen Gehalts Informationen über die ousia einer zu benennenden Art vermitteln können und insofern besser zur Belehrung geeignet sind.24 Des Beispiels halber sei hier vorausgesetzt, dass es eine solche Idee tatsächlich gibt. Abgesehen von Barney (2001) und Sedley (2003) wird eine solche Interpretation beispielsweise auch von Crombie (1963), 478, Weingartner (1970), 20 f., Anagnostopoulos (1973/4), 331 f., und Baxter (1992), 39–41 und passim, vertreten. 24 Im Übrigen ist die Vorstellung, ein Name könne als Speicher für Informationen über die benannte Art fungieren, einigermaßen naiv. Das wird ausgerechnet an dem Fall des Namens »Dihydrogenmonoxid« deutlich, der doch auf den ersten Blick zu belegen scheint, dass ein gut gewählter Name seinen Nutzern die Mühen echter Erkenntnisarbeit ersparen kann: Denn tatsächlich wurde dieser Name eingeführt, um zu demonstrieren, wie leicht sich Laien durch wissenschaftlich korrekt gebildete Namen verunsichern lassen – was, wie man angesichts diverser Kampagnen für das Verbot von Dihydrogenmonoxid konstatieren darf, gelungen ist. Wie dieses Beispiel zeigt, ist aufseiten eines Sprechers ein gewisser Wissensstand erforderlich, wenn ihm die Information zugänglich sein soll, die in einem Namen wie »Dihydrogenmonoxid« gespeichert ist. Nun könnte man zunächst annehmen, dass man nur einige altgriechische Ausdrücke kennen muss, um dem Namen »Dihydrogenmonoxid« entnehmen zu können, dass der durch ihn bezeichnete Stoff eine Komposition aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom ist. 22 23
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Die Passage 389d4–390a10 als Vorgriff auf die im weiteren Verlauf des Kratylos entwickelte Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zu lesen, heißt also, sie als skizzenhaften Ausdruck der These zu lesen, dass es einzig und allein von der etymologischen Bedeutung oder dem mimetischen Gehalt eines Ausdrucks abhängig ist, ob sich mit ihm eine bestimmte Art von Gegenständen beziehungsweise die entsprechende Idee für einen Hörer herausgreifen lässt. Vertreter einer solchen Lesart müssen daher annehmen, dass Hermogenes sich letztlich schon auf diese These verpflichtet, wenn er Sokrates’ Behauptung akzeptiert, ein Nomothet müsse stets die passende spezifische Idee des Namens in Silben und Buchstaben legen, um einen Namen zu schaffen, mit dem sich eine bestimmte Version des Nennens vollziehen lässt. Wie problematisch eine solche Annahme ist, dürfte klar sein: Denn das Argument, das Sokrates bis zu diesem Punkt in der Werkzeug-Analogie entfaltet hat, gibt Hermogenes zwar deswegen einen guten Grund, die Existenz eines Standards der natürlichen Richtigkeit für Namen anzuerkennen, weil es zeigt, dass ein Ausdruck nur dann als genuiner Name für bestimmte Gegenstände gelten kann, wenn sich mit ihm durch die Unterscheidung der stabilen ousia der Art dieser Gegenstände zur Belehrung eines Hörers beitragen lässt. Aber es ist weit davon entfernt, Hermogenes einen Grund dafür zu liefern, die radikale und kontraintuitive These zu akzeptieren, die Eignung eines Ausdrucks für diese Aufgabe sei einzig und allein von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängig. Warum sollte Hermogenes zugestehen, dass es für einen Nomotheten deswegen unmöglich ist, »Birnbaum« durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention als einen Namen für die Art der Apfelbäume einzuführen, weil die etymologische Bedeutung von »Birnbaum« nicht zur ousia der Art der Apfelbäume passt? Auch angesichts der Argumentation der Werkzeug-Analogie wäre Hermogenes zweifellos im Recht, wenn er darauf beharrte, dass sich in dieser kontrafaktischen Situation mit dem Ausdruck »Birnbaum« die Art der Apfelbäume herausgreifen ließe – und es sich demnach bei »Birnbaum« um einen natürlicherweise richtigen Namen für diese Art handelte. Allgemeiner gesprochen ist nicht ersichtlich, was ihn daran hindern sollte, angesichts dieser Argumentation den Schwachen Konventionalismus Aber man wird einem Sprecher, der zwar den Satz »Dihydrogenmonoxid setzt sich aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom zusammen« äußern, aber nicht erklären kann, was Atome sind, um was für Substanzen es sich bei Wasserstoff und Sauerstoff handelt und wie Moleküle aus Atomen aufgebaut sind, kaum echtes Wissen um die Definition von Dihydrogenmonoxid beziehungsweise von Wasser zusprechen wollen. Wie dieser Stoff zu definieren ist, kann offenbar nur derjenige wirklich wissen, der die moderne anorganische Chemie zumindest in ihren Grundlinien bereits verstanden hat. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich also am Fall des Namens »Dihydrogenmonoxid«, wie naiv die Annahme ist, dass die Verfügbarkeit guter Namen Erkenntnisbemühungen obsolet macht oder entscheidend erleichtert.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
zu vertreten: die These also, dass dann, wenn eine Lautfolge durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem (richtigen) Namen für bestimmte Gegenstände gemacht werden kann, auch jede beliebige andere Lautfolge durch die Etablierung einer alternativen Konvention zu einem (richtigen) Namen für diese Gegenstände gemacht werden kann. Denn Sokrates’ Überlegungen in der Werkzeug-Analogie zeigen nur, dass ein genuiner Name für bestimmte Gegenstände ein sprachliches Werkzeug sein muss, mit dem sich die Art, zu der diese Gegenstände gehören, herausgreifen lässt, und insofern einen natürlichen Standard zu erfüllen hat; sie zeigen aber keinesfalls, wieso sich nur bestimmte Lautfolgen zu einem solchen sprachlichen Werkzeug machen lassen sollten. Platon zu unterstellen, er bemerke nicht, dass ein Konventionalist wie Hermogenes in der Auseinandersetzung mit Sokrates durchaus an seinen konventionalistischen Intuitionen festhalten und die These verteidigen könnte, dass sich jede beliebige Lautfolge zu einem natürlicherweise richtigen Namen für eine zu benennende Art von Gegenständen im Sinne der Werkzeug-Analogie machen lässt, wäre nun offenkundig ein eklatanter Verstoß gegen das principle of charity: Denn diese Beobachtung, die auch in der einschlägigen Sekundärliteratur immer wieder gemacht wird, 25 setzt wirklich keine großen philosophischen Gaben voraus. Platon muss demnach einerseits wissen, dass ein geistesgegenwärtiger Konventionalist die Forderung akzeptieren kann, ein kompetenter Nomothet habe durch die Wiedergabe der entsprechenden spezifischen Ideen des Namens natürlicherweise richtige Namen zu schaffen, ohne deswegen einen Zusammenhang zwischen der natürlichen Richtigkeit dieser Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt zugestehen zu müssen. Andererseits verzichtet er aber darauf, diese Denkmöglichkeit zum ausdrücklichen Gegenstand des Gesprächs zwischen Sokrates und Hermogenes zu machen, und inszeniert stattdessen im Anschluss an die Werkzeug-Analogie die Entfaltung einer Theorie der natürlichen Richtigkeit, die mit dem Schwachen Konventionalismus unverträglich ist. Was steckt hinter dieser merkwürdigen Inszenierungsstrategie? Einer Antwort auf diese Frage nähert man sich am besten an, indem man sich in die Perspektive des Hermogenes versetzt und sich vor Augen führt, welche Optionen sich demjenigen darbieten, der den Überlegungen der WerkzeugAnalogie aus dieser Perspektive zu folgen versucht. Dabei gilt es zunächst, sich ein zentrales Ergebnis des ersten Kapitels dieser Studie ins Gedächtnis zu rufen: Demnach will Hermogenes zu Beginn seines Dialogs mit Sokrates zwar aller Wahrscheinlichkeit nach in Opposition zu Kratylos’ enigmatischer Behauptung 25 Siehe z. B. Anagnostopoulos (1972), 710 f., Palmer (1989), 35 f., Ackrill (1994), 20 f., Keller (2000), 292 f., Ademollo (2011), 135.
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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einer natürlichen Richtigkeit der Namen den Schwachen Konventionalismus zum Ausdruck bringen, vertritt aber de facto den Starken Konventionalismus, weil er die Unterscheidung zwischen Lautfolgen und Namen nicht trifft, die Voraussetzung für eine klare Formulierung des Schwachen Konventionalismus wäre. Sollte Hermogenes seinen Grundgedanken im Beschreibungsrahmen der Werkzeug-Analogie formulieren, würde er also nicht sagen, dass ein Nomothet eine beliebige Lautfolge – wie beispielsweise *Apfelbaum* – zu einem sprachlichen Werkzeug machen kann, mit dem sich die Art der Apfelbäume, die Art der Birnbäume oder irgendeine andere Art herausgreifen lässt. Vielmehr würde er sagen, dass ein Nomothet durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention einen beliebigen Namen – wie beispielsweise »Apfelbaum« – zu einem sprachlichen Werkzeug für die Unterscheidung einer beliebigen Art machen kann. Eine solche Behauptung wäre nun aber ganz offenkundig mit den Überlegungen der Werkzeug-Analogie unverträglich: Denn wenn jedem Namen durch eine Entscheidung oder Vorgabe des Nomotheten die Eignung für den Vollzug einer jeden Version des Nennens verliehen werden könnte, ergäbe es wenig Sinn, von einem Standard der natürlichen Richtigkeit zu sprechen, den ein Name erfüllen muss, wenn er als Werkzeug für eine dieser Versionen des Nennens einsetzbar sein soll.26 Überhaupt wäre in diesem Fall der Vergleich des Nomotheten mit einem Handwerker wie dem Zimmermann ganz und gar unpassend – hängt es doch sicherlich nicht von der Entscheidung eines Zimmermanns ab, ob das von ihm produzierte Weberschiffchen zum Bearbeiten von Wolle, Leinen oder irgendeinem anderen Material geeignet ist. Für Hermogenes muss es sich so ausnehmen, als impliziere der Gedanke, den er zum Ausdruck bringen will, dass die Einführung eines Namens für eine bestimmte Art von Gegenständen eine epistemisch anspruchslose Aufgabe ist, die nicht von einem speziellen Fachmann erledigt werden muss.27
26 Ackrill, der wie Hermogenes Namen nicht von Lautfolgen unterscheidet, muss aus diesem Grund davon ausgehen, dass Sokrates’ Überlegungen in der Werkzeug-Analogie letztlich nicht zeigen, dass konkrete Namen wie »Hund«, »dog« oder »kuôn« einen spezifischen Standard natürlicher Richtigkeit erfüllen: Ackrill (1994), 21. Kretzmann zwingt letztlich derselbe Fehler zu einer unhaltbaren Unterscheidung zwischen der »general theory of the correctness of names« und der »special theory of the correctness of names«: Siehe Meißner (in Vorbereitung-1). 27 Aus diesem Grund gelangt auch Smith (2014), 88 f., zu der Schlussfolgerung, dass die Herausforderung eines Nomotheten bei der Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens darin liegen muss, einer Art von Gegenständen einen Namen zuzuordnen, der seiner etymologischen Bedeutung nach zu ihnen passt. Ihre Argumente für diese Schlussfolgerung werden dementsprechend nur denjenigen überzeugen, der Namen als Lautfolgen konzipiert. Dass es bei einer solchen Konzeption des Namens nicht möglich ist, Sokrates’ Beschreibung der Tätigkeit des
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Wenn Platon Sokrates und Hermogenes nicht die Möglichkeit ausloten lässt, die Ergebnisse der Werkzeug-Analogie mit der konventionalistischen Intuition in Einklang zu bringen, dass jede Lautfolge zu einem Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen gemacht werden kann, so hat dies also einen guten Grund: Aus Hermogenes’ Perspektive ist diese Option eben gar nicht als solche erkennbar.28 Dass Platon mit Hermogenes eine Figur zum Gesprächspartner des Sokrates macht, die eine solche Perspektive einnimmt, ist dabei, wie bereits das erste Kapitel gezeigt hat, eine philosophisch wohlmotivierte inszenatorische Entscheidung. Denn die allermeisten Leser des Kratylos dürften sich zu Beginn ihrer Lektüre auf demselben Reflexionsstand befinden wie Hermogenes – sie dürften also nicht nur seine konventionalistischen Intuitionen teilen, sondern ebenfalls einer unkritischen Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen anhängen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Damit nehmen sie eine zwar letztlich naive, aber eben auch durchaus nachvollziehbare Position ein. Schließlich scheint es in Anbetracht der Tatsache, dass es beispielsweise zwischen dem Namen »Mensch« und der Lautfolge *Mensch* nicht den geringsten sinnlich wahrnehmbaren Unterschied gibt, zunächst einmal keinen Grund zu geben, nicht von ihrer Identität auszugehen. Hermogenes’ Perspektive ist demnach keineswegs diejenige eines minderbegabten philosophischen Eigenbrötlers: Sie ist diejenige eines Vertreters des common sense, der buchstäblich nur das glaubt, was er mit den eigenen Augen sehen und mit den eigenen Ohren hören kann. Platon stimmt also seine Inszenierung des Kratylos auf Leser ab, die einem empiristisch voreingenommenen common sense verpflichtet sind, indem er mit Hermogenes eine Identifikationsfigur für sie schafft. Was solche Leser von Hermogenes unterscheidet, ist allerdings, dass sie nicht gezwungen sind, sofort auf Sokrates’ Argumente zu reagieren, sondern über genügend Zeit für eine eingehende Auseinandersetzung mit ihnen verfügen. Zugleich sind sie aber auch in einer viel besseren Ausgangsposition für eine kritische Reflexion auf ihre eigenen Vorannahmen. Und genau darauf, eine solche Reflexion zu provozieren, legt es Platon bereits mit seiner Gestaltung der Hinführung zur Werkzeug-Analogie an: Denn angesichts des von Sokrates in 385b2–d1 entwickelten Arguments, dem Nomotheten mit konventionalistischen Intuitionen in Einklang zu bringen, hält Smith aber zurecht fest. 28 Heitsch (1984), 35, trifft daher einen wichtigen Punkt, wenn er im Hinblick auf die Frage, wieso die natürliche Richtigkeit der Namen im Anschluss an die Werkzeug-Analogie auf ihre etymologische Bedeutung zurückgeführt wird, bemerkt: »Das Proton Pseudos ist dabei die Annahme, dass die Richtigkeit einer Bezeichnung letzten Endes durch ihren Lautbestand garantiert wird.« Heitsch sieht aber nicht, dass hinter dieser Annahme die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen steht; und er kann daher diese Annahme auch nicht als Konsequenz eines vom common sense geprägten Blicks auf Namen würdigen. Zudem erläutert Heitsch nicht, wie man Namen zu konzipieren hat, wenn man sie nicht mit Lautfolgen identifizieren kann.
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zufolge es sich bei Namen um sprachliche Einheiten handelt, die ›wahr von‹ oder ›falsch von‹ Gegenständen sind, liegt es sehr nahe, die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen in Frage zu stellen – insbesondere auch deswegen, weil andernfalls die Verstrickung in jene Aporie droht, die Hermogenes fast in die Arme des Protagoreischen Relativismus getrieben hätte. Von diesem Argument führt, wie das dritte Kapitel gezeigt hat, ein direkter Weg zu der normativen Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias und damit letztlich zu der in 389d4–390a10 aufgestellten Forderung, ein kompetenter Nomothet müsse Namen durch die Wiedergabe von spezifischen Ideen des Namens in Silben und Buchstaben schaffen. Geht Platons Inszenierungsstrategie auf, hat sich also die Perspektive eines aufmerksamen Lesers schon verschoben, wenn er sich mit dieser Forderung auseinanderzusetzen beginnt: Er wird seiner eigenen Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nämlich viel misstrauischer gegenüberstehen als zu Beginn seiner Lektüre des Kratylos; er wird dementsprechend im Idealfall auch schon zu einer umsichtigeren Formulierung seiner konventionalistischen Intuitionen im Sinne des Schwachen Konventionalismus gelangt sein; und er wird sich – angeregt nicht zuletzt, wie bereits im dritten Kapitel bemerkt wurde, durch die Identifikation des Namensschöpfers mit dem Nomotheten – fragen, ob Sokrates’ Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs nicht vielleicht mit dem Schwachen Konventionalismus kompatibel ist. Wenn man davon ausgeht, dass Platon die Beschreibung der Tätigkeit des Nomotheten in 389d4–390a10 auf einen der Betrachtungsweise des common sense bereits entfremdeten, seinen ursprünglichen Intuitionen aber durchaus noch verpflichteten Leser abstimmt – dann wird, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, ersichtlich, dass diese Beschreibung letztlich eine ganz andere Funktion erfüllt als diejenige einer Blaupause für den Hypernaturalismus: Sie soll einen Leser nämlich dazu anleiten, selbstständig eine radikal neue Perspektive auf Namen in ihrem Verhältnis zu Lautfolgen einzunehmen und im Zuge dieses Perspektivwechsels eine plausible Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zu entwickeln, die mit dem Schwachen Konventionalismus kompatibel ist – nämlich den Moderaten Naturalismus.29 Platons Leserführung beruht dabei auf der Strategie, für ein produktives Spannungsverhältnis zwischen der Grundannahme des Lesers, ein Nomothet könne aus jeder beliebigen Lautfolge durch die Etablierung einer Konvention einen richtigen Namen für eine bestimmte Art machen, und dem Vergleich der Einführung eines Namens mit der Produktion Der M ODERATE N ATURALISMUS ist übrigens, weil er mit dem SCHWACHEN KONVENTIONALISMUS kompatibel ist, auch gut mit dem zu vereinbaren, was der Autor des Siebten Briefes in 343a/b über die Beliebigkeit der Lautgestalt von Namen sagt. 29
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
eines Werkzeugs zu sorgen. Um nämlich angesichts dieses Vergleichs an seiner Grundannahme festhalten zu können, muss ein Leser das Dreiecksverhältnis zwischen Name, Lautfolge und Konvention ganz anders denken, als es auf den ersten, ganz von den vermeintlichen Gewissheiten der sinnlichen Wahrnehmung bestimmten Blick naheliegend erscheinen mag. Diese von der übermäßigen Beeinflussung durch sinnliche Evidenzen emanzipierte Betrachtungsweise ist es, die ihm die Konstruktion des Moderaten Naturalismus ermöglicht. Die Hinleitung des Lesers zu dieser Position ist daher insgesamt ein Musterfall Platonischer Erziehung, wie sie im siebten Buch der Politeia beschrieben wird (518b–519b): eine periagôgê, eine Umlenkung, bei der die Seele den Zeugnissen der Sinne zu misstrauen lernt und sich stattdessen dem zuwendet, was wirklich ist.
Der Weg zum MODERATEN NATURALISMUS (I): Die Metaphysik des Namens30
Der Vergleich der Einführung eines Namens für eine bestimmte Art von Gegenständen durch einen Nomotheten und der Formung eines Werkzeugs aus einem bestimmten Material besticht auf den ersten Blick durch seine Anschaulichkeit. Die Produktion eines Bohrers durch einen Schmied ist ein ganz alltäglicher Vorgang, den ein Leser sich problemlos vorstellen kann. Die Wiedergabe einer spezifischen Idee des Bohrers, die nach Sokrates’ Analyse bei diesem Vorgang stattfindet, scheint sich direkt beobachten zu lassen: Der Schmied muss ja offenbar den Eisenklumpen, den er bearbeitet, in eine bestimmte Form bringen oder ihm eine bestimmte Gestalt verleihen, wenn sein Produkt an einer spezifischen Idee des Bohrers teilhaben und somit für den Vollzug einer bestimmten Version des Bohrens geeignet sein soll. Man kann sehen, wie der Schmied seinem Produkt diese Eignung verleiht; und ebenso scheint man den Unterschied zwischen dem Eisenklumpen, an dem er mit seiner Tätigkeit ansetzt, und dem Werkzeug, das er aus ihm formt, sehen zu können. Diese Anschaulichkeit muss eine bestimmte Erwartung bei Platons Lesern wecken: Die Erwartung nämlich, dass sich am Beispiel der Formung eines Bohrers aus einem Eisenklumpen problemlos nachvollziehen lässt, was bei der Einführung eines natürlicherweise richtigen Namens durch einen Nomotheten vor sich geht. Für einen Leser, der im Sinne des Schwachen Konventionalismus annimmt, dass durch die Etablierung einer Konvention aus jeder beliebigen Lautfolge ein zur Unterscheidung einer Art geeigneter und daher natürlicherweise richtiger Name gemacht werden kann, erfüllen Sokrates’ Ausführungen in 30 Die Überlegungen dieses Abschnitts wurden durch die Anregungen James Conants und Fiona Leighs entscheidend vorangebracht. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
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389d4–390a10 diese Erwartung auf den ersten Blick aber keineswegs. Denn was vor sich geht, wenn ein Nomothet durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention beispielsweise aus der Lautfolge *Apfelbaum* einen Namen für die Art der Apfelbäume macht, scheint sich am vorgeblich analogen Fall der Bohrerproduktion ganz und gar nicht studieren zu lassen. Diese beiden Tätigkeiten sind prima facie gerade im entscheidenden Punkt nicht vergleichbar: Während im Zentrum der Tätigkeit des Schmiedes die gut erkennbare Umformung eines Materials steht, die zur Produktion eines Gegenstandes führt, der zuvor noch nicht existierte, findet bei der Etablierung einer Konvention keine Modifikation statt, die der Schaffung einer zuvor nicht existenten Entität dient. Ein Nomothet verändert ja nicht die Lautfolge *Apfelbaum*, wenn er sie zu einem Namen für die Art der Apfelbäume macht – es ist in jeder Hinsicht dieselbe Lautfolge, deren Artikulation nach der Etablierung der betreffenden Konvention der Unterscheidung der Apfelbäume dient, während sie zuvor als sinnloser Akt gelten musste.31 Was der Nomothet tut, wenn er eine Benennungskonvention etabliert, scheint sich daher auch nicht als ›Schöpfung‹ oder als ›Produktion‹ beschreiben zu lassen: Er sorgt schließlich nicht dafür, dass eine neue Entität entsteht, sondern weist vielmehr einer bereits gegebenen Entität – nämlich der Lautfolge *Apfelbaum* – eine bestimmte Funktion oder Rolle zu, die ihr zuvor nicht zukam. Einleuchtend wäre es daher auf den ersten Blick, die Etablierung der Konvention, durch die er *Apfelbaum* zu einem Namen für Apfelbäume macht, mit der Entscheidung zu vergleichen, einen Gegenstand wie beispielsweise einen Salzstreuer von nun als Königsfigur in einem Schachspiel fungieren zu lassen. Der Vergleich mit der Formung eines Werkzeugs aus einem Material scheint aus der Perspektive eines Vertreters des Schwachen Konventionalismus hingegen in seiner Anschaulichkeit ein verzerrtes Bild der ontologischen Tiefenstruktur der Einführung eines Namens zu vermitteln. Zwischen der Grundannahme der allermeisten Leser des Kratylos, der zufolge eine beliebige Lautfolge durch die Etablierung einer Konvention zu einem Namen für eine bestimmte Art gemacht werden kann, und der Analogie zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Bohrers scheint also eine Man könnte einwenden, dass der Nomothet durch die Einführung einer solchen Konvention die drei Silben *Ap*, *fel* und *baum* erst zu einer Einheit zusammensetzt, und dass diese Zusammensetzung als Analogon der Umformung des Eisenklumpens betrachtet werden kann. Man erkennt freilich bei näherer Betrachtung schnell, dass dieser Einwand nicht verfängt: Denn von einer Analogie zwischen der Umformung des Eisenklumpens und dem Zusammensetzen der Silben kann deswegen nicht die Rede sein, weil die Art und Weise der Umformung des Eisenklumpens darüber entscheidet, ob das produzierte Artefakt für eine bestimmte Version des Bohrens geeignet ist oder nicht, während die Art und Weise des Zusammensetzens der Silben dann, wenn man die Gültigkeit des SCHWACHEN KONVENTIONALISMUS voraussetzt, nichts damit zu tun hat, ob der eingeführte Name für eine bestimmte Version des Nennens geeignet ist oder nicht. 31
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manifeste Spannung zu bestehen. Entscheidend ist nun, wie ein Leser mit diesem Befund umgeht. Er hat selbstverständlich die Möglichkeit, seine Grundannahme zu suspendieren oder die Analogie abzulehnen. Es dürften aber kaum diese Reaktionen sein, die Platon mit seiner Gestaltung der Passage 389d4–390a10 provozieren will. Denn für die Suspension der Grundannahme gibt es nach wie vor keinen guten sachlichen Grund, während die Ablehnung der Analogie dem Abbruch der konstruktiven Auseinandersetzung mit Sokrates’ Überlegungen gleichkäme. Einem Leser steht aber auch noch ein anderer Weg offen: Er kann sich fragen, ob die Spannung, die für ihn zwischen seiner Grundannahme und der Analogie besteht, tatsächlich unauflöslich ist – oder ob nicht vielleicht sein Eindruck, der Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs sei nicht mit dem Schwachen Konventionalismus kompatibel, einer oberflächlichen Betrachtung dieses Vergleichs geschuldet ist. Wer diesen Weg beschreitet, wird sich zunächst zu fragen haben, ob er tatsächlich über ein adäquates Verständnis der ontologischen Tiefenstruktur der Produktion eines Werkzeugs verfügt, deren Betrachtung ihm auf den ersten Blick ja keinerlei Aufschluss über die ontologische Tiefenstruktur der Einführung eines Namens durch die Etablierung einer Benennungskonvention verschafft. Naheliegend scheint es zunächst zu sein, in der Umformung eines Eisenklumpens den Kern der Tätigkeit eines Schmiedes zu sehen, der einen Bohrer produziert – wie sonst sollte man schließlich beschreiben, was der Schmied tut? Nimmt man diese Perspektive auf seinen produktiven Akt ein, wird man annehmen, dass der Schmied einen Gegenstand mit einer bestimmten Gestalt – nämlich den Eisenklumpen – so bearbeitet, dass ein neuer Gegenstand mit einer anderen Gestalt – nämlich der Bohrer – entsteht. Zwischen Eisenklumpen und Bohrer scheint dabei kein prinzipieller Unterschied zu bestehen: Es handelt sich um zwei Gegenstände, die sich eben nur durch ihre Gestalt oder Form voneinander unterscheiden. Die Unzulänglichkeit dieser Betrachtungsweise wird dann deutlich, wenn man sich fragt, wieso Sokrates selbst nicht von der Umformung eines Eisenklumpens spricht, sondern von der Wiedergabe einer spezifischen Idee des Bohrers im Eisen. Es ist bereits klar, dass ein Schmied, dem die Wiedergabe einer solchen spezifischen Idee gelingt, einen Gegenstand formt, der sich durch seine Eignung für eine spezifische Version des Bohrens oder, wie man auch sagen könnte, durch ein bestimmtes operatives Potenzial auszeichnet. Dieses operative Potenzial verleiht nun aber dem Produkt des Schmiedes eine ontologische Statur, die sich radikal von derjenigen des Eisenklumpens unterscheidet: Denn während sich ein Eisenklumpen nach Belieben in kleinere Eisenklumpen zerteilen lässt, verhält es sich in aller Regel eben keineswegs so, dass die Teile eines Bohrers ihrerseits Bohrer sind. Ein Bohrer hat nur als Ganzer an der jeweiligen spezifischen Idee
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des Bohrers teil und ist daher eine ungleichteilige oder anhomoiomere Einheit; ein Eisenklumpen ist hingegen als Stoffaggregat eine gleichteilige oder homoiomere Einheit. Angesichts dieses Unterschiedes in ihrer ontologischen Statur ist es geradezu irreführend, den Eisenklumpen und den Bohrer gleichermaßen als Einheiten zu charakterisieren. Ohne jeden Zweifel ist nämlich der Einheitscharakter des Bohrers viel stärker ausgeprägt als derjenige des Eisenklumpens: Denn während es für die Betrachtung des Eisenklumpens als Einheit keinen anderen Grund als die Kontiguität seiner verschiedenen Partien gibt,32 ist das operative Potenzial, das einem Bohrer nur als Ganzem zukommt, prima facie ein sehr guter Grund, ihn als Einheit zu betrachten.33 Wenn man annimmt, dass bei der Produktion eines Bohrers letztlich nur ein in bestimmter Weise geformter eiserner Gegenstand so bearbeitet wird, dass ein in anderer Weise geformter Gegenstand entsteht, ignoriert man den unter metaphysischen Gesichtspunkten signifikanten Aspekt dieses Vorgangs: Der Schmied überwindet nämlich, indem er dem Eisenklumpen eine bestimmte Gestalt verleiht, den ontologischen Höhenunterschied zwischen einem Stoffaggregat mit schwach ausgeprägtem Einheitscharakter und einem Werkzeug mit stark ausgeprägtem Einheitscharakter. Dieser ontologische Höhenunterschied ist zwar an den sichtbaren Unterschied zwischen der Gestalt des Stoffaggregats und der Gestalt des Werkzeugs gekoppelt, lässt sich aber als solcher offenbar nicht sinnlich wahrnehmen. Verlässt man sich auf das Zeugnis seiner Sinne, wird man daher das Wesen der produktiven Tätigkeit des Schmiedes verkennen, der in ihrer Beschreibung als Wiedergabe einer Idee klar zum Ausdruck kommt. Ein Leser, der auf diesem Wege zu der Einsicht gelangt ist, dass die sichtbare Veränderung, die sich bei der Produktion eines Bohrers vollzieht, für sich genommen gerade keinen Aufschluss über die ontologische Tiefenstruktur eines solchen Akts verschafft, wird nun daran zweifeln, ob es tatsächlich etwas über die ontologische Tiefenstruktur der Tätigkeit des Nomotheten verrät, dass die Lautfolge, die der Nomothet durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem Namen für eine bestimmte Art macht, keine sinnlich wahrnehmbare Veränderung durchläuft. Möglicherweise – so eine angesichts des Vergleichs der Einführung eines Namens mit der Produktion eines Bohrers naheliegende Frage – überwindet ja der Nomothet einen ontologischen Höhenunterschied, der demjenigen entspricht, den der Schmied überwindet? Eine kurze Überlegung bestätigt diesen Verdacht. So hat nämlich einerseits eine Lautfolge wie *Posthroan* in den relevanten Hinsichten eine ganz ähnliche Vgl. zur Schwäche dieses Grundes van Inwagen (1990), 33–37. Siehe van Inwagen (1990), 124–141, für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Betrachtungsweise. 32
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
ontologische Statur wie ein Eisenklumpen: Denn offenbar sind auch die Teile einer Lautfolge wiederum Lautfolgen (oder, im Grenzfall, Laute). Unterbricht man einen Sprecher, der gerade dabei ist, die Lautfolge *Posthroan* zu artikulieren, an einer beliebigen Stelle, wird er stets schon eine kürzere Lautfolge (oder zumindest einen Laut) artikuliert haben. Auch wenn die Analogie zwischen Lautfolgen und Stoffaggregaten, die sich nach Belieben in andere Stoffaggregate zerteilen lassen, deswegen nicht ganz perfekt sein kann, weil die interne Struktur einer aus Einzellauten und Silben aufgebauten Lautfolge ausgeprägter ist als diejenige eines Stoffaggregats, wird man nicht fehlgehen, wenn man Lautfolgen im Hinblick auf ihr mereologisches Profil zumindest eine große Ähnlichkeit mit gleichteiligen Stoffaggregaten wie Eisenklumpen oder Holzblöcken attestiert. Der Einheitscharakter von Lautfolgen scheint dementsprechend ähnlich schwach ausgeprägt zu sein wie derjenige von Stoffaggregaten: Fragt man sich nämlich, aus welchem Grund man die von einem Sprecher geäußerte Lautfolge *Posthroan* dann, wenn sie bisher noch nicht durch die Etablierung einer Konvention zu einem Namen gemacht worden ist, als eine Einheit betrachten sollte, fällt auf, dass es einzig und allein die Kontinuität des Artikulationsaktes ist, die für eine solche Betrachtungsweise spricht. Das ist freilich kein besonders starker Grund – denn offenkundig ist die Artikulation einer solchen Lautfolge immer von kleinen und kleinsten Pausen durchsetzt. Wie lang dürfen nun aber diese Pausen sein, um nicht die Einheit der artikulierten Lautfolge *Posthroan* zu gefährden? Und ab wann kann man davon sprechen, dass die aufeinanderfolgende Äußerung der drei Silben *Pos*, *thro* und *an* keine einheitliche Artikulationsleistung mehr ist? Solche Fragen sind ohne Zweifel witzlos, weil es auf sie keine korrekten oder inkorrekten Antworten geben zu können scheint – was zeigt, dass die Rede von der Einheit der artikulierten Lautfolge *Posthroan* letztlich kein fundamentum in re hat. Wir können uns zwar entscheiden, eine entsprechende Äußerung als eine Einheit zu betrachten und zu charakterisieren – aber wir machen nichts falsch, wir zeichnen kein verzerrtes Bild der Situation, wenn wir sie stattdessen als Aneinanderreihung von kürzeren Äußerungen charakterisieren. Auch wenn es sicherlich gravierende ontologische Unterschiede zwischen Lautfolgentypen als abstrakten Entitäten und konkreten Stoffportionen wie Eisenklumpen und Holzblöcken gibt, ist ihre Analogisierung in Anbetracht ihres ähnlichen mereologischen Profils und ihres damit einhergehenden schwachen Einheitscharakters durchaus treffend. Andererseits ähnelt aber auch die ontologische Statur des Namens, zu dem ein Nomothet eine Lautfolge macht, der ontologischen Statur des Werkzeugs, das ein Handwerker aus einem Stoffaggregat macht: Denn ebenso, wie ein Werkzeug im Gegensatz zu einem Stoffaggregat ein ungleichteiliger Gegenstand ist, ist ein Name im Gegensatz zu einer Lautfolge eine ungleichteilige sprachliche Einheit. Weniger technisch ausgedrückt: Die
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Teile eines Namens können ihrerseits niemals Namen sein.34 Selbstverständlich kann die Lautgestalt eines Namens Teil der Lautgestalt eines anderen Namens sein: So verhält es sich etwa mit den Namen »Fuchs« und »Fuchsie« – wann immer die Lautfolge *Fuchsie* artikuliert wird, muss auch die Lautfolge *Fuchs* artikuliert werden. Entscheidend ist aber, dass dann, wenn durch die Artikulation der Lautfolge *Fuchsie* der Name »Fuchsie« verwendet wird, durch die unweigerlich mitvollzogene Artikulation der Lautfolge *Fuchs* keineswegs auch der Name »Fuchs« verwendet wird.35 Ein Name hat also keine Teile, die ihrerseits wieder als Teile der Sätze angesehen werden können, in denen er vorkommt – er ist, wie Sokrates bereits in 385c7–9 gemeinsam mit Hermogenes festhält, ein kleinster Teil von Sätzen. Folgerichtig ist auch der Einheitscharakter eines Namens viel stärker ausgeprägt als derjenige einer Lautfolge. Äußert ein Sprecher – aus welchen Gründen auch immer – die Lautfolge *Posthroan*, ohne dass ein Nomothet zuvor einen Namen aus ihr gemacht hätte, spricht ja, wie sich soeben gezeigt hat, nichts dagegen, seine Äußerung als Aneinanderreihung von zwei oder drei Artikulationsleistungen statt als einheitliche Artikulationsleistung zu charakterisieren; diese Beschreibung wäre der Situation nicht angemessener als jene. Hat ein Nomothet aus *Posthroan* einen Namen für die Art der Menschen gemacht, wird man hingegen kaum behaupten können, es mache keinen Unterschied, ob man diesen Namen in einem Satz wie »Sokrates ist ein Posthroan« als Einheit betrachtet oder nicht – betrachtet man ihn nicht als Einheit, kann man schließlich »Sokrates ist ein Posthroan« nicht als sinnvollen Satz betrachten. Ganz wie im Fall der Werkzeuge ist auch der starke Einheitscharakter eines Namens darauf zurückzuführen, dass er nur als Ganzer an einer spezifischen Idee des Namens teilhat und somit ein bestimmtes operatives Potenzial aufweist, das bei seinem Gebrauch im Kontext eines Satzes zum Vollzug einer spezifischen Version des Nennens genutzt wird.36 Indem er Sokrates die Einführung eines Dieses wichtige mereologische Charakteristikum der Namen macht Aristoteles sogar zu einem Teil seiner offiziellen Definition des onoma im zweiten Kapitel von De interpretatione: Ὄνομα μὲν οὖν φωνὴ σημαντικὴ κατὰ συνθήκην ἄνευ χρόνου ἧς μηδὲν μέρος ἐστὶ σημαντικὸν κεχωρισμένον (16a19–21, Kursivierung nicht im Original). 35 Ebenso verhält es sich dann, wenn die Lautgestalt eines Namens nicht – wie im Fall der Namen »Fuchs« und »Fuchsie« – zufällig Teil der Lautgestalt eines anderen Namens ist: So spiegelt sich der enge Zusammenhang zwischen den Namen »Blumentopf« und »Topf« darin wieder, dass *Topf* als Lautgestalt des Namens »Topf« Teil von *Blumentopf*, der Lautgestalt des Namens »Blumentopf«, ist; aber das bedeutet keineswegs, dass bei der Äußerung des Satzes »Dieser Fuchsie fehlt ein Blumentopf« Gebrauch von dem Namen »Topf« gemacht wird. 36 Diese Diagnose steht nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu dem Befund, ein Name sei deswegen als Einheit zu betrachten, weil er als ein (kleinster) Teil von Sätzen fungiert. Im Gegenteil lässt sich unter Rekurs auf das operative Potenzial des Namens erklären, was es bedeutet, einem 34
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Namens als Wiedergabe einer spezifischen Idee des Namens beschreiben lässt, sorgt Platon folglich dafür, dass sich die Aufmerksamkeit eines Lesers auf das operative Potenzial als denjenigen Faktor richtet, der Namen von Lautfolgen unterscheidet und ihnen eine ganz andere ontologische Statur verleiht.37 Tatsächlich ist ja, wie das zweite Kapitel dieser Studie gezeigt hat, der Rekurs auf die spezifische Idee eines Werkzeugs auch nur der Weg, auf dem Sokrates die Eignung dieses Werkzeugs für eine spezifische Aufgabe und somit sein operatives Potenzial als solches zum Thema macht. Wenn man beachtet, dass das Postulat der spezifischen Ideen des Namens diesen Zweck erfüllt, wird man in ihr keine Idiosynkrasie Platons erkennen können, sondern die Vorwegnahme eines sprachphilosophischen Ansatzes, den niemand Geringeres als Wittgenstein in seinem Tractatus logicophilosophicus mit kaum zu überhörenden Platonischen Obertönen formuliert: Und ebenso ist allgemein das Wesentliche am Symbol das, was alle Symbole, die denselben Zweck erfüllen können, gemeinsam haben. Man könnte also sagen: Der eigentliche Name ist das, was alle Symbole, die den Gegenstand bezeichnen, gemeinsam haben. Es würde sich so successive ergeben, daß keinerlei Zusammensetzung für den Namen wesentlich ist.38 Namen die Funktion eines Satzbausteins zuzuschreiben: Charakterisiert man einen Namen als kleinsten Teil eines Satzes, ist damit nach Sokrates’ Analyse nämlich letztlich gemeint, dass mit dem Namen eine ihrerseits nicht mehr komplexe Teilhandlung der komplexen Handlung des legein ausgeführt wird, deren Vollzug die Äußerung des gesamten Satzes dient. Der Name ist ein (kleinster) Bestandteil von Sätzen insofern, als mit ihm diese Teilhandlung des legein vollzogen wird. Tatsächlich ist es viel realitätsnäher, im Sinne der handlungszentrierten Perspektive des Kratylos zu sagen, dass ein Name eine sprachliche Einheit ist, mit der ein Sprecher eine Teilhandlung des Sprechens vollziehen kann, statt – wie es in der modernen Sprachphilosophie oft getan wird – zu sagen, dass ein Name eine sprachliche Einheit ist, die eine bestimmte Rolle in Sätzen spielt. Schließlich kommen Sätze, in denen Namen eine bestimmte Rolle spielen, ja nicht einfach in der Wirklichkeit vor, sondern werden eben tatsächlich von Sprechern geäußert, um bestimmte sprachliche Handlungen zu vollziehen. (Vgl. die in eine ähnliche Richtung zielende programmatische Bemerkung bei Searle (1969), 16: »The unit of linguistic communication is not, as has generally been supposed, the symbol, word or sentence, or even the token of the symbol, word or sentence, but rather the production or issuance of the symbol or word or sentence in the performance of the speech act. «) Wer Namen als Werkzeuge konzipiert, hat weit bessere Aussichten, der Handlungsdimension von Sprache philosophisch Rechnung zu tragen, als derjenige, der Namen und Sätze als Zeichen oder Symbole denkt. 37 Vgl. dazu Kahn (1973), 165: »Thus […] Plato’s mention of the Form of Name is designed to bring us back from names as phonetic configurations to names as signs for things, and ultimately as signs for forms. « Kahn nutzt diese Einsicht aber nicht, um den Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Bohrers in seiner Tiefenstruktur durchsichtig zu machen, und bemerkt daher ihre weitreichenden Implikationen für die Interpretation des Kratylos nicht. 38 3.341–3.3411. Auf die Parallele zwischen dieser Passage und der Werkzeug-Analogie macht auch Kahn (1973), 165, aufmerksam.
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Es ist exakt derselbe Perspektivwechsel, den Platon und Wittgenstein ihren Lesern abverlangen: Eine Abwendung von der sinnlichen Erscheinungsform der Namen und eine Hinwendung zu dem, was für sie als sprachliche Einheiten im Gegensatz zu bloßen Lautfolgen wesentlich ist – zu ihrem operativen Potenzial beziehungsweise ihrer Eignung für einen bestimmten »Zweck«.39 Einem Leser, der seinen Blick auf Namen in diesem Sinne zu hinterfragen gelernt hat, wird klar werden, dass die Ähnlichkeiten zwischen der Produktion eines Werkzeugs durch die fachkundige (Um-)Formung eines Stoffaggregats und die Einführung eines Namens für eine Art durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention geradezu frappierend sind: In beiden Fällen liegt dem jeweiligen Experten zunächst eine bestimmte Materialportion vor, die homoiomer verfasst ist und einen entsprechend schwach ausgeprägten Einheitscharakter aufweist; in beiden Fällen steht am Ende seiner Tätigkeit eine anhomoiomere Entität mit einem stark ausgeprägten Einheitscharakter; und in beiden Fällen ist die starke Ausprägung des Einheitscharakters an das operative Potenzial gekoppelt, das ihre kompetenten Produzenten diesen Entitäten durch die Wiedergabe der entsprechenden Ideen verliehen haben. Entscheidend ist nun aber nicht die Einsicht in die ontologische Adäquatheit des Vergleichs zwischen der Produktion eines Werkzeugs und der Einführung eines Namens als solche, sondern der Umstand, dass sie den Akt der Etablierung einer Benennungskonvention durch einen Nomotheten beziehungsweise die etablierte Konvention in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Denn dieser Akt entspricht eben, wie man nun leicht erkennt, in seiner ontologischen Tiefenstruktur genau dem Akt der Formung eines Stoffaggregats, durch den ein Handwerker ein Werkzeug herstellt; durch ihn wird schließlich genau wie durch den formenden Eingriff des Handwerkers der ontologische Höhenunterschied zwischen einem homoiomeren Aggregat und einer durch ihr operatives Potenzial gekennzeichneten anhomoiomeren Einheit überwunden. Die Konvention, durch deren Etablierung der Nomothet einen natürlicherweise richtigen Namen für bestimmte Gegenstände einführt, steht daher zu diesem Namen in demselben Verhältnis wie die Form oder Gestalt, die der Handwerker einem Stoffaggregat bei der Produktion eines Werkzeugs verleiht, zu diesem Werkzeug: Sie ist verantwortlich für sein operatives Potenzial und macht ihn daher erst zu der sprachlichen Einheit, die er ist. Die Konvention, die den Gebrauch eines Namens regiert, ist ihm also nicht etwa, wie man zunächst meinen könnte, äußerlich – sie kann Man kann zweifellos das operative Potenzial eines Namens – also das, was bei Platon die spezifische Idee des Namens und bei Wittgenstein der »eigentliche Name« ist – als seine ›Bedeutung‹ bezeichnen, wie z. B. Ketchum (1979), 140–144, es vorschlägt. Es ist allerdings unklar, was damit für die Interpretation des Kratylos gewonnen ist, weil der Rekurs auf das Konzept sprachlicher Bedeutung mehr Fragen aufzuwerfen scheint, als er zu beantworten verspricht. 39
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
von ihm genauso wenig abgelöst werden wie die Gestalt eines Werkzeugs von diesem Werkzeug.40 Ein aufmerksamer Leser kann also durch eine Auseinandersetzung mit dem Vergleich zwischen der Einführung von Namen und der Produktion von Werkzeugen eine radikal neue Perspektive auf das Dreiecksverhältnis zwischen Lautfolgen, Namen und Konventionen gewinnen. Vor einer solchen Auseinandersetzung wird ihm nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach auch dann, wenn er bereits zwischen Namen und Lautfolgen zu unterscheiden gelernt hat, die radikale ontologische Differenz zwischen Lautfolgen und Namen noch nicht klar vor Augen stehen. Er wird vielmehr annehmen, dass der einzige Unterschied zwischen einer bloßen Lautfolge und einem Namen darin besteht, dass der Name durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention einer bestimmten Gegenstandsart zugeordnet worden ist, und dementsprechend Lautfolgen als noch zuzuordnende Namen – gewissermaßen als Namen im Wartestand – betrachten;41 die Konvention wiederum wird er für eine bloße Zuordnungsvorschrift halten. Erst durch eine Reflexion auf die Analogie zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs, wie sie in diesem Abschnitt beschrieben wurde, wird er verstehen, dass ein Name als sprachliche Einheit, die durch ihre Eignung für die Unterscheidung einer bestimmten Art definiert ist, eine ganz andere ontologische Statur hat als eine Lautfolge. Die Konvention, die ein Nomothet etabliert, wird er nun nicht mehr als eine Zuordnungsvorschrift beschreiben, die eine bereits bestehende sprachliche Einheit an die jeweils benannte Art bindet: Denn die Etablierung der Konvention gleicht eben der Formung einer neuen, nicht der Zuordnung einer gegebenen Einheit; und die Konvention selbst ist es,
Das Verhältnis zwischen Benennungskonventionen und den operativen Potenzialen der Namen, deren Gebrauch sie regieren, ähnelt dabei einem Supervenienzverhältnis. Denn während man, um aus der Lautgestalt eines Namens mit einem bestimmten operativen Potenzial einen neuen Namen mit einem anderen operativen Potenzial zu machen, entsprechende neue Konventionen einführen muss, scheint nicht jede Änderung von Benennungskonventionen dazu zu führen, dass ein neuer Name mit einem bestimmten operativen Potenzial geschaffen wird: Wenn beispielsweise Sprecher sich bei der Verwendung eines Namens für eine Art an einem zusätzlichen Kriterium zu orientieren beginnen, das die Identifikation von Artangehörigen erleichtert, ändert dies offenbar nichts an dem operativen Potenzial dieses Namens. 41 Wie naheliegend es ist, eine solche Perspektive auf das Verhältnis zwischen Namen und Lautfolgen einzunehmen, lässt sich an der verbreiteten Neigung ablesen, von Lautfolgen als ›bedeutungslosen Wörtern‹ zu sprechen – ganz so, als handele es sich bei ihnen nicht weniger um Wörter als bei den ›bedeutungsvollen Wörtern‹. Dabei ist, wie die Überlegungen dieses Abschnitts zeigen, eine Lautfolge ihrem ontologischen Status nach eben etwas ganz anderes als ein Wort; und es ist daher grob irreführend, so zu tun, als gäbe es ›bedeutungslose Wörter‹, die sich nicht prinzipiell von ›bedeutungsvollen Wörtern‹ unterscheiden und sozusagen nur darauf warten, von Sprechern mit einer Bedeutung ausgestattet zu werden. 40
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der diese sprachliche Einheit ihr definierendes operatives Potenzial und mithin ihren Einheitscharakter verdankt.42 Wenn der Kratylos daher mitunter als indirektes Plädoyer für eine konventionalistische Position, der zufolge bei der Einführung eines Namens durch die Etablierung einer Konvention eine beliebige Lautfolge zu einem Stellvertreter für die benannte Sache gemacht wird, gefeiert43 oder verdammt44 wird, so kommt dies einem groben Missverständnis gleich: Denn Platon lässt zwar Hermogenes eine solche Position formulieren, aber sein eigentliches Ziel ist es, seine Leser an einen Punkt zu führen, an dem sie die Naivität der Perspektive des Hermogenes bemerken und sie zugunsten einer Betrachtungsweise überwinden, die sowohl dem ontologischen Höhenunterschied zwischen Namen und Lautfolgen als auch der Rolle von Benennungskonventionen bei der Überwindung dieses Höhenunterschieds angemessen Rechnung trägt.45 Leser, die zu einer solchen Keiner der in Anm. 5 genannten Interpreten, die sich gegen eine Interpretation der Passage 389d4–390a10 als Vorgriff auf die im Anschluss von Sokrates entfaltete Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen wenden, bemerkt die Analogie zwischen der Etablierung einer Konvention und der Umformung eines Stoffaggregats zu einem Werkzeug. Aus diesem Grund ist es ihnen unmöglich, diese Passage im Sinne des vorliegenden Kapitels als Blaupause für die Konstruktion einer alternativen, konventionalistischen Intuitionen Rechnung tragenden Theorie der natürlichen Richtigkeit zu verstehen. Am nächsten kommt der hier vorgelegten Interpretation der Passage 389d4–390a10 Robert Ketchum im zweiten Teil seines hervorragenden Aufsatzes »Names, Forms, and Conventionalism: Cratylus, 383–395« (Ketchum (1979), 140–144). Ketchums Analyse zufolge sind Sokrates’ Ausführungen in dieser Passage kompatibel mit der These, dass ein Name keine Lautfolge ist, sondern eine sprachliche Einheit, der wesentlich eine für den Bezug des Namens auf seine Referenten verantwortliche Bedeutung zukommt. Da Ketchum Bedeutungen mit den spezifischen Ideen des Namens gleichsetzt, ist für ihn die Teilhabe eines Namens an einer solchen Idee verantwortlich dafür, dass man sich mit dem Namen auf eine bestimmte Gegenstandsart beziehen kann. Auch Ketchum sieht aber nicht, dass die Konvention, die den Gebrauch eines Namens regiert, im selben Sinne für die Teilhabe des Namens an einer spezifischen Idee des Namens verantwortlich gemacht werden kann wie die physische Gestalt eines Werkzeugs für dessen Teilhabe an einer entsprechenden spezifischen Idee. Dementsprechend bleibt seine – vollkommen richtige – Behauptung, konventionalistische Intuitionen ließen sich mit dem Argument der Werkzeug-Analogie vereinbaren, unexpliziert und unbegründet. 43 So insbesondere von Bestor (1980). 44 So von Hans-Georg Gadamer, der im dritten Teil von Wahrheit und Methode Platon unterstellt, er halte den Namen für ein bloßes Zeichen, das einem vorgefundenen Wirklichkeitsaspekt oder -ausschnitt zugeordnet sei: Gadamer ( 72010), 416–420. Wie verfehlt diese Interpretation des Kratylos auch im Hinblick auf die epistemologische Dimension der Namenseinführung ist, wird der nächste Abschnitt zeigen 45 Bisher ist am klarsten von Gold (1978) herausgearbeitet worden, dass Platon die Gleichsetzung von Namen durch Lautfolgen durch seine Figur Hermogenes selbst nicht akzeptiert, sondern in der Werkzeug-Analogie eine subtilere Konzeption des Namens in Vorschlag bringt: »Hermogenes’ claim is that a name is a sound, different people use different sounds, and there is no correctness or incorrectness involved. Plato responds by showing that a name is not mere42
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Betrachtungsweise vorgedrungen sind, haben den ersten Schritt auf dem Weg zur Konstruktion des Moderaten Naturalismus hinter sich gebracht – und werden, wie der nächste Abschnitt zeigen wird, durch den Vergleich zwischen der Einführung von Namen und der Produktion von Werkzeugen sofort zu einem zweiten Schritt angeregt.
Der Weg zum MODERATEN NATURALISMUS (II): Konvention und natürliche Richtigkeit
Ausgangspunkt für den zweiten Schritt auf dem Weg zum Moderaten Naturalismus ist die für einen kritischen Leser leicht anzustellende Beobachtung, dass zwischen dem Akt der Umformung eines Materials und dem Akt der Etablierung einer Benennungskonvention, von deren ontologischer Strukturverwandtschaft er sich schon überzeugt hat, in epistemologischer Hinsicht eine signifikante Disanalogie zu bestehen scheint – eine Beobachtung, die einen solchen Leser wiederum stutzen und an der Sinnhaftigkeit des Vergleiches zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeug zweifeln lassen muss: Formt nämlich einerseits ein Schmied einen Eisenklumpen mit dem Ziel um, einen Bohrer zu produzieren, der für eine spezifische Version des Bohrens geeignet ist, wird er nur dann erfolgreich sein, wenn die Gestalt, die er dem Eisen verleiht, dieser spezifischen Version des Bohrers angemessen ist – wenn sie also auf die Aufgabe abgestimmt ist, die mit seinem Produkt bewältigt werden soll. Diese Anforderung der Abstimmung seines formenden Eingriffs auf die in Frage stehende Handlung ist es, auf die der epistemische Anspruch der Tätigkeit des Schmiedes zurückzuführen ist; denn sie bringt es mit sich, dass es in Relation zu seinem Produktionsziel einen objektiven Unterschied zwischen richtigen und falschen Umformungen gibt, den der Schmied kennen muss, wenn er dieses Ziel erreichen soll. Will andererseits ein Nomothet eine Konvention etablieren, um eine Lautfolge wie *anthrôpos* zu einem Namen für eine Art wie diejenige der Menschen zu machen, scheint seine Aufgabe epistemisch vollkommen anspruchslos zu sein. Er scheint schließlich einfach nur festlegen zu müssen, dass anthrôpos von nun an als Name für die Art der Menschen zu verwenden ist. Dass diese Konvention so auf die betreffende Version des Nennens abgestimmt ist, wie die Gestalt eines ly a sound. It is a sound that plays a certain role or has a certain function« (232). Gold bemerkt allerdings nicht den ontologischen Höhenunterschied zwischen einer Lautfolge und einem Namen und kann daher nicht erklären, inwiefern der Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Bohrers treffend ist; tatsächlich versteigt er sich sogar zu der These, es seien nicht Namen, sondern Personen, die an den spezifischen Ideen des Namens teilhaben (ebd., 244 f.).
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Bohrers auf eine spezifische Version des Bohrens abgestimmt ist, wird man dementsprechend kaum sagen können. Denn die Gestalt des Bohrers lässt sich ohne Rekurs auf diese Handlung beschreiben, so dass es sinnvoll ist, zu fragen, ob sie auf diese Handlung abgestimmt ist oder nicht; die Konvention hingegen scheint sich nicht ohne Rekurs auf die angezielte Version des Nennens beschrieben zu lassen – und zu fragen, ob die Konvention, anthrôpos als Name für die Art der Menschen zu verwenden, auf die Aufgabe der sprachlichen Unterscheidung der Menschen abgestimmt ist, ergibt unter der Voraussetzung des Schwachen Konventionalismus wenig Sinn, weil bereits mit der Formulierung der Frage eine negative Antwort ausgeschlossen ist.46 Der Nomothet scheint sich demnach nur entscheiden zu müssen, welche Lautfolge er zu einem Namen für eine gegebene Art machen will, und folglich eine kognitiv anspruchslose Aufgabe zu haben; der Schmied hingegen muss seinen formenden Eingriff auf die Handlung, für die sein Produkt geeignet sein soll, abstimmen, und steht daher vor einer kognitiv anspruchsvollen Herausforderung. Wiederum wird einem kritischen Leser also eine Spannung zwischen seiner Grundannahme, durch die Etablierung einer Konvention könne eine beliebige Lautfolge zu einem Namen für eine Art von Gegenständen gemacht werden, und dem Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Bohrers auffallen; und wiederum kommt es darauf an, zu einem konstruktiven Umgang mit dieser Spannung zu finden. Ein Leser, der nicht nur den Ausführungen des Sokrates, sondern auch sich selbst gegenüber kritisch ist, wird in dieser Situation versuchen, sich die Gründe für seine Überzeugung bewusst zu machen, ein Nomothet vollziehe einen epistemisch anspruchslosen Willkürakt, wenn er durch die Etablierung einer Konvention eine Lautfolge zu einem Namen für eine bestimmte Art macht. Die Aufgabe der Selbstbefragung wird dadurch beträchtlich erleichtert, dass Platon seinen Lesern mit Hermogenes eine Identifikationsfigur bereitstellt, die gleich zu Beginn des Dialogs erklärt, was aus der Perspektive des common sense für die Annahme spricht, die Einführung eines Namens könne eigentlich nicht misslingen und erfordere daher keine spezielle Kompetenz: Und wahrlich, Sokrates, ich kann meinesteils nicht überzeugt werden, dass es irgendeine andere Richtigkeit der Namen gibt als Konvention und Vereinbarung, obwohl ich schon oft sowohl mit diesem als auch mit vielen anderen diskutiert habe. Denn es scheint mir, dass, welchen Namen jemand für etwas festsetzt, dieser Setzt man die Gültigkeit des HYPERNATURALISMUS voraus, ergibt diese Frage durchaus Sinn: Denn es könnte sein, dass die Konvention der Art der Menschen eine unpassende Lautfolge als Namen zuordnet und dementsprechend nicht auf die Aufgabe der Unterscheidung dieser Art abgestimmt ist. 46
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der richtige ist; und dass, wenn man wiederum einen anderen an die Stelle setzt, jenen aber nicht mehr zum Nennen verwendet, der zweite nicht weniger richtig ist als der erste – wie wenn wir unsere Sklaven umbenennen.47
Hermogenes beruft sich hier darauf, dass es einzig und allein einer entsprechenden Entscheidung bedarf, um einen Namen aus dem Verkehr zu ziehen und einen anderen Namen für seinen Träger einzuführen. Die Anerkennung dieser Möglichkeit ist für seine Position so zentral, dass er auf Nachfrage des Sokrates sogar einräumt, ein einzelner Sprecher könne den Namen »Pferd« für Menschen und den Namen »Mensch« für Pferde einzusetzen beschließen, ohne dabei etwas falsch zu machen.48 Tatsächlich ist es ja auch sehr naheliegend, derartige Szenarien anzuführen, um Namensgebung als einen dezisionistischen Akt auszuweisen, der keinerlei objektiven Anforderungen unterliegt und daher kognitiv anspruchslos ist. Die allermeisten – damaligen wie heutigen – Leser des Kratylos dürften ganz ähnlich argumentieren, um den Willkürcharakter der Namensgebung zu belegen. Nichts könnte schließlich einleuchtender sein als der Verweis auf einen Vorgang wie die Umbenennung, der sich direkt beobachten lässt. Ausgerechnet am Paradebeispiel der Umbenennung wird allerdings bei näherer Überlegung ein blinder Fleck der ganz auf empirische Beobachtung vertrauenden Betrachtungsweise des common sense erkennbar. Denn offenkundig ist es in dem von Sokrates in 385a6–b1 beschriebenen Szenario nur deswegen für den individualistischen Sprecher so leicht, neue Privatnamen für Pferde und Menschen einzuführen, weil er dazu auf die gebräuchlichen Namen für diese beiden Arten zurückgreifen kann – weil er also, sei es in foro interno oder in foro externo, eine Regel wie die folgende formulieren kann: »In Zukunft ist für die Art der Menschen der Name ›Pferd‹ und für die Art der Pferde der Name ›Mensch‹ zu verwenden.« Dass sich mit diesen Namen die betreffende Art herausgreifen lässt, kann nun aber, wenn man einen infiniten Regress vermeiden will, offenbar nicht wiederum darauf zurückgeführt werden, dass sie bei ihrer Einführung an die Stelle anderer Namen traten, die bereits eine Unterscheidung der beiden Arten ermöglichten.49 Und genau daran zeigt sich die Schwierigkeit der Aufgabe eines Kursivierung nicht im Original. S. o., 32 Anm. 7 für den griechischen Text. Wobei inzwischen freilich klar ist, dass ein solcher Sprecher sich entscheidet, die Lautfolge *Pferd* zu einem Namen für Menschen zu machen und die Lautfolge *Mensch* zu einem Namen für Pferde; den Namen »Pferd« kann er ebenso wenig zu einem Namen für die Menschen machen wie den Namen »Mensch« zu einem Namen für die Art der Pferde. 49 Wie diese Formulierung bereits erkennen lässt, geht es nicht in erster Linie um die Gefahr eines historischen oder temporalen, sondern eines explanatorischen infiniten Regresses: Entscheidend ist, dass die Eignung eines Namens für die Unterscheidung einer bestimmten Art nicht zufriedenstellend durch den Verweis auf einen anderen Namen erklärt werden kann, der diese Eignung seinerseits aufweist. 47
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echten Nomotheten: Er ist es ja offenbar, der Namen für Arten einführen muss, für die bisher noch kein Name zur Verfügung steht; er ist eben kein linguistischer Trittbrettfahrer wie der Exzentriker, der alle Pferde »Mensch« und alle Menschen »Pferd« zu nennen beschließt, sondern ein linguistischer Pionier, der unter Einsatz der Werkzeuge, die ihm seine Sprache bereits zur Verfügung stellt, 50 ein neues Werkzeug schaffen muss, das einen sprachlich bisher noch nicht erschlossenen Aspekt der Wirklichkeit zugänglich macht.51 Ein Leser, der einsieht, dass Umbenennungen gerade keine Paradebeispiele für die Einführung von Namen sind, weil bei der Einführung eines Namens für eine Art in der Regel nicht auf einen bereits eingeführten Namen für diese Art zurückgegriffen werden kann, durchläuft einen weiteren folgenreichen Perspektivwechsel. Er wird nämlich begreifen, dass er die Schwierigkeit der Aufgabe des Nomotheten deswegen unterschätzt hat, weil es für ihn als Sprecher einer Sprache ganz selbstverständlich ist, dass er diejenigen Gegenstandsarten, deren Benennung durch den Nomotheten er sich vorstellt, mittels eines Namens herausgreifen kann. Solange er sich als Vertreter des common sense darauf beschränkt, Beobachtungen anzustellen und zu verallgemeinern, steht ihm nicht klar genug vor Augen, dass er seine Beobachtungen und Verallgemeinerungen in einer Sprache formulieren muss – steht ihm also letztlich nicht klar genug vor Augen, wie tiefgreifend die eigene Sprachlichkeit seinen Weltzugriff prägt. Sein Nachdenken über Sprache, dem Platon durch seine Inszenierung des Hermogenes den Spiegel vorhält, ist insofern durch Sprachvergessenheit gekennzeichnet, als es die eigene Sprachgebundenheit nicht mitdenkt. Diese Sprachvergessenheit macht es so schwierig, den Unterschied zu erkennen zwischen einem echten Nomotheten, der einen Namen für die bisher noch unbenannte Art der Menschen einzuführen hat, und einem Exzentriker, der auf diese Art bereits mittels des Namens »Mensch« zugreifen kann, aber einen neuen Namen für sie einführen will. Schließlich scheinen diese beiden Namensschöpfer vor exakt derselben Frage zu stehen: »Welche Der Einwand liegt nahe, dass nicht alle natürlicherweise richtigen Namen unter Rückgriff auf andere natürlicherweise richtige Namen eingeführt worden sein können. Das ist eine durchaus richtige Beobachtung – aus der aber nicht folgt, dass manche natürlicherweise richtige Namen ohne den Einsatz sprachlicher Ausdrücke eingeführt worden sein müssen. Denn auch eine Sprachgemeinschaft, der noch kein einziger natürlicherweise richtiger Name zur Verfügung steht, kann ja bereits unterdeterminierte (und auch überdeterminierte) Namen einsetzen. Ein Nomothet kann nun diese Namen, indem er sie in neue Verhältnisse zueinander setzt, dem Standard der natürlichen Richtigkeit annähern – und so Stück für Stück eine Sprache schaffen, die diesem Standard schließlich ganz genügt. Aus der Tatsache, dass nicht alle natürlicherweise richtigen Namen unter Rückgriff auf andere natürlicherweise richtige Namen eingeführt worden sein können, ergibt sich also kein explanatorischer infiniter Regress. 51 Ketchum (1979), 139 f., bemerkt ebenfalls, dass die Tätigkeit des Nomotheten nichts mit einem Namenstausch zu tun hat, und betont zurecht ihren epistemischen Anspruch. 50
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Lautfolge soll ich zu einem Namen für die Art der Menschen machen?« Sobald aber ein Leser diesen Unterschied einmal erkannt hat – sobald er erkannt hat, dass ein Nomothet sich im Gegensatz zu dem Exzentriker diese Frage in Ermangelung eines geeigneten sprachlichen Werkzeugs eben noch gar nicht stellen kann –, wird ihm auch die Sprachgebundenheit seines eigenen Nachdenkens über Sprache deutlich werden; und er wird verstehen, welch große Herausforderung mit der Aufgabe des Nomotheten verbunden ist, ein solches Werkzeug zu konstruieren. Es ist demnach wiederum eine produktive Spannung, die zwischen den Vorannahmen eines Lesers und dem Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs besteht – bietet sie einem Leser doch die Gelegenheit, auf einen blinden Fleck seiner bisherigen Betrachtungsweise aufmerksam zu werden und so letztlich zu einer neuen, adäquateren Betrachtungsweise vorzustoßen. Dieser Perspektivwechsel ähnelt in einer entscheidenden Hinsicht demjenigen, den ein Leser durchläuft, wenn er, wie im letzten Abschnitt beschrieben, seine anfängliche Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen aufgibt und sich der prinzipiellen ontologischen Differenz zwischen einer Lautfolge und einem Namen bewusst wird. In beiden Fällen führt nämlich das Reflexionsdefizit eines common sense, für den nichts selbstverständlicher und unproblematischer sein könnte als der Umgang mit Namen, zu einer Verkennung der Radikalität des Schrittes, den ein Nomothet vollzieht, wenn er durch die Etablierung einer Konvention eine Lautfolge zu einem Namen für eine bestimmte Art macht: zum einen seiner ontologischen Radikalität als Übergang von der schwach ausgeprägten Einheit eines phonetischen Aggregats zur stark ausgeprägten Einheit eines sprachlichen Werkzeugs, zum anderen seiner epistemologischen Radikalität als Übergang von einer Situation, in der die benannte Art dem sprachlichen Zugriff entzogen ist, 52 zu einer Situation, in der sie allen Sprechern vermittels des Namens ganz fraglos als eine Art präsent ist.53 Der auf den ersten Blick so spannungsvolle Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs ist ein überaus raffinierter Weg, einem aufmerksamen Leser die Augen für diese doppelte Radikalität des Schritts zum Namen zu öffnen: Denn er verfremdet für ihn das, was er verstanden zu haben glaubt oder für selbstverständlich hält, und sorgt auf diesem Wege für den kognitiven Abstand, Sie ist freilich dem sprachlichen Zugriff nicht vollkommen entzogen, weil sie sich zumindest beschreiben lässt – als die Art, deren Angehörige typischerweise diese oder jene Charakteristika aufweisen. Sobald eine solche Beschreibung gefunden ist, handelt es sich freilich bei der Einführung eines entsprechenden Namens auch nur noch um einen sehr kleinen Schritt. Vgl. dazu die weiteren Überlegungen dieses Abschnitts. 53 Wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, ist der Schritt von der Lautfolge zum Namen in diesen beiden Hinsichten sogar noch radikaler, als aus dieser Beschreibung hervorgeht. 52
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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der für eine philosophische Problematisierung der stets unproblematisch verfügbaren Namen erforderlich ist. Wer eingesehen hat, dass ein Nomothet, der durch die Etablierung einer Konvention einen Namen für eine bestimmte Art einzuführen versucht, dabei nicht auf einen bereits eingeführten Namen für diese Art zurückgreifen kann, wird sich fragen, wie ein Nomothet dann vorzugehen hat – und inwiefern man vielleicht sogar davon sprechen kann, dass er die zu etablierende Konvention ebenso auf die Aufgabe der Unterscheidung der zu benennenden Art abstimmen muss, wie ein Schmied die Gestalt seines Produktes auf die Aufgabe abstimmen muss, die mit seiner Hilfe bewältigt werden soll. Sokrates formuliert im Kratylos keine explizite Antwort auf diese Frage, die mit dem Schwachen Konventionalismus vereinbar wäre, sondern widmet sich nahezu ausschließlich dem Aufbau (und anschließend der Destruktion) des Hypernaturalismus. Im direkten Anschluss an die Werkzeug-Analogie lässt ihn Platon allerdings eine Überlegung anstellen, die diesbezüglich einige signifikante Implikationen hat: In 392b–394d versucht Sokrates zu klären, wieso »Astyanax« ein natürlicherweise richtiger Name für den Sohn des Stadtherren Hektor ist, und entwickelt dabei die These, dieser Name sei seiner etymologischen Bedeutung wegen geeignet für denjenigen, der als Sohn eines Stadtherren zum genos der Stadtherren gehöre. Die Details dieser so verwickelten wie dubiosen Argumentation sind für den gegenwärtigen Zusammenhang nicht von Belang, werden aber im achten Kapitel dieser Studie noch ausführlich besprochen werden. Für den Moment ist nur die folgende Betrachtung relevant, durch die Sokrates die Annahme zu rechtfertigen sucht, der Abkömmling eines Lebewesens müsse stets denselben Namen tragen wie sein Erzeuger: Richtig ist es zumindest, wie mir scheint, den Abkömmling eines Löwen »Löwe« zu nennen und den Abkömmling eines Pferdes »Pferd«. Ich meine nicht den Fall, in dem, gleichsam als Wunder, von einem Pferd etwas anderes geboren wird als ein Pferd, sondern die Gattung, von der es seiner Natur nach ein Abkömmling ist, die meine ich; wenn ein Pferd widernatürlich etwas zeugt, was von Natur aus Abkömmling eines Ochsen ist, ist es nicht »Fohlen« zu nennen, sondern »Kalb«; auch ist, glaube ich, wenn von einem Menschen etwas geboren wird, was nicht der Abkömmling eines Menschen ist, der Abkömmling nicht »Mensch« zu nennen; und ebenso mit den Bäumen und allem anderen. Stimmst du nicht zu? – Ich stimme zu. – Gut gesprochen. Pass’ nur auf, dass ich dich nicht irgendwie in die Irre führe. Denn nach demselben Argument muss, wenn irgendein Abkömmling von einem König geboren wird, dieser »König« genannt werden.54 54
393b7–d1. S. u., 357 f., für den griechischen Originaltext und Anmerkungen.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Diese Betrachtung ist deswegen so bemerkenswert, weil Sokrates hier einerseits einige richtige Namen für bestimmte Gattungen beziehungsweise ihre Angehörigen zu nennen scheint – »Pferd« und »Mensch« beispielsweise –, andererseits aber keinerlei Anstalten macht, die Richtigkeit dieser Namen auf ihre etymologische Bedeutung zurückzuführen, wie er es mit dem Namen »Astyanax« tut (und im Anschluss noch mit über 100 weiteren Namen tun wird). Die Frage, die sich ein aufmerksamer Leser angesichts dieser Beispiele stellen muss, ist daher, was die Namen »Pferd« und »Mensch« zu richtigen Namen für die betreffenden Gattungen macht, wenn es nicht ihre etymologische Bedeutung ist. Sokrates’ Ausführungen legen eine bestimmte (Teil-)Antwort auf diese Frage nahe: Dass es sich bei »Pferd« um einen Namen für die Art der Pferde handelt, scheint unzweifelhaft etwas damit zu tun zu haben, dass der Gebrauch dieses Namens der Regel folgt, ein Lebewesen (unter gewöhnlichen Umständen) genau dann »Pferd« zu nennen, wenn es sich um den Abkömmling eines Lebewesens handelt, auf das dieser Name ebenfalls Anwendung findet. Vollständig beantwortet ist die in Rede stehende Frage damit nicht – denn der Verweis auf die Regel, sich bei der Verwendung des Namens »Pferd« außer in Ausnahmefällen an Abstammungsverhältnissen zu orientieren, vermag für sich genommen nicht zu erklären, wieso es sich bei »Pferd« um einen Namen für die Art der Pferde, nicht aber für die Art der Menschen oder der Ochsen handelt. Umgekehrt wäre aber »Pferd« kaum ein Name für die Art der Pferde, wenn seine Verwendung nicht an der Regel orientiert wäre, ihn genau dann auf ein Lebewesen anzuwenden, wenn es von einem Lebewesen abstammt, das ebenfalls »Pferd« zu nennen ist.55 Bemerkenswerterweise lässt Platon Sokrates dann nach einer expliziten Warnung an die Adresse des Hermogenes – »Pass’ nur auf, dass ich dich nicht irgendwie in die Irre führe« – den Analogieschluss ziehen, es sei in aller Regel auch richtig, den Abkömmling eines Königs »König«, den Abkömmling eines Guten »gut« und den Abkömmling eines Schönen »schön« zu nennen (394a). Sokrates’ Warnung hat einen guten Grund, ist doch die Prämisse seines Analogieschlusses offenkundig falsch: Denn während sich die Zugehörigkeit zu biologischen Gattungen vererbt, gilt dies, wie ausgerechnet der tragische Fall des Astyanax zeigt, für die Zugehörigkeit zum genos der Könige oder Stadtherren keineswegs; und wie man insbesondere dem Menon (93a–94e) entnehmen kann, ist es auch keineswegs ein seltenes »Wunder«, sondern vielmehr die Regel, dass die Söhne eines Platon könnte freilich angenommen haben, dass es für die Definition der ousia der Pferde keine Rolle spielt, dass die Zugehörigkeit zur Art der Pferde in aller Regel vererbt wird. In diesem Fall könnte auch durch die Etablierung einer von der Definition der Pferde informierten Verwendungskonvention ein Name für diese Art eingeführt werden. Auch eine solche Konvention wäre aber offenbar auf die benannte Art abgestimmt. 55
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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guten, tugendhaften Mannes nicht ihrerseits gut sind.56 Würde die Verwendung des Namens »König« daher von der Regel mitbestimmt, dass ein Mensch genau dann »König« zu nennen ist, wenn dies auch für seinen Erzeuger gilt, könnte es sich bei »König« kaum um einen Namen für das genos der Könige handeln; und nicht anders verhält es sich mit dem Namen »gut«. Angesichts der Tatsache, dass er Sokrates eine Warnung vor Irreführung in den Mund legt, muss sich Platon des Kontrastes zwischen dem Fall einer biologischen Gattung und dem Fall eines genos wie desjenigen der Könige vollauf bewusst sein und ihn mithin absichtlich in Szene setzen, um einen aufmerksamen Leser zu irritieren. Tatsächlich illustriert dieser Kontrast einen sehr wichtigen Punkt: Ob ein Name sich für die Unterscheidung einer bestimmten Art eignet, hängt, wie man an den Beispielen »Pferd«, »Mensch« und »Ochse« sieht, nicht von seiner etymologischen Bedeutung oder gar seinem mimetischen Gehalt ab; es hängt vielmehr davon ab, ob die Konvention, die den Gebrauch des Namens regiert, an Kriterien orientiert ist, die auf die betreffende Art abgestimmt sind oder zu ihr passen – an Kriterien also, die bei der Identifikation von Angehörigen dieser Art dienlich sind. So muss die Konvention für die Verwendung des Namens »Pferd« zumindest inter alia an dem Kriterium orientiert sein, dass ein Lebewesen unter gewöhnlichen Umständen genau dann »Pferd« zu nennen ist, wenn dies auch für seinen Erzeuger gilt, damit »Pferd« ein brauchbares Werkzeug zur Unterscheidung der Art der Pferde sein kann. Zu der Art der Könige würde ein solches Kriterium hingegen nicht passen: Eine entsprechende Konvention für die Verwendung des Namens »König« würde verhindern, dass sich mit ihm die Art der Könige herausgreifen lässt. Die Konvention, die ein Nomothet etabliert, um einen Namen zu schaffen, mit dem sich eine bestimmte Art herausgreifen lassen soll, muss also, wie sich aus Sokrates’ Überlegungen in 392b–394d schließen lässt, tatsächlich einen von dieser Aufgabe vorgegebenen Adäquatheitsstandard erfüllen. Denn wenn der Nomothet Kriterien für die Anwendung des Namens auf Gegenstände festlegt, die von typischen Angehörigen der Art gar nicht erfüllt werden, kann offenbar nicht die Rede davon sein, dass es sich um einen Namen für diese Art handelt. Seine Aufgabe wäre dabei vielleicht nicht weiter schwierig, wenn alle Arten so verfasst wären wie die biologischen Arten: wenn sich also die Artzugehörigkeit und die Teilhabe an einer gemeinsamen ousia zuverlässig anhand der Abstammungsverhältnisse beurteilen ließen. Aber wie das Beispiel der Könige (wie auch das Beispiel des Guten und des Schönen) zeigt, kann sich die Zugehörigkeit eines Gegenstandes zu einer Art auch auf ganz andere Weisen äußern und dementsprechend schwer zu erkennen sein; und in diesen Fällen ist es weitaus anspruchs56
Vgl. auch die Überlegungen von Goldschmidt (1940), 105, zu Prot. 319d–320b.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
voller, Kriterien festzusetzen, an denen sich die Verwendung eines Namens für die zu benennende Art orientieren kann. Wenn die Namensschöpfung im Kratylos als eine Aufgabe für einen seltenen Fachmann ausgewiesen wird, so hat dies also einen tiefliegenden ontologischepistemologischen Grund, den Platon durch seine Inszenierung der Passage 392b–394d andeutet: Die durch Teilhabe an einer gemeinsamen ousia gestiftete Zusammengehörigkeit einer Art von Gegenständen kann nämlich offenbar ganz verschiedene Gestalten annehmen und dürfte daher oftmals keineswegs auf den ersten Blick zu diagnostizieren sein, wie es bei den biologischen Arten glücklicherweise der Fall ist. In letzter Analyse scheint die Einführung eines Namens für eine Art demnach deswegen eine solche Herausforderung zu sein, weil sich diese Art unter Umständen gar nicht ohne Weiteres als eine (von einer gemeinsamen ousia zusammengehaltene) Art erkennen lässt. Wer – wie Hermogenes – nicht bedenkt, dass er sich bei seinem Umgang mit der Wirklichkeit auf eine Sprache verlässt, und daher annimmt, die Aufgabe eines Nomotheten beschränke sich darauf, unproblematisch gegebenen Arten eine Lautfolge als Namen zuzuordnen, übersieht daher gerade den entscheidenden Punkt: Die Arten sind eben für jemanden, der noch nicht über Namen für sie verfügt, in aller Regel keineswegs unproblematisch gegeben, sondern müssen erst einmal als Arten identifiziert werden.57 Die Einführung eines Namens für eine Art durch die Etablierung einer auf sie abgestimmten Verwendungskonvention fällt also, wie man mit einer leichten Zuspitzung sagen kann, mit der Identifikation dieser Art als Art zusammen58 – und ist folglich eine sehr diffizile Angelegenheit. Bemerkenswerterweise findet sich in den Platonischen Dialogen, in denen die Namensschöpfung kaum je ausführlicher beschrieben wird, 59 zumindest eine Passage, die dieses Bild von der Herausforderung, vor der ein Nomothet bei der Einführung eines Namens für eine Art steht, genau bestätigt. Timaios erklärt im gleichnamigen Dialog nämlich folgendermaßen, wie die Galle zu ihrem Namen gekommen ist:60 57 Dass Hermogenes naiverweise davon ausgeht, dass die Strukturen der Wirklichkeit offen zutage liegen, und daher die Schwierigkeit der Einführung von Namen massiv unterschätzt, bemerkt auch Palmer (1989), 30. 58 Zugespitzt ist diese Formulierung deswegen, weil ein Nomothet üblicherweise in einem ersten Schritt erkennen wird, dass bestimmte Gegenstände eine Art bilden, und dann in einem zweiten Schritt einen Namen für diese Art einführen wird. Vgl. aber die nachfolgenden Überlegungen zum Verhältnis zwischen diesen beiden Schritten. 59 Es gibt zwar insbesondere in denjenigen Dialogen, in denen dihairetische Untersuchungen angestellt werden, recht viele Passagen, in denen neue Namen für bisher unbenannte eidê eingeführt werden; aber dabei wird der Akt der Namensgebung als solcher kaum problematisiert. 60 Auf die Relevanz dieser Stelle für die Interpretation des Kratylos macht auch Levinson (1957), 38, aufmerksam.
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Was nun als das älteste Fleisch aufgelöst wird, das wird schwerverdaulich, durch das lange dauernde Brennen schwarz und ist, da es überall zerfressen ist, bitter und greift alles am Körper gefährlich an, was noch nicht zerstört ist. Und manchmal erhält die schwarze Farbe anstelle ihrer Bitterkeit Säure, wenn nämlich das Bittere in stärkerem Maße geschwächt wurde, manchmal wieder erhält das Bittere, wenn es in Blut getaucht wird, eine mehr rote Farbe und, wenn diesem das Schwarze beigemischt wird, eine grünliche. Auch gelbe Farbe mischt sich noch dem Bitteren bei, wenn junges Fleisch an der Entzündung aufgelöst wird. Und den gemeinschaftlichen Namen (koinon onoma) »Galle« haben diesem allen entweder einige Ärzte gegeben oder auch einer, der auf das Viele und Ungleichartige zu schauen, aber doch eine in ihnen allen vorhandene Art (genos), die einer Benennung (eponymia) wert war, zu erkennen vermochte.61
Timaios’ Erläuterung lässt keinen Zweifel daran, welche Schwierigkeit es ist, die bei der Einführung des Namens »Galle« bewältigt werden musste: Die Galle hat nämlich offenbar ganz verschiedene Erscheinungsformen – sie mag zwar meistens schwarz und bitter sein, kann aber mitunter auch schwarz und sauer sein oder rot und bitter oder grünlich und bitter oder gelblich und bitter. Einen Namen für die Galle kann daher nur derjenige einführen, der bemerkt, dass all die Körperflüssigkeiten, die diese ganz verschiedenen Eigenschaften aufweisen und daher auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, von einer gemeinsamen ousia zusammengehalten werden und daher eine Art bilden – und genau diese Einsicht weist Timaios ja auch als die eigentliche Leistung des Schöpfers des Namens »Galle« aus. Timaios behauptet dabei nicht, dass der fragliche Nomothet schon gewusst haben muss, was es ist, das die von ihm in ihrer Zusammengehörigkeit erkannten Sekrete gemeinsam haben; die Erkenntnis, dass es sich bei Galle um ein ProTi. 83a5–c3: Ὅσον μὲν οὖν ἂν παλαιότατον ὂν τῆς σαρκὸς τακῇ, δύσπεπτον γιγνόμενον μελαίνει μὲν ὑπὸ παλαιᾶς συγκαύσεως, διὰ δὲ τὸ πάντῃ διαβεβρῶσθαι πικρὸν ὂν παντὶ χαλεπὸν προσπίπτει τοῦ σώματος ὅσον ἂν μήπω διεφθαρμένον ᾖ, καὶ τοτὲ μὲν ἀντὶ τῆς πικρότητος ὀξύτητα ἔσχεν τὸ μέλαν χρῶμα, ἀπολεπτυνθέντος μᾶλλον τοῦ πικροῦ, τοτὲ δὲ ἡ πικρότης αὖ βαφεῖσα αἵματι χρῶμα ἔσχεν ἐρυθρώτερον, τοῦ δὲ μέλανος τούτῳ συγκεραννυμένου χλοῶδες· ἔτι δὲ συμμείγνυται ξανθὸν χρῶμα μετὰ τῆς πικρότητος, ὅταν νέα συντακῇ σὰρξ ὑπὸ τοῦ περὶ τὴν φλόγα πυρός. καὶ τὸ μὲν κοινὸν ὄνομα πᾶσιν τούτοις ἤ τινες ἰατρῶν που χολὴν ἐπωνόμασαν, ἢ καί τις ὢν δυνατὸς εἰς πολλὰ μὲν καὶ ἀνόμοια βλέπειν, ὁρᾶν δὲ ἐν αὐτοῖς ἓν γένος ἐνὸν ἄξιον ἐπωνυμίας πᾶσιν [.] Zitiert ist die Übersetzung Schleiermachers. Schleiermacher liest allerdings – wie Cornford (1937), 383 Anm. 2 – in 83b6 mit A, F und Y χολῶδες (»gallig«) statt – wie Burnet – mit C χλοῶδες. Auch wenn Schleiermacher in dieser Hinsicht richtig läge, wäre die Pointe freilich nicht, dass der Name der Galle sich von dem Namen der Farbe ableitet und daher seiner etymologischen Bedeutung nach angemessen ist, sondern dass sich der Name der Farbe, die eine bestimmte Art der Galle hat, sich von dem Namen der Galle ableitet. 61
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
dukt der Auflösung von altem Fleisch handelt, das durch die Kombination mit bestimmten anderen körperlichen Prozessen verschiedene Eigenschaften aufweisen kann, scheint daher keine Voraussetzung für die erfolgreiche Einführung eines Namens für die Galle zu sein. Das ist auch sehr plausibel: Denn ganz allgemein scheint viel davon abzuhängen, dass ein Name für eine Art auch dann eingeführt werden kann, wenn noch nicht klar ist, was genau die Mitglieder dieser Art gemeinsam haben, und ihre ousia noch nicht bestimmt wurde. Andernfalls müsste schließlich bei der Einführung eines Namens »N« stets schon feststehen, wie die Frage ti esti N? zu beantworten ist – was die Untersuchung von ti estiFragen zu einer Farce machen würde.62 Ein Nomothet muss daher zwar bemerken, dass sich hinter einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen eine signifikante Gemeinsamkeit verbirgt, um durch die Einführung einer passenden Konvention einen Namen für die betreffende Gegenstandsart einführen zu können; aber was es ist, das diesen Gegenständen gemeinsam ist, muss er nicht notwendigerweise wissen. Damit scheinen nun freilich zwei verschiedene Bilder der Herausforderung, die ein Nomothet zu bewältigen hat, gezeichnet zu sein, von denen nicht unmittelbar klar ist, wie sie sich zueinander verhalten: Zum einen soll es die eigentliche Leistung eines Nomotheten sein, dass er Arten als Arten identifiziert, zum anderen muss er aber auch passende Verwendungskriterien festlegen, um durch die Etablierung von Konventionen Namen für diese Arten einzuführen. Man könnte nun sogar versucht sein, diese beiden Charakterisierungen seiner Herausforderung gegeneinander auszuspielen. Denn schließlich ließe sich ja argumentieren, dass ein Nomothet, der eine Art wie etwa diejenige der Menschen als Art identifiziert hat, zur Einführung eines Namens für sie gar nicht mehr darauf angewiesen ist, mühevoll Verwendungskriterien festzulegen. Hat er nämlich einmal verstanden, dass die Menschen eine Art bilden, scheint er auch einfach auf eine beliebige Gruppe von Menschen zeigen und festlegen zu können, dass für diese Art von Lebewesen in Zukunft der Name anthrôpos verwendet werden soll. Der kognitiv anspruchsvolle Teil der Tätigkeit dieses Nomotheten wäre demnach erledigt, bevor er die Lautfolge *anthrôpos* zu einem Namen für die Art der Menschen macht; denn dieser Schritt scheint sich durch einen simplen deiktischen Akt vollziehen zu lassen, während die Etablierung einer auf die Art der Menschen abgestimmten Verwendungskonvention nicht erforderlich zu sein scheint.63 Was nicht bedeutet, dass nicht mitunter bei der Einführung eines Namens für eine Art schon klar sein kann, wie die ousia, die ihr Einheit verleiht, zu definieren ist; aber offenbar ist Klarheit in dieser Hinsicht keine Voraussetzung für erfolgreiche Namenseinführung. 63 Diese Überlegung ist zwar offenkundig an den einschlägigen Arbeiten Kripkes und Putnams zur Theorie der direkten Referenz geschult (Putnam (1975a); Putnam (1975b); Kripke 62
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Bei näherer Überlegung zeigt sich allerdings, wie naiv ein solches Vertrauen auf die Macht des Zeigefingers ist. Solange der Nomothet den anderen Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft nicht erklärt, wie sie Angehörige der Art, für die er den Namen anthrôpos einführen will, im Regelfall erkennen können, wird ihnen durch die von einer entsprechenden Zeigegeste begleitete Aufforderung, für diese Art von Lebewesen in Zukunft den Namen anthrôpos zu verwenden, nicht geholfen sein. Schließlich zeigt der Nomothet, indem er auf eine Gruppe von Menschen zeigt, auch auf eine Gruppe von Lebewesen, von Säugetieren, von Primaten, von zweibeinigen Tieren, und je nach Situation auch auf eine Gruppe von Männern, von Frauen, von Sophisten – und so fort.64 Sprecher, die den Namen anthrôpos in der Folge nicht nur für Menschen, sondern für alle Säugetiere einsetzen, können daher ebenso behaupten, der vom Nomotheten etablierten Regel zu folgen wie Sprecher, die ihn nur für Sophisten verwenden – was offenkundig bedeutet, dass es dem Nomotheten nicht gelungen ist, anthrôpos als einen Namen für die Art der Menschen einzuführen. Insbesondere in einem Platonischen Universum, in dem die Objekte der Sinneswahrnehmung stets in einem für den menschlichen Geist verwirrenden Ausmaß an den verschiedensten (1980)), dabei aber keineswegs so voraussetzungsreich oder entlegen, dass sie in der Auseinandersetzung mit Platons sprachphilosophischer Position keine Rolle spielen dürfte. 64 Diese Schwierigkeit für Theorien direkter Referenz ist in der zeitgenössischen Debatte als »Qua-Problem« bekannt. Dieser Begriff wurde von Devitt/Sterelny (1987) geprägt. Dort heißt es in ihrer inzwischen klassischen Formulierung des Problems über einen Term, der durch einen Taufakt (»grounding«) auf eine natürliche Art bezogen werden soll, die von einem Sample repräsentiert wird: »The term is applied to the sample not only qua member of a natural kind but also qua member of a particular natural kind. Any sample of a natural kind is likely to be a sample of many natural kinds; for example, the example is not only an echidna, but also a monotreme, a mammal, a vertebrate, and so on. In virtue of what is the grounding it in qua member of one natural kind and not another? (sic!) As a result of groundings, a term refers to all objects having the same underlying nature as the objects in the sample. But which underlying nature? The samples share many. What makes the nature responsible for the sample being an echidna the one relevant to reference rather than the nature responsible for it being a mammal (a nature it shares with kangaroos and elephants)?« (73). Der Sache nach wurde das Problem freilich schon zuvor in Dupré (1981) und Kitcher (1982) beschrieben. Die Aufdeckung des »Qua-Problems« hat dazu geführt, dass in der zeitgenössischen Debatte ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass der Mechanismus deiktischer Referenzfixierung, wie Kripke und Putnam ihn ursprünglich beschrieben haben, nicht funktionieren kann. Diese Einschätzung ist durchaus kompatibel mit der Behauptung, dass Kripke und Putnam in vielen anderen Hinsichten Recht behalten haben. Insbesondere kann man auch dann, wenn man ihre Beschreibung des Mechanismus der Referenzfixierung ablehnt, davon ausgehen, dass es sich bei Namen für natürliche Arten um starre Designatoren handelt, die es uns erlauben, auf diese Arten zuzugreifen, ohne ihre Essenzen zu kennen; und ebenfalls kann man Kripkes These beipflichten, dass sich mittels dieser starren Designatoren Aussagen über diese Essenzen treffen lassen, die im Falle ihrer Wahrheit notwendigerweise wahr sind. Siehe Soames (2002) für eine überzeugende Ausarbeitung dieser und verwandter Punkte.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Ideen teilhaben65 und somit den verschiedensten Arten angehören, dürfte es demnach vollkommen aussichtlos sein, einer Sprachgemeinschaft durch einen deiktischen Akt einen Namen für eine bestimmte Art zur Verfügung zu stellen.66 Ein Nomothet, der auf eine Gruppe von Menschen zeigt und festlegt, dass für diese Art von Lebewesen der Name anthrôpos eingesetzt werden soll, ohne aber weitere Kriterien für die Verwendung dieses Namens festzulegen, wird folglich das einzige Mitglied seiner Sprachgemeinschaft sein, das überhaupt versteht, was es heißt, anthrôpos als Name für diese Art von Lebewesen einzusetzen. Er selbst muss sich aber eben auch nicht auf die eigene Zeigegeste verlassen, sondern hat ja bereits die Menschen als eine Art identifiziert und muss daher eine hinreichend akkurate Vorstellung davon haben, wie man Angehörige dieser Art als solche erkennt. Seine Verwendung des Namens wird also de facto Kriterien unterliegen, die dessen Eignung für die Unterscheidung der Art der Menschen sicherstellen. Es ist demnach verfehlt, die beiden bisher entwickelten Charakterisierungen der Herausforderung, die ein Nomothet zu bewältigen hat, gegeneinander auszuspielen. Vielmehr ergeben diese beiden Charakterisierungen erst zusammen ein komplettes Bild der Sachlage. Demnach muss ein Nomothet zunächst bemerken, dass eine Reihe von Gegenständen, die bestimmte Charakteristika aufweisen, eine Art bilden: Ihm muss also beispielsweise auffallen, dass Lebewesen, die zweifüßig und ungefiedert sind und (wenn kein Wunder geschieht) auch von zweifüßigen, ungefiederten Lebewesen abstammen, einer Art angehören; oder ihm muss auffallen, dass Körperflüssigkeiten, die meistens schwarz und bitter sind, aber mitunter auch schwarz und sauer oder rot und bitter oder grünlich und bitter oder gelblich und bitter sein können, diese Eigenschaften ihrer Zugehörigkeit zu einer Art verdanken. Um durch die Etablierung einer Konvention einen Namen für die identifizierte Art einzuführen, wird er sich dann aber keineswegs auf eine Zeigegeste verlassen können, sondern vielmehr in Orientierung an den Charakteristika, deren Vorliegen Zugehörigkeit zur Art indiziert, Verwendungskriterien fixieren müssen: Er wird also beispielsweise festlegen müssen, dass der Name anthrôpos für diejenige Art von Lebewesen verwendet werden soll, deren Angehörige typischerweise zweibeinig und ungefiedert sind und von anderen zweibeinigen, ungefiederten Wesen abstammen. Seine Beobachtung, dass das Auftreten bestimmter Charakteristika Symptom der Zugehörigkeit zu einer Art 65 Siehe beispielsweise Rep. 476a4–7: Kαὶ περὶ δὴ δικαίου καὶ ἀδίκου καὶ ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ καὶ πάντων τῶν εἰδῶν πέρι ὁ αὐτὸς λόγος, αὐτὸ μὲν ἓν ἕκαστον εἶναι, τῇ δὲ τῶν πράξεων καὶ σωμάτων καὶ ἀλλήλων κοινωνίᾳ πανταχοῦ φανταζόμενα πολλὰ φαίνεσθαι ἕκαστον. 66 Dass es noch viel aussichtsloser ist, seiner Sprachgemeinschaft durch einen entsprechenden mentalen Akt – etwa durch die in einem Moment der anamnetischen Betrachtung einer Idee getroffene Festlegung, diese Idee sei von nun an mit einem bestimmten Namen zu bezeichnen – ein solches sprachliches Werkzeug zur Verfügung zu stellen, dürfte sich von selbst verstehen.
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ist, muss also in die Verwendungskonvention einfließen, die er etabliert, wenn die Einführung eines Namens für die betreffende Art gelingen soll. Er muss demnach tatsächlich ganz ähnlich wie ein Schmied, der dem Eisen eine auf eine bestimmte Version des Bohrens abgestimmte Gestalt verleihen muss, die zu etablierende Konvention auf die Aufgabe der Unterscheidung der benannten Art beziehungsweise ihrer stabilen ousia für einen Hörer abstimmen; ansonsten wird er keine sprachliche Einheit schaffen, mit der sich diese Aufgabe bewältigen lässt, sondern bestenfalls einen unterdeterminierten Namen.67 Für einen Leser, der die Notwendigkeit eingesehen hat, Konventionen in diesem Sinne auf die Arten abzustimmen, für die Namen einzuführen sind, dürfte die Frage naheliegen, wie gut diese Abstimmung gelingen muss, wenn die Tätigkeit des Nomotheten von Erfolg gekrönt sein soll. Im Idealfall wird der Nomothet bereits über eine Definition der ousia der zu benennenden Art verfügen und eine entsprechende Konvention einführen können;68 aber das dürfte, wie schon erläutert wurde, keineswegs der Regelfall sein.69 In der Regel dürfte ein Nomothet vielmehr bestimmte Charakteristika kennen und namhaft machen können, die zwar Angehörigen der Art – anders als den Angehörigen anderer Arten – typischerweise zukommen, sie aber nicht als Artangehörige definieren. Die Verwendungskriterien für den eingeführten Namen müssen dabei offenbar jedenfalls so gut auf die betreffende Art abgestimmt sein, dass es eindeutig sie und keine andere Art ist, die durch seinen Einsatz herausgegriffen wird. Anders formuliert: Wenn ein Nomothet eine Konvention der Gestalt »Der Name ›N‹ soll in Zukunft für diejenige Art verwendet werden, deren Angehörige typischerweise die Charakteristika X, Y und Z (oder X´, Y´ und Z´ oder…)70 aufweisen« etabliert, muss diese Konvention zwar keine Definition, wohl aber eine eindeutige Spezifikation der zu benennenden Art repräsentieren;71 denn es ist unklar, was »N« andernfalls zu einem Namen für diese und keine andere Art machen sollte. Vgl. dazu die Überlegungen im vierten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels. Wie Ketchum (1979), 139 f., und Palmer (1989), 90 f., bemerken, beschreibt Theaitetos zu Beginn des gleichnamigen Dialogs (147d–148b) die Einführung einer Verwendungskonvention für den Namen dynamis, die tatsächlich eine Definition der benannten Art von Längen repräsentiert. 69 Silverman (1992a), 28 f., scheint davon auszugehen, dass man nur dann mit einem Namen eine Idee herausgreifen kann, wenn man über eine Definition dieser Idee verfügt, begründet diese gewagte These aber nicht. 70 Auf eine solche disjunktive Formulierung müsste ein Nomothet beispielsweise im Fall der Galle zurückgreifen – denn Galle ist zwar meistens schwarz und bitter, kann aber mitunter auch schwarz und sauer oder rot und bitter oder grünlich und bitter oder gelblich und bitter sein. 71 Wenn in diesem Zusammenhang von »Repräsentation« die Rede ist, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass ein Nomothet nicht zwangsläufig einen Satz wie »Der Name ›N‹ soll in Zukunft für diejenige Art verwendet werden, deren Angehörige typischerweise die Charakteristika X, Y und Z (oder X´, Y´ und Z´ oder…) aufweisen« formulieren muss, um einen Namen 67
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Es stellt sich somit die Frage, unter welchen Bedingungen man davon sprechen kann, dass eine Verwendungskonvention eine eindeutige Spezifikation einer bestimmten Art repräsentiert. Dem Kratylos lässt sich keine Antwort auf diese Frage entnehmen. Es ist aber auch sehr zweifelhaft, ob es überhaupt möglich ist, eine Antwort auf diese Frage zu geben, die gleichermaßen allgemein wie präzise ist. Denn wie bei genauerer Betrachtung auffällt, dürfte es stark von dem Verhältnis der jeweiligen Art zu anderen Arten abhängen, wie eine solche eindeutige Spezifikation auszusehen hat. Das lässt sich an einem sehr einfachen Beispiel illustrieren: Die Art der Menschen scheint die einzige Art von Lebewesen zu sein, deren Angehörige typischerweise zweibeinig und ungefiedert sind und von ungefiederten, zweibeinigen Lebewesen abstammen. Man kann also allem Anschein nach eine eindeutige Spezifikation der Art der Menschen geben, indem man auf diese Charakteristika rekurriert; und durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention kann ein Name für die Art der Menschen eingeführt werden. Anders verhielte es sich aber, wenn es noch eine zweite Art von Lebewesen mit denselben Charakteristika gäbe: Denn in diesem Fall müsste man noch auf weitere Charakteristika (oder auch auf ein ganz anderes Set von Charakteristika) von typischen Angehörigen der Art der Menschen rekurrieren, um sie eindeutig zu spezifizieren. Eine Verwendungskonvention müsste dementsprechend genauer auf sie abgestimmt sein, wenn durch ihre Etablierung ein Name für die Menschen eingeführt werden soll. Wie radikal kontextabhängig die Antwort auf die Frage ist, was man sich unter einer eindeutigen Spezifikation einer Art vorzustellen hat, wird dann deutlich, wenn man eine Variation dieses Beispiels betrachtet. Verhielte es sich nämlich so, dass es zwar neben den Menschen noch eine zweite Art von Lebewesen gibt, die typischerweise zweibeinig und ungefiedert sind und von ungefiederten, zweibeinigen Lebewesen abstammen, diese Art aber einen weit entfernten Planeten bewohnt, scheint ein irdischer Nomothet durch den Rekurs auf diese Charakteristika eine für die Mitglieder seiner Sprachgemeinschaft eindeutige Spezifikation der Art der Menschen geben und ihnen durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention ein sprachliches Werkzeug zur Unterscheidung dieser Art zur Verfügung stellen zu können.72 Wie genau eine Konvention auf eine zu für eine Art einzuführen. Vielmehr kann er den anderen Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft auch ohne die Formulierung einer solchen expliziten Regel beibringen, den Namen »N« in Orientierung an den betreffenden Kriterien nur für Angehörige der zu benennenden Art zu verwenden. Die Konvention, die er etabliert, würde auch in diesem Fall eine entsprechende Spezifikation der Art repräsentieren. 72 Dieses Szenario ähnelt nicht zufälligerweise Putnams berühmtem »Twin Earth«-Gedankenexperiment, das auf der Fiktion einer zweiten Erde beruht, auf der es eine Flüssigkeit gibt, die mit unserem Wasser (H2O) alle Oberflächeneigenschaften gemeinsam hat – also durchsichtig ist,
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geruchlos, trinkbar etc. –, aber eine vollkommen andere chemische Zusammensetzung hat (Putnam (1975b)). Putnam argumentiert nun für die These, dass sich auch in diesem Szenario ein Name wie »Wasser«, der im direkten Kontakt mit Ansammlungen von H2O-Molekülen eingeführt und verwendet wurde, auf diesen Stoff beziehen würde, selbst wenn die relevanten Sprecher noch nicht um seine chemische Mikrostruktur wüssten (ebd., 223–227). Das gelte sogar dann, wenn diese Sprecher irgendwann durch die Segnungen der bemannten Raumfahrt mit der Flüssigkeit auf der Zwillingserde in Kontakt träten – es wäre in dieser Situation, so Putnam, für die betreffenden Sprecher schlichtweg falsch, die Zwillingsflüssigkeit als »Wasser« zu bezeichnen, und zwar unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit hätten, die beiden Flüssigkeiten durch chemische Analyse zu unterscheiden (ebd.). Freilich sollte man Putnams Analyse, die sich an verschiedenen Punkten darauf beruft, was Sprecher in bestimmten Situationen intuitiverweise sagen würden oder zu welchen Reaktionen sie disponiert wären, nicht unkritisch akzeptieren. Das gilt umso mehr, als es, wie LaPorte bemerkt, einen historischen Fall gibt, in dem sich Sprecher in einer mit Putnams Szenario vergleichbaren Situation ganz anders verhalten haben, als man es Putnams Analyse zufolge erwarten sollte: So spielte für die chinesische Kultur über Jahrtausende das Mineral Nephrit eine wichtige Rolle, das im Chinesischen »Yü« und im Deutschen »Jade« genannt wurde. Während Chinesen mit diesem Mineral stets im Kontakt gewesen waren, galt dies nicht für ein von Nephrit in seinen Oberflächeneigenschaften kaum zu unterscheidendes Mineral, das heute von Chemikern als »Jadeit« bezeichnet wird und eine völlig andere chemische Mikrostruktur als Nephrit hat. Dieses Mineral wurde erst Ende des 18. Jahrhunderts nach China eingeführt. Trotz der großen Ähnlichkeit mit Nephrit scheint den relevanten Sprechern des Chinesischen, die über große Erfahrung im Umgang mit Nephrit verfügten, klar gewesen zu sein, dass es sich bei dem neu eingeführten Material nicht um dieselbe Mineralart handeln konnte. Dennoch wurde der Name »Yü« keineswegs für das altgediente Nephrit reserviert, sondern wurde – und wird bis heute – ohne jede Einschränkung auch für Jadeit verwendet. (Siehe für eine ausführlichere Darstellung dieses bemerkenswerten Vorgangs LaPorte (2004), 94–96, mit der dort angegebenen Literatur.) Dieses historische Beispiel ist für Putnam – der es ironischerweise sogar selbst anspricht, ohne aber alle relevanten Fakten zu berücksichtigen (a. a. O., 241) – höchst problematisch, weil es zeigt, dass kompetente Sprecher in ihrer Sprachpraxis viel flexibler auf die Konfrontation mit neuen Informationen reagieren, als er es in seinen Überlegungen für möglich hält. Denn diesen Überlegungen zufolge bezog sich der Name »Yü« seit unvordenklichen Zeiten auf Nephrit, und die kompetenten Sprecher des Chinesischen hätten dementsprechend einen neuen Namen für das eingeführte Jadeit prägen und die Verwendung des Namens »Yü« für dieses Mineral als Fehler einstufen müssen. Angesichts der tatsächlichen historischen Entwicklung scheint Putnam vor einem Dilemma zu stehen: Entweder er räumt ein, dass die Verwendung von »Yü« sich eben immer schon an Oberflächeneigenschaften orientiert hatte – aber das zöge natürlich die Frage nach sich, wieso es sich in seinem »Twin Earth«-Gedankenexperiment mit dem Namen »Wasser« anders verhalten sollte; oder er zieht sich auf die Position zurück, dass anderweitig durchaus kompetente Sprecher des Chinesischen seit mehr als zwei Jahrhunderten den Namen »Yü« falsch benutzen – offenkundig eine völlig absurde Position. LaPortes durchaus plausibler Analyse zufolge hat man es hier mit einem Fall von Vagheit zu tun. Demnach stand vor der Entscheidung, auch Jadeit als »Yü« zu bezeichnen, nicht fest, ob eine solche Verwendung des Namens korrekt oder inkorrekt ist. Macht man sich diese Einschätzung LaPortes zu eigen, wird man davon ausgehen, dass nur durch die Etablierung einer Konvention, die eine tout court eindeutige Spezifikation einer bestimmten Art repräsentiert, ein Name für diese Art eingeführt werden kann. Das Erfordernis der Abstimmung der Konvention auf die Aufgabe der Artunterscheidung wäre in diesem Fall sogar noch strikter auszulegen, als es in diesem Abschnitt getan wird.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
benennende Art abgestimmt werden muss, hängt demnach nicht nur davon ab, in welchen Hinsichten diese Art anderen Arten ähnelt – sondern vielmehr auch davon, mit welchen anderen Arten die Sprachgemeinschaft, die der Konvention folgen soll, in ihrer Umwelt konfrontiert ist.73 (Sokrates’ spätere These, eine Benennungskonvention im Sinne einer sprachlichen Gewohnheit (ethos) bestehe im Hinblick auf die Verwendung eines bestimmten Namens unter der Voraussetzung, »dass ich, wenn ich diesen [Namen] ausspreche, an jenes denke, du aber erkennst, dass ich an jenes denke«,74 böte ihm auch durchaus die Möglichkeit, die Bedeutung des Kontexts zu würdigen, innerhalb dessen eine solche Konvention oder Gewohnheit besteht. Denn mit dieser These hebt Sokrates ja gerade darauf ab, dass sich die Frage, ob sich mit einem Namen die Handlung des Nennens vollziehen lässt, niemals im luftleeren Raum beantworten lässt, sondern die Antwort stets von dem Horizont der kompetenten Nutzer des Namens abhängig ist.) Eine Diskussion der Frage, unter welchen Bedingungen eine Konvention so gut auf die Aufgabe der Unterscheidung einer bestimmten Art abgestimmt ist, dass durch ihre Etablierung ein für diese Aufgabe geeignetes Werkzeug geschaffen wird, stößt also, solange sie in abstracto durchgeführt wird, aus prinzipiellen Gründen schnell an Grenzen. Dieser Befund entwertet aber keineswegs die Einsicht, dass die Produktion eines Namens einem solchen Abstimmungserfordernis ebenso unterliegt wie die Produktion eines Bohrers – zumal ja immerhin klar ist, dass die Abstimmung durch den Rekurs auf Charakteristika erfolgen muss, deren Auftreten Zugehörigkeit zur benannten Art indiziert. Der Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Herstellung eines Bohrers ist in dieser Hinsicht also auch dann nicht irreführend, wenn man im Sinne des Schwachen Wenn die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in ihrer Umwelt mit einer bestimmten Art konfrontiert sind, kann ein Nomothet möglicherweise auch dann einen Namen für diese Art einführen, wenn die Konvention, die er zu diesem Zweck etabliert, auf Charakteristika abhebt, die nur manchen Artangehörigen zukommen. De facto gibt es ja einige Fälle, in denen sich mit dem Fortschritt der Wissenschaften erwiesen hat, dass bestimmte Arten viele Angehörige haben, die man zunächst nicht als solche erkannt hatte, weil sie nicht die als typisch geltenden Eigenschaften haben: So bestand beispielsweise für lange Zeit die Konvention, den Namen »Topas« für eine Art von Mineralien zu verwenden, die unter anderem über ihre leuchtend gelbe Farbe als Angehörige dieser Art identifiziert wurden. Die Entwicklung der modernen Chemie führte indessen zu der Einsicht, dass auch bestimmte blaue Mineralien dieselbe chemische Mikrostruktur aufweisen wie die bisher »Topas« genannten, leuchtend gelben Mineralien; inzwischen werden alle Mineralien mit dieser chemischen Struktur als »Topas« bezeichnet. (Siehe für dieses historische Beispiel LaPorte (2004), 102.) Es scheint nun zumindest nicht absurd zu sein, anzunehmen, dass sich Sprecher bereits vor dieser Anpassung der sprachlichen Praxis mit dem Namen »Topas« auf die betreffende Mineralienart beziehen konnten. (Wiederum kommt allerdings LaPorte zu dem gegenteiligen Schluss, die Regeln für die Verwendung des Namens »Topas« seien vor dieser Anpassung vage gewesen: ebd.) 74 Diese Passage wird im achten Kapitel zitiert und diskutiert: S. u., 374. 73
VI. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen
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Konventionalismus davon ausgeht, dass ein Nomothet beliebige Lautfolgen zu Namen für Arten machen kann: Denn beide Tätigkeiten werden durch analoge Abstimmungserfordernisse zu kognitiven Herausforderungen. * Ein Leser, der in Anknüpfung an die im letzten Abschnitt dargestellte erste Phase seiner Auseinandersetzung mit dem Vergleich zwischen der Einführung eines Namens und der Produktion eines Werkzeugs auch die soeben beschriebene zweite Phase durchläuft, wird zu einer Antwort auf die Frage gelangen, was beispielsweise den deutschen Namen »Pferd« zu einem natürlicherweise richtigen Namen für die Art der Pferde macht: Er wird nämlich einsehen, dass die Eignung des Namens »Pferd« für die Aufgabe, durch die Unterscheidung der Art der Pferde beziehungsweise ihrer ousia zur Belehrung eines Hörers beizutragen, sich der Abgestimmtheit der Konvention, die seinen Gebrauch regiert, auf diese Aufgabe verdankt. Dabei steht diese Konvention in einem ganz ähnlichen Verhältnis zu dem Namen »Pferd« wie die Gestalt oder Form, die ein Handwerker einem Eisenklumpen verleiht, zu dem Bohrer, den er dadurch produziert: Sie ist diesem Namen nicht äußerlich, sondern bestimmt sein operatives Potenzial und macht ihn so erst zu der sprachlichen Einheit, die er ist. Der Name »Pferd« selbst ist also, wie man sagen könnte, dank der Konvention, die seinen Gebrauch regiert, ein für die Unterscheidung der Pferde geeignetes und mithin natürlicherweise richtiges sprachliches Werkzeug – ebenso, wie ein Bohrer dank seiner Gestalt oder Form ein für eine bestimmte Version des Bohrens geeignetes und mithin natürlicherweise richtiges Werkzeug ist. Dass eine Konvention für die natürliche Richtigkeit eines Namens verantwortlich sein soll, klingt wie eine contradictio in adiecto, ist es aber keineswegs: Denn während es selbstverständlich eine menschliche Entscheidung ist, eine bestimmte Benennungskonvention zu etablieren, ist es nicht von menschlichen Entscheidungen (oder Wahrnehmungen und Meinungen) abhängig, ob die betreffende Benennungskonvention gut genug auf eine der spezifischen Versionen des Nennens abgestimmt ist;75 und somit ist es auch nicht von menschlichen Entscheidungen (oder Wahrnehmungen und Meinungen) abhängig, ob der Ausdruck, dessen Gebrauch sie regiert, gut genug auf diese spezifische Version des Nennens abgestimmt ist. 75 Vgl. dazu die treffende Bemerkung bei Silverman (1992a), 28, über die zentrale Frage des Kratylos: »The fundamental question is: Are there conditions which anything which is to serve as a name must satisfy? If the answer is yes, then nature is the primary and fundamental cause of the correctness of names. This is true even if these are conditions which any convention must satisfy.« Silverman nutzt diese Einsicht allerdings nicht, um eine adäquate Interpretation von Sokrates’ Vergleich zwischen der Einführung von Namen und der Herstellung von Werkzeugen zu entwickeln.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Diese Antwort auf die Frage, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Gegenstandsart macht, ist mit dem Schwachen Konventionalismus als umsichtiger Formulierung der konventionalistischen Intuitionen der allermeisten Leser des Kratylos vereinbar. Denn offenbar kann durch die Etablierung einer Konvention, die beispielsweise auf die Aufgabe der Unterscheidung der Art der Pferde für einen Hörer abgestimmt ist, jede beliebige Lautfolge zu einem natürlicherweise richtigen Namen für diese Art gemacht werden. De facto sind ja offenbar das deutsche Wort »Pferd«, das englische Wort »horse« und das griechische Wort hippos gleichermaßen Namen für die Art der Pferde; und durch entsprechende Entscheidungen könnten auch die Lautfolgen *Blip* oder *Katze* zu Namen für diese Art gemacht werden.76 Hinter der Willkürfreiheit, die ein Nomothet bei der Wahl der Lautfolge genießt, aus der er einen Namen für eine bestimmte Art machen will, verbirgt sich allerdings ein naturgegebenes, für ihn unverfügbares Anforderungsprofil, das die Einführung von Namen zu einer so großen Herausforderung macht: Denn wenn ein Nomothet beispielsweise *Blip* zu einem Namen für die Art der Pferde machen will, kann er dies zwar durch die Etablierung einer Konvention tun; aber er wird sein Ziel eben nicht erreichen, wenn er diese Konvention nicht in der beschriebenen Weise auf die Aufgabe der Unterscheidung der Pferde für einen Hörer abstimmt und so dem eingeführten Namen die Eignung für diese Aufgabe verleiht. Die Tätigkeit des Nomotheten unterliegt also objektiven – wenn auch nicht in allgemeiner Form präzise anzugebenden – Erfolgsbedingungen, die von der Natur der spezifischen Version des Nennens determiniert werden, für deren Vollzug das von ihm zu schaffende sprachliche Werkzeug geeignet sein soll. Diese Tiefendimension der Einführung von Namen übersieht man deswegen so leicht, weil man bereits über eine Sprache verfügt, die einem die Wirklichkeit (in weiten Teilen) erschließt; nur deswegen scheint es nämlich so, als sei bei der Einführung eines Namens nichts anderes zu leisten als die – völlig anspruchslose – Zuordnung einer Lautfolge zu einer unproblematisch gegebenen Art. Durch den Vergleich zwischen der Einführung von Namen und der Produktion von Werkzeugen leitet Platon seinen Leser dazu an, diese übermäßig empiriegläubige Haltung der Sprachvergessenheit, die seine Reflexionen über das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit zunächst ebenso bestimmen dürfte wie diejenigen des Hermogenes, durch eine veritable periagôgê tês psychês zu überwinden – und sich Wobei ein Vertreter des SCHWACHEN KONVENTIONALISMUS selbstverständlich zugestehen kann, dass es beispielsweise sinnvoll ist, die Lautfolge *Apfelbaum* statt der Lautfolge *Birnbaum* zu einem Namen für die Apfelbäume zu machen, wenn schon der Name »Apfel« für Äpfel, der Name »Birne« für Birnen und der Name »Baum« für Bäume verwendet werden; er muss nur bestreiten, dass man aus der Lautfolge *Birnbaum* keinen brauchbaren Namen für die Art der Apfelbäume im Sinne des SPEZIFISCHEN FUNKTIONALITÄTSPRINZIPS machen kann. 76
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der natürlichen Anforderungen bewusst zu werden, die zu erfüllen sind, wenn im Sinne seiner konventionalistischen Intuitionen aus einer beliebigen Lautfolge ein Name für eine bestimmte Gegenstandsart gemacht werden soll. Ein Leser, der an diesen Punkt gelangt ist, hat mehr geleistet als eine Rekonstruktion des funktionalistischen Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen – er hat, angeleitet von Platon, eine zu diesem Begriff passende, sehr plausible Theorie entwickelt, die aufgrund ihrer Vereinbarkeit mit dem Schwachen Konventionalismus treffend als Moderater Naturalismus charakterisiert werden kann. Auf der Ebene des Dialogs zwischen Sokrates und Hermogenes kann eine solche Theorie indessen nicht einmal als Denkmöglichkeit präsent sein, weil die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen niemals in Frage gestellt wird. So bleibt den Gesprächspartnern im Anschluss an die Werkzeug-Analogie nichts anderes übrig, als den Hypernaturalismus zu entfalten – die hochgradig unplausible Theorie also, der zufolge ein Ausdruck gegebenenfalls dank seiner etymologischen Bedeutung oder seines mimetischen Gehalts qua bloße Lautfolge ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart ist. Wie der letzte Teil der vorliegenden Studie zeigen wird, setzt Platon aber bei seiner Inszenierung dieser weiteren Entwicklung von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen alles daran, seinen aufmerksamen Lesern vor Augen zu führen, dass eigentlich nichts dafür spricht, den Hypernaturalismus zu akzeptieren, und seine Konstruktion durch Sokrates nur den explanatorischen Zwängen geschuldet ist, die sich aus der verfehlten Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen ergeben. Welchen Schluss solche Leser aus ihrer Lektüre des Kratylos ziehen sollen, wird nach der Analyse der an die Werkzeug-Analogie anschließenden Dialogteile daher keinem Zweifel mehr unterliegen: Sie sollen verstehen, dass Namen erstens einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen und dass zweitens die Frage, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck diesen Standard erfüllt, im Sinne des Moderaten Naturalismus zu beantworten ist. Nur lässt Platon Sokrates diese Schlussfolgerung eben nicht explizit ziehen, sondern regt seine Leser dazu an, sie sich in Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie selbstständig zu erarbeiten – was erklärt, wieso alle Versuche gescheitert sind, irgendwo im Kratylos eine Formulierung derjenigen sprachphilosophischen Position ausfindig zu machen, von der dieser Dialog seine Leser überzeugen soll.
VII. An den Grenzen der Werkzeug-Analogie: Gebrauch und Evaluation von Namen durch den Dialektiker (390b–d)1 Die Beschreibung der Produktion natürlicherweise richtiger Namen durch einen Nomotheten in 389d4–390a10, die, wie im letzten Kapitel gezeigt werden konnte, aufmerksame Leser zur Konstruktion des Moderaten Naturalismus anregen soll, bildet noch nicht den Endpunkt von Sokrates’ Überlegungen in der Werkzeug-Analogie. Ihr schließt sich eine Passage an, in der Sokrates dem Dialektiker als dem kompetenten Nutzer von Namen die Fähigkeit zuschreibt, die Produkte des Nomotheten im Hinblick auf ihre natürliche Richtigkeit zu bewerten: Wer ist nun derjenige, der wissen wird, ob die angemessene Idee eines Weberschiffchens in Holz welcher Art auch immer liegt? Derjenige, der es verfertigt hat, der Zimmermann, oder derjenige, der es gebrauchen wird, der Weber? – Es ist wahrscheinlicher, dass es derjenige ist, der es gebrauchen wird, Sokrates. – Wer ist nun derjenige, der das Werk des Kitharamachers gebrauchen wird? Ist es etwa nicht der, der die Verfertigung am besten zu beaufsichtigen wüsste und, wenn es verfertigt ist, erkennen könnte, ob es gut gearbeitet worden ist oder nicht? – Sicher. – Wer denn? – Der Kithara-Spieler. – Und wer ist derjenige, der das Werk des Schiffsbauers gebrauchen wird? – Der Steuermann. – Und wer könnte die Arbeit des Nomotheten am besten beaufsichtigen und das fertiggestellte Werk beurteilen sowohl hier als auch unter den Barbaren? Etwa nicht derjenige, der es gebrauchen wird? – Ja. – Ist das etwa nicht derjenige, der zu fragen versteht? – Sicher. – Aber derselbe versteht auch zu antworten? – Ja. – Aber bezeichnest du jemanden, der zu fragen und zu antworten versteht, irgendwie anders denn als Dialektiker? – Nein, sondern so. – Also ist es Aufgabe eines Zimmermanns, ein Ruder zu verfertigen unter der Aufsicht eines Steuermanns, wenn das Ruder gut sein soll. – So scheint es. – Einen Namen zu verfertigen ist aber, wie es scheint, Aufgabe eines Nomotheten, der einen dialektischen Mann zum Aufseher hat, wenn er Namen auf gute Weise festlegen soll. – So ist es.2 Dieses Kapitel hat in besonders hohem Maße von den kritischen Bemerkungen Hannes Kerbers profitiert. Viele der im Folgenden entwickelten Überlegungen – insbesondere, insofern sie sich auf den epistemologischen Sonderstatus des Namens beziehen – wurden angeregt durch sein gut begründetes Beharren darauf, dass ein Name eben kein Werkzeug ist. 2 390b1–d8: Τίς οὖν ὁ γνωσόμενος εἰ τὸ προσῆκον εἶδος κερκίδος ἐν ὁποιῳοῦν ξύλῳ κεῖται; ὁ ποιήσας, ὁ τέκτων, ἢ ὁ χρησόμενος, ὁ ὑφάντης; – Εἰκὸς μὲν μᾶλλον, ὦ Σώκρατες, τὸν χρησόμενον. – Τίς οὖν ὁ τῷ τοῦ λυροποιοῦ ἔργῳ χρησόμενος; ἆρ’ οὐχ οὗτος ὃς ἐπίσταιτο ἂν ἐργαζομένῳ κάλλιστα ἐπιστατεῖν καὶ εἰργασμένον γνοίη εἴτ’ εὖ εἴργασται εἴτε μή; – Πάνυ γε. – Τίς; – Ὁ κιθαριστής. – Τίς δὲ ὁ τῷ τοῦ ναυπηγοῦ; – Κυβερνήτης. – Τίς δὲ τῷ τοῦ νομοθέτου 1
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Die epistemologische Annahme, die diese letzte Etappe des Gedankengangs der Werkzeug-Analogie prägt, ist aus dem zehnten Buch der Politeia wohlbekannt: Demnach weiß nur der kompetente Nutzer eines Werkzeugs, ob es gut oder schlecht gearbeitet ist; der kompetente Produzent eines Werkzeugs weiß hingegen nicht, was ein gutes Werkzeug ausmacht, sondern hat darüber lediglich eine richtige Meinung.3 Der Import dieser Annahme in die Werkzeug-Analogie führt zu dem Ergebnis, dass nur der kompetente Nutzer eines bestimmten Werkzeugtyps wissen kann, ob der Versuch eines Handwerkers gelungen ist, in einem seiner Produkte eine spezifische Idee des betreffenden Werkzeugs wiederzugeben und so ein natürlicherweise richtiges Werkzeug zu schaffen.4 Dementsprechend ist auch nur er befähigt, die Arbeit des Handwerkers zu kritisieren und zu beaufsichtigen. Dass auch der kompetente Gebrauch des Namens Sache eines Fachmanns ist, hat Sokrates bereits in 388c5–7 festgehalten; ebenfalls bekannt ist, dass es sich dabei um einen Fachmann für das Lehren, einen didaskalikos, handelt. Auf diesen Fachmann kommt Sokrates nun, kurz vor dem Abschluss der Werkzeug-Analogie, zurück und erläutert, dass er sich auf das Fragen und Antworten versteht und daher mit dem Dialektiker zu identifizieren ist. Niemand anderes als der Dialektiker ist also kraft seines Sachverstandes dafür zuständig, die Produkte des Nomotheten kritisch im Hinblick auf ihre natürliche Richtigkeit zu evaluieren und seine Arbeit zu beaufsichtigen. Man könnte leicht den Eindruck gewinnen, dass dieser letzte Schritt der Werkzeug-Analogie dem von Sokrates errichteten Gedankengebäude zwar ein Ornament hinzufügt, für seine Statik aber irrelevant ist. Schließlich ist an dieser Stelle schon gezeigt, dass Namen einem Standard natürlicher Richtigkeit unterliegen und dementsprechend nur von einem Experten geschaffen werden können; und für einen Leser, der sich gründlich mit der Passage 389d4–390a10 auseinanderἔργῳ ἐπιστατήσειέ τ’ ἂν κάλλιστα καὶ εἰργασμένον κρίνειε καὶ ἐνθάδε καὶ ἐν τοῖς βαρβάροις; ἆρ’ οὐχ ὅσπερ χρήσεται; – Ναί. – Ἆρ’ οὖν οὐχ ὁ ἐρωτᾶν ἐπιστάμενος οὗτός ἐστιν; – Πάνυ γε. – Ὁ δὲ αὐτὸς καὶ ἀποκρίνεσθαι; – Ναί. – Τὸν δὲ ἐρωτᾶν καὶ ἀποκρίνεσθαι ἐπιστάμενον ἄλλο τι σὺ καλεῖς ἢ διαλεκτικόν; – Οὔκ, ἀλλὰ τοῦτο. – Τέκτονος μὲν ἄρα ἔργον ἐστὶν ποιῆσαι πηδάλιον ἐπιστατοῦντος κυβερνήτου, εἰ μέλλει καλὸν εἶναι τὸ πηδάλιον. – Φαίνεται. – Νομοθέτου δέ γε, ὡς ἔοικεν, ὄνομα, ἐπιστάτην ἔχοντος διαλεκτικὸν ἄνδρα, εἰ μέλλει καλῶς ὀνόματα θήσεσθαι. – Ἔστι ταῦτα. 3 In Rep. 601e5 ist zwar die Rede davon, dass der Produzent des Werkzeugs auf pisteuein bzw. pistis angewiesen ist, nicht auf doxazein bzw. doxa; aber wie aus 602a3–6 deutlich wird, macht Sokrates hier offenbar keinen Unterschied zwischen pistis orthê und doxa orthê oder fasst im Sinne des Liniengleichnisses pistis als eine Unterform der doxa auf. 4 Sokrates selbst greift auf die Formulierung zurück, nur ein entsprechender Fachmann könne erkennen, ob das Produkt eines Handwerkers »gut« (eu, 390b7; vgl. kalôs in d5) gearbeitet ist. Aber angesichts seiner einleitenden Frage in 390b1 f. kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein »gut« gearbeitetes Produkt sich durch Teilhabe an der Idee des betreffenden Werkzeugs auszeichnet – und somit durch natürliche Richtigkeit.
VII. An den Grenzen der Werkzeug-Analogie
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gesetzt hat, ist es auch keineswegs mehr rätselhaft, wie man sich die Produktion eines natürlicherweise richtigen Namens durch einen solchen Experten vorzustellen hat. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage durchaus nahe, wieso ausgerechnet Sokrates’ Ausführungen zu Gebrauch und Evaluation von Namen durch den Dialektiker den Schlussstein der Werkzeug-Analogie bilden. Allerdings halten die Überlegungen des fünften Kapitels dieser Studie auch schon eine Antwort auf diese Frage bereit. Demnach ist es deswegen so wichtig, eine Kompetenz zu identifizieren, die zu einem sachverständigen Urteil über die natürliche Richtigkeit eines Namens befähigt, weil sich ansonsten mit gutem Recht an der Intelligibilität der Konzeption der natürlichen Richtigkeit zweifeln ließe, die Sokrates in der Werkzeug-Analogie entwickelt. Denn wie sich gezeigt hat, dürfte es nicht möglich sein, ein Set von Kriterien anzugeben, anhand derer sich entscheiden lässt, ob ein bestimmter Ausdruck sich dazu eignet, ein eidos herauszugreifen, und somit natürlicherweise richtig ist; es lässt sich also keine explizite und vollständige Antwort auf die Frage geben, wie man feststellt, ob ein Ausdruck als natürlicherweise richtiger Name anzuerkennen ist. Könnte man in dieser Situation noch nicht einmal angeben, über welches partiell non-propositionale Wissen jemand verfügen muss, um die natürliche Richtigkeit eines Namens beurteilen zu können, ließe sich die Schlussfolgerung, dass sich mit dem von Sokrates entwickelten Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen nicht sinnvoll operieren lässt, kaum vermeiden. Insofern ist es durchaus angemessen, wenn Sokrates seinen Gedankengang in der Werkzeug-Analogie mit Überlegungen zur Evaluation von Namen durch den Dialektiker zum Abschluss bringt: Nur indem er dem Nomotheten einen kompetenten Kritiker an die Seite stellt, kann er die innere Stabilität des sprachphilosophischen Entwurfs der WerkzeugAnalogie gewährleisten. Zugleich wird so auch deutlich, dass dieser Entwurf in einem gewissen Sinne nicht autark ist, sondern nur unter Aufbietung philosophischer Mittel, die mit Sprachphilosophie im engeren Sinne gar nichts zu tun haben, angemessen expliziert und verteidigt werden kann.5 Es wäre daher völlig verfehlt, die Charakterisierung des Dialektikers als kompetenten Nutzer und Kritiker der Produkte des Nomotheten als bloße Fußnote zur Werkzeug-Analogie abzuqualifizieren. Das vorliegende Kapitel verfolgt dementsprechend in seinem ersten Abschnitt das Ziel, diese Charakterisierung so durchsichtig wie möglich zu machen und dabei insbesondere auch das Verhältnis zwischen der Fertigkeit des Nomotheten und der Fertigkeit des Dialektikers zu erhellen. Wie die beiden folgenden Abschnitte zeigen werden, bildet allerdings die Einführung der Figur des Dialektikers nicht nur den notwendigen Abschluss 5 Vgl. zur Notwendigkeit der Fundierung sprachphilosophischer Untersuchungen auch die Überlegungen im zweiten Abschnitt des neunten Kapitels.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
des Gedankengangs der Werkzeug-Analogie, sondern markiert zugleich auch die Grenzen dieser Analogie: Denn zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen bestehen sowohl im Hinblick auf ihren kompetenten Gebrauch als auch im Hinblick auf ihre kritische Evaluation signifikante Unterschiede. Es ist zugegebenermaßen unklar, ob Platon diese Unterschiede klar vor Augen stehen, und ob er Sokrates die Figur des Dialektikers vielleicht auch deswegen einführen lässt, weil er seine Leser auf sie aufmerksam machen will;6 aber sie dürfen keinesfalls ignoriert, sondern müssen möglichst präzise beschrieben werden, wenn die philosophische Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie nicht unvollständig bleiben soll. Insgesamt wird also das vorliegende Kapitel die Janusköpfigkeit des letzten Schritts der Entfaltung des Vergleichs zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen herausarbeiten: Es wird einerseits seine Folgerichtigkeit und innere Logik demonstrieren, andererseits aber auch deutlich machen, dass sich an ihm die Limitationen der sprachphilosophischen Perspektive studieren lassen, die Sokrates in der Werkzeug-Analogie einnimmt. Insofern komplettiert es den Argumentationsgang dieser Studie in einer wesentlichen Hinsicht, auch wenn es – anders als alle vorhergehenden und alle folgenden Kapitel – zur Beantwortung ihrer beiden Leitfragen keinen direkten Beitrag leistet.
Das Zusammenspiel zwischen Nomothet und Dialektiker
Wer die Arbeitsteilung zwischen dem Nomotheten als dem Produzenten von Namen und dem Dialektiker als Richter über ihre Tauglichkeit in ihrer Organisation durchsichtig machen will, wird sich zunächst Klarheit darüber verschaffen müssen, in welchem Sinne der Dialektiker ein (besonders) kompetenter Nutzer von Namen ist. Schließlich ist es gerade die Gebrauchskompetenz des Dialektikers, die ihn Sokrates’ Ausführungen in 390b1–d8 zufolge für die Aufgabe qualifiziert, die Produkte des Nomotheten im Hinblick auf ihre natürliche Richtigkeit zu evaluieren. Allerdings ist Sokrates in dieser Passage sehr zurückhaltend mit Auskünften darüber, inwiefern ein Dialektiker Namen besser zu nutzen versteht als ein dialektisch weniger versierter Sprecher. Er verweist nur an erster Stelle auf die Fähigkeit des Dialektikers, Fragen zu stellen, und an zweiter Stelle auf seine korrespondierende Fähigkeit, Antworten zu geben, um seine spezifische Kompetenz zu charakterisieren. Betrachtet man diese Charakterisierung in Isolation, mutet sie nicht sonderlich hilfreich an: Denn weder das Stellen noch das Beantworten von Fragen scheinen ja besondere Fertigkeiten zu erfordern. Aber 6 Mindestens einer dieser Unterschiede dürfte Platon aber durchaus bewusst sein, wie die weiteren Überlegungen dieses Kapitels zeigen werden.
VII. An den Grenzen der Werkzeug-Analogie
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wenn man Sokrates’ Erläuterung vor dem Hintergrund des Bildes liest, das in anderen Platonischen Dialogen von der Tätigkeit des kompetenten Dialektikers gezeichnet wird, kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie nicht auf die alltägliche Praxis des Fragens und Antwortens abhebt, sondern auf das Formulieren, Untersuchen und (im Idealfall) Beantworten von ti esti-Fragen – Fragen also, die auf die ousia einer Art von Gegenständen gerichtet und durch eine Definition zu beantworten sind.7 Nun ist auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres einsichtig, inwiefern sich der Gebrauch eines Namens wie dikaion bei der Formulierung der Frage ti esti to dikaion? und ihrer anschließenden Untersuchung von seinem Gebrauch bei der Formulierung eines ganz alltäglichen Satzes unterscheidet, der beispielsweise Sokrates die Eigenschaft der Gerechtigkeit zuschreibt. Denn in beiden Fällen wird ja, wie sich im dritten Kapitels dieser Studie gezeigt hat, durch den Einsatz des Namens dikaion die ousia des Gerechten herausgegriffen; nur wird sie eben im einen Fall selbst zum Thema, während sie im anderen Fall einem Gegenstand zugeschrieben wird und damit unthematisch bleibt. In beiden Fällen wird aber derselbe Akt des Nennens vollzogen, der keine andere Fertigkeit zu erfordern scheint als das Vermögen, die Lautfolge *dikaion* zu artikulieren. Wie im dritten Kapitel allerdings ebenfalls erörtert wurde, folgt aus diesem Befund nicht, dass es keinen Unterschied zwischen gutem und weniger gutem Namensgebrauch gibt. Denn Platon lässt Sokrates ja nicht nur das onomazein als Teilhandlung des legein charakterisieren, sondern gibt auch zu verstehen, dass der Name dementsprechend auch als ein Werkzeug des legein anzusehen ist. Die Handlung des legein lässt sich nun aber offenkundig in variabler Qualität ausführen: Denn während man durch die Äußerung eines Satzes wie »Sokrates ist gerecht« einen Hörer über das Bestehen einer kontingenten Tatsache informieren kann, lässt sich durch die Untersuchung einer ti esti-Frage wie »Was ist das Gerechte?« im Rahmen eines dialektischen logos bestenfalls genuines Wissen um die Definition des Gerechten gewinnen. Wer auch immer den Namen »gerecht« einsetzt, kann mit ihm unabhängig von seinen dialektischen Kompetenzen nur die ousia oder die Idee des Gerechten herausgreifen; aber während ein dialektisch nicht beschlagener Sprecher diesen Akt als Teilakt einer unter epistemischen Gesichtspunkten belanglosen sprachlichen Handlung vollziehen wird, kann ein kompetenter Dialektiker die herausgegriffene ousia auf fruchtbare Weise thematisieren und so im Idealfall genuines Wissen erwerben oder vermitteln – also eine Belehrung im eminenten Sinne ins Werk setzen.
7 Auch das dihairetische Verfahren, das in Dialogen wie dem Sophistes und dem Politikos praktiziert wird, zielt auf die Beantwortung von ti esti-Fragen ab.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Es ist freilich zuzugeben, dass dieses Ziel in vielen Platonischen Dialogen nicht erreicht wird: Denn oftmals hat der eine Gesprächspartner zwar durchaus eine tentative Meinung darüber, wie die jeweils gestellte ti esti-Frage beantwortet werden sollte, ist aber auch noch auf andere Annahmen verpflichtet, die, wie der andere, dialektisch beschlagenere Gesprächspartner durch einen elenchos nachweist, mit der gegebenen Antwort auf die ti esti-Frage inkompatibel sind;8 und dieser Nachweis führt in aller Regel dazu, dass der erste Gesprächspartner seine Antwort zurückzieht.9 Die Ausübung elenktischer Kompetenz durch einen Dialektiker wie Sokrates hat also in vielen Fällen die Widerlegung von Wissensansprüchen zum Ergebnis, nicht ihre Validierung. Vor diesem Hintergrund ist mitunter daran gezweifelt worden, ob das elenktische Verfahren überhaupt eine positive epistemische Rolle spielen kann – denn mit seiner Hilfe scheint sich nur belegen zu lassen, dass eine bestimmte These inkompatibel mit plausiblen Hintergrundannahmen und daher wahrscheinlich falsch, nicht aber, dass sie wahr ist. Aber das scheint ein voreiliger Schluss zu sein: Denn wenn es gelingt, eine Antwort auf eine ti esti-Frage gegen alle elenktischen Widerlegungsversuche zu verteidigen, ist damit zwar ihre Wahrheit nicht bewiesen, darf aber mit gutem Grund behauptet werden.10 Auch in diesem Fall scheint es – unter der Voraussetzung, dass die unwiderlegte Antwort tatsächlich wahr ist – durchaus gerechtfertigt zu sein, von Wissen zu sprechen – auch wenn es sich nicht um eine Form von Wissen handelt, die sich durch ihre uneingeschränkte und unumstößliche Gewissheit auszeichnet, sondern um eine schwächere Form,11 die sich auf die Der dialektisch erfahrene Gesprächspartner leitet also nicht etwa aus der Behauptung des Antwortenden ohne Rückgriff auf andere Prämissen die Kontradiktion dieser Behauptung ab, wie noch Robinson (21953), 27–29, angenommen hat; diese These ist bereits von Cherniss (1947), 136, widerlegt worden. Vgl. zu den Regeln einer elenktischen Widerlegung die bestechende Analyse in Stemmer (1992), 96–127. 9 Das Zurückziehen der Antwort ist die normale Reaktion auf eine elenktische Widerlegung, obwohl es nicht die einzig logisch mögliche Option ist – denn da nur nachgewiesen wird, dass die These des Antwortenden nicht mit bestimmten anderen Annahmen, auf die er sich verpflichtet hat, konsistent ist, könnte er eine dieser Annahmen aufgeben und an seiner These festhalten. Gregory Vlastos hat es als das zentrale Problem der elenktischen Methode beschrieben, dass sie in diesem Sinne nicht die Falschheit der untersuchten Antwort auf die jeweilige ti esti-Frage demonstriert, sondern nur ihre logische Unverträglichkeit mit anderen Annahmen des Antwortenden, die möglicherweise ihrerseits falsch sein könnten; siehe seinen einflussreichen Aufsatz »The Socratic Elenchus« (in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 1 [1983], 27–58, hier insbesondere 30). Peter Stemmer hat allerdings überzeugend für die These argumentiert, dass es für den Antwortenden dennoch rational ist, seine Antwort zurückzuziehen statt eine seiner anderen Annahmen aufzugeben, da die Antwort in aller Regel einen sehr tentativen Charakter hat, während die zusätzlichen Annahmen den Status von echten Überzeugungen haben: Stemmer (1992), 119–122. 10 Vgl. dazu wiederum Stemmer (1992), 142–151. 11 Man kann freilich daran zweifeln, ob Wissen dieser Art für Menschen (außerhalb des 8
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Evidenz stützt, dass sich eine Hypothese bisher in jedem ›Testfall‹ bewährt hat.12 Das Bild, das Platon in seinem Œuvre von dem epistemischen Profil dialektischer Untersuchungen zeichnet, wird dadurch etwas komplizierter, dass in einigen Dialogen, in denen das klassische elenktische Verfahren nicht im Mittelpunkt zu stehen scheint, andere Wege aufgezeigt werden, auf denen ein Dialektiker zu Wissen gelangen kann, das möglicherweise strikteren Anforderungen genügt als derjenigen der praktischen Unwiderlegbarkeit durch elenchoi. Das scheint insbesondere für die im Sonnengleichnis der Politeia beschriebene Verfahren zu gelten, mittels der dynamis tou dialegesthai auf der Grundlage von Hypothesen zur Erkenntnis eines voraussetzungslosen Prinzips zu gelangen, die dann wiederum den Erwerb von echtem Ideenwissen ermöglicht;13 aber auch für das in Dialogen wie dem Sophistes oder dem Politikos praktizierte dihairetische Verfahren,14 durch die iterierte Teilung einer Gattung in Unterarten und die Zuordnung des untersuchten eidos zu einer dieser Unterarten schließlich eine Definition dieses eidos aufzustellen. Es ist ebenso schwierig, die genaue Funktionsweise dieser Methoden zu verstehen und ihre epistemische Potenz richtig einzuschätzen, wie sie in ein Verhältnis zum elenktischen Verfahren zu setzen; und es ist zu bezweifeln, dass sich diese beiden Probleme unabhängig voneinander lösen lassen.15 Darauf kann und soll in diesem Rahmen nicht näher eingeengen Bereichs mathematischen und logischen Wissens) überhaupt zu erreichen ist. Das, was heute als paradigmatischer Fall von Wissen gilt – die belastbarsten Theorien der modernen Naturwissenschaften –, erfüllt diese Anforderung unbeschränkter und unumstößlicher Gewissheit jedenfalls nicht, sondern ähnelt in seinem epistemischen Status viel eher einer bisher in keinem elenchos widerlegten Hypothese. 12 Diese beiden Formen von Wissen werden bereits von Vlastos (1985), 11–20, unterschieden, um zu erklären, wie Sokrates, ohne sich in einen Selbstwiderspruch zu verwickeln, in manchen Kontexten behaupten kann, er wisse nichts, obwohl er in anderen Kontexten in bestimmten Hinsichten für sich Wissen in Anspruch nimmt. 13 Rep. 511b3–c2: Tὸ τοίνυν ἕτερον μάνθανε τμῆμα τοῦ νοητοῦ λέγοντά με τοῦτο οὗ αὐτὸς ὁ λόγος ἅπτεται τῇ τοῦ διαλέγεσθαι δυνάμει, τὰς ὑποθέσεις ποιούμενος οὐκ ἀρχὰς ἀλλὰ τῷ ὄντι ὑποθέσεις, οἷον ἐπιβάσεις τε καὶ ὁρμάς, ἵνα μέχρι τοῦ ἀνυποθέτου ἐπὶ τὴν τοῦ παντὸς ἀρχὴν ἰών, ἁψάμενος αὐτῆς, πάλιν αὖ ἐχόμενος τῶν ἐκείνης ἐχομένων, οὕτως ἐπὶ τελευτὴν καταβαίνῃ, αἰσθητῷ παντάπασιν οὐδενὶ προσχρώμενος, ἀλλ᾽ εἴδεσιν αὐτοῖς δι᾽ αὐτῶν εἰς αὐτά, καὶ τελευτᾷ εἰς εἴδη. 14 Auch im Philebos wird eine dihairetische Untersuchung durchgeführt, die aber nicht auf die Definition eines eidos abzielt, sondern eine differenzierte Antwort auf die Frage nach dem Wert der Lust liefern soll. 15 Denn es stellt sich in jedem Fall die Frage, ob und inwiefern die beiden Methoden – das Verfahren des hypothesengestützten Aufstiegs zur Idee des Guten mit anschließendem, hypothesenfreiem Abstieg zur Erkenntnis anderer Ideen sowie die Dihairetik – dem Problem der Negativität der Elenktik entzogen sind und dementsprechend zu positiven Nachweisen für die Wahrheit bestimmter Antworten auf ti esti-Fragen führen können.
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gangen werden. Entscheidend ist aber, dass auch diese Wege den Dialektiker im Erfolgsfall (zumindest unter anderem)16 zu Wissen um die richtige Antwort auf eine ti esti-Frage führen: Die Erkenntnis der Idee des Guten als voraussetzungsloses Prinzip17 ermöglicht nach Sokrates’ eigener Aussage erst die Erkenntnis des Gerechten;18 und die dihairetische Methode hat erfolgreiche Antworten auf die ti esti-Fragen zum Resultat, die der Eleatische Fremde im Sophistes und im Politikos im Hinblick auf den Sophisten und den Staatsmann stellt. Es ist daher zwar nicht ganz klar, unter welchen Bedingungen man in Platons Augen davon sprechen kann, dass die Anwendung dialektischer Kompetenz zum Erwerb oder zur Vermittlung von Wissen um die Antwort auf eine bestimmte ti esti-Frage führt. Das ist aber auch gar nicht der wesentliche Punkt: Entscheidend ist vielmehr, dass es im Hinblick auf die Beantwortung einer ti esti-Frage offenbar unter den richtigen Bedingungen zumindest prinzipiell möglich ist, den Bereich der bloßen Meinungen hinter sich zu lassen und zu echtem Wissen vorzustoIm Hinblick auf die in Rep. 511b–c beschriebene Erkenntnisbewegung wäre insbesondere zu klären, welche Statur die Erkenntnis der Idee des Guten hat und wie sie fundiert ist. Angesichts der Passage 534b–d scheint klar zu sein, dass diese Erkenntnis sich in einer Definition des Guten niederschlägt und die Fähigkeit involviert, diese Definition gegen alle Widerlegungsversuche zu verteidigen. Oftmals wurde in der älteren Literatur angenommen, dass die Fähigkeit zur Formulierung und Verteidigung einer Definition nur Begleitfolge einer nicht diskursiven, sondern intuitiven Erkenntnis der Idee des Guten durch eine noetische Schau sei, die allen anderen Erkenntnissen ihre Sicherheit und Gewissheit verleihe (siehe beispielsweise Cornford (1932), 187; Cross/ Woozley (1964), 252 f.; Oehler (1962), 112–119). Freilich spricht, was den Text der Politeia anbetrifft, nichts für diese Deutung außer der Sokrates’ Ausführungen durchdringenden visuellen Metaphorik, die aber keineswegs zwangsläufig in diesem Sinne auszulegen ist (vgl. dazu Sorabji (1982), 300 f., und Stemmer (1992), 216 f.); und ihrem philosophischen Gehalt nach gleicht sie einer Erklärung des Schwierigen durch das Obskure. Stemmer macht daher den radikalen Vorschlag, dass auch die Erkenntnis der Idee des Guten nur elenktisch abgesichert sein könnte, so dass die dynamis tou dialegesthai, von der in Rep. 511b4 die Rede ist, die Fähigkeit zum elenktischen Gespräch wäre (ebd., 191–225; vgl. auch die Autoren, auf die Stemmer sich beruft: Gosling (1973), 120–139; Irwin (1977a), 321 mit Anm. 47 und 336 mit Anm. 44; Sorabji (1982), 300 f.; Fine (1990), 112 f.). Es stellte sich dann allerdings, wie Stemmer explizit anerkennt (Stemmer (1992), 221–225), auch im Hinblick auf die Idee des Guten das Problem der Negativität der Elenktik. 16 Die Anwendung des dihairetischen Verfahrens führt auch zu einem Überblick über die Gliederung des untersuchten genos in Unterarten. 17 Es scheint überaus plausibel zu sein, dass Sokrates die Idee des Guten mit der unhypothetischen archê identifiziert; vgl. dazu z. B. Robinson (21953), 160; Krämer (1959), 389 f.; Ebert (1974), 186; Dixsaut (2001), 91. 18 Rep. 506a4–7: Oἶμαι γοῦν, εἶπον, δίκαιά τε καὶ καλὰ ἀγνοούμενα ὅπῃ ποτὲ ἀγαθά ἐστιν, οὐ πολλοῦ τινος ἄξιον φύλακα κεκτῆσθαι ἂν ἑαυτῶν τὸν τοῦτο ἀγνοοῦντα· μαντεύομαι δὲ μηδένα αὐτὰ πρότερον γνώσεσθαι ἱκανῶς. Sokrates drückt sich hier zwar vorsichtig aus (manteuomai), aber angesichts der Passage 511b–c im Sonnengleichnis liegt es sehr nahe, ihn in diesem Sinne zu verstehen.
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ßen. Und diese Möglichkeit verdankt sich eben der Fähigkeit des Dialektikers, mit einem Namen Akte des legein durchzuführen, die ein ganz anderes Profil aufweisen als die alltäglichen Anwendungen dieses Namens auf Gegenstände: der Fähigkeit also, eine ti esti-Frage nicht nur zu formulieren, sondern auch eine mindestens unter formalen Gesichtspunkten geeignete Antwort auf diese Frage zu geben19 und diese Antwort anhand ihrer Implikationen auf ihre Tragfähigkeit hin zu untersuchen. In keinem anderen Sinne ist es zu interpretieren, wenn Sokrates erklärt, es sei der Dialektiker, der den Namen zu gebrauchen weiß, weil er »zu fragen und zu antworten versteht«. Der erste Schritt auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis der Arbeitsteilung zwischen dem Nomotheten als Namenschöpfer und dem Dialektiker als Aufseher über seine produktive Tätigkeit ist damit getan: Es ist klar geworden, dass der Dialektiker Namen insofern kompetent zu gebrauchen versteht, als er mit ihnen fruchtbare und im Idealfall wissenserweiternde Untersuchungen von ti esti-Fragen durchzuführen vermag. Im zweiten Schritt stellt sich nun die Frage, inwiefern diese Kompetenz den Dialektiker dazu befähigt, als Richter über die Produkte des Nomotheten zu fungieren. Ihre Beantwortung fällt dann nicht schwer, wenn man sich eine wesentliche Pointe der Überlegungen des vorangehenden Kapitels ins Gedächtnis ruft. Wie bei der Diskussion von Sokrates’ Analyse des Akts der Namenseinführung deutlich geworden ist, steht hinter der Prägung eines Ausdrucks für eine bestimmte Gruppierung von Gegenständen durch einen Nomotheten ja (zumindest im Regelfall)20 dessen Überzeugung, dass diese Gegenstände eine echte Gemeinsamkeit aufweisen – also an einer stabilen ousia beziehungsweise einer Idee teilhaben – und somit eine echte Art bilden. So konnte beispielsweise der Name »Galle« deswegen eingeführt werden, weil ein Nomothet zu der richtigen Überzeugung gelangt war, dass Körperflüssigkeiten, die schwarz und bitter oder schwarz und sauer oder rot und bitter oder grün und bitter oder gelblich und bitter sind, eine Art bilden. Eine abgesicherte Antwort auf die Frage, was die benannten Gegenstände gemeinsam haben, ist hingegen den Überlegungen des vorangegangenen Kapitels zufolge nicht notwendig, um einen Namen wie »Galle« einzuführen. Ein Nomothet muss offenbar nicht wissen, dass all diese Sekrete Produkte der Auflösung von altem Fleisch sind, um für sie den gemeinsamen Namen »Galle« prägen zu können; wäre ein solches Wissen Voraussetzung für den Erfolg der Tätigkeit eines Nomotheten, müsste schließlich Bekanntermaßen reagieren einige Gesprächspartner des Sokrates auf eine ti esti-Frage zunächst mit der Aufzählung von Beispielfällen und scheitern so daran, eine unter formalen Gesichtspunkten geeignete Antwort zu formulieren: Siehe z. B. Lach. 190e–192b, Men. 71e–72a und Tht. 146c/d. 20 Freilich kann ein Nomothet auch absichtlich einen logisch komplexen Namen einführen. 19
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jede ti esti-Frage schon einmal erfolgreich beantwortet worden sein, bevor sie formuliert werden kann. Wenn ein Nomothet nicht weiß, was eine Gruppe von Gegenständen zusammenhält, für die er eine gemeinsame Bezeichnung eingeführt hat, kann er aber auch nicht wissen, ob diese Gruppe von Gegenständen tatsächlich von einer gemeinsamen ousia zusammengehalten wird. Der Nomothet, der auf die Vermutung hin, dass Körperflüssigkeiten, die schwarz und bitter oder schwarz und sauer oder rot und bitter oder grün und bitter oder gelblich und bitter sind, eine Gemeinsamkeit aufweisen, den Namen »Galle« eingeführt hat, lag mit seiner Vermutung zwar richtig. Aber solange dieser Vermutung nicht durch einen logos dieser Gemeinsamkeit abgesichert war, handelte es sich eben um eine bloße Vermutung, die sich auch als falsch hätte erweisen können – wenn sich beispielsweise herausgestellt hätte, dass die Sekrete, denen die Bezeichnung »Galle« zugeordnet wurde, zwei ganz unterschiedlichen Arten angehören.21 Mit anderen Worten: Wenn ein Nomothet eine Bezeichnung »N« für eine Gruppe von Gegenständen einführt, ohne über eine abgesicherte Antwort auf die Frage ti esti N? zu verfügen, meint er nur, dass es sich bei dieser Gruppe um eine echte Art handelt, weiß es aber nicht; und er meint daher auch nur, dass es sich bei »N« um einen natürlicherweise richtigen Namen handelt, weiß es aber nicht. Die Einführung einer Bezeichnung durch einen Nomotheten ist dementsprechend Ausdruck einer Hypothese, die es zu bestätigen gilt. Durch eine abgesicherte Antwort auf die Frage ti esti N? kann eine solche Hypothese bestätigt werden. Sobald beispielsweise deutlich geworden ist, dass diejenigen Körperflüssigkeiten, für die der Name »Galle« verwendet wird, Produkte der (möglicherweise mit anderen körperlichen Prozessen verbundenen) Auflösung von altem Fleisch sind, kann allem Anschein nach auch kein Zweifel mehr daran bestehen, dass all diese Körperflüssigkeiten eine echte Gemeinsamkeit aufweisen und daher eine Art bilden – denn es ist ja dann bekannt, um welche Gemeinsamkeit es sich handelt. Wenn es einem Dialektiker durch seine Fertigkeit möglich ist, Wissen um die Antwort auf Fragen der Form ti esti N? zu erwerben, ist er daher auch in der Lage, zu einem kompetenten Urteil darüber zu gelangen, ob ein Ausdruck »N« »gut gearbeitet worden ist oder nicht«: ob er sich also dazu einsetzen lässt, eine Art von Gegenständen mit einer gemeinsamen ousia herauszugreifen, und dementsprechend natürlicherweise richtig ist.22 Zwischen dem Dialektiker und dem Nomotheten besteht also tatsächlich genau das Verhältnis, das Sokrates’ Überlegungen im zehnten Buch der Politeia (601c–602a) In diesem Fall würde es sich bei »Galle« um einen überdeterminierten Namen im Sinne des fünften Kapitels dieser Studie handeln. 22 Ganz ähnlich interpretiert Silverman (1992a), 38, die Rolle des Dialektikers. 21
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zufolge stets zwischen dem kundigen Nutzer und dem Produzenten eines Werkzeugs besteht. Denn während der Nomothet (bestenfalls) die richtige Meinung hat, dass bestimmte Gegenstände durch eine gemeinsame ousia zusammengehalten werden und somit eine echte Art bilden, und dementsprechend die von ihm für diese Gegenstände eingeführte Bezeichnung für natürlicherweise richtig hält, gelangt ein Dialektiker (im Idealfall) in dieser Hinsicht zu Wissen, indem er eine Antwort auf diejenige ti esti-Frage entwickelt und absichert, die sich mit der eingeführten Bezeichnung formulieren lässt. Eine gewisse Schwierigkeit besteht freilich darin, dass nicht ganz klar zu sein scheint, unter welchen Bedingungen die Untersuchungen eines Dialektikers die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass mit einem bestimmten Ausdruck keine echte Art herausgegriffen werden kann. Naheliegend ist in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick die Annahme, ein derartiges negatives Urteil sei genau dann gerechtfertigt, wenn sich keine Antwort auf die Frage ti esti N? geben lässt – denn in diesem Fall scheint man mit Recht behaupten zu können, dass die Gegenstände, für die der Ausdruck »N« verwendet wird, keine echte Gemeinsamkeit aufweisen. Aber bei genauerer Betrachtung bringt diese Annahme zwei Probleme mit sich. Denn zum einen stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Dialektiker einen guten Grund dazu hat, die Suche nach einer Antwort auf eine bestimmte ti esti-Frage aufzugeben und sie für unbeantwortbar zu erklären. Er ist dazu offenbar nicht schon dann berechtigt, wenn eine plausible mögliche Antwort auf diese Frage in einem elenchos widerlegt worden oder eine dihairetische Untersuchung der Frage gescheitert ist; schließlich könnte die nächste vorgeschlagene Antwort die richtige sein, oder die nächste dihairetische Untersuchung könnte zum Erfolg führen. Aber warum sollte er dann dazu berechtigt sein, wenn hunderte mögliche Antworten auf die betreffende ti esti-Frage sich in der elenktischen Überprüfung als falsch herausgestellt haben, oder wenn hunderte dihairetische Untersuchungen gescheitert sind? Stets könnte ja der nächste Versuch, diese Frage zu beantworten, erfolgreich sein. Es ist also nicht klar, unter welchen Bedingungen die negative Diagnose, dass ein Ausdruck »N« deswegen nicht zur Unterscheidung einer ousia geeignet ist, weil es keine Antwort auf die Frage ti esti N? gibt, ausreichend abgesichert ist. Zum anderen scheint sich die Frage ti esti N? für bestimmte Ausdrücke »N« zumindest in einem gewissen Sinne beantworten zu lassen, obwohl mit diesen Ausdrücken keine ousiai herausgegriffen werden können: Bei logisch komplexen Namen lässt sich schließlich durchaus angeben, was all ihre Träger gemeinsam haben – den Trägern des Namens »Pfensch« beispielsweise ist gemeinsam, dass sie Pferde oder Menschen sind. In einem solche Fall ist freilich leicht zu erkennen, dass es sich nicht um eine echte Gemeinsamkeit – eine Übereinstimmung der Seinsweise – handelt, und dass dementsprechend ein logisch komplexer Name wie »Pfensch« kein natürlicherweise richtiger
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Name ist.23 Die Betrachtung der logisch komplexen Namen zeigt aber, dass die Möglichkeit, eine akkurate Antwort auf die Frage ti esti N? zu formulieren, nicht notwendigerweise belegt, dass die Gegenstände, für die der Ausdruck »N« verwendet wird, eine genuine Art bilden; und sie wirft daher die Frage auf, unter welchen Bedingungen sich aus der Adäquatheit einer bestimmten Antwort auf die Frage ti esti N? schließen lässt, dass »N« gerade kein natürlicherweise richtiger Name ist.24 Wie diese Probleme zu lösen sind, lässt sich den Platonischen Dialogen nicht ohne Weiteres entnehmen. Es ist auch zu bezweifeln, dass sie sich überhaupt allgemein und in abstracto lösen lassen – denn wie im fünften Kapitel deutlich geworden ist, dürfte sich die Kompetenz des Dialektikers nicht darin erschöpfen, dass er einem bestimmten Set von expliziten Regeln folgt. Insbesondere im Hinblick auf das erste dieser beiden Probleme lässt sich aber zumindest festhalten, dass man sich vermutlich ein falsches Bild von der Tätigkeit eines kompetenten Dialektikers macht, wenn man annimmt, er untersuche einzelne ti esti-Fragen in Isolation voneinander. Die Charakterisierung seiner Tätigkeit in Dialogen wie dem Sophistes, dem Politikos oder dem Philebos legt vielmehr die Vermutung nahe, dass ein Dialektiker die vollständige Artikulation eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs oder sogar der gesamten Wirklichkeit durch die Bestimmung der relevanten eidê in ihren wechselseitigen Verhältnissen anstrebt. Da Sokrates auch im Kratylos ein solches Ideal dialektischen Wissens formuliert – nämlich in der Passage 424b–425b, die im zehnten Kapitel dieser Studie noch zu diskutieren sein wird –, ist davon auszugehen, dass für ihn die dialektische Kompetenz, »zu fragen und zu antworten«, letztlich dem Ziel systematischer Erkenntnis dieses Zuschnitts verpflichtet ist. Im Idealfall wird ein Dialektiker demnach einen besseren Grund für die Schlussfolgerung haben, dass ein Ausdruck »N« nicht für die Unterscheidung einer Idee geeignet und daher kein natürlicherweise richtiger Name ist, als die Feststellung, dass alle bisherigen Versuche, die Frage ti esti N? zu beantworten, gescheitert sind: Er wird nämlich zu dem Ergebnis gelangt sein, dass es in einem bestimmten Wirklichkeitsbereich oder in der Wirklichkeit als Ganzer keinen Platz für ein eidos gibt, das dem Ausdruck »N« entspricht, und dass demnach dieser Ausdruck für eine vollständige Beschreibung des Wirklichkeitsbereichs oder der Wirklichkeit als Ganzer nicht benötigt wird. Umgekehrt werden seine Antworten auf andere ti esti-Fragen im Idealfall durch ihre EinbetVgl. zum Status der logisch komplexen Namen die Überlegungen des fünften Kapitels Es wäre denkbar, dass ein solcher Schluss genau dann gerechtfertigt ist, wenn es sich bei »N« um einen logisch komplexen Namen handelt und dementsprechend die Antwort auf die Frage ti esti N? einer logisch komplexen Beschreibung derjenigen Gegenstände, für die der Name »N« verwendet wird, gleichkommt. Aber den Dialogen lässt sich nicht entnehmen, ob der fragliche Schluss nur in diesem Fall gerechtfertigt ist. 23 24
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tung in ein systematisches Gesamtbild der Wirklichkeit abgesichert sein; und entsprechend gut wird auch sein Urteil abgesichert sein, dass den Ausdrücken, mit denen diese Fragen formuliert werden, Ideen korrespondieren.25 Auch wenn man in diesem Sinne den systematischen Charakter, den die dialektische Praxis bestenfalls aufweist, in Rechnung stellt, ist man offenkundig noch weit von einer zufriedenstellenden Beschreibung dialektischer Kompetenz entfernt – und dementsprechend auch noch weit entfernt von einem zureichenden Verständnis des Weges, der zu einer abgesicherten Antwort auf eine Frage der Form ti esti N? und damit zu einer Bestätigung der natürlichen Richtigkeit des Namens »N« führt. Vollständige Klarheit in dieser Hinsicht kann allerdings auch nicht das Ziel einer Studie zum Kratylos sein, verfolgt Platon bei der Inszenierung dieses Dialogs doch offenkundig die Strategie, die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die überragende Bedeutung dialektischer Kompetenz zu lenken, ohne dabei aber den Modus der Andeutung zu verlassen.26 Das ändert freilich nichts daran, dass zumindest in den Grundzügen klar ist, wieso Sokrates die Aufgabe, die Produkte des Nomotheten auf ihre natürliche Richtigkeit hin zu bewerten, dem Dialektiker zuschreibt. Denn ganz unabhängig davon, auf welchem Weg der Dialektiker zu abgesicherten Antworten auf ti esti-Fragen gelangt, ist jedenfalls seine Fähigkeit zur sachgerechten Untersuchung und Beantwortung solcher Fragen eo ipso auch die Fähigkeit zur sachgerechten Untersuchung und Beantwortung der Frage, ob mit einem bestimmten Ausdruck tatsächlich eine ousia herausgegriffen werden kann oder nicht – und somit der Frage, ob es sich bei diesen Ausdruck um einen natürlicherweise richtigen Namen handelt oder nicht. Diese Analyse des Zusammenhangs zwischen der Kompetenz des Dialektikers und seiner Rolle als Richter über die Produkte des Nomotheten lässt sich abrunden durch eine Beschreibung der verschiedenen Formen, in denen sich den Platonischen Dialogen zufolge die kritische Auseinandersetzung eines Dialektikers mit der Arbeit der Nomotheten vollziehen kann, die seine Sprache geschaffen haben. Im einfachsten Fall wird der Dialektiker bestätigen, dass es sich bei einem bestimmten Ausdruck tatsächlich um einen natürlicherweise richtigen Namen handelt. So liefert beispielsweise Timaios in dem bereits zitierten Passus des gleichnamigen Dialogs eine Bestätigung dafür, dass es sich bei »Galle« um einen natürlicherweise richtigen Namen handelt; und schon zuvor hat er in einer langen, selten mit gebührender Aufmerksamkeit gelesenen Passage für viele altgriechische Namen, die für die Beschreibung der empirischen Wirklichkeit unverzichtbar sind, die Frage beantwortet, was die Gegenstände, für die sie verDass Platon in diesem Sinne mit einer holistischen Konzeption von Wissen operiert, ist die zentrale These von Fine (1979). 26 Das wird im neunten und zehnten Kapitel dieser Studie noch deutlich werden. 25
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wendet werden, gemeinsam haben (58c–68d).27 In der Regel wird es freilich in den Dialogen nicht explizit festgehalten, wenn sich ein Ausdruck in einer dialektischen Untersuchung als brauchbarer Name erweist. In mindestens einem Fall zeigt sich im Verlauf einer dialektischen Untersuchung, dass ein bestimmter Ausdruck den Standard natürlicher Richtigkeit nicht erfüllt und daher aus dem Verkehr gezogen werden sollte: Der Eleatische Fremde weist in einer im fünften Kapitel bereits ausführlich diskutieren Passage des Politikos darauf hin, dass man auf den Einsatz des Ausdrucks barbaros deswegen verzichten sollte, weil ihm kein eidos entspricht. Wenn die im fünften Kapitel dieser Studie entwickelte Vermutung zutrifft, handelt es sich bei barbaros um einen überdeterminierten Namen: um einen Ausdruck also, dessen Anwendungsbedingungen einerseits denen eines logisch komplexen Namen entsprechen, dessen Anwendung auf einen Gegenstand aber andererseits Inferenzverpflichtungen mit sich bringt, die mit der Anwendung dieses logisch komplexen Namens nicht einhergehen. Da der Fremde auf ganz allgemeine Weise davor warnt, bei dihairetischen Analysen eine Gattung durch den Rückgriff auf Ausdrücke wie barbaros in bloße Teile oder merê statt in eidê zu untergliedern, wird man davon ausgehen können, dass überdeterminierte Namen ein durchaus verbreitetes Phänomen sind. Auch wenn daher an keiner anderen Stelle in den Dialogen ein Dialektiker eine so klare Empfehlung zum Verzicht auf den Gebrauch eines bestimmten Ausdrucks ausspricht, ist zumindest zu vermuten, dass die Identifizierung und Verbannung überdeterminierte Namen aus der Sprache ein wichtiger Modus der Kritik der Arbeit von Nomotheten durch einen Dialektiker ist; und mit unterdeterminierten Namen dürfte es sich nicht anders verhalten. Insbesondere in Dialogen wie dem Sophistes oder dem Politikos, die von der Anwendung des dihairetischen Verfahrens geprägt sind, geschieht es mitunTypisch ist in dieser Hinsicht Timaios’ Antwort auf die Frage, was der Name »kalt« (psychron) bezeichnet: »Indem nämlich von den den Körper umgebenden Flüssigkeiten aus größeren Bestandteilen zusammengesetzte Körper in ihn eindringen, die kleineren verdrängen, ohne sich an deren Stelle setzen zu können, machen sie dadurch, dass sie die Feuchtigkeit in uns zusammenpressen, sie aus Ungleichmäßigem und Bewegtem zu Unbeweglichem auf Grund von Gleichförmigkeit und Komprimierung und lassen sie fest werden. Was aber gegen seine Natur zusammengezogen wird, setzt sich gemäß seiner Natur zur Wehr, indem es sich selbst in die entgegengesetzte Richtung drängt. Diesem Kampfe und dieser Erschütterung wurde der Name ›Zittern‹ und ›Frösteln‹ beigelegt, und dieser Zustand sowie das ihn Bewirkende erhielt die Bezeichnung ›kalt‹« (Ti. 62a6–b6: Tὰ γὰρ δὴ τῶν περὶ τὸ σῶμα ὑγρῶν μεγαλομερέστερα εἰσιόντα, τὰ σμικρότερα ἐξωθοῦντα, εἰς τὰς ἐκείνων οὐ δυνάμενα ἕδρας ἐνδῦναι, συνωθοῦντα ἡμῶν τὸ νοτερόν, ἐξ ἀνωμάλου κεκινημένου τε ἀκίνητον δι᾽ ὁμαλότητα καὶ τὴν σύνωσιν ἀπεργαζόμενα πήγνυσιν· τὸ δὲ παρὰ φύσιν συναγόμενον μάχεται κατὰ φύσιν αὐτὸ ἑαυτὸ εἰς τοὐναντίον ἀπωθοῦν. τῇ δὴ μάχῃ καὶ τῷ σεισμῷ τούτῳ τρόμος καὶ ῥῖγος ἐτέθη, ψυχρόν τε τὸ πάθος ἅπαν τοῦτο καὶ τὸ δρῶν αὐτὸ ἔσχεν ὄνομα. Die Übersetzung ist diejenige Schleiermachers.) 27
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ter auch, dass ein Dialektiker bei seinen Einteilungen auf ein bisher anonymes eidos stößt, um dann selbst die Rolle des Nomotheten zu übernehmen und einen entsprechenden Namen einzuführen. So entdeckt beispielsweise der Eleatische Fremde im Politikos eine bisher unbenannte Unterart der technê des Gebietens, die ihren Inhaber befähigt, selbstständig Gebote und Vorgaben zu entwickeln und andere auf sie zu verpflichten, und beschließt, für diese Unterart den Namen autepitaktikê einzuführen (260c–e); und im Sophistes weist er sogar explizit darauf hin, dass viele eidê deswegen keinen Namen haben, »weil in Absicht der Teilung der Gattungen in Arten die früheren eine alte gedankenlose Trägheit hatten, so dass keiner eine solche Einteilung auch nur versuchte«.28 Ein Dialektiker ist demnach nicht nur dafür zuständig, unbrauchbare Produkte bisheriger Nomotheten aus dem Verkehr zu ziehen: Vielmehr vermag er auch festzustellen, wo bisherige Nomotheten Lücken gelassen haben, und kann diese Lücken gegebenenfalls auch selbst füllen. Die Evaluation und Kritik der Arbeit von Nomotheten durch einen Dialektiker nimmt also in den Platonischen Dialogen mindestens drei Formen an: Ein Dialektiker kann die natürliche Richtigkeit eines Namens bestätigen, indem er durch die Beantwortung der entsprechenden ti esti-Frage klärt, welche Gemeinsamkeit die Gegenstände aufweisen, für die der Name verwendet wird; er kann herausfinden, dass einem gebräuchlichen Ausdruck kein eidos korrespondiert, und dementsprechend eine Empfehlung zum Verzicht auf diesen Ausdruck aussprechen; und er kann eidê entdecken, für die bisher noch kein Name zur Verfügung steht, und einen solche Namen dann auch selbst einführen. Wie die Arbeitsteilung zwischen Nomotheten und Dialektikern funktioniert, scheint damit hinreichend klar zu sein: Nomotheten stellen Vermutungen darüber an, welche Gruppierungen von Gegenständen als echte Arten von einer ousia zusammengehalten werden, und führen auf der Grundlage solcher Vermutungen neue Ausdrücke in die Sprache ein; Dialektiker gelangen durch die Untersuchung von ti esti-Fragen zu Wissen darüber, welche Gruppierungen von Gegenständen echte Arten sind, und können auf der Grundlage dieses Wissens die natürliche Richtigkeit eingeführter Namen bestätigen, Ausdrücke aus dem Verkehr ziehen, die den Standard natürlicher Richtigkeit nicht erfüllen, und nötigenfalls auch selbst neue Namen einführen. So überzeugend dieses Bild von dem Zusammenspiel zwischen Nomotheten und Dialektikern auf den ersten Blick auch wirkt – in einer entscheidenden HinSoph. 267d4–9: Πόθεν οὖν ὄνομα ἑκατέρῳ τις αὐτῶν λήψεται πρέπον; ἢ δῆλον δὴ χαλεπὸν ὄν, διότι τῆς τῶν γενῶν κατ᾽ εἴδη διαιρέσεως παλαιά τις, ὡς ἔοικεν, ἀργία τοῖς ἔμπροσθεν καὶ ἀσύννους παρῆν, ὥστε μηδ᾽ ἐπιχειρεῖν μηδένα διαιρεῖσθαι· καθὸ δὴ τῶν ὀνομάτων ἀνάγκη μὴ σφόδρα εὐπορεῖν. Die zitierte Übersetzung von d5–8 ist diejenige Schleiermachers. 28
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sicht ist es noch unterbelichtet. In Anbetracht der Tatsache, dass der Dialektiker in den Platonischen Dialogen zweifellos mitunter die Rolle des Nomotheten übernimmt, drängt sich nämlich die Frage auf, wieso man überhaupt zwischen einem Fachmann für die Produktion von Namen und einem Fachmann für die kritische Evaluation von Namen unterscheiden sollte. Warum sollte man nicht stattdessen davon ausgehen, dass die Kompetenz, die zur Einführung natürlicherweise richtiger Namen erforderlich ist, ein Teil der dialektischen Kompetenz ist, ti esti-Fragen zu untersuchen und zu beantworten? Auch Sokrates’ Überlegungen zufolge soll ja der Dialektiker nicht nur die fertigen Produkte des Nomotheten begutachten, sondern ihre Fertigung auch beaufsichtigen – und wieso sollte er diese Aufgabe dann nicht gleich selbst übernehmen? Eine Arbeitsteilung zwischen Nomotheten und Dialektikern scheint jedenfalls nicht notwendig zu sein, wenn der Dialektiker als derjenige, der zu Wissen darüber zu gelangen vermag, welche Gruppierungen von Gegenständen echte Arten sind, selbst der kompetenteste Namensschöpfer ist. Während eine solche Position zunächst plausibel erscheinen mag, wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass zwar ein und dieselbe Person Dialektiker und Nomothet sein kann, die Unterscheidung zwischen diesen beiden Figuren aber dennoch einem wichtigen Sachverhalt Rechnung trägt: Denn zu einer richtigen Vermutung darüber zu gelangen, dass die Charakteristika einer Reihe von Gegenständen Symptom ihrer Zugehörigkeit zu einer Art sind, und auf dieser Grundlage einen Namen für diese Art einzuführen, ist eine ganz andere Aufgabe, als die ousia einer Art zu definieren und so die natürliche Richtigkeit ihres Namens zu bestätigen. Es kann nun sicherlich vorkommen, dass ein Dialektiker die ousia einer Art definiert, die bisher deswegen unbenannt geblieben ist, weil noch niemand die Hypothese aufgestellt hat, dass die zu ihr gehörigen Gegenstände eine Art bilden; und in diesem Fall wird der Dialektiker die Aufgabe des Nomotheten übernehmen. Man sollte sich aber bewusst machen, dass eine solche Situation den Status einer Ausnahme haben dürfte. Im Normalfall scheint es sich eher so zu verhalten, dass man zunächst auf die Gemeinsamkeit einer Reihe von Gegenständen, die zu einer Art gehören, aufmerksam wird, ohne gleich angeben zu können, worin diese Gemeinsamkeit besteht. Für das menschliche Weltverhältnis ist es sogar von zentraler Bedeutung, auf eine solche Gemeinsamkeit oder ousia sprachlich zugreifen zu können, ohne bereits über ihre Definition zu verfügen: Bestünde nämlich diese Möglichkeit nicht, könnte man nicht gezielt nach Definitionen suchen und auf diesem Wege im Idealfall Wissen erwerben – die Definition einer ousia müsste einem gewissermaßen in den Schoß fallen, damit man sich auf diese überhaupt beziehen kann. Der Schritt, auf der Grundlage einer Hypothese über die Zusammengehörigkeit bestimmter Gegenstände einen Namen einzuführen, der den sprachlichen Zugriff auf die betreffende Art von
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Gegenständen ermöglicht, muss also unbedingt als unverzichtbare und irreduzible Leistung des menschlichen Geistes anerkannt werden und darf keinesfalls als Abfallprodukt der systematischen Suche nach Definitionen durch einen Dialektiker missverstanden werden. Die Aufgabe des Nomotheten ist vielmehr ein zwar nicht in jedem Einzelfall, wohl aber generell gesprochen notwendiger Vorgriff, der dem Dialektiker eine Untersuchung ermöglicht, die ihn dann im Idealfall retrospektiv absichert. In diesem dynamischen Verhältnis können die Leistungen des Nomotheten und des Dialektikers zueinander nur deswegen stehen, weil sie sich in ihrem epistemischen Profil radikal voneinander unterscheiden. Diesen Unterschied zu verwischen, indem man die Fertigkeit, Namen einzuführen, mit der Fertigkeit des Dialektikers identifiziert, wäre der Sachlage daher ganz und gar unangemessen. Der Vorgriffscharakter der Tätigkeit von Nomotheten wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass es sich bei der Ergänzung einer schon sehr weit entwickelten Sprache um einzelne Namen für bisher anonyme eidê nicht um den Kern ihrer Aufgabe handeln dürfte. Vielmehr ist der Nomothet diejenige Instanz, auf die Sokrates rekurriert, um zu erklären, wieso ihm und anderen Sprechern überhaupt natürlicherweise richtige Namen zur Verfügung stehen, mit denen sich die Wirklichkeit sprachlich aufschlüsseln lässt. Den Nomotheten zeichnet daher die Fähigkeit aus, in der Konfrontation mit sprachlich weitgehend unerschlossenen Wirklichkeitsfeldern oder gar mit einer sprachlich weitgehend unerschlossenen Wirklichkeit zu richtigen Vermutungen darüber zu kommen, welche Gegenstände signifikante Gemeinsamkeiten aufweisen und somit echte Arten bilden.29 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Sokrates ihn in 389a2 f. als denjenigen Handwerker ausweist, »der bei den Menschen […] als seltenster auftritt«, und ihn so in ein beinahe mythisches Licht taucht: Denn tatsächlich könnte seine kreative Leistung kaum anspruchsvoller sein.30 Seine produktive Tätigkeit bedarf daher der steten Aufsicht und Korrektur durch dialektisch kompetente Sprecher – nur im konstanten Zusammenspiel aus kreativem Vorgriff und retrospektiver Kritik und Verbesserung kann eine Sprache entstehen, die den Strukturen der Wirklichkeit angemessen ist.31 Wobei man voraussetzen darf, dass er dabei zumindest auf einige Ausdrücke zurückgreifen kann, die den Standard der natürlichen Richtigkeit nicht erfüllen: Vgl. Anm. 50 des vorangehenden Kapitels. 30 Es ist daher völlig verfehlt, den Nomotheten mit Sedley zu beschreiben als »dwarf who sits on his [i.e. the dialecticians] shoulders« (Sedley (2003), 66) und anzunehmen, dass sich seine Aufgabe darin erschöpft, einprägsame Label für unproblematisch gegebene Gegenstandsarten zu entwickeln (ebd., 73 f.). 31 Eine solche Dynamik wird auch von Gadamer ( 72010), 432–437, beschrieben, der damit allerdings eine anti-platonische Pointe zu formulieren glaubt. 29
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
In der Figur des Nomotheten und der Figur des Dialektikers verdichten sich also zwei komplementäre, wechselseitig aufeinander angewiesene Vollzugsweisen menschlicher Sprachlichkeit: zum einen die Schöpfung neuer sprachlicher Einheiten, die den Charakter einer mehr oder minder gewagten, aber jedenfalls noch zu überprüfenden Hypothese aufweist; zum anderen der reflexiv-kritische Umgang mit diesen Einheiten, der zu einer Bestätigung oder Zurückweisung der fraglichen Hypothesen führt. Indem Platon also den Dialektiker als eine vom Nomotheten zu unterscheidende Instanz ausweist, die für die Kritik seiner Produkte zuständig ist, bereichert er die Werkzeug-Analogie keineswegs nur um ein pittoreskes Detail, sondern verleiht einer tiefen sprachphilosophischen Einsicht Ausdruck.
Grenzen der Werkzeug-Analogie (I): Der Gebrauch von Namen
Die Überlegungen des letzten Abschnitts gingen von der Beobachtung aus, dass sich aus dem Vergleich zwischen dem Dialektiker und den sachverständigen Nutzern alltäglicher Werkzeuge dann ein guter Sinn gewinnen lässt, wenn man beachtet, dass es sich bei dem Namen nicht nur um ein Werkzeug des onomazein, sondern auch um ein Werkzeug des legein handelt: Denn es ist eben niemand anderes als der Dialektiker, der die Praxis des legein so kompetent auszuüben vermag, dass er zu einem Urteil über die dabei eingesetzten Werkzeuge befähigt ist. Dennoch scheint aber zwischen dem Namen und den anderen Werkzeugen im Hinblick auf ihren Gebrauch durch die jeweiligen Fachleute ein signifikanter Unterschied zu bestehen. Bei allen anderen Werkzeugen verhält es sich schließlich zweifellos so, dass sie in bestimmter Weise gehandhabt werden müssen, wenn die Handlung, für die sie geeignet sind, vollzogen werden soll; darauf scheint Sokrates hinweisen zu wollen, wenn er in 387a–b mehrfach betont, eine Handlung müsse nicht nur mit dem natürlicherweise richtigen Werkzeug, sondern auch auf die natürlicherweise richtige Weise vollzogen werden. Man muss also wissen, wie ein Werkzeug zu handhaben ist, wenn sein Einsatz zum Erfolg führen soll. Für den Namen scheint dies indessen nicht zu gelten: Denn auch wenn dialektische Kompetenz erforderlich ist, um die Handlung des legein in ihrer besten Form auszuführen, scheint derjenige, der einen bestimmten Namen einsetzt, nicht an dem Ziel scheitern zu können, die Version des onomazein zu vollziehen, für die der betreffende Name geeignet ist. Dafür scheint nicht nur keine dialektische Kompetenz, sondern überhaupt keine Kompetenz erforderlich zu sein: Wer den Namen (beziehungsweise seine Lautgestalt) ausspricht, hat damit die Handlung des Nennens auch schon vollzogen. Ein Name ist demnach wie ein Werkzeug, das man nur in die Hand nehmen muss, um sein operatives Potenzial zu nutzen.
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Man könnte einwenden, dass für den Vollzug einer Handlung mit einem Werkzeug keineswegs in jedem Fall spezielle Fertigkeiten erforderlich zu sein scheinen. So scheint es beispielsweise nichts Einfacheres zu geben, als mit der kerkis, die ja mit dem Namen in einer besonders engen Analogiebeziehung steht, Einschlag und Kettfäden voneinander zu sondern und so die Handlung des kerkizein zu vollziehen. Aber die Tatsache, dass keine Schwierigkeit darin liegt, mit einer kerkis richtig umzugehen, ändert nichts daran, dass zwischen einem richtigen und einem falschen oder einem bestimmungsgemäßen und einem bestimmungswidrigen Umgang mit der kerkis zu unterscheiden ist, und dass nur der richtige Umgang mit einer kerkis den Vollzug des kerkizein ermöglicht. Eine kerkis kann (absichtlich oder unabsichtlich) zweckentfremdet werden: Sie lässt sich so handhaben, dass mit ihr nicht das kerkizein, sondern irgendein anderer Akt ausgeführt wird (wobei sich freilich nicht jeder Akt mit ihr ausführen lässt). Will man sie nicht zweckentfremden, muss man daher wissen, wie sie richtig eingesetzt wird – auch wenn ein solches Wissen offenkundig sehr leicht zu erwerben ist. Ein Name hingegen kann nicht zweckentfremdet werden: Wer den Namen »Apfelbaum« verwendet, wird durch seinen Einsatz unweigerlich die Art der Apfelbäume herausgreifen. Selbstverständlich lässt sich durch die Artikulation der Lautfolge *Apfelbaum* unter geeigneten Umständen auch eine andere sprachliche Handlung vollziehen; aber mit dem Namen, zu dem sie gemacht worden ist, lässt sich ausschließlich die Handlung vollziehen, für die er geschaffen wurde. Da sich ein Name in diesem Sinne unmöglich zweckentfremden lässt, scheint auch kein Wissen erforderlich zu sein, um ihn so zu gebrauchen, dass die Version des Nennens, für die er geeignet ist, vollzogen wird: Entweder man gebraucht ihn, und dann wird diese Version des Nennens auch vollzogen, oder man gebraucht ihn eben nicht. Ob tatsächlich keine Kompetenz erforderlich ist, um mit einem Namen diejenige Handlung zu vollziehen, für die er geeignet ist, wird noch zu diskutieren sein. Einstweilen gilt es aber, den Sonderstatus des Namens als eines Werkzeugs, das sich nicht (erfolgreich) zweckentfremden lässt, noch genauer zu beschreiben und im Hinblick auf seine Ursachen zu untersuchen – scheint er doch eine klare Grenze der Analogie zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen zu indizieren. Dabei empfiehlt es sich, zwei verschiedene Beispielfälle zu betrachten, die auf den ersten Blick zu zeigen scheinen, dass die Zweckentfremdung von Namen doch möglich ist: Im ersten Fall setzt ein Sprecher, der die relevanten Konventionen missverstanden hat oder unter Konzentrationsschwäche leidet, den Namen »Apfelbaum« ein, um die Art der Birnbäume herauszugreifen. Er zeigt also etwa auf einen Birnbaum und äußert den Satz »Dort steht ein Apfelbaum« mit der Absicht, die Aussage zu treffen, dass dort drüben ein Birnbaum steht. In einem gewis-
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sen Sinne verwendet nun ein solcher Sprecher den Namen »Apfelbaum« zweifellos falsch oder inkompetent. Der entscheidende Punkt ist aber, dass er nicht nur sein Ziel, mit dem Namen »Apfelbaum« die Art der Birnbäume herauszugreifen, nicht erreichen, sondern durch seinen Einsatz des Namens de facto die Art der Apfelbäume herausgreifen wird. Schließlich würde man ja, wenn er auf einen Birnbaum zeigt und den Satz »Dort steht ein Apfelbaum« äußert, kaum behaupten wollen, dass er dabei diejenige wahre Aussage trifft, die kompetente Sprecher in derselben Situation durch die Äußerung des Satzes »Dort steht ein Birnbaum« träfen; man würde aber andererseits auch nicht sagen wollen, dass er überhaupt keinen sprachlichen Akt ausführt. Viel naheliegender ist die Diagnose, dass er einen Aussageakt vollzieht, den er nicht vollziehen wollte: Er wollte sagen, dass dort drüben ein Birnbaum steht, sagt aber tatsächlich, dass dort drüben ein Apfelbaum steht. Demzufolge vollzieht er mit dem Namen »Apfelbaum« auch einen Akt des Nennens, den er nicht vollziehen wollte: Er wollte mit diesem Namen die Art der Birnbäume herausgreifen, greift aber tatsächlich die Art der Apfelbäume heraus. Ein Name lässt sich also zwar mit dem Ziel einsetzen, eine Handlung zu vollziehen, für die er nicht geeignet ist; aber (anders als im Fall aller anderen Werkzeuge) kann eine solche Handlung mit ihm nicht wirklich vollzogen, die Zweckentfremdung nicht wirklich durchgeführt werden. Inkompetenz im Namensgebrauch ist demzufolge zwar möglich, verhindert aber (anders als bei allen anderen Werkzeugen) nicht den Handlungsvollzug.32 Dieser erste Fall kontrastiert mit einem zweiten Fall, in dem man nicht behaupten würde, dass ein Sprecher, der auf einen Birnbaum zeigt und den Satz »Dort steht ein Apfelbaum« äußert, dadurch die Aussage trifft, dass dort drüben ein Apfelbaum steht. Ein solcher Fall liegt dann vor, wenn der betreffende Sprecher durchaus weiß, dass die Lautfolge *Apfelbaum* im Deutschen als Name für die Art der Apfelbäume eingesetzt wird, sie selbst aber konsequent als Name für die Art der Birnbäume verwendet. Unter dieser Voraussetzung spricht nämlich, wie Hermogenes schon zu Beginn des Kratylos bemerkt, nichts gegen die Schlussfolgerung, dass der Sprecher in seinem Idiolekt durch die Artikulation der Lautfolge *Apfelbaum* die Art der Birnbäume herausgreifen und dementsprechend durch die Äußerung des Satzes »Dort steht ein Apfelbaum« die Aussage treffen kann, die von kompetenten Sprechern des Deutschen durch die Äußerung des Satzes »Dort steht ein Birnbaum« getroffen wird. Aber auch in diesem Fall wird nicht mit einem Namen eine Handlung vollzogen, für die er ungeeignet ist: Denn der eigensinnige Sprecher verwendet eben gar nicht den deutschen Namen »Apfelbaum«, sondern einen anderen, der Lautgestalt nach identischen Namen. 32 Vgl. die analoge Analyse solcher Beispielfälle in Evans (1982), 67–70. Evans’ Überlegungen legen auch die Schlussfolgerung nahe, dass ein Name nicht zweckentfremdet werden kann.
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Es kann demnach keine Rede davon sein, dass er den deutschen Namen »Apfelbaum« inkompetent verwendet oder zweckentfremdet – vielmehr verwendet er seinen privaten Namen »Apfelbaum« kompetent und greift mit ihm die Art der Birnbäume heraus. An dem Kontrast zwischen diesen beiden Fällen – dem inkompetenten Gebrauch eines Namens, der nicht den Vollzug der Handlung verhindert, für die er geeignet ist, und dem kompetenten Gebrauch eines privaten Namens, der in seiner Lautgestalt mit einem anderen Namen übereinstimmt – wird etwas Wesentliches deutlich: Wenn man bereit ist, anzuerkennen, dass durch die Artikulation der Lautgestalt eines Namens nicht die Handlung vollzogen wird, für die er geeignet ist, sondern eine andere Handlung, scheint nämlich auch alles für die Annahme zu sprechen, dass nicht dieser Name verwendet wurde, sondern ein anderer Name, der mit ihm in seiner Lautgestalt übereinstimmt. Geht man andererseits davon aus, dass durch die Artikulation der Lautgestalt eines Namens überhaupt keine sprachliche Handlung vollzogen wird, scheint ebenfalls alles für die Annahme zu sprechen, dass nicht der Name verwendet, sondern nur die betreffende Lautfolge artikuliert wurde. Äußert beispielsweise ein Sprecher die Lautfolge *Apfelbaum*, ohne dass seine Äußerung in einen passenden Kontext eingebunden ist, würde man seinen Akt kaum als einen Vollzug des Nennens gelten lassen wollen33 – womit der Grund entfiele, seinen Akt nicht als bloße Auf den ersten Blick mag es naheliegend sein, anzunehmen, dass auch durch den isolierten, nicht in einen solchen Kontext eingebundenen Einsatz eines Namens die Handlung des Nennens vollzogen werden kann. Eine genauere Betrachtung weckt allerdings starke Zweifel an der Plausibilität dieser Annahme. Es ist nämlich sehr unklar, was es überhaupt bedeuten soll, wenn man behauptet, dass Sokrates beispielsweise durch die isolierte Verwendung des Namens »Pferd« die ousia der Pferde herausgreifen kann. Um dieser Behauptung einen klaren Sinn zu verleihen, müsste man angeben können, was den Fall, in dem durch die isolierte Verwendung eines Namens eine ousia herausgegriffen wird, von dem Fall unterscheidet, in dem durch die Äußerung einer bedeutungslosen Lautfolge wie *Blip* kein solcher Akt vollzogen wird. Der Unterschied zwischen dem Herausgreifen einer ousia durch die Verwendung eines Namens im Kontext eines Satzes wie »Sokrates ist ein Pferd« und der Artikulation einer bloßen Lautfolge im Kontext einer satzähnlichen Struktur wie *Sokrates ist ein Blip* ist vollkommen klar: Dass in jenem Fall eine bestimmte ousia herausgegriffen wird, hat die Konsequenz, dass durch die Artikulation des Satzes eine wahrheitsfähige Aussage getroffen wird, die den Aussagenden auf viele andere Aussagen verpflichtet; dass durch die Äußerung der Lautfolge *Blip* keine ousia herausgegriffen wird, hat umgekehrt die Konsequenz, dass durch die Artikulation der satzähnlichen Struktur keine wahrheitsfähige Aussage getroffen wird, die als solche Teil eines inferentiellen Netzwerks wäre. Die Tatsache, dass ein Sprecher durch die isolierte Äußerung der Lautfolge *Blip* keine ousia herausgreift, und die putative Tatsache, dass Sokrates durch die isolierte Verwendung des Namens »Pferd« die ousia der Pferde herausgreift, divergieren hingegen in ihren Konsequenzen nicht im Geringsten. Wenn ein Sprecher den Satz »Sokrates ist ein Pferd« äußert, verpflichtet ihn sein Gebrauch des Namens »Pferd« in diesem Kontext darauf, auf den Satz »Sokrates ist ein 33
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
Artikulation einer Lautfolge zu charakterisieren. Insgesamt scheint daher folgendes Prinzip zu gelten: Wann immer es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass durch die Artikulation der Lautgestalt eines Namens die Handlung vollzogen wird, für die er geeignet ist, gibt es auch keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Name tatsächlich verwendet wurde. Das Verhältnis, in dem ein Name zu der Handlung steht, die sich mit ihm vollziehen lässt, scheint also viel enger zu sein als das Verhältnis, in dem die anderen Werkzeuge zu ihren jeweiligen Aufgaben stehen: Der Name scheint gewissermaßen überhaupt nur im Vollzug der Handlung vorzukommen – er hat, im Gegensatz zu gewöhnlichen Werkzeugen, keine andere Präsenzweise, und es gibt dementsprechend auch keine andere Weise des Umgangs mit ihm.34 Dieser Umstand Lebewesen« mit Zustimmung zu reagieren; derartige Verpflichtungen resultieren aus der Artikulation der satzähnlichen Struktur *Sokrates ist ein Blip* nicht. Wenn ein Sprecher »Pferd« sagt, resultieren daraus dieselben Verpflichtungen, die sich auch aus der Äußerung der Lautfolge *Blip* ergeben – nämlich gar keine. Da zwischen den beiden Äußerungen auch sonst keine relevanten Unterschiede bestehen, gibt es keinen Grund, die eine Äußerung im Gegensatz zur anderen als Akt des Herausgreifens einer ousia zu beschreiben. Letztlich gibt es dementsprechend auch keinen Grund, die eine Äußerung im Gegensatz zur anderen als Verwendung eines Namens zu charakterisieren – es geht sozusagen nichts verloren, wenn man die isolierte Äußerung »Pferd« als Artikulation der im Deutschen als Name für Pferde fungierenden Lautfolge *Pferd* charakterisiert statt als Verwendung des deutschen Namens »Pferd«. Trifft man auf einen Sprecher, der die Lautfolge *Pferd* artikuliert, ohne dass seine Äußerung in irgendeinen Kontext eingebettet wäre, wird man dementsprechend stets mit Fragen wie »Wo ist ein Pferd?« oder »Was soll ein Pferd sein?« reagieren, weil man davon ausgehen wird, dass die Artikulation von *Pferd* Teil einer umfassenden sprachlichen Handlung sein muss. Sollten alle derartigen Fragen nicht dazu führen, dass der Sprecher unter Einsatz des Namens »Pferd« eine solche sprachliche Handlung ausführt, käme man sicherlich nicht zu der Schlussfolgerung, dass er in Isolation dieselbe Handlung des Unterscheidens eines ousia ausgeführt hat, die durch die Verwendung des Namens »Pferd« in einem Satz wie »Sokrates ist ein Pferd« vollzogen wird; man würde vielmehr sagen, dass der Sprecher aus unerfindlichen Gründen die Lautfolge *Pferd* geäußert hat. Wenn Frege in der Einleitung zu seinen Grundlagen der Arithmetik fordert, dass »nach der Bedeutung der Wörter […] im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden« (X) muss, und Wittgenstein in seinem Tractatus Logico-Philosophicus die Behauptung formuliert, ein Name habe »nur im Zusammenhang eines Satzes […] Bedeutung« (3.3), scheinen sie damit die Konsequenz aus dem soeben skizzierten (oder einem ähnlichen) Gedankengang zu ziehen. Ob Platon im Sinne der holistischen sprachphilosophischen Ansätze Freges und Wittgensteins annimmt, dass der Vollzug des onomazein durch die isolierte Verwendung eines Namens unmöglich ist, lässt sich dem Kratylos nicht entnehmen, auch wenn die Charakterisierung des Nennens als Teilhandlung des Sprechens dafür zu sprechen scheint, ihm diese Annahme zuzuschreiben. Umgekehrt legen die Ausführungen des Eleatischen Fremden in Soph. 262b9–d6 eher die Vermutung nahe, Platon halte es für möglich, durch die isolierte Äußerung von Namen wie »Pferd« die Handlung des onomazein zu vollziehen. 34 Wenn man davon ausgeht, dass die Handlung des onomazein nur im Kontext der Durchführung des legein vollzogen werden kann (vgl. die vorige Anmerkung), folgt daraus, dass ein Name nur im Vollzug des Sprechens wirklich präsent ist. Zu diesem Schluss kommt auch Thomas
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ist es, der für den Sonderstatus verantwortlich ist, der dem Namen als demjenigen Werkzeug zukommt, das sich nicht zweckentfremden lässt. Woran aber liegt es, dass der Name im Gegensatz zu gewöhnlichen Werkzeugen nicht unabhängig von der Handlung, für die er geeignet ist, vorkommen kann? Einer Antwort auf diese Frage nähert man sich am besten an, indem man sich vor Augen führt, wie ungewöhnlich die Relation zwischen einem Namen und dem phonetischen Material ist, aus dem er von einem Nomotheten geformt wurde. Wenn ein Schmied aus einem Eisenklumpen einen Bohrer macht, kann aus demselben Eisenklumpen kein anderer Bohrer mehr gemacht werden; die Eisenportion, aus der ein Bohrer besteht, kann nicht zugleich noch zu einem zweiten Bohrer formiert sein. Die Konkretheit einer Eisenportion, ihre raumzeitliche Verortung, sorgt dafür, dass sie als Ganze nicht zugleich das Material für zwei im Raum voneinander getrennte Bohrer abgeben kann, und dass keiner ihrer Teile materieller Bestandteil von mehr als einem Bohrer sein kann. Mit Lautfolgentypen verhält es sich anders, weil sie keine konkreten, raum-zeitlich verorteten Gegenstände sind: Aus demselben Lautfolgentyp können zwei Nomotheten durch die Etablierung entsprechender Konventionen zwei verschiedene Namen formen, die zur selben Zeit im Gebrauch sind. Sie können diese beiden Namen sogar derselben Sprachgemeinschaft zur Verfügung stellen, wie diverse Fälle von Homonymie belegen. Zudem kann die Lautgestalt eines Namens Teil der Lautgestalt eines anderen Namens sein. Das vergleichsweise lose Verhältnis, das zwischen einem Namen und seiner Lautgestalt besteht, hat nun offenbar die Konsequenz, dass die Artikulation der Lautgestalt eines Namens zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Verwendung des Namens ist. Damit stellt sich aber die Frage, unter welchen Bedingungen ein Name durch die Artikulation seiner Lautgestalt auch Buchheim in seinem unveröffentlichten Manuskript »Das philosophisch-argumentative Gerüst des ›Kratylos‹«: »Das Wort in seiner Wirklichkeit kann demnach gar nicht in abstracto betrachtet und von der Rede isoliert werden, sondern es gibt sozusagen echte Worte nur als geredete in einer Rede« (5). Buchheim geht allerdings davon aus, dass sich ein Name in dieser Hinsicht nicht von einem Werkzeug unterscheidet: »Das eigene Sein des Redens manifestiert sich in nichts als Worten, die aber strenggenommen nur aus der Rückblendung der durchgeführten Rede her betrachtet diese Worte und d. h. nun: ihre Mittel oder Organa sind. Unabhängig von der Tätigkeit, die sie durchführen, genommen, sind sie daher besser als ›Worthülsen‹ denn als Worte zu bezeichnen, so wie z. B. ein Messer unabhängig von der Tätigkeit des Schneidens eher eine eiserne Schnitthülse und ein Weberschiffchen unabhängig vom Weben eine hölzerne Führungshülse heißen könnte« (9 f.). Das scheint auf den ersten Blick deswegen unplausibel zu sein, weil einem Messer auch dann, wenn es gerade nicht zum Schneiden eingesetzt wird, die entsprechende Eignung zukommt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass in einem gewissen Sinne tatsächlich auch das Messer nur im Schneiden als Messer präsent ist – vgl. dazu die weiteren Überlegungen dieses Abschnitts.
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tatsächlich verwendet wird. Das scheint nur dann der Fall sein zu können, wenn der Sprecher bei der Artikulation der Lautfolge derjenigen Konvention folgt, die den Gebrauch des Namens beherrscht und sicherstellt, dass sich mit ihm eine bestimmte Art herausgreifen lässt. Wenn er dieser Konvention folgt, greift er durch seine Artikulation der Lautgestalt des Namens aber offenbar auch die betreffende Art heraus – und vollzieht somit die Version des Nennens, für die der Name geeignet ist. Mit anderen Worten: Wenn durch die Artikulation der Lautgestalt eines Namens nicht die Handlung vollzogen wird, für die er geeignet ist, kann man nicht davon sprechen, dass die Konvention befolgt wurde, die seinen Gebrauch regiert; und wenn man davon nicht sprechen kann, wird man die Artikulation der Lautgestalt auch nicht als Verwendung des Namens anerkennen können. Wenn ein Name nur im Vollzug der Version des Nennens, für die er geeignet ist, präsent sein kann, so ist dies also darauf zurückzuführen, dass das Auftreten seiner Lautgestalt keine hinreichende Bedingung für sein Vorkommen ist. Mit einem Bohrer verhält es sich deswegen anders, weil für die Dauer seiner Existenz die Eisenportion, aus der er besteht, nicht an irgendeiner Stelle in Raum und Zeit präsent sein kann, ohne dass auch der Bohrer präsent ist. Der Bohrer ist ein Gegenstand, der ein bestimmtes operatives Potenzial hat, aber als raum-zeitliches Konkretum eben auch in Zusammenhänge eingerückt sein kann, die mit diesem Potenzial nichts zu tun haben, und für uns auch in solchen Zusammenhängen greifbar ist.35 Der Name hingegen ist, so könnte man sagen, nichts anderes als ein operatives Potenzial, dessen einzige Präsenzform seine Verwirklichung im Vollzug des Nennens ist. (Es scheint daher wenig angemessen zu sein, davon zu sprechen, dass ein Name – als Zeichen oder Symbol – für eine bestimmte Sache steht. Denn diese Redeweise evoziert die Vorstellung einer Entität, die irgendwie zum Stellvertreter für die betreffende Sache gemacht wurde, aber auch in Zusammenhängen auftritt, in denen ihre Stellvertreterfunktion keine Rolle spielt. So kann aber der Name gerade nicht auftreten.) Diese tiefliegende ontologische Differenz zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeuge ist es, die in letzter Analyse dafür verantwortlich ist, dass nur gewöhnliche Werkzeuge, nicht aber Namen zweckentfremdet werden können. Entwertet ein so markanter Unterschied zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen die Werkzeug-Analogie? Macht er es vielleicht sogar irreführend, den Namen als Werkzeug des onomazein (beziehungsweise des legein) zu charakterisieren? Eine Diese Beobachtung ist durchaus mit der Einsicht kompatibel, dass sein operatives Potenzial den Bohrer erst zu dem Gegenstand macht, der er ist, und ihm demzufolge nicht so zukommt wie eine kontingente Eigenschaft, die er unbeschadet seiner Identität verlieren könnte. Zu sagen, dass ein Werkzeug ein operatives Potenzial hat, soll diesen wichtigen Punkt nicht verschleiern, sondern nur den oben erläuterten Kontrast zum Namen so klar wie möglich machen. 35
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solche Diagnose wäre voreilig. Zwar ist es zweifellos eine wichtige Beobachtung, dass Namen anders als gewöhnliche Werkzeuge nur im Vollzug der Handlung, für die sie sich eignen, überhaupt präsent sein können. Aber die Tatsache, dass die Präsenz eines gewöhnlichen Werkzeugs andere Formen annehmen kann – dass man einen Bohrer in die Ecke legen und einen Hammer zum Hammerweitwurf einsetzen kann –, scheint für seinen Status als Werkzeug irrelevant zu sein. Als Werkzeug ist es auch nur dann präsent, wenn mit ihm die Handlung durchgeführt wird, für die es geeignet ist. Ein Werkzeug zu sein, heißt schließlich nichts anderes, als für den Vollzug einer bestimmten Handlung geeignet zu sein. In das Raum-Zeit-Gefüge und gegebenenfalls in bestimmte Bewegungszusammenhänge, die mit ihrer eigentlichen Aufgabe nichts zu tun haben, eingebettet sind ein Bohrer und ein Hammer demnach nicht als Werkzeuge, sondern als materielle Gegenstände.36 Der aufgedeckte Unterschied zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen rechtfertigt daher keineswegs die Schlussfolgerung, dass der Name nicht oder nur in einem abgeschwächten Sinne als Werkzeug charakterisiert werden kann. Wenn überhaupt, rechtfertigt er die gegenteilige Schlussfolgerung, dass der Werkzeugcharakter des Namens reiner und ungebrochener ist als derjenige der gewöhnlichen Werkzeuge, weil er nicht mit den unwesentlichen Momenten verbunden ist, die mit Materialität einhergehen. Es hat also einen tiefliegenden ontologischen Grund, dass der Name sich im Gegensatz zu allen anderen Werkzeugen nicht zweckentfremden lässt. Hat der ontologische Sonderstatus, den der Name in dieser Hinsicht genießt, nun aber tatsächlich die Konsequenz, dass keine Kompetenz erforderlich ist, um durch die Verwendung eines Namens eine bestimmte Version des Nennens zu vollziehen? Auf den ersten Blick lässt sich dieser Schlussfolgerung schwerlich ausweichen: Denn wenn die Verwendung eines Namens in jedem Fall zum Vollzug der Version des Nennens führt, für die er geeignet ist, muss der Umgang eines Sprechers mit einem Namen ja auch unabhängig von seinen Kompetenzen im Vollzug dieser Version des Nennens resultieren. Wie bei genauerer Betrachtung deutlich wird, zeigt dieses Argument allerdings nicht, was es zeigen soll. Denn auch wenn die Verwendung eines Namens in jedem Fall zum Vollzug der Version des Nennens führt, für die er geeignet ist, und in diesem Sinne gar nicht misslingen kann, ist ja der Erfolg des Versuchs, einen bestimmten Namen zu verwenden, nicht notwendigerweise garantiert; und demzufolge wäre es denkbar, dass eine entsprechende Kompetenz Bedingung für die Verwendung des Namens ist. Dem ist, wie die anschließenden ÜberleMan könnte einwenden, dass es für ein Werkzeug wesentlich ist, ein materieller Gegenstand zu sein – aber wenn man diesen Einwand vorbringt, hat man den Boden der WerkzeugAnalogie offenbar schon verlassen. 36
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gungen plausibel machen sollen, tatsächlich so: In einem bestimmten Sinne erfordert die Verwendung von Namen, so unwahrscheinlich es auf den ersten Blick auch wirken mag, dialektische Kompetenz. Der Vollzug des Nennens durch den Gebrauch eines Namens hat demnach ebenso wie der Vollzug des Bohrens durch den Gebrauch eines Bohrers oder der Vollzug des kerkizein durch den Gebrauch der kerkis eine epistemische Voraussetzung; der Unterschied ist nur, dass es sich im Fall des Namens nicht um eine Voraussetzung dafür handelt, dass er nicht zweckentfremdet wird, sondern um eine Voraussetzung dafür, dass er überhaupt verwendet wird. Das ist vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen dieses Abschnitts zweifellos eine überraschende, ja fast abwegige These. Um durch die Artikulation seiner Lautgestalt einen Namen zu verwenden, muss man schließlich, wie erläutert wurde, nur der Konvention folgen, die seinen Gebrauch regiert und ihn zu dem Namen macht, der er ist.37 Das scheint aber keinerlei Kompetenz zu erfordern: Denn ein Name wie »Apfelbaum« kann auch durch einen Sprecher gebraucht werden, der die Konvention, die seinen Gebrauch regiert, missverstanden hat; und ein Sprecher scheint demzufolge nichts wissen oder können zu müssen, um dieser Konvention zu folgen und – möglicherweise sogar gegen seine unmittelbare Absicht – durch die Verwendung des Namens »Apfelbaum« die Art der Apfelbäume herauszugreifen.38 Tatsächlich wäre es aber verfehlt, aus dieser Beobachtung die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Verwendung des Namens »Apfelbaum« keine epistemischen Ermöglichungsbedingungen hat. Das wird dann deutlich, wenn man sich der naheliegenden Frage zuwendet, wieso ein Sprecher der Konvention, die den Gebrauch dieses Namens regiert, auch dann folgen kann, wenn er sie missversteht und »Apfelbaum« für einen Namen für Birnbäume hält. Seine Inkompetenz scheint ihn nämlich nur deswegen nicht daran zu hindern, dieser KonDas gilt freilich nur, wenn man von der Gültigkeit des M ODERATEN N ATURALISMUS ausgeht. Setzt man hingegen die Gültigkeit des HYPERNATURALISMUS voraus, wird man keinen Unterschied zwischen einem Namen und seiner Lautgestalt machen und dementsprechend annehmen, dass die Artikulation der Lautgestalt hinreichend für die Verwendung des Namens ist. Dem H YPERNATURALISMUS zufolge dürfte demnach für die Verwendung eines Namens auch keine Kompetenz erforderlich sein. 38 Ein Sprecher scheint freilich über Wissen generellerer Natur verfügen zu müssen, wenn die Beschreibung, er folge der Konvention, »Apfelbaum« als einen Namen für die Art der Apfelbäume zu verwenden, nicht unangemessen sein soll. Wüsste er beispielsweise nicht, dass Namen wie »Apfelbaum« verwendet werden, um Arten herauszugreifen, und wäre er nicht üblicherweise fähig, mit Namen und auch mit anderen Wortarten kompetent umzugehen, erschiene es weit weniger plausibel, seine Äußerung der Lautfolge *Apfelbaum* als eine Verwendung des Namens »Apfelbaum« gelten zu lassen. Vgl. zur Relevanz von generischem Wissen dieses Zuschnitts die Überlegungen Wittgensteins in den §§ 28–31 seiner Philosophischen Untersuchungen. 37
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vention zu folgen, weil er grundsätzlich bereit ist, sich dem Urteil kompetenter Sprecher zu unterwerfen und seinen Gebrauch des Namens »Apfelbaum« an den ihren anzupassen. Wenn ihn ein anderer Sprecher auf seinen idiosynkratischen Umgang mit diesem Namen aufmerksam macht, wird er zwar vielleicht nicht sofort einräumen, dass er die fragliche Verwendungskonvention missverstanden hat; wenn er von der Richtigkeit seines Namensgebrauchs überzeugt ist, wird ihn vielleicht erst der Widerspruch mehrerer kompetenter Sprecher oder die Lektüre eines Wörterbucheintrags zum Einlenken bringen. Entscheidend ist aber, dass er prinzipiell dieselben Namen verwenden und denselben Konventionen folgen will wie die anderen Mitglieder seiner Sprachgemeinschaft und daher prinzipiell offen dafür ist, sich in seinem Namensgebrauch von fähigeren Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft korrigieren zu lassen. Von einem Sprecher, der diese Offenheit oder Bereitschaft nicht hat, sondern beispielsweise trotz des Widerspruchs anderer ungerührt an seiner Praxis festhält, »Apfelbaum« als Name für Birnbäume einzusetzen, wird man dementsprechend ja auch nicht sagen können, dass er derselben Konvention folgt wie die übrigen Mitglieder seiner Sprachgemeinschaft: Er folgt, wie sich gezeigt hat, einer privaten Benennungskonvention und verwendet daher nicht den deutschen Namen »Apfelbaum«, sondern einen privaten Namen mit derselben Lautgestalt. Ein Sprecher muss demnach zwar nicht wissen, was die Konvention vorschreibt, die den Gebrauch eines Namens regiert, um ihr folgen und den Namen verwenden zu können; ja er kann ihr sogar dann folgen, wenn er sie missversteht.39 Aber das ist nur deswegen möglich, weil seine Sprachgemeinschaft Mitglieder hat, die wissen, was die betreffende Konvention vorschreibt, und den inkompetenten Sprecher gegebenenfalls korrigieren können. Nur so lässt sich auch erklären, wieso Laien wissenschaftliche Fachausdrücke verwenden können, deren Gebrauch sie nur teilweise überblicken: So kann auch ein Sprecher, der lediglich weiß, dass der Name »Quark« für irgendeine Art von Elementarteilchen verwendet wird, mit diesem Namen zweifellos die elementaren Bestandteile 39 Es ist eine naheliegende Frage, ob das Missverständnis einer Konvention durch einen Sprecher so massiv sein kann, dass nicht mehr sinnvollerweise behauptet werden kann, dieser Sprecher folge der betreffenden Konvention. Tatsächlich ist ja das Missverständnis des Sprechers, der annimmt, dass »Apfelbaum« als Name für die Art der Birnbäume zu verwenden ist, gar nicht so massiv, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Denn immerhin ist dieser Sprecher der richtigen Überzeugung, dass es sich bei »Apfelbaum« um einen Namen für eine Baumart handelt. Gäbe er hingegen auf die Frage, für welche Gegenstände der Name »Apfelbaum« zu verwenden ist, eine vollkommen absurde oder höchst vage Antwort, erschiene die Behauptung, er folge der Konvention, die den Gebrauch dieses Namens regiert, weitaus zweifelhafter. Vgl. Putnam (1975b), 247–249, für eine ähnliche Überlegung, die den Schluss nahelegt, dass in solchen Fällen nicht von einer Verwendung des betreffenden Namens durch den Sprecher die Rede sein kann.
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der Hadronen herausgreifen – und zwar deswegen, weil zu seiner Sprachgemeinschaft Physiker gehören, die über den korrekten Gebrauch des Namens »Quark« genau Bescheid wissen, und er bereit ist, sich auf ihr kompetentes Urteil zu verlassen. Ohne diesen von Putnam als »linguistische Arbeitsteilung« beschriebenen Mechanismus40 könnten Sprecher einer Benennungskonvention nur dann folgen, wenn sie selbst wüssten, was diese Konvention vorschreibt, und wären damit in ihren Ausdrucksmöglichkeiten enorm eingeschränkt. (Ob Platon mit der Möglichkeit sprachlicher Arbeitsteilung rechnet, lässt sich freilich weder dem Kratylos noch den anderen Dialogen entnehmen. Auf diesen Punkt wird am Ende des vorliegenden Abschnitts noch zurückzukommen sein.) Für die gegenwärtigen Überlegungen sind genaue Funktionsweise und Reichweite des Mechanismus der sprachlichen Arbeitsteilung nicht von Belang.41 Relevant ist nur die Einsicht, dass der Eindruck, das Befolgen einer Benennungskonvention und die Verwendung des Namens, dessen Gebrauch sie regiert, hätten keine epistemische Voraussetzung, täuscht: Sie setzen Wissen darüber voraus, was die Konvention vorschreibt. Nur muss eben ein individueller Sprecher nicht selbst über dieses Wissen verfügen, um den betreffenden Namen verwenden zu können, solange er bereit ist, sich auf das Urteil kompetenterer Sprecher zu verlassen – was es so leicht macht, die epistemischen Voraussetzungen des Namensgebrauchs zu übersehen. Damit ist freilich noch nicht gezeigt, dass zu diesen epistemischen Voraussetzungen die Kompetenz des Dialektikers gehört. Zu wissen, was eine Verwendungskonvention vorschreibt, und ihr daher selbstständig – also ohne sich auf die Kompetenz anderer zu verlassen – folgen zu können, scheint keineswegs ein Prärogativ des Dialektikers zu sein. Denn über ein solches Wissen scheint ein Sprecher bereits dann zu verfügen, wenn er sagen kann, was die fragliche Konvention vorschreibt. Da eine von einem kompetenten Nomotheten eingeführte Konvention den Überlegungen des vorangehenden Kapitels zufolge in der Regel vorschreibt, einen bestimmten Namen für eine Art einzusetzen, deren bisher bekannte Angehörige typischerweise gewisse Charakteristika aufweisen,42 müsste ein Sprecher daher auf den ersten Blick nur fähig sein, eine entsprechende Formel zu rezitieren, um der Konvention selbstständig folgen und mit dem Im Original: »division of linguistic labor« – Putnam (1975b), 227–229. Sehr instruktiv ist in dieser Hinsicht Burge (1989). 42 Freilich kann eine Benennungskonvention auch die korrekte Definition der ousia der benannten Art repräsentieren. Das im Folgenden entwickelte Argument zeigt nicht, dass dialektische Laien einer solchen Konvention, die nicht nur eine Spezifikation der betreffenden Art repräsentiert, nicht selbstständig folgen können. Aber auch in diesem Fall dürfte gelten, dass die Fähigkeit zur Rezitation einer entsprechenden Regel nicht mit der Fähigkeit gleichgesetzt werden sollte, ihr selbstständig zu folgen. 40 41
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Namen die betreffende Art herausgreifen zu können. Um der Konvention, die den Gebrauch des Namens »Apfelbaum« regiert, selbstständig folgen zu können, müsste er also beispielsweise auf die Frage nach der Verwendung dieses Namens antworten können: »Der Name ›Apfelbaum‹ wird für diejenige Art von Bäumen verwendet, deren bisher bekannte Angehörige typischerweise Äpfel tragen«; und um der Konvention, die den Gebrauch des Namens »Mensch« regiert, selbstständig folgen zu können, müsste er auf eine entsprechende Frage antworten können: »Der Name ›Mensch‹ wird für diejenige Art von Lebewesen verwendet, deren bisher bekannte Angehörige typischerweise zweibeinig und ungefiedert sind«. Die Form von Wissen, über die verfügen muss, wer zu solchen Antworten in der Lage sein soll, könnte man als linguistisches Wissen charakterisieren – als Wissen um den richtigen Sprachgebrauch, wie es in Wörterbüchern seinen Niederschlag findet. Mit dialektischer Kompetenz scheint Wissen dieser Form nichts zu tun zu haben. Wie bei genauerer Betrachtung deutlich wird, hat die selbstständige Befolgung von Benennungskonventionen des beschriebenen Typs de facto aber deutlich anspruchsvollere epistemische Voraussetzungen. Für solche Konventionen ist es nämlich wesentlich, dass sie vorschreiben, einen Namen für eine Art zu verwenden, deren Angehörige typischerweise bestimmte Eigenschaften haben – etwa den Namen »Mensch« für diejenige Art von Lebewesen, deren bisher bekannte Angehörige typischerweise zweibeinig und ungefiedert sind. Nur wenn man einer Konvention folgt, die eine solche Verwendung des Ausdrucks »Mensch« vorschreibt, wird man mit ihm schließlich die Art der Menschen herausgreifen können; folgte man stattdessen der Konvention, etwas genau dann als »Mensch« zu bezeichnen, wenn es sich um ein zweifüßiges, ungefiedertes Lebewesen handelt, könnte man durch den Einsatz dieses Ausdrucks die Art der Menschen nicht herausgreifen.43 Der springende Punkt ist nun, dass die Fähigkeit, unter Rückgriff auf den Ausdruck »Art« (oder einen synonymen Ausdruck) einen Satz wie »Der Name ›Mensch‹ wird für diejenige Art von Lebewesen verwendet, deren bisher bekannte Angehörige typischerweise zweibeinig und ungefiedert sind« zu formulieren, keine hinreichende Bedingung für die Fähigkeit zur selbstständigen Befolgung der betreffenden Konvention ist: Denn ein Sprecher, der einen solchen Satz formulieren kann, weiß nicht notwendigerweise so mit dem Ausdruck »Art« umzugehen, dass man sagen kann, er verstehe, was die Konvention vorschreibt, und könne ihr daher selbstständig folgen. Das wird man vielmehr nur über einen Sprecher sagen können, der über dialektische Kompetenzen verfügt.
43 Denn dann wäre »Mensch« ein logisch komplexer Name im Sinne des fünften Kapitels, und es wäre beispielsweise falsch, ihn auf einen Menschen anzuwenden, der nicht zweibeinig ist.
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Warum diese Kompetenz Voraussetzung für das adäquate Verständnis und die selbstständige Befolgung von Benennungskonventionen ist, die den Einsatz eines Namens für eine bestimmte Art vorschreiben, wird freilich erst ersichtlich, wenn man sich von einer bestimmten Vorannahme befreit hat: Man geht nämlich beinahe automatisch davon aus, dass es völlig unproblematisch ist, mit dem Ausdruck »Art« (oder einem entsprechenden Ausdruck) kompetent umzugehen, weil man einen sehr weiten, ontologisch anspruchslosen Artbegriff zugrunde legt. In diesem Sinne kann man ohne Weiteres von der Art der Dinge sprechen, die gelb, rund oder aus Plastik sind, auch wenn diese Dinge offenbar nichts gemeinsam haben; und man wird insbesondere auch nicht zögern, bei einem beliebigen allgemeinen Term »X« von »der Art der Xe« zu sprechen. Ein in diesem Sinne ontologisch nicht restringierter Artbegriff macht die Schlussfolgerung unausweichlich, dass jeder Sprecher, der überhaupt mit allgemeinen Termen umzugehen weiß, auch den Ausdruck »Art« kompetent benutzen kann. Aber wenn die Überlegungen der vorhergehenden Kapitel nicht völlig fehlgeleitet waren, ist Platons Artbegriff deutlich anspruchsvoller: Ob bestimmte Dinge dadurch eine Einheit bilden, dass ihnen durch die Teilhabe an einem eidos eine gemeinsame ousia zukommt, ist demnach vollkommen unabhängig davon, ob diese Dinge in irgendeiner Sprache einen gemeinsamen Namen haben oder nicht. Auch wenn der Vergleich hinkt, ähnelt der Platonische Artbegriff in dieser Hinsicht vermutlich eher dem Speziesbegriff der modernen Biologie – zumindest dann, wenn man biologische Klassifikationen nicht ebenfalls als menschliche Konstrukte auffasst. Man würde jedenfalls keineswegs behaupten wollen, dass ein durchschnittlicher Sprecher mit dem Ausdruck »Spezies« kompetent umzugehen versteht und beispielsweise weiß, was eine Spezies von anderen Klassen und Gruppierungen von Lebewesen unterscheidet; und ebenso wird man nicht davon ausgehen können, dass für Platon ein durchschnittlicher Sprecher kompetent mit dem Ausdruck eidos umzugehen versteht und beispielsweise weiß, wie man zu einem begründeten Urteil darüber kommt, ob bestimmte Dinge durch die Teilhabe an einem eidos zusammengehalten werden oder nicht. Dieses Wissen aber kennzeichnet, wie im fünften Kapitel herausgearbeitet wurde, den Dialektiker. Aus diesem Befund folgt selbstverständlich nicht, dass dialektische Laien nicht unter Rekurs auf den Ausdruck »Art« über Arten sprechen können. Auch Sprecher, die biologisch nicht bewandert sind, scheinen ja ohne Zweifel unter Rückgriff auf den Ausdruck »Spezies« über biologische Spezies sprechen zu können. Das hat zum einen sicherlich damit zu tun, dass ein durchschnittlicher Sprecher in der Regel zwar nicht über das Wissen des Biologen verfügt, aber zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hat, wie der Ausdruck »Spezies« zu verwenden ist, einige Spezies kennt et cetera. Aber zum anderen hat es auch damit zu
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tun, dass ein durchschnittlicher Sprecher sich auf den bereits beschriebenen Mechanismus der sprachlichen Arbeitsteilung verlassen kann – also darauf, dass seiner Sprachgemeinschaft Biologen angehören, die weit genauer als er selbst wissen, was eine Spezies ist und wie man zu einem begründeten Urteil darüber kommt, ob eine bestimmte Gruppe von Lebewesen eine Spezies bildet oder nicht. Ähnlich verhält es sich, zumindest unter Platonischen Vorzeichen, mit dem Ausdruck »Art«. Denn auch in diesem Fall gibt es Experten, die genau wissen, was eine Art ist, und wie man zu einem begründeten Urteil darüber kommt, ob bestimmte Gegenstände eine Art bilden oder nicht – und diese Experten sind die Dialektiker. Man darf sich dabei von ihrem Wissen keine falschen Vorstellungen machen: Wie sich im fünften Kapitel dieser Studie gezeigt hat, dürfte es auch einem Dialektiker nicht möglich sein, durch den Rekurs auf noch grundlegendere Begriffe zu definieren, was eine Art oder ein eidos ist, und mithin eine allgemeine Antwort auf die Frage zu formulieren, unter welchen Bedingungen eine Vielzahl von Gegenständen eine Art bildet. Vielmehr ist er fähig, Untersuchungen durchzuführen, die, wenn sie erfolgreich abgeschlossen werden, zu Wissen um die Definition der ousia einer Art führen und damit zu dem Wissen, dass es sich bei der betrachteten Gruppe von Gegenständen tatsächlich um eine Art handelt. Es ist also auch nicht der Fall, dass der Dialektiker bereits wüsste, welche Arten es gibt; er verfügt nur über die Kompetenz, zu überprüfen, ob Gegenstände eine Art bilden oder nicht, und Arten voneinander zu unterscheiden. Seine epistemische Situation ähnelt daher in dieser Hinsicht durchaus derjenigen eines Biologen: Auch der Biologe kennt selbstverständlich nicht alle Spezies oder weiß, wenn er mit einer Gruppe von Lebewesen konfrontiert wird, sofort, ob diese Lebewesen eine Spezies bilden oder nicht; aber er weiß, welche Schritte er unternehmen muss, um es festzustellen. Aufgrund dieser Fähigkeit weiß der Dialektiker, was beispielsweise die Konvention vorschreibt, den Namen »Mensch« für die Art derjenigen Lebewesen zu verwenden, die typischerweise zweifüßig und ungefiedert sind, und kann ihr selbstständig folgen.44 Das heißt freilich nicht, dass er notwendigerweise bereits eine Definition der Art der Menschen kennt; es heißt nur, dass er weiß, wie man durch die Erarbeitung einer solchen Definition zu einer Antwort auf die Frage kommt, unter welcher Bedingung die Anwendung des von der Konvention regierten Namens »Mensch« auf einen Gegenstand korrekt oder inkorrekt ist. Wenn Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt Silverman (1992a), 40, der dialektische Laien folgendermaßen vom Dialektiker abgrenzt: »However, while they merely follow the rules and practices of the language, he follows these rules and practices because he understands them.« Silverman geht freilich fälschlicherweise davon aus, dass dialektische Laien mit Namen nicht dieselben Akte ausführen wie Dialektiker. 44
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
man daher davon spricht, dass er weiß, was diese Konvention vorschreibt, so geht sein propositionales Wissen auch in dieser Hinsicht nicht unbedingt über dasjenige der dialektisch nicht bewanderten Mitglieder seiner Sprachgemeinschaft hinaus. Aber er verfügt insofern über ein zumindest teilweise non-propositionales Wissen darüber, was diese Vorschrift oder diese Regel besagt, als er eine Methode beherrscht, durch deren Anwendung sich feststellen lässt, in welchen Fällen die Verwendung des Namens korrekt ist und in welchen nicht. Was es heißt, der Konvention zu folgen, weiß er demnach in dem Sinne, dass er seine eigene Verwendung des Namens und die seiner Gesprächspartner in Orientierung an dieser Konvention kritisch zu hinterfragen und entweder durch eine adäquate Begründung als korrekt zu rechtfertigen oder als inkorrekt zu verwerfen vermag, auch wenn er nicht von Anfang an weiß, wie diese Begründung beschaffen sein muss. (Da dieses Vermögen – die dynamis tou dialegesthai – graduelle Abstufungen zuzulassen scheint, ist es allerdings vermutlich nicht vollkommen akkurat, den Dialektikern die dialektischen Laien dichotomisch entgegenzusetzen. Man sollte daher vielleicht eher davon sprechen, dass die selbstständige Befolgung von Benennungskonventionen, die den Einsatz eines Namens für eine Art vorschreiben, einen bestimmten Grad an dialektischer Kompetenz voraussetzt.45) Aus dieser Perspektive lässt sich erkennen, dass der Vergleich des Namens mit einem Werkzeug, dessen Einsatz zum Vollzug einer bestimmten Handlung nur unter bestimmten epistemischen Bedingungen möglich ist, eine so überraschende wie gewichtige philosophische Einsicht vermittelt. Man übersieht nämlich nur allzu leicht, dass bestimmte Kompetenzen erforderlich sind, um Konventionen folgen zu können, die den sprachlichen Zugriff auf die Grundstrukturen – für Platon: die eidê – des Wirklichen erlauben. Legt man sich aber beispielsweise die Frage vor, wie es möglich ist, dass wir Namen zur Unterscheidung biologischer Arten verwenden können, deren Essenzen wir noch nicht kennen, und Welchen Grad an dialektischer Kompetenz das selbstständige Befolgen solcher Benennungskonventionen voraussetzt, lässt sich in abstracto schwer angeben; erforderlich scheint zumindest die Fähigkeit zu sein, elenktische oder dihairetische Untersuchungen so durchzuführen, dass falsche Antworten auf eine ti esti-Frage als solche erkennbar werden und daher eine realistische Chance besteht, zu einer gut abgesicherten und daher mutmaßlich korrekten Antwort zu gelangen. Dass schon dies keine geringe Herausforderung ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie wenig Sokrates’ Gesprächspartner mit seiner Art der Gesprächsführung vertraut sind, wie unerwartet für sie die Widerlegung ihrer Thesen ist und wie schwer sie sich tun, mit einer solchen Widerlegung konstruktiv umzugehen. Was die Ausbildung dialektischer Kompetenz nämlich vorauszusetzen scheint, ist die kompromisslose Orientierung am Ziel des Wissenserwerbs, die ihrerseits die Einsicht voraussetzt, bisher noch nicht zu wissen, beziehungsweise die Bereitschaft, eigene Wissensansprüche beständig strengster Prüfung zu unterziehen; und diese Voraussetzungen dürften nur in wenigen Fällen erfüllt sein. 45
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gibt sich nicht mit der ganz auf die Omnipotenz von Zeigegesten vertrauenden Antwort einer fundamentalistischen direkten Referenztheorie zufrieden, so liegt die Vermutung nahe, dass sich jedenfalls ohne Rekurs auf die Institution der wissenschaftlichen, auf die Erfassung ihrer Essenz abzielenden Erforschung solcher Arten nicht erklären ließe, wie wir auf sie durch den Gebrauch entsprechender Namen zugreifen können. Denn auch wenn sich natürlich leicht angeben lässt, dass man der Konvention folgt, einen bestimmten Namen für diejenige biologische Art einzusetzen, deren bisher bekannte Angehörige typischerweise diese oder jene Charakteristika haben, kann man einer solchen Konvention ja nur dann tatsächlich folgen, wenn man weiß, was eine biologische Art ist, oder sich diesbezüglich auf das Wissen anderer Sprecher verlassen kann. Dieses Wissen aber ist eine Ressource, die von der wissenschaftlichen Praxis auch dann zur Verfügung gestellt werden kann, wenn sie noch nicht zu adäquaten Bestimmungen der betrachteten Arten geführt hat, sondern in der Entwicklung begriffen ist. Und es ist zumindest keine abwegige Vermutung, dass sich dieser Gedankengang verallgemeinern lässt: dass also der Zugriff auf die Grundstrukturen des Wirklichen überhaupt durch die Verwendung von Namen nicht die bereits abgeschlossene wissenschaftliche Erfassung dieser Grundstrukturen voraussetzt, wohl aber die Fähigkeit zu einem wissenschaftlichen Rationalitätsstandards genügenden Umgang mit diesen Namen bei ihrer Erforschung, wie er von den heutigen Wissenschaften in sehr ausdifferenzierter Form geübt und in Platons Dialogen gleichsam in seiner Urform vorgeführt wird. Der Eindruck, der die Überlegungen des vorliegenden Abschnitts anregte, erweist sich mithin als trügerisch: Es ist nicht der Fall, dass der Vollzug einer bestimmten Version des Nennens durch die Verwendung eines geeigneten Namens keine entsprechende Kompetenz voraussetzt – er ist tatsächlich ohne dialektische Kompetenz nicht möglich. Wie inzwischen aber auch deutlich geworden ist, sind es signifikante Unterschiede zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen, die für diesen trügerischen Eindruck verantwortlich sind. Dem Namen kommt nämlich, so die in dieser Hinsicht fundamentale Beobachtung, insofern ein ontologischer Sonderstatus zu, als er im Gegensatz zu allen anderen Werkzeugen nur im Vollzug derjenigen Handlung, für die er geeignet ist, überhaupt präsent sein kann – insofern er also, wie mit einer zugespitzten Formulierung gesagt wurde, ein operatives Potenzial nicht hat, sondern ist. Der ontologische Sonderstatus des Namens hat zur Folge, dass er im Gegensatz zu allen anderen Werkzeugen nicht zweckentfremdet werden kann: Er kann nicht eingesetzt werden, ohne die Version des Nennens zu vollziehen, für die er geeignet ist. Es ist dennoch dialektische Kompetenz erforderlich, um den Namen überhaupt einsetzen und so die betreffende Version des Nennens vollziehen zu können. Aber – und auch darin unterscheidet sich der Name von gewöhnlichen Werk-
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zeugen – über diese Kompetenz muss der Sprecher, der den Namen verwendet, nicht unbedingt selbst verfügen; es genügt, wenn er sich in dieser Hinsicht auf die Fertigkeiten von anderen Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft verlassen kann. Ob sich dieser zweite signifikante Unterschied zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen aus Platons Perspektive überhaupt erkennen lässt, ist freilich nicht mit letzter Sicherheit festzustellen: Denn wie bereits erwähnt wurde, lässt sich den Dialogen nicht entnehmen, ob er mit der Möglichkeit sprachlicher Arbeitsteilung rechnet, oder ob er nicht vielmehr auf ein Prinzip verpflichtet ist, das man treffend als epistemisch-semantischen Individualismus bezeichnen könnte: das Prinzip nämlich, dass dann, wenn der Gebrauch eines Namens zur Unterscheidung einer Art (oder allgemeiner: der Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks zum Vollzug eines sprachlichen Akts) eine bestimmte Kompetenz zur Voraussetzung hat, nur Sprecher den Namen (oder allgemeiner: den Ausdruck) gebrauchen können, die selbst über diese Kompetenz verfügen. Akzeptierte Platon im Gegensatz zu wichtigen Exponenten der modernen Sprachphilosophie wie Kripke, Putnam oder Burge den epistemisch-semantischen Individualismus,46 wäre für ihn tatsächlich nur derjenige dazu fähig, durch die Verwendung eines Namens eine Art herauszugreifen, der über einen bestimmten Grad an dialektischer Kompetenz verfügt. Die Analogie zwischen Namen und Werkzeugen wäre unter dieser Voraussetzung offenbar noch ungebrochener als unter der gegenteiligen Voraussetzung. Aus der Perspektive der modernen Sprachphilosophie wird man freilich den beschriebenen zweiten Unterschied zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen nicht ignorieren können. Dessen ungeachtet kann angesichts der Überlegungen dieses Abschnitts aber festgehalten werden, dass die aufgewiesenen Grenzen des Vergleichs zwischen (dem kompetenten Gebrauch von) alltäglichen Werkzeugen und (dem kompetenten Gebrauch von) Namen den Erkenntniswert der Werkzeug-Analogie nicht mindern. Ganz im Gegenteil ist es, wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, ungemein hilfreich, den Verlauf dieser Grenzen nachzuzeichnen, wenn man den Namen als sprachliche Gebrauchseinheit akkurat charakterisieren will. Dass die Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie auch und gerade da lohnt, wo sie an ihre Grenzen stößt, wird der nächste Abschnitt bestätigen. Sollte Platon auf das Prinzip des epistemisch-semantischen Individualismus verpflichtet sein, hieße das nicht unbedingt, dass er über ein Argument verfügt, das die Unmöglichkeit sprachlicher Arbeitsteilung belegt – es wäre auch denkbar, dass er nicht deswegen auf das Prinzip verpflichtet ist, weil er die Alternative ablehnt, sondern weil er sich gar nicht bewusst ist, dass es eine Alternative gibt. 46
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Grenzen der Werkzeug-Analogie (II): Die Evaluation von Namen
Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen im Hinblick auf ihren kompetenten Gebrauch signifikante Unterschiede bestehen. Im Hinblick auf ihre am jeweiligen Standard der natürlichen Richtigkeit orientierte kritische Evaluation durch einen kompetenten Nutzer verhält es sich nicht anders. Die zentrale Differenz wird dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Form die kritische Evaluation in den beiden Fällen annimmt. Ein Weber wird eine kerkis kritisch begutachten, indem er den Versuch unternimmt, mit ihr die Handlung des kerkizein zu vollziehen. Wenn diesem Versuch Erfolg beschieden ist, ist die natürliche Richtigkeit der kerkis bestätigt – was der Weber unter Umständen durch die Formulierung einer entsprechenden Aussage festhalten kann, die sich unter Verweis auf seinen erfolgreichen Handlungsvollzug auch begründen lässt. Ein Dialektiker begutachtet einen Namen, indem er die ti esti-Frage, die sich mit diesem Namen formulieren lässt, durch die Entfaltung und Absicherung eines dialektischen logos zu beantworten sucht. Gelingt ihm die Formulierung und Verteidigung eines solchen logos, scheint die natürliche Richtigkeit des Namens bestätigt zu sein. Von entscheidender Bedeutung ist nun die Beobachtung, dass der Dialektiker den logos nicht formulieren kann, ohne dabei auf andere Namen zurückzugreifen. Der Weber muss hingegen offenbar nicht auf andere kerkeis zurückgreifen, wenn er die kerkis auf eine Weise nutzen will, die ihn zu einem Urteil darüber befähigt, ob sie den Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt. Was diese Beobachtung so brisant macht, ist die Tatsache, dass der Dialektiker sich in einem bestimmten Sinne auf die natürliche Richtigkeit derjenigen Namen, mit deren Hilfe er den betreffenden logos formuliert, verlassen muss, wenn er ihn für eine Antwort auf die untersuchte ti esti-Frage hält. Denn wären diese Namen nicht natürlicherweise richtig, wäre der logos den Überlegungen des dritten Kapitels dieser Studie zufolge nicht einmal fähig zu objektiver Wahrheit – was ihn als Antwort auf eine ti esti-Frage, die ja in den Bereich möglichen Wissens fallen müsste, zweifellos disqualifizierte. Selbstverständlich kann der Dialektiker auch diejenigen Namen, die eingesetzt werden müssen, um die ti esti-Frage zu beantworten, im Hinblick auf ihre natürliche Richtigkeit überprüfen, indem er weitere ti esti-Fragen formuliert und beantwortet. Aber damit ist das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben; denn bei der Beantwortung dieser ti esti-Fragen wird er wiederum auf andere Namen zurückzugreifen haben, deren natürliche Richtigkeit er voraussetzen muss.47 Es scheint daher gar keine absolute Bestätigung der 47 Oder er greift auf irgendeiner Stufe auf den Namen zurück, dessen natürliche Richtigkeit es ursprünglich zu bestätigen galt – und verfällt damit in eine Art Zirkelschluss.
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natürlichen Richtigkeit eines Namens geben zu können, sondern nur eine relative Bestätigung – relativ auf ein bestimmtes Set von Namen, dessen natürliche Richtigkeit vorausgesetzt wird. Von der Möglichkeit einer absoluten Bestätigung der natürlichen Richtigkeit eines Namens wird man dann unkritischerweise ausgehen, wenn man annimmt, dass ein Dialektiker das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit aus einer sprach- und namensunabhängigen Perspektive betrachten kann: Dass er also gleichsam »von der Seite«48 auf seine eigene Sprache einerseits und die Wirklichkeit andererseits blicken kann, um festzustellen, ob dem Namen, dessen natürliche Richtigkeit es zu überprüfen gilt, tatsächlich ein eidos entspricht. Dabei übersieht man aber, dass, wie bereits im letzten Kapitel herausgearbeitet wurde, die eidê, die der Wirklichkeit ihre Struktur verleihen, keineswegs offen zutage liegen, sondern für uns nur durch die Sprache zugänglich sind. Ein Dialektiker kann daher allem Anschein nach nicht durch einen Akt geistigen Schauens feststellen, dass einem bestimmten Namen ein eidos entspricht, sondern vermag dies eben nur zu tun, indem er unter Rückgriff auf die Mittel, die ihm seine Sprache zur Verfügung stellt, einen entsprechenden logos entwickelt. Er kann sich daher zwar partiell von dem Instrumentarium der Sprache distanzieren, indem er die Brauchbarkeit eines der Instrumente in Frage stellt; aber um dies zu tun, muss er sich anderer sprachlicher Instrumente bedienen, deren Brauchbarkeit er nicht im selben Zug in Frage stellen kann. Er kann also keine vollständige Außenperspektive auf das Verhältnis zwischen Namen und Wirklichkeit einnehmen, weil seine Perspektive unweigerlich die des Sprechers einer Sprache ist – und somit die des Nutzers von Namen. Die Rolle des kritischen Beobachters dieses Verhältnisses lässt sich nicht einmal in der Theorie von derjenigen des Anwenders sprachlicher Werkzeuge trennen. Im Fall der anderen Werkzeuge lässt sich (zumindest in der Theorie) hingegen problemlos unterscheiden zwischen der Rolle des Anwenders und der Rolle des am Standard der natürlichen Richtigkeit orientierten kritischen Beobachters. Das heißt nicht, dass die Rollen nicht miteinander zusammenhängen – nur wer einen Bohrer zu gebrauchen versteht, kann beurteilen, ob er den Standard natürlicher Richtigkeit erfüllt. Aber diese beiden Schritte lassen sich klar voneinander abgrenzen: Im ersten Schritt wird der Bohrer nach allen Regeln der Kunst eingesetzt; im zweiten Schritt kann ein Urteil darüber formuliert und begründet werden, ob sein Einsatz zum Vollzug des Bohrens geführt hat und es sich demzufolge um einen natürlicherweise richtigen Bohrer handelt, ohne dass dafür die Verwendung anderer Bohrer nötig wäre. Dieser zweite Schritt ist daher nicht nur 48 Diese Wendung geht zurück auf John McDowell, der von einem »sideways-on picture« des Verhältnisses zwischen Begriffssystem und Wirklichkeit spricht: McDowell (1994), 35.
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von einer partiellen Distanzierung von diesem speziellen Bohrer, sondern von einer durchgängigen Unabhängigkeit von diesem Werkzeugtyp gekennzeichnet. Eine solche Haltung kritischer Distanziertheit ist nur einem Wesen möglich, das eine Sprache einsetzen kann, um zu fragen, ob der betrachtete Bohrer für Bohrungen an einem bestimmten Material geeignet ist, um festzustellen, dass es sich so verhält, und um dem Bohrer dementsprechend natürliche Richtigkeit zu attestieren;49 bei einem Wesen, das über solche Fähigkeiten nicht verfügt, würde man schwerlich davon sprechen können, dass es überhaupt eine epistemisch relevante, an der Norm der natürlichen Richtigkeit orientierte Haltung zu einem Bohrer oder einem anderen Werkzeug einnehmen kann.50 Die Namen als Werkzeugklasse strukturieren daher den menschlichen Umgang mit der Wirklichkeit auf eine ganz andere Weise als alle anderen Werkzeuge.51 Alle anderen Werkzeuge ermöglichen uns einen bestimmten Umgang mit (bestimmten Aspekten) der Wirklichkeit, von dem wir uns aber jederzeit zugunsten eines sprachlichen Umgangs mit (diesen Aspekten) der Wirklichkeit distanzieren können, der auf der Verwendung von Namen beruht. Mit einem Bohrer können wir ein bestimmtes Material in einer bestimmten Weise bearbeiten; aber wir können dieses Material auch beschreiben, das Ziel charakterisieren, das wir durch die Bearbeitung dieses Material erreichen wollen, und erklären, inwiefern ein Bohrer brauchbar oder unbrauchbar für diese Aufgabe ist, ohne dazu andere Bohrer einsetzen zu müssen. Wir gebrauchen also alle anderen Werkzeuge in einer für uns sprachlich erschlossenen Wirklichkeit, während Namen diejenigen Werkzeuge sind, durch die wir uns die Wirklichkeit sprachlich erschließen. Dieser von den Werkzeugen der betreffenden Art unabhängige sprachliche Zugriff auf die Wirklichkeit, die durch den Einsatz des Werkzeugs verändert wird und zu der sowohl das Werkzeug selbst als auch die mit ihm vollzogene Handlung gehören, ermöglicht uns die epistemisch anspruchsvolle Evaluation von Werkzeugen dieser Art. Namen sind also – unter anderem – die universell anwendbaren Werkzeuge der kritischen Evaluation von Werkzeugen; und es scheint keine andere Möglichkeit zu geben, als sich auch bei der kritischen Evaluation von Namen auf Namen zu verlassen. Von unserem sprachlichen, Freilich muss ein solches Wesen nicht in jedem Fall sein Urteil und dessen Begründung explizit formulieren; aber wäre es dazu nicht in der Lage, dürfte es auch kaum fähig sein, in foro interno zu reflektieren und zu urteilen. 50 Auch hochentwickelte Tiere, die in der Lage sind, Werkzeuge einzusetzen, können in einem gewissen Sinne eine Haltung zu diesen Werkzeugen einnehmen: Sie können beispielsweise einen Stock, der sich als geeignet für den Vollzug einer bestimmten Handlung erwiesen hat, weiterhin zu diesem Zweck einsetzen, einen anderen, ungeeigneten Stock hingegen zur Seite legen. Aber man würde kaum sagen wollen, dass diese Verhaltensweisen ein normatives Urteil über die betreffenden Stöcke zum Ausdruck bringen. 51 Das sieht ganz richtig Derbolav (1972), 84 f. 49
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namensvermittelten Zugriff auf die Wirklichkeit können wir uns demnach nicht auf dieselbe Weise distanzieren wie von dem Zugriff auf die Wirklichkeit, den uns andere Werkzeuge ermöglichen. Die Namen haben also, weil sie es uns erst ermöglichen, in eine genuin epistemische Beziehung zur Wirklichkeit zu treten, einen epistemologischen Sonderstatus.52 Der epistemologische Sonderstatus des Namens bringt nun aber ein Problem mit sich, das es fragwürdig erscheinen lassen kann, ob es überhaupt möglich ist, zu erkennen, welche Ausdrücke natürlicherweise richtige Namen sind und welche nicht53 – oder ob die kritische Evaluation von Namen nicht vielleicht Beschränkungen unterliegt, die im Fall der anderen Werkzeuge keine Parallele haben. Dieses Problem hängt eng mit dem bereits erörterten Umstand zusammen, dass ein Dialektiker die natürliche Richtigkeit eines Namens nur durch die Beantwortung der entsprechenden ti esti Frage bestätigen kann – und sich dabei darauf verlassen muss, dass die Ausdrücke, die er zur Formulierung der Antwort einsetzt, ihrerseits den Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen. Auch wenn er diese Ausdrücke im nächsten Schritt ebenfalls auf ihre natürliche Richtigkeit überprüfen kann, scheint die kritische Evaluation von Namen doch an eine prinzipielle Grenze zu stoßen: Denn auch im besten Fall wird ein Dialektiker nur zu dem Ergebnis kommen, dass sich die natürliche Richtigkeit eines jeden Mitglieds eines bestimmten Sets von Ausdrücken durch den Einsatz von Ausdrücken, die ebenfalls zu diesem Set gehören, bestätigen lässt. Er scheint also durch die Aufstellung eines geschlossenen Systems von Antworten auf ti esti-Fragen nur zeigen zu können, dass die betreffenden Ausdrücke sozusagen wechselseitig ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit stützen – aber eben nicht mehr als das.54 Die Frage ist nun aber, ob ein Dialektiker, dem in diesem Sinne der Nachweis der Stimmigkeit eines Sets von Ausdrücken gelungen ist, auch tatsächlich die natürliche Richtigkeit dieser Ausdrücke demonstriert hat. Warum, so der naheGadamer, der die wirklichkeitserschließende Funktion von Namen hervorhebt, hält es sogar für irreführend, den Gebrauch von Sprache mit dem Gebrauch von Werkzeugen zu vergleichen: »Die Sprache ist überhaupt nicht da wie ein bloßes Werkzeug, zu dem wir greifen, das wir uns herrichten, um mit ihm mitzuteilen und zu unterscheiden« (Gadamer ( 72010, 410; vgl. 418– 422)). Er scheint allerdings auch deswegen so weit zu gehen, weil seiner Analyse zufolge die Werkzeug-Analogie dem Missverständnis des Namens als Stellvertreter für eine unproblematisch gegebene Sache den Boden bereitet – was, wie das letzte Kapitel gezeigt hat, keineswegs der Fall ist. 53 Dieses Problem wird von Ackrill (1994), 27, richtig diagnostiziert. Ackrill zieht aus seiner Diagnose allerdings den falschen Schluss: S. u., Anm. 61. 54 Es ist freilich auch denkbar, dass zu diesem Set eine Reihe von ›basalen‹ Ausdrücken gehört, mittels derer alle ti esti-Fragen, die sich unter Einsatz der anderen Ausdrücke des Sets formulieren lassen, beantwortet werden können. Auch dieses Szenario ist aber nicht weniger problematisch – denn was würde die natürliche Richtigkeit der ›basalen‹ Ausdrücke garantieren? 52
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liegende skeptische Einwand, sollte es nicht ein Set von Ausdrücken geben können, die ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen, obwohl sie de facto den Standard natürlicher Richtigkeit nicht erfüllen? Bemerkenswerterweise konfrontiert Sokrates Kratylos in 436c7–d7 mit einem ähnlichen Einwand: Kratylos hat zuvor, in 436c2–6, argumentiert, dass es deswegen keinen Zweifel an der (im Sinne des Hypernaturalismus verstandenen)55 natürlichen Richtigkeit der griechischen Namen geben kann, weil sie sich in ihrem Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen: Weil man nämlich, indem man einige von ihnen als natürlicherweise richtig anerkennt, eine Herakliteische Flussontologie akzeptiert, nach der alle Dinge sich stets in Bewegung befinden – und damit keinen Grund hat, die natürliche Richtigkeit der anderen Namen zu bezweifeln, die ebenfalls von der Gültigkeit der Flusslehre garantiert wird. Wie Sokrates sofort geltend macht, belegt aber diese Stimmigkeit der griechischen Namen nicht die Theorie Heraklits und beweist daher auch nicht ihre natürliche Richtigkeit; sie zeigt höchstens, dass die Schöpfer der griechischen Sprache von der Gültigkeit dieser möglicherweise falschen Theorie überzeugt waren und sich bei der Einführung von Namen von ihr haben leiten lassen.56 In dieser konkreten Form stellt seine Überlegung freilich nur einen Vertreter des Hypernaturalismus wie eben Kratylos vor eine Schwierigkeit. Ihrer abstrakten Struktur nach verweist sie aber auf ein Problem, das sich vollkommen unabhängig davon stellt, welche Theorie der natürlichen Richtigkeit man voraussetzt: Beim Versuch, die Sprache kritisch mit der Wirklichkeit abzugleichen, scheint man stets nur feststellen zu können, dass bestimmte Ausdrücke ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen – und somit auf einen sicheren Beleg für ihre natürliche Richtigkeit verzichten zu müssen.57 Es wird in dieser Phase des Dialogs immer noch vorausgesetzt, dass die Richtigkeit der Namen von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängig ist, auch wenn Sokrates schon nachgewiesen hat, dass die Richtigkeit eines Namens nicht in jedem Fall auf diese Weise erklärt werden kann. Vgl. zum Status seines Nachweises die Überlegungen des elften Kapitels. 56 Vgl. zu diesem Punkt die Überlegungen des neunten und zehnten Kapitels. 57 Aber könnte nicht Kratylos argumentieren, dass man einen Ausdruck am hypernaturalistisch ausgelegten Standard der natürlichen Richtigkeit messen kann, indem man die entsprechende ti esti-Frage beantwortet und dann überprüft, ob die etymologische Bedeutung oder der mimetische Gehalt des Ausdrucks zu der gewonnenen Antwort passt? Dieser Weg aus der beschriebenen Schwierigkeit ist deswegen versperrt, weil unter Voraussetzung der Gültigkeit des H YPERNATURALISMUS die Ausdrücke, die bei der Beantwortung der betreffenden ti esti-Frage eingesetzt werden, ja ihrerseits natürlicherweise richtige Namen im Sinne des H YPERNATURALISMUS sein müssen, wenn die formulierte Antwort auch nur zu objektiver Wahrheit fähig sein soll. Bei der Bestätigung der natürlichen Richtigkeit von Ausdrücken muss also zwangsläufig die natürliche Richtigkeit anderer Ausdrücke vorausgesetzt werden. 55
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Dieses Problem lässt sich sogar noch verschärfen: Denn tatsächlich scheint sogar eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Sets von Ausdrücken möglich zu sein, die in sich im beschriebenen Sinne stimmig sind. Es könnte schließlich zwei solche Sets von Ausdrücken geben, die insofern unverträglich miteinander sind, als sich unter Voraussetzung der natürlichen Richtigkeit der Ausdrücke, die zu dem einen Set gehören, die natürliche Richtigkeit der Ausdrücke, die zu dem anderen Set gehören, nicht bestätigen lässt, und umgekehrt. Auf ganz ähnliche Weise verschärft auch Sokrates sein Argument gegen Kratylos’ These, die Stimmigkeit der griechischen Namen belege ihre natürliche Richtigkeit: So macht er Kratylos in 436d–437d zunächst darauf aufmerksam, dass es auch eine ganze Reihe von griechischen Namen gibt, die nur dann als natürlicherweise richtig im Sinne des Hypernaturalismus gelten können, wenn nicht, wie die Herakliteische Flusslehre besagt, alle Dinge in Fluss und Bewegung begriffen sind, sondern eine grundsätzliche Stabilität das Wirkliche kennzeichnet. Die griechische Spreche zerfiele demnach in (mindestens) zwei Sets von Namen, die ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit jeweils wechselseitig stützen, obwohl unmöglich die Namen beider Sets diesen Anspruch auch tatsächlich erfüllen können. In 438d2–5 richtet Sokrates seine Aufmerksamkeit dann auf die naheliegende Frage, wie sich in einer solchen Situation überhaupt noch entscheiden lassen sollte, welches der beiden Sets die natürlicherweise richtigen Namen enthält: Wenn also die Namen sich im Streit befinden, und die einen sagen, sie selbst seien die der Wahrheit ähnlichen, die anderen aber, sie seien es – wodurch sollen wir es noch entscheiden, oder auf was zurückgehen? Denn auf andere Namen, verschieden von diesen, können wir wohl nicht zurückgehen; es gibt nämlich keine.58
Wiederum hat Sokrates’ Überlegung ihrer Struktur nach eine Relevanz, die über den Kontext, in dem sie vorgetragen wird, hinausweist. Denn unabhängig von der Theorie der natürlichen Richtigkeit, die man zugrunde legt, ist ja mit der Möglichkeit zweier in sich stimmiger Sets von Ausdrücken, die aber nicht beide natürlicherweise richtige Namen enthalten können, zu rechnen. In einer solchen Situation wäre aber allem Anschein nach gar nicht ohne Weiteres feststellbar, bei welchen Ausdrücken es sich um natürlicherweise richtige Namen handelt; es ist schließlich, wie Sokrates anmerkt, nicht klar, welche weitere Erwägung in dieser Frage den Ausschlag geben sollte, wenn doch die Ausdrücke in beiden Sets ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit gleichermaßen wechselseitig stützen 438d2–5: Ὀνομάτων οὖν στασιασάντων, καὶ τῶν μὲν φασκόντων ἑαυτὰ εἶναι τὰ ὅμοια τῇ ἀληθείᾳ, τῶν δ᾽ ἑαυτά, τίνι ἔτι διακρινοῦμεν, ἢ ἐπὶ τί ἐλθόντες; οὐ γάρ που ἐπὶ ὀνόματά γε ἕτερα ἄλλα τούτων· οὐ γὰρ ἔστιν [.] 58
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und keine ›neutralen‹ Ausdrücke zur Überprüfung dieses Anspruchs verfügbar zu sein scheinen.59 Es ist eine veritable skeptische Aporie, in die Sokrates seinen Gesprächspartner Kratylos hier führt: Denn seine Analyse legt die Schlussfolgerung nahe, dass ein mit einem »Streit« unter Namen konfrontierter Dialektiker aus prinzipiellen Gründen nicht wissen kann, welche der Ausdrücke, die sich im »Streit« gegenüberstehen, tatsächlich natürlicherweise richtige Namen sind. Mehr noch: Ein Dialektiker scheint nie wissen zu können, ob die Ausdrücke, deren natürliche Richtigkeit er unter Rückgriff auf andere Ausdrücke bestätigt zu haben glaubt, diesen Standard wirklich erfüllen, oder ob er nicht vielmehr von einem Set von Ausdrücken in die Irre geführt wird, die ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen, ohne aber natürlicherweise richtige Namen zu sein. Man kann leicht den Eindruck gewinnen, eine solche skeptische Schlussfolgerung lasse sich nur vermeiden, indem man bestreitet, dass ein Dialektiker Ausdrücke unter Rekurs auf andere Ausdrücke im Hinblick auf ihre natürliche Richtigkeit untersuchen muss – indem man also annimmt, dass er ohne den Einsatz von Namen und damit ohne den Einsatz von Sprache natürlicherweise richtige Namen als solche erkennen kann. Und tatsächlich scheint Sokrates den Knoten, den er durch seine Ausführungen zum »Streit« der Namen geschnürt hat, durch das Postulat einer sprachunabhängigen Form der Erkenntnis durchschlagen zu wollen: Sondern offenkundig muss etwas anderes als Namen gesucht werden, was uns ohne Namen offenbaren wird, welche von diesen die wahren sind, offenkundig, indem es uns die Wahrheit über die Seienden zeigt. […] Es ist also, wie es scheint, Kratylos, möglich, ohne Namen die Seienden kennenzulernen, wenn diese Dinge sich so verhalten.60
Ist dies also der Schluss, den Sokrates’ Überlegungen in 436a–438e motivieren sollen: dass die Behauptung, ein Dialektiker könne erkennen, bei welchen Ausdrücken es sich um natürlicherweise richtige Namen handelt und bei welchen nicht, gegen skeptische Einwände nicht verteidigt werden kann, wenn man Selbst wenn es gebräuchliche Ausdrücke geben sollte, die keinem der beiden Sets angehören, wären dies keine ›neutralen‹ Ausdrücke – denn auch sie würden einen Anspruch auf natürliche Richtigkeit erheben, der nicht einfach unkritisch akzeptiert werden darf. Auf solche Ausdrücke könnte man sich also auch nicht verlassen, um den »Streit« der Namen zu entscheiden. 60 438d5–e3: […] ἀλλὰ δῆλον ὅτι ἄλλ᾽ ἄττα ζητητέα πλὴν ὀνομάτων, ἃ ἡμῖν ἐμφανιεῖ ἄνευ ὀνομάτων ὁπότερα τούτων ἐστὶ τἀληθῆ, δείξαντα δῆλον ὅτι τὴν ἀλήθειαν τῶν ὄντων. […] Ἔστιν ἄρα, ὡς ἔοικεν, ὦ Κρατύλε, δυνατὸν μαθεῖν ἄνευ ὀνομάτων τὰ ὄντα, εἴπερ ταῦτα οὕτως ἔχει. 59
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im Sinne der bisherigen Überlegungen des gegenwärtigen Abschnitts von der Sprachgebundenheit des menschlichen Erkennens ausgeht – und man lieber das seinerseits offenkundig hochgradig problematische Postulat einer sprachunabhängigen Form der Erkenntnis akzeptieren sollte, als sich diesen Einwänden zu ergeben?61 Das wird man verneinen müssen. Denn Sokrates selbst zieht diesen Schluss keineswegs: Nachdem er erklärt hat, es müsse möglich sein, »ohne Namen die Seienden kennenzulernen«, beginnt er nämlich in 439b, Argumente zu formulieren, die Heraklits Flusstheorie als unhaltbar erweisen und so die Frage entscheiden sollen, welche der sich im »Streit« gegenüberstehenden Ausdrücke den im Sinne des Hypernaturalismus ausgelegten Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen. Er ist also weit entfernt davon, sich auf eine sprachunabhängige Wirklichkeitsschau zu verlassen – was höchst merkwürdig wäre, wenn er kurz zuvor tatsächlich gezeigt hätte, dass ein Dialektiker sich auf eine solche Schau verlassen muss, wenn er Ausdrücke im Hinblick auf ihre natürliche Richtigkeit untersuchen will. Wie aber gelingt es Sokrates dann, die von ihm selbst aufgezeigte Schwierigkeit zu bewältigen, dass er mit zwei Sets von Ausdrücken konfrontiert ist, die ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit gleichermaßen wechselseitig stützen? Er unternimmt jedenfalls konsequenterweise nicht den – seinen bisherigen Überlegungen zufolge ja zum Scheitern verurteilten – Versuch, durch die Beantwortung von ti esti-Fragen zu klären, welche Ausdrücke diesen Anspruch zurecht erheben. Sein Ansatz ist ein ganz anderer: Er untersucht, wie die Wirklichkeit beschaffen sein muss, wenn es möglich sein soll, wahre Aussagen über sie zu treffen (439d/e) und zu Erkenntnis über sie zu gelangen (439e–440c). Als Bedingung dieser Möglichkeit erweist sich die Falschheit von Heraklits Flusstheorie, und damit die Stabilität (bestimmter Aspekte) der Wirklichkeit.62 Akzeptiert man
Als Argument für die Annahme einer sprachfreien Form der Wirklichkeitserkenntnis werden Sokrates’ Überlegungen etwa von Silverman (2001) interpretiert; vgl. Derbolav (1962), 201– 207, Ackrill (1994), 27 f., und (mit Einschränkungen) Trabattoni (2016), 127–131. Oftmals wird freilich auch die These vertreten, Sokrates wolle in 438d5–e3 nur darauf hinaus, dass man eine von der etymologischen Analyse von Namen unabhängige, aber durchaus auf dem Gebrauch von Namen beruhende Wirklichkeitserkenntnis anzustreben hat: Siehe etwa Sedley (2003), 162, und Ademollo (2011), 445. Diese Deutung ist deswegen unbefriedigend, weil sie einerseits nicht der Schwierigkeit Rechnung trägt, dass wir uns auf die natürliche Richtigkeit der Namen, auf die wir bei der Untersuchung der Wirklichkeit zurückgreifen, verlassen müssen, und andererseits nicht den speziellen Charakter der Reflexionen über den Bau der Wirklichkeit berücksichtigt, die Sokrates in 439b–440d tatsächlich anstellt. 62 Siehe Ademollo (2011), 449–486, für eine gründliche Analyse der einzelnen Schritte von Sokrates’ Argumentation. 61
VII. An den Grenzen der Werkzeug-Analogie
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diese Argumentation, die sich als transzendental63 charakterisieren ließe,64 wird man also all diejenigen Ausdrücke, deren natürliche Richtigkeit die Gültigkeit von Heraklits Flusstheorie voraussetzt, nicht als natürlicherweise richtige Namen im Sinne des Hypernaturalismus anerkennen, und im »Streit« der Namen mit gutem Grund die Partei des anderen Sets von Ausdrücken ergreifen. Sokrates selbst betont in 440c/d, dass zur Absicherung dieses tentativen Ergebnisses noch weitere Untersuchungen erforderlich sind. Seine Überlegungen lassen aber zumindest im Prinzip erkennen, was man sich unter einer Untersuchung »ohne Namen« vorzustellen hat: keine Untersuchung nämlich, die ohne Sprache auskommt, sondern eine, deren Zugriff auf die Wirklichkeit deswegen von den Ausdrücken unabhängig ist, die am Standard der natürlichen Richtigkeit zu messen sind, weil sie sich an der Frage orientiert, unter welchen Voraussetzungen sprachlicher Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitserkenntnis überhaupt möglich sind. Wer eine solche Untersuchung anstrengt, versucht nicht, im Hinblick auf die natürliche Richtigkeit eines Sets von Ausdrücken zu einem Urteil zu gelangen, indem er überprüft, ob sich die natürliche Richtigkeit eines jeden dieser Ausdrücke unter Rückgriff auf die jeweils anderen Ausdrücke bestätigen lässt: Er versucht zu klären, ob man die natürliche Richtigkeit der fraglichen Ausdrücke akzeptieren kann, ohne sich dadurch auf ein Bild der Wirklichkeit zu verpflichten, in dem sprachlicher Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitserkenntnis keinen Platz haben. Eine konsequente Außerperspektive auf das Verhältnis von Sprache zu Wirklichkeit wird er dabei zwar nicht einnehmen, weil er bei seiner Untersuchung ja doch auf Sprache zurückgreifen muss. Aber indem er seinen eigenen sprachlichen Zugriff auf die Wirklichkeit samt seiner Ermöglichungsbedingungen explizit zum Thema macht, erreicht er doch zumindest eine partielle Distanzierung von der Sprache, die er spricht, und sogar von seiner eigenen Sprachlichkeit. Denn er greift dabei auf Ausdrücke zurück, gegen deren Einsatz man sich auch dann, wenn man im Hinblick auf die natürliche Richtigkeit anderer Ausdrücke eine skeptische Position einnimmt, nicht sperren kann, weil man auf sie zurückgreifen muss, um diese skeptische Position überhaupt formulieren zu können: also etwa auf den Ausdruck gignoskein, der in 439e–440c eine Schlüsselrolle spielt. Aus der Haltung partieller Distanz zur eigenen Sprachlichkeit, die er auf diese Weise einnimmt, kann er dann, wie von Sokrates in 439b–440d ange63 Wobei damit nur gemeint ist, dass Sokrates’ Überlegungen an der Frage orientiert sind, unter welchen Bedingungen sprachlicher Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitserkenntnis möglich sind, nicht aber, dass sie einen transzendentalen Idealismus à la Kant nahelegen. 64 So ganz richtig Thomas (2008), 342 und 355–364. Thomas’ Aufsatz bietet eine so gründliche wie überzeugende Verteidigung der hier ebenfalls vertretenen These, Sokrates führe mit seiner transzendentalen Argumentation vor, wie eine Untersuchung »ohne Namen« auszusehen hat.
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
deutet wird, im Idealfall feststellen, dass die Ausdrücke eines bestimmten Sets keine natürlicherweise richtigen Namen sein können, obwohl sie ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen. Sokrates verfolgt einen solchen Ansatz, um einen »Streit« der Namen zu entscheiden, dessen konkrete Form sich der Voraussetzung des Hypernaturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen verdankt. Aber ebenso, wie dieser »Streit« auf eine epistemologische Schwierigkeit verweist, die ihrer Struktur nach von der vorausgesetzten Theorie der natürlichen Richtigkeit unabhängig ist, hat auch Sokrates’ Lösungsansatz eine über den konkreten Anwendungsfall hinausweisende Bedeutung. Auch wenn man von der Gültigkeit des Moderaten Naturalismus ausgeht, stellt sich, wie erläutert wurde, das Problem, dass es mehrere Sets von Ausdrücken geben könnte, die ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit jeweils gleichermaßen wechselseitig stützen; und es wäre unter dieser Voraussetzung nicht minder aussichtsreich, dieses Problem durch die Untersuchung der Frage anzugehen, ob man vielleicht die natürliche Richtigkeit der Ausdrücke eines der Sets nicht behaupten kann, ohne sich auf ein Bild der Wirklichkeit zu verpflichten, das mit der Anerkennung der Möglichkeit von sprachlichem Wirklichkeitsbezug und von Wirklichkeitserkenntnis nicht oder jedenfalls nur schlecht vereinbar ist. Etwas allgemeiner gefasst: Die Frage, wie gut das Bild der Wirklichkeit, auf das man sich verpflichtet, wenn man die natürliche Richtigkeit eines in sich stimmigen Sets von Ausdrücken behauptet, mit der Anerkennung der Möglichkeit von sprachlichem Wirklichkeitsbezug und von Wirklichkeitserkenntnis zu vereinbaren ist, gibt ein zusätzliches Kriterium an die Hand, an dem sich ein Dialektiker orientieren kann, der diese Ausdrücke in Orientierung am Standard der natürlichen Richtigkeit evaluieren will.65 Noch nicht einmal dann, wenn sich ein Dialektiker mit einem »Streit« unter Namen konfrontiert sieht, ist also Sokrates’ Analyse zufolge die skeptische Schlussfolgerung unausweichlich, es lasse sich nicht feststellen, bei welchen Ausdrücken es sich um natürlicherweise richtige Namen handelt: Denn es gibt eben eine Grundlage für eine rationale Diskussion und Entscheidung dieser Frage. Was Sokrates in 439c–440e erprobt, ist also tatsächlich eine vielversprechende anti-skeptische Strategie zur Bewältigung der epistemologischen Schwierigkeiten, die sich aus dem Umstand ergeben, dass sich die natürliche Richtigkeit von Namen nur unter Einsatz anderer Namen bestätigen lässt.66 Darin, Sokrates diese anti-skeptische Strategie zur Bewältigung ontologischer Grundfragen skizzieren zu lassen – und nicht allein darin, auf den PriWobei nicht ausgeschlossen ist, dass es auch noch andere Kriterien gibt, an denen sich ein Dialektiker orientieren kann. 66 Die Vermutung liegt nahe, dass diese anti-skeptische Strategie im Theaitetos und im Sophistes erprobt wird. 65
VII. An den Grenzen der Werkzeug-Analogie
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mat solcher Fragen aufmerksam zu machen –, dürfte denn auch das Ziel liegen, das Platon bei seiner Inszenierung der gesamten Passage 435d–440e verfolgt. Freilich wären, um die Effektivität dieser Strategie noch genauer abschätzen zu können, eingehendere Untersuchungen erforderlich, wie sie im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden können.67 Aber für den gegenwärtigen Zusammenhang ist es auch völlig ausreichend, gezeigt zu haben, dass man keineswegs gezwungen ist, die skeptische Diagnose zu akzeptieren, nach der ein Dialektiker nicht erkennen kann, bei welchen Ausdrücken es sich um natürlicherweise richtige Namen handelt und bei welchen nicht. Mit diesem Ergebnis wird es möglich, den Verlauf der Grenze, die der Analogie zwischen Namen und gewöhnlichen Werkzeugen in erkenntnistheoretischer Hinsicht gesetzt ist, mit einiger Genauigkeit nachzuzeichnen. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei die zu Beginn dieses Abschnitts entfaltete Einsicht, dass Namen diejenigen Werkzeuge sind, mit denen wir uns die Wirklichkeit erschließen, während wir alle anderen Werkzeuge in einer sprachlich erschlossenen Wirklichkeit verwenden. Namen prägen daher die Stellung des Menschen zur Wirklichkeit viel tiefgreifender als alle anderen Werkzeugtypen. Wir können deswegen auch dann, wenn wir eine kritische Evaluation von Namen anstreben, keine konsequent distanzierte, auf den Gebrauch von Namen nicht angewiesene Haltung einnehmen, sondern sind gezwungen, uns auf andere Namen zu verlassen. Eine sprach- und namensunabhängige Wirklichkeitsschau, die einen unkomplizierten Abgleich von Namen mit der Wirklichkeit ermöglichte, gibt es nicht – wie Platon seiner Inszenierung der Passage 436a–440e nach zu urteilen sehr genau weiß. Namen haben daher einen epistemologischen Sonderstatus, der sie von allen anderen Werkzeugen unterscheidet. Dieser Sonderstatus bringt im Hinblick auf die kritische Evaluation von Namen durch einen Dialektiker epistemologische Komplikationen mit sich, wie sie im Fall der anderen Werkzeuge nicht auftreten; insbesondere sind Szenarien denkbar, in denen ein Dialektiker mit einem Set von Ausdrücken konfrontiert ist, die keine natürlicherweise richtigen Namen sind, sich aber von solchen gar nicht ohne Weiteres unterscheiden lassen, weil sie ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen. Aber auch die Möglichkeit solcher Szenarien rechtfertigt nicht Insbesondere ist nicht klar, ob es nicht Fälle geben könnte, in denen diese Strategie keine Entscheidung darüber ermöglicht, welches von zwei konkurrierenden Sets von Ausdrücken, die ihren Anspruch auf natürliche Richtigkeit wechselseitig stützen, natürlicherweise richtige Namen enthält – Fälle also, in denen man der Möglichkeit von sprachlichem Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitserkenntnis unabhängig davon gut Rechnung tragen kann, welche der sich im »Streit« gegenüberstehenden Ausdrücke man als natürlicherweise richtige Namen anerkennt. Sollte sich die Möglichkeit solcher Fälle plausibel machen lassen, bedürfte es einer anderen Strategie, um skeptische Schlussfolgerungen zu vermeiden. 67
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Erster Teil: Die Werkzeug-Analogie
den skeptischen Schluss, dass sich im Hinblick auf die natürliche Richtigkeit der Namen keine Erkenntnis gewinnen lässt – erhellt doch aus Sokrates’ Ausführungen in 439b–440d, auf welchem Weg sich gegebenenfalls feststellen lässt, dass die zu einem solchen Set gehörigen Ausdrücke keine natürlicherweise richtigen Namen sind. * Kombiniert man dieses Ergebnis mit dem Resultat des vorangegangenen Abschnitts, wird man dem Namen also einen doppelten Sonderstatus zuschreiben müssen: Sowohl aus einer ontologischen als auch aus einer epistemologischen Perspektive lässt sich jeweils ein signifikanter und folgenreicher Unterschied zwischen Namen und allen anderen Werkzeugen diagnostizieren. Diese Unterschiede verleihen sowohl dem Gebrauch als auch der kritischen Evaluation von Namen durch den Dialektiker ihr singuläres Gepräge und definieren die Grenzen der Werkzeug-Analogie. Sie mindern aber, wie nach den Überlegungen des vorliegenden Abschnitts endgültig feststeht, den Erkenntniswert der Analogie keineswegs: Denn gerade in der Reflexion über ihre Grenzen werden, wie sich in diesem Kapitel gezeigt hat, wesentliche Charakteristika des Namens deutlich.
Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des H YPERNATURALISMUS (391b–435d)
Überblick über den zweiten Teil
Sokrates entwickelt – so hat der vorangegangene Teil der vorliegenden Studie gezeigt – in der Werkzeug-Analogie tatsächlich ein Argument für die These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, das für einen Konventionalisten wie Hermogenes nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen ist. Im Zentrum dieses Arguments steht eine normative Bestimmung des Nennens, der zufolge die Handlung des Nennens ihrer Natur nach nur vollzogen werden kann, indem ein Sprecher durch die Unterscheidung der ousia einer Art von Gegenständen zur Belehrung eines Hörers beiträgt. Diese Bestimmung kann Hermogenes schlecht ablehnen. Er hat schließlich guten Grund zu der Annahme, die Handlung des Sprechens oder Aussagens könne nur durch das Treffen einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage vollzogen werden; und Sokrates’ Bestimmung des Nennens ist nichts anderes als die Charakterisierung des Beitrags, der durch den Vollzug dieser Teilhandlung des Sprechens zur Formulierung einer solchen Aussage geleistet werden muss. Damit hat Hermogenes aber auch allen Grund, einen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen anzuerkennen. Denn wenn der Name das Werkzeug des Nennens ist, sollte man ausschließlich solche Ausdrücke als genuine oder richtige Namen gelten lassen, mit denen ein Sprecher durch die Unterscheidung der ousia einer Art zur Belehrung eines Hörers beizutragen vermag. Aus diesem generischen Standard ergeben sich gleichsam automatisch eine Reihe spezifischer Standards der natürlichen Richtigkeit: Als richtigen Namen für bestimmte Gegenstände sollte man demzufolge einen Ausdruck nur dann gelten lassen, wenn er sich zum Herausgreifen der ousia derjenigen Art eignet, zu der diese Gegenstände gehören. Dass Namen in diesem Sinne eine von der Natur des Nennens und letztlich von der Natur des Sprechens vorgegebene Anforderung erfüllen müssen, kann Hermogenes nicht bestreiten, ohne in einen Konflikt mit der Annahme zu geraten, dass Sprache eine Verständigung darüber möglich machen muss, wie die Wirklichkeit unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen, Meinungen und Entscheidungen beschaffen ist. Die Antwort auf die erste Leitfrage dieser Studie fällt also positiv aus: Sokrates’ Überlegungen in der Werkzeug-Analogie liefern einem Konventionalisten wie Hermogenes tatsächlich einen guten Grund, die Schlussfolgerung zu akzeptieren, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat«. Sie liefern ihm allerdings keinen Grund, von einem Zusammenhang zwischen der natürlichen Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt auszugehen. Die Frage, wovon es abhängt, ob es sich bei einem Ausdruck um einen natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegen-
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
ständen handelt, wird von Sokrates in der Werkzeug-Analogie gar nicht explizit thematisiert. Ihre Beantwortung erfordert eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, während das, was Sokrates in der Werkzeug-Analogie entwickelt, nur ein Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen ist. Dieser Umstand verleiht der in 390e5–391a3 von Hermogenes formulierten Bitte, Sokrates möge ihm doch erklären, was man sich unter dieser ominösen Qualität der natürlichen Richtigkeit vorzustellen habe, ihre Berechtigung, ja ihre Dringlichkeit: Denn solange in dieser Hinsicht Unklarheit herrscht, ist, wie Hermogenes zurecht bemerkt, den in der Werkzeug-Analogie erreichten Ergebnissen gegenüber eine gewisse Reserve angezeigt. Nach allem, was Hermogenes an diesem Punkt weiß, könnte es sich herausstellen, dass sich keine zum Begriff der natürlichen Richtigkeit passende Theorie konstruieren lässt; und in diesem Fall erschiene es gerechtfertigt, die Schlussfolgerung der Werkzeug-Analogie in Zweifel zu ziehen und ihren Gedankengang auf Lücken oder Fehler zu überprüfen. Freilich kommt Sokrates der Bitte des Hermogenes im weiteren Verlauf des Kratylos nach und entwickelt im langen Mittelstück seiner Untersuchung (391b–427d) den Hypernaturalismus als eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen. Dem Hypernaturalismus zufolge ist es einzig und allein von der etymologischen Bedeutung eines Ausdrucks oder – falls es sich um einen etymologisch nicht mehr zu analysierenden Ausdruck handelt – von seinem mimetischen Gehalt abhängig, ob er ein natürlicherweise richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist oder nicht. Der letzte Teil der vorliegenden Studie wird klären müssen, ob Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen einem Konventionalisten wie Hermogenes insgesamt einen guten Grund liefert, von seinen Intuitionen, die im Schwachen Konventionalismus einen umsichtigen Ausdruck finden, zugunsten dieser Theorie der natürlichen Richtigkeit abzurücken – wird also, mit anderen Worten, die zweite Leitfrage beantworten. Eine Vermutung darüber, wie sie zu beantworten ist, legt die geleistete Analyse der Werkzeug-Analogie zumindest nahe. Da nämlich, wie das sechste Kapitel zeigte, im Ausgang von Sokrates’ Beschreibung der Einführung natürlicherweise richtiger Namen in 389d–390a mit dem Moderaten Naturalismus eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen konstruiert werden kann, die den Schwachen Konventionalismus integriert, scheint ein Konventionalist wie Hermogenes auf den ersten Blick einen guten Grund zu haben, den Moderaten Naturalismus zu akzeptieren, nicht aber die mit dem Schwachen Konventionalismus unvereinbare Theorie, die Sokrates im Anschluss an die Werkzeug-Analogie entwickelt. Es ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass Sokrates im Zuge der Entfaltung dieser Theorie Gründe anführt, die sie stützen und gleichzeitig die Plausibilität des Moderaten Naturalismus untergraben. Man muss sich aller-
Überblick über den zweiten Teil
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dings unbedingt vor Augen führen, wie kontraintuitiv es ist, die Frage, was einen Ausdruck zu einem im Sinne der Werkzeug-Analogie natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen macht, zu beantworten, indem man auf die etymologische Bedeutung oder den mimetischen Gehalt des Ausdrucks rekurriert. Denn wie im sechsten Kapitel erläutert wurde, impliziert eine solche Antwort, dass sich eine Gegenstandsart mit einem Ausdruck, der seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt nach nicht zu ihr beziehungsweise ihrer stabilen ousia passt, auch dann nicht herausgreifen lässt, wenn eine entsprechende Konvention in Kraft ist. Sie impliziert also, dass es beispielsweise unmöglich ist, aus der Lautfolge *Apfelbaum* einen Namen für die Art der Birnbäume zu machen: Auch wenn alle Sprecher des Deutschen sich darin einig wären, dass durch die Artikulation dieser Lautfolge die Art der Birnbäume herausgegriffen wird, verhielte es sich keineswegs so. Dem Spezifischen Funktionalitätsprinzip zufolge kann nämlich mit einem Ausdruck, der kein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart ist, der Vollzug der spezifischen Version des Nennens, die sich auf diese Gegenstandsart bezieht, unmöglich gelingen. Der Hypernaturalismus ist daher ohne jeden Zweifel eine vollkommen unplausible Theorie der natürlichen Richtigkeit. Welche Argumente Sokrates anführen könnte, um ihn auf Kosten des prima facie weitaus einleuchtenderen Moderaten Naturalismus zu plausibilisieren, ist nicht abzusehen. Eine positive Antwort auf die zweite Leitfrage der vorliegenden Studie erscheint mithin so gut wie ausgeschlossen. Mit einer bloßen Bestätigung der Prognose, dass Sokrates’ Untersuchung einem Konventionalisten wie Hermogenes keinen guten Grund dafür liefern dürfte, den Hypernaturalismus zu akzeptieren, wäre allerdings nicht allzu viel gewonnen. Denn es drängt sich ja die Frage auf, warum Platon deutlich mehr als die Hälfte des Kratylos der Entwicklung einer hochgradig kontraintuitiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen widmen sollte, wenn doch mit dem Moderaten Naturalismus eine sehr überzeugende Alternative verfügbar ist. Ließe sich auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort finden, könnte man zwar daran festhalten, dass angesichts der Argumentation der Werkzeug-Analogie der Sache nach alles dafür spricht, sich den Moderaten Naturalismus und nicht den Hypernaturalismus zu eigen zu machen. Aber man könnte unter dieser Voraussetzung schwerlich die Annahme verteidigen, es sei Platons Intention, seine aufmerksamen Leser zur eigenständigen Ausarbeitung der Moderaten Naturalismus anzuleiten. Man hätte vielmehr davon auszugehen, dass Platon selbst den Schritt von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zu der Hypothese, die natürliche Richtigkeit der Namen hänge von ihrer etymologischen Bedeutung beziehungsweise ihrem mimetischen Gehalt ab, für mehr oder weniger unvermeidlich hält. Als Interpret des Kratylos müsste man
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sich dementsprechend zwischen einer konventionalistischen und einer anti-konventionalistischen Deutung entscheiden, während man als Philosoph die Überlegenheit des Moderaten Naturalismus über die im Dialog verhandelten Positionen zu konstatieren hätte. Insofern stellt das lange Mittelstück des Kratylos den Verteidiger der These, Platon wolle seinen aufmerksamen Lesern den Moderaten Naturalismus nahebringen, vor eine beträchtliche Herausforderung. Aber damit nicht genug – eine zweite, kaum weniger große Herausforderung tritt hinzu: Bei der Entfaltung des Hypernaturalismus in 391b–427d wird nämlich erstaunlicherweise nicht deutlich, welche kontraintuitiven Konsequenzen diese Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen hat. Erst Kratylos stellt in 427d–430a die These auf, als Name für eine bestimmte Gegenstandsart könne nur ein Ausdruck eingesetzt werden, der seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt nach zu ihr passt – und zwingt so Sokrates zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser These, die schließlich zu dem frustrierend uneindeutigen Fazit der gesamten Untersuchung der Richtigkeit der Namen in 435a–d führt. Vor Kratylos’ Wiedereintritt ins Gespräch scheint Sokrates selbst ebenso wenig wie seinem Gesprächspartner Hermogenes bewusst zu sein, was genau die von ihm entwickelte Theorie der natürlichen Richtigkeit besagt und welche die Grenze zum Absurden streifenden Implikationen sie hat; ja man kann fast den Eindruck gewinnen, Sokrates wolle durch seine Ausarbeitung dieser Theorie gar nicht die Frage beantworten, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen im Sinne des (Spezifischen) Funktionalitätsprinzips macht. Um die zentrale These der vorliegenden Studie abzusichern, nach der die gesamte Untersuchung der Richtigkeit der Namen einem aufmerksamen Leser vor Augen führen soll, dass diese Frage nicht im Sinne des Hypernaturalismus, sondern im Sinne des Moderaten Naturalismus zu beantworten ist, muss auch für diesen merkwürdigen Umstand eine überzeugende Erklärung gefunden werden. Eine Interpretation von Sokrates’ Ausarbeitung und Kritik des Hypernaturalismus in 391b–435d kann sich demnach keinesfalls mit der Absicherung einer negativen Antwort auf die zweite Leitfrage bescheiden, sondern muss sie durch plausible Antworten auf zwei weitere Fragen flankieren: (1) Warum lässt Platon Sokrates den Hypernaturalismus in einer solchen Ausführlichkeit entwickeln (und anschließend kritisieren), aber den Moderaten Naturalismus noch nicht einmal als Option präsentieren? (2) Warum lässt er Sokrates bei der Entfaltung des Hypernaturalismus so vorgehen, dass sowohl der präzise Gehalt dieser Theorie als auch ihre problematischen Implikationen verdeckt bleiben? Wie die folgenden vier Kapitel zeigen werden, lässt sich auf Grundlage der in dieser Studie bisher erreichten Ergebnisse eine Interpretation entwickeln, die auch diese beiden Fragen in einem Zug beantwortet. Als Schlüssel zum rechten
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Verständnis der Passage 391b–435d wird sich dabei die Beobachtung erweisen, dass die Frage, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck den in der WerkzeugAnalogie beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt, auf der Ebene des Dialogs zwischen Sokrates und Hermogenes in einer ganz bestimmten Form thematisiert wird: Da Hermogenes’ Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen von keinem der beiden Gesprächspartner kritisch diskutiert wird, liegt ihrer Auseinandersetzung mit dieser Frage die implizite Annahme zugrunde, ein Ausdruck müsse gegebenenfalls qua bloße Lautfolge – und somit unabhängig von allen Konventionen – ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart sein. Unter dieser Annahme ist es aber, wie die anschließenden Überlegungen im Detail belegen werden, praktisch alternativlos, die natürliche Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung beziehungsweise auf ihren mimetischen Gehalt zurückzuführen. Angesichts der explanatorischen Zwangslage, in der sich Sokrates und Hermogenes wegen der nicht problematisierten Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nach Abschluss der WerkzeugAnalogie befinden, rückt die Notwendigkeit, die entwickelte Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit abzugleichen, in den Hintergrund: Die Alternativlosigkeit des Wegs zu dieser Theorie scheint ihre Gültigkeit zu verbürgen. Aus diesem Grund stellen sich Sokrates und Hermogenes nicht die Frage, ob die etymologische Bedeutung oder der mimetische Gehalt eines Ausdrucks wirklich dafür verantwortlich sein kann, dass er ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart im Sinne des Spezifischen Funktionalitätsprinzips ist, und die kontraintuitiven und unplausiblen Konsequenzen des Hypernaturalismus bleiben verdeckt. Die Frage, ob die natürliche Richtigkeit eines Namens tatsächlich auf seine etymologische Bedeutung oder seinen mimetischen Gehalt zurückgeführt werden kann, formuliert Sokrates erst zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos. Damit klärt er die dialektischen Fronten: Denn Kratylos macht sich konsequenterweise den Hypernaturalismus mit all seinen bisher ausgeblendeten Implikationen zu eigen. Sokrates beginnt daraufhin mit der Kritik der von ihm selbst zuvor entwickelten Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen. Diese Kritik zeigt zwar, dass der Hypernaturalismus falsch sein muss, kann aber aufgrund der Anlage von Sokrates’ Untersuchung nicht zu einer eindeutigen Konklusion führen – denn auf der Ebene seines Dialogs mit Hermogenes und Kratylos ist die einzige Alternative zum Hypernaturalismus Hermogenes’ Starker Konventionalismus, der durch das Argument der Werkzeug-Analogie bereits widerlegt wurde. So wird schließlich die in den folgenden Kapiteln zu entwickelnde Interpretation der Passage 391b–435d die Vermutung bestätigen, die schon im »Überblick über den ersten Teil« aufgestellt wurde: Der Abschluss von Sokrates’ Unter-
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suchung der Frage nach der Richtigkeit der Namen in 435a–d reflektiert in seiner frustrierenden Uneindeutigkeit nicht Platons eigene Position, sondern ist Ausdruck seiner dramaturgischen Entscheidung, auf der Ebene des Dialogs zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern den Unterschied zwischen Namen und Lautfolgen nicht aufzudecken und so die Möglichkeit einer Alternative zum Starken Konventionalismus und zum Hypernaturalismus nicht erkennbar werden zu lassen. Was hinter dieser dramaturgischen Entscheidung steht, lässt sich, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, vor dem Hintergrund der bisher geleisteten Analyse ebenfalls gut erklären. Nicht nur Hermogenes setzt dieser Analyse zufolge ja Namen unkritisch mit Lautfolgen gleich – die allermeisten Leser des Kratylos dürften zu Beginn ihrer Lektüre Namen aus derselben Perspektive betrachten wie Hermogenes. Ein aufmerksamer und selbstkritischer Leser kann zwar, wie inzwischen deutlich geworden ist, diese Perspektive in der Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie zugunsten einer adäquateren Betrachtungsweise überwinden und mit dem Moderaten Naturalismus eigenständig eine plausible Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen entwickeln. Dass einem solchen Leser dies aber bei seiner ersten Lektüre der Werkzeug-Analogie gelingt, ist alles andere als wahrscheinlich. Auch ein aufmerksamer Leser wird daher nach Abschluss der Werkzeug-Analogie auf demselben Stand sein wie Hermogenes – wird sich also fragen, wie ein Ausdruck qua bloße Lautfolge ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart sein kann. Durch seine Inszenierung der Passage 391b–435d macht Platon einem solchen Leser mit erbarmungsloser Konsequenz bewusst, wohin ihn seine eigenen Vorannahmen führen: zunächst zu einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, wie sie unplausibler nicht sein könnte – und schließlich, nachdem sich die Unhaltbarkeit dieser Theorie erwiesen hat, zu einer Konklusion, die nur erkennen lässt, dass nach der Zurückweisung des Starken Konventionalismus und des Hypernaturalismus völlig unklar ist, wie es sich mit der Richtigkeit der Namen verhält. Platon verfolgt freilich eine konstruktive Absicht, wenn er seinen Leser auf diese Weise an das Ende derjenigen Sackgasse führt, zu der es aus der Perspektive des common sense keine Alternative zu geben scheint: Er will ihn zu einer Umkehr bewegen – zu einer kritischen Revision des bisherigen Untersuchungsgangs. Einem Leser, der in diesem Sinne den Weg zum Hypernaturalismus noch einmal abschreitet, werden, wie die folgende Analyse der Passage 391b–427d im Detail belegen soll, auf Schritt und Tritt Signale auffallen, die Platon setzt, um die mangelnde Plausibilität des Hypernaturalismus deutlich werden zu lassen und Zweifel an seiner Alternativlosigkeit zu wecken. Platons nachgerade subversive Inszenierungsstrategie dient dabei letztlich dem Ziel, einen aufmerk-
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samen Leser zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie anzuregen, die ihm den im sechsten Kapitel ausführlich beschriebenen Perspektivwechsel und damit die Ausarbeitung des Moderaten Naturalismus ermöglichen soll. Sokrates’ Fazit in 435a–d markiert demnach zwar den Endpunkt seiner Untersuchung der Richtigkeit der Namen, aber nicht den Endpunkt der Erkenntnisbewegung eines aufmerksamen Lesers: Ganz im Gegenteil kann es als Ausgangspunkt desjenigen Dialogs fungieren, den ein solcher Leser mit dem Kratylos führen muss, wenn er sich Aufschluss über die Richtigkeit der Namen verschaffen will. Ein Interpretationsansatz, der die Werkzeug-Analogie als philosophisches Gravitationszentrum des Kratylos in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, ist also nicht etwa schlechter als der konventionalistische und der anti-konventionalistische Ansatz zur Aufhellung der philosophischen Agenda geeignet, die Platons Inszenierung der Passage 391b–435d bestimmt. Im Gegenteil: Ein solcher Ansatz vermag nicht nur zu erklären, warum Sokrates nach Abschluss der Werkzeug-Analogie die natürliche Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung und ihren mimetischen Gehalt zurückführt; im Unterschied zu den Standard-Deutungen macht er auch Platons Entscheidung durchsichtig, die an die Werkzeug-Analogie anschließende Untersuchung weder in einer Rückkehr zu Hermogenes’ Position noch in einer Bestätigung des Zusammenhangs zwischen der natürlichen Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt münden zu lassen. Insofern ist der Interpretationsansatz der vorliegenden Studie seinen Konkurrenten klar überlegen: Denn er macht es möglich, erstmals ein klares, geschlossenes und philosophisch ergiebiges Bild der Strategie der Leserführung zu zeichnen, die Platon nicht nur bei seiner Gestaltung der Passage 391b–435d, sondern bei seiner Inszenierung der gesamten Untersuchung der Richtigkeit der Namen verfolgt. * Das achte, neunte und zehnte Kapitel werden nun die einzelnen Stufen von Sokrates’ Ausarbeitung des Hypernaturalismus nachzeichnen: also den Schritt von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zu der Hypothese, die natürliche Richtigkeit der Namen müsse auf ihre etymologische Bedeutung zurückzuführen sein, in 391b–394e; den Versuch, diese Hypothese in 394e–422c durch ein ausgedehntes etymologisches Forschungsprogramm zu plausibilisieren; und schließlich die Rückführung der Richtigkeit der etymologisch nicht mehr zu analysierenden Namen auf ihren mimetischen Gehalt in 422c–427d. Diese drei Kapitel werden zum einen nachvollziehbar machen, wie Sokrates’ Ausarbeitung des Hypernaturalismus durch die explanatorischen Zwänge bestimmt wird, die sich aus der Annahme ergeben, ein Ausdruck müsse gegebenenfalls qua bloße
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Lautfolge ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart sein. Zum anderen werden sie deutlich machen, wie Platon durch seine Inszenierung der Passage 391b–427d die Glaubwürdigkeit des Hypernaturalismus untergräbt. Das elfte und letzte Kapitel wird im Lichte der bereits gewonnenen Erkenntnisse Kratylos’ Appropriation dieser Theorie der natürlichen Richtigkeit und – zumindest in ihren Grundzügen – auch Sokrates’ Kritik an ihr interpretieren, um so die hier vorgreifend skizzierte Deutung des Abschlusses der Untersuchung der Richtigkeit der Namen in 435a–d abzusichern.
VIII. Eine Homerische Irrfahrt: Der Übergang von der Werkzeug-Analogie zur etymologischen Sektion (391b–394e) Die Passage 391b–394e, in der Sokrates auf Hermogenes’ Wunsch die Frage zu untersuchen beginnt, »was die natürliche Richtigkeit der Namen ist«, deren Begriff soeben in der Werkzeug-Analogie entwickelt wurde, ist ein entscheidender Wendepunkt in der Gedankenbewegung des Kratylos. Während Sokrates und Hermogenes zu Beginn dieser Passage nur wissen, dass der Name als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias einem Standard natürlicher Richtigkeit unterliegt, steht an ihrem Ende die Hypothese, es sei von der etymologischen Bedeutung eines Ausdrucks abhängig, ob er diesen Standard erfüllt oder nicht; und diese Hypothese gibt den Weg der weiteren Untersuchung vor, der zunächst durch über 140 etymologische Einzelanalysen mäandert, um dann über die mimetologische Fundierung der etymologischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen schließlich zur expliziten Formulierung des Hypernaturalismus durch Kratylos zu führen. Man muss kein Anhänger der in dieser Studie vertretenen These sein, Sokrates’ Ausführungen in der Werkzeug-Analogie wiesen in die Richtung des Moderaten Naturalismus, um anzuerkennen, dass sie jedenfalls auch noch keinen Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung (oder ihrem mimetischen Gehalt) herstellen. Vor diesem Hintergrund kommt offenkundig der Frage, wie Platon in der als Scharnier fungierenden Passage 391b–394e den Übergang von dem explikationsbedürftigen Fazit der Werkzeug-Analogie zum etymologisch-mimetischen Forschungsprogramm inszeniert, große Bedeutung zu. Umso überraschender ist es auf den ersten Blick, wie stiefmütterlich diese Frage in der einschlägigen Sekundärliteratur meist behandelt wird.1 Bei genauerer Betrachtung fällt es freilich nicht schwer, den Grund für 1 Nicht oder nur äußert knapp wird die Übergangspassage z. B. in den folgenden Gesamtinterpretationen des Kratylos diskutiert: Derbolav (1953); Derbolav (1972); Gaiser (1974); Rijlaarsdam (1978); Palmer (1988); Baxter (1992); Barney (2001); Diehl (2012). Gründliche Diskussionen von Sokrates’ Überlegungen in 391b–394e sind bisher nur von Andreas Eckl und Francesco Ademollo vorgelegt worden: Eckl (2003), 135–155, und Ademollo (2011), 146–180. Hilfreich sind außerdem die Überlegungen von Goldschmidt (1940), 96–106, Heitsch (1984), 53–57, und Sedley (2003), 75–86. Abgesehen von David Sedley vertreten alle genannten Interpreten die These, die nachgerade bizarre Qualität von Sokrates’ Überlegungen in 391b–394e verdanke sich der bewussten Inszenierung Platons und diene der Untergrabung der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, die von Sokrates in dieser Passage entwickelt wird. Dieser These ist sicherlich zuzustimmen. Allerdings lassen sich, wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, die philosophischen Ziele, die Platon bei seiner eigen-
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die verbreitete Zurückhaltung der Interpreten auszumachen: Sokrates’ Gedankengang in diesem Teil des Kratylos ist hochgradig idiosynkratisch, extrem unübersichtlich und strotzt zu allem Überfluss auch noch vor kleineren und größeren Ungenauigkeiten und Fehlern. Ohne Zweifel gehört er zu den verquersten Passagen im (an verqueren Passagen nicht eben armen) Platonischen Corpus. Wie das vorliegende Kapitel zeigen soll, lässt sich im Ausgang von den in dieser Studie bisher erreichten Ergebnissen die raffinierte auktoriale Strategie durchsichtig machen, die Platon bei seiner auf den ersten Blick bizarr anmutenden Inszenierung des Schritts von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zur etymologischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen verfolgt. Dazu wird in einem ersten Abschnitt eine minutiöse Analyse der Überlegung zu leisten sein, die Sokrates schließlich zu der Hypothese führt, die natürliche Richtigkeit der Namen müsse von ihrem etymologischen Gehalt abhängig sein. Auf dieser Grundlage soll dann in einem zweiten Abschnitt nachvollziehbar gemacht werden, wie virtuos Platon bei seiner Gestaltung der Passage 391b–394e von der literarischen Form des Dialogs Gebrauch macht, um seine aufmerksamen Leser zu einer wichtigen philosophischen Einsicht zu führen: der Einsicht nämlich, dass es dann – und nur dann – möglich ist, die Zurückführung der natürlichen Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung zu vermeiden und mit dem Moderaten Naturalismus eine alternative Theorie der natürlichen Richtigkeit auszuarbeiten, wenn man sich von Hermogenes’ so naiver wie naheliegender Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen distanziert.
Sokrates’ Argumentation in 391b–394e: Eine Analyse
Die Gedankenbewegung, die Sokrates von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zu der Hypothese führt, die natürliche Richtigkeit der Namen müsse von ihrem etymologischen Gehalt abhängen, ist in fünf Schritte untergliedert: Zunächst (A) sorgt Sokrates in 391b4–392b5 für eine Neuausrichtung der Untersuchung, indem er sich an Homer als Autorität im Feld der Onomatistik zu orientieren beginnt, statt wie bisher aus eigenen Ressourcen zu schöpfen.2 In einem zweiten Schritt (B) unterstellt Sokrates in 392b6–d10 Homer im Zuge eines halsbrecherischen exegetischen Manövers die Annahme, »Astyanax« sei, im Gegensatz zu »Skamandrios«, ein (natürlicherweise) richtiger Name für den Sohn des Trojanischen willigen Gestaltung des Übergangs zwischen der Werkzeug-Analogie und den etymologischen Analysen leiten, noch viel präziser bestimmen, als dies von den genannten Autoren geleistet worden ist. 2 Sokrates’ plötzliche Autoritätsgläubigkeit ist freilich, wie sich im Verlauf dieses Kapitels zeigen wird, nicht ohne ironische Brechung.
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Helden Hektor. Anschließend (C) konstruiert Sokrates in 392d11–393d4 eine höchst verwickelte und dubiose Rechtfertigung für diese angebliche Einschätzung Homers. Die Prinzipien dieser Rechtfertigung erläutert Sokrates dann (D) in 393d5–394b6 durch ein Beispiel und einen Vergleich. Dabei bereitet er auch schon die Schlussfolgerung vor, die er in seinem letzten Schritt (E) in 394b6–e7 im Hinblick auf die Richtigkeit des Namens »Astyanax« zieht und aus der er durch eine Generalisierung seine Hypothese zur natürlichen Richtigkeit der Namen ableitet. Diese fünf Schritte sollen nun im Detail beschrieben und analysiert werden.
(A) 391b4–392b5: Homer und die Richtigkeit der Namen
Auf Hermogenes’ Frage, worin denn nun die natürliche Richtigkeit der Namen bestehe, reagiert Sokrates zunächst mit dem typischen Bekenntnis der eigenen Unwissenheit, betont aber gleichzeitig seine Bereitschaft, diese Frage gemeinsam mit Hermogenes zu untersuchen (391b). Nachdem seine ironische Bemerkung, man müsse sich in dieser Sache am besten an die Sophisten halten,3 und sein noch ironischerer Vorschlag, Hermogenes solle doch seinen Bruder Kallias darum bitten, ihn über Protagoras’ Thesen zur natürlichen Richtigkeit der Namen zu informieren, bei Hermogenes nicht auf Gegenliebe gestoßen sind (391b–c), setzt Sokrates neu an und spricht sich dafür aus, auf die Autorität von Homer und anderen Dichtern zu vertrauen. Die anschießenden Überlegungen konzentrieren sich ganz auf Homer, und zwar zunächst (391d–392b) auf den an verschiedenen Stellen der Ilias formulierten Gedanken, die Götter verwendeten für dieselben Gegenstände andere Namen als die Menschen.4 Da man sich sicher sein könne, dass »die Götter sie [die Gegenstände] bei den Namen nennen, die, was [ihre] Richtigkeit angeht, von Natur aus so beschaffen sind«5, also im Gegensatz zu den Menschen nur natürlicherweise richtige Namen verwenden, 6 sollte sich durch einen Vergleich der göttlichen mit den menschlichen Namen feststellen lassen, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen für bestimmte Gegenstände macht. Freilich gibt Sokrates dieses Projekt sofort wieder auf, weil er befürchtet, es könnte »vielVgl. zu den sprachtheoretischen Überlegungen des historischen Protagoras Pfeiffer (1968), 37–39. 4 Sokrates bezieht sich (in dieser Reihenfolge) auf Il. XX 74, XIV 291 und II 813 f. 5 391d7–e1: Δῆλον γὰρ δὴ ὅτι οἵ γε θεοὶ αὐτὰ καλοῦσιν πρὸς ὀρθότητα ἅπερ ἔστι φύσει ὀνόματα. 6 Interessanterweise zeigt sich Hermogenes milde skeptisch, was die Frage angeht, ob Götter überhaupt Namen verwenden: Eὖ οἶδα μὲν οὖν ἔγωγε, εἴπερ καλοῦσιν, ὅτι ὀρθῶς καλοῦσιν. (391e2 f.) 3
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leicht zu groß« (isôs meizô, 392b2) für ihn und seinen Gesprächspartner sein; »menschenmöglicher« (anthrôpinôteron, 392b3) sei es, an den beiden Namen für den Sohn des Hektor, nämlich »Astyanax« und »Skamandrios«, zu untersuchen, wie Homer die natürliche Richtigkeit der Namen konzipiert. Diese Untersuchung erstreckt sich von 392b bis 394d, nimmt also innerhalb der transitorischen Passage zwischen der Werkzeug-Analogie und den etymologischen Analysen mit Abstand den meisten Raum ein; und sie ist auch dafür verantwortlich, dass der Übergang zu den Etymologien weniger den Eindruck eines stringenten Gedankengangs denn den einer Parade von Merkwürdigkeiten erweckt.
(B) 392b6–d10: »Astyanax« und »Skamandrios«
Bereits ganz zu Beginn der Untersuchung der beiden Namen »Astyanax« und »Skamandrios« vollzieht Sokrates ein höchst dubioses Manöver (392b–d):7 Im Text der Ilias findet sich nämlich keine Stelle, an der Homer diese beiden Namen im Hinblick auf ihre Richtigkeit vergleicht. Sokrates ist daher gezwungen, auf die exegetische Brechstange zurückzugreifen, um die These zu rechtfertigen, für Homer sei »Astyanax« ein richtigerer8 Name für Hektors Sohn als »Skamandrios«. Dabei lässt er sich zunächst (392c2–9) von Hermogenes die generelle (hôs to holon eipein genos) intellektuelle Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen bestätigen,9 aus der abzuleiten sei, dass Männer Namen richtiger verwendeten als Frauen. Im nächsten Schritt (392c10–d3) behauptet er dann, Homers Erzählung lasse sich entnehmen, dass die männlichen Trojaner Hektors Sohn »Astyanax« genannt haben, die Trojanerinnen aber »Skamandrios« – was eben zeige, dass in Homers Augen »Astyanax« ein richtigerer Name für Hektors Sohn sei als »Skamandrios« (392d8 f.). Tatsächlich lässt sich Homers Erzählung nichts dergleichen entnehmen: Im sechsten Gesang der Ilias heißt es an der Stelle, auf die sich Sokrates mit seiner Frage in 392b6 f. beziehen muss,10 über Hektors Sohn lediglich: Den nannte Hektor »Skamandrios«, aber die anderen »Astyanax«, denn allein beschirmte Ilios Hektor.11 Vgl. dazu Heitsch (1984), 53–55, Eckl (2003), 139 f., und Ademollo (2011), 154. Ob diese Rede von Graden der Richtigkeit gegenüber der Werkzeug-Analogie eine Innovation darstellt, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch zu diskutieren sein. 9 Dass Männer als Gruppe klüger sind als Frauen, behauptet Sokrates auch in Rep. 455c–e 10 Denn dies ist die einzige Stelle, der sich die Information entnehmen lässt, dass Hektors Sohn zwei Namen hatte. 11 Il. VI 401–403: Tόν ῥ᾽ Ἕκτωρ καλέεσκε Σκαμάνδριον, αὐτὰρ οἱ ἄλλοι Ἀστυάνακτ᾽· οἶος γὰρ ἐρύετο Ἴλιον Ἕκτωρ. Zitiert ist die Übersetzung von Schadewaldt (1975). 7 8
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An der von Sokrates erst etwas später (392d11–e1) nicht ganz präzise12 zitierten Stelle aus dem 22. Gesang richtet sich hingegen Andromache folgendermaßen an Hektor, ihren verstorbenen Ehemann, und beklagt die Lage ihres Sohns: Jetzt muss er vieles dulden, denn es fehlt ihm der Vater, Astyanax, wie ihn die Troer mit Beinamen nennen, denn du allein hast ihnen die Tore geschirmt und die langen Mauern.13
Auf diese letzte Stelle muss Sokrates sich stützen, wenn er in 392c10–d1 behauptet, Homers Erzählung zufolge sei der Sohn des Hektor »von den Trojanern ›Astyanax‹ genannt worden«. Aber statt, wie es vor dem Hintergrund der zuvor erwähnten Passage aus dem sechsten Gesang eigentlich zwingend ist, davon auszugehen, dass damit alle Trojaner außer Hektor gemeint sind, konstruiert Sokrates einen Gegensatz zwischen den männlichen Trojanern und den Trojanerinnen, der im Text der Ilias nicht die geringste Rolle spielt; tatsächlich ist es ja sogar Andromache, die Mutter von Hektors Sohn, die sich im 22. Gesang dem allgemeinen Sprachgebrauch anschließt und ihn als »Astyanax« anspricht. Eine solche sinnentstellende Verdrehung dürfte einem Autor wie Platon bei der Interpretation Homers kaum versehentlich unterlaufen; ohne Zweifel inszeniert Platon dieses exegetische Desaster ganz bewusst.14 Warum er das tut, werden die weiteren Überlegungen dieses Kapitels zu zeigen haben. Laut Sokrates sagt Homer Folgendes über Hektor: Oἶος γάρ σφιν ἔρυτο πόλιν καὶ τείχεα μακρά. Tatsächlich lesen moderne Editionen der Ilias hier οἶος γάρ σφιν ἔρυσο πύλας καὶ τείχεα μακρά. Die Ersetzung von ἔρυσο durch ἔρυτο lässt sich leicht erklären, wenn man beachtet, dass Homer im Original Andromache Hektor direkt ansprechen lässt, während Sokrates daran interessiert ist, was an dieser Stelle über Hektor gesagt wird. Mehr Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, dass in Sokrates’ Zitat Hektor πόλιν, die Stadt, beschützte, nicht aber, wie im Original, πύλας, die Tore. Es ist durchaus plausibel, mit Ademollo (2011), 155, davon auszugehen, dass Platon an dieser Stelle Sokrates bewusst falsch zitieren lässt, um deutlich zu machen, dass seine Homerexegese auf Textbeugung beruht – zumal Sokrates’ Erklärung der Richtigkeit des Namens »Astyanax« ja tatsächlich entscheidend davon abhängt, dass Hektor πόλιν und nicht πύλας beschützte. 13 Il. XXII 505–507: Nῦν δ᾽ ἂν πολλὰ πάθῃσι φίλου ἀπὸ πατρὸς ἁμαρτὼν Ἀστυάναξ, ὃν Τρῶες ἐπίκλησιν καλέουσιν· οἶος γάρ σφιν ἔρυσο πύλας καὶ τείχεα μακρά. Zitiert ist wiederum die Übersetzung von Schadewaldt (1975). 14 Das ist nicht nur die Einschätzung fast aller Interpreten des Kratylos, die sich mit dieser Passage befassen (z. B. Horn (1904), 32; Heitsch (1984), 53–55; Eckl (2003), 140; Ademollo (2011), 154), sondern auch die Einschätzung von Jules Labarbe, der sich auf eine systematische Untersuchung von Platons Umgang mit den Homerischen Epen stützen kann: Labarbe (1949), 334–337. Eine von diesem Konsens abweichende Position vertritt David Sedley, der über die zitierte Passage aus dem sechsten Gesang der Ilias sagt: »Thus Socrates mistakenly cites the passage as evidence that, according to Homer, the Trojan men and women differ in some of the nomenclature they use. Some might see this misreading as deliberate subversion on the part of Plato or Socrates. I cannot see what the point of the subversion would be, and assume rather that it is a 12
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(C) 392d11–393d4: Warum ist »Astyanax« ein richtiger Name für Hektors Sohn?
Sokrates hat nun also die Schlussfolgerung herbeigezwungen, dass für Homer »Astyanax« ein richtigerer Name für Hektors Sohn ist als »Skamandrios«, und kann sich der Frage zuwenden, weswegen (dia ti, 392d11) man diese Einschätzung teilen sollte. Der Grund erschließt sich seinen Überlegungen zufolge dann, wenn man in Rechnung stellt, dass Homer über Hektor sagt, er habe »allein die Stadt und die türmenden Mauern« beschützt: »Deshalb (dia tauta) ist es, wie es scheint, richtig, den Sohn des Beschützers ›Astyanax‹ [d. h. ›Stadtherren‹] dessen zu nennen, was sein Vater beschützte, wie Homer sagt.«15 Sokrates’ hier nur erst angedeutete Begründung für die so mühevoll in Homers Text hineingelesene Annahme, »Astyanax« sei, im Gegensatz zu »Skamandrios«, ein richtiger Name für den Sohn des Hektor,16 scheint sich also auf zwei Beobachtungen zu stützen: Erstens beschützte Hektor selbst Troja, war also ein Stadtherr; und zweitens setzt sich »Astyanax«, der vermeintlich richtige Name seines Sohnes, aus den beiden Bestandteilen asty (Stadt) und anax (Herr) zusammen, hat also die etymologische Bedeutung von »Stadtherr«. Diese beiden Beobachtungen erklären sicherlich, wie der Sohn des Hektor zu dem Namen »Astyanax« kommt: Wie Sokrates selbst an späterer Stelle (397b) erklärt, werden Personen oft auf einen Namen getauft, der einen guten Wunsch für ihre Zukunft ausdrückt – und genau so scheint es sich im Fall des Namens »Astyanax« zu verhalten, der den Wunsch ausdrückt, sein Träger möge später die Herrschaft über Troja übernehmen. Freilich ist dies ein Wunsch, der sich der Erzählung der Ilias zufolge auf grausame Art und Weise nicht erfüllt; denn wie alle Leser Platons wissen dürften, wird Hektors Sohn noch als kleines Kind Zeuge der Eroberung und Zerstörung Trojas, die er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
simple error (whether on Socrates’ part or on Plato’s), encouraged by the desire to find differentiations between the competing names used by different groups« (Sedley (2003), 78). Man muss allerdings die Augen schon sehr fest verschließen, um nicht sehen zu können, dass Platon an dieser Stelle das subversive Ziel verfolgen könnte, die These zu diskreditieren, »Astyanax« sei im Gegensatz zu »Skamandrios« ein richtiger Name für den Sohn Hektors, um damit den gesamten Ansatz, die natürliche Richtigkeit eines Namens von seiner Etymologie abhängig zu machen, in Frage zu stellen. 15 392e2–4: Διὰ ταῦτα δή, ὡς ἔοικεν, ὀρθῶς ἔχει καλεῖν τὸν τοῦ σωτῆρος ὑὸν Ἀστυάνακτα τούτου ὃ ἔσῳζεν ὁ πατὴρ αὐτοῦ, ὥς φησιν Ὅμηρος. 16 In 392e6 sagt Sokrates ohne Gradabstufung, dass es richtig ist, den Sohn des Hektor »Astyanax« zu nennen, statt wie zuvor davon zu sprechen, dass dieser Name für ihn richtiger ist als der Name »Skamandrios«. Es ist daher sehr plausibel, dass er »Skamandrios« hier nicht mehr als richtigen Name für Hektors Sohn behandelt.
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überlebt.17 Im Übrigen kann auch Hektor selbst nur cum grano salis als »Stadtherr« von Troja bezeichnet werden, wird er doch auch selbst getötet, bevor er die Herrschaft über Troja von seinem Vater Priamos übernehmen kann. Aber selbst wenn man für den Moment von Sokrates’ nonchalantem Umgang mit unliebsamen Fakten absieht, ist nicht klar, wieso aus Hektors (zweifelhaftem) Status als Stadtherr folgen sollte, dass es in irgendeinem relevanten Sinne richtig ist, für seinen Sohn einen Namen zu verwenden, der die etymologische Bedeutung von »Stadtherr« hat. Sokrates, der bekennt, seinen eigenen Erklärungsansatz noch nicht ganz verstanden zu haben (392e6 f.), versucht nun mit großem Aufwand, diese Frage zu beantworten. Den Kern seiner Antwort bildet die Passage 393a1–d4, die hier als Basis für die weitere Diskussion in Gänze zitiert und in vier Hauptschritte eingeteilt sei: Hat also, mein Lieber, auch dem Hektor Homer selbst den Namen gegeben? – Wieso? – [1] Weil mir auch dieser [Name] eine gewisse Ähnlichkeit mit dem [Namen] »Astyanax« zu haben scheint, und diese Namen ganz hellenischen gleichen. Denn anax und hektôr bedeuten fast dasselbe, dass nämlich beide Namen königlich sind; wovon nämlich jemand Herr (anax) ist, davon ist er auch Inhaber (hektôr), nehme ich an; denn es ist klar, dass er es beherrscht und besitzt und es hat (echei). Oder scheine ich dir nichts zu sagen, sondern täusche ich mich, wenn ich glaube,18 dass ich gewissermaßen auf eine Spur von Homers Meinung über die Richtigkeit der Namen gestoßen bin? – Nein, beim Zeus, das nicht, wie mir scheint, sondern vielleicht bist du auf etwas gestoßen. – [2] Richtig ist es zumindest, wie mir scheint, den Abkömmling eines Löwen »Löwe« zu nennen und den Abkömmling eines Pferdes »Pferd«. Ich meine nicht den Fall, in dem, gleichsam als Wunder, von einem Pferd etwas anderes geboren wird als ein Pferd, sondern die Gattung, von der es19 seiner Natur nach ein Abkömmling ist, die meine ich; wenn ein Pferd widernatürlich etwas zeugt, was von Natur aus Abkömmling eines Ochsen ist, 20 ist es nicht »Fohlen« zu nennen, sondern »Kalb«; auch ist, glaube ich, wenn von einem Menschen etwas geboren wird, was nicht der Abkömmling eines Menschen ist, der Abkömmling nicht 17 Das ist zumindest die düstere Prophezeiung seiner Mutter in Il. XXIV 726–728: Πάϊς δ᾽ ἔτι νήπιος αὔτως ὃν τέκομεν σύ τ᾽ ἐγώ τε δυσάμμοροι, οὐδέ μιν οἴω ἥβην ἵξεσθαι [.] 18 Vgl. zu dieser Formulierung de Vries (1955), 293 f. 19 Méridier liest hier, anders als Burnet und die Editoren des OCT, ἀλλ᾽ ὃ ἂν statt ἀλλ᾽ οὗ ἂν. Ademollo (2013) begründet überzeugend, wieso erstere Lesart vorzuziehen ist. 20 μόσχον in 393c2 dürfte, wie Ast richtig sieht, zur Glättung des Textes eingefügt worden sein.
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»Mensch« zu nennen;21 und ebenso mit den Bäumen und allem anderen. Stimmst du nicht zu? – Ich stimme zu. – [3] Gut gesprochen. Pass’ nur auf, dass ich dich nicht irgendwie in die Irre führe. Denn nach demselben Argument muss, wenn irgendein Abkömmling von einem König geboren wird, dieser »König« genannt werden. [4] Ob aber [der Name] in diesen oder jenen Silben dasselbe bedeutet, spielt keine Rolle; auch nicht, ob ein Buchstabe hinzugefügt oder weggenommen wird, auch das spielt keine Rolle, solange die ousia des Gegenstandes imstande ist, sich im Namen kundzumachen.22 In den verschiedenen Handschriften folgen auf γένηται noch verschiedene Wortkombinationen, die aber allesamt keinen guten Sinn ergeben und daher von Peipers zurecht gestrichen worden sind. 22 393a1–d4: Ἀλλ᾽ ἆρα, ὠγαθέ, καὶ τῷ Ἕκτορι αὐτὸς ἔθετο τὸ ὄνομα Ὅμηρος; – Τί δή; – Ὅτι μοι δοκεῖ καὶ τοῦτο παραπλήσιόν τι εἶναι τῷ Ἀστυάνακτι, καὶ ἔοικεν Ἑλληνικοῖς ταῦτα τὰ ὀνόματα. ὁ γὰρ ‘ἄναξ’ καὶ ὁ ‘Ἕκτωρ’ σχεδόν τι ταὐτὸν σημαίνει, βασιλικὰ ἀμφότερα εἶναι τὰ ὀνόματα· οὗ γὰρ ἄν τις ‘ἄναξ’ ᾖ, καὶ ‘Ἕκτωρ’ δήπου ἐστὶν τούτου· δῆλον γὰρ ὅτι κρατεῖ τε αὐτοῦ καὶ κέκτηται καὶ ἔχει αὐτό. ἢ οὐδέν σοι δοκῶ λέγειν, ἀλλὰ λανθάνω καὶ ἐμαυτὸν οἰόμενός τινος ὥσπερ ἴχνους ἐφάπτεσθαι τῆς Ὁμήρου δόξης περὶ ὀνομάτων ὀρθότητος; – Μὰ Δί᾽ οὐ σύ γε, ὡς ἐμοὶ δοκεῖς, ἀλλὰ ἴσως τοῦ ἐφάπτῃ. – Δίκαιόν γέ τοί ἐστιν, ὡς ἐμοὶ φαίνεται, τὸν λέοντος ἔκγονον λέοντα καλεῖν καὶ τὸν ἵππου ἔκγονον ἵππον. οὔ τι λέγω ἐὰν ὥσπερ τέρας γένηται ἐξ ἵππου ἄλλο τι ἢ ἵππος, ἀλλ᾽ οὗ ἂν ᾖ τοῦ γένους ἔκγονον τὴν φύσιν, τοῦτο λέγω· ἐὰν βοὸς ἔκγονον φύσει ἵππος παρὰ φύσιν τέκῃ [μόσχον], οὐ πῶλον κλητέον ἀλλὰ μόσχον· οὐδ᾽ ἂν ἐξ ἀνθρώπου οἶμαι μὴ τὸ ἀνθρώπου ἔκγονον γένηται, τὸ ἔκγονον ἄνθρωπος κλητέος· καὶ τὰ δένδρα ὡσαύτως καὶ τἆλλα ἅπαντα· ἢ οὐ συνδοκεῖ; – Συνδοκεῖ. – Καλῶς λέγεις· φύλαττε γάρ με μή πῃ παρακρούσωμαί σε. κατὰ γὰρ τὸν αὐτὸν λόγον κἂν ἐκ βασιλέως γίγνηταί τι ἔκγονον, βασιλεὺς κλητέος· εἰ δὲ ἐν ἑτέραις συλλαβαῖς ἢ ἐν ἑτέραις τὸ αὐτὸ σημαίνει, οὐδὲν πρᾶγμα· οὐδ᾽ εἰ πρόσκειταί τι γράμμα ἢ ἀφῄρηται, οὐδὲν οὐδὲ τοῦτο, ἕως ἂν ἐγκρατὴς ᾖ ἡ οὐσία τοῦ πράγματος δηλουμένη ἐν τῷ ὀνόματι. Schwierigkeiten bereit die Übersetzung von ἕως ἂν ἐγκρατὴς ᾖ ἡ οὐσία τοῦ πράγματος δηλουμένη ἐν τῷ ὀνόματι. Hier wird mit Schleiermacher von einer Abhängigkeit des Partizips δηλουμένη von ἐγκρατής ausgegangen – was zugegebenermaßen deswegen nicht unproblematisch ist, weil von ἐγκρατής eigentlich ein Infinitiv abhängen müsste. Möglich wäre es auch, ἐγκρατής mit Apelt (vgl. Ademollo (2011), 163) absolut zu übersetzen: »solange nur das Wesen der Sache, das in dem Namen sich kundgibt, seine Geltung behält«. Es ist allerdings vollkommen unklar, was die Forderung, das Wesen der Sache müsse seine Geltung behalten, besagen soll. Eine dritte Möglichkeit bringt Buchheim ins Spiel, der eine Abhängigkeit des Genitivs τοῦ πράγματος von ἐγκρατής annimmt: »solange nur in seiner Herrschaft hat das Sein die Sache, wenn dieses Sein im Wort ausgedrückt wird« (»Das philosophisch-argumentative Gerüst des ›Kratylos‹«, 25). So aufgefasst, fügt sich der Teilsatz aber nur schlecht in den Gedankengang ein, den Sokrates entwickelt – wäre doch zu erwarten, dass Sokrates die Bedingung namhaft macht, unter der ein Ausdruck Name eines Gegenstandes mit einer bestimmten ousia ist, statt sich auf den Gegenstand zu konzentrieren und zu fordern, er müsse von der fraglichen ousia beherrscht werden. Ganz unabhängig davon, wie man Sokrates’ Formulierung hier am besten auffasst, ist aber 21
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Sokrates erläutert in der Folge seine Behauptung über die Irrelevanz einzelner Buchstaben und Silben noch genauer (393d7–394b6) und macht erst dann die Konsequenzen seiner Überlegungen für den Fall von Hektors Sohn explizit (394b6–c9); aber seine Begründung dafür, dass es richtig ist, den Sohn des Stadtherren Hektor »Astyanax« zu nennen, lässt sich bereits aus der zitierten Passage rekonstruieren: In Schritt [1] etabliert Sokrates einerseits die Prämisse, dass die Namen »Astyanax« und »Hektor« fast dieselbe Bedeutung haben (schedon tauton semainei, 393a6). Gemeint ist offenbar die etymologische Bedeutung dieser beiden Namen: »Hektor« ist ein Derivat von echein und bedeutet so viel wie »Inhaber«, und »Astyanax« leitet sich, wie bereits angesprochen, von asty und anax ab und bedeutet daher so viel wie »Stadtherr«. Sokrates ist dabei vorsichtig genug, nicht zu behaupten, dass die beiden Namen dasselbe bedeuten – ein Stadtherr ist immer auch ein Inhaber (der betreffenden Stadt nämlich), aber nicht jeder Inhaber ist auch ein Stadtherr (393a7–b1). Aber dieser Unterschied zwischen »Astyanax« und »Hektor« scheint für Sokrates’ Zwecke irrelevant zu sein und wird in der folgenden Diskussion ignoriert.23 Man wird daher die von Sokrates etablierte Prämisse vielleicht am besten folgendermaßen formulieren können: (P1) Die Namen »Astyanax« und »Hektor« stimmen in ihrer etymologischen Bedeutung in allen relevanten Hinsichten überein. Welche Hinsichten dies sind, wird anhand von Sokrates’ Überlegungen zur Irrelevanz von einzelnen Buchstaben und Silben noch zu untersuchen sein. Andererseits legen Sokrates’ Ausführungen die Vermutung nahe, er betrachte »Hektor« deswegen als einen richtigen Namen für Hektor, weil »Hektor« so viel bedeutet wie »Inhaber« und Hektor als Stadtherr von Troja eben auch Inhaber von Troja ist: Wie sonst sollte Sokrates’ Bemerkung zu verstehen sein, offenbar habe Homer, der Experte für richtige Namen, auch Hektor seinen Namen beigelegt (393a1 f.)? Bemerkenswerterweise belässt Sokrates es hier bei einer Andeutung und macht die folgende Annahme nicht explizit:
angesichts seiner weiteren Ausführungen völlig klar, dass er die Hypothese entwickelt, die ousia eines Gegenstandes müsse in einem Ausdruck kundgemacht sein (und zwar durch dessen etymologische Bedeutung), wenn es sich bei diesem Ausdruck um einen natürlicherweise richtigen Namen für den betreffenden Gegenstand handeln soll. Dass sich die Forderung, durch einen natürlicherweise richtigen Namen für einen Gegenstand müsse dessen ousia kundgemacht werden, auch ganz anders verstehen lässt, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels deutlich werden. 23 Siehe 394b7–c1: Ὥσπερ ὃ νυνδὴ ἐλέγομεν, ‘Ἀστυάναξ’ τε καὶ ‘Ἕκτωρ’ οὐδὲν τῶν αὐτῶν γραμμάτων ἔχει πλὴν τοῦ ταῦ, ἀλλ᾽ ὅμως ταὐτὸν σημαίνει.
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(P2) »Hektor« ist ein richtiger Name für den Stadtherren Hektor (weil »Hektor« so viel bedeutet wie »Inhaber« und Hektor als Stadtherr von Troja auch Inhaber von Troja ist). Wie die weiteren Überlegungen zeigen werden, ist ausgerechnet diese stillschweigende Voraussetzung von zentraler Bedeutung für Sokrates’ Argumentation. In Schritt [2] formuliert Sokrates ein auf den ersten Blick sehr respektables philosophisches Prinzip: Demnach ist es richtig, für den Abkömmling eines Löwen, eines Ochsen oder eines Angehörigen irgendeiner anderen biologischen Gattung denselben Namen zu verwenden wie für seinen unmittelbaren Vorfahren; es dürfe sich bei diesem Abkömmling nur nicht um einen freak of nature handeln, der einer anderen Gattung angehört als seine Vorfahren.24 Die Ausweitung dieses Prinzips, die Sokrates in Schritt [3] vollzieht, ist hingegen, wie bereits im sechsten Kapitel dieser Studie bemerkt wurde, alles andere als respektabel: Denn während es sich bei dem Abkömmling eines Pferdes üblicherweise auch um ein Pferd handelt, zeigt ausgerechnet das Beispiel des Astyanax, dass es kaum als naturwidriges Wunder gelten kann, wenn der Abkömmling eines (seinerseits niemals gekrönten) Königs selbst kein König wird. Sokrates formuliert hier also eine in ihrer Allgemeinheit höchst dubiose Prämisse: (P3) Wenn ein Name ein richtiger Name für einen Angehörigen eines beliebigen genos ist, so ist (in aller Regel) derselbe Name auch ein richtiger Name für seine Abkömmlinge. Das wäre offenbar nur dann plausibel, wenn die Zugehörigkeit zu einem genos stets erblich wäre; aber da Platon über einen extrem weiten genos-Begriff verfügt und keineswegs nur biologische genê kennt,25 spricht nichts dafür, (P3) zu akzeptieren. Wie die Warnung zeigt, die er Sokrates zu Beginn von Schritt [3] an Hermogenes richten lässt (393c8 f.), ist Platon sich der Ungültigkeit dieser Prämisse auch vollkommen bewusst. In Schritt [4] stellt Sokrates schließlich klar, dass es keine Rolle spielt, ob der Name, den man für den Abkömmling des genos-Angehörigen verwendet, in seiner Lautgestalt mit dem Namen übereinstimmt, den man für diesen genos-Angehörigen selbst verwendet; es komme nur darauf an, dass diese beiden Namen dasselbe bedeuten (to auto semainei, 393d2). Sokrates’ Forderung nach Bedeutungsidentität muss dabei offenbar im Sinne seiner Überlegungen in Schritt [1] Dieses Prinzip wird auch von Aristoteles in Met. Z 8 formuliert (1033b29–1034a2) und ist als ›Synonymieprinzip‹ bekannt. 25 Man denke nur an die megista genê des Sophistes. 24
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zu verstehen sein, also als Forderung nach Übereinstimmung der etymologischen Bedeutungen in allen relevanten Hinsichten; ansonsten wäre die Anwendbarkeit seiner Ausführungen auf die beiden Namen »Astyanax« und »Hektor« nicht gewährleistet. Wie Sokrates kurz darauf (394a5–7) noch deutlicher herausarbeitet, hat man es, wenn diese Forderung erfüllt ist, eigentlich gar nicht mit zwei verschiedenen Namen zu tun – vielmehr scheint er von folgendem Prinzip auszugehen: (P4) Genau dann, wenn die etymologische Bedeutung des Namens »N1« in allen relevanten Hinsichten mit der etymologischen Bedeutung des Namens »N2« übereinstimmt, handelt es sich bei »N1« und »N2« um denselben Namen. Dies ist die letzte Prämisse, die Sokrates braucht, um zu zeigen, dass »Astyanax« deswegen ein richtiger Name für den Sohn des Hektor ist, weil Hektor Herr der Stadt Troja war: Aus (P1) und (P4) folgt nämlich, dass »Astyanax« derselbe Name ist wie »Hektor«; und aus diesem Ergebnis folgt im Verbund mit (P2) und (P3), dass »Astyanax« ein richtiger Name für den Abkömmling des (ungekrönten) Stadtherren oder Königs Hektor ist. Wie sich Platons Strategie bei der Inszenierung dieses höchst eigentümlichen Arguments verstehen lässt, wird noch zu diskutieren sein. Die für den weiteren Verlauf des Kratylos entscheidende Pointe von Sokrates’ Gedankengang in 393a1–d4 ist freilich nicht die argumentative Rechtfertigung der These, »Astyanax« sei aufgrund von Hektors Status als Stadtherr ein richtiger Name für dessen Sohn, als solche, sondern vielmehr der Rückschluss, der sich aus der Struktur dieser Rechtfertigung im Hinblick auf die Frage ziehen lässt, worin die (natürliche) Richtigkeit der Namen besteht. Sokrates’ Überlegungen führen nämlich die Richtigkeit des Namens »Astyanax« als Sohn Hektors darauf zurück, dass er von »Hektor«, dem – wie in Schritt [1] angedeutet wird – richtigen Namen Hektors, nicht verschieden ist. Wer verstehen will, warum »Astyanax« aufgrund seiner Etymologie ein richtiger Name für Hektors Sohn ist, wird daher klären müssen, wieso es sich bei »Hektor« und »Astyanax« ihrer engen etymologischen Verwandtschaft wegen um denselben Namen handeln sollte.26 Sokrates’ Ansatz zur Beantwortung dieser Frage, die den weiteren Gang seiner Untersuchung prägen wird, wird von ihm im letzten Schritt seiner Argumentation in 393a1–d4 zum ersten Mal formuliert: »Ob aber [der Name] in dieEigentlich wird man natürlich auch klären müssen, wieso es sich bei »Hektor« um einen richtigen Namen für Hektor handeln sollte. Die Vernachlässigung dieser Frage wird noch zu diskutieren sein. 26
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sen oder jenen Silben dasselbe bedeutet, spielt keine Rolle; auch nicht, ob ein Buchstabe hinzugefügt oder weggenommen wird, auch das spielt keine Rolle, solange die ousia des Gegenstandes imstande ist, sich im Namen kundzumachen.« Sokrates etabliert hier, wie schon diskutiert, zum einen die Prämisse (P4); aber zum anderen erklärt er auch, wie seine Behauptung zu verstehen ist, Namen mit übereinstimmender etymologischer Bedeutung seien trotz ihrer unterschiedlichen phonetischen Zusammensetzung eigentlich keine verschiedenen Namen und daher gegebenenfalls gleichermaßen richtig oder geeignet für die Angehörigen eines genos: Es ist offenbar ein und dieselbe ousia, die in zwei solchen Namen kundgemacht wird. Sokrates scheint also hier dem in (P4) formulierten Prinzip ein weiteres, eng verwandtes Prinzip an die Seite zu stellen – nämlich: (P4*) Genau dann, wenn in dem Namen »N1« dieselbe ousia kundgemacht ist wie in dem Namen »N2«, handelt es sich bei »N1« und »N2« um denselben Namen. Nimmt man diese beiden Prinzipien zusammen, liegt die Vermutung nahe, dass es nach Sokrates’ Analyse von der etymologischen Bedeutung eines Namens abhängt, ob in ihm eine bestimmte ousia kundgemacht wird.27 Denn die Übereinstimmung der etymologischen Bedeutung zweier Namen scheint, wenn man von seiner Formulierung in Schritt [4] ausgeht, zu gewährleisten, dass in beiden Namen die jeweilige ousia kundgemacht ist. »Astyanax« wäre demnach deswegen derselbe Name wie »Hektor«, weil der Unterschied zwischen den etymologischen Gehalten dieser beiden Namen zu gering ist, als dass in ihnen unterschiedliche ousiai kundgemacht sein könnten. Da die Identität von »Hektor« und »Astyanax« Sokrates’ Überlegungen in Schritt [3] zufolge die Richtigkeit von »Astyanax« als Name für Hektors Sohn verbürgt, ist damit aber auch eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der Richtigkeit von »Astyanax« gefunden: »Astyanax« ist deswegen ein richtiger Name für einen Vertreter des genos der Stadtherren, weil in dem Namen »Astyanax« dank seiner etymologischen Bedeutung die ousia kundgemacht ist, die einen Menschen als einen Angehörigen dieses genos auszeichnet.
Denn nimmt man diese beiden Prinzipien zusammen, lässt sich offenbar die folgende Schlussfolgerung ableiten: Genau dann, wenn die etymologische Bedeutung des Namens »N1« in allen relevanten Hinsichten mit der etymologischen Bedeutung des Namens »N2« übereinstimmt, wird in dem Namen »N1« dieselbe ousia kundgemacht wie in dem Namen »N2«. 27
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(D) 393d5–394b6: Die Identität von Namen
Dieses Bild bestätigen die weiteren Ausführungen des Sokrates, die zunächst darauf abzielen, dem verständlicherweise verwirrten Hermogenes (393d6: Pôs touto legeis?) durch ein Beispiel und einen Vergleich die Irrelevanz der phonetischen Zusammensetzung eines Namens für die Frage nach seiner Identität und Richtigkeit begreiflich zu machen. Das Beispiel für die relative Irrelevanz der phonetischen Zusammensetzung eines Namens ist wiederum sehr eigentümlich: Sokrates verweist nämlich auf die Namen für einzelne Buchstaben und bemerkt, dass diese stets den benannten Buchstaben selbst, in den allermeisten Fällen aber eben auch noch andere Buchstaben enthalten – wie etwa der Name bêta, der außer dem Buchstaben b auch noch die Buchstaben ê, t und a enthält. Dennoch ist, wie Sokrates erläutert, bêta ein richtiger Name für den zweiten Buchstaben des Alphabets: Denn man sieht, »dass die Hinzufügung des ê und des t und des a nicht schadete, so dass man nicht die Natur desjenigen Buchstaben, dessen Natur der Nomothet kundmachen wollte, durch den ganzen Namen nicht kundmacht«.28 Es kommt also, so soll dieses Beispiel offenbar zeigen, auf viele Buchstaben eines Namens nicht an, wenn es um die Frage geht, ob es sich um einen richtigen Namen für eine bestimmte physis oder, wie man wohl ergänzen darf, ousia handelt: Beim Namen bêta sind die letzten drei Buchstaben völlig irrelevant, und allein das b an erster Stelle sorgt für die Kundmachung der entsprechenden physis durch den Namen. Platon hätte Sokrates freilich kaum ein irritierenderes Beispiel anführen lassen können: Denn wenn die zusätzlichen Buchstaben im Namen bêta tatsächlich irrelevant sind, stellt sich offenbar die Frage, ob nicht auch bela oder bonobo als richtige Namen für den zweiten Buchstaben des Alphabets zu gelten haben29 – ob also nicht letztlich alle Namen, die mit einem b beginnen, richtige Namen für diesen Buchstaben sein müssten. Wenn dem so wäre, wäre freilich jeder Name ein richtiger Name für seinen eigenen Anfangsbuchstaben, nicht aber für irgendwelche außersprachlichen Gegenstände.30 Wie abstrus eine solche Konsequenz ist, braucht nicht eigens betont zu werden. (Diese Überlegung wird man übrigens kaum als forcierte Skandalisierung eines an sich harmlosen, wenn auch vielleicht 393e5–8: Ὁρᾷς ὅτι τοῦ ἦτα καὶ τοῦ ταῦ καὶ τοῦ ἄλφα προστεθέντων οὐδὲν ἐλύπησεν, ὥστε μὴ οὐχὶ τὴν ἐκείνου τοῦ στοιχείου φύσιν δηλῶσαι ὅλῳ τῷ ὀνόματι οὗ ἐβούλετο ὁ νομοθέτης [.] 29 Vgl. Ademollo (2011), 166, für eine ähnliche Überlegung. 30 Aber könnte ein Name nicht ein richtiger Name für mehrere Gegenstandsarten zugleich sein? Wenn dem so wäre, müsste wahrscheinlich eine Konvention darüber entscheiden, Name welcher Gegenstandsart er ist – was zumindest für Kratylos als einen Vertreter des H YPERNATURALISMUS inakzeptabel sein dürfte. 28
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
nicht völlig durchdachten Beispiels abtun können: Denn Sokrates’ eigener Analyse zufolge impliziert der Hypernaturalismus, wenn er auf die Spitze getrieben wird, die Unmöglichkeit von richtigen Namen für außersprachliche Gegenstände, weil ein im Sinne des Hypernaturalismus richtiger Name für einen Gegenstand eine zweite Version dieses Gegenstandes und damit überhaupt kein Name mehr wäre (432a–d). Der Ansatz, den Sokrates direkt nach der WerkzeugAnalogie zu verfolgen beginnt, lässt also in letzter Konsequenz tatsächlich keine Erklärung dafür zu, wie Namen für nicht-sprachliche Gegenstände richtig sein können; und es wäre bei einem Autor wie Platon keineswegs überraschend, wenn er ein scheinbar harmloses Beispiel nutzen würde, um die Aporie des Hypernaturalismus in gleichsam spielerischer Form vorwegzunehmen.) Weniger problematisch ist der Vergleich, den Sokrates anbringt, um seine These von der Irrelevanz einzelner Buchstaben und Silben für die Identität von Namen zu erläutern. Sokrates’ Überlegungen zufolge verhält es sich mit Namen in dieser Hinsicht ähnlich wie mit Heilmitteln (pharmaka, 394a7): Dasselbe Heilmittel könne durch den Einsatz von Farb- und Geruchsstoffen auf ganz verschiedene Weisen aufbereitet werden und sei in diesen verschiedenen Einkleidungen für den Laien unter Umständen gar nicht als dasselbe Heilmittel zu erkennen; aber der Arzt, der auf die dynamis (394b1) der Mittel achte, lasse sich von diesen oberflächlichen Differenzen nicht irreführen, sondern erkenne, dass er es mit ein und demselben Mittel zu tun hat. Diese Diagnose überträgt Sokrates auf den Fall des Namens: »Ebenso betrachtet wohl auch, wer sich mit Namen auskennt, ihre Valenz (dynamis)31 und ist nicht verwirrt, wenn irgendein Buchstabe hinzugefügt oder versetzt oder weggenommen ist, oder auch, wenn die Valenz des Namens in völlig anderen Buchstaben liegt.«32 Es ist klar, wie dieser Vergleich an das Beispiel der Namen für die einzelnen Buchstaben anknüpfen soll: Sokrates will offenbar auf die Ähnlichkeit zwischen dem Status der Buchstaben ê, t und a in dem Namen bêta und dem Status von Farb- und Geruchsstoffen hinaus, die einem Mittel bei der Aufbereitung zugegeben werden und so für eine bestimmte Erscheinungsform sorgen, ohne aber die Wirkkraft des Mittels zu verändern. Demnach hätte der Nomothet denselben Namen auch ganz anders ›aufbereiten‹ können, etwa in einer Gestalt wie bamma oder belta; und so kann auch in allen anderen Fällen ein und derselbe Name in ganz verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. Was den verschiedenen Im Englischen lässt sich dynamis gut mit ›power‹ wiedergeben, aber ein vergleichbares Wort steht im Deutschen nicht zur Verfügung. ›Bedeutung‹ scheidet als mögliche Übersetzung aus, weil es wenig Sinn ergibt, von der ›Bedeutung‹ eines Heilmittels zu sprechen 32 394b3–7: Oὕτω δὲ ἴσως καὶ ὁ ἐπιστάμενος περὶ ὀνομάτων τὴν δύναμιν αὐτῶν σκοπεῖ, καὶ οὐκ ἐκπλήττεται εἴ τι πρόσκειται γράμμα ἢ μετάκειται ἢ ἀφῄρηται, ἢ καὶ ἐν ἄλλοις παντάπασιν γράμμασίν ἐστιν ἡ τοῦ ὀνόματος δύναμις. 31
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Erscheinungsformen eines Namens gemeinsam sein muss, ist, ganz wie im Fall der Heilmittel, die dynamis oder Valenz, an der sich ein Namenskundiger demzufolge zu orientieren hat. Sokrates formuliert also hier mit Blick auf die Identität von Namen ein drittes, (P4) und (P4*) wiederum eng verwandtes Prinzip: (P4**) Genau dann, wenn die Namen »N1« und »N2« dieselbe Valenz (dynamis) haben, handelt es sich bei »N1« und »N2« um denselben Namen. Was aber hat die Rede von der dynamis des Namens zu bedeuten? Eine dynamis zeichnet sich für Platon dadurch aus, dass sie (in geeigneten Kontexten) eine bestimmte Leistung (ergon) erbringt.33 Wenn Sokrates von den dynameis der verschiedenen Heilmittel spricht, die der Arzt zu kennen habe, so geht es ihm dementsprechend offenbar um die verschiedenen Wirkungen, die diese Heilmittel im menschlichen Körper entfalten – was sie im negativen Fall anrichten und im positiven Fall leisten. Es ist daher naheliegend, sich unter der dynamis eines Heilmittels seine Wirkkraft vorzustellen. Im Fall des Namens wird man nun freilich von einer ›Wirkkraft‹ nicht sprechen können; aber es ist durchaus angemessen, nach dem Beitrag zu fragen, der in bestimmten Kontexten (beispielsweise in Sätzen) durch die Verwendung eines Namens geleistet wird. Kombiniert man (P4**) mit (P4*), wird auch klar, um welchen Beitrag es sich dabei handeln muss: Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es die Kundmachung einer bestimmten ousia, die durch den Einsatz eines Namens erreicht wird. Wie sich bereits gezeigt hat, ist es nach Sokrates’ Analyse allein von der etymologischen Bedeutung des Namens abhängig, welche ousia in ihm kundgemacht ist; und daraus ergibt sich – ganz im Sinne von (P4) und (P4**) –, dass zwei Namen genau dann dieselbe dynamis haben, wenn ihre etymologischen So erklärt Sokrates in einer in dieser Hinsicht einschlägigen Passage aus dem fünften Buch der Politeia (477c6–d5), man müsse dynameis im Hinblick auf das unterscheiden, was sie leisten (apergazesthai): Δυνάμεως γὰρ ἐγὼ οὔτε τινὰ χρόαν ὁρῶ οὔτε σχῆμα οὔτε τι τῶν τοιούτων οἷον καὶ ἄλλων πολλῶν, πρὸς ἃ ἀποβλέπων ἔνια διορίζομαι παρ᾽ ἐμαυτῷ τὰ μὲν ἄλλα εἶναι, τὰ δὲ ἄλλα· δυνάμεως δ᾽ εἰς ἐκεῖνο μόνον βλέπω ἐφ᾽ ᾧ τε ἔστι καὶ ὃ ἀπεργάζεται, καὶ ταύτῃ ἑκάστην αὐτῶν δύναμιν ἐκάλεσα, καὶ τὴν μὲν ἐπὶ τῷ αὐτῷ τεταγμένην καὶ τὸ αὐτὸ ἀπεργαζομένην τὴν αὐτὴν καλῶ, τὴν δὲ ἐπὶ ἑτέρῳ καὶ ἕτερον ἀπεργαζομένην ἄλλην. (Vgl. zur Stelle in ihrem argumentativen Kontext Fine (1978)). Es ist übrigens bemerkenswert, wie sehr diese Passage aus der Politeia und die Überlegungen zur dynamis von Heilmitteln im Kratylos einander in ihrer Betonung der Irrelevanz von sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ähneln. Diese Akzentsetzung verbindet sie mit einer weiteren Passage aus dem Kratylos: In 423c–e grenzt nämlich Sokrates die ousia von Gegenständen von ihren sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ab. Dass zwischen dem Begriff der dynamis und dem Begriff der ousia tatsächlich ein sehr enger Zusammenhang besteht, zeigt, gestützt auf eine Auflistung aller Vorkommnisse des Terms dynamis in den Platonischen Dialogen, Souilhé (1919), 155–159. 33
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
Bedeutungen (in den relevanten Hinsichten) übereinstimmen. Die Einführung des Begriffs der dynamis liefert demnach kein neues, von (P4) und (P4*) unabhängiges Kriterium für die Identität von Namen; dieser Begriff erlaubt es vielmehr Sokrates, auf einem abstrakten Niveau die Frage zu beantworten, in welchem Sinne es sich bei Namen, deren etymologische Bedeutung übereinstimmt, eigentlich nicht um verschiedene Namen handelt: Die oberflächlichen Unterschiede zwischen solchen Namen fallen deswegen so wenig ins Gewicht wie die oberflächlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Aufbereitungen desselben Heilmittels, weil sie durch ihre etymologische Bedeutung in Sätzen und anderen sprachlichen Kontexten dieselbe ousia kundmachen und insofern denselben Beitrag leisten – ganz so, wie die verschiedenen Aufbereitungen desselben Heilmittels im menschlichen Körper dieselbe Wirkung entfalten.
(E) 394b6–e7: Anwendung und Generalisierung der gewonnenen Ergebnisse
Den beschriebenen Zusammenhang zwischen der etymologischen Bedeutung von Namen, der Kundmachung, die durch ihren Einsatz erreicht wird, und ihrer dynamis bestätigt Sokrates bei seiner Anwendung der bisher erreichten Ergebnisse auf die Namen »Astyanax« und »Hektor«: Es ist wie in dem Fall, über den wir gerade sprachen: »Astyanax« und »Hektor« haben keinen ihrer Buchstaben gemeinsam außer dem t, und gleichwohl bedeuten sie dasselbe. Und welchen der Buchstaben hat »Archepolis« [mit ihnen] gemeinsam? Und gleichwohl macht [dieser Name] dasselbe kund; und es gibt viele andere, die nichts anderes als einen König bedeuten;34 und andere wiederum [bedeuten nichts anderes als] einen Strategen, wie »Agis« und »Polemarchos« und »Eupolemos«. Und andere sind ärztlich, »Iatroklês« und »Akesimbrotos«. Und wir könnten wahrscheinlich viele andere [Namen] finden, die in den Silben und den Buchstaben zwar nicht im Gleichklang sind, aber in ihrer Valenz doch denselben Klang35 erzeugen.36 Hier könnte auch, wie z. B. Fowler und Dalimier annehmen, gemeint sein, dass der Name »Astyanax« nichts anderes bedeutet als der Ausdruck basileus; aber das ist insofern nicht besonders wahrscheinlich, als Sokrates bisher unter der ›Bedeutung‹ eines Namens immer seine etymologische Bedeutung verstanden hat und basileus sicherlich nicht dieselbe etymologische Bedeutung hat wie »Astyanax«. Sokrates’ Formulierung dürfte vielmehr besagen, dass jeder dieser Namen dank seiner etymologischen Bedeutung seinen Träger als einen König ausweist. 35 ταὐτὸν φθεγγόμενα dürfte, wie Ademollo (2011), 173 Anm. 65, unter Berufung auf Ficino vermutet, die musikalische Metaphorik aufgreifen, die durch das διαφωνοῦντα eingeführt wird. 36 394b7–c9: Ὥσπερ ὃ νυνδὴ ἐλέγομεν, ‘Ἀστυάναξ’ τε καὶ ‘Ἕκτωρ’ οὐδὲν τῶν αὐτῶν 34
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Anhand der drei Beispielgruppen – erstens »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis«, zweitens »Agis«, »Polemarchos« und »Eupolemos«, drittens »Iatroklês« und »Akesimbrotos« – kann Sokrates hier die wesentlichen Ergebnisse seiner bisherigen Analyse zusammenfassen und veranschaulichen: Die Namen in diesen drei Gruppen bedeuten jeweils dasselbe (tauton semainei, 394c1), stimmen also in ihren etymologischen Bedeutungen überein. Freilich kann von vollkommener Übereinstimmung des deskriptiven Gehalts dieser Namen höchstens in einem einzigen Fall die Rede sein: »Astyanax« und »Archepolis« bedeuten tatsächlich beide so viel wie »Stadtherr«; aber das kann von »Hektor« (»Inhaber«) sicherlich nicht behauptet werden. »Agis« heißt so viel wie »Anführer«, »Polemarchos« so viel wie »Kriegsherr« und »Eupolemos« so viel wie »Gut-im-Krieg«; und während »Iatrokles« so viel heißt wie »Berühmt-für-Medizin«, heißt »Akesimbrotos« so viel wie »Heiler der Sterblichen«. Wie Sokrates’ anfängliche Überlegung zu »Hektor« und »Astyanax« (393a6–b1) zeigt, ist er sich solcher Unterschiede auch durchaus bewusst.37 Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse ist aber auch klar, warum diese Unterschiede nicht ins Gewicht fallen: Die Namen in den drei Gruppen machen, wie Sokrates hier noch einmal anführt, nämlich jeweils dasselbe kund (394c3) – und zwar, wie man im Sinne von 393d4 f. ergänzen darf, eine bestimmte ousia.38 »Agis«, Polemarchos« und »Eupolemos« sind dank ihrer Etymologie verkappte Beschreibungen, die keineswegs (wie etwa »Astyanax« und »Archepolis«) synoγραμμάτων ἔχει πλὴν τοῦ ταῦ, ἀλλ᾽ ὅμως ταὐτὸν σημαίνει. καὶ ‘Ἀρχέπολίς’ γε τῶν μὲν γραμμάτων τί ἐπικοινωνεῖ; δηλοῖ δὲ ὅμως τὸ αὐτό· καὶ ἄλλα πολλά ἐστιν ἃ οὐδὲν ἀλλ᾽ ἢ βασιλέα σημαίνει· καὶ ἄλλα γε αὖ στρατηγόν, οἷον ‘Ἆγις’ καὶ ‘Πολέμαρχος’ καὶ ‘Εὐπόλεμος’. καὶ ἰατρικά γε ἕτερα, ‘Ἰατροκλῆς’ καὶ ‘Ἀκεσίμβροτος’· καὶ ἕτερα ἂν ἴσως συχνὰ εὕροιμεν ταῖς μὲν συλλαβαῖς καὶ τοῖς γράμμασι διαφωνοῦντα, τῇ δὲ δυνάμει ταὐτὸν φθεγγόμενα. 37 Auch Ademollo (2011), 173 f., sieht richtig, dass die von Sokrates aufgezählten Namen jeweils nicht sensu strictu dieselbe etymologische Bedeutung haben und Sokrates sich dieser Tatsache auch bewusst ist. Er zieht daraus den folgenden Schluss: »When Socrates speaks of these names as signifying/indicating the same, or as being the same in respect of their power, he is speaking somewhat hyperbolically. He says ›the same‹, but knows he rather ought to say ›roughly the same‹.« Er übersieht dabei, dass es Sokrates’ Analyse zufolge zwischen diesen Namen eine echte Gemeinsamkeit gibt, die über die bloße Nähe ihrer etymologischen Bedeutungen hinausgeht: Dank ihrer ähnlichen etymologischen Bedeutungen machen die von Sokrates zusammengruppierten Namen jeweils dieselbe ousia kund. 38 Zugegebenermaßen ist es in 393e3 die dynamis eines Buchstabens, die in seinem Namen kundgemacht werden muss, und in 393e6 seine physis. Aber im weiteren Verlauf des Kratylos wird an entscheidender Stelle – nämlich in 423e7–9 – nur die Rede von einer Kundmachung der ousia durch den Namen aufgegriffen; und in direkter Anknüpfung daran entwickelt Sokrates die Charakterisierung des Namens als Nachahmung der ousia eines Gegenstandes (424b8–10), die den weiteren Dialogverlauf prägt. Es spricht also alles für die Annahme, dass Sokrates in 393e keinen Unterschied zwischen der dynamis und der physis eines Buchstaben einerseits und seiner ousia andererseits markieren will, sondern nur seine Terminologie variiert.
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nym sind. Aber es handelt sich um drei Beschreibungen derselben ousia oder Seinsweise, nämlich der des Strategen. Sollte man die Frage beantworten, was es heißt, ein Stratege zu sein, oder was einen Strategen auszeichnet, wären diese Beschreibungen auch keine schlechten Antworten – ein Stratege zu sein beinhaltet ja tatsächlich, »Anführer« (eines Heeres), »Kriegsherr« und »gut im Krieg« zu sein. Die Seinsweise des Strategen wird also in allen drei Namen insofern kundgemacht, als diese Namen als verkappte Beschreibungen dieser Seinsweise aufzufassen sind oder, wie man sagen könnte, solche Beschreibungen enkodieren. So ist es zu verstehen, wenn Sokrates behauptet, diese drei Namen hätten dieselbe Bedeutung, obwohl er die Unterschiede zwischen ihren etymologischen Bedeutungen nicht verkennt: Diese Unterschiede sind nämlich nicht von Belang für die Frage, welche ousia es ist, die dank des deskriptiven Gehalts der Namen kundgemacht wird. Wenn Sokrates daher von der gemeinsamen Bedeutung dieser drei Namen spricht, sollte man darunter das verstehen, was ihren verschiedenen etymologischen Bedeutungen gemeinsam ist – dass sie nämlich jeweils die ousia des Strategen oder den Strategen als solchen beschreiben. Keinen anderen Sinn dürfte es haben, wenn Sokrates erklärt, die drei Namen bedeuteten alle einen Strategen (394c4);39 denn das, was den etymologischen Bedeutungen der drei Namen gemeinsam ist und daher als ihr gemeinsamer Kern gelten kann, ist eben, dass durch sie der Stratege als ein Typus beschrieben wird. Insgesamt muss man daher im Hinblick auf die Frage, ob zwei Namen dasselbe bedeuten, zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff der Bedeutungsgleichheit unterscheiden: Im engeren Sinne wären zwei Namen genau dann bedeutungsgleich, wenn sie dieselbe Beschreibung enkodieren; und an diesem Maßstab orientiert sich offenbar Sokrates, wenn er in 393a6 über die Namen Heitsch (1985), 58–61, und Sedley (2003), 84 f., behaupten in Anbetracht derartiger Erklärungen, Platon unterscheide ähnlich wie Frege zwischen dem Sinn und der Bedeutung eines Namens: Der Sinn des Namens »Astyanx« sei demnach sein etymologischer Gehalt und unterscheide sich von dem Sinn des Namens »Hektor«; aber da diese beiden Namen gleichermaßen auf die Gattung der Könige bezogen seien, hätten sie dieselbe Bedeutung. Dieser suggestive Vergleich ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: Man wird die These, für Platon spiele der etymologische Gehalt eines Namens eine ähnliche Rolle wie für Frege der Sinn eines Namens, nämlich nur dann vertreten können, wenn man davon ausgeht, dass für Platon der etymologische Gehalt eines Namens festlegt, auf welche Art oder Gattung sich der Name bezieht – denn für Frege determiniert der Sinn eines Namens zweifellos seine Bedeutung. Man müsste Platon also die Annahme unterstellen, dass sich der Name »Astyanax« ganz unabhängig davon, wie Sprecher ihn gebrauchen, auf das genos der Könige bezieht – man müsste ihn, mit anderen Worten, zu einem Vertreter des H YPERNATURALISMUS erklären. Wenn irgendjemand der etymologischen Bedeutung eine Rolle zuschreibt, die Freges Sinn analog ist, so handelt es sich daher um Kratylos, nicht um Platon. Unabhängig davon überzeugt die von Heitsch und Sedley gestellte Diagnose, Platon lasse Sokrates an dieser Stelle Eigennamen als verkappte generelle Terme behandeln: S. u., Anm. 41. 39
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»Hektor« und »Astyanax« nicht einfach sagt, dass sie dasselbe bedeuten, sondern nur, dass sie fast dasselbe bedeuten. Im weiteren Sinne bedeuten zwei Namen aber auch dann dasselbe, wenn die Unterschiede zwischen den Beschreibungen, die sie enkodieren, nichts daran ändern, dass es sich um Beschreibungen derselben ousia handelt, die in diesem Fall in beiden Namen kundgemacht ist. An diesem Maßstab muss sich Sokrates orientieren, wenn er in 394b7–c1 die Qualifikation aus 393a6 fallenlässt und erklärt, die Namen »Hektor« und »Astyanax« bedeuteten dasselbe. Da er diese Qualifikation fallenlässt, muss für seine Überlegungen der weniger strikte Maßstab für Bedeutungsgleichheit der entscheidende sein. Für die Zwecke der laufenden Untersuchung scheint es also nur darauf anzukommen, ob zwei Namen adäquate Beschreibungen derselben ousia enkodieren. Zwei Namen, die diese Bedingungen erfüllen, haben, wie Sokrates in 394c8 noch einmal bestätigt, dieselbe dynamis, leisten also in Verwendungskontexten denselben Beitrag und sind daher eigentlich gar nicht als zwei verschiedene Namen, sondern als zwei Erscheinungsformen desselben Namens zu betrachten. Die bereits aus der Analyse des in 393a1–d4 vorgetragenen Arguments gewonne Hypothese über den Grund für die Identität der Namen »Astyanax« und »Hektor« kann damit als gesichert gelten: »Astyanax« und »Hektor« sind deshalb keine verschiedenen Namen, weil in ihnen aufgrund der engen Verwandtschaft ihrer etymologischen Bedeutung dieselbe ousia kundgemacht ist; und da die Richtigkeit des Namens »Astyanax« sich Sokrates’ Analyse zufolge seiner Identität mit dem Namen »Hektor« verdankt, muss sie darauf zurückgeführt werden, dass in »Astyanax« – ebenso wie in »Hektor« und »Archepolis« – diejenige ousia kundgemacht ist, die dem Sohn des Hektor als einem Vertreter des genos der Stadtherren zukommt. Ein richtiger Name für Hektors Sohn ist »Astyanax« demzufolge freilich nicht insofern, als er in einem speziellen Verhältnis zu diesem Individuum stünde: Aus Sokrates’ Überlegungen scheint schließlich zu folgen, dass »Astyanax« für Hektor selbst ebenso ein richtiger Name sein muss wie für Hektors Sohn, weil (der explizit als dubios gekennzeichneten Argumentation in 393c9–d1 und 394a1–4 zufolge) Vater und Sohn beide Könige sind oder an der ousia des Königs teilhaben; und dementsprechend müssten »Hektor« und »Archepolis« richtige Namen nicht nur für Hektor und seinen Sohn sein, sondern für all diejenigen Personen, die an dieser ousia teilhaben und zum genos der Könige gehören. Wie bereits im vierten Kapitel dieser Studie erläutert wurde, behandelt Sokrates also offenbar die Namen »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis« gar nicht, wie man es erwarten würde, als Eigennamen, sondern als Namen für ein genos, eine Gattung oder eine Art von Personen – die Könige. Diese Vermutung wird zur Gewissheit, wenn man Sokrates’ abschließende Bemerkungen zu Fällen, in denen man es mit einem aus der Art geschlagenen Abkömmling zu tun hat, in Rechnung stellt:
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Wie aber verhält es sich mit denen, die widernatürlich geboren werden, in der Art eines Wunders? Wie wenn von einem guten und gottesfürchtigen Mann ein Unfrommer geboren wird, verhält es sich nicht so wie in dem zuvor betrachteten Fall: Wenn ein Pferd den Abkömmling eines Ochsen zeugt, musste er zweifellos nicht den Beinamen des Zeugenden haben, sondern den der Gattung, zu der er gehört? – Natürlich. – Auch dem von dem Frommen geborenen Unfrommen ist also der Name der Gattung zuzuordnen.40
Deutlicher könnte man nicht zum Ausdruck bringen, dass die vermeintlichen Eigennamen »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis« als richtige Namen für alle Könige beziehungsweise für das genos der Könige einzustufen sind.41 Die Tatsache, dass es Sokrates in diesem Sinne um Namen für Gattungen geht, erklärt auch, wieso er mit dem Begriff der ousia operiert, um die Frage zu beantworten, was einen Namen zu einem richtigen Namen macht. Das wäre dann rätselhaft, wenn es Sokrates tatsächlich um Namen für einzelne Gegenstände ginge; denn eine ousia des Individuums Hektor oder seines Sohnes Astyanax gibt es offenkundig nicht. Wohl aber ist es sinnvoll, von der ousia eines genos beziehungsweise einer Gattung zu sprechen: Denn da es für Platon keinen scharfen Unterschied zwischen Gattungen und Arten zu geben scheint, wird man im Sinne der Überlegungen des dritten Kapitels dieser Studie davon auszugehen haben, dass es auch für die Angehörigen einer Gattung etwas geben muss, was sie zu Angehörigen der Gattung macht und von allen anderen Gegenständen abgrenzt – eben die ousia der Gattung, die all ihren Angehörigen und nur ihnen zukommt. Die etymologisch-deskriptive Theorie der Richtigkeit der Namen, die Sokrates in 391b–394e entwickelt, lässt sich also zuspitzen auf die Deskriptionsthese: Ein Ausdruck ist genau dann ein (natürlicherweise) richtiger Name für eine bestimmte Gattung und damit für alle ihre Angehörigen,
40 394d5–e2: Tί δὲ τοῖς παρὰ φύσιν, οἳ ἂν ἐν τέρατος εἴδει γένωνται; οἷον ὅταν ἐξ ἀνδρὸς ἀγαθοῦ καὶ θεοσεβοῦς ἀσεβὴς γένηται, ἆρ᾽ οὐχ ὥσπερ ἐν τοῖς ἔμπροσθεν, κἂν ἵππος βοὸς ἔκγονον τέκῃ, οὐ τοῦ τεκόντος δήπου ἔδει τὴν ἐπωνυμίαν ἔχειν, ἀλλὰ τοῦ γένους οὗ εἴη; – Πάνυ γε. – Kαὶ τῷ ἐκ τοῦ εὐσεβοῦς ἄρα γενομένῳ ἀσεβεῖ τὸ τοῦ γένους ὄνομα ἀποδοτέον. 41 Es ist angesichts dieser Passage ziemlich rätselhaft, wie Ademollo gegen die unter anderem von Heitsch und Sedley (vgl. Anm. 39), aber auch schon von Lorenz/Mittelstraß (1967), 5 f., und Kahn (1973), 163 f., vertretene These, Sokrates behandele Eigennamen wie »Hektor« und »Astyanax« als generelle Terme, einwenden kann: »The assumption that the proper names offered by Socrates as examples are in fact to be considered as general terms is far-fetched« (Ademollo (2011), 175). Sokrates bezeichnet einen vermeintlichen Eigennamen wie »Astyanax« explizit als onoma tou genous, als »Name der Gattung« – einen direkteren Beleg für die These von Heitsch und Sedley könnte man sich gar nicht wünschen.
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wenn in diesem Ausdruck die ousia der Gattung dadurch kundgemacht ist, dass er eine adäquate Beschreibung dieser ousia enkodiert.
Damit ist der Übergang zu den Etymologien vollzogen: Denn Sokrates’ etymologische Untersuchungen zielen ja schließlich darauf ab, diese These zu illustrieren und gleichzeitig plausibel zu machen, dass viele griechische Namen in ihrem Sinne richtig sind.
Alternativlos? Platons doppelbödige Inszenierung des Schritts zur D ESKRIPTIONSTHESE
Die Deskriptionsthese ist das zentrale – wenn auch niemals explizit formulierte – Resultat der gesamten Passage 391b–394e. Seine Ableitung durch Sokrates ist an Merkwürdigkeit kaum zu überbieten. Nicht nur müssen die Willkürlichkeiten und teils grotesken Fehler, die diese Ableitung kennzeichnen, massive Zweifel daran wecken, dass die Deskriptionsthese eine wohlfundierte Antwort auf die Frage liefert, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen im Sinne der Werkzeug-Analogie macht: Auf den ersten Blick kann es sogar so wirken, als präsentiere Sokrates die Deskriptionsthese gar nicht als Antwort auf diese Frage. Denn bereits in 391b–394e scheint er den von der Analogie gesetzten Begriffsrahmen hinter sich zu lassen: Sokrates hält sich schließlich, so der Eindruck, keine Sekunde mit der Frage auf, ob der Ausdruck »Astyanax« ein geeignetes Werkzeug für den Vollzug (einer spezifischen Version) des Nennens ist, und was ihm gegebenenfalls seine Eignung verleiht; und ebenso scheint es keine Rolle zu spielen, ob und gegebenenfalls warum dieser Ausdruck an einer der spezifischen Ideen des Namens teilhat, obwohl den Überlegungen der Werkzeug-Analogie zufolge eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen eigentlich gerade zu klären hätte, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck an einer dieser Ideen teilhat. Statt auf das in der Werkzeug-Analogie erarbeitete begriffliche Instrumentarium zurückzugreifen, führt Sokrates eine Reihe neuer Konzepte ein: So spricht er ohne jede Erläuterung auf einmal davon, dass Namen etwas bedeuten (sêmainein) oder etwas kundmachen (dêloun), und dass der Fachmann (ho epistamenos peri tôn onomatôn, 394b3 f.) sie auf ihre Valenz (dynamis) hin untersuchen muss. Zudem scheint Sokrates in 391b–394e daran interessiert zu sein, unter welchen Umständen ein Name richtiger (orthoteron: 392a6, b9, c2 f. und d8)42 ist als ein anderer Name; derlei Gradabstufungen spielen in der Werkzeug-Analogie keine Rolle und vertragen sich auch schlecht mit der 42
Sokrates’ Formulierung in 392a2 f. – ὅπῃ ποτὲ ὀρθῶς ἔχει ἐκεῖνον τὸν ποταμὸν Ξάνθον
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dichotomischen Betrachtungsweise, die im (Spezifischen) Funktionalitätsprinzip zum Ausdruck kommt.43 Schon bei der Lektüre der Passage 391b–394e gewinnt man also leicht den Eindruck, den der gesamte Mittelteil des Kratylos zu stützen scheint: den Eindruck nämlich, Sokrates entwickle gar keine Theorie der natürlichen Richtigkeit, die auf die Bestimmung des Namens als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias aufbaut. Indessen zeigt ausgerechnet die Passage 391b–394e auch, dass eine solche Deutung der Entwicklung des Dialogs nach der Werkzeug-Analogie zu einfach ist. Denn wie man bei genauerer Betrachtung erkennt, ist die Deskriptionsthese eben doch sehr genau abgestimmt auf die normative Charakterisierung des Namens als Werkzeug zur Belehrung und zur Unterscheidung der ousia, die als wesentliches Resultat der Werkzeug-Analogie gelten muss. Wie im dritten Kapitel dieser Studie nachgewiesen werden konnte, stellt diese Bestimmung nicht zwei verschiedene Aufgaben des Namens nebeneinander, als sei der Name ein Werkzeug zur Belehrung und auch ein Werkzeug zur Unterscheidung der ousia einer Art von Gegenständen. Vielmehr greift ein Sprecher durch die Verwendung eines Namens eine ousia für einen Hörer heraus und trägt so zu der Belehrung bei, die dem Hörer zuteil wird, wenn er den Satz versteht, in dessen Äußerung die Verwendung des Namens eingebettet ist. Die Unterscheidungsleistung, die mit einem Namen vollzogen wird, ist in diesem Sinne wesentlich didaktisch; und umgekehrt vollzieht sich die Belehrung, der ein Name dient, immer als Unterscheidung einer ousia. Ein natürlicherweise richtiger Name zeichnet sich dadurch aus, dass er den Vollzug dieser didaktischen Unterscheidungsleistung in einer spezifischen Version ermöglicht – dass er es also einem Sprecher erlaubt, die ousia einer bestimmten Art von Gegenständen für einen Hörer herauszugreifen. Der Deskriptionsthese zufolge ist nun ein Ausdruck genau dann ein natürlicherweise richtiger Name für ein bestimmtes genos von Gegenständen, wenn in ihm (vermittels seiner etymologischen Bedeutung) die ousia dieses genos kundgemacht wird. Da Platon keinen scharfen Unterschied zwischen Gattungen und Arten44 kennt und im gegenwärtig diskutierten Abschnitt der Kratylos mit einem extrem liberalen genos-Begriff operiert, spricht nichts dagegen, die Deskriptiκαλεῖν μᾶλλον ἢ Σκάμανδρον – impliziert nicht, dass »Xanthos« ein richtigerer Name ist als »Skamandros«, wie Ademollo (2011), 152, zurecht bemerkt. 43 Laut Sedley (2003), 78–80, ist es eines der bleibenden Ergebnisse von Sokrates’ Überlegungen in 391b–394e, dass Richtigkeit eine gradierbare Eigenschaft von Namen ist: »That there are differing degrees of correctness in naming is thus a rather pronounced finding of the passage. Socrates keeps it up his sleeve for now, but it will become vital later when he turns to the refutation of Cratylus« (ebd., 80). Auf Sedleys These wird im weiteren Verlauf dieses Abschnitts noch zurückzukommen sein. 44 Zumal Platon Sokrates ja in der Werkzeug-Analogie auch gar nicht explizit von ›Arten‹ sprechen lässt.
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onsthese als die Behauptung zu lesen, dass ein Ausdruck genau dann ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Art von Gegenständen ist, wenn in ihm (vermittels seiner etymologischen Bedeutung) die ousia dieser Art kundgemacht wird. Dabei wird, wie die bisherige Analyse gezeigt hat, die ousia einer Art in einem Namen genau dann kundgemacht, wenn der Name eine adäquate Beschreibung dieser ousia enkodiert: So wird etwa in dem Namen »Astyanax« die ousia der Art der Könige kundgemacht, weil »Astyanax« dank seiner Etymologie so viel bedeutet wie »Herr einer Stadt« und es einen König als König auszeichnet, Herr einer Stadt zu sein. Aus dieser Perspektive lässt sich gut erkennen, wie die Deskriptionsthese an Sokrates’ Überlegungen in der Werkzeug-Analogie anknüpft: Geht man von diesen Überlegungen aus, müsste sich »Astyanax« als ein richtiger Name für die Art der Könige durch seine Eignung für die Unterscheidung der ousia dieser Art für einen Hörer auszeichnen. Die Deskriptionsthese bietet nun eine Antwort auf die Frage, was dem Ausdruck »Astyanax« diese Eignung verschafft: »Astyanax« würde sich demnach deswegen dazu eignen, die ousia der Art der Könige für einen Hörer herauszugreifen, weil »Astyanax« eine Beschreibung eben dieser ousia enkodiert; die Tatsache, dass in diesem Namen eine bestimmte ousia kundgemacht wird, würde sicherstellen, dass durch seine Verwendung die betreffende ousia für einen Hörer unterschieden werden kann. Geht man einen naheliegenden Schritt weiter und nimmt an, dass man statt von der ›Unterscheidung einer ousia für einen Hörer‹ auch von der ›Kundmachung einer ousia‹ sprechen kann, 45 könnte man diesen Gedanken auch folgendermaßen formulieren: Die Tatsache, dass in dem Namen »Astyanax« die ousia der Art der König kundgemacht wird, scheint sicherzustellen, dass durch die Verwendung des Namens diese ousia kundgemacht werden kann. Gegen die These, das Kundmachen, das dêloun einer ousia falle mit dem Unterscheiden dieser ousia für einen Hörer zusammen, ließe sich einwenden, dass mit der Rede von einer Kundmachung der ousia etwas viel Anspruchsvolleres gemeint sein muss: Schließlich kann man aus Sokrates’ etymologischen Analysen, aber insbesondere auch aus seinen Überlegungen zur Nachahmung von Den Zusammenhang zwischen der Charakterisierung des Namens als Mittel des dêloun und seiner Beschreibung als organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias sieht (im Gegensatz zu fast allen anderen Interpreten) ganz klar Barney (2001), 88: »[…] Socrates uses talk of disclosure as a shorthand for his earlier definition of names as tools […].« Barney geht allerdings davon aus, dass ein dêloun im vollen Sinne (»strong disclosure«: 103) nur durch einen Namen geleistet werden kann, der eine Definition der benannten ousia enkodiert (oder eine perfekte Nachahmung dieser ousia ist). Das ist, wie die obigen Überlegungen zeigen, ein Missverständnis, das Barney verkennen lässt, welch wichtige Rolle das FUNKTIONALITÄTSPRINZIP für den Gedankengang des Kraylos spielt. 45
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ousiai durch Namen leicht den Eindruck gewinnen, eine ousia werde in einem Namen nur dann kundgemacht, wenn er eine Definition dieser ousia enkodiert oder sie perfekt nachahmt – wenn sich also alles, was man über die betreffende ousia wissen kann, aus ihrem Namen entnehmen lässt. Aber die Beispiele, die Sokrates in 394b/c anführt – »Archepolis«, »Astyanax« und »Hektor« als richtige Namen für Könige, »Eupolemos«, »Polemarchos« und »Agis« als richtige Namen für Strategen, »Akesimbrotos« und »Iatrokles« als richtige Namen für Ärzte – scheinen eine solch hohe Anforderung keineswegs zu erfüllen; und wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt, gilt dies auch für viele der Namen, die Sokrates auf ihre Etymologie hin untersucht. Nicht zuletzt macht Sokrates selbst gegen Kratylos, der nur perfekte phonetische Nachahmungen als Namen anerkennen will, geltend, dass eine Kundmachung durch den Einsatz eines Namens in einer Gesprächssituation bereits dann erreicht ist, wenn der Hörer erkennt, auf was sich der Sprecher bezieht, indem er den Namen verwendet. Zu diesem Zugeständnis bewegt Sokrates Kratylos durch eine Betrachtung des Namens sklêron (»hart«), der erwiesenermaßen keine gute Nachahmung der Härte ist: So wie wir jetzt sprechen, verstehen wir einander gar nicht, wenn einer sklêron sagt, und weißt du auch jetzt nicht, was ich sage? – Tue ich doch, der Gewohnheit wegen, mein Lieber. – Aber wenn du »Gewohnheit« sagst, glaubst du etwas anderes zu sagen als »Konvention«? Oder verstehst du unter »Gewohnheit« irgendetwas anderes als dass ich, wenn ich diesen [Namen] ausspreche, an jenes denke, du aber erkennst, dass ich an jenes denke? Meinst du nicht dies? – Ja. – Wenn du es nun erkennst, wenn ich [den Namen] ausspreche, wird dir dann nicht eine Kundmachung (dêloma)46 von meiner Seite zuteil? – Ja.47
Dieser Abschnitt erfordert eigentlich zweifellos eine ausführlichere Diskussion.48 Für den gegenwärtigen Zusammenhang kommt es indessen nur darauf an, dass Sokrates hier keine sonderlich anspruchsvollen Bedingungen für die Kundmachung durch die Verwendung eines Namens aufstellt, sondern nur betont, dass für den Hörer klar sein muss, was der Sprecher meint. Unter dieser Voraussetzung wird man tatsächlich davon ausgehen können, dass ein Sprecher durch die VerEs erscheint wenig sinnvoll, dêloma mit »means to indicate« wiederzugeben, wie Ademollo (2011), 397 f. mit Anm. 28, es vorschlägt. Seine Begründung, dêloma müsse in 435b2 »means to indicate« heißen, überzeugt nicht – denn in welchem Sinne kann das ethos ein »means to indicate« sein? 47 434e1–435a4: Nῦν ὡς λέγομεν, οὐδὲν μανθάνομεν ἀλλήλων, ἐπειδάν τις φῇ ‘σκληρόν,’ οὐδὲ οἶσθα σὺ νῦν ὅτι ἐγὼ λέγω; – Ἕγωγε, διά γε τὸ ἔθος, ὦ φίλτατε. – Ἕθος δὲ λέγων οἴει τι διάφορον λέγειν συνθήκης; ἢ ἄλλο τι λέγεις τὸ ἔθος ἢ ὅτι ἐγώ, ὅταν τοῦτο φθέγγωμαι, διανοοῦμαι ἐκεῖνο, σὺ δὲ γιγνώσκεις ὅτι ἐκεῖνο διανοοῦμαι; οὐ τοῦτο λέγεις; – Nαί. – Oὐκοῦν εἰ γιγνώσκεις ἐμοῦ φθεγγομένου, δήλωμα σοι γίγνεται παρ᾽ ἐμοῦ; – Nαί. 48 Vgl. die Überlegungen im zweiten Abschnitt des elften Kapitels. 46
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wendung eines Namens genau dann eine ousia kundmacht, wenn es ihm gelingt, sie für einen Hörer herauszugreifen. Ein Werkzeug zur Belehrung und Unterscheidung der ousia einer Art von Gegenständen ist demnach nichts anderes als ein Werkzeug zur Kundmachung der ousia einer Art von Gegenständen. Damit ist klar, dass die Deskriptionsthese der Sache nach direkt an Sokrates’ normative Bestimmung des Namens in 388b/c anschließt und als eine Antwort auf die Frage gelesen werden kann, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck zur Unterscheidung der ousia einer bestimmten Art von Gegenständen geeignet und damit ein natürlicherweise richtiger Name für diese Art von Gegenständen ist: Durch die Verwendung eines Ausdrucks kann demnach genau dann eine solche ousia für einen Hörer unterschieden oder kundgemacht werden, wenn der Ausdruck selbst vermittels einer enkodierten Beschreibung kundmacht, welche ousia es ist, die durch seinen Einsatz herausgegriffen wird, beziehungsweise die Aufmerksamkeit eines Hörers auf diese ousia zu lenken vermag. Kundmachung der ousia im Namen wäre demzufolge notwendige und hinreichende Bedingung für die Möglichkeit der Kundmachung der ousia durch den Namen. Ist dieser Zusammenhang erst einmal durchsichtig geworden, wird auch auffällig, wie genau Sokrates’ Überlegungen in 391b–394e auf seine Ausführungen zu den spezifischen Ideen des Namens in 389d–390a abgestimmt sind. So dürfte es kaum möglich sein, Sokrates’ These, es handele sich bei Ausdrücken wie »Hektor« und »Astyanax«, in denen dieselbe ousia kundgemacht wird, trotz unterschiedlicher Silben und Buchstaben eigentlich um denselben Namen, nicht als Echo seiner in 389d4–390a2 formulierten und im sechsten Kapitel dieser Studie bereits ausführlich diskutierten Analyse aufzufassen.49 Dort heißt es: Also gilt auch für den natürlicherweise für jedes geeigneten Namen, mein Bester, dass jener Nomothet ihn in die Buchstaben und Silben zu legen verstehen und alle Namen herstellen und festlegen muss, indem er auf jenes selbst, was ein Name ist, sieht, wenn er eine Namensgeber-Autorität sein will? Und wenn nicht jeder Nomothet [den natürlicherweise für jedes geeigneten Namen] in dieselben Silben legt, darf dies einem nicht entgehen. Denn auch nicht jeder Schmied legt [das natürlicherweise geeignete Werkzeug] in dasselbe Eisen, obwohl er dasselbe Werkzeug für denselben Zweck herstellt; aber solange er dieselbe Idee wiedergibt, sei es in demselben oder in anderem Eisen, hat es mit dem Werkzeug nichtsdestoweniger seine Richtigkeit, ob jemand es hier oder bei den Barbaren herstellt.
Ein und dieselbe spezifische Idee des Namens kann demnach von verschiedenen Nomotheten in vielen verschiedenen Produkten wiedergegeben werden. Entscheidend ist allein, dass sich all diese Produkte für den Vollzug der spezifischen 49
So ganz richtig Kahn (1973), 163 f. mit Anm. 16, Ackrill (1994), 20, und Barney (2001), 47.
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Version des Nennens eignen, der die betreffende spezifische Idee des Namens zugeordnet ist – dass sie sich also alle dafür eignen, die ousia einer bestimmten Art für einen Hörer herauszugreifen. Wenn zwei Nomotheten dieselbe spezifische Idee des Namens in unterschiedliche Silben und Buchstaben legen, handelt es sich bei ihren Produkten Sokrates’ Beschreibung zufolge um dasselbe Werkzeug, in diesem Fall also um denselben Namen. Damit kann offenbar nicht gemeint sein, dass diese Produkte numerisch identisch sind; zwischen den Produkten zweier Schmiede besteht ja auch nicht die Relation numerischer Identität. Aber bei den Produkten verschiedener Nomotheten handelt es sich, wenn sie an derselben spezifischen Idee des Namens teilhaben, im Sinne der Typenidentität dennoch um denselben Namen – ganz so, wie in zwei Bibliotheken ›dasselbe Buch‹ in zwei verschiedenen Exemplaren vorhanden sein kann. Exakt dieselbe Struktur beschreibt Sokrates in 393d–394d: Demnach wird in den Ausdrücken »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis« gleichermaßen die ousia der Art der Könige kundgemacht. Wie sich bereits gezeigt hat, folgt daraus, dass es sich bei diesen drei Ausdrücken um richtige Namen für die Art der Könige handelt, mit denen sich die ousia dieser Art für einen Hörer unterscheiden lässt; alle drei Ausdrücke sind also geeignete Werkzeuge für diese spezifische Version des Nennens. Und wie Sokrates immer wieder betont, handelt es sich trotz großer Unterschiede in der Lautgestalt bei »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis« um denselben Namen; er wiederholt in 394a5–b7 sogar ausführlich seine bereits in 389e1 ausgesprochene Warnung davor, die Selbigkeit der Namen in solchen Fällen wegen ihrer phonetischen Differenzen zu übersehen. Man wird daher die Deskriptionsthese auch als eine Antwort auf die Frage zu lesen haben, unter welcher Bedingung Ausdrücke, die in ihren oberflächlichen Eigenschaften differieren, an ein und derselben spezifischen Idee des Namens teilhaben: unter der Bedingung nämlich, dass diese Ausdrücke dank ihrer Etymologie gleichermaßen eine Beschreibung derjenigen ousia enkodieren, der die Idee zugeordnet ist. Freilich spricht Sokrates in 393d–394d nicht davon, dass Ausdrücke wie »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis«, die diese Bedingung erfüllen, an derselben spezifischen Idee des Namens teilhaben und in diesem Sinne als derselbe Name gelten müssen; stattdessen führt er das neue Konzept der dynamis von Namen ein, und erklärt, dass Ausdrücke wie »Hektor«, »Astyanax« und »Archepolis«, die eine Beschreibung derselben ousia enkodieren, dieselbe dynamis haben und sich deswegen als Namen nicht voneinander unterscheiden. Aber diese beiden Beschreibungen der Sachlage sind keineswegs inkompatibel, sondern scheinen sich sogar zu ergänzen: Denn wenn es einem Nomotheten gelingt, eine spezifische Idee des Namens in das Silben- und Buchstabenmaterial zu legen, schafft er damit einen Namen, mit dem sich die Handlung des Nennens in einer spezifischen Version vollziehen und auf diese Weise ein Beitrag zum Vollzug der
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Handlung des Sprechens leisten lässt. Ein Ausdruck, der an einer spezifischen Idee des Namens teilhat, zeichnet sich demnach dadurch aus, dass er Sprechern das Potenzial zur Durchführung einer bestimmten Operation zur Verfügung stellt; und demzufolge zeichnen sich alle Ausdrücke, die an derselben spezifischen Idee des Namens teilhaben, durch dasselbe operative Potenzial50 aus. Es ist daher durchaus naheliegend, aus der These, bei zwei Ausdrücken, die an derselben spezifischen Idee des Namens teilhaben, handele es sich im erläuterten Sinne nicht um zwei verschiedene Namen, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es sich bei zwei Ausdrücken, die denselben Beitrag zum Vollzug der Handlung des Sprechens ermöglichen und insofern dasselbe operative Potenzial aufweisen, um denselben Namen handelt – und nichts anderes tut Sokrates, wenn er die Selbigkeit der dynamis zur hinreichenden und notwendigen Bedingungen der Selbigkeit von Namen erklärt.51 Sowohl die Überlegungen zur Kundmachung einer ousia in einem Namen als auch die Ausführungen zur dynamis von Namen schließen also der Sache, wenn auch nicht der Terminologie nach direkt an den Gedankengang der WerkzeugAnalogie an und bieten eine Antwort auf die Frage, was einen Ausdruck zu einem organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias und somit zu einem natürlicherweise richtigen Namen macht. Dementsprechend scheint Sokrates in 391b–394e auch die dichotomische Entgegensetzung zwischen Ausdrücken, die natürlicherweise richtige Namen sind, und Ausdrücken, die keine natürlicherweise richtigen Namen sind, nicht ernsthaft in Frage zu stellen: Denn die vier Formulierungen in 392a6, b9, c2 f. und d8, die zu belegen scheinen, dass es Sokrates nach der Werkzeug-Analogie um den Unterschied zwischen mehr oder weniger richtigen Namen geht, fallen allesamt in den Abschnitt, der zur Ableitung der Deskriptionsthese hinführt, die Sokrates in 392d11–394e7 aus seiner Betrachtung zu den Namen »Astyanax« und »Hektor« gewinnt. In dieser für den Übergang zur etymologischen Sektion zentralen Betrachtung spielen Vergleiche hingegen nicht die geringste Rolle – der Name »Skamandrios« wird überhaupt nicht mehr erwähnt, während Sokrates ohne jede komparative Abschwächung über Hektors Sohn sagt, es sei »richtig, den Sohn des Beschützers ›Astyanax‹ [d. h. ›Stadtherren‹] dessen Vgl. zum Begriff des operativen Potenzials die Überlegungen im zweiten Abschnitt des sechsten Kapitels. 51 Kretzmann (1971), 131, scheint hingegen anzunehmen, dass die Einführung des dynamisBegriffs den Rekurs auf die (von ihm als »model correct names« bezeichneten) spezifischen Ideen des Namens obsolet macht: »Plato […] seems to set aside the model correct name in favor of ‘the force of the actual name’, and to replace embodiment with signification.« Kretzmann erklärt freilich nicht, in welchem Sinne die in 383a–394e angestellte Untersuchung, die zur Entwicklung der etymologischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen führt, unter dieser Voraussetzung noch als gedankliche Einheit gelten kann. 50
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zu nennen, was sein Vater beschützte« (392e2 f.). Die Deskriptionsthese ist denn offenkundig auch keine Antwort auf die Frage, was einen Namen richtiger macht als einen anderen: Sie besagt, dass ein Ausdruck genau dann ein richtiger Name für eine bestimmte Art von Gegenständen ist, wenn in ihm die ousia dieser Art kundgemacht wird; sie besagt keineswegs, dass Ausdrücke, die diese Bedingung erfüllen, als richtigste Namen aus einer Klasse mehr oder weniger richtiger Namen herausstechen. Da die gesamte einleitende Passage 391b–392d keine substanziellen Beiträge zum Fortschritt des Dialogs leistet, während die Passage 392d–394e von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der etymologisch-mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen ist, wird man den vier komparativen Wendungen in 392a6, b9, c2 f. und d8 daher kaum großes Gewicht beimessen oder sie gar als Indikator einer Neuausrichtung der Untersuchung einstufen können. Vielmehr scheint sich Sokrates hier einer harmlosen »façon de parler«52 zu bedienen, die nichts an seiner Konzentration auf die Frage ändert, was einen natürlicherweise richtigen Namen auszeichnet und von einem Ausdruck unterscheidet, der kein natürlicherweise richtiger Name ist. Mit der Deskriptionsthese entwickelt Sokrates also durchaus den Ansatz zu einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, die zum zuvor etablierten Begriff der natürlichen Richtigkeit passt. Dass man bei der Lektüre der Passage 391b–394e leicht den Eindruck gewinnt, dieser Begriff gerate aus dem Blickfeld, ist gleichwohl nicht zu leugnen. Darauf scheint es Platon geradezu anzulegen – die Suchbewegung, die er Sokrates in dieser Passage durchlaufen lässt, ist jedenfalls so windungsreich und erratisch, dass man die Konklusion der Werkzeug-Analogie als Ausgangspunkt der Suche sehr schnell aus den Augen verliert. So folgt Sokrates, indem er zunächst an Protagoras’ Position zur Richtigkeit der Namen anzuknüpfen und dann den Unterschied zwischen göttlichen und menschlichen Namen bei Homer nachzuvollziehen versucht, zu Beginn seiner Suche nicht nur zwei Fährten, die ihn nicht zum Ziel führen;53 auch seine letztlich zielführende Auseinandersetzung mit der Frage, wieso Homer »Astyanax«, nicht aber »Skamandrios« als einen richtigen Namen für Hektors Sohn betrachtet, verläuft, wie So Ademollos Formulierung: »There are only a few occasions on which Socrates speaks of a name as being ›more correct‹ than another; and they can all […] be explained away as cases in which he adopts an innocuous façon de parler devoid of any serious theoretical significance« (Ademollo (2011), 151). 53 Natürlich ist es die blanke Ironie, wenn Sokrates so tut, als könne man sich bei der Suche nach einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen auf Protagoras verlassen; und auch seine Vermutung, Homer bringe an den betreffenden Stellen etwas sehr Wichtiges (mega ti, 391d6) über die Richtigkeit der göttlichen Namen zum Ausdruck, scheint er nicht in vollem Ernst vorzutragen. Aber die Tatsache, dass Sokrates diesen beiden Fährten aller Wahrscheinlichkeit nach nie wirklich zu folgen beabsichtigt, ändert natürlich nichts am Eindruck der Umständlichkeit, den seine Suchbewegung in 391b–394e erweckt. 52
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die Analyse von 392b–394d gezeigt hat, alles andere als geradlinig. Zudem macht Sokrates selbst eben keinerlei Anstalten, die in 394e erreichten Ergebnisse in den von der Werkzeug-Analogie abgesteckten gedanklichen Rahmen einzuordnen, sondern beginnt stattdessen sofort mit den ersten etymologischen Analysen. Was also geht in der Passage 391b–394e vor sich, wenn Platon Sokrates hier einerseits mit der Deskriptionsthese eine mögliche Antwort auf die Frage entwickeln lässt, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen im Sinne der Werkzeug-Analogie macht, seinen Weg zu dieser Antwort aber andererseits so gestaltet, als führe er weg vom zuvor etablierten funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen? Platons Inszenierung wird dann verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Sokrates den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit in einer ganz bestimmten Hinsicht tatsächlich aus den Augen zu verlieren scheint. Denn er stellt seine Hypothese, die natürliche Richtigkeit eines Namens sei von seinem etymologischen Gehalt abhängig, auf, ohne sich und seinem Gesprächspartner Hermogenes bewusst zu machen, was genau diese Hypothese besagt, wenn man den funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit zugrunde legt: ohne also klarzustellen, dass man sich mit dieser Hypothese auf die im höchsten Maße unplausible und kontraintuitive Annahme verpflichtet, eine Gegenstandsart lasse sich nur mit einem Ausdruck herausgreifen, der eine Beschreibung ihrer ousia enkodiert. Sokrates versäumt es, so könnte man sagen, die Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, deren Kern die Deskriptionsthese bildet, kritisch mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit abzugleichen; er versäumt es, sich und seinen Gesprächspartner mit der Frage zu konfrontieren, ob ein Ausdruck tatsächlich aufgrund seines etymologischen Gehalts ein natürlicherweise richtiger Name im Sinne des (Spezifischen) Funktionalitätsprinzips sein kann. Nicht die gesamte Konzeption der natürlichen Richtigkeit der Namen gerät also aus dem Blickfeld, wohl aber ihre funktionalistische Dimension. Das aber bedeutet, dass im Gespräch zwischen Sokrates und Hermogenes gar nicht deutlich werden kann, welchen Gehalt die Deskriptionsthese hat und welche Herausforderung man zu bewältigen hätte, wenn man sie tatsächlich begründen wollte: Man müsste dann nämlich gegen den common sense zeigen, warum die Entsprechung zwischen dem etymologischen Gehalt eines Ausdrucks und der ousia einer Art notwendige und hinreichende Bedingung dafür sein sollte, dass diese Art durch den Einsatz des Namens für einen Hörer herausgegriffen werden kann – warum also beispielsweise der Ausdruck »Birnbaum« unabhängig von allen Konventionen dazu geeignet sein sollte, die Art der Birnbäume herauszugreifen, aber auch bei Etablierung einer entsprechenden Konvention nicht mit Erfolg zum Herausgreifen der Art der Apfelbäume eingesetzt werden kann. Sokrates scheint mit seinen Überlegungen in 391b–394e einem
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Konventionalisten wie Hermogenes schon allein deswegen keinen guten Grund dafür liefern zu können, die Deskriptionsthese zu akzeptieren, weil er den kritischen Abgleich dieser These mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit versäumt und sich sowie seinen Gesprächspartner daher über ihren wahren Gehalt täuscht. Wäre Sokrates sich dieses Versäumnisses nicht bewusst, fiele er einer Selbsttäuschung zum Opfer: Er würde dann die Deskriptionsthese nur deswegen so problemlos als Grundlage für seine weiteren Untersuchungen akzeptieren können, weil er sich verhehlte, was genau sie besagt. Und tatsächlich wird Sokrates unmittelbar nach dem Abschluss seiner Konstruktion des Hypernaturalismus, in 428d1–8, die Befürchtung äußern, bei seinen Überlegungen Opfer eines »Selbstbetrugs« geworden zu sein, und dementsprechend eine kritische Revision dieser Überlegungen anmahnen. Freilich wird erst eine Analyse dieser Befürchtung in ihrem Kontext, wie sie im elften Kapitel dieser Studie geleistet werden soll, endgültig bestätigen können, dass Sokrates hier meint, deswegen Opfer eines »Selbstbetrugs« geworden zu sein, weil er den kritischen Abgleich der zuvor entfalteten Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit versäumt hat. Aber die Vermutung, in 391b–394e beginne eine Selbsttäuschung über den Gehalt der entwickelten hypernaturalistischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, dem Sokrates dann erst im letzten Teil des Kratylos ein Ende setzt, liegt jedenfalls nahe, wenn man sein Vorgehen bei der Ableitung der Deskriptionsthese betrachtet, und wird durch die folgenden Analysen seines weiteren Vorgehens im langen Mittelstück des Dialogs erhärtet werden. Ob Sokrates selbst wirklich erst in 428d1–8 klar wird, dass er in dieser Hinsicht in die Irre gegangen ist, oder ob er schon von Anfang an genau weiß, was er tut, und seinen »Selbstbetrug« nur vortäuscht, lässt sich dabei nicht mit letzter Sicherheit sagen, auch wenn Sokrates’ Distanz zu seinen eigenen Überlegungen bereits in 391b–394e auffällig groß ist.54 Das ist aber auch nicht entscheidend – Platon weiß schließlich in jedem Fall genau, was er Sokrates tun lässt. Die Passage 391b–394e scheint also, so wird man zumindest als Hypothese festhalten können, der Beginn eines (mindestens von Platon) inszenierten »Selbstbetrugs« zu sein, der die gesamte Konstruktion der etymologisch-mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen durchzieht 54 Ganz ausdrücklich betont er nämlich in 393b3–4, dass er auf eine »Spur von Homers Meinung über die Richtigkeit der Namen gestoßen« sei, ohne diese Meinung Homers an irgendeinem Punkt zu affirmieren. Der Kontrast zur Werkzeug-Analogie ist kaum zu übersehen: Während es unzweifelhaft Sokrates selbst ist, der diese Analogie einführt und auf ihrer Grundlage einen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen entwickelt, präsentiert er die D ESKRIPTIONSTHESE als eine Rekonstruktion der Auffassung Homers und wahrt so auf spielerische Weise Distanz zu der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen.
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und den Gesprächspartnern den Blick auf ihre kontraintuitiven und unplausiblen Konsequenzen verstellt. Der Befund, dass unmittelbar nach Abschluss der Werkzeug-Analogie die funktionalistische Dimension des soeben entwickelten Begriffs der natürlichen Richtigkeit der Namen aus dem Blick gerät und deswegen der wahre Gehalt der Deskriptionsthese nicht deutlich werden kann, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem adäquaten Verständnis der Passage 391b–394e. Im nächsten Schritt ist nun die Frage zu beantworten, wie es zu diesem »Selbstbetrug« kommt. Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich vor Augen führen, wie Sokrates’ Gesprächspartner Hermogenes den Übergang von der Werkzeug-Analogie zur etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen wahrnimmt. Hermogenes durchschaut den »Selbstbetrug«, in den er und Sokrates sich verstricken, zweifellos nicht; weder in 391b–394e noch im weiteren Verlauf der Untersuchung fällt ihm auf, dass der kritische Abgleich der Deskriptionsthese mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen noch aussteht. Es wäre allerdings vollkommen verfehlt, aus dieser Beobachtung zu schließen, dass die Ausarbeitung der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen nicht mehr ist als ein aus Unaufmerksamkeit resultierender sprachphilosophischer Betriebsunfall. Hermogenes’ Versäumnis hat nämlich, wie man bei näherer Überlegung erkennt, einen tiefliegenden Grund, mit dessen Aufdeckung ein ganz neues Licht auf die Dialogentwicklung im Anschluss an die Werkzeug-Analogie fällt. Es ist ein zentrales Ergebnis des ersten Kapitels der vorliegenden Studie, das verständlich macht, wieso Hermogenes den fragwürdigen Schritt von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zur etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit so kritiklos hinnimmt, als sei er unvermeidlich: Hermogenes unterscheidet, so wurde gezeigt, bei der Formulierung seiner Position nicht zwischen Namen und Lautfolgen und verpflichtet sich daher auf den unhaltbaren Starken Konventionalismus, obwohl der Schwache Konventionalismus der umsichtige Ausdruck seiner konventionalistischen Intuitionen wäre. Nachdem auch im Rahmen der Werkzeug-Analogie die problematische Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nicht thematisiert, geschweige denn in Frage gestellt wird, kann Hermogenes nicht erkennen, dass seine konventionalistischen Intuitionen durchaus mit der Konklusion der Werkzeug-Analogie verträglich sind; der im sechsten Kapitel ausführlich beschriebene Moderate Naturalismus ist für ihn keine Denkmöglichkeit. So, wie sich die Sachlage für Hermogenes mit Abschluss der Werkzeug-Analogie darstellt, muss eine bloße Lautfolge wie *Astyanax* unabhängig von allen menschlichen Entscheidungen und Konventionen ein natürlicherweise richtiger Name für bestimmte Gegenstände sein können – und die Frage ist nur noch, woran es liegen könnte, dass beispielsweise diese
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Lautfolge ein natürlicherweise richtiger Name für den Sohn des (ungekrönten) Königs von Troja oder allgemeiner für jeden Spross eines Königsgeschlechts ist. Wer diese Frage beantworten will, scheint aber gar keine andere Wahl zu haben, als auf die Zusammensetzung der Lautfolge aus bestimmten Bestandteilen zu rekurrieren;55 und der Rekurs auf ihre Zusammensetzung aus etymologischen Bestandteilen ist insofern sehr naheliegend, als diese ja der Lautfolge tatsächlich einen deskriptiven Gehalt zu verleihen scheint, durch den sie unabhängig von allen Konventionen die Aufmerksamkeit eines Hörers auf eine Gegenstandsart zu lenken vermag. Es hat demnach seine ganz eigene Logik, wenn Sokrates und Hermogenes bei der Suche nach einer Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen auf die etymologisch-deskriptive Theorie verfallen – angesichts der Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen gibt es dazu schlicht keine plausible Alternative.56 Dieser Umstand macht den – von Sokrates selbst freilich möglicherweise nur vorgetäuschten, von Hermogenes aber keinesfalls durchschauten – »Selbstbetrug« der beiden Gesprächspartner verständlich: Der Schritt zur Deskriptionsthese ist, so umständlich er sich im Dialog auch vollziehen mag, der Sache nach eben das unausweichliche Resultat der Eigendynamik einer Untersuchung, der wegen der mangelnden Differenzierung zwischen Namen und Lautfolgen eine verengte Fragestellung zugrunde liegt; und angesichts seiner Alternativlosigkeit scheint eine kritische Prüfung sich zu erübrigen. Wenn es, wie die Werkzeug-Analogie gezeigt hat, eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, muss sie im Sinne der Deskriptionsthese (oder zumindest im Sinne einer in ähnlicher Weise auf die Zusammensetzung von Lautfolgen abstellenden These) erklärt werden – weswegen die Notwendigkeit eines Abgleichs dieser These mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen nur allzu leicht aus dem Blick gerät. Was in der auf den ersten Blick so bizarr anmutenden Passage 391b–394e vor sich geht, lässt sich demzufolge restlos aufklären, wenn man die im ersten Hauptteil dieser Studie erarbeitete Interpretation der Werkzeug-Analogie in Verbindung setzt mit der aus den Überlegungen des Prologs resultierenden Diagnose, dass Hermogenes nicht zwischen Namen und Lautfolgen unterscheidet und sich deswegen auf den unhaltbaren Starken Konventionalismus verpflichtet. Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des zehnten Kapitels. Heitsch (1984), 33, stellt eine ähnliche Diagnose, wenn er festhält, dass der Schritt zur etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen deswegen (mehr oder weniger) alternativlos ist, weil die Gesprächspartner annehmen, die natürliche Richtigkeit eines Namens müsse von seiner Lautgestalt abhängig sein. Er erkennt aber nicht, dass diese Annahme ihrerseits auf der naheliegenden Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen fußt, und erläutert auch nicht, wie sich diese Gleichsetzung durch eine adäquatere Konzeption des Namens überwinden ließe. 55
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Denn dann wird erkennbar, dass Hermogenes wegen seiner Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen den Schritt von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zur etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit als alternativlos betrachten muss; diese Gleichsetzung macht es schließlich unumgänglich, die natürliche Richtigkeit der Namen auf ihre Zusammensetzung aus bestimmten Silben und Buchstaben zurückzuführen, wie es die etymologisch-deskriptive Theorie tut. Aus diesem Grund entfällt der kritische Abgleich der etymologischdeskriptiven Theorie mit dem Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen – und der wahre Gehalt dieser Theorie bleibt verdeckt. Nach einem ganz ähnlichen Muster verläuft dann, wie hier in einem Vorgriff auf das zehnte Kapitel bereits erwähnt werden soll, die Konstruktion des Hypernaturalismus auch in ihrem zweiten Schritt: Die aus der Perspektive der Gesprächspartner nach Abschluss der Werkzeug-Analogie zu beantwortende Frage, was eine bloße Lautfolge zu einem natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Gegenstandsart machen kann, erzwingt in 422c–427d den Rekurs auf den mimetischen Gehalt von Namen; und die resultierende mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit wird nicht kritisch mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit verglichen, weil ihre Alternativlosigkeit ihre Gültigkeit zu verbürgen scheint. So vermag die bereits geleistete Analyse der Passage 383a–391b die Ausarbeitung des Hypernaturalismus im langen Mittelteil des Kratylos zu erhellen, obwohl sie zeigt, dass ein Konventionalist wie Hermogenes sich den Moderaten Naturalismus und nicht etwa den Hypernaturalismus zu eigen machen sollte: Denn sie erweist den Hypernaturalismus als diejenige Position, auf die Hermogenes selbst aufgrund seiner naiven Konzeption des Namens verpflichtet ist, und erklärt so auch den »Selbstbetrug«, der Hermogenes den wahren Gehalt des Hypernaturalismus verkennen lässt. Die Entwicklung, die der Dialog zwischen Sokrates und Hermogenes in 391b–394e nimmt, ist in ihrer Logik nun vollkommen durchsichtig geworden. Eine entscheidende Frage ist aber trotzdem noch offen: Was erreicht Platon durch die Inszenierung einer Untersuchung, die im Anschluss an die Werkzeug-Analogie deswegen auf eine schiefe Bahn gerät, ja geraten muss, weil Sokrates’ Gesprächspartner Hermogenes aufgrund seiner Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen für Alternativen zum Hypernaturalismus blind ist? Ihre Beantwortung fällt nicht schwer, wenn man sich klar macht, aus welcher Perspektive die Leser, auf die Platon seine Inszenierung abstimmt, den Gang von Sokrates’ Untersuchung verfolgen. Denn wie bereits im ersten Kapitel dieser Studie bemerkt wurde, ist die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen für einen ganz auf die sinnliche Erfahrung vertrauenden common sense so naheliegend, dass auch Platons Leser sie in aller Regel unkritisch akzeptieren dürften. Nun besteht zwar, wie sich im sechsten Kapitel zeigte, durchaus die Chance, diese naive Konzeption des Namens in
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der Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie zu überwinden und eine mit konventionalistischen Intuitionen kompatible Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen auszuarbeiten. Aber so weit werden Leser, die sich zum ersten Mal mit dem Kratylos auseinandersetzen, auch bei größter Aufmerksamkeit noch nicht gekommen sein, wenn sie sich Sokrates’ Ableitung der Deskriptionsthese zuwenden – ihr Reflexionsstand dürfte vermutlich dem des Hermogenes ähneln. Für solche Leser muss es sich daher zunächst so ausnehmen, als sei der Schritt von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zur Deskriptionsthese alternativlos. Was Platon mit seiner Inszenierung dieses Schritts bezweckt, ist daher vollkommen klar: Er führt seinen Lesern, indem er Sokrates die Deskriptionsthese aufstellen lässt, mit bemerkenswerter Unerbittlichkeit vor Augen, auf welche Position sie selbst aufgrund ihrer eigenen Vorannahmen verpflichtet sind. Aber Platon belässt es nicht dabei, seine Leser mit den unausweichlichen Konsequenzen ihrer Vorurteile zu konfrontieren. In Anknüpfung an die doppelbödige Inszenierungsstrategie, die bereits der Passage 383a–391b ihr Gepräge verliehen hat, sorgt er auch dafür, dass einem aufmerksamen Leser Zweifel an der Alternativlosigkeit des Schritts zur Deskriptionsthese kommen müssen. Insbesondere bei seiner Gestaltung des von Sokrates in 392d11–393d4 entwickelten Arguments, das überhaupt erst zur Aufstellung dieser These führt, tut Platon alles, um deutlich werden zu lassen, dass (i) nichts dafür spricht, von einem Zusammenhang zwischen der natürlichen Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung auszugehen, und man daher (ii) einen ganz anderen Ansatz verfolgen muss, um eine adäquate Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zu entwickeln. Diese beiden Aspekte von Platons subversiver Gestaltung des argumentativen Herzstücks der Passage 391b–394e sollen nun noch etwas genauer beschrieben werden. (i) In 392d11–393d4 erklärt Sokrates seinem eigenen Anspruch nach, wieso »Astyanax« dank seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für den Spross eines Königsgeschlechts ist. Sein Argument spielt daher in der Gedankenbewegung des Kratylos eine besonders exponierte Rolle: Denn an keiner anderen Stelle unternimmt Sokrates auch nur den Versuch, zu begründen, wieso ein Konventionalist wie Hermogenes annehmen sollte, dass nicht jede beliebige Lautfolge durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem (richtigen) Namen für eine bestimmte Gegenstandsart gemacht werden kann, sondern nur eine Lautfolge, die eine passende Beschreibung enkodiert.57 Gäbe es also einen guten Grund dafür, den Schwachen Konventionalismus zugunsten des Hyperna57
Das zeigen auch die späteren etymologischen Analysen keineswegs – sie belegen höchs-
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turalismus aufzugeben, obwohl mit dem Moderaten Naturalismus eine Alternative verfügbar ist, ließe Platon Sokrates ihn hier präsentieren. De facto legt Platon allerdings Sokrates kein Argument in den Mund, das diesen Anspruch erfüllt; ganz im Gegenteil lässt er ihn eine Überlegung vortragen, die geradezu demonstrativ am Kern der Sache vorbeigeht. Um das zu erkennen, führe man sich die höchst umständliche Argumentation des Sokrates noch einmal vor Augen: Sokrates argumentiert nicht auf direktem Weg für die These, die Etymologie des Namens »Astyanax« stelle sicher, dass es sich bei diesem Ausdruck um einen richtigen Namen für den Sohn Hektors handelt; stattdessen greift er auf das allgemeine Prinzip (P3) zurück, dem zufolge ein richtiger Name für den Angehörigen einer Art stets auch ein richtiger Name für einen Abkömmling dieses Artangehörigen ist, und kombiniert es mit der (aus (P1) und (P4) gewonnenen) Annahme, »Hektor« sei derselbe Name wie »Astyanax«, um sein argumentatives Ziel zu erreichen. Der entscheidende Punkt ist nun, dass er auf eine zusätzliche Prämisse zurückgreifen muss, um an sein Ziel zu gelangen – die Prämisse (P2) nämlich, der zufolge »Hektor« ein richtiger Name für Hektor ist. Sokrates verzichtet zwar darauf, diese Prämisse explizit zu machen (auch wenn er in 393a1–5 nicht weit davon entfernt zu sein scheint); aber ohne sie ist sein Argument offenkundig nicht valide. Weil er sich auf diese implizite Prämisse stützen muss, erreicht Sokrates mit seiner Argumentation aber ganz offenkundig nur eine Verschiebung der Frage, wieso der Ausdruck »Astyanax« aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für den Sohn Hektors sein sollte:58 Denn (P2) wirft die Frage auf, wieso »Hektor« ein richtiger Name für Hektor selbst sein sollte – oder genauer gesagt die Frage, wieso die etymologische Bedeutung von »Hektor« sicherstellen sollte, dass es sich bei »Hektor« um einen richtigen Namen für Hektor handelt. Auf diese Frage geht Sokrates aber in seinen Ausführungen an keiner Stelle ein. Wer seine argumentative Absicherung des behaupteten Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit des Namens »Astyanax« und seinem etymologischen Gehalt nachzuvollziehen sucht, greift daher an entscheidender Stelle ins Leere: Denn seine Überlegung zeigt eben nicht, warum ein richtiger Name für die Angehörigen
tens, dass viele griechischen Namen de facto Beschreibungen enkodieren. Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels. 58 Das bemerkt ganz richtig Horn (1904), 33: »Vor allem erweist sich das angeblich homerische Benennungsgesetz als völlig nichtssagend. Es liefert nämlich nicht den geringsten Beitrag zur Lösung der Frage nach der Richtigkeit der Namen, sondern schiebt lediglich die Frage um ein Glied zurück, und selbst dieß nur scheinbar. Wenn der Sprößling eines Löwen ein Löwe zu nennen ist, weil sein Erzeuger ein Löwe ist, so erhebt sich sofort die Frage, woher der Erzeuger seinen Namen führt, und dieselbe Frage wiederholt sich bei diesem und allen früheren Erzeugern.«
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einer bestimmten Art eine Beschreibung der ousia dieser Art enkodieren muss, sondern setzt – einer petitio principii ähnlich59 – das voraus, was zu zeigen wäre.60 Man wird einem Philosophen wie Platon nur sehr ungern unterstellen wollen, er habe eine argumentative Luftnummer dieses Ausmaßes nicht als solche erkannt – insbesondere dann, wenn sie Teil eines Gedankengangs ist, der mit offenkundig inszenierten Fehlern gespickt ist. Im vorliegenden Fall wäre eine solche Unterstellung aber nachgerade absurd: Denn Platon lässt Sokrates im Zuge 59 Das Argument ist sensu strictu deswegen keine petitio, weil Sokrates voraussetzt, dass der Ausdruck »Hektor« aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für Hektor ist, und die Schlussfolgerung zieht, dass »Astyanax« aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für Hektors Sohn ist; Prämisse und Schlussfolgerung sind also voneinander verschieden. Aber man hat nur dann einen Grund, die Prämisse zu akzeptieren, wenn man bereits davon überzeugt ist, dass ein richtiger Name für die Angehörigen einer Art eine Beschreibung der ousia dieser Art enkodieren muss – und wenn man davon überzeugt ist, ist das Argument überflüssig. 60 Man könnte einwenden, dass Sokrates’ Überlegungen in 393a1–d4 in erster Linie darauf abzielen, durch eine (zugegebenermaßen höchst dubiose) Analogie die These zu rechtfertigen, Hektors Sohn gehöre als Abkömmling eines Stadtherren oder Königs selbst zum genos der Könige, um auf diese Weise sicherzustellen, dass sich die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit überhaupt einsetzen lässt, um »Astyanax« als einen richtigen Namen für Hektors Sohn auszuweisen. Die Schwierigkeit, mit der sich Sokrates in 392d11–e8, unmittelbar bevor er sein Argument zu entwickeln beginnt, konfrontiert sieht, scheint schließlich darin zu bestehen, dass nicht klar ist, wieso »Astyanax« dank seiner etymologischen Bedeutung deswegen ein richtiger Name für den Sohn Hektors sein sollte, weil Hektor selbst seine Stadt beschützte. Und diese Frage scheint er mit seinem Argument zu beantworten: Hektors Sohn gehört zu demselben genos wie Hektor selbst, und der Name »Astyanax« enkodiert eine Beschreibung der ousia dieses genos. Aber natürlich zeigen seine Überlegungen nur, dass der Ausdruck »Astyanax« aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein richtiger Name für den Abkömmling eines Königs ist, wenn vorausgesetzt werden darf, dass ein richtiger Name für die Angehörigen eines genos eine Beschreibung der betreffenden ousia enkodieren muss. Die Diagnose, dass Platon Sokrates hier mit einem Argument ausstattet, das in auffälliger Weise das Ziel verfehlt, einem Konventionalisten wie Hermogenes einen Grund für die Aufgabe des S CHWACHEN KONVENTIONALISMUS zu liefern, hat also Bestand. Aber ist es überhaupt berechtigt, Sokrates’ Überlegungen in 393a1–d4 daran zu messen, ob sie einem Konventionalisten einen solchen Grund liefern? Man könnte zu argumentieren versucht sein, dass man auf diese Weise der Sachlage nicht gerecht wird: Denn, so das Argument, Sokrates und Hermogenes wissen ja bereits in 392d8–10, dass »Astyanax« (im Gegensatz zu »Skamandrios«) ein richtiger Name für Hektors Sohn ist; und alles, was Sokrates’ Ausführungen in 393a1–d4 demnach zeigen müssen, ist daher, dass es unter dieser Voraussetzung plausibel ist, die Richtigkeit des Namens »Astyanax« darauf zurückzuführen, dass dieser Ausdruck eine Beschreibung der ousia derjenigen Art enkodiert, der Hektors Sohn angehört. Es dürfte aber klar sein, dass dieses Argument, obwohl es durchaus auf einer richtigen Beobachtung beruht, den Eindruck demonstrativer Fragwürdigkeit nicht zerstreuen kann, den Sokrates’ Ausführungen in 393a1–d4 erwecken – ganz im Gegenteil: Denn Sokrates’ Begründung für die These, dass »Astyanax« ein richtiger Name für den Sohn des Hektor ist, beruht einzig und allein auf einer an Forciertheit kaum zu übertreffenden Homer-Exegese.
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des scheiternden Arguments für die These, die Richtigkeit des Namens »Astyanax« müsse auf seine etymologische Bedeutung zurückgeführt werden, an exponierter Stelle einige Namen als Beispiele anführen, die zwar richtig zu sein scheinen, deren Richtigkeit aber nichts mit ihrer etymologischen Bedeutung zu tun hat. Nachdem Sokrates nämlich in 393b1–4 verkündet hat, endlich auf eine Spur von »Homers Meinung über die Richtigkeit der Namen« gestoßen zu sein, erklärt er in 393b7 f.: »Richtig ist es zumindest, wie mir scheint, den Abkömmling eines Löwen ›Löwe‹ (leôn) zu nennen und den Abkömmling eines Pferdes ›Pferd‹ (hippos).« In der Folge nennt Sokrates noch einige andere Beispielfälle, ohne auch nur anzudeuten, dass die Richtigkeit der betreffenden Namen darauf zurückzuführen sein müsste, dass sie Beschreibungen der ousiai der jeweiligen Gattungen enkodieren; und abgesehen von einer Ausnahme – dem Namen anthrôpos61 – wird Sokrates auch im weiteren Verlauf des Dialogs keine etymologischen Analysen dieser Namen entwickeln. Angesichts dieser Beispielfälle, die Sokrates offiziell ja zur Stützung von (P3) anführt, muss sich einem aufmerksamen Leser die Frage aufdrängen, ob nicht auch ein Ausdruck, der keine Beschreibung der ousia einer bestimmten Art enkodiert, ein richtiger Name für die Angehörigen dieser Art sein kann – wenn nämlich eine entsprechende Konvention dafür sorgt, dass dieser Ausdruck konsequent als Name für die Angehörigen der Art verwendet wird. Platon legt, so wird man angesichts dieser Beobachtung annehmen müssen, Sokrates bewusst ein Argument in den Mund, das unübersehbar nichts zur Absicherung der Deskriptionsthese beiträgt, sondern ganz im Gegenteil an entscheidender Stelle auf Beispiele rekurriert, die mit der Behauptung eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung konfligieren. Das gilt umso mehr, als auch der für Sokrates’ Überlegungen zentrale Fall des Trojanischen Königsgeschlechts bei genauerer Betrachtung Anlass zu massiven Zweifeln an der Deskriptionsthese gibt: Schließlich trägt Priamos, der Vater Hektors, einen Namen, der keine Beschreibung der ousia der Königsgattung enkodiert, obwohl er – im Gegensatz zu Hektor und seinem Sohn – tatsächlich die Herrschaft über Troja innehat. Für eine derart subversive Inszenierungsstrategie kann es eigentlich nur ein Motiv geben: Platon will offenbar seinen Lesern vor Augen führen, dass es keinen guten Grund dafür gibt, angesichts der Konklusion der Werkzeug-Analogie die Deskriptionsthese zu akzeptieren und somit den Schwachen Konventionalismus aufzugeben. (ii) Platon diskreditiert also auf indirekten Wege die Deskriptionsthese als eine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart ist. Zugleich plat61
Dieser Name wird in 399c analysiert.
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ziert er in 392d11–393d4 aber zumindest auch einen Hinweis darauf, wie diese Frage stattdessen zu beantworten ist und was dementsprechend die Erfolgsbedingungen der produktiven Tätigkeit eines Nomotheten sind. Das Trojanische Pferd, das Platon zu diesem Zweck in Sokrates’ pseudo-rationale Rekonstruktion von »Homers Meinung über die Richtigkeit der Namen« einschleust, ist die Prämisse (P3). Dieser Prämisse liegt das ontologische Prinzip zugrunde, dass der Abkömmling des Angehörigen einer bestimmten Art im Normalfall auch der betreffenden Art angehört. In seiner allgemeinen Version führt Sokrates dieses Prinzip, wie im sechsten Kapitel bereits kurz diskutiert wurde, in 394a1–3 ein, wo er behauptet, von einem König werde »irgendwann ein König geboren, und von einem Guten ein Guter, und von einem Schönen ein Schöner, und ebenso in allen anderen Fällen«. Wäre das tatsächlich der Fall, läge zumindest im Hinblick auf die Lebewesen keine große Schwierigkeit in der Frage, wie es sich in concreto bemerkbar macht, wenn eine Vielzahl von Gegenständen von einer gemeinsamen ousia zusammengehalten wird – denn ihre Zusammengehörigkeit in dieser Hinsicht wäre ja stets an ihre Zusammengehörigkeit im biologisch-genetischen Sinne gekoppelt. Wie bereits die Analyse des betreffenden Dialogabschnitts gezeigt hat,62 untergräbt freilich Platon die Glaubwürdigkeit dieses ohnehin nicht sonderlich glaubwürdigen Prinzips mit bemerkenswerter Gründlichkeit: Erstens legt er Sokrates in 393c8 f. die explizite Warnung vor der Irreführung durch die Analogie zwischen Königen und den Angehörigen biologischer Gattungen in den Mund. Zweitens lässt er ihn das Prinzip auf einen Fall anwenden, der als Beispiel denkbar ungeeignet ist – denn während schon im Hinblick auf Hektor fraglich ist, ob er tatsächlich als König von Troja gelten kann, ist vollkommen klar, dass er seinen Status als Beschützer von Troja jedenfalls nicht an seinen Sohn vererbt hat. Schließlich sind die weiteren Beispiele des Sokrates – »von einem Guten ein Guter, und von einem Schönen ein Schöner« – sowohl aus einer alltäglichen Perspektive als auch aus der Perspektive anderer Platonischer Dialoge hochgradig suspekt. Gleichzeitig ist in den Beispielfällen, die Sokrates zunächst nennt, das fragliche Prinzip ohne jeden Zweifel tatsächlich gültig: Der Abkömmling eines Pferdes ist in aller Regel tatsächlich ein Pferd, der Abkömmling eines Ochsen tatsächlich ein Ochse und der Abkömmling eines Menschen tatsächlich ein Mensch. Platon inszeniert hier also, wie schon im sechsten Kapitel festgehalten wurde, bewusst den Kontrast zwischen biologischen genê, die durch den genetischen Zusammenhang zwischen ihren Angehörigen leicht als Einheiten zu erkennen sind, und solchen genê, zwischen deren Angehörigen es einen weniger offensichtlichen Zusammenhang gibt. Das genos der Könige scheint in dieser Hinsicht sogar ein 62
S. o., 360; vgl. die Überlegungen im dritten Abschnitt des sechsten Kapitels.
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besonders komplizierter Fall zu sein: Denn es ist nicht nur so, dass sich – wie der Fall von Hektors Sohn auf tragische Weise zeigt – die Zugehörigkeit zu diesem genos nicht auf dieselbe Weise vererbt wie die Zugehörigkeit zu einem biologischen genos; vielmehr lässt sich Dialogen wie etwa dem Politikos entnehmen, dass es überhaupt sehr schwer zu erkennen sein kann, ob eine Person dem genos der Könige angehört oder nicht.63 Wie wichtig es Platon sein muss, seinen Lesern diesen Kontrast vor Augen zu führen, wird erkennbar, wenn man sich bewusst macht, dass er Sokrates ja keineswegs ein Argument entwickeln lassen müsste, das nicht ohne den Rekurs auf das in seiner Allgemeinheit völlig unplausible Prinzip auskommt, nach dem der Abkömmling des Angehörigen eines genos in aller Regel ebenfalls diesem genos angehört und daher dessen Namen tragen sollte. Es hätten sich schließlich sicherlich Fälle finden lassen, in denen im Namen einer Person im Sinne der Deskriptionsthese die ousia eines genos kundgemacht wird, zu der diese Person auch tatsächlich gehört;64 aber stattdessen beschäftigt sich Sokrates mit einem Fall, in dem nur durch den Rückgriff auf dieses allgemeine Prinzip erklärt werden kann, wieso der Name einer bestimmten Person richtig im Sinne der Deskriptionsthese sein sollte – wobei die Lächerlichkeit dieser Erklärung auf den ersten Blick zu erkennen ist. Platon will also offenkundig die Aufmerksamkeit seiner Leser um jeden Preis auf das Prinzip lenken, dass der Abkömmling des Angehörigen eines genos selbst Angehöriger dieses genos ist – beziehungsweise auf die Tatsache, dass dieses Prinzip nur in manchen Fällen gültig ist, in vielen anderen Fällen aber völlig unhaltbare Konsequenzen hat. Zu welcher Einsicht ein Leser gelangt, der sich den gravierenden Unterschied zwischen dem genos der Könige und den biologischen genê klar gemacht hat, ist im sechsten Kapitel schon erläutert worden: Er wird erkennen, dass die Zusammengehörigkeit von Gegenständen, die eine gemeinsame ousia haben und daher eine echte Art bilden, sich in ganz unterschiedlichen Weisen manifestieren kann. Einerseits gibt es nämlich Arten wie die Löwen oder die Ochsen, deren 63 So erklärt der Eleatische Fremde im Politikos, dass die Menschen in aller Regel einen wahren König nicht als solchen zu erkennen vermögen und deswegen gezwungen sind, sich auf die Ordnung ihres Gemeinwesens durch geschriebene Gesetze zu verlassen: Nῦν δέ γε ὁπότε οὐκ ἔστι γιγνόμενος, ὡς δή φαμεν, ἐν ταῖς πόλεσι βασιλεὺς οἷος ἐν σμήνεσιν ἐμφύεται, τό τε σῶμα εὐθὺς καὶ τὴν ψυχὴν διαφέρων εἷς, δεῖ δὴ συνελθόντας συγγράμματα γράφειν, ὡς ἔοικεν, μεταθέοντας τὰ τῆς ἀληθεστάτης πολιτείας ἴχνη (301d8–e4). 64 Diese Beobachtung macht auch Ademollo (2011), 179 f. Seine Erklärung für Platons Inszenierung ist allerdings unbefriedigend: »Why does Socrates drag in the Principle of Synonymical Generation? I can think of only one answer: because Plato is interested in the Principle – and in its various successive corruptions – for its own sake« (ebd.). Platon hat sicherlich viele philosophische Interessen – aber wenn es in einem bestimmten Untersuchungskontext nicht angemessen ist, sie zu verfolgen, kann er sich in der Regel gut zurückhalten.
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Zusammengehörigkeit die auffällige Form eines genetischen Zusammenhangs annimmt, während andererseits beim genos der Könige völlig unklar zu sein scheint, wie man feststellen kann, ob eine Person diesem genos angehört oder nicht; und es ist anzunehmen, dass damit nur die Extreme eines Spektrums von Möglichkeiten markiert sind, wie die Zusammengehörigkeit von Gegenständen zu einem genos sich bemerkbar machen kann. Die ontologische Einsicht, dass die Einheit eines genos keineswegs immer so offen zutage liegt wie im Fall der biologischen Gattungen, ist nun aber von größter Bedeutung für die richtige Einschätzung der Herausforderung, die ein Nomothet bei der Produktion richtiger Namen zu bewältigen hat: Denn der Nomothet kann ja offenbar organa didaskalika kai diakritika tês ousias nur unter der Bedingung schaffen, dass er zu richtigen Vermutungen darüber zu gelangen vermag, welche Gegenstände eine gemeinsame ousia haben und daher eine Art bilden.65 In Sokrates’ Ausführungen spielt diese Dimension der Aufgabe des Nomotheten keine Rolle, weil sie ganz und gar auf das Entsprechungsverhältnis zwischen Namen und Gegenständen konzentriert sind, das angeblich dank der etymologischen Bedeutung von Namen bestehen kann. Aber durch seine Inszenierung von Sokrates’ Rückgriff auf das in seiner Allgemeinheit zweifellos ungültige Prinzip, dem zufolge der Abkömmling des Angehörigen eines genos selbst diesem genos angehört, macht Platon deutlich, dass auf diese Weise ein wesentlicher Aspekt der untersuchten Thematik aus dem Blick gerät. In dieser Hinsicht steht die Passage 391b–394e am Anfang einer gedanklichen Fehlentwicklung, die sich, wie zu zeigen sein wird, in der anschließenden etymologischen Sektion fortsetzt und sogar noch verschärft: Eine Ausblendung der für die Untersuchung der natürlichen Richtigkeit der Namen zentralen ontologischen Fragen, die aus einer einseitigen Fokussierung auf die etymologische Bedeutung von Namen resultiert. Man sollte freilich nicht übersehen, dass Platon sich hier nicht darauf beschränkt, den Beginn einer gedanklichen Fehlentwicklung gut sichtbar in Szene zu setzen: Denn nichts von dem, was Sokrates über die Benennung von biologischen Gattungen wie den Löwen, den Ochsen oder den Menschen sagt, ist von den Fehlern belastet, die für seine Überlegungen zum genos der Könige so charakteristisch sind. Wie im sechsten Kapitel bereits ausführlicher erörtert wurde, will Platon hier offenbar an einigen sehr einfachen Beispielen zeigen, wie man sich die erfolgreiche Tätigkeit eines kompetenten Nomotheten vorzustellen hat: Die Herausforderung bei der Einführung eines Namens für eine Art bestünde demnach allein darin, den strukturellen Zusammenhang, der zwischen den Angehörigen der Art besteht, als solchen zu erkennen und eine passende 65 Vgl. zum epistemischen Profil der Tätigkeit des Nomotheten die Überlegungen des sechsten und des siebten Kapitels.
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Konvention zu etablieren. Dass darin im Fall der biologischen Arten keine große Schwierigkeit liegt, ist klar. Schließlich kann ein Nomothet sich hier bei der Festlegung von Benennungskonventionen an den offen zutage liegenden genetischen Verhältnissen orientieren.66 In anderen Fällen – etwa im Fall der Gattung der Könige – dürfte es weitaus schwieriger sein, eine passende Konvention zu etablieren. Sokrates’ exemplarische Anführung der Namen leon, hippos oder anthrôpos ist natürlich weit entfernt von einer ausgearbeiteten Antwort auf die Frage, wie es einem Nomotheten gelingt, einen richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen einzuführen; aber sie legt zumindest die Vermutung nahe, dass ein Nomothet einen solchen Namen aus einer beliebigen Lautfolge machen kann, indem er eine Konvention etabliert, die der betreffenden Art und ihrem ontologischen Profil angemessen ist. 67 Würde man diesen Ansatz zur Beantwortung der Frage, was ein Nomothet tun muss, um einen richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen einzuführen, ausbuchstabieren, wäre das Ergebnis nicht der Hypernaturalismus, den Sokrates im weiteren Verlauf des Kratylos entfaltet, sondern vielmehr der im sechsten Kapitel dieser Studie skizzierte Moderate Naturalismus. Auch diese Fingerzeige Platons wird ein Leser, der nach Abschluss der Werkzeug-Analogie auf einem ähnlichen Wissensstand ist wie Hermogenes, sicherlich nicht bei seiner ersten Auseinandersetzung mit der Passage 391b–394e und insbesondere dem in 392d11–393d4 entwickelten Argument adäquat zu deuten wissen; Platons doppelbödige Inszenierungsstrategie ist daher zweifellos auf Leser zugeschnitten, die diesen Abschnitt mehrfach gründlich studieren. Welche Reaktion er bei solchen Lesern auslösen will, ist inzwischen vollkommen klar: Sie sollen bemerken, dass es keinen guten Grund für den Schritt von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zu der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen gibt, und sich dementsprechend der Eigendynamik widersetzen, die Sokrates’ und Hermogenes’ Untersuchung prägt und ihren »Selbstbetrug« ermöglicht. Wenn Platons Strategie aufgeht, werden seine Leser ihre Aufmerksamkeit noch einmal der Argumentation des ersten Dialogteils zuwenden und können dann – möglicherweise angeregt durch die Frage, was die Richtigkeit der Namen von Namen wie leon oder hippos begründet – die im Prolog und im Wie im dritten Abschnitt des sechsten Kapitels erläutert wurde, ist freilich die Orientierung an genetischen Verhältnissen noch nicht hinreichend für die Einführung einer adäquaten Konvention. Zudem ist zu beachten, dass es Sokrates’ Überlegungen in 393b8 f. zufolge kein echtes Wesensmerkmal von Angehörigen einer biologischen Gattung ist, dass sie von anderen Angehörigen dieser Gattung abstammen. Vgl. auch zu diesem Punkt die Überlegungen im dritten Abschnitt des sechsten Kapitels. 67 In diese Richtung weisen auch Buchheims Überlegungen in seinem Manuskript »Das philosophisch-argumentative Gerüst des ›Kratylos‹« (24 f.). 66
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Hauptteil dieser Studie beschriebene Erkenntnisbewegung durchlaufen: also den Unterschied zwischen Namen und Lautfolgen bemerken und auf dieser Grundlage den Moderaten Naturalismus als eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen entwickeln, die mit ihren konventionalistischen Intuitionen kompatibel ist. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, ist auch Platons Inszenierung der weiteren Entfaltung des Hypernaturalismus diesem übergreifenden Ziel verpflichtet.
IX. (Not) Putting Metaphysics First: Die Etymologien (394e–422c)1 Im unmittelbaren Anschluss an seine generellen Bemerkungen über den richtigen Umgang mit Fällen, in denen der Abkömmling des Angehörigen einer bestimmten Art als freak of nature nicht selbst zu dieser Art gehört (394d5–e7), beginnt Sokrates in 394e mit einer etymologischen Analyse der Namen für die Angehörigen des Geschlechts der Atriden – und läutet damit die etymologische Sektion des Kratylos ein, die sich bis 422c über gut 27 Stephanus-Seiten hinziehen wird. Die Tatsache, dass diese Sektion damit fast halb so lang ist wie der gesamte Dialog, ist ebenso bemerkenswert wie die auf den ersten Blick beinahe enzyklopädisch2 anmutende Breite von Sokrates’ etymologischem Forschungsprogramm, die mit einem ausgeprägten systematischen Anspruch einherzugehen scheint. Nachdem er seine Betrachtung der Namen für die Atriden (und ihre göttlichen Stammväter) in 396d abgeschlossen hat, erklärt Sokrates zunächst, von nun an die Eigennamen von Menschen beiseitelassen und sich stattdessen auf Namen für »die immer und von Natur aus Seienden« (ta aei onta kai pephykota, 397b7 f.)3 konzentrieren zu wollen, weil diese mit einer größeren Wahrscheinlichkeit richtig seien als die Eigennamen.4 Er schlägt dann vor, die Untersuchung »von den Göttern aus zu beginnen« (397c4), und entwickelt in der Folge (397c–400c) etymologische Analysen der Namen theos, daimôn, hêrôs, anthrôpos, psychê und sôma. Gedrängt von Hermogenes5 schließt Sokrates daran eine ausführliche Der Titel der 2010 in Oxford erschienenen Aufsatzsammlung Putting Metaphysics First von Michael Devitt steht Pate für den Titel dieses Kapitels. 2 Der enzyklopädische Anspruch von Sokrates’ etymologischen Untersuchungen ist insbesondere von Victor Goldschmidt und – in expliziter Anknüpfung an Goldschmidt – von T. M. S Baxter betont worden: Goldschmidt (1940), 93; Baxter (1992), 91–94. 3 Vgl. zu dieser Erklärung die Überlegungen im zweiten Abschnitt des vierten Kapitels. 4 397b6–c2: Tὰ μὲν οὖν τοιαῦτα δοκεῖ μοι χρῆναι ἐᾶν· εἰκὸς δὲ μάλιστα ἡμᾶς εὑρεῖν τὰ ὀρθῶς κείμενα περὶ τὰ ἀεὶ ὄντα καὶ πεφυκότα. ἐσπουδάσθαι γὰρ ἐνταῦθα μάλιστα πρέπει τὴν θέσιν τῶν ὀνομάτων· ἴσως δ᾽ ἔνια αὐτῶν καὶ ὑπὸ θειοτέρας δυνάμεως ἢ τῆς τῶν ἀνθρώπων ἐτέθη. Mit seinem letzten Halbsatz bezieht sich Sokrates offenbar auf seine in 391d–392b geäußerte Vermutung zurück, dass die Götter jedenfalls nur richtige Namen verwenden. 5 In 400d1–5 gibt Hermogenes deutlich zu verstehen, dass er sich eine Wiederaufnahme der Betrachtung dieser Namen wünscht, die Sokrates im Rahmen seiner Untersuchung der Namen für die Atriden schon begonnen hat: Tαῦτα μέν μοι δοκεῖ ἱκανῶς, ὦ Σώκρατες, εἰρῆσθαι· περὶ δὲ τῶν θεῶν τῶν ὀνομάτων, οἷον καὶ περὶ τοῦ ›Διὸς‹ νυνδὴ ἔλεγες, ἔχοιμεν ἄν που κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον ἐπισκέψασθαι κατὰ τίνα ποτὲ ὀρθότητα αὐτῶν τὰ ὀνόματα κεῖται; Der Eindruck, dass die Untersuchung der Namen für die traditionellen Gottheiten sich Hermogenes’ Initiative verdankt, verstärkt sich noch, wenn man die Furcht in Rechnung stellt, die Sokrates bei dieser Untersuchung überkommt – vgl. dazu die folgende Anmerkung. 1
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Betrachtung der Namen der traditionellen Gottheiten an (400d–408d), die erst mit seinem Bekenntnis, er empfinde bei dieser Untersuchung Furcht, 6 zu einem Ende kommt. Er ist allerdings dennoch bereit, der Aufforderung des Hermogenes nachzukommen und die Namen für »jene anderen« Gottheiten7 durchzugehen – gemeint sind damit natürliche oder kosmische Gottheiten wie etwa die Gestirne oder die Elemente, deren Namen Sokrates in 408d–410e diskutiert.8 Es ist dann wiederum Hermogenes, der für die nächste Wendung des Untersuchungsgangs verantwortlich zeichnet: Er wolle nämlich, so erklärt er nach der Diskussion der Namen für kosmische Gottheiten und Phänomene, die Richtigkeit derjenigen Namen untersuchen, »die mit der Tugend zu tun haben, wie phronêsis und sunesis und dikaiosynê und alle anderen dieser Art.«9 Sokrates reagiert in 411b3–c6 in einer höchst bemerkenswerten Weise auf diesen Wunsch: Er äußert die Befürchtung, dass Verwirrung und Desorientierung die prähistorischen Namensgeber zu der Annahme verleitet haben, alle Dinge seien in steter Bewegung begriffen, und dass die von ihnen eingeführten Namen diese Annahme widerspiegeln. Diese Befürchtung bestätigt die in 411d–420e erfolgende Untersuchung einer großen Zahl von Namen, die in irgendeiner Weise relevant sind für die Beschreibung und Evaluation menschlicher Lebensführung und insofern im weitesten Sinne »mit der Tugend zu tun haben«: Sokrates diskutiert hier Namen für Tugenden und Werte (411a–416d), für Nützliches und Schädliches (416e–419b), für Emotionen (419b–420b), für kognitive Zustände (420b–c) und für freiwillige und unfreiwillige Handlungen (420d–e);10 und stets stellt sich heraus, dass So will er bereits nach der Analyse des Namens Arês die Diskussion der Götternamen beenden – Ἐκ μὲν οὖν τῶν θεῶν πρὸς θεῶν ἀπαλλαγῶμεν, ὡς ἐγὼ δέδοικα περὶ αὐτῶν διαλέγεσθαι (407d6 f.) –, lässt sich aber doch noch zur Untersuchung der Namen Hermês und Pan überreden. In 408d4 f. wiederholt er dann seinen Wunsch, die Götternamen hinter sich zu lassen (ἀλλ᾽ ὅπερ ἐγὼ ἔλεγον, ὦ μακάριε, ἀπαλλαγῶμεν ἐκ τῶν θεῶν), und kann sich dieses Mal auch durchsetzen. 7 In 408d6 f. reagiert Hermogenes auf den Wunsch des Sokrates, »von den Göttern« (ἐκ τῶν θεῶν) loszukommen, mit qualifiziertem Einverständnis: Tῶν γε τοιούτων, ὦ Σώκρατες, εἰ βούλει. περὶ τῶν τοιῶνδε δὲ τί σε κωλύει διελθεῖν οἷον ἡλίου τε καὶ σελήνης καὶ ἄστρων καὶ γῆς καὶ αἰθέρος καὶ ἀέρος καὶ πυρὸς καὶ ὕδατος καὶ ὡρῶν καὶ ἐνιαυτοῦ; Durch die Gegenüberstellung von τῶν τοιούτων und τῶν τοιῶνδε ist klar, dass Hermogenes die Gestirne und die Elemente ebenfalls als Gottheiten betrachtet, wenn auch als Gottheiten anderer Art. 8 Sokrates diskutiert freilich auch Namen wie eniautos und etos, bei denen man kaum annehmen würde, dass sie sich auf natürliche Gottheiten beziehen. 9 411a1–4: […] ἔγωγε ἡδέως ἂν θεασαίμην ταῦτα τὰ καλὰ ὀνόματα τίνι ποτὲ ὀρθότητι κεῖται, τὰ περὶ τὴν ἀρετήν, οἷον ›φρόνησίς‹ τε καὶ ›σύνεσις‹ καὶ ›δικαιοσύνη‹ καὶ τἆλλα τὰ τοιαῦτα πάντα. 10 Diese Binneneinteilung der Passage 411d–420e geht zurück auf Ademollo (2011), 185–189; die vergleichbaren Binneneinteilungen bei Gaiser (1974), 54–57, und Sedley (2003), 89 f. und 113 f., sind in manchen Details weniger akkurat. Freilich hängt für die Argumentation dieses Kapi6
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die betreffenden Namen Beschreibungen enkodieren, die der Herakliteischen Annahme verpflichtet sind, dass alle Dinge einem fortwährendem Fluss unterliegen. Zu einem Ende kommt die lange Reihe etymologischer Analysen allerdings erst mit der Untersuchung der für die logische und ontologische Forschung unverzichtbaren Namen onoma, alêtheia, pseudos, (ouk) on11 und ousia in 421a–c; diese »größten und schönsten« (ta megista kai ta kallista, 421a1) Namen scheinen eine eigenständige Gruppe zu bilden.12 Erst nachdem Sokrates auch sie im Rückgriff auf das flusstheoretische Grundvokabular, das bereits seine Diskussion in 411d–420e geprägt hatte, analysiert hat, wendet sich Hermogenes in 421c3–6 diesem Grundvokabular zu und leitet mit seiner nur allzu berechtigten Frage nach der Richtigkeit der Namen wie ion, rheon und doun die Betrachtung der »primären Namen« (prôta onomata, 422c3; vgl. 421d2 f.) ein, die nicht mehr auf das Mittel der etymologischen Analyse zurückgreifen kann. Schon dieser kurze Überblick über die etymologische Sektion lässt erkennen, dass man es keineswegs mit einer zusammenhanglosen Aneinanderreihung von Einzelbetrachtungen zu tun hat, sondern mit einer sorgfältig arrangierten Abfolge etymologischer Analysen, die zusammen ein veritables Forschungsprogramm ergeben. Dieses Forschungsprogramm zerfällt, wie von Kommentatoren schon oft bemerkt worden ist,13 in drei systematische Hauptteile: Es beginnt mit einem theologischen Teil, in dem Sokrates die Namen der traditionellen Gottheiten diskutiert (400d–408d); diesem Teil ist die Analyse der Namen theos, daimôn, hêrôs, anthrôpos, psychê und sôma (397c–400c) wie ein Präludium vorgeschaltet.14 Es folgt ein kosmologischer Teil, in dem Sokrates die Namen für natürliche Gottheiten und Phänomene betrachtet (408d–410e). Diese beiden Teile tels nichts davon ab, wie die Untersuchung der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, zu untergliedern ist. 11 In 421c1 f. scheint Sokrates ouk on als einen Namen zu behandeln; in Soph. 237c2 hält es der Eleatische Fremde mit dem Ausdruck mê on genauso. Aristoteles bezieht sich in seiner Diskussion des onoma im zweiten Kapitel von De interpretatione auf Ausdrücke wie ouk anthrôpos (16a30–34), bestreitet aber, dass es sich bei solchen Ausdrücken um onomata handelt. Immerhin ist er auch bereit, den Ausdruck ouk anthrôpos zumindest als »indefiniten Namen« (onoma ahoriston, 16a32) gelten zu lassen. 12 Hermogenes’ Formulierung in 421a1–4 scheint jedenfalls stark darauf hinzudeuten, dass nun ein neues Thema angeschnitten wird. Den besonderen Status der »größten und schönsten« Namen betonen auch Gaiser (1974), 57, Eckl (2003), 158, und Ademollo (2011), 188; Sedleys These, dass diese Namen auch »mit der Tugend zu tun haben«, weil sie im Zusammenhang mit der Tugend der Weisheit stehen (Sedley (2003),157 f.), lässt sich hingegen am Text des Kratylos nicht belegen. 13 So schon Benfey (1866), 254. Benfey verkennt allerdings den Sonderstatus der Untersuchung der »größten und schönsten« Namen in 421a–c. 14 Man könnte mit Gaiser (1974), 58 f., diese Passage auch als Präludium für die gesamte fol-
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von Sokrates’ Untersuchung sind insofern aufs Engste miteinander verbunden, als sie sich gleichermaßen mit den Namen von Gottheiten befassen. Von ihnen ist der dritte, ethische Teil des Forschungsprogramms, der den Namen gewidmet ist, »die mit der Tugend zu tun haben« (411d–420e), durch Sokrates’ markante Problematisierung des flusstheoretischen Irrglaubens der prähistorischen Namensgeber in 411b3–c6 klar abgegrenzt. Diesem letzten der drei Hauptteile schließt sich in 421a–c die kurze Diskussion der »größten und schönsten« Namen wie ein logischontologischer Epilog an. Insgesamt gelingt es Sokrates auf diese Weise nicht nur, einen großen Teil des Vokabulars, das für eine Beschreibung der grundlegenden kosmischen Strukturen und Kräfte sowie der in diese kosmischen Zusammenhänge eingebetteten menschlichen Existenz erforderlich ist, etymologisch zu analysieren: Er scheint sich dabei, wie ebenfalls oft bemerkt worden ist,15 auch systematisch durch die griechische Geistesgeschichte zu arbeiten, die mit Theogonien im Stile Hesiods einsetzt und über die kosmologischen Spekulationen der Vorsokratiker zu den Reflexionen über die Bedingungen guten menschlichen Lebens führt, die für Sokrates und seine sophistischen Konkurrenten charakteristisch sind, um schließlich in den logisch-ontologischen Forschungsanstrengungen zu münden, die in vielen Platonischen Dialogen und nicht zuletzt im Kratylos selbst unternommen werden. Zugleich durchzieht Sokrates’ Untersuchung eine konsequente Abstiegsbewegung, die von der Betrachtung der Namen für die höchsten, göttlichen Wesen zu einer Diskussion der Namen für alltägliches menschliches Verhalten führt.16 In einem bemerkenswerten Kontrast zur systematischen und wohlorganisierten Anlage des etymologischen Forschungsprogramms steht nun aber seine von einem inspirierten Dilettantismus getragene Durchführung: Sokrates gibt mehrmals deutlich zu verstehen, dass er sich im Bereich der Etymologie eigentlich nicht auskennt und seinen momentanen Einfallsreichtum der Inspiration durch Euthyphron verdankt, mit dem er kurz zuvor gesprochen hat;17 und er gende Untersuchung ansehen, weil sie den Abstieg von der göttlichen in die menschliche Sphäre vorwegnimmt, der für diese Untersuchung charakteristisch ist. 15 Siehe etwa Baxter (1992), 91–94, und Ademollo (2011), 189. 16 Das wird zurecht betont von Baxter (1992), 90 f., und Eckl (2003), 160. Brumbaugh (1958), 503 f., vertritt hingegen die These, dass für die Etymologien der analytische Fortschritt von Komplexität zu Einfachheit charakteristisch ist – was aber nur insofern plausibel zu sein scheint, als alle Namen auf etymologisch nicht weiter zu analysierende prôta onomata zurückgeführt werden. 17 Das berichtet Sokrates in 396d4–8, nachdem Hermogenes ihn auf seine plötzliche Inspiration angesprochen hat: Kαὶ αἰτιῶμαί γε, ὦ Ἑρμόγενες, μάλιστα αὐτὴν ἀπὸ Εὐθύφρονος τοῦ Προσπαλτίου προσπεπτωκέναι μοι· ἕωθεν γὰρ πολλὰ αὐτῷ συνῆ καὶ παρεῖχον τὰ ὦτα. κινδυνεύει οὖν ἐνθουσιῶν οὐ μόνον τὰ ὦτά μου ἐμπλῆσαι τῆς δαιμονίας σοφίας, ἀλλὰ καὶ τῆς
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unterbricht seine Ausführungen immer wieder, um seinem Erstaunen über die so plötzlich über ihn gekommene etymologische Weisheit Ausdruck zu verleihen.18 Zudem wirken zahlreiche etymologische Analysen konstruiert und weit hergeholt, manche auch geradezu bizarr;19 sehr oft werden mehrere Analysen desselben Namens entwickelt.20 Insgesamt scheint es keine Methode zu geben, der Sokrates bei seiner Freilegung der etymologischen Bedeutung von Namen folgen würde.21 Wie er an einer Stelle sogar selbst anerkennt, ist die Willkürgefahr bei etymologischen Analysen aus diesem Grund hoch.22 Neben ihrer schieren Länge sind es insbesondere auch diese hervorstechenden und schlecht zueinander passenden Charakteristika der etymologischen Sektion – Systematizität ihres Programms, anarchischer Charakter seiner Durchführung –, die ihr in der Sekundärliteratur zum Kratylos seit Jahrhunderten große Aufmerksamkeit sichern. Zu beobachten ist dabei die Tendenz, die etymologische Sektion in Isolation von der Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu betrachten, in die sie eingebunden ist, und der Frage, was Platon mit ihrer Inszenierung bezweckt, sozusagen in vacuo nachzugehen. Eine solche Betrachtungsweise begünstigt einseitige und wenig befriedigende Urteile: So wurde und wird einerseits vielfach argumentiert, die etymologische Sektion sei nichts anderes als eine aus dem Ruder gelaufene Parodie der etymologischen Praxis der Zeitgenossen Platons;23 andererseits hat nach wie vor auch die These ihre Anhänger, es sei in ψυχῆς ἐπειλῆφθαι. Sokrates erwähnt Euthyphron auch noch an einigen anderen Stellen, beispielsweise in 399e4–400a1, 407d8 f. und 409d1–3. Wieso es ausgerechnet Euthyphron ist, auf den sich Sokrates beruft, ist nicht klar. In der älteren Sekundärliteratur wurde spekuliert, dass sich hinter Euthyphron möglicherweise Antisthenes verbirgt (Höttermann (1910)) oder er die Schule der Pythagoreer vertritt (Boyancé (1941)). Die gängigste Erklärung dafür, dass Platon Euthyphron ins Spiel bringt, hebt darauf ab, dass Euthyphron aus dem gleichnamigen Dialog als ein intellektuelles Leichtgewicht bekannt ist, dessen Erwähnung dem Zweck dient, die von Sokrates entwickelten etymologischen Analysen zu diskreditieren: So z. B. Benfey (1866), 250; Gaiser (1974), 19; Barney (2001), 58 f. 18 Siehe 396c6–d1, 399a3–5, 401e5 und 410e3. Bei seiner Untersuchung der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, spricht Sokrates bemerkenswerterweise nicht mehr mit solcher Zuversicht von seiner übergroßen Weisheit, sondern scheint eher zu befürchten, dass sein inspirierter Zustand seinem Ende entgegengeht – siehe 420d3 und e3–5. 19 S.u., Anm. 89, für Beispiele. 20 In 22 Fällen werden mehrere Analysen desselben Namens vorgetragen: Siehe die Auflistung bei Heitsch (1984), 49 Anm. 69. 21 Siehe zum Verhältnis zwischen Sokrates’ Vorgehen bei seinen etymologischen Analysen und der Methodik der modernen Etymologie die nuancierten Ausführungen in Leroy (1968); vgl. außerdem die instruktiven Bemerkungen bei Baxter (1992), 57–65. 22 S.u., 429 f. 23 So die enorm einflussreiche Position Schleiermachers: Schleiermacher (21824), 5–9. Ähnlich argumentieren beispielsweise Herrmann (1839), 494; Brandis (1844), 285; Horn (1904), 36–39; Leky (1919), 31–53; Wilamowitz-Moellendorff (51959), 229; Abramczyk (1928), 19; Philippson
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dieser Sektion Platons leitendes Interesse, das Vokabular der griechischen Sprache an dem in 391b–394e entdeckten Standard der natürlichen Richtigkeit zu messen, um so zu klären, wie nah das Griechische einer philosophischen Idealsprache kommt.24 Diese beiden klassischen Deutungen von Sokrates’ etymologischer tour de force vermögen nicht zu erklären, was sie zur Untersuchung der Frage beiträgt, ob es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, und welche Einsichten sie insbesondere im Hinblick auf die von Sokrates kurz zuvor entwickelte Deskriptionsthese vermittelt. Das vorliegende Kapitel bietet eine solche Erklärung. Es soll zeigen, dass Platon bei seiner Inszenierung der etymologischen Sektion zwei Ziele verfolgt, an denen bereits seine Gestaltung der Passage 391b–394e ausgerichtet war: Erstens sorgt er dafür, dass Sokrates’ Ausführungen der Deskriptionsthese zwar bei oberflächlicher Betrachtung zusätzliche Plausibilität zu verleihen scheinen, ihre Glaubwürdigkeit bei näherer Überlegung aber massiv schwächen. Zweitens stellt er seinen Lesern mit zunehmender Eindringlichkeit vor Augen, welch fatale Konsequenzen es haben kann, wenn man sich im Hinblick auf ontologische Fragen auf die Ergebnisse etymologischer Forschungen verlässt, und macht zugleich deutlich, dass die Auseinandersetzung mit diesen Fragen von noch größerer Bedeutung ist als die Beschäftigung mit Namen und die Suche nach einer Theorie ihrer natürlichen Richtigkeit. Insbesondere um dieses zweite Ziel zu erreichen, setzt Platon auf den kumulativen Effekt der Aneinanderreihung vieler etymologischer Analysen, die in dieselbe Richtung weisen – was die vielfach kritisierte Überlänge der etymologischen Sektion erklärt.25 Ein drittes, vergleichsweise leicht zu identifizierendes Ziel tritt hinzu: Die etymologische Sektion soll nämlich auch illustrieren, dass die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit an prinzipielle Grenzen stößt, wenn es um die Richtigkeit der prôta onomata geht, und daher der Ergänzung und Fundierung bedarf. Insgesamt wird das vorliegende Kapitel zeigen, wie gut sich Platons auf den ersten Blick so schwer nachvollziehbare Entscheidung, in Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen ein weit ausgreifendes etymologisches Forschungsprogramm einzuschalten, erklären lässt, wenn man einmal verstanden hat, was nach Abschluss der Werkzeug-Analogie im Kratylos vor sich geht: wenn man also verstanden hat, dass Sokrates im Mittelteil des Dialogs mit dem Hypernaturalismus eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen entfaltet, (1929). Neuerdings ist eine entsprechende Interpretation der etymologischen Sektion insbesondere von Trivigno (2012) kraftvoll verteidigt worden. 24 So etwa Grote (21865), 529 f.; Benfey (1866), 207 f. und 244; Baxter (1992), 86; Eckl (2003), 156; Sedley (2003), 97 f. 25 Auf den kumulativen Effekt des Analysereigens verweisen auch Schofield (1982), 63, und Ademollo (2011), 209.
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die zwar für denjenigen alternativlos scheinen kann, der Namen und Lautfolgen gleichsetzt, von einem Konventionalisten wie Hermogenes aber eigentlich nicht akzeptiert werden sollte. Die etymologische Sektion erweist sich nämlich aus dieser Perspektive als eine weitere Etappe auf dem Weg zur Vollendung des Hypernaturalismus, durch deren kunstvolle Inszenierung Platon die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Fragwürdigkeit dieses Wegs lenkt und sie zum Ausloten anderer Optionen anregt.
Die griechische Sprache im Zeugenstand (I): Platons subversive Diskreditierung der D ESKRIPTIONSTHESE
Sokrates’ eigener Auskunft nach sollen seine etymologischen Analysen die Frage beantworten, »ob uns also die Namen selbst bezeugen werden, dass jeder einzelne nicht gänzlich aufs Geratewohl so beigelegt ist, sondern eine gewisse Richtigkeit hat«.26 Der Name »Astyanax« ist in diesem Sinne schon als Zeuge für die Vermutung aufgerufen worden, dass Namen dem von der Deskriptionsthese spezifizierten Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen; weitere Zeugen sollen nun, so Sokrates’ offizielle Begründung für seine etymologischen Betrachtungen, die Plausibilität dieser Vermutung noch erhöhen. Im Idealfall würde sich dabei herausstellen, dass die untersuchten Namen, die gebräuchlich und daher allgemein als richtig anerkannt sind,27 Beschreibungen der ousiai der benannten Gegenstandsarten enkodieren – was zumindest auf den ersten Blick den Schluss, dass ihre Richtigkeit auf diesen Umstand zurückzuführen ist, nahelegen und so die Glaubwürdigkeit der Deskriptionsthese stärken würde. Insofern sind die Etymologien kein Selbstzweck und dienen auch nicht, wie mitunter angenommen wird,28 in erster Linie der Beantwortung der Frage, inwieweit das Vokabular des Griechischen den zuvor vermeintlich entdeckten Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllt. Nimmt man Sokrates’ Absichtserklärung für bare Münze, dienen sie in erster Linie dazu, die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit zu belegen. Um richtig einschätzen zu können, wie überzeugend Sokrates’ Vorgehen im Dialogkontext zumindest potenziell sein könnte, muss man sich vergegenwär26 397a7–9: […] εἰ ἄρα ἡμῖν ἐπιμαρτυρήσει αὐτὰ τὰ ὀνόματα μὴ πάνυ ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου οὕτως ἕκαστα κεῖσθαι, ἀλλ᾽ ἔχειν τινὰ ὀρθότητα; Schleiermacher gibt μὴ πάνυ ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου οὕτως ἕκαστα κεῖσθαι mit »daß sie keineswegs nur aufs Geratewohl jedem beigelegt werden«, was angesichts des ἕκαστα nicht richtig sein kann. 27 Zumindest Hermogenes und die sich mit ihm identifi zierenden Leser des Kratylos dürften an der Richtigkeit dieser Namen keine Zweifel haben. 28 Insbesondere von den in Anm. 24 genannten Interpreten.
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tigen, aus welcher Perspektive Sokrates’ Gesprächspartner Hermogenes die an die Werkzeug-Analogie anschließende Untersuchung verfolgt. Wie im vorangehenden Kapitel erläutert wurde, setzt Hermogenes nach wie vor Namen mit Lautfolgen gleich. Da er die Konklusion der Werkzeug-Analogie akzeptiert hat, muss er davon ausgehen, dass eine Lautfolge gegebenenfalls unabhängig von allen Entscheidungen und Konventionen ein richtiger Name für eine gegebene Art von Gegenständen ist. Er kann daher die Rückführung der Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Komposition nicht als unplausibel verwerfen – in seinen Augen muss die Zusammensetzung der Namen schließlich für ihre Richtigkeit verantwortlich sein. Schon bevor Sokrates mit seinem Analysereigen beginnt, muss es Hermogenes daher mehr oder weniger unvermeidlich vorkommen, die Deskriptionsthese zu akzeptieren. Der Nachweis, dass viele als richtig geltende Namen tatsächlich Beschreibungen der ousiai der benannten Gegenstandsarten enkodieren, hätte für ihn vor diesem Hintergrund einen Signifikanz, die ihm für sich genommen gar nicht zukommen könnte: Denn Hermogenes käme kaum umhin, diesen Nachweis als konkrete empirische Unterfütterung einer Theorie zu werten, die zurückzuweisen ihm aus abstrakt-begrifflichen Gründen ohnehin so gut wie unmöglich ist. Objektiv betrachtet ist freilich das Vorhaben, die Deskriptionsthese durch die etymologische Untersuchung von als richtig anerkannten griechischen Namen zu plausibilisieren, sehr fragwürdig. Denn selbst wenn sich bestätigen lassen sollte, dass diese Namen tatsächlich Beschreibungen der ousiai der benannten Gegenstandsarten enkodieren, wäre die Behauptung, ihre Brauchbarkeit im Sinne des (Spezifischen) Funktionalitätsprinzips sei abhängig von dieser Charakteristik, immer noch höchst kontraintuitiv; man würde sie kaum akzeptieren wollen, ohne durch ein gutes Argument davon überzeugt worden zu sein, dass Ausdrücke, die keine solchen Beschreibungen enkodieren, auch durch die Etablierung entsprechender Konventionen nicht zu brauchbaren Namen gemacht werden können. Diese Implikation der Deskriptionsthese bleibt im Gespräch zwischen Sokrates und Hermogenes aber eben deswegen verdeckt, weil es in Hermogenes’ Augen keine Alternative zur Zurückführung der Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Zusammensetzung gibt und der eigentlich unerlässliche kritische Abgleich der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit daher obsolet erscheint. Dementsprechend bleibt Sokrates’ Vorgehen in der etymologischen Sektion von dem im letzten Kapitel beschriebenen (und von Sokrates möglicherweise längt durchschauten) »Selbstbetrug« geprägt, in den er und sein Gesprächspartner sich bereits in 391b–394e verstrickt haben: Sokrates ist also weiterhin nicht zu der Klarstellung gezwungen, dass sich der Deskriptionsthese zufolge eine Gegenstandsart nur mit einem Ausdruck herausgreifen
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lässt, der eine Beschreibung ihrer ousia enkodiert; und Hermogenes muss sich nicht bewusst machen, dass der Versuch, die Deskriptionsthese durch etymologische Analysen von gebräuchlichen griechischen Namen zu bestätigen, einem Himmelfahrtskommando gleicht. Die potenzielle Überzeugungskraft von Sokrates’ Befragung der griechischen Sprache muss demnach differenziert beurteilt werden: De facto bliebe die Deskriptionsthese auch dann höchst unplausibel, wenn gezeigt werden könnte, dass viele griechische Namen ihrer etymologischen Bedeutung nach zu den jeweils benannten Gegenstandsarten passen. Aber aus Hermogenes’ Perspektive könnte Sokrates’ etymologisches Forschungsprogramm die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung dennoch empirisch zu untermauern scheinen – wenn auch nur deswegen, weil er ohnehin prädisponiert ist, diese Annahme als alternativlos zu akzeptieren, und sich ihre problematischen Konsequenzen deswegen nicht vor Augen führt. Eine solche Pseudo-Untermauerung der Deskriptionsthese gelänge dann, wenn sich erstens nachweisen ließe, dass die untersuchten griechischen Namen wirklich Beschreibungen enkodieren, und wenn zweitens nachgewiesen werden könnte, dass diese Beschreibungen auf die ousiai der jeweils benannten Gegenstandsarten zutreffen. Was nun den ersten dieser beiden Punkte angeht, scheint Sokrates erfolgreich zu sein; zumindest seinen Analysen zufolge hat jeder einzelne der betrachteten Namen einen deskriptiven Gehalt.29 Stellt man für den Moment die nur zu begründeten und später noch ausführlicher zu diskutierenden Zweifel an der Methodik dieser Analysen zurück, wird man anerkennen können, wie gewichtig und auch überraschend ihr Ergebnis dem Prinzip nach ist, und welchen Eindruck es auf einen Gesprächspartner wie Hermogenes machen dürfte. Denn auf den ersten Blick erscheint es ja eher so, als hätten zwar einige Namen – etwa »Astyanax« – aufgrund ihrer etymologischen Zusammensetzung offensichtlich einen deskriptiven Gehalt, 30 aber eben keineswegs alle oder auch nur die 29 Dieses Ergebnis kann man anerkennen, ohne annehmen zu müssen, dass die Richtigkeit dieser Namen etwas mit ihrem deskriptiven Gehalt zu tun hat: S.u., 409. 30 Auch ein scheinbar einfacher Fall wie dieser ist freilich bei genauerer Betrachtung problematischer, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag – denn eine Addition oder Aneinanderreihung von bedeutungsvollen sprachlichen Ausdrücken ist natürlich noch keine Beschreibung, weil ihr die syntaktische Organisation abgeht, die für eine echte Beschreibung charakteristisch ist. Das aber hat zur Folge, dass man die etymologische Zusammensetzung eines Namens kennen kann, ohne deswegen auch schon zu wissen, welche Beschreibung er enkodiert. Deutlich wird dies insbesondere dann, wenn man Namen betrachtet, die einen etymologischen Bestandteil gemeinsam haben, wie etwa »Stahlplatte« und »Stahlwerk«: »Stahlplatte« setzt sich offensichtlich aus den Namen »Stahl« und »Platte« zusammen und ist dementsprechend ein Name für Platten, die aus Stahl bestehen; »Stahlwerk« setzt sich ebenso offensichtlich aus den
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meisten Namen. Diesen Eindruck entkräften Sokrates’ etymologische Betrachtungen ihrem eigenen Anspruch nach. Die untersuchten Namen sind dabei in ihrer Lautgestalt tatsächlich nur in einigen wenigen Fällen nicht weit entfernt von der Beschreibung, die sie enkodieren: Der Name Kronos lässt sich beispielsweise in 396b3–7 auf die Namen koros (»rein«) und nous (»Verstand«) zurückführen, beschreibt also Kronos als koros nous, als reinen Verstand;31 und der Name dikaion (»gerecht«) wird zurückgeführt auf die Beschreibung diaïon kai kaion (»hindurchgehend und erwärmend«), die auf dasjenige Bewegungsprinzip zutrifft, mit dem das Gerechte angeblich zu identifizieren ist.32 In diesen Fällen wäre tatsächlich die Annahme naheliegend, die Namen seien durch den Ausfall einiger Buchstaben aus den betreffenden Beschreibungen hervorgegangen – schließlich tauchen alle Buchstaben dieser Namen in der richtigen Reihenfolge auch in den Beschreibungen auf, und mindestens die Hälfte der Buchstaben, die in den Beschreibungen vorkommen, kommen auch in den Namen vor. Auch den beiden Gesprächspartnern wird aber schnell klar, dass die meisten Namen nicht in diesem vergleichsweise unproblematischen Sinne als verkürzte Versionen von Beschreibungen eingestuft werden können. So klärt Sokrates Hermogenes schon in 399a6–9 darüber auf, dass dann, wenn aus mehreren Namen ein neuer Name gebildet wird, oftmals Buchstaben versetzt oder eingefügt werden, und lässt sich nicht lange um ein konkretes Beispiel bitten: Der Name anthrôpos geht seiner Analyse zufolge auf die Beschreibung anathrôn ha opôpe (»anschauend, was er gesehen hat«) zurück, hat aber als vorletzten Buchstaben ein omikron statt des in der Beschreibung vorkommenden omega und als letzten Buchstaben ein sigma, wie es in der Beschreibung überhaupt nicht auftaucht;33 und kurz darauf führt er den Namen psychê auf die Beschreibung physin ochei kai echei (»leitet und hält die Natur«) zurück und räumt ein, dass zwar physechê eine Namen »Stahl« und »Werk« zusammen, ist aber natürlich kein Name für Werke aus Stahl, sondern für Werke, die der Produktion von Stahl dienen. Dass der Name »Stahlplatte« mit der Beschreibung »Platte, die aus Stahl besteht« assoziiert ist, der Name »Stahlwerk« hingegen mit der Beschreibung »Werk, das der Produktion von Stahl dient«, scheint daher mit menschlichen Entscheidungen und Konventionen zu tun haben zu müssen. Abstrahiert man von diesen Konventionen, lässt sich nicht ohne Weiteres erklären, in welchem Sinne man überhaupt davon sprechen kann, dass der Name »Stahlplatte« die Beschreibung »Platte, die aus Stahl besteht« und der Name »Stahlwerk« die Beschreibung »Werk, das der Produktion von Stahl dient« enkodiert. 31 Vgl. zu den Details dieser etymologischen Analyse die hilfreichen Überlegungen in Robinson (1995). 32 412c8–413d2. Diese bemerkenswerte Analyse wird noch ausführlicher zu diskutieren sein: S.u., Anm. 64. 33 399c1–6: Σημαίνει τοῦτο τὸ ὄνομα ὁ ›ἄνθρωπος‹ ὅτι τὰ μὲν ἄλλα θηρία ὧν ὁρᾷ οὐδὲν ἐπισκοπεῖ οὐδὲ ἀναλογίζεται οὐδὲ ἀναθρεῖ, ὁ δὲ ἄνθρωπος ἅμα ἑώρακεν – τοῦτο δ᾽ ἐστὶ τὸ ›ὄπωπε‹ – καὶ ἀναθρεῖ καὶ λογίζεται τοῦτο ὃ ὄπωπεν. ἐντεῦθεν δὴ μόνον τῶν θηρίων ὀρθῶς ὁ ἄνθρωπος ›ἄνθρωπος‹ ὠνομάσθη, ἀναθρῶν ἃ ὄπωπε.
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naheliegende Verkürzung dieser Beschreibung gewesen wäre, stattdessen aber aus physechê das raffiniertere psychê gebildet worden sei.34 Viele der folgenden Analysen rekurrieren in ähnlicher Weise auf die Annahme, dass es bei der Umwandlung einer Beschreibung in einen Namen oftmals zur Versetzung von Buchstaben oder zur Einfügung neuer Buchstaben kommt. Obwohl die etymologischen Ableitungen, die Sokrates auf diese Weise konstruiert, zum Teil einigermaßen abenteuerlich sind, 35 akzeptiert Hermogenes sie meist ohne Protest. Umso auffälliger ist dann freilich seine kritische Reaktion auf Sokrates’ These (414b9–c2), der Name technê sei eine Verkürzung von hexis nou (»Besitz des Verstandes«) – diese Analyse quittiert Hermogenes mit einem eindeutig ironisch-tadelnden Kai mala ge glischrôs (414c3). Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist indessen weniger Hermogenes’ kritische Reaktion als solche von Belang als vielmehr die aufschlussreiche Erklärung, die sie Sokrates abnötigt: Mein Lieber, du weißt nicht, dass die zuerst gesetzten Namen36 schon von denen begraben worden sind, die sie spektakulär machen wollten und Buchstaben hinzufügten und herausnahmen des Wohlklangs wegen und so für völlige Verdrehung sorgten, sowohl unter dem Einfluss der Ausschmückung als auch unter dem Einfluss der Zeit. Denn scheint es dir nicht ungereimt zu sein, dass das rho in katoptron hineingeworfen worden ist? Aber dergleichen, denke ich, tun die, die sich um die Wahrheit nicht kümmern, sondern nur ihren Mund in Form bringen, so dass sie es, indem sie viele [Buchstaben] in die ersten Namen hineinwerfen, am Ende fertigbringen, dass kein Mensch mehr verstehen kann, was der Name wohl bedeuten mag.37 400a5–b3: Tὴν φύσιν παντὸς τοῦ σώματος, ὥστε καὶ ζῆν καὶ περιιέναι, τί σοι δοκεῖ ἔχειν τε καὶ ὀχεῖν ἄλλο ἢ ψυχή; – Oὐδὲν ἄλλο. – Tί δέ; καὶ τὴν τῶν ἄλλων ἁπάντων φύσιν οὐ πιστεύεις Ἀναξαγόρᾳ νοῦν καὶ ψυχὴν εἶναι τὴν διακοσμοῦσαν καὶ ἔχουσαν; – Ἔγωγε. – Kαλῶς ἄρα ἂν τὸ ὄνομα τοῦτο ἔχοι τῇ δυνάμει ταύτῃ ἣ φύσιν ὀχεῖ καὶ ἔχει ›φυσέχην‹ ἐπονομάζειν. ἔξεστι δὲ καὶ ›ψυχὴν‹ κομψευόμενον λέγειν. 35 Vgl. dazu Anm. 89. 36 Die prôta onomata tethenta (414c4) sind offenbar diejenigen Namen, die in einem temporalen Sinne zuerst gesetzt wurden, und scheinen sich ihrerseits aus anderen Namen zusammenzusetzen; sie sollten daher nicht mit den prôta onomata verwechselt werden, von denen Sokrates in 422c3 zu sprechen beginnt – vgl. zur logischen Priorität dieser Namen die Überlegungen im vierten Abschnitt dieses Kapitels. 37 414c4–d3: Ὦ μακάριε, οὐκ οἶσθ᾽ ὅτι τὰ πρῶτα ὀνόματα τεθέντα κατακέχωσται ἤδη ὑπὸ τῶν βουλομένων τραγῳδεῖν αὐτά, περιτιθέντων γράμματα καὶ ἐξαιρούντων εὐστομίας ἕνεκα καὶ πανταχῇ στρεφόντων, καὶ ὑπὸ καλλωπισμοῦ καὶ ὑπὸ χρόνου. ἐπεὶ ἐν τῷ ›κατόπτρῳ‹ οὐ δοκεῖ σοι ἄτοπον εἶναι τὸ ἐμβεβλῆσθαι τὸ ῥῶ; ἀλλὰ τοιαῦτα οἶμαι ποιοῦσιν οἱ τῆς μὲν ἀληθείας οὐδὲν φροντίζοντες, τὸ δὲ στόμα πλάττοντες, ὥστ᾽ ἐπεμβάλλοντες πολλὰ ἐπὶ τὰ πρῶτα ὀνόματα τελευτῶντες ποιοῦσιν μηδ᾽ ἂν ἕνα ἀνθρώπων συνεῖναι ὅτι ποτὲ βούλεται τὸ ὄνομα [.] 34
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
Sokrates leugnet hier keineswegs, dass viele gebräuchliche Namen nur mehr in einer sehr losen Verbindung mit den Beschreibungen stehen, die sie seiner Untersuchung zufolge enkodieren. Schon zuvor hat er an mehreren Stellen Lautveränderungen für diesen Zustand verantwortlich gemacht;38 aber erst jetzt zieht Sokrates aus seinen Beobachtungen die Schlussfolgerung, dass die gebräuchlichen griechischen Namen, die er nun schon seit einiger Zeit untersucht (und auch noch für einige Zeit untersuchen wird), in vielen Fällen den Endpunkt eines historischen Verfallsprozesses bilden: Demnach gibt es eine Generation der »zuerst gesetzten Namen«, die – unberührt von kosmetischen Lautveränderungen – in transparenter Weise aus ihren etymologischen Wurzeln aufgebaut sind und daher leicht als Verkürzungen der Beschreibungen zu erkennen sind, die sie enkodieren. So wäre beispielsweise physechê vermutlich ein Name erster Generation für die Seele; und insgesamt dürfte die etymologische Bedeutung dieser Namen so offen zutage liegen wie die etymologische Bedeutung des Namens »Astyanax«. Namen wie psychê oder technê, die von Sokrates und seinen Zeitgenossen benutzt werden, scheinen hingegen Abwandlungen dieser Namen erster Generation zu sein, die auf Versuche zurückgehen, diese Namen spektakulärer oder theatralischer zu machen – Sokrates spricht in diesem Zusammenhang spöttisch von einem tragôdein (414c5), einer ›tragischen‹ Umbildung dieser Namen. Der entscheidende Punkt ist nun, dass bei dieser Umbildung auf die Wahrheit keine Rücksicht genommen wird (tês men alêtheias ouden phrontizontes, 414c9–d1): Sie kommt daher einer totalen Verdrehung oder Verkehrung (vgl. pantachê strephontôn, 414c7) gleich, einem Begräbnis (vgl. katakechôsetai, 414c5) der Namen der ersten Generation, an deren Stelle Namen treten, deren deskriptiver Gehalt opak ist.39 Als es wenig später um die Analyse der Namen zêmiôdes (»schädlich«) und deon (»billig«) zu tun ist, wird Sokrates noch deutlicher und gibt zu verstehen, dass die zu seiner Zeit gebräuchlichen Namen mitunter eine etymologische Bedeutung zu haben scheinen, die der Bedeutung der Namen der ersten Generation, aus der sie sich entwickelt haben, entgegengesetzt ist: Sieh nur, Hermogenes, wie recht ich habe, wenn ich sage, dass sie40 durch Hinzufügung und Entfernung von Buchstaben die Sinne der Namen oft sehr stark verändern, so dass sie, indem sie sehr kleine Änderungen vornehmen, so manchmal dafür sorgen, dass sie das Gegenteil bedeuten. Wie auch bei [dem Namen] deon; Nämlich in 399a6–b4, 400b1–3, 402e6 f., 403a3, 404c3 f., 404d6–8, 405e1, 407b5 f. und c6 f. sowie 411e3. 39 Vgl. zu dieser Entgegensetzung Schäublin (1891), 84 f. und 89–92, sowie Gaiser (1974), 59–61. 40 Das Subjekt scheint an dieser Stelle noch hoi themenoi to onoma aus 418a2 f. zu sein. 38
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denn an ihn dachte ich gerade und wurde an ihn erinnert durch das, was ich dir sagen wollte – dass nämlich unsere schöne neue Sprache auch [die Namen] deon und zêmiôdes bis zu Andeutung des Gegenteils verdreht und dabei unkenntlich gemacht hat, was ihr Sinn ist, während die alte [Sprache] kundmacht, was die beiden Namen bedeuten.41
Wie Sokrates in der Folge (418e10–419a4) erklärt, entwickelte sich der Name deon aus dem Namen diïon42 (»durchgehend«), der wiederum unter den Grundannahmen der Flusstheorie43 eindeutig als namensgewordene Beschreibung des Billigen identifiziert werden kann. Betrachte man den Namen deon hingegen, ohne seine Geschichte zu kennen, verfalle man leicht auf den Gedanken, er leite sich von dem Verb deô (»binden«) ab und komme so zu einer völlig verfehlten Einschätzung seiner etymologischen Bedeutung (418e5–8). Aus dieser Beobachtung zieht Sokrates sogar die äußerst bemerkenswerte Schlussfolgerung, dass für den alten Name diïon »mit viel höherer Wahrscheinlichkeit gilt, dass er richtig beigelegt ist, als für den jetzigen«44 Namen deon. Wenn man Sokrates hier beim 418a5–b6: Θέασαι, ὦ Ἑρμόγενες, ὡς ἐγὼ ἀληθῆ λέγω λέγων ὅτι προστιθέντες γράμματα καὶ ἐξαιροῦντες σφόδρα ἀλλοιοῦσι τὰς τῶν ὀνομάτων διανοίας, οὕτως ὥστε σμικρὰ πάνυ παραστρέφοντες ἐνίοτε τἀναντία ποιεῖν σημαίνειν. οἷον καὶ ἐν τῷ ›δέοντι‹· ἐνενόησα γὰρ αὐτὸ καὶ ἀνεμνήσθην ἄρτι ἀπὸ τοῦδε ὃ ἔμελλόν σοι ἐρεῖν ὅτι ἡ μὲν νέα φωνὴ ἡμῖν ἡ καλὴ αὕτη καὶ τοὐναντίον περιέτρεψε μηνύειν τὸ ›δέον’ καὶ τὸ ‘ζημιῶδες,‹ ἀφανίζουσα ὅτι νοεῖ, ἡ δὲ παλαιὰ ἀμφότερον δηλοῖ ὃ βούλεται τοὔνομα. 42 Die Lesart διϊόν in 419a3 geht auf eine Emendation Heindorfs zurück, die von Burnet, Dalimier und den Herausgebern des OCT akzeptiert wird. Die Lesart der Manuskripte ist entweder διόν (T; akzeptiert von Méridier und Reeve), διάιον (β) oder δαίον (δ). Die Lesart διόν hat gegenüber Heindorfs Verbesserung den Vorteil, dass sie besser zu Sokrates’ Bemerkung passt, der neusprachliche Name δέον verdanke sich der Ersetzung von Iota durch Epsilon; andererseits ist nur διϊόν, nicht aber διόν ein korrektes Partizip von δίειμι. (Vgl. zu diesen beiden Punkten Ademollo (2011), 231, Anm. 112.) Auch wenn man dennoch mit T διόν liest, wird man aber kaum bestreiten können, dass dieser Ausdruck seinerseits als verkürzte Version des Partizips διϊόν zu verstehen ist. 43 Denn das Billige ist eine Gestalt des Guten (418e7) und muss daher etwas mit der Aufrechterhaltung des konstanten Flusses zu tun zu haben. 44 Der von τῷ ἀρχαίῳ ὀνόματι abhängige Relativsatz ὃ πολὺ μᾶλλον εἰκός ἐστιν ὀρθῶς κεῖσθαι ἢ τὸ νῦν (418e11–419a1), der hier mit »für den mit viel höherer Wahrscheinlichkeit gilt, dass er richtig beigelegt ist, als für den jetzigen« übersetzt wird, ist in seiner Konstruktion im Deutschen nicht ganz leicht nachzubilden. Klar ist jedenfalls, dass ἐστιν das Prädikat dieses Relativsatzes ist, von dem der um ein Adverb ergänzte Infinitiv ὀρθῶς κεῖσθαι abhängig ist; Übersetzungen wie »welches mir weit richtiger vorkommt als das jetzige« (Schleiermacher) oder »qui est vraisemblablement beaucoup plus correct que l’actuelle« (Dalimier) können daher schwerlich korrekt sein. Am nächsten kommt man der griechischen Konstruktion mit einer englischen Übersetzung wie »which is much more likely to have been correctly given than the present one« (Reeve; vgl. Ademollo (2011), 231), der die hier vorgeschlagene deutsche Übersetzung (soweit wie möglich) nachgebildet ist. 41
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Wort nehmen darf, sind also einige der von ihm untersuchten Namen auch dann nicht sensu strictu richtig, wenn man davon ausgeht, dass tatsächlich alle Dinge in stetem Fluss begriffen sind; im Sinne der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit richtig wären dann nämlich nur die entsprechenden Namen der ersten Generation, die auf transparente Weise Beschreibungen enkodieren, die zur Flusstheorie passen. Es ist freilich nicht klar, welche Reichweite Sokrates’ Bemerkung hat: ob es sich also nur in wenigen Einzelfällen so verhält, dass ein gebräuchlicher griechischer Name eigentlich gar nicht mehr als richtig gelten kann, weil seine etymologische Bedeutung derjenigen des entsprechenden Namens der ersten Generation diametral entgegengesetzt zu sein scheint, oder ob viele der von ihm untersuchten Namen schon nicht mehr im strikten Sinne als richtig einzustufen sind, weil sich durch ihre Abweichungen von den entsprechenden Namen der ersten Generation nicht ohne Weiteres erkennen lässt, welche Beschreibungen sie enkodieren. Entscheidend für den gegenwärtigen Zusammenhang ist indessen, dass Sokrates’ Überlegungen zum allgemeinen Sprachwandel und -verfall es zumindest auf den ersten Blick plausibel machen, auch solche Namen als verkappte Beschreibungen anzusehen, deren deskriptiver Gehalt keineswegs offen zutage liegt. Dieses Ergebnis bringt zweifellos ganz eigene Probleme mit sich: Denn abgesehen davon, dass der Status der korrumpierten Namen unklar ist, stellt sich offenbar insbesondere die Frage, wie man sich bei der Erschließung eines opaken deskriptiven Gehalts vor Fehlern oder Willkürlichkeiten schützen soll; und Sokrates’ konkretes Vorgehen verleiht, wie bereits erwähnt, dieser Frage zusätzliche Dringlichkeit. Auf diese methodologischen Punkte wird im Rahmen eines Exkurses zum epistemischen Status der Etymologien noch zurückzukommen sein. Zumindest eine oberflächliche Plausibilisierung der Annahme, dass viele gebräuchliche und als richtig anerkannte griechische Namen Beschreibungen enkodieren, erreicht Sokrates durch seine Analysen und durch seine generellen Ausführungen zur historischen Entwicklung der Sprache aber in jedem Fall. In dieser Hinsicht ist dem Versuch, mit einem breit angelegten etymologischen Forschungsprogramm die Glaubwürdigkeit der Deskriptionsthese zu stärken, durchaus ein gewisser Erfolg beschieden. Was Platon, der sich darin wiederum als Meister der Subversion erweist, geradezu demonstrativ scheitern lässt, ist hingegen der unverzichtbare zweite Schritt der Umsetzung dieses Versuchs: Denn während die von Sokrates untersuchten Namen zwar Beschreibungen enkodieren mögen, scheint sich in den meisten Fällen nicht bestätigen zu lassen, dass diese Beschreibungen auch tatsächlich auf die ousiai der jeweils benannten Gegenstandsarten zutreffen. Sokrates selbst gibt schon sehr früh zu verstehen, dass seine Analysen bestenfalls zu einer Rekonstruktion der Meinungen führen können, die Namensgeber
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bei ihrer Entscheidung geleitet haben, für bestimmte Gegenstände Namen mit einem bestimmten deskriptiven Gehalt einzuführen, aber natürlich keineswegs die Wahrheit dieser Meinungen und damit die Angemessenheit der enkodierten Beschreibungen verbürgen. Anlass für diese Klarstellung ist die Bitte des Hermogenes um eine Wiederaufnahme der Untersuchung der Namen für die traditionellen Gottheiten. Sokrates erklärt in Reaktion auf diese Bitte zunächst (400d6– e1), dass im Hinblick auf die Götter eigentlich Agnostizismus die beste Politik wäre: Am sinnvollsten wäre es demnach, sich in Anknüpfung an 392b1–7 mit dem Eingeständnis zu bescheiden, man wisse nichts über die Götter und die Namen, die sie für sich selbst benutzen – auch wenn natürlich kein Zweifel daran bestehen kann, dass diese Namen, wie auch immer sie aussehen mögen, natürlicherweise richtig sind.45 Freilich ist es, so Sokrates weiter, aber dennoch möglich, im Sinne einer ›zweitbesten Fahrt‹ zumindest die Namen zu untersuchen, die den Göttern von den Menschen beigelegt wurden: »Wenn du also willst, lass’ uns forschen, nachdem wir den Göttern gleichsam im Vorhinein gesagt haben, dass wir keine Untersuchung über sie anstellen werden – denn wir glauben nicht, dass wir imstande sind, [sie] zu erforschen –, sondern über die Menschen, welche Meinung (doxa) sie wohl hatten, als sie ihnen diese Namen beilegten.«46 Sokrates thematisiert hier in der Form einer prophylaktischen Besänftigung der Götter einen charakteristischen Zug der etymologischen Sektion:47 In mehr als 110 Fällen wird die Beschreibung rekonstruiert, die ein bestimmter griechischer Name enkodiert; aber in keinem einzigen Fall wird eine von der etymologischen Analyse klar getrennte Untersuchung der Frage angestellt, ob die rekonstruierte Beschreibung die ousia der benannten Art auch tatsächlich tref400d6–e1: Nαὶ μὰ Δία ἡμεῖς γε, ὦ Ἑρμόγενες, εἴπερ γε νοῦν ἔχομεν, ἕνα μὲν τὸν κάλλιστον τρόπον, ὅτι περὶ θεῶν οὐδὲν ἴσμεν, οὔτε περὶ αὐτῶν οὔτε περὶ τῶν ὀνομάτων, ἅττα ποτὲ αὐτοὶ ἑαυτοὺς καλοῦσιν· δῆλον γὰρ ὅτι ἐκεῖνοί γε τἀληθῆ καλοῦσι. 46 401a2–6: Eἰ βούλει οὖν, σκοπῶμεν ὥσπερ προειπόντες τοῖς θεοῖς ὅτι περὶ αὐτῶν οὐδὲν ἡμεῖς σκεψόμεθα – οὐ γὰρ ἀξιοῦμεν οἷοί τ᾽ ἂν εἶναι σκοπεῖν – ἀλλὰ περὶ τῶν ἀνθρώπων, ἥν ποτέ τινα δόξαν ἔχοντες ἐτίθεντο αὐτοῖς τὰ ὀνόματα [.] In a2 wird hier mit Ademollo (2011), 200 Anm. 48, εἰ βούλει οὖν als lectio difficilior dem z. B. von Burnet akzeptierten εἰ οὖν βούλει vorgezogen. Stattdessen wie die Editoren des OCT die in den Handschriften nicht zu findende Variante βούλει οὖν abzudrucken, erscheint unnötig. 47 Dass Sokrates’ Erklärung in 400d6–401a6 einen frühen Wendepunkt in seiner etymologischen Untersuchung markiert, ist in der Sekundärliteratur schon oft bemerkt worden: Siehe z. B. Kahn (1973), 157; Schofield (1982), 63; Eckl (2003), 159 f.; und Ademollo (2011), 199–201. Ademollo behauptet gar, diese Erklärung komme einem »suicide of naturalism« gleich (201). Das aber scheint eine Übertreibung zu sein: Denn erstens ist ja nicht gesagt, dass die Beschreibungen, die die von Sokrates untersuchten Namen enkodieren, inadäquat sein müssen, sondern nur, dass Sokrates die Frage nach ihrer Adäquatheit ausblendet; und zweitens würde aus dem Befund, dass die untersuchten Namen nicht natürlicherweise richtig im Sinne der DESKRIPTIONSTHESE sind, nicht unmittelbar folgen, dass die DESKRIPTIONSTHESE falsch ist. 45
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fend charakterisiert.48 Die etymologische Sektion scheint also offen zu lassen, ob die diskutierten griechischen Namen ihrem deskriptiven Gehalt nach zu den benannten Gegenstandsarten passen – und damit auch, inwieweit sie als gute Zeugen die Glaubwürdigkeit der Deskriptionsthese stärken können. Bei genauerer Betrachtung erweist es sich freilich als irreführend, zu behaupten, dass diese Frage offen bleibt – denn auch wenn Sokrates die von den analysierten Namen enkodierten Beschreibungen nicht einzeln auf ihre Angemessenheit hin untersucht, kommt er doch zumindest im Hinblick auf die Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, zu einem pauschalen Urteil: Wie er bereits in 411b3–c6 ankündigt und durch seine Einzelanalysen dann auch zu bestätigen scheint,49 können die von diesen Namen enkodierten Beschreibungen nämlich nur dann adäquat sein, wenn man im Sinne Heraklits annimmt, dass alle Dinge in stetem Fluss begriffen sind. Sokrates macht aber schon in 411b3–c6 keinen Hehl daraus, dass er Heraklits Flussthese für eine philosophische Verirrung hält; und ganz am Ende des Dialogs (439b–440e) wird er zumindest andeuten, welche desaströsen Implikationen diese These hat, und auf diese Weise eine Basis für ihre begründete Zurückweisung schaffen. Mehr als die Hälfte der Namen, die Sokrates untersucht, enkodieren demnach gerade keine Beschreibungen, die auf die ousiai der benannten Gegenstandsarten zutreffen. Wie sich bei der Lektüre der etymologischen Sektion kaum übersehen lässt, scheitert also der Versuch, die Deskriptionsthese durch eine Befragung der griechischen Sprache zu plausibilisieren. Denn sein Grundgedanke war es ja, durch eine Betrachtung gebräuchlicher Namen, die gemeinhin als richtig anerkannt werden, den Zusammenhang zwischen ihrer Richtigkeit und ihrer etymologischen Bedeutung zu belegen. Sokrates’ Analysen legen nun aber den gegenteiligen Schluss nahe, dass ein solcher Zusammenhang nicht besteht – kann doch mindestens die Richtigkeit der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, nichts mit ihrer etymologischen Bedeutung zu tun haben. Wenn man diesen Schluss zieht, muss man keineswegs bestreiten, dass die von Sokrates analysierten Namen tatsächlich einen deskriptiven Gehalt haben, und dass manche von ihnen sogar angemessene Beschreibungen der ousiai der jeweils benannten Gegenstandsarten enkodieren. Man kann also unter dieser Voraussetzung durchaus anerkennen, dass Namen oftmals aus der Abkürzung von Beschreibungen hervorgehen, die von den jeweiligen Namensgebern – mitunter auch zurecht – für zutreffend gehalten werden. Bestreiten muss man nur, Im Zuge der Analyse des Namens dikaion referiert Sokrates immerhin konkurrierende Antworten auf die Frage, was das Gerechte ist; aber sogar in diesem Ausnahmefall verzichtet Sokrates darauf, die Adäquatheit dieser Antworten kritisch zu überprüfen. Vgl. zu seiner Diskussion des Namens dikaion Anm. 64. 49 Vgl. dazu die Überlegungen des zweiten und dritten Abschnitts dieses Kapitels. 48
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dass die Richtigkeit der Namen von ihrer etymologischen Bedeutung abhängt. Das aber ist angesichts der in der etymologischen Sektion erreichten Ergebnisse unvermeidlich, wenn man nicht die Richtigkeit aller Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, und einiger zuvor betrachteter Namen in Abrede stellen will.50 Letztlich untergräbt also Sokrates, indem er die deskriptiven Gehalte dieser Namen freilegt, nachhaltig die Glaubwürdigkeit derjenigen Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, die er seiner eigenen Absichtserklärung nach stärken wollte.51 Platons Inszenierung der etymologischen Sektion zeichnet sich demnach durch eine subversive Doppelbödigkeit aus – und knüpft insofern direkt an seine Gestaltung des Übergangs von der Werkzeug-Analogie zu der etymologischen Sektion in 391b–394e an: In dieser Passage plausibilisiert Sokrates’ Diskussion des Namens »Astyanax« ja bei oberflächlicher Betrachtung die Annahme, dass »Astyanax« aufgrund seiner etymologischen Bedeutung ein natürlicherweise richtiger Name für den Sohn des Stadtherren Hektor ist, und somit auch die Deskriptionsthese; aber gleichzeitig kann bei näherer Überlegung kein Zweifel daran bestehen, dass »Astyanax« im Sinne der Deskriptionsthese gerade kein natürlicherweise richtiger Name für Hektors Sohn ist, der als kleines Kind bei der Zerstörung der Stadt ums Leben kommt, die er als Erbe seines Vaters hätte beschützen sollen. Der Name »Astyanax« mag also, ebenso wie viele der von Sokrates in der etymologischen Sektion untersuchten Namen, auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als guter Zeuge die Glaubwürdigkeit der Deskriptionsthese zu stärken, erweist sich aber, wiederum ganz wie jene Namen, im Kreuzverhör als Belastung für eben diese These. In dieser Hinsicht ist Platons Strategie bei der Gestaltung des gesamten Dialogabschnitts 391b–422c, dessen Merkwürdigkeiten, Längen und Idiosynkrasien ihm einen so schlechten Leumund eingetragen haben, bemerkenswert konsequent: Sokrates’ Ausführungen verschaffen der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen stets so viel oberflächliche Plausibilität, dass eine weitere Entfaltung und Untersuchung dieser Theorie für seinen Gesprächspartner HermoDas kann man selbstverständlich tun, wenn man die D ESKRIPTIONSTHESE um jeden Preis verteidigen will; aber dass man an ihr nur durch einen so radikalen Schritt festhalten kann, macht sie eben hochgradig unplausibel. 51 Die Doppelbödigkeit von Platons Inszenierung der etymologischen Sektion wird auch von Ademollo (2011), 208, betont: »At least part of the etymologies’ function is to contribute to the argument of the dialogue by undermining naturalism while pretending to put it into practice.« Aber da Ademollo unter »naturalism« die These zu verstehen scheint, dass die meisten griechischen Namen de facto natürlicherweise richtig im Sinne der DESKRIPTIONSTHESE sind, sollte sein Fazit nicht mit der hier gezogenen Schlussfolgerung gleichgesetzt werden, dass die etymologische Sektion letztlich die Plausibilität der DESKRIPTIONSTHESE selbst untergräbt. 50
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genes sinnvoll erscheint, führen aber einem aufmerksamen Leser gleichzeitig vor Augen, dass de facto alles dagegen spricht, sie zu akzeptieren.
Etymologie, Flusstheorie und Relativismus
Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden ist, spielt Heraklits Flusslehre in der etymologischen Sektion eine zentrale Rolle. Dieser Umstand ist nicht allein Platons Ziel geschuldet, die Deskriptionsthese auf subversive Weise zu diskreditieren, sondern indiziert auch, dass er bei seiner Gestaltung der etymologischen Sektion noch in einer anderen Hinsicht der Strategie treu bleibt, die bereits seine Inszenierung der Passage 391b–394e prägt. Wie die Überlegungen des vorherigen Abschnitts gezeigt haben, macht Platon durch seine Gestaltung dieser Passage deutlich, dass aus der Konzentration auf Namen und ihre etymologischen Bedeutungen leicht eine Vernachlässigung von ontologischen Fragen resultieren kann, die für eine adäquate philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema der natürlichen Richtigkeit der Namen eigentlich von grundlegender Bedeutung sind – was die Gefahr verheerender ontologischer Fehleinschätzungen erhöht. In 391b–394e ist es die Frage, unter welchen Bedingungen eine Vielzahl von Gegenständen eine gemeinsame stabile ousia hat und folglich eine Art bildet, der ein in die etymologische Analyse der Namen »Astyanax« und »Hektor« vertiefter Sokrates nicht die gebührende philosophische Aufmerksamkeit widmet; der Versuch, die Richtigkeit des Namens »Astyanax« durch den Rekurs auf seine etymologische Bedeutung zu erklären, führt in diesem Fall sogar zu der offenkundig falschen Antwort, die Teilhabe einer Vielzahl von Lebewesen an einer gemeinsamen ousia sei stets an einen biologisch-genetischen Zusammenhang zwischen diesen Lebewesen geknüpft. Die etymologische Sektion illustriert nun auf noch drastischere Weise, wie hoch die Gefahr einer philosophischen Kernschmelze ist, wenn man sich die Antwort auf ontologische Fragen von etymologischen Analysen vorgeben lässt, statt ihnen eine eigene Untersuchung zu widmen: Denn diese Analysen lassen die Annahme plausibel erscheinen, dass alles in Bewegung ist und nichts stabil bleibt – eine Annahme, die mit dem Prinzip, dass es stabile ousiai gibt, unvereinbar ist. Da man dieses Prinzip nicht aufgeben kann, ohne dem von Sokrates in der Werkzeug-Analogie entwickelten Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen die Grundlage zu entziehen, fiele man bei einem blinden Vertrauen auf die ontologische Aussagekraft etymologischer Analysen nicht etwa einem harmlosen Irrtum anheim, sondern einer gravierenden ontologischen Fehleinschätzung, die in letzter Konsequenz gar nicht mit der Anerkennung eines natürlichen Standards für die Richtigkeit der Namen verträglich ist und somit ein adäquates
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Verständnis des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit unmöglich macht. Freilich lässt sich dieser Gedanke auch positiv wenden: Denn offenbar gelingt es Platon ja, durch die Inszenierung der etymologischen Sektion diejenige philosophische Herausforderung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, die bewältigt werden muss, um den sprachphilosophischen Ansatz der Werkzeug-Analogie auf eine sichere Basis zu stellen – die Verteidigung der Annahme stabiler ousiai gegen die allumfassende Flusslehre, deren Gültigkeit die von Sokrates untersuchten Namen zu bezeugen scheinen. Auch wenn es einen gewissen Anachronismus involviert, liegt es in dieser Hinsicht durchaus nahe, die mitunter surreale etymologische Sektion mit einem (Alb-)Traum zu vergleichen, in dem die Aushebelung rationaler Kontrollmechanismen dazu führt, dass sich ein bisher verdrängtes Problem Bahn bricht. In jedem Fall führt sie aber einem aufmerksamen Leser noch weitaus eindringlicher als die Passage 391b–394e vor Augen, dass eine Theorie der Richtigkeit der Namen nur durch ontologische Prinzipienreflexionen auf ein sicheres Fundament gestellt werden kann. Es ist bemerkenswert, mit welcher Sorgfalt und literarischen Brillanz Platon dabei die Flusslehre Heraklits Stück für Stück in den Fokus rückt. In den ersten etymologischen Untersuchungen, die Sokrates in 394e–400c anstellt, spielt sie noch überhaupt keine Rolle – ganz im Gegenteil sind zumindest die Analysen, die Sokrates in 397c–400c entwickelt, geradezu ein Fest für linientreue Platoniker.52 Der erste, noch sehr unscheinbare Verweis auf Heraklit und seine These findet sich in der Diskussion des Namens Hestia, die sich – sicherlich nicht aus Zufall – direkt an Sokrates’ Eingeständnis anschließt, die etymologische Analyse könne nur zu einer Rekonstruktion der Meinungen der Namensgeber führen (400d6–401a6). Der Name Hestia sei jedenfalls das Werk von »Himmelskundigen und Schwätzern« (meteôrologoi kai adoleschai, 401b8 f.)53: Mir ist klar, dass die Festsetzung der Namen Sache irgendwelcher Menschen dieser Art ist, und wenn jemand die fremden Namen genau betrachtet, findet er ebenso gut heraus, was jeder bedeutet. Wie auch in diesem Fall: Es gibt einige, die das, was wir ousia nennen, essia nennen; andere wiederum [nennen es] ôsia. Zuerst nun gemäß des ersten dieser Namen hat es guten Grund, dass das Sein (ousia) der Dinge Hestia genannt wird, und auch insofern wiederum wir über das, Das ist von David Sedley eindrucksvoll demonstriert worden: Sedley (2003), 90–96. Nachdem Aristophanes in seinen Wolken die Sophisten als Meteorologen karikiert (228– 230 und 333) und sie zudem als adoleschai bezeichnet (148), dürften Platons Leser die Charakterisierung der Urheber des Namens Hestia als meteôrologoi kai adoleschai kaum für ein uneingeschränktes Lob gehalten haben (vgl. Trivigno (2012), 58 mit Anm. 43). Phdr. 269e4–270a3 zeigt freilich, dass Platon diese Terme auch in einem positiveren Sinn verwenden kann. 52
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was am Sein teilhat, sagen, [dass es] »ist« (estin)54, auch in dieser Hinsicht mag es wohl richtig Hestia genannt werden. Auch wir scheinen nämlich in alten Zeiten das Sein essia genannt zu haben. [….] Diejenigen aber, die das Sein ôsia genannt haben, mögen wohl im Einklang mit Heraklit glauben, dass alles Seiende geht und nichts bestehen bleibt; also sei seine Ursache und sein Prinzip das Stoßende (to ôthoun), weswegen es gut sei, dass es ôsia genannt werde.55
Man mache sich bewusst, was Sokrates hier tut: Einerseits führt er den Namen Hestia auf den Ausdruck essia zurück, der wahrscheinlich die Urform des Ausdrucks ousia sei und in jedem Fall in anderen Dialekten noch zur Bezeichnung des Seins eingesetzt werde. Abgesehen davon, dass die Assoziation der Göttin Hestia mit dem »Sein der Dinge« etwas willkürlich wirkt, ist dieser Teil seiner Erklärung nicht weiter auffällig. Umso auffälliger ist es aber, dass Sokrates andererseits mit dem Ausdruck ôsia noch eine weitere dialektale Variante des Namens ousia ins Spiel bringt, ohne dadurch seine Untersuchung des Namens Hestia im Geringsten voranzubringen. Es ist freilich leicht zu erkennen, aus welchem Grund Platon Sokrates diese dialektale Variante diskutieren lässt: Ihm geht es allein darum, dass sich der Ausdruck ôsia auf das Partizip ôthoun zurückführen lässt und damit ein passender Name für etwas Stoßendes ist. Wie Sokrates selbst erläutert, ist es dann naheliegend, das Sein auf diese Weise zu bezeichnen, wenn man davon ausgeht, dass Heraklit recht hat und tatsächlich alles Seiende einem steten Fluss unterworfen ist – denn die ousia als Prinzip des Seienden sollte in diesem Fall verantwortlich sein für seine stete Bewegung. Die Etymologie des Ausdrucks ôsia suggeriert also Sokrates’ Auslegung zufolge nicht nur, dass alle Dinge im Fluss sind, sondern insbesondere auch, dass ihre ousia als quasi-mechanische Ursache ihrer Bewegung fungiert und folglich dem umfassenden Bewegungszusammenhang keineswegs enthoben ist.56 Die Frage, wie sich diese Konsequenz von Heraklits Flusslehre zum Prinzip der Stabilität (bebaiotês) der ousia verhält, Die Editoren des OCT folgen Burnets Konjektur und lesen ἔστιν in 401c7, während Méridier mit β und δ Ἐστίαν liest – was im Kontext aber wenig Sinn zu ergeben scheint. 55 401b11–d7: Kαταφαίνεταί μοι ἡ θέσις τῶν ὀνομάτων τοιούτων τινῶν ἀνθρώπων εἶναι, καὶ ἐάν τις τὰ ξενικὰ ὀνόματα ἀνασκοπῇ, οὐχ ἧττον ἀνευρίσκεται ὃ ἕκαστον βούλεται. οἷον καὶ ἐν τούτῳ ὃ ἡμεῖς ›οὐσίαν‹ καλοῦμεν, εἰσὶν οἳ ›ἐσσίαν‹ καλοῦσιν, οἳ δ᾽ αὖ ›ὠσίαν.‹ πρῶτον μὲν οὖν κατὰ τὸ ἕτερον ὄνομα τούτων ἡ τῶν πραγμάτων οὐσία ›Ἑστία‹ καλεῖσθαι ἔχει λόγον, καὶ ὅτι γε αὖ ἡμεῖς τὸ τῆς οὐσίας μετέχον ›ἔστιν‹ φαμέν, καὶ κατὰ τοῦτο ὀρθῶς ἂν καλοῖτο ›Ἑστία‹· ἐοίκαμεν γὰρ καὶ ἡμεῖς τὸ παλαιὸν ›ἐσσίαν‹ καλεῖν τὴν οὐσίαν. […] ὅσοι δ᾽ αὖ ›ὠσίαν,‹ σχεδόν τι αὖ οὗτοι καθ᾽ Ἡράκλειτον ἂν ἡγοῖντο τὰ ὄντα ἰέναι τε πάντα καὶ μένειν οὐδέν· τὸ οὖν αἴτιον καὶ τὸ ἀρχηγὸν αὐτῶν εἶναι τὸ ὠθοῦν, ὅθεν δὴ καλῶς ἔχειν αὐτὸ ›ὠσίαν‹ ὠνομάσθαι. 56 Vgl. zu den physikalischen Details der von Sokrates den prähistorischen Namensgebern unterstellten Flusstheorie die – gezwungenermaßen spekulativen – Überlegungen bei Ademollo (2011), 210–215. 54
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das der Werkzeug-Analogie zugrunde liegt, drängt sich zwar auf, wird aber von Sokrates nicht thematisiert. Die folgenden etymologischen Untersuchungen sind in dieser Hinsicht nicht sonderlich hilfreich: Sokrates entwickelt zwar Analysen der Namen Kronos (402b1–4), Rhea (ebd.), Okeanos (402b4–c3), Thetys (402c6–d2) und, etwas später, Pherrhephatta (404c7–d8), die der Flusslehre verpflichtet sind;57 aber insgesamt spielen Heraklit und seine Theorie in der an Sokrates’ Diskussion des Namens Hestia anschließenden Passage 401e–410e keine prominente Rolle. Das ändert sich schlagartig mit Hermogenes’ Bitte um eine Untersuchung der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«. Sokrates reagiert auf diese Bitte nämlich, indem er Hermogenes unter Rekurs auf seine vorherigen Bemerkungen zu den flusstheoretischen Überzeugungen der prähistorischen Namensgeber darauf aufmerksam macht, dass die Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, die Annahme widerzuspiegeln scheinen, dass alle Dinge stets in Bewegung sind und niemals stabil bleiben: Und wirklich, beim Hunde, scheint mir, dass ich nicht schlecht prophezeit habe,58 was ich gerade eben bemerkte, dass die ganz alten Menschen, die die Namen vor allem festgesetzt haben, genau so waren wie das Gros der Weisen heutzutage, die, weil sie sich beständig herumdrehen bei der Untersuchung, wie die Seienden sich verhalten, schwindlig werden, und dann scheint ihnen, dass die Dinge sich herumbewegen und sich auf jede Weise bewegen. Sie beschuldigen nicht ihren inneren Zustand dafür, diese Meinung zu verursachen, sondern beschuldigen die Dinge selbst, von Natur aus so zu sein, dass keines von ihnen beständig oder stabil ist, sondern fließe und sich bewege und immer voller Bewegung und Entstehung jeder Art sei. Ich sage dies, weil ich es in Beziehung auf alle gerade erwähnten Namen59 bemerkte.60
Die Analysen von Kronos und Rhea sind freilich nur angedeutet, während Okeanos gar keiner Analyse bedarf. 58 Sokrates bezieht sich hier wahrscheinlich auf 401e–402c zurück. 59 Dass mit τὰ νυνδὴ ὀνόματα die von Hermogenes ins Spiel gebrachten Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, gemeint sind, geht klar aus 411c8–d4 hervor, wie Sedley (2003), 108 Anm. 19, richtig bemerkt. 60 411b3–c6: Kαὶ μήν, νὴ τὸν κύνα, δοκῶ γέ μοι οὐ κακῶς μαντεύεσθαι, ὃ καὶ νυνδὴ ἐνενόησα, ὅτι οἱ πάνυ παλαιοὶ ἄνθρωποι οἱ τιθέμενοι τὰ ὀνόματα παντὸς μᾶλλον, ὥσπερ καὶ τῶν νῦν οἱ πολλοὶ τῶν σοφῶν ὑπὸ τοῦ πυκνὰ περιστρέφεσθαι ζητοῦντες ὅπῃ ἔχει τὰ ὄντα εἰλιγγιῶσιν, κἄπειτα αὐτοῖς φαίνεται περιφέρεσθαι τὰ πράγματα καὶ πάντως φέρεσθαι. αἰτιῶνται δὴ οὐ τὸ ἔνδον τὸ παρὰ σφίσιν πάθος αἴτιον εἶναι ταύτης τῆς δόξης, ἀλλὰ αὐτὰ τὰ πράγματα οὕτω πεφυκέναι, οὐδὲν αὐτῶν μόνιμον εἶναι οὐδὲ βέβαιον, ἀλλὰ ῥεῖν καὶ φέρεσθαι καὶ μεστὰ εἶναι πάσης φορᾶς καὶ γενέσεως ἀεί. λέγω δὲ ἐννοήσας πρὸς πάντα τὰ νυνδὴ ὀνόματα. 57
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Die Annahme, die der Einführung der nun zu untersuchenden Namen zugrunde lag, bezieht sich demnach nicht exklusiv auf Tugenden und die damit zusammenhängenden Gegenstände, sondern betrifft alles, was ist: Die von Sokrates als Herakliteer avant la lettre ausgewiesenen Namengeber sind demnach davon ausgegangen, dass alle Dinge einem beständigen Fluss unterliegen; auch wenn sich diese Überzeugung besonders deutlich in den Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, niedergeschlagen hat, ist sie in ihrem Gültigkeitsanspruch keineswegs auf den entsprechenden Bezirk der Wirklichkeit beschränkt. Die etymologische Analyse der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, suggeriert nun, ganz wie von Sokrates prophezeit, die Gültigkeit einer umfassenden Flusstheorie – tatsächlich können diese Namen ohne jede Ausnahme nur dann im Sinne der Deskriptionstheorie richtig sein, wenn alle Dinge einem steten Fluss unterliegen. Es wäre müßig, Sokrates’ Analysen in 411d–420e im Einzelnen mit Blick darauf durchzugehen, in welchem Sinne sie die Flusstheorie voraussetzen; aber zumindest lassen sich im Rückgriff auf Überlegungen David Sedleys zwei Aspekte der Flusstheorie identifizieren, die für Sokrates’ Analysen von besonderer Bedeutung sind:61 Zum einen die Annahme, dass Fluss, Bewegung und Veränderung – oder zumindest bestimmte Arten von Fluss, Bewegung und Veränderung – im kosmischen Zusammenhang die Rolle einer positiven Grundkraft spielen; 62 zum anderen die Überzeugung, dass erstrebenswerte kognitive Zustände sich dadurch auszeichnen, dass sie sie den Nachvollzug des konstanten Wandels ermöglichen. Die erste dieser beiden Annahmen prägt beispielweise die etymologische Analyse des Namens dikaion (»gerecht«) in 412c7–413d2, die zu den ersten Analysen gehört, die Sokrates im ethischen Abschnitt der etymologischen Sektion entwickelt, und allein aufgrund ihrer schieren Länge und ihrer inhaltlichen Komplexität unweigerlich die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zieht.63 Dieser Analyse zufolge leitet sich dikaion von dia-ion (»durch-gehend«) ab und ist ein Name für die schnellste Bewegung, die als Prinzip den gesamten Bewegungskontext des Wirklichen durchzieht und für alles Werden verantwortlich ist (412c8–e2). Sokrates gibt sich nun zwar nicht mit diesem Ergebnis zufrieden, sondern betont stattdessen die Bedeutung der Frage, wie dieses Prinzip näher zu bestimmen sei. Aber alle gängigen Antworten auf diese Frage, die Sokrates im Rahmen einer Art Philosophiegeschichte en miniature referiert, 64 setzen eben gleichermaßen Sedley (2003), 114–121. Vgl. dazu auch Gaiser (1974), 64. 63 Sie ist auch philosophiehistorisch von größtem Interesse: Siehe dazu Ademollo (2011), 215–225, sowie Ademollo (2012). 64 Erstens nämlich die Antwort, es handle sich bei diesem Prinzip um die Sonne (413b2–5), die Sokrates mit einer alternativen etymologischen Ableitung des Namens dikaion von diaion kai 61
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die Identifikation des Gerechten mit dem »durchgehenden« Prinzip voraus, »vermittels dessen alles Werdende werde«65. Wenn Sokrates’ Analyse des Namens dikaion korrekt ist, spiegelt dieser Name daher eindeutig die Überzeugung der Namensgeber wieder, dass der Fluss aller Dinge eine positive, bejahenswerte Charakteristik des Wirklichen ist. Gleiches gilt für den Ausdruck arête (»Tugend«), den Sokrates in 415c10–d6 auf aei rheon (»immer fließend«) zurückführt und so als einen richtigen Namen für den Zustand dauerhaften Flusses ausweist, der für eine gute Seele charakteristisch ist; und wie zur Gegenprobe wird der Ausdruck blaberon (»schädlich«) in 417d10–e5 auf boulomenon haptein rhoun (»den Fluss berühren wollend«) zurückgeführt und so als passender Name für das ausgewiesen, was den Fluss durch Berührung aufhalten will und auf diese Weise schadet. Viele weitere etymologische Analysen im ethischen Teil der etymologischen Sektion sind nach diesem Muster gestrickt; und auch wenn sie mitunter suggerieren, dass nicht alle Arten von Fluss gleichermaßen wertvoll sind, spiegeln sie doch zumindest die Annahme wieder, dass der konstante Fluss aller Dinge das Fundament der Präsenz des Guten im Kosmos ist.66 Auch die zweite der beiden genannten Annahmen, der zufolge man sich dann in einem guten kognitiven Zustand befindet, wenn man den konstanten Fluss zu erfassen und nachzuvollziehen in der Lage ist, spielt gleich zu Beginn diekaion verbindet (Dalimiers Lesart καίοντα scheint κάοντα als Lesart der Handschriften vorzuziehen zu sein); zweitens die Antwort, es handle sich bei diesem Prinzip um das Feuer (413b5–c2); drittens die Antwort, es handle sich um die dem Feuer innewohnende Wärme (413c2 f.); und viertens schließlich die Antwort, das durchgängige Bewegungsprinzip sei nichts anderes als Anaxagoras’ nous (413c4–7). Es ist bemerkenswert, dass die vier Positionen, die Sokrates referiert, sich nicht in ihrer Analyse des Namens dikaion unterscheiden – es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass dieser Name sich von diaion beziehungsweise diaion kai kaion ableitet. Die offene, von Sokrates forcierte Frage ist vielmehr, wie die Gerechtigkeit, wenn sie mit diesem Bewegungsprinzip identifiziert werden kann, näher zu bestimmen ist: Tί οὖν ποτ᾽ ἔστιν, ὦ ἄριστε, δίκαιον, εἰ τοῦτο οὕτως ἔχει; (413a7 f.) Die Parade von unterschiedlichen Antworten auf diese Frage zeigt, dass etymologische Analysen als solche nicht weiterhelfen, wenn es um gewichtige philosophische Probleme geht. Vgl. dazu Trivigno (2012), 50 f. 65 412d4 f.: […] δι᾽ οὗ πάντα τὰ γιγνόμενα γίγνεσθαι […]. 66 So ganz richtig Sedley (2003), 114: »More nuanced examples include agathon, ›good‹, which is diagnosed as picking out, not everything that is swift (thoon), but the part of it which is worthy of admiration (agaston), so that the word agathon is a contraction of agasto-thoon, ›the admirable in what is swift‹; another such is andreia, ›courage‹, which is said to be a contraction meaning ›counter-flow‹, but not, Socrates hastens to add, a counter-flow to just any current, but specifically to unjust currents. Thus although there is some tendency to associate value directly with change in general, the more developed diagnosis to which this leads Socrates is that positive values correspond to appropriate kinds of change. This may be his way of indicating that the name-makers did not straightforwardly identify positive value with flux, but rather that they assumed constant change to be the basis of positive values […].«
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ses Teils der etymologischen Sektion eine prominente Rolle: Sokrates führt hier zunächst den Ausdruck phronêsis (»Klugheit«) auf phôras kai rhou noêsis (»Verstehen von Bewegung und Fluss«) zurück, um dann wiederum noêsis von tou neou hesis (»Streben nach Neuem«, also Streben nach dem, was entsteht) abzuleiten (411d4–6 und d8–e4); der Ausdruck synesis (»Intelligenz«) wiederum wird als Derivat des Verbs synienai (»mitgehen«) ausgewiesen, so dass er als passender Name für das Vermögen erscheint, den Gang der Dinge mit- und nachzuvollziehen (412a5–b1). Viele andere Namen wie epistemê (412a1–4) und sophia (412b1–8) werden auf ähnliche Weise analysiert; und stets stellt sich heraus, dass die prähistorischen Namensgeber diese Namen in der Überzeugung eingeführt haben, dass der Nachvollzug des Wandels die zentrale intellektuelle Leistung ist. Unter der Voraussetzung, dass alle Dinge einem steten Fluss unterliegen, scheint diese Überzeugung auch keineswegs abwegig zu sein: Das Erkennen kann sich in diesem Fall offenbar nur als ein Erfassen des Flusses vollziehen, und kompetentes Handeln nur als geschickter Umgang mit dem Fluss. Sokrates’ etymologische Analysen bestätigen also seine in 411b3–c6 formulierte Vorahnung: Die prähistorischen Namensgeber scheinen tatsächlich von der Gültigkeit einer umfassenden Flusslehre ausgegangen zu sein. Seine Beschreibung ihrer Position in 411b3–c6 ist nun freilich keineswegs wohlwollend oder auch nur neutral. Sokrates gibt vielmehr deutlich zu verstehen, dass die Namensgeber in seinen Augen einem Irrglauben anhingen, dessen Ursache er auch zu diagnostizieren weiß: Eine flusstheoretische Grundüberzeugung ist seiner Interpretation zufolge auf die schwindelerregende Verwirrung zurückzuführen, die von der Untersuchung der Wirklichkeit hervorgerufen werden kann und nur allzu leicht als Resultat der vermeintlichen Instabilität aller Dinge missdeutet wird.67 Wenn Sokrates nun diese flusstheoretische Grundüberzeugung für falsch hält, Schon zu Beginn des Kratylos führt Platon vor, wie verführerisch es ist, die eigene Verwirrung auf die Wirklichkeit zu projizieren, indem er Hermogenes das Bekenntnis in den Mund legt, seine Aporie habe ihn fast dazu gebracht, den Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren (386a5–7; vgl. dazu die Überlegungen im dritten Abschnitt des ersten Kapitels dieser Studie). Bemerkenswert ist im Übrigen die Parallele zwischen der Beschreibung der schwindelerregenden Verwirrung, von der laut Sokrates die prähistorischen Namensgeber befallen waren, und der Charakterisierung der Konfusion des Theaitetos im gleichnamigen Dialog: In 154b–155c konfrontiert ihn Sokrates mit der Frage, wie es sein kann, dass sechs Würfel zwar im Vergleich mit vier Würfeln mehr Würfel sind, im Vergleich mit zwölf Würfeln hingegen weniger Würfel, obwohl sich doch die Zahl der Würfel nicht verändert hat. Theaitetos antwortet darauf: »Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwindelt mir ordentlich« (155c8–10: Kαὶ νὴ τοὺς θεούς γε, ὦ Σώκρατες, ὑπερφυῶς ὡς θαυμάζω τί ποτ᾽ ἐστὶ ταῦτα, καὶ ἐνίοτε ὡς ἀληθῶς βλέπων εἰς αὐτὰ σκοτοδινιῶ. Zitiert ist Schleiermachers Übersetzung). Wie Sokrates im unmittelbaren Anschluss (155d5–e1) erklärt, bietet ausgerechnet die als Protagoreische Geheimlehre apostrophierte Flusstheorie einen scheinbar attraktiven Ausweg aus dieser Aporie. Vgl. zum Verhältnis der von 67
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so muss er offenbar davon ausgehen, dass nicht alle Dinge einem umfassenden Fluss unterworfen und somit völlig instabil sind. Und tatsächlich hat er ja schon in seiner Auseinandersetzung mit dem Protagoreischen Relativismus zu Beginn seines Gesprächs mit Hermogenes (385e–386e) herausgearbeitet, inwiefern man den Dingen Stabilität zuschreiben muss: Demnach ist es »klar, dass die Dinge für sich irgendein eigenes stabiles Sein haben: Sie sind nicht in Bezug auf uns und werden nicht von uns durch unsere Vorstellungen hin und her gezogen, sondern bestehen für sich in Bezug auf ihr eigenes Sein, wie es für sie natürlich ist.«68 Wenn nun die Anhänger der Flusstheorie Sokrates’ Darstellung zufolge behaupten, die Dinge seien »von Natur aus so […], dass keines von ihnen beständig oder stabil ist«, so handelt es sich bis in die Details der Formulierung hinein69 um ein klares Dementi von Sokrates’ eigener anti-relativistischer Position.70 Sokrates wird am Ende des Dialogs (439b–440d) seine Position noch einmal bestärken und gegen die Herausforderung durch die Flusstheorie geltend machen, dass zumindest das Gute selbst oder das Schöne selbst keinem Fluss, keiner Bewegung oder Veränderung unterworfen sein dürfen, wenn Erkenntnis oder auch nur sinnvolles Sprechen über die Wirklichkeit möglich sein sollen.71 Da es sich, wie im fünften Kapitel gezeigt werden konnte, bei Entitäten wie dem Guten selbst oder dem Schönen selbst um ousiai handeln muss, lassen sich Sokrates’ Ausführungen auf die These zuspitzen, dass die Gegenstände der Wirklichkeit nicht, wie von der Flusstheorie behauptet, einem steten, allumfassenden Fluss unterlieSokrates in der Folge (156a–160e) ausführlich entfalteten Flusslehre zur Würfel-Aporie die instruktiven Überlegungen bei Buchheim (1986), 66–77. 68 386d9–e4. Dieser Satz wurde in seinem Kontext bereits im dritten Abschnitt des ersten Kapitels dieser Studie diskutiert. 69 Das πεφυκέναι in 411c3 ist ein Echo des πέφυκεν in 386e4, und das βέβαιόν aus 386e1 wird in 411c3 verbatim wiederaufgegriffen – was angesichts der Tatsache, dass dieses Wort nach 386e1 sonst nur noch in 437a8 f. vorkommt, wo es etymologisch analysiert wird, kein Zufall sein dürfte. 70 Gaiser (1974), 61–80, und Sedley (2003), 99–122, verteidigen die These, Platon selbst nehme an, dass die Flusstheorie ein adäquates Bild eines bestimmten Wirklichkeitsbereiches – nämlich der Erscheinungswelt – vermittelt, im Hinblick auf das, was (wie die Tugenden) wirklich ist, aber nicht zutreffend sein kann. Aber wie Ademollo (2011), 207 f., zurecht bemerkt, verzichtet Sokrates bei seiner Zurückweisung der Flusstheorie in 411b3–c6 auf eine solche Differenzierung – er lehnt sie als eine generelle Behauptung über alles, was ist, ohne jede Einschränkung ab. Es ist freilich eine interessante Frage, wieso Platon Sokrates den flusstheoretischen Irrglauben der Namensgeber erst im Rahmen seiner Diskussion der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, brandmarken lässt. Dafür scheint der Umstand verantwortlich zu sein, dass die flusstheoretische Überzeugung der Namensgeber in diesen Namen besonders deutlich zum Ausdruck kommt (vgl. dazu wiederum Ademollo (2011), 208) – was damit zu tun haben könnte, dass Tugenden und Werte von Wandel und Instabilität besonders stark betroffen zu sein scheinen. 71 Vgl. zu Sokrates’ Argumentation die Überlegungen im dritten Abschnitt des siebten Kapitels.
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gen, weil und insofern ihre jeweilige ousia stabil ist. Es kann daher kein Zweifel daran bestehen, dass die Flusstheorie, die Sokrates den prähistorischen Namensgebern und vielen seiner »weisen« Zeitgenossen unterstellt, so radikal ist, dass sie nicht mit der Anerkennung stabiler ousiai zu vereinbaren ist, die Sokrates selbst für unumgänglich hält. Die philosophische Konfrontation, die sich in 411b3–c6 abzeichnet und in 439b–440d in einer äußerst skizzenhaften Form durchgespielt wird, könnte also kaum grundsätzlicher sein: Es geht um die Frage, ob man dem wortwörtlich verstandenen Herakliteischen Schlachtruf panta chôrei72 zustimmen und dementsprechend das Vorkommen von Stabilität in der Wirklichkeit ohne jede Einschränkung in Abrede stellen muss, oder ob man davon ausgehen kann, dass es etwas gibt, was dem beständigen Fluss enthoben ist – nämlich die stabilen ousiai, die Sokrates postuliert.73 Die innere Logik dieser Konfrontation erläutert Sokrates im Kratylos allerdings nicht. Insbesondere wird nicht vollkommen durchsichtig, wie genau der Zusammenhang zwischen der Herakliteischen Flusstheorie und dem Protagoreischen Relativismus beschaffen ist, der ja offenkundig bestehen muss, wenn die Leugnung stabiler ousiai nach Sokrates’ Ausführungen in 385e–386e gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zum Relativismus ist. Auf den ersten Blick scheint man die Herakliteische Flusstheorie durchaus akzeptieren zu können, ohne sich damit auf den Relativismus zu verpflichten: Denn auch wenn beispielsweise im Sinne der Flusstheorie Gegenstände eine Farbe stets nur für eine extrem kurze Zeitspanne aufwiesen, um dann sofort eine neue Farbe anzunehmen, scheint es nicht zwangsläufig, wie vom Protagoreischen Relativismus behauptet, von der Wahrnehmung oder Meinung des Betrachters abzuhängen, ob sie zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Farbe aufweisen oder nicht. Insgesamt ist es nicht ohne Weiteres einleuchtend, wieso extreme Flüchtigkeit Objektivität unmöglich machen sollte;74 402a8. Ob es sich bei dem Satz πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει tatsächlich um ein direktes Zitat aus der sagenumwobenen Schrift des Heraklit handelt, ist umstritten. 73 Dass die Gegenstände der Wirklichkeit stabile ousiai haben, schließt freilich nicht aus, dass sie auch noch in anderen Hinsichten stabil sind; aber Sokrates’ Ausführungen deuten darauf hin, dass er die Stabilität der ousiai für eine notwendige Bedingung für die Falschheit der Flusslehre hält. 74 Vgl. Lee (2005), 89 f. Lee arbeitet auch überzeugend heraus, dass umgekehrt Stabilität nicht die Möglichkeit von Urteilen garantiert, die zu objektiver Wahrheit fähig sind: »Stability does not, however, imply that there is an objective truth about an object. Stability is possible even in a relativist world: if it appears to me all my life that this stone is black, the relativist should say that it will be black for me for that entire length of time. Its remaining stably black does not make it an ›objective fact‹ in the sense of being true independently of whether I perceive it as black or not« (90). Lee richtet sich dabei insbesondere gegen Burnyeats einflussreiche Interpretation des erstens Teils des Theaitetos, die unter anderem auf der Annahme beruht, dass es in 72
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und Sokrates schafft in dieser Hinsicht im Kratylos keine hinreichende Klarheit.75 Die Lücke, die der Kratylos lässt, füllt der Theaitetos. Es ist nämlich just der Zusammenhang zwischen Flusstheorie und Relativismus, der im Zentrum von dessen erstem, der Prüfung von Theaitetos’ Gleichsetzung von Wissen mit Wahrnehmung gewidmetem Teil (151e–186e) steht. Bekanntermaßen expliziert Sokrates diese Gleichsetzung unter Rekurs auf den Homo-Mensura-Satz des Protagoras und die diesem Satz angeblich als Geheimlehre zugrundeliegende Herakliteische Flusstheorie, um schließlich zu folgendem bemerkenswerten Fazit zu gelangen: [E]s fällt in eins zusammen, dass nach Homer und Heraklit und dem ganzen derartigen Stamm alle Dinge wie Ströme in Bewegung sind, dass nach Protagoras, dem höchst weisen, aller Dinge Maß der Mensch ist, und dass nach Theaitetos, da diese [Dinge] sich so verhalten, Wahrnehmung Wissen wird.76
Es ist sehr umstritten, was gemeint ist, wenn Sokrates sagt, dass die Flusstheorie, der Protagoreische Relativismus und Theaitetos’ Bestimmung des Wissens als Wahrnehmung in eins zusammenfallen;77 und dementsprechend umstritten einer relativistischen Welt keine Stabilität geben kann. Siehe insbesondere Burnyeat (1990), 49: »Stability, even for a moment, entails objectivity, even if only for that moment.« 75 Dementsprechend argumentiert etwa Ademollo (2011), 233, dass es zwischen der Flusstheorie des Kratylos und dem Protagoreischen Relativismus keinen Zusammenhang gibt: »The flux theory conveyed by the etymologies is a robustly physical theory according to which everything is engaged in spatial change, i.e. locomotion, and reality consists of two material principles, one quick and active, the other slow and passive, of which the former pervades the latter. This theory has nothing to do with relativity.« Freilich ist zu beachten, dass Ademollo sich hier in erster Linie gegen Rekonstruktionen der Flusstheorie wendet, die unter dem steten Fluss aller Dinge das verstehen, was seit Terence Irwins einflussreichem Aufsatz »Plato’s Heracliteanism« (in: Philosophical Quarterly 27 [1977], 1–13, hier inbesondere: 4) als »aspect-change« bezeichnet wird – den Umstand also, dass ein und derselbe Gegenstand in verschiedenen Hinsichten gegensätzliche Eigenschaft aufweist. Ademollo hat selbstverständlich ganz recht, wenn er darauf hinweist, dass die im Kratylos diskutierte Flusstheorie sich nicht auf die These reduzieren lässt, dass alle Dinge einem beständigen »aspect-change« unterliegen; aber daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass diese Theorie nichts mit Relativität zu tun habe, ist angesichts des engen Zusammenhangs, der dem Theaitetos zufolge zwischen einer ganz ähnlich gelagerten Flusstheorie und dem Protagoreischen Relativismus besteht, extrem voreilig. 76 Tht. 160d6–e2: […] εἰς ταὐτὸν συμπέπτωκεν, κατὰ μὲν Ὅμηρον καὶ Ἡράκλειτον καὶ πᾶν τὸ τοιοῦτον φῦλον οἷον ῥεύματα κινεῖσθαι τὰ πάντα, κατὰ δὲ Πρωταγόραν τὸν σοφώτατον πάντων χρημάτων ἄνθρωπον μέτρον εἶναι, κατὰ δὲ Θεαίτητον τούτων οὕτως ἐχόντων αἴσθησιν ἐπιστήμην γίγνεσθαι. Die zitierte Übersetzung ist diejenige Schleiermachers. 77 Der ›klassischen‹ Interpretationslinie, wie sie beispielsweise F.M. Cornford in seinem bahnbrechenden Plato’s Theory of Knowledge. The Theaetetus and the Sophist (London 1935) vertritt, liegt die Annahme zugrunde, dass zwischen dem Protagoreischem Relativismus und der Herakliteischen Flusstheorie einerseits und der Bestimmung des Wissens als Wahrnehmung andererseits keine engen logischen Beziehungen bestehen; denn während Platon diese Bestim-
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sind auch die Details der höchst intrikaten Überlegung, die Sokrates in 152c–160d entwickelt, um diese Schlussfolgerung zu rechtfertigen. Für den gegenwärtigen Zusammenhang genügt es aber glücklicherweise, sich auf einen wesentlichen Aspekt dieser Überlegungen zu konzentrieren, über den unter den Interpreten des Theaitetos weitgehend Einigkeit besteht: Was Sokrates in 152c–160d, insbesondere aber in 156a–160d zu zeigen versucht, ist nämlich ohne Zweifel, dass es für einen Anhänger der Flusstheorie höchst naheliegend – wenn nicht sogar unvermeidlich – ist, auch eine bestimmte Form des Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren.78 Seinen Überlegungen liegt dabei ein sehr plausibler Gedanke zugrunde: Demnach gibt es in einer Wirklichkeit, in der alles einem beständigen Wandel unterliegt, keine Dinge mit Eigenschaften in einem herkömmliche Sinne; stattdessen muss das, was gemeinhin als Eigenschaft eines Gegenstandes angesehen wird, reinterpretiert werden als unselbstständiges Resultat der Begegnung zweier Bewegungen, die eine Wahrnehmung und die wahrgenommene Qualität als ein untrennbar miteinander verknüpftes »Zwillingspaar« (didyma, 156b1) erzeugt, dessen Existenz mit der Begegnung der beiden Bewegungen ihr Ende findet.79 Sokrates erklärt in 156c7–e7 am Beispiel einer Situation, in der jemand wahrnimmt, dass ein Gegenstand weiß ist, wie man sich diesen Zeugungsvorgang vorzustellen hat: Wenn demnach beispielsweise Theaitetos ein weißes Holzstück sieht, verhält es sich nicht so, dass Theaitetos eine Eigenschaft des Holzstücks wahrnimmt, die von seiner Begegnung mit diesem Holzstück unabhängig wäre: Vielmehr nähern die langsame Bewegung aufseiten seines Auges und die langsame Bewegung aufseiten des Holzstücks sich einander an und erzeugen so ein Paar schnellerer Bewegungen – nämlich die Wahrnehmung eines Weißen und ein wahrgenommenes Weißes. Aber dieses Zwillingspaar ist ganz und gar abhängig von der Bewegungskonfiguration, der es seine Existenz verdankt. Die Weiße des Holzstücks überlebt daher die Auflösung dieser Konfiguration nicht; und wenn Theaitetos das Holzstück bei einer anderen Gelegenheit noch einmal betrachtet, mag er zwar wiederum einen Eindruck haben, den man gemeinhin als Weißeindruck charakterisieren würde, wird aber de facto eine radikal neue, weil mung des Wissens ablehne, akzeptiere er den Protagoreischen Relativismus und die Herakliteische Flusstheorie zumindest im Hinblick auf die Sinneswelt. Gegen eine solche Interpretation des ersten Teils des Theaitetos wendet sich bekanntermaßen insbesondere Burnyeat (1990), der Platon stattdessen die Annahme zuschreibt, dass zwischen dem Protagoreischem Relativismus, der Herakliteischen Flusstheorie und der Bestimmung des Wissens als Wahrnehmung ein Verhältnis wechselseitiger Implikation besteht. 78 Dem scheint sogar die im Hinblick auf die logischen Zusammenhänge zwischen Relativismus und Flusstheorie sehr vorsichtige Lee zuzustimmen: Lee (2005), 117. 79 Vgl. dazu Buchheim (1986), 69–75.
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untrennbar mit dem neuen Bewegungs- und Wahrnehmungskontext verbundene Qualität wahrnehmen. Die Flusstheorie führt also zu einer durchgängigen ontologischen Relativierung: Dort, wo für den common sense eine Eigenschaft präsent zu sein scheint, stehen aus ihrer Warte zwei Bewegungen in einem instabilen und unwiederholbaren Verhältnis.80 Es ist leicht zu erkennen, dass diese ontologische Relativierung es unvermeidlich macht, den Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren. Denn offenbar ergibt es aus der Perspektive der Flusstheorie keinen Sinn, zu fragen, ob Theaitetos falsch liegt, wenn er das Holzstück als weiß wahrnimmt: Das Holzstück ist ja nicht unabhängig von den Kontexten, in die es eintritt, schon irgendwie; und da die Existenz der von Theaitetos wahrgenommenen Qualität demnach einzig und allein dadurch garantiert ist, dass sie als solche wahrgenommen wird, kann seine Wahrnehmung gar nicht fehlgehen. Von einer stabilen ousia des Weißen, die allen Vorkommen des Weißen gemeinsam wäre, kann in diesem Fall offenbar nicht gesprochen werden: Denn jedes dieser Vorkommen ist auf eine einzigartige Konfiguration von Bewegungen zurückzuführen, die nichts mit anderen Konfigurationen zu tun hat, die ihrerseits zum Auftreten eine Eindrucks führen, den man gemeinhin als einen Weißeindruck charakterisieren würde. Was es heißt, weiß zu sein, ist ganz und gar davon abhängig, was wann für wen weiß erscheint – oder genauer: in welcher Bewegungskonfiguration der jeweilige Weißeindruck verankert ist. An einer sehr prominenten Stelle spricht Sokrates demensprechend sogar explizit von der pheromenê ousia, dem in Bewegung befindlichen Sein, auf das sich die Anhänger des Theorieamalgams aus Herakliteischer Flusstheorie und Protagoreischem Relativismus verpflichten.81 Die Rechtfertigung der Protagoreischen Relativismus mit den Mitteln der Herakliteischen Flusstheorie ist freilich auf Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteile zugeschnitten; wie sie sich auf andere Fälle übertragen lässt, ist nicht ohne Weiteres klar.82 Aber da andererseits eine radikale, allumfassende Flusstheorie auszuschließen scheint, dass es irgendwelche Eigenschaften geben könnte, die Dingen unabhängig von der Konfrontation mit einem Betrachter zukommen, ist auch nicht abzusehen, wie eine solche Theorie mit der AblehAuch Lee (2005), 107–109, erkennt diese durchgängige ontologische Relativierung als eigentliche Pointe der Herakliteischen Flusstheorie. 81 Er tut dies in 179d2–4, unmittelbar bevor er zur endgültigen Widerlegung von Theaitetos’ erstem Definitionsversuch ansetzt: […] σκεπτέον τὴν φερομένην ταύτην οὐσίαν διακρούοντα εἴτε ὑγιὲς εἴτε σαθρὸν φθέγγεται [.] 82 In 179c2–7 differenziert Sokrates selbst zwischen wahrnehmbaren Eigenschaften, im Hinblick auf die der Relativismus schwer zu widerlegen sei, und andere Eigenschaften, im Hinblick auf die der Relativismus weit weniger überzeugend ist. An diese und ähnliche Passagen knüpft Fine (1994) mit der Unterscheidung zwischen »Narrow Protagoreanism« und »Broad Protagoreanism« an. 80
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
nung eines umfassenden Relativismus zu vereinbaren sein sollte. Wer die radikale Flusstheorie akzeptiert, hat also allen Grund, auch den Protagoreischen Relativismus zu akzeptieren. Sokrates hat also, so wird man als Ergebnis dieser Überlegungen festhalten können, einen guten Grund für sein in 411b3–c6 formuliertes Misstrauen den prähistorischen Nomotheten gegenüber: Wer blind auf die ontologische Aussagekraft seiner etymologischen Analysen vertraut, wird nämlich nicht nur zu der Überzeugung gelangen, dass alle Dinge einem steten Fluss unterworfen sind, sondern damit unweigerlich auch die Existenz stabiler ousiai und die Möglichkeit von Objektivität leugnen müssen. Welche desaströsen Konsequenzen eine solche Position hat, ist offenkundig; insbesondere ist sie auch nicht mit dem Ergebnis der Werkzeug-Analogie zu vereinbaren, dem zufolge Namen einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen. Platon führt seinen Lesern also in der etymologischen Sektion mit großer Eindringlichkeit vor Augen, wie riskant es ist, sich in ontologischen Fragen auf etymologische Forschungen zu verlassen. Aber er tut noch mehr als das: Er lenkt ihre Aufmerksamkeit mit all seiner literarischen Brillanz auf ein Theorieamalgam, das die anti-relativistischen Fundamente seiner Untersuchung in Frage stellt und nur in einer genuin philosophischen Auseinandersetzung, wie der Theaitetos sie (in Anknüpfung an die im letzten Teil des Kratylos entwickelten Argumente) bietet, dekonstruiert werden kann. In diesem – aber auch nur in diesem – Sinne bildet die etymologische Sektion tatsächlich das Zentrum des Kratylos: Nachdem bereits die Werkzeug-Analogie erkennen ließ, dass es notwendig ist, Sokrates’ sprachphilosophischen Ansatz durch die Ausarbeitung einer anti-relativistischen Ontologie abzusichern,83 gibt die etymologische Sektion den Blick frei auf die entscheidende Herausforderung, die bei der Ausarbeitung einer solchen Ontologie zu bewältigen ist.
Exkurs: Scherz oder Ernst – der epistemische Status der Etymologien
Bei seiner Inszenierung der etymologischen Sektion verfolgt Platon demnach ohne Zweifel das Ziel, seine Lesern für eine Gefahr zu sensibilisieren: Wer unkritisch auf das Mittel der etymologischen Analyse zurückgreift, setzt sich dem Risiko einer systematischen Irreführung in ontologischen Grundsatzfragen aus. Offen geblieben ist bisher allerdings, warum diese Gefahr in Platons Augen so groß sein sollte. Auf den ersten Blick ist eine solche Einschätzung ja durchaus verwunderlich: Man würde weit eher damit rechnen, dass die etymologische Analyse einer Vielzahl gebräuchlicher Namen keine bestimmte Antwort auf eine grundle83
Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des fünften Kapitels.
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gende ontologische Frage nahelegt, als damit, dass sie eine so radikale wie falsche Antwort stützt. Wieso also sollte man davon ausgehen, dass etymologische Forschungen für den Umgang mit ontologischen Problemen nicht nur nicht hilfreich sind, sondern leicht zu desaströsen Fehlurteilen führen können? Zwei grundverschiedene Antworten auf diese Frage scheinen möglich zu sein. Die erste Antwort ist denkbar einfach: Demnach ist das Risiko einer systematischen Irreführung durch etymologische Analysen in Platons Augen deswegen so groß, weil er davon ausgeht, dass viele der von Sokrates untersuchten Namen tatsächlich von Sprechern eingeführt worden sind, deren Herakliteisches Weltbild sich in den Beschreibungen widerspiegelt, die diese Namen enkodieren. Sokrates würde demzufolge seinem eigenen Anspruch nach durch seine Analysen tatsächlich im Sinne von 401a1–6 die doxai prähistorischer Namensgeber rekonstruieren;84 und das hohe Risiko, im Vertrauen auf die ontologische Aussagekraft der etymologischen Analysen systematisch in die Irre geführt zu werden, wäre der historischen Tatsache geschuldet, dass diese doxai ihrerseits in einer verfehlten Ontologie gründen. Die zweite mögliche Antwort beruht hingegen auf der Annahme, dass etymologische Analysen in Platons Augen keine zuverlässige Rekonstruktion der Meinungen der Namensgeber ermöglichen: Demnach ist die Gefahr der systematischen Irreführung durch etymologische Untersuchungen deswegen so groß, weil solche Untersuchungen von einer methodologischen Willkür gekennzeichnet sind, die dazu führt, dass ihre Ergebnisse – je nach Vorurteilen und Absichten des Etymologen – jede beliebige ontologische Position stützen können. Die etymologische Sektion würde einem aufmerksamen Leser also nicht vor Augen führen, dass viele griechische Namen von einer gravierenden ontologischen Fehleinschätzung aufseiten der Namensgeber zeugen, sondern vielmehr, dass es allein von der Phantasie des Etymologen abhängt, welche Antworten auf ontologische Grundfragen seine Forschungen nahelegen.85 Die Frage, welche dieser beiden Perspektiven auf die in Rede stehende Sektion man einnehmen sollte, ist der rationale Kern der unfruchtbaren Scherz-oder-Ernst-Debatte, von der die Kratylos-Forschung so lange bestimmt wurde.86 Die bisherigen Überlegungen des Die wichtigsten Vertreter dieser Interpretationslinie sind Grote (21865), Schäublin (1891), Ferrante (1962), Sedley (1998) bzw. (2003) und Ademollo (2011). 85 Das ist beispielsweise die Position von Trivigno (2012), 55: »A clever etymologist can make names mean whatever he wants and thus create the world in his own image.« Vgl. auch Heitsch (1984), 51, Eckl (2003), 174–178, sowie die in Anm. 23 genannten Autoren. 86 Diese Debatte war deswegen so unfruchtbar, weil die beteiligten Interpreten in der Regel nicht unterschieden haben zwischen der Frage, ob Platon die doxai, die Sokrates aufgrund seiner etymologischen Analysen den Namensgebern zuschreibt, für korrekt hält, und der Frage, ob Platon diese Analysen für adäquate Rekonstruktionen der betreffenden doxai hält. David Sedley hat durch seine Trennung dieser beiden Fragen (in seinen Worten: der Frage nach der »philosophical correctness« der etymologischen Analysen und der Frage nach ihrer »exegetical correctness« – 84
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vorliegenden Kapitels halten auf diese Frage keine Antwort bereit: Denn weder daraus, dass Platon die etymologische Sektion zur Diskreditierung der Deskriptionsthese nutzt, noch daraus, dass er sie zur Illustration der fundamentalen Bedeutung ontologischer Problemstellungen einsetzt, lässt sich ersehen, für wie belastbar er die etymologischen Analysen hält, die er Sokrates in den Mund legt.87 Während es nun auf den ersten Blick naheliegend zu sein scheint, für die erste Interpretationsmöglichkeit zu optieren und anzunehmen, dass Platon die von Sokrates entwickelten etymologischen Analysen für gelungene Rekonstruktionen der oftmals verfehlten doxai der jeweiligen Namensgeber hält, erweist sich diese Annahme bei näherer Betrachtung als problematisch. Will man sie vertreten, ist man nämlich mit mindestens vier Schwierigkeiten konfrontiert, die in der einschlägigen Sekundärliteratur immer wieder beschrieben worden sind: Erstens ist nicht zu bestreiten, dass viele der von Sokrates entwickelten Analysen, insbesondere im ethischen Teil der etymologischen Sektion, auf einen modernen Leser weit hergeholt und konstruiert wirken. Das Problem ist dabei oftmals weniger, dass man sich nicht vorstellen kann, dass Sokrates mit seiner etymologischen Ableitung richtig liegen könnte, als vielmehr, dass stets vollkommen unklar ist, wieso man ausgerechnet diese Ableitung den vielen anderen Ableitungen vorziehen sollte, die ebenfalls denkbar scheinen;88 in einigen Fällen sind die von Sokrates vorgeschlagene Ableitungen freilich auch so abstrus, dass Sedley (2003), 28) viel zur Klärung der Debatte beigetragen. Freilich war Sedley keineswegs der erste, dem die Notwendigkeit einer solchen Trennung bewusst geworden ist – schon Schäublin kommt mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen von Sedleys Studie zu einer Schlussfolgerung, der Sedley Wort für Wort zustimmen könnte: »Die Etymologie kann philosophisch falsch, sprachlich richtig sein. Wenn Plato auch nicht Sprache und Logik genau auseinander hielt, Sprache und Philosophie hat er streng unterschieden: Die heraclitischen Etymologien kann er für richtig, d. h. in der Ansicht der Namensgeber begründet, und doch sachlich d. h. philosophisch für falsch erklären« (Schäublin (1891), 63). 87 Man könnte meinen, dass Platon dann, wenn er die etymologischen Analysen tatsächlich für Rekonstruktionen der doxai prähistorischer Namensgeber hielte, auch von einem Zusammenhang zwischen der etymologischen Bedeutung der untersuchten Namen und ihrer Richtigkeit ausgehen müsste. Aber das ist ein Fehlschluss: Denn wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits erläutert wurde, kann man annehmen, dass diese Namen Beschreibungen enkodieren, ohne deswegen die Richtigkeit der Namen auf ihren deskriptiven Gehalt zurückführen zu müssen. 88 In vielen Fällen stellt Sokrates ja auch mehrere mögliche Ableitungen vor (vgl. Anm. 20), ohne aber jemals die Frage zu diskutieren, wie man in solchen Fällen herausfinden kann, welches die richtige Analyse ist. Heitsch (1984), 49–51, geht davon aus, dass die Aneinanderreihung von zwei oder mehr Alternativen dazu dient, die etymologischen Untersuchungen als unmethodisch und unwissenschaftlich zu diskreditieren. Diese Deutung lässt sich mit den in diesem Abschnitt vertretenen Thesen durchaus vereinbaren: Denn dass Platon sich der methodischen Mangelhaftigkeit von Sokrates etymologischen Untersuchungen bewusst ist und diese seinen Lesern auch vor Augen führen will, soll hier ja keineswegs geleugnet werden.
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ihnen jede Glaubwürdigkeit fehlt.89 Wie bereits erwähnt wurde, ist sogar Hermogenes, der die allermeisten Etymologien unkritisch hinnimmt, an manchen Stellen unzufrieden mit den Analysen des Sokrates. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass diese Beobachtung weniger aussagekräftig ist, als es zunächst den Anschein haben mag: Denn während Sokrates’ Analysen sicherlich nicht den Standards der modernen Etymologie genügen und einem Leser des 21. Jahrhunderts daher in vielen Fällen absurd vorkommen, lässt sich nicht mehr feststellen, welche etymologischen Ableitungen einem antiken Leser absurd vorgekommen wären.90 Die antiken Interpreten des Kratylos jedenfalls scheinen keine Zweifel an der Adäquatheit von Sokrates’ etymologischen Analysen gehegt zu haben;91 Platon selbst lässt seine Figuren in einigen anderen Dialogen etymologische Analysen vortragen, die sich auch in die etymologische Sektion des Kratylos gut einfügen würden, ohne dass sich in diesen Kontexten eine ironische Brechung ausmachen ließe;92 und auch Aristoteles, dem ironische Brechungen nach gemeinem Dafürhalten wesensfremd sind, entwickelt einige solche Analysen und führt sogar an zwei Stellen den Ausdruck aithêr auf thein aei (»ewiges Laufen«) zurück, wie es Sokrates im Kratylos vorschlägt (410b7).93 Zwar dürften manche Ableitungen fraglos auch einem antiken Leser konstruiert oder abwegig vorgekommen sein – so viel ist sicher angesichts der sporadischen kritischen Bemerkungen des Hermogenes. Aber daraus folgt eben nicht, dass Platons antike Leser oder Platon selbst nicht die allermeisten Am konstruiertesten wirkt dabei vermutlich die Diskussion des Namens kalon (»schön«), die Sokrates in 416b7–d11 entwickelt: Dieser Name bezieht sich, wie Sokrates erklärt, eigentlich auf den Verstand (dianoia) und sei deswegen angemessen, weil der Verstand bei den Göttern und bei den Menschen das nennende Vermögen sei – das kaloun. Bizarr ist aber auch die Aneinanderreihung von nicht weniger als vier Analysen des Namens Apollôn in 404d8–406a3 – diesen Namen führt Sokrates nacheinander zurück auf apolouôn (»der Reinigende«, 405a6–c2), haploun (»einfach«, 405c2–5), aeiballôn (»der Immer-Schießende«, 405c5 f.) und homopolôn (»Derjenige, der Dinge zusammen bewegt«, 405c6–e2) zurück – oder seine Ableitung des Namens selênaiê (»Mond«) von selas neon kai henon echei aei (»hat immer neuen und alten Schein«) in 409b10–c2. 90 Einen sehr gründlichen und instruktiven Vergleich der etymologischen Analysen des Kratylos mit denjenigen des Grammatikers Herodian, an deren Ernsthaftigkeit kein Zweifel bestehen kann, bietet Schäublin (1891), 16–64. Auch Schäublin kommt zu der Schlussfolgerung, dass die von Sokrates entwickelten Analysen auf einen antiken Leser in ihrer Mehrzahl keineswegs den Eindruck der Lächerlichkeit gemacht haben dürften. 91 Wie insbesondere David Sedley überzeugend herausgearbeitet hat: Sedley (2003), 40 mit Anm. 28; vgl. 37 mit Anm. 19. Freilich sind, wie Trivigno (2012), 38, zurecht bemerkt, auch diese antiken Kommentatoren des Kratylos keineswegs Zeitgenossen Platons gewesen – selbst Dionysios von Halikarnassos, der Platon chronologisch gesehen noch am nächsten steht, wurde fast dreihundert Jahre nach Platon Tod geboren. 92 Siehe etwa Phdr. 244c–d und Leg. 654a; weitere Stellen nennt und kommentiert Schäublin (1891), 64–71. 93 Siehe Mete. 339b16–30 und Cael. 270b16–25. 89
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etymologischen Analysen für plausibel gehalten haben und dementsprechend davon ausgegangen sein können, dass die etymologische Sektion im Großen und Ganzen ein adäquates Bild von den Meinungen der Namensgeber vermittelt.94 Wäre es also nur die Fragwürdigkeit vieler etymologischer Ableitungen, die gegen die Annahme spricht, dass Platon diese Ableitungen tatsächlich in den meisten Fällen für korrekt oder zumindest für plausibel hält, könnte man getrost an dieser Annahme festhalten.95 Aber es gibt durchaus noch andere Gründe für Skepsis: Denn zweitens ist die etymologische Sektion durchzogen von kurzen Passagen, in denen sich Sokrates auf spielerisch-ironische Weise von seinem eigenen Vorgehen zu distanzieren scheint. Besonders prominent ist dabei das bereits erwähnte Motiv der Inspiration durch Euthyphron, dem, wie Sokrates immer wieder betont, seine plötzliche übergroße Weisheit zu verdanken sei.96 Dass es sich bei dieser Inspiration um einen sehr ambivalenten Zustand handelt, wird aus Sokrates’ Bemerkung deutlich, er wolle zwar seinen außergewöhnlichen Geisteszustand für den Moment noch nutzen, um seine etymologischen Untersuchungen fortzusetzen, schlage aber für den morgigen Tag eine rituelle Reinigung für sich und seine Gesprächspartner vor – ganz so, als handele es sich bei seinen Analysen um eine Freveltat, von der es sich reinzuwaschen gilt. Sokrates’ Distanzierung von seiner unerwarteten etymologischen Weisheit ist also zweistufig: Zum einen führt er diese Weisheit auf die Inspiration durch Euthyphron zurück und entzieht sich so zumindest teilweise der Verantwortung für das, was er in der etymologischen Sektion sagen wird; zum anderen scheint sein inspirierter Zustand aber auch mit einer Grenzüberschreitung einherzugehen, die eine katharsis erforderlich macht. Angesichts dieser doppelten Distanzierung mag es naheliegend scheinen, anzunehmen, dass Sokrates’ Rede von seiner eigenen »Weisheit« ganz und gar parodistisch ist: Dass Sokrates also die angeblich auf die Inspiration durch Euthyphron zurückgehenden etymologischen Analysen ohne jeden Anspruch auf Gültigkeit oder Plausibilität frei erfindet, um auf dem Wege der Persiflage die Etymologie als eine Pseudowissenschaft zu entlarven.
Auch Trivigno (2012), 47–55, vermag mit seiner Diskussion von etymologischen Analysen, die einem modernen Leser besonders abstrus erscheinen, nicht zu zeigen, dass antike Leser einen ähnlichen Eindruck gehabt haben müssen: De facto beruft er sich in dieser Diskussion nämlich meistens auf die sich an diese Analysen anschließenden methodologischen Bemerkungen des Sokrates, die darauf hinzudeuten scheinen, dass die Ergebnisse etymologischer Untersuchungen allein von der Willkür des Etymologen abhängen, statt sich wirklich an dem Nachweis zu versuchen, dass es sich um offenkundig absurde Analysen handelt. Auf diese methodologischen Bemerkungen wird noch einzugehen sein. 95 Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt schon Grote (21865), 518–529. Ihm haben sich in dieser Hinsicht neuerdings Sedley (2003), 39–41, und Ademollo (2011), 239 f., angeschlossen. 96 Vgl. Anm. 17. 94
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Bei näherer Überlegung zeigt sich allerdings, dass eine nuanciertere Interpretation der Inspirationsmotivik der Subtilität von Platons literarischer Gestaltung möglicherweise besser gerecht wird. Als Ausgangspunkt für eine solche Interpretation bietet sich die Beobachtung an, dass es ausgerechnet Sokrates ist, den in der etymologischen Sektion ein unerwarteter Weisheitsschub überkommt. Das ist deswegen so auffällig, weil sich Sokrates in der Apologie selbst eine Form der Weisheit zuschreibt, die mit der im Kratylos zur Schau gestellten etymologischen Weisheit in einem manifesten Spannungsverhältnis steht: Die Sokratische Weisheit gründet demnach nämlich in dem Wissen um das eigene Nichtwissen und äußert sich in der steten skeptischen Überprüfung von (eigenen und fremden) Wissensansprüchen mit den Mitteln der Elenktik.97 Das bedeutet nicht, dass Sokrates nicht mitunter von Episoden der Inspiration profitiert; ganz im Gegenteil berichtet er ja an einigen Stellen von dämonischen Eingebungen98 und Träumen von großer philosophischer Bedeutung.99 Aber er verlässt sich eben üblicherweise nicht auf das, was ihm eingegeben wird, sondern macht es zum Gegenstand kritisch-argumentativer Betrachtung. Diese wesentliche Dimension Sokratischer Weisheit spielt nun aber in der etymologischen Sektion gerade keine Rolle:100 Denn Sokrates verzichtet hier auf jede Überprüfung der Analysen, die er entwickelt. Er begründet seine Behauptung, dass anthrôpos sich von anathrôn ha opôpe oder phronêsis sich von phoras kai rhou noêsis ableitet, ebenso wenig wie die zahlreichen anderen Behauptungen, die er im Verlauf seiner etymologischen Untersuchung aufstellt; ein logon didonai findet nicht einmal in Ansätzen statt. An die Stelle der Geduld, die für die langwierige und oftmals frustrierende rationale Kontrolle von Hypothesen erforderlich ist, tritt die rücksichtslose Dynamik eines Wagenrennens, die Sokrates immer wieder beschwört.101 Siehe insbesondere Apol. 20c–24b. Siehe Apol. 31d und 41d sowie Phdr. 242d. 99 So auch am Ende des Kratylos, in 438b–d; vgl. etwa die berühmte Passage Tht. 201d–202c. 100 Sedley (2003), 40 f., argumentiert im Ausgang von dieser Beobachtung für die These, dass die einzige Funktion des Inspirationsmotivs darin besteht, Sokrates’ etymologische Untersuchung von seiner sonstigen philosophischen Praxis abzurücken; Zweifel an der Belastbarkeit dieser Untersuchung solle dieses Motiv hingegen nicht wecken. Diese Einschätzung ist in Anbetracht der Tatsache, dass Sokrates’ Inspiration in der etymologischen Sektion des Kratylos nicht mit einem methodisch kontrollierten Vorgehen einhergeht und dementsprechend nicht zu abgesicherten Ergebnissen führt, wenig überzeugend. Vgl. zu Sedleys Interpretation auch Anm. 106. 101 Nämlich in 407d8 f., 414b2–4, 415a1 f. und 420d3. Wie Barney (1998), 77 und 92, gezeigt hat, spielt Platon damit auf Passagen bei Pindar (Ol. 9. 80 f., Isth. 8. 62, Pyth. 10. 65) und Parmenides (DK 28 B1) an, in denen diese beiden Autoren ihren eigenen inspirierten Zustand mit der Fahrt in einem Streitwagen vergleichen. Barney stellt das Motiv des Wagenrennens in den Mittelpunkt ihrer Interpretation der Etymologien: Dieses Motiv zeige nämlich, dass Platon in der etymologischen Sektion einen agonistischen Schaukampf inszeniere, in dem Sokrates (stellver97
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Wenn Sokrates daher gleich zu Beginn der etymologischen Sektion erklärt, Inspiration habe ihn in einen Zustand übergroßer Weisheit versetzt, liegt die Vermutung nahe, dass Platon auf diese Weise ein Signal an seine Leser setzt: ein Signal, mit dem er die für die folgende Untersuchung charakteristische Suspension derjenigen Rationalitäts- und Begründungsnormen markiert, die Sokrates sonst verkörpert. Unter dieser Voraussetzung lässt sich auch die zweite Stufe der Distanzierung des Sokrates von seiner etymologischen Weisheit – also die Empfehlung einer postetymologischen katharsis – gut erklären: Denn der Anspruch, unter Missachtung dieser Normen per inspirationem direkt zu belastbarem Wissen vorzustoßen, ist eine massive und zu Sokrates’ sonstiger Praxis auch gar nicht passende Anmaßung, die einen Widerruf unumgänglich macht.102 Diese Interpretation der komplexen Inspirationsmotivik impliziert nun aber nicht, dass Platon die in Vorschlag gebrachten etymologischen Ableitungen als inkorrekt markieren will: Eine Hypothese als ungeprüft und unbegründet auszuweisen, ist schließlich etwas anderes, als auf ihre Falschheit aufmerksam zu machen. Platon weiß selbstverständlich, dass die etymologischen Ableitungen, die er Sokrates in den Mund legt, argumentativ nicht im Geringsten abgesichert sind, und will seinen Lesern dieses Begründungsdefizit offenkundig auch klar vor Augen stellen. Aber das heißt nicht, dass er diese Ableitungen nicht – in den Worten George Grotes – als mehr oder weniger plausible »bôna fide guesses«103 betrachten kann, als spekulative, aber dennoch potenziell erfolgreiche Versuche, tretend für Platon) die ihm eigentlich fremde intellektuelle Praxis der etymologischen Analyse aufgreife und seine überlegene Beherrschung dieser Praxis demonstriere. Platon tue das aber nicht in erster Linie deswegen, weil er sich von etymologischen Untersuchungen viel verspreche, sondern weil er sich mit einer Vielzahl konkurrierender intellektueller Praktiken konfrontiert sehe und in dieser Situation seine eigene Glaubwürdigkeit als Vertreter einer dieser Praktiken (i.e. der Dialektik) am effektivsten stärken könne, indem er demonstriere, dass er auch die anderen Praktiken besser beherrsche als ihre überzeugten Verfechter. (Eine Deutung der Etymologien, die ebenfalls das Motiv einer die Methodengrenzen überschreitenden intellektuellen Konkurrenz betont, entwickelt übrigens bereits Ijzeren (1921)). Barneys Deutung bietet eine plausible Erklärung für Platons distanziert-spielerischen Umgang mit der etymologischen Methode und ließe sich dementsprechend gut mit den in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen zum Status der Etymologien vereinbaren. Es gilt allerdings, die Grenzen ihres Ansatzes nicht aus den Augen zu verlieren: Denn der Hinweis auf den agonistischen Charakter der etymologischen Sektion beantwortet noch nicht die Frage nach ihrem Beitrag zur Untersuchung der Richtigkeit der Namen. 102 Der spielerisch-ironische Tonfall von Sokrates’ Empfehlung einer Reinigung am folgenden Tag lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass eine solche Anmaßung kein allzu ernstes Vergehen ist, wenn sie auf das Gebiet etymologischer Forschung beschränkt bleibt. 103 So urteilt Grote (21865), 526 über Platons Intention: »But I believe that he intended his particular etymologies as bôna fide guesses, more or less probable […]: some certain, some doubtful, some merely novel and ingenious: such as would naturally spring from the originating afflatus of diviners (like Euthyphron, to whom he alludes more than once) who stepped beyond
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der etymologischen Bedeutung der untersuchten Namen auf die Spur zu kommen. Sokrates’ Distanzierung von seiner plötzlichen Weisheit zeigt also zweifellos eine fundamentale Unzulänglichkeit seiner etymologischen Untersuchungen an. Aber diese Unzulänglichkeit scheint in erster Linie im ganz und gar unsokratischen Verzicht auf die kritische Überprüfung und Absicherung der Ergebnisse dieser Untersuchungen zu bestehen; dass Platon seine Leser dazu bewegen will, diese Ergebnisse als Hirngespinste des Sokrates zu verwerfen, ist damit nicht gesagt.104 Die dritte Schwierigkeit, die ein Anhänger der These zu gewärtigen hat, Platon halte die Analysen des Sokrates tatsächlich für mehr oder weniger plausible Rekonstruktionen der etymologischen Bedeutung der untersuchten Namen, ist eng mit der soeben diskutierten zweiten Schwierigkeit verbunden: Sokrates ergänzt nämlich die spielerisch-ironische Distanzierung von seiner etymologischen Weisheit um explizite methodologische Reflexionen, die den Schluss nahezulegen scheinen, dass er selbst nicht an die Adäquatheit seiner Analysen glaubt. Wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels erörtert wurde, ist die etymologische Sektion durchzogen von Hinweisen auf den allgegenwärtigen Lautwandel, der die Rekonstruktion der etymologischen Bedeutung eines Namens Sokrates’ Überlegungen zufolge erschweren kann. Besonders deutlich wird Sokrates in dieser Hinsicht in der bereits zitierten Passage 414c4–d5, in der er auf die Beschwerde des Hermogenes über die Analyse des Namens technê mit dem Eingeständnis reagiert, dass kosmetische Lautveränderungen in vielen Fällen zu einer völligen Verdrehung des Sinns der ursprünglichen Namen geführt haben. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist insbesondere die Schlussfolgerung relevant, die Sokrates aus dieser Beobachtung im Hinblick auf die Tätigkeit des Etymologen zieht: Wenn man aber wieder die Hinzufügung und Entfernung von jedem Buchstaben, den man will, in die Namen [und aus den Namen] zulässt, wird es ein sehr leichtes Spiel sein, und man wird jeden Namen jeder Sache anpassen können. – Da hast du recht. – Recht freilich; aber ich denke, du als weiser Aufseher musst eben auf Maß und Billigkeit achtgeben. – Das wollte ich wohl gern. – Und ich will es mit dir, Hermogenes. Aber übertreibe es nicht mit der Genauigkeit, mein Lieber, ›dass du mir nicht entnervest den Mut‹.105 the ordinary regions of human affirmation.« Grotes Urteil schließt sich Ademollo (2011), 252–255, an. 104 So auch Gaiser (1974), 51 f. 105 414d7–415a2: Eἰ δ᾽ αὖ τις ἐάσει καὶ ἐντιθέναι καὶ ἐξαιρεῖν ἅττ᾽ ἂν βούληταί τις εἰς τὰ ὀνόματα, πολλὴ εὐπορία ἔσται καὶ πᾶν ἂν παντί τις ὄνομα πράγματι προσαρμόσειεν. – Ἀληθῆ λέγεις. – Ἀληθῆ μέντοι. ἀλλὰ τὸ μέτριον οἶμαι δεῖ φυλάττειν καὶ τὸ εἰκὸς σὲ τὸν σοφὸν
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Sokrates scheint hier zu bestätigen, was alle Interpreten, die seine etymologische Untersuchung für ein durch und durch parodistisches Unterfangen halten, behaupten: Dass nämlich seine Ableitungen das Resultat von willkürlichen Entscheidungen sind und gar nicht darauf abzielen, die etymologische Bedeutung der analysierten Namen freizulegen. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich wiederum, dass eine solch radikale Schlussfolgerung nicht zwingend ist. Sokrates räumt zweifellos ein, dass es sich bei der etymologischen Analyse um ein spekulatives Geschäft handelt, das keinen klaren Regeln unterliegt und daher leicht zu manipulieren ist. Damit bestätigt er die Vermutung, dass der Preis für seine geborgte etymologische Weisheit der Verzicht auf die methodische Kontrolle von Hypothesen ist, die für sein Vorgehen sonst so charakteristisch ist; ja er fordert Hermogenes sogar auf, seine inspirierte Dynamik nicht durch übertrieben kritische Aufmerksamkeit zu bremsen. Sokrates’ Ausführungen lässt sich aber nicht ohne Weiteres entnehmen, dass er seine eigenen etymologischen Analysen manipuliert, um die analysierten Namen als Zeugen für die Herakliteische Weltsicht prähistorischer Nomotheten ausgeben zu können: Sie sind durchaus mit der Annahme kompatibel, dass er diese Analysen als »bôna fide guesses« versteht, deren spekulativer Status ihm vollauf bewusst ist. (Möglicherweise will Sokrates hier auch darauf hinaus, dass etymologische Forschung notwendigerweise spekulativ ist: dass nämlich eine kritische Überprüfung etymologischer Analysen in einem anspruchsvolleren Sinne prinzipiell nicht möglich ist, weil der Lautwandel von den unberechenbaren ästhetischen Idiosynkrasien selbsternannter Sprachverschönerer gesteuert wird. In diesem Fall wäre der spekulative Status seiner Untersuchung eine direkte Konsequenz der Natur des Untersuchungsgegenstandes und kein vermeidbares Defizit.) 106 ἐπιστάτην. – Bουλοίμην ἄν. – Kαὶ ἐγώ σοι συμβούλομαι, ὦ Ἑρμόγενες. ἀλλὰ μὴ λίαν, ὦ δαιμόνιε, ἀκριβολογοῦ, »μή μ᾽ ἀπογυιώσῃς μένεος.« Sokrates zitiert hier Ilias VI 265. 106 Auch dann, wenn man diese Vermutung nicht akzeptiert, wird man aber vor dem Hintergrund der zitierten Passage 414d7–415a2 und dem inspiriert unmethodischen Vorgehen des Sokrates David Sedley nicht zustimmen können, wenn er behauptet, dass Platon in der etymologischen Sektion die Anwendung einer etymologischen technê durch Sokrates inszeniert (Sedley (2003), 41–50). Um den Eindruck zu entkräften, dass Sokrates’ Ableitungen hochgradig spekulativ und unmethodisch sind, hält es Sedley für ausreichend, auf den Vergleich des Etymologen mit dem pharmakologischen Experten in 393c–394b zu verweisen: Ebenso, wie ein geübter Mediziner die Wirkkraft eines Präparates zu erkennen wisse, erkenne Sokrates bei seinen Analysen mit seiner der Inspiration durch Euthyphron zu verdankenden Kompetenz die etymologische Bedeutung der analysierten Namen (Sedley (2003), 43 f.). Wie sich im vorangegangenen Abschnitt gezeigt hat, ist freilich dieser Vergleich Teil einer Passage, deren verdrehte Ironie ihresgleichen sucht, so dass es sehr unvorsichtig wäre, ihn für bare Münze zu nehmen. Tatsächlich scheint er eher zu illustrieren, was die Etymologie von einer echten technê unterscheidet: Ob ein Pharmakologe mit seiner Einschätzung richtig liegt, lässt sich leicht kontrollieren, weil die Wirkung eines
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Die vierte Schwierigkeit, die man zu bewältigen hat, wenn man die These verteidigen will, dass in Sokrates’ und Platons Augen die entwickelten Analysen tatsächlich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die etymologische Bedeutung der analysierten Namen und damit die Meinungen der Namensgeber freilegen, besteht darin, dass Sokrates im letzten Teil des Kratylos die Möglichkeit alternativer Analysen der untersuchten Namen einzuräumen scheint.107 Sokrates reagiert dabei auf das Argument des Kratylos, die Kohärenz der in den untersuchten Namen zum Niederschlag gekommenen Meinungen der Namensgeber garantiere deren Wahrheit (436c2–6):108 Nachdem er zunächst den Schluss von der Kohärenz von Meinungen auf ihre Wahrheit (436c7–d7) zurückgewiesen hat, attackiert er nämlich die Annahme, in allen griechischen Namen spiegele sich eine flusstheoretische Grundüberzeugung wider, indem er in 437a1–c3 Analysen der Namen epistêmê, bebaion, historia, piston, hamartia, symphora, amathia und akolasia109 entwickelt, die den Schluss nahelegen, dass die Namensgeber nicht vom steten Fluss aller Dinge, sondern vielmehr von ihrer Stabilität ausgegangen sind.110 Damit scheint aber klar zu sein, dass Sokrates zumindest seine Analysen der Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, selbst nicht für gelungene Rekonstruktionen der Meinungen der Namensgeber halten kann; denn sie scheinen sich ja problemlos durch alternative Analysen ersetzen zu lassen, die zu einer diametral entgegengesetzten Einschätzung dieser Meinungen Anlass gibt. Noch ein letztes Mal gilt es allerdings, Vorsicht walten zu lassen: Denn nur ein einziger der acht Namen, die Sokrates in 437a1–c3 diskutiert, ist von ihm in der etymologischen Sektion bereits diskutiert worden – der Name epistêmê nämlich.111 Hätte Platon tatsächlich signalisieren wollen, dass Sokrates bisherige Medikaments beobachtet werden kann, während völlig unklar ist, wie sich kontrollieren lässt, ob Sokrates mit seinen Analysen richtig liegt; und während ein Pharmakologe sicherlich auch erklären kann, wie er zu seinen Einschätzungen kommt, scheint es illusorisch zu sein, solche Erklärungen von Sokrates zu erwarten. Wenn man Sokrates glaubt, dass seine Analysen das Ergebnis technischer Kompetenz sind, müsste man ihm gegebenenfalls auch die Behauptung abnehmen, über eine technê zu verfügen, mittels derer er herausfinden kann, ob es an einem beliebigen Tag der Vergangenheit in Athen geregnet hat. 107 Vgl. etwa Gaiser (1974), 61, über diese Passage: »An einigen Beispielen zeigt Sokrates, daß die Namen bei anderer etymologischer Deutung das Seiende als ruhend voraussetzen [.]« 108 Vgl. zum Argumentationszusammenhang auch die Überlegungen im dritten Abschnitt des siebten Kapitels. 109 Sokrates erwähnt zwar in 437b6 auch den Namen synesis, den er in 412a4–b1 schon untersucht hat, entwickelt aber keine neue Analyse. 110 Sokrates behauptet in 437c5–8 sogar, es ließen sich noch viele andere Namen finden, die diesen Schluss nahelegen: Oἶμαι δὲ καὶ ἄλλα πόλλ᾽ ἄν τις εὕροι εἰ πραγματεύοιτο, ἐξ ὧν οἰηθείη ἂν αὖ πάλιν τὸν τὰ ὀνόματα τιθέμενον οὐχὶ ἰόντα οὐδὲ φερόμενα ἀλλὰ μένοντα τὰ πράγματα σημαίνειν. 111 Wie Sedley (2003), 160, und Ademollo (2011), 440, festhalten. Dass Platon Sokrates aus-
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Untersuchungen nicht ernstzunehmen sind, wäre es für ihn sicherlich ein leichtes gewesen, ihre Glaubwürdigkeit durch alternative Analysen von acht zuvor schon behandelten Namen zu erschüttern; da er darauf geradezu demonstrativ verzichtet, kann es ihm nicht darum zu tun sein, die von Sokrates in der etymologischen Sektion und insbesondere bei der Untersuchung der »Namen, die mit der Tugend zu tun haben«, erreichten Ergebnisse pauschal zu entwerten. Was Sokrates’ Überlegungen in 437a1–c3 in dieser Hinsicht zeigen sollen, ist offenbar tatsächlich nur, dass es Namen gibt, »die mit der Tugend zu tun haben«, aber nicht in das flusstheoretische Raster passen – insbesondere unter denjenigen Namen, die Sokrates bisher nicht analysiert hat, vereinzelt aber auch unter denjenigen Namen, für die er zuvor schon eine (mutmaßlich verfehlte) Analyse entwickelt hat. Als Sokrates kurz darauf zu seiner kurzen direkten Auseinandersetzung mit der Flusstheorie überleitet, die den Abschluss des Dialogs bildet (439b10–440e7), scheint er die These, dass viele Namen die flusstheoretische Grundüberzeugung der betreffenden Namensgeber widerspiegeln, sogar noch einmal zu bekräftigen: »Lass uns dann also noch dies untersuchen, damit uns die vielen Namen, die alle in dieselbe Richtung weisen, nicht betrügen, wenn zwar jedenfalls diejenigen, die sie dem, was ist, beigelegt haben, sie mit dem Gedanken beigelegt haben, dass alle Dinge immer gehen und fließen – denn mir zumindest scheinen sie so gedacht zu haben –, sich das aber vielleicht nicht so verhält«.112 Stellt man auch diese Bemerkung in Rechnung, scheint Sokrates’ erneute Diskussion der erreichten Ergebnisse am Ende des Dialogs eher für als gegen die Annahme zu sprechen, dass er selbst die in der etymologischen Sektion und insbesondere die bei der Untersuchung der »Namen, die mit der Tugend zu tun haben«, entwickelten Analysen im Großen und Ganzen für adäquate Rekonstruktionen der etymologischen Bedeutung der analysierten Namen und der entsprechenden Meinungen der Namensgeber hält.113 gerechnet den Namen epistêmê ein zweites Mal analysieren lässt, ist so bemerkenswert wie erklärungsbedürftig. Die Überlegungen des siebten Kapitels legen die Vermutung nahe, dass Platon hier auf subtile Weise andeutet, dass die ontologische Frage, ob tatsächlich im Sinne der Herakliteischen Flusstheorie alle Dinge einem beständigen Fluss unterworfen sind, und die epistemologische Frage, ob genuines Wissen bei einer derartigen Flüchtigkeit alles Wirklichen überhaupt möglich ist oder nicht vielmehr eine gewisse Stabilität voraussetzt, untrennbar miteinander verbunden sind. 112 439b10–c4: Ἔτι τοίνυν τόδε σκεψώμεθα, ὅπως μὴ ἡμᾶς τὰ πολλὰ ταῦτα ὀνόματα ἐς ταὐτὸν τείνοντα ἐξαπατᾷ, εἰ τῷ ὄντι μὲν οἱ θέμενοι αὐτὰ διανοηθέντες γε ἔθεντο ὡς ἰόντων ἁπάντων ἀεὶ καὶ ῥεόντων – φαίνονται γὰρ ἔμοιγε αὐτοὶ οὕτω διανοηθῆναι – τὸ δ᾽, εἰ ἔτυχεν, οὐχ οὕτως ἔχει […]. 113 Benfey (1866), 277, geht davon aus, dass Sokrates’ Bemerkung ironisch ist: »Erinnert man sich ferner der Persiflage dieser heraklitischen Etymologien, so weiß man auch, was von 439C, wo Sokrates selbst zuzugestehen scheint, dass die Wortbilder von heraklitischen Principien geleitet seien […], zu halten ist, und weit entfernt darin Ernst zu erblicken […], wird man auch dazu nur
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Insgesamt ergibt sich damit ein sehr komplexes Bild von Platons (und Sokrates’) Einstellung zu den Analysen der etymologischen Sektion: Einerseits ist Platon ganz offenkundig bestrebt, seinen Lesern vor Augen zu führen, dass es sich bei diesen Analysen um Spekulationen handelt, die nirgendwo im Dialog auch nur ansatzweise kritisch überprüft oder argumentativ abgesichert werden; und er lässt Sokrates – völlig zurecht übrigens – auch andeuten, dass es angesichts des konstanten Lautwandels ein sehr schwieriges Unterfangen (wenn nicht gar ein Ding der Unmöglichkeit) wäre, diese Spekulationen wissenschaftlich abzusichern. Andererseits gibt es keinen klaren Beleg dafür, dass Platon Sokrates’ etymologische Spekulationen in ihrer Mehrzahl für offensichtlich inkorrekt oder auch nur für unplausibel hält. Wenn man sich daher, um an den Ausgangspunkt dieser Überlegungen zum Status der Etymologien zurückzukehren, noch einmal die Frage vorlegt, wieso für Platon das Vertrauen auf die ontologische Aussagekraft etymologischer Analysen die Gefahr einer systematischen Irreführung mit sich bringt, gibt es gute Gründe, an der naheliegenden Antwort festzuhalten, dass diese Gefahr in erster Linie deswegen besteht, weil die Namensgeber in Platons Augen bei der Einführung vieler Namen tatsächlich von einer gravierenden ontologischen Fehleinschätzung beeinflusst waren. Da Platon sich der methodologischen Problematik etymologischer Analysen vollauf bewusst ist, würde er sicherlich nicht bestreiten, dass auch die Vorurteile oder die manipulative Absicht eines Etymologen dazu führen können, dass etymologische Forschungen einer ontologischen Fehleinschätzung Vorschub leisten; aber eine Irreführung dieser Art scheint er in der etymologischen Sektion nicht inszenieren zu wollen.114 Ein Bedenken gegen diese Bewertung von Sokrates’ etymologischer Untersuchung bleibt freilich noch bestehen: Denn man könnte den Eindruck gewinnen, die Einstellung zu dieser Untersuchung, die Platon hier zugeschrieben wird, sei lächeln können.« Da Benfeys Überzeugung, es handele sich bei den Herakliteischen Etymologien um eine Persiflage, daher rührt, dass er nicht unterscheidet zwischen der Frage, ob Sokrates’ etymologische Analysen zu einer Rekonstruktion der doxai der Namensgeber führen, und der Frage, ob diese Analysen die richtigen Antworten auf ontologische Fragen liefern, steht sie auf tönernen Füßen. 114 Eine ähnliche Position vertritt Francesco Aronadio im zentralen, der etymologischen Sektion gewidmeten Kapitel seiner Studie I fondamenti della riflessione di Platone sul linguaggio: il Cratilo (Rom 2011, 83–183): Demnach nehme Platon zu den Etymologien, die er Sokrates vortragen lässt, eine Haltung der »ernsthaften Ironie« (»seria ironia«) ein, in der sich eine spöttische Distanz von der wissenschaftlich unzuverlässigen etymologischen Methode mit der Annahme verbinde, dass viele etymologische Spekulationen des Sokrates durchaus adäquate Rekonstruktionen der doxai der prähistorischen Namensgeber sein könnten. Aronadios Überlegungen sind insbesondere auch deswegen wertvoll, weil er sie mit einer überzeugenden Beschreibung der verschiedenen Modi und Schattierungen der ironischen Distanzierung von der etymologischen Methode unterfüttert, die Platon durch seine Inszenierung erreicht; hilfreich ist in dieser Hinsicht auch sein »Censimento dei luoghi ironici« (148).
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extrem fragwürdig. Der soeben entwickelten Interpretation zufolge würde Platon ja Sokrates’ Ableitungen für adäquate Rekonstruktionen der etymologischen Bedeutung der untersuchten Namen halten, obwohl er weiß, dass es sich bei diesen Ableitungen um reine Spekulationen handelt – was an Irrationalität zu grenzen und eines Philosophen wie Platon unwürdig zu sein scheint. Aber dieser Einwand gegen die vorgetragene Interpretation ist viel weniger stichhaltig, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag – und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist sich Platon bewusst, dass manche Untersuchungen allein aufgrund der Natur des Untersuchungsgegenstandes notwendigerweise spekulativer sind als andere, ohne dass er deswegen ihre Legitimität in Zweifel ziehen würde – wie insbesondere der im Timaios unternommene Versuch bezeugt, Kosmologie und Naturphilosophie in der Form eines eikôs mythos zu betreiben.115 Noch wichtiger ist aber, dass zweitens angesichts des für die gesamte etymologische Sektion charakteristischen spielerisch-ironischen Tonfalls die Vermutung naheliegt, dass für Platon letztlich nicht viel davon abhängt, ob die etymologischen Spekulationen, die er Sokrates in den Mund legt, tatsächlich die Wahrheit treffen. Diese Haltung würde nur zu gut zu Platons Einsicht passen, dass etymologische Untersuchungen echte philosophische Fragen jedenfalls nicht beantworten können, weil sie bestenfalls eine doxographische Funktion erfüllen. Wenn alles, was sich durch etymologische Analysen gewinnen lässt, die Rekonstruktion potenziell falscher prähistorischer doxai ist, wäre ein spielerisches, in bloßen »bôna fide guesses« resultierendes Vorgehen keineswegs unangemessen – insbesondere dann, wenn eine Absicherung etymologischer Spekulationen aus prinzipiellen Gründen schwierig oder gar unmöglich ist. Zugespitzt formuliert: Verlässt man sich in ontologischen Fragen auf etymologische Analysen, setzt man sich der Gefahr systematischer Irreführung aus; aber solange man Philosophie und Etymologie klar voneinander trennt, spricht nichts dagegen, sich von einem Impresario wie Euthyphron zu etymologischen Spekulationen anregen zu lassen.
Die Grenzen der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit
In den beiden ersten Abschnitten dieses Kapitels konnten bereits zwei Funktionen der etymologischen Sektion herausgearbeitet werden: Zum einen dient sie der vordergründigen Plausibilisierung der Deskriptionsthese, untergräbt aber Vgl. zu dieser Parallele Grote (21865), 526. Der Vergleich mit der Untersuchung des Timaios ist freilich mit Vorsicht zu genießen – die etymologischen Analysen des Kratylos scheinen argumentativ wesentlich schlechter abgesichert zu sein als der eikôs mythos, den Timaios entfaltet. 115
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im Sinne der bereits in 391b–394e von Platon verfolgten doppelbödigen Strategie gleichzeitig auf einer tieferen Ebene ihre Glaubwürdigkeit. Zum anderen führt Platon, der auch in dieser Hinsicht an seine Inszenierung der Passage 391b–394e anknüpft, in der etymologischen Sektion seinen Lesern vor Augen, dass eine sehr große Gefahr systematischer Irreführung damit verbunden ist, sich auf die ontologische Aussagekraft etymologischer Analysen zu verlassen, statt sich ontologischen Grundsatzfragen in unabhängigen Untersuchungen zu widmen; und er lenkt auf diese Weise die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Notwendigkeit einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Herkliteischen Flusstheorie und ihren relativistischen Weiterungen. Zum Abschluss dieses Kapitels ist nun noch die dritte und wahrscheinlich offensichtlichste Funktion der etymologischen Sektion zu diskutieren: Diese Sektion demonstriert nämlich, dass die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen für sich genommen keine zureichende hypernaturalistische Theorie der natürlichen Richtigkeit ist, sondern der Ergänzung und Fundierung bedarf; und sie leitet so über zu der Entwicklung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata in 422c–427d.116 Ausgangspunkt für diese entscheidende Wende des Gesprächs ist dabei Hermogenes’ Beobachtung, dass bestimmte flusstheoretische Grundvokabeln wie ion, rheon oder doun bei vielen Analysen von Namen, »die mit der Tugend zu tun haben«, eine Schlüsselrolle gespielt haben. Hermogenes stellt die angesichts dieser Beobachtung nur zu berechtigte Frage, »welche Richtigkeit diese Namen haben«117; und nachdem Sokrates zunächst angedeutet hat, wie sich dieser Frage durch den Verweis auf den »barbarischen« Ursprung der problematischen Namen oder ihr Alter ausweichen ließe,118 besinnt er sich eines Besseren und stellt sich der von Hermogenes formulierten Herausforderung: Lass uns dies erwägen: Wenn jemand immer nach jenen Ausdrücken fragen wird, durch die der Name gesagt wird,119 und dann wieder nach jenen forschen wird, durch die diese Ausdrücke gesagt werden, und nicht aufhören wird, dies zu tun, ist es dann nicht notwendig, dass der Antwortende schließlich aufgibt? Diese Funktion der etymologischen Sektion betont auch Aronadio (2011), 162. 421c4–6: Eἰ δέ τίς σε ἔροιτο τοῦτο τὸ ›ἰὸν‹ καὶ τὸ ›ῥέον‹ καὶ τὸ ›δοῦν,‹ τίνα ἔχει ὀρθότητα ταῦτα τὰ ὀνόματα – 118 In 409d–e und 416a hat Sokrates schon darauf hingewiesen, dass manche Namen sich deshalb nicht etymologisch analysieren lassen, weil sie barbarischen Ursprungs sind; und in 414c hat er bereits erklärt, dass das Alter eines Namens seine etymologische Analyse unmöglich machen kann. 119 Dies ist eine wörtliche Übersetzung des Relativsatzes δι᾽ ὧν ἂν λέγηται τὸ ὄνομα. Gemeint sind natürlich die Ausdrücke, aus denen sich der zu analysierende Name zusammensetzt. 116 117
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– Ich meine schon. – Wann also sollte derjenige, der aufgibt, aufgeben, um mit Recht aufzuhören? Etwa nicht, wenn er bei jenen Namen ankommt, die sozusagen Elemente120 der anderen Sätze und Namen sind? Denn es ist wohl nicht länger richtig, sie als zusammengesetzt aus anderen Namen erscheinen zu lassen, wenn es sich so verhält. Zum Beispiel sagten wir gerade, dass agathon aus agaston und thoon zusammengesetzt ist, und wir könnten vielleicht sagen, dass thoon aus anderen Namen zusammengesetzt ist, jene aber wieder aus anderen; aber wenn wir irgendwann einen Namen zu fassen kriegen, der nicht mehr aus irgendwelchen anderen Namen zusammengesetzt ist, könnten wir mit Recht sagen, dass wir nun bei einem Element sind und dass wir dieses nicht mehr auf andere Namen zurückführen müssen. – Du scheinst mir die Wahrheit zu sagen. – Trifft es sich also, dass auch die Namen, nach denen du jetzt fragst, Elemente sind, und man auf irgendeine andere Weise untersuchen muss, worin ihre Richtigkeit besteht? – Das ist plausibel.121
In seinem ersten Schritt etabliert Sokrates hier in 421d9–e4 die Prämisse, die seinen folgenden Überlegungen zugrunde liegt: Demnach kann die etymologische Untersuchung eines Namens zwar mehrere Stufen durchlaufen – sie kann also zuerst aufdecken, aus welchen Ausdrücken sich dieser Name zusammensetzt, dann diese Ausdrücke einer ähnlichen Analyse unterziehen und diese analytische Prozedur mehrfach iterieren –, muss aber notwendigerweise (vgl. anagkaion in 421e3) nach einer endlichen Anzahl von Stufen zu einem Ende kommen. Da Sokrates in diesem Zusammenhang von Notwendigkeit spricht, will er offenbar nicht darauf hinaus, dass kein menschliches Wesen unendlich viele etymologische Analysen durchführen kann; es scheint ihm nicht darum zu gehen, dass spätestens der Tod eines Etymologen seinen Bemühungen ein Ende setzen wird. Die stoicheia, um die es Sokrates hier geht, sind eindeutig etymologisch atomare Namen wie vermutlich rheon, ion und doun; zwar bezeichnet Sokrates ab 424b auch die Buchstaben als stoicheia, aber das kann hier noch nicht gemeint sein, wie Kretzmann (1973), 135 f., zurecht festhält. Dass hier noch nicht von Buchstaben die Rede ist, übersieht z. B. Julia Annas: Annas (1982), 107 und 110. 121 421d9–422b9: Ἐνθυμηθῶμεν δέ· εἴ τις ἀεί, δι᾽ ὧν ἂν λέγηται τὸ ὄνομα, ἐκεῖνα ἀνερήσεται τὰ ῥήματα, καὶ αὖθις αὖ δι᾽ ὧν ἂν τὰ ῥήματα λεχθῇ, ἐκεῖνα πεύσεται, καὶ τοῦτο μὴ παύσεται ποιῶν, ἆρ᾽ οὐκ ἀνάγκη τελευτῶντα ἀπειπεῖν τὸν ἀποκρινόμενον; – Ἔμοιγε δοκεῖ. – Πότε οὖν ἀπειπὼν ὁ ἀπαγορεύων δικαίως παύοιτο ἄν; ἆρ᾽ οὐκ ἐπειδὰν ἐπ᾽ ἐκείνοις γένηται τοῖς ὀνόμασιν, ἃ ὡσπερεὶ στοιχεῖα τῶν ἄλλων ἐστὶ καὶ λόγων καὶ ὀνομάτων; ταῦτα γάρ που οὐκέτι δίκαιον φανῆναι ἐξ ἄλλων ὀνομάτων συγκείμενα, ἂν οὕτως ἔχῃ. οἷον νυνδὴ τὸ ›ἀγαθὸν‹ ἔφαμεν ἐκ τοῦ ἀγαστοῦ καὶ ἐκ τοῦ θοοῦ συγκεῖσθαι, τὸ δὲ ›θοὸν‹ ἴσως φαῖμεν ἂν ἐξ ἑτέρων, ἐκεῖνα δὲ ἐξ ἄλλων· ἀλλ᾽ ἐάν ποτέ γε λάβωμεν ὃ οὐκέτι ἔκ τινων ἑτέρων σύγκειται ὀνομάτων, δικαίως ἂν φαῖμεν ἐπὶ στοιχείῳ τε ἤδη εἶναι καὶ οὐκέτι τοῦτο ἡμᾶς δεῖν εἰς ἄλλα ὀνόματα ἀναφέρειν. – Ἔμοιγε δοκεῖς ὀρθῶς λέγειν. – Ἆρ᾽ οὖν καὶ νῦν ἅ γ᾽ ἐρωτᾷς τὰ ὀνόματα στοιχεῖα ὄντα τυγχάνει, καὶ δεῖ αὐτῶν ἄλλῳ τινὶ τρόπῳ ἤδη τὴν ὀρθότητα ἐπισκέψασθαι ἥτις ἐστίν; – Eἰκός γε. 120
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Sokrates ist hier an einem prinzipiellen Punkt interessiert: Wenn ein Etymologe eine mehrstufige Analyse eines Namens entwickelt, wie Sokrates sie am Beispiel des Namens agathon beschreibt, muss er ihn letztlich auf Namen zurückführen, die sich ihrerseits nicht mehr etymologisch analysieren lassen – auf etymologische Atome, wie man sagen könnte.122 Warum das unbegrenzte Fortschreiten einer etymologischen Analyse so problematisch wäre, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zufolge die Richtigkeit eines Namens nur beurteilt werden kann, indem durch etymologische Analyse freigelegt wird, was er bedeutet und welche dynamis er hat.123 Nun gilt es aber Folgendes zu beachten: Wenn feststeht, dass beispielsweise der Name agathon etymologisch auf die Namen agaston und thoon zurückzuführen ist, diese Namen sich aber ihrerseits etymologisch analysieren lassen, weiß man nur dann, was der Name agathon bedeutet und welche dynamis er hat, wenn man auch weiß, welche etymologische Bedeutung die Namen agaston und thoon haben. Um diese Schlussfolgerung zu vermeiden, müsste man nämlich annehmen, dass es letztlich von den Konventionen abhängt, die den Gebrauch der Namen agaston und thoon regieren, was der Name agathon bedeutet und welche dynamis er hat; und unter dieser Voraussetzung dürfte sich kaum überzeugend erklären lassen, wieso es nicht von der Konvention, die den Namen agathon regiert, abhängen sollte, was dieser Name bedeutet und welche dynamis er hat. Will ein Etymologe die Richtigkeit des Namens agathon bestätigen, muss seine Analyse dieses Namens demnach alle Stufen durchlaufen, die sie durchlaufen kann. Damit ist aber auch klar, dass dann, wenn die Analyse des Namens agathon nicht nach endlich vielen Schritten abgeschlossen werden könnte, gar nicht feststünde, was dieser Name bedeutet und welche dynamis er hat – und somit auch nicht feststünde, ob es sich um einen natürlicherweise richtigen Namen handelt.124 Es ist also nur konsequent, wenn Sokrates im nächsten Schritt (422a1–b4) Elemente oder stoicheia postuliert – etymologisch atomare Namen, auf die sich durch Analyse alle anderen Namen zurückführen lassen; nur auf diese Weise lässt sich sinnvollerweise an der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit festhalten. Wie Sokrates in seinem dritten Schritt (422b6–8) aber sogleich klarstellt, erfordert das Postulat etymologischer Atome auch eine Ergänzung dieser Theorie: Denn etymologisch atomare Namen haben per definitionem keine etymologische Bedeutung, auf die man ihre Richtigkeit zurückfüh122
Ademollo (2011), 259, nennt die stoicheia »atomic or anhomoeomerous« (Kursivierung im
Text). Vgl. zur dynamis der Namen die Überlegungen im ersten Abschnitt des achten Kapitels. Vgl. Barney (2001), 86 f., für eine ähnliche Interpretation des in 421d9–422b9 angedeuteten Arguments. 123 124
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ren könnte, und man muss daher tatsächlich »auf irgendeine andere Weise untersuchen […], worin ihre Richtigkeit besteht«.125 Zu welchen Ergebnissen diese Untersuchung führt, wird im nächsten Kapitel zu diskutieren sein. Im gegenwärtigen Zusammenhang hingegen gilt es vor allem, sich bewusst zu machen, wie viel für einen Anhänger des Hypernaturalismus davon abhängt, ob sich eine Antwort auf die Frage finden lässt, was ein etymologisches Atom zu einem richtigen Namen macht, die nicht auf die jeweilige Verwendungskonvention rekurrieren muss. Ließe sich eine solche Antwort nämlich nicht finden, müsste das ganze Programm des Hypernaturalismus als gescheitert gelten, weil in diesem Fall keine Rede davon sein könnte, dass die Richtigkeit der Namen allein von ihrer Lautgestalt abhängt, nicht aber von menschlichen Entscheidungen und Konventionen: Denn wenn die Richtigkeit der etymologisch komplexen Namen von ihrer etymologischen Bedeutung abhängt, diese aber wiederum in letzter Analyse von den Konventionen abhängt, die den Gebrauch der etymologischen Atome regieren, wären diese Konventionen nicht nur für die Richtigkeit der etymologischen Atome, sondern zumindest mittelbar auch für die Richtigkeit der etymologisch komplexen Namen verantwortlich. Eine geeignete Antwort auf die Frage, was ein etymologisches Atom zu einem natürlicherweise richtigen Namen macht, ist demnach nicht nur zur Ergänzung, sondern auch zur Fundierung der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen und des Hypernaturalismus unbedingt erforderlich. In diesem Sinne ist es eine wichtige Funktion der etymologischen Sektion, die prinzipiellen Limitationen der Theorie, deren Illustration sie dient, aufzuzeigen, und so über sich selbst hinauszuweisen. Es ist zuzugeben, dass keine 140 etymologischen Analysen nötig gewesen wären, um auf diese Weise die Grenzen der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit auszuloten; die Überlegung, die Sokrates in 421d9–422b4 entwickelt, ist schließlich so allgemein und abstrakt, dass sie auch einen Leser, der die etymologische Sektion übersprungen hat, von der Ergänzungsbedürftigkeit dieser Theorie überzeugen sollte. Sokrates’ Analysen machen allerdings die Vorstellung, dass es tatsächlich möglich sein könnte, etymologische Atome zu entdecken, deutlich plausibler – ion, rheon, doun und die anderen flusstheoretischen Grundvokabeln scheinen ja zumindest gute Kandidaten für die Rolle der Atome zu sein. Die etymologische Sektion weist also nicht in einer rein negativen Weise über sich hinaus: Sie zeigt nicht nur, dass die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen einer FundieSokrates betont allerdings, dass die etymologischen Atome nichtsdestoweniger im selben Sinne richtig sind wie die Namen, die sich etymologisch analysieren lassen. Darauf wird im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels einzugehen sein. 125
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rung bedarf, sondern verleiht der Annahme, dass eine solche Fundierung möglich sein könnte, durch die Identifikation möglicher etymologischer Atome auch eine gewisse Plausibilität. Es ist nicht der geringste Beitrag der etymologischen Sektion zum Gedankengang des Kratylos, auf diesem Wege die Vollendung des Hypernaturalismus zu motivieren und vorzubereiten, an der sich Sokrates im letzten Teil seines Gesprächs mit Hermogenes (422c–427d) versuchen wird. * Es ist angezeigt, am Ende dieses Kapitels noch einmal auf diejenige Beobachtung zurückzukommen, die an seinem Anfang stand. Sowohl die schiere Länge als auch die inhaltliche Ausgestaltung der etymologischen Sektion haben ihr, so wurde festgestellt, die mitunter fast ungeteilte Aufmerksamkeit der Interpreten des Kratylos beschert. Da aber die meisten Interpreten dazu neigen, die etymologische Sektion isoliert zu betrachten, führen sie die Diskussion der drängenden Frage, warum Platon Sokrates mit einer solchen Ausdauer Etymologie treiben lässt, oftmals so, als seien überhaupt nur zwei Antworten denkbar: einerseits die Antwort, Platon gehe es um die gründliche Parodie der etymologischen Praxis seiner Zeitgenossen, und andererseits die Antwort, Platon sei ernsthaft daran interessiert, die etymologische Bedeutung der untersuchten griechischen Ausdrücke freizulegen und mit den benannten Gegenständen abzugleichen. Diese Studie schlägt einen anderen Weg ein, um Sinn und Zweck von Platons Inszenierung der wahrlich raumgreifenden etymologischen Sektion zu erhellen. An die Stelle des Versuchs, die etymologische Sektion aus sich selbst heraus verständlich zu machen, tritt dabei die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sie in den Kratylos und insbesondere in den Zusammenhang der Untersuchung der Richtigkeit der Namen eingebettet ist. Bereits das letzte Kapitel lieferte eine Teilantwort auf diese Frage: Die Rückführung der Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung ist, so zeigte sich dort, der explanatorischen Zwangslage geschuldet, in der sich Sokrates und Hermogenes nach Abschluss der Werkzeug-Analogie aufgrund der unhinterfragten Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen befinden. Unter Rekurs auf diese Zwangslage ließ sich erklären, weshalb die etymologische Bedeutung gebräuchlicher und daher vermeintlich richtiger griechischer Namen überhaupt in das Blickfeld der beiden Gesprächspartner rückt. Darauf aufbauend konnten im gegenwärtigen Kapitel drei Funktionen der etymologischen Sektion identifiziert werden: Erstens dient sie zwar offiziell der Illustration und Plausibilisierung der Deskriptionsthese, untergräbt dabei aber auf subversive Weise deren Glaubwürdigkeit. Zweitens führt sie aufmerksamen Lesern vor Augen, dass bestimmte ontologische Fragen von noch fundamentalerer Bedeutung sind als die laufende Untersuchung der Richtigkeit der Namen, aber mit dem Mittel der etymologischen Analyse keinesfalls ange-
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messen traktiert werden können. Und drittens wirft die etymologische Sektion das Problem der etymologischen Atome auf und indiziert so die Notwendigkeit der Ergänzung und Fundierung der Deskriptionsthese durch die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit, die Sokrates im Anschluss entwickelt. Die etymologische Sektion könnte offenkundig die erste und die zweite dieser drei Funktionen nicht erfüllen, wenn sie nicht eine beträchtliche Länge und einen hohen inneren Organisationsgrad aufwiese: Die subversive Diskreditierung der Deskriptionsthese und insbesondere die Akzentuierung der ontologischen Hintergrundproblematik des Kratylos sind nur als kumulativer Effekt einer sorgsam orchestrierten Reihe etymologischer Analysen denkbar. Die Aufdeckung dieser beiden Funktionen macht daher zwar nicht jede Detailentscheidung Platons bei der Gestaltung der etymologischen Sektion verständlich, wohl aber seinen Entschluss, eine solche Sektion überhaupt mit großem Aufwand und langem Atem zu inszenieren. Eine Interpretation der etymologischen Sektion, die sich in diesem Sinne auf ihren Beitrag zur Untersuchung der Richtigkeit der Namen konzentriert, hat den großen Vorteil, dass sie auch mit den beiden extremsten Positionen verträglich ist, die in der langen Geschichte der bis heute nicht abgeschlossenen Scherz-oderErnst-Debatte vertreten wurden. Zwar spricht, wie im Exkurs zum epistemischen Status der Etymologien erörtert wurde, wenig dafür, sich eine dieser Extrempositionen zu eigen zu machen: Denn Platon scheint die vorgetragenen etymologischen Analysen weder für offensichtlich falsch noch für wirklich belastbar zu halten, sondern sie vielmehr als unverbindliche und unschädliche Spielereien zu betrachten. Aber diese Einschätzung ist ganz und gar unabhängig von der Behauptung, dass die etymologische Sektion deswegen mit einer solchen Sorgfalt inszeniert ist, weil sie die im vorliegenden Kapitel ausführlich beschriebenen drei Funktionen erfüllen soll. Man könnte die These vertreten, Platon halte die etymologischen Analysen für belastbar, und dessen ungeachtet anerkennen, dass die etymologische Sektion die Glaubwürdigkeit der Deskriptionsthese untergraben, die überragende Bedeutung fundamentaler ontologischer Fragen betonen und die Ergänzungsbedürftigkeit der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit demonstrieren soll. Genauso könnte man die These vertreten, Platon sei es um die Parodie der etymologischen Exzesse seiner Zeitgenossen zu tun, ohne der etymologischen Sektion deswegen diese drei Funktionen absprechen zu müssen. Die Frage, was die etymologische Sektion zur Untersuchung der Richtigkeit der Namen beiträgt, ist mithin scharf von der Frage zu trennen, wie ernst Platon die Analysen nimmt, die er Sokrates in den Mund legt. So zeigen die Überlegungen dieses Kapitels, dass eine engagierte Parteinahme in der Scherz-oder-Ernst-Debatte gar nicht erforderlich ist, um zu einer zufriedenstellenden Deutung der etymologischen Sektion als der längsten Etappe von
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Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu gelangen. Selbstverständlich spricht nichts dagegen, diese Debatte fortzuführen und nach weiteren, möglicherweise entscheidenden Hinweisen auf Platons Einschätzung der Belastbarkeit von Sokrates’ Analysen zu suchen. Aber die Fortsetzung dieser Debatte ist eben keineswegs zwingend, nachdem im vorliegenden Kapitel deutlich geworden ist, wie Platons Inszenierung der etymologischen Sektion sich durch eine genaue Analyse ihrer Funktionen durchsichtig machen lässt.
X. Die Vollendung des HYPERNATURALISMUS (422c–427d)
Die etymologische Sektion des Kratylos endet mit der Einsicht, dass die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen einer Ergänzung und Fundierung durch eine Antwort auf die Frage bedarf, was einen etymologisch atomaren Ausdruck (wie beispielsweise rheon, ion oder doun) zu einem natürlicherweise richtigen Namen für die Gegenstände einer bestimmten Art macht. In der unmittelbar an die Formulierung dieser Herausforderung anschließenden Passage 422c–427d entwickelt Sokrates eine solche Antwort und vollendet so das Projekt des Hypernaturalismus: Demnach handelt es sich bei einem etymologisch atomaren Ausdruck genau dann um einen natürlicherweise richtigen Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen, wenn dieser Ausdruck dank der Buchstaben und Silben, aus denen er sich zusammensetzt, eine Nachahmung der ousia der betreffenden Art ist. Diese mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der etymologisch atomaren Namen bildet zusammen mit der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, die sich etymologisch analysieren lassen, zumindest im Prinzip eine zweistufige1 Konkretisierung des hypernaturalistischen Grundgedankens, dass Lauteinheiten unabhängig von allen menschlichen Entscheidungen und Konventionen natürlicherweise richtige Namen für bestimmte Arten von Gegenständen sein können; de facto greift allerdings Sokrates ab 422c kaum mehr auf die etymologischdeskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit zurück.2 Die Entfaltung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit etymologisch atomarer Namen in der Passage 422c–427d erfolgt in drei Schritten, die hier der Übersicht halber etwas ausführlicher zusammengefasst seien: Im ersten Schritt (422c1–424a6) entwickelt Sokrates den für diese Theorie zentralen Gedanken, die natürliche Richtigkeit eines etymologisch atomaren Namens müsse darauf zurückzuführen sein, dass er durch seine Buchstaben und Silben die ousia der benannten Gegenstandsart nachahmt. Sokrates’ Ausgangspunkt ist dabei die Auf der ersten Stufe einer solchen zweistufigen Theorie würde die Richtigkeit der etymologisch atomaren prôta onomata auf ihre mimetische Qualität zurückgeführt; auf der zweiten Stufe würde die Richtigkeit der etymologisch komplexen Namen auf ihren deskriptiven Gehalt zurückgeführt, der sich letztlich ihrer Zusammensetzung aus bestimmten prôta onomata verdanken müsste. Vgl. dazu Barney (2001), 95. 2 Schon seine vorläufige Formulierung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit in 423b9–11 – ὄνομ᾽ ἄρ᾽ ἐστίν, ὡς ἔοικε, μίμημα φωνῇ ἐκείνου ὃ μιμεῖται – ist nicht auf eine bestimmte Klasse von Namen beschränkt; und in 424c9–d4 behandelt Sokrates wiederum alle Namen (und sogar logoi) als Nachahmungen. Dieser Befund wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels noch zu diskutieren sein. 1
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
Annahme, dass etymologisch atomare und etymologisch komplexe Namen – in Sokrates’ Worten: prôta onomata und hystera onomata (422d5f.)3 – in demselben Sinne natürlicherweise richtig sein müssen: Sowohl jene als auch diese Namen müssen demnach »kundmachen (dêloun), wie beschaffen jedes der Seienden ist« (422d2f.), oder, was gleichbedeutend zu sein scheint, »die Gegenstände kundmachen« (422e3). Nachdem Sokrates damit in 422c7–d10 die Voraussetzung für seine weitere Argumentation geschaffen hat, untersucht er in 422d11–423b12 die Frage, auf welche Weise etymologisch atomare Namen diese Anforderung erfüllen können. Sokrates geht von der Beobachtung aus, dass man dann, wenn man einander Gegenstände nicht mithilfe der Stimme kundmachen könnte, auf das Mittel der Imitation dieser Gegenstände durch Gesten zurückgreifen würde. Da Gegenstände demnach durch gestische Imitation kundgemacht werden können, liegt die Vermutung nahe, dass die prôta onomata ihre Aufgabe durch die stimmliche Imitation der kundzumachenden Gegenstände erfüllen; und tatsächlich beschreibt Sokrates in diesem Sinne den Namen in 423b9 als mimêma phonê. In 423b13–424a6 erklärt Sokrates schließlich im Modus der Selbstkritik, es sei nicht ausreichend, von einem natürlicherweise richtigen Namen zu fordern, dass er die zu benennenden Gegenstände durch seine Silben und Buchstaben nachahmt und auf diese Weise kundmacht; vielmehr muss, wie Sokrates in 423e7–424a6 erläutert, ein solcher Name die ousia der betreffenden Gegenstände nachahmen. Damit ist die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit von etymologisch atomaren Namen im Umriss skizziert. In einem zweiten Schritt (424a7–425b4) wendet Sokrates sich nun wieder den flusstheoretischen Grundvokabeln zu, nach deren Richtigkeit Hermogenes in 421c4–6 gefragt hat,4 und widmet sich der Frage, wie man idealerweise vorgehen sollte, wenn man überprüfen will, ob diese (und andere) prôta onomata im Sinne der mimetischen Theorie Nachahmungen der ousiai der jeweils benannten Gegenstandsarten sind. Da es von den Buchstaben und Silben, aus denen sich ein solcher Name zusammensetzt, abhängen muss, ob er durch seinen mimetischen Gehalt ein natürlicherweise richtiger Name für die zu benennenden Gegenstände ist, müsste man dazu zunächst systemaAuch wenn Sokrates an manchen Stellen – z. B. in 414c und 421d – von prôta onomata in einem chronologischen Sinne spricht, ist vor dem Hintergrund seiner in 421c–422c angestellten Überlegungen kein Zweifel daran möglich, dass er die etymologischen Atome deswegen als prôta onomata bezeichnet, weil aus ihnen alle anderen Namen gebildet sind; vgl. dazu Annas (1982), 108. Aus dieser logischen Priorität der etymologischen Atome folgt nicht, dass alle etymologisch komplexen Namen später eingeführt worden sind als alle etymologisch atomaren Namen. 4 Allerdings erwähnt Sokrates in 424a8f. nicht die drei Partizipien ion, rheon und doun, sondern den Infinitiv ienai und die beiden Nomen roê und – merkwürdigerweise – schesis. Eine Emendation des Textes, die diese (freilich nicht besonders gravierende) Unstimmigkeit aus der Welt schafft, schlägt Ademollo (2011), 281, vor. 3
X. Die Vollendung des HYPERNATURALISMUS
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tisch die dynameis der verschiedenen Buchstaben bestimmen (424b7–c3) – also untersuchen, wie sie zu dem mimetischen Gehalt der Namen beitragen, in denen sie vorkommen. Zu diesem Zweck wäre, so Sokrates weiter, eine Taxonomie der Buchstaben erforderlich, die von der Unterscheidung zwischen Vokalen und Konsonanten auszugehen und diese beiden Gattungen dann in mehreren Schritten weiter zu unterteilen hätte (424c5–9). Anschließend wäre zu untersuchen, ob es auch in der nichtsprachlichen Wirklichkeit bestimmte Basiselemente oder stoicheia5 gibt, auf die sich alles, was ist, zurückführen lässt, und gegebenenfalls eine der Taxonomie der Buchstaben entsprechende Einteilung dieser Basiselemente zu entwickeln (424c9–d4). Auf einer solchen Grundlage könnte man, so erklärt Sokrates, der hier kurzfristig die Perspektive des Namensgebers einnimmt, unter Ausnutzung der Ähnlichkeit zwischen Buchstaben und basalen Wirklichkeitselementen6 verlässlich Namen bilden, die im Sinne der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit Nachahmungen der zu benennenden Gegenstände sind (424d4–425a5). Freilich besinnt sich Sokrates sofort wieder auf die kritische Überprüfung der Richtigkeit der bereits eingeführten Namen als seine eigentliche Aufgabe und schließt seinen Gedankengang mit dem Fazit ab, diese Überprüfung könne sachverständig (technikôs, 425a7) nur auf Grundlage der beschriebenen Einteilungen durchgeführt werden (425a5–b3). In einem dritten und letzten Schritt (425b5–427d2) bemüht sich Sokrates um eine Umsetzung dieses ehrgeizigen Programms – und scheitert, wie er selbst schon in 425b6f. einräumt. Es hält es aber dennoch für notwendig, die Überprüfung der mimetischen Richtigkeit der prôta onomata auch ohne Rückhalt in den avisierten systematischen Klassifikationen so gut wie möglich durchzuführen und sich nicht auf Ausweichbewegungen7 einzulassen, verlöre doch sonst auch die Platon spielt hier – wie beispielsweise auch in Tht. 201d–206b und Pol. 277e–278e – damit, dass der Ausdruck stoicheion sowohl für Buchstaben als auch für Elemente verwendet werden kann; vgl. zum Verhältnis zwischen diesen beiden Bedeutungen des Ausdrucks Burkert (1959). Es ist unbedingt zu beachten, dass die stoicheia, von denen Sokrates in 422a/b spricht, keine Buchstaben, sondern etymologisch atomare Namen beziehungsweise prôta onomata wie ion, rheon und doun sind. Die von Annas (1982), 106–110, und Baxter (1992), 76–78, vertretene These, Sokrates betrachte die Buchstaben als prôta onomata, findet keinen Rückhalt im Text. 6 Sokrates behauptet freilich nicht, dass eine bijektive Zuordnung von Buchstaben und basalen Wirklichkeitselementen möglich ist – in 424d6f. erklärt er, dass mitunter mehrere Buchstaben zu einer Silbe »zusammengemischt« werden müssen, um ein sprachliches Äquivalent für ein Wirklichkeitselement zu kreieren. 7 In 425d5–426a1 kommt Sokrates wieder auf die Möglichkeit zu sprechen, der Frage nach der Richtigkeit der prôta onomata durch den Verweis auf ihr Alter oder ihren barbarischen Ursprung auszuweichen, nennt aber auch noch eine dritte Option: Demnach könnte man die These vertreten, dass die prôta onomata nicht von Menschen, sondern von Göttern eingeführt worden sind. Auf diesen Gedanken wird Kratylos in 438c1–4 (ohne großen Erfolg) zurückgreifen, um seine Position zu verteidigen. 5
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in der etymologischen Sektion geleistete Untersuchung der etymologisch komplexen Namen ihren Wert. Obwohl es, wie Sokrates erklärt (425d1–3; vgl. 426b5f.), ihm selbst zwar lächerlich vorkommt, anzunehmen, dass die prôta onomata auf dem Wege der Nachahmung durch Buchstaben und Silben ihre Aufgabe erfüllen können, die Gegenstände kundzumachen, scheint man nämlich diese Annahme mangels Alternativen akzeptieren zu müssen. Dementsprechend macht er sich in 426c1–427c6 daran, ohne die eigentlich erforderlichen Taxonomien die mimetischen dynameis von einigen (aber keineswegs allen) Buchstaben8 zu untersuchen, um auf dieser Grundlage die mimetische Richtigkeit einiger putativer prôta onomata zu demonstrieren. Von zentraler Bedeutung für Sokrates’ Überlegungen ist dabei der Gedanke, dass die bei der Artikulation der betrachteten Buchstaben von Zunge und Lippen ausgeführten Bewegungen bestimmten Grundzügen der Wirklichkeit ähneln:9 Demnach habe der Namensgeber beispielsweise bemerkt, wie beim Aussprechen des Buchstaben rhô »die Zunge am wenigstens in Ruhe bleibt und am meisten erschüttert wird«10, weswegen Namen wie beispielsweise rhein, rhoê, trhomos oder rhumbein in erster Linie dank der Präsenz dieses Buchstabens bestimmte Bewegungsarten nachahmen. Nach einer ganzen Serie derartiger Analysen schließt Sokrates seine Untersuchung der prôta onomata mit dem Fazit ab, diese Namen seien von den verantwortlichen Namensgebern tatsächlich so gebildet worden, dass sie die ousiai der benannten Gegenstände nachahmen (427c6–d1). Damit hat Sokrates, wie er in 427d1f. erklärt, die von Hermogenes in 391a2f. aufgeworfene Frage, was die natürliche Richtigkeit der Namen sei oder worin sie bestehe, vollständig beantwortet.11 Wie man bereits dieser kurzen Zusammenfassung entnehmen kann, weist die Passage 422c–427d ähnlich wie die etymologische Sektion Charakteristika auf, die schlecht zueinander zu passen scheinen: Einerseits entwickelt Sokrates mit großem Aufwand und Scharfsinn eine Antwort auf die Frage nach der RichtigSokrates diskutiert immerhin 14 Buchstaben: Rhô, iota, phi, pi, sigma, zêta, delta, tau, lambda, gamma, ny, alpha, êta und omikron. 9 Es geht also nicht – oder nicht in erster Linie – um die Ähnlichkeit zwischen dem Klang dieser Buchstaben und den betreffenden Grundzügen der Wirklichkeit. Dass es auf die Bewegungen des Artikulationsapparates ankommt, sieht schon Benfey (1866), 282; vgl. dazu auch Belardi (1985), 33–43, und Ademollo (2011), 309f., der mit einer treffenden Wendung konstatiert: »Socrates is interested in a sort of articulatory mimesis«. Eine abweichende Meinung vertritt Heitsch (1984), 41, der annimmt, es gehe Sokrates um die Form der (geschriebenen) Buchstaben. Eine solche Interpretation ist freilich schon von J. B. Gould überzeugend zurückgewiesen worden: Gould (1969), 23f. 10 Siehe 426e4f., wo es im Hinblick auf die Aussprache dieses Buchstaben heißt: ἑώρα γὰρ οἶμαι τὴν γλῶτταν ἐν τούτῳ ἥκιστα μένουσαν, μάλιστα δὲ σειομένην. 11 Seine Formulierung in 427d1f. – αὕτη μοι φαίνεται, ὦ Ἑρμόγενες, βούλεσθαι εἶναι ἡ τῶν ὀνομάτων ὀρθότης – greift auch sprachlich Hermogenes’ Formulierung – ἥντινα φῂς εἶναι τὴν φύσει ὀρθότητα ὀνόματος – aus 391a3 auf. 8
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keit der prôta onomata und skizziert sogar ein auf dieser Antwort basierendes Programm für die Schaffung einer mimetisch adäquaten Sprache, dessen systematischer Anspruch es zu einem Vorläufer der vielen idealsprachlichen Projekte in späteren Epochen der Philosophiegeschichte zu machen scheint;12 andererseits wirken Sokrates’ Ausführungen zur mimetischen dynameis einzelner Buchstaben und Silben wie ein bizarrer Anflug sprachmagischen Denkens, der nicht nur modernen Lesern des Kratylos, sondern auch Sokrates selbst »vogelwild und lächerlich« (hybristika kai geloia, 426b6) vorkommt. Viele Interpretationen von Sokrates’ Ausführungen in 422c–427d betonen eines dieser Charakteristika auf Kosten des anderen: Entweder machen sie sich für die These stark, Platon wolle seinen Lesern hier vor Augen führen, wie eine ideale, durchgängig am Standard der natürlichen Richtigkeit orientierte Sprache dem Prinzip nach auszusehen habe und auf welche Weise man reale Sprachen wie das Griechische mit diesem Ideal vergleichen müsse;13 oder sie erkennen in Sokrates’ Überlegungen zur mimetischen Adäquatheit der prôta onomata eine reductio ad absurdum der Behauptung einer natürlichen Richtigkeit der Namen.14 Als Schlüssel zu einer Interpretation, die der Ambivalenz dieser Überlegungen besser Rechnung trägt, wird sich im vorliegenden Kapitel wiederum die Frage erweisen, welche Einsichten Platon einem Leser durch seine Inszenierung der Passage 422c–427d im Hinblick auf den Hypernaturalismus als Theorie der im Sinne der Werkzeug-Analogie aufgefassten natürlichen Richtigkeit der Namen vermittelt. Dabei wird sich zeigen, dass Platon weiterhin derjenigen Strategie treu bleibt, die bereits seine Gestaltung der Passage 391b–394e prägt und an die er auch bei der Komposition der etymologischen Sektion anknüpft. Wie schon der in 391b–394e vollzogene Schritt von der Konklusion der WerkzeugAnalogie zur etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit gehorcht nämlich auch die Ausarbeitung der mimetischen Theorie der Eigenlogik einer Untersuchung, die durch Hermogenes’ Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen bestimmt wird. Da die meisten Leser des Kratylos diese Gleichsetzung zunächst ebenso unkritisch akzeptieren dürften wie Hermogenes, führt ihnen Platon in 422c–427d also einerseits vor Augen, auf welche Position sie selbst angesichts der Argumentation der Werkzeug-Analogie verpflichtet sind. Andererseits untergräbt er durch seine Inszenierung aber auf subversive Art und Weise die Glaubwürdigkeit dieser Position und deutet sogar an, wie eine alternative Theorie der natürlichen Richtigkeit aussehen könnte. Der ganze Mittelteil des Kratylos – von der Konklusion der Werkzeug-Analogie bis zur Vollendung des HypernaVgl. zu diesem Punkt die informativen Ausführungen bei Baxter (1992), 65–72. Das gilt für alle in Anm. 63 genannten Arbeiten. 14 So z. B. Rehn (1982), 28f., Belardi (1985), 39–41, Keller (2000), 295–299; ähnlich auch Bestor (1980), 323f. 12 13
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turalismus – ist demnach ein und demselben Ziel verpflichtet: Er soll Leser bis an das Ende eines Wegs führen, der ihnen aufgrund ihrer eigenen Vorannahmen alternativlos erscheinen muss, dabei aber zugleich Zweifel an seiner Alternativlosigkeit säen und dazu anregen, im Ausgang von und in Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie einen anderen Weg zu beschreiten, wie er im sechsten Kapitel dieser Studie beschrieben wurde.
Mimetische Theorie und funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen
Wenn Sokrates zum Auftakt seiner Untersuchung der prôta onomata feststel lt, »dass die Richtigkeit jedes Namens, sei es ein erster oder ein letzter,15 ein und dieselbe ist, und dass keiner von ihnen sich im Name-Sein [von den anderen] unterscheidet«,16 wäre eine gewisse Verwunderung nicht fehl am Platz: Schließlich hat Sokrates unmittelbar zuvor sehr ausführlich erklärt, dass die prôta onomata nicht, wie die etymologisch komplexen Namen, dank ihrer etymologischen Zusammensetzung richtig sein können, und folgerichtig in 422b6–8 die Notwendigkeit eines Neuansatzes konstatiert; man würde daher eigentlich erwarten, dass es durchaus einen Unterschied zwischen der Richtigkeit der prôta onomata und derjenigen der hystera onomata gibt. Freilich erläutert Sokrates sofort, wie seine Feststellung zu verstehen ist: Was die bisher untersuchten Ausdrücke zu richtigen Namen mache, sei ja, »dass sie kundmachen, wie beschaffen jedes der Seienden ist«17 – »dies müssen also die ersten nicht weniger als die nachgeordneten an sich haben, wenn sie Namen sein sollen.«18 Demnach unterliegen tatsächlich alle Namen demselben Standard natürlicher Richtigkeit; aber die prôta onomata müssen diesen Standard auf eine andere Weise erfüllen als die hystera onomata. Sokrates widmet sich nun zwar zunächst der Frage nach dem Modus der Richtigkeit der prôta onomata und stößt dabei auf den Grundgedanken der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit. Aber Platon rückt anschließend den Sokrates spricht hier noch im Superlativ von hystata onomata, aber dann schon in 422d6 von hystera onomata. Möglicherweise will Sokrates in 422c7–9, wie Ademollo (2011), 267, vermutet, die zwei Extreme einer Komplexitätsskala markieren – zum einen die etymologisch atomaren Namen, zum anderen etymologisch komplexe Namen, die ihrerseits kein etymologischer Bestandteil irgendeines anderes Namens sind. 16 422c7–9: Ὅτι μὲν τοίνυν μία γέ τις ἡ ὀρθότης παντὸς ὀνόματος καὶ πρώτου καὶ ὑστάτου, καὶ οὐδὲν διαφέρει τῷ ὄνομα εἶναι οὐδὲν αὐτῶν, οἶμαι καὶ σοὶ συνδοκεῖ. 17 Siehe 422d1–3: Ἀλλὰ μὴν ὧν γε νῦν διεληλύθαμεν τῶν ὀνομάτων ἡ ὀρθότης τοιαύτη τις ἐβούλετο εἶναι, οἵα δηλοῦν οἷον ἕκαστόν ἐστι τῶν ὄντων. 18 422d5f.: Tοῦτο μὲν ἄρα οὐδὲν ἧττον καὶ τὰ πρῶτα δεῖ ἔχειν καὶ τὰ ὕστερα, εἴπερ ὀνόματα ἔσται. 15
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in 422d1–6 vorläufig beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit sehr effektiv wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, indem er Sokrates in 423c1f. deutlich auf die Revisionsbedürftigkeit seiner bisherigen Ausführungen hinweisen lässt. Diese Ausführungen sind Sokrates zufolge deswegen unzulänglich, weil sie die Schlussfolgerung unausweichlich machen, dass jede stimmliche Nachahmung bestimmter Gegenstände als Name für diese Gegenstände zu gelten hat: Demnach müsste man den Laut »Muh« als Name für Kühe und den Laut »Kikeriki« als Name für Hähne anerkennen (vgl. 423c4–6). Sokrates lässt keinen Zweifel daran, dass diese Schlussfolgerung inakzeptabel ist: Haben die Dinge nicht jedes eine Stimme und eine Gestalt, und zumindest viele auch eine Farbe? – Sicherlich. – Die Namenskunst scheint nun nicht im Spiel zu sein, wenn jemand diese nachahmt, und nicht mit diesen Nachahmungen zu tun zu haben. Denn für diese sind einerseits die Musik, andererseits aber die Malerei zuständig, oder nicht? – Ja. – Wie aber ist es damit? Scheint dir nicht auch jedes Ding eine ousia zu haben, wie auch eine Farbe und das, was wir gerade erwähnten? Zuallererst die Farbe und die Stimme selbst – hat nicht jedes von diesen eine gewisse ousia, und so auch alles andere, was dieser Bezeichnung für würdig gehalten wird, ›sein‹? – Das meine ich zumindest. – Wie nun? Wenn jemand eben dies, die ousia, bei jedem einzelnen Ding nachahmen könnte durch Buchstaben und Silben, würde er also nicht kundmachen, was jedes Ding ist? Oder etwa nicht? – Sicherlich.19
Eine stimmliche Nachahmung des Geräuschs, das bestimmte Gegenstände typischerweise von sich geben, oder eine Nachahmung der Form oder Farbe, die sie typischerweise aufweisen, ist demnach noch kein richtiger Name für diese Gegenstände; erst eine stimmliche Nachahmung ihrer ousia wäre ein solcher richtiger Name.20 Zugegebenermaßen könnte es auf den ersten Blick so wirken, als ginge es Sokrates hier um einzelne Gegenstände und ihre Namen; aber da er bereits in 397b1–6 beschlossen hat, zumindest Eigennamen für vergängliche Individuen aus seiner Betrachtung auszuschließen, und da außerdem solche Individuen mit Sicherheit nicht jeweils eine eigene ousia haben, muss Sokrates, wenn er von den 423d4–424a1: Ἔστι τοῖς πράγμασι φωνὴ καὶ σχῆμα ἑκάστῳ, καὶ χρῶμά γε πολλοῖς; – Πάνυ γε. – Ἔοικε τοίνυν οὐκ ἐάν τις ταῦτα μιμῆται, οὐδὲ περὶ ταύτας τὰς μιμήσεις ἡ τέχνη ἡ ὀνομαστικὴ εἶναι. αὗται μὲν γάρ εἰσιν ἡ μὲν μουσική, ἡ δὲ γραφική· ἦ γάρ; – Nαί. – Tί δὲ δὴ τόδε; οὐ καὶ οὐσία δοκεῖ σοι εἶναι ἑκάστῳ, ὥσπερ καὶ χρῶμα καὶ ἃ νυνδὴ ἐλέγομεν; πρῶτον αὐτῷ τῷ χρώματι καὶ τῇ φωνῇ οὐκ ἔστιν οὐσία τις ἑκατέρῳ αὐτῶν καὶ τοῖς ἄλλοις πᾶσιν ὅσα ἠξίωται ταύτης τῆς προσρήσεως, τοῦ εἶναι; – Ἔμοιγε δοκεῖ. – Tί οὖν; εἴ τις αὐτὸ τοῦτο μιμεῖσθαι δύναιτο ἑκάστου, τὴν οὐσίαν, γράμμασί τε καὶ συλλαβαῖς, ἆρ᾽ οὐκ ἂν δηλοῖ ἕκαστον ὃ ἔστιν; ἢ οὔ; – Πάνυ μὲν οὖν. 20 Vgl. zu diesem Punkt Driscoll (2018), 117. 19
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einzelnen Gegenständen oder Dingen spricht, die es zu benennen gilt, verschiedene Gegenstandstypen oder -arten meinen.21 Demnach entspricht – ganz im Sinne der bisherigen Überlegungen zu diesem Thema 22 – jeder Gegenstandsart eine ousia, an der ein Gegenstand teilhaben muss, um als Angehöriger der betreffenden Art gelten zu können; und diese ousia muss durch Silben und Buchstaben nachgeahmt werden, wenn ein richtiger etymologisch atomarer Name für die Gegenstände der Art geschaffen werden soll, nicht aber diejenigen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, die für die Angehörigen der Art typisch sein mögen. Wenn Sokrates in 422c/d erklärt, dass richtige Namen kundmachen müssen, »wie beschaffen jedes der Seienden ist«, meint er also, dass sie die ousia der jeweils benannten Gegenstandsart kundmachen müssen. Damit knüpft er direkt an seine Überlegungen in 391b–394e an, die zur Entwicklung der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit führten: Denn bereits in dieser Passage hat er ja, wie im achten Kapitel herausgearbeitet wurde, die Kundmachung der ousia einer Art als die wesentliche Leistung eines natürlicherweise richtigen Namens für diese Art ausgewiesen. Insofern ist tatsächlich »die Richtigkeit jedes Namens, sei es ein erster oder ein letzter, ein und dieselbe«, und prôta onomata unterscheiden sich von hystera onomata eben nur darin, auf welchem Wege sie den Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen: Während hystera onomata die ousia einer Art der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit zufolge dadurch kundmachen, dass sie eine Beschreibung dieser ousia enkodieren, leisten prôta onomata dies der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit zufolge, indem sie die betreffende ousia nachahmen. Es ist von großer Bedeutung, die Kontinuität, die in dieser Hinsicht zwischen Sokrates’ Überlegungen in 391b–394e und seinen Ausführungen in 422c–424a besteht, nicht zu übersehen. Wie im achten Kapitel dieser Studie ebenfalls gezeigt werden konnte, ist es schließlich gerade die Rede von der »Kundmachung« der ousia, die die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen mit dem Begriff ihrer natürlichen Richtigkeit verbindet, den Sokrates in der Werkzeug-Analogie entwickelt hat: Denn statt die Aufgabe eines Namens als Unterscheidung der ousia einer Art für einen Hörer zu charakterisieren, wie Sokrates es in 388b10–c1 tut, kann man eben auch von der Kundmachung einer solchen ousia sprechen. Die Frage, die eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zu beantworten hat, ist demnach, was einem Ausdruck die Eignung für die Kundmachung einer ousia verleiht. Der etymologisch-deskriptiven Theorie zufolge kann nun die ousia einer Art genau dann durch einen (etymologisch Vgl. Ademollo (2011), 275. Siehe zu diesem Punkt die Überlegungen im dritten Abschnitt des ersten und im ersten Abschnitt des dritten Kapitels. 21
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komplexen) Ausdruck kundgemacht werden, wenn sie dank seines deskriptiven Gehalts in ihm kundgemacht ist. Die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit ist einem ganz ähnlichen Erklärungsmuster verpflichtet – besagt sie doch, dass die ousia einer Art genau dann durch einen etymologisch atomaren Ausdruck kundgemacht werden kann, wenn sie dank seines mimetischen Gehalts in ihm kundgemacht ist. Sie ist daher ebenso wie die etymologisch-deskriptive Theorie, die sie ergänzt und fundiert, auf den in der Werkzeug-Analogie entwickelten Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen abgestimmt. Der Sache nach schließt also Sokrates, indem er die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata entfaltet, wiederum direkt an den Gedankengang der Werkzeug-Analogie an und entwickelt eine Antwort auf die Frage, was einen etymologisch atomaren Ausdruck zu einem organon didaskalikon kai diakritikon tês ousias macht. Es ist allerdings auffällig, dass Sokrates’ Ausführungen diese von Interpreten oft übersehene23 gedankliche Kontinuität zwischen der Werkzeug-Analogie und der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit nicht ungebrochen widerspiegeln. Auf die Terminologie der Werkzeug-Analogie greift Sokrates in 422c–424a nämlich nicht zurück – insbesondere charakterisiert er den Namen nie als Werkzeug, sondern nur (mit einem Neologismus)24 in 423a8 als dêloma und kurz darauf, in 423b9, als mimêma. Platon sorgt hier offenbar bewusst dafür, dass man – nicht anders als schon bei der Lektüre der Passage 391b–394e – leicht den Eindruck gewinnen kann, die Ergebnisse der Werkzeug-Analogie seien in Vergessenheit geraten. Und tatsächlich ist ein solcher Eindruck in Bezug auf 422c–424a in einer bestimmten Hinsicht nicht weniger akkurat als in Bezug auf 391b–394e. Denn das Versäumnis, das bereits für den Schritt von der Konklusion der Analogie zur etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen RichSo beispielsweise von Benfey (1866), Goldschmidt (1940), Derbolav (1972), Rijlaarsdam (1978), Palmer (1989), Sedley (2003), Eckl (2003) und Ademollo (2011); Aronadio (2011), 23–81, erkennt zwar, dass die Operation des dêloun für Sokrates’ Überlegungen eine zentrale Rolle spielt, geht aber nur am Rande auf den Zusammenhang mit der Werkzeug-Analogie ein (siehe insbesondere 38f.). Barney (2001) hält hingegen mit Blick auf Sokrates’ Behauptung, dass alle richtigen Namen sich dadurch auszeichnen, dass sie kundmachen, wie die benannten Gegenstände beschaffen sind, zurecht fest: »This confirms, incidentally, that Socrates uses talk of ‘disclosure’ as a shorthand for his earlier definition of names as tools for dividing and informing, for only in that case is he entitled to assume that the primary names disclose« (88; vgl. zur Kontinuität des Untersuchungsgangs im Kratylos auch 97f.). Hinter Barneys sehr starker Übersetzung von ›dêloun‹ mit »disclose« verbirgt sich allerdings ein folgenreiches Missverständnis: S. u., 373 Anm. 45. Richtig erkannt wird der Zusammenhang zwischen der Werkzeug-Analogie und der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit auch von Bestor (1980), 316–319. 24 Tatsächlich taucht dieser Ausdruck in der überlieferten griechischen Literatur vor dem Kratylos nicht auf. 23
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tigkeit charakteristisch war, prägt nun auch den nächsten Schritt auf dem Weg zur Vollendung des Hypernaturalismus: Sokrates macht schließlich keine Anstalten, die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit kritisch mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit abzugleichen und sich die Frage vorzulegen, ob die Eignung eines Ausdrucks für das Herausgreifen der ousia einer Art wirklich von seinem mimetischen Gehalt abhängig sein kann. Auf der Ebene seines Gesprächs mit Hermogenes wird daher nicht klar, welche kontraintuitiven und unplausiblen Konsequenzen die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit hat; es wird nicht klar, dass man diese Theorie nur vertreten kann, wenn man annimmt, dass ein Ausdruck, der keine Nachahmung der ousia einer bestimmten Art ist, auch dann nicht eingesetzt werden kann, um diese ousia für einen Hörer zu unterscheiden, wenn eine entsprechende Konvention in Kraft ist. Was also tatsächlich schon mit Beginn der Entfaltung des Hypernaturalismus in Vergessenheit gerät und auch bei der Ausarbeitung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit noch ausgeblendet wird, ist die an das (Spezifische) Funktionalitätsprinzip gekoppelte funktionalistische Dimension des Begriffs der natürlichen Richtigkeit;25 und dieser Umstand findet seinen Niederschlag in Sokrates’ auffälligem Verzicht auf die Terminologie der Werkzeug-Analogie. Wie im achten Kapitel dieser Studie schon erwähnt wurde, wird Sokrates dieses Versäumnis später, zu Beginn seines Dialogs mit Kratylos, als »Selbstbetrug« brandmarken. In 422c–427d deckt er diesen »Selbstbetrug«, in den er und sein Gesprächspartner sich bereits in 391b–394e zu verstricken beginnen, aber eben noch nicht auf, obwohl er ihn möglicherweise längst durchschaut und vielleicht sogar von Anfang an selbst inszeniert hat. Weil somit auf der Ebene seines Gesprächs mit Hermogenes der genaue Gehalt der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit einstweilen noch verborgen bleibt, kann auch nicht deutlich werden, welche große Beweislast sich derjenige aufbürdet, der einen Konventionalisten wie Hermogenes von der Gültigkeit dieser Theorie überzeugen will. Nach einem Argument, das die These stützt, die Eignung eines etymologisch atomaren Namens für eine spezifische Version des Nennens sei von seinem mimetischen Gehalt abhängig, sucht man dementsprechend in der Passage 422c–427d vergebens. Der Kratylos liefert Lesern, die Hermogenes’ konventionalistische Intuitionen teilen, ganz offenkundig keinen guten Grund, die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit zu akzeptieren. Einen Hinweis darauf, dass zumindest Sokrates das (S PEZIFISCHE) FUNKTIONALITÄTSPRINZIP nicht vergessen hat, mag man darin erkennen, dass seine Formulierungen in 422d5f., 422d11–e1 und 423b9–11 stets den Eindruck erwecken, als seien nur richtige Namen überhaupt Namen. Sokrates geht allerdings auf diesen wichtigen Punkt (noch) nicht näher ein. 25
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Warum Hermogenes selbst den kritischen Abgleich der mimetischen Theorie mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen trotzdem nicht einfordert und den »Selbstbetrug«, in den er verstrickt ist, dementsprechend nicht durchschaut, lässt sich allerdings, wie im achten Kapitel ebenfalls schon bemerkt wurde, sehr gut erklären: Sein Blick auf den Untersuchungsgegenstand ist nämlich nach wie vor bestimmt von der Identifikation von Namen und Lautfolgen, die zu Beginn des Dialogs eine Differenzierung zwischen dem Schwachen Konventionalismus und dem Starken Konventionalismus verhinderte und Hermogenes dann im weiteren Dialogverlauf die Möglichkeit eines Moderaten Naturalismus verkennen ließ – und die dabei niemals explizit thematisiert oder kritisiert wurde. Für Hermogenes hat die WerkzeugAnalogie gezeigt, dass Lautfolgen gegebenenfalls unabhängig von allen Konventionen natürlicherweise richtige Namen für bestimmte Gegenstandsarten sind. Eine Theorie der natürlichen Richtigkeit muss daher für ihn die Frage beantworten, worauf die natürliche Richtigkeit als ein Charakteristikum bloßer Lautfolgen zurückzuführen ist. Dieser Umstand machte es für ihn im Anschluss an die Werkzeug-Analogie so naheliegend, die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit zu akzeptieren. Aus demselben Grund liegt es in 422c–424a, nachdem die Grenzen dieser Theorie der natürlichen Richtigkeit deutlich geworden sind, nahe, sie durch die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata zu ergänzen und zu fundieren. Mehr noch: Da keine Alternative zu dieser Theorie erkennbar ist, die Werkzeug-Analogie aber gezeigt hat, dass alle Namen einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterliegen, scheint sich ein kritischer Abgleich mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit zu erübrigen. Wie schon in 391b–394e wird also der »Selbstbetrug«, der Sokrates und Hermogenes die problematischen Konsequenzen der Rückführung der Richtigkeit von etymologisch atomaren Namen auf ihren mimetischen Gehalt übersehen lässt, stark begünstigt durch die Anlage der Untersuchung, die gar keine andere Wahl zu lassen scheint, als nach einer Erklärung dafür zu suchen, wie in einer bloßen Lautfolge die ousia einer Art kundgemacht sein kann. Er ist nichts anderes als die Folge derjenigen Perspektivverengung, die Sokrates’ Schrittfolge bei der Ausarbeitung des Hypernaturalismus determiniert. Auch Sokrates selbst betont dementsprechend immer wieder – in 425d1–4, 426a3–b3 und 426b5–8 –, dass die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit das Resultat einer dialektischen Zwangslage ist: Es mag zwar, wie er selbst zugibt, lächerlich anmuten, die Richtigkeit eines Namens wie rheon auf seinen mimetischen Gehalt und damit letztlich auf die mimetischen dynameis seiner Buchstaben zurückzuführen. Aber da er selbst keine bessere Erklärung anzubieten hat (425d3f.; vgl. 426b7f., 428a8–b1 und b4f.), bestünde die einzige Alternative zur
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mimetischen Theorie darin, die Richtigkeit der prôta onomata auf entsprechende Konventionen zurückzuführen. Das aber käme angesichts der Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen dem Eingeständnis gleich, dass die prôta onomata keinem Standard natürlicher Richtigkeit unterliegen; und da aus diesem Eingeständnis folgen würde, dass auch die Richtigkeit der hystera onomata letztlich von Konventionen abhängt, 26 ist die einzige Alternative zur mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der etymologisch atomaren Namen der Widerruf der Konklusion der Werkzeug-Analogie. Platon inszeniert in der Passage 422c–424c also weder eine reductio ad absurdum der Behauptung einer natürlichen Richtigkeit der Namen, noch lässt er Sokrates die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit im eigenen Namen entfalten: Er führt vielmehr systematisch vor, auf welche Position Hermogenes angesichts der Überlegungen der Werkzeug-Analogie deswegen verpflichtet ist, weil er nicht zwischen Namen und Lautfolgen zu unterscheiden weiß. Dies aber ist die Position, auf die auch ein Leser verpflichtet ist, der Hermogenes’ konventionalistische Intuitionen ebenso teilt wie dessen naive, aber naheliegende Konzeption des Namens. Der Eigenlogik, die der gesamten Ausarbeitung des Hypernaturalismus bis zu ihrem Abschluss durch die Entwicklung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit ihr Gepräge verleiht und für den »Selbstbetrug« der beiden Gesprächspartner verantwortlich ist, kann sich ein solcher Leser nur entziehen, indem er seine eigene Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen als ihr Prinzip erkennt – und diese Gleichsetzung aufgibt. Worauf Platon es bei der Gestaltung der Passage 422c–424c, ja der Gestaltung des gesamten Mittelteils des Kratylos letztlich abgesehen hat, ist damit klar: Seine Leser sollen erfahren, welche mit ihren konventionalistischen Intuitionen ganz und gar unvereinbaren Implikationen ihre Vorannahmen und -urteile haben, um diese Vorannahmen und -urteile zugunsten einer adäquateren Betrachtungsweise überwinden zu können. Bei seiner Auseinandersetzung mit der Frage, wie etymologisch atomare Namen qua bloße Lautfolgen die ousiai von Gegenstandsarten kundmachen und die Aufmerksamkeit eines Hörers auf sie lenken können,27 lässt Platon Sokrates dementsprechend mit äußerster Konsequenz vorgehen. Sokrates’ Ansatz, zu ihrer Beantwortung auf das Prinzip der mimêsis zu rekurrieren, ist dabei zumindest auf den ersten Blick auch durchaus vielversprechend: Denn eine gute Nachahmung scheint es gerade auszuzeichnen, dass sie unabhängig von Konventionen die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was sie nachahmt – aus genau diesem Grund Vgl. dazu die Überlegungen im vierten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels. Vgl. zu diesem Zusammenhang die Überlegungen im zweiten Abschnitt des achten Kapitels: S. u., 373 f.. 26
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verfällt Sokrates ja in 422d11–423b12 überhaupt erst auf die Idee, die prôta onomata als Nachahmungen zu konzipieren. Falls es möglich sein sollte, eine stimmliche Nachahmung einer ousia zu produzieren, ließe sich daher die Hypothese, dass sich die Aufmerksamkeit eines Hörers mittels dieser Nachahmung auf die betreffende ousia richten lässt, zumindest nicht ohne Weiteres als lächerlich verwerfen. Nun sind zugegebenermaßen Zweifel an der Möglichkeit der stimmlichen Nachahmung einer unsinnlichen ousia nur allzu berechtigt.28 Aber das ändert nichts daran, dass es dann, wenn man die Frage zu beantworten hat, wie eine bloße Lautfolge eine bestimmte ousia kundmachen kann, naheliegend ist, ihr mimetische Qualitäten zuzuschreiben. Anders gewendet: Ließe sich noch nicht einmal unter der Voraussetzung, dass Lautfolgen stimmliche Nachahmungen von ousiai sein können, erklären, wie sie unabhängig von Konventionen ousiai kundmachen können, wäre die Schlussfolgerung kaum zu vermeiden, dass sich eine solche Erklärung überhaupt nicht geben lässt.29 Sokrates hat also völlig recht: In der dialektischen Situation, in der er und Hermogenes sich mit dem Ende der etymologischen Sektion befinden, scheint die mimetische Theorie die beste verfügbare Antwort auf die Frage zu sein, was die prôta onomata zu richtigen Namen macht. Es zeichnet diese Antwort aus, dass sie ihrem Anspruch nach die Richtigkeit der prôta onomata auf eine natürliche, von Konventionen völlig unabhängige Relation zwischen Namen und benannten Gegenständen zurückführt: nämlich die Relation der Ähnlichkeit, die zwischen einer Nachahmung und dem Nachgeahmten bestehen muss. Tatsächlich behandelt Sokrates die Ähnlichkeit zwischen einer Lautfolge und einer bestimmten Art von Gegenständen (beziehungsweise ihrer ousia) nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine hinreichende Bedingung dafür, dass die Lautfolge als Nachahmung der betreffenden ousia ein richtiger Name für diese Gegenstände ist. Das wird deutlich, als er an späterer Stelle Kratylos fragt, ob er »irgendeine schönere Weise« kenne, wie die Namen »Mittel zu Kundmachung werden, als sie möglichst so zu machen wie jene, die sie
Vgl. dazu Eckl (2003), 193–195. Das erkennt Heitsch (1984) ganz richtig, wenn er die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit als »notwendige Folge« (34) des hypernaturalistischen Ansatzes beschreibt, den Sokrates im Anschluss an die Werkzeug-Analogie entfaltet (vgl. dazu auch Barney (2001), 103f.). Heitsch geht aber zu weit, wenn er aus dieser Beobachtung den Schluss zieht: »Der ganze Abschnitt (391b4–427d2) ist ein einziger indirekter Beweis«, der zeigen solle, dass das hypernaturalistische Programm zum Scheitern verurteilt sei. Denn auch wenn Sokrates einräumt, dass die mimetische Theorie lächerlich wirken mag, verhält er sich in 427c6–d2 nicht wie jemand, der soeben den letzten Schritt einer reductio ad absurdum vollzogen hat – er beginnt ja dann erst mit der Kritik einer Theorie, die Heitschs Deutung zufolge der Kritik gar nicht würdig ist. Welche Strategie Platon bei dieser Inszenierung verfolgt, wird im folgenden Kapitel zu diskutieren sein. 28
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kundmachen sollen«.30 Was einer Lautfolge die Eignung zur Kundmachung einer bestimmten ousia verleiht, ist demnach einzig und allein die Ähnlichkeit, die zwischen ihr und dieser ousia unabhängig von allen menschlichen Meinungen und Entscheidungen besteht. Der Rekurs auf die Ähnlichkeitsrelation verspricht also, ein grundsätzliches Problem zu lösen, das die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen nur verschieben konnte: das Problem nämlich, dass keine Lautfolge von Natur aus in irgendeiner Beziehung zu bestimmten Gegenständen zu stehen scheint – was die Vermutung nahelegt, dass es ganz der menschlichen Praxis überlassen ist, solche Beziehungen herzustellen. Dieses Problem löst Sokrates zumindest auf den ersten Blick, indem er annimmt, dass Lautfolgen Arten von Gegenständen beziehungsweise ihren ousiai ähnlich sein können. Aber nicht nur dieser Grundgedanke der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit wird Sokrates von der Eigenlogik einer Untersuchung vorgegeben, die an der Frage orientiert ist, was bloße Lautfolgen zu richtigen Namen für bestimmte Gegenstandsarten machen kann – auch seine weitere Entfaltung wird von den explanatorischen Notwendigkeiten regiert, die sich aus Hermogenes’ Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen ergeben. Wie Sokrates bereits in 424d5f. kurz andeutet und dann im Gespräch mit Kratylos ausführlich erklärt, muss die Ähnlichkeit eines Namens mit dem, was es zu benennen gilt, nämlich in den Buchstaben und Silben fundiert sein, aus denen sich der Name zusammensetzt: Wenn also nun der Name dem Gegenstand 31 ähnlich ist, ist es notwendig, dass die Buchstaben, aus denen man die ersten Namen zusammensetzen muss, den Dingen von Natur aus ähnlich sind? Ich meine es so: Könnte man jemals komponieren, worüber wir gerade sprachen – ein Gemälde, das irgendeinem der Seienden ähnlich ist, wenn nicht schon Färbemittel, aus denen das Gemalte32 zusammengesetzt wird, existierten, die von Natur aus jenen Dingen ähnlich sind, die die Malerei nachahmt? Oder wäre das unmöglich? – Unmöglich. – Also könnten gleichermaßen auch die Namen niemals irgendeiner Sache ähnlich werden, wenn es nicht zuerst jene [Bestandteile], aus denen die Namen zusammengesetzt werden, gäbe, die schon eine gewisse Ähnlichkeit haben mit jenen Dingen, von denen die 433d7–e2: Ἀλλὰ τὰ πρῶτα εἰ μέλλει δηλώματά τινων γίγνεσθαι, ἔχεις τινὰ καλλίω τρόπον τοῦ δηλώματα αὐτὰ γενέσθαι ἄλλον ἢ αὐτὰ ποιῆσαι ὅτι μάλιστα τοιαῦτα οἷα ἐκεῖνα ἃ δεῖ δηλοῦν αὐτά; 31 Hier dürfte wiederum, wie in 423d4–424a1, ein Gegenstandstyp oder eine Gegenstandsart gemeint sein. 32 Wie Minio-Paluello richtig sieht, scheinen ζωγραφούμενα nicht mit ζωγράφημα zu identifizieren zu sein – die Vermutung liegt nahe, dass die einzelnen Figuren in einem Gemälde gemeint sind. 30
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Namen Nachahmungen sind? Das, woraus sie zusammengesetzt werden müssen, sind aber Buchstaben? – Ja.33
Wer die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen vertreten will, scheint demnach gar keine andere Wahl zu haben, als den einzelnen Buchstaben mimetische Qualitäten zuzuschreiben: Denn wie Sokrates ausführt, wäre ansonsten die mimetische Qualität der Namen nicht zu erklären.34 Wie man sich den Zusammenhang zwischen Buchstaben und Wirklichkeit vorzustellen hat, wird von Sokrates in 424d4–425a5 erläutert: Demnach setzt sich auch die Wirklichkeit aus bestimmten basalen Elementen zusammen, wobei einige von diesen Elementen gewissen Buchstaben ähnlich sind, während einige Elemente nicht einzelnen Buchstaben, sondern Silben ähneln.35 Auch wenn Sokrates in dieser Hinsicht mit weiteren Erklärungen geizt, darf man davon ausgehen, dass dieses Bild des Verhältnisses von Sprache und Realität voraussetzt, dass die ousiai, die es nachzuahmen und zu benennen gilt, ebenso aus den basalen Wirklichkeitselementen aufgebaut sind wie die Namen aus den Buchstaben und Silben, die ihnen ähneln; andernfalls wäre kaum zu verstehen, wie aus der Zusammensetzung dieser Buchstaben und Silben Nachahmungen der ousiai hervorgehen könnten. Für die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata ist also nicht nur der Rekurs auf die Ähnlichkeitsrelation charakteristisch, der den Brückenschlag zwischen Sprache und Wirklichkeit leisten soll, den der Verweis auf menschliche Konvention und Praxis nicht leisten kann: Charakteristisch 434a3–b9: Oὐκοῦν εἴπερ ἔσται τὸ ὄνομα ὅμοιον τῷ πράγματι, ἀναγκαῖον πεφυκέναι τὰ στοιχεῖα ὅμοια τοῖς πράγμασιν, ἐξ ὧν τὰ πρῶτα ὀνόματά τις συνθήσει; ὧδε δὲ λέγω· ἆρά ποτ᾽ ἄν τις συνέθηκεν ὃ νυνδὴ ἐλέγομεν ζωγράφημα ὅμοιόν τῳ τῶν ὄντων, εἰ μὴ φύσει ὑπῆρχε φάρμακα ὅμοια ὄντα, ἐξ ὧν συντίθεται τὰ ζωγραφούμενα, ἐκείνοις ἃ μιμεῖται ἡ γραφική· ἢ ἀδύνατον; – Ἀδύνατον. – Oὐκοῦν ὡσαύτως καὶ ὀνόματα οὐκ ἄν ποτε ὅμοια γένοιτο οὐδενί, εἰ μὴ ὑπάρξει ἐκεῖνα πρῶτον ὁμοιότητά τινα ἔχοντα, ἐξ ὧν συντίθεται τὰ ὀνόματα, ἐκείνοις ὧν ἐστι τὰ ὀνόματα μιμήματα; ἔστι δέ, ἐξ ὧν συνθετέον, στοιχεῖα; – Nαί. 34 Man kann sich freilich fragen, ob man Sokrates zustimmen sollte, wenn er in 433a7–b1 erklärt, dass ein Maler nur dann ein Bild schaffen kann, dass dem abgebildeten Gegenstand ähnlich ist, wenn ihm die passenden Farben zur Verfügung stehen; schließlich scheint auch ein in Schwarz-Weiß gehaltenes Bild eine gelungene Nachahmung eines farbigen Objekts sein zu können. Allerdings ist keineswegs auf den ersten Blick zu erkennen, ob etwas Ähnliches im Fall stimmlicher Nachahmungen auch möglich ist. Auf jeden Fall muss verhindert werden, dass es von menschlichen Konventionen und Entscheidungen abhängt, welchen Beitrag die einzelnen Buchstaben zum mimetischen Gehalt der Namen leisten. Vor diesem Hintergrund scheint der Rekurs auf die postulierte Ähnlichkeit zwischen Buchstaben und Wirklichkeitselementen mehr oder weniger alternativlos. 35 Wie Williams (1982), 85, zurecht bemerkt, würde man erwarten, dass Sokrates die Buchstaben (eventuell ergänzt um einen Vokal) als Namen für die betreffenden Wirklichkeitselemente betrachtet – aber seine Ausführungen in 424d4–425a5 scheinen zu zeigen, dass er das nicht tut. Diese Spannung wird an keiner Stelle des Dialogs aufgelöst. 33
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ist auch ein sehr stringent verfolgtes atomistisches Erklärungsmuster, das den mimetischen Gehalt von Namen auf ihre Zusammensetzung aus Buchstaben und Silben als den fundamentalen Garanten der Ähnlichkeit zwischen Sprache und Wirklichkeit zurückführt.36 Die Konturen des atomistisch-reduktiven Ansatzes, den Sokrates in 424b–425a und dann noch einmal in 433d–434b skizziert, sind freilich nicht so klar, wie man es sich wünschen würde – insbesondere drängt sich angesichts der Analogie zwischen Namen und Bildern die von Sokrates selbst nie angesprochene Frage auf, welche Bedeutung in diesem Ansatz der Anordnung der Buchstaben und Silben in einem Namen zukommt.37 Unabhängig davon, wie man das von Sokrates skizzierte atomistisch-reduktive Programm in seinen Details einschätzt, ist aber festzuhalten, dass der Ansatz, die Richtigkeit eines Namens von seinen Bestandteilen abhängig zu machen, nicht erst die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit prägt, sondern bereits die etymologischdeskriptive Theorie38 – und auf der Ebene des Gesprächs zwischen Sokrates und
36 Dass Sokrates einem atomistischen Erklärungsmuster folgt, wird insbesondere von Derbolav (1972), 61–63, betont. Buchheim weist zurecht darauf hin, dass ein solches Erklärungsmuster gut zur Denkweise Demokrits passt: »Das philosophisch-argumentative Gerüst des ›Kratylos‹«, 28. 37 Sokrates äußert sich niemals explizit zu dieser Frage, so dass man leicht den Eindruck gewinnen kann, der von ihm entfalteten Theorie zufolge sei der mimetische Gehalt eines Namens einzig und allein davon abhängig, aus welchen Buchstaben und Silben er sich zusammensetzt, nicht aber davon, in welcher Reihenfolge diese Silben und Buchstaben in dem Namen vorkommen. Gleichzeitig scheint klar zu sein, dass für die Ähnlichkeit eines Bildes mit dem Abgebildeten die innere Struktur und Organisation des Bildes mindestens ebenso wichtig sind wie die Farben, aus denen es besteht. Ob und gegebenenfalls wie sich diese Einsicht in die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen inkorporieren ließe, geht aus Sokrates’ Ausführungen nicht hervor. Barney (2001), 95, geht davon aus, dass die mimetische Theorie es nicht prinzipiell ausschließt, der Anordnung der Buchstaben und Silben in einem prôton onoma eine gewichtige Rolle zuzuschreiben: »Socrates says glaringly little about any ‘syntactic’ structures at work in the primary names; in principle, though, there is no obvious reason why a mimetically complex name could not, like a semantically complex definition (e.g., by genus and species), give a unified specification of an essence.« Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass es sehr schwierig sein könnte, zu erklären, wie die Anordnung von Buchstaben und Silben komplexe syntaktische Strukturen widerspiegeln kann, ohne dabei auf Konventionen und Festlegungen zu rekurrieren – wie Barney selbst zugibt: 105f., Anm. 31. Die nahtlosen Übergänge von Buchstaben zu Silben, von Silben zu Namen und von Namen zu Sätzen (oder noch komplexeren Diskursen – logos in 425a4 ist, wie üblich, kaum mit einem deutschen Wort zu übersetzen), die Sokrates in 424e4–425a5 schildert, würden denn auch gut zu einer additiven oder aggregativen Auffassung von Sprache passen, die für alle im weitesten Sinne semantischen Eigenschaften einer komplexen sprachlichen Einheit einzig und allein ihre kleinsten Bestandteile verantwortlich macht, ohne der Bedeutung von Strukturen Rechnung zu tragen. 38 Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des achten Kapitels.
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Hermogenes allem Anschein nach alternativlos ist.39 Denn wer Namen als Lautfolgen denkt, kann nur auf ihre Zusammensetzung aus bestimmten Bestandteilen (und auf den Modus dieser Zusammensetzung) verweisen, um ihre Charakteristika zu erklären. Die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit hebt dabei noch auf die etymologischen Bestandteile des jeweiligen Ausdrucks ab, bei denen es sich wiederum um (verkürzte) Namen handelt; die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit, die Sokrates im Ausgang von der Einsicht in die prinzipiellen Limitationen der etymologisch-deskriptiven Theorie entwickelt, führt die Richtigkeit der prôta onomata dann konsequenterweise auf ihre Zusammensetzung aus Silben und Buchstaben zurück.40 Dieses von der Eigenlogik der Untersuchung der onomatos orthotês vorgegebene atomistische Erklärungsmuster macht es letztlich unausweichlich, Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Buchstaben und Silben einerseits und basalen Wirklichkeitselementen andererseits zu postulieren. Es ist bemerkenswert, mit welcher Konsequenz Sokrates den Gedanken entwickelt, dass die Buchstaben und Silben in diesem Sinne als Scharniere zwischen Sprache und Wirklichkeit fungieren müssen. Diese Konsequenz führt ihn sogar an einen Punkt, an dem der Unterschied zwischen Sprache und Wirklichkeit seine Bedeutung einzubüßen scheint: Wie bereits erwähnt wurde, hebt ja beispielsweise seine Diskussion des Buchstabens rhô darauf ab, dass dieser Buchstabe deswegen besonders gut zur Imitation von Bewegung geeignet ist, weil bei seiner Artikulation »die Zunge am wenigstens in Ruhe bleibt und am meisten erschüttert wird«. Das aber ist bei näherer Überlegung eine höchst bemerkenswerte Begründung: Sokrates behauptet nicht, wie man erwarten könnte, dass man beim Aussprechen eines rhô etwas – zum Beispiel einen Laut – produziert, das einer Bewegung in irgendeiner Hinsicht ähnelt; ihm scheint es vielmehr darauf anzukommen, dass man beim Aussprechen eines rhô selbst eine Bewegung hervorbringt. Ebenso seien etwa alpha und Barney (2001), 7f., vertritt die These, dass der gesamten Untersuchung des Kratylos eine Auffassung von Sprache zugrundeliege, die dem »principle of compositionality« verpflichtet sei: »the principle that the capacities and properties of complex expressions – specifically, their content, truth and falsity – are determined by the capacities and properties respectively of their parts”. Was Sätze anbetrifft, ist es tatsächlich bemerkenswert, dass Sokrates ihre syntaktische Gliederung auszublenden scheint. Das muss freilich nicht heißen, dass Platon selbst Sätze für bloße Aneinanderreihungen von Namen hält – dagegen spricht sein Vergleich des Sprechens mit der synkritischen Handlung des Webens (s. o., 123–132). Was Namen anbetrifft, bleibt Sokrates bei der Konkretisierung des HYPERNATURALISMUS gar nichts anderes übrig, als ihre Richtigkeit auf ihre (etymologischen oder mimetischen) Bestandteile zurückzuführen; daraus folgt aber nicht, dass er selbst oder Platon annehmen, die Richtigkeit eines Namens sei tatsächlich von seinen Bestandteilen abhängig. 40 Darin liegt kein Widerspruch zu der von Sokrates in 390a6–8 vertretenen These, ein Nomothet könne »die jedem angemessene Idee des Namens in Silben welcher Art auch immer« wiedergeben: S. o., 252. 39
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êta zur Nachahmung von Größe und Länge geeignet, weil beides »große Buchstaben« seien41 – womit wohl gemeint ist, dass die Artikulation dieser Buchstaben mit einer besonders weiten Öffnung des Mundes einhergeht.42 In ihrer Artikulation sind also die Buchstaben nicht prinzipiell verschieden von dem, was sie nachahmen sollen – das Aussprechen eines rhô ist ein Fall von Bewegung, und das Aussprechen von alpha und êta vollzieht sich als Formung einer großen oder langen Öffnung. Wenn Sokrates im Rahmen seiner atomistisch-reduktiven Analyse von der Ähnlichkeit spricht, die zwischen Buchstaben und Silben einerseits und den basalen Elementen oder Zügen der Wirklichkeit andererseits bestehen muss, geht es ihm also um Ähnlichkeit in einem sehr starken Sinne: Ein artikuliertes rhô ist der Bewegung insofern ähnlich, als es selbst ein Vorkommen von Bewegung ist, und ebenso scheint es sich mit den anderen Buchstaben zu verhalten, die Sokrates in 426c1–427c6 diskutiert. Wenn man Sokrates’ Darstellung folgt, verschwimmt also auf der Ebene der Buchstaben und Silben der Unterschied zwischen Sprache und nicht-sprachlicher Wirklichkeit:43 Die artikulierten Buchstaben und Silben gehören zum einen als Fälle dessen, was es zu benennen gilt, zur Wirklichkeit; zum anderen aber sind sie die fundamentalen Bestandteile der Namen, mit denen diese Wirklichkeit sprachlich erschlossen wird. Das macht den Vergleich der Buchstaben und Silben mit den Farben, die ein Maler bei der Gestaltung eines Bildes einsetzt, so bestechend: Denn es handelt sich ja tatsächlich um dieselben Farben, die auch die abgebildeten Objekte selbst aufweisen. Diese Auslegung der Hypothese, dass die Buchstaben und Silben den basalen Wirklichkeitselementen ähnlich sein müssen, ist zwar radikal, aber durchaus nicht unmotiviert: Denn würde man stattdessen beispielsweise behaupten, dass Buchstaben und Silben diesen Wirklichkeitselementen durch ihren Klang ähneln, läge der Einwand sehr nahe, dass es von der subjektiven Perspektive des Betrachters abzuhängen scheint, in welchen Fällen derartige Ähnlichkeiten anzuerkennen sind und in welchen nicht.44 Einen solchen Einwand kann man gegen Sokrates’ Ansatz nicht erheben: Wenn ein artikuliertes rhô tatsächlich selbst ein Fall von Bewegung ist, kann überhaupt kein Zweifel an der Ähnlichkeit zwischen diesem Buchstaben und den Bewegungen bestehen, deren Nachahmung er dient. Natürlich ist die Nivellierung des Unterschieds zwischen Sprache und nichtsprachlicher Realität mit massiven Problem verbunden – wie Sokrates in seiner Auseinandersetzung mit Kratylos zeigen wird, führt sie letztlich dazu, dass man Siehe 427c3f: Tὸ δ᾽ αὖ ἄλφα τῷ ‘μεγάλῳ’ ἀπέδωκε, καὶ τῷ ‘μήκει’ τὸ ἦτα, ὅτι μεγάλα τὰ γράμματα. 42 Vgl. Belardi (1985), 33 mit Anm. 11. 43 Wie bereits Derbolav (1972), 62f., bemerkt. 44 Vgl. Ademollo (2011), 310. 41
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der Bezogenheit von Sprache auf Wirklichkeit nicht Rechnung tragen kann.45 Es ist aber dennoch anzuerkennen, dass sich eine solche Nivellierung wahrscheinlich zumindest auf der Ebene der Buchstaben und Silben nicht vermeiden lässt, wenn man wie Sokrates zu erklären versucht, wie Namen dem, was sie benennen, ähnlich sein können. Sokrates’ Vorgehen bei der Ausarbeitung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata wird also noch bis in die letzte, auf den ersten Blick zweifellos absurd anmutende Wendung hinein von der Eigenlogik einer Untersuchung determiniert, die von der verfehlten Fragestellung ausgeht, wie eine bloße Lautfolge die ousia einer Art kundmachen und mithin ein natürlicherweise richtiger Name für diese Art sein kann. Auf der Ebene seines Dialogs mit Hermogenes hat Sokrates, wie er selbst so oft betont, keine andere Wahl, als diese Frage unter Rekurs auf das Prinzip der mimêsis zu beantworten und alle Konsequenzen, die dieser Ansatz mit sich bringt, zu akzeptieren – zumindest dann nicht, wenn er die Konklusion der Werkzeug-Analogie nicht verwerfen will. Nur auf diesem Wege kann er die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit ergänzen und den Hypernaturalismus vollenden. Mehr noch: Erst in der mimetischen Theorie findet, so könnte man sagen, der Hypernaturalismus ganz zu sich, erklärt sie doch – im Gegensatz zur etymologischdeskriptiven Theorie – zumindest ihrem eigenen Anspruch nach, welche natürliche Beziehung zwischen Gegenstandsarten und richtigen Namen besteht.46 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Sokrates im weiteren Dialogverlauf kaum mehr auf die etymologisch-deskriptive Theorie zurückkommt, ja mitunter so zu argumentieren scheint, als betreffe die mimetische Theorie die Richtigkeit
Das scheint die wesentliche Pointe des Arguments zu sein, das Sokrates in 432a5–433b7 gegen Kratylos’ Behauptung ins Feld führt, nur perfekte Nachahmungen seien richtige Namen: Wie Sokrates erklärt, könnte etwa eine perfekte Nachahmung von Kratylos nicht mehr als Nachahmung und damit als Name des Kratylos, sondern nur als ein zweiter Kratylos gelten; und insgesamt können Namen deswegen keine perfekten Nachahmungen der benannten Gegenstände sein, weil sie in diesem Fall gar nicht mehr als Namen zu erkennen wären: Γελοῖα γοῦν, ὦ Κρατύλε, ὑπὸ τῶν ὀνομάτων πάθοι ἂν ἐκεῖνα ὧν ὀνόματά ἐστιν τὰ ὀνόματα, εἰ πάντα πανταχῇ αὐτοῖς ὁμοιωθείη. διττὰ γὰρ ἄν που πάντα γένοιτο, καὶ οὐκ ἂν ἔχοι αὐτῶν εἰπεῖν οὐδέτερον ὁπότερόν ἐστι τὸ μὲν αὐτό, τὸ δὲ ὄνομα (432d5–9). Die asymmetrische Beziehung zwischen einem Namen und dem Benannten oder einem Bild und dem Abgebildeten setzt demnach voraus, dass der Unterschied zwischen den jeweiligen Relata nicht nivelliert wird. 46 Baxter (1992), 76, vertritt die These, dass die etymologisch-deskriptive und die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit zumindest auf den ersten Blick inkompatibel zu sein scheinen, übersieht dabei aber, dass sich die beiden Theorien auf unterschiedliche Arten von Namen beziehen. Seine Diskussion des Verhältnisses zwischen den beiden Theorien vermag freilich auch deswegen nicht zu überzeugen, weil sie auf der falschen Annahme beruht, die Buchstaben und Silben seien die prôta onomata – s. o., Anm. 5. 45
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aller Namen:47 Denn tatsächlich ist seinen Überlegungen zufolge die mimetische Relation zwischen Sprache und Wirklichkeit in letzter Analyse für die Richtigkeit aller Namen verantwortlich, wenn auch im Fall der etymologisch komplexen Namen nur mittelbar.48 Der Hypernaturalismus steht und fällt jedenfalls mit der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit; und auf der Ebene des Gesprächs zwischen Sokrates und Hermogenes steht und fällt mit ihr folglich die These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen. Nicht nur Hermogenes, sondern auch jeder Leser des Kratylos, der noch nicht zwischen Namen und Lautfolgen zu unterscheiden gelernt hat, ist somit auf die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata verpflichtet. Indem er Sokrates diese Theorie mit größtmöglicher Konsequenz entfalten lässt, führt Platon solchen Lesern also einerseits vor Augen, welche Konsequenzen sie aufgrund ihrer naiven Konzeption des Namens zu tragen haben. Wie schon bei seiner Inszenierung der Passage 391b–394e und der etymologischen Sektion sorgt Platon aber durch seine Gestaltung der letzten Etappe des Wegs zum Hypernaturalismus andererseits auch dafür, dass sich bei einem aufmerksamen Leser massive Zweifel an der Alternativlosigkeit dieses Weges einstellen müssen. Die nächsten beiden Abschnitten sollen zeigen, wie genau Platon dabei vorgeht, und den letzten Beleg für die bemerkenswerte Konsequenz erbringen, mit der er bei seiner Komposition des gesamten Mittelteils des Kratylos eine Strategie der Subversion verfolgt, um seine Leser zur Suche nach einer Alternative zum Hypernaturalismus und zur Überwindung ihrer naiven Konzeption des Namens anzuregen.
S. o., 443 mit Anm. 2. Vgl. Ademollo (2011), 293. Sokrates selbst bestätigt diese Einschätzung des Verhältnisses zwischen der etymologisch-deskriptiven und der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit bereits in 422d8f., indem er erklärt, dass die hystera onomata ihre Aufgabe durch die Namen erfüllen, aus denen sie sich zusammensetzen: Ἀλλὰ τὰ μὲν ὕστερα, ὡς ἔοικε, διὰ τῶν προτέρων οἷά τε ἦν τοῦτο ἀπεργάζεσθαι. Noch deutlicher wird er in 426a3–b2, wo er erklärt, dass jede Überprüfung der Richtigkeit der hystera onomata, die sich nicht auf eine Überprüfung der Richtigkeit der prôta onomata stützt, nur zu leerem Geschwätz führen kann. Freilich stellt sich unter dieser Voraussetzung die prinzipielle Frage, wieso nur die Richtigkeit der prôta onomata, nicht aber die der hystera onomata direkt von den Buchstaben und Silben abhängig sein sollte, aus denen sich diese Namen zusammensetzen; es schiene viel naheliegender und unter explanatorischen Gesichtspunkten auch viel ökonomischer zu sein, die Richtigkeit aller Namen auf ihren mimetischen Gehalt und damit auf ihre Zusammensetzung aus Buchstaben und Silben zurückzuführen. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich dem Kratylos nicht entnehmen – was allerdings aufgrund der nachgeordneten Bedeutung der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit nicht sonderlich problematisch ist. 47
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Die griechische Sprache im Zeugenstand (II): Platons subversive Diskreditierung der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit (424a–427d)
Sokrates ist deswegen gezwungen, die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit zu entwickeln, weil Hermogenes eine Untersuchung der Richtigkeit der prôta onomata wie rheon, ion und doun einfordert, die mit den Mitteln der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit nicht geleistet werden kann. Nachdem Sokrates die mimetische Theorie in 422c–424a skizziert hat, wendet er sich daher in 424a–427d wieder diesen Namen zu und schickt sich an, zu überprüfen, ob sie tatsächlich Nachahmungen der ousiai sind, zu deren Unterscheidung sie eingesetzt werden. Das Verhältnis zwischen 422c–424a und 424a–427d entspricht in dieser Hinsicht demjenigen zwischen dem Übergang von der Werkzeug-Analogie zur etymologischen Sektion in 391b–394e und der etymologischen Sektion selbst: Während in jener Passage die etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit als eine Hypothese skizziert wird, soll diese Passage ihrem eigenen Anspruch nach den Nachweis erbringen, dass die untersuchten und als richtig vorausgesetzten griechischen Namen tatsächlich im Sinne der etymologisch-deskriptiven Theorie treffende Beschreibungen der ousiai der benannten Gegenstandsarten enkodieren. Wie im vorangehenden Kapitel diskutiert wurde, wäre ein solcher Nachweis auch im Erfolgsfall nicht hinreichend, um die Gültigkeit der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit endgültig zu bestätigen – die untersuchten Namen könnten adäquate Beschreibungen der ousiai der benannten Arten enkodieren, ohne dass ihre Richtigkeit davon abhinge. Sokrates’ etymologische Analysen könnte daher im besten Fall die Plausibilität der etymologisch-deskriptiven Theorie erhöhen. De facto tun sie allerdings auch das nicht, sondern untergraben ihre Glaubwürdigkeit: Denn da viele der Namen, die Sokrates untersucht, Beschreibungen enkodieren, die nur dann adäquat sein können, wenn im Sinne Heraklits alle Dinge beständigem Fluss unterliegen, impliziert die Zurückweisung von Heraklits Flusstheorie, dass viele gebräuchliche griechische Ausdrücke keine richtigen Namen im Sinne der etymologisch-deskriptiven Theorie der natürlichen Richtigkeit sind. Eine ganz ähnliche Bewandtnis hat es mit Sokrates’ Betrachtung der prôta onomata in 424a7–427d2. Auch sie kann aus prinzipiellen Gründen keinen hinreichenden Beleg für die Gültigkeit der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit liefern: Selbst wenn sie die untersuchten prôta onomata als Nachahmungen der ousiai der Gegenstandsarten ausweisen sollten, deren Namen sie sind, könnte man immer noch problemlos bestreiten, dass sich ihre Richtigkeit ihren mimetischen Qualitäten verdankt. Insbesondere aus der Perspektive des Hermogenes, der Sokrates’ »Selbstbetrug« sicherlich nicht durchschaut und daher
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die kontraintuitiven Implikationen der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit übersieht, würde der Nachweis einer Korrelation zwischen der allgemein anerkannten Richtigkeit der betrachteten Namen und ihrem mimetischen Gehalt die Glaubwürdigkeit dieser Theorie freilich dennoch stärken. In der etymologischen Sektion wird schon sehr früh klar, dass Sokrates, indem er die Beschreibungen rekonstruiert, die von den analysierten Namen enkodiert werden, nicht zeigen kann, dass diese Namen die Gültigkeit der etymologischdeskriptiven Theorie bezeugen – dazu müsste man nämlich überprüfen, ob es sich tatsächlich um adäquate Beschreibungen der betreffenden ousiai handelt.49 Da Sokrates sich zu einer solchen Überprüfung nicht imstande sieht, muss er sich, wie er in 400e1–401a6 erklärt, in der etymologischen Sektion mit der Rekonstruktion der doxai der prähistorischen Namensgeber zufriedengeben – auch wenn er keinen Zweifel daran lässt, dass er diese doxai für falsch hält, insoweit sie in einer flusstheoretischen Grundüberzeugung verankert sind. Nachdem nun Sokrates in 425b5f. eingestanden hat, dass er sein in 424a7–425b4 skizziertes ambitiöses Programm zur Überprüfung der Richtigkeit der prôta onomata selbst nicht umzusetzen vermag, bezieht er sich auf genau diese Passage zurück, um das weitere Vorgehen mit Hermogenes abzustimmen: Sollen wir es also lassen, oder willst du, dass wir es versuchen, so gut wir können, auch wenn wir davon nur wenig einzusehen imstande sind, nachdem wir vorher gesagt haben, wie vor kurzer Zeit bei den Göttern, dass wir, ohne etwas von der Wahrheit zu wissen, Vermutungen über die Meinungen der Menschen über sie anstellen – dass wir es so auch jetzt angehen, nachdem wir uns selbst gesagt haben, dass, wenn diese Dinge sachverständig eingeteilt werden sollten, 50 sei es von irgendjemand anderem oder von uns, sie auf diese Weise eingeteilt werden müssten, wir sie aber nun, wie man sagt, nach Vermögen behandeln werden müssen?51
Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels. In 425c4 lesen die Handschriften εἰ μέν τι χρηστὸν ἔδει, was keinen guten Sinn ergibt. Burnet und Méridier lesen mit Ast εἰ μέν τι χρῆν und streichen das ἔδει, während die Editoren des OCT in Anlehnung an Reinhard εἰ μέν τεχνικῶς ἔδει lesen, was angesichts der Parallele zu 425a7 die attraktivere Lesart zu sein scheint. Freilich hängt für das Verständnis von Sokrates’ Ausführungen nicht viel davon ab, welche dieser beiden Emendationen man wählt. 51 425b9–c7: Ἐάσομεν οὖν, ἢ βούλει οὕτως ὅπως ἂν δυνώμεθα, καὶ ἂν σμικρόν τι αὐτῶν οἷοί τ᾽ ὦμεν κατιδεῖν, ἐπιχειρῶμεν, προειπόντες, ὥσπερ ὀλίγον πρότερον τοῖς θεοῖς, ὅτι οὐδὲν εἰδότες τῆς ἀληθείας τὰ τῶν ἀνθρώπων δόγματα περὶ αὐτῶν εἰκάζομεν, οὕτω δὲ καὶ νῦν αὖ εἰπόντες ἡμῖν αὐτοῖς ἴωμεν, ὅτι εἰ μέν τεχνικῶς ἔδει αὐτὰ διελέσθαι εἴτε ἄλλον ὁντινοῦν εἴτε ἡμᾶς, οὕτως ἔδει αὐτὰ διαιρεῖσθαι, νῦν δὲ τὸ λεγόμενον κατὰ δύναμιν δεήσει ἡμᾶς περὶ αὐτῶν πραγματεύεσθαι; 49
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Es ist nicht schwer zu verstehen, worum es Sokrates hier geht: Um lege artis überprüfen zu können, ob ein etymologisch atomarer Ausdruck eine gelungene Nachahmung der ousia einer Art von Gegenständen ist, müsste man eigentlich zunächst, gestützt auf eine entsprechende Taxonomie, den mimetischen Wert aller Buchstaben oder Silben dieses Ausdrucks bestimmen und so seinen mimetischen Gehalt rekonstruieren; dann müsste man die basalen Elemente der Wirklichkeit identifizieren und klären, aus welchen dieser Elemente sich die betreffende ousia zusammensetzt; und erst auf dieser Grundlage könnte man die Frage beantworten, ob zwischen den Buchstaben und Silben, aus denen der Ausdruck aufgebaut ist, und den Wirklichkeitselementen, aus denen die ousia aufgebaut ist, die von der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit verlangte Korrelation besteht. Weil Sokrates aber weder in der Lage ist, eine Taxonomie zu entwickeln, der sich der mimetische Wert aller Buchstaben und Silben entnehmen ließe, noch die stoicheia der Wirklichkeit zu bestimmen vermag, kann er die mimetische Adäquatheit der untersuchten prôta onomata ebenso wenig bestätigen wie die deskriptive Adäquatheit der zuvor analysierten hystera onomata. Sokrates formuliert also, noch bevor er mit seiner Analyse ausgewählter prôta onomata in 426c1–427c6 beginnt, ein sehr wichtiges Caveat: Diese Analyse kann nicht den Nachweis erbringen, dass die diskutierten Namen tatsächlich mimêmata der ousiai der benannten Gegenstandsarten sind. Von Anfang an ist daher klar, dass die Plausibilisierung der mimetischen Theorie, die Sokrates durch seine Untersuchung vorgeblich zu erreichen sucht, auf tönernen Füßen steht. Die Überlegungen, die Sokrates dann in 426c1–427c6 de facto vorträgt, stärken freilich nicht nur nicht die Glaubwürdigkeit dieser Theorie, sondern untergraben sie sogar: Denn aus ihnen folgt, dass die analysierten Namen gelungene Nachahmungen der kundzumachenden ousiai nur unter der Bedingung sein können, dass zu den basalen Elementen der Wirklichkeit Bewegung (426d3–5 und e4–6), das Feingliedrige (426e6f.), das Windige (427a5–7), der Stillstand (427b1f.), das Gleitende oder Schlüpfrige (427b2–5), das Innere (427c1–3), das Große (427c3f.) und das Runde (427c4–6) gehören. Alles, was ist, auf derartige Grundelemente oder -züge der Wirklichkeit zurückzuführen, ergibt aber offenkundig nur dann Sinn, wenn man die Gültigkeit der Herakliteischen Flusstheorie voraussetzen darf. Nimmt man daher an, Sokrates’ Untersuchung lege tatsächlich den mimetischen Gehalt der betrachteten prôta onomata frei, ist die Schlussfolgerung unvermeidlich, dass diese Namen keine Nachahmungen der ousiai der benannten Gegenstandsarten sind: Denn daran, dass die Herakliteische Flusstheorie falsch sein muss, lassen Sokrates’ Überlegungen im letzten Teil des Kratylos keinen Zweifel. Mit der Diskussion der prôta onomata verhält es sich demnach genauso wie mit der ausgedehnten Analyse der hystera onomata in der etymologischen Sek-
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tion: Sie erweckt höchstens bei einer sehr oberflächlichen Lektüre den Eindruck einer Plausibilisierung der zu überprüfenden Theorie der natürlichen Richtigkeit, mindert aber, wie man bei genauerer Betrachtung erkennt, eigentlich ihre Plausibilität erheblich.52 Auf diese Weise sät Platon bei seinen aufmerksamen Lesern in diesen beiden Dialogteilen Zweifel an dem von Sokrates höchst konsequent entfalteten Hypernaturalismus – und stellt so sicher, dass sie sich der Eigendynamik der von Hermogenes’ naiver Namenskonzeption geprägten Untersuchung entziehen und mit der Suche nach einer alternativen Theorie der natürlichen Richtigkeit beginnen können. Bei seiner Inszenierung der Passage 424a7–427d2 folgt Platon demnach einer ähnlich subversiven Strategie der Diskreditierung der These, die Sokrates’ Ausführungen eigentlich stützen sollten, wie bei seiner Gestaltung der etymologischen Sektion. Die Rekonstruktion des mimetischen Gehalts der untersuchten prôta onomata wirft aber auch eine ähnliche Frage auf wie die Freilegung der etymologischen Bedeutung der analysierten hystera onomata: die Frage nämlich, wie ernst man die Ergebnisse zu nehmen hat, zu denen Sokrates bei seiner Rekonstruktion gelangt. Diese Frage stellt sich nicht nur deswegen mit besonderer Dringlichkeit, weil Sokrates’ Ausführungen zum mimetischen Wert der Buchstaben zumindest auf viele moderne Leser wie ein Anfall krudesten sprachmagischen Denkens wirken, sondern vor allem auch deswegen, weil Sokrates diese Ausführungen selbst als »vogelwild und lächerlich« einstuft.53 Es nimmt daher nicht wunder, dass einige Interpreten54 sie für eine reductio ad absurdum der Vorstellung halten, dass zwischen artikulierten Buchstaben und Silben und bestimmten Grundzügen der Wirklichkeit eine Ähnlichkeit besteht und Namen dementsprechend einen mimetischen Gehalt haben. In diesem Fall wäre es Platons übergreifendes Ziel bei der Inszenierung von Sokrates’ Diskussion des mimetischen Werts der Buchstaben, die Grundannahme, auf der die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit beruht, der Lächerlichkeit preiszugeben und so die mimetische Theorie zu diskreditieren. Hier gilt es allerdings, Vorsicht walten zu lassen. Indem Sokrates seinen eigenen Überlegungen Lächerlichkeit attestiert, distanziert er sich zweifellos von den Auch wenn sie nicht zur Aufgabe dieser Theorie zwingt: Denn ein überzeugter Vertreter des HYPERNATURALISMUS könnte bestreiten, dass die untersuchten Namen tatsächlich richtig sind. Vgl. dazu die Überlegungen im ersten Abschnitt des vorangehenden Kapitels. 53 Sedleys Versuch, diese Einstufung unter Verweis auf die angeblich parallele Formulierung in Rep. 473c als Hinweis auf die Neuartigkeit von Sokrates’ Diskussion des mimetischen Werts der Buchstaben zu interpretieren (Sedley (2003), 39, Anm. 26; vgl. 76), ist allein deswegen nicht überzeugend, weil Sokrates an dieser Stelle der Politeia das Gelächter und den Spott anderer auf sich zu ziehen befürchtet, während er im Kratylos seine Ausführungen selbst als lächerlich charakterisiert: Vgl. Ademollo (2011), 215, Anm. 110. 54 So etwa Heitsch (1984), 40–43, Belardi (1985), 39–41, und Trivigno (2012), 63–67. 52
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konkreten Thesen, zu denen ihn seine Betrachtung der einzelnen Buchstaben führt – was angesichts der Tatsache, dass diese Betrachtung eine höchst zweifelhafte Ontologie voraussetzt, nicht weiter überraschend ist. In 425d1–3 distanziert sich Sokrates möglicherweise auch von der Annahme, die Kundmachung einer ousia könne allein durch den mimetischen Gehalt eines Namens geleistet werden55 – was ebenfalls nicht überraschend ist, wenn man in Rechnung stellt, dass Sokrates sich die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit ohnehin nicht zu eigen macht, sondern sie konsequent als alternativlosen letzten Schritt der Konkretisierung des hypernaturalistischen Projekts darstellt. Daraus folgt aber nicht, dass Sokrates es für lächerlich hält, von einer Ähnlichkeit zwischen bestimmten artikulierten Buchstaben und Silben und bestimmten Zügen der Wirklichkeit auszugehen und Namen dementsprechend einen mimetischen Gehalt zuzuschreiben. Wenn Sokrates erklärt, ein artikuliertes rhô sei Bewegungen ähnlich oder ein artikuliertes omikron allem Runden, ist nicht klar, ob er seinen eigenen Ausführungen ironisch-distanziert gegenübersteht, oder ob er sich zumindest prinzipiell vorstellen kann, dass zwischen Buchstaben und sinnlich wahrnehmbaren Charakteristika und Prozessen Ähnlichkeiten bestehen – auch wenn er vielleicht seine konkrete Zuordnung zwischen Buchstaben einerseits und Prozessen und Charakteristika andererseits mit Skepsis betrachten mag. Das, was Sokrates sagt, scheint jedenfalls nicht zu implizieren, dass er es als absurd erachtet, artikulierten Buchstaben und Silben gewisse mimetische Qualitäten zuzusprechen.56 Das bedeutet nicht, dass Sokrates es tatsächlich für möglich hält, ousiai, die seinen Ausführungen in 423c1–424a6 zufolge unsinnlich sein dürften, durch artikulative Leistungen nachzuahmen; und es bedeutet erst recht nicht, dass er es für möglich hält, unabhängig von Konventionen und Festlegungen durch die Artikulation einer Lautfolge eine ousia kundzumachen. Beachtet man diese Einschränkungen, verliert die Annahme, dass Namen dank der Buchstaben und Silben, aus denen sie sich zusammensetzen, einen mimetischen Gehalt aufweisen können, viel von der Absurdität, die ihr auf den ersten Blick anhaftet. Platon ist sich zwar jedenfalls bewusst, dass an den Überlegungen, die er Sokrates in 425b5–427d2
Wenn man Ademollos unorthodoxe Übersetzung von 425d1–3 akzeptiert, könnte auch diese Bemerkung des Sokrates darauf anspielen, dass seine Rekonstruktion des mimetischen Gehalts der untersuchten Namen eine verfehlte Ontologie nahelegt: Ademollo gibt nämlich Sokrates’ Befürchtung – Γελοῖα […] φανεῖσθαι […] γράμμασι καὶ συλλαβαῖς τὰ πράγματα μεμιμημένα κατάδηλα γιγνόμενα – wieder mit »that the objects will appear ridiculous when it becomes manifest that they have been imitated by letters and syllables« (Ademollo (2011), 303 mit Anm. 86). 56 Siehe Ademollo (2011), 313f. 55
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vortragen lässt, vieles »vogelwild und lächerlich« ist; aber ob sich dieses Verdikt auch auf bewusste Annahme bezieht, ist nicht klar.57 Es ist freilich bemerkenswert, dass Platon seine Leser im Hinblick auf diese prima facie wichtig erscheinende Frage – gibt es Ähnlichkeiten zwischen artikulierten Buchstaben und Zügen der Wirklichkeit und damit eine mimetische Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit? – weitgehend im Dunkeln lässt. Aber in dieser Hinsicht gibt es eine weitere instruktive Parallele zwischen Sokrates’ Betrachtung der Buchstaben in 425b5–427d2 und der etymologischen Sektion: Denn auch die etymologische Sektion wirft eine auf den ersten Blick entscheidende Frage auf, ohne sie abschließend zu beantworten – die Frage nämlich, ob die von Sokrates entwickelten etymologischen Analysen tatsächlich die etymologische Bedeutung der analysierten Namen und damit vielleicht sogar die doxai prähistorischer Namensgeber freilegen. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, ist Platons nonchalanter Umgang mit dieser Frage wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sie den philosophischen Kern des Kratylos nicht berührt. Sein ebenso nonchalanter Umgang mit der Frage, ob artikulierte Buchstaben und Silben mimetische Qualitäten aufweisen, lässt sich möglicherweise ähnlich erklären: Denn wenn Platon seinen Lesern vor Augen führen will, wie unplausibel die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit sogar dann ist, wenn man voraussetzt, dass stimmliche Nachahmungen von ousiai möglich sind, spielt es für sein Projekt keine große Rolle, ob bestimmte Buchstaben und Silben bestimmten Zügen der Wirklichkeit tatsächlich ähnlich sind oder nicht. Dass Platon seine Leser im Unklaren darüber lässt, ob solche Ähnlichkeiten bestehen, könnte demnach darauf zurückzuführen sein, dass es ihm gerade nicht, wie Bernard Williams pointiert formuliert, darum zu tun ist, die Annahme mimetischer Beziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit als einen Fall magischen Denkens zu diskreditieren, 58 sondern darum, die sprachphilosophische IrreleTatsächlich vertritt ein so brillanter Denker wie Leibniz eine ganz ähnliche These: In seinen Nouveaux Essais (Buch III, Kapitel 2, § 1) versucht Leibniz, zu zeigen, dass »es etwas Natürliches im Ursprung der Worte gibt, durch welches ein Zusammenhang zwischen den Dingen und den Lauten und den Bewegungen der Stimmorgane bezeichnet wird«. Um diese These zu belegen, beruft er sich unter anderem auf die Beobachtungen, dass »die alten Germanen, Kelten und andere mit ihnen verwandte Völker durch einen natürlichen Instinkt den Buchstaben R dazu benutzten, um eine heftige Bewegung und ein dem Lautwert dieses Buchstabens ähnliches Geräusch zu bezeichnen«, und dass »der Buchstabe L eine sanftere« Bewegung bezeichne als der Buchstabe R. Leibniz’ Ausführungen zu den einzelnen Lauten, die ohne Weiteres auch Teil des Kratylos sein könnten, sollten demjenigen eine Warnung sein, der die Annahme einer Ähnlichkeit zwischen bestimmten Zügen der Wirklichkeit und bestimmten artikulierten Buchstaben für zu lächerlich hält, als dass man sie einem großen Philosophen zuschreiben könnte. 58 So behauptet Williams (1982), 92, in seinem Fazit im Hinblick auf den Kratylos: »This brilliant, tough-minded and still underestimated dialogue does not only show that the idea of language’s having mimetic powers could not explain what language is; it leaves the belief in such 57
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vanz dieser Annahme aufzuzeigen. Man könnte also durchaus einräumen, dass Namen mitunter den Gegenständen, die sie benennen, in bestimmten Hinsichten ähnlich sind; man darf nur nicht den Fehler machen, ihre Richtigkeit auf ihre mimetischen Qualitäten zurückzuführen.59 Insgesamt besteht demnach eine bemerkenswerte Kontinuität zwischen der etymologischen Sektion und der Untersuchung der prôta onomata, die Sokrates in 424a7–427d2 anstellt: Das offizielle Ziel ist in beiden Fällen die Plausibilisierung des Hypernaturalismus durch den Nachweis, dass allgemein als richtig anerkannte griechische Namen in ihrer etymologischen Bedeutung beziehungsweise ihrem mimetischen Gehalt den ousiai der jeweils benannten Gegenstandsarten entsprechen. In beiden Fällen führt Platon aber de facto durch seine subversive Inszenierung aufmerksamen Lesern vor Auge, wie unplausibel der Hypernaturalismus ist: Denn Sokrates’ Analysen würden, wenn man sie für bare Münze nimmt, zeigen, dass das behauptete Entsprechungsverhältnis in vielen Fällen gerade nicht besteht. Mit der Frage nach der Adäquatheit dieser Analysen geht schließlich Platon in beiden Fällen spielerisch um – was er deswegen tun kann, weil diese Frage für die zentralen philosophischen Anliegen des Kratylos von untergeordnetem Interesse ist.
Die ausbuchstabierte Wirklichkeit (424c–425b)
Die bisherigen Überlegungen haben die Frage offengelassen, welche Funktion die Skizze des ehrgeizigen taxonomischen Programms in 424c5–425b4 erfüllt, die Sokrates seiner Untersuchung der einzelnen Buchstaben voranstellt. Da Sokrates sofort erklärt, dieses Programm nicht selbst umsetzen zu können, geht es ihm zum einen sicherlich darum, seinem konkreten Vorgehen ein bestimmtes methodologisches Ideal entgegenzustellen. Es ist aber auffällig, dass Sokrates zunächst nur darüber spricht, wie man Namen idealerweise bilden sollte, statt darauf einzugehen, wie man bereits gebildete und eingeführte Namen auf ihre Richtigkeit hin untersuchen sollte: Müssen wir also nicht auch ebenso zuerst die Vokale unterscheiden, dann von den anderen, [ihren] Arten gemäß, die stimmlosen und tonlosen – denn so drücken sich wohl die Experten in diesen Dingen aus – und dann diejenigen, die zwar powers looking like what it is, a belief in magic.« Der erste Teil dieser Behauptung liegt ganz auf der Linie der hier entwickelten Interpretation, aber ihr zweiter Teil lässt sich am Text des Kratylos nicht bestätigen. 59 Wie Ademollo (2011), 415, zurecht festhält, vermeidet Sokrates selbst an späterer Stelle genau diesen Fehler: S. u., 499 Anm. 28.
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keine Vokale sind, aber auch nicht tonlos? Und auch von den Vokalen selbst, wie viele voneinander verschiedene Arten sie haben? Und wenn wir diese eingeteilt haben, [müssen wir] wiederum all die Seienden gut [einteilen], denen Namen beigelegt werden sollen, wenn es welche gibt, auf die alle zurückgeführt werden, wie die Buchstaben, im Ausgang von denen es sowohl möglich ist, sie zu sehen, als auch [zu sehen], ob es bei ihnen Arten gibt auf dieselbe Weise wie bei den Buchstaben.60 Haben wir nun all dies gut untersucht, [müssen] wir es verstehen, jedes der Ähnlichkeit gemäß anzubringen [.]61
Sokrates erklärt im Anschluss noch ausführlich, wie man auf dieser Grundlage Namen aus Buchstaben und Silben zusammensetzen sollte, bevor er sich schließlich auf seine eigentliche Aufgabe besinnt: Vielmehr: Nicht wir – ich bin abgeschweift beim Sprechen. Denn zusammengesetzt haben es die Alten so, wie es jetzt zusammengesetzt ist; wir aber müssen, wenn wir fähig sein wollen, dies alles sachkundig zu untersuchen, es auf diese
Im ersten Teil dieses extrem schwierigen Satzes lesen die Handschriften αὖθις statt, wie von Badham vorgeschlagen und von Burnet, Méridier und den Editoren des OCT akzeptiert, αὖ οἷς. Wenn man mit Stewart (1975) an dieser Stelle die Lesart der Handschriften beibehält, muss man annehmen, dass Sokrates bereits in 424d1f. beginnt, die Zuteilung der Namen zu beschreiben, was nicht zum Aufbau der gesamten Passage 424c6–d5 passt, die im ersten Schritt die Einteilung der Buchstaben beschreibt, im zweiten Schritt die Einteilung der Seienden, im dritten Schritt die Zuordnung von Buchstaben und Silben zu Seienden und im vierten Schritt die Bildung von Namen (vgl. Ademollo (2011), 286). τὰ ὄντα εὖ πάντα αὖ ist, wie Stewart (1975), 169f., zurecht bemerkt, eine stilistisch wie grammatikalisch fragwürdige Wortfolge; verschiedene Verbesserungen sind vorgeschlagen worden, die allerdings den Sinn nicht grundlegend verändern und hier daher nicht diskutiert werden sollen. Im zweiten Teil des Satzes ist unklar, ob sich ἐξ ὧν auf τὰ στοιχεῖα oder auf εἰς ἃ bezieht – auch die Übersetzung lässt diese Frage offen. Ademollo (ebd.) argumentiert in Anlehnung an Barney (2001), 94 mit Anm. 15, überzeugend für die These, dass es sich auf τὰ στοιχεῖα bezieht und Sokrates hier dementsprechend erklärt, dass sich im Ausgang von oder in Entsprechung zu der Einteilung der Buchstaben auch die Einteilung der Seienden bewerkstelligen lässt. Diese Interpretation hat den zusätzlichen Vorteil, dass sie es erlaubt, das αὐτά in 424d3 als Wiederaufnahme des εἰς ἅ in 424d2 zu verstehen. Vgl. dazu auch Anm. 69. Wie dieser wahrscheinlich komplizierteste Halbsatz des Kratylos inhaltlich zu interpretieren ist, wird noch zu diskutieren sein. 61 424c6–d5: Ἆρ᾽ οὖν καὶ ἡμᾶς οὕτω δεῖ πρῶτον μὲν τὰ φωνήεντα διελέσθαι, ἔπειτα τῶν ἑτέρων κατὰ εἴδη τά τε ἄφωνα καὶ ἄφθογγα – οὑτωσὶ γάρ που λέγουσιν οἱ δεινοὶ περὶ τούτων – καὶ τὰ αὖ φωνήεντα μὲν οὔ, οὐ μέντοι γε ἄφθογγα; καὶ αὐτῶν τῶν φωνηέντων ὅσα διάφορα εἴδη ἔχει ἀλλήλων; καὶ ἐπειδὰν ταῦτα διελώμεθα τὰ ὄντα εὖ πάντα αὖ οἷς δεῖ ὀνόματα ἐπιθεῖναι, εἰ ἔστιν εἰς ἃ ἀναφέρεται πάντα ὥσπερ τὰ στοιχεῖα, ἐξ ὧν ἔστιν ἰδεῖν αὐτά τε καὶ εἰ ἐν αὐτοῖς ἔνεστιν εἴδη κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον ὥσπερ ἐν τοῖς στοιχείοις· ταῦτα πάντα καλῶς διαθεασαμένους ἐπίστασθαι ἐπιφέρειν ἕκαστον κατὰ τὴν ὁμοιότητα [.] 60
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Weise einteilen und auf diese Weise sehen, ob die ersten Namen und die letzten ordnungsgemäß beigelegt sind oder nicht.62
Indem Platon Sokrates seine Abschweifung so explizit korrigieren lässt, lenkt er die Aufmerksamkeit seiner Leser offenkundig bewusst darauf, dass Sokrates zuvor die Perspektive des Namensgebers eingenommen hat. Aber wieso sollte Platon Wert darauf legen, Sokrates an dieser Stelle so demonstrativ wie systematisch auf die Anforderungen eingehen zu lassen, die bei der Einführung von Namen der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit zufolge zu erfüllen sind, nur um ihn dann auf seine eigentliche Aufgabe zurückkommen zu lassen? Einer klassischen Antwort auf diese Frage zufolge geht es Platon an dieser Stelle darum, den Unterschied zu betonen zwischen einer idealen Sprache, die den von Sokrates in 424c5–425a5 beschriebenen Prinzipien gehorchen würde, und der von Sokrates tatsächlich untersuchten griechischen Sprache, die möglicherweise nicht diesen Prinzipen gehorcht: Eine ideale Sprache wäre demnach eine Sprache, deren Namen von einem kompetenten Namenschöpfer auf der Grundlage geeigneter Taxonomien als Nachahmungen der zu unterscheidenden ousiai gebildet wurden; und die Tatsache, dass die griechische Sprache diesem Ideal vielleicht nicht entspricht, würde es als das Ideal einer ganz und gar nach Maßgabe der natürlichen Richtigkeit konstruierten Sprache nicht beschädigen.63 Nachdem die in diesem Kapitel bisher angestellten Überlegungen gezeigt haben, dass die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit sich bei einem 425a5–b3: Mᾶλλον δὲ οὐχ ἡμεῖς, ἀλλὰ λέγων ἐξηνέχθην. συνέθεσαν μὲν γὰρ οὕτως ᾗπερ σύγκειται οἱ παλαιοί: ἡμᾶς δὲ δεῖ, εἴπερ τεχνικῶς ἐπιστησόμεθα σκοπεῖσθαι αὐτὰ πάντα, οὕτω διελομένους, εἴτε κατὰ τρόπον τά τε πρῶτα ὀνόματα κεῖται καὶ τὰ ὕστερα εἴτε μή, οὕτω θεᾶσθαι [.] 63 Eine besonders klare Formulierung dieser Deutung findet sich bei Barney (2001), 97, die über Sokrates’ Eingeständnis, er sei abgeschweift, sagt: »Socrates’ confession of being ‘carried away’ is a pivotal moment of the Cratylus, for here the procedure – or pretense – of investigating Greek drops. It will soon be resumed, but, especially at this crucial moment, Socrates’ lapse into the prospective makes it clear that the correctness of Greek was always an inessential heuristic presumption, used to help him respond to Hermogenes’ challenge to show what natural correctness consists in (391a). What Socrates is really interested in, as he is ‘carried away’ into admitting, is what we must do if we set out to name correctly.« Ähnlich Benfey (1866), 286f.; Crombie (1963), 481; Weingartner (1970), 20f., bzw. (1973), 35f.; Anagnostopoulos (1973/74), 331f. und passim; Baxter (1992), 80–85. Ademollo (2011), 300, geht zwar davon aus, dass Sokrates die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit selbst nicht für richtig hält, scheint 424c5–425a5 aber dennoch für die Skizze einer idealen philosophischen Sprache zu halten: »The project sketched in our passage admits of a more modest interpretation, as a sketch of how names would best be made for philosophical purposes. So understood, the passage does not aim at offering a strictly naturalist account of correctness, and does not challenge the ordinary names’ claims on reference to things.« Ademollo geht aber nicht auf die naheliegende Frage ein, welchen substantiellen Vorteil solche Namen hätten, was die Attraktivität seiner Interpretation deutlich mindert. 62
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kritischen Abgleich mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit als extrem unplausibel erweist und von Platon dementsprechend auf subversive Art und Weise diskreditiert wird, kann man Sokrates’ Ausführungen allerdings kaum im Sinne dieser klassischen Antwort als ernstzunehmendes Programm für eine mimetische Idealsprache lesen. Zumal auch ihre scharfsinnigsten Verteidiger sich sehr schwer tun mit der Beantwortung der Frage, welchen substantiellen Vorteil eine Sprache hätte, deren Vokabular nur aus Namen besteht, die im Sinne der mimetischen Theorie natürlicherweise richtig sind: Auf den ersten Blick mag es zwar naheliegend sein, auf diese Frage zu antworten, dass eine solche Sprache hochgradig informativ wäre – schließlich würde jeder Name dieser Sprache als eine Nachahmung Aufschluss über die ousia geben, die das Einheitsprinzip derjenigen Gegenstandsart ist, für die er verwendet wird. Das Problem ist aber, dass nur derjenige Zugriff auf die in einem Namen gespeicherte Information hätte, der bereits wüsste, welches die basalen Wirklichkeitselemente sind, über die Sokrates in 425c9–d4 spricht, und welche Buchstaben oder Silben diesen Wirklichkeitselementen nach Maßgabe der Ähnlichkeit zugeordnet sind; und da die relevanten Ähnlichkeitsbeziehungen Sokrates’ Ausführungen zufolge keineswegs offen zutage liegen, wäre eine Sprache, die auf einer konventionell geregelten Zuordnung von Buchstaben und Silben zu basalen Wirklichkeitselementen beruht,64 offenbar genauso informativ wie die von Sokrates beschriebene Sprache, die auf einer Zuordnung nach Maßgabe der Ähnlichkeit beruht. Anders verhielte es sich nur dann, wenn der mimetische Gehalt eines jeden Namens sich ohne große Mühe erkennen ließe65 – aber davon kann, wenn man von Sokrates’ Überlegungen zu diesem Thema ausgeht, keine Rede sein.66
Eine solche Sprache, die der chemischen Fachsprache ähneln würde, hätte zweifellos gewisse Vorteile. Barney (2001), 102, unterstellt Platon daher eine Orientierung am Ziel einer in diesem Sinne »strukturell korrekten Sprache« (»structurally correct language«). Zu beachten ist aber, dass strukturelle Korrektheit trotz ihrer Vorteile nichts mit dem in der Werkzeug-Analogie beschriebenen Standard der natürlichen Richtigkeit zu tun haben kann, wenn nicht unplausiblerweise vorausgesetzt wird, dass sich nur mit den Namen einer strukturell korrekten Sprache die Handlung des Nennens überhaupt vollziehen lässt. 65 Selbst wenn diese Forderung erfüllt wäre, müsste auch garantiert sein, dass alle Namen perfekte Nachahmungen der zu unterscheidenden ousiai sind – denn ansonsten liefe man Gefahr, sich durch die in den Namen enkodierten Fehlinformationen oder Ungenauigkeiten irreführen zu lassen. Vgl. dazu Barney (2001), 105f. 66 Ähnlich argumentiert auch Williams (1982), 92: »As a recipe for linguistic improvement, again, the mimetic principle has nothing to offer. The functions of language, and the purposes for which it might be improved, are to teach, learn, inform, divide up reality. The knowledge required for that can appear in language only if someone possesses it already; and while there might be a point in making that knowledge appear structurally, and thus improving language dialectically, there can be no such point to altering it in the direction of Cratylan mimêsis.« 64
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Es ist unklar, welchen anderen substantiellen Vorteil die Ausrichtung einer Sprache am Standard mimetischer Adäquatheit hätte – man hätte es daher mit einer Idealsprache zu tun, die weniger idealen Sprachen in keiner relevanten Hinsicht überlegen ist. Was Sokrates in 424c5–425a5 skizziert, ist demnach ein Pseudo-Ideal, das bei einer aufmerksamen Auseinandersetzung mit seinen Ausführungen auch leicht als solches entlarvt werden kann. Platon lässt ihn hier keine Idealsprache nach eigenem Gusto entwerfen, sondern nur die Konkretisierung des Hypernaturalismus mit äußerster Konsequenz zu Ende führen67 – und zeigt so, welche Implikationen die Konklusion der Werkzeug-Analogie dann hat, wenn man mit Hermogenes annimmt, dass Namen und Lautfolgen zu identifizieren sind. Aber indem Platon Sokrates erklären lässt, wie ein Namensgeber idealerweise vorzugehen hat, wenn man die Gültigkeit der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit voraussetzt, verfolgt er noch ein weiteres Ziel. Sokrates’ Ausführungen vermitteln nämlich ganz unabhängig davon, ob man die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit akzeptiert oder nicht, einen Eindruck von der Herausforderung, vor der ein Nomothet steht, wenn er eine vollständige und durchgängig an der Norm der natürlichen Richtigkeit orientierte Sprache schaffen will – ein sprachliches Instrumentarium also, das die gesamte Wirklichkeit erschließt: Ein solcher Nomothet muss demnach im Hinblick auf den Aufbau der Wirklichkeit aus bestimmten basalen Elementen oder Aspekten zu einer richtigen Einschätzung gelangen, um ein System von Namen einführen zu können, das diesen Aufbau der Wirklichkeit widerspiegelt. Der springende Punkt ist nun, dass er dies offenkundig auch dann leisten muss, wenn es für den Erfolg seiner Tätigkeit nicht darauf ankommt, natürliche Korrelationen zwischen Buchstaben oder Silben und basalen Wirklichkeitselementen zu entdecken und für die Bildung von Namen nutzbar zu machen. Indem Platon Sokrates eine in dieser Hinsicht treffende Charakterisierung der Aufgabe des Nomotheten in den Mund legt, liefert er aufmerksamen Lesern, die bereits an der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit zweifeln und auf der Suche nach Alternativen sind, einen Ansatzpunkt für die Ausarbeitung einer geeigneten Alternative. Eine ganz ähnliche Strategie verfolgt Platon, wie das achte Kapitel dieser Studie gezeigt hat, bereits bei seiner Inszenierung des Übergangs von der Werkzeug-Analogie zur etymologischen Sektion in 391b–394e: Nimmt man Sokrates’ Ausführungen in dieser Passage für bare Münze, ist es für den Erfolg des Namensgebers entscheidend, dass er Namen als verkürzte Beschreibungen Auch Barney (2001), 109f., kommt zu dem Schluss, dass es letztlich explanatorische Zwänge sind, die dem von Sokrates’ skizzierte Programm für eine ideale Sprache seine Gestalt verleihen; nur geht sie davon aus, dass diese explanatorischen Zwänge sich aus der Natur der Sache ergeben und nicht aus einer verfehlten Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen. 67
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von ousiai bildet; bei genauerer Betrachtung ist aber nicht zu übersehen, dass die eigentliche Herausforderung für einen Nomotheten darin liegt, richtig einzuschätzen, welche Gruppierungen von Gegenständen durch eine gemeinsame ousia zusammengehalten werden und somit eine echte Art oder Gattung bilden. Die Gestaltung der Passage 424c5–425b4 folgt demselben Muster: Nimmt man Sokrates beim Wort, steht im Zentrum der Tätigkeit des Namensgebers die Aufgabe, Namen nach Maßgabe der Ähnlichkeit zwischen Buchstaben oder Silben und basalen Wirklichkeitselementen zu bilden. Für einen aufmerksamen Leser ist freilich gut zu erkennen, dass Namen, die nach diesem Prinzip gebildet sind, keinen substantiellen Vorteil böten, und dass es allein die Eigendynamik des hypernaturalistischen Projekts ist, die Sokrates zu der Beschreibung einer im Sinne der mimetischen Theorie der natürlichen Richtigkeit vollkommen adäquaten Sprache nötigt. Für einen solchen Leser rückt daher automatisch der zunächst weniger wichtig erscheinende Teil von Sokrates’ Beschreibung der Aufgabe des Namensgebers in den Fokus, nämlich der syntaktisch abenteuerliche Satz 424d1– 5: »Und wenn wir diese eingeteilt haben, [müssen wir] wiederum all die Seienden gut [einteilen], denen Namen beigelegt werden sollen – ob es welche gibt, auf die alle zurückgeführt werden, wie die Buchstaben, im Ausgang von denen es sowohl möglich ist, sie zu sehen, als auch [zu sehen], ob es bei ihnen Arten gibt auf dieselbe Weise wie bei den Buchstaben.« Auf diese Weise deutet Platon an, dass ein idealer Namensgeber sich dadurch auszeichnet, dass er die basalen Wirklichkeitselemente oder -aspekte zu identifizieren vermag, nicht aber dadurch, dass er ihnen ähnliche Buchstaben und Silben zuzuordnen weiß. Was diesen Eindruck noch verstärkt, ist die Tatsache, dass Sokrates’ anschließende Betrachtung einzelner Buchstaben in 426c1–427c6 die Frage provoziert, ob zu den basalen Elementen der Wirklichkeit tatsächlich das Feingliedrige, das Windige und das Gleitende oder Schlüpfrige gehören – und so wiederum die Identifikation dieser Elemente als wesentlichen Aspekt der Tätigkeit des Namensgebers in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, die Wahl bestimmter Buchstabenkombinationen als Namen für diese Elemente hingegen als Nebensache erscheinen lässt. Wie schon in 391b–394e wird also auch in der Passage 424c5–425b4 auf indirektem Weg ein Bild von der Aufgabe eines Nomotheten vermittelt, das weit eher dem Moderaten Naturalismus als dem Hypernaturalismus entspricht. Um die philosophische Pointe von Sokrates’ Programm für eine Idealsprache noch schärfer zu fassen, empfiehlt es sich, etwas genauer auf die Prozedur einzugehen, die er in 424d1–5 beschreibt. Unglücklicherweise ist seine Formulierung so verwickelt und mehrdeutig, dass es kaum möglich sein dürfte, zu einer vollkommen befriedigenden Deutung zu kommen. Das von Sokrates beschriebene Einteilungsverfahren setzt aber jedenfalls voraus, dass sich alle Seienden in derselben
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Weise auf bestimmte basale Konstituenten ›zurückführen‹ lassen wie die Namen auf die Buchstaben – das zeigt zumindest seine konditionale68 Formulierung ei estin eis ha anapheretai panta hôsper ta stoicheia in 424d2f. an.69 Es wäre nun zu erwarten, dass ein Namensgeber, wenn er richtige Namen im Sinne der mimetischen Theorie für alle Seienden einführen soll, diese basalen Konstituenten identifizieren und klassifizieren muss, um sie so in ein Verhältnis zu den bereits klassifizierten Buchstaben zu setzen. Und genau das sagt Sokrates in seinem anschließenden Relativsatz auch: Im Ausgang von der Parallele mit den Buchstaben70 sei es »sowohl möglich […], sie« – also die basalen Wirklichkeitselemente – »zu sehen, als auch [zu sehen], ob es bei ihnen Arten gibt auf dieselbe Weise wie bei den Buchstaben«. Was der ideale Namensgeber demnach auch dann zu leisten hat, wenn man nicht die mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit voraussetzt, ist nichts weniger als die Aufdeckung und systematische Durchdringung eines Alphabets der Wirklichkeit, auf das sich alles, was ist, ›zurückführen‹ lässt.
68 Dass die Existenz solcher basaler Konstituenten eine Voraussetzung für den Erfolg des beschriebenen Einteilungsverfahrens ist, gilt auch dann, wenn man εἰ ἔστιν εἰς ἃ ἀναφέρεται πάντα ὥσπερ τὰ στοιχεῖα mit Sedley (2003), 128, als indirekten Fragesatz auffasst – denn wenn es solche basalen Konstituenten nicht gäbe, wäre unklar, was der ideale Namensgeber in Entsprechung zu den Buchstaben einteilen soll. 69 So wird diese Formulierung auch von Kahn (1973), 166, Anm. 19, Stewart (1975), 171, Dalimier und Reeve verstanden. Für eine andere Interpretation machen sich Sedley (2003), 128, und Ademollo (2011), 287 stark: Dieser Interpretation zufolge hängt ὥσπερ τὰ στοιχεῖα von ἀναφέρεται πάντα ab und nicht von εἰς ἃ ἀναφέρεται – vorauszusetzen wäre demnach, dass es bestimmte sehr allgemeine Gattungen gibt, in die sich die basalen Wirklichkeitselemente einordnen lassen wie die Buchstaben beispielsweise in die Gattung der Vokale. Was diese Deutung sehr problematisch macht, ist die Tatsache, dass sich πάντα auf alle Seienden und nicht nur auf die basalen Wirklichkeitselemente bezieht. Sedleys und Ademollos Interpretation zufolge würde Sokrates daher hier nicht über die Klassifikation der basalen Wirklichkeitselemente, sondern über die Klassifikation aller Seienden sprechen – was die Analogie zwischen Namen und Seienden sowie Buchstaben und basalen Wirklichkeitselementen sprengen würde. (Es ist freilich zuzugeben, dass Sokrates’ Formulierung in 424d1f. darauf hinzudeuten scheint, dass es ihm um eine Klassifikation aller Seienden geht. Aber sollte diese Formulierung tatsächlich zeigen, dass Sokrates nicht eine Klassifikation basaler Wirklichkeitselemente beschreibt, wäre eine konsistente Interpretation des gesamten Satzes sowieso unmöglich – denn dann würde Sokrates seine eigene Analogie zwischen Namen und Seienden sowie Buchstaben und basalen Wirklichkeitselementen sprengen. Die Formulierung in 424d1f. ist daher ein Problem für jede Deutung des Satzes, die diese Analogie nicht preisgeben will.) Gegen Ademollos und Sedleys Interpretation spricht weiterhin, dass das Verb ἀναφέρω sonst nur an einer einzigen Stelle im Kratylos – nämlich in 422b4 – auftaucht und dort eindeutig die Tätigkeit der Auflösung eines Namens in seine (in diesem Fall etymologischen) Bestandteile, keineswegs aber die der Einordnung einer Entität in eine Art oder Gattung bezeichnet. Es ist daher plausibel, dass ὥσπερ τὰ στοιχεῖα in 424d3 einen Vergleich mit der Dekomposition von Namen in Buchstaben anzeigt. 70 Vgl. zu diesem Verständnis von ἐξ ὧν Anm. 60.
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Wie von einigen Kommentatoren des Kratylos bemerkt wurde,71 ist die Beherrschung des Alphabets der Wirklichkeit die für einen vollendeten Dialektiker charakteristische Kompetenz. Das systematische Wissen um die konstitutiven Momente eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs oder sogar der gesamten Wirklichkeit wird auch in anderen Dialogen72 parallelisiert mit dem systematischen Wissen des Grammatikers, der nicht nur die einzelnen Buchstaben kennt, sondern sie eben auch zu klassifizieren weiß und daher einschätzen kann, welchen Beitrag sie zu den Silben leisten, in denen sie vorkommen. Besonders klar artikuliert wird dieser Gedanke vom Eleatischen Fremden im Sophistes.73 Nachdem er in 251a–252e gezeigt hat, dass eine selektive Vermischung oder Verknüpfung zwischen einzelnen genê und eidê wie etwa der Bewegung, dem Stillstand und dem Seienden möglich sein muss, vergleicht der Fremde in 252e–254b die Kompetenz des Dialektikers mit der Kompetenz des Grammatikers: Wie dieser wisse, welche Buchstaben sich mit welchen anderen zu Silben verbinden lassen und welche nicht, wisse jener, welche Gattungen oder Arten sich mit welchen anderen verknüpfen oder verbinden lassen und welche nicht. Den Dialektiker zeichnet es demnach aus, dass er sich darauf versteht, »der Gattung nach zu unterscheiden, inwiefern die einzelnen [Arten] in Gemeinschaft treten können und inwiefern nicht«74, und dass er sicher genug im Umgang mit diesen Arten ist, um »weder dieselbe Art für eine andere zu halten, noch, wenn sie eine andere ist, für dieselbe«75. Sokrates’ Auskunft, der ideale Namensgeber müsse sowohl fähig sein, die basalen Wirklichkeitselemente »zu sehen, als auch [zu sehen], ob es bei ihnen Arten gibt auf dieselbe Weise wie bei den Buchstaben«, ist freilich in ihrer lakonischen Kürze viel undurchsichtiger als die vergleichsweise ausführlichen Einlassungen des Eleatischen Fremden. Auch sagt Sokrates nicht explizit, dass die Einteilung der basalen Wirklichkeitselemente nach Arten etwas damit zu tun hat, wie diese Arten sich verknüpfen oder verbinden lassen. Aber da zumindest die Klassifikation der Buchstaben seiner Vorbemerkung in 424b8–c476 zufolge Siehe etwa Barney (2001), 94, und Ademollo (2011), 285 und 289f. Siehe insbesondere Tht. 201d–206b, Soph. 252e–254b, Pol. 277e–278e und Phil. 17a–18e. Eine sehr erhellende Diskussion dieses Vergleichs auf höchstem philosophischen Niveau bietet Ryle (1960). 73 Die Parallele, die in dieser Hinsicht zwischen dem Kratylos und dem Sophistes besteht, betont auch Ademollo (2011), 289f. 74 Siehe 253e1f.: Tοῦτο δ᾽ἔστιν, ᾗ τε κοινωνεῖν ἕκαστα δύναται καὶ ὅπῃ μή, διακρίνειν κατὰ γένος ἐπίστασθαι. 75 Siehe 253d1–3: Tὸ κατὰ γένη διαιρεῖσθαι καὶ μήτε ταὐτὸν εἶδος ἕτερον ἡγήσασθαι μήτε ἕτερον ὂν ταὐτὸν μῶν οὐ τῆς διαλεκτικῆς φήσομεν ἐπιστήμης εἶναι; 76 Hier vergleicht Sokrates die Untersuchung des Beitrags, den Buchstaben zum mimetischen Gehalt von Silben und ganzen Namen leisten, mit der Untersuchung ihres Einflusses auf die rhythmischen Eigenschaften von Silben und Namen: Ἆρα οὐκ ἐπείπερ συλλαβαῖς τε καὶ 71
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die Frage beantworten soll, wie Buchstaben zu den Eigenschaften der Silben beitragen, zu denen sie gehören, ist die Vermutung sehr naheliegend, dass auch die Klassifikation der basalen Wirklichkeitselemente an einer entsprechenden kombinatorischen Frage orientiert ist – ganz so, wie der Eleatische Fremde es im Sophistes erklärt. Wer das Alphabet der Wirklichkeit beherrscht, vermag also nicht nur nur die basalen Wirklichkeitselemente sicher zu identifizieren und auseinanderzuhalten,77 sondern weiß sie auch im Hinblick auf ihr kombinatorisches Potenzial kat’ eidê zu unterscheiden.78 Zugegebenermaßen ist die Rede von basalen Wirklichkeitselementen, auf die sich alles, was ist, ›zurückführen‹ lässt, reichlich abstrakt – auch wenn angesichts der Parallele mit dem Sophistes die Annahme plausibel ist, dass sich das Alphabet der Wirklichkeit zusammensetzt aus Gattungen, zu denen auch die fünf megista genê gehören dürften.79 Insbesondere erläutert Sokrates nicht, was man sich unter der ›Zurückführung‹ all dessen, was ist, auf die basalen Wirklichkeitselemente vorzustellen hat – welche Operation also der Auflösung eines Namens in die Buchstaben, aus denen er sich zusammensetzt, entspricht. Umgekehrt hält sich der eleatische Fremde im Sophistes sehr bedeckt im Hinblick auf die korrespondierende Frage, was man sich unter der Verbindung oder Zusammenfügung von Wirklichkeitselementen zu einer ›Silbe‹ vorzustellen hat.80 Aber nicht zuletzt γράμμασιν ἡ μίμησις τυγχάνει οὖσα τῆς οὐσίας, ὀρθότατόν ἐστι διελέσθαι τὰ στοιχεῖα πρῶτον, ὥσπερ οἱ ἐπιχειροῦντες τοῖς ῥυθμοῖς τῶν στοιχείων πρῶτον τὰς δυνάμεις διείλοντο, ἔπειτα τῶν συλλαβῶν, καὶ οὕτως ἤδη ἔρχονται ἐπὶ τοὺς ῥυθμοὺς σκεψόμενοι, πρότερον δ᾽ οὔ; Im Mittelpunkt des Interesses steht also eindeutig die Frage, welche Rolle ein Buchstabe in Kombinationen mit anderen Buchstaben spielt. 77 Was, wie insbesondere Pol. 278c8–d6 zeigt, eine extrem voraussetzungsreiche Kompetenz ist. 78 Diese beiden Kompetenzen sind möglicherweise gar nicht voneinander zu trennen: Zumindest im Fall der Buchstaben scheint es sich nämlich so zu verhalten, dass einzig und allein der Beitrag, den er zu Silben leistet, einen Buchstaben definiert und von anderen Buchstaben abgrenzt (vgl. dazu Ryle (1960), 435f.). Das aber bedeutet, dass man die Buchstaben erst dann sicher identifizieren und auseinanderhalten kann, wenn man sie auch im Hinblick auf ihr kombinatorisches Potenzial in Arten einzuteilen weiß. Ließe sich dies auf den Fall der basalen Wirklichkeitselemente übertragen, müssten die Identifikation dieser Elemente und ihre Klassifikation Hand in Hand gehen. Eine Interpretation von Sokrates’ Beschreibung des dihairetischen Verfahrens zu Beginn des Philebos, die diese Vermutung stützt, entwickelt Menn (1998). 79 Wie Ademollo (2011), 289f., zurecht bemerkt, scheinen freilich zumindest einige der megista genê eine Sonderrolle zu spielen, die denen der Vokale ähnelt – ohne sie scheint die Verbindung der anderen Gattungen nicht möglich zu sein. Diese Komplikation spielt für Sokrates’ Überlegungen im Kratylos freilich keine Rolle. 80 Eine Gemeinschaft (koinônia) zwischen zwei Gattungen besteht jedenfalls dann, wenn die eine an der anderen teilhat. Aber ob Sokrates nur an koinônia in diesem Sinne denkt, wenn er von der wechselseitigen Kombinierbarkeit mancher Gattungen spricht, ist ebenso unklar wie das Verhältnis zwischen der Relation der koinônia und den Relationen zwischen Ideen, die im dihai-
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aufgrund einer weiteren Parallele mit dem Theaitetos81 ist es zumindest eine naheliegende Vermutung, dass jemand, der ein Seiendes auf bestimmte Wirklichkeitselemente zurückführt, es beziehungsweise seine ousia82 auf diese Weise definiert. Seine sichere Beherrschung des Alphabets der Wirklichkeit würde es einem vollendeten Dialektiker demnach ermöglichen, auf systematische Art und Weise diejenigen Fragen zu beantworten, deren kompetente Untersuchung in vielen Platonischen Dialogen als die dialektische Tätigkeit schlechthin betrachtet wird – ti esti-Fragen. Ein Nomothet, der über diese Fertigkeiten verfügte, müsste sich im Hinblick auf die Frage nach der natürlichen Richtigkeit der von ihm eingeführten Namen offenbar nicht auf das Urteil eines Dialektikers verlassen; er könnte diese Frage selbst mit größtmöglicher Kompetenz und Verlässlichkeit beantworten. Platon scheint es nun aber bei seiner Inszenierung der Passage 424c5–425b4 gerade nicht darum zu gehen, die Unterscheidung zwischen der Fähigkeit des Nomotheten, natürlicherweise richtige Namen einzuführen, und der Fähigkeit des Dialektikers, die Produkte des Nomotheten am Standard der natürlichen Richtigkeit zu messen, aufzuheben – was angesichts der Passage 390b–d, in der diese Unterscheidung mit großer Emphase eingeführt wird, auch höchst merkwürdig wäre. Ganz im Gegenteil betont er ja den Unterschied zwischen Namenseinführung und Namensevaluation, indem er dafür sorgt, dass Sokrates ihn zunächst vergisst oder ausklammert und dementsprechend die Perspektive des Begutachters von Namen mit der ihres Schöpfers verschmelzen lässt, um sich dann sehr effektvoll daran zu erinnern, dass seine eigene Aufgabe, die sachverständig nur mit der Kompetenz eines vollendeten Dialektikers auszuführen wäre, die Evaretischen Verfahren aufgedeckt werden. Siehe Hochholzer (2016) für eine ausführliche Verteidigung der These, dass im Sophistes nur zwei grundverschiedene Relationen zwischen Ideen eine Rolle spielen – zum einen die Beziehung der Teilhabe und zum anderen die Beziehung zwischen Teil und Ganzem. Vgl. dagegen Buchheim (2013) für eine Differenzierung zwischen verschiedenen Modi der koinônia. 81 Gemeint ist der »Traum«, über den Sokrates in Tht. 201d8–202c6 berichtet: Demnach hat man den logos einer Sache gefunden, wenn man weiß, aus welchen basalen Bestandteilen sie sich zusammensetzt. Sokrates’ Traum ist freilich mit Vorsicht zu genießen, weil in ihm die Annahme eine entscheidende Rolle spielt, dass diese basalen Bestandteile selbst nicht erkennbar sind – und diese Annahme wird später von Sokrates selbst als unhaltbar zurückgewiesen (206b5–11). Aber daraus folgt nicht, dass die Hypothese, dass man den logos eines Komplexes durch die Zurückführung auf seine basalen Bestandteile bestimmen kann, verworfen werden muss; man muss nur einen Weg finden, um die Gefahr der Unerkennbarkeit der basalen Bestandteile zu bannen. Nichts anderes versucht aber Platon, indem er seine Dialogfiguren wieder und wieder darüber reflektieren lässt, welche Kompetenzen man haben muss, um die Buchstaben des Alphabets sicher identifizieren und auseinanderhalten zu können. 82 Vgl. zu dem Prinzip, dass jedem Seienden eine ousia entspricht, die Ausführungen im ersten Abschnitt des fünften Kapitels.
X. Die Vollendung des HYPERNATURALISMUS
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luation bereits eingeführter Namen und nicht die Schöpfung neuer Namen ist. Die komplexe Pointe der Passage 424c5–425b4 muss daher eine andere sein: Es soll offenbar einerseits deutlich werden, dass die Konstruktion einer Sprache, die den Aufbau der Wirklichkeit aus bestimmten basalen Elementen verlässlich widerspiegelt, nicht möglich ist ohne die Investition dialektischer Kompetenz, und andererseits, dass diese Kompetenz nicht mit der Fähigkeit des Nomotheten gleichzusetzen ist, auf der Grundlage von Hypothesen über die Organisation der Wirklichkeit Namen einzuführen.83 Sokrates’ Ausführungen in 424c5–425b4 lässt sich demnach tatsächlich entnehmen, wie idealerweise vorzugehen ist bei der Schöpfung einer Sprache, die durchgängig an dem in der Werkzeug-Analogie aufgewiesenen Standard der natürlichen Richtigkeit orientiert ist: Da eine solche Sprache der Artikulation der Wirklichkeit entsprechen muss, sollte sie von Nomotheten und Dialektikern in einer kooperativen (und höchstwahrscheinlich generationenübergreifenden) Anstrengung gebildet werden – ganz so, wie es das siebte Kapitel dieser Studie im Ausgang von Sokrates’ Forderung in 390b–d beschrieben hat. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die geschaffene Sprache ein für die Erschließung der gesamten Wirklichkeit geeignetes Instrumentarium ist. Die wahre Herausforderung bei der Einführung eines adäquaten Systems von Namen, die nur durch das gemeinsame Engagement von Nomotheten und Dialektikern bewältigt werden kann, liegt folglich in der systematischen Durchdringung der Strukturen einer sprachlich eben noch gar nicht zureichend erschlossenen Wirklichkeit – und nicht etwa in der Produktion stimmlicher Nachahmungen von ousiai. Nicht anders als durch seine Gestaltung der Passage 391b–394e führt also Platon seinen aufmerksamen Lesern durch seine Inszenierung von Sokrates’ Überlegungen zu einer idealen Sprache vor Augen, dass die Schwierigkeit, die man bei der Schöpfung natürlicherweise richtiger Namen zu gewärtigen hat, eine ganz andere ist, als der im Dialog entwickelte Hypernaturalismus glauben macht, und gibt ihrer Suche nach einer Alternative zum Hypernaturalismus so die Richtung vor.
Was, wie die Überlegungen im ersten Abschnitt des siebten Kapitels gezeigt haben, nicht heißen muss, dass ein Nomothet nicht auch über die Fähigkeit eines Dialektikers verfügen kann und vice versa; die Verschiedenheit zweier Fähigkeiten schließt selbstverständlich ihr gemeinsames Auftreten nicht aus. 83
XI. Die Unhaltbarkeit des HYPERNATURALISMUS (427d–435d)
Mit Sokrates’ Rückführung der natürlichen Richtigkeit der prôta onomata auf ihren mimetischen Gehalt ist die Ausarbeitung des Hypernaturalismus abgeschlossen und Hermogenes’ Frage, worin die natürliche Richtigkeit der Namen bestehe, vollständig beantwortet. Sokrates wendet sich nun Kratylos zu, um sich seines Einverständnisses zu versichern. Mit einer Mischung aus Arroganz und Bewunderung für Sokrates’ inspirierte Ausführungen macht sich Kratylos die zuvor entwickelte Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen in 428b6–c8 zu eigen. Von nun an fungiert nicht mehr Hermogenes’ Konventionalismus als dialektischer Widerpart für Sokrates’ eigene Überlegungen, sondern der von Kratylos repräsentierte Hypernaturalismus. Kratylos vertritt diese Position mit einer auf den ersten Blick überraschenden Radikalität: So stellt er in 429a2– c5 klar, ein Ausdruck, der kein im Sinne des Hypernaturalismus richtiger Name für bestimmte Gegenstände sei, könne überhaupt nicht als Name für diese Gegenstände fungieren; er leugnet, dass die von einem Nomotheten etablierten Benennungskonventionen sich in ihrer Qualität unterscheiden können; und in 429c6–430a5 stellt er diesen Thesen die Annahme an die Seite, es sei nicht möglich, durch den Einsatz eines Namens etwas Falsches zu sagen. In 430a beginnt Sokrates dann mit seiner Attacke auf Kratylos’ Position, die in 435a–d schließlich zu dem frustrierend vagen Fazit führt, dass ein Beitrag von Konvention und Gewohnheit zur Richtigkeit der Namen anzuerkennen ist. Die Passage 427d–435d scheint sich, wie man dieser kurzen Zusammenfassung entnehmen kann, prima facie mehr schlecht als recht in den Gang von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen einzufügen: Kratylos legt schließlich, so der erste Eindruck, die von Sokrates entwickelte Theorie mit einer völlig unnötigen Radikalität aus und zwingt Sokrates so in eine Auseinandersetzung, die mit dessen vorherigen Überlegungen nicht mehr viel zu tun hat. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Auseinandersetzung samt ihrer Konklusion in der Sekundärliteratur oft fast wie ein eigenständiger Dialog betrachtet oder zumindest als eine ganz neuartig ausgerichtete Phase der Untersuchung der onomatos orthotês behandelt wird.1 Diese Untersuchung als Aneinanderreihung einer Diskussion mit dem Konventionalisten Hermogenes und einer von ihr in vielen Hinsichten unabhängigen Kritik von Kratylos’ Hypernaturalismus aufzufassen, ist aber insofern problematisch, als eine solche Deutung die gedankliche Konti1 Das gilt insbesondere für all diejenigen Autoren, die Kratylos für den Vertreter einer unmotivierten Extremposition halten: S. u., Anm. 7.
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Zweiter Teil: Ausarbeitung und Kritik des HYPERNATURALISMUS
nuität und Folgerichtigkeit des Dialogverlaufs in Frage stellt. Es hat sich dementsprechend auch als sehr schwierig erwiesen, Sokrates’ Konklusion in 435a–d unter der Voraussetzung zu interpretieren, dass sie das gemeinsame Resultat oder der Konvergenzpunkt zweier voneinander weitgehend unabhängiger Gedankengänge ist. Wie der Abschluss der Kritik des Hypernaturalismus sich zu Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes’ Konventionalismus verhält, ist unter dieser Voraussetzung nämlich alles andere als klar. Er ist daher auf jede nur mögliche Weise gedeutet worden – als Rückkehr zu Hermogenes’ Konventionalismus, als Plädoyer für eine leicht abgeschwächte Version von Kratylos’ Position oder als irgendeine andere Form von Kompromiss zwischen Hypernaturalismus und Konventionalismus –, ohne dass eine dieser Deutungen wirklich gut zu Sokrates’ hochgradig vagen Ausführungen in 435a–d passen würde.2 Die in dieser Studie erreichten Ergebnisse eröffnen eine ganz andere Perspektive auf die Passage 427d–435d, aus der sich erkennen lässt, dass sie sich de facto sehr gut in den Gang von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen einfügt, ja in ihrer inneren Logik überhaupt nur unter Rekurs auf Anlage und Verlauf von Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes durchsichtig gemacht werden kann. Entscheidend für ihre Neubewertung ist die Einsicht, dass Kratylos sich in seiner Stellungnahme in 429a–430a keineswegs zu einer unnötig radikalen Variante der von Sokrates’ zuvor entwickelten Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen bekennt, sondern nur behauptet, was man behaupten muss, wenn man den Hypernaturalismus als Antwort auf die Frage vertreten will, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen im Sinne des funktionalistischen Begriffs der natürlichen Richtigkeit macht. Wie in den letzten Kapiteln schon herausgearbeitet wurde, hat der Hypernaturalismus schließlich in der Tat die kontraintuitive Konsequenz, ein Ausdruck könne nur dann ein brauchbarer Name für eine Gegenstandsart sein, wenn er seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt nach zu ihrer ousia passt. Diese Konsequenz ist im bisherigen Dialogverlauf allerdings nicht thematisiert worden, weil Sokrates es versäumt hat, den Hypernaturalismus kritisch mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit abzugleichen. Was zu Beginn des Gesprächs zwischen Sokrates und Kratylos stattfindet, ist aus dieser Perspektive nicht als Bruch im Untersuchungsgang zu charakterisieren, sondern als überfällige Klärung des Gehalts des Hypernaturalismus, an die seine Kritik dann anschließen kann. Hat man sich diese Kontinuität zwischen die Passage 427d–435d und Sokrates’ Gespräch mit Hermogenes einmal vor Augen geführt, kann man, wie der zweite Teil des vorliegenden Kapitels zeigen wird, auch den 2
tels.
Vgl. dazu die Überlegungen der Einleitung und Anm. 22 und 33 des vorliegenden Kapi-
XI. Die Unhaltbarkeit des HYPERNATURALISMUS
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Verlauf und das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit dem Hypernaturalismus gut erklären – und dieses Ergebnis als Abschluss der gesamten Untersuchung der Richtigkeit der Namen verständlich machen. Insgesamt werden die folgenden Überlegungen daher die Leistungsfähigkeit der in den vorherigen Kapiteln entwickelten Interpretation von Sokrates’ Gespräch mit Hermogenes belegen, dank derer sich eine überzeugende Deutung des auf den ersten Blick so rätselhaften Schlussteils von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen entwickeln lässt. So wird die gedankliche Einheit dieser Untersuchung erkennbar werden, die den bisherigen Interpreten des Kratylos verborgen geblieben ist.
Das Ende eines »Selbstbetrugs« (427d–430a)
Betrachtet man den Beginn von Sokrates’ Auseinandersetzung mit Kratylos, könnte man auf den ersten Blick leicht den Eindruck gewinnen, als erkenne zumindest Sokrates auch bei näherer Überlegungen nicht, welche kontraintuitiven Konsequenzen man zu tragen hat, wenn man den Hypernaturalismus als eine Antwort auf die Frage akzeptiert, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen im Sinne der Werkzeug-Analogie macht; ja man könnte sogar meinen, er gebe das für seine Überlegungen in der Werkzeug-Analogie zentrale (Spezifische) Funktionalitätsprinzip auf. Denn nachdem sein neuer Gesprächspartner ihm bestätigt hat, dass richtige Namen die ousiai der benannten Gegenstandsarten kundmachen3 und von einem kompetenten Nomotheten eingeführt werden müssen,4 führt Sokrates seine Befragung folgendermaßen fort: Einige Maler sind doch wohl schlechter, andere besser? – Ganz recht. – Machen nicht die Besseren ihre Werke, nämlich die Bilder, schöner, die anderen aber minderwertiger? Und bei den Baumeistern ebenso – die einen verfertigen die Häuser, die schöner sind, die anderen die, die unansehnlicher sind? – Ja. – Verhält es sich also auch bei Nomotheten so – die einen verfertigen ihre Werke schöner, die anderen unansehnlicher? – Dies scheint mir nicht mehr der Fall zu sein. – Dir scheinen Sokrates erklärt in 428e1 f., die Richtigkeit eines Namens bestehe »darin, dass er anzeigt, wie die Sache beschaffen ist« – ὀνόματος […] ὀρθότης ἐστὶν αὕτη, ἥτις ἐνδείξεται οἷόν ἐστι τὸ πρᾶγμα. Dass dies nur eine Reformulierung der These ist, ein natürlicherweise richtiger Name müsse die ousia des benannten Gegenstandstyps kundmachen, zeigt der Vergleich mit 422d1–3, wo Sokrates auf eine ganz ähnliche Wendung zurückgreift, um diese These zu formulieren. 4 Kratylos scheint in 428e5–429a1 irritierenderweise den sachverständigen Nutzer von Namen – also den dialektikos beziehungsweise den didaskalikos – mit dem Nomotheten als dem sachverständigen Produzenten von Namen zu verwechseln. Möglicherweise bezieht sich, wie Ademollo (2011), 321, vermutet, Sokrates mit seinen Fragen in 428e7–10 aber auch gar nicht mehr auf die Kunst des Namensgebrauchs. 3
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also nicht die einen Gesetze besser, die anderen minderwertiger zu sein? – Nein. – Dann meinst du, wie es scheint, auch nicht, dass der eine Name schlechter beigelegt ist, der andere besser? – Nein. – Alle Namen sind also richtig beigelegt? – Die zumindest, die überhaupt Namen sind. – Wie also – was wir gerade sagten, sollen wir behaupten, Hermogenes hier ist dieser Name gar nicht beigelegt, wenn ihm nicht etwas von einer Abstammung von Hermes zukommt, oder dass er ihm zwar beigelegt ist, aber eben nicht richtigerweise? – Mir scheint, dass er ihm gar nicht beigelegt ist, Sokrates, sondern ihm beigelegt zu sein scheint, und dass dieser Name der eines anderen ist, ebendessen, der auch die [entsprechende] Natur5 hat.6
Der Gedanke, den Sokrates hier entwickeln will, ist zweifellos naheliegend und plausibel: Tatsächlich würde man ja annehmen, ein Nomothet könne ebenso, wie ein Maler bessere oder schlechtere Bilder produzieren kann, bessere oder schlechtere Benennungskonventionen einführen. Dementsprechend würde man davon ausgehen, dass der Ausdruck, den er einer bestimmten Gegenstandsart als Namen zuordnet, vermöge seines etymologischen oder mimetischen Gehalts besser oder schlechter zu dieser Gegenstandsart passen kann. Wie seine Nachfrage in 429b10 – panta ara ta onomata orthôs keisthai? – zeigt, scheint Sokrates dabei aber offenbar darauf hinaus zu wollen, dass ein Nomothet auch einen Ausdruck zu einem Namen für eine Gegenstandsart machen kann, dessen etymologischer oder mimetischer Gehalt so schlecht zu ihr passt, dass er nicht mehr als im Sinne des Hypernaturalismus richtiger Name für sie gelten kann. Er scheint gar nicht zu bemerken, dass ein solches Zugeständnis es unmöglich machen würde, den Hypernaturalismus als eine zu dem in der Werkzeug-Analogie entwickelten funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit passende Theorie zu vertreten. Denn wer den Hypernaturalismus in diesem Sinne vertreten In den Handschriften folgt auf φύσις noch ἡ τὸ ὄνομα δηλοῦσα, was von Dalimier und den Editoren des OCT akzeptiert wird, aber keinen guten Sinn zu ergeben scheint – wieso sollte die Natur des Trägers den Namen kundmachen? Einen besseren Text erhält man, wenn man mit Burnet, Méridier und Ademollo (2011), 324 Anm. 18, Schanz’ Streichung von ἡ τὸ ὄνομα δηλοῦσα akzeptiert. Alternativ könnte man auch Heindorfs Emendation zugrunde legen und ἡν τὸ ὄνομα δηλοῖ statt ἡ τὸ ὄνομα δηλοῦσα lesen. 6 429a4–c6: Ζωγράφοι εἰσίν που οἱ μὲν χείρους, οἱ δὲ ἀμείνους; – Πάνυ γε. – Oὐκοῦν οἱ μὲν ἀμείνους τὰ αὑτῶν ἔργα καλλίω παρέχονται, τὰ ζῷα, οἱ δὲ φαυλότερα; καὶ οἰκοδόμοι ὡσαύτως οἱ μὲν καλλίους τὰς οἰκίας ἐργάζονται, οἱ δὲ αἰσχίους; – Nαί. – Ἆρ᾽ οὖν καὶ νομοθέται οἱ μὲν καλλίω τὰ αὑτῶν παρέχονται, οἱ δὲ αἰσχίω; – Oὔ μοι δοκεῖ τοῦτο ἔτι. – Oὐκ ἄρα δοκοῦσί σοι νόμοι οἱ μὲν βελτίους, οἱ δὲ φαυλότεροι εἶναι; – Oὐ δῆτα. – Oὐδὲ δὴ ὄνομα, ὡς ἔοικε, δοκεῖ σοι κεῖσθαι τὸ μὲν χεῖρον, τὸ δὲ ἄμεινον; – Oὐ δῆτα. – Πάντα ἄρα τὰ ὀνόματα ὀρθῶς κεῖται; – Ὅσα γε ὀνόματά ἐστιν. – Tί οὖν; ὃ καὶ ἄρτι ἐλέγετο, Ἑρμογένει τῷδε πότερον μηδὲ ὄνομα τοῦτο κεῖσθαι φῶμεν, εἰ μή τι ἄρα αὐτῷ Ἑρμοῦ γενέσεως προσήκει, ἢ κεῖσθαι μέν, οὐ μέντοι ὀρθῶς γε; – Oὐδὲ κεῖσθαι ἔμοιγε δοκεῖ, ὦ Σώκρατες, ἀλλὰ δοκεῖν κεῖσθαι, εἶναι δὲ ἑτέρου τοῦτο τοὔνομα, οὗπερ καὶ ἡ φύσις. 5
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will, muss dem (Spezifischen) Funktionalitätsprinzip zufolge behaupten, dass ein Ausdruck dann keinesfalls als Name für die Gegenstände einer bestimmten Art fungieren kann, wenn seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt dieser Art nicht entspricht: Er muss also behaupten, dass etwa »Birnbaum« unter keinen Umständen als Name für die Art der Apfelbäume fungieren kann. Sokrates’ Nachfrage in 429b10 scheint hingegen zu suggerieren, man könne sich entscheiden, in welcher Variante man den Hypernaturalismus verfechten wolle – in einer extremen Variante, die nur solche Ausdrücke als Namen anerkennt, die den hypernaturalistisch explizierten Standard der natürlichen Richtigkeit erfüllen, und in einer weniger extremen Variante, die es erlaubt, auch Ausdrücke, die diesen Standard nicht erfüllen, als Namen anzuerkennen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn viele Interpreten davon ausgehen, dass Sokrates Kratylos zu Beginn ihres Gesprächs eine in seinen Augen vernünftige Position anbietet, die man vor dem Hintergrund seiner bisherigen Überlegungen zur Richtigkeit der Namen einnehmen könnte, mit seinem Vorschlag aber bei Kratylos auf taube Ohren stößt und sich dementsprechend in der Folge mit einer radikalen Abart dieser Position auseinandersetzen muss.7 Sokrates selbst würde demnach aus seinen bisherigen Überlegungen die Schlussfolgerung ziehen wollen, dass die Richtigkeit eines Namens zwar von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängt, Richtigkeit in diesem Sinne aber keine notwendige Bedingung für Brauchbarkeit als Name ist; und Kratylos würde diese Schlussfolgerung zugunsten der hochgradig kontraintuitiven These ablehnen, als Name für bestimmte Gegenstände könne nur ein Ausdruck fungieren, dessen etymologische Bedeutung oder mimetischer Gehalt zu diesen Gegenständen passt. Einer solchen Interpretation der zitierten Passage 429a4–c6 wird man indessen kaum zustimmen können. Sie lässt nämlich nicht nur außer Acht, dass die vermeintlich plausible Position, die Sokrates vorzuschweben scheint, nicht mit dem Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen zu vereinbaren ist, den er selbst in der Werkzeug-Analogie etabliert hat; sie wirft auch die Frage auf, wieso sich Kratylos einem sprachphilosophischen Extremismus in die Arme werfen sollte, wenn doch eine weitaus attraktivere Alternative zur Verfügung steht. Man kann diese Frage zu beantworten versuchen, indem man Kratylos als einen Dummkopf oder aber als einen philosophischen Provokateur abstempelt, der gerne unhaltbare Extrempositionen einnimmt. Aber das würde nur die weitere Frage aufwerSo z. B. Schofield (1982), 65 f.; Williams (1982), 83–86; Keller (2000), 299; Barney (2001), 112 f.; Sedley (2003), 131 f.. Nicht alle diese Autoren nehmen an, dass Sokrates die von ihm in Vorschlag gebrachte ›vernünftige‹ Position selbst vertritt; aber sie alle nehmen an, dass Kratylos sie einnehmen könnte und sollte. Anders versteht Ademollo Kratylos’ Stellungnahme – s. Anm. 15. 7
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fen, wieso Platon einen Dummkopf oder einen philosophischen Provokateur mit so viel Aufmerksamkeit bedenken sollte. Ein dritter Grund spricht dagegen, Kratylos’ Stellungnahme als Ablehnung derjenigen Position zu lesen, die vor dem Hintergrund von Sokrates’ bisherigen Überlegungen eigentlich plausibel wäre. Sokrates selbst führt nämlich, wie oft nicht hinreichend beachtet wird, seine Diskussion mit Kratylos im Modus der Selbstkritik. Er reagiert auf Kratylos’ arrogantes Lob für seine Überlegungen ja nicht unmittelbar mit derjenigen Befragung, die in 429a4–c6 schließlich die Radikalität der Position ans Licht bringt, die sein Gesprächspartner vertritt. Seine erste Reaktion fällt vielmehr folgendermaßen aus: Mein lieber Kratylos, ich wundere mich selbst schon lange über meine eigene Weisheit und misstraue ihr. Mir scheint daher, wir müssen noch einmal untersuchen, was ich sage. Denn von sich selbst betrogen zu werden, ist das Allerschlimmste; denn wenn der Betrüger sich nicht einmal für kurze Zeit entfernt, sondern immer zugegen ist, wie sollte das nicht schrecklich sein? Also muss man sich, wie es scheint, oft herumdrehen zu dem zuvor Gesagten und versuchen, mit jenem Dichter gesprochen, ›zugleich vorwärts und rückwärts‹ 8 zu schauen.9
Sokrates’ Sorge, er könne einem »Selbstbetrug« (und damit der schlimmsten Form des Betrugs) zum Opfer gefallen sein, kann sich nicht auf seine Analysen der etymologischen Bedeutung beziehungsweise des mimetischen Gehalts gebräuchlicher griechischer Ausdrücke beziehen10 – denn auffälligerweise verzichtet er in der Folge ja gerade auf eine kritische Überprüfung dieser Analysen.11 Sokrates scheint vielmehr zu befürchten, bei seinen bisherigen Überlegungen zur Richtigkeit der Namen eine grundsätzliche Schwierigkeit übersehen zu haben, und deswegen eine Revision der erreichten Ergebnisse anzumahnen. De facto kritisiert er dann aber in 430a–435d lediglich die extremistische These des Kratylos, nach der nur eine Lautfolge, die das perfekte Abbild der ousia bestimmter Gegenstände ist, überhaupt als Name für diese Gegenstände eingesetzt werden
Siehe Il. I 343 und III 109 für diese Wendung. 428d1–8: Ὠγαθὲ Κρατύλε, θαυμάζω καὶ αὐτὸς πάλαι τὴν ἐμαυτοῦ σοφίαν καὶ ἀπιστῶ. δοκεῖ οὖν μοι χρῆναι ἐπανασκέψασθαι τί καὶ λέγω. τὸ γὰρ ἐξαπατᾶσθαι αὐτὸν ὑφ᾽ αὑτοῦ πάντων χαλεπώτατον: ὅταν γὰρ μηδὲ σμικρὸν ἀποστατῇ ἀλλ᾽ ἀεὶ παρῇ ὁ ἐξαπατήσων, πῶς οὐ δεινόν; δεῖ δή, ὡς ἔοικε, θαμὰ μεταστρέφεσθαι ἐπὶ τὰ προειρημένα, καὶ πειρᾶσθαι, τὸ ἐκείνου τοῦ ποιητοῦ, βλέπειν ›ἅμα πρόσσω καὶ ὀπίσσω.‹ 10 Diese Vermutung liegt auf den ersten Blick deswegen nahe, weil Sokrates sich in der etymologischen Sektion verwundert gezeigt hat über die Weisheit, die bei diesen Analysen plötzlich über ihn gekommen ist. Vgl. zu diesem Motiv die Überlegungen im dritten Abschnitt des neunten Kapitels. 11 Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des vorigen Kapitels. 8 9
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kann;12 und in 435d–440e attackiert er die ebenfalls ausschließlich von Kratylos vertretene Behauptung, nur die etymologische Analyse von Namen könne zu Wissen über die benannten Gegenstände führen. Nähme Kratylos tatsächlich eine Position ein, die aufgrund ihrer Radikalität nicht auf der Linie von Sokrates’ bisheriger Untersuchung liegt, käme es daher gar nicht zu der Selbstkritik, an deren Notwendigkeit Sokrates’ Bemerkung in 428d1–8 keinen Zweifel lässt, und somit auch nicht zu einer Überprüfung des beunruhigenden Verdachts, einem »Selbstbetrug« erlegen zu sein. Warum Platon Sokrates einen solchen Verdacht dann an so prominenter Stelle und in einer so emphatischen Formulierung aussprechen lassen sollte, ist nicht leicht zu erkennen. Der erste Eindruck, den die Passage 429a4–c6 vermittelt, muss also täuschen: Es kann unmöglich der Fall sein, dass Kratylos hier eine vergleichsweise plausible Position, die er vor dem Hintergrund von Sokrates’ bisheriger Untersuchung vertreten könnte, völlig ungezwungen zugunsten einer radikalen und unplausiblen Alternative ablehnt. Was aber geht dann vor sich? Präziser gefragt: Inwiefern kommt Sokrates seiner eigenen Forderung nach einer kritischen Revision der erreichten Ergebnisse nach, indem er Kratylos ins Kreuzverhör nimmt und ihn so dazu bringt, sich zu einer These zu bekennen, die kontraintuitiver nicht sein könnte? Es fällt nicht schwer, diese Frage zu beantworten, wenn man sich noch einmal die Beobachtung ins Gedächtnis ruft, die den Ausgangspunkt der Überlegungen des vorliegenden Abschnitts bildete: Sokrates müsste eigentlich zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos schon wissen, dass der von ihm entwickelte Hypernaturalismus nur dann eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen darstellt, die zum zuvor etablierten Begriff der natürlichen Richtigkeit passt, wenn er so ausgelegt wird, wie Kratylos selbst es tut: wenn er also als Antwort auf die Frage aufgefasst wird, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck überhaupt als Name für eine bestimmte Art von Gegenständen fungieren kann. Sokrates hätte sich und seinem Gesprächspartner diesen Zusammenhang nämlich bereits bei seiner Ausarbeitung des Hypernaturalismus vor Augen führen können und müssen. In der Tat entwickelte er aber diese Theorie, ohne sie kritisch mit dem Das bemerkt auch Schofield (1982), 65: »Socrates plainly promises a critical examination of the theory he himself has been developing. He talks of turning back repeatedly, and he exclaims upon the dangers of self-deception (428D). But then he proceeds to examine not himself but Cratylus, and not the theory in its original version but in an extreme guise for which he holds no brief.« Schofield macht zurecht darauf aufmerksam, dass zumindest Sokrates’ Argumentation in 433b–435d insofern eine selbstkritische Dimension hat, als sie die Bedeutung der von Sokrates bei seiner Entfaltung des H YPERNATURALISMUS konsequent ausgeblendeten Gewohnheit akzentuiert (ebd., 66). Aber das ist nicht hinreichend, um zu erklären, wieso Platon das Motiv des »Selbstbetrugs« beziehungsweise der Selbstkritik so stark in den Vordergrund rückt. 12
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zuvor etablierten Begriff der natürlichen Richtigkeit der Namen abzugleichen und sich so Aufschluss über ihre Implikationen zu verschaffen. Zu Sokrates’ Vorgehen im gesamten Mittelteil des Kratylos passt daher das Etikett des »Selbstbetrugs« nur allzu gut: Denn er konstruiert eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen, ohne zu prüfen, ob diese Theorie eine akzeptable Antwort auf die Frage ist, die sie beantworten sollte. Er konstatiert daher in 427c/d den erfolgreichen Abschluss seiner Untersuchung, ohne jemals überprüft zu haben, ob das, was er gefunden zu haben glaubt, auch wirklich das ist, was er gesucht hat. Sokrates schafft nie Klarheit im Hinblick auf die Optionen, die zur Verfügung stehen: Man muss nämlich entweder annehmen, dass die natürliche Richtigkeit der Namen von ihrer etymologische Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängt, und die Konsequenz akzeptieren, dass ein Ausdruck nur dann als Name für bestimmte Gegenstände fungieren kann, wenn seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt zu ihnen passt – oder diese Konsequenz zurückweisen und sich das Scheitern des Versuchs eingestehen, die natürliche Richtigkeit der Namen auf ihre etymologische Bedeutung oder ihren mimetischen Gehalt zurückzuführen. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass Sokrates selbst dieses Defizit seiner Ausführungen bereits vor Beginn seines Gesprächs mit Kratylos bewusst ist. In diesem Fall würde er bei seiner Entfaltung des Hypernaturalismus weniger zum Opfer eines »Selbstbetrugs« werden, als dass er ihn inszenierte. Entscheidend ist aber, dass Platon, indem er Sokrates seine Befürchtung aussprechen lässt, den Lesern des Kratylos signalisiert, dass in der bisherigen Untersuchung eine entscheidende Frage unterdrückt worden ist: die Frage nämlich, ob der Hypernaturalismus sich als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen im kritischen Abgleich mit dem in der Werkzeug-Analogie entwickelten Begriff der natürlichen Richtigkeit bewährt. (Hat man sich einmal klar gemacht, dass es Platon ist, der mit dieser Absicht Sokrates in 428d1–8 seine Befürchtung äußern lässt, wird man es auch für weit weniger dringlich halten, zu entscheiden, ob Sokrates seinen »Selbstbetrug« tatsächlich erst zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos erkennt – handelt es sich doch in jedem Fall um einen inszenierten »Selbstbetrug«, für den letztlich niemand anderes als Platon verantwortlich ist.) In der Passage 429a4–c6 rückt Sokrates nun diese entscheidende Frage in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und setzt so dem »Selbstbetrug« ein Ende. Er tut dies konsequenterweise, indem er endlich auf jene vermeintliche Selbstverständlichkeit zu sprechen kommt, die so lange ausgeblendet wurde, obwohl man sie nicht anerkennen kann, ohne den Hypernaturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen zurückzuweisen: Er kommt also darauf zu sprechen, dass es allem Anschein nach möglich ist, durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention einen Ausdruck zu einem Namen für Gegenstände zu
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machen, zu denen seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt nicht passt. Mit der Thematisierung dieser Möglichkeit formuliert Sokrates zum ersten Mal, was ganz offenkundig dagegen spricht, den Hypernaturalismus als eine Antwort auf die von der Werkzeug-Analogie aufgeworfene Frage zu akzeptieren. Damit erzwingt er die Entscheidung, über deren Unumgänglichkeit seine bisherigen Ausführungen hinweggetäuscht haben: Denn Kratylos muss nun entweder im Einklang mit dem gesunden Menschenverstand einräumen, dass natürliche Richtigkeit im Sinne des Hypernaturalismus keine notwendige Bedingung für die Brauchbarkeit eines Ausdrucks als Name für bestimmte Gegenstände ist – was einer Aufgabe des Hypernaturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen gleichkäme. Oder er muss leugnen, dass der gesunde Menschenverstand in dieser Hinsicht richtig liegt, und die Brauchbarkeit von Namen, die dem hypernaturalistisch ausgelegten Standard der natürlichen Richtigkeit nicht genügen, in Abrede stellen. Sokrates konfrontiert also Kratylos in 429a4–c6 nicht etwa deswegen mit der Frage, ob ein Ausdruck nicht auch dann ein brauchbarer Name für bestimmte Gegenstände sein kann, wenn er den hypernaturalistisch ausgelegten Standard der natürlichen Richtigkeit nicht erfüllt, weil er nicht bemerkt, dass Kratylos ein solches Zugeständnis nicht machen kann, ohne den Hypernaturalismus aufzugeben. Ganz im Gegenteil tut er es, weil er gerade eben auf diesen Umstand aufmerksam geworden ist (oder zumindest vorgibt, erst gerade eben auf ihn aufmerksam geworden zu sein), und dementsprechend die dialektischen Fronten klären will.13 Es geht ihm auch keineswegs darum, Kratylos eine plausible VerAuf den ersten Blick könnte man zugegebenermaßen den Eindruck gewinnen, Sokrates trage in 429a4–c6 ein Argument vor, das unabhängig davon, ob man den H YPERNATURALISMUS als Theorie der natürlichen Richtigkeit zugrunde legt oder nicht, die mit dem (SPEZIFISCHEN) FUNKTIO NALITÄTSPRINZIP unvereinbare Schlussfolgerung plausibel macht, dass manche Gegenstände Namen haben, die dem Standard natürlicher Richtigkeit nicht gerecht werden: Denn Sokrates’ Ausführungen in 429a4–b9 legen die Vermutung nahe, er wolle diese Schlussfolgerung aus dem (von Kratylos freilich verweigerten) Zugeständnis ziehen, dass manche Konventionen besser sind als andere; und dieses Zugeständnis scheint sich auf den ersten Blick unabhängig von der zugrunde gelegten Theorie der natürlichen Richtigkeit schlecht vermeiden zu lassen, ohne die Analogie zwischen Konventionen und handwerklichen Produkten aufzugeben, die, wie Sokrates in 429a2 f. erklärt, in ihrer Qualität beträchtlich variieren können. Es wäre freilich sehr irritierend, wenn Sokrates zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos handstreichartig und ohne Not das (SPEZIFISCHE) FUNKTIONALITÄTSPRINZIP als eine der tragenden Säulen seiner bisherigen Überlegungen demontierte. Das gilt umso mehr, als unklar ist, wieso aus dem Zugeständnis, dass manche Benennungskonventionen schlechter sind als andere, folgen sollte, dass Nomotheten brauchbare Namen für Gegenstände einführen können, die den Standard natürlicher Richtigkeit nicht erfüllen: Wieso sollte man nicht stattdessen annehmen, dass durch die Etablierung einer Konvention, die einen bestimmten Qualitätsgrad unterschreitet, eben kein echter Name für die zu benennenden Gegenstände eingeführt wird? 13
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sion der zuvor entwickelten Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen anzubieten. Wenn überhaupt, macht Sokrates Kratylos ein vergiftetes Angebot, dessen Annahme den Kollaps seiner Position nach sich zöge. Kratylos zeigt sich daher nicht als Dummkopf oder als philosophischer Provokateur, wenn er sich gegen den gesunden Menschenverstand stellt und bestreitet, dass beispielsweise der Ausdruck »Hermogenes« als Name für Personen wie Hermogenes fungieren kann, zu deren physis seine etymologische Bedeutung nicht passt.14 Er tut, was er tun muss, um an der Annahme eines Zusammenhangs zwischen der natürlichen Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt festhalten zu können.15 Mehr noch: Nachdem im Kratylos die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nie in Frage gestellt wird und folglich der Hypernaturalismus die einzige auf der Ebene des Dialogs verfügbare Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen ist, gibt es zu Kratylos’ kompromisslosem Kurs in 429a4–c6 auch insofern keine Alternative, als aus der Perspektive der Gesprächspartner der Hypernaturalismus verteidigt werden muss, wenn die These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, nicht aufgegeben werden soll. Seine Position ist mithin zwar zweifellos abwegig – aber es ist diejenige Position, an der für Hermogenes und auch für die Leser des Kratylos angesichts Man sollte daher Sokrates nicht ohne Weiteres die Annahme unterstellen, aus der variablen Qualität von Benennungskonventionen folge unabhängig von der zugrunde gelegten Theorie der natürlichen Richtigkeit, dass für manche Gegenstände brauchbare Namen eingeführt worden sind, die den Standard der natürlichen Richtigkeit nicht erfüllen. Geht man freilich mit Kratylos von der Gültigkeit des H YPERNATURALISMUS aus, wird man dieser Folgerung schwerlich seine Anerkennung verweigern können. Denn gesetzt, ein unzurechnungsfähiger Nomothet könnte die im Sinne des H YPERNATURALISMUS miserable Konvention etablieren, »Apfelbaum« als Name für Birnbäume zu verwenden, und so eine Lautfolge, die zweifellos kein natürlicherweise richtiger Name für Birnbäume ist, den Birnbäumen zuordnen: Dann dürfte sich die Möglichkeit, durch die Verwendung von »Apfelbaum« die Art der Birnbäume herauszugreifen, kaum leugnen lassen, und der H YPERNATURALISMUS wäre nicht mehr zu halten. Ein Verteidiger des H YPERNATURALISMUS ist daher tatsächlich gut beraten, mit Kratylos die Etablierung solcher schlechter Konventionen für ein Ding der Unmöglichkeit zu erklären. Das (S PEZIFISCHE) FUNKTIONALITÄTSPRINZIP als solches ist hingegen mit der Anerkennung von Qualitätsunterschieden zwischen Benennungskonventionen durchaus vereinbar und wird demnach von Sokrates 429a4–b9 nicht attackiert. 14 »Hermogenes« wird hier also nicht als Eigenname behandelt, sondern als Name für eine Art von Personen, denen eine physis gemeinsam ist. Vgl. dazu die Überlegungen im zweiten Abschnitt des vierten Kapitels. 15 Wie Ademollo (2011), 322, zurecht festhält, scheint nach Auskunft des Hermogenes Kratylos auch schon zu Beginn des Dialogs anzunehmen, dass ein Ausdruck überhaupt nicht als Name für einen bestimmten Gegenstand gelten kann, wenn er den Standard natürlicher Richtigkeit nicht erfüllt. Was Ademollo nicht bemerkt, ist allerdings, dass Kratylos zu Beginn seines Gesprächs mit Sokrates nicht einfach nur sich selbst treu bleibt, sondern die Position vertritt, auf die der bisherige Gang der Untersuchung Hermogenes und alle Leser des Kratylos verpflichtet, die Hermogenes’ naive Konzeption des Namens teilen.
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der Konklusion der Werkzeug-Analogie so lange kein Weg vorbeiführt, wie sie nicht zwischen Namen und Lautfolgen zu differenzieren lernen. Indem er Kratylos seine radikale These vertreten lässt, führt Platon demnach nur vor, worauf das Argument der Werkzeug-Analogie denjenigen, der die naive Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nicht überwindet, in letzter Konsequenz verpflichtet. Wie aber verhält es sich mit Kratylos’ Annahme, es könne bei der Tätigkeit von Nomotheten keinerlei Qualitätsunterschiede geben? Ist auch sie unvermeidlich oder zumindest plausibel angesichts des Ziels, den Hypernaturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit zu verteidigen? Zu besagen scheint sie, ein Nomothet könne durch die Etablierung einer Konvention einen Ausdruck nur dann zu einem Namen für eine bestimmte Art von Gegenständen machen, wenn seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt perfekt zu ihrer ousia passt, während umgekehrt ein nomos, der einer Art von Gegenständen einen nicht vollkommen passenden Ausdruck als Namen zuordnet, gar nicht etabliert werden kann. Auf den ersten Blick scheint nun für einen Verteidiger des Hypernaturalismus eigentlich nichts dagegen zu sprechen, auch solche Ausdrücke als natürlicherweise richtige Namen für bestimmte Gegenstände anzuerkennen, deren etymologische Bedeutung oder mimetischer Gehalt der ousia dieser Gegenstände nicht perfekt, aber immer noch sehr gut entspricht. Unter dieser Voraussetzung könnten Namen in ihrer Qualität variieren, ohne dass dies notwendigerweise ihre natürliche Richtigkeit gefährdete – der Standard natürlicher Richtigkeit wäre eben erst mit der Unterschreitung eines bestimmten Qualitätsgrades verfehlt. Indessen würde ein solches Zugeständnis den Verteidiger des Hypernaturalismus vor gravierende Probleme stellen. Denn zum einen drängt sich die Frage auf, wie es eine objektive Grenze zwischen Ausdrücken geben kann, deren etymologische Bedeutung oder deren mimetischer Gehalt so gut zu einer bestimmten Art von Gegenständen passt, dass sie als Namen für diese Art brauchbar sind, und Ausdrücken, für die das nicht gilt. Warum sollte ein bestimmter Grad der Entsprechung statt irgendeines anderen die Minimalanforderung an einen natürlicherweise richtigen Namen darstellen? Wenn es aber in dieser Hinsicht keine klare Grenze gibt, dürfte sich nur schwerlich bestreiten lassen, dass menschliche Entscheidungen zumindest in manchen Fällen einen gewissen Einfluss auf die Brauchbarkeit eines Ausdrucks als Name für bestimmte Gegenstände haben müssen.16 Zum anderen schiene es unter dieser Voraussetzung auch nicht ausgeschlossen, dass ein und derselbe Ausdruck in seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt gut genug zu zwei verschiedenen Arten passt, um als Name für sie fungieren zu können. Welche dieser Arten man durch einen 16
Vgl. Ademollo (2011), 322.
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Einsatz eines solchen Ausdrucks herausgriffe, müsste offenbar von menschlichen Entscheidungen abhängig sein – was wiederum dem Grundgedanken des Hypernaturalismus widerspräche. Kratylos muss also vielleicht nicht behaupten, dass ein Ausdruck nur bei einer perfekten Entsprechung zwischen seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt und der ousia einer Art als Name für diese Art fungieren kann, tut aber dennoch gut daran. Tatsächlich geht er ja sogar noch einen Schritt weiter: Er bestreitet nicht nur, dass es möglich ist, einen solchen Ausdruck durch die Etablierung eines entsprechenden nomos zu einem Namen für die betreffende Art zu machen, sondern seiner Auskunft in 429b3 nach zu schließen auch, dass es überhaupt möglich ist, einen solchen nomos zu etablieren. Bei näherer Überlegung erweist sich auch dieser Schritt als konsequent. Wäre die Etablierung einer solchen Konvention nämlich möglich, stellte sich die Frage, wieso durch ihre Etablierung nicht sichergestellt würde, dass der fragliche Ausdruck ein brauchbarer Name für diejenigen Gegenstände ist, für die er im Sinne der Konvention eingesetzt wird. Diese Frage hält sich Kratylos vom Leib, indem er es für unmöglich erklärt, einer Konvention zu folgen, die den Einsatz eines Ausdrucks für Gegenstände vorsieht, zu denen seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt nicht perfekt passt. Führt man diese Überlegungen weiter, lässt sich auch ein guter Grund für Kratylos’ Weigerung ausmachen, die Möglichkeit des falschen Sprechens beziehungsweise der Fehlanwendung von Namen anzuerkennen. Sokrates entlockt ihm diese Weigerung in 429c7–d6, unmittelbar nachdem er in Erfahrung gebracht hat, dass Kratylos »Hermogenes« nicht als einen Namen für Hermogenes anerkennt: Spricht man auch nicht die Unwahrheit, wenn man sagt, dass er Hermogenes ist? Denn [ich befürchte], dass noch nicht einmal dies möglich wäre – zu sagen, dass dies Hermogenes ist, wenn er es nicht ist? – Wie meinst du das? – Dass Falsches zu sagen ganz und gar unmöglich ist, impliziert dies nicht deine Behauptung? Denn, lieber Kratylos, es sind einige, die dies behaupten, sowohl heute als auch früher. – Wie sollte denn auch jemand, indem er das sagt, was er sagt, nicht das, was ist, sagen? Oder ist nicht eben dies Falsches sagen – nicht Dinge sagen, die sind?17
Auf den ersten Blick würde man wohl eher davon ausgehen, dass Kratylos die Anwendung des Namens »Hermogenes« auf Hermogenes als einen Fall falschen Sprechens beschreiben müsste: Denn Kratylos behauptet ja in 429c4 f., durch den 429c7–d6: Πότερον οὐδὲ ψεύδεται ὅταν τις φῇ Ἑρμογένη αὐτὸν εἶναι; μὴ γὰρ οὐδὲ τοῦτο αὖ ᾖ, τὸ τοῦτον φάναι Ἑρμογένη εἶναι, εἰ μὴ ἔστιν; – Πῶς λέγεις; – Ἆρα ὅτι ψευδῆ λέγειν τὸ παράπαν οὐκ ἔστιν, ἆρα τοῦτό σοι δύναται ὁ λόγος; συχνοὶ γάρ τινες οἱ λέγοντες, ὦ φίλε Κρατύλε, καὶ νῦν καὶ πάλαι. – Πῶς γὰρ ἄν, ὦ Σώκρατες, λέγων γέ τις τοῦτο ὃ λέγει, μὴ τὸ ὂν λέγοι; ἢ οὐ τοῦτό ἐστιν τὸ ψευδῆ λέγειν, τὸ μὴ τὰ ὄντα λέγειν; 17
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Einsatz dieses Namens werde eine andere Person als Hermogenes (beziehungsweise eine Art von Personen, zu der Hermogenes nicht gehört) herausgegriffen, woraus zu folgen scheint, dass durch seine Anwendung auf Hermogenes eine falsche Identitätsaussage getroffen wird (oder eine verfehlte Zuordnung zu einer Art von Personen vorgenommen wird).18 Aber Kratylos ist offenbar davon überzeugt, dass die Anwendung eines Ausdrucks auf Gegenstände einer Art, zu deren ousia seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt nicht passt, überhaupt nicht möglich ist. Tatsächlich wäre es, wie bei genauerer Betrachtung deutlich wird, für einen Verteidiger des Hypernaturalismus auch nicht ratsam, diese Möglichkeit anzuerkennen. Einzuräumen, dass Sprecher einen Ausdruck, der kein natürlicherweise richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist, auf diese Gegenstände anwenden und diese Anwendung dann (fälschlicherweise) als richtig beurteilen können, hieße nämlich, einzuräumen, dass Sprecher der Konvention folgen können, den fraglichen Ausdruck für diese Gegenstände zu verwenden. Gerade das sollte aber Kratylos ja nicht einräumen – was seine Behauptung nachvollziehbar macht, man könne nur »ein Geräusch produzieren« (psorein, 430a4), indem man einen Ausdruck auf Gegenstände anwendet, zu denen seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt nicht passt. Es ist zugegebenermaßen nicht ganz klar, ob Kratylos sieht, in welche Schwierigkeiten er geriete, wenn er die Möglichkeit der Fehlanwendung von Namen und des falschen Sprechens zugestände – in 429c7–d6 wirkt es eher so, als leugne er diese Möglichkeit aus ganz anderen Gründen.19 Für einen Vertreter des Hypernaturalismus ist es aber jedenfalls sehr konsequent, anzunehmen, dass ein Ausdruck, der kein natürlicherweise richtiger Name für bestimmte Gegenstände ist, diesen Gegenständen überhaupt nicht zugeordnet werden kann – auch nicht durch eine fehlerhafte Anwendung des Ausdrucks auf sie. Nähme er es nicht an, schriebe er nämlich Sprechern zumindest ein gewisses Maß an Souveränität im Umgang mit Namen zu. Damit stünde er in der Pflicht, zu begründen, wieso diese Souveränität es Sprechern nicht auch erlauben sollte, durch die Etablie18 Sedley (2003), 132, scheint nicht zu beachten, dass »Hermogenes« für Kratylos Name einer anderen Person als Hermogenes ist, wenn er schreibt: »The question that at this stage interests Socrates is what follows from the supposition that an inappropriate name, like ›Hermogenes‹, is not really that individual’s name at all. If it is not his name, it presumably fails to refer to him, which seems to mean that you cannot say anything, true or false, about him by using that name. In which case the very statement, ›This is Hermogenes,‹ although ex hypthesi not true, cannot be false either.« Wenn »Hermogenes« zum Beispiel der Name von Kalllias ist, würde man natürlich davon ausgehen, dass der auf Hermogenes gemünzte Satz »This is Hermogenes« falsch ist. 19 In 429c9 scheint er gar nicht zu verstehen, worauf Sokrates hinaus will – pôs legeis? –, und in 429d4–6 begründet er seine Leugnung der Möglichkeit falschen Sprechens mit einem verbreiteten Standardargument, das von seinen eigenen sprachphilosophischen Annahmen völlig unabhängig ist.
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rung entsprechender Konventionen Namen einzuführen, die dem hypernaturalistischen Standard natürlicher Richtigkeit nicht genügen. Wer den Hypernaturalismus vertreten will, ist also zwar vielleicht nicht gezwungen,20 tut aber zumindest gut daran, die Möglichkeit der verfehlten Zuordnung von Namen tout court zu leugnen, um derartige Schwierigkeiten zu vermeiden. Die Position, die Kratylos in 428e–430a bezieht, ist demnach ein durch Zusatzannahmen gegen naheliegende Einwände immunisierter Hypernaturalismus. In ihrem Zentrum steht die These, als Name für eine bestimmte Art von Gegenständen könne nur ein Ausdruck fungieren, dessen etymologische Bedeutung oder dessen mimetischer Gehalt zur ousia dieser Art passt. Dabei geht Kratylos davon aus, dass nur eine perfekte Anpassung des Ausdrucks an die Gegenstandsart seine Brauchbarkeit als Name sicherstellt; zudem nimmt er an, dass es ganz und gar unmöglich ist, einen Ausdruck Gegenständen zuzuordnen, zu denen er nicht in diesem höchst anspruchsvollen Sinne passt. Das ist eine Position, wie sie radikaler und kontraintuitiver nicht sein könnte. Wie die bisherigen Überlegungen dieses Abschnitts gezeigt haben, ist es aus Kratylos’ Perspektive trotzdem sehr konsequent, sie einzunehmen. Freilich nicht nur aus Kratylos’ Perspektive: Wer Namen als Lautfolgen konzipiert und außerdem den funktionalistischen Standard der natürlichen Richtigkeit der Namen anerkennt, hat kaum eine andere Wahl, als den Hypernaturalismus zu akzeptieren, und ist gut beraten, ihn durch die genannten Zusatzannahmen abzusichern. Was sich in 428e–430a abspielt, ist also kein sprachphilosophischer Amoklauf mit unklarer Motivlage. Viel treffender wäre es, von einer klärenden Neusortierung des dialektischen Tableaus zu sprechen: Zuvor hat Sokrates den Hypernaturalismus entwickelt, ohne sich zu ihm zu bekennen, aber auch ohne sich und seinem Gesprächspartner die Konsequenzen vor Augen zu führen, die zu tragen hat, wer ihn als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen vertritt. Dieses Versäumnis ist der »Selbstbetrug«, dem sich Sokrates in 428d1–8 zum Opfer gefallen wähnt. Indem er nun in 429a4–c6 zum ersten Mal thematisiert, was eindeutig dagegen zu sprechen scheint, den Hypernaturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit zu propagieren, setzt er diesem »Selbstbetrug« ein Ende – und sorgt so dafür, dass die wahre Gestalt dieser Theorie erkennbar wird. Er zwingt also gewissermaßen Kratylos als Personifikation des Hypernaturalismus dazu, Farbe zu bekennen. Und Kratylos spielt die ihm zugedachte Rolle mit vollendeter Kompromisslosigkeit: Er trägt nicht nur bereitwillig die unvermeidlichen Konsequenzen des Hypernaturalismus, sondern ergreift sogar noch Insofern wäre Sokrates’ Formulierung in 429d2 – τοῦτό σοι δύναται ὁ λόγος; – möglicherweise etwas überspitzt; oder δύναμαι indiziert hier, wie Burnyeat (2002), 40 Anm. 1, vermutet, einen loseren Zusammenhang als den der Implikation. 20
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weitere Maßnahmen, um ihn vor möglichen Attacken zu schützen. Sokrates, dessen »Selbstbetrug« damit zugunsten einer klaren Profilierung der verfügbaren Optionen überwunden ist, kann nun die Rolle des Kritikers der von ihm zuvor entwickelten, aber niemals affirmierten Theorie übernehmen.
Anlage, Verlauf und Ergebnis von Sokrates’ Kritik des HYPERNATURALISMUS (430a –435d)
Sokrates’ Kritik an Kratylos’ Position ist zwar nicht in ihren Details, wohl aber in ihrer Grundausrichtung in weiten Teilen leicht zu verstehen: In 430a–431c widerlegt Sokrates zunächst Kratylos’ zweite Zusatzthese, nach der die Fehlanwendung von Namen unmöglich ist, und dann in 431c–433b seine erste Zusatzthese, nach der nur eine perfekte phonetische Nachahmung der ousia einer Gegenstandsart als Name für diese Gegenstandsart fungieren kann. Die Argumente, die Sokrates in 430a–433b entwickelt, sind so faszinierend wie intrikat und lohnen fraglos eine eingehende philosophische Auseinandersetzung. Um zu klären, welchen Schluss ein Leser des Kratylos aus Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen ziehen soll, ist eine solche Auseinandersetzung allerdings nicht erforderlich. Es ist nämlich vollkommen klar, was die Argumentation in 430a–433b zu dieser Untersuchung beiträgt: Sokrates trägt hier den argumentativen Schutzwall ab, den Kratylos um seine Kernthese errichtet hat, nach der die Richtigkeit eines Namens einzig und allein von seiner etymologischen Bedeutung oder seinem mimetischen Gehalt abhängt, um sich dann in 433b–435d der Kritik dieser Kernthese widmen zu können. Auf eine Analyse von Sokrates’ Überlegungen in 430a–433b kann daher im Rahmen dieser Studie verzichtet werden. (Das gilt umso mehr, als bereits mehrere höchst scharfsinnige Diskussionen der Binnenstruktur von Sokrates’ Argumentation vorliegen, denen nicht mehr viel hinzuzufügen ist.21) Die Schwierigkeiten, vor die Sokrates’ Auseinandersetzung mit Kratylos’ Position einen Interpreten des Kratylos stellen, liegen anderswo: Erstens fragt sich nämlich, wieso Platon dieser Position, die ja höchst kontraintuitiv und unplausibel ist, überhaupt so viel kritische Aufmerksamkeit schenken sollte, statt Sokrates einfach ohne Umschweife auf einen Beispielfall verweisen zu lassen, in dem ein Ausdruck ein brauchbarer Name für eine Gegenstandsart ist, zu deren ousia seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt nicht passt, um so die offenkundige Absurdität des Hypernaturalismus zu demonstrieren. Zweitens ist unklar, warum die Investition so großer kritischer Aufmerksamkeit sich nicht
21
Siehe insbesondere Barney (2001), 111–123, und Ademollo (2011), 338–382.
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in Form eines eindeutigen Ergebnisses bezahlt macht – Sokrates’ Kritik an Kratylos’ Kernthese führt ja zu einem Fazit, das vager nicht sein könnte. Diese beiden hartnäckigen Schwierigkeiten lassen sich im Ausgang von den bisher erreichten Ergebnissen ohne Mühe auflösen. Im Ausgang von der in diesem und den letzten drei Kapiteln erarbeiteten Interpretation der Ausarbeitung des Hypernaturalismus in 391b–427d und insbesondere auch seiner Appropriation durch Kratylos in 428e–430a lässt sich nämlich sehr gut nachvollziehen, welchen Stellenwert Sokrates’ Kritik des Hypernaturalismus hat und welche Determinanten ihren Verlauf und ihr Ergebnis bestimmen. Sokrates’ Kritik wird so mitsamt ihres Ergebnisses verständlich werden als letzte Etappe eines Dialogs, der von einer so naheliegenden wie naiven Konzeption des Namens bestimmt ist, die ein Leser in einem eigenständigen Dialog mit diesem Dialog zugunsten einer adäquateren Perspektive auf den Namen und seine Richtigkeit überwinden soll. Wieso also muss – so die erste der beiden zu klärenden Fragen – eine so gründliche kritische Diskussion des Hypernaturalismus in seiner von Kratylos vertretenen Form den Abschluss von Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen bilden?22 Wenn man Kratylos’ Position mit den allermeisten Interpreten des Kratylos für eine so unmotivierte wie kapriziöse Radikalisierung derjenigen Position hält, die man vor dem Hintergrund von Sokrates’ Überlegungen in 391b–427d plausiblerweise einnehmen könnte, ist die Notwendigkeit oder zumindest Folgerichtigkeit einer solchen Diskussion schwer zu erkennen. Gäbe es kein nachvollziehbares Motiv dafür, Kratylos’ kontraintuitive Thesen zu akzeptieren, so gäbe es auch kein nachvollziehbares Motiv dafür, sie kritisch zu diskutieren.23 Aber wie die Überlegungen des vorigen Abschnitts gezeigt haben, gibt es ein solches Motiv eben durchaus: Man kann sich den Hypernaturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen gar nicht grundsätzlich anders zu eigen machen, als Kratylos es tut; und man kann, solange man die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nicht aufgibt, keine grundsätzlich andere Theorie der natürlichen Richtigkeit als den Hypernaturalismus vertreten. Auf der Ebene des Gesprächs zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern führt also ein direkter Weg von der Konklusion der Werkzeug-Analogie zu Kratylos’ radikaler Mit der Beantwortung dieser Frage tun sich insbesondere Anhänger der anti-konventionalistischen Interpretationslinie wie Barney und Sedley schwer, weil sie Kratylos’ Position für eine unnötige Verschärfung der eigentlich plausiblen Behauptung eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt halten. Ademollo (2011) als Vertreter der konventionalistischen Interpretationslinie sieht hingegen zumindest, dass Kratylos eine ähnlich radikale Position auch schon zu Beginn des Dialogs vertreten hat (vgl. Anm. 15), beantwortet aber ebenfalls nicht die Frage, wieso eine eingehende philosophische Auseinandersetzung mit dieser Position erforderlich sein sollte. 23 Vgl. dazu die Überlegungen der Einleitung. 22
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Position. Warum Sokrates diese Position kritisch untersuchen muss, ist somit klar: Sie ist das Resultat, zu dem seine eigene Untersuchung geführt hat – und zugleich viel zu problematisch, um einfach hingenommen zu werden. Da Kratylos’ Kernthese bei all ihrer Abwegigkeit ein Fundament in Sokrates’ eigener Argumentation hat, kann sie aber auch nicht ohne Weiteres unter Berufung auf den common sense zurückgewiesen werden, dessen Perspektive auf die Richtigkeit der Namen durch eben diese Argumentation ja gründlich diskreditiert zu sein scheint. Zudem ist Kratylos, wie sein Gesprächsverhalten in 428e–430a zeigt, bereit, jede noch so unplausible und kontraintuitive Konsequenz zu akzeptieren, um seine Kernthese vertreten und verteidigen zu können. Wie seine Ausführungen zum Namen des Hermogenes in 429b–430a zeigen, ist es deswegen zunächst vollkommen nutzlos, ihn mit einem Beispielfall zu konfrontieren, in dem ein gebräuchlicher und allem Anschein nach auch brauchbarer Ausdruck für eine Art von Gegenständen eingesetzt wird, zu der seine etymologische Bedeutung oder sein mimetischer Gehalt nicht passt; Kratylos kann ungerührt bestreiten, dass sich ein solcher Ausdruck auf die betreffenden Gegenstände auch nur anwenden, geschweige denn sich zu ihrem Namen machen lässt. Sokrates muss daher erst die Zusatzthesen, mit denen Kratylos seine Kernthese absichert, widerlegen: Er muss also zeigen, dass die Fehlanwendung von Namen möglich ist und Ausdrücke auch dann brauchbare Namen für bestimmte Gegenstände sein können, wenn sie zu ihnen aus der Perspektive des Hypernaturalismus nicht perfekt passen. Erst dann ist es sinnvoll, sich einem prôton onoma zuzuwenden, das so schlecht zu den Gegenständen passt, für die es verwendet wird, dass seine (von Kratylos nun nicht mehr problemlos zu bestreitende) Brauchbarkeit nicht auf seinen mimetischen Gehalt zurückgeführt werden kann – dem Namen sklêrotês beziehungsweise sklêron (434b–435a). Es ist also gerade die Intransigenz von Kratylos’ Haltung, die es erforderlich macht, den Rekurs auf das, was aus dem Blickwinkel des common sense selbstverständlich scheint, so ausführlich vorzubereiten. Zu Beginn der Untersuchung der Richtigkeit der Namen hätte man mit seinen Thesen unter Verweis auf ihre Abwegigkeit sicherlich noch kurzen Prozess machen können; aber nachdem der bisherige Untersuchungsverlauf Kratylos recht zu geben scheint, steht diese Option nicht zur Verfügung, und eine Kritik, die nicht an den Standpunkt des common sense gebunden ist, wird erforderlich. Auch die Überlegung, die Sokrates schließlich gegen Kratylos’ Kernthese vorbringt, verdankt ihre Schlagkraft keineswegs dem Rekurs auf das, was der gesunde Menschenverstand für selbstverständlich hält, sondern der sorgfältigen Konstruktion eines für Kratylos höchst problematischen Beispielfalls:24 Der mimetische Gehalt des Ausdrucks sklêrotês passt nämlich Sokrates’ Analyse in 24
Wie Barney (2001), 126, und Sedley (2003), 144, zu Recht festhalten.
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434b–d zufolge nicht besser zu der durch das rhô repräsentierten Härte als zu der durch das lambda repräsentierten Weichheit, so dass offenbar, wie Kratylos in 434e4 zugibt, menschliche Entscheidungen und Gewohnheiten einen Einfluss darauf haben müssen, was durch diesen Ausdruck kundgemacht wird.25 Der Name sklêrotês steht aus der Perspektive des Hypernaturalismus genau in der Mitte zwischen einem Ausdruck, der perfekt für die Benennung der Härte geeignet ist, und einem Ausdruck, der in dieser Hinsicht denkbar ungeeignet ist. Kratylos kann deswegen einerseits schlecht leugnen, dass sklêrotês als Name für Härte fungieren kann – zu nah ist er in seinem mimetischen Gehalt Ausdrücken, die diese Funktion zweifellos übernehmen können. Andererseits könnte Kratylos unter dieser Voraussetzung aber auch schlecht leugnen, dass Ausdrücke, deren mimetischer Gehalt noch schlechter zur Härte passt, dank einer entsprechenden Konvention ebenfalls zu ihrer Benennung eingesetzt werden könnten: Denn warum sollte, wenn die beträchtliche Abweichung des Ausdrucks sklêrotês vom hypernaturalistischen Ideal seine Brauchbarkeit nicht gefährdet, nicht auch noch eine etwas größere Abweichung tolerabel sein? Platon lässt Sokrates also einen Beispielfall betrachten, an dem deutlich wird, dass es für Kratylos nach seinem Zugeständnis, eine perfekte Erfüllung des hypernaturalistischen Standards sei keine notwendige Bedingung für die Brauchbarkeit als Name, willkürlich wäre, einen bestimmten Grad der Entsprechung zwischen mimetischem Gehalt und benannten Gegenständen zur Minimalbedingung natürlicher Richtigkeit zu erklären. Obwohl sich Sokrates also nicht auf den common sense beruft, sondern eine konsequent immanente Kritik von Kratylos’ Position entwickelt, würden seine Überlegungen ohne Zweifel den Schluss rechtfertigen, dass Ausdrücke mit beliebigem mimetischen Gehalt als Name für die Härte fungieren können, wenn eine entsprechende Konvention in Kraft ist – oder dass, noch allgemeiner gesprochen, jeder Ausdruck durch die Etablierung einer passenden Konvention zu einem brauchbaren Namen für jede Gegenstandsart gemacht werden kann.26 Diese Beobachtung macht die zweite der beiden klärungsbedürftigen Fragen noch drängender: die Frage nämlich, wieso Sokrates seine Untersuchung der Richtigkeit der Namen in 435a–d nicht mit einem eindeutigen Ergebnis abschließt. Die Vagheit dieses Ergebnisses ist auf den ersten Blick tatsächlich frappierend: Zwar hält Sokrates einerseits in 435a8 im Hinblick auf den Ausdruck sklêrotês fest, Vgl. zur Konzeption des Kundmachens beziehungsweise des dêloun, die diesem Argument zugrunde liegt, die Überlegungen im zweiten Abschnitt des achten Kapitels. 26 Zumal Sokrates in 435b6–c2 aus einer Betrachtung der Namen für Zahlen ein weiteres Argument entwickelt, das, wie Ademollo (2011), 407–411, gegen Sedley (2003), 142, zeigt, die Plausibilität der Rückführung der natürlichen Richtigkeit von Namen auf ihren mimetischen Gehalt noch weiter schwächt. 25
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dass für Kratylos »die Richtigkeit des Namens Konvention wird«,27 und vermeidet Formulierungen, die ihn auf die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit eines Namens und seinem mimetischen Gehalt verpflichten:28 So sagt er in 435c2 f. nur, auch er selbst habe etwas übrig für die Behauptung, »dass Namen den Gegenständen, soweit möglich, ähnlich sind«29 – was ebenso wenig einen Zusammenhang zwischen ihrer Richtigkeit und ihrem mimetischen Gehalt impliziert, wie die Beobachtung, dass manche Namen treffende Beschreibungen der ousiai der benannten Gegenstandsarten enkodieren, einen Zusammenhang zwischen ihrer Richtigkeit und ihrem etymologischen Gehalt impliziert;30 und in 435c7 bemerkt er, man »würde vielleicht, soweit es möglich ist, am schönsten sprechen«, 31 wenn man mimetisch adäquate Namen einsetzte, ohne dass seine sprachästhetische Mutmaßung Rückschlüsse auf die Frage nach der Richtigkeit der Namen zuließe. Aber andererseits bekennt er sich auch nicht zu der These, jede beliebige Lautfolge könne durch die Etablierung einer entsprechenden Konvention zu einem richtigen Namen für jede beliebige Gegenstandsart gemacht werden, sondern wählt dreimal Formulierungen, die besagen, dass Konvention und Gewohnheit eine Rolle für die Richtigkeit der Namen spielen,32 ohne diese Rolle aber näher zu beschreiben.33 […] σοι γίγνεται ἡ ὀρθότης τοῦ ὀνόματος συνθήκη. Vgl. zu diesem wichtigen Punkt Ademollo (2011), 414 f. und 420–423. 29 Ἐμοὶ μὲν οὖν καὶ αὐτῷ ἀρέσκει μὲν κατὰ τὸ δυνατὸν ὅμοια εἶναι τὰ ὀνόματα τοῖς πράγμασιν. Mit Fowler und Dalimier wird ἐμοὶ […] ἀρέσκει hier nicht im Sinne von »ich ziehe es vor, dass…«, sondern im Sinne von »ich glaube, dass…« aufgefasst. Vgl. dazu Sedley (2003), 147 f. 30 Vgl. dazu die Überlegungen des neunten und zehnten Kapitels dieser Studie. 31 Ἐπεὶ ἴσως κατά γε τὸ δυνατὸν κάλλιστ᾽ ἂν λέγοιτο ὅταν ἢ πᾶσιν ἢ ὡς πλείστοις ὁμοίοις λέγηται. 32 So in 435b5 f.: […] ἀναγκαῖόν που καὶ συνθήκην τι καὶ ἔθος συμβάλλεσθαι πρὸς δήλωσιν ὧν διανοούμενοι λέγομεν – hier ist aus dem Kontext klar, dass Sokrates über die Richtigkeit der Namen spricht; in 435b7–c2, wo er im Hinblick auf die Zahlen fragt: […] πόθεν οἴει ἕξειν ὀνόματα ὅμοια ἑνὶ ἑκάστῳ τῶν ἀριθμῶν ἐπενεγκεῖν, ἐὰν μὴ ἐᾷς τι τὴν σὴν ὁμολογίαν καὶ συνθήκην κῦρος ἔχειν τῶν ὀνομάτων ὀρθότητος πέρι; und in 435c5–7: […] ἀναγκαῖον δὲ ᾖ καὶ τῷ φορτικῷ τούτῳ προσχρῆσθαι, τῇ συνθήκῃ, εἰς ὀνομάτων ὀρθότητα. 33 Die Uneindeutigkeit von Sokrates’ Fazit ist für Ademollo als Anhänger der konventionalistischen Interpretationslinie besonders schwer zu erklären, weil er annimmt, dass Sokrates’ Argument eigentlich eine eindeutige Bestätigung für Hermogenes’ Position rechtfertigen würde; er kann daher nur auf mögliche dramaturgische Gründe für Sokrates’ Zurückhaltung verweisen (Ademollo (2011), 419 f.). Vertreter der anti-konventionalistischen Interpretationslinie können diese Zurückhaltung hingegen als einen Beleg für ihre These verbuchen, dass Sokrates einen Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt gar nicht in Abrede stellen, sondern sich selbst für eine abgeschwächte Variante von Kratylos’ Position starkmachen will. Indessen ist ein solcher Ansatz deswegen sehr problematisch, weil eine abgeschwächte Variante dieser Position sich entweder kaum noch von Hermogenes’ Konventionalismus unterscheidet oder aber immer noch zu radikal ist, um plausibel zu sein. Die von Barney (2001), 134–142, 27 28
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Auch die frappierende Vagheit von Sokrates’ Fazit lässt sich nun aber auf der Basis der bereits erreichten Ergebnisse sehr gut erklären. Warum Sokrates in 435a–d keinen eindeutigeren Schluss aus seiner Betrachtung des Namens sklêrotês zieht, wird nämlich erkennbar, wenn man sich vor Augen führt, wie dieser Schluss ausfallen müsste: Er müsste besagen, dass es – ganz wie Hermogenes zu Beginn des Kratylos behauptet hat – keine »andere Richtigkeit der Namen gibt als Konvention und Vereinbarung«, insbesondere keine natürliche Richtigkeit. Denn da auch im Gespräch zwischen Sokrates und Kratylos die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen nicht in Frage gestellt wird, implizierte die Feststellung, dass jede beliebige Lautfolge zu einem Namen für beliebige Gegenstände gemacht werden kann, auf der Ebene des Dialogs, dass es keine natürliche Richtigkeit der Namen gibt. Das aber kann Sokrates nicht ohne Weiteres als Ergebnis seiner Untersuchung festhalten – hat sie in ihrer ersten Phase doch gerade gezeigt, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt. Es ist daher nur folgerichtig, wenn er in seinem Fazit lediglich festhält, dass für Kratylos, der Namen als Lautfolgen konzipiert, »die Richtigkeit des Namens [sklêrotês] Konvention wird«, und ansonsten zu Formulierungen greift, die im Hinblick auf die Frage nach der Richtigkeit der Namen nicht eindeutig sind. Etwas anderes als Uneindeutigkeit kann nicht am Ende eines Argumentationsgangs stehen, dem sich erstens entnehmen lässt, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, der zweitens den Schluss nahelegt, vorgeschlagene Interpretation illustriert das erste Horn dieses Dilemmas: Dieser Interpretation zufolge hält nämlich Sokrates in 435a–d an der These fest, dass ein Ausdruck sensu strictu nur dann als vollkommen richtiger Name für bestimmte Gegenstände gelten kann, wenn er eine perfekte Nachahmung ihrer ousia ist, räumt aber gleichzeitig ein, dass dieses Ideal aus prinzipiellen Gründen unerfüllbar ist und auch nicht erfüllt werden muss, um die unumschränkte Funktionsfähigkeit unserer Namen zu garantieren. Einen derart konsequenzlosen und irrelevanten Standard der natürlichen Richtigkeit wird ein Konventionalist wie Hermogenes – schulterzuckend – akzeptieren können. Die von Sedley (2003), 145, skizzierte Interpretation illustriert das zweite Horn des Dilemmas: Dieser Interpretation zufolge würde Sokrates nämlich in 435a–d an der These festhalten, dass ein brauchbarer Name für bestimmte Gegenstände den hypernaturalistisch explizierten Standard der natürlichen Richtigkeit zumindest nicht zu stark verfehlen darf: »Socrates’ final position is therefore not the reversion to conventionalism it has so often been taken to be. Showing that convention must play some part in signification is simply the positive counterpart of his preceding demonstration to Cratylus that a name need not be a perfect vocal imitation of its object. […] The limiting case of successful imitation, the one which gave rise to a deadlock that only an appeal to linguistic custom could break, was the sklêrotês example, where there was a 50–50 split between positively appropriate and positively inappropriate sounds. We may infer that if the balance had tipped, however marginally, in favour of the inappropriate sounds, the word would have been disqualified from being the thing’s name.« Sedley schreibt Sokrates (und Platon) also die These zu, dass es unmöglich wäre, durch eine entsprechende Konvention beispielsweise sklêlotês statt sklêrotês zu einem Namen für Härte zu machen. Aus welchem Grund man eine dermaßen kontraintuitive These vertreten sollte, erklärt Sedley freilich nicht.
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dass die Richtigkeit der Namen nicht von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängig ist, und der drittens keinen Raum für alternative Theorien der natürlichen Richtigkeit zu lassen scheint. In dieser Situation hält Sokrates nur das fest, was in jedem Fall eingestanden werden muss – dass nämlich Konvention und Gewohnheit zur Richtigkeit der Namen beitragen –, ohne aber zu erklären, wie sich dieses Fazit zur Konklusion der Werkzeug-Analogie verhält.34 In dieser Hinsicht spiegelt die Konklusion von Sokrates’ Untersuchung ihre gedankliche Trajektorie genau wieder. Aber nicht nur in dieser Hinsicht: Sein Fazit schließt nämlich nicht aus, dass eine ganz andere Theorie der natürlichen Richtigkeit als der Hypernaturalismus eine Antwort auf die Frage bereithalten könnte, wie Konvention und Gewohnheit zur Richtigkeit der Namen beitragen können, auch wenn die Richtigkeit der Namen eine natürliche ist. Der Moderate Naturalismus tut genau das – er erklärt, wie durch die Etablierung einer passenden Konvention aus einer beliebigen Lautfolge ein natürlicherweise richtiger Name für eine bestimmte Gegenstandsart gemacht werden kann. Auch die Inszenierung des Abschlusses von Sokrates’ Auseinandersetzung mit dem Hypernaturalismus, die bei oberflächlicher Betrachtung fast den Eindruck erwecken kann, als wisse Platon selbst nicht genau, wie es sich mit der Richtigkeit der Namen verhält, ist daher offenkundig einem konkreten Ziel verpflichtet: Ein aufmerksamer Leser soll zu der Frage angeregt werden, welche Rolle Konvention und Gewohnheit für die natürliche Richtigkeit der Namen spielen. Leser, die mit dieser Frage zur Werkzeug-Analogie und insbesondere zu Sokrates’ Vergleich zwischen der Einführung von Namen und der Produktion von Werkzeugen in 389d–390a zurückkehren, haben gute Chancen, im Dialog mit dem Kratylos Hermogenes’ naive Konzeption des Namens zu überwinden und den Weg einzuschlagen, der im sechsten Kapitel dieser Studie beschrieben wurde – den Weg zum Moderate Naturalismus. *
Kretzmann (1971), 138, sieht im Gegensatz zu den allermeisten anderen Interpreten, dass Sokrates’ Konklusion einerseits mit der These, es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, verträglich ist, andererseits aber den zuvor vermuteten Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrem etymologischen oder mimetischen Gehalt dementiert. Kretzmann bemerkt aber aufgrund seiner verfehlten Unterscheidung zwischen einer »general theory of the correctness of names« und einer »special theory of the correctness of names« nicht, dass eine solche Konklusion höchst problematisch ist und die Frage nach einer Alternative zum H YPERNATURALISMUS dringlich macht. Zudem kann er auch nicht erklären, wieso Sokrates den H YPERNATU RALISMUS überhaupt als »special theory of the correctness of names« entwickeln sollte. 34
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Insgesamt bestätigt sich in der Auseinandersetzung mit der Passage 427d–435d auf eindrucksvolle Art und Weise die Leistungsfähigkeit der in den vorangehenden Kapiteln entwickelten Interpretation von Sokrates’ Gespräch mit Hermogenes. Diese Passage, in der sich Kratylos zunächst den von Sokrates entwickelten Hypernaturalismus zu eigen macht und Sokrates dann eine ausführliche Kritik von Kratylos’ Position entfaltet, weist vier höchst merkwürdige Charakteristika auf, die allesamt bisher noch nicht zureichend erklärt werden konnten: Erstens mahnt Sokrates in 428d eine Überprüfung seiner bisherigen Überlegungen an, die nie stattzufinden scheint, weil – zweitens – Kratylos den Hypernaturalismus ohne jede Not in einer radikalen und hochgradig kontraintuitiven Variante zu vertreten scheint. Drittens weist Sokrates Kratylos’ abwegigen Thesen nicht etwa, wie man es erwarten würde, unter Berufung auf den gesunden Menschenverstand zurück, sondern widmet ihnen große kritische Aufmerksamkeit. Viertens führt seine Kritik aber nur zu einem Ergebnis, dessen frustrierende Vagheit ihresgleichen sucht. Der Verlauf des Gesprächs zwischen Sokrates und Kratylos scheint, so die naheliegende Schlussfolgerung, geprägt zu sein von willkürlichen Entscheidungen und unerklärlichen Inkonsequenzen. Wie sich in diesem Kapitel gezeigt hat, wird die innere Logik des Dialogs zwischen Sokrates und Kratylos dann erkennbar, wenn man sich klar gemacht hat, dass Sokrates nach Abschluss der Werkzeug-Analogie vor der Aufgabe steht, eine zum funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit passende Theorie der natürlichen Richtigkeit zu entwickeln. Er kommt dieser Aufgabe durch die Ausarbeitung des Hypernaturalismus nach, ohne ihn aber kritisch mit dem funktionalistischen Begriff der natürlichen Richtigkeit abzugleichen. Diesen (von ihm selbst möglicherweise längst durchschauten) »Selbstbetrug« beendet Sokrates zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos durch die Frage, ob nicht auch Ausdrücke, die dem hypernaturalistisch explizierten Standard der natürlichen Richtigkeit nicht entsprechen, brauchbare Namen sein können. Diese Frage klärt die Fronten – denn wer für den Hypernaturalismus eintreten will, muss sie negativ beantworten. Kratylos tut genau das, und sichert den Hypernaturalismus zudem durch zwei Zusatzthesen ab. Sokrates bleibt daher nichts anderes übrig, als sich gründlich mit Kratylos auseinanderzusetzen, der ja nur die von Sokrates zuvor selbst entwickelte Theorie der natürlichen Richtigkeit mit all ihren bisher verdrängten Konsequenzen vertritt. Dabei kann Sokrates sich nicht auf den scheinbar diskreditierten common sense berufen, sondern muss eine immanente Kritik von Kratylos’ Position entwickeln. Obwohl diese Kritik sehr überzeugend ausfällt, kann sie aber aufgrund der Anlage der Untersuchung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen: Denn auf der Ebene des Dialogs ist eben keine Alternative zu Kratylos’ Hypernaturalismus und Hermogenes’ nicht weniger unhaltbarem Starken Konventionalismus verfügbar.
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Dem Fazit, das Sokrates in 435a–d zieht, lässt sich dementsprechend keineswegs entnehmen, welchen Schluss man aus seiner Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu ziehen hat: Es bringt vielmehr die Aporie zum Ausdruck, in die man unweigerlich gerät, wenn man – wie Hermogenes und die allermeisten Leser des Kratylos – Namen nicht von Lautfolgen unterscheidet. Wenn Platon Sokrates dieses Fazit ziehen lässt, führt er seinen Lesern also einerseits die Konsequenzen ihrer eigenen Vorannahmen und –urteile vor Augen. Andererseits regt er sie aber auch dazu an, eine Frage zu stellen, die ihnen einen Ausweg aus ihrer scheinbar ausweglosen Situation eröffnen kann – die Frage nämlich, wie genau Konvention und Gewohnheit zur Richtigkeit der Namen beitragen. Wer diese Frage im Ausgang von dem Vergleich zwischen der Einführung von Namen und der Produktion von Werkzeugen gründlich untersucht, kann eine neue Perspektive auf Namen und ihrer Richtigkeit gewinnen und eine höchst plausible Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen entwickeln. So ist auch Platons Inszenierung der auf den ersten Blick so merkwürdigen Passage 427d–435d dem Ziel verpflichtet, an dem die Komposition der gesamten Untersuchung der Richtigkeit der Namen ausgerichtet ist: Sie soll einen aufmerksamen Leser dazu anregen, in einer eigenständigen, wenn auch von Platon gelenkten Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie diejenige Erkenntnisbewegung zu vollziehen, die in der Ausarbeitung des Moderaten Naturalismus kulminiert. Dieses Ziel ist es, das Sokrates’ Untersuchung im Kratylos zu einer gedanklichen Einheit macht, deren Gravitationszentrum die Werkzeug-Analogie bildet.
Schlussbemerkung
Die vorliegende Studie zum Kratylos ging von der Beobachtung aus, dass auf den ersten Blick völlig unklar ist, welchen Schluss man aus der Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu ziehen hat, die Sokrates in diesem Dialog gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern Hermogenes und Kratylos durchführt. Im Laufe dieser Untersuchung scheint Sokrates weder die These zu bestätigen, es gebe keine natürliche Richtigkeit der Namen, noch scheint er ein überzeugendes Argument für die These zu entwickeln, Namen seien insofern einem Standard der natürlichen Richtigkeit unterworfen, als sie ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt nach zu den benannten Gegenständen passen müssen. Ganz im Gegenteil: Sokrates scheint beide Thesen zu widerlegen. Diese Beobachtung motivierte die Unterscheidung zwischen der Frage, ob es eine natürliche Richtigkeit der Namen gibt, und der Frage, ob die Richtigkeit der Namen von ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt abhängt. Positive Antworten auf diese Fragen würde Sokrates’ Untersuchung nur dann rechtfertigen, wenn sie einem Konventionalisten wie Hermogenes, der nicht von einer natürlichen Richtigkeit der Namen ausgeht, gute Gründe dafür liefern würde, solche Antworten zu akzeptieren und somit von seiner Position abzurücken. Denn da diese Position Ausdruck des common sense ist, bedarf sie selbst keiner philosophischen Absicherung, während eine überzeugende Begründung erforderlich ist, um von ihr zugunsten einer Alternativposition abzugehen. So erklären sich die beiden Leitfragen, die der nun abzuschließenden Auseinandersetzung mit dem Kratylos die Richtung vorgaben: (1) Liefert Sokrates einem Konventionalisten wie Hermogenes im Kratylos einen guten Grund dafür, von einer natürlichen Richtigkeit der Namen auszugehen? (2) Liefert er ihm weiterhin einen guten Grund dafür, die etymologische Bedeutung oder den mimetischen Gehalt von Namen für ihre Richtigkeit verantwortlich zu machen? Beide Leitfragen sind nun beantwortet, und es ist klar, welchen Schluss man aus Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Namen zu ziehen hat: Ja, es gibt eine natürliche Richtigkeit der Namen; nein, es gibt keinen guten Grund, von einem Zusammenhang zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung oder ihrem mimetischen Gehalt auszugehen. Ein Konventionalist wie Hermogenes sollte angesichts des Untersuchungsverlaufs keineswegs den von Sokrates’ tatsächlich entwickelten Hypernaturalismus, sondern den im Dialog nicht entfalteten Moderaten Naturalismus als eine Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen akzeptieren.
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So akkurat diese knappe Zusammenfassung der erreichten Resultate auch sein mag: Sie verschleiert doch die philosophische Komplexität von Sokrates’ Auseinandersetzung mit Hermogenes und Kratylos; insbesondere verschleiert sie auch die Subtilität und Raffinesse, mit der Platon diese Auseinandersetzung inszeniert. Er sorgt nämlich dafür, dass auf der Ebene des Dialogs kein Weg an der Entwicklung des so unplausiblen wie kontraintuitiven Hypernaturalismus vorbeiführt, indem er Hermogenes mit einer Vorannahme ausstattet, die es ihm unmöglich macht, andere Denkoptionen wahrzunehmen. Seine Leser regt er durch diese Inszenierung dazu an, die problematische Vorannahme infrage zu stellen und in einem eigenständigen – wenngleich von Platon in bestimmte Bahnen gelenkten – Dialog mit dem Kratylos den Moderaten Naturalismus als eine plausible Alternative zum Hypernaturalismus zu konstruieren. Die zunächst sehr plausible Vorannahme, mit der Platon Hermogenes ausstattet, besagt, dass Namen nichts anderes sind als Lautfolgen. Da Namen sich der sinnlichen Erfahrung tatsächlich nur als Lautfolgen präsentieren, dürften die allermeisten Leser des Kratylos zu Beginn ihrer Lektüre diese Annahme teilen. Sie führt indessen dazu, dass konventionalistischen Intuitionen nur durch die Formulierung des Starken Konventionalismus Ausdruck verliehen werden kann, der seine Vertreter in die Arme des Protagoreischen Relativismus zu treiben droht. Schließlich sind, wie Sokrates in 385b2–d1 zeigt, Namen sprachliche Einheiten, die ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen und ›falsch von‹ anderen Gegenständen sind; und wenn die Richtigkeit von Namen Entscheidungssache wäre, wie der Starke Konventionalismus behauptet, müssten Wahrheit und Wirklichkeit von menschlichen Entscheidungen abhängen. Unfähig, seine Position gegen diese relativistische Bedrohung zu verteidigen, hat Hermogenes dem in der Werkzeug-Analogie vorgetragenen Argument für die Schlussfolgerung, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat«, nichts entgegenzusetzen. Tatsächlich handelt es sich dabei auch um ein gutes Argument: Denn ein dem common sense verpflichteter Konventionalist wie Hermogenes kann nicht ohne Weiteres bestreiten, dass ein Name sich dazu einsetzen lassen muss, im Vollzug des Nennens einen Beitrag zur Formulierung einer zu objektiver Wahrheit fähigen Aussage zu leisten. Mithin kann er auch nicht ohne Weiteres bestreiten, dass ein Ausdruck nur dann als richtiger Name für bestimmte Gegenstände anzuerkennen ist, wenn er einen von der Natur des Nennens vorgegebenen Standard erfüllt – wenn er ein sprachliches Werkzeug ist, mit dem sich durch die Unterscheidung der ousia der Art, zu der diese Gegenstände gehören, zur Belehrung eines Hörers beitragen lässt. Da Hermogenes nach wie vor Namen mit Lautfolgen identifiziert, kann er aus diesem Ergebnis nur den Schluss ziehen, dass Lautfolgen diesen Standard unabhängig von menschlichen Entscheidungen und Konventionen erfüllen kön-
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nen. Umso nachvollziehbarer ist seine Bitte an Sokrates, ihm zu erklären, was es heißt, diesen Standard zu erfüllen. Dass Sokrates daraufhin die etymologischen Bestandteile von Namen für ihre natürliche Richtigkeit verantwortlich macht, ist nur folgerichtig: Denn betrachtet man Namen als von allen Verwendungskonventionen unabhängige Lautfolgen, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als ihre natürliche Richtigkeit auf ihre Zusammensetzung aus bestimmten Bestandteilen zurückzuführen. Ebenso folgerichtig ist es aus demselben Grund, dass Sokrates die natürliche Richtigkeit derjenigen Namen, die sich etymologisch nicht mehr analysieren lassen, auf ihren mimetischen Gehalt zurückführt, der sich ihrer Zusammensetzung aus bestimmten Lauten verdankt. Wenn man annimmt, dass Lautfolgen unabhängig von allen menschlichen Entscheidungen und Konventionen natürlicherweise richtige Namen für bestimmte Gegenstände sein können, gibt es keine Alternative zur hypernaturalistischen Theorie der natürlichen Richtigkeit. Die perzipierte Alternativlosigkeit des Hypernaturalismus führt dazu, dass Sokrates und Hermogenes in 391b–427d diese Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen entwickeln, ohne sie kritisch mit dem in der Werkzeug-Analogie erarbeiteten Begriff der natürlichen Richtigkeit abzugleichen. Ein solcher Abgleich würde zeigen, wie unplausibel und kontraintuitiv der Hypernaturalismus ist, insofern er impliziert, dass unsere Konventionen keinerlei Einfluss darauf haben, welche sprachliche Handlung wir durch die Artikulation einer Lautfolge vollziehen oder eben nicht vollziehen können; aber er findet nicht statt, weil die Alternativlosigkeit des Wegs zum Hypernaturalismus seine Gültigkeit zu verbürgen scheint. Sokrates befürchtet daher in 428d völlig zurecht, Opfer eines (von ihm freilich möglicherweise nur inszenierten) »Selbstbetrugs« geworden zu sein – und mahnt eine Revision der erreichten Ergebnisse an. Diese Revision nimmt die Gestalt einer Auseinandersetzung mit Kratylos an, der anders, als Sokrates und Hermogenes es in ihrem Gespräch taten, die Konsequenzen des Hypernaturalismus als Antwort auf die Frage, was einen Ausdruck zu einem im Sinne der Werkzeug-Analogie natürlicherweise richtigen Namen für bestimmte Gegenstände macht, klar benennt und akzeptiert. Kratylos bezieht damit eine Position, die ohne jeden Zweifel die Grenze zum Absurden streift. Gleichwohl gibt es auf der Ebene des Dialogs keine Alternative: Denn eine Rückkehr zu Hermogenes’ Position, der zufolge es keine »andere Richtigkeit der Namen gibt als Konvention und Vereinbarung«, erscheint angesichts der Argumentation der Werkzeug-Analogie ausgeschlossen; und auf die Frage, was einen Ausdruck zu einem im Sinne der Werkzeug-Analogie natürlicherweise richtigen Namen für bestimmte Gegenstände macht, lässt sich keine Antwort geben, die plausibler ist als der Hypernaturalismus, solange man Namen als Lautfolgen betrachtet. Der Hypernaturalismus mag sich daher noch so abwegig ausneh-
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men – ihn einfach zurückzuweisen ist auf der Ebene des Dialogs nicht möglich, weil die Gesprächspartner die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen niemals in Frage stellen. Es ist dieses Dilemma, das Sokrates’ kritische Auseinandersetzung mit Kratylos’ Position und insbesondere seine Betrachtung des Namens sklêrotês samt ihrer merkwürdig oszillierenden Konklusion prägt. Der Logik der bisherigen Untersuchung gemäß kann diese Betrachtung nämlich nur zu zwei Ergebnissen führen: Sie kann entweder zeigen, dass »die Richtigkeit des Namens [sklêrotês] Konvention« ist, oder dass seine Richtigkeit in der Entsprechung zwischen seinem mimetischen Gehalt und der benannten Eigenschaft der Härte besteht. In Ermangelung anderer Optionen kann Sokrates aus seinen Überlegungen nur den Schluss ziehen, dass ersteres der Fall ist. Gleichzeitig wäre es aber höchst problematisch, diesen Schluss zu verallgemeinern, obwohl das vorgetragene Argument dies durchaus zuzulassen schiene: Denn eine solche Verallgemeinerung käme einer uneingeschränkten Bestätigung der bereits widerlegten Ausgangsthese des Hermogenes gleich. Sokrates muss daher in seiner Konklusion eine halbgare und schwer verständliche Mittelposition einnehmen, der zufolge Konvention und Gewohnheit (nur) einen Beitrag zur Richtigkeit der Namen leisten. Diese Position frustriert das Bedürfnis nach Konsequenz und Eindeutigkeit zutiefst; aber Inkonsequenz und Uneindeutigkeit lassen sich nicht vermeiden, wenn die beiden Positionen, die sich durch Konsequenz und Eindeutigkeit auszeichnen, unhaltbar sind. Sokrates’ Konklusion ist daher in ihrer enervierenden Ambivalenz der passende Abschluss einer Untersuchung, die der unkritisch akzeptierten Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen wegen auf die unmögliche Wahl zwischen Starkem Konventionalismus und Hypernaturalismus hinausläuft. Aus Hermogenes’ Perspektive lässt sich somit keine Alternative zu dem Weg erkennen, den Sokrates bei seiner Untersuchung der onomatos orthotês einschlägt. Ein Leser, der sich grundsätzlich mit Hermogenes’ konventionalistischen Intuitionen und seiner Berufung auf den common sense identifiziert, aber von Platon dazu angeleitet wird, den Dialog zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern nicht nur passiv zu verfolgen, sondern selbst in einen Dialog mit diesem Dialog zu treten, kann hingegen zu einer Position vorstoßen, die den Gegensatz von Starkem Konventionalismus und Hypernaturalismus transzendiert. Es ist diese Erkenntnisbewegung, die Platon durch die Inszenierung des Kratylos auslösen will – aber eben nicht, indem er sie von seinen Dialogfiguren durchlaufen lässt, sondern indem er seinen Leser dazu anregt, die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen als diejenige Vorannahme zu identifizieren, die im Dialog den Weg zum unhaltbaren Hypernaturalismus alternativlos macht, und selbstständig die Denkmöglichkeit auszuloten, die der Verzicht auf diese Vorannahme eröffnet. Darin liegt die systematische Doppelbödigkeit von Pla-
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tons Inszenierungsstrategie: Der Schluss, den ein Leser aus dem Argumentationsgang des Kratylos ziehen soll, ist an der Dialogoberfläche noch nicht einmal als Option präsent. Auch ein aufmerksamer Leser wird sicherlich nicht bei seiner ersten Lektüre den Moderaten Naturalismus als plausible Alternative zum Starken Konventionalismus und zum Hypernaturalismus konstruieren können. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er mit Abschluss der Werkzeug-Analogie noch nicht einmal die Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen aufgegeben haben – und sich dementsprechend wie Hermogenes die Frage stellen, was eine bloße Lautfolge zu einem natürlicherweise richtigen Namen für bestimmte Gegenstände machen könnte. Die Entwicklung des Hypernaturalismus führt einem solchen Leser also vor Augen, auf welche Position er selbst aufgrund seiner naiven Konzeption des Namens verpflichtet ist, während Sokrates’ Kritik des Hypernaturalismus ihm zeigt, dass diese Position ebenso unhaltbar ist wie der Starke Konventionalismus. Sokrates’ uneindeutiges Fazit in 435a–d spiegelt daher einerseits die aporetische Situation wider, in der sich ein Leser befindet, aus dessen beschränkter Perspektive es keine Position zu geben scheint, die er angesichts der vorangegangenen Untersuchung im Hinblick auf die Frage nach der Richtigkeit der Namen noch einnehmen könnte. Andererseits kann und soll der unbefriedigende Abschluss der Untersuchung ihn zur Umkehr bewegen – zur erneuten kritischen Auseinandersetzung mit den Schritten, die ihn in diese Sackgasse geführt haben. Bei einer erneuten Lektüre der Passage 391b–427d wird einem aufmerksamen Leser dann auffallen, dass Sokrates’ Ausführungen die Plausibilität der Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Richtigkeit der Namen und ihrer etymologischen Bedeutung beziehungsweise ihrem mimetischen Gehalt bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht stärken, sondern unterminieren. Diese Beobachtung wiederum dürfte die Frage provozieren, was man sich unter der natürlichen Richtigkeit der Namen sonst vorstellen könnte – und was genau die Schlussfolgerung der Werkzeug-Analogie, »dass der Name von Natur aus eine gewisse Richtigkeit hat«, eigentlich besagt. Ein in dieser Weise sensibilisierter Leser wird also zum ersten Dialogabschnitt 383a–391b zurückkehren, um zu klären, zugunsten welcher Position er in Anbetracht des hier von Sokrates entfalteten Gedankengangs von seiner und Hermogenes’ Ausgangsthese abrücken muss, der zufolge es keine »andere Richtigkeit der Namen gibt als Konvention und Vereinbarung«. Es ist dieser Klärungsversuch, der zu einer Distanzierung von der unkritischen Gleichsetzung von Namen und Lautfolgen und letztlich zur Konstruktion des Moderaten Naturalismus als Alternative zum Starken Konventionalismus und zum Hypernaturalismus führen kann. Angestoßen wird eine solche Erkenntnisbewegung bereits durch die Hinführung zur Werkzeug-Analogie in 383a–386e, die einen
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aufmerksamen Leser zu einer Reflexion darüber provoziert, wieso Hermogenes’ einleuchtende These sich nicht gegen ein Abgleiten in den Protagoreischen Relativismus absichern lässt. Eine solche Reflexion begünstigt die Einsicht, dass ein Name als sprachliche Einheit, die ›wahr von‹ bestimmten Gegenständen und ›falsch von‹ anderen Gegenständen ist, nicht mit einer Lautfolge identifiziert werden kann. Ein Leser, der dementsprechend zwischen Namen und Lautfolgen zu unterscheiden gelernt hat, wird in der Folge seinen konventionalistischen Intuitionen anders und umsichtiger Ausdruck verleihen, als Hermogenes es tut – nämlich durch die Formulierung des Schwachen Konventionalismus. In seiner erneuten Auseinandersetzung mit der Werkzeug-Analogie wird er zum einen feststellen, dass Sokrates’ Überlegungen die Anerkennung eines Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen tatsächlich unumgänglich machen; schließlich kann er, genau wie Hermogenes, schwerlich bestreiten, dass sich mit einem Namen für bestimmte Gegenstände die ousia der Art, zu der diese Gegenstände gehören, für einen Hörer herausgreifen lassen muss. Zum anderen wird er feststellen, dass die Anerkennung dieses Standards der natürlichen Richtigkeit der Namen ihn nicht darauf verpflichtet, den Schwachen Konventionalismus aufzugeben – und nach einer den Schwachen Konventionalismus integrierenden Antwort auf die Frage zu suchen beginnen, was einen Ausdruck zu einem natürlicherweise richtigen Namen für bestimmte Gegenstände macht. Eine solche Antwort bietet der Moderate Naturalismus, zu dessen Entwicklung Sokrates’ Vergleich der Einführung eines natürlicherweise richtigen Namens mit der Produktion eines brauchbaren Werkzeugs einen aufmerksamen Leser anleitet. Im Zentrum des Moderaten Naturalismus steht der Gedanke, dass die Konvention, von der die Verwendung eines natürlicherweise richtigen Namens regiert wird, ihm keineswegs äußerlich ist, sondern sich zu ihm vielmehr so verhält wie die Form oder Gestalt eines tauglichen Werkzeugs zu diesem Werkzeug: Sie verleiht ihm das operative Potenzial, das ihn zu einer echten Einheit macht und seine natürliche Richtigkeit begründet. Dem Moderaten Naturalismus zufolge erfüllt ein Ausdruck den Standard der natürlichen Richtigkeit, den alle Namen für eine bestimmte Gegenstandsart erfüllen müssen, genau dann, wenn die Konvention, die seine Verwendung regiert, auf die Aufgabe der Unterscheidung dieser Art für einen Hörer abgestimmt oder ihr angemessen ist – wenn sie also zu der Natur dieser spezifischen Version des Nennens passt. Die Lautgestalt der Namen für die Art, die diesen Standard erfüllen, kann dabei im Sinne des Schwachen Konventionalismus beliebig variieren: »Hund«, »dog« und kuôn sind gleichermaßen Namen für die Art der Hunde, weil die ihre Verwendung regierenden Konventionen gleichermaßen auf die Aufgabe der Unterscheidung der Art der Hunde für einen Hörer abgestimmt sind.
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In dieser Hinsicht kann sich ein Leser, der zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Kratylos im Einklang mit Hermogenes noch keine naturgegebenen Einschränkungen unserer Freiheit bei Einführung und Austausch von Namen anerkannt hat, am Ende dieser Auseinandersetzung aber den Moderaten Naturalismus als Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen akzeptiert, in seinen Intuitionen bestätigt fühlen: Unsere Freiheit bei der Wahl der Lautfolgen, aus denen wir Namen für bestimmte Gegenstände machen, unterliegt tatsächlich keinen naturgegebenen Einschränkungen. Mit der Konversion zum Moderaten Naturalismus wird allerdings erkennbar, dass diese Souveränität sich nur auf die sinnliche Gestalt der Namen bezieht, die wir einführen, während die Namen selbst durchaus natürlichen Anforderungen unterliegen, die sich unserer Willkür entziehen. Die Wirklichkeit gibt uns vor, welche genuinen Namen wir einführen können – und wir müssen erst entdecken, welche Namen dies sind, um ihnen dann eine Erscheinungsform unserer Wahl verleihen zu können. Die Tendenz, die Einführung eines Namens auf die Wahl seiner Erscheinungsform zu reduzieren, sie also als kognitiv anspruchslose Zuweisung einer Lautfolge zu einer unproblematisch gegebenen Art zu konzipieren und so ihre an natürliche Standards gebundene Tiefendimension zu verkennen, rührt daher, dass für uns Leser des Kratylos, die wir über die Einführung von Namen nachdenken, die Wirklichkeit bereits sprachlich erschlossen ist. Für uns nimmt es sich so aus, als müsse bei der Einführung eines Namens nur entschieden werden, welche Lautfolge einer Art von Gegenständen zugeordnet werden soll, weil wir diese Art ganz unproblematisch mit einem Namen herausgreifen können. Platon ermöglicht uns durch seine Inszenierung des Kratylos die Emanzipation von diesem sprachvergessenen Blick auf Sprache, indem er uns zur Konstruktion des Moderaten Naturalismus anleitet. Er vermittelt uns so eine Perspektive, aus der wir erkennen können, was wirklich vor sich geht, wenn ein Name eingeführt wird, und wie stark unsere Freiheit bei einem solchen Akt von natürlichen Anforderungen eingeschränkt wird. * Diese Leistung macht den Kratylos zu einem Dialog, der nicht nur unser historisches Interesse, sondern unsere volle philosophische Aufmerksamkeit verdient. Denn wir heutigen Leser vergessen nicht weniger leicht als Hermogenes, dass wir es als Sprecher einer Sprache mit einer bereits weitgehend erschlossenen Wirklichkeit zu tun haben, und verwechseln dementsprechend die sinnlich wahrnehmbare Oberfläche, die uns ein Name präsentiert, mit dem Namen selbst. Der Kratylos regt uns dazu an, einen der gedanklichen Wege, die man im Ausgang von der Diagnose der eigenen Sprachvergessenheit einschlagen kann, konsequent zu ver-
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folgen. Es ist ein sehr einfacher – und auf den ersten Blick auch sehr plausibler – Grundgedanke, den man auf diesem Weg zu entfalten hat: der Gedanke nämlich, dass unsere sprachlichen Konventionen an den objektiven, von der Sprache ganz und gar unabhängigen Strukturen der Wirklichkeit ausgerichtet sein müssen; dass diese Strukturen also eine Norm vorgeben, die unsere Sprache erfüllen muss, wenn sie im vollen Sinne Sprache sein soll. Dieser Gedanke hat in der Geschichte der westlichen Sprachphilosophie, an deren Beginn der Kratylos steht, kaum etwas von seiner Anziehungskraft eingebüßt: Er prägt etwa das für die moderne Sprachphilosophie grundlegende Werk Freges mit seiner Forderung nach einer Sprache, in der jedem Begriffswort auch tatsächlich einer der objektiv existierenden Begriffe entspricht. Einen solchen Gedanken in Auseinandersetzung mit dem Kratylos zu entfalten, heißt freilich, ihn auf eine ganz bestimmte Weise zu entfalten. Spezifisch für das Bild, das der Kratylos einem aufmerksamen Leser vermittelt, ist zum einen seine Einbettung in den ontologischen Rahmen, der in anderen Platonischen Dialogen aufgespannt wird, und zum anderen sein Fokus auf die Analogie zwischen Namen und Werkzeugen. Indessen gereichen ihm diese beiden spezifischen Züge nicht zum Nachteil. Denn was den Aspekt der Einbettung in eine Hintergrundontologie anbetrifft, ist zu konstatieren, dass eine informative Antwort auf die Frage, welche objektiven Anforderungen an Sprache die Organisation der Wirklichkeit vorgibt, sicherlich nicht gegeben werden kann, ohne diese Organisation zu beschreiben. Platon selbst führt seinen Lesern die überragende Bedeutung dieser ontologischen Aufgabe geschickt vor Augen: Schon durch seine Inszenierung der WerkzeugAnalogie lässt er deutlich werden, dass die anti-relativistische Annahme stabiler ousiai explikationsbedürftig ist; aus der etymologischen Sektion geht hervor, dass diese Annahme insbesondere gegen die Herakliteische Flusstheorie verteidigt werden muss; und im letzten Teil des Kratylos lässt Platon Sokrates andeuten, wie eine solche Verteidigung aussehen könnte, und verweist seine Leser so auf diejenigen Dialoge, in denen die Auseinandersetzung mit dem Theorieamalgam aus Relativismus und Flusstheorie sowie die Ausarbeitung einer anti-relativistischen Ontologie im Mittelpunkt stehen. Nun mag man daran zweifeln, ob diese Dialoge das von Sokrates skizzierte Programm erfolgreich umsetzen – ob sie also unter Rekurs auf die Ideenannahme und die mit ihr eng verbundene Charakterisierung der Kompetenz des Dialektikers als Schlüssel zu genuiner Wirklichkeitserkenntnis eine überzeugende Explikation der Grundstrukturen der Realität bieten. Aber wie auch immer man sich dazu stellt: Man wird es in jedem Fall als einen Vorzug des im Kratylos verfolgten sprachphilosophischen Ansatzes anerkennen müssen, dass er sich überhaupt auf eine solche Explikation stützen kann. Im Hinblick auf die zentrale Rolle, die der Vergleich zwischen Namen und Werkzeugen bei der Entwicklung des Moderaten Naturalismus spielt, ist ande-
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rerseits festzuhalten, dass dieser Vergleich zwar schlecht zu der gewohnheitsmäßigen Betrachtung von Namen als Zeichen oder Symbole für Gegenstände passt, zugleich aber einen unbestreitbaren Vorteil hat: Er rückt nämlich die Handlungsdimension von Sprache in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die man nur allzu schnell aus dem Blick verliert, wenn man sprachliche Ausdrücke als symbola statt als organa denkt. Mithin ist er geeignet, der notorisch unfruchtbaren Frage den Boden zu entziehen, wie ein für sich genommen bedeutungsloses oder totes Zeichen dennoch für etwas stehen kann – und stattdessen die weit weniger abstrakte und daher möglicherweise fruchtbarere Frage zu motivieren, wie wir durch die Artikulation bestimmter Laute in bestimmten Kontexten bestimmte Handlungen vollziehen können. Damit ist nicht gesagt, dass die Analogie zwischen Namen und Werkzeugen nicht auch ihre Grenzen hat; zwei solche Grenzen wurden im siebten Kapitel der vorliegenden Studie herausgearbeitet. Aber die Vermutung, dass es – ausreichende Sensibilität für die Limitationen einer jeden Analogie vorausgesetzt – gewinnbringend sein könnte, Namen nicht als Zeichen für Gegenstände zu betrachten, sondern als Instrumente, mit deren Hilfe wir im Umgang mit der Wirklichkeit bestimmte Ziele erreichen können, ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Das Bild des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit, zu dem der Kratylos seine aufmerksamen Leser vorstoßen lässt, ist also eine mustergültige Ausarbeitung des Gedankens, dass die Strukturen der Wirklichkeit eine Norm definieren, an der sich unsere Sprache messen lassen muss. Die Frage, ob dieses (oder ein ähnliches) Bild adäquat ist, konnte im Rahmen dieser Studie nur gestellt, aber nicht endgültig beantwortet werden. Dass es durchaus kritische Reserven gibt, die sich in der Auseinandersetzung mit einem solchen Bild mobilisieren lassen, ist deutlich geworden. Insbesondere ist es auf den ersten Blick kein völlig abwegiger Verdacht, dass wir uns selbst gar nicht hinreichend verständlich machen können, was es heißt, die von den Strukturen der Wirklichkeit vorgegebene Norm zu erfüllen oder nicht zu erfüllen – dass wir also beispielsweise nicht wissen, wie man Fälle, in denen sich mit einem Ausdruck die ousia einer Art beziehungsweise die betreffende Idee herausgreifen lässt, von Fällen unterscheidet, in denen es nur so scheint, als ließe sich mit einem Ausdruck eine solche Handlung vollziehen. Überzeugend wäre eine derartige Kritik aber nur dann, wenn sie sich auf eine bessere Beschreibung des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit stützen könnte: eine Beschreibung, die verständlich machen müsste, wie Sprache uns eine objektive Repräsentation der Realität ermöglichen kann, wenn wir uns bei der Einführung, Kritik und Anpassung sprachlicher Konventionen nicht an einer Norm orientieren können, die direkt von der Wirklichkeit vorgegeben wird, sondern nur an Normen, die wir uns in letzter Analyse selbst vorgeben.
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Insofern definiert der Kratylos den Maßstab, an dem sich jeder Versuch messen lassen muss, das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit durchsichtig werden zu lassen. Die Auseinandersetzung mit diesem so oft missverstandenen Dialog und der Sache, die er verhandelt, gehört daher ins Zentrum einer Sprachphilosophie, die sich nicht damit begnügt, einzelne sprachphilosophische Probleme zu diskutieren, sondern auf die Erhellung des Phänomens menschlicher Sprachlichkeit abzielt.
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Fett gesetzte Seitenangaben beziehen sich auf Stellen, die ausführlich diskutiert werden. Tiefgestellte Ziffern verweisen auf Fußnoten.
Anthologia Palatina 6.174 12425 6.288 12425 Aristophanes Nubes (Nub.) 148 41153 228–230 41153 333 41153 Aristoteles de Caelo (Cael.) 270b16–25 42593 de Interpretatione (Int.) 16a19–21 26934 16a30–34 39511 20b12–30 212 Metaphysica (Met.) 1003a34–b6 23073 1033b29–1034a2 36024 Meteorologica (Mete.) 339b16–30 42593 Politica (Pol.) I 2 5667 1253b37 12425 Sophistici elenchi (Soph.) 175b39–176a18 212
Gorgias DK B11, 14 14263 Homer Ilias (Il.) II 813 f. 3534 VI 265 430105 VI 401–403 35411 XIV 291 3534 XX 74 3534 XXII 448 12426 XXII 505–507 35513 XXIV 726–728 35717 Odyssea (Od.) V 62 12426 Parmenides DK 28 B1 427101 Platon Apologia (Apol.) 20c–24b 42797 31d 42798 41d 42798 Cratylus (Krat.) 383a–385b 31–41 383a–386e 10, 29–73, 135 f., 509 383a–391b 383 f., 509 383a–394e 37751 383a4–384a4 29
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Index Locorum
383a4 f. 291 383a5–7 30 383b6 f. 33 384a5 29 384c4 f. 30 384c10–d7 32, 35, 275 f. 384d1 f. 9, 315 384d2–5 3516 384d5 33 384d5–7 152 384d6 315, 326 384d7 325 385a/b 56 385a1–b1 30 385a2 5874 385a2–b1 34, 41 385a6–b1 36–38, 276 f. 385b–d 41–58 385b–386e 136, 147 385b1 4337, 44 385b2–6 49 385b2–d1 30, 41–58, 60 f f., 113 f f., 135, 13755, 159, 262, 506 385b8 4234 385c1–6 49 385c4 5050 385c4 f. 5049 385c5 5356 385c6 54 385c7 f. 117 385c7–9 49, 269 385c10 50, 5356, 122 385c10–13 49 385c14 5356 385c14 f. 49 385c16 122 385c16 f. 45 385c16–d1 49 385d–386e 58–73, 11811 385d1 4337
385d2 4337, 44 385d2 f. 4437, 6079 385d2–6 5875 385d2–386e5 30 385d3 5874 385d5 f. 6079 385d7 58 385d7–9 3516 385d7–e3 328, 35, 3619, 43 385d9–e3 33 385e–386e 69, 77, 119, 135, 161, 193, 199, 418 385e4 f. 71 385e4–386a3 70 385e4–386e4 58–73 386a2 71 386a5–7 30, 60, 41667 386d6–e1 132 f. 386d9–e4 417 386e–387b 113, 11811 386e–387d 6387 386e–390d 10 386e–391b 75–340 386e1 876, 41769 386e1 f. 71 386e4 41769 386e6 f. 9012 386e6–8 90–92 386e6–387b7 87–97 387a–b 87–99, 110, 312 387a1 f. 9112 387a2 11060 387a2–b7 77 387a4 1925, 6 387a4 11060 387a5 1925, 6 387a6 102 387a7 93 387a8 f. 94 387b–d 1156
Index Locorum
387b–388c 115 f f., 117–132, 187 f., 209 387b–389a 113–157 387b2–4 9112 387b4 102, 1925 387b8–d9 113 f., 117–127, 134, 138, 146 f. 387b8–388c2 77 387b10–c4 13755 387b11–c1 11060 387c/d 1168, 11810 387c1 93 387c1 f. 92, 102, 123 387c3 f. 94 387c5 44 387c6 f. 1131, 117 387c10 90, 92 387d–388a 95 387d4 f. 102 387d4–8 96, 130, 147 387d5 f. 11060 387d7 f. 234 387d8 94 387d10–388c2 114 388a2–7 97 388a6–8 96 388a10–b3 123, 125 388a10–b6 98 388a10–c2 114 388b 73 388b1 f. 190 388b10 f. 120, 13247, 190 f., 54 388b10–c1 1156, 117–132, 134 f f., 146, 1601, 165, 176, 189, 450 388b13–c1 77, 120, 122 f. 388b/c 375 388c–389a 146–157, 187 388c1 12631 388c3–8 12734 388c3–10 128 388c3–389a4 78, 115, 117 388c5–7 296
388c9–389a4 149–157 388d1 128 388d12 f. 156 388e7–389a4 115 389a–d 87, 99–111 389a–390a 81, 92, 115, 145, 149 389a2 f. 115, 311 389a3 f. 152 389a5 152 389a5–390a8 78 389a6–d3 99–111 389a7 f. 102 389b–d 109, 187–212 389b1–3 101 389b2 f. 100 389b3 102 389b5 102 389b8 f. 106 389b8–c1 107 389b8–d3 187–212 389b9 10857 389b9 f. 102 389b10 102, 1925 389c4 10136, 10857, 190, 1925 389c4 f. 100 389c4–7 110 389c6 1925 389c6 f. 10136, 190 389c7 100, 10857 389c9 190, 1925 389c10 10136 389d 195, 208 389d–390a 157, 247–293, 344, 375, 501 389d1 f. 106, 190 f f. 389d2 191 389d4 1925 389d4 f. 10136, 190 389d4–6 190 389d4–390a2 375 389d4–390a4 2493
531
532
Index Locorum
389d4–390a10 96, 247–293, 295 f. 389d5 152 389d6 10857 389d6 f. 78 389d9 152 389e1 376 390a1 f. 9621 390a4–7 252 390a5 152 390a6 1925 390a6 f. 78, 10136 390a6–8 45940 390a8 152 390a9–d6 78 390b–d 207, 295–340, 478 f. 390b1 f. 2964 390b1–d8 295–340 390b7 2964 390c2 152 390c2–12 127, 144 390c10 f. 20839 390d–391a 115 390d–391b 10, 16 390d5 152, 2964 390d9–391b5 17 390e3 10136, 1925 390e3 f. 10136 390e5–391a3 344 391a 77 391a2 f. 446 391a3 44611 391a8 10, 96 391b–c 353 391b–392d 378 391b–394e 10, 23, 173 f., 349, 351–392, 398, 400, 409 f f., 435, 447, 450 f f., 462 f., 473 f f. 391b–427d 80, 82, 344 f f., 496, 507, 509 391b–435d 346 f f. 391b4–392b5 352 f f.
391d–392b 353, 3934 391d6 37853 391d7–e1 3535 391e2 f. 3536 392a2 f. 37142 392a6 371, 377 f. 392b–d 354 392b–394d 279, 281 f. 392b1–7 407 392b2 354 392b3 354 392b6 f. 354 392b6–d10 352, 354 f. 392b9 371, 377 f. 392c2 f. 371, 377 f. 392c2–9 354 392c10–d1 355 392c10–d3 354 392d–394e 378 392d8 354, 371, 377 f. 392d8 f. 354 392d8–10 38660 392d11 356 392d11–e1 355 392d11–e8 38660 392d11–393d4 353, 356–362, 384, 388, 391 392d11–394e7 377 392e2 f. 378 392e2–4 35615 392e6 35616 392e6 f. 357 393a1 f. 359 393a1–5 385 393a1–d4 357–362, 369, 38660 393a6 359, 368 f. 393a6–b1 367 393a7–b1 359 393b1–4 387 393b3 f. 38054 393b7 f. 387
Index Locorum
393b7–d1 279 393b8 f. 39166 393c–394b 430106 393c2 35720 393c8 f. 360, 388 393c9–d1 369 393d–394d 376 393d2 360 393d4 f. 367 393d5–394b6 353, 363–366 393d6 363 393d7–394b 359 393e 36738 393e5–8 36328 394a 280 394a1–3 388 394a1–4 369 394a5–7 361 394a5–b7 376 394a7 364 394b1 364 394b3 f. 371 394b3–7 36432 394b6–c9 359 394b6–e7 353, 366–371 394b7–c1 35923, 369 394b7–c9 36636 394b/c 374 394c1 f f. 367 f f. 394d5–e2 37040 394d5–e7 393 394e 393 394e–400c 411 394e–422c 10, 23, 349, 393–441 396b3–7 402 396c6–d1 39718 396d4–8 39617 397a–b 171 397a7–9 399 397b 356
397b1–6 449 397b6–c2 3934 397b7 f. 393 397c–400c 393, 395, 411 397c4 393 399a3–5 39718 399a6–9 402 399a6–b4 40438 399c 38761 399c1–6 40233 399e4–400a1 39717 400a5–b3 40334 400b1–3 40438 400d–408d 394 f. 400d1–5 3935 400d6–e1 407 400d6–401a6 40747, 411 400e1–401a6 464 401a1–6 423 401a2–6 40746 401b8 f. 411 401b11–d7 41255 401c7 41254 401e–402c 41358 401e–410e 413 401e5 39718 402a8 41872 402b1–d2 413 403a3 40438 404c3 f. 40438 404c7–d8 413 404d6–8 40438 404d8–406a3 42589 405e1 40438 407b5 f. 40438 407c6 f. 40438 407d6 f. 3946 407d8 f. 39717, 427101 408d–410e 394 f. 408d4 f. 3946
533
534
408d6 f. 3947 409b10–c2 42589 409d–e 435118 409d1–3 39717 410b7 425 410e3 39718 411a–416d 394 411a1 1914 411a1–4 3949 411b3–c6 394, 396, 408, 413–422 411c3 41769 411c8–d4 41359 411d–420e 395 f., 414 411d4–e4 416 411e3 40438 412a1–4 416 412a4–b1 431109 412a5–b8 416 412c7–413d2 414 f. 414b2–4 427101 414b9–c2 403 414c 435118, 4443 414c3 403 414c4 40336 414c4–d3 40337 414c4–d5 419 414c5–d1 404 414d7–415a2 429, 430106 415a1 f. 427101 415c10–d6 415 416a 435118 416b7–d11 42589 416e–419b 394 417d10–e5 415 418a2 f. 40440 418a5–b6 40541 418e5–8 405 418e10–419a4 405 418e11–419a1 40544 419a3 40542
Index Locorum
419b–420e 394 420b–c 394 420d–e 394 420d3 39718 420e3–5 39718 421a–c 395 f. 421c–422c 4443 421c1 f. 39511 421c3–6 395 421c4–6 435117, 444 421d 4443 421d2 f. 395 421d9–422b9 436 f f. 421e3 436 422a1–b4 437 422a/b 4455 422b4 47569 422b6–8 437, 448 422c–424a 450 f f., 463 422c–424c 454 422c–427d 11, 23, 349, 383, 435, 439, 443–479 422c1–424a6 443 422c3 395, 40336 422c7–9 44815, 16 422c7–d10 444 422c/d 450 422d1–3 44817, 4833 422d1–6 449 422d2 f f. 444, 44818, 45225 422d6 44815 422d8 f. 46248 422d11–e1 45225 422d11–423b12 444, 455 422e3 444 423a8 451 423b9 444, 451 423b9–11 4432, 45225 423b13–424a6 444 423c–e 36533
Index Locorum
423c1 f. 449 423c1–424a6 467 423c4–6 449 423d–e 161 423d4–424a1 449, 45631 423e2–5 195, 19921 423e7–9 36738 423e7–424a6 444 424a–427d 463–469 424a7–425b4 444, 467 424a7–427d2 463–469 424a8 f. 4444 424b 436120 424b–425a 458 424b–425b 306 424b7–c3 445 424b8–10 36738 424b8–c4 476 424c–425b 469–479 424c5–9 445 424c5–425a5 471 424c5–425b4 469–479 424c6–d5 470 424c9–d4 4432, 445 424d1 f. 47060, 47569 424d1–5 474 424d2 f. 475 424d3 47060, 47569 424d4–425a5 445, 457 424d5 f. 456 424d6 f. 4456 424e4–425a5 45837 425a5–b3 445, 470 f. 425b5 f. 464 425b5–427d2 445, 467 425b6 f. 445 425b9–c7 46451 425c4 46450 425c9–d4 472 425d1–4 446, 453, 467
425d5–426a1 4457 426a3–b3 453, 46248 426b5 f. 446 426b5–8 453 426b6 447 426b7 f. 453 426c1–427c6 446, 460, 465, 474 426d3–5 465 426e4 f. 44610 426e4–7 465 427a5–c6 465 427c6–d2 45529 427c/d 488 427d–430a 346, 483–495 427d–435d 481–503 427d1 f. 446 428a8–b5 453 428b6–c8 481 428d 502, 507 428d1–8 380, 486–491, 494 428e–430a 11, 494, 496 f. 428e1 f. 4833 428e5–429a1 4834 429a 15278 429a–430a 482 429a2 f. 48913 429a2–c5 481 429a4–b9 48913 429a4–c6 484–495 429b–c 24414, 256 429b–430a 497 429b3 492 429b10 484 f. 429c4 f. 492 429c4–6 293 429c6–430a5 481 429c7–d6 492 f f. 429c9 49319 429d2 49420 429d4–6 140, 49319
535
536
Index Locorum
429e–430a 48 429e3–7 4948 429e3–430a4 140 430a 481 430a–431c 495 430a–433b 495 430a–435a 11 f. 430a–435d 486, 495–501 430a4 493 430d2–7 4744 431c–433b 495 432a–d 364 432a5–433b7 46145 432d5–9 46145 433a7–b1 45734 433b–435d 48712, 495 433d–434b 458 433d7–e2 45630 434a3–b9 45733 434b–d 498 434b–435a 497 434c–435a 13 434e1–435a4 37447 434e4 498 435a–d 11, 23, 83, 346 f f., 481 f., 498–501, 503, 509 435a8 11, 498 435b2 37446 435b5 f. 49932 435b6–c2 49826 435b7–c7 499 435d–440e 11, 23, 339, 487 436a–438e 335 436a–440e 339 436c2–d7 333, 431 436d–437d 334 437a1–c3 431 f. 437a8 f. 41769 437b6 431109 437c5–8 431110
438b–d 42799 438c1–4 4457 438d2–5 334 438d5–e3 335 f. 439b 336 439b–440d 336 f., 340, 417 f. 439b–440e 408 439b10–440e7 432 439c–440e 338 439c/d 19616 439c–440b 195 439c6–e5 196, 19921 439d/e 336 439e 197 439e–440c 336 439e4 f. 197 440c/d 337 Crito (Kri.) 48b–49e 4337 49e9 4337 50e7–51a7 4337 Epistulae (Ep.) VII 343a/b 26329 Euthydemus (Euthyd.) 286e9 5978 288d–293a 14568 293b–296d 5979 Euthyphro (Euthphr.) 6d/e 10446 6e4–7 10137 14e 4847 Gorgias (Gorg.) 448b/c 4847 448b6 12218 452d–453a 14262
Index Locorum
503d6–e4 10138 Laches (Lach.) 190e–192a 12116 190e–192b 30319 Leges (Leg.) 654a 42592 965b7–c3 10138 Meno (Men.) 71e–72a 30319 71e–72c 12116 72c/d 10446, 20224 74d7–e2 20224 93a–94e 280 Phaedo (Phd.) 65d 19616 74d6 10241 75c10–d3 10241 76d–e 19411 78b–84b 18344 78c–79a 19411 78d2–4 10241 99b 4847 102a10–b2 20124 Phaedrus (Phdr.) 242d 42798 244c–d 42592 247c 19411 264c2–5 25 266b–c 20736 269e4–270a3 41153 Philebus (Phil.) 17a–18e 47672 34a 4847
Politicus (Pol.) 259a 4847 260c–e 309 262a–264b 21751 262b7 203 262c10–d6 20225 262d3 204 262d4 203 263b8–10 20226 263d/e 22764 263d5 1131 265a 21751 275d–e 4847 277e–278e 4455, 47672 278c8–d6 47777 279a–283a 125 281a12–b1 4847 282b–c 125 282b1–c3 12528 282b4–7 12937 283a3–8 12529 283a4–8 12938 284e–285b 20736 293d8–e3 863 296b 4847 301d8–e4 38963 310e9 125 Protagoras (Prt.) 313c1 12218 319d–320b 28156 321b7 5978 Respublica (Rep.) 352d8–353b1 9724 455c–e 3549 473c 46653 476a–479d 13144 476a4–7 28665 477c6–d5 36533
537
538
485a/b 19411 506a4–7 30218 511b–c 30215,18 511b3–c2 30113 511b4 30215 518b–519b 264 518c1 f f. 13041 525b 19411 532a7 10241 534b–d 30215 596a5–7 20124 596b6–10 10138 597a2 10241 601c–602a 304 601e5 2963 602a3–6 2963 Sophista (Soph.) 221a 4847 221c–223b 231 221c–231e 231 221d 4847 223a 4847 223c–224e 231 224c 4847 224e–226a 231 226b–231b 231 226b8 12425 232b–236d 232 246a–249d 20431 246c–d 20531 251a–252e 476 252e–254b 476 253d1–3 47675 253e1 f. 47674 257b–258c 217 257c7–d8 10754 258a1–9 21751 261c–263d 43 261d–262a 46
Index Locorum
261d1–6 17124 262a 17124 262b9–c2 17124 262b9–d6 31633 262e4–263a11 17122 262e12–263a2 17124 262e13–15 12732 264c–268d 232 267d4–9 30928 Symposium (Symp.) 207c9–208b2 18143 211c8–d1 10241 Theaetetus (Tht.) 146c/d 30319 146c–147c 12116 147d–148b 28768 151e–186e 419 152b–c 6286 152c–160d 420 154b–155c 41667 155c8–10 41667 155d5–e1 41667 156a–160d 41767 156a–160e 420 156b1 420 156c7–e7 420 157b 4847 160d6–e2 41976 161b–162a 5976 166d–167d 5976 171d1 f. 59 179c2–7 42182 179d2–4 42181 189e–190a 13247 189e4–190a8 144 201d–202c 42799 201d–206b 4455, 47672 201d8–202c6 47881
Index Locorum
206b5–11 47881 Timaeus (Ti.) 27d–28a 13144 28c–29c 19411 48e–52d 16715
49b 4847 58c–68d 308 62a6–b6 30827 83a5–c3 28361 83b6 28361
539
Personenregister
Tiefgestellte Ziffern verweisen auf Fußnoten.
Abramczyk, I. 39723 Ackrill, J.L. 1913, 4027, 5151, 1166, 11914, 13145, 13350, 13756, 14874, 2505, 26025, 26126, 33253, 33661, 37549 Ademollo, F. 12f., 2117, 326, 3411, 3514, 3823, 4027, 4233, 5356, 5458, 5665,66, 5874, 5979, 72108, 862,4, 9012, 9417, 9830, 10032, 10241, 10756, 1156, 12015, 12322, 12423, 12528, 12836, 13145, 19718, 2506, 2517, 26025, 33661,62, 3511, 3547, 35512,14, 35719, 35822, 36329, 36635, 36737, 37041, 37242, 37446, 37852, 38964, 39410, 39512, 39615, 39825, 40542,44, 40746,47, 40951, 41256, 41463, 41770, 41975, 42384, 42695, 429103, 431111, 437122, 4444, 4469, 44815, 45021, 45123, 46044, 46248, 46653, 46755,56, 46959, 47060, 47163, 47569, 47671,73, 47779, 4834, 4845, 4857, 49015, 49116, 49521, 49622, 49826, 49928,33 Alston, W.P. 1625 Anagnostopoulos, G. 128, 3411, 4027, 5664, 851, 9623, 9726, 9931, 10240, 10344,45, 10755, 1166, 25823, 26025, 47163 Annas, J. 4443, 4455, 436120 Arieti, J.A. 2231 Aristoteles 5667, 12425, 1957, 212, 230, 26934, 36024, 39511, 425 Aronadio, F. 433114, 435116, 45123 Austin, J.L. 13960
Barnes, J. 21244 Barney, R. 12, 1310, 2016, 326, 35, 4027,28, 4438, 5663, 5874, 6182, 1156, 11810, 12835, 2506, 2517, 25719, 25823, 3511, 37345, 37549, 39717, 427101, 437124, 4431, 45123, 45529, 45837, 45939, 47060, 47163, 47264,65, 47367, 47671, 4857, 49521, 49622, 49724, 49933 Baxter, T.M.S. 3411, 4027, 851, 10344, 15583, 25823, 3511, 3932, 39615,16, 39721, 39824, 4455, 44712, 46146, 47163 Beere, J. 16715 Belardi, W. 4469, 44714, 46042, 46654 Benardete, S. 12528 Benfey, Th. 128, 1948, 19513, 39513, 39717, 39824, 432113, 4469, 45123, 47163 Berman, S. 21751 Bestor, T.W. 139, 4027, 12015, 27343, 44714, 45123 Blondell, R. 2231 Boyancé, P. 39717 Brentlinger, J. 18345 Bröcker, W. 2517 Brumbaugh, R. 39616 Buchheim, Th. 11810, 12423, 14263, 18344, 31734, 35822, 39167, 41767 Burge, T. 174f., 32242, 328 Burkert, W. 4455 Burnyeat, M. 71104, 41874, 42077, 49420
Bach, K. 17430, 17636 Bagwell, G. 3411, 5560, 5662 Barber, E.J.W. 12423
Calvert, B. 10036, 1926 Campbell, L. 12528 Casertano, G. 15379
542
Personenregister
Cherniss, H. 184 48, 21751, 3008 Churchill, S.L. 15683 Clay, D. 5667 Cohen, M.S. 20327. Cornford, F.M. 19410, 21751, 28361, 30215, 41977 Cotton, A.K. 2231 Crivelli, P. 94, 20224, 21142 Crombie, I.M. 851, 2517, 47163 Cross, R.C. 18345, 30215 Crowfoot, G.M. 12423 Davidson, D. 57 Demand, N. 15683 Demos, R. 13247 Denyer, N. 5662, 13755 Derbolav, J. 9011, 33151, 33661, 3511, 45123, 45836, 46043 Deutschle, J. 15581 Devitt, M. 9214, 28564 Diamond, C. 23579, 23682, 23884 Diehl, C. 3411,12, 3511 Dixsaut, M. 20840, 21751, 30217 Driscoll, S. 44920 Dummett, M. 21345,46, 22460, 22561 Dupré, J. 28564 Ebert, Th. 30217 Eckl, A. 3310, 5458, 3511, 39512, 39616, 39824, 40747, 42385, 45123, 45528 Evans, G. 31432 Fara, G. 17430 Fehling, D. 15581 Ferrante, D. 42384 Field, H. 9214 Fine, G. 128, 2014, 4540, 4642,43, 5151, 5662, 18345, 21142, 21751, 2517, 30215, 30725, 36533, 42182 Fine, K. 20635, 20737
Frege, G. 12632, 162ff., 17021, 21752, 21853, 233ff., 245f. Gadamer, H.-G. 14467, 27344, 31131, 33252 Gaiser, K. 5662, 3511, 39512,14, 39717, 40439, 41462, 41770, 429104, 431107 Geach, P.Th. 1625 Gerson, L.P. 14569 Geurts, B. 17430 Gill, C. 2218 Gold, J.B. 1913, 3412, 4027, 5662, 6593, 1166, 2505, 27345 Goldschmidt, V. 10345, 28156, 3511, 3932, 45123 Gonzalez, F.J. 2218 Gosling, J.C.B. 3411,13, 30215 Gould, J.B. 2506, 2517, 4469 Grote, G. 128, 6387, 70102, 19513, 39824, 42695, 428103, 434115 Guthrie, W.K.C. 2517 Guzzo, A. 139 Heinimann, F. 15379 Heitsch, E. 1913, 2117, 291, 3411,13, 1166, 14874, 2505, 36839, 37041, 38256, 39720, 42385, 42488, 4469, 45529, 46654 Heller, M. 18039 Herrmann, K.F. 39723 Hiller, M. 9113 Hintikka, J. 18345 Hochholzer, C. 10754, 20327, 47880 Homer 173, 352ff., 378, 387f. Höttermann, E. 39717 Horn, F. 5562, 5768, 9113, 9519, 2517, 35514, 38558, 39723 Hübner, J. 18039,40 Ijzeren, J. van 428101 Irwin, T. 30215, 41975
Personenregister
James, W. 14264
Moravscik, J.M.E. 20327
Kahn, C. 2218, 3411, 4540, 5151, 5356, 10136, 14671, 1913, 1948, 19513, 2505, 27037, 27038, 37041, 37549, 40747, 47569 Keller, S. 139, 3823, 15177, 2506, 26025, 44714, 4857 Kerber, H. 2519, 2951 Ketchum, R. 1913, 4027, 4130, 6393, 1166, 14874, 2505, 25616, 27139, 27342, 27751, 28768 Kirkham, R.L. 14264 Kitcher, P. 28564 Klagge, J.C. 2218 Krämer, H.J. 30217 Kraus, M. 91 Kretzmann, N. 105, 1913, 5662, 851, 1166, 11810, 12835, 14874, 1913, 20329, 21142, 2505, 26126, 37751, 436120, 50134 Kripke, S. 28463, 28564, 328
Nehamas, A. 19617
543
Oehler, K. 30215 Owen, G.E.L. 19410 Palmer, M.D. 128, 3411, 3824, 4030, 6082, 14874, 2505, 28257, 28768, 3511, 45123 Palumbo, L. 72110 Penner, T. 12117 Pfeiffer, R. 3533 Pfeiffer, W.M. 4234 Philippson, R. 39723 Press, G. 2218 Putnam, H. 9214, 28463, 28564, 28872, 32139, 322, 328 Quine, W.V.O. 46, 5154, 5457, 55, 58, 22663
Labarbe, J. 35514 Landercy, M. 12423 Lane, M.S. 12835 Lanzalaco, A. 139 LaPorte, J. 28972 Lee, M.-K. 41874, 42078, 42180 Leky, M. 39723 Leroy, M. 39721 Levin, S. 139 Levinson, R.B. 12835, 28260 Lewis, D. 3822 Lorenz, K. 4540 Luce, J.V. 4540,41
Rapp, C. 17938 Rehn, R. 139, 44714 Richardson, M. 3516, 5663,65 Rijlaarsdam, J.C. 3721, 25210, 3511, 45153 Ritter, H. 20123 Robin, L. 128 Robinson, D.B. 93, 40231 Robinson, R. 139, 2015, 3411, 4336, 5560, 10140, 10242, 15580,81, 15685, 2517, 30217 Ross, D. 10345, 19513, 19617, 20123, 21751 Rotondaro, S. 3823 Rowe, C.J. 2218, 12528 Russell, B. 16612, 17021 Ryle, G. 47672, 47778
MacKenzie, M.M. 3411,12, 6082 McDowell, J. 18447, 33248 Menn, S. 47778 Minio-Paluello, L. 5874, 70102, 45632 Mittelstraß, J. 4540
Sayre, K.M. 12527, 12937, 20327 Schaarschmidt, C. 4336 Schadewaldt, W. 35411, 35513 Schäublin, F. 40439, 42384, 42486, 42590,92
544
Personenregister
Schleiermacher, F. 291, 326, 6080, 12938, 18143, 20224–26, 28361, 30827, 30928, 35822, 39723, 39926, 40544, 41667, 41976 Schofield, M. 139,10, 4337, 4438, 4846, 5874, 1168, 1179, 13145, 39825, 40747, 4857, 48712 Searle, J. 13960, 27036 Sedley, D. 12, 2016, 23, 3411, 3823, 4439, 5560, 5978, 851, 875, 9011, 9112, 9316, 10241, 1156, 12015, 12836, 13145, 15685, 2506, 2517, 25720,21, 25823, 31130, 33661, 3511, 35514, 36839, 37041, 37243, 39410, 39512, 39824, 41152, 41359, 414, 41566, 41770, 42384,86, 42591, 42695, 427100, 430106, 431111, 45123, 46653, 47568,69, 4857, 49318, 49622, 49724, 49826, 49929, 50033 Shields, Ch. 23174 Shorey, P. 19617 Silverman, A. 6182, 9011, 16716, 18448, 28769, 32544, 33661 Smith, I. 2505, 26127 Smith, N.D. 2218 Soames, S. 28564 Sorabji, R. 30215 Souilhé, J. 36533 Steinthal, H. 91 Stemmer, P. 3008–10 Sterelny, K. 28564 Stewart, M.A. 47060, 47569 Strawson, P.F. 12320, 17020, 183f. Szaif, J. 70102 Szlezák, Th. A. 23173
Tarski, A. 66 Taylor, A.E. 10345, 19617 Thayer, H. S. 9725 Thomas, C.J. 33764 Thompson, M. 16510 Trabattoni, F. 33661 Trivigno, F. 39823, 41153, 41564, 42385, 42591, 42694, 46654 Unger, P. 18041 Van Inwagen, P. 18039,40, 18142, 20534 Vlassopoulos, K. 22459 Vlastos, G. 13654, 18345, 3009, 30112 Vries, G.J. de 35718 Weingartner, R.H. 3411, 851, 9010, 10344, 2517, 25823, 47163 White, N.P. 6082 Wieland, W. 10139, 10447, 10548, 20738 Wilamowitz-Moellendorf, U. von 106, 39723 Williams, B. 3411,12, 4745, 45735, 4857 Williamson, T. 9418, 22867 Wittgenstein, L. 34, 228f., 233, 23580, 245, 270f., 31633 Woozley, A.D. 18345, 30215 Wright, C. 72107 Zeller, E. 20123 Zeyl, D. 18448
Sachregister
Tiefgestellte Ziffern verweisen auf Fußnoten.
Abschluss (Fazit, Konklusion) der Untersuchung der Richtigkeit der Namen 11 ff., 83 f., 346 ff., 481 f., 498 ff. Ähnlichkeit Vgl. Nachahmung – zwischen Buchstaben und Wirklichkeitselementen 445 f., 455 ff., 466 ff., 474 Alltagssprache 193, 233 ff. Vgl. Ideensprache Anti-Relativismus Vgl. Relativismus – und Ideenannahme 69 ff., 87 f., 136, 193 f., 417, 422, 512 Art biologische A. 324, 327, 360 Unterscheidung einer A. 118 ff. – und Gattung 370 – und ousia 118 ff. Aussagen (legein) Vgl. Nennen (onomazein), Aussagesatz, Aussage (logos) Natur des A. 134 ff. Aussagesatz, Aussage (logos) Vgl. Aussagen, Nennen Atomarer A. 46 ff., 135 ff. Logisch komplexer A. 50, 135, 200, 210 ff. Negativer A. 217 ff. Struktur des A. 49 ff., 159 ff. Zu objektiver Wahrheit fähiger A. 117, 135 ff., 163 ff., 178 ff., 199 f., 212 f., 230 ff. Barbaren und Hellenen 32, 202 ff., 223 ff.
Belehren, Informieren (didaskein) 79, 116, 127 ff., 146 ff., 256 ff., 299, 372 Vgl. Aussagen, Dialektiker, Kundmachen, Nennen Buchstaben (stoicheia) Vgl. Elemente, Lautfolge Artikulation von B. 446 ff. Taxonomie der B. 469 ff. – und Silben (als Material der Namen) 188 ff., 248 f., 255, 375 – als Scharniere zwischen Sprache und Wirklichkeit 459 ff. Chronologie der Platonischen Dialoge 91 Common sense, gesunder Menschenverstand 15 f., 22, 24, 30 f., 40, 68 f., 79, 119, 136, 141, 154, 206, 237 f., 243, 247, 262 f., 275 ff., 379, 383, 497 f., 502, 505 f. Vgl. Erfahrung, Hermogenes Deskriptionsthese 370 ff., 398 ff., 424, 434, 439 f. Vgl. etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen Dialektik Vgl. Elemente, Ideen – und Grammatik 476 ff. – und Elenktik 300 ff. – und Weberei 128 ff. Dialektiker Sachverständiger Gebrauch von Namen durch den D. 127 ff., 312 ff.
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Kritische Evaluation von Namen durch den D. 329 ff. – als didaskalikos 127 ff., 20839, 296 – und Nomothet 298 ff., 469 ff. Dialog mit dem Dialog 21, 68, 82, 501, 506 Vgl. Inszenierungsstrategie, Leser (des Kratylos) Dialogform Hermeneutische Herausforderung der D. 19 ff. Platons Gebrauch der D. 19 ff., 31, 81 ff., 262 ff., 343 ff., 505 ff. Dihairesis 301, 305 Namen als Werkzeuge der D. 128 ff. Direkte Referenz 284 ff. Vgl. Einführung von Namen, Konvention, Qua-Problem Eigenname Vgl. Name natürliche Richtigkeit eines E. 161 ff. – als (Teil des) Prädikatausdruck(s) 161 – und Einzelgegenstände 178 ff. – vs. genereller Term 173 ff., 37041 Einzelgegenstand, Individuum Vgl. Eigenname, Idee, ousia Unterscheiden, Herausgreifen eines E. 161 ff. Ontologischer Status des E. 178 ff. Elemente (stoicheia) Vgl. Buchstaben, Dialektik Basale E. der Wirklichkeit 445, 457 ff., 472 ff. Taxonomie der E. 474 ff. Elenktik, elenchos 300 ff., 427 Vgl. Dialektik Entsprechung(sverhältnis) Grade der Entsprechung 491 ff.
– zwischen Namen und Gegenständen 9, 11, 379, 390, 469, 491 f., 508 – zwischen einer Benennungskonvention und einer Art 274 ff. – zwischen der Form eines Werkzeugs und seiner Aufgabe 274 ff. Erfahrung, Empirie 14 f., 39 ff., 262, 276, 292, 383, 506 Vgl. Common sense, Hermogenes Erkenntnis Vgl. Wissen Bedingung der Möglichkeit von E. 337 ff. Unsprachliche E. 335 ff. Etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit 370 ff. Vgl. Deskriptionsthese Diskreditierung der e.-d. T. d. n. R. 399 ff. Unzulänglichkeit, Ergänzungsbedürftigkeit der e.-d. T. d. n. R. 434 ff. Etymologische Analysen Irreführung durch e. A. 423 ff. Mehrere e. A. eines Namens 42488 Etymologische Atome 437 f. Vgl. Mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit der Namen Etymologische Sektion Vgl. Scherzoder-Ernst-Debatte Enzyklopädischer Anspruch der e. S. 395 ff. Länge der e. S. 397, 439 ff. Methodologische Reflexionen in der e. S. 429 ff. Platonismus in der e. S. 411 ff. Stellenwert der e. S. 439 ff. – als Parodie 397, 422 ff. – als agôn 427101 – und moderne Etymologie 39721 (Erweiterte) Exklusivitätsthese 197 ff. Vgl. Funktionalis-
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tischer Begriff der natürlichen Richtigkeit (der Namen) Intelligibilität der (e.) E. 200 ff. Kritisches Potenzial der (e.) E. 234 ff. Fallacy of Division 43 ff. Vgl. Wahre und falsche Namen Falsches Sprechen Vgl. Aussagen Möglichkeit des F. S. 492 ff. Familienähnlichkeit 227 ff. Vgl. pros hen, unterdeterminierte Namen, Vagheit Flusstheorie, Herakliteische Flusstheorie Widerlegung der F. 336 ff. – und Etymologie 410 ff. – und Relativismus 416 ff. Fragen 144 Vgl. Aussagen, ti estiFrage Funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit (der Namen) 98 f., 147, 247, 293 Vgl. (Erweiterte) Exklusivitätsthese, (Spezifisches) Funktionalitätsprinzip – und Theorie der natürlichen Richtigkeit (der Namen) 99, 149, 206, 247 ff., 347 (Spezifisches) Funktionalitätsprinzip Vgl. Funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit (der Namen) 96 ff., 109 ff., 146 ff., 188, 255 ff., 345 ff., 379, 400, 452 Formalität des (S.) F. 97 Handlung Vgl. Aussagen, Nennen, Werkzeug Durchführung der H. vs. scheiternder Handlungsversuch 93 f. Gegenstandsbezogenheit einer H. 89 ff., 110 ff.
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Guter, exzellenter Vollzug der H. 93 ff. Naturgemäßer Vollzug der H. 88 ff. Spezifische Versionen einer H. 106 ff. Ziel einer H. 89 ff. Handwerker 100 ff., 146 ff. Vgl. Nomothet, technê, Werkzeug Herakliteismus S. Flusstheorie Hermogenes Vgl. Dialogform, Erfahrung, Inszenierungsstrategie – als Vertreter des common sense 14 ff., 31 ff., 135 ff., 260 ff., 348 f., 381 ff., 505 ff. Homonymie 17534, 317 Hypernaturalismus 251 ff., 341 ff. Vgl. Deskriptionsthese, etymologischdeskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit, mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit Alternativlosigkeit des H. 346 ff., 371 ff., 453 ff. Appropriation des H. durch Kratylos 483 ff. Kritik, Widerlegung des H. 495 ff. – und Moderater Naturalismus 251 ff. Idealsprache 398, 472 ff. Vgl. etymologisch-deskriptive Theorie der natürlichen Richtigkeit, mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit Idee(n) Vgl. Dialektik Annahme von I. 103 ff., 193 f., 201, 512 Generische und spezifische I. 106 ff., 188 ff. Jedem generellen Term entspricht eine I. 201 ff. Negative I. 217 ff. Orientierung an I. 101 ff.
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Wiedergabe von I. 248 ff. – und ousiai 190 ff. – von Namen 188 ff., 248 ff., 375 ff. – von Werkzeugen 103 ff. Ideenlehre 201 ff. Ideensprache 209 ff. Vgl. (Erweiterte) Exklusivitätsthese, Funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit (der Namen) – und Alltagssprache 232 ff. Inszenierungsstrategie 83 f., 157, 260, 397 ff. Vgl. Dialog mit dem Dialog, Dialogform, Hermogenes, Leser (des Kratylos) Doppelbödige, subversive I. 68 ff., 260 ff., 348 f., 371 ff., 387, 391, 399 ff., 447, 463 ff., 508 Kommunikation S. Belehren, Kundmachen Kontextprinzip 31533 Konvention, Benennungskonvention (synthêkê, nomos) Vgl. Konventionalismus, Konventionalistische Intuitionen, Moderater Naturalismus, Nomothet Angemessenheit, Abstimmung der K. 274 ff. Beitrag der K. zur Richtigkeit der Namen 498 ff. Befolgen einer K. 320 ff. Etablierung, Festsetzung einer K. 152 ff., 249 ff. Private K. 34 ff. – als Form, Gestalt eines Namens 264 ff. Konventionalismus 29 ff. Vgl. Konvention, Konventionalistische Intuitionen, Moderater Naturalismus
Schwacher vs. Starker K. 38 ff. – und Relativismus 58 ff. Konventionalistische Intuitionen 24, 65 ff., 262, 292 f., 381, 392, 452, 506 ff. Vgl. common sense, Konvention, Konventionalismus, Leser (des Kratylos), Moderater Naturalismus Kratylos – als Vertreter des Hypernaturalismus 483 ff. Kundmachen (dêloun) 373 ff. Vgl. Belehren, Kommunikation, Nennen Lautfolge Vgl. Name und Lautfolge – als Material des Nomotheten 264 ff. Lautwandel, Lautveränderung 429 ff. Vgl. Buchstabe, etymologische Analyse Lebewesen 178 ff. Vgl. Einzelgegenstand Leser (des Kratylos) Vgl. common sense, Dialogform, Dialog mit dem Dialog, Inszenierungsstrategie Erkenntnisbewegung des L. 21 ff., 264 ff., 505 ff. Konventionalistische Intuitionen des L. 68 ff., 81, 262 ff., 452 Vorannahmen und Vorurteile des L. 21 ff., 262, 278, 348, 384, 448, 454, 503 Linguistische Arbeitsteilung, division of linguistic labor 322 ff. Vgl. Dialektiker, Epistemische Voraussetzung des Gebrauchs von Namen, Zweckentfremdung von Namen Mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit 443 ff. Vgl. Hypernatu-
Sachregister
ralismus, mimetischer Gehalt von Namen, Nachahmung Diskreditierung der m. T. d. n. R. 463 ff. Moderater Naturalismus Vgl. common sense, Konvention, Leser des Kratylos, Werkzeug-Analogie – und Hypernaturalismus 251 ff. – und Schwacher Konventionalismus 263 ff. Nachahmung, Imitation (mimêsis, mimêma) Vgl. Buchstaben, mimetische Theorie der natürlichen Richtigkeit Stimmliche N. (mimêma phonê) der ousia 448 ff. Name (onoma) Vgl. Konvention, Name und Lautfolge, Nomothet Genuine, echte N. 86, 147, 187, 197, 204, 213 ff., 259 f., 343, 511 Logisch komplexe N. 212 ff. Primäre N. (prôta onomata) 395 ff., 435, 444 ff., 480 Überdeterminierte N. 223 ff. Unterdeterminierte N. 227 ff. Richtige und unrichtige N. 187 ff. Richtiger vs. guter/exzellenter N. 85 ff., 127 ff., 146 f., 256 ff. Wahre und falsche N. 41 ff. Anwendung des N. auf einen Gegenstand (onoma legein) 48 ff., 122 ff. Aufgabe des N. 113 ff. Eignung des N. 274 ff. Einführung des N. 35, 149 ff., 264 ff. Einheit des N. 264 ff. Epistemische Voraussetzung des Gebrauchs von N. 312 ff.
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Evaluation von N. 329 ff. Idee des N. 188 ff., 248 ff., 375 ff. Normative Bestimmung des N. 146 ff. Operatives Potenzial des N. 266 ff., 291, 312, 318, 327 Valenz (dynamis) des N. 364 ff. Wirklichkeitserschließende Funktion von N. 330 ff. Zweckentfremdung des N. 313 ff. – als Werkzeug des Nennens 123 ff., 146 ff. – als Werkzeug des Aussagens 123 ff. – als Zeichen 273, 318 ff. – und Heilmittel 364 ff. – und rhêma 46 – und Satz 41 ff., 117, 269 – die mit der Tugend zu tun haben 394 ff., 408 f., 413 ff., 431 ff. – enkodieren Beschreibungen 368 ff., 399 ff. – für Buchstaben 363 f. – für Götter 3946 Name und Lautfolge 39 ff., 260 ff., 346 ff., 381 ff., 453 ff. Vgl. Lautfolge, Name Namenstausch, Umbenennung 275 ff. Vgl. Konventionalismus, Nomothet Natürliche Arten s. Arten Nennen (onomazein) Vgl. Name Natur des N. 117 ff. Normative Bestimmung des N. 132 ff. Spezifische Versionen des N. 148 ff., 189 ff. – als Teil des Aussagens 121 ff. – und Prädizieren 122 ff. Nomos S. Konvention
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Nomos-physis-Antithese 152 ff. Vgl. Nomothet, Moderater Naturalismus Nomothet, Gesetzgeber, Brauchsetzer 146 ff., 247 ff. Vgl. Konvention, Name, technê, Werkzeug-Analogie Epistemischer Anspruch der Aufgabe des N. 274 ff. Fehler des N. 210 ff. – als historische Figur 154 f. – und Dialektiker 298 ff. Objektivität Vgl. Anti-Relativismus, Relativismus, Wissen, Zu objektiver Wahrheit fähiger Aussagesatz – als Betrachterunabhängigkeit 69 ff., 132 ff. – und Flux 417 ff. Ousia, Sein, Seinsweise Vgl. Anti-Relativismus, Flusstheorie, Relativismus Private O. 69 ff. Stabile O. 69 ff., 132 ff. Herausgreifen, Unterscheiden einer O. für einen Hörer 117 ff. Kundmachen der O. 373 ff. Nachahmung der O. 448 ff. – und Art 118 ff. – und Einzelgegenstand 69 ff., 161 – und Essenz/Wesen 72108 – und Idee 190 ff. Prädikatausdruck und Subjektausdruck 159 ff. Vgl. Aussage, Eigenname, Name Privatsprache 34 ff. Vgl. Konventionalismus Pros hen 230 f. Qua-Problem 285 ff. Vgl. direkte Referenz
Relativismus, Protagoreischer Relativismus 58 ff. Vgl. Anti-Relativismus, Objektivität Widerlegung des R. 69 – und Flusstheorie 416 ff. – und Konventionalismus 61 ff. Richtigkeit von Namen S. Funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit (der Namen) Scherz-oder-Ernst-Debatte 422 ff., 439 ff. Vgl. Etymologische Sektion Sklêrotês-Argument 11 ff., 497 ff. Sokrates Inspiration des S. durch Euthyphron 396, 426 ff. »Selbstbetrug« des S. 380 ff., 400, 452 f., 463, 483 ff. Weisheit des S. 426 ff., 486 Sprechen S. Aussagen Stabilität (bebaiotês) S. Objektivität Synonymieprinzip 360 Vgl. biologische Arten Taufakt 35, 174, 284 ff. Vgl. Direkte Referenz, Einführung von Namen, Konventionalismus Technê, Kunst, Expertise, Sachverstand, Fertigkeit 101 ff., 115, 149 ff., 274 ff. Vgl. Handwerker, Nomothet Theorie der natürlichen Richtigkeit (der Namen) 99, 104, 149, 156 f., 189, 247 ff., 344 ff., 371 f., 378 ff. Vgl. Funktionalistischer Begriff der natürlichen Richtigkeit (der Namen), Hypernaturalismus, Moderater Naturalismus ti esti-Frage 128 ff., 284, 299 ff., 329 ff. Vgl. Dialektik, Dihairesis, Elenktik Twin Earth 28872 Vgl. direkte Referenz
Sachregister
Vagheit 227 ff. Vgl. Familienähnlichkeit, unterdeterminierte Namen Wahrheit S. Zu objektiver Wahrheit fähiger Aussagesatz Weberei 125 ff. Vgl. Dialektik Weberschiffchen (kerkis) Doppelfunktion des W. 123 ff. Sonderung von Einschlag und Kettfäden mit dem W. 98, 123 ff. – und Name 125 ff. Werkzeug-Analogie Argument der W. 77 ff. Grenzen der W. 312 ff. Konklusion der W. 16 f., 78 ff. W. als philosophisches Zentrum des Kratylos 22 ff., 77 ff., 349 ff., 502 ff.
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Werkzeuge Vgl. Handlung, Handwerker, Name Eignung von W. 104 ff. Form, Gestalt eines W. 264 ff. Gebrauch von W. 312 ff. Ideen von W. 103 ff. Produktion von W. 99 ff. Richtiges vs. gutes/exzellentes W. 95 ff. Zweckentfremdung von W. 312 ff. Wissen Vgl. Erkenntnis Propositionales vs. non-propositionales W. 105, 326 Zweiweltentheorie 183 Vgl. Ideen