Wahrnehmung und Wirklichkeit 9783110326048, 9783110325232

Dieser Band ist eine Sammlung von Vorträgen, die auf einer Tagung mit dem Titel "Aktuelle Probleme der Philosophie

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Inhalt
Wahrnehmung und Wirklichkeit
Johannes Haag: Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘
Richard Schantz: Die Struktur der sinnlichen Erfahrung
Mark Textor: Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe
Frank Hofmann: Wahrnehmung als Rechtfertigung
Albert Newen und Ulrike Pompe: Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung im Rahmen einer repräsentationalen Theorie
Sven Bernecker: Die Kausaltheorie der Wahrnehmung und der direkte Realismus
Oliver R. Scholz: Das Zeugnis der Sinne und das Zeugnis anderer
Thomas Grundmann: Die Wahrnehmung kausaler Prozesse
Erwin Tegtmeier: Grossmanns Philosophie der Wahrnehmung
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Wahrnehmung und Wirklichkeit
 9783110326048, 9783110325232

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Richard Schantz (Hrsg.) Wahrnehmung und Wirklichkeit

Philosophische Analyse Philosophical Analysis Herausgegeben von / Edited by Herbert Hochberg • Rafael Hüntelmann • Christian Kanzian Richard Schantz • Erwin Tegtmeier Band 31 / Volume 31

Richard Schantz (Hrsg.)

Wahrnehmung und Wirklichkeit

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2009 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-42-2 2009 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by buch bücher dd ag

Für meine Mutter

Inhalt

Einleitung: Wahrnehmung und Wirklichkeit

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1. Johannes Haag: Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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2. Richard Schantz: Die Struktur der sinnlichen Erfahrung

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3. Mark Textor: Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe

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4. Frank Hofmann: Wahrnehmung als Rechtfertigung

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5. Albert Newen und Ulrike Pompe: Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung im Rahmen einer repräsentationalen Theorie

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6. Sven Bernecker: Die Kausaltheorie der Wahrnehmung und der direkte Realismus

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7. Oliver R. Scholz: Das Zeugnis der Sinne und das Zeugnis anderer

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8. Thomas Grundmann: Die Wahrnehmung kausaler Prozesse

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9. Erwin Tegtmeier: Grossmanns Philosophie der Wahrnehmung

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Wahrnehmung und Wirklichkeit

Der Band verfolgt das Ziel, den Reichtum und die Lebendigkeit von wichtigen gegenwärtigen Debatten in der Philosophie der Wahrnehmung zu dokumentieren. Die Philosophie der Wahrnehmung spielt in verschiedenen philosophischen Kerndisziplinen eine ganz wesentliche Rolle. In der Metaphysik wird die grundsätzliche Frage gestellt: „Was sind die Gegenstände der Wahrnehmung? Sind sie physischer oder nichtphysischer Natur – gewöhnliche Gegenstände in Raum und Zeit oder, wie man lange geglaubt hat, besondere mentale Gegenstände, die heute zumeist „Sinnesdaten“ genannt werden?“ Die Antwort auf diese Frage hat mehr oder weniger direkte Konsequenzen für den Standpunkt, den ein Philosoph im klassischen Disput zwischen Realismus und Antirealismus einnimmt. In den Bereich der Erkenntnistheorie fällt die Frage: „Welche Rolle spielt die sinnliche Wahrnehmung im Prozess des Erwerbs und in der Rechtfertigung von unseren Meinungen über die Welt?“ Hier geht es um die epistemische Signifikanz der sinnlichen Wahrnehmung. Während diese von Vertretern des Empirismus unterstrichen wird, versuchen seine eher rationalistisch gesonnenen Widersacher sie tendenziell herunterzuspielen. Und schließlich befasst sich die Philosophie des Geistes mit der elementaren Frage: „Was für eine Art von mentalen Zuständen sind eigentlich die sinnlichen Zustände, in denen wir uns befinden, wenn wir wahrnehmen? Handelt es sich um rein begrifflich strukturierte Zustände oder um solche, die ein gegebenes nichtbegriffliches Element enthalten, ein Element, das vom Denken und von der Sprache völlig unabhängig ist?“ Ich möchte ein paar einleitende Bemerkungen zum Hintergrund der gegenwärtigen Debatten voranschicken. Man kann schwerlich bestreiten, dass der größte Teil unserer Überzeugungen und unseres Wissens auf der sinnlichen Wahrnehmung beruht. Ich mag gerechtfertigt sein zu glauben, dass dort drüben eine Katze sitzt, weil ich sie sehe, und dass Salz in meiner Suppe ist, weil ich es schmecke. Und ganz ähnlich verhält es sich mit den anderen sinnlichen Modalitäten. Die Verfechter des Empirismus behaupten

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Einleitung

sogar, dass unser gesamtes Wissen auf dem Gebrauch der verschiedenen Sinne beruht. Es nimmt daher nicht Wunder, dass die Wahrnehmung eines der zentralen Themen der Erkenntnistheorie ist. Allerdings wurde die erkenntnistheoretische Diskussion in der westlichen Philosophie seit dem siebzehnten bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein von der Auffassung beherrscht, dass wir äußere physische Gegenstände nie direkt oder unmittelbar wahrnehmen können, sondern dass die direkten Objekte des Bewusstseins in der sinnlichen Wahrnehmung eine besondere Art mentaler Repräsentationen sind – Descartes’ und John Lockes „Vorstellungen“, George Berkeleys und David Humes „Sinneseindrücke“, John Stuart Mills und Ernst Machs „Empfindungen“ oder Bertrand Russells und G. E. Moores „Sinnesdaten“. Charakteristisch für Sinnesdaten ist, dass sie, im Unterschied zu äußeren, physischen Gegenständen, dann und nur dann existieren, wenn sie wahrgenommen werden. Sinnesdaten sind somit private Entitäten, denn es ist unmöglich, dass zwei Beobachter numerisch dasselbe Sinnesdatum wahrnehmen können. Das wichtigste Argument, das für die Existenz von Sinnesdaten als den direkten Objekten der Wahrnehmung ins Feld geführt wurde, ist das Argument aus der Sinnestäuschung. Im Mittelpunkt dieses Arguments steht die Behauptung, dass es keine feststellbare phänomenale oder qualitative Differenz zwischen der Wahrnehmung unter ungewöhnlichen Bedingungen und der Wahrnehmung unter Normalbedingungen gibt, die einen unterschiedlichen ontologischen Status ihrer jeweiligen Gegenstände anzeigen könnte. Daraus wird zunächst gefolgert, dass die Gegenstände, die unter ungewöhnlichen Bedingungen wahrgenommenen werden, nichtphysische oder mentale Objekte sein müssen – Sinnesdaten eben. Da es jedoch keine feststellbare qualitative Differenz zwischen der Wahrnehmung unter normalen und der Wahrnehmung unter ungewöhnlichen Bedingungen gibt, die einen unterschiedlichen ontologischen Status ihrer jeweiligen Gegenstände anzeigen könnte, müsste es als völlig willkürlich erscheinen, einen bestimmten Punkt festzusetzen, an dem wir aufhörten, Sinnesdaten wahrzunehmen und statt dessen begönnen, physische Gegenstände wahrzunehmen. Durch diese Folge von Schritten gelangt das Argument aus der Sinnestäuschung rasch zu seiner eigentlichen Konklusion, dass wir immer – sowohl unter normalen als auch unter ungewöhnlichen Bedingungen – nichts anderes als Sinnesdaten wahrnehmen.

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Das Argument aus der Halluzination stellt in einem bestimmten Sinn eine Verschärfung des Arguments aus der Sinnestäuschung dar. Im Fall einer Halluzination hat eine Person eine idiosynkratische sinnliche Erfahrung, die von einer genuinen Wahrnehmung phänomenal oder qualitativ ununterscheidbar sein kann, obwohl es in einem solchen Fall per definitionem keinen Gegenstand in der physischen Welt gibt, den sie wahrnimmt. Da es nichts Objektives gibt, das der phänomenologischen Struktur ihrer subjektiven Erfahrung entspricht, muss, so folgern die Anhänger von Sinnesdaten, die zweifelsfrei gegebene sinnliche Mannigfaltigkeit, deren sich die Person unter diesen besonderen Umständen direkt bewusst ist, ein Sinnesdatum oder eine Menge von Sinnesdaten sein. Sicherlich vermag die Sinnesdatentheorie der phänomenalen Ununterscheidbarkeit von genuinen Wahrnehmungen und Sinnestäuschungen oder Halluzinationen Rechnung zu tragen. In ihrem rückhaltlosen Beharren auf der Phänomenologie der sinnlichen Erfahrung liegt die eigentliche Stärke der Sinnesdatentheorie, welche von den Verfechtern der Ordinary Language Philosophy, die heftige, auf der sorgfältigen Analyse der normalen, nichtphilosophischen Redeweisen über die Wahrnehmung beruhende Attacken gegen sie geritten haben, zumeist nicht gebührend gewürdigt wurde. Aber für ihre philosophischen Vorzüge zahlt die Sinnesdatentheorie letztlich doch einen zu hohen Preis: Sie führt zu erkenntnistheoretisch verheerenden Konsequenzen. Sobald ihre zentrale These, dass die direkten Gegenstände des Bewusstseins in der Wahrnehmung immer Sinnesdaten, nie aber äußere, physische Gegenstände sind, einmal akzeptiert wird, sind im Wesentlichen nur noch zwei Theorien der Wahrnehmung und der Außenwelt möglich: der Repräsentationale oder Indirekte Realismus und der Phänomenalismus. Während der Repräsentationale Realismus zum erkenntnistheoretischen Skeptizismus zu führen scheint, stellt der Phänomenalismus eine Form von Idealismus dar, mit der heutzutage nur noch wenige Philosophen Sympathie hegen. Die Verfechter des Repräsentationalen Realismus machen geltend, dass es eine Welt äußerer, physischer Gegenstände wirklich gibt und dass wir über diese Welt auch Wissen erwerben können. Aber wir erwerben dieses Wissen nur auf eine indirekte Weise – mittels der direkten oder unmittelbaren Wahrnehmung der phänomenalen Erscheinungen, die die äußeren Gegenstände infolge einer kausalen Interaktion in unserem Bewusstsein

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Einleitung

hervorrufen. Unser gesamtes Wissen von der objektiven Realität beruht auf dem direkten Wissen von Sinnesdaten. Unser epistemischer Kontakt mit der physischen Welt ist sonach immer theoriebeladen, das heißt, beladen mit der Theorie, dass es eine regelmäßige Korrelation gibt zwischen den Weisen, in denen die Dinge uns erscheinen, und den Weisen, wie sie wirklich sind. Der Glaube an die Existenz der Außenwelt ist demnach durch einen abduktiven Schluss, einen „Schluss auf die beste Erklärung“ gerechtfertigt, weil die Hypothese, dass es eine Welt stabiler, auf unsere Sinne einwirkender physischer Gegenstände gibt, die Konstanz und Kohärenz, die wir in unseren unwillentlich oder spontan auftretenden sinnlichen Erfahrungen vorfinden, angeblich am besten zu erklären vermag. Aber ist der Schluss auf die Existenz einer Außenwelt, diese Frage haben viele Philosophen gestellt, wirklich die beste Erklärung für die systematische Ordnung, die unsere Wahrnehmungen aufweisen? Warum sollte nicht anderen möglichen Hypothesen der Vorzug gegeben werden? Denn, wenn wir jedoch immer nur Sinnesdaten, nie aber die physischen Gegenstände und Ereignisse in unserer Umgebung direkt wahrnehmen können, dann stellt sich geradezu zwangsläufig die Frage, wie wir wissen können, welche Eigenschaften physische Gegenstände haben, ja, wie wir sicher sein können, dass sie überhaupt existieren. Die Sinnesdaten fungieren diesem Einwand zufolge als ein Schleier, der unseren perzeptiven und kognitiven Zugang zur Außenwelt blockiert. Die Sinnesdatentheorie reißt eine logische Kluft zwischen inneren Objekten, den Sinnesdaten, und der äußeren, physischen Realität auf, eine Kluft, die weder durch deduktive noch durch induktive oder abduktive Schlüsse jemals überbrückt werden kann. Wir sind gewissermaßen in der Welt unserer Sinnesdaten eingesperrt. Kein triftiges Argument, sondern allenfalls eine Form von Magie vermag uns von der hellen auf die dunkle Seite des Schleiers der Wahrnehmung zu führen. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus scheint die unvermeidliche Konsequenz des Repräsentationalen Realismus zu sein. Die Antwort des Phänomenalismus auf das Problem des erkenntnistheoretischen Skeptizismus ist verblüffend einfach. Seine Befürworter glauben, es durch eine ontologische Reduktion lösen zu können. Wenn die Wurzel des Skeptizismus in der Unterscheidung zwischen physischen Gegenständen und unseren Sinnesdaten liegt, dann brauchen wir diese physischen Gegenstände nur mit den Sinnesdaten zu identifizieren, um den Skeptizis-

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mus zu untergraben. Der Phänomenalismus stellt die radikale Behauptung auf, dass unsere gesamte Rede über die physische Welt im Grunde nur eine Abkürzung für logisch komplexe Aussagen über unsere sinnlichen Erfahrungen ist, d. h. über die Sinnesdaten, die wir wahrnehmen oder unter verschiedenen Bedingungen wahrnehmen würden. Ein physischer Gegenstand in Raum und Zeit ist dieser metaphysisch revisionären Sichtweise zufolge letztlich nichts anderes als ein Komplex oder eine logische Konstruktion aus wirklichen und möglichen Sinnesdaten. Das Problem mit diesem kühnen theoretischen Programm ist nur, dass es offensichtlich bislang niemandem gelungen ist, auch nur eine einzige Aussage über die Außenwelt in eine Konjunktion von Aussagen über die sinnliche Erfahrung zu übersetzen, und dass auch keine begründete Hoffnung besteht, dass dies irgendjemandem irgendwann gelingen könnte. Dafür gibt es einen guten Grund: Keine isolierte Aussage über einen physischen Gegenstand hat irgendwelche Konsequenzen für die sinnliche Erfahrung. Eine einzige Aussage über meinen Schreibtisch impliziert nichts bezüglich meiner Erfahrungen, wenn ich nicht zusätzliche Annahmen über die Position meines Körpers, über meine verschiedenen Sinnesorgane und über die physische Umgebung, in der ich mich gerade befinde, mache – etwa, dass ich in meinem Büro bin, meinem Schreibtisch zugewandt, meine Augen geöffnet habe, nicht unter dem Einfluss von Drogen stehe etc. Die Bezugnahme auf äußere Gegenstände und Sachverhalte kann, so scheint es, einfach nicht eliminiert werden. Der epistemische und semantische Atomismus, dem der Phänomenalismus verpflichtet ist, ignoriert die zentrale Einsicht des Holismus, die Einsicht nämlich, dass unsere Aussagen über die Welt nur als eine Gesamtheit oder als Elemente einer hinreichend umfänglichen Menge solcher Aussagen Konsequenzen für unsere sinnlichen Erfahrungen haben. Das eigentliche Problem mit dem Phänomenalismus ist, dass er die objektive Welt, die wir teilen, in der wir interagieren und auf die unsere kognitiven Bestrebungen abzielen, gänzlich verliert. Der Phänomenalismus steht in scharfem Konflikt zur realistischen Metaphysik des Commonsense. Die Welt ist diesem Standpunkt zufolge nicht einfach das, was wir wahrnehmen oder, wenn gewisse Bedingungen erfüllt wären, wahrnehmen würden. Die Welt war schon da, bevor wir da waren, und wird vermutlich auch noch da sein, wenn wir nicht mehr da sind. Der Phänomenalismus ist

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Einleitung

eine Form von Antirealismus oder Idealismus. Seine Tugend, so betonen seine Vertreter, liegt darin, dass er dem erkenntnistheoretischen Skeptiker eine triftige Antwort zu geben vermag. Aber wie triftig ist seine Antwort wirklich? Der Skeptizismus macht geltend, dass wir Wissen nur von unseren subjektiven sinnlichen Erfahrungen haben können, nicht von der Existenz und Natur einer angeblich objektiven Welt jenseits des Bereichs der Erfahrung. Die Antwort des Phänomenalismus lautet, dass unser Wissen von unseren Sinnesdaten zugleich Wissen von äußeren Gegenständen ist, weil diese Gegenstände nichts anderes als Komplexe oder Muster von Sinnesdaten sind. Wissen über die physische Umgebung durch die Erfahrung ist also letzten Endes nichts anderes als Wissen über die Erfahrung durch die Erfahrung. Es fällt nicht ganz leicht, diese Antwort auf die skeptische Herausforderung von der Position des Skeptizismus selbst zu unterscheiden. Erkenntnistheoretische Probleme sind beileibe nicht die einzigen Probleme, die Sinnesdaten aufwerfen. Insbesondere lässt die Definition von Sinnesdaten als mentale oder phänomenale Objekte noch viele Fragen über ihren präziseren metaphysischen Status offen. Sinnesdaten sollen diejenigen Eigenschaften haben, deren wir uns sinnlich bewusst sind. Daraus folgt, dass visuelle Sinnesdaten unter anderem gewisse Formen und Größen haben. Wenn dies so ist, dann müssen sie Raum einnehmen. Aber wo im Raum befinden sie sich? Russell behauptete einmal, dass Sinnesdaten buchstäblich in unserem Kopf existieren und setzte sie ganz konsequent mit Gehirnzuständen gleich. Das Problem mit dieser Auffassung ist, dass einige unserer Sinnesdaten z. B. rot und dreieckig sind, dass aber kein Gehirnphänomen rot und dreieckig ist. Zudem ist die Annahme äußerst unplausibel, dass uns unsere Gehirnzustände unter gewöhnlichen Bedingungen sinnlich gegeben sind; unser Gehirn ist in dem einfachen Sinn gewöhnlich nicht wahrnehmbar, dass es unsere sinnlichen Rezeptoren nicht stimuliert. Ein anderer Vorschlag könnte lauten, dass Sinnesdaten dort zu lokalisieren sind, wo sich die physischen Gegenstände befinden, die sie in uns hervorrufen. Denn schließlich scheint es uns den Sinnesdatentheoretikern zufolge oft so, als ob unsere visuellen Sinnesdaten in verschiedenen Entfernungen von uns und in verschiedenen Winkeln zu unserer Sehlinie im physischen Raum existierten. Aber nicht nur steht dieser Vorschlag vor

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dem Problem, mit denjenigen Sinnesdaten zu Rande zu kommen, die angeblich in Halluzinationen vorkommen. Schon die Behauptung, dass Sinnesdaten im physischen Raum existieren, hat – weil Sinnesdaten mentale Objekte sein sollen – die Aura des Mysteriösen. Aber was verbleibt dann noch als Alternative? Wenn Sinnesdaten weder in uns, im Innenraum unseres Schädels, noch im äußeren physischen Raum existieren, dann bleibt offenbar nur noch ein besonderer privater und phänomenaler Raum als letztes Refugium für sie übrig. Dieser Vorschlag wirft jedoch nicht nur Fragen über den ontologischen Status eines separaten phänomenalen Raumes auf, sondern auch Fragen darüber, wie Ereignisse im physischen Raum mit Ereignissen im phänomenalen Raum interagieren können. Die gravierenden erkenntnistheoretischen und metaphysischen Schwierigkeiten der Sinnesdatentheorie und mithin des Repräsentationalen Realismus sowie des Phänomenalismus waren für viele Philosophen der Beweggrund, ihre zentrale These, dass wir immer nur Sinnesdaten wahrnehmen, über Bord zu werfen. Als Achillesferse der Argumente aus der Sinnestäuschung und aus der Halluzination wurde die Annahme identifiziert, dass phänomenologisch ununterscheidbare Sachverhalte sich in ihrer ontologischen Struktur nicht grundlegend voneinander unterscheiden können. Diese Annahme ist in der Tat nicht sonderlich plausibel. Warum sollte die ontologische Beschaffenheit der sinnlichen Erfahrung unserem introspektiven Bewusstsein zugänglich sein? Die lebhaften Debatten über die Struktur der sinnlichen Erfahrung legen beredtes Zeugnis davon ab, dass die Berufung auf die Introspektion allein nicht weiterhilft. Was wir benötigen, ist nicht mehr oder bessere Introspektion, sondern eine überzeugende Theorie. Die Widersacher der Sinnesdatentheorie entschieden sich im Gegenzug für eine Spielart des Direkten Realismus. Diese Auffassung ist eine Form von Realismus, weil ihr zufolge physische Gegenstände unabhängig davon existieren, dass sie wahrgenommen werden. Und sie ist eine direkte Form des Realismus, weil sie behauptet, dass wir gewöhnlich physische Gegenstände in unserer Umgebung direkt oder unmittelbar wahrnehmen, ohne die epistemische Vermittlung von besonderen mentalen Bindegliedern. Perzeptives Bewusstsein ist Offenheit für die Beschaffenheit der Welt selbst, ein direkter Zugang zu den Dingen draußen und ihren Eigenschaften, kein Bewusstsein von besonderen inneren, privaten Objekten oder von ihren angeblich spezifischen sinnlichen Qualitäten, ihren Qualia. Perzepti-

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Einleitung

ves Bewusstsein ist keine rein intramentale Angelegenheit, findet nicht ausschließlich in unserem Kopf statt, sondern hat einen irreduzibel relationalen Charakter. Die Gegenstände selbst präsentieren sich uns als soundso, beispielsweise als rot, rund und weich. Und weil dies so ist, brauchen wir unser Wissen von der Außenwelt nicht durch problematische Schlüsse aus einer rein subjektiven Datenbasis herzuleiten. Der Direkte Realismus macht verständlich, wie sinnliches Bewusstsein als eine Quelle von Wissen oder von gerechtfertigten Meinungen über die äußere Umgebung fungieren kann. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Direkte Realismus nicht die naive Behauptung impliziert, dass die wahrgenommenen Gegenstände immer genauso sind, wie sie uns erscheinen. Er kann die vertrauten Fakten der Relativität der Wahrnehmung durchaus anerkennen; etwa, dass ein Turm, aus der Ferne betrachtet, rund aussehen mag, obwohl er in Wirklichkeit quadratisch ist, oder dass ein Fuchs wie ein Hund aussehen mag etc. Wahrnehmungswissen ist für den Direkten Realisten fehlbar und korrigierbar. Die Sinne täuschen uns eben bisweilen. Gewiss, würden sie uns regelmäßig täuschen, dann verlöre die sinnliche Wahrnehmung einen Großteil des epistemischen Werts, den sie für uns besitzt. Aber die epistemische Signifikanz der Wahrnehmung erfordert keine Unfehlbarkeit. Allerdings darf es der Direkte Realismus nicht mit der bloßen Behauptung bewenden lassen, dass die physische Welt unseren Sinnen direkt zugänglich ist. Vielmehr sieht er sich mit der überaus schwierigen Aufgabe konfrontiert, selbst eine plausible Erklärung für Sinnestäuschungen und Halluzinationen sowie die anderen Phänomene zu geben, die die Einführung von Sinnesdaten ursprünglich motiviert haben. Der Direkte Realismus muss somit die Commonsense-Konzeption der Wahrnehmung und der Außenwelt, der zufolge die Wahrnehmung intentional direkt auf die Welt gerichtet ist und uns dadurch direktes Wissen über sie liefert, mit den prima facie mit ihm unverträglichen Befunden versöhnen, die Reflexionen über solch verwirrende Fakten wie Sinnestäuschungen und Halluzinationen zu Tage fördern.

Dieser Band ist eine Sammlung von neun Vorträgen, die auf einer Tagung mit dem Titel „Aktuelle Probleme der Philosophie der Wahrnehmung“

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gehalten wurden, die vom 31. 5. - 1. 6. 2007 an der Universität Siegen stattfand. Die Vorträge wurden im Licht der fruchtbaren Diskussionen für die Veröffentlichung überarbeitet. In seinem Aufsatz spürt JOHANNES HAAG einer antifundamentalistischen Konzeption der sinnlichen Anschauung nach. Dabei rückt der Zusammenhang zwischen der Konzeption der Anschauung und dem Begriff des Sinneseindrucks in den Fokus der Betrachtung. Hierzu rekonstruiert der Autor die Rolle der Sinneseindrücke in der Philosophie von Wilfrid Sellars. Die zunächst von Sellars phänomenologisch hergeleiteten Sinneseindrücke als nichtbegriffliche, prinzipiell unbewusste innere Zustände leisten letztlich einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung des Mythos des Gegebenen. Zugleich führt die Theorie der Sinneseindrücke zu einem Argument für einen erkenntnistheoretischen Realismus, d. h. für die Möglichkeit, die unabhängige, äußere Welt erkennen zu können. RICHARD SCHANTZ verteidigt in seinem Beitrag die Position des Direkten Realismus innerhalb der Philosophie der Wahrnehmung gegen zwei einflussreiche Spielarten der Sinnesdatentheorie, gegen den Repräsentationalen Realismus und den Phänomenalismus. Im Anschluss daran entfaltet er die Adverbialtheorie der sinnlichen Erfahrung und demonstriert, wie sie sich in eine direkt-realistische Theorie integrieren lässt. Schließlich grenzt er seine Version des Externalismus in der Philosophie des Geistes und der Wahrnehmung von den radikaleren Versionen John McDowells und Hilary Putnams ab: Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterscheidung zwischen engen und weiten Inhalten der sinnlichen Erfahrung sowie eine externalistische Explikation enger Inhalte. In seinem Aufsatz sucht MARK TEXTOR Gareth Evans’ Argument für die nichtbegriffliche Wahrnehmung von Farbschattierungen, Formen etc. zu entkräften, indem er wesentlich der Auffassung John McDowells folgt, dass der Rekurs auf Demonstrativa eine Antwort auf Evans’ Argument liefert. Entgegen der Auffassung McDowells und anderer argumentiert Textor jedoch dafür, dass Demonstrativa keine Wiedererkennungsfähigkeiten sind. Durch diese Abgrenzung der demonstrativen Begrifflichkeit von Wiederkennungsfähigkeiten soll McDowells Ansatz an Plausibilität gewinnen und in eine allgemeine Theorie der Referenz integriert werden können.

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Einleitung

FRANK HOFMANN vertritt in seinem Aufsatz einen evidenziellen Reliabilismus, eine fundamentalistische, externalistische sowie direkt-realistische Theorie der Rechtfertigung. Der evidenzielle Reliabilismus lässt im Gegensatz zum traditionellen Fundamentalismus, der ausschließlich introspektive Meinungen als basal zulässt, auch Wahrnehmungsüberzeugungen über die Außenwelt als basale Überzeugungen zu; darüber hinaus können Wahrnehmungszustände Gründe für derartige Überzeugungen sein. Im Gegensatz zu einem einfachen Reliabilismus stellt der evidenzielle die Bedingung, dass Rechtfertigung den Besitz von adäquaten Gründen beinhaltet, wenn auch die Adäquatheit eines Grundes externalistisch zu explizieren ist. Der evidenzielle Reliabilismus vermag es, Hofmann zufolge, bestimmte internalistische Intuitionen zu integrieren. Ein einfacher Reliabilismus, dem zufolge ausschließlich verlässliche Prozesse Rechtfertigungen konstituieren, ist z. B. nicht in der Lage, Gründe und Gegengründe zu erklären. ALBERT NEWEN und ULRIKE POMPE verfolgen in ihrem Aufsatz das Ziel aufzuzeigen, dass sowohl John McDowells These von der begrifflichen Strukturiertheit der Wahrnehmung als auch Fred Dretskes These vom nichtbegrifflichen Inhalt der Wahrnehmung beide bloß Teilwahrheiten enthalten. Sie unterscheiden drei Ebenen der Objektwahrnehmung: (i) die Ebene der basalen, modularisierten Informationsverarbeitungsprozesse; (ii) die Ebene der Konstitution des Wahrnehmungsinhaltes; (iii) die Ebene der kognitiven Wahrnehmungsurteile. Die Wahrnehmung von Einzeldingen gehört zwar zu den grundlegenden Wahrnehmungsprozessen, nichtsdestotrotz sind an ihr nicht ausschließlich modularisierte bottom-up-Prozesse, sondern ebenso top-down-Prozesse beteiligt. Letztere lassen sich genauer bestimmen: Zum einen können Begriffe (iii) die Konstruktion des Wahrnehmungsinhaltes (ii) und zum anderen „unbewusste provisorischhypothetische“ Wahrnehmungsinhalte (ii) die Informationsverarbeitungsprozesse (i) beeinflussen. Dretske behält Recht, insofern die Ebenen (i) und (ii) auch ohne Ebene (iii) zu vollständiger Objektwahrnehmung führen. Allerdings, so die Autoren, können Begriffe den Wahrnehmungsinhalt mitbestimmen. In seinem Beitrag zeigt SVEN BERNECKER zum einen die Differenzen bezüglich der Wahrnehmung zwischen Direktem und Indirektem Realismus auf. Zum anderen verfolgt er die Absicht darzulegen, dass die Argu-

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mente für die Inkompatibilität von der Kausaltheorie der Wahrnehmung und dem Direkten Realismus nicht haltbar sind. Hierzu macht der Autor mehrere Argumente für die Inkompatibilitätsthese aus und versucht nachzuweisen, dass letztlich keines der Argumente stichhaltig ist. OLIVER SCHOLZ erinnert zu Beginn seines Beitrags daran, dass Thomas Reid eine beachtliche Analogie zwischen zwei Erkenntnisquellen bemerkte, dem durch die Sinne gegebenen Zeugnis der Natur und dem menschlichen Zeugnis, das durch die Sprache gegeben ist. Über die Analogien hinaus würdigt der Autor auch die Disanalogien. Nachdem Scholz geklärt hat, was eine Erkenntnisquelle überhaupt ist, vergleicht er das Zeugnis anderer mit dem der Sinneswahrnehmung. Er stellt die Gemeinsamkeiten und Differenzen insbesondere im Hinblick auf die Spezifika der menschlichen Erkenntnis heraus. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, dass es einen hohen Grad reziproker Durchdringung und Bereicherung der Erkenntnisquellen gibt. THOMAS GRUNDMANN verteidigt in seinem Aufsatz die These, dass kausale Relationen phänomenal in der Wahrnehmung gegeben sind, dass also kausale Prozesse in einem philosophisch interessanten Sinn wahrgenommen werden können (WKP-These). Zunächst werden drei Standardargumente David Humes gegen die WKP-These kritisch hinterfragt. Danach sucht der Autor, empirische Befunde des belgischen Psychologen Albert Michotte fruchtbar zu machen, um für die WKP-These zu argumentieren. Zentral ist dabei die Einsicht, dass sinnliche Kausaleindrücke auch dann entstehen, wenn keine kausale Relation vorliegt. Dieser Befund spreche gegen eine epistemische Interpretation der Eindrücke als Wahrnehmungsüberzeugungen. Anschließend diskutiert Grundmann ein mutmaßliches K. O.-Argument gegen die WKP-These, das er in der Folge zurückweist. Abschließend unternimmt er den Versuch, positiv zu bestimmten, was wir wahrnehmen, wenn wir kausale Prozesse wahrnehmen. Schließlich präsentiert und verteidigt ERWIN TEGTMEIER in seinem Beitrag Reinhardt Grossmanns Philosophie der Wahrnehmung. Grossmann verknüpft, dem Autor zufolge, einen starken erkenntnistheoretischen Realismus mit einem starken Empirismus. Er entkräftet die philosophischen Hauptargumente gegen die epistemische Signifikanz der Wahrnehmung und rehabilitiert somit den erkenntnistheoretischen Wert der sinnlichen Wahrnehmung. Dabei unterscheidet Grossmann zwischen dem physikali-

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Einleitung

schen Argument, dem Argument aus der Relativität der Wahrnehmung, dem Argument aus der Halluzination sowie dem nominalistischen Argument. Tegtmeier stellt die entscheidenden Aspekte Grossmanns Philosophie dar, die zur Entkräftung dieser Argumente herangezogen werden. Grossmann kommt zu dem Schluss, dass alle Kategorien – auch Universalien und andere abstrakte Gegenstände sowie Sachverhalte – wahrnehmbar sind.

Mein Dank gilt den Autoren, der Universität Siegen für die Bereitstellung der Räumlichkeiten und weitere vielfältige Hilfeleistungen, meiner studentischen Mitarbeiterin Sonja Harms für die tatkräftige Unterstützung bei der Organisation der Tagung, Magdalena Eckes und Mario Franz für die kritische Durchsicht des Manuskripts und zahlreiche nützliche Hinweise und Tipps, meinem studentischen Mitarbeiter Fabian Deus für die redaktionelle Hilfe sowie last but not least Rafael Hüntelmann, dem Verlagsleiter von Ontos, für die, wie gewohnt, effiziente Kooperation. Schließlich gebührt Dank der Fritz-Thyssen-Stiftung, die die Tagung finanziell unterstützt hat. Richard Schantz

Johannes Haag: Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

ABSTRACT. Die grundlegende philosophische Motivation für den Begriff einer sinnlichen Anschauung ist die Suche nach einem Aspekt unseres intentionalen Bezugs auf die Welt, der zwischen der nicht-begrifflichen repräsentationalen Materie, den Sinneseindrücken, und dem durch und durch begrifflichen formalen Strukturen, die dieser Materie ihre Form geben, in geeigneter Weise vermitteln kann. Dass diese Vermittlung sich in geeigneter Weise vollziehen muss, soll in diesem Zusammenhang heißen: Sie muss so konzipiert werden, dass der Rückfall in eine fundamentalistische Deutung des sinnlich Gegebenen vermieden werden kann. Eine entscheidende Rolle bei einer solchen anti-fundamentalistischen Konzeption der Anschauung spielt ihre Verbindung mit dem Begriff des Sinneseindrucks. Das sollen die folgenden Überlegungen anhand einer Rekonstruktion der Rolle der Sinneseindrücke in Wilfrid Sellars’ philosophischem System zeigen. Die philosophische Begründung für die Annahme von Sinneseindrücken ist in dieser Konzeption zunächst phänomenologisch motiviert. Die so hergeleiteten Sinneseindrücke tragen dann entscheidend dazu bei, dass die intuitiv erforderliche Führung durch eine von unserer Wahrnehmung unabhängige Realität ein Führung ‚von außen‘ in einem antifundamentalistischen Sinne ist: Ohne die Konzeption der Sinneseindrücke als nicht-begriffliche, prinzipiell unbewusste innere Zustände können wir Sellars’ Ansicht nach den fundamentalistischen Mythos des Gegebenen nicht vermeiden. Gleichzeitig ergibt sich jedoch aus der Theorie der Sinneseindrücke eine Argumentation für den wissenschaftlichen Realismus, d.h. die Erkennbarkeit einer an sich seienden Realität. Die Theorie der Sinneseindrücke, die ursprünglich phänomenologisch motiviert ist, hat also weitreichende epistemologische und ontologische Konsequenzen. Diese Konsequenzen sollen im vorliegenden Artikel in ihrem systematischen Zusammenhang skizziert werden.

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Johannes Haag

1. Anti-Fundamentalismus und das Faktum des ‚Geführtwerdens‘ Beginnen möchte ich mit der theoretischen Voraussetzung, die ich bereits erwähnt habe: der Forderung nämlich, dass eine erfolgreiche Konzeption von Anschauung (oder, wie Sellars es nennt, primärem Wahrnehmungsakt (perceptual taking)1) und Sinneseindruck den epistemologischen Fundamentalismus vermeiden muss. Ein solcher Fundamentalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er davon ausgeht, dass wir auf das uns derart direkt Gegebene unser Wissensansprüche stützen können. Der Wissensanspruch hinsichtlich des Gegebenen ist dadurch gerechtfertigt, dass uns die fraglichen Entitäten als das unmittelbar bewusst sind, was sie tatsächlich oder an sich sind. Sellars hat die These vertreten, dass den Kern dieses Fundamentalismus ein Mythos bildet, der Mythos des Gegebenen. Etwas ist im fundamentalistischen Sinne gegeben, wenn es 1) epistemisch wirksam ist, d.h. der Rechtfertigung bestimmter geistige Zustände dienen kann, und 2) epistemisch unabhängig, d.h. die epistemische Wirksamkeit nicht von irgendwelchen anderen geistigen Zuständen und deren Rechtfertigung abhängt.2 Nur wenn etwas diese beiden Eigenschaften hat, ist es gegeben im Sinne des Mythos.3 Der Mythos mit Bezug auf empirisches Erkennen besteht nun in der Auffassung, dass die Daten, die uns die Sinne liefern, bereits so strukturiert sind, dass sie unserer Verstandesordnung gleichsam einen Stempel aufdrücken. Deshalb gilt:

1

Die Begriffe Anschauung und primärer Wahrnehmungsakt werden im Weiteren synonym verwendet: Sellars interpretiert die kantischen Anschauungen explizit als primäre Wahrnehmungsakte. Vgl. z.B. Sellars 1967a, 18/19 und ders. 1967b, 642. 2 Ich übernehme diese Charakterisierung von Willem DeVries. Vgl. DeVries 2005, 98 f. DeVries weist ausdrücklich darauf hin, dass epistemische Unabhängigkeit nicht aus der Unmittelbarkeit, d.h. dem Nicht-Abgeleitetsein aus anderen geistigen Zuständen, folgt. Denn Ableitung ist nicht die einzige Form epistemischer Abhängigkeit. 3 Vgl. Sellars 1956, 164.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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To reject the Myth of the Given is to reject the idea that the categorial structure of the world – if it has a categorial structure – imposes itself on the mind as a seal imposes an image on melted wax. [Sellars 1981, I §45 (12)]

Jedem Kritiker dieses Mythos stellt sich allerdings ein zentrales Problem: Wenn die Wirklichkeit sich unserem Erkennen nicht aufprägt wie ein Siegel einem Stück Wachs, wie können wir dann den Anspruch auf Objektivität rechtfertigen, der sich im Begriff der Erkenntnis ausdrückt? Prinzipiell gibt es für den Kritiker des Mythos zwei Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen: Entweder er vernachlässigt eine irgendwie an sich existierende Wirklichkeit in seiner Konzeption der Objektivität des Erkennens ganz oder er versucht eine solche Wirklichkeit weiterhin in seine Beschreibung des Erkennens mit einzubeziehen, ohne deshalb allerdings in den Mythos zurückzufallen. Der Verlust einer unabhängig von uns existierenden Welt, den die erste Alternative zu implizieren scheint, macht sie für viele Philosophen unattraktiv. Außerdem hat sie Schwierigkeiten, einem phänomenologischen Faktum gerecht zu werden, mit dem wir fortwährend konfrontiert sind: Sofern wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, können wir uns normalerweise nicht aussuchen, was wir wahrnehmen. Diese Passivität unserer Wahrnehmung passt scheinbar nicht gut zu Theorien der ersten Art, die den Einfluss der Welt auf uns vernachlässigen wollen.4 In antifundamentalistischen Theorien der zweiten Art, die diesen Einfluss berücksichtigen möchten, ist sie hingegen prima facie besser integrierbar. Eine erfolgreiche anti-fundamentalistische Theorie der zweiten Art muss also einerseits diese Beschränkung unserer epistemischen Freiheit durch die Welt erklären können, darf dabei aber, andererseits, nicht in den Mythos des Gegebenen zurückfallen. Diese Art der Abhängigkeit der unseres wahrnehmenden Bezugs auf Gegenstände von einer tatsächlich unabhängig von uns existierenden Wirklichkeit bezeichnet Sellars in Anknüpfung an einen Begriff des späten Wittgenstein als Geführtwerden (guidedness) unserer Wahrnehmung.5 4

Ein prominentes Beispiel für eine Konzeption dieser Art bietet die Theorie Robert Brandoms. Vgl Brandom 1994 und Brandom 2007. 5 Vgl. Sellars 1967a, 16. Sellars bezieht sich auf Wittgenstein 1953, §169 ff. Wittgenstein kritisiert dort das angeblich vorhandene Erlebnis des ‚Geführtwerdens‘. Um dieses Erlebnis geht es Sellars nicht: Er ist an dieser Stelle an einem transzendentalen

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Dabei muss es sich um eine Führung von außen6 handeln, die unabhängig ist von dem Wirken unserer Intentionalität: die Führung übernimmt das Nicht-Intentionale, das der verändernden Einwirkung des Intentionalen prinzipiell entzogen ist. Wie wir sehen werden, ist es für die Sicherstellung einer derartigen Führung nicht notwendig, dass uns die an sich existierende Wirklichkeit unmittelbar führt. Die wesentliche Bedingung, die eine derartige Führung – egal ob mittelbar oder unmittelbar – erfüllen muss, ist die Unabhängigkeit von der intentionalen oder begrifflichen ‚Ordnung‘7. Die fragliche Führung von außen ist also auch dann noch garantiert, wenn die Führung durch die Wirklichkeit an sich durch eine nicht-intentionale Reaktion auf die originäre Affektion vermittelt ist. Die Vorstellung einer Führung von außen erfüllt also den Zweck, die Bedingung der Möglichkeit des Faktums und Inhalts der passiven Aspekte unseres Weltzugangs zu klären. Eine Konzeption, der es gelingt, diese Vorstellung systematisch überzeugend zu integrieren, verfügt deshalb über die Ressourcen, dem erwähnen Problem des Weltverlusts in geeigneter Weise zu begegnen. Über Erfolg oder Misserfolg einer solchen Theorie entscheidet, wie wir im Folgenden sehen werden, die Art und Weise wie Sinneseindrücke in eine Konzeption des intentionalen Bezugs auf die Welt eingebettet werden.

2. Sellars’ Herleitung der Sinneseindrücke Was Sinneseindrücke für Sellars sind, versteht man am besten, wenn man sich seine Gründe für ihre Einführung ansieht. Sellars verwendet dazu eine oder epistemischen Argument für die Existenz einer unabhängig von uns existierenden Realität (genauer: von nicht-begrifflichen Sinneseindrücken, die durch diese hervorgerufen werden; vgl. unten S. 35 ff.) interessiert. Wittgenstein selbst hat gegen ein faktisches ‚Geführtwerden‘ auch überhaupt nichts einzuwenden, wie seine Überlegung in § 177 zeigt. (Pippin erwähnt den Ausdruck „Angewiesenheit“ als Alternative zum „Geführtwerden“. (Vgl. Pippin 1982, 46.) Allerdings geht in diesem Ausdruck die Verantwortlichkeit dessen, worauf wir angewiesen sind, für den Inhalt unserer Vorstellungen verloren.) 6 Vgl. Sellars 1967a, 16. 7 Vgl. für diesen Begriff insbesondere Sellars 1960, 46. (Dazu Haag 2001, 132 f.].)

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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Überlegung, die er als ‚Herleitung der Sinneseindrücke‘ (sense-impression inference) bezeichnet – in Anlehnung an und zugleich in Abgrenzung zur Sinnesdaten-Herleitung8. Wie funktioniert diese Herleitung? Sellars beschreibt sie als explanatorische Inferenz: If ... the ‚sense-impression inference’ is an inference to an explanation, what specifically is it designed to explain? ... If we construe physical objects, for the moment, in Strawsonian terms [und damit im manifesten Weltbild; J.H.9] we can say that the aim is to explain the correlation of the conceptual representations in question with those features of the objects of perception which, on occasion, both make them true and are responsible for bringing them about. [Sellars 1967a, 17]

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Vgl. [Sellars 1967a:17 Fn.]. Den Begriff des manifesten Weltbildes (manifest image) und den Komplementärbegriff des wissenschaftlichen Weltbildes (scientific image) entwickelt Sellars in Sellars 1962. Das manifeste Weltbild ist selbst bereits ein theoretisches Weltbild. Sellars führt – meiner Ansicht nach hauptsächlich zum Zweck der Illustration dieser Behauptung – eine Art historischer Spekulation durch, die zeigt, wie Theoriebildung im manifesten Weltbild funktioniert und zu dessen Weiterentwicklung beiträgt: Das manifeste Weltbild baut auf dem ursprünglichen Weltbild (original image) auf, dessen grundlegende Objekte ausschließlich Personen sind. Dieses ursprüngliche, animistische Weltbild ist in gewisser Weise das manifeste Weltbild einer für uns lange zurückliegenden Zeit. Es ist die Form des manifesten Weltbilds „...in terms of which man came to be aware of himself as man-in-the-world.“[Sellars 1962, 6] Aus diesem Weltbild gehen nun die weiteren Ausformungen des manifesten Weltbilds dadurch hervor, dass das alltägliche Weltbild nach und nach empirisch und kategorial weiterentwickelt wird. „By empirical refinement, I mean the sort of refinement which operates within the broad framework of the image and which, by approaching the world in something like the canons of inductive inference defined by John Stuart Mill, supplemented by canons of statistical inference, adds to and subtracts from the contents of the world as experienced in terms of this framework and from the correlations which are believed to obtain between them.“ [ebd., 7] Als Beispiel für eine kategoriale Veränderung innerhalb des alltäglichen Weltbildes führt Sellars die allmähliche Preisgabe animistischer Vorstellungen an. Personen sind nicht mehr die einzigen grundlegenden Objekte des so entstehenden Weltbilds, sondern Personen und physische Dinge, d.h. Dinge mit einer bestimmten raum-zeitlichen Ausdehnung und bestimmten qualitativen Eigenschaften wie insbesondere Farbigkeit. So lässt sich nachvollziehen, wie sich das manifeste Weltbild als manifestes Weltbild mehr und mehr zu einem reflektierten Weltbild entwickelt. Auch innerhalb des manifesten Weltbildes sind also Revisionen möglich, solange sie die grundlegenden Kategorien dieses Weltbildes, d.h. Personen und Dinge, nicht aufgeben. Die Aufgabe dieser grundlegenden Kategorien markiert denn auch den Übergang zum wissenschaftlichen Weltbild. 9

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Sinneseindrücke müssen wir also einführen, um die Übereinstimmung der begrifflichen Repräsentationen mit denjenigen Eigenschaften der Gegenstände der Erfahrung zu erklären, die sie, sofern sie wahre Repräsentationen sind (dies ist die Funktion des „on occasion“ im Zitat), erstens, wahr machen, und die, zweitens, dafür verantwortlich sind, dass wir diese Repräsentationen bilden.10 Warum sollten nicht die Gegenstände selbst diese Rolle übernehmen? Warum brauchen wir dafür, mit anderen Worten, noch eine zusätzliche Ebene, die Ebene der Sinneseindrücke? Hier kommt eine grundlegende Konstante von Sellars’ Philosophie zum Tragen, die sich von seinen frühesten Schriften, über „Empiricism and the Philosophy of Mind“ (1956) und Science and Metaphysics (1967), bis hin zu seinen letzten Arbeiten aus den frühen 80er Jahren erstreckt, die wieder dem Thema der Wahrnehmungsphilosophie und Erkenntnistheorie gewidmet sind. Es ist sein Festhalten an einem phänomenologischen Faktum, dessen Fehlinterpretation die Sinnesdatentheorie der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geprägt hat. Immer wieder warnt Sellars davor, mit der Sinnesdatentheorie auch diese phänomenologische Überlegung aufzugeben.11 Now, the basic phenomenological fact from which I shall take my point of departure is that when an object looks red to S, and S is, so to speak, “taken in” – I make this stipulation only to put irrelevancies to a side – S has an experience which is intrinsically like that of seeing an object to be red. [Sellars 1981, I §69 (16)]

Es ist also die Konstanz des Erlebens trotz einer Veränderung aller anderen Bestandteile der Wahrnehmungssituation – entweder durch die Veränderung der Wahrnehmungsbedingungen oder dadurch, dass es sich überhaupt nicht mehr um eine Wahrnehmung handelt, sondern um eine Halluzination –, die Sellars dazu veranlasst, die raum-zeitlichen Gegenstände selbst und ihre Eigenschaften nicht mehr als grundlegende Elemente der Erklärung der fraglichen Korrelation zu akzeptieren. Diese Aktualität der erlebten Eigenschaften, auch in den abnormalen Fällen, ist eine phänomenologische Tatsache, die eine Theorie der Erfahrung erklären muss. In unseren Wahrnehmungen eines rosaroten Eiswür10

Solche Repräsentationen bezeichnet Sellars als „ostensible seeings“. Vgl. z.B. Sellars 1981, I §70 (16). 11 Vgl. z.B. Sellars 1963b, 60.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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fels ist “... something, in some way [pink and cubical] ... in some way present to the perceiver other than as thought of.” [Sellars 1975b, 310] Dieser ‚deskriptive Kern‘ [ebd.] unserer Wahrnehmungen ist in einer Weise aktual, der Sellars’ Ansicht nach jede Wahrnehmungstheorie Rechnung tragen muss. The one thing we can say, with phenomenological assurance, is that whatever its „true“ categorial status, the expanse of red involved in an ostensible seeing of the very redness of an apple has actual existence as contrasted with the intentional in-existence of that which is believed in as believed in. [Sellars 1981 I §88 (20/1)]

Was liegt aber dieser aktualen Existenz der Rosaröte des Eiswürfels zugrunde? Was ist ihr ‚wahrer kategorialer Status‘? Darauf kann, so meint Sellars, die Untersuchung der Phänomenologie dieser Wahrnehmung keine Antwort mehr geben.12 Die Erklärung dieses phänomenologischen Sachverhalts markiert den Übergang zur Theoriebildung. Die Theorie der Sinneseindrücke soll die notwendige Erklärung dieses phänomenologischen Sachverhalts liefern. Worum es nun also geht, ist die Frage, was denn die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften sind, sofern sie nicht Eigenschaften der physischen Dinge sind: What is at stake is their status and function in the scheme of things. [ebd.]

Und seine eigene Verortung der Farbigkeit in der Gesamtheit der Dinge (innerhalb des manifesten Weltbildes) ist auch in den späten Carus-Lectures noch genau dieselbe, die er bereits im Jones-Mythos aus „Empiricism and the Philosophy of Mind“ vorgetragen hat: The pinkness of a pink sensation is ‘analogous’ to the pinkness of a manifest pink ice-cube, not by being a different quality which in some respect is analogous to pinkness (as the quality a Martian experiences in certain magnetic fields might be analogous to pink with respect to its place in a quality space), but by being the same ‘content’ in a different categorical ‘form’. [Sellars 1981, III §47 (73)]13

12 13

Vgl. ebd., §89 (21). Vgl. Sellars 1956, 190 ff.

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Sinneseindrücke enthalten also die sensibilia, die wir den Gegenständen der Erfahrung zuschreiben, in anderer kategorialer Form.14 Die andere kategoriale Form ergibt sich daraus, dass die sensibilia nicht mehr als Eigenschaften von Gegenständen aufgefasst werden, sondern als Modifikationen des repräsentierenden Subjekts. Die Eigenschaften von Gegenständen sind also eigentlich nichts anderes als Eigenschaften von Sinneseindrücken – dieselbe Materie transponiert15 in eine andere kategoriale Form. Das sprachliche Pendant solcher Modifikationen sind adverbiale Modifikationen von Prädikaten, die geistiges (in diesem Fall sinnliches) Verhalten ausdrücken. Sellars umgeht auf diese Weise die Behauptung, dass die Sinneseindrücke selbst in dem Sinne die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften haben müssen, in dem die Gegenstände diese Eigenschaften haben. Die Farb- und Gestalteigenschaften des physischen Gegenstandes sind bei ihm der (in der Ordnung des Wissens) primäre Seinsmodus beider Eigenschaftsarten.16 Gemäß dieser Version des Adverbialismus17 nehmen wir physische Gegenstände mit ihren Gestalt- und Farbqualitäten direkt wahr, obwohl die 14

An der angegebenen Stelle ist nicht von Sinneseindrücken die Rede, sondern von “volumes of pink“. Doch diese dreidimensionalen (!) „volumes of pink“ sind nichts anderes als Komplexe aus Sinneseindrücken. (Interessanterweise stellt Sellars an anderer Stelle eine Verbindung dieser „volumes“ (Rauminhalte) zu den Bild-Modellen aus „The Role of Imagination in Kant’s Theory of Experience“ (Sellars 1978) her. Vgl. Sellars 1981, I §112 (25). Diese Verbindung wird uns weiter unten noch beschäftigen.) 15 „We approach the problem of constructing new forms of concepts pertaining to color not by throwing away concepts of the colors of physical objects, but by transposing our concepts into a new key.” Sellars 1981, I §86 (20); Herv. J.H.. Vgl. auch Sellars 1967a, 172. 16 „Its being somehow the facing surface of a physical thing is a matter of the fact that in developing a proto-theory to explain the possibility of seeming to see the very redness of a physical object, when no physical object is there to be seen –or if there is , it has no very [pinkness]– the only available determinate concept in terms of which to grasp the redness which is somehow present in the experience, is that of [pinkness] as a physical stuff, the [pinkness] of physical objects in the spatio-temporal-causal order. The latter must serve as the fundamentum from which analogical thinking can form a proto-concept of red which has a new categorial structure.” [Sellars 1981, I §92/3 (21)] 17 Offensichtlich ist diese Konzeption von Sinneseindrücken adverbialistisch. Allerdings unterscheidet sie sich in mancher Hinsicht von älteren (vgl. z.B. Ducasse, 1942) und auch zeitgenössischen (vgl. z.B. Tye,1984) Formen des Adverbialismus. Vgl. dazu

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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unmittelbare Ursache unserer Wahrnehmung und ihr unmittelbares Bezugsobjekt ein Zustand des wahrnehmenden Subjekts ist, dessen Eigenschaften zu den Eigenschaften der wahrgenommenen physischen Dinge analog sind.18 [A]ccording to this version of the adverbial theory, the manners of sensing are analogous to the common sense proper and common sensibles in that they have a common conceptual structure. Thus, the color manners of sensing form a family of incompatibles, where the incompatibilities involved are to be understood in terms of the incompatibilities involved in the family of ordinary physical color attributes. And, correspondingly, the shape manners of sensing would exhibit, as do physical shapes the abstract structure of a pure geometrical system. [Sellars 1975b, 313]

Die Analogie verändert im Fall der Einführung von Sinneseindrücken also die kategoriale Form der Entitäten, die durch sensibilia charakterisiert werden, behält aber ihren ‚Inhalt‘ bei – und damit auch die ‚Axiomatik‘19 der Farb- und Raumeigenschaften. Sellars spricht aufgrund der analogen Übertragung der Eigenschaften von Einzeldingen auf Zustände von einer transkategorialen Analogie.20 Das Bild von der Wahrnehmung der Gegenstände der Erfahrung, soweit diese die sensibilia betrifft, ist also folgendes: If one thing is clear, it is that in perception we do not take what in point of fact ... are [sense-impressions]21 to be such. But might we not take them to be, for example, the red and rectangular facing surface of a physical object ... in the corner? Might we not, so to speak, mis-categorize them as items in the physical environment? Of course, such a taking would be a mis-taking. But, after all, we were given our perceptual abilities not for the purpose of ontological insight, but to enable us to find our way around in a hostile environment – just as we were given pain to get our hands quickly off the stove. [Sellars 1982, 109]

Wenn wir nun diese Kategorisierung der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften als Eigenschaften von Gegenständen als Fehlkategorisierung auch Sellars 1975a und für eine Diskussion Haag 2001, Kap. 6.4. In seinen späten Schriften über Wahrnehmung gibt Sellars eine adverbialistische Beschreibung partiell auf. Vgl. Sellars 1981 und ders. 1982. Dazu Haag 2008b. 18 Vgl. Sellars 1977b, 182. 19 Vgl. Sellars 1981, I §93/4 (21/2). 20 Zu diesem Begriff vgl. z.B. Sellars 1963b, 93, Sellars 1966 und Sellars 1971, 417 ff. 21 Sellars hat hier „sensa (or sensing)“ [ebd.].

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begreifen, müssen wir also, um der Aktualitätsforderung gerecht zu werden, den geistigen Zuständen selbst diesen Inhalt zuschreiben – denn irgendetwas muss doch diese Eigenschaften haben. Doch auf Grund der fundamentalen Rekategorisierung kann die Art und Weise, wie geistige Zustände diese Eigenschaften ‚tatsächlich‘ haben, nicht der Art und Weise gleichen, in der die Dinge ‚dort draußen‘ diese Eigenschaften haben. Eine unmittelbare Konsequenz der Sinneseindrucksherleitung ist also, dass nichts in der Welt die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften besitzen kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Sinneseindrucksherleitung muss in diesem Zusammenhang betont werden: Sellars behandelt hier ausdrücklich alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften gleich. Der Grund dafür ist in einem Unterschied zwischen Sellars’ und Kants Konzeption dieser Eigenschaften zu sehen, die in ihrer Bedeutung für Sellars’ Philosophie kaum zu überschätzen ist: Während Kant an einer prinzipiellen Trennung der quantitativen und der qualitativen Aspekte des Wahrnehmens – paradigmatisch an einer prinzipiellen, transzendentalphilosophisch motivierbaren Trennung von räumlichen Eigenschaften und Farbeigenschaften – festhält, insistiert Sellars, dass diese Unterscheidung ein grundlegender Fehler Kants sei. Kant ist der Ansicht, dass die quantitativen Bestandteile unserer sinnlichen Erfahrung durch unsere Anschauungsformen notwendig vorgegeben seien, während deren qualitative Bestandteile zufällig seien.22 Im Folgenden möchte ich kurz eine Argumentation von Sellars rekonstruieren, die besagt, dass diese Zufälligkeitsthese hinsichtlich der Farbigkeit der Erscheinungen problematisch ist. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Kant hinsichtlich seiner Konzeption der Farbigkeit tatsächlich ganz Kind (der Naturwissenschaft) seiner Zeit ist: Dass Farbeigenschaften und Ausdehnungseigenschaften unterschiedlich zu behandeln sind, war im ausgehenden 18. Jahrhundert nahezu sakrosankt: „At this stage of the scientific revolution it had come to seem a phenomenological truth that colour is (somehow) in the mind.” [Sellars 1967a, 45] Doch diese Aufteilung der Natur in qualitative und quantitative Bestandteile ist, so Sellars, problematisch: 22

Vgl. z.B. Kant Kritik der reinen Vernunft, B 207/8. Dazu ausführlich Haag 2007, Kap. 4.4 & 4.5.

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[R]eflection on the nature of empirical Space and spatial attributes (if he had not ... taken the subjectivity of colour for granted) would surely have convinced Kant that the objects of perception are as essentially coloured as they are extended; indeed, that their spatial characteristics essentially involve the contrast of colour with colour. An empirical line, for example, is a white streak on a black background, or the edge of a ruler. Thus Kant should have recognized that colour itself ... is as essential a feature of the objects of outer intuition as is shape. [Sellars 1967a, 58]23

Sellars will nicht bestreiten, dass Kant die Notwendigkeit sah, für die rein relationalen Aspekte der Erscheinung eine Materie zur Verfügung zu stellen, die wir als durch diese relationalen Bestandteile bestimmt denken können. Ihm geht es darum, dass bestimmte materiale Bestandteile, nämlich ihre Farbigkeit, ebenso notwendig sind für die Anschauung eines Gegenstandes wie die formalen Eigenschaften. Ebenso wenig beabsichtigt er damit, Szenarien der Spektruminversion sozusagen a priori auszuschließen. Bedingung der Möglichkeit (im transzendentalphilosophischen Sinne) der Anschauung eines Gegenstandes ist, so verstehe ich Sellars, ein farbiger Kontrastraum, der zum einen dieselbe logische Mannigfaltigkeit hat wie der Farbraum und zum anderen denselben Zweck hinsichtlich der Differenzierung räumlicher Eigenschaften erfüllt. Es geht also nicht um die konkreten Farben der Gegenstände empirischer Anschauung, sondern um Farbigkeit überhaupt. Ich will an dieser Stelle nicht diskutieren, ob Sellars mit dieser Überlegung recht hat oder nicht.24 Mir geht es in diesem Zusammenhang vielmehr um die Konsequenzen für Sellars’ eigenes philosophisches System: Erst durch die Gleichbehandlung von Farbigkeit und räumlichen Eigenschaften ergibt sich nämlich im Rahme der Sinneseindrucksherleitung die genannte Konsequenz, dass alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften letztlich als Eigenschaften, die nichts in der empirischen Realität hat: Die Gegenstände 23

Sellars sieht einen weiteren Grund für diese unterschiedliche Behandlung qualitativer und quantitativer Bestandteile der Wahrnehmung in Kants angeblicher Verwechslung von idealem Raum und Raum als Form empirischer Anschauungen. Diesen Vorwurf habe ich an anderer Stelle zurückgewiesen: Kants Unterscheidungen erlauben die Differenzierung dieser Auffassungen vom Raum. (Vgl. Haag 2007, Kap. 4.2.3.) 24 Ich habe in einem anderen Zusammenhang dafür argumentiert, dass Kant in recht nahe liegender Weise auf diesen Vorwurf reagieren könnte. Vgl. Haag 2007, 148 ff. Dagegen DeVries 2008.

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der Erfahrung nicht, weil sie sensibilia bloß auf diese projiziert werden und die Sinneseindrücke selbst nicht, weil sie diese Eigenschaften in anderer kategorialer Form haben. Wir werden sehen, dass dieser Umgang mit Sinneseindrücken für Sellars’ Konzeption der Realität von größter Bedeutung ist.

3. Zwei wesentliche Eigenschaften der Sinneseindrücke: NichtBegrifflichkeit und Unbewusstheit Zunächst aber noch einige weitere Überlegungen zur Natur der Sinneseindrücke. Sinneseindrücke sollen wesentlich nicht-begrifflich sein. Der Grund dafür hängt zusammen mit Sellars’ Zurückweisung des Mythos des Gegebenen. Wenn irgendetwas nach der Herleitung der Sinneseindrücke noch prima facie das Prädikat des Gegebenseins verdienen würde, dann wären dies zwar die Sinneseindrücke. Doch sofern sie gegeben sind, d.h. sofern wir sie zum Gegenstand unseres Bewusstseins und zum Fundament unseres Wissens machen können, sind sie, wie sich in der erwähnten systematischen Fehlkategorisierung zeigt, immer schon in bestimmter Weise aufgefasst. Durch dieses Auffassen, das als Akt der Spontaneität für Sellars genau wie für Kant immer begrifflich ist, verlieren sie aber ihren nichtbegrifflichen Charakter – und sind mithin keine Sinneseindrücke mehr. „What is given is what is taken“ [Sellars 1981, I §120 (26)] – dies ist der Kern von Sellars’ Zurückweisung des fundamentalistischen Mythos des Gegebenen in allen seinen Spielarten. Im Bezug auf Wahrnehmungswissen äußert sich dieser Fundamentalismus häufig in der Annahme unmittelbar gewonnener Wahrnehmungsüberzeugungen, die allem (Wahrnehmungs-) Wissen zugrunde liegen und dessen Autorität konstituieren sollen. Diese finden in der Regel in Berichten oder Konstatierungen25 wie „Dort ist ein rosaroter Eiswürfel“ ihren Ausdruck. Das legt die Verteidiger des Mythos auf die Vorstellung fest, dass die Autorität von Konstatierungen darauf beruht, dass sie als Sprachhandlungen nicht-verbale Bewusstseinsepisoden ausdrücken. Mit dieser Konzeption des nicht-verbalen Gewahrseins als Gewahrsein-als-etwas 25

Den Begriff der Konstatierung übernimmt Sellars von M. Schlick. Vgl. Schlick 1934.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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vertritt man eine Form der direkten Apprehension fundamentaler Tatsachen, die allem anderen Verständnis der Welt als Gegebenes zugrunde liegt, das nicht nur die Materie, sondern auch die Form der Erkenntnis vorgibt. Dass wir uns im direkten Gewahrsein einer Entität mit einem bestimmten kategorialen Status nicht als Entität mit diesem kategorialen Status gewahr werden, ist für Sellars das Fundament seiner Zurückweisung des Mythos des Gegebenen in allen seinen Spielarten. Die „most basic form of what I have castigated as the ‚The Myth of the Given’” [Sellars 1981, I §44 (11)] liegt demnach in folgendem Prinzip: If a person is directly aware of an item which has categorial status C, then the person is aware of it as having categorial status C. [ebd.]

Der Grundsatz, dass ein solches Prinzip zurückzuweisen ist, gilt bei Sellars, wie wir gesehen haben, für beliebiges Gegebenes. Paradigmatisch – und auf Grund von deren Verbindung zu zeitgenössischen Empirismen für Sellars und auch noch uns besonders problematisch – ist allerdings der Status von Sinneseindrücken. Doch die Zurückweisung des Mythos vollzieht sich bei Sellars nicht in einer einfachen Aufgabe des Begriffs der Konstatierung als Ausdruck einer unmittelbaren Wahrnehmungsüberzeugung. Der Begriff der Konstatierung wird nicht eliminiert, sondern begrifflich angereichert. Konstatierungen sind paradigmatische Sprach-Eintritte, d.h. wir reagieren mit Konstatierungen auf bestimmte Wahrnehmungssituationen.26 Sie sind konzipiert als diejenigen begrifflichen Nicht-Handlungen27, die jede Wahrnehmungstheorie akzeptieren muss, die den passiven Aspekt der Wahrnehmung und das damit verbundene Geführtwerden ernst nimmt: Sie können nicht absichtlich vollzogen werden, man kann sich nicht für oder gegen sie entscheiden.28 26

Vgl. zum Begriff der Spracheintritte Sellars 1974. Verstanden als Verhalten, nicht als absichtsvolle Handlung. Vgl. dazu Sellars 1973. 28 Bestünden Konstatierungen in der bewussten Anwendung einer Regel, so würden sie diesen Charakter verlieren: Eine Regel kann absichtlich angewendet werden, man kann sich für oder gegen ihre Anwendung entscheiden. Dies würde aber bei demjenigen, der sie anwendet, voraussetzen, dass er bereits weiß (oder der Meinung ist), dass die Umstände von einer bestimmten Art sind – und ein so konzipiertes Wissen bzw. 27

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Sofern Sinneseindrücke nun die unmittelbaren Wirkungen einer an sich seienden Realität wären und zugleich begriffliche geistige und bewusste Zustände würden sie Sellars auf den Mythos des Gegebenen festlegen: Solche bewussten und dennoch nicht-begrifflichen Episoden wären das selbstautorisierende Fundament unseres Wissens. Sellars darf Sinneseindrücke offenbar nicht so konzipieren, wenn er seinem Prinzip einer konsequenten Zurückweisung des Mythos des Gegebenen treu bleiben will. Obwohl Sinneseindrücke für Sellars tatsächlich Zustände des Bewusstseins sind, sind sie für ihn keine bewussten Zustände oder Gegenstände des Bewusstseins: Sense impressions are non-conceptual states of consciousness. … Whatever Descartes himself may have thought, there is nothing absurd in the idea that states of consciousness occur which are not apperceived, a fact which was appreciated by Leibniz. More startling, and to many absurd, is the idea that there are broad classes of states of consciousness none of the members of which are apperceived. Startling or absurd, the idea is not obviously self-contradictory. (This may be due to its obscurity.) In any case, I shall push it to the hilt. [Sellars 1967a, 10]

Als unbewusste Zustände des Bewusstseins können Sinneseindrücke die Rolle einer Schnittstelle zwischen der von uns unabhängigen und uns epistemisch nicht (oder wenigstens nicht unmittelbar) zugänglichen Welt übernehmen. Sie sind die Wirkungen einer von unseren Begriffen unabhängigen Welt in unserem Bewusstsein; aber sie sind als notwendig unbewusste Zustände nicht durch die verändernde Wirkung des Bewusstseins

diese Überzeugung würde das (nach Voraussetzung) nicht-sprachliche, aber gleichwohl begriffliche Erfassen dieser Umstände voraussetzen. Dieses Gewahrsein kann seinerseits nicht wieder in der Anwendung von Regeln bestehen – sonst kommen wir in einen infiniten Regress. Es soll vielmehr als der primäre Wahrnehmungsakt dienen, der keine Handlung ist in dem Sinne, dass er weder absichtlich noch auf Grund einer Entscheidung stattfinden kann. “Now, if all linguistic episodes are actions, then conceptual non-actions would have to be non-linguistic and, hence, presumably thoughts in something like the Cartesian sense.” [Sellars 1973, 489] Gedanken im ‚cartesischen Sinne‘ wären die Schicht maßgebender nicht-verbaler Episoden ('awarenesses'), deren Autorität sich auf eine darüberliegende Struktur verbaler Handlungen übertragen würde: Sie wären selbstrechtfertigend im Sinne des Mythos des Gegebenen, und die Sprache wäre nur ein Mittel, um sie auszudrücken.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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begrifflich korrumpiert. Diese wesentlich unbewussten, nicht-begrifflichen Zustände veranlassen uns, in bestimmter Weise, begrifflich zu reagieren. Diese Reaktionen haben passive und aktive Aspekte: passive, weil sie unwillkürliche Reaktionen auf die Sinneseindrücke sind; aktive, weil diese Reaktionen durch ihre Einbettung in unseren begrifflichen Zugang zur Welt das sinnlich Gegebene begrifflich verändern. Diese Reaktionen sind die primären Wahrnehmungsakte, genauer die Bild-Modelle29 und die primären Wahrnehmungsakte, die dann (wie die Anschauungen Kants) zu Bestandteilen unserer Konstatierungen im Sinne Sellars’, oder allgemeiner zu Bestandteilen unserer basalen verbalen oder nonverbalen Wahrnehmungsurteile werden. Es ist wesentlich zu verstehen, dass die Sinneseindrücke diese Rolle verlieren würden, wenn sie bewusste Zustände wären. Hier liegt übrigens der Grund für ein Missverständnis McDowells. Er versteht Sellars’ Konzeption von Sinneseindrücken so, wie Sellars selbst später Bild-Modelle konstruiert. Dass sie nicht Gegenstände des Bewusstseins sein sollen, liest er als ‚in ihrer Funktion nicht Gegenstände des Bewusstseins‘: Sinneseindrücke erfüllen, so McDowell, sofern wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten, sie also selbst zum Gegenstand einer ‚inneren Wahrnehmung‘ machen, ihre Aufgabe nicht mehr, uns über die Welt zu informieren; wir können sie uns also nicht im Vollzug ihrer Funktion bewusst machen. Das heißt aber nicht, so muss Sellars McDowells Ansicht nach behaupten, dass sie prinzipiell nicht Gegenstände des Bewusstseins werden können.30 Was ist von diesem Vorwurf zu halten? Zwar ist etwas daran, dass Sinneseindrücke, in einem sehr schwachen Sinne Gegenstände des Bewusstseins werden können. Dieser Sinn unterscheidet sich aber von dem, was man sonst als Gegenstand des Bewusstseins bezeichnet, also etwa Wahrnehmungen und ihre Gegenstände. Als Gegenstände einer Theorie des Bewusstseins, als theoretische Entitäten, können sie in dem schwachen 29

Vgl. dazu unten S. 48 ff. „The visual impressions or sensations are not apperceived when they are playing their transcendental role. That is not to say hat they are not apperceivable. It is just to say that if they do get to be apperceived … they can no longer be playing their transcendental role, that of enabling episodes of “outer sense”, episodes that “contain” claims about the environment.” [McDowell 1998, 447] 30

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Sinne bewusst werden, dass wir uns immer dann ihrer ‚bewusst‘ sind, wenn wir uns ihrer Wirkung bewusst sind. Die Art des Wissens von diesen Zuständen des Bewusstseins hat Aspekte – wie etwa die Direktheit des Wissens – die es unserem bewussten Zugang zu anderen Zuständen und Gegenständen (des manifesten Weltbildes) sehr ähnlich macht.31 Doch Sellars geht es hier klarerweise nicht um diese Art von ‚schwachem‘ Bewusstsein, und auch McDowell in seiner Kritik setzt einen starken Begriff vom ‚Gegenstand des Bewusstseins‘ voraus, in dem wir uns dieser Zustände unmittelbar als Bewusstseinszustände bewusst werden können. Und in diesem Sinne können uns diese Zustände Sellars’ Ansicht nach tatsächlich nie bewusst werden – wohl aber ‚andere, mit denen sie aufs engste verbunden sind‘: [E]ven if visual impressions are never apperceived, they are so intimately related to certain other inner episodes which are apperceived that the temptation, for one who grants their existence, to say that they are themselves apperceived is difficult indeed to resist, particularly when all the relevant distinctions have not been drawn. [Sellars 1967a, 10/11]

Als Kandidaten für diese Zustände, mit denen Sinneseindrücke verwechselt werden können, kommen in Sellars’ Konzeption von Wahrnehmung zwei Klassen von Zuständen in Frage, nämlich, erstens, die minimalen begrifflichen Repräsentationen, die er bereits bei der Formulierung dieses Zitats aus Science and Metaphysics im Sinn hatte; und, zweitens, die BildModelle, die er erst in seinem Spätwerk zum Teil des begrifflichen Rahmens macht, in dem er seine Philosophie entfaltet.32 Da McDowell diese Unterscheidung nicht sieht33, muss er Sellars Theorie an dieser Stelle missverstehen. Er hat dafür vermutlich einen Grund, doch den deutet er nicht einmal an. Wir erfahren nur, dass es schwer sei, zu sehen,

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Vgl. aber Rosenberg 2000. Für eine Verteidigung dieses Wissens als Klasse des Selbstwissens, mithin als (wenn auch in schwachem Sinne) bewusste Zustände vgl. Haag 2001, Kap. 12. 32 Vgl. dazu unten S. 48 ff. 33 Obwohl er die Diskussion in Sellars 1978 offenbar kennt. Vgl. McDowell 1998, 454 Fn. 3.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

35

... how, on Sellarsian or indeed on any principles, there could be a class of items in consciousness, whose members were permanently and constitutionally incapable of being apperceived, incapable of being directly available for selfattribution. [McDowell 1998, 447]

Ich vermute, dass McDowell hier den Unterschied zwischen Sellars’ Verwendung von ‚Gegenstand des Bewusstseins‘ sein (Gegenstand einer Apperzeption sein) und dem ‚schwachen‘ Sinn von ‚bewusst werden‘, den ich eben (als direktes Wissen von etwas) thematisiert habe, nicht beachtet – eine Unterscheidung, die klarerweise zu den hier relevanten gehört. Mit dieser Unterscheidung lautet Sellars’ These nämlich, dass es Zustände des Bewusstseins gibt, die nie Gegenstände des Bewusstseins sein können, obwohl sie, sofern bestimmte theoretische Grundlagen geschaffen sind34, für die Selbstzuschreibung ‚direkt zur Verfügung stehen‘.

4. Die transzendentalphilosophische Funktion der Sinneseindrücke Diese Unterscheidungen spielen auch in einer weiteren Fehldeutung McDowells eine Rolle, mit der ich mich nun beschäftigen will, weil sich in diesem Zusammenhang die transzendentalphilosophische Dimension von Sellars’ Herleitung der Sinneseindrücke besonders gut aufzeigen lässt. Sellars schreibt im Zusammenhang dieser Herleitung in Science and Metaphysics, dass die Korrelation zwischen Eigenschaften des wahrgenommenen Gegenstandes und den begrifflich repräsentierten Eigenschaften im Fall normaler Wahrnehmungsbedingungen genauso der Erklärung bedarf wie im abnormalen Fall. It is also essential to note that the correlation of the correct conceptual response with objects perceived in normal circumstances by normal perceivers is as much in need of explanation as the correlations of conceptual responses with abnormal perceptual situations. [Sellars 1967a, 18]

McDowell ist der Ansicht, dass Sellars hier sagen will, der abnormale Fall sei für die Herleitung der Sinneseindrücke nicht mehr wesentlich. Er diagnostiziert deshalb, eine wesentliche Wendung von der Auffassung der 34

Nämlich eben die Einführung von Sinneseindrücken.

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Johannes Haag

Erklärung „scientific style“ [McDowell 1998, 442/3], wie Sellars sie noch in „Empiricism and the Philosophy of Mind“ von 1956 vertreten hätte, hin zu einer transzendentalen Erklärung, die die Abhängigkeit begrifflicher Inhalte unserer Repräsentationen von den sinnlichen Eigenschaften unserer Umgebung zum Gegenstand betrifft: The explanation-seeking question now [i.e. in Science and Metaphysics] is: How is it that sensory relatedness to the environment takes the form of conceptual episodes, episodes that, in the terminology of “Empiricism and the Philosophy of Mind,” “contain” claims, at all? [McDowell 1998, 444]

Zunächst muss man feststellen, dass Sellars in Science and Metaphysics, genau wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft, in der Tat auch an der Beantwortung dieser Frage interessiert. Doch dies ist nicht die Aufgabe der Sinneseindrucksherleitung. Diese Herleitung schließt zunächst einmal bestimmte Antworten auf diese Frage aus, kann selbst aber nur einen kleinen Beitrag zu ihrer konstruktiven Lösung liefern. Die Herleitung der Sinneseindrücke hat tatsächlich eine transzendentalphilosophische Dimension, aber das ist eine Dimension, die sie bereits in „Empiricism and the Philosophy of Mind“ hat. Denn ein wesentlicher Aspekt dieser transzendentalphilosophischen Dimension wird in folgender Bemerkung erkennbar: The [manifold of intuitions; J.H.] has the interesting feature that its existence is postulated on general epistemological or, as Kant would say, transcendental grounds, after reflection on the concept of human knowledge as based on, though not constituted by, the impact of independent reality. [Sellars 1967a, 9; Herv. J.H.]35

Diese Einwirkung einer unabhängigen Realität entspricht dem Faktum des ‚Geführtwerdens‘, das ich bereits thematisiert habe. Dieses Faktum ist zwar gleichfalls ein phänomenologisches Faktum, das sich auf unser Erleben des Wahrnehmungsvorgangs als passiven Vorgang gründet. 35

Kant würde übrigens – mit gutem Grund – nicht von „postulieren“ sprechen. Und auch Sellars’ eigener Interpretation der Sinneseindrucks-Herleitung als interpretativer, nicht postulierender Herleitung wird die Formulierung nicht gerecht. (Die Bezeichnungen „interpretativ“ (interpretive) und „postulational“ schlägt Rosenberg in seiner „Roadmap to Sellars’s Carus Lectures“ vor. Vgl. Rosenberg 1982,327.)

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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Es ist aber nicht dieses Erleben einer wesentlichen Passivität, das uns zur Annahme einer an sich seienden Realität zwingen würde, die als Ursache unseren primären Wahrnehmungsakten als ihrer Wirkung korrespondiert. Dieses phänomenologische Faktum allein erzeugt noch keinen transzendentalen Erklärungsdruck. Denn diese Führung könnten auch die physischen Gegenstände leisten. Erklärungsdruck hinsichtlich des Geführtwerdens entsteht für Sellars erst durch die Einführung der Sinneseindrücke. Nach deren Herleitung ist klar, dass die Gegenstände der Erfahrung als begriffliche Konstrukte, die durch die auf Sinneseindrücken operierende produktive Einbildungskraft erst erzeugt werden, selbst für diese Führungsrolle nicht geeignet sind, sondern diese vielmehr voraussetzen: Als bloße sinnlich-begriffliche Konstrukte können sie diese Konstruktion nicht selbst ‚von außen‘ führen.36 Der Erklärungsdruck, der demnach ursprünglich zur Einführung von Sinneseindrücken führt, muss deshalb auch noch in Science and Metaphysics ein anderer sein. Er wird immer noch durch den abnormalen Fall erzeugt werden, wie auch das Zitat aus den späten Carus-Lectures oben deutlich gemacht hat. Ist der Erklärungsdruck durch die qualitative Identität des Erlebens im normalen und im abnormalen Fall aber erst einmal erzeugt – akzeptieren wir also die Notwendigkeit der Erklärung –, dann muss es eine Erklärung sein, die die normale Korrelation genauso trifft wie die abnormale. Dies ist der Sinn der Aussagen in Science and Metaphysics, in denen McDowell eine transzendentalphilosophische Wandlung der Fragestellung sieht – die so eben nicht besteht. Doch diese Fehlinterpretation ist nicht zufällig, denn sie ist eng verbunden mit seiner Analyse der Funktion von Sinneseindrücken in der Sellars’schen Kantinterpretation und analog in Sellars’ eigener Theorie. Da nämlich die Sinneseindrücke für sich genommen in McDowells Interpretation mit der Idealität der empirischen Realität nicht in Verbindung gebracht werden müssen, muss der Erklärungsdruck, der im Zusammenhang des phänomenologischen Faktums des Geführtwerdens besteht, von anderer Seite kommen. Und diese Quelle des Erklärungsdrucks ist für McDowell

36

Vgl. Sellars 1967a, 16.

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Johannes Haag

eben Sellars’ angeblich szientistisch motiviertes Festhalten am wissenschaftlichen Realismus.37

5. Sinneseindrücke und wissenschaftlicher Realismus Doch der wissenschaftliche Realismus ist für Sellars keineswegs die Quelle des Erklärungsdrucks. Vielmehr ist er selbst erst die Folgerung aus der Herleitung der Sinneseindrücke und deren problematischen Konsequenzen: Durch die Herleitung der Sinneseindrücke wird nämlich nicht nur in der dargestellten Weise die Phänomenalität der Erscheinungswelt aufgezeigt, sondern wir verlieren mit ihr zugleich auch den objektiv oder aktual, wenn auch nicht an sich existierenden38 Gegenstand der Erfahrung. Und das ist ein fataler Punkt: Denn Gegenstände der Erfahrung sind, salopp gesprochen, die Objektivitätsgaranten eines transzendentalen Idealismus: Ohne diese Gegenstände der Erfahrung gäbe es keinen interessanten begriff einer empirischen Realität mehr. Genau das ist es aber, was bei Sellars passiert: Anders als bei Kants eigenen Argumenten für die transzendentale Idealität der Erscheinungswelt, gibt es nach der Sinneseindrucks-Herleitung im manifesten Weltbild auch keine wirklich, aber nicht an sich existierenden Gegenstände der empirischen Realität39 mehr – und auf diese können wir nicht einfach verzichten. Um zu verstehen, warum dies bei Sellars (anders als bei Kant) so ist, muss man sich an Sellars’ von Kant abweichende Behandlung der Farbigkeit erinnern: Wenn wir mit Farb- und Raumeigenschaften gleichbehan37

Vgl. oben S. 33 ff. Vgl. für diese Unterscheidung Sellars 1976, §24, im Rahmen der Abgrenzung des Kantischen Idealismus vom ‚dogmatischen‘ Idealismus Berkeleys: „Indeed Kant’s own idealism, while denying that material objects exist per se, nevertheless insists that some at least of the spatial objects which exist ‘in our thoughts’ and, in particular, in our acts and intuitions, or perceptual takings, are, in the critical sense, actual.“ [Sellars 1976 §24]. Sellars macht wiederholt deutlich, dass er Kants Anliegen in dieser Hinsicht teilt. Vgl. z.B. Sellars 1976, Sellars 1967a, Kap. 2. Vgl dazu auch Haag 2007, Kap. 2. 39 Ich verwende de Begriff der empirischen Realität hier und im Folgenden im Sinne der objektiven Realität des manifesten Weltbildes. Damit scheint es mir für die Zwecke dieser Ausführungen zulässig, diesen Begriff in der Rekonstruktion von Sellars’ Theorie weitgehend synonym mit der kantischen Verwendung einzusetzen. 38

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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deln, dann können wir nicht mehr zwischen (jedenfalls für Wesen mit unserer Sinnlichkeit) wesentlich räumlichen Gegenständen der Erfahrung und den bloß zufälligen Eigenschaften unserer Empfindungen unterscheiden, die wir auf diese projizieren. Sofern aber sowohl Farbigkeit als auch raum-zeitliche Eigenschaften qua Sinneseindrücke Modifikationen von wahrnehmenden Subjekten sind, können sie nicht Eigenschaften von Gegenständen in der Welt sein. [If] the cube of pink of which we are perceptually aware is a state of ourselves as perceivers, then neither it nor anything resembling it could be an object in physical space. [Sellars 1981, III §65 (76)]40

Damit schließt Sellars nicht nur die vorgebliche Möglichkeit aus, aus den Eigenschaften von Sinneseindrücken direkt auf die Eigenschaften der Gegenstände zu schließen, die diese Eigenschaften gemäß der common sense Auffassung haben.41 Er verwirft mit dieser grundsätzlichen Argumentation damit auch die scheinbare theoretische Option, dass man den normalen und den abnormalen Fall mit jeweils unterschiedlichen Erklärungen beschreibt, also im Normalfall etwa eine kausale Verknüpfung des wahrgenommenen Gegenstandes und der Wahrnehmung für eine hinreichende Erklärung hält, im abnormen Fall aber noch eine Sinneseindrucksebene postuliert, die diese Klasse von Fällen erklärt. Wenn Sinneseindrücke für die intrinsische qualitative Identität der fraglichen geistigen Zustände – also der veridischen Wahrnehmung, der Täuschung und der Halluzination – in einem näher zu bestimmenden Sinne verantwortlich sind, dann nur so, dass Sinneseindrücke in allen drei Fällen die Dimension des Erlebens in Wahrnehmung und bloß scheinbarer Wahrnehmung konstituieren.42 Da mit der Sinneseindrucksherleitung aber alle sensibilia (in transkategorialer Form) nur noch Eigenschaften von Zuständen des (empirischen) Subjekts sind, muss auch die objektive empirische Realität, die durch diese Eigenschaften wesentlich charakterisiert ist, bloß (empirisch) ideal sein.

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In einer Fußnote verweist Sellars auf Berkeleys Aussage „only an idea could be like an idea“, die er in diesem Sinne interpretiert. Vgl. Sellars 1981, III Fn. 14. 41 Vgl. seine Kritik an James Cornman in Sellars 1981, III §62 ff. (75 f.). 42 Sinneseindrücke sind also keineswegs, wie McDowell Sellars vorwirft, „idle wheels“ [McDowell 1998, 444].

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Johannes Haag

Da sich die Rolle der Farbeigenschaften im manifesten Weltbild von der Rolle der raum-zeitlichen Eigenschaften für Sellars nicht grundsätzlich unterscheidet, kann er eine für Kants Begriff der empirischen Realität wesentliche Unterscheidung zwischen den Eigenschaften, die den Gegenständen der Erfahrung in der empirischen Realität wirklich (nicht aber an sich) zukommen, und denjenigen Eigenschaften, die wir ihnen nur kraft einer Objektivierung unserer Empfindungen zuschreiben (die sie also nicht wirklich haben), nicht treffen. Während Kant also die Möglichkeit hat, die Verlagerung der Farbeigenschaften in die Empfindungswelt als unbedrohlich für die empirische Realität der Gegenstände der Erfahrung zu konstruieren, da er sie mit einer im Rahmen der empirischen Realität objektiven raum-zeitlichen Beschreibung derjenigen empirisch realen Objekte verknüpfen kann43, die diese Empfindungen kausal hervorbringen, entfällt für Sellars diese Möglichkeit. Denn die Gleichbehandlung struktureller, d.h. raum-zeitlicher, und qualitativer Eigenschaften der empirischen Realität als wesentliche Eigenschaften der Gegenstände in dieser Realität, zwingt uns dazu, deren raumzeitliche Eigenschaften dann auch mit derselben Begründung als (transponierende) Projektion von Eigenschaften geistiger Zuständen aufzufassen wie ihre qualitativen Eigenschaften, d.i. insbesondere ihre Farbigkeit. Da die empirische Realität des manifesten Weltbildes vor der Einführung der Sinneseindrücke in ihren anschaulichen Eigenschaften durch Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Farbigkeit charakterisiert war, bleibt in Sellars’ Konzeption des manifesten Weltbildes nach der Sinneseindrucks-Herleitung nichts mehr übrig, was die Rolle der anschaulichen Anteile übernehmen könnte. Das manifeste Weltbild weist so über sich selbst hinaus. Sellars’ Bild ist in dieser Hinsicht demnach viel eher cartesisch als kantisch – und wäre gar berkeleyanisch, wenn er nicht die Eigenschaften der Gegenstände in analoge Eigenschaften von Sinneseindrücken überführen würde: 43

Vgl. insbesondere die Bemerkung in Kant Kritik der reinen Vernunft, A 29/30 / B45: Die „unzulänglichen Beispiele“ [ebd.], mit denen man die Idealität des Raumes nicht erläutern darf, sind nur deshalb unzulänglich, weil bei Kant – anders als Sellars – Gegenstände mit räumlichen und zeitlichen Eigenschaften „im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst“ [ebd.] gilt. (Anders – und etwas überspitzt – gesagt, für Sellars wären die unzulänglichen Beispiele nicht unzulänglich.)

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

41

On the Cartesian recategorization, then, the esse of cubes of pink is percipi or, to use a less ambiguous term, sentiri. [Sellars 1981, III §66 (76)]44

Wenn die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften aber nicht mehr Eigenschaften von Gegenständen der empirischen Realität sein können, dann haben wir ein gravierendes Problem mit dem Begriff von aktual, aber nicht an sich existierenden Gegenständen der Erfahrung. Denn einerseits müssen wir Gegenstände der Erfahrung als außer uns in Raum und Zeit denken; andererseits können wir sie aber nicht mehr so denken, da von der Sinneseindrucksherleitung nicht nur, wie bei Kant, die Farben der Gegenstände der Erfahrung zu bloßen ‚objektiven‘ Empfindungen werden45, sondern dasselbe auch für die raum-zeitlichen Eigenschaften dieser Gegenstände der empirischen Realität gilt. Denn wir haben mit dieser Herleitung der Sinneseindrücke alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften in das wahrnehmende Subjekt verlegt. Und dieses Subjekt ist nicht das transzendentale Subjekt – hinsichtlich dessen wir dasselbe ja auch für Kant sagen können –, sondern das empirische Subjekt.46 Wir verlieren also in Sellars’ Konzeption durch die Sinneseindrucksherleitung den kantischen Gegenstand der Erfahrung – auf den wir doch, so scheint es, nicht verzichten können. Denn, das hat Kant Sellars’ Meinung nach gezeigt, die Abhängigkeit unseres Selbstbewusstseins von unserem Verständnis dessen, was objektiv existiert, ist wechselseitig und grundlegend: 44

Dieser Umstand veranlasst Rosenberg zur staunenden Konstatierung: „Sellars, then, is (mirabile dictu!) in this sense a Cartesian.“ [Rosenberg 1982, 329]. Nur in diesem Sinne, denn Sellars beeilt sich hinzuzufügen: „... the sensing need not be construed as a state of a substance which is really distinct from the body. Nor ... need the sensing be construed as a state of a person’s mind. Thus an Aristotelian who has been following the above dialectic might argue that the ontological subject of a sensing is a person. Indeed, he might add that just as a person’s mind is qua having conceptual abilities, so a person’s sensorium is a person qua having sensory abilities.” [ebd., §67 ff. (76/7)] (An dieser Stelle muss man daran erinnern, dass der Philosoph des manifesten Weltbildes für Sellars Aristoteles war. Die aristotelische Beschreibung ist die dem manifesten Weltbild alles in allem genommen angemessenere.) 45 Vgl. zu Kants Konzeption der Farben Haag 2007, Kap. 4.4 & 4.5.. 46 Und diese Internalisierung der sensibilia findet innerhalb des manifesten Weltbildes statt, d.h. im Rahmen unseres Bildes der empirischen, nicht der transzendentalen Realität.

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Johannes Haag Kant saw that the concept of an object of perception contains a reference to the perceptual takings which are the criteria for its actuality. He also saw that the concept of a perceptual taking as the taking of an object contains a reference to material things and events which, if actual, would imply its own actuality. The actuality of perceptual takings and the actuality of material things and processes are not logically independent. [Sellars 1976 §53]

Damit müssen wir einen Begriff der Gegenstände der Erfahrung retten, der dieser Denknotwendigkeit Rechnung trägt, ohne ein im kantischen Sinne raum-zeitlich verfasster Gegenstand der Erfahrung zu sein. Erst dieser Umstand erzwingt also den Übergang zu einer analogen Deutung dessen, was an sich ist – eine Deutung, die bei Sellars eben eine wissenschaftliche Deutung sein soll.47 Damit erzwingt die Herleitung der Sinneseindrücke also den Übergang zum wissenschaftlichen Realismus – und nicht, wie McDowell unterstellt, umgekehrt. Wir können deshalb McDowells Deutung als verfehlt verwerfen, da sie die tatsächliche Abhängigkeit der verschiedenen Argumentationsbestandteile umkehrt.

6. Die Erkennbarkeit der Dinge an sich Versuchen wir diese Konsequenz der Herleitung der Sinneseindrücke noch genauer zu fassen: Sofern Sellars die empirische Realität des manifesten Weltbildes in der Folge der Sinnesdatenherleitung verliert, kann er am kantischen Agnostizismus bezüglich der Unerkennbarkeit einer An-SichSeienden-Realität nicht festhalten. Denn die Erkennbarkeit einer transzendental realen Wirklichkeit wird auf Grund der vorangegangenen Überlegungen eine Denknotwendigkeit im transzendentalphilosophischen Sinne. Wir werden also durch eine Entwicklung im manifesten Weltbild, das durch seine Herleitung der Sinneseindrücke den kantischen Begriff der empirischen Realität zerstört, die den Ausgangspunkt, das Fundament dieser Herleitung darstellt, dazu gezwungen, etwas außer uns zu denken, was wir innerhalb dieses Weltbildes nicht mehr denken können. Wir müssen etwas denken, was diese Sinneseindrücke hervorruft, und wir können es nicht als empirische Realität interpretieren, da bereits innerhalb des 47

Das ist sie de facto. Welchen anderen plausiblen Kandidaten hätten wir, um prinzipielle Erkennbarkeit zu denken, sofern wir sie denn denken müssen?

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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manifesten Weltbildes alle anschaulich-sinnlichen Prädikate der empirischen Realität – und nicht nur die Farbprädikate, wie bei Kant – transponiert werden in Prädikate sinnlicher Zustände. Genau an dieser Stelle wird also die Erkennbarkeit des An-sich zur Denknotwendigkeit, da es andernfalls außer Sinneseindrücken nichts mehr gäbe, was wir erkennen können. Es mag nun vielleicht auch tatsächlich so sein, dass wir nichts anderes erkennen können. Doch die Diskussion dieser skeptischen Möglichkeit entspricht weder der kantischen noch der Sellars’schen Fragestellung. Beide Philosophen fragen nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. A transcendental argument … explicates the concepts of empirical knowledge and object of empirical knowledge. ... What Kant takes himself to have proved is that the concept of empirical knowledge involves the concept of inferability in accordance with laws of nature. [Sellars 1970, 337]

Sellars will also nicht behaupten, dass wir das An-sich erkennen können, sondern dass, sofern wir überhaupt von Erkennen reden können, wir diese Erkennbarkeit denken müssen. Und zu den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gehören, wie Kant – auch Sellars’ Ansicht nach – gezeigt hat, gewisse Grundgesetze dessen, wie wir Gegenstände der Erfahrung zu denken haben. Es ist nun aber klar, dass wir diese Grundgesetze – die reinen Verstandesbegriffe – nicht auf Eigenschaften von Zuständen des wahrnehmenden Subjekts als Zustände dieses Subjekts anwenden können. Denn die Kategorien konstituieren gemeinsam mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption unseren Begriff von Gegenständen der Erfahrung als etwas außer uns. Wenn wir nun alle raum-zeitlichen und inhaltlichen Eigenschaften gleichsam nach innen verlagern, sie wirklich zu Zuständen des wahrnehmenden Subjekts machen, dann entbindet uns das nicht von der Notwendigkeit, etwas außer uns zu denken.

7. Analoge Begriffsbildung Doch mit der Sinneseindrucksherleitung ist unseren empirischen Begriffen faktisch die Materie entzogen, sie sind in Kants Sinne ‚leer‘. (Und dies gilt, da auch die raum-zeitlichen Prädikate transponiert wurden, nicht nur für

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Johannes Haag

empirische, sondern auch für reine Begriffe.) Auf welcher Materie sollen die Begriffe nunmehr operieren? An dieser Stelle wird die Bedeutung von Sellars Konzeption analoger Begriffsbildung erst vollständig erkennbar, die bereits bei der Herleitung der Sinneseindrücke eine wichtige Rolle spielte. Wir dürfen die analoge Begriffsbildung gerade hinsichtlich der raumzeitlichen Eigenschaften nämlich nicht nur auf die Einführung geistiger Zustände beschränken, sondern müssen sie zum Zweck der Bildung eines neuen Begriffs der Gegenstände der Erfahrung auch für die analoge Begriffsbildung im Bereich der Dinge außer uns in Anwendung bringen. Denn analoge Begriffsbildung, die ohne raum-zeitliche Modelle auskommt, ist für uns nicht denkbar. Das ist das kantische Paradigma der Anschauungsformen in Sellars’scher Wendung.48 Da wir also, nach der Internalisierung dieser Eigenschaften, den Dingen außer uns weder raum-zeitliche Eigenschaften noch Farbeigenschaften direkt zuschreiben können, noch andere Prädikate zur Verfügung haben, mit denen wir etwas von uns Verschiedenes denken könnten, müssen wir uns – auf die Fähigkeiten analoger Begriffsbildung vertrauend – ein analoges Bild von den Dingen außer uns machen. Dass die Möglichkeit gedacht werden muss, dass dieses Bild der Wirklichkeit prinzipiell adäquat sein kann, ergibt sich aus dem Objektivitätsanspruch, den unser Begriff vom Gegenstand mit sich bringt. Anders gesagt, gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erkenntnis der Welt, sofern wir mit Sellars – und anders als Kant – die empirische Realität des manifesten Weltbildes als Betätigungsfeld für die Wissenschaft verlieren, die Möglichkeit analoger Begriffsbildung als Möglichkeit der Rückeroberung eines solchen Betätigungsfeldes – und damit die Gewinnung einer im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Realität.

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Kant argumentiert in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich, dass wir nichts von uns Verschiedenes denken können, ohne es als außer uns zu denken. Vgl. A23 / B38. Diese Rekonstruktion von Kants Argument findet sich zuerst bei Dryer 1966, 173 f. Vgl. dazu auch Horstmann 1997, 20/1. Sellars verwendet sie nicht, allerdings passen sie gut zu seiner Darstellung in Sellars 1967a, Kap. 2, Sellars 1976 und Sellars 1978.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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The thesis I wish to defend, but not to ascribe to Kant, though it is very much a ‘phenomenalism’ in the Kantian (rather than Berkeleyian) sense, is that although the world we conceptually represent in experience exists only as actual and obtainable representings of it, we can say, from a transcendental point of view, not only that existence-in-itself accounts for this obtainability by virtue of having a certain analogy with the world we represent but also that in principle we, rather than God alone, can provide the cash. [Sellars 1967a, 49]

In der Bemerkung zur Analogie wird eine Facette von Kants Theorie thematisiert, hinsichtlich derer sich Sellars im Einklang mit Kant sieht: Auch Kant muss der These von der analogen Struktur des Ding an sich nicht prinzipiell abgeneigt sein. Es ist, Sellars Ansicht nach, auch in Kants Augen vernünftig, dem Ding an sich eine gewisse analoge Struktur zuzuschreiben.49 Nur können wir eben diese analoge Konzeption der Dinge an sich zwar denken, aber nicht erkennen. Alle inhaltlichen Bestimmungsversuche stoßen, um in Kants Bild zu bleiben, an eine Grenze, die man prinzipiell nicht erkennend überschreiten kann.50 Sellars glaubt, dass wir diese Grenze prinzipiell überwinden können und als überwindbar denken müssen. Ein ähnliches Bild findet sich auch in folgender Bemerkung, in der Sellars gleichzeitig andeutet, wie wir den begrifflichen Rahmen verändern müssen, um diese Grenzauffassung philosophisch umsetzen zu können: If ... we replace the concept of Divine Truth with a Peirceian conception of truth as the ‘ideal outcome of scientific enquiry’ the gulf between appearances and things-in-themselves, though a genuine one, can in principle be bridged. [Sellars 1967a, 50]

Im Übergang von der statischen Konzeption göttlicher Wahrheit zu einer dynamischen, an Peirce angelehnten Wahrheitskonzeption werden zugleich die Dynamisierung unseres begrifflichen Zugangs zur Welt und deren (idealer) Zielpunkt thematisiert. Dieser prinzipielle Zielpunkt ist, ganz unabhängig davon, ob wir ihn jemals erreichen, eine wesentliche Bedingung dafür, dass wir prinzipiell erkennen können, wie die Dinge an sich sind: Die Welt ist an sich so, wie sie uns von einer idealen Wissenschaft beschrieben würde. Denn diese Wissenschaft würde uns ein Bild der Welt 49 50

Vgl. Sellars 1967a, 48/9. Vgl. z.B. Kant Kritik der reinen Vernunft, B XIX.

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liefern, das dieser Welt nicht nur relativ, sondern absolut adäquat wäre. Mit der Gegenüberstellung von relativer und absoluter Adäquatheit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass unser Bild der Welt, wie es sich in unserer Begriffsverwendung spiegelt, ein Bild ist, das sich entwickelt.51 Das entscheidende Mittel für die Überwindung des Grabens zwischen an sich seiender und phänomenaler Welt ist also ein begriffliches Mittel, nämlich die Methode der analogen Begriffsbildung. For, as I see it, the use of analogy in theoretical science, unlike that in theology, generates new determinate concepts. It does not merely specify unknown attributes by an ‘analogy of proportion’. One might put this by saying that the conceptual structures of theoretical science give us new ways of schematizing categories. [Sellars 1967a, 49]

Versuchen wir im Folgenden, Sellars’ eigene Lösung der transzendentalphilosophischen Problematik, die sich aus der Sinneseindrucksherleitung ergibt, weiter zu erhellen. Sofern uns also die Begriffsrahmen der Naturwissenschaft „new ways of schematizing categories“ [Sellars 1967a, 49] geben, wie es in Science and Metaphysics heißt, und Schemata für Kategorien gemäß Sellars’ Kant-Interpretation nichts anderes sind als die sinnlichen Bedingungen der Anwendung der Kategorien vor dem Hintergrund unserer spezifisch menschlichen Anschauungsform, wie wir gesehen haben52, kann die neue Art der Schematisierung sich nur vermittels analoger Begriffsbildung bzw. analoger Verwendung der Schemata vollziehen. Wir schematisieren also strenggenommen nicht die Kategorien neu, sondern wir passen die transzendentalen Schemata unserer veränderten, weil gleichfalls bloß analogen, Verwendung der empirischen Anschauungsbegriffe an.53 51

Dass wir diesen Zustand jetzt noch nicht erreicht haben (können), ist für Sellars gleichfalls klar – und resultiert u.a. in einer Kritik an Paul Feyerabend. Vgl. Sellars 1965, 183. 52 Vgl. dazu Haag 2007, Kap. 7.5. 53 Vgl. dazu auch Sellars 1970, 319. Kant selbst verweist in der Kritik der Urteilskraft zwar auf die Möglichkeit einer analogen Verwendung von Schematen und empirischen Anschauungen als Symbolen: „Alle Anschauungen, die man Begriffen a priori unterlegt, sind also entweder Schemate oder Symbole, wovon die erstern directe, die zweiten indirecte Darstellungen des Begriffs enthalten. Die erstern thun dieses demonstra-

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Natürlich ist das etwas, was wir in Kants Bild des menschlichen Erkennens nicht könnten: Wir können uns nicht aussuchen, wie wir diese Begriffe schematisieren. Aber es ist gerade dieses statische Bild der Begriffsbildung, soweit sie sozusagen unser begriffliches Grundinventar betrifft – nicht unsere begriffslogischen Strukturen qua urteilslogische Strukturen; auch nicht die reinen Verstandesbegriffe; aber eben die Schematisierung dieser Verstandesbegriffe –, das Sellars bei Kant immer wieder kritisiert: Today we are in a better position to distinguish between the conceptual framework of which nature was the cause, and the freely elaborate conceptual frameworks with which we now challenge nature. It is the greater explanatory power of the latter which stands behind the claim that things as they are in themselves are things as ideal science would find them to be. [Sellars 1969a, 240] 54

Sellars macht für Kants statisches Begriffskonzept den Umstand verantwortlich, dass Kant noch nicht auf die Evolutionstheorie zurückgreifen konnte. Dies habe Kant auf Grund seiner vollkommen richtigen Zurückweisung des abstraktionistische Empirismus zur „platonic alternative of innate ideas“ [ebd.] gezwungen.55 Sellars’ Diagnose, dass Kant weder die Möglichkeit sah, dass sich unser Begriffssystem sozusagen als überlebensrelevant durch die evolutionäre Entwicklung gebildet haben könnte, noch die Möglichkeit einer sozialintersubjektiven Weiterentwicklung wesentlicher Bestandteile dieses Be-

tiv, die zweiten vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.“ [Kant Kritik der Urteilskraft, 352] Allerdings liefert uns diese analoge Verwendung eine bloße „Vorstellungsart“ [ebd., 353], die man nicht Erkenntnis nennen darf, sofern sie ein Prinzip „der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes , was er an sich sei“ [ebd., 353], sondern nur „der praktischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll“ [ebd.]. 54 Vgl. auch Sellars 1967a, Kap. 5. 55 Vgl. auch Sellars 1967b, 644/5. Sellars setzt voraus, dass eine derartige platonische Position letztlich unbefriedigend ist. Diese Voraussetzung ist sicherlich nicht unproblematisch, auch wenn sie heute wohl von vielen Philosophen geteilt wird.

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griffsrahmens einräumte, ist sicherlich richtig.56 Er ist trotzdem der Ansicht, dass die ... idea that this logical space is an evolutionary development, culturally inherited, is an adaptation rather than a rejection of Kant’s contention that the forms of experience are a priori and innate. [Sellars 1963b, 90]

Sobald wir dieses evolutionäre Thema in unsere Überlegungen zu Begriffssystemen einbeziehen, sehen wir nicht nur die prinzipielle Möglichkeit, diese Systeme weiterzuentwickeln, sondern auch die Gebotenheit einer derartigen Weiterentwicklung auf Grund der größeren ‚explanatorischen Kraft’ [vgl. ebd.]. Dass wir dieses Weltbild sogar weiter entwickeln müssen – und damit als Weltbild letztlich aufgeben57–, weil die beginnende Entwicklung uns in der geschilderten Weise eine Umdeutung der Welt aufzwingt, als deren Teil wir uns begreifen, geht aus den geschilderten Überlegungen wohl hervor.

8. Die Folgen der ‚neuen Schematisierung‘ Die faktische raum-zeitliche sensorische Struktur, die unsere primären Wahrnehmungsakte (perceptual takings) oder Anschauungen (vermittels der Bild-Modelle) integrieren, d.i. der Aspekt unserer Anschauungen, der sozusagen nur in der Musterbildung sensorischen Inputs besteht, verändert sich bei dieser Weiterentwicklung der Weltbilder nicht. Wir können von dieser raum-zeitlichen Struktur allein deshalb nicht absehen, weil sie ja als Grundlage unserer Analogiebildung dient. Und selbst wenn wir uns – angesichts einer Wissenschaft, deren absolute Adäquatheit nicht nur regulative Idee, sondern tatsächlich erreicht wäre – einmal dazu entschließen würden, nun unsere vom manifesten Weltbild geprägte Sprache durch die 56

Veränderungen innerhalb des Begriffsrahmens sind für Kant hingegen unproblematisch. Die Entwicklung innerhalb der Naturwissenschaften ist für ihn natürlich eine (allerdings nicht notwendig intersubjektive) Entwicklung von empirischen Begriffen innerhalb der empirischen Realität. Dass diese Entwicklung den Rahmen der Begrifflichkeit der empirischen Realität nicht sprengt, konnte er dabei noch mit guten Gründen annehmen. 57 Weil wir dann die grundlegenden ontologischen Bestandteile dieses Weltbildes – Personen und Dinge – nicht mehr ohne weiteres akzeptieren können. Vgl. oben Fn. 9

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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Sprache dieser idealen Wissenschaft zu ersetzen, so würden wir immer noch auf Sinneseindrücke mit eben dieser raum-zeitlichen Musterbildung reagieren. Bei den Bild-Modellen ist das nicht ganz so eindeutig. Bildmodelle erweitern in Sellars’ Spätwerk das phänomenologische Inventar des manifesten Weltbildes, so wie wir es nun im Zusammenhang der Diskussion der Sinneseindrücke auch aus seinen früheren Arbeiten gut kennen.58 Sie sind weder einfach Komplexe von (rein sinnlichen) Sinneseindrücken, noch sind sie Anschauungen, d.h. primäre Wahrnehmungsakte.59 Sie sind keine Anschauungen, weil sie keine kategorialen Eigenschaften der Dinge abbilden und, wichtiger noch, weil letztere als Teil ihres (begrifflichen) Gehalts Gegenstände der Erfahrung haben, die wesentlich nicht perspektivisch sind. Bild-Modelle sind wesentlich perspektivische Bilder von Gegenständen oder Dingen. Sie sind andererseits keine Sinneseindrücke, weil sie nicht nur die notwendige, aber unbewusste Grundlage der Synthesis der Einbildungskraft in der Hervorbringung von Anschauungen sind, sondern weil sie selbst als Produkte dieses Synthesisprozesses gedacht werden müssen, d.h. als Bilder der Dinge aus einer bestimmten Perspektive. Anders als die Sinneseindrücke repräsentieren sie die Dinge als farbig und ausgedehnt, sind sie, mit anderen Worten, Bilder von farbigen und ausgedehnten Dingen. Bild-Modelle sind Bilder von perspektivischen Dingen mit raum-zeitlichen und qualitativen Eigenschaften. Sie haben qua repräsentationale Gehalte komplexer Vorstellungen selbst die Eigenschaf58

Als Beleg dafür, dass es sich bei den Bild-Modellen keineswegs nur um Begriffe im Rahmen einer Kant-Interpretation handelt, sei neben den diesbezüglichen Bemerkungen in den Carus-Lectures (Vgl. Sellars 1981, I 112 ff. (25)) und anderen späten Aufsätzen (vgl. Sellars 1977b, Sellars 1982) vor allem auf die Art und Weise hingewiesen, in der der Begriff des Bild-Modells in „The Role of Imagination in Kant’s Theory of Experience“ eingeführt wird: „My aim in this paper is to give a sympathetic account of Kant’s theory of the role played by what he calls the productive imagination in experience. My method, however, will not be that of textual exegesis and commentary, but rather by constructing an ostensibly independent theory which will turn out, it just so happens, the gist of the Kantian scheme ... I shall stick reasonably close to what I think to be the truth.“ [Sellars 1978, §1/2] Vgl. auch Rosenberg 2000, 152-154. 59 Vgl. dazu Haag 2007, Kap. 7.3. und 7.6.

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ten, die wir dank ihnen den Gegenständen zuschreiben: sie sind gestalthaft und farbig.60 Die komplexe Vorstellung, deren Gehalt das Bild-Modell ist, ist selbst natürlich auch nicht farbig oder gestalthaft ausgedehnt. Sie ist das Resultat einer bestimmten Art und Weise, vermittels der Einbildungskraft mit sensorischen Gegebenheiten umzugehen. Wenn wir einen rosaroten Eiswürfel imaginieren, dann haben wir ein Bild von einem rosaroten, kalten Würfel. Der komplexe geistige Zustand, dessen Gehalt das Bild-Modell ist, kann selbst weder rosarot noch kalt noch würfelig sein – wenigstens nicht in dem Sinne, in dem Gegenstände diese Eigenschaften haben. Indem die Einbildungskraft also mit sensorischen Gegebenheiten umgeht, verändert sie diese. Dass muss sie tun, da Sinneseindrücke selbst, die sensorischen Gegebenheiten, auf denen sie operiert, weder gestalthaft noch farbig sind. Sie sind, wie die Repräsentationen von Bild-Modellen geistige Zustände – und Zustände können nicht auf gleiche Weise gestalthaft oder ausgedehnt sein wie Dinge (oder deren Bilder). Genauso wenig können sie – wenigstens für Descartes, Kant und Sellars – farbig sein.61 60

Rosenberg beschreibt die Veränderung der Sellars’schen Konzeption durch die Einführung der Bild-Modelle als Übergang von einem „two level account“ zu einem „three level account“, der bei Sellars durch eine erhöhte Sensibilität für die Phänomenologie der Wahrnehmung bewirkt wurde: „The sensitive phenomenology of „The Role of Imagination“ is one route to the realization that a complete theory of perception ... requires a further mediating synthetic construction out of sensory materials per se.“ [Rosenberg 2000, 155] 61 Vgl. dazu Haag 2007, Kap. 3.2. Man mag sich fragen, was denn Bild-Modelle zu Bildern von farbigen und ausgedehnten Gegenständen macht, hat man an dieser Stelle der Dialektik prinzipiell zwei theoretische Optionen: Entweder man ist der Ansicht, dass Bild-Modelle als Produkte der Einbildungskraft wenigstens auch Muster von Sinneseindrücken sind und damit die Sinneseindrücke irgendwie selbst als ihre Bestandteile enthalten. Oder man ist der Auffassung, dass die Sinneseindrücke in der Synthesis der Einbildungskraft nicht nur in bestimmter Weise geordnet werden, sondern bereits durch die Synthesis der Apprehension eine Veränderung erfahren, die sie nur als notwendiges, quasi-kausales Antezedens klassifiziert, das in bestimmten systematischen Beziehungen zu den Inhalten der Vorstellungen steht, ohne doch selbst in irgendeinem Sinne Teil dieser Vorstellungen zu werden. Ich glaube, dass sich an dieser Art des Umgangs mit den ontologischen Bestandteilen von Vorstellungen von Bild-Modellen ein wesentlicher Unterschied in den Auffassungen von Kant und Sellars verdeutlichen lässt. In erster Annäherung kann man sagen, dass Sellars zur ersten theoretischen Variante neigt, Kant aber konsequent an der zweiten festhält. Vgl. ausführlich dazu Haag 2007, Kap. 10.

Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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Obwohl unsere Bild-Modelle unter anderem von unseren Hintergrundüberzeugungen, d.h. von unserem Begriffsrahmen oder unserem Weltbild, abhängig sind, wären sie von der Veränderung durch die analoge Begriffsbildung, wie ich glaube, nicht betroffen. Die sensorischen Muster, die sie enthalten, werden zwar schon im Bild-Modell auf der Grundlage von Hintergrundüberzeugungen als etwas dargestellt. Doch die hier relevanten Hintergrundüberzeugungen – wie z.B. „Schnee ist kalt“ oder „Das Innere des Apfels ist weiß“ – betreffen ihrerseits nur die sinnlichen Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände und bleiben deshalb über Weltbilder hinweg konstant. Im Bereich des direkten wahrnehmenden Kontaktes zur Welt bleiben vor dem Hintergrund von Sellars’ Philosophie also nur noch unsere primären Wahrnehmungsakte, Kants Anschauungen. Da Sellars diese Wahrnehmungsakte (genau wie, seiner Interpretation gemäß, Kants Anschauungen) als begriffliche Entitäten (Vorstellungen mit unmittelbarem Gegenstandsbezug) konstruiert, würden diese sich erheblich verändern. Dabei würden sie allerdings (kraft ihrer Verbundenheit mit Sinneseindrücken vermittels der Bild-Modelle) ihre grundlegende Rolle des „bringing a particular object before the mind for its consideration“ [Sellars 1978, §48] keineswegs verlieren.62 Wir würden vermittels ihrer unmittelbar auf Gegenstände Bezug nehmen, ohne diese deshalb weiterhin als raum-zeitliche Gegenstände in unserem Sinne aufzufassen – wohl aber in einem dazu analogen Sinne. In den primären Wahrnehmungsakten oder Anschauungen würde sich deshalb die neue Schematisierung der Kategorien direkt bemerkbar machen. 62

Bild-Modelle spielen also in Sellars’ Konzeption des Verhältnisses von phänomenaler und transzendental realer Welt eine komplexe Rolle. Zum einen sind sie es, die auf Grund ihrer wesentlichen Perspektivität einen weiteren wichtigen, wenn auch indirekten Beleg für die Phänomenalität der Erfahrungswelt liefern: “The perspectival character of the image model is one of its most pervasive and distinctive features. It constitutes a compelling reason for the thesis of the transcendental ideality of the image-model world. Image-models are “phenomenal objects”. Their esse is to be representatives or proxies.” [Sellars 1978, §28] Zum anderen erlauben sie es uns aber, Sellars’ Ansicht nach, vermittels der in ihnen zu Komplexen verbundenen, aber für sich genommen nicht synthetisierten Sinneseindrücke, eine unmittelbare Beziehung zur an sich seienden Wirklichkeit herzustellen und so die Grenzen der empirischen Realität letztlich zu überwinden.

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Johannes Haag

9. Die Führung von außen Kehren wir zum Schluss unserer Rekonstruktion der Sellars’schen Konzeption der Führung von außen noch einmal zu der Frage zurück, was denn nun eigentlich die wichtige Rolle dieser Führung übernimmt. An dieser Stelle der Argumentation kommen dafür nur noch die Sinneseindrücke als unmittelbar Gegebenes in Frage oder aber das, was diese Sinneseindrücke hervorruft. Sofern es auch die Sinneseindrücke allein sein könnten, müssten wir, so scheint es, noch nicht unbedingt zum wissenschaftlichen Realismus übergehen. Doch diese Option steht uns nicht offen, da die Abhängigkeit von Selbstbewusstsein und objektiver Realität (und eben nicht bloß subjektiven Sinneseindrücken!) nicht nur für Kant, sondern auch für Sellars wechselseitig ist. Diese scheinbare Alternative ist für uns also aus transzendentalen Gründen, ‚durch Reflexion auf den Begriff menschlichen Wissens’, ausgeschlossen. Denn die gedachte unabhängige Realität und ihr Wirken sind es, die wir, wie Sellars, denken müssen, damit wir verstehen, wie unsere Erkenntnis als objektiv – und das heißt eben vor allem: nicht nur als subjektiv – gedacht werden kann. Andernfalls wäre die fragliche Führung eben keine Führung von außen. So wird beispielsweise Robert Pippins Interpretation des Gedankens der Führung von außen, den er im Anschluss an Sellars’ Bemerkungen zu diesem Thema in Science and Metaphysics entwickelt63, dieser Anforderung nicht gerecht. In seiner Konzeption wird die Führung von außen faktisch eine Führung von innen: One result of [Kant’s] emphasis on their [i.e. the sensations’] material and so ‚an sich’ undifferentiated status is to prohibit any attempt to construe sensations as so impinging on and guiding our conceptualizing by virtue of a direct link with external objects. They do have such a link, but it is not by virtue of that that they play some guiding role. Such guidance is, rather, determined by the complex conceptual rules for guidance specified by the categories and empirical concepts. [ebd., 52]64

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Vgl. Pippin 1982, 46-53. McDowell, mit dessen Kritik an dieser Konzeption einer Führung ‚von außen‘ wir uns oben bereits beschäftigt haben, ist sich hingegen darüber im Klaren, dass eine

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Sinneseindrücke und die ‚Führung von außen‘

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Die Führung von außen muss vielmehr so konzipiert werden, dass die Sinneseindrücke uns kraft ihrer Verbindung mit Dingen an sich führen, obwohl ihre Konzeptualisierung ganz und gar abhängig ist von ‚Kategorien und empirischen Begriffen‘. Wir müssen also, sofern wir bei Sellars den Gegenstand der Erfahrung als raum-zeitlichen Gegenstand verlieren, eine von uns unabhängige Realität denken, die für die Hervorbringung dieser Sinneseindrücke ihrerseits verantwortlich ist und die Führung von außen zu einer Führung durch eine objektiv existierende Realität macht. Sellars’ Antwort auf das Problem des Geführtwerdens muss also lauten, dass Sinneseindrücke und Dinge, die diese Sinneseindrücke hervorrufen, in der Führung von außen zusammenwirken.65 Wenn wir ‚von außen‘ geführt werden, dann also unmittelbar von den Sinneseindrücken der reinen Rezeptivität, mittelbar aber von den Dingen, wie sie an sich sind. In seiner expliziten Zuweisung der Führungsrolle zu den Sinneseindrücken betont Sellars deshalb nur, dass wir sie benötigen, um unser Geführtwerden, das wir denken müssen, auch nach der Herleitung der Sinneseindrücke noch denken zu können. Sie übernehmen die unmittelbare Führungsrolle, weil sie dem Wirken unserer Spontaneität als einzige unmittelbar zugänglich sind. Obwohl Sinneseindrücke aber auf diese Weise an der Führung unseres intentionalen Bezugs auf die Welt beteiligt sind, erfüllen sie diese Aufgabe notwendigerweise bloß von außen, weil sie durch die Wirkung der Spontaneität und damit der Modifikation durch ‚Kategorien und empirische Bederartige begriffsinterne Lösung für Kant und Sellars unbefriedigend wäre. Vgl. McDowell 1998. 65 Sellars spricht nun zwar wiederholt davon, dass wir von den Sinneseindrücken der reinen Rezeptivität (sheer receptivity) geführt werden. (Vgl. z.B. Sellars 1967a, 18.) Das sollte man aber nicht so lesen, dass sie diese Führungsrolle unabhängig von der an sich seienden Realität hervorrufen, die sie selbst hervorbringt. Die Führung ‚von außen‘ ist das gemeinsame Produkt der Dinge, die die Sinneseindrücke hervorrufen, und der Sinneseindrücke selbst. Die Dinge, die die Sinneseindrücke hervorrufen, sind bei Kant Dinge an sich und sie sind – aus denselben Gründen, aus denen wir auch die Produkte der reinen Rezeptivität, d.i. die Sinneseindrücke, denken müssen – eine Bedingung der Möglichkeit unseres Erkennens. Sellars ist von dieser Abhängigkeit gleichfalls überzeugt.

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griffe‘, deren unmittelbares Material sie sind, für uns nicht mehr das sind, was sie an sich sind. Sinneseindrücke sind damit die einzigen Bewusstseinszustände, zu denen wir zwar, weil sie Bewusstseinszustände sind, unmittelbaren Kontakt haben; die wir aber gleichzeitig, weil dieser Kontakt selbst nicht Gegenstand einer Apperzeption sein kann, nicht durch unsere Spontaneität verändern. Sie sind die Bewusstseinszustände, die als Ergebnis reiner Rezeptivität die unmittelbare, aber nicht synthetisierte Grundlage aller Synthesis von Materie sind. Gerade weil sie keine Gegenstände des Bewusstseins – und damit nicht Gegenstände einer Synthesis – sind, haben sie als einzige Zustände des Bewusstseins einen Bezug auf die Realität, der nicht denkend verändert wird. Sie können uns deshalb, obwohl sie Bewusstseinszustände sind, gleichsam von außen führen – mithin nicht als Bestandteile der begrifflichen, sondern der natürlichen Ordnung.

Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe (AA.) von Kants gesammelte Schriften in der üblichen Weise zitiert, Bände I-XXII hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Band XXIII hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1956, Bände XXIV-XXIX hg. v. d. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1966 ff. Die Kritik der reinen Vernunft wird jeweils mit der Paginierung der ersten Auflage von 1781 (A) und der zweiten Auflage von 1787 (B) nach der Akademie-Ausgabe zitiert. Brandom, R. 1994, Making It Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment. Cambridge, M.A.: Harvard University Press. - 2008, „ Animating Ideas of Idealism“, Woodbridge Lectures, Columbia University, New York, November 13-15, 2007. DeVries, W. 2005, Wilfrid Sellars. Chesham: Acumen.

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Richard Schantz: Die Struktur der sinnlichen Erfahrung

ABSTRACT. Der Verfasser verteidigt die Position des Direkten Realismus gegen die traditionell sehr einflussreichen Versionen der Sinnesdatentheorie, den Repräsentationalen oder Indirekten Realismus und den Phänomenalismus. Das Argument aus der Sinnestäuschung wird unter die Lupe genommen und es wird gezeigt, dass es nicht zu der von seinen Protagonisten gewünschten Konklusion führt, dass wir immer nur Sinnesdaten direkt wahrnehmen. Ferner entfaltet der Verfasser die Adverbialtheorie der sinnlichen Erfahrung und legt dar, wie man sie angemessen mit dem Direkten Realismus verbinden kann. Anschließend grenzt der Verfasser seine eigene Variante des Externalismus in der Philosophie der Wahrnehmung und des Geistes von dem radikaleren Externalismus John McDowells und Hilary Putnams ab. In diesem Zusammenhang wird zwischen engen und weiten Inhalten der sinnlichen Erfahrung unterschieden und eine externalistische Konzeption enger Inhalte entwickelt. Und schließlich wird dargelegt, dass diese Konzeption es uns ermöglicht, an der cartesianischen Intuition festzuhalten, dass unterschiedliche äußere Ursachen in uns sinnliche Erfahrungen mit demselben phänomenalen Inhalt hervorrufen können. I Die Natur der sinnlichen Erfahrung und ihre Rolle im Erwerb und in der Rechtfertigung von Wissen über die Existenz und die Eigenschaften der physischen Welt faszinieren die Philosophen seit vielen Jahrhunderten. Eine der grundlegenden Fragen über die Wahrnehmung war schon immer die Frage, was die direkten oder unmittelbaren Objekte des Bewusstseins sind, wenn wir wahrnehmen. Die wichtigsten Theorien, die in der Philosophie der Wahrnehmung vertreten werden, beantworten diese Frage auf unterschiedliche Weisen.

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Der Direkte Realismus behauptet, dass das direkte Objekt der Wahrnehmung immer ein physisches Objekt ist, ein Objekt dessen Existenz und Natur logisch unabhängig von unserer Wahrnehmung von ihm ist. Und tatsächlich scheint es, von einem intuitiven Standpunkt aus betrachtet, so, dass sich die physischen Gegenstände selbst unmittelbar unserem sinnlichen Bewusstsein präsentieren, dass wir direkt mit ihnen konfrontiert sind. Der Direkte Realismus stellt mithin die CommonsenseKonzeption der Wahrnehmung und der Außenwelt dar. Denn die meisten von uns – wenigstens, wenn wir nicht über die Wahrnehmung theoretisieren – scheinen anzunehmen, dass die Welt größtenteils aus physischen Gegenständen in Raum und Zeit besteht, die kontinuierlich und unabhängig davon existieren, ob sie wahrgenommen werden oder nicht; die durch Veränderungen der Bedingungen, unter denen sie wahrgenommen werden, nicht beeinflusst werden; und die die vertrauten wahrnehmbaren Eigenschaften der Farbe, der Form, des Gewichts, der Größe etc. haben. Und wir scheinen auch anzunehmen, dass wir diese Gegenstände direkt wahrnehmen, dass nichts zwischen unserem Bewusstsein und den Gegenständen steht, die wir wahrnehmen, und dass wir aufgrund der direkten Wahrnehmung nichtinferentielles Wissen über sie und einige ihrer Eigenschaften erwerben können. Trotz seiner intuitiven Attraktivität war der Direkte Realismus lange Zeit nicht die vorherrschende Auffassung in der Philosophie der Wahrnehmung – ganz im Gegenteil. Die erkenntnistheoretische Diskussion in der westlichen Philosophie wurde seit dem siebzehnten bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein von der Auffassung beherrscht, dass wir äußere physische Gegenstände nie direkt oder unmittelbar wahrnehmen können, sondern dass die direkten Objekte des Bewusstseins in der sinnlichen Wahrnehmung eine besondere Art mentaler oder phänomenaler Objekte sind, Objekte, deren Existenz von unserem Bewusstsein von ihnen abhängig ist – Descartes’ und Lockes „Vorstellungen“, Berkeleys und Humes „Sinneseindrücke“, John Stuart Mills und Ernst Machs „Empfindungen“ oder Bertrand Russells und G. E. Moores „Sinnesdaten“. Man sollte sich jedoch hüten zu glauben, dass die Sinnesdatentheorie eine altmodische Kuriosität ist. So ist es beispielsweise in den zeitgenössischen Kognitionswissenschaften en vogue, die Existenz von Repräsentationen im Zerebralcomputer zu postulieren, die häufig „Perzepte“

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genannt werden. Und auch für viele Philosophen scheinen die basalen Annahmen der Sinnesdatentheorie immer noch so selbstverständlich zu sein, dass sie keine plausible Alternative zu ihr zu erkennen vermögen. Hilary Putnam etwa hat uns nach seiner langen metaphysischen Odyssee mitgeteilt, dass er sowohl während seiner metaphysisch-realistischen als auch während seiner intern-realistischen Phasen den wesentlichen Elementen dieser Theorie verpflichtet war. Mittlerweile jedoch hat Putnam die Seiten gewechselt. Jetzt, tief beeinflusst von John McDowells Studien über die Intentionalität der Wahrnehmung, ist er zu einem der schärfsten Kritiker der Sinnesdatentheorie geworden. Aus seiner neuen direktrealistischen oder, wie er lieber sagt, „natürlich-realistischen“ Perspektive, bezeichnet Putnam seine frühere Position in der Philosophie der Wahrnehmung als eine physikalistische Variante der Sinnesdatentheorie.1 Die Sinnesdatentheorie zieht drastische epistemologische und metaphysische Probleme nach sich. Viele Philosophen haben den Einwand erhoben, dass die metaphysische Natur von solchen privaten geistabhängigen Objekten, die angeblich dann und nur dann existieren, wenn sie wahrgenommen werden, ziemlich mysteriös ist. In der Tat besteht wenig Hoffnung, dass jemals eine allgemein anerkannte Methode gefunden werden kann, um all die widerspenstigen philosophischen Probleme zu lösen, die die Einführung von Sinnesdaten mit sich bringt – Probleme zum Beispiel hinsichtlich ihrer Individuation und ihrer Dauer. Metaphysisch gesehen, scheinen wir ohne Sinnesdaten besser dran zu sein. Darüber hinaus machen die Widersacher der Sinnesdatentheorie geltend, dass sie zu epistemologisch verheerenden Konsequenzen führt. Denn sobald ihre zentrale These, dass die direkten Gegenstände des Bewusstseins in der Wahrnehmung immer Sinnesdaten, nie aber äußere, physische Gegenstände sind, einmal akzeptiert wird, sind im Wesentlichen nur noch zwei Theorien der Wahrnehmung und der Außenwelt möglich: der Repräsentationale oder Indirekte Realismus und der Phänomenalismus. Der Repräsentationale Realismus behauptet typischerweise, dass, obwohl wir direkt nur Sinnesdaten wahrnehmen können, wir dennoch gute 1

Putnam 1994

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Gründe für die Annahme haben, dass es ein Reich physischer Gegenstände gibt, die ontologisch von den Sinnesdaten ganz verschieden und kausal für ihre Existenz verantwortlich sind. Die Verfechter dieser Theorie betonen gerne, dass ihre Sichtweise es ihnen immerhin erlaubt zu sagen, dass wir äußere Gegenstände indirekt oder mittelbar wahrnehmen können. Damit meinen sie gewöhnlich, dass wir imstande sind, die Existenz und Natur äußerer Gegenstände auf der Basis der direkten Wahrnehmung von Sinnesdaten zu erschließen. Aber wenn wir immer nur Sinnesdaten, nie aber die physischen Gegenstände und Ereignisse in unserer Umgebung direkt wahrnehmen können, dann stellt sich natürlich geradezu zwangsläufig die Frage, wie wir wissen können, welche Eigenschaften physische Gegenstände haben, ja, wie wir sicher sein können, dass sie überhaupt existieren. Die Sinnesdaten bilden diesem Einwand zufolge einen Schleier, der unseren perzeptiven und kognitiven Zugang zur Außenwelt blockiert. Damit wird eine logische Kluft zwischen inneren Objekten, den Sinnesdaten, und der äußeren, physischen Realität aufgerissen, eine Kluft, die weder durch deduktive noch durch induktive Schlüsse jemals überbrückt werden kann. Wir sind gewissermaßen in der Welt unserer Sinnesdaten eingesperrt. Kein triftiges Argument, sondern allenfalls eine Form von Magie vermag uns von der hellen auf die dunkle Seite des Schleiers der Wahrnehmung zu führen. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus scheint die unvermeidliche Konsequenz des Repräsentationalen Realismus zu sein. Der Ontologische Phänomenalismus bietet, in scharfer Reaktion auf die epistemologischen Schwierigkeiten des Repräsentationalen Realismus, eine verblüffend einfache Lösung an. Wenn die Wurzel des Skeptizismus in der Unterscheidung zwischen äußeren, physischen Gegenständen und unseren Sinnesdaten liegt, dann brauchen wir, so scheint es, diese Gegenstände nur mit den Sinnesdaten zu identifizieren, um den Skeptizismus zu untergraben. Der radikale phänomenalistische Vorschlag lautet daher, dass ein physischer Gegenstand nichts anderes als ein Komplex von Sinnesdaten ist. Es ist eine logische Konsequenz dieses Vorschlags, dass ein physischer Gegenstand nicht fähig ist, unabhängig von unserem Bewusstsein von ihm zu existieren. Heutzutage sind nicht mehr viele Philosophen bereit, einen solch radikalen Idealismus zu akzeptieren.

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II Wenn also die Sinnesdatentheorie erst einmal akzeptiert wird, dann scheinen wir zwischen Scylla und Charybdis wählen zu müssen – zwischen Skeptizismus und Idealismus. Wahrlich keine besonders attraktive Wahl. Da die Sinnesdatentheorie zu solch unplausiblen philosophischen Konsequenzen führt, drängt sich natürlich die Frage auf, warum sich so viele renommierte Philosophen ihren grundlegenden Annahmen verschrieben haben. Es gibt ganz verschiedene Tatsachen über die Wahrnehmung – Tatsachen etwa, die den ziemlich komplexen Kausalprozess von dem einwirkenden Objekt auf das Gehirn des wahrnehmenden Subjets betreffen – von denen die Philosophen geglaubt haben, dass sie nur durch die Einführung von Sinnesdaten angemessen erklärt werden können. In erster Linie jedoch war es die vertraute Tatsache, dass die Dinge manchmal anders aussehen oder erscheinen als sie wirklich sind, die zum Ausgangspunkt des klassischen Arguments für die Einführung von Sinnesdaten wurde, des Arguments aus der Sinnestäuschung, das in den Schriften von Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart zu finden ist. Seit J. L. Austin in seiner scharfsinnigen Kritik von Alfred Ayers Version des Arguments darauf aufmerksam gemacht hat, dass es irrelevant ist, ob das wahrnehmende Subjekt getäuscht wird oder nicht, wird das Argument häufiger das „Argument aus der Relativität der Wahrnehmung“ genannt.2 Das Argument, in meiner eigenen Rekonstruktion, lautet folgendermaßen: 1) Unter gewissen ungewöhnlichen Bedingungen der Wahrnehmung sehen die Dinge anders aus, als sie wirklich sind. Zum Beispiel sieht ein gerades Ruder, das mit einem Ende ins Wasser eingetaucht wird, gekrümmt aus. 2) Die unter diesen Bedingungen direkt wahrgenommenen Eigenschaften sind Eigenschaften von etwas. In unserem Beispiel muss etwas gekrümmt sein, denn dem sinnlichen Bewusstsein des Subjekts ist ein Fall von Gekrümmtheit unmittelbar gegeben. Und 2

J. L. Austin 1962, 20-32

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3)

4)

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jekts ist ein Fall von Gekrümmtheit unmittelbar gegeben. Und Gekrümmtheit ist unvorstellbar ohne etwas, das gekrümmt ist. Aber, ex hypothesi, können die Dinge, die die direkt wahrgenommenen Eigenschaften haben, nicht mit den jeweiligen physischen Gegenständen identisch sein. In unserem Beispiel kann es nicht das Ruder sein, das gekrümmt ist, denn wir haben vorausgesetzt, dass es gerade ist. Deshalb müssen die Eigenschaften, die unter ungewöhnlichen Bedingungen direkt wahrgenommen werden, Eigenschaften von nichtphysischen oder phänomenalen Objekten sein, das heißt von Sinnesdaten. Wenn es der Fall wäre, dass wir unter ungewöhnlichen Bedingungen Sinnesdaten, unter normalen Bedingungen jedoch physische Gegenstände wahrnähmen, dann müsste es eine feststellbare qualitative Differenz zwischen diesen beiden Arten der Wahrnehmung geben, die den unterschiedlichen ontologischen Status ihrer jeweiligen Gegenstände anzeigt. Es gibt keine feststellbare qualitative Differenz zwischen der Wahrnehmung unter normalen und unter ungewöhnlichen Bedingungen. Im Gegenteil gehen ungewöhnliche Bedingungen unmerklich in Normalbedingungen über. Deshalb nehmen wir immer nur Sinnesdaten direkt wahr – sowohl unter ungewöhnlichen als auch unter normalen Bedingungen.

Das Argument hat die Struktur einer reductio ad absurdum. Es beginnt mit der geläufigen Annahme, dass wir zumindest manchmal äußere physische Gegenstände direkt wahrnehmen und leitet dann, mithilfe gewisser zusätzlicher Prämissen, die Kontradiktion dieser Annahme her. Der Kern des Arguments ist die phänomenologische Ununterscheidbarkeit von Episoden genuiner sinnlicher Wahrnehmung und Episoden sinnlicher Täuschung. Aus dieser Ununterscheidbarkeit wird dann gefolgert, dass Wahrnehmung und Sinnestäuschung einen gemeinsamen Faktor teilen müssen, und dieser gemeinsame Faktor soll bekanntlich das Fundament unseres gesamten empirischen Wissens bilden.

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III Es ist genau dieses Modell eines gemeinsamen Faktors, das die Verfechter der disjunktiven Theorie der Wahrnehmung über Bord werfen. Sie insistieren darauf, dass, trotz ihrer qualitativen Ununterscheidbarkeit, die wirklichen Objekte genuiner Wahrnehmungen ontologisch von den bloßen Erscheinungen verschieden sind, die uns die trügerischen sinnlichen Erfahrungen präsentieren. John McDowell drückt die zentrale Idee der disjunktiven Theorie folgendermaßen aus: But suppose we say – not at all unnaturally – that an appearance that such-andsuch is the case can be either a mere appearance or the fact that such-and-such is the case making itself perceptually manifest to someone. As before, the object of experience in the deceptive cases is a mere appearance. But we are not to accept that in the non-deceptive cases too the object of experience is a mere appearance, and hence something that falls short of the fact itself. On the contrary, we are to insist that the appearance that is presented to one in those cases is a matter of the fact itself being disclosed to the experiencer.3

McDowell zufolge beziehen sich demnach nichttrügerische und trügerische Erfahrungen nicht auf dieselbe Art von Gegenständen; sie sind auf verschiedene intentionale Objekte gerichtet und unterscheiden sich daher in ihrem repräsentationalen Inhalt. Die Objekte von wahrheitsgetreuen Erfahrungen sind wirkliche physische Gegenstände, wohingegen die Objekte von nichtwahrheitsgetreuen Erfahrungen bloße Erscheinungen sind. In der einen Sorte von Fällen präsentieren sich uns die Tatsachen selbst, während es uns in der anderen Sorte nur so scheint, als ob die Tatsachen bestehen. Als den Hauptvorzug seiner alternativen Sichtweise streicht McDowell heraus, dass sie uns erlaubt, das traditionelle Bild eines zum Skeptizismus führenden „Schleiers der Vorstellungen“ loszuwerden. Wir brauchen nicht länger anzunehmen, dass es, im Allgemeinen, Erscheinungen gibt, die intervenieren, die zwischen Geist und Welt treten, um auf diese Weise unseren kognitiven Zugang zur Welt herzustellen. Keine Schnittstelle vermittelt zwischen Geist und Welt. McDowell ist also ein Direkter Realist, ein Realist, der hofft, den unmittelba3

McDowell 1998, 386-7

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ren Kontakt zu den vertrauten Gegenständen um uns herum wiederherzustellen. Sein Direkter Realismus geht einher mit einer ziemlich starken Version eines Externalismus hinsichtlich des mentalen Inhalts, das heißt mit der Auffassung, dass der repräsentationale Inhalt eines mentalen Zustands eines Subjekts S wenigstens zum Teil durch externe Faktoren bestimmt wird, durch Faktoren, die einen Teil der Umwelt von S bilden. Gegen den hartnäckigen Inhalts-Internalismus des herkömmlichen cartesianischen Bildes macht er überzeugend geltend, dass der kognitive Raum, der Raum unserer kognitiven Operationen, kein autonomer Bereich ist, dessen Struktur völlig unabhängig von der äußeren Realität verständlich gemacht werden kann. Vielmehr erfordert mentaler Inhalt im Allgemeinen, seiner Meinung zufolge, Intentionalität, Gerichtetheit auf die Außenwelt. Das Mentale ist nicht intern, nicht im Kopf, wie man so sagt. Weil Objektabhängigkeit, Bezug auf die Welt, ein Merkmal der intentionalen Natur einer Erfahrung oder eines Gedankens ist, gibt es nun keine Kluft mehr zwischen dem Bereich der Subjektivität und der Welt der gewöhnlichen physischen Gegenstände in Raum und Zeit. Es ist somit McDowells Version des Inhalts-Externalismus, die den Weg für seinen Direkten Realismus ebnet. Man könnte versucht sein zu glauben, dass McDowells InhaltsExternalismus eine Variante des epistemologischen Externalismus nach sich zieht, das heißt eine Variante der Auffassung, dass Faktoren, die extern sind, die außerhalb unserer Perspektive liegen, Faktoren, die nicht durch introspektive Reflexion allein erkannt werden können, zum Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung beitragen können. Seiner disjunktiven Theorie der Erfahrung zufolge haben wahrheitsgetreue und nichtwahrheitsgetreue Erfahrungen kein gemeinsames intentionales Objekt. Und er behauptet, dass der ontologische Unterschied zwischen diesen beiden Arten sinnlicher Erfahrung nicht einfach durch Introspektion feststellbar sein muss. Es scheint mithin so, als ob die Frage, ob eine gegebene sinnliche Episode zu einem positiven epistemischen Status führt oder nicht, nicht durch Reflexion allein entschieden werden kann. Andererseits betont McDowell jedoch, dass er an der „Grundintuition“ des Internalismus festhalten möchte, dass unser epistemischer Status bezüglich einer Frage nicht von Dingen abhängig sein kann, die gänzlich

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außerhalb unseres kognitiven Horizonts liegen.4 Die Faktoren, die den epistemischen Status einer Überzeugung bestimmen, dürfen nicht völlig extern sein; ob sie bestehen oder nicht, muss einen Unterschied hinsichtlich unserer gesamten epistemischen Situation ausmachen. Seine Position scheint also zu sein, dass, obwohl weltliche Tatsachen extern in dem Sinn sind, dass sie nicht auf mentale Tatsachen reduziert werden können, sie dennoch nicht völlig extern sind, nicht jenseits unseres Horizonts angesiedelt sind, weil sie nicht außerhalb der Reichweite unserer rationalen Fähigkeiten liegen. Denn schließlich können wir physische Sachverhalte direkt wahrnehmen, wir sind mit ihnen konfrontiert und erwerben dadurch nichtinferentielles Wissen über sie. Objektive Sachverhalte befinden sich demnach innerhalb der kognitiven Perspektive der ersten Person in dem Sinn, dass sie einer Person aus dieser Perspektive zugänglich sind. Ich glaube daher, dass wir mit Fug sagen können, dass McDowells philosophischer Standpunkt eine starke Form des InhaltsExternalismus mit einer moderaten Form des epistemologichen Internalismus verbindet. In der aktuellen philosophischen Szenerie ist dies eine ziemlich ungewöhnliche Kombination von Auffassungen. Nun bin ich selbst ein Verfechter des Direkten Realismus und ein Verfechter des Externalismus in der Philosophie des Geistes und der Sprache. Im Gegensatz zu McDowell bin ich jedoch auch ein entschiedener Externalist in der Epistemologie, das heißt, ich bin davon überzeugt, dass Faktoren außerhalb unseres mentalen Lebens, Faktoren, die der kognitiven Perspektive der ersten Person nicht verfügbar sind, zur Rechtfertigung einer Überzeugung beitragen können. Mein primäres Anliegen heute ist jedoch nicht das Problem des epistemologischen Externalismus. Ich habe mich mit McDowell über dieses Problem in einer früheren Diskussion auseinandergesetzt.5 Vielmehr werde ich mich darauf konzentrieren zu zeigen, wie sich meine eigene Kombination von Direktem Realismus und Inhalts-Externalismus von der seinigen unterscheidet. Als Verfechter des Direkten Realismus weise natürlich auch ich das Argument aus der Sinnestäuschung emphatisch zurück. Aber meine 4 5

McDowell 1998, 390 Schantz 2001; McDowell 2001

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Zurückweisung bestreitet eine frühere Prämisse des Arguments, eine die McDowell nicht explizit attackiert, die Prämisse nämlich, dass es sinnliche Objekte gibt, „Objekte der Erfahrung“, wie er sagt, die wir in den nichtwahrheitsgetreuen Fällen wahrnehmen oder erfahren. Ich lehne Prämisse (2) ab, während er, zumindest explizit, erst Prämisse (5) ablehnt. McDowells entscheidender Punkt ist, dass, wie immer es mit Sinnestäuschungen und Halluzinationen bestellt sein mag, daraus überhaupt nichts für den Fall genuiner Wahrnehmungen folgt. Natürlich stimme ich ihm in diesem Punkt zu. Introspektive Ununterscheidbarkeit garantiert nicht Identität der ontologischen Struktur. Anders als McDowell glaube ich jedoch, dass eine Theorie über den Inhalt der sinnlichen Erfahrung die trügerischen und halluzinatorischen Episoden nicht vollends vernachlässigen darf. Zumal seine eigene disjunktive Theorie ein gravierendes Problem aufwirft, das Problem nämlich, dass wir nicht wissen können, welchen Inhalt eine Erfahrung hat, wenn wir nicht wissen, ob sie wahrheitsgetreu ist oder nicht, dass wir aber auch nicht wissen können, ob sie wahrheitsgetreu ist oder nicht, wenn wir ihren Inhalt nicht kennen. Aus diesem circulus vitiosus gibt es für die disjunktive Theorie des Inhalts kein Entrinnen. Daher sollte eine Theorie des Inhalts sinnlicher Erfahrungen die nichtwahrheitsgetreuen sinnlichen Episoden gebührend berücksichtigen und nach einer anständigen Erklärung ihrer phänomenalen Ununterscheidbarkeit von den genuinen Wahrnehmungen suchen, einer, die der Versuchung weder erliegt noch Vorschub leistet, besondere innere oder mentale Objekte zu postulieren. Wenn wir zeigen können, dass Sinnesdaten nicht einmal benötigt werden, um die trügerischen Fälle zu erklären, dann haben wir ein für alle Mal die Wurzel der Versuchung ausgerottet zu glauben, dass Sinnesdaten die einzigen direkten Objekte des Bewusstseins in der Wahrnehmung sind. Unsere philosophische Aufgabe ist es sonach, die charakteristische Uniformität und Homogenität der verschiedenen Arten sinnlicher Erfahrung zu erklären. IV Ich glaube, dass die adverbiale Theorie der sinnlichen Erfahrung die erforderliche positive Spezifikation der Natur der sinnlichen Erfahrung

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zu liefern vermag. Die Adverbialtheorie lässt sich am Besten als Rivalin der klassischen Sinnesdatentheorie verstehen. Dieser Theorie zufolge, die einst von Thomas Reid antizipiert und später vor allem von C. J. Ducasse, Roderick Chisholm, Wilfrid Sellars und James Cornman systematisch entwickelt wurde, darf eine sinnliche Erfahrung nicht mit einem direkten Bewusstsein eines besonderen nichtphysischen Objekts gleichgesetzt werden, sondern ist mit einem sinnlichen Zustand einer bestimmten Art gleichzusetzen, mit einer Weise bewusst zu sein oder zu empfinden. Die Adverbialtheorie beruft sich auf den vertrauten Punkt, dass grammatische Form und logische Form nicht zusammenzufallen brauchen und macht dementsprechend geltend, dass die korrekte Analyse von (A) P hat ein Sinnesdatum von einem roten Rechteck keine relationale Analyse der Form (B)

(Vx) (Vy) ( x ist die Person P, und y ist ein rotes und rechteckiges Sinnesdatum, und x hat y),

sondern vielmehr eine nichtrelationale Analyse der Form (C)

(Vx) (x ist eine Person, und x empfindet ein-rotes-Rechtecklich)

ist. Ein Ausdruck wie „ein-rotes-Rechteck-lich“ fungiert als ein Adverb, das die spezifische Weise charakterisiert, in der eine Person empfindet. Wenn eine Person ein-rotes-Rechteck-lich empfindet, dann befindet sie sich in einem sinnlichen Zustand einer gewissen Art, einer Art, die in normalen Beobachtern und unter normalen Bedingungen durch ihre Wahrnehmung von roten und quadratischen physischen Gegenständen hervorgerufen wird, einer Art aber auch, die unter ungewöhnlichen Bedingungen durch andere kausale Antezedenzien hervorgerufen werden kann. Was wir von Mcbeth sagen sollten, der eine halluzinatorische Erfahrung eines Dolches hat, ist, dass er einen-Dolch-lich empfindet. In

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der adverbialen Terminologie tritt deutlich zutage, dass Mcbeths Erfahrung keine Akt-Objekt-Struktur aufweist, sondern dass er sich in einem nichtrelationalen subjektiven Zustand einer Art befindet, die normalerweise durch die Wahrnehmung von wirklichen physischen Dolchen erzeugt wird. Der Hauptvorzug der adverbialen Analyse liegt genau darin, dass sie mit Fällen der Relativität der Wahrnehmung und mit Halluzinationen zu Rande kommen kann und somit der Uniformität und Homogenität aller Arten sinnlicher Erfahrung Rechnung zu tragen vermag. Meine Darstellung der Adverbialtheorie wird durch meine späteren Bemerkungen über die Natur des sinnlichen Inhalts ergänzt und untermauert. Nicht nur gibt es keine widerspenstigen metaphysischen Probleme mit als mentale Zustände verstandenen sinnlichen Erfahrungen; auch aus einer epistemologischen Perspektive stellen sich die Dinge nun in einem viel helleren Licht dar. Statt sinnliche Erfahrungen als eigentümliche mentale Objekte miss zu verstehen, die vor unserem Bewusstsein hängen und daher unseren kognitiven Zugang zur Welt blockieren, werden sie nun als subjektive Zustände mit einem objektiven repräsentationalen Inhalt verstanden. Diese sinnlichen Zustände spielen eine epistemisch signifikante Rolle, da sie als Rechtfertiger für unsere Überzeugungen über die Welt fungieren. Meiner Sichtweise zufolge hängt die epistemische Signifikanz der Erfahrung jedoch nicht von ihrer Konzeptualisierung ab. Nicht jede sinnliche Wahrnehmung ist begrifflich oder gar propositional strukturiert. McDowell ist bekanntlich anderer Meinung. Er ist fest davon überzeugt, dass Zustände mit einem nichtbegrifflichen Inhalt nicht als Gründe für die Meinungen, die eine Person hegt, dienen können. Folglich zeigte er sich von dem alternativen Bild, das ich in unserer früheren Diskussion entfaltet habe, nicht sonderlich beeindruckt. Für meine gegenwärtigen Zwecke brauche ich jedoch auf diesen Dissens nicht weiter einzugehen. V Um die epistemisch konstitutive Rolle von sinnlichen Erfahrungen darzulegen, ist es hilfreich, unser Augenmerk auf den Umstand zu lenken, dass, wenn mir unter normalen Bedingungen ein Gegenstand rötlich

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erscheint, ich anscheinend mehr gerechtfertigt bin zu glauben, dass er rot ist, als dass er blau oder gelb ist. Es ist plausibel zu sagen, dass ich in der Weise, in der der Gegenstand für mich aussieht, einen Grund für die Überzeugung habe, dass er rot ist. Der positive epistemische Status einer Wahrnehmungsüberzeugung hängt demnach von den Weisen ab, in denen ein Gegenstand uns erscheint. Wenn ich sage, dass ein Subjekt S in der Weise, in der ihm ein Gegenstand x erscheint, einen Grund für die Überzeugung hat, dass x F ist, dann will ich damit nicht behaupten, dass S durch einen Prozess des Schließens oder Ableitens zu seiner Überzeugung gelangt sein muss. Meine Weisen des Erscheinens sind mithin, in McDowells Terminologie, „transparent“, nicht „opak“;6 sie selbst enthüllen Merkmale der Umwelt für uns. S muss nicht die Weise, in der ihm x erscheint, als einen Grund, als eine Prämisse für den Schluss, dass x F ist, benutzen. Kein bewusster diskursiver Prozess braucht zwischen dem Umstand, dass x F für S erscheint, und der daraus hervorgehenden Überzeugung, dass x F ist, zu vermitteln. Die resultierende Überzeugung zeichnet sich vielmehr durch ihre psychische Unmittelbarkeit aus. Es ist wichtig zu betonen, dass es für die Rechtfertigung unserer gewöhnlichen Wahrnehmungsüberzeugungen nicht erforderlich ist, dass wir glauben, dass uns die Dinge soundso erscheinen. Es sind die Erfahrungen selbst, die Weisen, wie die Dinge uns erscheinen, nicht unsere Überzeugungen über sie, von denen die Rechtfertigung abhängig ist. Bei einem normalen Verlauf der Dinge haben wir selten Überzeugungen über phänomenale Erscheinungen. Vielmehr beziehen sich unsere Wahrnehmungsüberzeugungen gewöhnlich auf äußere Gegenstände und Ereignisse. Die Position, die ich verteidige, ist deshalb eine Form von Direktem Realismus.7 Wir erwerben durch die Sinne normalerweise direktes Wissen über physische Gegenstände und Ereignisse. Der Erwerb dieses Wissen ist direkt, weil er nicht auf anderem Wissen oder anderen Überzeugungen beruht.

6 7

McDowell, 1994, S. 145 Vgl. dazu ausführlich Schantz 1990 und 1996

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VI Ich habe gesagt, dass ich selbst ein dezidierter Befürworter des Externalismus in der Philosophie des Geistes bin. Es gibt jedoch zumindest eine wichtige Hinsicht, in der sich meine Position von der Position McDowells und seiner Anhänger unterscheidet. Seine Version des InhaltsExternalismus ist, in einem gewissen Sinn, radikaler als meine. Sowohl McDowells als auch mein eigener Standpunkt sind in ihren wesentlichen Merkmalen anticartesianisch. Wir lehnen beide Descartes’ Dogma ab, dass unsere Wahrnehmungen und unsere Gedanken denselben repräsentationalen Inhalt haben könnten, den sie tatsächlich haben, auch wenn die Außenwelt überhaupt nicht existierte. Nichtsdestotrotz möchte ich eine von Descartes’ zentralen Intuitionen retten, die Intuition nämlich, dass unterschiedliche äußere oder auch innere Ursachen sinnliche Erfahrungen mit demselben sinnlichen Inhalt in uns hervorrufen können. Der cartesianischen Intuition zufolge könnten eine genuine Wahrnehmung, eine Sinnestäuschung und eine Halluzination einen gemeinsamen sinnlichen Inhalt haben. Natürlich lässt McDowell diese Intuition fallen. Und das tut auch Putnam, der allerdings der Idee, die ich bewahren möchte, der Idee, dass der höchste gemeinsame Faktor ein sinnlicher Zustand statt ein sinnliches Objekt sein könnte, mehr Aufmerksamkeit schenkt als McDowell. In einem Artikel über William James’ Theorie der Wahrnehmung, sagt Putnam: But the very assumption that there must be such things as “perceptual states” (where this doesn’t merely mean that the brain is involved in perception, but that seeing a rose and hallucinating a rose have a “similarity” which is explained by the idea that the two subjects are in “the same perceptual state”) packs in the idea that there are states that are, in some way, also appearances and that those states are inside us; and this is just the picture from which James was trying to free us.8

Putnam räumt ein, dass das Sehen einer Rose und das Halluzinieren einer Rose eine gewisse Ähnlichkeit haben mögen, aber er bestreitet vehement, dass diese Ähnlichkeit durch das Postulieren einer besonde8

Putnam 1990, 251

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ren Klasse innerer, sinnlicher Zustände erklärt werden kann. Sinnliche Erfahrungen sind keine bloßen „Affektionen unserer Sinnlichkeit“, sagt er in Kants Terminologie. Vielmehr müssen wir, um die Natur der sinnlichen Erfahrung zu verstehen, unser Augenmerk auf die Dinge draußen richten, nicht nach innen. Natürlich, so behauptet er, gibt es phänomenales Bewusstsein, subjektive Erfahrung mit all ihrem sinnlichen Reichtum.9 Aber wir dürfen die einfache phänomenologische Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass unsere sinnliche Erfahrung intentional auf die Außenwelt gerichtet ist; sie ist typischerweise Erfahrung von Aspekten der physischen Umgebung. Putnam zufolge legt uns die Annahme, dass verschiedene Typen sinnlicher Erfahrung einen gemeinsamen qualitativen Kern teilen könnten, auf die Zwei-Komponenten-Analyse und mithin auf die Behauptung fest, dass die Erfahrung in einen inneren und einen äußeren Teil zerlegt werden kann oder, in anderen Worten, in einen engen und einen weiten Inhalt. Wie McDowell verwirft auch Putnam die Zwei-Komponenten-Analyse. Ich werde jedoch jetzt meine eigene Variante dieser Analyse entfalten und verteidigen. Ich möchte mit der Unterscheidung zwischen zwei unabhängigen Aspekten von Repräsentationen beginnen: ihrer Referenz und ihrem Sinn – dem, was sie repräsentieren, und der Weise, in der sie das repräsentieren, was sie repräsentieren. Unsere Erfahrungen haben gewisse Aspektgestalten. Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, dann gibt es immer einen bestimmten Aspekt, unter dem wir ihn wahrnehmen. Wichtig ist, dass der Sinn die Referenz nicht bestimmt, und dass selbst wenn es in gewissen Fällen keinen Gegenstand, also keine Referenz gibt, der Sinn immer noch bleibt. Diese Unterscheidung zwischen zwei charakteristischen Merkmalen von Repräsentationen ähnelt sehr Nelson Goodmans Kontrast zwischen einem Bild von einem schwarzen Pferd, das heißt einem Bild, dessen Gegenstand ein schwarzes Pferd ist, und einem Schwarzes-Pferd-Bild, das heißt einem Bild, das seinen Gegenstand als ein schwarzes Pferd repräsentiert.10 Nicht alle Bilder von schwarzen Pferden sind Schwarze-Pferde-Bilder und umgekehrt.

9

Putnam 1994 Goodman 1976

10

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Diese Unterscheidung zwischen zwei Merkmalen von Repräsentationen ist eine solide Basis für meine Unterscheidung zwischen weitem und engem Inhalt. Was wir repräsentieren, im Allgemeinen äußere Gegenstände und Situationen, bestimmt den weiten Inhalt von Repräsentationen, wohingegen die bestimmte Weise, in der wir das repräsentieren, was wir repräsentieren, für ihren engen Inhalt konstitutiv ist. Der Schlüssel zu meiner Legitimation des Begriffs des engen Inhalts liegt in einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen zwei Arten der Abhängigkeit von der äußeren Umgebung. Worauf die Externalisten gewöhnlich und zu Recht Nachdruck legen, ist, dass es regelmäßige kausale Interaktionen zwischen Personen und ihren normalen physischen Umgebungen sind, durch die Erfahrungen den Inhalt erwerben, den sie haben. Sinnliche Erfahrungen repräsentieren das, was sie normalerweise hervorruft, ihre dominante kausale Quelle. Sinnestäuschungen und Halluzinationen sind derivative Phänomene, Abweichungen vom Normalfall. Diese Abhängigkeit ist eine Abhängigkeit von Typen sinnlichen Inhalts, den Erfahrungen haben können, von Typen von Gegenständen und Situationen in der objektiven Welt. Von dieser Abhängigkeit eines Inhaltstyps von seiner normalen Umgebung müssen wir jedoch die Abhängigkeit eines einzelnen Exemplars eines solchen Typs von der tatsächlichen oder aktuellen Umgebung, in der es vorkommt, unterscheiden. Unter normalen Bedingungen der Wahrnehmung hängt der weite Inhalt eines Exemplars einer Erfahrung des Typs „von einem Tiger“ von dem bestimmten Tiger ab, der kausal für diese Erfahrung verantwortlich ist. Aber ein Exemplar einer Erfahrung könnte einen sinnlichen Inhalt des Typs „von einem Tiger“ haben, obwohl dieses Exemplar nicht durch einen Tiger, sondern durch eine andere Art eines Tieres oder, im Fall einer Halluzination, durch überhaupt keinen äußeren Gegenstand hervorgerufen wird. Mein Vorschlag zur Rettung des Begriffs des engen Inhalts besteht also darin, engen Inhalt mit einem Inhaltstyp, den sinnliche Erfahrungen haben können, gleichzusetzen – kurzum, mit dem, was alle Exemplare eines Typs gemeinsam haben. Demgegenüber ist der weite Inhalt der Inhalt, den ein einzelnes Exemplar eines Typs in dem tatsächlichen Kontext hat, in dem es vorkommt. Im Gegensatz zum weiten Inhalt kann der enge Inhalt über Veränderungen in der tatsächlichen Umgebung

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hinweg konstant bleiben. Aber diese Unabhängigkeit des engen Inhalts einer Erfahrung von dem tatsächlichen Kontext, in dem sie vorkommt, zieht keine unwillkommenen internalistischen Konsequenzen nach sich, da die Existenz und die Natur des engen Inhalts an die normale Umgebung gebunden ist. Ich verteidige somit eine externalistische Konzeption enger Inhalte. Was ich ablehne, und in diesem Punkt stimme ich mit McDowells und Putnams radikalerem Externalismus überein, ist eine internalistische oder solipsistische Konzeption enger Inhalte, der zufolge sie prinzipiell unabhängig nicht nur von ihrer tatsächlichen Umgebung, sondern auch von ihrer normalen Umgebung individuiert werden können. Man könnte vielleicht zurückfragen, warum ich soviel Aufhebens um eine externalistische Variante engen Inhalts mache, da doch die engen Inhalte, um die in der einschlägigen Literatur eine so heftige Kontroverse tobt, offensichtlich in einem internalistischen Sinn verstanden werden. Die Antwort ist, dass meine Version enger Inhalte es mir immerhin ermöglicht, an der cartesianischen Intuition festzuhalten, die radikalere Externalisten als unverträglich mit einem kohärenten Externalismus in der Philosophie des Geistes ansehen. Und eine angemessene Verteidigung dieser Intuition hat den strategischen Vorteil, uns in die Lage zu versetzen, mit einem der fundamentalsten und schwierigsten Probleme in der Philosophie der Wahrnehmung zu Rande zu kommen, dem Problem nämlich, die Uniformität und Homogenität verschiedener Arten sinnlicher Erfahrungen zu erklären.

Literatur Austin, J. L. 1962, Sense and Sensibilia, Oxford University Press, London Chisholm, Roderick 1957, Perceiving: A Philosophical Study, Cornell University Press, Ithaca Cornman, James 1975, Perception, Common Sense, and Science, Yale University Press, New Haven

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Richard Schantz

Ducasse, C. J. 1949, Nature, Mind and Death, Open Court, Illinois Goodman, Nelson 1976, Languages of Art, Hackett, Indianapolis McDowell, John 1994, Mind and World, Harvard University Press, Cambridge/MA McDowell, John 1998, Meaning, Knowledge, and Reality, Harvard University Press, Cambridge/MA McDowell, John 2001, Comment on Richard Schantz, “The Given Regained”, Philosophy and Phenomenological Research 62, 181-184 McDowell, John 2002, Responses, in Smith, Nicholas (ed.), 2002, 269305 Putnam, Hilary 1981, Reason, Truth and History, Cambridge University Press, Cambridge Putnam, Hilary 1990, Realism with a Human Face, Harvard University Press, Cambridge/MA Putnam, Hilary 1994, “Sense, Nonsense, and the Senses: An Inquiry into the Powers of the Human Mind”, Journal of Philosophy 91, 445-517 Schantz, Richard 1990, Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung, Philosophia, Munich Schantz, Richard 1996, Wahrheit, Referenz und Realismus, de Gruyter, Berlin & New York Schantz, Richard 2001, The Given Regained, Reflections on the Sensuous Content of Experience, Philosophy and Phenomenological Research 62, 167-180 Sellars, Wilfrid 1963, Science, Perception and Reality, Routledge, London Sellars, Wilfrid 1967, Science and Metaphysics, Routledge, London Smith, Nicholas (ed.) 2002, Reading McDowell, Routledge, London

Mark Textor: Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe*

ABSTRACT. Gareth Evans argumentiert in seinem posthum erschienen Buch Varieties of Reference dafür, dass es nicht-begrifflich Wahrnehmungen von Farbschattierungen, Formen usw. gibt. Ich werde ich in diesem Aufsatz versuchen, Evans’ Argument zu entkräften. Ich folge dabei John McDowell in der Auffassung, dass demonstrative Begriffe der Schlüssel zur Beantwortung des Arguments sind. Anders als McDowell und viele andere argumentiere ich aber gegen die Auffassung, dass demonstrative Begriffe Wiedererkennungsfähigkeiten sind. Durch die Entkopplung von Begrifflichkeit und Wiedererkennung gewinnt McDowells Replik an Plausibilität und wird in eine umfassendere Theorie der Bezugnahme integriert.

1. Einleitung Gareth Evans argumentiert in seinem posthum erschienen Buch Varieties of Reference dafür, dass es nicht-begrifflich Wahrnehmungen von Farbschattierungen, Formen usw. gibt. Ich werde ich in diesem Aufsatz versuchen, Evans’ Argument zu entkräften. Ich folge dabei John McDowell in der Auffassung, dass demonstrative Begriffe der Schlüssel zur Beantwortung des Arguments sind. Anders als McDowell und viele andere argumentiere ich aber gegen die Auffassung, dass demonstrative Begriffe Wiedererkennungsfähigkeiten sind. Durch die Entkopplung von Begrifflichkeit

Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Fassung des Vortrags, den ich auf der Tagung Aktuelle Problem der Philosophie der Wahrnehmung in Siegen im Mai 2007 gehalten habe. Den Teilnehmern der Tagung möchte ich für Anregungen danken, die zur Veränderung des Textes geführt haben. Mein Dank für Kommentare und Diskussion gilt insbesondere Hanjo Glock und Richard Schantz. *

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Mark Textor

und Wiedererkennung gewinnt McDowells Replik an Plausibilität und wird in eine umfassendere Theorie der Bezugnahme integriert. 2. Das Argument von den feinen Unterscheidungen Gareth Evans behauptet, dass wir mehr Farbschattierungen visuell als begrifflich unterscheiden können. Er geht sogar soweit zu sagen: Do we really understand the proposal that we have as many colour concepts as there are shades of colour that we can sensibly discriminate? (Evans 1982, 229)

Der gemachte Vorschlag ist durchaus verständlich, aber für Evans’ argumentative Zwecke ist es ausreichend, wenn er falsch ist: es gibt Farbschattierungen, die wir visuell, unterscheiden können, obwohl wir keinen Begriff besitzen, unter den die Farbschattierung und nur sie fällt. Um sich auf dieses Argument von den feinen Unterscheidungen einen Reim machen zu können, müssen wir unser Verständnis davon, was ein Begriff ist, zumindest teilweise artikulieren. Ein gemeinsamer Nenner in der Diskussion um Begriffe ist, dass Begriffe ‚Bestandteile‘ von propositionalen Einstellungen (Zuständen) sein können.1 Was sind dann propositionale Einstellungen (Zustände)? Es sind solche Einstellungen, zwischen denen logische Beziehungen bestehen können. Beispielsweise folgern wir aus Überzeugungen andere Überzeugungen, in praktischen Syllogismen folgern wir aus Überzeugungen und Wollungen Handlungen. Unsere Common Sense Psychologie nimmt also an, dass es mentale Zustände und Ereignisse gibt, die in Folgerungsbeziehungen stehen. In diesen Zuständen lassen sich Bestandteile unterscheiden. Warum? Nehmen wir an, dass die Prämissen eines Arguments Überzeugungen sind. Wenn ich folgere: Argument 1: Hesperus ist ein Planet. Hesperus ist derselbe Planet wie Phosphorus. Also: Phosphorus ist ein Planet. 1

Vgl. Crane (1992, 10), Dokic & Pacherie (2001, 199) und Martin (1993, 746f). Eine normative Alternative stellt Ginsborg (2006) vor.

Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe

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dann habe ich eine Überzeugung auf der Basis zweier anderer gewonnen. Argument 1 ist nur schlüssig, wenn die beiden Prämissenüberzeugungen einen gemeinsamen Bestandteil haben. Solchen Bestandteile nennt man, in einer Verwendung von „Begriff“, Begriffe. Diese Verwendung von „Begriff“ ist grundlegend für die Diskussion, um die es mir heute geht. In welchem Sinn ist ein Begriff Bestandteil einer propositionalen Einstellung? Propositionale Einstellungen sind mentale Zustände (Überzeugungen) oder Ereignisse (Urteile). Man kann sagen, dass eine Überzeugung u.a. eine Disposition zum Urteilen ist. Ein Urteil ist die koordinierte Ausübung verschiedener Fähigkeiten, nämlich der Fähigkeit, an etwas zu denken, und der, von etwas etwas anderes zu denken. In dieser Terminologie kann man der Rede von Bestandteilen einen guten Sinn verleihen: Ein Urteil wird konstituiert durch die koordinierte Ausübung verschiedener Fähigkeiten. Diese Ausübungen sind die Bestandteile des Urteils. Begriffe werden dann mit bestimmten Fähigkeiten, die im Urteilen ausgeübt werden, identifiziert. Es gibt sicher weitere Sinne von ‚Bestandteil‘, aber der eben eingeführte ist für meine Zwecke ausreichend und hinreichend motiviert. Aus der Charakterisierung von Begriffen als Bestandteilen von propositionalen Einstellungen kann man vier Dinge über Begriffe lernen, die im Folgenden eine Rolle spielen werden. 1. Derselbe Begriff muss in verschiedenen Prämissenüberzeugungen vorkommen können. Wenn in Argument 1 verschiedene Begriffe von Hesperus in der ersten und der zweiten Prämisse vorkämen, dann hätten wir es mit einem Fehlschluss zu tun. Dieser Punkt wird bald wichtig werden. 2. Unsere propositionalen Einstellungen sind inferentiell promiskuitiv, d.h. wir können propositionale Einstellungen, die ganz verschiedene Dinge repräsentieren, miteinander kombinieren, um aus ihnen etwas zu folgern. Daher müssen auch die in den propositionalen Einstellungen enthaltenen Begriffe miteinander kombinierbar sein. Diese Idee kommt in Evans’ Kombinierbarkeitsforderung („Generality Constraint“) zum Ausdruck.

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Wenn S denken kann, dass a F ist, und den Begriff G besitzt, dann kann S auch denken, dass a G ist, insofern a ist G zu denken kein Kategorienfehler ist. (Evans 1982, 104) 3. Man kann durch Argument 1 nur etwas Neues lernen, wenn es rational ist zu glauben, dass Hesperus ein Planet ist, ohne gleichzeitig zu glauben, dass Phosphorus ein Planet ist. Daher müssen Begriffe wie folgt unterschieden werden: (UB) Wenn man sich in t vernünftigerweise fragen kann, ob a = b, dann sind die Begriffe von a und b verschieden. 4. Es ist niemals rational zu glauben, dass a F ist und dass a nicht F ist. Denn aus einer solchen Prämissenüberzeugung kann man zu viele und daher keine fruchtbaren Folgerungen ziehen. Ich betrachte 1. bis 4. als einzeln notwendig dafür, dass etwas ein Begriff ist. Wenn beispielsweise eine Fähigkeit nur in einer oder einer bestimmten Klasse von Prämissenüberzeugung ausgeübt werden kann (1 und/oder 2 wird verletzt), dann ist diese Fähigkeit kein Begriff. Fähigkeiten, an etwas zu denken, oder etwas zu klassifizieren, die keine Begriffe sind, nenne ich mit Kant „Anschauungen“.2 Ob 1. bis 4. zusammen hinreichend sind, weiß ich nicht und muss ich für meine Zwecke nicht entscheiden.

3. Demonstrative Begriffe von Farben, Formen etc. Warum sollten wir nicht für jede Farbschattierung, die wir visuell unterscheiden können, einen Begriff besitzen? Manche Farbschattierungen werden wir nicht eindeutig durch Beschreibungen von ihrer Umgebung unterscheiden können. Das brauchen wir aber auch nicht, denn wenn ich die Farbschattierung sehe und meine Aufmerksamkeit auf sie richte, kann 2

Zu weiteren Beispielen für Anschauungen vgl. (Crane 1988), kritisch dazu Speaks

(2005, 370).

Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe

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ich über sie nachdenken und raisonnieren. Ich kann mit einem geeigneten demonstrativen Bezeichner auf die Farbschattierung Bezug nehmen und mit geeigneten Sätzen meine propositionalen Einstellungen über die Farbe ausdrücken. Die Fähigkeit, demonstrativ an eine Farbschattierung zu denken, nenne ich eine „demonstrative Vorstellung“. Sind demonstrative Vorstellungen eine Art von Begriffen oder von Anschauungen? Prima facie, sind demonstrative Vorstellungen Begriffe. Denn: Erstens, dieselbe demonstrative Vorstellung kann in verschiedenen Begriffen vorkommen: Wenn ich eine bestimmte Farbschattierung visuell unterscheide, dann kann ich z.B. denken, dass diese Farbe schön ist, und dass diese Farbe dunkel ist. Wenn ich dieselbe Farbschattierung im Auge behalte und nichts dagegen spricht, dass es dieselbe Farbschattierung ist, kann ich folgern, dass es eine Farbe gibt, die schön und dunkel ist. Zweitens, demonstrative Vorstellungen sind mit anderen Vorstellungen frei kombinierbar: Wenn ich diese Farbe vor mir sehe, kann ich u.a. denken, dass sie hell ist, gut zu meinem Porsche passen würde etc. Drittens, demonstrative Vorstellungen können wie andere Begriffe auch durch (UB) unterschieden werden. Viertens, es ist nicht rational zu glauben, dass diese Farbe rot und nicht rot ist etc. Da demonstrative Vorstellungen zahlreiche notwendige Bedingungen für Begrifflichkeit erfüllen, spricht zumindest nichts dagegen, dass sie Begriffe sind. Also kann es genauso viele (demonstrative) Farbbegriffe geben, wie es Farbschattierungen gibt, die wir visuell unterscheiden können. Denn zu jeder unterschiedenen Farbe gibt es einen demonstrativen Begriff. Doch selbst wenn die Anzahl der Farbegriffe gleich der Anzahl der visuell unterscheidbaren Farben ist, ist Evans’ Argument noch nicht entkräftet. Denn die Einführung eines demonstrativen Begriffes einer Farbschattierung setzt ja voraus, dass man diese Schattierung schon in der Wahrnehmung unterschieden hat. Daher scheinen die visuelle Unterscheidungsfähigkeit unabhängig von und grundlegender als die demonstrativen Begriffe der Farbschattierung zu sein.3 McDowell antwortet auf diesen Einwand mit einer Gegenfrage: 3

Vgl. Schantz (2001, 176).

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Mark Textor Why should the idea of experience as an actualization of conceptual capacities be threatened by the thought that some of the conceptual capacities in question are initiated in and by the very experiences in which they are actualised? (McDowell 2001, 182)

Gute Frage. McDowell will die These verteidigen, dass jede Wahrnehmung in der Aktualisierung von Begriffen (also begrifflichen Fähigkeiten) besteht. Auch im Fall der demonstrativen Begriffe gibt es keine begriffsfreie Wahrnehmung. Das Unterscheiden der Farbe ist nichts anderes als die erstmalige Aktualisierung eines demonstrativen Begriffes. Der Erwerb des Begriffes, den ich mit meinen Worten ‚diese Farbe‘ ausdrücke, wenn ich auf ein geeignetes Farbmuster zeige, ist dasselbe Ereignis, wie mein Unterscheiden der Farbschattierung und mein Anwenden des Begriffs. Demonstrative Begriffe haben die Eigenart, dass sie durch das sie initiierende Ereignis individuiert sind: „There is no saying which capacity it is in abstraction from the activating experience itself.“ (McDowell 1994, 59) Ist das ein Grund, um demonstrative Begriffe zu den Anschauungen zu rechnen? Unser Verständnis davon, was Begriffe sind, scheint zumindest keinen Grund dafür zu liefern. McDowell selbst scheinen aber demonstrative Begriffe nicht ganz geheuer. Er will die Gefahr bannen, dass die Ausübung der demonstrativen Begriffe an das Initiierungsereignis oder an im Initiierungsereignis gegenwärtige Anwendungsfälle des ‚Begriffs‘ gebunden ist. In seinen Worten: We had better not think it (the capacity) can be exercised only when the instance that it is supposed to enable its possessor to embrace in thought is available for use as a sample in giving linguistic expression to it. That would cast doubt on its being recognizable as a conceptual capacity at all. (McDowell 1994, 57)

McDowell und andere verlangen deshalb mehr als die Erfüllung von 1. bis 4. dafür, dass eine demonstrative Vorstellung ein Begriff ist, nämlich 5: 5. Eine demonstrative Vorstellung ist nur dann ein Begriff, wenn ihr Besitz es uns ermöglicht, an etwas x zu denken, auch dann, wenn kein demonstrierbares Muster von x zuhanden ist.

Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe

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5. klingt nicht unplausibel. Begriffe sind u.a. Fähigkeiten, deren Ausübung nicht an bestimmte Situationen gebunden ist. Sehr viele Autoren gehen von 5. kommentarlos zu 6. über: 6. Die Worte „diese Farbschattierung“ drücken nur dann einen Begriff einer Farbschattierung aus, wenn der Sprecher/Denker die von ihm ursprünglich unterschiedene Farbschattierung wiedererkennen kann. Warum? Weil die auf Wiedererkennung gestützte Anwendung von „diese Farbschattierung“ die einzige Form von kontext-unabhängiger Anwendung des demonstrativen Begriffs zu sein scheint. Diese nicht explizit angeführte Annahme werde ich bestreiten. Wenn man 6. akzeptiert, dann kann man McDowells Entgegnung auf Evans’ Argument leicht zurückweisen. Es ist ein empirischer Befund, dass unsere Fähigkeiten, Farbschattierungen wiederzuerkennen durch unsere Gedächtniskapazität beschränkt sind. Deshalb können wir Farbschattierungen oft nicht wieder erkennen, selbst dann, wenn man uns das ursprüngliche Muster wieder zeigt.4 Menschen mit einem photographischen Gedächtnis (Sherlock Holmes!) mögen die ursprünglich demonstrativ identifizierte Schattierung wieder erkennen können, ich und die meisten von uns aber leider nicht. Der Umstand, dass es empirische Gründe sind, die dagegen sprechen, dass eine Vorstellung ein Begriff ist, wirft nun schon ein erstes Problem auf. Wenn unser Gedächtnis durch Training (Vitamine, Genmanipulation) auf einmal viel besser würde, würden dann einige Vorstellungen zu Begriffen werden? Wie plausibel ist aber überhaupt die Forderung, dass eine Vorstellung nur dann ein Begriff ist, wenn sie Wiedererkennungsfähigkeiten ist? Ich werde nun die einschlägigen Gründe durchgehen.

4

Vgl. Dokic & Pacherie (2001, 198), Kelly (2001), Peacocke (2001, 251), Raffman

(1995).

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4. Wiedererkennung und Begrifflichkeit 4.1 McDowell selbst verweist auf § 279 von Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Auf die Frage „Wie gross bist Du?“ ist, so Wittgenstein, „So gross“ (Ich lege mir die Hand auf meinen Kopf) keine informative Antwort. Natürlich. Ich versetze eine andere Person mit meiner Antwort nicht in die Lage, meine Grösse auf eine handlungsrelevante Weise zu bestimmen (Bettenkauf). Aber was hat das mit Begriffsbesitz zu tun? Zudem gibt es durchaus Fragen, auf die „So gross“ eine gute Antwort ist, z.B.: „Wie gross ist Dein Bruder?“ 4.2 Begriffe und Arten. A. D. Smith schreibt: If the conceptualist approach to perception is to be sufficiently interesting to warrant our attention, it must hold that the exercise of a concept is at least the exercise of a recognitional capacity  that to possess a concept is to be in a position to classify objects. Concepts relate to kinds, and to possess them we need a distinctive sensitivity to the fact that a thing falls within a kind. (Smith 2002, 111)

Die Annahme, dass Begriffe immer Begriffe von Arten sind, ist kontrovers. Doch selbst wenn man sie zugeben würde, folgt daraus nicht, dass nur Wiedererkennungsfähigkeiten Begriffe sein können. Denn warum sollten demonstrative Begriff nicht kontextgebundene oder musterunterstützte Klassifikationsfähigkeit sein? 4.3 Nützlichkeit. Wiederum Smith schreibt: Staring at a ripe tomato, I can, no doubt, exercise the concept of this very shade of red. Such a concept is however, qua concept, useless. (Smith 2002, 111)

Der Besitz und die Ausübung der Fähigkeit, Scharlachrot von Zinnober mithilfe von Farbmustern unterscheiden zu können und auf die Farbschattierungen demonstrativ Bezug nehmen zu können, ist sehr nützlich für den Händler im Farbengeschäft. Reicht das nicht aus, der demonstrativen Farbrepräsentation Nützlichkeit zu attestieren?

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4.4 Kellys Intuitionenpumpe (Vgl. Kelly 2001, 405f): Wenn man mir Dreiecke und Vierecke zeigt, kann ich sie zuverlässig voneinander unterscheiden. Die Dreiecke werden stets zu meiner linken, die Rechtecke stets zu meiner rechten präsentiert. Später zeigt man mir dasselbe Dreiecksmuster zehnmal nacheinander. Dabei fälle ich auf die Frage „War das dieselbe Form, die Du zuvor zu Deiner Rechten gesehen hast?“ fünfmal ein richtiges, fünfmal ein falsches Urteil. Kelly gesteht zu, dass meine Unzuverlässigkeit auf verschiedene Weise erklärt werden kann: But whatever the explanation for his behavior, I think it is impossible for us to allow that such a person possesses he concept expressed by the phrase „that shape“ (said while pointing to what is in fact a triangle). The reason for this, I think, is that one natural condition on the possession of a demonstrative concept is that a person be able consistently to re-identify a given object as falling under a given concept, assuming it does. Hence, the re-identification condition. (Kelly 2001, 406)

Es mag unplausibel sein, dass ich jetzt (d.h. zu der Zeit, in der ich fehleranfällig bin) den Begriff besitze, der durch „diese Form“ ausgedrückt wird, wenn ich auf ein Dreieck zeige. Die Frage ist aber, ob ich ihn zuvor erwarb und anwenden konnte. Demonstrative Begriffe sind eben Begriffe, die ebenso leicht, wie sie erworben werden, auch wieder verloren werden können. Kellys Intuitionenpumpe setzt voraus, dass gilt: Wenn S in Zukunft systematische Fehler in der Anwendung eines Begriffswortes machen wird, dann besitzt S jetzt den ausgedrückten Begriff nicht. Begriffsbesitz in t kann retrospektiv in t+n unterminiert werden. Dieses Prinzip scheint mir das zu Beweisende, also 6., vorauszusetzen. Wenn der Begriff einer Farbe kontext-gebunden ist, dann kann man ihn eben verlieren, wenn man nicht mehr im richtigen Kontext ist. Aus diesem Grund kann Kellys Prinzip hier nicht unproblematisch angewendet werden. Meine Intuitionen mobilisiert Kelly nicht. 4.5 Dokic und Pacherie über das inferentielle Potential von demonstrativen Begriffen. Wir haben bereits in der Einleitung gesehen, dass Begriffe

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mentale Repräsentationen sind, die Bausteine des schlussfolgernden Denkens sind. In manchen Argumenten muss derselbe Begriff wiederholt vorkommen. Hier ist eines: Argument 2: a hat diese Farbe. (Ich zeige auf das Farbmuster) b hat diese Farbe. (Ich zeige auf dasselbe Farbmuster) Also: Es gibt eine Farbe, die sowohl a als auch b haben. Das Argument 2 ist nur dann formal schlüssig und vollständig, wenn die Prämissenüberzeugungen denselben demonstrativen Begriff enthalten und Begriffsselbigkeit transparent in folgendem Sinne sind: Wenn „a“ und „b“ denselben Begriff ausdrücken, und S den Begriff denkt den „a“ ausdrückt und S den Begriff denkt den „b“ ausdrückt, dann weiß S, dass „a“ und „b“ denselben Begriff ausdrücken. (Vgl. Dummett 1978, 112) Dokic und Pacherie wenden nun folgendes gegen McDowells Theorie ein (‚DCC‘ ist kurz für ‚Demonstrative Colour Concepts‘): But suppose now that the relevant concepts are DCCs of the kind envisioned by Brewer and McDowell. In the absence of any genuine recognitional capacity associated with such concepts, how are we to ensure that the same demonstrative concept figures in both premises? The only case in which such insurance can be given is when the contents a is coloured thus and b is coloured thus are simultaneously available to the thinker in perceptual experience in such a way that he can attend to both at once. As soon as the two premises are obtained separately, the warrant disappears, since, for lack of recognitional capacity, the thinker will not be in a position to ascertain whether the demonstrative concepts involved in the two premisses are the same or different. The inferential potential of such concepts is therefore extremely limited. These concepts have neither past nor future and their use in reasoning is confined to the here and now of perceptual experience. (Dokic & Pacherie 2001, 199)

Wenn wir es mit demonstrativen Begriffen zu tun haben, dann kann man sich immer dann vernünftigerweise fragen, ob diese Farbe (Prämisse 1) dieselbe ist wie diese Farbe (Prämisse 2), wenn man das Farbmuster aus den Augen lässt. Nimmt man nun (UB) an, dann haben wir es immer dann mit zwei verschiedenen demonstrativen Begriffen zu tun, wenn man vernünftigerweise die Frage stellen kann, ob wir es mit derselben Farbe zu tun

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haben. Verliere ich also die Farbe aus den Augen, kann ich nicht mehr gerechtfertigterweise von den Prämissen zur Konklusion übergehen. Dieser Punkt wird von Dokic und Pacherie irreführend formuliert, wenn sie schreiben, der Denker müsse beim Schließen Identitätsurteile über Begriffe fällen. Dokic und Pacherie folgern, dass demonstrative Begriffe nur dann ein nicht auf das hier und jetzt beschränkte inferentielles Potential besitzen können, wenn wir die repräsentierten Farben wiedererkennen können. Wie wir aber bereits gesehen haben, können wir das nicht. Im nächsten Schritt argumentieren Dokic und Pacherie, dass darum Urteile mit demonstrativen Begriffen nicht als Gründe für andere Urteile fungieren können. Mit diesem Schritt muss ich mich hier nicht auseinandersetzen. Dokic und Pacherie stellen m.E. das einzige starke Argument für 6. auf. Um ihm zu begegnen müssen wir zeigen, dass schlüssige und vollständige Argumente Prämissen mit demonstrativen Begriffen enthalten können, ohne dass diese Argumente auf das hier und jetzt eingeschränkt sind. Können wir das zeigen, besteht kein Grund, demonstrativen Begriffen ein eingeschränktes inferentielles Potential zu attestieren.

5. Transparenz ohne Wiedererkennung Nehmen wir an, ich sehe ein fröhliches Ferkel vor mir. Ich zeige auf es und behaupte in diesem Kontext, nennen wir ihn kurz k: Dieses Schweinderl ist rosa. Aus der mit diesen Worten in k kundgegebenen Überzeugung kann ich sowohl formale als auch materiale Konsequenzen ziehen. U.a. kann es erkenntniserweiternd sein, zu erfahren, dass dieses Schweinderl (ich zeige auf Piggy von rechts) dieses Schweinderl ist (ich zeige auf Piggy von links). Meiner Verwendung des demonstrativen Bezeichners scheint also allem Anschein nach ein Begriff zu Grunde zu liegen. Ich kann aber das Schweinchen später nicht wieder erkennen. Es gibt eben Schweinchen, die ähnlich aussehen, oder anderes Viehzeug, das ich oft mit Schweinchen verwechsle. Aber auch wenn ich weder das Schweinchen noch die Art, zu

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der es gehört, in anderen Kontexten als k wieder erkennen kann, kann ich kontext-unabhängig über das Schweinchen raisonnieren. Wie? Betrachten wir um diese Frage zu beantworten eine sprachliche Analogie. Wenn das Schweinchen nicht mehr demonstrativ erreichbar ist, kann ich über es raisonnieren, indem ich mich anaphorisch auf es zurückbeziehe. Zum Beispiel so: Dieses Wesen ist rosa. (Das Schweinchen verschwindet) Es war sehr scheu, ich frage mich, was es verscheucht hat. Wenn wir nicht über anaphorischen Ausdrücke verfügten, wäre unser schließen, dass von Prämissen mit demonstrativen Begriffen ausgeht, in der Tat kontextgebunden. Brandom hat auf diesen Punkt in seinem Buch Making It Explicit aufmerksam gemacht: Deictic uses presuppose anaphoric ones. One cannot coherently describe a language in which expressions have demonstrative uses but no pronominal uses (although the converse is possible). For indexical uses generally, like deictic ones, are essentially unrepeatable according to types. (Brandom 1994, 465)

Das mit einem kontext-abhängigen Ausdruck („Dieses Schweinchen ist interessant“) Gesagte, ist in kontext-unabhängiger Weise wieder ausdrückbar und steht uns als Prämisse für Schlüsse zur Verfügung, weil Abhängigkeit vom nicht sprachlichen zur Abhängigkeit vom sprachlichen Kontext wird. Der kontext-abhängige Ausdruck „dies Wesen“ wird zum grammatischen Antecedens für anaphorische Ausdrücke. Wenn wir uns an dieser sprachlichen Analogie orientieren, dann muss man nicht von (5) zu (6) übergehen. 5. Eine demonstrative Vorstellung ist nur dann ein Begriff, wenn ihr Besitz es uns ermöglicht, an etwas x zu denken, auch dann, wenn kein demonstrierbares Muster von x zuhanden ist. Denn die anaphorische Wiederaufnahme eines Bezugs ist eine Weise, in der man kontext-unabhängig über etwas nachdenken kann, ohne es wiedererkennen zu können. Man kann die Schweinchengeschichte beispielsweise so weiterspinnen:

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(S1) Dieses Schweinchen ist rosa. (Das Schweinchen verschwindet) (S2) Es war sehr scheu, ich frage mich, was es verscheucht hat. (Das Schweinchen tritt wieder auf, nachdem es sich im Schlamm gesuhlt hat) (S3) Ist es dasselbe Schweinchen wie dieses schmutzige Schweinchen? Der anaphorische Rückbezug macht offenkundig, dass ich über das Schweinchen der ersten Prämisse spreche. Ich stelle eine Frage über ES, die nur eine Pointe hat, wenn ich ES nicht wiedererkennen kann. Aber drücken dann wirklich „dieses Schweinchen“ in der ersten Prämisse und „es (das Schweinchen)“ denselben Begriff aus? Ja, denn wir können aus den ersten Aussagen (S1) und (S2) schließen: Also: (K) Es gibt etwas, das rosa and sehr scheu ist. Dieses Argument ist nur dann schlüssig und vollständig, wenn „dieses Schweinchen“ in (S1) und „es“ in (S2) nicht nur denselben Gegenstand bezeichnen, sondern auch denselben Sinn haben. Warum? Wenn zwei Ausdrücke denselben Sinn haben, dann haben sie, insofern sie überhaupt etwas bedeuten, dieselbe Bedeutung. Wenn sie denselben Sinn haben, dann muss auch jeder, der den Sinn erfasst, eo ipso wissen, dass sie dieselbe Bedeutung haben.5 Wenn dem nicht so wäre, müsste man dem Argument, das von (S1) und (S2) auf (K) übergeht, eine weitere Prämisse hinzufügen, die die erforderliche Identität zwischen dem von „dies Schweinchen“ und „es“ bezeichneten Gegenstand explizit behauptet. Das Argument wäre also unvollständig und sogar unvervollständigbar. Es gibt aber keinen unabhängigen Grund, dem Argument Unvollständigkeit zu attestieren. Also sollten wir auch „diesem Schweinchen“ und „es“ denselben Sinn attestieren. Wenn ich „dies Schweinchen“ und „es“ im schlussfolgernden Denken verwende, ist für mich offenkundig, dass es sich um dieselbe Sache handelt. Und das ist eben zentral für Sinnselbigkeit. Was ist im Denken dem Rückbezug durch anaphorische Pronomen analog? Ich habe keine Theorie des demonstrativen und anaphorischen Denkens in der Schublade. Aber ich denke, folgende Punkte skizzieren eine 5

Vgl. Frege (1918/19, 38 (65)).

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solche Theorie grob, aber für die Zielsetzung dieses Aufsatzes ausreichend. 1. Ich erwerbe einen demonstrativen Begriff der Schattierung, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf die Farbe des Musters lenke und sie, während ich das Muster im Blick behalte, von anderen Farben unterscheide. Ich kann diesen Begriff zur Klassifikation verwenden, wenn ich die Farbe im Auge behalte. Der demonstrative Begriff ist eine Fähigkeit, die Farbe in der Wahrnehmungssituation zu unterscheiden. Man kann diesen Begriff metaphorisch als Ordner betrachten, in welchem ich Informationen über die Farbe ablege, die im Wahrnehmungskontext es mir u.a. ermöglichen, die Farbe von anderen zu unterscheiden. 2. Wenn ich über die Farbschattierung schlussfolgernd nachdenke, dann wird derselbe demonstrative Begriff im Denken wieder aktiviert. Dies konstituiert ein ins Gedächtnis zurückrufen der Farbschattierung. Wer sich die Farbschattierung nicht ins Gedächtnis zurückrufen kann, der kann auch nicht über sie raisonnieren. Aber wer sich die Farbschattierung ins Gedächtnis zurückrufen kann, muss sie nicht wiedererkennen können, wenn er sie sieht. Warum? Man kann sich etwas x zuverlässig ins Gedächtnis zurückrufen kann, ohne sich alle Eigenschaften von x, die man bei seiner Begegnung mit x erkannte ins Gedächtnis zurückrufen zu können. Daher ist Wiedererkennung von x in der Regel nicht möglich. Aber dies ist auch nicht notwendig, um über x nachdenken zu können. Wenn man einen demonstrativen Begriff von x besitzt, kann man diesen unabhängig von der Wahrnehmung von x mobilisieren, indem man sich an x erinnert. Erinnerung an x ist ausreichend für gedanklichen Rückbezug. Wie kann sie das sein, wenn man x nicht mehr von anderen Dingen unterscheiden kann. Die richtige Antwort gibt m.E. Sainsbury: [What is it for an individual concept to endure?] It is for it to be available to memory, where this requires a causal connection between the earlier exercise and the later one. The right sort of causal connection is what makes the second exercise an exercise of the same individual concept. The connection ensures that at least some of the information subsumed under the concept is preserved in adjacent exercises of it, though remote pairs of exercises of it may have no subsumed information in common. (Sainsbury 2005, 231)

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Die richtige kausale Beziehung zwischen den verschiedenen Denkepisoden konstituiert Selbigkeit des aktivierten Begriffs und dies sichert wiederum Selbigkeit des Gegenstands. Welche kausale Beziehung ist die richtige? Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich Philosophen, die sich mit Erinnerung beschäftigen.

6. Zusammenfassung: Wenn Begriffe die Bausteine von propositionalen Einstellungen sind, und propositionale Einstellungen solche mentalen Repräsentationen sind, die Prämissen oder Konklusionen eines Arguments sein können, dann besteht kein Grund, demonstrativen Repräsentationen von Farben und Formen den Ehrentitel „Begriff“ vorzuenthalten. Zwar können demonstrative Begriffe von Farbschattierungen keine Fähigkeit zur Wiedererkennung sein. Das brauchen sie aber auch nicht, um Konstituenten von Schlüssen zu sein, deren Prämissen zu verschiedenen Zeiten gedacht werden können. Eine demonstrative Farbrepräsentation kann einen anaphorischen Rückbezug verankern und das ist alles, was zum Schließen erforderlich ist.

Literatur Brewer, Bill: Perception and Reason. Oxford: Oxford University Press 1999. Brandom, Robert: Making it Explicit. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1994. Byrne, Alexander: Perception and Conceptual Content, in: Steup, Matthias; Sosa, Ernest (eds.): Contemporary Debates in Epistemology. Oxford: Blackwell 2005. Crane, Tim: The Waterfall Illusion. Analysis 48 (1988): 142-147. Crane, Tim (ed.): The Contents of Experience. Cambridge: Cambridge University Press 1992.

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Dokic, Jerome; Pacherie, Elisabeth: Shades and Concepts. Analysis 61 (2001): 193-202. Dummett, Michael: Frege’s Distinction between Sense and Reference. In: Dummett, M.: Truth and Other Enigmas, London 1978. Evans, Gareth: Varieties of Reference. Oxford: Oxford University Press 1982. Frege, Gottlob: Der Gedanke (1918/9). In: Frege, Gottlob: Logische Untersuchungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21976. Ginsborg, Hannah: Empirical concepts and the content of experience. The European Journal of Philosophy 14 (2006): 349-372. Heck, Richard G.: Nonconceptual Content and the Space of Reasons. The Philosophical Review 109 (2000): 483-523. Kelly, Sean D.: Demonstrative Concepts and Experience. The Philosophical Review 110 (2001): 397-419. Martin, Michael G.F.: Perception, concepts, and memory. The Philosophical Review 101 (1992): 745-763. McDowell, John: Mind and World. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1994. - Comments on Schantz, ‚The Given Regained’. Philosophy and Phenomenological Research 62 (2001): 181-184. Peacocke, Christopher: Does Perception have a Nonconceptual Content? The Journal of Philosophy 98 (2001): 239-246. Raffman, Diana: The Persistence of Phenomenology, in: Metzinger, T.: Bewußtsein -. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Paderborn: Schöningh 1995. Schantz, Richard: The Given Regained. Reflections on the Sensuous Content of Experience. Philosophy and Phenomenological Research 62 (2001): 167-180. Sainsbury, Mark R.: Reference without Referents. Oxford: Oxford University Press 2005.

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Smith, A.D.: The Problem of Perception. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2002. Speaks, Jeff: Is there a problem about Nonconceptual Content? The Philosophical Review 114 (2005): 359-398.

Frank Hofmann: Wahrnehmung als Rechtfertigung

ABSTRACT. Es soll eine fundamentalistische und externalistische Theorie der (epistemischen) Rechtfertigung entworfen werden – der evidenzielle Reliabilismus -, die direkt-realistisch ist. Im Unterschied zum traditionellen Fundamentalismus, der lediglich introspektive Meinungen als basal zulassen wollte, kommen im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus auch Wahrnehmungsmeinungen über die Außenwelt als basale Meinungen in Frage, und Wahrnehmungszustände können Gründe für solche Wahrnehmungsmeinungen sein. Ein Vorteil des evidenziellen Reliabilismus ist es, dass er es erlaubt, gewissen internalistischen Intuitionen sehr weit entgegenzukommen. Ein Hauptfeld internalistischer Intuitionen stellen Gründe und Gegengründe dar. Ein simpler Reliabilismus sieht Rechtfertigung als ausschließlich durch zuverlässige Prozesse konstitutiert. Er vermag jedoch Gründe und Gegengründe nicht verständlich zu machen. Im Unterschied dazu wird im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus Rechtfertigung wesentlich an intentionale Zustände als Gründe geknüpft: Rechtfertigung erfordert den Besitz eines adäquaten Grundes. Damit können Intuitionen, die Fälle wie BonJours Beispiel von Norman dem Hellseher und die Dämon-Welt betreffen, ein gutes Stück weit eingefangen werden – wenn auch am Ende der Externalismus richtig bleibt, da die Adäquatheit eines Grundes nur externalistisch zu verstehen ist. Im Fokus steht hier der Fall der Wahrnehmung. Es wird dafür argumentiert, dass Wahrnehmungszustände im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus als Gründe eine rechtfertigende Funktion in Bezug auf basale Wahrnehmungsmeinungen übernehmen können.

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1. Einleitung Meinungen können nach allgemeiner Auffassung durch andere Meinungen gerechtfertigt werden. Die jeweils rechtfertigende Meinung ist der Grund für die gerechtfertigte Meinung. Aber können Meinungen auch durch etwas anderes als Meinungen gerechtfertigt werden? Insbesondere fragt es sich, ob sie auch durch Wahrnehmungen – als Gründe – gerechtfertigt werden können. Die Antwort auf diese Frage muss meines Erachtens positiv ausfallen: Wahrnehmungen kommen in der Tat als Gründe in Frage und können Meinungen rechtfertigen.1 Dies entspricht einem weit verbreiteten Alltags-Empirismus, wonach wir durch Wahrnehmungen der geeigneten Art durchaus zu gerechtfertigten Überzeugungen gelangen können. Wahrnehmungen liefern den paradigmatischen Fall empirischer Gründe. (Auf apriorische Gründe und Rechtfertigung werde ich hier nicht eingehen.) Ich will im Folgenden versuchen, einen externalistischen Fundamentalismus für epistemische Rechtfertigung zu entwickeln, in dessen Rahmen Wahrnehmungen als Gründe fungieren können. Dieser Fundamentalismus nimmt (wie jeder Fundamentalismus) an, dass es basale Meinungen gibt, d.h. Meinungen, die gerechtfertigt sind, aber nicht durch andere Meinungen gerechtfertigt sind. (Man spricht in diesem Fall auch von ‚nichtinferenzieller Rechtfertigung‘.) Der traditionelle Fundamentalismus ging davon aus, dass nur introspektive Meinungen als basale Meinungen in Frage kommen. Im Unterschied dazu soll der hier anvisierte Fundamentalismus ein direkt-realistischer sein. Das bedeutet, dass auch Meinungen über die Außenwelt basal sein können. Insbesondere können auch Wahrnehmungsmeinungen, d.h. Meinungen über die unmittelbare Umgebung, die mittels Wahrnehmung zustande gekommen sind, basale Meinungen sein. Dieser direkt-realistische Fundamentalismus hat natürlich den Vorteil, eine grundsätzliche Kluft zwischen basalen Meinungen und gewöhnlichen Außenweltsmeinungen, wie sie sich für den traditionellen Fundamentalismus ergibt, zu vermeiden. Wenn z.B. Daniel in einer normalen Wahrnehmungs1

Dass Wahrnehmungen Gründe sein können, sehen z.B. auch Grundmann (2004) und Bergmann (2006) so. Dretske (1971) spricht von ‚zwingenden Gründen‘ (‚conclusive reasons’) und lässt Wahrnehmungen als zwingende Gründe zu. Allerdings sollen diese für Wissen aufkommen, nicht für Rechtfertigung. Zu Dretskes zwingenden Gründen gäbe es einiges zu sagen, was ich hier aus Platzgründen nicht in Angriff nehmen kann.

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situation die Tomaten auf seinem Küchentisch sieht und deshalb glaubt, dass da Tomaten vor ihm auf dem Tisch liegen, dann beziehen sich sowohl seine Wahrnehmung als auch seine Wahrnehmungsmeinung auf die Außenwelt. Eine introspektive Überzeugung muss gar nicht im Spiel sein. In diesem Fall wäre Daniels Wahrnehmungsmeinung, dass da Tomaten liegen, (plausiblerweise) gerechtfertigt, und zwar eben durch seine Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ermöglicht also einen ‚Einstieg‘ in das Gebäude (empirisch) gerechtfertigter Überzeugungen. Mittels Inferenzen kann dann Rechtfertigung auf weitere, nichtbasale Meinungen übertragen werden. Der direkt-realistische Fundamentalismus, der hier vorgeschlagen werden soll, ist externalistisch. Dennoch soll versucht werden, internalistischen Intuitionen so weit wie möglich entgegenzukommen. Als ‚internalistische Intuitionen‘ bezeichne ich dabei Intuitionen, die bestimmte Fälle betreffen und typischerweise von Internalisten als Probleme für den Externalisten vorgebracht werden. Insbesondere sind hier solche Fälle wie der des Hellsehers Norman von Laurence BonJour und der Fall eines Subjekts in einer Dämon-Welt zu nennen. (Im Wesentlichen meine ich mit ‚Internalismus‘ hier sowohl den Zugangs-Internalismus wie den SupervenienzInternalismus.) Es kann meines Erachtens ein gutes Stück weit gelingen, solche internalistischen Intuitionen im Rahmen eines Externalismus einzufangen. Zugegeben, an manchen Stellen ist dann ‚das Ende der Fahnenstange‘ erreicht, aber an einigen anderen Stellen kann man internalistische Intuitionen im Rahmen eines Externalismus gut einfangen und respektieren. Ob und wieweit dies gelingt, hängt entscheidend davon ab, von welcher Version von externalistischem Fundamentalismus man ausgeht. Hier möchte ich eine Neuerung vorschlagen. Anstelle des oft anzutreffenden Reliabilismus, den ich als ‚simplen Reliabilismus‘ bezeichnen möchte, schlage ich eine andere Version des Reliabilismus vor, den man ‚evidenziellen Reliabilismus‘ nennen könnte. Der simple Reliabilismus knüpft Rechtfertigung ganz direkt an die Zuverlässigkeit des Prozesses, der die betreffende Meinung hervorgebracht hat, und an nichts anderes. Er weist nun den Nachteil auf, internalistische Intuitionen hart zurückweisen zu müssen. Demgegenüber bietet der evidenzielle Reliabilismus die Chance, deutlich mehr internalistische Intuitionen einfangen zu können. Dies liegt im Kern daran, dass der evidenzielle Reliabilismus die Rechtfertigung

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an Gründe (verstanden als psychologische Zustände mit intentionalem Gehalt) knüpft. Damit kann der evidenzielle Reliabilismus der ganzen Thematik der Gründe und Gegengründe wesentlich besser gerecht werden als der simple Reliabilismus. Und da die internalistischen Intuitionen, um die es hier geht, diese Thematik der Gründe und Gegengründe betreffen, gelingt es eben auch, ihnen besser gerecht zu werden. Der Zielpunkt der folgenden Ausführungen ist es, einen direktrealistischen und externalistischen Fundamentalismus zu konzipieren – den evidenziellen Reliabilismus –, der Gründen eine zentrale Rolle zusprechen kann. Mir scheint, dass externalistische Fundamentalisten den Gründen bisher zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht haben, und zwar zu Unrecht und wahrscheinlich zum eigenen Schaden. Gründe müssen per se nicht internalistisch verstanden werden. Wer Rechtfertigung an Gründe knüpft, muss deswegen noch lange kein Internalist sein. Und Wahrnehmungszustände können Gründe für Überzeugungen sein, auch oder gerade im Rahmen eines Externalismus. Die Grundintuition des alltäglichen Empirismus, dass Wahrnehmung Rechtfertigung für Überzeugungen liefern kann, ist hiermit respektiert – was als erstes Grundargument für den evidenziellen Reliabilismus abgebucht werden kann. Der Plan für das Folgende lautet: Ich werde in Abschnitt 2 zunächst einige Grundannahmen anführen, die den Horizont der Diskussion abstecken und auf denen die weiteren Überlegungen beruhen. Dann werde ich in Abschnitt 3 die Position des simplen Reliabilismus einführen und problematisieren. Ein Hauptproblem für den simplen Reliabilismus wird die Thematik der Gründe und Gegengründe darstellen. Abschnitt 4 wird dann einen anderen Reliabilismus präsentieren, den evidenziellen Reliabilismus. Dieser umfasst ein evidenzielles und eine reliabilistisches Moment. Ich werde zu zeigen versuchen, dass dieser evidenzielle Reliabilismus mit den Schwierigkeiten, die sich für den simplen Reliabilismus ergeben haben, gut zurande kommt. Immer wird der Fokus auf dem Fall der Rechtfertigung durch Wahrnehmung liegen, also dem paradigmatischen Fall empirischer Rechtfertigung. Abschließen werde ich mit einigen kurzen Bemerkungen zur Rolle des Bewusstseins für die epistemische Rechtfertigung.

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2. Grundannahmen Die folgenden Annahmen sollen für die weiteren Ausführungen als Grundlage dienen: (G1) Es soll nur um epistemische Rechtfertigung gehen, nicht um Wissen. (G2) ‚Rechtfertigung‘ (kurz für ‚epistemische Rechtfertigung‘) soll weit verstanden werden und als Überbegriff für jede Art von positivem Status (mit Ausnahme von Wissen) dienen. Es geht nicht um irgendeinen Spezialbegriff von Rechtfertigung. (G3) Es soll ausschließlich um empirische Rechtfertigung gehen, nicht um apriorische. (G4) Fallibilismus: Es wird angenommen, dass Rechtfertigung nicht Wahrheit impliziert. (G5) Wahrheitszuträglichkeit der Rechtfertigung: Es wird davon ausgegangen, dass Rechtfertigung wahrheitszuträglich ist, also eine wesentliche Verbindung zur Wahrheit aufweist. Diese Wahrheitszuträglichkeit besteht mindestens darin, dass das, was die Rechtfertigung einer Meinung ausmacht, auch diese Meinung wahrscheinlich wahr macht. (G6) Teleologisch-instrumentelle Konzeption des Epistemischen, keine deontologische: Es wird davon ausgegangen, dass epistemischer Wert und Status teleologisch-instrumentell verfasst ist und nicht deontologisch. Der epistemische Status der Rechtfertigung ist nicht vom Einhalten epistemischer Pflichten konstituiert.2

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Für eine überzeugende Kritik an der deontologischen Konzeption siehe Alston (1989) und Grundmann (2008), Kap. 5: „Rechtfertigung“.

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3. Der simple Reliabilismus Der simple Reliabilismus stellt eine Version des externalistischen Fundamentalismus dar. Er weist zunächst eine hohe Attraktivität auf, weil er einfach und elegant ist und der Rechtfertigung eine klare Signifikanz zuerkennen kann. Der simple Reliabilismus knüpft die Rechtfertigung ganz direkt an die Zuverlässigkeit des hervorbringenden Prozesses: Die Zuverlässigkeit des Meinungserwerbs ist notwendig und hinreichend für den Status der Rechtfertigung. Wir können diese Position aus der folgenden allgemeinen Überlegung zur Grundstruktur der Rechtfertigung von Überzeugungen heraus entwickeln. Zunächst ist es naheliegend, die Rechtfertigung einer Meinung auf folgende Weise an einen Grund zu knüpfen: (I)

Die Meinung, dass p, der Person S ist gerechtfertigt genau dann, wenn (i) S einen Grund G für ihre Meinung, dass p, hat und (ii) S ihre Meinung, dass p, auf G stützt und (iii) G für die Meinung, dass p, spricht (= G ein guter Grund für die Meinung, dass p, ist).

(Ein Grund spricht für die Meinung genau dann, wenn er ein guter Grund ist. Die Rede von guten Gründen in (iii) ist nichts Zusätzliches gegenüber der Rede von dem Dafür-Sprechen, sondern lediglich eine sprachliche Variante.) Dieses allgemeine Schema zum Zusammenhang von Rechtfertigung und Gründen ist noch recht unverbindlich, da es keine Festlegungen dazu enthält, was alles als ‚Grund‘ in Frage kommt und was es bedeutet, dass ein Grund ‚für eine Meinung spricht‘. Es kann daher von sehr vielen Positionen anerkannt werden. Die Wege trennen sich erst, wenn weitere Spezifikationen vorgenommen werden. Ein Punkt kann jedoch zunächst noch ganz allgemein eingefügt werden. Dass ein Grund für eine Meinung spricht, muss hier in dem Sinne verstanden werden, dass er für die Wahrheit dieser Meinung spricht. Dies ist essenziell für die epistemische Rechtfertigung, um die es hier ja immer geht. Es mag Gründe geben, die in einem anderen Sinne für eine Meinung sprechen (also für den Erwerb oder Besitz einer Meinung), vielleicht prak-

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tische oder prudenzielle, aber dies wäre ein anderes Dafür-Sprechen als dasjenige, das für die epistemische Rechtfertigung relevant ist. Wir können somit unser Schema wie folgt präzisieren: (II)

Die Meinung, dass p, der Person S ist gerechtfertigt genau dann, wenn (i) S einen Grund G für ihre Meinung, dass p, hat und (ii) S ihre Meinung, dass p, auf G stützt und (iii) G für die Wahrheit der Meinung, dass p, spricht (= G ein guter Grund für die Wahrheit der Meinung, dass p, ist).

Diese Präzisierung kann ebenfalls von vielen Positionen akzeptiert werden. Die entscheidenden Abzweigungen ergeben sich erst, wenn nun Modelle dafür betrachtet werden, was das Dafür-Sprechen und was überhaupt Gründe ausmacht. Ganz systematisch können wir zwischen zwei Ansätzen unterscheiden, einem Prozess-Ansatz und einem Zustands-Ansatz. Nach dem ProzessAnsatz ist ein ganzer Prozess der Grund für eine Meinung. Dagegen ist nach dem Zustands-Ansatz ein ganz bestimmter mentaler Zustand – der vielleicht in einen ganzen Prozess eingebettet ist – der Grund. Der simple Reliabilismus verfolgt den Prozess-Ansatz, der evidenzielle Reliabilismus dagegen den Zustands-Ansatz.3 Wenn man einen ganzen Prozess als Grund für eine Meinung ansieht, also z.B. einen Wahrnehmungsprozess, der typischerweise bei der Stimulation von Nervenenden beginnt, über einen Wahrnehmungszustand verläuft und schließlich bei einer Wahrnehmungsmeinung über die unmittelbare 3

Sowohl Prozess- wie auch Zustands-Ansatz können als pyschologistische Konzeptionen von Gründen gezählt werden. Ein ganz anderer Ansatz wäre ein antipsychologistischer, wonach Gründe i.A. keine psychischen Entitäten sind, sondern ganz gewöhnliche Welt-Entitäten, wie z.B. kontingente, beobachtbare Tatsachen. Die antipsychologistische Konzeption scheint mir wenig aussichtsreich. Auf Argumente diesbezüglich kann ich hier aber aus Platzgründen nicht weiter eingehen. Ein Hauptproblem für den Antipsychologismus stellen inkorrekte Gründe dar, d.h. Gründe, bei denen die entsprechenden Tatsachen gar nicht existieren. – Die Diskussion dürfte hier starke Parallelen zur gleichnamigen Debatte über praktische Gründe aufweisen. Vergleiche dazu die antipsychologistische Theorie praktischer Gründe in Dancy (2002). In der Erkenntnistheorie vertritt Williamson einen Antipsychologismus. Vgl. Williamson (2000).

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Außenwelt endet, dann strapaziert man meines Erachtens den Begriff eines Grundes ganz ordentlich. Aber man sollte hier wahrscheinlich großzügig sein und nicht dogmatisch auf einer Vorstellung von Gründen beharren, die einen solchen Prozess nicht als einen Grund zählen lassen möchte. Ich will daher dem Vertreter des Prozess-Ansatzes nicht mit dem Einwand kommen, dass ein ganzer Prozess schon aus rein begrifflichen Gründen nicht als ein Grund in Frage kommt. Ein solcher begrifflicher Einwand scheint mir zu heikel und letztlich nicht ergiebig. Schenken wir dem Vertreter des Prozess-Ansatzes also die Annahme, dass ein Prozess dem Begriff nach wenigstens als ein Grund in Frage kommen kann. Dann stellt sich allerdings immer noch die Frage, ob der Prozess-Ansatz in der Lage ist, wichtige Merkmale von Gründen einzufangen. Und hier liegt meines Erachtens die Schwäche des Prozess-Ansatzes. Einige zentrale Merkmale von Gründen können von der Prozess-Vorstellung nicht verständlich gemacht werden, nämlich diejenigen, die die Thematik der Gegengründe betreffen. Betrachten wir aber zunächst den simplen Reliabilismus als das Modell der Rechtfertigung, das sich aus dem Prozess-Ansatz auf natürliche Weise ergibt. Die Kernaussage des simplen Reliabilismus lautet: (SR) Die Erzeugung einer Meinung durch einen zuverlässigen Prozess des Meinungserwerbs ist notwendig und hinreichend für die Rechtfertigung. Dies entspricht dem Schema (II) in folgendem Sinn. Der Grund G für die Meinung, dass p, ist der ganze meinungserzeugende Prozess. Die Person S hat diesen Grund in dem Sinne, dass sie Träger dieses Prozesses ist. Die Bedingung (i) des Grund-Habens ist also erfüllt. Außerdem stützt die Person ihre Meinung, dass p, auf diesen Grund, weil dieser Grund – der Prozess – die Meinung ja hervorgebracht hat. Auch die Stützungsbedingung (ii) ist somit erfüllt, wie es scheint. Schließlich spricht dieser Grund auch für die Wahrheit der Meinung, weil er ja ein zuverlässiger Prozess ist und daher die Meinung wahrscheinlich wahr macht. – Es sieht also auf den ersten Blick alles sehr günstig für den simplen Reliabilismus aus. Am Hauptbeispiel einer gerechtfertigten Wahrnehmungsmeinung können wir dies so illustrieren. Wenn die Person aufgrund eines zuverlässigen Wahrnehmungsprozesses zu einer Meinung gelangt, dann ist ihre Meinung

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dadurch gerechtfertigt. Der Wahrnehmungsprozess ist der Grund, und er ist ein guter Grund, weil er zuverlässig ist und die Meinung wahrscheinlich wahr macht. Ganz analog verhält es sich bei anderen Prozessen, wie z.B. Erinnerungsprozessen, Prozessen der apriorischen Intuition (wenn es sie gibt) oder Introspektion. Anzumerken ist noch, dass man den simplen Reliabilismus auch als eine Position zur prima-facie-Rechtfertigung konzipieren kann. Dann würde man die Zuverlässigkeit des Prozesses als notwendig und hinreichend für die prima-facie-Rechtfertigung ansehen. Und diese prima-facieRechtfertigung könnte dann durch geeignete Gegengründe aufgehoben werden. Dies ist jedenfalls zunächst einmal eine mögliche Weiterentwicklung, und ich will im Folgenden von dieser modifizierten Version des simplen Reliabilismus ausgehen. Freilich stellt sich noch die Frage, ob die Aufhebung der prima-facie-Rechtfertigung durch Gegengründe im Rahmen des simplen Reliabilismus und des Prozess-Ansatzes letztlich verständlich gemacht werden kann. Hier fällt die Antwort meines Erachtens negativ aus. Aber zunächst wäre es wohl dennoch besser, den simplen Reliabilismus als eine Position zur prima-facie-Rechtfertigung zu verstehen – und dies will ich im Folgenden auch tun. Betrachten wir wieder den Fall der Wahrnehmung. Ein wichtiges Merkmal des simplen Reliabilismus ist es, dass das Auftreten von Wahrnehmungszuständen – im Sinne von mentalen Zuständen, die typischerweise bewusst sind – völlig irrelevant ist. Es spielt grundsätzlich keine Rolle, ob im Verlauf des Wahrnehmungsprozesses ein Wahrnehmungszustand vorkommt oder nicht. Es spielt nicht einmal eine Rolle, ob Zustände mit intentionalem (repräsentationalem) Inhalt vorkommen oder nicht.4 Das einzig Entscheidende ist, ob der Prozess als ganzer zuverlässig ist oder nicht. Wie die Zuverlässigkeit bewerkstelligt wird, ist irrelevant. Und über welche Zustände oder Teilprozesse der Gesamtprozess ‚realisiert‘ wird, ist irrelevant. Für die Rechtfertigung ist lediglich die Zuverlässigkeit des erzeugenden Prozesses notwendig.

4

Sogar Sinnesdaten-Zustände könnten vorkommen und ausreichen – solange eben die Zuverlässigkeit gewährleistet wäre. Der simple Reliabilismus bietet im Prinzip für den Sinnesdatentheoretiker die Möglichkeit, Erkenntnis über die Außenwelt auch mittels nichtintentionaler Sinnesdatenzustände zu erklären.

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Drei Probleme für den simplen Reliabilismus: Für den simplen Reliabilismus ergeben sich drei zentrale Problemfelder: die Problematik der inferenziellen Rechtfertigung, die Problematik der Gründe und Gegengründe und die Problematik internalistischer Intuitionen in bestimmten Fällen. Weitere Probleme stehen auch noch an, z.B. solche, die sich bei einer genaueren Formulierung der Zuverlässigkeit ergeben, aber wir wollen uns im Folgenden einmal auf die zunächst genannten drei Problemfelder beschränken. Ein erstes Problem für den simplen Reliabilismus liefert die inferenzielle Rechtfertigung, d.h. die Rechtfertigung einer Meinung durch eine andere, gerechtfertigte Meinung. Die Grundidee des simplen Reliabilismus für diesen Fall dürfte naheliegenderweise so lauten: Der inferenzielle Prozess, der von der Ausgangsmeinung zu der betreffenden Meinung führt, muss konditional zuverlässig sein. Das bedeutet, dass die betreffende Meinung wahrscheinlich wahr sein muss, gegeben dass die Ausgangsmeinung wahr ist. Bei einer deduktiven Inferenz garantiert die Wahrheit der Ausgangsmeinung die Wahrheit der betreffenden Meinung. Bei nichtdeduktiven, aber trotzdem guten Inferenzen macht die Wahrheit der Ausgangsmeinung die Wahrheit der betreffenden Meinung zumindest wahrscheinlich. Der inferenzielle Prozess ist in diesem Sinne konditional zuverlässig. Fraglich ist jedoch, ob dies für eine inferenzielle Rechtfertigung ausreicht. Es wird gänzlich davon abgesehen, ob die Person irgendein Erfassen oder Verstehen der Inferenz und/oder der Ausgangsmeinung leistet oder nicht. Das einzig Relevante ist nach dem simplen Reliabilismus die konditionale Zuverlässigkeit. Die konditionale Zuverlässigkeit ist sicherlich etwas für das Epistemische Relevantes und etwas epistemisch Wertvolles. Aber dies bedeutet noch lange nicht, dass sie für Rechtfertigung hinreichend ist. Man kann im Gegenteil eher zu der Intuition neigen, dass irgendeine Art von Erfassen oder Verstehen für Rechtfertigung notwendig ist. Vielleicht lässt sich dies am ehesten als ein Problem mit der Stützungsbedingung (ii) einordnen: Sowohl die Ausgangsmeinung als auch die Inferenz von ihr zur betreffenden Meinung können laut simplem Reliabilismus völlig unbewusst sein; die Person muss keinerlei introspektiven oder unmittelbaren Zugang zu ihnen besitzen; sie müssen lediglich kausal wirksam sein, und es muss eben die Zuverlässigkeit gewährleistet sein.

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Aber reicht dies aus, um davon sprechen zu können, dass die Person ihre Meinung auf ihren Grund stützt? Muss dazu die Person nicht diesen Grund in irgendeinem interessanten Sinne erfassen oder verstehen können? – Meine Intuition ist hier zugegebenermaßen nicht ganz eindeutig, aber ich neige eher zu einer positiven Antwort: Für Rechtfertigung ist es erforderlich, dass die Person den Grund, auf den sie ihre Meinung stützt, auch irgendwie erfassen oder verstehen kann. Wenn sowohl die rechtfertigende Ausgangsmeinung als auch der inferenzielle Prozess (und auch der Prozess, der zur Ausgangsmeinung geführt hat) dem Bewusstsein der Person gänzlich unzugänglich sind, wie es der simple Reliabilist erlaubt, dann mag man zwar davon sprechen, dass die Person einen ‚Grund hat‘ (obwohl man auch das schon kritisieren könnte), aber nicht davon, dass sie die betreffende Meinung auf diesen Grund stützt.5 Meine Diagnose hierzu lautet: Das Problem ist darauf zurückzuführen, dass der simple Reliabilismus den Prozess-Ansatz verfolgt. Prozesse als Gründe müssen eben nicht von der Person erfassbar oder verstehbar sein, und sie sind es de facto größtenteils nicht. Es liegt an diesem Grundansatz, dass der simple Reliabilismus sich hier ein Problem einhandelt. Ich werde im Folgenden kein größeres Gewicht auf dieses erste Problem für den simplen Reliabilismus legen. Die beiden weiteren Probleme sollen vielmehr im Zentrum stehen. Sie haben nichts mit der Stützungsbeziehung zu tun, sondern betreffen direkt das, was gute Gründe auszeichnet. Ein zweiter und gravierenderer Problembereich ist die Thematik der Gegengründe (auch ‚Anfechtungsgründe‘ genannt). Angenommen, die Person S hat eine zuverlässig erworbene Meinung, dass p. Sie ist nach dem simplen Reliabilismus gerechtfertigt, zumindest prima facie. Nun kommt S in den Besitz eines guten Gegengrundes. Dann möchte man sagen, dass die prima-facie-Rechtfertigung für die Meinung aufgehoben wird. Dies möchte auch der simple Reliabilist sagen, und er tut es. Aber die Frage ist, ob es im Rahmen des simplen Reliabilismus irgendwie verständlich zu machen ist, dass eine prima-facie-Rechtfertigung durch einen Gegengrund aufgehoben werden kann. Wie soll dies geschehen? Wenn der Prozess tatsächlich zuverlässig war – und das haben wir hier einmal angenommen –, dann kann diese Zuverlässigkeit ja nicht durch einen Gegengrund (was auch 5

Man beachte, dass die Bedingung des Verstehens oder Erfassens nicht mit der Bedingung des Gründe-angeben-Könnens zu verwechseln ist.

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immer für ein Gegengrund das sein mag) beseitigt werden. Sie lag ja vor, und die betreffende Meinung war tatsächlich wahrscheinlich wahr. Daran kann sich durch das Auftreten eines Gegengrundes nichts mehr ändern. Warum also sollte die prima-facie-Rechtfertigung aufgehoben werden? Es ist nicht einzusehen, wie der Status der prima-facie-Rechtfertigung durch einen Gegengrund beseitigt werden könnte. Die Behauptung des simplen Reliabilisten, dass die prima-facie-Rechtfertigung durch den Gegengrund beseitigt wird, ist und bleibt eine bloße Behauptung, die sich nicht in dessen Grundbild einfügen lässt. Ein drittes Problemfeld stellen internalistische Intuitionen dar. Damit sind Intuitionen gemeint, die mögliche (oder tatsächliche) Fälle betreffen und die typischerweise von Internalisten gegen Externalisten ins Feld geführt werden. Ein erster Fall dieser Art ist der Fall des Hellsehers Norman von Laurence BonJour. Ein zweiter Fall ist der Fall eines Subjekts in einer Dämon-Welt, das permanent irregeführt wird und fast nur falsche Überzeugungen besitzt. Norman ist der Fall einer Person, die von einem bestimmten Zeitpunkt t an mit einer Hellseher-Fähigkeit ausgestattet wird, ohne dass er dies bemerkt.6 Es kommen in Norman ab t einfach bestimmte Meinungen auf – z.B. die Meinung, dass sich der Präsident gerade in Paris befindet –, die fast alle wahr sind. Normans Hellseher-Fähigkeit ist de facto zuverlässig. Norman selbst hat keine Meinung über seine Hellseher-Fähigkeit, nur die Meinungen, die von dieser Fähigkeit geliefert werden. Sind diese Meinungen nun gerechtfertigt? BonJour äußert die Intuition, dass keine Rechtfertigung vorliegt, und viele teilen diese Ansicht. Es scheint intuitiv ‚etwas zu fehlen‘. Was genau, ist vielleicht schwieriger zu sagen. Aber dass etwas zu fehlen scheint, ist intuitiv nachvollziehbar. Der allgemeine Punkt des Beispiels wäre dann: Zuverlässige Genese ist nicht hinreichend für Rechtfertigung. Dass zuverlässige Genese auch nicht notwendig für Rechtfertigung ist, soll das zweite Beispiel internalistischer Intuitionen zeigen: der Fall eines Subjekts, das von einem Dämon permanent irregeführt wird. Ein solches Subjekt befindet sich in einer permanenten und fast durchgängigen Täuschung über seine Umgebung. Es glaubt, vor einem Kaminfeuer zu sitzen, 6

Der Fall stammt aus BonJour (1985), Kap. 3, p. 41.

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weil der Dämon ihm entsprechende Sinneseindrücke einverleibt, aber tatsächlich ist es nicht so. Usw. Dennoch glauben viele, dass die Überzeugungen eines solchen Subjekts gerechtfertigt sind – auch wenn sie nicht durch einen zuverlässigen Prozess zustande gekommen sind. Ergo ist die Zuverlässigkeit des meinungsbildenden Prozesses nicht notwendig. Eine Diagnose bietet sich hier an. Sowohl der Fall Norman als auch der Dämon-Fall können mit der Thematik der Gründe in Verbindung gebracht werden, und zwar auf folgende Weise. Norman fehlt (intuitv) ein Grund für seine Hellsehermeinungen. Das Subjekt in der Dämon-Welt hat dagegen (intuitiv) einen Grund für seine Überzeugungen. Daher ist Norman nicht gerechtfertigt, das getäuschte Subjekt in der Dämon-Welt aber schon. Wenn der simple Reliabilist nun entgegnet, dass dem nicht so sei, weil Norman doch einen zuverlässigen Prozess als Grund hat, während das Subjekt in der Dämon-Welt keinen zuverlässigen Prozess als Grund hat, dann ist dies intuitiv wenig überzeugend. Denn was diese Fälle zeigen – so kann man dies jedenfalls interpretieren –, ist, dass unsere grundlegenden Intuitionen über Gründe diktieren, dass ein zuverlässiger Prozess allein eben noch nicht für einen guten Grund ausreicht. In dem Sinne, in dem gute Gründe für Rechtfertigung sorgen, liegen hier eben keine guten Gründe vor. Hier haben wir es also mit drei Problemfeldern für den simplen Reliabilismus zu tun, die insgesamt ein ungünstiges Licht auf diese Position werfen. Was Gründe und Gegengründe betrifft, schneidet der simple Reliabilismus einfach schlecht ab. Zuverlässige Prozesse als gute Gründe zu bezeichnen, trägt nicht weit, weil ganz zentrale Intuitionen darüber, was (gute) Gründe sind, nicht respektiert werden können. Es wäre daher wünschenswert, eine attraktivere Version des externalistischen Fundamentalismus zu entwickeln. Genau dies soll der evidenzielle Reliabilismus sein.

4. Der evidenzielle Reliabilismus Der evidenzielle Reliabilismus folgt dem Zustands-Ansatz. Als Gründe zählen nicht Prozesse, sondern mentale Zustände. Einen guten Grund für seine Meinung zu haben, erfordert also, sich in einem geeigneten mentalen

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Zustand zu befinden. Sowohl Meinungen als auch Wahrnehmungen (und noch andere mentale Zustände) kommen als gute Gründe in Frage. Zudem ist für den evidenziellen Reliabilismus ein evidenzielles Moment und ein reliabilistisches Moment wesentlich. Ein Grund wird dadurch zu einem guten Grund für eine Meinung, dass er einen geeigneten intentionalen Gehalt aufweist; er ist eine ‚Evidenz‘ für das Subjekt.7 Gründe, so verstanden als mentale Zustände mit intentionalem Gehalt, gehören zur Perspektive, die das Subjekt auf die Welt hat. Sie sind etwas ‚für das Subjekt‘.8 Was sie zu guten Gründen macht, ist, dass sie auch wirklich für die betreffende Meinung sprechen. Dazu gehören zwei Bedingungen: Erstens muss eine geeignete quasi-inferenzielle Beziehung zwischen dem Gehalt des Grundes und dem Gehalt der auf ihn gestützten Meinung vorliegen; die Gehalte müssen ‚zueinander passen‘. Und zweitens muss der Grund auch seinerseits adäquat sein. Dies stellt ein reliabilistisches Moment dar. Zur ersten Bedingung, der quasi-inferenziellen Beziehung. Die Gehalte von Grund und Meinung müssen ‚zueinander passen‘. Drastisch ausgedrückt: Man kann eine Meinung über die Mondphase nicht auf eine Wahrnehmung von Äpfeln auf dem Baum stützen. Es muss einen geeigneten inhaltlichen Zusammenhang geben.9 Eine naheliegende Präzisierung dieser Grundidee liefert die Annahme einer konditionalen Erfüllung: (1)

Wenn der Gehalt des Grundes erfüllt ist, dann ist die auf ihn gestützte Meinung wahrscheinlich wahr.

Im Fall der Rechtfertigung durch Wahrnehmung muss demnach die Erfüllung des Gehalts des Wahrnehmungszustandes die Wahrheit der Meinung wahrscheinlich wahr machen. Wenn Daniel beispielsweise glaubt, dass da Tomaten vor ihm auf dem Tisch liegen, weil er eine entsprechende Wahrnehmung wie von roten Tomaten als auf dem Tisch liegend hat, dann muss 7

Mit Evidenz ist dabei nicht Selbstevidenz (das aus sich selbst heraus Einleuchten) gemeint. 8 Vergleiche dazu die erhellenden Ausführungen von Tim Crane über den Zusammenhang zwischen Intentionalität und subjektiver Perspektive in Crane (2001). 9 Ich spreche von ‚quasi-inferenziell‘, um deutlich zu machen, dass es nicht eine Meinung sein muss, die als Grund fungiert, sondern eben auch z.B. eine Wahrnehmung. Es kann für die gegenwärtigen Zwecke offengelassen werden, ob Wahrnehmungen nur begrifflichen oder auch nichtbegrifflichen Gehalt aufweisen.

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gelten: Wenn der Gehalt der Wahrnehmung (wie von roten Tomaten als auf dem Tisch liegend) erfüllt ist, dann ist auch die Meinung (dass da rote Tomaten auf dem Tisch liegen) wahrscheinlich wahr. Und das scheint intuitiv durchaus gewährleistet zu sein – zumindest wenn alles glatt läuft und normale Bedingungen vorliegen.10 Der Gehalt von Wahrnehmungszuständen könnte propositional sein oder ein Eigenschafts-Gehalt (oder beides). Ist er propositional (womit lediglich gemeint ist, dass er eine vollständige Korrektheitsbedingung festlegt, die wahrheitsevaluierbar ist), dann ist die Erfüllung des Wahrnehmungsgehalt ganz geradlinig als Erfüllung der Korrektheitsbedingung zu verstehen. Handelt es sich um einen Eigenschafts-Gehalt (womit gemeint ist, dass der Wahrnehmungszustand Eigenschaften repräsentiert), dann ist die Erfüllung als eine Instanziierung der betreffenden Eigenschaft(en) zu verstehen (d.h. als Existenz einer Instanz). Die Wahrnehmung einer roten Tomato repräsentiert beispielsweise die Eigenschaft Hellrot27 (ein ganz bestimmter RotFarbton).11 Angenommen jemand glaubt aufgrund einer solchen Wahrnehmung, dass da etwas Rotes ist, dann wäre die konditionale Erfüllung so zu verstehen: Wenn eine Instanz der Eigenschaft Hellrot27 vorliegt, dann ist es wahrscheinlich wahr, dass da etwas Rotes ist.12

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Der Konditional in (1) dürfte wohl kein bloßer materialer Konditional sein, sondern auch eine kontrafaktische Dimension aufweisen. Davon hängt im Folgenden aber nichts ab, soweit ich sehen kann. 11 Dies ist sicherlich nur ein Teil des insgesamt in der Regel sehr reichhaltigen Gehalts von Wahrnehmungszuständen. Der Einfachheit halber sei einmal nur dieser Teil betrachtet. Die Repräsentation räumlicher Merkmale – insbesondere egozentrischer wie ‚vor mir‘ – birgt zusätzliche Komplikationen, von denen hier abgesehen werden soll. 12 In diesem Fall dürfte die Beziehung eine Erzwingung (Wahrheitsgarantie) sein. In anderen Fällen ist sie weniger stark, nämlich dann, wenn ein ‚echter Übergang‘ stattfindet, wie beispielsweise von der Wahrnehmung einer ganz bestimmten geometrischen Form zu der Meinung, dass da ein Kastanienblatt liegt. Hier lässt sich der allgemeine Punkt notieren: Es hängt von der Beschaffenheit der Welt ab, ob solche Übergänge wahrscheinlich wahr sind oder nicht. Wenn in der Welt viele Regelmäßigkeiten vorliegen, etwa in Form von natürlichen Arten, dann können solche Übergänge oft zuverlässig sein, wie Hilary Kornblith sehr schön am Fall der Induktion aufgezeigt hat (vgl. Kornblith 1995).

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Zur zweiten Bedingung. Der stützende Grund muss adäquat sein. Dies ist ein reliabilistisches Element im evidenziellen Reliabilismus.13 Eine bloße Imagination (‚Vorstellung‘) einer roten Tomate wäre beispielsweise kein adäquater Grund für Daniels Meinung, dass da roten Tomaten auf dem Tisch liegen. (Es könnte sein, dass eine solche Imagination im Wesentlichen denselben Gehalt wie Daniels Wahrnehmung und daher dieselbe quasi-inferenzielle Beziehung zu seiner Meinung aufweist.14) Sie steht einfach in keiner geeigneten Beziehung zu den Tatsachen, um die es hier geht. Im Unterschied dazu können Wahrnehmungszustände adäquate Gründe sein, weil sie selbst sehr zuverlässig sind. Es kommt nur sehr selten und unter speziellen Umständen dazu, dass Wahrnehmungen inkorrekt sind.15 Die Adäquatheit des Grundes umfasst somit ein reliabilistisches Moment. Zusammenfassend können wir die Position des evidenziellen Reliabilismus folgendermaßen formulieren: (ER) Die Meinung, dass p, der Person S ist prima facie gerechtfertigt genau dann, wenn (i) S einen Grund G für ihre Meinung, dass p, hat und (ii) S ihre Meinung, dass p, auf G stützt und (iii) der Gehalt von G in einer geeigneten quasi-inferenziellen Beziehung zum Gehalt der Meinung steht und G adäquat ist. Die Bedingung (iii) kann dann noch weiter ausbuchstabiert werden als

13

Nicht das einzige. Das konditionale Wahrscheinlich-wahr-Machen kann auch als reliabilistisch angesehen werden. 14 Vergleiche z.B. McGinns Ausführungen über Imagination in McGinn (2004). 15 Die Wahrnehmung ist im Grund die zuverlässigste Kognition, die wir haben, scheint mir. Und dies, obwohl es Fälle von sog. ‚normaler Illusion‘ gibt, wie z.B. der ins Wasser getauchte Stab, der gekrümmt erscheint. Das ändert nichts daran, dass unsere Wahrnehmung normalerweise extrem zuverlässig ist. Ansonsten würde niemand auf Autobahnen fahren. – Es ist zu überlegen, ob Wahrnehmung nicht sogar als Wissen aufzufassen ist (selbst wenn sie nichtbegrifflichen Gehalt aufweist und keine Überzeugung ist oder impliziert). Wahrnehmungszustände scheinen nämlich die Bedingung der Sicherheit (‚safety’) gut zu erfüllen. Dies müsste jedoch separat erörtert werden, was ich demnächst einmal versuchen möchte.

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(iii’) der Gehalt von G die Wahrheit von p konditional wahrscheinlich macht und G zuverlässig zustande gekommen ist. Die Bedingung (iii’) garantiert insgesamt die Wahrheitszuträglichkeit der Rechtfertigung. Und an ihr liegt es auch, dass letztlich ein Externalismus vorliegt. Denn die Adäquatheit des Grundes muss dem Subjekt weder zugänglich sein noch muss sie auf den psychischen Zuständen supervenieren. (D.h. die Adäquatheit schließt sowohl den Zugangs-Internalismus wie den Supervenienz-Internalismus aus.)16 Eine Bemerkung ist noch angebracht. Die Forderung nach dem Haben eines guten Grundes ist nicht zu verwechseln mit der Forderung nach dem Angeben-Können eines guten Grundes. Manche Erkenntnistheoretiker denken, dass man in der Lage sein muss, einen guten Grund anzugeben, um eine gerechtfertigte Überzeugung zu haben.17 Dies geht meines Erachtens zu weit, und es orientiert sich zu stark an einer dialektischen Konzeption von Gründen und Rechtfertigung. Der evidenzielle Reliabilismus umfasst jedenfalls keine solche Forderung des Angeben-Könnens. Einen Grund zu haben und seine Meinung darauf zu stützen, ist eine Sache; einen Grund angeben zu können, ist eine andere Sache. Dass das eine das andere impliziert, müsste erst noch gezeigt werden. Und mir scheint, dass es dafür kein gutes Argument gibt. Aus dem Begriff des Grundes kann man es meines Erachtens nicht ableiten. Evidenzieller Reliabilismus und Gegengründe: Der evidenzielle Reliabilismus kann mit der Thematik der Gründe und Gegengründe besser als der simple Reliabilismus und insgesamt sehr zu16

Vergleiche Feldman (2005). Obwohl Feldman den Supervenienz-Internalismus verteidigt, gibt er zu, dass er einfach annimmt, dass die Adäquatheit nicht von Externem abhängt – aber dafür fehlt jedes Argument (vgl. Feldman 2005, p. 281). – Bergmann nennt den Supervenienz-Internalismus auch ‚mentalism‘ (Bergmann 2006, p. vii). 17 Vergleiche z.B. Rosenberg (2002), Ch. 3, p. 114: „And if, as seems plausible, S’s having reasons for her blief requires that S be capable of giving such reasons (when appropriate), and so capable of showing her belief to be reasonable or credible, then ...“ (Hervorh. i.O.) Das scheint mir nicht plausibel, und Rosenberg gibt kein weiteres Argument dafür an.

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friedenstellend umgehen. Gegengründe lassen sich im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus gut verstehen. Ich gehe hier davon aus, dass Gründe und Gegengründe mentale Zustände sind, die einen intentionalen Gehalt aufweisen. (Sie müssen nicht bewusst sein, aber sind als mentale Zustände dem Bewusstsein zumindest im Prinzip direkt zugänglich.) Der evidenzielle Reliabilismus fordert nun, dass ein guter Grund ein evidenzielles Moment aufweisen muss: Der Gehalt eines Grundes G muss in einer geeigneten quasi-inferenziellen Beziehung zum Gehalt der auf G gestützten Meinung stehen. Dies lässt sich als konditionales Wahrscheinlich-wahr-Machen verstehen: Wenn der Gehalt von G erfüllt ist, ist auch die betreffende Meinung wahrscheinlich wahr. Gegengründe sind mentale Zustände, die die Rechtfertigung beseitigen.18 Im wichtigsten Fall tritt ein Gegengrund zu einem bestimmten Zeitpunkt t auf. Nehmen wir z.B. eine Meinung, dass q, die zum Zeitpunkt t neu erworben wird. Diese neue Meinung beseitigt die Rechtfertigung der Meinung, dass p, die bis zum Zeitpunkt t bestand. Ab t ist die Meinung, dass p, nicht mehr gerechtfertigt. Pollock (1986) folgend können wir zwischen gegenlautenden Gegengründen (‚rebutting defeaters’) und untergrabenden Gegengründen (‚undercutting defeaters’) unterscheiden. Diese beiden Arten von Gegengründen operieren deutlich verschieden. Aber beide lassen sich im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus gut verständlich machen, wie ich meine. Betrachten wir zunächst gegenlautende Gegengründe. Ein gegenlautender Gegengrund spricht einfach für die Negation der betreffenden Proposition (dass p). Nach der vorgeschlagenen Analyse macht er es also konditional wahrscheinlich wahr, dass non-p. (Der Grund macht es konditional wahrscheinlich wahr, dass p.) Die Gehalte von Grund und Gegengrund müssen nun zusammengenommen werden. Und dann liegt insgesamt eben kein guter Grund mehr für die Meinung, dass p, vor. Denn die Erfüllung von Grund und Gegengrund zusammengenommen macht es i.A. nicht mehr wahrscheinlich wahr, dass p. Somit beseitigt das Hinzutreten des Gegengrundes die Rechtfertigung, die der Grund liefern konnte, solange der Gegengrund noch nicht vorhanden war. Dies ergibt Sinn: Grund und 18

Man könnte mit Bergmann von ‚mental state defeaters‘ sprechen, im Unterschied zu ‚propositional defeaters‘. Vergleiche die ausgezeichneten Ausführungen von Bergmann zur Thematik der Gegengründe in Bergmann (2006), Ch. 6.

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Gegengrund ‚wirken zusammen‘, wie man sagen könnte. Ob eine Meinung gerechtfertigt ist, hängt von der Gesamt-Evidenz ab, über die eine Person verfügt.19 Betrachten wir nun untergrabende Gegengründe. Sie sind eigentlich immer Meinungen, und zwar Meinungen, die die Zuverlässigkeit der Quelle betreffen, auf die man sich selbst für eine andere Meinung stützt. Grob gesprochen ist die grundlegende Intuition hier der Gedanke, dass eine Person, die selbst von der Unzuverlässigkeit einer Quelle überzeugt ist, in ihrer Meinung, die sie auf diese Quelle stützt, nicht mehr gerechtfertigt ist. Angenommen, Paul hört ein Bellen wie von einem Hund und benutzt seine auditorische Sinneswahrnehmung als Quelle für seine Meinung, dass ein Hund in der Nähe ist, und die Bedingungen sind normal. Dann ist Pauls Meinung gerechtfertigt, können wir sagen. Nun kommt Paul zum Zeitpunkt t – auf welche Weise auch immer – zu der (falschen) Überzeugung, dass er ein Gehirn im Tank ist. Von da ab scheint seine Meinung (intuitiv beurteilt) nicht mehr gerechtfertigt zu sein. Das Auftreten der neuen Überzeugung, dass er ein Gehirn im Tank ist, beseitigt die Rechtfertigung. Sie ist ein untergrabender Gegengrund. Der evidenzielle Reliabilismus kann diese Intuition über untergrabende Gegengründe respektieren und gut verständlich machen. Der Gegengrund weist nämlich einen bestimmten Gehalt auf. Und dieser Gehalt muss nun mit dem Gehalt des Grundes zusammengenommen werden. Beide zusammengenommen erfüllen dann aber die Bedingung des Wahrscheinlichwahr-Machens nicht mehr; es liegt nicht mehr eine geeignete quasiinferenzielle Beziehung zum Gehalt der zu stützenden Meinung vor. Es ist nicht ganz so leicht, den Gehalt des untergrabenden Grundes präzise anzugeben. Aber es dürfte sich im Wesentlichen um folgenden Gehalt handeln: (2)

E ist ein unzuverlässiger Indikator für die Wahrheit von p.

(Dabei steht ‚E’ für den Gehalt des Grundes G, auf den die Person ihre Meinung, dass p, stützt.) Dies ist der Kern des Gehalts eines untergraben19

Es gilt hier eine Art ‚Prinzip der totalen Evidenz‘, wie es auch bei Hempel und Carnap Erwähnung findet. Vergleiche auch Williamson (2000), pp. 189-190.

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den Grundes. In unserem Beispiel lautete der Gehalt des Gegengrundes von Paul also: (3)

Mein Wahrnehmungsgehalt ist ein unzuverlässiger Indikator für die Wahrheit der Proposition, dass sich ein Hund in meiner Nähe befindet.

(Die Komponente ‚mein Wahrnehmungsgehalt‘ in dieser Meinung kann man sich hier als indexikalisch denken.) Wenn Paul also eine Wahrnehmung wie vom Bellen eines Hundes hat und außerdem die Überzeugung (3), dann macht es der Gesamtgehalt nicht mehr wahrscheinlich wahr, dass ein Hund in der Nähe ist. Denn zum Gesamtgehalt, der hier relevant ist, gehört es eben auch, dass das, was die Wahrnehmung suggeriert, wahrscheinlich nicht der Fall ist. Das ist es, was der Glaube an die Unzuverlässigkeit der Quelle im Kern beinhaltet. Die quasi-inferenzielle Beziehung zwischen Grund – und das heißt nun: der Gesamtzustand, der Wahrnehmungszustand und Gegengrund umfasst – und zu stützender Meinung ist somit nicht mehr so beschaffen, dass diese Meinung gerechfertigt ist. Die Person hat insgesamt keinen guten Grund mehr für ihre Meinung, und ihre Meinung ist somit nicht mehr gerechtfertigt. Wie schon im Fall der gegenlautenden Gegengründe ist auch hier die Gesamt-Evidenz des Subjekts entscheidend. Gegengründe können somit im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus erklärt werden. Sie ‚funktionieren‘ über das Zusammenkommen oder Zusammenspiel mehrerer intentionaler Gehalte. Weil der evidenzielle Reliabilismus die Rechtfertigung an eine quasi-inferenzielle Beziehung zwischen dem Grund und der zu stützenden Meinung knüpft – und damit überhaupt erst die intentionalen Gehalte ins Spiel bringt –, kann er verständlich machen, wie das Auftreten eines weiteren mentalen Zustands (des Gegengrundes) dazu führen kann, dass die vorher bestehende Beziehung aufgehoben wird. Im Unterschied dazu konnte der simple Reliabilismus die Gegengründe nicht verständlich machen. Dies lag einfach daran, dass das Auftreten eines mentalen Zustandes (des Gegengrundes) an dem Faktum der zuverlässigen Erzeugung der betreffenden Meinung nichts ändern konnte. Wenn der Prozess zuverlässig war, dann war er es immer noch, egal zu welcher sonstigen Meinung die Person gekommen war. Nur

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wenn die Rechtfertigung an die intentionalen Gehalte geknüpft wird, besteht eine Chance, die Funktionsweise von Gegengründen zu verstehen. Evidenzieller Reliabilismus und internalistische Intuitionen: Der evidenzielle Reliabilismus kann mit den oben erwähnten internalistischen Intuitionen besser umgehen als der simple Reliabilismus – und sogar insgesamt recht gut. Dies liegt daran, dass Gründe nun eben als mentale Zustände mit intentionalem Gehalt aufgefasst werden (und nicht als Prozesse). Im Fall von Norman dem Hellseher fehlt einfach ein Grund. Norman hat keinen Grund für seine Hellseher-Meinungen. Es findet in ihm zwar ein zuverlässiger Prozess statt, aber es gibt keinen mentalen Zustand, auf den Norman seine Meinung stützt. Es fehlt Norman ein mentaler Zustand als Grund, der in einer geeigneten quasi-inferenziellen Beziehung zu seiner Meinung steht. Dies erklärt, warum wir geneigt sind, ihm Rechtfertigung abzusprechen. So kann der evidenzielle Reliabilismus die internalistische Intuition in diesem Fall respektieren und erklären.20 Im Fall des Subjekts in der Dämon-Welt ist die Lage etwas komplizierter. Hier muss man letztlich darauf beharren, dass das Subjekt – nennen wir es ‚Helga‘ – nicht gerechtfertigt ist. Dies muss man jedenfalls, wenn man an einem Externalismus festhalten möchte. Aber man kann dennoch den Eindruck, dass Helga ‚fast‘ gerechtfertigt ist, ein gutes Stück weit erklären. Dann Helga stützt ihre Meinungen immerhin auf Gründe. Sie hat z.B. Wahrnehmungszustände wie von einem Kaminfeuer vor ihr und glaubt deshalb, dass sie vor einem Kaminfeuer sitzt. Sie stützt also ihre Meinung auf einen Grund. Die geeignete semantische Beziehung zwischen Wahrnehmungszustand und Meinung liegt auch vor. Lediglich ein Element fehlt: die Adäquatheit des Grundes. Ihr Wahrnehmungszustand ist kein guter Grund, da er auf höchst unzuverlässige Weise zustande gekommen ist. An dieser Inadäquatheit des Grundes muss der Externalist hier festhalten. 20

Eine Variante von Norman wäre Norma: Im Unterschied zu Norman hat Norma Hellseher-Intuitionen – quasi Visionen –, auf die sie ihre Meinungen stützt. Norma kann dann intuitiv als gerechtfertigt angesehen werden.

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Ein weiterer Punkt kann hier noch angefügt werden. Da – nach Konstruktion des Falles – Helga keinerlei Grund hat, an der Zuverlässigkeit ihrer Wahrnehmung zu zweifeln, glaubt sie auch an die Adäquatheit ihrer Wahrnehmung – wie wir ohne weitere Einschränkung jedenfalls annehmen können. Aus ihrer Sicht ist also auch die Adäquatheitsbedingung erfüllt. Wir können sagen, dass eine ‚subjektivierte Version‘ der Adäquatheitsbedingung gegeben ist. Um zu dem Ergebnis zu kommen, dass Helgas Meinung gerechtfertigt ist, muss man nun lediglich die objektive Version der Adäquatheitsbedingung durch deren subjektivierte Version ersetzen – alles andere ist ja schon gegeben. Dies ist fast das einzige, was man für eine Wende zum Supervenienz-internalistischen Diktum noch tun muss.21 (Auf den Zugangs-Internalismus komme ich gleich noch zu sprechen.) Streng betrachtet handelt es sich bei dieser Wende um einen Ebenenspruch. Aber ein solcher Ebenensprung kann relativ leicht vollzogen werden. Und der Unterschied zwischen Externalismus und (Supervenienz-)Internalismus kann nun genau an diesem Punkt lokalisiert werden: Wo der Externalist an einer objektiven Zuverlässigkeit festhält, will der Internalist eine subjektivierte Bedingung einsetzen. Es ist also weder der Besitz von Gründen noch die Stützung von Meinungen auf Gründe, die den entscheidenden Unterschied zwischen Externalismus und Internalismus markiert. Der Unterschied liegt vielmehr im Verständnis der Adäquatheit von Gründen: Erfordert die Adäquatheit eine objektive Zuverlässigkeit oder eine Zuverlässigkeit aus Sicht des Subjekts? Der evidenzielle Reliabilist votiert für objektive Zuverlässigkeit. Damit ist der Supervenienz-Internalismus ausgeschlossen, denn Subjekte mit gleichen mentalen Zuständen können dann in puncto objektive Zuverlässigkeit differieren und somit auch in puncto Rechtfertigung. (Was den Zugangs-Internalismus betrifft, ist die Sachlage etwas komplizierter. Die Grundformel des Zugangs-Internalismus lautet: Das Subjekt muss einen besonderen Zugang zu den rechtfertigenden Faktoren besitzen. Unterschiedliche Versionen ergeben sich daraus, welche rechtfertigenden Faktoren man wählt und wie man den besonderen Zugang versteht. Wenn der rechtfertigende Faktor lediglich ein Grund ist und ein Grund als ein 21

Fast, nicht ganz. Man muss auch noch dafür sorgen, dass die quasi-inferenzielle Beziehung zwischen Grund und Meinung nicht von Umweltbedingungen abhängt. Auch an dieser Stelle kann die extra-mentale Welt relevant werden.

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mentaler Zustand aufgefasst wird, dann handelt es sich gar nicht um einen interessanten Zugangs-Internalismus. Denn man könnte plausiblerweise davon ausgehen, dass mentale Zustände dem Subjekt immer auf besondere, unmittelbare Weise zugänglich sind. Ein interessanter Internalismus ergibt sich erst, wenn man den Zugang stärker denkt oder die rechtfertigenden Faktoren umfassender ansetzt oder beides. Insbesondere wenn die Adäquatheit des Grundes zu den rechtfertigenden Faktoren gezählt wird, dann ist sie i.A. dem Subjekt nicht in besonderer Weise zugänglich. Dann schließt der evidenzielle Reliabilismus auch den Zugangs-Internalismus aus.) Weitere interessante Fälle und Bewusstsein: Es gibt eine Reihe von weiteren Fällen, die interessante Aspekte und insbesondere eine Verbindung zum Phänomen Bewusstsein zum Vorschein bringen. Dazu gehören insbesondere Fälle von Blindsicht und Superblindsicht. Bei Blindsicht verfügt die Person über visuelle Information, hat aber nach eigener Auskunft kein entsprechendes visuelles Erlebnis. Allerdings ist typischerweise die Zuverlässigkeit der visuellen Information im Vergleich zum normalen, nicht-blindsichtigen Sehen deutlich reduziert. Letzteres ist bei Superblindsicht nicht der Fall. Die Superblindsicht, die Ned Block so definiert hat und die empirisch bislang nicht nachgewiesen ist, ist somit ein Fall, in dem die Person ganz genauso zuverlässig über das Sehen Information aufnimmt wie eine normalsichtige Person, nur fehlt nach eigener Auskunft wiederum das zugehörige visuelle Erleben.22 Wie Blindsicht und Superblindsicht zu interpretieren sind, ist umstritten. Ich möchte für die gegenwärtige Diskussion einmal davon ausgehen, dass die Auskunft der Person zutreffend ist: sie hat tatsächlich kein entsprechenden visuelles Erlebnis. Dann sind Blindsicht und Superblindsicht Fälle von visueller Information ohne entsprechendes phänomenales Bewusstsein. Die entscheidenden Fragen lauten nun: Angenommen, eine Person bildet auf der Grundlage von visueller Wahrnehmung die Meinung, dass da eine horizontale Linie vor ihr ist. Ist diese Meinung gerechtfertigt, wenn die 22

Vergleiche Block (1995).

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Person blindsichtig ist? Ist sie gerechtfertigt, wenn sie superblindsichtig ist? Bei Blindsicht ist die Intuition meines Erachtens nicht völlig eindeutig, aber doch deutlich: Man zögert stark, der Person Rechtfertigung zuzusprechen. Irgendwie scheint es merkwürdig zu glauben, dass sich da eine horizontale Linie vor einem befindet, und dies direkt, auf der Grundlage von Wahrnehmung zu glauben (nicht etwa aufgrund eines theoretischen Schlusses, einer Hintergrundsannahme oder sonstwie indirekt), obwohl man gar kein entsprechendes visuelles Erlebnis wie von einer horizontalen Linie hat. Irgendetwas scheint hier ‚suboptimal‘ zu sein oder schief zu laufen. Vielleicht kann man es so betrachten: Die Stützungsbeziehung ist nicht gegeben, weil der Gehalt des visuellen Wahrnehmungszustandes nicht bewusst ist und nicht bewusst werden kann. Dass kein visuelles Erlebnis vorliegt, heißt, dass der relevante informationale (repräsentationale) perzeptuelle Zustand nicht bewusst ist.23 Und das scheint es mit sich zu bringen, dass die Person ihre Meinung gar nicht mehr in dem Sinne auf ihren Wahrnehmungszustand stützen kann, wie es für die Rechtfertigung erforderlich ist. (Das würde auch bedeuten, dass die Stützungsbeziehung nicht allein kausal sein kann.) Wir hatten ja schon bei der Diskussion des simplen Reliabilismus gesehen, dass die Stützung wahrscheinlich eine Art von Erfassen oder Verstehen des Grundes erfordert. Dies scheint sich hier zu bestätigen. Wenn derjenige Zustand, der der Grund sein soll, nicht bewusst ist und gar nicht direkt bewusst werden kann, wie es bei Blindsicht und Superblindsicht der Fall ist, dann bleibt auch das Erfassen oder Verstehen des Grundes aus, wie es für Rechtfertigung erforderlich ist. Dies wäre eine Erklärung für die Intuition, dass in diesen Fällen keine Rechtfertigung vorliegt. 23

Mit ‚bewusst‘ meine ich hier nicht, dass die Person sich diesen Zustand direkt (introspektiv) zuschreibt. Ich meine mit ‚Bewusstsein‘ hier einfach ein Merkmal intentionaler Zustände – eben das Merkmal, dass ein intentionaler Zustand bewusst ist. Sowohl Wahrnehmungszustände als auch Meinungen können bewusst oder nichtbewusst sein. Im Fall von Wahrnehmungszuständen ist das Bewusstsein das sog. phänomenale Bewusstsein. Bei Meinungen könnte man die entsprechenden bewussten Versionen – die manifesten oder okkurrenten Meinungen, wie man sagen könnte – als ‚Denkbewusstsein‘ bezeichnen. Ob das Denkbewusstsein dasselbe ist wie das phänomenale Bewusstsein, ist strittig. Anhänger der sog. konzeptuellen Qualia, wie z.B. Terry Horgan, behaupten es. Das kann im Moment offengelassen werden.

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Bei Superblindsicht scheint die Sache intuitiv vielleicht weniger eindeutig. Aber man muss hier vorsichtig sein. Die bloße Tatsache, dass das superblindsichtige Subjekt zuverlässiger (und normal zuverlässig) ist, sollte einen nicht dazu (ver)führen, seine Meinung als gerechtfertigt einzuschätzen – wenn ansonsten kein Unterschied vorliegt. Eine bloße Steigerung der Zuverlässigkeit kann hier nicht entscheidend sein. Schließlich ist Zuverlässigkeit ganz allgemein eine graduelle Angelegenheit, und man könnte dann höchstens davon sprechen, dass das superblindsichtige Subjekt mehr gerechtfertigt ist als das blindsichtige. Intuitiv scheint auch beim superblindsichtigen Subjekt etwas Merkwürdiges vorzuliegen. Auch hier scheint die betreffende Meinung vom Subjekt nicht auf einen Grund gestützt zu werden – jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem es in paradigmatischen Fällen von Rechtfertigung gegeben ist. 24 Es drängt sich die Diagnose auf: ohne Bewusstsein keine Rechtfertigung.25 Damit ein Grund eine Meinung rechtfertigen kann, muss er ein bewusster Zustand sein oder zumindest leicht und direkt ein bewusster Zustand werden können. Werden Meinungen durch Zustände hervorgerufen, die dem Bewusstsein prinzipiell unzugänglich sind, dann mögen die Prozesse noch so zuverlässig sein, es reicht nicht für Rechtfertigung aus. Bewusstsein würde demnach eine wichtige Rolle für die epistemische 24

Wie sieht es mit introspektiven Meinungen über die eigenen mentalen Zustände (sog. Selbstwissen) aus? Stellt dies ein Problem für den evidenziellen Reliabilismus dar, weil da ein geeigneter Grund fehlt? – Nein. Folgender Lösungsansatz ist möglich. Introspektive Meinungen über die eigenen gegenwärtigen mentalen Zustände sind auf indexikalische Gedanken mit dem Gehalt ‚Ich erlebe gerade dies‘ gestützt. Einen solchen Gedanken hat man, wenn man z.B. seinen Schmerz im Knie bemerkt. Der Grund für die introspektive Überzeugung, dass man einen Schmerz im Knie hat, ist nicht der Schmerz, sondern das Bemerken des Schmerzes. Dieses Bemerken besteht in einem indexikalischen Gedanken mit dem Gehalt ‚Ich erlebe gerade dies‘. Zwischen diesem indexikalischen Gedanken und der (nichtindexikalischen) introspektiven Überzeugung besteht plausiblerweise eine quasi-indexikalische Beziehung, und der indexikalische Gedanke ist adäquat. Somit können auch im Falle introspektiver Meinungen alle Bedingungen für Rechtfertigung im Rahmen des evidenziellen Reliabilismus erfüllt sein. – Diesen Lösungsansatz arbeite ich in Hofmann (2008) genauer aus. 25 Zu derselben Schlussfolgerung kommt neuerdings Dretske. Nach Dretske wird das phänomenale Bewusstsein vom Merkmal, ein guter Grund (‚justifying reason‘) sein zu können, konstituiert (vgl. Dretske 2006, pp. 170-171. Mir scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten: Dass ein Zustand ein bewusster Zustand ist, macht es aus, dass er ein guter Grund sein kann.

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Rechtfertigung spielen – eine Schlussfolgerung, die mir nicht unplausibel erscheint.26

Literatur Alston, W. (1989), “The Deontological Conception of Epistemic Justification”, in: W. Alston (Hg.), Epistemic Justification: Essays in the Theory of Knowledge, Ithaca/London, 115-152. Bergmann, M. (2006), Justification Without Awareness, Clarendon Press, Oxford. Block, N. (1995), On a confusion about a function of consciousness, Behavioral and Brain Sciences XVIII (1995), 227-287. BonJour, L. (1985), The Structure of Empirical Knowledge, Harvard University Press, Cambridge. Crane, T. (2001), Elements of Mind, Oxford University Press, Oxford Dancy, J. (2002), Practical Reality, Oxford University Press, Oxford. Dretske, F. (2006), “Perception without awareness”, in: T.S. Gendler, J. Hawthorne (Hg.), Perceptual Experience, Clarendon Press, Oxford, 2006, 147-180. Dretske, F. (1971), “Conclusive reasons”, Australasian Journal of Philosophy 49 (1971), 1-22. Feldman, R. (2005), “Justification is internal”, in: M. Steup, E. Sosa (Hg.), Contemporary Debates in Epistemology, Blackwell, Oxford, 2005, 270284. Grundmann, Th. (2008), Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Manuskript, erscheint 2008 bei de Gruyter.

26

Den Teilnehmern an der Tagung Aktuelle Probleme der Philosophie der Wahrnehmung, die Richard Schantz im Mai/Juni 2007 in Siegen organisiert hat, möchte ich für zahlreiche anregende Diskussionsbeiträge danken. Besonderen Dank außerdem an Thomas Grundmann, Susanne Mantel und Joachim Horvath.

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Grundmann, Th. (2004), “Perceptual representations as basic reasons”, in: R. Schumacher (Hg.), Perception and Reality. From Descartes to the Present, mentis, Paderborn, 2004, 287-304. Hofmann, F. (2008), “Introspective self-knowledge, consciousness, and evidence”, Manuskript (Vortrag zur Konferenz First-Person Authority, Duisburg, 10.-13. Sept. 2007, organisiert von Th. Spitzley, Th. Grundmann, Ralf Stoecker). Kornblith, H. (1995), Inductive Inference and Its Natural Ground, MIT Press, Cambridge. McGinn, C. (2004), Mindsight. Image, Dream, Meaning, Harvard University Press, Cambridge. Pollock, J. (1986), Contemporary Theories of Knowledge, Rowman and Littlefield, Towota. Rosenberg, J. (2002), Thinking About Knowing, Clarendon, Oxford. Williamson, T. (2000), Knowledge and Its Limits, Oxford University Press, Oxford.

Albert Newen und Ulrike Pompe: Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung im Rahmen einer repräsentationalen Theorie

ABSTRACT. McDowell vertritt die kantische These, dass jede Wahrnehmung eines Objekts Begriffe involviert. Gemäß Dretske, Evans u.a. dagegen ist der Inhalt meiner Wahrnehmung nichtbegrifflich, während nur das Wahrnehmungsurteil begrifflich ist. Ziel der Darstellung ist es, aufzuzeigen, in welcher Weise beide Thesen nur eine Teilwahrheit enthalten. Die Wahrnehmung von Einzeldingen gehört zwar zu den grundlegenden Alltagswahrnehmungen, aber trotzdem ist bereits dies ein komplexer Prozess, in dem nicht nur modularisierte, bottom-up Prozesse im Spiel sind, sondern auch top-down-Einflüsse systematisch zu berücksichtigen sind. Die zentrale Arbeitshypothese besteht in einer Unterscheidung von drei Ebenen der Objektwahrnehmung, die die Rolle von Begriffen zu klären erlauben: i) Die Ebene der basalen Wahrnehmungsprozesse, ii) die Ebene des Wahrnehmungsinhalts und iii) die Ebene der Wahrnehmungsurteile. Im Einzelnen lassen sich die Ebenen wie folgt charakterisieren: Bei den Wahrnehmungsprozessen der ersten Stufe handelt es sich um basale, modularisierte Informationsverarbeitungsprozesse wie Kanten- und Farbdetektion. Auf der zweiten Ebene greifen Aufmerksamkeitsmechanismen, wie sie in Modellen von Anne Treisman oder Zenon Pylyshyn beschrieben werden, in den Prozess der Objekterkennung ein. Die einzelnen Merkmale des visuellen Feldes werden durch „binding“-Prozesse in Objekte untergliedert. Es werden stabile Objektrepräsentationen aufgebaut, die den Wahrnehmungsinhalt ausmachen, der üblicherweise bewusst erfasst wird. Auf der letzten Ebene stehen die Wahrnehmungsurteile, die wesentlich sprachliche Repräsentationen einbeziehen. Jegliches semantisches Wissen, das sich auf das Objekt bezieht, also sein Name, seine Funktion, usw. können – wenn nötig – abgerufen und Teil der bewussten Objektrepräsen-

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tation werden. Für diese Unterteilung gibt es vielfältige empirische Evidenzen. Die genaue Betrachtung der Interaktion der drei Ebenen ermöglicht eine neue Stellungnahme zu dem Streit um die Rolle der Begriffe in der Objektwahrnehmung: Da neuere Studien belegen, dass die Ebenen 1 und 2 auch ohne die Ebene 3 (der Wahrnehnungsurteile) eine Objektwahrnehmung vollständig bestimmen, kann ein kognitives System Objekte wahrnehmen, ohne über Begriffe zu verfügen (hier hat Dretske Recht). Andererseits können Begriffe auch den Wahrnehmungsinhalt mitbestimmen (contra Dretske), aber sie müssen es nicht immer (contra McDowell), selbst wenn ein kognitives System über Begriffe verfügt. Wahrnehmungsinhalte können daher sowohl begrifflich als auch nichtbegrifflich sein, es hängt einfach davon ab, ob Begriffe tatsächlich bei der Genese eines bestimmten Wahrnehmungserlebnisses eine Rolle gespielt haben (oder nicht).

1. Einleitung: Die Debatte über die Rolle von Begriffen bei Wahrnehmungen In der Erkenntnistheorie gibt es eine umfassende Diskussion darüber, welche Rolle das Verfügen über Begriffe bei Wahrnehmung spielt: Sind Wahrnehmungen ohne Begriffe möglich (ohne dass begriffliche Repräsentationen beim Aufbau eines Wahrnehmungserlebnisses beteiligt sind)? Diese Frage soll im Folgenden vor allem mit Blick auf Objektwahrnehmungen diskutiert und neu beantwortet werden. Kant hat in der Erkenntnistheorie die als kopernikanische Wende bezeichnete Position prominent gemacht, dass ohne das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand keine Wahrnehmung von Objekten möglich ist. Dabei wird der Verstand als das Vermögen, Begriffe anzuwenden, aufgefasst. Kant vertritt somit die Position, dass ohne die Strukturierung von Sinnesdaten durch Begriffe – er nennt sie Kategorien – keine Objektwahrnehmung stattfinden kann. Andererseits hält er aber auch die Aufnahme von seiner Meinung nach völlig unstrukturierten Sinnesdaten für einen notwendigen Bestandteil und hat daher die These des unverzichtbaren Zusammenspiels von einer rezeptiven Aufnahme von Sinnesdaten und einer aktiven (spontanen) Strukturierung mittels Begriffen (neben der Strukturierung hinsichtlich Raum und Zeit)

Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

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aufgestellt. Da es ein Gemeinplatz ist, dass Gedanken auf Begriffen basieren, formuliert kann seine These wie folgt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Kant KrV B75, A51). Diese lange Zeit dominierende erkenntnistheoretische Grundposition führte in Verbindung mit der Ausbildung der Sprachphilosophie zu Beginn des 20. Jh. dazu, dass Objektwahrnehmungen immer unmittelbar mit dem Verfügen über sprachliche Ausdrücke zur Klassifikation der Objekte bzw. mit der Fähigkeit, sprachliche Satzbeschreibungen der Objekte abzugeben, verknüpft wurde. Der Wahrnehmungsinhalt wurde meist als begrifflich strukturiert betrachtet. Ausgehend von den Arbeiten von Fred Dretske (Dretske 1969, 1981, 1988, 1995) ist dann die These ausgearbeitet worden, dass es nichtbegriffliche Inhalte einer Wahrnehmung gibt, die von den Wahrnehmungsurteilen strikt zu trennen sind. Dazu haben wesentlich auch die Arbeiten von Gareth Evans (Evans 1982) beigetragen.1 McDowell (McDowell 1994) hat insbesondere Evans’ Theorie in den Blick genommen und versucht, die Kantische Grundthese wieder zu beleben, dass Wahrnehmung stets begrifflich ist. Diese wichtige Diskussion leidet bisher unter zwei Defiziten: 1. die Autoren berücksichtigen nur wenige (durchaus wichtige) phänomenologische Beobachtungen, während die enormen Erkenntnisfortschritte in der Neuropsychologie der Wahrnehmung vernachlässigt werden, und 2. es fehlt fast durchgängig eine klare Konzeption davon, was es heißt, über Begriffe zu verfügen. Wir möchten daher mit einer klaren Grundkonzeption des Verfügens über Begriffe unter Einbeziehen einschlägiger empirischer Erkenntnisse zur Wahrnehmung eine neue Antwort entwickeln, deren Grundlinie wie folgt charakterisiert werden kann: Dretske und Evans weisen (gegen McDowell) zu Recht auf eine grundlegende Differenz zwischen Wahrnehmungsinhalten und Wahrnehmungsurteilen hin. Weiterhin ist es so, dass Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich sein können. Aber McDowells Beobachtungen kann ebenfalls partiell Rechnung getragen werden, nämlich dadurch, dass bei einem kognitiven System, das über Begriff verfügt, Wahrnehmungsinhalte auch begrifflich bestimmt sein können. Anders als McDowell es behauptet, müssen sie es allerdings nicht in allen Fällen sein. 1

Zu den wichtigen Autoren gehören natürlich eine ganze Reihe anderer, z.B. auch Christopher Peacocke (Peacocke 1992b) und Tim Crane (Crane 2007). Zu dieser Debatte siehe den Band von Gunther (Gunther 2003).

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Begriffliche Repräsentationen können also, aber müssen nicht den Wahrnehmungsinhalt beeinflussen. Der Aufsatz ist so aufgebaut, dass zunächst einige minimale Kriterien für das Verfügen über Begriffe aufgezeigt werden, die dann als Grundlage für die Diskussion der zentralen Argumente für und gegen nichtbegriffliche Inhalte verwendet werden können. Im zentralen Teil wird dann unsere eigene Position entwickelt, die sich durch die Einbeziehung kognitionsund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auszeichnet

2. Minimale Kriterien für das Verfügen über Begriffe Wir möchten einige zentrale Merkmale für das Verfügen über Begriffe aufzeigen, die es erlauben, die Diskussion präziser zu führen. In der Auseinandersetzung mit den Argumenten für und gegen nichtbegriffliche Gehalte werden diese Merkmale nicht als allgemein akzeptiert vorausgesetzt, sondern als Bezugsgrößen, die es ermöglichen, Klarheit in die Debatte zu bringen. Dabei ist es eine allgemeine Hintergrundannahme, dass bei der Verursachung von Verhaltensweisen kognitiver Systeme Repräsentationen eine Rolle spielen können. Wenn Repräsentationen für eine Verhaltenserklärung relevant werden, dann stellt sich die Frage, welcher Art die vorliegenden Repräsentationen sind: begrifflich oder nichtbegrifflich. Die Hauptintuition in Bezug auf begriffliche Repräsentationen (oder auch kurz: Begriffe) speist sich aus der Verwendung von Worten im Alltag, die in jedem Fall Begriffe zum Ausdruck bringen. Sie lautet: Die Hauptfunktion von Begriffen besteht darin, die Klassifikation von Objekten hinsichtlich ihrer Eigenschaften zu ermöglichen. Dies lässt sich genau spezifizieren: Begriffliche Repräsentationen haben eine interne Objekt-EigenschaftStruktur2, so dass ein Teil der Repräsentation für ein Objekt und ein anderer Teil für eine Eigenschaft steht. Diese Annahme wird u.a. durch entwicklungspsychologische Studien (Baillargeon, Spelke, Wassermann 1985) untermauert, die zeigen, dass das Erfassen der Permanenz eines 2

In einer vollständigen Betrachtungsweise müsste man auch Ereignis-EigenschaftStrukturen berücksichtigen. Eine entsprechende Verallgemeinerung der Überlegungen ist berücksichtigt in Newen/Bartels 2007.

Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

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Objekts eine Fähigkeit ist, die Kinder zwar früh erwerben, aber doch erst zwischen dem 5. und 9. Lebensmonat erlernen: Die Kinder lernen erst in dieser Phase zu erfassen, dass ein Objekt, das hinter einem Schirm verschwindet und an der anderen Seite wieder zum Vorschein kommt, dasselbe Ding ist. Dabei ist zweierlei bemerkenswert: Das Erfassen von Objektpermanenz entsteht einerseits später als die Fähigkeit eines Babies, seine Umwelt wahrzunehmen, aber andererseits ist sie weit früher entwickelt als sprachliche Repräsentationen (siehe hierzu auch Mandler 2004). In einer ausführlichen Präsentation und Verteidigung einer neuen epistemischen Theorie der Begriffe (Newen/Bartels 2007) wird vorgeschlagen, dass Begriffe zu haben verlangt, dass ein kognitives System bei der Präsentation ein und desselben Objekts unterschiedliche Eigenschaften unterscheiden kann sowie, dass es bei der Präsentation verschiedener Objekte (mit mindestens einer auffälligen, gemeinsamen, wahrnehmbaren Eigenschaft) in der Lage ist, die Objekte hinsichtlich dieser Eigenschaft(en) zu klassifizieren. Dies eröffnet einen Weg für eine Definition des Verfügens über Begriffe, die basaler ist als der Verfügen über natürliche Sprache, aber komplexer ist als das basale sensorische Diskriminationsvermögen. Genau darin liegt ein entscheidender explanatorischer Mehrwert einer Theorie der Begriffe im Unterschied zu zwei zentralen Gegenmodellen von Begriffstheorien: (1) Eine Gruppe von Theoretikern spricht wie Fodor (Fodor, 1998) schon dann von Begriffen, wenn eine sensorische Diskriminierung einer Eigenschaft und eine geeignete kausale Verursachung vorliegt. (2) Eine zweite Gruppe von Autoren wie z.B. Peacocke (1992a), nimmt an, dass Begriffe Abstraktionen von Gedanken sind, wobei letztere stets eine solch komplexe Struktur haben wie es für die natürliche Sprache charakteristisch ist. Die zentrale Kritik gegen beide Ansätze lautet, dass eine Theorie der Begriffe jeweils explanatorisch leer läuft: Im Fall von kausalen Begriffstheorien wie bei Fodor kommt es letztlich auf die sensorischen Diskriminationsmerkmale an, die uns zur Verfügung stehen. Eine Theorie sensorischer Diskriminationsmerkmale liefert jedoch bereits die kognitive Psychologie (Anderson 1996, Kap. 2). Im Fall von Begriffstheorien, die von Repräsentationen ausgehen, die die Komplexität der natürlichen Sprache aufweisen, kann man gleich das Verfügen über Begriffe unmittelbar durch geeignete sprachliche Ausdrücke charakterisieren (selbst wenn ein Begriff nicht zwingend mit dem Verfügen über einen sprachlichen Aus-

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Albert Newen und Ulrike Pompe

druck verknüpft ist). In diesem Fall fällt die Begriffstheorie im Wesentlichen mit der Sprachtheorie zusammen, so dass ein explanatorischer Mehrwert ebenfalls nicht zu sehen (bzw. sehr begrenzt) ist. Dagegen ist die skizzierte Grundidee einer alternativen Begriffstheorie in diesem Punkt gerade sehr fruchtbar. Es ist an anderer Stelle aufgezeigt worden, dass diese epistemische Theorie der Begriffe ideal verwendet werden kann, um den kognitiven Kompetenzen von Tieren (Vögeln und Affen) Rechnung zu tragen (zur Explikation der Begriffstheorie, s. Newen/Bartels 2007). Neben der Objekt-Eigenschaft-Struktur soll noch ein zweites Minimalkriterium für Begriffe herausgearbeitet werden: Begriffe weisen charakteristische Abgrenzungen zu „Nachbarbegriffen“ auf. Ein Begriff von ROT liegt nicht schon dann vor, wenn ein kognitives System registrieren kann, dass in der Situation etwas Rotes gegeben ist; das kann auch ein Roboter mit einem Rotsensor, ohne dass wir ihm deshalb einen Begriff von ROT zuschreiben möchten. Wesentlich ist, dass das kognitive System die Eigenschaft, rot zu sein, als eine Eigenschaft eines Objekts repräsentiert, nicht als Signal für Gefahr und dabei diese Eigenschaft von „benachbarten Eigenschaften“ unterscheiden kann, in diesem Fall wenigstens von einigen anderen Farben (z.B. blau und gelb). Diese Farbrepräsentationen bilden ein Netz von Eigenschaftsrepräsentationen, die als einer Dimension, nämlich der der Farbe, zugehörig repräsentiert werden müssen, während rund zu sein und viereckig zu sein gerade der Dimension der Form zugeordnet werden müssen. Begriffliche Repräsentationen stehen somit nicht einzeln, sondern immer nur in einem minimalen Verbund zur Verfügung. Sie sind somit partiell holistisch3. Schließlich ist es eine dritte Grundintuition, dass Begriffe in verschiedenen, insbesondere auch in neuen Situationen anwendbar sind. Dies bringt z.B. die Anforderung mit sich, dass die relevante Eigenschaft, die den Begriff ausmacht, in verschiedenen Situationen wiedererkennbar sein muss. Wir nennen diese Anforderung die Rekognitionsbedin3

Der partielle Holismus schließt ein, dass mit Begriffen auch das Vermögen zu „Schlussfolgerungen“ verknüpft ist. Im Unterschied zu Crane (Crane 2007) sind die Schlussfolgerungen allerdings nicht universell, d.h. sie sind nicht mit allen Satzbildungsmöglichkeiten äquivalent. Bei Crane fällt das Urteilen mit Sätzen und das Verfügen über Begriffe zusammen. Dagegen ist es sinnvoll und explanatorisch fruchtbar, ein partielles Schlussfolgerungsvermögen von einem universellen zu unterscheiden: Ersteres kann durch die Repräsentationsstruktur von mentalen Modellen (JohnsonLaird 1987; Held, Knauff, Vosgerau [Hrsg.] 2006) realisiert werden.

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gung für Begriffe. Die Anwenbarkeit in verschiedenen Situationen wird letztlich gewährleistet durch eine gewisse Unabhängigkeit von Schlüsselreizen sowie die oben genannte interne Objekt-Eigenschaft-Struktur. Begriffliche Repräsentationen sollten somit mindestens die folgenden Merkmale erfüllen: 1. Sie haben eine interne Objekt-Eigenschaft-Struktur, 2. Sie sind zu einem gewissen minimalen Grade vernetzt organisiert bzw. partiell holistisch und 3. sie genügen der Rekognitionsbedingung für Begriffe. Auch wenn wir selbst diese Merkmale als zentral für Begriffe verstehen, so setzen wir diese Begriffstheorie nun nicht einfach voraus, sondern wenden Sie lediglich in der Diskussion an, um die Positionen zu erhellen.

3. Die zentralen Argumente für und gegen nichtbegriffliche Inhalte von Wahrnehmungen 3.1 Die Pro-Argumente Gehen wir zunächst von der These aus, dass Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich sind, wie sie z.B. bei Evans klar formuliert ist: The informational states which a subject acquires through perception are nonconceptual, or nonconceptualized; judgments based upon such states necessarily involve conceptualization; (…) The process of conceptualization or judgment takes the subject from his being in one kind of informational state (with a content of a certain kind, namely, nonconceptual content) to his being in another kind of cognitive state (with a content of a different kind, namely, conceptual content. (Evans 1982, 227)

Drei eng verknüpfte Argumente für nichtbegriffliche Inhalte von Wahrnehmungen sind die Reichhaltigkeit, die Unabhängigkeit und die Feinkörnigkeit der Wahrnehmungsinhalte: (1) Die Reichhaltigkeit der Wahrnehmungsinhalte: Nur ein Teil der enorm vielfältigen Inhalte einer Augenblickswahrnehmung kann unmittelbar mit Hilfe von Begriffen repräsentiert werden.

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Wenn ich in einen vollen Hörsaal schaue, dann sehe ich u.a. sehr viele Menschen mit verschiedenen Gesichtern, unterschiedlicher Kleidung, verschiedenen Haltungen; ich sehe Stühle, Tische, u.v.m. Wenn man wie McDowell annehmen möchte, dass alle diese Wahrnehmungsinhalte im Augenblick der Wahrnehmung begrifflich bestimmt sind, dann ist das nur möglich, indem man voraussetzt, dass die Begriffe vollständig automatisiert abgerufen werden; dies involviert, dass die Begriffe, so aufgefasst, im Wahrnehmungsaugenblick nicht alle dem Subjekt zugänglich sind. Hier tritt eine erste interne Spannung zu McDowells expliziten Thesen auf, gemäß dessen Auffassung die Begrifflichkeit gerade darin besteht, dass diese Inhalte für aktives Denken und Reflektion zugänglich sind: It is essential to conceptual capacities, in the demanding sense, that they can be exploited in active thinking, thinking that is open to reflection about its own rational credentials. (McDowell 1994, 76)

Die Formulierung zeigt, dass er eine dispositionale Zugänglichkeit meint, die er ggf. auch in zeitlicher Abfolge auffassen kann. Wenn er eine Zugänglichkeit im Wahrnehmungsaugenblick behaupten würde, so wäre dies offensichtlich mit unseren Alltagserfahrungen unverträglich, denn uns sind keineswegs alle Begriffe unmittelbar verfügbar, die wir zur vollständigen Beschreibung einer Wahrnehmungssituation prinzipiell benötigen würden – wobei es zunächst offen bleibt, ob wir denn über hinreichende Begriffe verfügen. Aber auch ein dispositionales Verständnis seiner These der Zugänglichkeit passt nicht zu unseren Alltagsbeobachtungen: Ich habe ein und denselben Wahrnehmungsinhalt von einer Situation, bei der der Kater „Sebbo“ auf dem Stuhl liegt, unabhängig davon, ob ich das zentrale Objekt mit dem Begriff KATER, TIER oder LEBEWESEN kategorisiere. Ich komme offensichtlich zu verschiedenen Urteilen „Dieser Kater liegt auf dem Stuhl“ versus „Dieses Tier liegt auf dem Stuhl“ usw., aber dadurch – sogar durch sukzessive Änderungen in der Begriffsanwendung – verändert sich mein Wahrnehmungsinhalt nicht. Dieser letzte Punkt ist auch schon die Kernbeobachtung der zweiten Eigenschaft: (2) Die Unabhängigkeit der Wahrnehmungsinhalte: Damit ist eine Unabhängigkeit der Wahrnehmungsinhalte von den Wahrnehmungsurteilen gemeint.

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Sie wird z.B. durch die Müller-Lyer-Illusion illustriert:

Wenn die Pfeilspitzen verschieden orientiert sind, so sehen die geraden Hauptlinien der Pfeile unterschiedlich lang aus, obwohl sie de facto gleich lang sind. Sie sehen auch weiterhin verschieden lang aus, selbst wenn wir uns durch Nachmessen davon überzeugt haben, dass sie gleich lang sind. Das auf Überprüfung gegründete Wahrnehmungsurteil vermag in diesem Fall nicht den Wahrnehmungsinhalt zu verändern. Dieses Phänomen ist ein zentraler Baustein für Fodors Modularitätsthese (Fodor 1983) bezüglich Wahrnehmungen (s.u.). Das dritte Argument in dieser Gruppe von Überlegungen für nichtbegriffliche Wahrnehmungsinhalte ergibt sich dann, wenn man die Fähigkeit zur Rekognition für Begriffe als notwendige Bedingung akzeptiert. Sie besagt, dass die relevante Eigenschaft, die einen Begriff ausmacht, in verschiedenen Situationen wiedererkennbar sein muss. Sie steht in Spannung zu der (3) Feinkörnigkeit der Wahrnehmungsinhalte: Wir können zwei nur leicht verschiedene Rottöne unterscheiden, wenn diese direkt nebeneinander platziert und gleichzeitig zu sehen sind. Wir sind jedoch nicht in der Lage, diese in zwei getrennten Wahrnehmungssituationen zu unterscheiden (Raffmann, 2001). Die Bedingung der Rekognition ist gerade für solche feinkörnigen Eigenschaften nicht erfüllt. Diese Eigenschaften sind jedoch wesentlich, um unsere Wahrnehmungsinhalte adäquat zu charakterisieren. Daher sind Wahrnehmungsinhalte (zumindest teilweise) nichtbegrifflich.

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3.2

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Contra-Argumente und ihre Zurückweisung

McDowell vertritt die Gegenthese zu Evans (und Dretske u.a.), dass Wahrnehmungsinhalte stets begrifflich sind: Experiences are impressions made by the world of our sense, produced of receptivity; but those impressions themselves already have conceptual content. (McDowell 1994, 75)

Um diese These zu verteidigen, versucht er zunächst einmal die Beobachtung der Feinkörnigkeit dadurch zurückzuweisen, dass er darauf hinweist, dass eine bestimmte Farbschattierung demonstrativ bezeichnet werden kann, z.B. mit „dieses Rot“. Auch können wir uns ja eine Farbtafel mit einer Farbschattierung fertigen und mit diesem Hilfsmittel doch eine Rekognition desselben Farbtons erreichen. Beide Aspekte betrachtet McDowell als hinreichend, um in diesen Fällen von Begriffen zu sprechen. Dies ist jedoch aus zwei Gründen nicht überzeugend: Erstens ist das Wiederkennen genau dieser Farbschattierung nach wie vor nur im direkten Vergleich von Farbschattierungen in einer Situation möglich. Eine Farbtafel ist ein Hilfsmittel, das praktisch nützlich ist, um ein Wiedererkennen in einer anderen Situation (beim Auswählen einer Farbe im Baumarkt) zu ermöglichen. Doch ändert dies nichts am Grundprinzip. Dies wird z.B. dadurch deutlich, dass sich die Farbtafel beispielsweise durch Sonneneinstrahlung leicht verändern könnte. Im Rahmen meiner Unfähigkeit zur situationsübergreifenden Rekognition würde ich die Veränderung nicht bemerken können. Wenn man gegen diese Überlegung einwendet, dass dies praktisch irrelevant sei, so kann man gerade auf praktischer Ebene entgegnen, dass wir fast nie in der Lage sind, mit Farbtafeln zu operieren, und dass es gerade die Hauptaufgabe der Begriffsbildung ist, dieselbe Eigenschaftszuordnung in ganz verschiedenen Situationen (sogar mit stark unterschiedlichen Objekten) vornehmen zu können. Dabei ist die situationsübergreifende Rekognition der Standard und das Prinzip des Behelfens mit Mustern nur eine „Krücke“ im Ausnahmefall. Zweitens: McDowells Bewertung des Phänomens der Feinkörnigkeit läuft darauf hinaus, dass jede Wahrneh-

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mungsdifferenz eine begriffliche Differenz ist.4 Dies führt zu einer aus wissenschaftstheoretischer Sicht unfruchtbaren Theorie der Begriffe: Denn die Begriffstheorie hat dann keinen eigenständigen Erklärungswert mehr im Vergleich zu einer bereits vorliegenden psychologischen Theorie der Wahrnehmungsmerkmale (Anderson 1996). Eine alternative Begriffstheorie, die Begriffe durch mentale Fähigkeiten charakterisiert, die komplexer (abstrakter) sind als es das Erfassen von Wahrnehmungsmerkmalen ist, jedoch einfacher als es das Verfügen über natürliche Sprache erfordert, hat dagegen einen sehr hohen Erklärungswert (Newen/Bartels 2007, 301-302). Es gelingt McDowell nicht, das Phänomen der Feinkörnigkeit als unproblematisch auszuweisen: Wenn er aus pragmatischer Sicht auf die demonstrative Bezugnahme (ggf. mittels Mustern) hinweist, um Rekognition sicherzustellen, vernachlässigt er, dass dieses pragmatische Mittel uns in der Regel nicht zur Verfügung steht. Bei einer prinzipiellen Betrachtung lässt er außer Acht, dass auch ein Muster, z.B. in Form einer Farbtafel, nicht die Konstanz der Farbschattierung über Situationen hinweg sicherstellt, z.B. wenn es sich gerade nur in einem solchen Bereich verändert, der situationsübergreifend nicht erfassbar ist. McDowell führt im Wesentlichen noch ein zweites unabhängiges Argument für seine Position ins Feld: Wenn Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich sind, können wir nicht verständlich machen, warum Wahrnehmungsinhalte ein Wahrnehmungsurteil rechtfertigen können. Er konstatiert, dass unverträgliche Anforderungen für nichtbegriffliche Inhalte vorliegen würden: The label [“content”, A.N.] serves to mask the fact that the relations between experiences and judgments are being conceived to meet inconsistent demands: to be 4

McDowell argumentiert für seine Position u.a. so, dass er feststellt, dass wir von einer Farbschattierung einen Begriff erwerben können. Dieses wird nicht in Frage gestellt. Gerade Farbexperten verschaffen sich Begriffe von Farbschattierungen so wie sich Weinkenner Begriffe für Geschmacksrichtungen des Weins anlegen. Falsch ist hingegen McDowells Annahme, dass wir dies stets und für alle unsere Wahrnehmungsmerkmale tun: „It is possible to acquire the concept of a shade of color, and most of us have done so. Why not say that one is thereby equipped to embrace shades of color within one’s conceptual thinking with the very same determinateness with which they are presented in one’s visual experience, so that one’s concepts can capture those colors no less sharply than one’s experience presents them?” (McDowell 1994, 82).

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Albert Newen und Ulrike Pompe such as to fit experiences to be reasons for judgments, while being outside the reach of rational inquiry. (McDowell 1994, 80)

Er geht dabei davon aus, dass nichtbegriffliche Inhalte nicht der Vernunft/Urteilskraft zugänglich sein dürfen (wenn die Bezeichnung ‚nichtbegrifflich‘ sinnvoll sein soll), während Wahrnehmungsurteile per definitionem der Vernunft zugänglich sind und die Rechtfertigungsrelation der Vernunft zugänglich sein muss. Darin sind mehrere problematische Annahmen eingebaut: Wenn nichtbegriffliche Inhalte nicht der Vernunft zugänglich sein können, dann nur, weil Vernunft als die Menge von begriffsbasierten kognitiven Prozessen aufgefasst wird. Damit aber ist der Begriff der Vernunft so definiert, dass er nur auf begriffsbasierte kognitive Prozesse angewendet werden kann: Gemäß McDowell ist ein Vermögen entweder vernünftig und damit begriffsbasiert oder unvernünftig und dann damit nicht begriffsbasiert. Bevor wir dies kritisch betrachten, sei seine Argumentation kurz rekonstruiert: (1) Ein kognitives Vermögen bzw. eine Fertigkeit ist entweder vernünftig (bzw. der Vernunft zugänglich) und damit (äquivalenterweise) begriffsbasiert oder unvernünftig und dann damit (äquivalenterweise) nicht begriffsbasiert. Eine Anwendung von (1) führt zu Prämisse (2): (2) Wenn Wahrnehmungsinhalte in Rechtfertigungsrelationen zu Urteilen stehen und diese Relationen vernünftig sind, sind Wahrnehmungsinhalte begriffsbasiert. (3) Wahrnehmungsinhalte stehen in Rechtfertigungsrelationen zu Urteilen. (4) Diese Rechtfertigungsrelationen sind vernünftig. (5) Also sind Wahrnehmungsinhalte begriffsbasiert (d.h. begrifflich).

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Die Kritik setzt vor allem bei den Prämissen (2) [als Instanz von (1)] und bei (4) an. Ad (2): McDowell nimmt implizit an, dass die einzige Art und Weise, wie wir Inhalte bewusst erfassen können, darin besteht, dass wir über Begriffe verfügen. Die Alternative besteht darin, dass wir auch über Bilder oder über körperbasierte Repräsentationen Zustände bewusst erfassen und demgemäß handeln können, z.B. kann ich über Bilder räumliche Repräsentationen von Objekten erfassen, über Eigenwahrnehmung, z.B. eine Tasterfahrung, die ungewöhnliche Form eines Objekts erspüren und damit Inhalte bewusst erfassen kann, ohne diese mit Hilfe von Begriffen beschreiben zu können. Es gibt vielfältige wichtige kognitive Prozesse, die vorsprachlich und so grundlegend sind, dass sie ohne Begriffe (in einem explanatorisch nicht leerlaufenden Sinne) sind. Ein Paradebeispiel ist die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen. Diese Fähigkeit läuft automatisiert, vorsprachlich und zumindest mit einer starken informationalen Unabhängigkeit von Urteilen ab, was nicht zuletzt durch Läsionsstudien bestätigt wird (Bauer, Trobe 1984). Andererseits gehen sie im Normalfall unmittelbar in „vernünftiges“ Verhalten ein. Ich sehe Menschen, erkenne sie wieder und begrüße sie. Patienten hingegen, die unter Prosopagnosie leiden können Menschen nicht am Gesicht erkennen. Ihnen bleibt nur die Möglichkeiten, Personen anhand ihrer Stimme oder ihrer Kleidung etc. zu identifizieren: Für die visuelle Sinnesmodalität ist in diesem Fall ein sehr spezifischer Ausfall feststellbar, der nicht als begrifflich eingeordnet werden kann, denn die Objekterkennung für alle anderen Objekte außer Gesichter bleibt intakt. Wäre es ein begriffliches Defizit, so stünde dem „Urteilsapparat“ der Begriff GESICHT nicht mehr länger zur Verfügung, was sich durch die Beobachtung, dass Prosopagnostiker durchaus Wissen, was ein Gesicht ist, welche Körperteile darin zu finden sind, welche Objekte ein Gesicht haben, etc. widerlegen lässt. Somit handelt es sich bei Prosopagnosie mitnichten um ein begrifflich-kognitives Defizit, sondern vielmehr um ein perzeptuell-sensorisches. Wir sehen darin eines von vielen Beispielen für „vernünftige“ kognitive Prozessen, die gerade nicht begriffsbasiert sind. Ad(4): Rechtfertigungsrelationen müssen nicht vernünftig in dem Sinne sein, dass damit eine begriffliche Repräsentation einhergeht. Das gilt nur für einen Vertreter des Internalismus in der Theorie des Wissens. Der Streit zwischen Internalismus und Externalismus bezüglich der Rechtfertigung

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des Wissens besteht darin, dass der Internalismus behauptet, dass eine Rechtfertigung nur vorliegt, wenn man diese bewusst und sprachlich als Urteil angeben kann, während der Externalismus Rechtfertigung viel weiter fasst: Externalisten betrachten eine kausale Beziehung oder eine Evidenzbeziehung als hinreichend für das Bestehen einer Rechtfertigungsrelation (zur Debatte ist einschlägig der Band Grundmann 2001). Dretske (Dretske 2001) spricht in diesem Fall von einer Berechtigung (entitlement) zu einem Urteil und reserviert den Begriff der Rechtfertigung (justification) für den Spezialfall, den die Internalisten vor Augen haben, nämlich dass ich die Gründe für mein Urteil explizit angeben kann: Die Externalisten behaupten somit, dass wir zu einem Urteil berechtigt sein können, auch wenn wir die Gründe dafür nicht kennen. Letzteres ist ein plausibler Fall einer Rechtfertigungsbeziehung im weiten Sinne, die jedoch nur eine bestimmte Tatsache (nämlich in einer reliablen Weise mit der Welt verbunden zu sein) als Basis für das Urteil voraussetzt, nicht jedoch per definitionem wieder ein Urteil. Eine (veridische) Wahrnehmung ist ein Standardfall für eine Evidenz, die ein Wahrnehmungsurteil im Sinne einer Berechtigung stützt.5 Nur wenn man einen Internalismus voraussetzt, ist McDowells Argumentation gültig. Es ist jedoch trotz der unterschiedlichen Positionen deutlich, dass dies ein sehr spezifischer Begriff von Rechtferti5

Wie genau der nichtbegriffliche Gehalt einer Wahrnehmung aufzufassen ist, ist eine strittige Frage, die in diesem Beitrag nicht geklärt werden kann. Aber eine grobe Einordnung soll schon gesehen: Crane (2007) schlägt vor, den Gehalt durch eine Proposition zu charakterisieren, und dieser so bestimmte Gehalt ist das Resultat einer berechtigten Zuschreibung, die dieselbe wäre, wenn man ein entsprechendes Wahrnehmungsurteil äußern würde; allerdings darf er im Fall einer Wahrnehmung gerade nicht als strukturiert aufgefasst werden. Diese Grundidee möchten wir in Form einer Skizze durch mehrere Überlegungen weiterentwickeln, ohne den Anspruch diese Punkte hier klären zu können: (a) Ein nichtbegrifflicher Inhalt kann zwar strukturiert sein, aber eben gerade nicht in einer Form, die der expliziten semantischen Komposition eines natürlich-sprachlichen Satzes entspricht, d.h. der nichtbegriffliche Inhalt repräsentiert eine in der Welt vorliegende Objekt-Eigenschaft-Struktur nicht zergliedert, sondern nur als Gesamtsituation. (b) Der mit Hilfe von sprachlichen Ausdrücken zugeschriebene Gehalt ist grob äquivalent zu dem nichtbegrifflichen Gehalt, in dem Sinne, dass beide viele gemeinsame funktionale Rollen bzgl. Verhaltensverursachung haben, aber daraus folgt nicht, dass der nichtbegriffliche Gehalt propositional ist. Er ist nach unserer Auffassung nicht identisch mit dem propositionalen Gehalt, sondern lediglich hinreichend äquivalent, so dass vielfältige gleichartige funktionale Rollen vorliegen. s. dazu Newen/Vosgerau 2007 und Newen/Bartels 2007.

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gung ist, der keineswegs alle Begründungsbeziehungen einschließt. Daher liegt hier auch kein durchschlagendes Argument vor. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass implizite Annahmen mit einer Tendenz zur Überintellektualisierung die Grundlage der Kernthese zur Rolle von Begriffen in Wahrnehmungen bildet. Können wir angesichts dieser Argumentationslage uns einfach Dretskes These anschließen, dass Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich und nur Wahrnehmungsurteile begrifflich sind? Wir werden zeigen, dass diese Antwort zwar grob in die richtige Richtung weist, aber bei genauem Hinsehen wesentlich zu modifizieren ist, und zwar so, dass der Kernintuition von McDowell auch genüge getan werden kann, nämlich: Es ist möglich, dass Wahrnehmungsinhalte begrifflich bestimmt sind. Contra McDowell ist es jedoch nicht so, dass sie stets begrifflich sind. Um diese differenzierte These zu entwickeln, werden die empirischen Erkenntnisse aus Psychologie und Neurowissenschaft wesentlich mit einbezogen. Aus unserer Sicht müssen wir daher drei Aspekte wesentlich unterscheiden, die wir der Wahrnehmung zuordnen: 1. basale Wahrnehmungsprozesse, 2. Wahrnehmungsinhalte und 3. Wahrnehmungsurteile. Im Folgenden entwickeln wir eine Drei-Ebenen-Theorie der Wahrnehmung, die die differenzierte These zur Rolle von Begriffen bei Wahrnehmungen untermauert. Die erste Ebene umfasst das Prozessieren sensorischer Information in subpersonalen und modularen Prozessen, wie sie auf dem Weg vom Sinnesorgan bis zu den für die ersten Verarbeitungsstufen der ankommenden Signale verantwortlichen Hirnregionen typisch ist. Die auf dieser modularen Informationsverarbeitung aufbauende zweite Ebene umfasst im Gegensatz dazu einen integrierten Wahrnehmungsinhalt, der üblicherweise durch die personalen, d.h. subjektiv erlebbaren Anteile der Wahrnehmung charakterisiert werden kann: Es bedarf hier einer Erläuterung, dank welcher Mechanismen die zuvor modular prozessierten Signale einen integrierten Wahrnehmungsinhalt bilden und entweder der Person bewusst werden oder ihr Verhalten steuern können. Die dritte Ebene betrifft höherstufige kognitive Leistungen, worunter man im weitesten Sinne Denken, Urteilen, Entscheiden, aber auch Verbalisierungen und andere wissensbasierte Fähigkeiten fassen kann wie das Planen komplexer Handlungen. Wesentlich ist dabei, dass die Inhalte begrifflich bzw. sprachlich repräsentiert werden.

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Bevor wir die Überlegungen vorstellen, die diese Aufteilung begründen, möchten wir zunächst diese drei Ebenen ausführlich beschreiben.

4. Ein Drei-Ebenen-Modell der Objektwahrnehmung i) Die Ebene der basalen Wahrnehmungsprozesse Bei den Wahrnehmungsprozessen der ersten Ebene handelt es sich um basale Informationsverarbeitungsprozesse wie Kanten- und Farbdetektion. Auf physiologischer Ebene wird hier der Weg visueller Information vom Auge über die kortikale Sehbahn bis zum primären visuellen Cortex erfasst. Informationsverarbeitung ist auf dieser Ebene durch ihre weitgehende Modularität gekennzeichnet: Eine Informationsverarbeitung ist dabei modular, wenn sie angeboren, bereichsspezifisch und informational abgekapselt ist. Letzteres meint, dass die Informationsverarbeitung (z.B. der basalen Wahrnehmungsprozesse) von anderen Informationsverarbeitungen (Urteilen, Emotionen) weitgehend unabhängig ist.6 Die Modularität zeigt sich empirisch u.a. daran, dass Läsionen in spezifischen Arealen zu ganz speziellen kognitiven Defiziten führen. Jedes identifizierbare Gliederungselement visueller Information wie Farbe, Bewegung oder Form wird in einem spezialisierten Zellareal im primären visuellen Cortex dekodiert und erst in einem zweiten Schritt auf hierarchisch höher liegende Areale projiziert, die die Information schrittweise bündeln (Carlson 2001, Kap. 6, Pinel 2001, Kap. 7). Verfolgen wir beispielsweise einen Lichtstrahl, der von einem Objekt reflektiert wird und auf die Retina trifft und in elektrische Nervenimpulse umgewandelt wird: In der Retina selbst gibt es dafür zwei unterschiedliche Rezeptor Typen: Stäbchen, die hauptsächlich am Rande der Retina vorkommen, und auf selbst schwaches Licht reagieren, dafür aber farbunsensitiv sind, und nicht zum Schärfensehen beitragen; und Zapfen, die sich hauptsächlich in der Fovea, dem Zentrum des Scharfsehens befinden, und 6

Ursprünglich hatte Fodor acht Merkmale für Modularität eingeführt. Die intensive Diskussion der Merkmale führte jedoch dazu, dass nur diese drei Merkmale sich als halbwegs verlässlich anwendbar erwiesen haben. (Fodor 1983).

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die auf mittlere bis starke Lichtintensität reagieren und Farben enkodieren können. Von der Retina führt der Sehnerv über die Sehnervbahn zum Corpus Geniculatum Laterale (CGL, einer Art Umschaltstation im Thalamus) und zum Superioren Colliculus. Das CGL verfügt über drei Schichten mit unterschiedlichen Zelltypen, die wie „Datenhighways“ für verschiedene Arten visueller Information zuständig sind: Das magnozelluläre System (so genannt wegen der größeren Zellen) leitet Information aus den Stäbchen weiter. Es handelt sich hier um eine Art „Schnellstraße“, weil die Signalweiterleitung aufgrund der physiologischen Besonderheiten von dieser Art von Zellen relativ schnell erfolgt. Information, die dieses System überträgt, ermöglicht die Enkodierung von Form, Bewegung, räumlicher Tiefe, und kleinen Helligkeitsunterschieden. Das zweite System wird parvozelluläres System genannt, und ist für die Übermittlung von Farbe und visueller Detailinformation zuständig, ist aber entsprechend langsamer. Und dann gibt es noch ein drittes System, dass nur für kurzwelliges Licht (also die Farbe Blau) zuständig ist. Nachdem also die Information auf verschiedene „Signalbahnen“ verteilt worden ist, läuft sie im primären visuellen Cortex, der sich am hinteren Ende der Hirnrinde, auf der Innenseite der jeweiligen Hemisphären befindet, wieder zusammen. Dort im visuellen Cortex finden sich richtungs- und kantensensitive Zellen, die retinotop organisiert sind, d.h. würde man den Cortex aufspannen wie ein Blatt Papier, hätte man eine ähnliche räumliche Anordnung der Helligkeitsdifferenzen und Linien wie auf der Retina. Von dort aus werden eingehende Signale an die nachkommenden Module weitergeleitet: Das Modul V3 enkodiert Formen, d.h. dort befinden sich Zellen, die das Erregungsmuster der richtungssensitiven Neurone registrieren und bündeln, V4 enkodiert Farben und V5 registriert Bewegung. Hier befinden sich Zellen, die nur dann aktiv werden, wenn sich ein Liniensegment, dass immer dieselbe Ausrichtung behält, über das visuelle Feld hinweg bewegt. Interessant ist, dass V5 nicht nur Information aus dem primären visuellen Cortex erhält, sondern auch auf direktem Wege aus dem Superioren Colliculus aktiviert werden kann, und zwar wieder über den schnelleren Weg des magnozellulären Systems. Das erlaubt uns, Phänomene zu registrieren, die sich in der Peripherie des Sehfeldes abspielen (vorausgesetzt, Bewegung ist involviert), und eventuell die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, was

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im Falle eines schnell auf uns zufliegenden Gegenstandes das schnelle reflexartige Ausweichen erlaubt. Diese subpersonalen Prozesse bezeichnen wir als modular und basal. Modular heißen sie, weil sie, obwohl vieles parallel prozessiert wird, als Einzelne ausfallen können. Liegt zum Beispiel eine Schädigung des Areals V4 vor, so wird das Sehen von Farben unmöglich. Basal heißen diese Prozesse, weil sie allen darauf aufbauenden integrierten Wahrnehmungsinhalten, die üblicherweise mit Wahrnehmungserlebnissen verknüpft sind, zugrunde liegen. Bei dem beschriebenen Ausfall von V4 als Basismodul wird nämlich nicht nur das Sehen, sondern auch das Vorstellungsvermögen von Farben, also das Farbgedächtnis, zerstört. ii) Die Ebene des Wahrnehmungsinhaltes Die auf den Basismodulen aufbauende zweite Ebene umfasst den Wahrnehmungsinhalt; damit sind dann vor allem die personalen, d.h. subjektiv erlebbaren Anteile der Wahrnehmung, unsere phänomenalen Erfahrungen gemeint. Die Informationen, die beim Menschen bei gezielter Wahrnehmung bewusst erfasst werden können, können jedoch in bestimmten Fällen auch unbewusst aufgenommen werden. Das Abwehren eines bedrohlich auf uns zufliegenden Gegenstandes z.B. geht meistens reflexartig vonstatten, und erst später realisiert man, dass es sich um einen Fußball handelt. Milner und Goodale (Milner/Goodale 2002) sprechen hier von zwei visuellen Systemen: dem ventralen und dem dorsalen System. Das erstere ist für bewusste visuelle Wahrnehmung, somit auch Objektidentifikation zuständig und ist im unteren Schläfenlappen lokalisiert, das zweite ist ausschließlich für die Steuerung von Bewegungen zuständig und ist im hinteren Parietallappen zu finden. Beide Bereiche beziehen Information aus der primären Sehrinde, können diese aber unabhängig voneinander weiter verarbeiten. Milner und Goodale belegen das anhand einer Fallstudie mit der Patientin D.F. Sie leidet an einer Läsion des Schläfenlappens und verfügt nur über stark verminderte Seheindrücke, so dass sie nicht in der Lage ist, ihr Umfeld zu erkennen und zu beschreiben, beispielsweise kann sie die Orientierung eines Schlitzes bei einem vor ihr aufgebauten Briefkasten nicht erkennen. Ihr visuelles System jedoch, das für die Handlungs-

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teuerung verantwortlich ist, kann diese Information aufnehmen. Gibt man ihr einen Briefumschlag in die Hand und fordert sie auf, diesen in den Briefkasten zu werfen, gelingt ihr das problemlos: Es unterlaufen ihr also keine Fehler dabei, die Orientierung des Schlitzes auf der Basis von perzeptuellen Prozessen zu erfassen, auch wenn diese Prozesse unbewusst bleiben und das Ergebnis des Hinschauens nur für das Greif-/bzw. Handlungssystem verwertbar ist. Nun liegen zwischen der relativ rohen Informationsmasse nach der modularen Verarbeitung und Repräsentation eines Objekts, wie wir es visuell vor Augen haben, noch diverse Verarbeitungsschritte. Zum Beispiel müssen die einzelnen Eigenschaften, die der Cortex isoliert enkodiert hat, zuverlässig zusammengesetzt werden, so dass es zum Eindruck stabiler Entitäten kommt. Wenn dieses so genannte Binding ausfällt, dann erscheint der visuelle Eindruck verzerrt. Anne Treisman beschreibt hierzu den Fall eines Patienten R.M.: Bekommt er nur ein Objekt visuell dargeboten, macht ihm die Zuordnung von Farben zu Objekten keine Mühe, enthält die Versuchsanordnung jedoch mehrere Objekte, kann er die Farben, die er sieht, nicht mehr dem entsprechenden Objekt zuordnen. Ferner beklagt er sich über Sinnestäuschungen (“illusions”): When I first look at it, it looks blue and it changes real quick to red. I see both colours coming together. … Sometimes one letter is going into the other one. I get a double identity. It kind of coincides. (Treisman 2003)

Der Ausfall eines für die Konstitution des bewussten Wahrnehmungserlebnisses nötigen Mechanismus, hier das Integrieren der Information durch Binding-Prozesse, kann also das subjektive Wahrnehmungserlebnis stark verfremden. Neben der Integration von Information (Binding) spielen Aufmerksamkeitsprozesse eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung des visuellen Erlebens: Die in den kortikalen Modulen des primären visuellen Cortex analysierte Information wird durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Raumsegment gebündelt, und das so entstandene Konglomerat von Raumeigenschaften und Objektmerkmalen kann mit bekannten, d.h. im Gedächtnis abgelegten Mustern, bzw. Objekten verglichen werden. Nach Pylyshyn können dabei bis zu vier Objekte gleichzeitig mit einem „Aufmerksamkeitszeiger“ (FINst) versehen und durch den Raum

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verfolgt werden (Pylyshyn 2002). Diese psychologischen Mechanismen produzieren eine Objektrepräsentation, ohne dass dabei begriffliche Identifikationen ins Spiel kommen. Grundlegende Raumorientierungsprozesse („Tracking“: Verfolgen eines auffälligen Objekts im Raum) einerseits und ikonische Musterabgleiche ermöglichen erste stabile Objektrepräsentationen. Der Wahrnehmungsinhalt kann unter Bedingungen aufmerksamer, normaler Wahrnehmung wesentlich durch das bewusste Wahrnehmungserlebnis charakterisiert werden. Dabei werden die modularen Informationen zu einer Objektrepräsentation integriert und ein stabiles Objekt wird üblicherweise in bewusster Wahrnehmung erfasst. Allerdings werden Objektwahrnehmungen dabei noch nicht durch Begriffe bestimmt. Eine Kategorisierung nach abstrakten Merkmalen, die man systematisch auch auf viele andere Objekte anwenden kann, ist noch nicht zwangsläufig im Spiel, d.h. die oben erläuterte Bedingung für eine interne Objekt-Eigenschaftstruktur der Repräsentation ist noch nicht erfüllt. iii) Die Ebene der Wahrnehmungsurteile Die dritte Komponente umfasst höherstufige kognitive Leistungen, worunter man im weitesten Sinne Denken, Urteilen, Entscheiden, aber auch Verbalisierungen und andere wissensbasierte Fähigkeiten fassen kann wie das Planen komplexer Handlungen. Es handelt sich um die Stufe der Wahrnehmungsurteile, die wesentlich begriffliche Repräsentationen einbeziehen. Jegliches semantisches Wissen, das sich auf ein Objekt bezieht, also sein Name, seine Funktion, usw. können – wenn nötig – abgerufen und Teil der bewussten Objektrepräsentation werden. Die Urteilsebene greift in ihrer Kontextbezogenheit, bzw. in ihrer Eingebundenheit in den ständigen Gedankenstrom auf die zweite Ebene zu, indem spezifische Aufgaben oder Interessen einer Person diejenigen Merkmale vorweg selektieren, die die Ausrichtung der Aufmerksamkeit und damit das zielgerichtete Suchen und Handeln steuern (vergleiche hierzu Frith, Dolan 1997 sowie Bar 2003).

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4.1. Belege und Argumente für das Drei-Ebenen-Modell Wir haben es also mit drei Facetten zu tun, die in der Objektwahrnehmung involviert sind: erstens basale, weitgehend modulare Wahrnehmungsprozesse, die überhaupt erst ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis möglich machen, zweitens den Wahrnehmungsinhalt, der durch eine Integration der Informationen aus den Wahrnehmungsprozessen zu einem stabilen Wahrnehmungsinhalt führt, der im Fall der Objektwahrnehmung normalerweise zu einem bewussten Wahrnehmen eines Objekts führt, und drittens das begriffsbasierte Wahrnehmungsurteil. Die Unterteilung in die drei Ebenen ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Hinreichend gut untersucht sind die Prozesse der visuellen Analyse im primären visuellen Cortex. Das Beispiel der visuellen apperzeptiven Agnosien wie Achromatopsie (der Unfähigkeit zur Farbwahrnehmung) oder Akinetopsie (der Unfähigkeit zur Bewegungswahrnehmung) belegen sowohl die weitgehend modulare Struktur, als auch die Tatsache, dass es sich um maßgebliche, basale Faktoren handelt, die nicht durch andere kortikale Mechanismen überbrückt werden können. Des Weiteren gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine Evidenz dafür, dass jene Prozesse durch höhere kognitive Kapazitäten beeinflusst werden können, sie sind demnach hoch-automatisiert und autonom. Anders im Bereich der Informationsbündelung und der Aufmerksamkeitssteuerung, wie sie auf der zweiten Stufe verankert sind: Hier gibt es Anhaltspunkte dafür, dass laufende Handlungspläne die Aufmerksamkeit auf relevante Merkmale bzw. Objekte lenken und somit den bewussten Wahrnehmungsinhalt beeinflussen (Corbetta/Shulman 2002). Eine Trennung in integrative-sensorische und begrifflich-kognitiv beeinflusste Anteile der Wahrnehmung, wie sie durch die Einführung von Ebenen zwei und drei erreicht wird, kann z.B. durch beobachtete pathologische Fälle gestörter Objektwahrnehmung gestützt werden. So unterscheidet man z.B. zwischen apperzeptiven und assoziativen Agnosien (Farah 2004). Apperzeptive Agnosien umschließen jene Fälle, in denen der Aufbau eines Wahrnehmungserlebnisses gestört ist. Patienten mit apperzeptiven Agnosien verfügen nicht über einen vollständigen Seheindruck: Entweder sehen Sie nur einen Teilausschnitt des Raumes oder sogar von Objekten (Neglect), oder sie sehen nicht farbig oder sie sehen statt klar definierter For-

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men nur unförmige schattenhafte Gebilde. Man kann also davon ausgehen, dass auf den Verarbeitungswegen, die zu einem Perzept führen, etwas gestört ist, oder ein entscheidender Mechanismus ausgefallen ist. Die zweite Art der Agnosien, die assoziativen Agnosien, weist andere Merkmale auf. Hier haben die Patienten einen deutlichen visuellen Gehalt, aber sie scheinen nicht in der Lage zu sein, das Objekt zu erkennen. Manche von diesen Patienten weisen kategorie-spezifische Defizite auf. Prominente Kategorien, die als Ausfälle nachgewiesen worden sind, sind z.B. Tiere, Früchte, Werkzeuge oder Gesichter (Martin 2007, Humphreys et al. 2001). Bei manchen Patienten fallen mehrere Kategorien aus, unter Umständen alle. Man weiß, dass diese Patienten trotzdem „richtig sehen“, weil sie in der Lage sind, Objekte abzuzeichnen. Das Zeichnen erweist sich für manche als sehr mühselig, weil sie ein Objekt Linie für Linie nachmalen, die Kontextinformation über die Identität des Objekts, die das Zeichnen erleichtern könnte, fehlt. Dies sind deutliche Anhaltspunkte für eine Dissoziation von einer begriffsbasierten Klassifikation eines Objekts, die das Fundament für ein Wahrnehmungsurteil bildet, einerseits und des Wahrnehmungsinhalts in Form der phänomenalen Erlebniskomponente andererseits: Apperzeptive Agnosien (z.B. monochromes Sehen) zeigen, dass Wahrnehmungsinhalte wesentlich gestört bzw. eingeschränkt sein können, ohne dass damit die Wahrnehmungsurteile mit begrifflicher Kategorisierung eingeschränkt sind. Assoziative Agnosien sind gute Beispiele für Wahrnehmungsinhalte ohne Wahrnehmungsurteile, denn für letzteres fehlt die begriffliche Kategorisierung. Die oben genannte Patientin D.F. ist der besondere Fall von unbewussten Wahrnehmungsinhalten, die ohne Wahrnehmungsurteile verfügbar sind. Im ersten Durchgang bestätigt die Betrachtung die Grundlinie von Dretske, der gemäß Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich und erst Wahrnehmungsurteile begriffsbasiert sind. Eine differenziertere Betrachtung macht eine Modifikation dieses Bild erforderlich.

4.2. Die Wechselwirkung der drei Ebenen Nachdem wir nun Evidenzen für eine Trennung der drei Ebenen vorgestellt haben, möchten wir die Vernetzung der Ebenen genauer unter die Lupe

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nehmen. Die Leitfrage ist dabei, ob die Wahrnehmungsphänomene sich stets bottom-up, also unidirektional von der Enkodierung von Umweltreizen zu höherer Kognition, aufbauen, oder ob es nicht wichtige Wechselwirkungen zwischen höheren kognitiven Prozessen mit begrifflicher Repräsentation einerseits und modularen Informationsverarbeitungen andererseits gibt, die zudem ein neues Licht auf die Rolle von Begriffen für Wahrnehmungen werfen können. Dazu möchten wir erstens zeigen, dass die basalen Wahrnehmungsprozesse – ohne Vermittlung durch ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis – direkt das Wahrnehmungsurteil beeinflussen können (unvermittelte bottom-up-Verknüpfungen), und zweitens darlegen, dass begriffliche Repräsentationen auf den Wahrnehmungsinhalt und sogar auf die Wahrnehmungsprozesse Einfluss nehmen können. Dies sind dann top-down-Einflüsse, die zeigen, dass McDowells These zwar nicht generell zutrifft, wohl aber für bestimmte Umstände richtig sein kann, so dass das einfache Modell einer rein passiven Perzeption aufgegeben werden muss. Betrachten wir nun den ersten Fall eines unvermittelten bottom-upEinflusses: Das visuelle System dient nicht ausschließlich der Erstellung zu Bewusstsein kommender Perzepte, sondern ein großer Teil der Informationsverarbeitung läuft an der personalen Ebene vorbei und beeinflusst direkt das Verhalten (siehe den Fall der Patientin D.F.). Noch deutlichere Evidenzen bieten Fälle wie „Blindsight“: Aufgrund einer Schädigung im visuellen Kortex (meist) der rechten Hirnhälfte, findet dann entsprechend im linken Gesichtsfeld überhaupt keine bewusste Wahrnehmung mehr statt. Wenn man die Person nach ihrem Wahrnehmungserlebnis fragt, so antwortet sie, dass sie nichts sehen kann. Bietet man in der linken Gesichtshälfte einen Ball dar und lässt raten, ob es ein Ball oder eine Puppe sei, die dort liege, dann sagen die Patienten mit einer Wahrscheinlichkeit, die signifikant nicht zufällig ist, das Richtige (Weiskrantz 1997). Auch hier ist die Annahme, dass es noch verbliebene, modulare Wahrnehmungsprozesse sind, die direkt Informationen an den präfrontalen Kortex senden und so das Wahrnehmungsurteil ermöglichen. Der zweite interessante Fall der Wechselwirkung sind die top-downEinflüsse von begrifflichen Repräsentationen auf Wahrnehmungsinhalte und sogar auf Wahrnehmungsprozesse. Eine direkte Beeinflussung der

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Erkennungsleistung durch vorherige begriffliche Einflussnahme kann an folgendem Beispiel gezeigt werden:

In diesem extrem verarmten Reizmuster kann nach längerer Betrachtung ein Objekt verortet und erkannt werden. Die Zeit bis zum „Erkennen“ kann allerdings durch die vorherige Information, dass es sich um einen Dalmatiner handelt, verkürzt werden. Interessant ist hierbei folgendes: Der subjektive Charakter des Wahrnehmungserlebnisses zwischen Situation 1 (Fleckenbild-Sehen) und Situation 2 (Dalmatiner-Sehen) ändert sich schlagartig. Ist jedoch einmal Situation 2 eingetreten, also ein begrifflicher Gehalt zu dem Wahrnehmungsinhalt hinzugekommen, dann ist es der Versuchsperson fast immer unmöglich, den Wahrnehmungszustand der Situation 1 wieder einzunehmen. Das kognitive System überformt somit durch das begriffliche Wissen, dass in dem Bild ein Dalmatiner dargestellt ist, das nichtbegriffliche Sehen des Fleckenbildes. Analog kann eine unklar erscheinende schwarze Kiste entweder als Mikrowelle oder als Fernseher interpretiert werden. Wenn jedoch der spezifische räumliche Kontext weitere Information zur Verfügung stellt, wie etwa wenn sich das Objekt neben einem unförmigen, niedrigen horizontalem Gebilde befindet, das wie eine Couch aussieht, so würde die Interpretation der Kiste als Fernseher Unterstützung erfahren. Wenn es sich jedoch zwischen anderen geometrisch scharf abgegrenzten rechteckigen Gebilden befindet, so könnte der „Küchenkontext“ Vorrang erlangen und das Gebilde als Mikrowelle erkannt werden. Hierbei wird Information, die über die schnelleren Bahnen des optischen Nervs (s.o.) vermittelt wird, direkt vom primären visuellen Cortex zum präfrontalen Cortex weitergeleitet. Dort

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evoziert diese grobaufgelöste Vorabinformation eine Art von Kontextsensitivierung: Jene Gedächtnisspuren, die ähnliche Muster enthalten, werden sensitiviert und erlauben das schnellere Einordnen von Objekten in bestimmte Klassen, bzw. Kategorien und vermindern somit die Zeit, die das System für die Erkennungsleistung braucht (Bar et al. 2001, Bar 2003, 2004). Damit wird deutlich, dass begriffliches Wissen das bewusst erlebte Perzept und damit den Wahrnehmungsinhalt verändern kann. Dies ist die Art von Einfluss, die McDowell den Begriffen generell zuschreibt. Sie kann also vorkommen. McDowell schießt nur über das Ziel hinaus, wenn er meint, dass jede Wahrnehmung einen solchen Einfluss von Begriffen einschließt und ohne Begriffe nicht zustande käme. Denn wir haben ja andererseits vielfältige empirische Evidenz angeführt, die zeigt, dass ein perzeptueller Wahrnehmungsinhalt von einer begrifflichen Klassifikation und einem darauf basierenden Urteil abgetrennt werden kann. Die Müller-Lyer-Illusion erlaubt gerade keine kognitive Überformung im obigen Sinne; der Wahrnehmungsinhalt, das bewusst erlebte Perzept bleibt gleich, auch wenn ich mich vergewissert habe, dass die Linien gleich lang sind. Die rationale Urteilskomponente ermöglicht es mir, die „Fehler“ in der Wahrnehmung eines Perzepts zu erkennen, ohne dass damit jedoch der Wahrnehmungseindruck irgendwie verändert würde. Letztlich ist das in den meisten Fällen von Wahrnehmungstäuschungen so. Bezüglich des bewussten Wahrnehmungserlebnisses kann also durchaus beides auftreten: dass die begriffliche Einordnung ein zunächst vorliegendes phänomenales Erlebnis dominiert und transformiert, oder aber auch, dass das phänomenale Erlebnis gar nicht berührt wird. Die Trennlinie zwischen den Komponenten der theoretischen Ebenen 2 und 3 ist natürlich eine für das Subjekt im Normalfall nicht erfahrbare: Aus der Erlebnisperspektive der ersten Person ist das Hinzutreten oder die Abwesenheit von Begriffen und ggf. Urteilen für eine Bestimmung des Wahrnehmungsinhaltes nicht zwangsläufig erkennbar: Es ist stets bewusst erfassbar, wenn ich ein Wahrnehmungsurteil fälle, aber ob das Urteil bzw. die darin involvierten Begriffe, mein Wahrnehmungsbild verändert haben, ist jeweils mit Hilfe von kontrollierten Kontrastsituationen in Experimen-

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ten herauszufinden. Wesentlich ist, dass Begriffe das Wahrnehmungsbild bestimmen können, aber nicht müssen.

5. Abschließende Bewertung der Rolle von begrifflichen Repräsentationen Welche Rolle spielen Begriffe für Wahrnehmungen? Wir haben begriffliche Repräsentationen minimal so bestimmt, dass sie eine interne ObjektEigenschaft-Struktur aufweisen und minimal holistisch mit anderen Begriffen verknüpft sind. Ein wesentliches Kriterium ist dabei die systematische Rekognition der relevanten Eigenschaften, die einen Begriff konstituieren. Sind Begriffe unweigerlich in Wahrnehmungsinhalte involviert wie McDowell es im Anschluss an Kant behauptet? Die Antwort ist klarerweise „Nein!“. Jede sprachliche Zuschreibung eines Wahrnehmungsinhaltes basiert zwar auf Begriffen, über die jedoch das kognitive System, das eine Wahrnehmung macht, nicht verfügen muss. Die zentralen Argumente sind die Reichhaltigkeit, die Feinkörnigkeit und die Unabhängigkeit unserer Wahrnehmungen (s.o.) sowie die empirischen Evidenzen für das Drei-Ebenen-Modell der Wahrnehmung. Demgemäß kann der Wahrnehmungsinhalt nichtbegrifflich sein, d.h. er weist keine Objekt-Eigenschaft-Struktur auf und nicht den geforderten minimalen Holismus, der für Begriffe typisch ist. Dies bedeutet nicht, dass der Wahrnehmungsinhalt keinerlei Struktur aufweisen muss, sondern dass diese Struktur nicht als selbständige Repräsentation von den typischen Schlüsselreizen abtrennbar und deshalb nicht (bzw. kaum) auf Situationen ohne diese Schlüsselreize übertragbar ist. Evans und Dretske haben also recht, wenn sie von nichtbegrifflichen Gehalten von Wahrnehmungen sprechen. Jedoch übersehen sie bei ihrer Verallgemeinerung jene Fälle, in denen Begriffe ganz wesentlich bei der Genese eines Wahrnehmungsinhalts involviert sind (s.o.): In solchen Fällen, bei denen die Unterbestimmtheit der Reize erst zusammen mit einer begrifflichen Information („DALMATINER“) dazu führt, dass der Hund im Bild erkannt wird (s.o.), ist es plausibel davon zu sprechen, dass der Wahrnehmungsinhalt selbst begrifflich strukturiert ist. Es können entsprechend unmittelbar aus dem Wahrnehmungsinhalt einige „Inferenzen“ gezogen werden, ohne dass diese

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als Deduktionen von Urteilen repräsentiert werden müssen. Wahrnehmungsurteile sind noch nicht im Spiel. Bildliche Repräsentationen können demgemäß unmittelbar implizites Wissen für ein kognitives System bereitstellen, z.B. bezüglich räumlicher Relationen von Objekten: Wenn dies zu einer begrifflichen Repräsentation führt, dass ein Apfel links von einer Banane und eine Birne links von Apfel liegt, so resultiert aus der Bildinformation direkt – ohne ein logisches Schließen – ein implizites Wissen, dass die Birne links von der Banane liegt. Solche begrifflichen Wahrnehmungsinhalte sind jedoch keine Wahrnehmungsurteile. Letztere stehen uneingeschränkt unter der Norm der Rationalität, der Logik bzw. der systematischen deduktiven Inferenzbeziehungen. Begriffliche Wahrnehmungsinhalte dagegen sind nur partiell „inferentiell“ und zwar nur in Bezug auf die mit der perzeptuellen Information implizit verknüpften Begriffsstrukturen. Fassen wir zusammen: Es gibt erstens modulare Wahrnehmungsprozesse, die die Grundlage unseres Wahrnehmungserlebnisses bilden. Das Wahrnehmungserlebnis hat einen Wahrnehmungsinhalt: Dieser kann (contra McDowell) nichtbegrifflich sein, genau dann wenn der Gehalt nicht die Objekt-Eigenschaft-Struktur aufweist und die anderen Kernmerkmale der Begriffe in der Gehaltsstruktur fehlen. Er kann aber auch begrifflich sein (contra Evans und Dretske), nämlich dann, wenn die Wahrnehmung aufgrund der Genese z.B. in einer unbestimmten Reizsituation, mittels Begriffen strukturiert wird. Schließlich können wir explizite Wahrnehmungsurteile formen, die Begriffe und ihre systematische Komposition voraussetzen. In einer Übersicht lässt sich die Wechselwirkung der Ebenen wie folgt darstellen:

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Abschließend sei unsere Position nochmals genauer in die gegenwärtige Debatte eingeordnet: Dretske (Dretske 1981) spricht sich für eine Zweiteilung aus, nämlich in den nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt (content of perception) und die begrifflichen Wahrnehmungsurteile. Elisabeth Pachérie (Pachérie 2000) stellt fest, dass in dieser Dichotomie das bewusste Wahrnehmungserlebnis keine hinreichende Berücksichtigung findet und spricht sich deshalb für die Erweiterung um eine Art Zwischenstufe des perzeptuellen Gehalts (intermediate level of perceptual content) aus, der zwar bewusst ist, aber einer Überformung durch Überzeugungen nicht unterliegen kann. Sie bezieht sich dabei auf optische Täuschungen wie die Müller-Lyer-Illusion (s.o.): Das Wissen, dass beide dargestellten Linien gleich lang sind, kann den Wahrnehmungseindruck, dass sie nicht gleich lang sind, nicht überlagern. Unser Stufenmodell der Wahrnehmung wird Pachéries Forderung nach einer Zwischenstufe des bewussten Wahrnehmungsinhalts gerecht, der kognitiv zugänglich, aber nichtbegrifflich, d.h. nicht durch Wissen und Überzeugungen überformbar ist. Darüber hinaus unterscheiden wir nicht nur die begrifflichen Wahrnehmungsurteile, sondern führen auch einen Platz für begriffliche

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Wahrnehmungsinhalte ein. Dies sind begrifflich strukturierte Wahrnehmungen, die jedoch noch nicht in explizite Wahrnehmungsurteile übergehen.

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Sven Bernecker: Die Kausaltheorie der Wahrnehmung und der direkte Realismus

ABSTRACT. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es erstens, die Unterscheidung zwischen dem direkten und indirekten Realismus hinsichtlich der Wahrnehmung zu erläutern und zweitens, die weit verbreitete Ansicht, der direkte Realismus sei mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung unvereinbar, zu widerlegen. Es lassen sich fünf Argumente für die Inkompatibilität des direkten Realismus mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung unterscheiden. Keines dieser Argumente ist stichhaltig. Die Unterscheidung zwischen dem direkten (oder naiven) und dem indirekten (oder repräsentationalen) Realismus ist die grundlegende Unterscheidung innerhalb der Philosophie der Wahrnehmung. Beide Positionen gehen davon aus, dass es Teile oder Aspekte der Wirklichkeit geben kann, die für uns prinzipiell unerkennbar und unerfahrbar sind. Der Unterschied zwischen dem direkten und indirekten Realismus betrifft die Frage, von welcher Art die direkten oder unmittelbaren Objekte der Wahrnehmung sind. Der indirekte Realismus besagt, dass (obgleich die objektive Außenwelt für unsere Wahrnehmungen kausal verantwortlich ist) wir die Außenwelt nicht direkt wahrnehmen können. Die direkten Objekte der sinnlichen Wahrnehmung sind eine besondere Klasse mentaler Repräsentationen, die sogenannten “Sinnesdaten”. So wie Fernsehbilder entfernte Sachverhalte repräsentieren, so repräsentieren Sinnesdaten Gegenstände in der Außenwelt. Wir erfahren über die Außenwelt, indem wir innerlich fernsehen. Im Unterschied zu den physischen Gegenständen existieren aber die Sinnesdaten nur dann, wenn sie wahrgenommen werden. Der direkte Realismus hingegen behauptet, dass sich unsere sinnlichen Wahrnehmungen direkt auf die Außenwelt beziehen. In seinem neuesten Buch The Threefold Cord entwickelt und verteidigt Hilary Putnam eine Variante des direkten Realismus, die er “natürlichen Realismus” nennt. Er schreibt:

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Sven Bernecker A natural realist, in my sense, does hold that the objects of (normal “veridical”) perception are “external” things, and more generally, aspects of “external”reality.... The natural realist ... holds ... that successful perception is a sensing of aspects of the reality “out there” and not merely affectation of a person’s subjectivity by those aspects (1999, S. 10).

The Threefold Cord bietet einen willkommenen Anlass, um die alte und ein wenig verstaubte Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Realismus neu zu durchdenken. Ziel dieses Aufsatzes ist es aber nicht, Putnams natürlichen Realismus einer kritischen Prüfung zu unterziehen; dies ist bereits von Jerry Fodor (2000) geleistet worden. Hier soll auf ein spezifisches Argument gegen den direkten Realismus eingegangen werden. Diesem Argument zufolge ist der direkte Realismus mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung unvereinbar. Putnam hält das Argument für stichhaltig und lehnt, um am direkten (bzw. natürlichen) Realismus festhalten zu können, die Kausaltheorie der Wahrnehmung ab. Im Gegensatz zu Putnam bin ich von der Richtigkeit der Kausaltheorie der Wahrnehmung überzeugt. Selbst wenn der direkte (bzw. natürliche) Realismus und die Kausaltheorie inkompatibel wären, würde Putnam einen zu hohen Preis für den direkten (bzw. natürlichen) Realismus zahlen. Ziel dieses Aufsatzes ist der Nachweis, dass der direkte Realismus und die Kausaltheorie der Wahrnehmung, entgegen Putnams Einschätzung, miteinander vereinbar sind. Bevor auf die Kompatibilität des direkten Realismus mit der Kausaltheorie eingegangen werden kann, muss die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Realismus näher erläutert werden. Dies ist die Aufgabe der ersten beiden Abschnitte. Der erste Abschnitt geht der Frage nach, weshalb dem indirekten Realismus zufolge Sinnesdaten die Gegenstände der Wahrnehmung ausmachen. Im zweiten Abschnitt wird erklärt, in welchem Sinne Sinnesdaten die direkten Gegenstände der Wahrnehmung sind. Im dritten Abschnitt werden drei Argumente für die Inkompatibilität des direkten Realismus mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung erörtert und verworfen. Abschnitt vier thematisiert das Humesche Argument für die Inkompatibilitätsthese und Abschnitt fünf geht auf Russells Argument der Zeitverschiebung ein.

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1. Sinnesdaten als Objekte der Wahrnehmung Die Unterscheidung zwischen dem direkten und indirekten Realismus hinsichtlich der Wahrnehmung weist eine interessante Geschichte auf. Aristoteles und Thomas von Aquin sind direkte Realisten, da sie davon ausgehen, dass es sich bei den Gegenständen der sinnlichen Erfahrung um Aspekte der Außenwelt handelt. Im siebzehnten Jahrhundert erlangte der indirekte Realismus die Oberhand. Sowohl René Descartes als auch John Locke meinten, die primären Gegenstände der Wahrnehmung seien nicht die Gegenstände der Außenwelt, sondern eine besondere Art mentaler Repräsentationen. Descartes und Locke nannten diese Repräsentationen “Vorstellungen”, George Berkeley und David Hume “Sinneseindrücke”, John Stuart Mill “Empfindungen”, Bertrand Russell und G.E. Moore “Sinnesdaten” und Roderick Firth “Perzepte”. Während vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein die philosophische Mehrheit dem indirekten Realismus anhing, hat sich heutzutage das Blatt wieder einmal gewendet. Obgleich es nach wie vor einige Vertreter des indirekten Realismus gibt, gehört die überwiegende Mehrzahl der zeitgenössischen Theorien der Wahrnehmung dem Lager des direkten Realismus an.1 Um die Unterscheidung zwischen dem direkten und indirekten Realismus besser verstehen zu können, muss zwei Fragen nachgegangen werden. Erstens, was spricht dafür zu behaupten, Sinnesdaten seien Objekte der Wahrnehmung? Zweitens, inwiefern sind Sinnesdaten direkte oder unmittelbare Objekte der Wahrnehmung? Ich werde mich in diesem Abschnitt der Beantwortung der ersten Frage widmen und im folgenden Abschnitt die zweite Frage thematisieren. Wie hat man sich Sinnesdaten vorzustellen? Dem indirekten Realismus zufolge sind Sinnesdaten private, mentale Entitäten, die den physischen Gegenständen, durch die sie verursacht werden, ähneln. Innerhalb des indirekten Realismus gibt es verschiedene Auffassungen darüber, in welcher Hinsicht und bis zu welchem Grad Sinnesdaten den physischen Gegenständen der Außenwelt ähneln. Während einige glauben, dass Sinnesdaten sowohl primäre als auch sekundäre Eigenschaften haben, vertreten andere (wie beispielsweise John Locke) die Auffassung, dass die Ähnlich1

Zu den zeitgenössischen Vertretern des indirekten Realismus zählen Fodor (2000), Jackson (1977), Lowe (1992), O’Shaughnessy (1980) und Robinson (1994).

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keit zwischen Sinnesdaten und physischen Gegenständen sich auf sekundäre Eigenschaften beschränkt. Der zweifelsohne problematischste Aspekt des indirekten Realismus ist die Behauptung, dass Sinnesdaten alle die Eigenschaften besitzen, deren man sich in der Wahrnehmung bewusst wird. Das Motiv dafür, den Sinnesdaten Sinneseigenschaften zuzuschreiben, besteht in dem Vergleich veridischer Wahrnehmungen mit Halluzinationen. Nehmen wir an, dass jemand eine Orange halluziniert. Diese Erfahrung mag von der Erfahrung, die er hat, wenn er tatsächlich eine Orange sieht, phänomenal ununterscheidbar sein. Was er sieht, ist aber keine Orange, sondern nur die Vorstellung oder das Sinnesdatum einer Orange. Weil aus der Innenperspektive nicht zu unterscheiden ist, ob man sich eine Orange nur vorstellt oder tatsächlich eine Orange sieht, ist es plausibel anzunehmen, dass das Sehen einer Orange im Sehen einer Vorstellung von ihr besteht. Selbst in der veridischen Wahrnehmung einer Orange ist man sich nur eines Sinnesdatums direkt bewusst. Der einzige Unterschied zwischen der veridischen und der halluzinatorischen Wahrnehmung besteht darin, dass im ersten Fall das Orangen-Sinnesdatum durch eine wirkliche Orange verursacht ist. Die allgemeine Formulierung des Halluzinationsarguments sieht wie folgt aus: (1) Jede Sinneserfahrung hat einen Gegenstand. (2) Wenn wir halluzinieren, nehmen wir keine physischen Gegenstände wahr. (3) Der Gegenstand einer Halluzination ist ein Sinnesdatum. (4) Die Sinneserfahrungen, die man in der veridischen Wahrnehmung macht, sind von denjenigen, die durch Halluzinationen hervorgerufen werden, subjektiv ununterscheidbar. (5) Eine Sinneserfahrung ist nur dann von der Erfahrung eines Sinnesdatums subjektiv ununterscheidbar, wenn sie selbst die Sinneserfahrung eines Sinnesdatums ist. (6) Deshalb sind Sinnesdaten nicht nur die Gegenstände der Halluzination, sondern auch der veridischen Wahrnehmung. Wir irren also, wenn wir glauben, makroskopische Gegenstände direkt zu sehen. Tatsächlich sehen wir diese Gegenstände, indem wir etwas anderes sehen. Direkt sehen wir nur Sinnesdaten.

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Mit Ausnahme von Prämisse (2) wurde jede einzelne Prämisse des Halluzinationsarguments in Frage gestellt. In Bezug auf die Prämisse (4) kann gefragt werden, ob es tatsächlich keinen Erfahrungsunterschied zwischen der veridischen und der nicht-veridischen Wahrnehmung gibt. Manchmal wird behauptet, Halluzinationen seien im Unterschied zu veridischen Wahrnehmungen chaotisch und fantastisch. Beispielsweise führt J.L. Austin an: [I]t is simply not true that seeing a bright green after-image against a white wall is exactly like seeing a bright green patch actually on the wall, or that seeing a white wall through blue spectacles is exactly like seeing a blue wall; or ... that seeing a stick refracted in water is like seeing a bent stick (1962, S. 49).

Austins Einwand gegen Prämisse (4) ist jedoch nicht stichhaltig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass hier und da Halluzinationen vorkommen, die von veridischen Wahrnehmungen subjektiv ununterscheidbar sind. Außerdem verlangt Prämisse (4) lediglich, dass sich allgemeine qualitative Ähnlichkeiten zwischen veridischen und halluzinierten Sinneserfahrungen aufweisen lassen (siehe Robinson 1994, S. 88). Betrachten wir als nächstes Prämisse (5). Warum sollte die Tatsache, dass Halluzinationen veridischen Sinneserfahrungen subjektiv ähneln können, Aufschluss darüber geben, von welcher Art die Gegenstände der veridischen Sinneserfahrung sind? Mit anderen Worten, warum sollten zwei Gegenstände, die phänomenal ununterscheidbar sind, von derselben Art sein? Wäre phänomenale Ununterscheidbarkeit ein Kriterium für Identität, so müssten wir alle gefälschten Banknoten für echt erklären und alle echten Banknoten für Blüten. Der direkte Realist mag zugestehen, dass es keinen phänomenalen Unterschied zwischen der veridischen und der nichtveridischen Wahrnehmung gibt. Doch daraus folgt nicht, dass die Gegenstände der veridischen Wahrnehmung von der gleichen Art sind wie die Gegenstände der Halluzination. Die veridische Wahrnehmung bezieht sich auf physische Gegenstände, während die Halluzination sich auf mentale Repräsentationen bezieht. Gegen Prämissen (1) und (3) kann eingewandt werden, es gebe keinen Gegenstand, dessen man sich beim Halluzinieren bewusst ist, und welchem die Eigenschaften der halluzinatorischen Sinneserfahrung zugeschrieben werden können. Das Opfer der Halluzination glaubt zwar fälsch-

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licherweise, einen bestimmten Gegenstand zu erfahren, aber dieser Gegenstand ist tatsächlich nicht vorhanden. Die Prämissen (1) und (3) beruhen auf dem, was üblicherweise das phänomenale Prinzip genannt wird. Das phänomenale Prinzip besagt: Wenn es einem aufgrund einer Sinneserfahrung so scheint, als gebe es einen Gegenstand, der bestimmte Eigenschaften aufweist, dann gibt es diesen Gegenstand und er hat eben diese Eigenschaften. Einige Philosophen halten das phänomenale Prinzip für selbstverständlich. H.H. Price erklärt zum Beispiel: “[W]hen I say ‘this table appears brown to me’ it is quite plain that I am acquainted with an actual instance of brownness” (1932, S. 63; siehe auch Broad 1923, S. 238). Das Zusammenspiel von phänomenalem Prinzip einerseits und Halluzinationsargument andererseits führt zu der Auffassung, Sinnesdaten seien Träger der sinnlich erfahrbaren Eigenschaften. Wenn sinnliche Wahrnehmungen mentale Repräsentationen darstellen, dann ist das phänomenale Prinzip unhaltbar. Nur weil man die Vorstellung hat, Gegenstand G habe Eigenschaft E, folgt nicht, dass es einen Gegenstand gibt, der E instanziiert. Aus der vorgestellten Instanziierung von E in G folgt nicht die tatsächliche Instanziierung von E. Dieser Einwand gegen das phänomenale Prinzip ist natürlich nicht neu. Zum Beispiel wirft John Searle dem indirekten Realismus vor, den Wahrnehmungsgehalt mit dem Wahrnehmungsgegenstand zu vermischen. Searle erklärt: [T]he traditional sense data theorists were correct in recognizing that we have experience, visual and otherwise, but they mislocated the intentionality of perception in supposing that experiences were the objects of perception, and the naive realists were correct in recognizing that material objects and events are characteristically the objects of perception, but many of them failed to realize that the material objects can only be the objects of visual perception because the perception has an intentional content, and the vehicle of the intentional content is a visual experience (1983, S. 61).

Dem direkten Realismus zufolge sind wir uns in Fällen der Halluzination keines Gegenstandes bewusst. Wer einen Gegenstand halluziniert, der sieht nichts. Trotzdem kann eine durch Halluzination hervorgerufene Sinneserfahrung denselben intentionalen Gehalt haben wie ihr veridisches Gegenstück. Welchen intentionalen Gehalt eine Sinneserfahrung hat, ist also unabhängig davon, ob der Sinneserfahrung ein Gegenstand entspricht.

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2. Epistemische Asymmetrie Dem indirekten Realismus zufolge stellen Sinnesdaten die direkten oder unmittelbaren Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung dar. Die Behauptung, Sinnesdaten seien die direkten Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, darf nicht mit der zweifelsohne falschen Behauptung verwechselt werden, wonach die Sinnesdaten die expliziten Inhalte unserer Wahrnehmungen darstellen. Würde der indirekte Realismus behaupten, Sinnesdaten bildeten die expliziten Inhalte der Wahrnehmung, so würde er der unleugbaren Tatsache widersprechen, dass im Großen und Ganzen das, was uns in der Wahrnehmung bewusst ist, gewöhnliche Gegenstände wie Bäume, Felsen und Autos sind. Wenn der indirekte Realismus nicht bestreitet, dass es physische Gegenstände statt Sinnesdaten sind, die den expliziten Gehalt der Sinneserfahrung ausmachen, so stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht von Sinnesdaten als direkten oder unmittelbaren Gegenständen der Wahrnehmung gesprochen werden kann. Dem indirekten Realismus zufolge gibt es eine epistemische Asymmetrie zwischen unserem Zugang zu Sinnesdaten und unserem Zugang zu Gegenständen der Außenwelt. Der Zugang zu Sinnesdaten ist epistemisch privilegiert, da man Sinnesdaten wahrnehmen kann, ohne physische Gegenstände wahrzunehmen, nicht aber umgekehrt. Die These vom epistemischen Primat der Sinnesdaten wird beispielsweise von David Hume in der folgenden Passage vertreten: It is a question of fact, whether the perceptions of the senses be produced by external objects, resembling them: how shall this question be determined? By experience surely; as all other questions of a like nature. But here experience is, and must be entirely silent. The mind has never anything present to it but the perceptions, and cannot possibly reach any experience of their connection with objects. The supposition of such a connexion is, therefore, without any foundation in reasoning (1748, section 7, part 1, S. 153).

Innerhalb des indirekten Realismus gibt es unterschiedliche Interpretationen unseres epistemisch privilegierten Zugangs zu Sinnesdaten. Zum Beispiel erklärt John Stuart Mill (1843, ch. 1, §2) den privilegierten Status, den das Wissen um die eigenen Sinnesdaten genießt, mit Hilfe des Begriffs der Unmittelbarkeit: Das Wissen um physische Gegenstände beruht auf

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Schlussfolgerungen, während das Wissen um die eigenen Sinnesdaten ohne Schlussfolgerungen auskommt. Problematisch an dieser Interpretation ist, dass sie der Phänomenologie der Sinneserfahrung widerspricht. Aus der Perspektive der ersten Person entsteht nicht selten der Eindruck, als sei die Sinneserfahrung von physischen Gegenständen direkt und beruhe nicht auf Schlussfolgerungen. Um an dieser Interpretation der Unterscheidung von direktem und indirektem Realismus festzuhalten, muss behauptet werden, die Schlussfolgerungen, auf denen die Sinneserfahrung physischer Gegenstände beruht, seien nicht selten unbewusster Art. Manche indirekten Realisten behaupten, der privilegierte Zugang zu unseren Sinnesdaten bestünde darin, dass das Wissen um die eigenen Sinnesdaten unfehlbar (oder zumindest zweifelsfrei) ist. Es ist unmöglich, Sinnesdaten anders wahrzunehmen, als sie sind. Diese Auffassung wird beispielsweise von David Hume vertreten. Er schreibt: “Since all actions and sensations of the mind are known to us by consciousness they must necessarily appear in every particular what they are, and be what they appear” (1739, book I, part 4, section 2, S. 190). Auch H.H. Price behauptet, dass, wenn es ihm scheint, als ob er eine Tomate sähe, er natürlich bezweifeln kann, ob es wirklich eine Tomate ist, die er sieht. Er könne sich jedoch darin nicht irren, dass da ein roter und rundlicher Fleck ist – “that there exists a red patch of a round and somewhat bulgy shape ... and that this whole field of colour is directly present to [his] consciousness” (1932, S. 3). Der auf Wilfried Sellars (1963) zurückgehende Einwand gegen die Auffassung, das Wissen um die eigenen Sinnesdaten sei unfehlbar (oder zweifelsfrei), besteht darin, dass eine bewusste Erfahrung, um mitgeteilt werden zu können, begrifflich klassifiziert werden muss, und dass die begriffliche Klassifikation von Erfahrungen alles andere als unfehlbar oder zweifelsfrei ist. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass es irgendwelche Objekte gibt, von denen wir keine fehlerhaften Vorstellungen haben können. Die beiden genannten Kriterien für die Unmittelbarkeit des Bewusstseins – Unmittelbarkeit und Unfehlbarkeit – werden nicht selten miteinander verbunden. Beispiele dafür liefern die Wahrnehmungstheorien von Frank Jackson und David Armstrong. Ihrem Verständnis des indirekten Realismus zufolge ist der Grund dafür, dass wir Gegenstände der Außenwelt nicht direkt wahrnehmen, der, dass die Wahrnehmung von Gegen-

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ständen der Außenwelt in der Wahrnehmung von Oberflächen beruht. Jackson schreibt: We commonly see things in virtue of seeing other things: I see the aircraft flying overhead in virtue of seeing its underside (and the aircraft is not identical with its underside); I see the table I am writing on in virtue of seeing its top; I first see England on the cross-channel ferry in virtue of seeing the white cliffs of Dover; and so on and so forth.... It follows, therefore, that I see an opaque physical object in virtue of seeing a part of it.... Now for our definition: x is a mediate object of (visual) perception (for S at t) iff S sees x at t, and there is a y such that (x  y and) S sees x in virtue of seeing y (1977, S. 19).

Armstrong, der im Gegensatz zu Jackson nicht dem indirekten Realismus das Wort spricht, erklärt ganz analog: Consider seeing an apple. Whether the perceptions produced by the apple be veridical or illusory, it is clear that it is not the apple as a whole which acts upon the eyes to produce these perceptions. If, for example, the back half of the apple had been cut away, this would have had no effect upon the resultant perception.... Furthermore, we could obviously pare away a good deal more of the apple and yet the object left might still have exactly the same perceptual effect.... If we consider these facts, there seems to be a clear sense in which when, as we say, somebody sees an apple, then “in truth and strictness” as Berkeley would put it, they see something far less. They see a much smaller object and see only a selection of the properties of that smaller object.... [W]e see that an apple is seen in virtue of seeing much less than the apple (1979, S. 87).

Es ist eine unleugbare Tatsache, dass wir Gegenstände der Außenwelt aufgrund ihrer Oberflächen sehen. Aber selbst wenn dem so ist: Was zwingt uns zu der Annahme, dass wir Gegenstände der Außenwelt nicht direkt wahrnehmen? Jacksons Argument scheint folgendes zu sein: Vorausgesetzt, wir leben in einer epistemisch freundlichen Umgebung, dann reicht die Wahrnehmung eines Teils der Oberfläche eines Apfels aus, um einen Apfel wahrzunehmen. In einer epistemisch ungünstigen Umgebung jedoch könnte man dieselbe Wahrnehmung der Oberfläche eines Apfels haben, ohne deshalb einen Apfel wahrzunehmen. Und weil wir Gegenstände der Außenwelt nur aufgrund der Wahrnehmung von Teilen ihrer Oberflächen wahrnehmen, folgert Jackson, dass man einen Teil der Oberfläche

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eines Gegenstands wahrnehmen kann, ohne den Gegenstand selbst dadurch wahrzunehmen. Im Anschluss an Jackson und Armstrong kann die Unterscheidung von direktem und indirektem Realismus folgendermaßen erklärt werden. Dem indirekten Realismus zufolge ist es möglich, dass die Sinneserfahrungen einer veridischen Wahrnehmung mit denen einer illusionären Wahrnehmung übereinstimmen. Der Grund dafür, dass die Kenntnis der eigenen Sinnesdaten gegenüber der Kenntnis physischer Gegenstände epistemisch privilegiert ist, liegt darin, dass man, um seine Sinnesdaten kennen zu können – d.h. um wissen zu können, wie einem Gegenstände erscheinen –, nicht zu wissen braucht, ob den Sinnesdaten irgend etwas in der Außenwelt entspricht. Gemäß dem direkten Realismus jedoch ist die Kenntnis der eigenen Sinnesdaten nicht verlässlicher als die Kenntnisse von Gegenständen der Außenwelt. Die epistemische Asymmetrie wird geleugnet. Der direkte Realismus behauptet, dass sich eine veridische Sinneserfahrung von ihrem illusionären Gegenstück der Art nach unterscheidet. Dieser Unterschied besteht auch dann, wenn die beiden Sinneserfahrungen phänomenal ununterscheidbar sind. Der direkte Realist weist deshalb die Annahme zurück, dass Sinneserfahrungen, die aus der Ich-Perspektive ununterscheidbar sind, notwendigerweise von der gleichen Art sind. (Im Abschnitt 4 wird dieser Punkt wieder aufgegriffen.)

3. Drei Argumente für die Inkompatibilitätsthese Vom Halluzinationsargument abgesehen spricht für den indirekten Realismus die (angebliche) Inkompatibilität des direkten Realismus mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung. Der Kausaltheorie der Wahrnehmung zufolge sieht S, dass Gegenstand G Eigenschaft E hat, nur wenn (a) S eine visuelle Erfahrung von G als E hat, (b) G E hat, und (c) die Erfahrung von G als E durch die Tatsache, dass G E ist, hervorgerufen wird. Die Kausaltheorie wird für unverzichtbar gehalten, wenn es zu erklären gilt, was Wahrnehmungen und veridische Halluzinationen unterscheidet. Nehmen wir an, S stehe vor einer Uhr und es erscheine ihm so, als sehe er eine Uhr. Nehmen wir weiterhin an, dass Ss Erfahrung nicht durch die Uhr hervorgerufen wird, sondern durch einen Chirurgen, der seine visuelle Kortex me-

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chanisch stimuliert. In diesem Fall scheint es natürlich zu sagen, dass S die Uhr nicht sieht. Die Kausaltheorie untermauert diese Auffassung, indem sie es zu einer notwendigen Bedingung macht, dass die Sinneserfahrung durch den entsprechenden Gegenstand kausal hervorgerufen wird. Kausalität wird hier kontrafaktisch verstanden: Wenn der entsprechende Gegenstand nicht anwesend wäre, würde man die Sinneserfahrung nicht machen. Schon kurz nachdem H.P. Grice (1961) die Kausaltheorie der Wahrnehmung entwickelt hat, wurde klar, dass sie zu liberal ist. Nehmen wir an, dass der Chirurg, der in S die Sinneserfahrung einer Uhr erzeugt, dies nur deshalb tut, weil sich tatsächlich eine Uhr in Ss Blickfeld befindet. Jetzt hängt Ss Sinneserfahrung einer Uhr kausal von der Anwesenheit einer Uhr ab. Jedoch ist die kausale Abhängigkeit nicht von der richtigen Art. Die gängige Replik der Befürworter der Kausaltheorie besagt, dass eine Sinneserfahrung nur dann als eine veridische Wahrnehmung gelten kann, wenn sie durch den entsprechenden Gegenstand “auf normale Weise” verursacht wird. Anzugeben, worin die normale kausale Beziehung der Wahrnehmung besteht, hat sich allerdings als ein äußerst schwieriges Problem entpuppt. Im folgenden werde ich einfach davon ausgehen, dass solch eine Spezifizierung tatsächlich gegeben werden kann und werde weiterhin annehmen, dass die Grundidee der Kausaltheorie der Wahrnehmung stimmt. In diesem Abschnitt sollen drei Argumente für die Inkompatibilität des direkten Realismus mit der Kausaltheorie diskutiert werden. In den folgen zwei Abschnitten wird jeweils ein weiteres Argument besprochen. Mein Fazit ist, dass es keinen guten Grund gibt anzunehmen, der direkte Realismus sei mit der Kausaltheorie unvereinbar. Erstes Argument. Bertrand Russell war der erste, der die Unvereinbarkeit von direktem Realismus und Kausaltheorie der Wahrnehmung behauptet hat. Er verwarf den direkten Realismus zugunsten der Kausaltheorie. Zur Erklärung der Inkompatibilität schreibt Russell: Physics assures us that the occurrences which we call “perceiving objects” are at the end of a long causal chain which starts from the objects, and are not likely to resemble the objects except, at best, in certain very abstract ways. We all start from “naive realism”, i.e., the doctrine that things are what they seem. We think that grass is green, that stones are hard, and that snow is cold. But physics as-

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Sven Bernecker sures is that the greenness of grass, the hardness of stones, and the coldness of snow are not the greenness, hardness, and coldness that we know in our experience, but something very different. The observer, when he seems to himself to be observing a stone, is really, if physics is to be believed, observing the effects of the stone upon him. Thus science seems to be at war with itself; when it most means to be objective, it finds itself plunge into subjectivity against its will. Naive realism leads to physics, and physics, if true, show that naive realism is false. Therefore naive realism, if true, is false (1940, S. 14f.).2

Russells Einwand gegen den direkten (oder naiven) Realismus scheint folgender zu sein: Der direkte Realismus besagt, dass dasjenige, dessen wir uns in der Wahrnehmung bewusst werden, ein wirklicher Gegenstand der Außenwelt ist. Die Physik besagt allerdings, das dasjenige, dessen wir uns in der Wahrnehmung bewusst werden, nicht die Gegenstände in der Außenwelt selber sind, sondern bloß die Wirkungen, die diese Gegenstände auf uns haben. Obgleich die Kausaltheorie der Wahrnehmung in der obigen Passage nicht namentlich erwähnt wird, meint A.J. Ayer (1972, S. 126), dass Russell die Kausaltheorie der Wahrnehmung einsetzte, um den direkten Realismus zu widerlegen, und zitiert obige Passage als Beleg dieser Lesart. Wenn Russell tatsächlich die Unvereinbarkeit der Kausaltheorie mit dem direkten Realismus im Sinn hat, so lassen sich gegen das Argument einige naheliegende Einwände ins Feld führen. Das Argument ist nämlich unvollständig, solange Russell nicht nachweist, dass eine Ursache und ihre Wirkung nicht qualitativ identisch sein können. Ein weiterer Mangel des Russellschen Arguments besteht darin, dass nicht gezeigt wird, wie die Kausaltheorie mit der Physik verbunden sind. Russells Argument besagt nicht mehr, als dass der direkte Realismus zur Physik führt, und dass die Physik zeigt, dass der direkte Realismus falsch ist. Um ein Argument gegen die Kausaltheorie der Wahrnehmung zu entwickeln, müsste Russell außerdem zeigen, dass die Kausaltheorie der Wahrnehmung ein notwendiger Be2

Russell wiederholt das Argument in Human Knowledge: “Historically, physicists started from naive realism, that is to say, from the belief that external objects are exactly as they seem. On the basis of this assumption, they developed a theory which made matter something quite unlike what we perceive. Thus, their conclusion contradicted their premise, though no one expect a few philosophers noticed this. We, therefore, have to decide whether, if physics is true, the hypothesis of naive realism can be so modified that there shall be a valid inference from percepts to physics” (S. 197f.).

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standteil der Physik ist. Dieser zusätzliche Argumentationsschritt fehlt und es ist zweifelhaft, dass sich für ihn gute Gründe anführen ließen. Zweites Argument. In Übereinstimmung mit Russell vertritt Hilary Putnam die Auffassung, dass der direkte Realismus mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung “gänzlich unvereinbar” ist (1999, S. 12). Während sich Russell jedoch für die Kausaltheorie der Wahrnehmung entscheidet und den direkten Realismus verwirft, lehnt Putnam die Kausaltheorie ab. Der direkte Realismus besagt, dass wir in der Wahrnehmung in echtem kognitiven Kontakt mit der Welt stehen, dass unsere Sinneserfahrungen “ab initio Begegnungen mit der öffentlichen Welt” darstellen (1999, S. 40). Da die Kausaltheorie zahlreiche kausale Bindeglieder zwischen der Wahrnehmungsmeinung einerseits und der Außenwelt andererseits einführt, macht sie es aber unmöglich zu verstehen, wie wir in direktem kognitiven Kontakt mit der Welt stehen können (1999, S. 11). Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um Putnams Argument für die Unvereinbarkeit von Kausaltheorie und direktem Realismus zu widerlegen. Obgleich die Wahrnehmung physischer Gegenstände auf die kausale Vermittlung durch Sinnesdaten angewiesen ist, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass wir diese Vermittler selbst wahrnehmen. Wenn ich einen Tisch wahrnehme, dann stelle ich ihn innerlich dar. Allerdings nehme ich nicht die innere Darstellung des Tisches wahr. Kausale Vermittler sind notwendige Bestandteile der Wahrnehmung der Außenwelt. Die Gegenstände der Wahrnehmung sind aber die Dinge in der Außenwelt, nicht die kausalen Vermittler. Putnam scheint irrtümlich die kausalen Vermittler für die direkten intentionalen Gegenstände der Wahrnehmung zu halten, wo sie doch bloß die Vehikel der Wahrnehmungsinformation sind. Die Wahrnehmung ist in dem Sinne indirekt, als sie eine Reihe von kausalen Vermittlern zwischen den Gegenständen der Außenwelt und der visuellen Erfahrung einschließt; aber daraus folgt nicht, dass die Wahrnehmung in dem Sinne indirekt ist, dass sie ein vorrangiges Bewusstsein von etwas anderem als den Gegenständen der Außenwelt sei.3 3

Dieser Einwand gegen die Inkompatibilitätsthese ist nicht neu. Peter Strawson erklärt beispielsweise: “We take ourselves to be immediately aware of real, enduring physical things in space, things endowed with visual and tactile properties .... The immediacy which common sense attributes to perceptual awareness is in no way inconsistent with

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Drittes Argument. Howard Robinson (1994, S. 86) hat ein weiteres Argument für die These entwickelt, der direkte Realismus sei mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung inkompatibel. Das Argument sieht wie folgt aus: (7) Die Sinneserfahrung steht am Ende einer kausalen Kette, die vom physischen Gegenstand zum Gehirn des wahrnehmenden Subjekts verläuft. (8) Der Wahrnehmungsgehalt ist ein Bestandteil der Sinneserfahrung. (9) Wenn etwas an einem bestimmten Ort ist, dann sind auch seine Bestandteile an eben diesem Ort. (10)Deshalb befindet sich der Wahrnehmungsgehalt am Ende einer kausalen Kette, die vom physischen Gegenstand zum Gehirn des wahrnehmenden Subjekts verläuft. (11)An entgegengesetzten Enden einer kausalen Kette gelegene Ereignisse können nicht identisch sein. (12)Deshalb ist der Wahrnehmungsgehalt nicht mit dem wahrgenommenen physischen Gegenstand identisch. Die Pointe des Robinsonschen Inkompatibilitätsarguments besteht in der Feststellung, dass die Kausaltheorie die Wahrnehmungsgehalte innerhalb des Gehirns verortet, wohingegen der direkte Realismus sie außerhalb des Gehirns verortet. Gegen das Robinsonsche Argument lässt sich ins Feld führen, dass die Schlussfolgerung (12) die Position des direkten Realisten falsch darstellt. Der direkte Realismus behauptet nicht, dass Wahrnehmungsgehalte mit Gegenständen der Außenwelt identisch sind, bzw. sich auf dieselben reduzieren lassen. Das ist die Position des Phänomenalismus, nicht die des direkten Realismus. Dem direkten Realismus zufolge konstituieren zwar die Gegenstände der Außenwelt die intentionalen Gehalte der Wahrnehmung, aber die Wahrnehmungsgehalte sind nicht mit den Gegenständen der Außenwelt identisch. Eine alternative Strategie gegen das Robinsonsche Argument für die Inkompatibilitätsthese besteht darin, Prämisse (8) mit der Begründung zurückzuweisen, dass die intentionalen Gegenstände der Wahrnehmung sich the causal dependence of [visual experience] on [the things we perceive]” (1979, S. 53).

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nicht – in Putnams Sprechweise -- “im Kopf” des wahrnehmenden Subjekts befinden. Wenn aber die intentionalen Wahrnehmungsgegenstände außerhalb des wahrnehmenden Gehirns liegen, dann fällt Robinsons Argument für die Inkompatibilitätsthese in sich zusammen. Meinem Verständnis zufolge ist der direkte Realismus dem Externalismus hinsichtlich Wahrnehmungsgehalten verpflichtet. Der Externalismus besagt, dass für die Individuierung von Wahrnehmungsgehalten die kausalen Beziehungen konstitutiv sind, in denen das wahrnehmende Subjekt zu bestimmten Sachverhalten in der Außenwelt steht. Unter Voraussetzung des Externalismus können zwei Subjekte phänomenal identische Wahrnehmungen haben, die gleichwohl inhaltlich unterschieden sind. Introspektiv ununterscheidbare Wahrnehmungen können unterschiedliche Inhalte haben. Wie in Abschnitt 2 dargelegt wurde, stimmt der direkte Realismus mit dem Externalismus in dieser Hinsicht überein. Was soll aus dem Scheitern der drei diskutierten Argumente für die Unvereinbarkeit von direktem Realismus und Kausaltheorie gefolgert werden? Sollten wir den Schluss ziehen, dass die Inkompatibilitätsthese in keiner Weise haltbar ist? Dies wäre voreilig. In den folgenden zwei Abschnitten werde weitere Argumente für die Inkompatibilitätsthese erörtert. Erst wenn auch diese Argumente als nicht stichhaltig befunden werden, kann die Inkompatibilitätsthese abgelehnt werden.

4. Das Humesche Argument für die Inkompatibilitätsthese Bekanntermaßen hielt Hume die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nicht für eine notwendige und vertrat außerdem die Auffassung, dass kausale Beziehungen nicht a priori erkannt werden können. Hume zufolge handelt es sich bei diesen Behauptungen um zwei Seiten derselben Medaille. Zu sagen, dass zwei Ereignisse notwendigerweise verbunden sind, ist gleichbedeutend mit der Feststellung, dass, wenn man weiß, dass das eine Ereignis vorkommt, man a priori vorhersagen kann, dass auch das andere Ereignis vorkommt. Hume hat noch nicht zwischen Analytizität und Apriorizität unterschieden. Zu sagen, dass es nicht a priori erkennbar ist, ob ein Ereignis ein anderes verursacht, ist nicht gleichbedeutend mit der Feststellung, die beiden Ereignisse stünden nicht in allen möglichen Welten in

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einer kausalen Beziehung zueinander. So wie es Aussagen gibt, die notwendigerweise wahr sind, ohne a priori erkennbar zu sein, gibt es Aussagen, die a priori erkennbar sind, ohne notwendigerweise wahr zu sein. Hume meinte, dass zwischen Ursache und Wirkung keine logisch zwingende – keine analytische – Verbindung besteht. Überdies glaubte er, dass es nicht a priori erkannt werden kann, dass ein Ereignis ein anderes verursacht. Wenn wir Hume zugestehen, dass, sofern zwei Ereignisse notwendigerweise miteinander verbunden sind, von dem einen Ereignis auf das andere a priori geschlossen werden kann, dann hat er zweifellos recht, dass kausale Beziehungen nicht notwendig sind. Ob zwei Ereignisse kausal miteinander verbunden sind, kann nur a posteriori erkannt werden. Es ist denkbar, dass eine gegebene Ursache jedes beliebige Ereignis als Wirkung hat. Die einzige Möglichkeit, von dem Auftreten eines Ursache-Ereignisses auf das Auftreten eines besonderen Wirkungs-Ereignisses zu schließen, beruht auf der Empirie – insbesondere auf der Beobachtung von Regelmäßigkeiten zwischen den betreffenden Ereignissen. Dies ist die Humesche These, dass Ursache und Wirkung “voneinander unabhängige Existenzen” bzw. “unterschiedliche Ereignisse” sind: When I see, for instance, a Billiard-ball moving in a straight line towards another; even suppose motion in the second should by accident be suggested to me, as the result of their impulse; may I not conceive, that a hundred different events might as well follow from that cause? May not both these balls remain at absolute rest? May not the first ball return in a straight line, or leap off from the second in any line or direction? All these suppositions are consistent and conceivable. Why then should we give the preference to one, which is no more consistent or conceivable than the rest? All our reasonings a priori will never be able to show us any foundation for this preference. In a word, then, every effect is a distinct event from its cause. It could not, therefore, be discovered in the cause, and the first invention or conception of it, a priori, must be entirely arbitrary. And even after it is suggested, the conjunction of it with the cause must appear equally arbitrary; since there are always many other effects, which, to reason, must seem fully as consistent and natural. In vain, therefore, should we pretend to determine any single event, or infer any cause or effect, without the assistance of observation and experience (1748, section 4, part 1, S. 29f.).4

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Ganz ähnlich schreibt Hume an anderer Stelle: “As all distinct ideas are separable from each other, and as the ideas of cause and effect are evidently distinct, ‘twill be

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Wenn Humes These, wonach kausale Beziehungen nur zwischen “verschiedenen Ereignissen” bestehen, auf die Wahrnehmung angewandt wird, so bedeutet das, dass die physischen Gegenstände, welche unsere visuellen Wahrnehmungen verursachen, von diesen in zweierlei Hinsicht unabhängig sind: Erstens entzieht es sich unserer a priorischen Erkenntnis, welche Wahrnehmung durch einen bestimmten physischen Gegenstand hervorgerufen wird; und zweitens ist die Beziehung zwischen physischen Gegenständen und Wahrnehmung nicht logisch notwendig. Es könnte nun behauptet werden, der direkte Realismus sei mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung deshalb unvereinbar, weil die Humesche These, wonach Ursache und Wirkung “verschiedene Ereignisse” sind, nicht erfüllt ist. Dieses Argument für die Inkompatibilitätsthese kann wie folgt erläutert werden: (13) Ursache und Wirkung sind Hume zufolge voneinander unabhängige Ereignisse. (14) Der Kausaltheorie zufolge ist ein physischer Gegenstand von der durch ihn hervorgerufenen Wahrnehmung unabhängig. (15) Unter Voraussetzung des direkten Realismus sind Wahrnehmungsereignisse von der Anwesenheit physischer Gegenstände abhängig. (16) Deshalb ist der direkte Realismus mit der Kausaltheorie unvereinbar. Dieses Argument steht und fällt mit Prämisse (15). Ist es unter Voraussetzung des direkten Realismus möglich, eine Wahrnehmung zu haben, auch wenn ihr in Sicht- oder in Hörweite nichts entspricht? Ist es möglich, eine bestimmte Wahrnehmung zu haben, ohne dass der entsprechende Gegenstand vorliegt, der sie normalerweise hervorbringt? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie Humes Unabhäneasy for us to conceive any object to be non-existent this moment, and existent the next, without conjoining to it the distinct idea of a cause or productive principle. The separation, therefore, of the idea of a cause from that of a beginning of existence is plainly possible for the imagination; and consequently the actual separation of these objects is so far possible that it implies no contradiction or absurdity” (1739, book 1, part 3, section 3, S. 79f.).

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gigkeitsthese verstanden wird. Handelt es sich bei der Unabhängigkeit zwischen Ursache und Wirkung um eine token-token oder um eine typetype Unabhängigkeit? Im Anschluss an Gerald Vision (1997, S. 45) gehe ich davon aus, dass die Unabhängigkeit, die Hume im Sinn hatte, die token-token Unabhängigkeit ist. Dann lautet die Frage also, ob es möglich ist, eine Wahrnehmung von einem bestimmten Gegenstand G zu haben, ohne dass G gegenwärtig ist? Die Antwort ist offensichtlich “Nein”. Wenn Wahrnehmungsgehalte anhand bestimmter äußerer Bedingungen individuiert werden, ist diejenige Sinneserfahrung, die man in einer konkreten Wahrnehmungssituation hat, nicht die gleiche wie die Sinneserfahrung, die man in der entsprechenden Halluzination hat. Der direkte Realist bestreitet natürlich nicht, dass eine veridische Wahrnehmung und die entsprechende Halluzination vom Standpunkt des Subjekts aus ununterscheidbar sein können. Aber er besteht darauf, dass introspektiv nicht unterscheidbare Wahrnehmungen inhaltlich verschieden sein können.5 Und so besteht also tatsächlich eine Spannung zwischen dem direkten Realismus und der Humeschen These, kausale Beziehungen seien nicht logisch notwendig. Betrachten wir als nächstes den epistemischen Aspekt der Humeschen These, Ursache und Wirkung seien voneinander unabhängige Ereignisse. Widerspricht der direkte Realismus der Humeschen Lehre insofern, als die Ursache (der physische Gegenstand G) a priori aus der Wirkung (der Wahrnehmung), oder umgekehrt, abgeleitet werden kann? Kann aus der Tatsache, dass jemand eine Wahrnehmung von G hat, a priori schlussgefolgert werden, dass G gegenwärtig ist? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss sie von einer Zweideutigkeit befreit werden. Bekanntermassen ist die a priorische Erkennbarkeit kausaler Zusammenhänge unter anderem davon abhängig, wie die betreffenden Ereignisse beschrieben werden. Da Ursachen in der Begrifflichkeit von Wirkungen, und umgekehrt, beschrieben werden können, gibt es für jede kausale Beziehung eine Beschreibung, derzufolge sie a priori erkennbar ist. Anstatt “A verursacht B” zu sagen, kann man beispielsweise davon sprechen, “Die Ursache von B verursacht B”, und erzeugt auf diese Weise eine a priori erkennbare 5

Strawson erklärt hierzu: “[T]he correctness of the description of a perceptual experience as the perception of a certain physical thing logically requires the existence of that thing; and the logical is thought to exclude the causal connection, since only logically distinct existences can be causally related” (1979, S. 51f.).

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Aussage.6 Und weil Ursachen und Wirkungen wechselseitig durcheinander beschrieben werden können, bezieht sich die Humesche These, wonach Ursache und Wirkung “unterschiedliche Ereignisse” sind, offenbar auf die Ereignisse selbst und nicht bloß auf deren Beschreibungen. Im Anschluss an William Child (1994, S. 157) kann man die Humesche Unabhängigkeitsthese folgendermaßen reformulieren: Wenn A die Ursache von B ist, dann muss es eine grundsätzliche Beschreibung von A und B geben, die es nicht zulässt, A aus B oder B aus A a priori abzuleiten. Nach diesen propädeutischen Bemerkungen können wir uns endlich der Frage nach der Vereinbarkeit des direkten Realismus mit der Humeschen Unabhängigkeitsthese zuwenden. Wenn die Wirkung zutreffend mit den Worten beschrieben wird “S hat eine visuelle Wahrnehmung von G”, dann kann in der Tat a priori gefolgert werden, dass G gegenwärtig ist. Zudem scheint es keine grundsätzlichere Beschreibung der beiden Ereignisse zu geben, welche die a priorische Erkennbarkeit der Ursache anhand der Wirkung unterbinden würde. Es ist nicht möglich, dass S G wahrnimmt, ohne dass G gegenwärtig ist. Mit anderen Worten, wenn G Ursache von Ss spezifischer Wahrnehmung in der aktuellen Welt ist, dann muss in jeder möglichen Welt, in der S eben diese Wahrnehmung hat, G gegenwärtig sein. Die Verbindung der Kausaltheorie der Wahrnehmung mit dem direkten Realismus widerspricht also in der Tat der Humeschen Unabhängigkeitsforderung. Wenn man weiß, dass S eine Wahrnehmung von G hat, dann kann durch Reflexion allein auf die Gegenwart von G geschlossen werden. Der direkte Realismus erlaubt zwar nicht den a priorischen Schluss von physischen Gegenständen auf Wahrnehmungen, aber er erlaubt umgekehrt den a priorischen Schluss von Wahrnehmungen auf physische Gegenstände. Im Gegensatz zum direkten Realismus hat der indirekte Realismus keine Schwierigkeiten, der Humeschen Unabhängigkeitsthese Rechnung zu tragen. Dem indirekten Realismus zufolge gibt es zwischen dem vom physischen Gegenstand G ausgeübten kausalen Einfluss und der Wahrnehmung von G ein kausales Bindeglied – das Sinnesdatum, das üblicher6

Davidson schreibt: “[S]uppose ‘A caused B’ is true. Then the cause of B = A; so substituting, we have ‘The cause of B caused B’, which is analytic. The truth of a causal statement depends on what events are described; its status as analytic or synthetic depends on how the events are described” (1980, S. 14).

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weise als “Es scheint S, als ob er G wahrnimmt” beschrieben wird. Die Einführung dieses Bindeglieds stellt sicher, dass Ursache und Wirkung verschiedene Ereignisse im Humeschen Sinn sind. Es ist nämlich nicht möglich, aus der Tatsache, dass es S so scheint, als ob er G wahrnimmt, a priori abzuleiten, dass G gegenwärtig ist (siehe Vision 1993, S. 353). Welche Schlussfolgerung sollte aus der Tatsache gezogen werden, dass der direkte Realismus der Humeschen These, Ursache und Wirkung seien voneinander unabhängige Ereignisse, widerspricht? Zwei Schlussfolgerungen bieten sich an: Entweder man verwirft den direkten Realismus oder aber die Humesche Unabhängigkeitsthese. Meinem Dafürhalten nach sollte die Humesche Unabhängigkeitsthese aufgegeben werden. Betrachten wir folgendes Beispiel: Der Entstehung eines Menschen aus der Verbindung von Sperma und Eizelle liegt klarer Weise ein kausaler Prozess zugrunde. Aber handelt es sich bei der Eltern-Kind-Beziehung lediglich um eine kausale Verbindung oder liegt hier außerdem eine notwendige Beziehung vor? Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob ein Mensch andere Eltern haben kann als diejenigen, die er hat. Natürlich kann es sich herausstellen, dass die Personen, die man für seine Eltern hält, nicht die Eltern sind. Was aber Saul Kripke (1980, S. 110ff.) zufolge nicht möglich ist, dass man andere Eltern hat als die, die man tatsächlich hat. Das bedeutet aber, dass die Eltern-Kind-Beziehung metaphysisch notwendig ist, gleichwohl es sich um eine kausale Beziehung handelt. Natürlich ist Kripkes Essentialismus, wonach ein Gegenstand keine andere als seine tatsächliche Ursache haben kann, nicht unproblematisch (siehe Salmon 1979, Cameron 2005). Allerdings beruhen die Gründe, die gegen den Essentialismus hinsichtlich kausaler Ursachen sprechen, nicht auf der Ablehnung der Humeschen Unabhängigkeitsthese. Die Behauptung, man könne in der Tat andere Eltern haben als die, die man hat, ist nicht von dem Bedenken getragen, dass andernfalls das Kind und die Eltern nicht im Humeschen Sinne voneinander unabhängige Ereignisse wären. Humes Sorge, dass, wenn zwei Ereignisse in allen möglichen Welten verbunden sind, es keinen Platz für kausale Verbindungen unter ihnen gibt, entpuppt sich als ein Scheinproblem. Ungeachtet der Möglichkeit, ein Ereignis so zu beschreiben, dass es a priori aus einem anderen Ereignis abgeleitet werden kann, ist es nicht ausgeschlossen, dass die beiden so

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beschriebenen Ereignisse in einer kausalen Verbindung zueinander stehen. Denn wie auch immer das Wirkungs-Ereignis beschrieben wird: Es folgt mit derselben Regelmäßigkeit dem Ursache-Ereignis. Die Kausalität ist eine Beziehung zwischen Ereignissen. Logische Beziehungen bestehen jedoch nur zwischen Propositionen und anderen linguistischen Entitäten. Und nur weil zwischen den Beschreibungen zweier Ereignissen eine logische Beziehung besteht, heißt das nicht, dass die so beschriebenen Ereignisse nicht in einer kausalen Beziehung zueinander stehen können.7

5. Das Argument der Zeitverschiebung Nachdem bereits vier Argumente für die Inkompatibilität des direkten Realismus mit der Kausaltheorie der Wahrnehmung zurückgewiesen wurden, soll nun noch ein fünftes Argument besprochen werden. Es handelt sich um das Argument der Zeitverschiebung. Das Argument der Zeitverschiebung beruht auf der Feststellung, dass der kausale Prozess der Wahrnehmung eines physischen Gegenstands Zeit in Anspruch nimmt. Bei der Wahrnehmung von sehr weit entfernten Gegenständen (z.B. Sternen) dauert dieser Prozess besonders lange. Allerdings besitzt die Wahrnehmung eines jeden Gegenstandes zeitliche Ausdehnung. Deshalb ist es prinzipiell möglich, dass in dem Moment, in dem man einen Gegenstand wahrnimmt, derselbe nicht mehr (in dieser Form) besteht. Der Gegenstand mag sich in der Zeit, die das Licht benötigt, um das Auge zu erreichen, in nichts aufgelöst haben. Aber selbst wenn der Gegenstand der Wahrnehmung verschwunden ist, bevor man ihn wahrnimmt, ist man sich doch 7

Strawson meint, die Humesche Unabhängigkeitsthese gelte zwar für kausale Beziehungen zwischen physischen Gegenständen nicht aber für die kausale Beziehung zwischen einem physischen Gegenstand und einer Wahrnehmung desselben. “[T]he [Humian] requirement [of distinct existences] holds for causal relations between distinct objects of perception; but not for the relation between perception and its object” (1979, S. 52). Searle lehnt die Humesche Unabhängigkeitsthese für alle Fälle von intentionaler Kausalität ab. “[I]n every case [of intentional causation] there seems to be a logical or internal connection between cause and effect. And I do not mean just that there is a logical relation between the description of the cause and the description of the effect; but rather that the cause itself quite independently of any description is logically related to the effect quite independently of any description” (1983, p. 121).

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eines Gegenstandes bewusst. Da man aber nicht etwas wahrnehmen kann, was es (nicht mehr) gibt, kann das, dessen man sich bewusst ist, nicht der Gegenstand selbst sein, sondern muss ein Sinnesdatum sein. Der Erfinder des Arguments der Zeitverschiebung, Bertrand Russell erklärt: [T]hough you see the sun now, the physical object to be inferred from your seeing existed eight minutes ago; if, in the intervening minutes, the sun had gone out, you would still be seeing exactly what you are seeing. We cannot therefore identify the physical sun with what we see (1948, S. 204; vgl. 1927, S. 155).

In Anlehnung an Robinson (1994, S. 80f.) kann das Argument der Zeitverschiebung folgendermaßen rekonstruiert werden: (17) Die Wahrnehmung ist ein zeitlich ausgedehnter kausaler Prozess, der sich von dem physischen Gegenstand zur Sinneserfahrung des Subjekts erstreckt. (18) Das Wahrnehmungserlebnis findet zu einem Zeitpunkt statt, da der physische Gegenstand möglicherweise nicht mehr existiert. (19) Der Wahrnehmungsgehalt ist zeitgleich mit dem Wahrnehmungserlebnis. (20) Wenn etwas zu einem Zeitpunkt besteht, zu dem etwas anderes aufgehört hat zu bestehen, dann sind die beiden Dinge nicht von derselben Art. (21) Also hat der direkte Realismus Unrecht, wenn er behauptet, der Wahrnehmungsgehalt sei von derselben Art wie der physische Gegenstand der Wahrnehmung. Befürworter des Arguments der Zeitverschiebung behaupten, Wahrnehmungsgehalte bestünden nicht in physischen Gegenständen, sondern in Sinnesdaten. Analog zur Schlussfolgerung (12) verzerrt Schlussfolgerung (21) die Position des direkten Realisten. Der direkte Realismus behauptet zwar eine Supervenienzbeziehung zwischen Wahrnehmungsgehalten und physischen Gegenständen, aber diese ist nicht mit einer reduktiven Identifikation zu verwechseln.

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Darüber hinaus ist Prämisse (19) mit Problemen behaftet. Was bedeutet es, dass das Wahrnehmungserlebnis mit seinem Gehalt zeitgleich ist, und was spricht für diese Behauptung? Warum sollte es nicht möglich sein, etwas wahrzunehmen, das es nicht mehr gibt? Wenn etwas jetzt nicht mehr besteht, können wir es natürlich nicht mehr so wahrnehmen, wie es jetzt ist. Aber aus dieser Binsenwahrheit folgt nicht, dass es ausgeschlossen ist, einen nicht mehr bestehenden Gegenstand so wahrzunehmen, wie er damals war. Unter denjenigen, die Prämisse (19) ablehnen, befindet sich auch George Pitcher, der schreibt: [A direct realist] can simply insist that the finite speed of light does not entail that we do not directly see things and states of affairs in the “external world”, but only that we must see them as they were some time ago. We see real physical things, properties and events, all right, but we see them late, that is all. According to a direct realist, it is a mere prejudice of common sense – and one on which the time-lag argument trades – that the events, and the states of objects, that we see must be simultaneous with our (act of) seeing them (1971, S. 48).

Pitcher zufolge zeigt das Argument der Zeitverschiebung nicht das, was es zu zeigen beabsichtigt: nämlich, dass es nicht die Gegenstände der Außenwelt sind, welche wir unmittelbar wahrnehmen. Das Argument der Zeitverschiebung zeigt lediglich, dass die Gegenstände der Außenwelt nicht so wahrgenommen werden, wie sie jetzt sind. Wir nehmen physische Gegenstände so wahr, wie sie zu dem Zeitpunkt waren, als der kausale Prozess der Wahrnehmung in Gang gesetzt wurde. Wir nehmen, mit anderen Worten, zeitlich zurückliegende Gegenstände wahr. Indirekte Realisten finden die Vorstellung, dass es uns möglich ist, einen zeitlich zurückliegenden Gegenstand wahrzunehmen, untragbar. Howard Robinson beispielsweise beharrt darauf, dass der Wahrnehmungsgehalt und das korrespondierende Wahrnehmungserlebnis gleichzeitig bestehen müssen; denn Wahrnehmungserlebnisse werden anhand ihrer Gehalte individuiert und wenn X für Y konstitutiv ist, dann müssen X und Y gleichzeitig bestehen. Pitchers direkter Realismus beruht, Robinson zufolge, auf der Verwechslung des logischen Aspekts intentionaler Gegenstände mit dem repräsentationalen Aspekt intentionaler Gegenstände. The [direct realist’s] argument would be that if I think of Charles I, Charles I constitutes the content of that act, but that monarch no longer exists. This is mis-

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Robinsons Bedenken sind allerdings unbegründet. Denn der direkte Realismus hat sich nicht auf die Fahne geschrieben, das Vorhandensein einer mit dem Wahrnehmungserlebnis zeitgleichen Repräsentation zu leugnen. Dem direkten Realismus zufolge ist diese Repräsentation nichts anderes als der Träger des Wahrnehmungsgehalts; sie ist nicht der (direkte) Gegenstand der Wahrnehmung. Es kann eingewandt werden, dass, wenn die Zeitverschiebung der Wahrnehmung zugegeben wird, Gegenstände der Außenwelt nicht direkt wahrgenommen werden können, da die direkte Wahrnehmung Zeitgleichheit voraussetzt. Dieser Einwand stammt von William Hamilton, dem Herausgeber einer kritischen Werkausgabe Thomas Reids. Bezüglich Reids Behauptung “It is by memory that we have any immediate knowledge of things” erklärte Hamilton: “An immediate knowledge of a past thing is a contradiction” (1846, S. 339). Hamiltons Einwand ist unbegründet. Dass uns die Wahrnehmung auf unmittelbare Weise mit vergangenen Ereignissen bekannt macht, besagt nicht, dass die Wahrnehmung in einem unerklärlichen unmittelbaren Bewusstsein der Vergangenheit besteht. Wie in Abschnitt 2 ausgeführt wurde, behauptet die Direktheitsthese nur, dass die Kenntnisse um die eigenen Sinnesdaten gegenüber der Kenntniss um die physischen Gegenstände kein epistemisches Privileg genießt. Ziel der Untersuchung war der Nachweis, dass es keine guten Gründe für die Annahme gibt, der direkte Realismus sei mit der kausalen Theorie der Wahrnehmung unvereinbar. Auch wenn dieser Nachweis erbracht wurde, folgt daraus noch nicht die Wahrheit des direkten Realismus. Der direkte Realismus kann nämlich erst dann als ausgemacht gelten, wenn außerdem gezeigt wird, dass er eine überzeugende Erklärung des Phänomens der Halluzination und der Fehlwahrnehmung zu liefern imstande ist.8 8

Unlängst hat Smith (2002) eine ausführliche Erklärung des Phänomens der Halluzination aus der Perspektive des direkten Realismus vorgelegt. Für eine adverbiale Theorie der Halluzination siehe Schantz (1990).

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Die Analyse von Halluzination aus der Perspektive des direkten Realismus ist ein Thema für eine gesonderte Untersuchung.9

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Frühere Fassungen dieses Aufsatzes wurden auf einer Sitzung des California Phenomenology Circles in Irvine am 5. Mai 2007 sowie auf einer Konferenz zu aktuellen Problemen der Philosophie der Wahrnehmung, die am 31. Mai und 1. Juni 2007 an der Universität Siegen stattfand, vorgetragen. Für wertvolle Hinweise bin ich den Siegener Konferenzteilnehmern sowie Martin Schwab, Charles Siegwert und David Woodruff Smith dankbar. Richard Schantz danke ich für die Einladung zu der Siegener Konferenz.

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Oliver R. Scholz: Das Zeugnis der Sinne und das Zeugnis anderer1

ABSTRACT. Der schottische Philosoph Thomas Reid hatte eine bemerkenswerte Analogie zwischen zwei Erkenntnisquellen konstatiert: „the testimony of Nature given by the senses“ und „human testimony given by language“. Ich möchte im folgenden neben den Analogien auch die Disanalogien würdigen und schließlich auf eine noch zu wenig beachtete Verknüpfung hinweisen. Nach der Beantwortung der Frage, was eine Erkenntnisquelle ist, vergleiche ich die sinnliche Wahrnehmung und das Zeugnis anderer eingehend miteinander. Bei der Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede lege ich besonderen Wert auf die Spezifika menschlicher Kognition. Insbesondere zeigt sich, daß es beim Menschen einen hohen Grad von wechselseitiger Durchdringung und Bereicherung der Erkenntnisquellen gibt. (1) Gegenstand und Ziel (2) Kontext der Fragestellung (3) Eine selten gestellte Frage: Was ist eigentlich eine Erkenntnisquelle? (4) Ein Vorschlag (5) Die Wahrnehmung und das Zeugnis anderer (6) Ein theoretischer Rahmen: Erkenntnisquellen und epistemische Präsumtionsregeln (7) Das Zeugnis anderer und die anderen Erkenntnisquellen: Analogien und Wechselwirkungen (8) Menschliche Erkenntnis

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Diese Arbeit ist im Rahmen des DFG-Projektes „Eine Fallstudie in angewandter Erkenntnistheorie“ (Scho 401/4-1) entstanden. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Ihre Unterstützung.

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1. Gegenstand und Ziel Im folgenden geht es um einen Vergleich zwischen dem sogenannten Zeugnis der Sinne und dem Zeugnis anderer, weniger metaphorisch: um einen Vergleich zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Zeugnis anderer Personen sprechen. Der schottische Philosoph Thomas Reid (1710-1796) hatte in seinen Hauptwerken eine bemerkenswerte Analogie zwischen den beiden Erkenntnisquellen konstatiert, weshalb er es für angemessen hielt, beide unter den Oberbegriff „Zeugnis“ zu subsumieren: „the testimony of Nature given by the senses“ und „human testimony given by language“.2 Vergleichbare Redeweisen finden sich bei anderen Denkern und in anderen Sprachen.3 Ich möchte im folgenden neben den Analogien vor allem die Disanalogien4 würdigen und schließlich auf eine noch zu wenig beachtete Verknüpfung hinweisen.5

2. Kontext der Fragestellung Meine Beobachtungen und Anmerkungen stelle ich in einen weiteren Horizont von meta-erkenntnistheoretischen und anthropologischen Überlegungen. Wie die meisten Menschen neigen auch viele Philosophen dazu zwischen Extremen zu schwanken. Erkenntnistheoretiker bilden davon keine Ausnahme. Zwei Paare von Extremen sind bei unserem Thema von besonderem Interesse: 2

Reid 1983, S. 90, vgl. S. 87. Reid übertrieb vermutlich, als er schrieb: „[...] we find, in all languages, the analogical expressions of the testimony of sense, of giving credit to our senses, and the like.“ (Reid 1983, S. 203) 4 Auch Reid weist auf eine Disanalogie zwischen den beiden Quellen hin: „[...] there is a real difference between the two, as well as a similitude. In believing upon testimony, we rely upon the authority of a person who testifies, but we have no such authority for believing our senses.“ (Reid 1983, S. 203) 5 Meine Überlegungen schließen an die Untersuchung des Zeugnisses anderer in Scholz 2000 und 2001 an, versuchen jedoch, diese Analyse durch einen ausführlicheren Vergleich mit der Wahrnehmung zu vertiefen. 3

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(I) Erstens schwanken Erkenntnistheoretiker (wie andere Menschen auch) zwischen übertriebenem Optimismus und übertriebenem Pessimismus.6 In der Erkenntnistheorie manifestiert sich der überzogene Optimismus in certistischen oder infallibilistischen Konzeptionen, der überzogene Pessimismus in radikalen und globalen Formen des Skeptizismus. Obwohl uns der gesunde Menschenverstand sagt, daß wir der sinnlichen Wahrnehmung und dem Zeugnis anderer eine ungeheure Menge von gerechtfertigten Überzeugungen und Wissen verdanken, gelangten viele Philosophen in ihren offiziellen Erkenntnistheorien in bezug auf beide Quellen zu skeptischen Konsequenzen. (II) Zweitens schwanken Erkenntnistheoretiker, was die menschliche Kognition angeht, zwischen der Gefahr der Überintellektualisierung und der eines Anti-Intellektualismus.7 Die platonische, die aristotelische und die cartesianische Tradition haben die Anforderungen für Wissen und Rechtfertigung sehr hoch gehängt. Insbesondere herrschte eine übertriebene Vorstellung davon, wie gut wir unsere kognitiven Fähigkeiten und Leistungen selbst durchschauen und steuern können. Technisch gesprochen: Die Hauptströmungen der traditionellen Erkenntnistheorie neigten zu einem sehr anspruchsvollen Wissensbegriff und einem damit verbundenen starken Internalismus. Das führte u.a. dazu, daß man die kognitiven Unterschiede zwischen erwachsenen Menschen auf der einen Seite, Kleinkindern und höheren Tieren auf der anderen Seite übertrieben und die kognitiven Gemeinsamkeiten entweder rundweg geleugnet oder jedenfalls stark unterschätzt hat. Die naturalistischen und externalistischen Strömungen in der neueren Erkenntnistheorie waren und sind zweifellos ein heilsames Gegenmittel gegen solche Überintellektualisierung. Die Bewegung droht jedoch bisweilen ins entgegengesetzte Extrem umzuschlagen. Viele versuchen nun, Wissen bzw. Kognition allein unter Rückgriff auf physikalisch und biologisch beschreibbare Indikatorbeziehungen und verläßliche Prozesse zu verstehen. Nicht-reduzierte teleologische Begriffe und normative epistemische Prinzipien gelten in diesen Kreisen als irrelevant und sollen ent6

Vgl. die hellsichtigen Bemerkungen zum Skeptizismus in Putnam 1998. Dies betonen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen Tyler Burge und Robert Brandom. (Vgl. Burge 2002, S. 503f. und Brandom 2000, S. 2f.) 7

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sprechend vermieden werden. Als paradigmatische Modelle für kognitive Vorgänge müssen nun beispielsweise Vorgänge in Thermometern, Coca-Cola-Automaten oder Schachcomputern herhalten. Dabei drohen jedoch Charakteristika spezifisch menschlicher Kognition aus dem Blick zu geraten. Das zeigt sich, wie wir sehen werden, gerade dann, wenn man das Zeugnis anderer ernsthaft als eine der menschlichen Erkenntnisquellen einbezieht.

3. Eine selten gestellte Frage: Was ist eigentlich eine Erkenntnisquelle? Meine Untersuchungsobjekte – die sinnliche Wahrnehmung und das Zeugnis anderer – sind beide, wie man sagt, Erkenntnisquellen, etwas genauer gesagt: potentielle Quellen von Rechtfertigung und Wissen.8 In der Erkenntnistheorie spricht man – terminologisch fixiert spätestens seit John Locke – von Erkenntnis- und Wissensquellen auf der einen Seite, von Quellen von Vorurteilen und Irrtümern auf der anderen Seite. Die Rede von Erkenntnisquellen, ihrem Umfang und ihren Grenzen, ist in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie von zentraler Bedeutung gewesen. (I) Erstens war und ist sie zentral für die Kennzeichnung des erkenntnistheoretischen Projekts selbst. So nimmt sich Locke in seinem Essay concerning Human Understanding vor: „[...] to enquire into the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge […].”9 Statt von “Original”, Ursprung, spricht Locke dort auch von “Fountains of Knowledge”10 sowie von den Quellen („Sources“) unserer Vorstellungen.11 Kant interessiert sich im Rahmen der allgemeinen Frage “Was kann ich wissen?” speziell für die erfahrungsunabhängige Erkenntnis, an der sich für ihn das Schicksal der Metaphysik entscheidet. Entspre8

Über die Metapher der Quelle liest man heutzutage leicht hinweg, da sie inzwischen idiomatisiert ist. Sie ist aber noch nicht ganz tot und, wenn man sie zu ernstnimmt, keineswegs harmlos. Dazu ausführlich Scholz 2004b und Scholz unv. 9 Essay I, i, 2; zitiert nach Locke 1975, S. 43. 10 Essay II, i, 2; Locke 1975, S. 104. 11 Essay II, i, 3-4 u.ö.; Locke 1975, S. 105 u.ö.

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chend schränkt er die Frage des berühmten Locke für seine Zwecke ein: Die Kritik der reinen Vernunft ist demnach „die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen“12 der erfahrungsunabhängigen Erkenntnis. Ein Blick in neuere Nachschlagewerke bestätigt die anhaltende Bedeutung des Begriffs der Erkenntnisquellen: So wird Erkenntnistheorie in Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe definiert als “[...] die Wissenschaft vom Wesen und den Prinzipien der Erkenntnis, vom Ursprung, den Quellen, Bedingungen und Voraussetzungen, vom Umfang, von den Grenzen der Erkenntnis“.13 Ganz ähnlich heißt es in der Routledge Encyclopedia of Philosophy: „Epistemology is one of the core areas of philosophy. It is concerned with the nature, sources and limits of knowledge […].”14 (II) Zweitens war die Unterscheidung von Erkenntnisquellen zentral für ein überaus einflußreiches philosophiehistorisches Schema: die Unterscheidung zwischen Rationalismus und Empirismus.15 Als Einteilungsgesichtspunkt dient hierbei die Rangfolge der Erkenntnisquellen. Dem Rationalismus zufolge ist die Vernunft die vornehmste Quelle von Wissen; der Empirismus favorisiert demgegenüber die Erfahrung in Form von Sinneswahrnehmungen, methodisch angeleiteten Beobachtungen und Experimenten. Angesichts der großen Bedeutung für das Selbstverständnis der Erkenntnistheorie muß es überraschen, wie wenig über Begriff und Metapher der Erkenntnisquelle nachgedacht worden ist. Die Rede von Erkenntnisquellen ist ungeklärter, als es Erkenntnistheoretikern lieb sein kann. Wie sieht es heute damit aus? Wo von Erkenntnisquellen die Rede ist, geschieht dies typischerweise beiläufig und unreflektiert. So findet sich in etlichen Monographien und Anthologien zwar ein Abschnitt „Sources of Knowledge“; kaum ein Autor verweilt aber bei der Quellen-Metaphorik,

12

Kant, KrV A XII; vgl. A 11/ B 25. Eisler 1927-1930, S. 389. 14 Klein 1998, S. 362. 15 Vgl. dazu die umfassende kritische Untersuchung von Engfer 1996. 13

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um sie zu klären oder gar zu problematisieren.16 Typischerweise begnügt man sich mit Aufzählungen. Dabei fällt auf, daß die Listen in der Terminologie, ja oft auch in der Sache beträchtlich voneinander abweichen. Lesen wir die ersten Sätze aus der Einleitung zu dem Abschnitt „Sources of Knowledge“ in der Anthologie Knowledge. Readings in Contemporary Epistemology (2000): „Knowledge can be subdivided according to the sources from which it arises. The basic sources of knowledge and justification are perception [...], introspection, testimony, memory, reason and inference.”17 Die Autoren dieser einleitenden Bemerkungen, Sven Bernecker und Fred Dretske, halten sich nicht bei der Frage „Was ist eine Erkenntnisquelle?“ auf, sondern zählen die einzelnen Quellen auf, die in den traditionellen und gegenwärtigen Einteilungen genannt werden: Wahrnehmung, Introspektion, das Zeugnis anderer, Erinnerung, Verstand und Schließen. Nach der Aufzählung dieser generischen Erkenntnisquellen fahren die Herausgeber fort: “This classification is a little arbitrary.“18 Im folgenden erfährt der Leser, daß mit Ausnahme der Wahrnehmung jede der aufgezählten Erkenntnisquellen in ihrem Status umstritten war oder ist: “Some epistemologists regard introspection not as an independent source of knowledge but as a form of perception. Memory is sometimes considered not as a source of knowledge but merely as a retention of knowledge already obtained in some other way. Inference is obviously not an independent source of knowledge since the premisses or facts from which one infers a conclusion must come from elsewhere. And some philosophers would dispute the power of reason as a source of a priori knowledge.”19 Trotz dieser Bedenken lasse sich die Verwendung der üblichen Einteilung der Erkenntnisquellen pragmatisch rechtfertigen: “Despite these faults, though, we have chosen to classify the readings in this part according to these more or less standard categories.”20 So mag man verfahren, insbesondere wenn es um die pragmatische Entscheidung über die Gliederung einer Anthologie geht. Aber kann man in 16

Eine Ausnahme ist Robert Audi; vgl. besonders seinen Handbuchartikel: Audi 2002; sowie ders. 2001, S. 13-31. 17 Bernecker /Dretske (Hrsg.), 2000, S. 431. 18 Bernecker/Dretske (Hrsg.), 2000, S. 431. 19 Ebd. 20 Ebd.

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der Sache nicht noch ein bißchen mehr sagen? Muß man nicht mehr sagen, wenn Erkenntnistheorie wesentlich die Untersuchung der Erkenntnisquellen sein soll? Ich meine: Ja! Zu diesem Zwecke möchte ich zunächst eine Reihe von Fragen festhalten, die in einer positiven Erkenntnistheorie21 hinsichtlich der Quellen von Rechtfertigung und Wissen zu klären und zu beantworten sind: Was ist unter einer epistemischen Quelle zu verstehen?22 Wie identifiziert und individuiert man epistemische Quellen? Wie viele generische epistemische Quellen gibt es eigentlich? Gibt es epistemische natürliche Arten? (4.a) Bilden die epistemische Quellen zusammen eine natürliche Art? (6) (4.b) Bildet jede einzelne epistemische Quelle eine natürliche Art? (7) Welche epistemische Quellen sind basal?23 (8) In welchen Hinsichten ist die Quellen-Metapher erhellend, in welchen Hinsichten ist sie irreführend? (1) (2) (3) (4) (5)

(9) Was fließt eigentlich aus einer epistemischen Quelle?24 (10) Wodurch unterscheiden sich die menschlichen epistemischen Quellen von den kognitiven Ressourcen von Tieren? Natürlich kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht auf alle Fragen und auf alle in Frage kommenden epistemischen Quellen eingehen. Ich konzentriere mich bei dieser Gelegenheit auf die Fragen (1) und (8).

21

Die positive Erkenntnistheorie nenne ich – im Anschluß an Anthony Coady – so, um sie von negativen Projekten wie der Widerlegung oder Zurückweisung des Skeptizismus abzugrenzen. Vgl. Coady 1992, S. 3f. 22 Den Terminus „epistemische Quelle“ verwende ich als Oberbegriff zu Quellen des Wissens und Quellen der Rechtfertigung. Zu dieser Unterscheidung vgl. besonders Audi 2002. 23 Hierbei sind verschiedene Bedeutungen von „basal“ zu unterscheiden. 24 Als Kandidaten kommen u.a. Vorstellungen, subdoxastische informationstragende Zustände, Meinungen, Rechtfertigung und Wissen in Frage.

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4. Ein Vorschlag Zunächst also die Frage (1): Was ist unter einer epistemischen Quelle („Erkenntnisquelle“) zu verstehen? Ich möchte ohne Umschweife einen Vorschlag unterbreiten: (EQ) Epistemische Quellen im generischen Sinne sind die positiven Bedingungen, die man in adäquaten Typen von Antworten auf die Frage „Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage glaubst Du das?“ anführen kann. Ich muß die erkenntnistheoretische Frage so umständlich ausdrücken („Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage glaubst Du das?“), weil die umgangssprachliche Formulierung „Warum glaubst Du das?“ mehrdeutig ist. Antworten wie „... weil ich unter Drogen stehe?“ oder „... weil ich ein Hirn habe?“ wären keine adäquaten Antworten auf die Frage im hier einschlägigen Sinne. Sie mögen zwar Ursachen oder Teilursachen der jeweiligen Überzeugungen angeben, aber sie benennen keine rechtfertigungsrelevanten Gründe. Betrachten wir, um dies weiter zu klären, relevante Frage-AntwortPaare: (Q) Woher weißt Du das? Warum glaubst Du das? // bzw. in der 3. Person: Woher weiß er/sie das? Warum glaubt er/sie das? (R 1) ... weil ich es gesehen habe// ... weil er/sie es gesehen hat. (Wahrnehmung) (R 2) ... weil es mir bewußt ist// ... weil es ihm/ihr bewußt ist. (Selbstwissen) (R 3) ... weil ich mich daran erinnere// ... weil er/sie sich daran erinnert. (Erinnerung) (R 4) ... weil es aus ... folgt. (Deduktives Schließen) (R 5) ... weil es gewöhnlich so geschieht. (Induktives Schließen) (R 6) ... weil ich es unmittelbar einsehe// ... weil er/sie es unmittelbar einsieht. (Rationale Einsicht; Verstand)

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Wenn man diese Antworttypen zuläßt, gibt es keinen Grund mehr, das Zeugnis anderer als Quelle auszuschließen. (R 7) ... weil S es mir gesagt hat// ... weil S es ihm/ihr gesagt hat. (Zeugnis anderer) Aus meiner Explikation von „epistemische Quelle“ ergibt sich übrigens, daß auch Kohärenz eine prima facie Erkenntnisquelle ist. Denn auch die Antwort (R 8) ... weil es so gut zu dem paßt, was ich sonst glaube// ... weil es so gut zu dem paßt, was er/sie sonst glaubt (Kohärenz) ist manchmal eine adäquate Antwort auf unsere Fragen Woher weißt Du das? Warum glaubst Du das? – bzw. Woher weiß er/sie das? Warum glaubt er/sie das? Ich akzeptiere diese Konsequenz, auch wenn sie die Menge der Erkenntnisquellen noch einmal heterogener macht. Zusammenfassend halte ich fest: (EQ+) Epistemische Quellen im generischen Sinne sind die teils individuellen, teils sozialen, teils strukturellen positiven Bedingungen, die man in adäquaten Typen von Antworten auf die Frage „Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage glaubst Du das?“ anführen kann. Diese Explikation könnte sicherlich noch weiter präzisiert werden;25 aber zur Orientierung in den folgenden Untersuchungen mag sie genügen.

5. Die Wahrnehmung und das Zeugnis anderer Von Wahrnehmung haben wir im Rahmen der in diesem Heft dokumentierten Konferenz schon manches gehört. Da es mir nicht primär darum geht, eine bestimmte Wahrnehmungstheorie zu verteidigen, sondern darum, verschiedene Erkenntnisquellen zu vergleichen, werde ich mich im

25

Dazu ausführlicher Scholz unv.

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folgenden auf relativ unstrittige Eigenschaften dieser epistemischen Quelle stützen. (W 1) Sowohl niedere Tiere (d.h. solche ohne propositionale Einstellungen) als auch höhere Tiere und Menschen (d.h. solche mit propositionalen Einstellungen) besitzen perzeptuelle Systeme.26 (W 2) In höheren Tieren mit perzeptuellen Systemen werden Wahrnehmungsüberzeugungen gebildet, die, wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, Wissen darstellen können. (W 3) Wahrnehmung ist eine basale Quelle von Repräsentationen, von Überzeugungen, von Rechtfertigung und von Wissen. (W 4) Wahrnehmung ist eine fehlbare epistemische Quelle: Sie bringt gelegentlich Fehlrepräsentationen und falsche Überzeugungen hervor. (W 5) Wahrnehmung besitzt wesentlich eine kausale Komponente. Wenn ein Subjekt einen Gegenstand, ein Ereignis oder eine Szene wahrnimmt, wird es von Eigenschaften des Gegenstandes, des Ereignisses oder der Szene affiziert. (W 6) Perzeptuelle Systeme besitzen biologische Funktionen. Sie tragen dazu bei, daß sich Lebewesen in ihrer Umwelt zurechtfinden, und erhöhen damit deren Chancen auf Überleben und Reproduktion. (W 7) Perzeptuelle Systeme haben genuin sinnesphysiologische und psychologische Funktionen, insbesondere: (i) die Unterscheidung von Stimuli; (ii) die Integration von Erregungsmustern im Zentralnervensystem; (iii) die Repräsentation von einzelnen Gegenständen und Ereignissen, sowie von Instanziierungen von Eigenschaften (Gestalt; Farbe etc.) und Relationen (Entfernung; Bewegung etc.) der Außenwelt; (iv) das Wiedererkennen von einzelnen Gegenständen und Ereignissen sowie von Instanziierungen von Eigenschaften und Relationen der Außenwelt und (v) die Verhaltenssteuerung, insbesondere die Navigation durch die Umwelt.27 (W 8) Perzeptuelle Erfahrungen besitzen Empfindungsqualitäten.

26

Vgl. Burge 2003, S. 505 und die dort in Anmerkung 3 genannte Literatur. Zur Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie vgl. Birbaumer/ Schmidt 2006, Kapitel III. 27

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(W 9) Perzeptuelle Systeme sind in mehreren Hinsichten komplexer als bloße sensorische Detektorsysteme: (W 9.1) Die durch die Wahrnehmung erzeugten (bzw. reaktivierten) Repräsentationen tragen zu den Funktionen des gesamten Lebewesens bei. (W 9.2) Perzeptuelle Erfahrungen besitzen Intentionalität, d.h. (i) sie sind auf Gegenstände gerichtet, und (ii) mit ihnen ist eine bestimmte Aspektgestalt verbunden.28 (W 9.3) In perzeptuellen Systemen werden Rechenoperationen über Repräsentationen durchgeführt. (W 9.4) Perzeptuelle Systeme ermöglichen verschiedene Formen von Wahrnehmungskonstanz (z.B. Größen-, Form-, Helligkeits-, Farbkonstanz).29 Soviel summarisch zur Wahrnehmung. Zum Zeugnis anderer muß ich etwas weiter ausholen. Klar sollte sein, daß in unserem erkenntnistheoretischen Zusammenhang nicht primär an Zeugenaussagen vor Gericht30 gedacht ist. Häufiger und der Sache nach grundlegender als solche formellen Zeugnisse sind die zahllosen informellen Zeugnisse, die wir tagtäglich geben und empfangen.31 Sinnvoll dürfte es sein, sich an einem typischen und vollblütigen Fall als Paradigma zu orientieren und dann mögliche Ausweitungen dieses Kernbegriffs zu betrachten. Als paradigmatisch kann eine kommunikative Handlung gelten, bei der sich folgende Relata unterscheiden lassen: Ein Zeugnisgeber vollzieht in mündlicher oder schriftlicher Form einen assertorischen Sprechakt, der dazu dienen soll oder zumindest dazu geeignet 28

Vgl. Searle 1983 und Schantz 2005. Vgl. Walsh/ Kulikowsky (Hrsg.) 1998 und Burge 2003, S. 514ff. 30 Ein Zeugnis im formellen rechtlichen Sinne ist die mündliche oder schriftliche Aussage eines Zeugen über selbstwahrgenommene rechtserhebliche Tatsachen zum Zwecke des rechtlichen Beweises. Dem Zeugen wird dabei, indem er formal als solcher eingesetzt wird, ein besonderer Status zuerkannt – in der Erwartung, daß er über die Autorität, Kompetenz und Aufrichtigkeit verfügt, Aussagen zu machen, die für die Entscheidung einer offenen oder strittigen Frage von Belang sind. 31 Weniger klar ist, wo genau die Grenze zu ziehen ist. Wenn man etwa jede sprachliche Äußerung zuließe, ist dies einerseits viel zu weit, weil bei weitem nicht alle Äußerungen Zeugnisakte sind; andererseits aber auch zu eng, weil viele nicht-sprachlichen Zeichenhandlungen als Zeugnisse dienen können.) 29

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erscheint, einen Adressaten, den Zeugnisempfänger, über einen in Frage stehenden Sachverhalt zu informieren. Von zentraler Bedeutung ist die Funktion des Zeugnisses zu belegen bzw. wahrscheinlich zu machen. Diese evidentielle Funktion ist häufig intendiert, braucht dies aber nicht zu sein; so werten etwa Historiker mündliche und schriftliche Quellen als Zeugnisse für historische Tatsachen aus, die nicht in dieser Funktion intendiert waren. Zeugnisse treten von Seiten des Zeugnisgebers mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit auf.32 Zu der Geschichte der Behandlung des Zeugnisses anderer habe ich bei anderen Gelegenheiten Hinweise gegeben.33 Hier möchte ich einige systematische Thesen – manche unstrittig, manche strittig – erläutern und verteidigen: (Z 1) Das Zeugnis anderer ist eine dem Menschen eigentümliche epistemische Quelle. (Z 2) Menschen bilden aufgrund des Zeugnisses anderer Personen Überzeugungen, die, wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, Wissen darstellen können. (Z 3) Das Zeugnis anderer ist eine epistemisch wesentliche Quelle. Das, was wir summarisch „unser Wissen“ nennen, wäre völlig anders, wenn uns diese Quelle nicht zur Verfügung stünde. Wir sind auf das Zeugnis anderer angewiesen, denn – so betont etwa Hermann Conring in einem Brief aus dem Jahre 1679 – : „omnia experiri non possumus ipsimet nos“34, d.h.: wir können nicht alles in eigener Person erfahren, oder – mit fast denselben Worten – Immanuel Kant: „weil wir nicht alles selbst erfahren können“.35 Nicht allein im „gemeinen Leben“, auch in den Wissenschaften sind wir auf das Zeugnis anderer angewiesen: „z. E. die Geographie, die Physic, die Historie, und andere Wissenschaften setzen allemahl die Erfah32

Als Zeugnis im strengen Sinne der unmittelbaren Zeugenschaft gilt nur der Bericht über selbst Wahrgenommenes. Wird lediglich berichtet, was andere Personen wahrgenommen haben, handelt es sich um Hörensagen. Ist der Ursprung der Kommunikationskette unbekannt, spricht man von einem umlaufenden Gerücht. 33 Vgl. Scholz 2001b, Scholz 2004a, Scholz 2009 und Scholz i. Dr. 34 Hermann Conring in einem Brief an Johann Eisenhart, zitiert nach Völkel 1987, S. 346, vgl. S. 110. 35 Kant 1999, S. 601.

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rungen anderer voraus.“36 Wie sehr wir von dieser Quelle abhängen, macht man sich am einfachsten durch die Gegenprobe klar. Man überlege sich, wie wir ohne sie dastünden: „[...] wir würden keine größere Erkenntnisse haben, als höchstens des Orts, wo wir leben, und der Zeit, in der wir leben“.37 (Z 4) Das Zeugnis anderer ist eine soziale Erkenntnisquelle. Sie impliziert zum einen die Beteiligung mehrerer Personen; und sie ermöglicht zum anderen die Bildung großer epistemischer Gemeinschaften, in denen räumliche und zeitliche Grenzen überschritten werden. (Z 5) Das Zeugnis anderer ist eine kulturelle Erkenntnisquelle. Dies ebenfalls in zweierlei Hinsicht: Diese Quelle beruht wesentlich auf kulturellen Institutionen wie dem Gebrauch von Sprachen und anderen konventionalen Zeichensystemen; und sie ermöglicht kulturelle Prozesse wie Tradition und Geschichtsschreibung. (Z 6) Das Zeugnis anderer ist eine fehlbare epistemische Quelle. Schon Leonard Euler (1707-1783), der neben der eigenen Erfahrung und den Vernunftschlüssen „den Bericht eines andern“ als gleichberechtigte dritte Erkenntnisquelle anerkannte, bemerkte: Da jede der drei „Quellen unserer Erkenntnisse“ irrtumsanfällig sei, könne dies „also kein Vorwurf“ sein, „den man der dritten Quelle mehr, als den beyden übrigen machen dürfte.“38 Es folgen Thesen zum Verhältnis zwischen dem Zeugnis anderer und der Wahrnehmung, auf die es mir im folgenden besonders ankommt: (Z 7) Das Zeugnis anderer hängt insofern operational von Wahrnehmung ab, als der Zeugnisempfänger über ein perzeptuelles System (typischerweise: akustische oder visuelle Wahrnehmung) verfügen muß.

36

AA XXIV.1, S. 245. AA XXIV.1, S. 245f. 38 Leonard Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie, Zweyter Theil (Leipzig 1769), 116. Brief, S. 134. 37

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Um ein Zeugnis empfangen und beurteilen zu können, muss ich es zunächst einmal korrekt verstehen. Dazu gehört auf der ersten Stufe ein gelingendes perzeptives Verstehen.39 (Z 8) Das Zeugnis anderer ist phylogenetisch und ontogenetisch später als die Wahrnehmung. Tiere und Androiden hatten die Fähigkeit zur Wahrnehmung, bevor sie die Fähigkeiten entwickelt haben, Zeugnisse zu geben und zu empfangen. Kinder können bereits kurz nach der Geburt (ja zum Teil schon vor der Geburt) etwas wahrnehmen; Zeugnisse geben und empfangen können sie erst, wenn sie eine Sprache (oder zumindest ein konventionales Zeichensystem) erworben haben, indem das Zeugnis ausgedrückt werden kann. Andererseits gilt aber auch: (Z 9) Ein großer Teil der menschlichen Wahrnehmungen ist zeugnisbeladen. (Z 10) Durch das Zeugnis anderer kann Wissen nicht nur weitergegeben, sondern auch ermöglicht werden. Ein Zeugnisempfänger H kann Wissen, dass p, erwerben, auch wenn der Zeugnisgeber S, der ihm mitgeteilt hat, dass p, selbst nicht im strengen Sinne Wissen, dass p, besaß. Ein solches Szenario ist auf verschiedene Weisen möglich; etwa so, (i) dass S die Überzeugungsbedingung nicht erfüllt, oder auch so, (ii) dass S die Rechtfertigungsbedingung nicht erfüllt. (i) S mag nicht in dem für Wissen erforderlichen Maße von p überzeugt sein. Jennifer Lackey bringt das Beispiel einer kreationistischen Lehrerin, die ihren Schülern Unterricht in darwinistischer Evolutionstheorie erteilt.40 Sie selbst glaubt an den Kreationismus; nichtsdestoweniger kann sie eine verläßliche Zeugnisgeberin bezüglich der biologischen Evolution sein. Die Überzeugungsbedingung ist nicht erfüllt; S weiß a fortiori nicht, dass die darwinistischer Evolutionstheorie wahr ist. Gleichwohl können ihre Schüler in ih-

39

Zu den Stufen des Verstehens sprachlicher Äußerungen siehe – im Anschluss an Wolfgang Künne – Scholz 1999, S. 291-312. 40 Lackey 1999, S. 477f. und 2008, S. 48-53.

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rem Unterricht Wissen über die darwinistische Evolutionstheorie erwerben. (ii) S verfügt zwar über gewisse Gründe, welche die Überzeugung, dass p, rechtfertigen, aber diese Gründe sind zu schwach, um die Schwelle für Wissen zu erreichen. H mag dagegen über sehr gute Gründe für die Überzeugung, dass p, verfügen; aber er hat nie an diese Proposition gedacht; erst die Äußerung von S, dass p, ermöglicht beides, die Proposition, dass p, und die rechtfertigenden Gründe in geeigneter Weise zu einer wahren und gerechtfertigten Überzeugung, dass p, zusammenzubringen. (Z 11) Das Zeugnis anderer ist eine epistemische Quelle, die sich nicht auf die individuellen Quellen (Wahrnehmung, Selbstbewußtsein, Erinnerung, Verstand etc.) reduzieren läßt. Da der in (Z 11) abgelehnte Reduktionismus zur Zeit der Hauptstreitpunkt ist, sollten wir präziser angeben, was dabei unter Reduktion zu verstehen ist. Was könnte es heißen, das Zeugnis anderer auf andere epistemische Quellen zu „zurückzuführen“? Worin würde eine solche Reduktion bestehen? Betrachten wir den glücklichen und häufigen Fall, daß die Gültigkeitsbedingungen erfüllt waren, die epistemische Quelle also richtig funktionierte. Dann stehen hinsichtlich der Einschätzung des epistemischen Status zwei Grundoptionen offen. (A) Einerseits könnte geltend gemacht werden, daß das Fürwahrhalten dessen, was die jeweilige epistemische Quelle liefert, nur dann als gerechtfertigt und womöglich als Wissen angesehen werden kann, wenn es sich auf unabhängiges empirisches Wissen des Inhalts stützt, daß die Gültigkeitsbedingungen bei dieser Gelegenheit erfüllt sind. Ein rationales epistemisches Subjekt sollte – dieser Auffassung zufolge – das, was die Quelle liefert, erst und nur dann akzeptieren, wenn es über positive Belege verfügt, daß die einschlägigen Bedingungen erfüllt sind. Für den Fall des Zeugnisses anderer hieße dies, daß Überzeugungen aus dieser Quelle nur dann als Wissen angesehen werden dürften, wenn das epistemische Subjekt über empirisch gewonnene unabhängige Anhaltspunkte dafür verfügt, daß die be-

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zeugende Person (bei der fraglichen Gelegenheit) aufrichtig und (für das Thema) kompetent war. (B) Dieses Bild ist jedoch nicht ohne Alternative; einer anderen Konzeption zufolge hat ein epistemisches Subjekt eine präsumtive Berechtigung dem, was eine epistemische Quelle liefert, zu glauben. Sie orientiert sich an der (freilich anfechtbaren) Präsumtion, daß die entsprechenden Gültigkeitsbedingungen erfüllt sind, ohne bereits über positive Belege darüber verfügen zu müssen, daß sie es im vorliegenden Fall auch tatsächlich sind. Wir können jetzt genauer sehen, worauf ein Reduktionismus bezüglich der Testimonialerkenntnis hinausläuft: (Test-Red) Wenn das Zeugnis anderer als eine Quelle von gerechtfertigten Überzeugungen und von Wissen vindiziert werden soll, dann muß unsere mutmaßliche epistemische Berechtigung, zu glauben, was andere Leute uns sagen, als in basaleren epistemischen Quellen fundiert ausgewiesen werden können. Der Reduktionismus bezüglich des epistemischen Status des Zeugnisses anderer konnte, obwohl er lange Zeit das Feld beherrschte, nicht für alle Zeiten unwidersprochen bleiben. Ein Anti-Reduktionismus kann dabei zunächst so vorgehen, daß er die Unhaltbarkeit der reduktiven Strategien zeigt – insofern als (i) sie praktisch undurchführbar oder sogar (ii) inkohärent sind. Wenn der Anti-Reduktionismus mehr als die Destruktion des Reduktionismus sein will, wird er (iii) eine alternative nicht-reduktive Auffassung der Testimonialerkenntnis entwickeln und verteidigen.

6. Ein theoretischer Rahmen: Erkenntnisquellen und epistemische Präsumtionsregeln Um einer Antwort näher zu kommen, müssen wir den theoretischen Rahmen noch etwas erweitern. Zu den herausragenden Aufgaben der Erkenntnistheorie zählt die Untersuchung der Rechtfertigungs- und Wissensprinzi-

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pien für die verschiedenen epistemischen Quellen. Ich gehe von zwei grundlegenden Annahmen aus: (I) Die Art und Weise, wie jeder von uns aus den epistemischen Quellen sein Überzeugungssystem aufbaut und revidiert, wird durch bestimmte Präsumtionen vorstrukturiert und geleitet. (II) Die epistemischen Normen sind Präsumtionsregeln mit annullierbaren Präsumtionen. Im elementarsten Falle hat eine Präsumtionsformel die folgende Form: (Pr-F) Aufgrund von P wird Q präsumiert. P wird dabei die präsumtionserzeugende Tatsache, Q die präsumierte Tatsache genannt. Eine Präsumtionsregel für eine widerlegliche oder anfechtbare Präsumtion hat die folgende Form: (Pr-R) Gegeben p ist der Fall, verfahre so, als sei q der Fall, bis Du zureichende Gründe hast, zu glauben, daß q nicht der Fall ist. Beim Aufbau unseres Überzeugungssystems lassen wir uns von bestimmten Präsumtionen leiten. Es ist keine geringe Aufgabe, die angemessenen präsumtionserzeugenden Tatsachen und Widerleglichkeitsklauseln für alle relevanten epistemischen Quellen zu spezifizieren. Ich beschränke mich auf die Wahrnehmung und das Zeugnis anderer und dabei auf grobe Formulierungen der einschlägigen Prinzipien, die bei einer eingehenderen Analyse sicher in zahlreichen Hinsichten zu verfeinern wären. Die Grundidee ist, daß es eine annullierbare Wahrheitspräsumtion zugunsten dessen gibt, was uns die Sinne darbieten. Eine grobe Formulierung der einschlägigen Präsumtion könnte für den Fall der visuellen Wahrnehmung folgendermaßen lauten: (Vis-Perz-Präs-F) Daß x für das epistemische Subjekt S F aussieht, gibt S eine präsumtive Berechtigung, zu glauben, daß x die Eigenschaft F besitzt.

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(Vis-Perz-Präs-R) Gegeben, daß x für Dich F aussieht, gehe solange davon aus, daß x die Eigenschaft F besitzt, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß einschlägige Annullierungsbedingungen erfüllt sind. Die zentrale Frage bezüglich der Reduktion der Testimonialerkenntnis kann nun, wie folgt, reformuliert werden: Gibt es eine basale Präsumtionsregel und eine zugehörige präsumtive epistemische Berechtigung für die Annahme des Zeugnisses anderer (oder nicht)? Der Reduktionist antwortet mit einem „Nein!“. Der Anti-Reduktionist antwortet mit einem „Ja!“ D.h.: Ihm zufolge gibt es eine Präsumtion, das Zeugnis anderer als wahr zu akzeptieren. Natürlich ist diese Präsumtion, wie die anderen, empirisch anfechtbar: (Test-Präs-F) Es gibt eine Präsumtion, das Zeugnis anderer solange als wahr zu akzeptieren, bis man Gründe zu der Annahme hat, daß besondere Umstände vorliegen, welche die Präsumtion annullieren. Dabei gibt es zwei Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (bei der fraglichen Gelegenheit) nicht aufrichtig gewesen ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (in bezug auf das fragliche Thema) nicht kompetent ist. Die entsprechende Präsumtionsregel kann dann folgendermaßen formuliert werden: (Test-Präs-R) Gegeben, daß ein Sprecher S (bei der Gelegenheit O) eine verständliche assertorische Äußerung U vollzogen hat, mit der er sich auf die Wahrheit von p festlegt, gehe solange davon aus, daß p wahr ist, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß mindestens eine Annullierungsbedingung erfüllt ist. Dem entspricht wiederum ein Prinzip der epistemischen Berechtigung: (Test-Ber) Wenn (i) H hört und versteht, daß S bezeugt hat, daß p, (ii) H keinen Grund hat zu glauben, daß S nicht aufrichtig ist, (iii) H über keine Anhaltspunkte verfügt, die gegen die Wahrheit von p sprechen, und (iv) H keinen Grund hat zu glauben, daß die Überzeugung, daß p, nicht gerechtfertigt ist, dann ist H vorläufig berechtigt zu glauben, daß p.

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Vor diesem Hintergrund kann ich nun meine positiven Thesen über die Präsumtionsregel für den Umgang mit dem Zeugnis anderer zu formulieren: Normale epistemische Subjekte folgen faktisch einer Präsumtionsregel dieser Art.41 Und dass wir dies tun, ist nicht bloß ein eigentümliches soziologisches oder psychologisches Phänomen; einer solchen Präsumtionsregel zu folgen, ist vielmehr auch rational. Die Erkenntnis aus dem Zeugnis anderer besitzt dieselbe generelle Art des epistemischen Status wie unsere anderen grundlegenden Informationsquellen.

7. Das Zeugnis anderer und die übrigen Erkenntnisquellen: Analogien und Wechselwirkungen Die Argumentationen, die zeigen, dass der Reduktionismus bezüglich der Erkenntnisquelle des Zeugnisses anderer in seinen verschiedenen Spielarten unhaltbar ist, weil er nicht nur praktisch undurchführbar, sondern sogar inkohärent ist, habe ich bei anderer Gelegenheit rekonstruiert und erläutert.42 Heute konzentriere ich mich auf die Argumente, die mit dem Vergleich zwischen dem Zeugnis anderer und den anderen Quellen, insbesondere der Wahrnehmung, zu tun haben. (1) Argumente aus der Analogie unserer epistemischen Quellen Ein Strang von Argumenten schlachtet die tiefgehenden Analogien aus, die zwischen der Erkenntnis aus dem Zeugnis anderer und den traditionell akzeptierteren epistemischen Quellen bestehen. Wie bereits erwähnt, kann die vermeintliche epistemische Inferiorität des Zeugnisses anderer nicht der unleugbaren Tatsache geschuldet sein, dass diese Quelle fallibel ist. Denn schließlich ist jede der epistemischen Quellen fehlbar und korrigierbar; bei der Wahrnehmung ist dies besonders 41

Sie umschreibt die generelle Politik im Umgang mit dem Zeugnis anderer, die in verschiedenen Hinsichten modifiziert werden kann und muß, wenn man es etwa mit besonderen Arten von Sprechern oder besonderen Themen zu tun hat. 42 Vgl. besonders Scholz 2001.

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offenkundig. In dieser Hinsicht sitzt die Testimonialerkenntnis also im selben Boot wie die anderen Quellen.43 Sehen wir uns also nach aussichtsreicheren Versionen des Inferioritätsverdachts um. Betrachten wir als nächstes diesen Vorschlag: Wenn es zu einem Konflikt zwischen dem Zeugnis anderer und, sagen wir, der Wahrnehmung kommt, muß der Wahrnehmung stets der Vorzug gegeben werden. – Dazu ist folgendes zu sagen: Freilich ist es richtig, daß uns eine Wahrnehmung in manchen Fällen dazu bringen wird, das eine oder andere Zeugnis zurückzuweisen. Diese wichtige Einsicht muß jedoch um Betrachtungen ergänzt werden, die das Bild differenzieren und ausbalancieren. In vielen Fällen werden wir dem, was andere Beobachter uns sagen, (mit Recht) mehr Gewicht beimessen, als dem, was wir selbst zu sehen glaubten – besonders dann, wenn die anderen Beobachter in einer besseren Position waren, um die fraglichen Vorgänge zu beobachten. Nicht selten akzeptieren wir bereitwillig die Korrektur unserer (Fehl-) Wahrnehmungen durch die Berichte anderer. Zwischen dem Rückgriff auf das Zeugnis anderer und dem Rückgriff auf das Gedächtnis bestehen noch engere Parallelen.44 Wenn wir aufgrund einer Erinnerung eine Überzeugung bilden, gelangen wir im Regelfall nicht auf dem Wege eines Schlusses aus Annahmen über die gegenwärtige oder durchschnittliche Verläßlichkeit dieser epistemischen Quelle zu dieser Überzeugung. Sicherlich gibt es auch hier Ausnahmen; aber sie können nicht die Regel sein. Wenn ich den Eindruck habe, mich auf ein Geschehnis zu besinnen, aber außerdem glaube, daß mein Gedächtnis nicht verläßlich ist, dann mag ich über die Wahrscheinlichkeit nachdenken, daß mein Gedächtnis mir einen Streich gespielt hat. Komme ich zu der Einschätzung, daß dies im gegenwärtigen Falle eher unwahrscheinlich ist, werde ich zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Erinnerung nicht getrogen und somit das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Hier war ein Schluß vonnöten, um einen Zweifel zu zerstreuen. Aber im Normalfall taucht gar kein solcher Zweifel auf. Im Regelfall ist meine Erinnerung an ein Ereignis

43

Die Fehlbarkeit des Zeugnisses anderer kann auch kein Grund sein, dieser Quelle ein eigenes Prinzip der epistemischen Berechtigung zu verweigern, solange es als Präsumtionsregel mit einer anfechtbaren Präsumtion gefaßt wird. 44 Ausführlichere Vergleiche stellen Burge 1993 und Dummett 1994 an.

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einfach die Reaktivierung der Überzeugung, daß das Ereignis stattgefunden hat.45 Dasselbe gilt offenbar in dem Fall, in dem ich aufgrund des Zeugnisses anderer zu einer Überzeugung oder zu einem Wissen gelange. Im Regelfall kommt dies nicht durch einen Schlußvorgang zustande – zumindest nicht durch einen Schluß aus empirisch untermauerten Annahmen über die Glaubwürdigkeit des Sprechers. Natürlich kann es in besonderen Fällen so ablaufen. Wenn ich aus Erfahrung weiß, daß auf einen bestimmten Informanten – in bezug auf ein gegebenes Thema – wenig Verlaß ist, könnte ich im Falle einer entsprechenden Auskunft aufwendige Wahrscheinlichkeitserwägungen darüber anstellen, ob er sich vielleicht irrt, ob er unaufrichtig ist oder sich einfach einen Spaß erlaubt, und am Ende zu einer Konklusion gelangen. Aber solche Raisonnements stellen sicherlich die seltene Ausnahme dar. (2) Argumente aus der wechselseitigen Abhängigkeit unserer epistemischen Quellen Bislang habe ich daran erinnert, daß das Zeugnis anderer in den epistemisch relevanten Hinsichten auf einer Stufe mit den anderen Erkenntnisquellen steht. Man muß jedoch hervorheben, daß jede These einer generellen epistemischen Inferiorität der Testimonialerkenntnis aus fundamentaleren Gründen zum Scheitern verurteilt ist. Wie bereitwillig einzuräumen ist, kann man nicht in den Genuß der Zeugnisse anderer kommen, wenn man sie nicht erst einmal wahrgenommen und verstanden hat. Nichtsdestoweniger impliziert diese Art von Abhängigkeit keine generelle epistemische Inferiorität des Zeugnisses anderer, und zwar schon deshalb, weil sie die Möglichkeit offenläßt, daß sich die Verhältnisse – jedenfalls bei der vollentwickelten menschlichen Kognition – als Beziehungen der wechselseitigen Abhängigkeit entpuppen. Der Reduktionist setzt voraus, daß das Zeugnis anderer von der individuellen Wahrnehmung, der Erinnerung und dem Schließen in hinreichender Weise zu trennen ist, so daß es einer unabhängigen Beurteilung fähig wird. Diese unterstellte Trennbarkeit entpuppt sich im Falle der menschlichen Erkenntnis bei näherem Hinsehen als Illusion. 45

Vgl. Dummett 1994, S. 260.

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Es gibt tatsächlich einen hohen Grad von individueller und sozialer wechselseitiger Durchdringung und Bereicherung der Erkenntnisquellen. Die folgenden Überlegungen stellen diese Annahme der Separierbarkeit in Frage und verdeutlichen im Gegenzug die tiefgehende wechselseitige Abhängigkeit der epistemischen Quellen beim Menschen. Ein beträchtlicher Teil unseres Wahrnehmens, Wiedererkennens und Klassifizierens ist dadurch geprägt, daß wir soziale sprachverwendende Geschöpfe sind und uns die Beobachtungen, Erinnerungen und Theorien unserer Mitmenschen zunutze machen.46 Diese Überlegungen liefern den Hintergrund für ein Argument, das die Abhängigkeit der Wahrnehmung von dem, was wir von anderen gehört haben, oder besser gesagt: die wechselseitige Verknüpfung beider Quellen akzentuiert: (ARG) Der größte Teil der menschlichen Wahrnehmung ist Wahrnehmung-als, genauer: Wahrnehmung von etwas (x) als etwas (F). Anders gesagt: Die meisten menschlichen Wahrnehmungen schließen die Anwendung von Begriffen ein. Der Besitz eines Begriffs geht mit dem Besitz eines Stereotyps47, d.h.: einer rudimentären Alltagstheorie, über die Dinge einher, die unter den Begriff fallen. In der Regel war das Zeugnis anderer wesentlich am Erwerb dieser Theorie und damit am Erwerb des entsprechenden Begriffs beteiligt. Was landläufig als „Wahrnehmungsmeinungen“ bezeichnet wird, sind also in den meisten Fällen gemeinsame Errungenschaften der Sinnlichkeit, der Erinnerung und des Zeugnisses anderer.

8. Menschliche Erkenntnis Abschließend möchte ich eine allgemeinere Lehre aus meinen Betrachtungen ziehen. Sie betrifft das Spezifische der menschlichen Kognition. Der Effekt davon – neben den Fähigkeiten zum Wahrnehmen, Erinnern und Schließen – , von anderen lernen zu können, ist nicht einfach additiver Art. Was wir dem Zeugnis anderer entnehmen, vermehrt unseren Schatz ge46 47

Dies betonen u.a. Coady 1992, S. 168-176 und Strawson 1994, S. 25-27. Vgl. Putnam 1975, S. 247.

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rechtfertigter Meinungen nicht nur in quantitativer Hinsicht, es beeinflußt, bereichert und differenziert auch die anderen Quellen. Dies wird deutlich, wenn man ein Tier, das über keine Sprachfähigkeit verfügt, mit einem menschlichen Kind und erst recht mit einem normalen Erwachsenen vergleicht. Der deutliche qualitative Sprung zwischen den kognitiven und epistemischen Fähigkeiten von Tieren, die ja auch über Sinne, Erinnerung und sogar über einfache Formen des Schließens verfügen, und uns Menschen erklärt sich wesentlich daraus, daß uns die sozialen Institutionen der Sprache und des Zeugnisgebens und -annehmens zu Gebote stehen. Darauf beruht die Möglichkeit von kultureller Evolution, Tradition und bewußter Geschichte.

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Thomas Grundmann: Die Wahrnehmung kausaler Prozesse

ABSTRACT. In diesem Aufsatz wird die These (WKP) verteidigt, dass wir kausale Prozesse wahrnehmen können, und zwar in dem philosophisch interessanten Sinne, dass kausale Relationen in der Wahrnehmung phänomenal gegeben sind. Im ersten Teil werden zunächst drei Standardargumente Humes gegen (WKP) kritisiert. Im zweiten Teil werden die empirischen Untersuchungen des belgischen Psychologen Albert Michotte herangezogen, um für (WKP) zu argumentieren. Besonders wichtig ist dabei die Einsicht, dass sich perzeptuelle Kausaleindrücke auch dann einstellen, wenn die Probanden wissen, dass keine kausale Relation vorliegt. Das spricht gegen eine epistemische Interpretation der Eindrücke als Wahrnehmungsmeinungen. Im dritten Teil wird schließlich ein anscheinendes K.O.-Argument gegen (WKP) diskutiert. Dieses Argument besagt, dass man kausale Relationen nicht wahrnehmen kann, weil man Tatsachen, die begrifflich durch die Kausalrelation impliziert werden (wie Naturgesetze oder kontrafaktische Abhängigkeiten), nicht wahrnehmen kann. Dieses Argument wird zurückgewiesen, indem gezeigt wird, dass Wahrnehmung nicht unter begrifflicher Implikation geschlossen ist. Abschließend wird der Versuch unternommen, positiv zu charakterisieren, was man wahrnimmt, wenn man kausale Relationen wahrnimmt. Es handelt sich um die Manifestation von dispositionalen Eigenschaften der beteiligten Gegenstände.

Wenn wir von den alltäglichen Beschreibungen unserer Wahrnehmung ausgehen, erscheint es nahezu selbstverständlich, dass wir kausale Prozesse wahrnehmen können. Wir sehen, wie eine Billardkugel eine andere anstößt. Wir sehen, dass ein schwerer Gegenstand auf ein weiches Kissen fällt und es eindellt. Wir sehen, wie ein Stein in ein Fenster fliegt und die Scheibe zertrümmert. Wir sehen, wie das Messer die Butter zerschneidet.

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Thomas Grundmann

Wir beobachten einen Unfall, bei dem ein Auto ein anderes eindrückt. Wir spüren, wie der Stoß durch eine andere Person uns aus dem Gleichgewicht bringt. In all diesen Fällen und vielen weiteren sehen oder beobachten wir, wie Ereignisse aufeinander einwirken. Dabei können wir auch selbst von einer solchen Einwirkung betroffen sein. Wir haben einen unmittelbaren Eindruck davon, dass ein Ereignis aktiven Einfluss auf ein anderes hat. Wir beobachten nicht nur, dass ein Ereignis auf ein anderes in der Zeit folgt. Wenn man sich klarmacht, wie viele der Prädikate, mit denen wir unsere Erfahrungen beschreiben, kausale Abläufe versteckt implizieren, dann sieht man, dass aus unserer Alltagsperspektive die Wahrnehmung kausaler Prozesse ein ubiquitäres Phänomen ist. Sobald wir sagen, dass wir sehen, wie ein Gegenstand einen anderen trägt, stößt, drückt, verdrängt oder dazu beiträgt, dass er sich irgendwie verändert, gehen wir davon aus, dass wir kausale Prozesse wahrnehmen.1 Es ist deshalb zunächst einmal erstaunlich, dass es unter Philosophen seit Hume als ausgemacht gilt, dass wir kausale Prozesse nicht wahrnehmen können. In seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand resümiert Hume: Es zeigt sich, dass wir in Einzelfällen der Wirksamkeit von Körpern (…) nie etwas anderes entdecken konnten, als dass ein Ereignis dem anderen folgt; aber wir sind nicht imstande, irgendwelche Kraft oder Macht zu begreifen, durch welche die Ursache wirkt, oder irgend eine Verknüpfung zwischen ihr und der angenommenen Wirkung. (…) so das, im Ganzen genommen, überall in der ganzen Natur sich nicht ein einziges Beispiel von Verknüpfung darbietet, das uns vorstellbar wäre. Alle Ereignisse erscheinen durchaus unzusammenhängend und vereinzelt. Ein Ereignis folgt dem anderen; aber nie können wir irgendein Band zwischen ihnen beobachten. Sie scheinen zusammenhängend, doch nie verknüpft (…). (Hume 1993, S. 89f)

Um diese Diskrepanz zwischen unserem alltäglichen Selbstverständnis und der herrschenden philosophischen Meinung besser verstehen zu können, soll in einem ersten Schritt geklärt werden, was kausale Prozesse sind und unter welchen Bedingungen es wahr wäre, dass wir sie wahrnehmen können.

1

Vgl. dazu Anscombe 1971.

Die Wahrnehmung kausaler Prozesse

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Ich möchte zunächst die Frage nach den kausalen Prozessen aufgreifen. Ein kausaler Prozess besteht in einer Beziehung zwischen zwei oder mehreren Einzelereignissen. Der Stoß einer ganz bestimmten Billardkugel ist kausal verantwortlich dafür, dass sich eine zweite Billardkugel mit einer bestimmten Geschwindigkeit und in einer ganz bestimmten Richtung nach dem Anstoß bewegt. Von so genannten Singularisten ist die These vertreten worden, dass es für eine kausale Relation zwischen zwei Ereignissen hinreicht, wenn sie zeitlich unmittelbar aufeinander folgen und räumlich direkt aneinander grenzen (hier spricht man auch von Kontiguität).2 Doch bereits Hume hatte darauf hingewiesen, dass eine Kausalrelation neben zeitlicher Folge und Kontiguität zusätzlich eine „notwendige Verbindung“ erfordert. Zeitliche und räumliche Kontiguität können für Kausalität nicht ausreichen, da sie auch von vielen Epiphänomenen erfüllt werden. Bei einer Erkältung geht das Frösteln dem Fieber unmittelbar voraus und betrifft auch denselben Körper. Dennoch sind beide Phänomene gemeinsame Wirkungen einer Infektion. Außerdem können wir uns eine Welt zumindest vorstellen, in der nur zwei Ereignisse existieren, die unmittelbar aufeinander folgen und direkt räumlich aneinander grenzen und dennoch kausal nicht miteinander verknüpft sind, weil Gott sie unmittelbar nebeneinander und nacheinander erschafft. Wenn dies aber vorstellbar ist, dann kann Kontiguität Kausalität nicht begrifflich implizieren. Es ist deshalb sehr plausibel, dass über ihre zeitliche und räumliche Kontiguität hinaus mehr dazu erforderlich ist, damit zwei Ereignisse kausal verknüpft sind. Die kausale Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache wird von vielen Theorien entweder durch das Bestehen von Gesetzen erklärt, unter die die Ereignisse fallen, oder durch kontrafaktische Beziehungen der Art, dass die Wirkung nicht aufgetreten wäre, wenn sich die Ursache nicht ereignet hätte. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, wie die Zusatzbedingung genau lautet, wichtig ist nur, dass es eine solche Zusatzbedingung geben muss. Kontiguität alleine reicht nicht aus. Was genau wird nun behauptet, wenn man sagt, dass kausale Prozesse wahrnehmbar sind? Würde damit nur behauptet, dass kausale Prozesse de re wahrnehmbar sind, dann wäre die These trivial. Wir können selbstverständlich Wahrnehmungen von Ereignisfolgen haben, die de facto kausal 2

Vgl. Ducasse 1926 und Anscombe 1971.

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miteinander verknüpft sind. In diesem Sinne kann man auch dann einen bestimmten Zwilling de re wahrnehmen, wenn für einen beide Zwillinge völlig gleich aussehen. Man nimmt den einen Zwilling de re wahr, wenn die Wahrnehmung, mit welchem Gehalt auch immer, faktisch von diesem Zwilling hervorgerufen wurde. Wenn behauptet wird, dass kausale Prozesse wahrnehmbar sind, dann will man damit jedoch sagen, dass kausale Prozesse in den de dicto Gehalt der Wahrnehmung gehören. Die kausale Relation zwischen den Ereignissen soll dem Betrachter also selbst phänomenal gegeben sein. Er soll nicht nur von einem kausalen Prozess einen Eindruck haben, sondern wahrnehmen, dass dieser kausale Prozess besteht. Ein zweiter Punkt: Häufig sagen wir, dass wir etwas wahrnehmen, wenn wir aufgrund von beobachtbaren Indizien unmittelbar zu einem Urteil oder einer Meinung über die Sache kommen. In diesem Sinne sagen wir auch, dass der Wissenschaftler durch seinen Blick auf die Messgeräte mikrophysikalische Prozesse beobachtet. Tatsächlich sind die mikrophysikalischen Prozesse aber nicht der unmittelbare Inhalt seiner Wahrnehmung (dieser bezieht sich auf die Anzeige des von ihm beobachteten Geräts), sondern der Inhalt einer Meinung, die er aufgrund seiner Beobachtung erwirbt. Wenn wir Beobachtungsmeinungen im Blick haben, dann verwenden wir das Wahrnehmungsprädikat im epistemischen Sinne. In der Diskussion der Frage, ob kausale Prozesse wahrnehmbar sind, geht es jedoch darum zu klären, ob kausale Prozesse zum phänomenalen Inhalt der Wahrnehmung selbst werden können. Ist Kausalität phänomenal erfahrbar und erlebbar? Um diese Frage zu klären, müssen wir von den Beobachtungsmeinungen ganz abstrahieren. Schließlich werden Wahrnehmungszuschreibungen normalerweise in einem faktiven Sinne verwendet. Das heißt: Wenn jemand etwas wahrnimmt, dann existiert es auch. Nichtexistierende Dinge oder Ereignisse können nicht wahrgenommen werden. Darum soll es hier nicht gehen. Wenn ich der Frage nachgehe, ob kausale Prozesse wahrnehmbar sind, dann möchte ich mich damit nicht darauf festlegen, dass es kausale Prozesse in der Welt tatsächlich gibt. (Das ist natürlich sehr wahrscheinlich.) Sondern es geht allein um die Frage, ob kausale Prozesse zum repräsentationalen oder intentionalen Inhalt von phänomenalen Erlebnissen gehören. Dieser Inhalt lässt es zunächst einmal offen, ob er erfüllt oder nicht erfüllt ist.

Die Wahrnehmung kausaler Prozesse

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Auf dem Hintergrund der bisherigen Vorüberlegungen lässt sich die These der Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse jetzt etwas präziser formulieren: (WKP) Es gibt Sinneswahrnehmungen, die in ihrem repräsentationalen Inhalt unmittelbar von kausalen Prozessen handeln. Sie repräsentieren die beteiligten Ereignisse als raumzeitlich aneinandergrenzend und als voneinander abhängig. Es ist klar, dass wir über die Wahrheit oder Falschheit dieser These nicht so ohne weiteres aufgrund unseres Alltagsverständnisses urteilen können. So könnte es leicht sein, dass wir von der Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse bereits dann sprechen, wenn wir Beobachtungsmeinungen über kausale Prozesse haben. Die Wahrnehmbarkeit wäre dann nur epistemisch. Und dies ist mit der Falschheit der These verträglich. Im Folgenden möchte ich die These (WKP) verteidigen. Selbstverständlich möchte ich nicht bestreiten, dass es viele kausale Prozesse gibt, die für uns nicht wahrnehmbar sind. Viele Mikroprozesse sind einfach zu klein, um von uns direkt beobachtet werden zu können. Das wird man schwerlich leugnen können. Ich will nur behaupten, dass es kausale Prozesse gibt, die wir beobachten können und auch tatsächlich beobachten. So ließe sich erklären, wie wir den Kausalbegriff empirisch erwerben können, um ihn dann auch in unseren kausalen Schlüssen, Hypothesen und funktionalen Charakterisierungen verwenden zu können. Ich werde zunächst in einem ersten Abschnitt Humes Einwände gegen die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse darstellen und zurückweisen. In einem zweiten Abschnitt werde ich dann positiv dafür argumentieren, dass der repräsentationale Gehalt unserer phänomenalen Erlebnisse von kausalen Prozessen handelt. Schließlich werde ich mich im letzten Abschnitt dem wohl härtesten Einwand gegen meine These zuwenden. Dieser Einwand besagt, dass kausale Prozesse nicht wahrnehmbar sind, weil konstitutive Bestandteile der Kausalrelation nicht wahrnehmbar sind. Ich werde zu zeigen versuchen, dass auch dieser Einwand zurückgewiesen werden kann.

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I David Hume hat vehement bestritten, dass wir mehr als eine zeitliche Aufeinanderfolge und ein räumliches Aneinandergrenzen zweier Ereignisse wahrnehmen können. Eine dynamische (notwendige) Verbindung zwischen den Ereignissen werde prinzipiell nicht wahrgenommen. Deshalb kann man nach Hume kausale Prozesse nicht wahrnehmen. Der Eindruck von Kausalität entstehe vielmehr dadurch, dass der Betrachter aufgrund von Gewohnheit beim Erlebnis eines Ereignisses das Eintreten eines zweiten Ereignisses erwartet, das regelmäßig zusammen mit dem ersten Ereignis aufgetreten ist. Es handelt sich also nur um eine subjektive Projektion, dem nichts in den beobachteten Eigenschaften selbst zugrunde liegt. Es lassen sich insgesamt drei Argumente aus den Texten Humes rekonstruieren, die gegen die Wahrnehmbarkeit eines kausalen Nexus zwischen zwei Ereignissen sprechen. Sein erstes Argument ist eine reductio ad absurdum der Annahme einer notwendigen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Der Grundgedanke des Arguments ist folgender: Damit ein notwendiger Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erfahren werden kann (dass also die Ursache die Wirkung beispielsweise erzwingt), muss die Wirkung nach Hume aus der Ursache ohne weitere Erfahrung a priori ableitbar sein. Das ist aber tatsächlich nie der Fall. Also kann kein notwendiger Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erfahren werden. Im Originaltext heißt es: Aus der ersten Erscheinung eines Gegenstandes lässt sich nie mutmaßen, welche Wirkung aus ihm entspringen wird. (…) Unmöglich kann daher die Vorstellung der Kraft von der Betrachtung der Körper in Einzelfällen ihrer Tätigkeiten herstammen (…). (Hume 1993, S. 77f)

Etwas formaler lautet Humes Argument so: (1)

Wenn zwei Ereignisse als notwendig zusammenhängend erfahren werden, dann muss die Wirkung a priori aus der Erfahrung der Ursache ableitbar sein. (2) Die Wirkung ist nicht a priori ableitbar aus der Erfahrung der Ursache. -----------------------------------------------------------------------------------

Die Wahrnehmung kausaler Prozesse

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Also: Ereignisse können nicht als notwendig zusammenhängend erfahren werden. Die Prämisse (2) ist offenkundig richtig. Solange wir keine Erfahrung über die Wirkungen eines Dinges gemacht haben, können wir nicht sagen, welche Wirkungen es haben wird. Die dispositionalen Kräfte eines Dinges kennen wir empirisch nur aus seiner Interaktion mit anderen Dingen. Aber Prämisse (1) sieht dubios aus. Warum sollte es nicht metaphysisch notwendige Zusammenhänge zwischen Ereignissen geben, die wir eben nur aus der Erfahrung der Beziehung zwischen den Ereignissen kennen? Auch andere metaphysisch notwendige Tatsachen, etwa dass Wasser notwendig H2O ist, kennen wir nur a posteriori aus der Erfahrung. Nicht jeder notwendige Zusammenhang ist rein begrifflicher Natur.3 Hume nennt noch ein weiteres Argument gegen die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse: das Argument von der Geschlossenheit der Wahrnehmung unter ontologischer Realisierung. Auch dieses Argument hat die Form einer reductio. Hier zunächst wieder die Grundidee: Wenn wir kausale Prozesse wahrnehmen könnten, dann müssten wir auch ihre ontologische Realisierung wahrnehmen und kennen. Aber wir kennen ihre ontologische Realisierung nicht. Deshalb können wir kausale Prozesse auch nicht wahrnehmen. Hume verwendet dieses Argument gegen die Wahrnehmbarkeit innerpsychischer Kausalprozesse (wenn der Wille unsere Vorstellungen kontrolliert). Im Originaltext heißt es: Wir empfinden nur das Ereignis, nämlich das Vorhandensein einer Vorstellung als Folge eines Willensbefehls; aber die Art, in der dieser Vorgang sich vollzieht, die Kraft, durch die er hervorgebracht wird, übersteigt völlig unser Verständnis. (Hume 1993, S. 83)

In meiner Rekonstruktion lautet Humes Argument dann folgendermaßen: (1)

Wenn wir etwas wahrnehmen, dann nehmen wir auch die Tatsachen wahr, die dieses Ding ontologisch realisieren. (2) Wir nehmen die Realisierer kausaler Prozesse niemals wahr. ----------------------------------------------------------------------------------3

Vgl. zu dieser Kritik auch Menzies 1998.

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Also: Wir nehmen kausale Prozesse niemals wahr. Auch in diesem Argument ist Prämisse (2) sehr einleuchtend. Selbst jemand, der die Wahrnehmung makroskopischer kausaler Prozesse propagiert, wie etwa den Umschlag der Farbe im Reagenzglas durch Beimischung bestimmter Substanzen, würde kaum behaupten, dass wir auch die mikrophysikalischen Kausalprozesse alle erfassen, die diesen makroskopischen Vorgang konstituieren. Aber Prämisse (1) ist nicht plausibel. Ein ganz einfaches Beispiel kann das zeigen: Ich nehme den Tisch vor mir wahr. Der Tisch ist durch ein Aggregat vieler mikrophysikalischer Tatsachen konstituiert. Gleichwohl nehme ich diese konstituierenden oder realisierenden Tatsachen nicht wahr. Die Wahrnehmung ist also unter ontologischer Realisierung nicht geschlossen, wie Prämisse (1) fälschlich unterstellt. Sehen wir uns schließlich noch ein drittes Argument an, das ich so nicht direkt bei Hume gefunden habe, das aber analog zu seinem Illusionsargument für Sinnesdaten als unmittelbarem Gegenstand der Wahrnehmung formuliert werden könnte. Ich möchte es als Illusionsargument gegen die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse bezeichnen: (1)

Ich habe den Eindruck von Kausalität auch im Fall einer bloßen Kontiguität von Ereignissen ohne echte kausale Verknüpfung. (2) In solchen illusorischen Fällen kann sich der Eindruck nicht auf eine kausale Relation beziehen (denn die existiert nicht), sondern nur auf reine Abfolgen von räumlich aneinandergrenzenden Ereignissen. (3) Veridische Kausaleindrücke lassen sich nicht von illusorischen Eindrücken unterscheiden und deshalb beziehen auch sie sich nicht auf kausale Prozesse. ----------------------------------------------------------------------------------Also: Der Sinneseindruck bezieht sich niemals auf kausale Prozesse (sondern gibt nur Anlass zu wahren oder falschen Kausalurteilen).

Die Wahrnehmung kausaler Prozesse

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Genau wie in allen anderen Illusionsargumenten ist in diesem Argument die Annahme (Prämisse 2) falsch, also die Annahme, dass sich ein Eindruck nicht auf ein nicht-existierendes Objekt beziehen kann. Aufgrund von intentionalem Inhalt ist eine solche Beziehung auf Nicht-Existierendes möglich. Und deshalb kann man gegen den humeschen Geist dieses Arguments daran festhalten, dass selbst illusorische Kausaleindrücke von kausalen Prozessen handeln, obwohl es sich um Fehlrepräsentationen handelt. Dieser kurze, zugegeben kursorische Durchgang durch Humes Argumente gegen die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse zeigt, dass diese Argumente bei weitem nicht so zwingend sind, wie die Tradition angenommen hat, wenn es nach Hume quasi als Sakrileg galt, kausale Prozesse für wahrnehmbar zu halten. Im folgenden Abschnitt möchte ich mir nun die positiven Argumente für die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse ansehen.

II Bereits in den 40er Jahren hat der belgische Psychologe Albert Michotte eine Reihe von höchst aufschlussreichen Experimenten zur kausalen Wahrnehmung durchgeführt. In weit über 100 unterschiedlichen Experimenten wurden Probanden bewegte Objekte präsentiert und sie sollten berichten, ob sie einen kausalen Einfluss der Objekte aufeinander wahrnehmen. Besonders aufschlussreich waren die so genannten „Launching“Experimente. Dabei bewegt sich ein Objekt auf anderes, unbewegtes Objekt zu und nach der Berührung bewegt sich das zweite Objekt in dieselbe Richtung wie das erste. Die Probanden berichteten in diesen Fällen, dass sie den Eindruck hätten, dass das erste Objekt das zweite anschiebt und in Bewegung setzt. Sie hatten den Eindruck von einer kausalen Interaktion zwischen den Objekten. Durch eine geschickte Variation der Stimuli fand Michotte heraus, dass zur Auslösung des kausalen Eindrucks bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen. Die Objekte müssen sich berühren. Der Zeitraum zwischen der Berührung der Objekte und der Bewegung des zweiten Objekts muss relativ gering sein. Und die Bewegungsrichtung des zweiten Objekts muss der des ersten Objekts entsprechen. Diese Daten lassen sich so zusammenfassen, dass zu den notwendigen Auslösungsbe-

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dingungen eines kausalen Eindrucks die räumliche und zeitliche Kontiguität der Ereignisse gehört. Außerordentlich interessant war die Entdeckung, dass sich der kausale Eindruck auch dann bei den Probanden einstellte, wenn sie im Voraus wussten, dass eine wirkliche kausale Interaktion nicht stattfand. Michotte berichtete „that the causal impression was not necessarily dependent on the use of ‚real’ solid objects. It can be produced perfectly clearly by using objects which are simple coloured shapes without apparent thickness, or even images projected on a screen, and this is possible even when the observers know perfectly well what is going on.” (Michotte 1963, S. 84) Hier haben wir einen ganz ähnlichen Experimentalbefund wie im Falle der Müller-Lyer-Illusion. Auch bei der Müller-Lyer-Illusion stellt sich der Eindruck ein, dass die Linien verschieden lang sind, selbst wenn wir wissen, dass sie gleich lang sind. Das spricht dafür, dass es sich bei diesem Eindruck nicht um ein Beobachtungsurteil handelt (denn das wäre bei gegenteiligem Wissen klar irrational), sondern um einen phänomenalen Eindruck, der robust gegenüber von Zusatzinformationen ist. Wenn sich der Eindruck eines kausalen Prozesses also auch dann einstellt, wenn die Probanden wissen, dass sie nur Projektionen oder flächige Farbensembles sehen, dann spricht das eindeutig dafür, dass der kausale Eindruck zum repräsentationalen Gehalts der Erfahrung selbst gehört und nicht auf einer Meinung beruht. Die epistemische Interpretation des Phänomens kann also ausgeschlossen werden. Michotte konnte außerdem experimentell Humes psychologische Erklärung des Kausaleindrucks widerlegen. Wie bereits früher hervorgehoben, war Hume der Auffassung, dass der Eindruck einer Verbindung zwischen Ursache und Wirkung nicht durch die Wahrnehmung selbst entsteht. Sie hat keine solche Verbindung zum Inhalt. Sondern für Hume entsteht dieser Eindruck einer Verbindung durch die Erwartung des nachfolgenden Eintretens eines Ereignisses von einem bestimmten Typ aufgrund einer in der Vergangenheit beobachteten Korrelation von Ereignissen. Deshalb können wir nach Hume niemals den Eindruck einer kausalen Interaktionen zwischen Ereignissen haben, die noch nie zusammen aufgetreten sind, sondern unerwartet aufeinander folgen:

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Hiernach scheint es, dass die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von Ereignissen ihren Ursprung in einer Häufung eingetretener gleichartiger Fälle hat, in denen beständig diese Ereignisse im Zusammenhang standen; ein einzelner solcher Fall kann nie jene Vorstellung eingeben (…).“ (Hume 1993, S. 91)

Michotte konnte nun in seinen Experimenten nachweisen, dass sich der Kausaleindruck auch in Fällen ergab, die völlig neuartig waren und keine in der Vergangenheit beobachtete Korrelation ähnlicher Ereignisse voraussetzen. (Michotte 1963, S. 263) Es genügen jedoch auch Fälle aus der Alltagserfahrung, um zu zeigen, dass ein perzeptueller Wahrnehmungseindruck nicht die Beobachtung einer regelmäßigen Korrelation voraussetzt. Nehmen Sie an, Sie öffnen die Tür Ihres Kühlschranks und genau in diesem Moment geht das Licht in Ihrer Wohnung aus. Dann kann sich der Eindruck einstellen, als ob das Öffnen der Kühlschranktür das Ausgehen des Lichtes bewirkt. Dieser Effekt tritt auch dann ein, wenn Sie nie zuvor eine solche Abfolge von Ereignissen beobachtet haben. Also kann der kausale Eindruck nicht, wie Hume behauptet, das Resultat einer Projektion aus vergangenen Beobachtungen sein. Fassen wir zusammen: Michottes Experimente legen nahe, dass der kausale Eindruck bei der Beobachtung von Interaktionen zwischen Objekten zum Inhalt der Wahrnehmung selbst gehört und dass es sich bei diesem Inhalt nicht um den Inhalt einer Beobachtungsmeinung handelt, sondern um den repräsentationalen Phänomengehalt der Wahrnehmung selbst. Es bleibt die Frage, ob Michottes Nachweis, dass die räumliche und zeitliche Kontiguität von Ereignissen den Kausaleindruck auslöst, nicht zeigt, dass der vermeintliche Kausaleindruck tatsächlich nur von einer solchen Kontiguität der Ereignisse handelt. Das wäre jedoch klarer Weise ein Fehlschluss. Die Auslösebedingungen eines mentalen Zustands dürfen auf keinen Fall einfach mit dem Inhalt dieses Zustands identifiziert werden. Ansonsten wären Illusionen (und Fehlrepräsentationen) ganz unerklärlich. So kann z.B. durch die Müller-Lyer Pfeile, die tatsächlich gleichlang sind, der Eindruck hervorgerufen werden, dass die Pfeile unterschiedlich lang sind. Wären die Auslösebedingung des Eindrucks mit seinem Inhalt identisch, dann könnte der Eindruck der unterschiedlichen Länge so gar nicht erklärt werden. Denn die Pfeile sind ja gleich lang und rufen den Eindruck unterschiedlicher Länge hervor. Dass der Kausaleindruck mehr als bloß die

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Kontiguität der Ereignisse beinhaltet, lässt sich auch phänomenologisch plausibel machen. Stellen Sie sich vor, Sie sehen eine Billardkugel, die sich ohne Effet direkt auf eine zweite unbewegte Billardkugel zu bewegt, diese in der Mitte trifft und unmittelbar danach bewegt sich diese zweite Billardkugel mit etwa der gleichen Geschwindigkeit in dieselbe Richtung wie die erste. Wenn Sie das sehen, dann entsteht bei Ihnen sofort der Eindruck einer kausalen Einwirkung der ersten auf die zweite Kugel. Nehmen Sie jetzt an, dass die Bewegung der zweiten Kugel tatsächlich (aber für Sie unbemerkbar) gar nicht durch den Anstoß der ersten Kugel hervorgerufen wurde. Tatsächlich werden beide Kugeln durch einen verborgenen Mechanismus von starren Läufern bewegt. Wenn beide Kugeln sich berühren, stoppt dieser Mechanismus die Bewegung der ersten Kugel ab und setzt die zweite Kugel in Bewegung. Wenn Sie diese Zusatzinformation bekommen, dann werden Sie denken, dass ihr Wahrnehmungseindruck falsch war. Da in der konkreten Situation jedoch eine Kontiguität der beiden Ereignisse vorlag, ist das nur erklärbar, wenn der Inhalt Ihrer Wahrnehmung mehr umfasste als die bloße Kontiguität der Ereignisse. Es bleibt dennoch die Frage offen, wie die Auslösebedingungen eines Sinneseindrucks mit seinem Inhalt zusammenhängen. Betrachten wir eine mögliche Option: Informationale Theorien des Inhalts besagen, dass der Inhalt eines mentalen Zustands durch seine Ursachen bestimmt wird. Um Fehlrepräsentationen zu ermöglichen, dürfen nicht die jeweiligen Kausalursachen der Zustände deren Inhalt bestimmen, sondern es müssen die historischen Ursachen von Zuständen desselben Typs wie der fragliche Zustand sein. Man kann den Gehalt beispielsweise durch die normale Ursache von Zuständen eines Typs bestimmt sehen. Oder durch die Ursache in der Situation, in der der Zustand seinen Inhalt erwarb. Es ist hier relativ egal, wie wir die Situation, in der die Ursache den Inhalt bestimmt, genauer charakterisieren. Wichtig ist nur, dass in diesen gehaltskonstitutiven Situationen Ereignisse, die in einer Kontiguitätsrelation zueinander stehen, auch kausal miteinander interagieren. Wenn das der Fall ist, dann können Zustände, die durch kontiguierliche Ereignisse ausgelöst werden, die kausale Verbindung dieser Ereignisse zu ihrem Inhalt haben. Dass räumlich und zeitlich unmittelbar aneinandergrenzende Ereignisse unter Normalbedingungen auch in einer kausalen Relation zueinander stehen, ist nun aber ziemlich plausibel. So kann durch die Korrelation von Kontiguität

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und Kausalität in den relevanten Situationen erklärt werden, warum Sinneseindrücke, die durch kontiguierliche Ereignisse ausgelöst werden, kausale Prozesse zum Inhalt haben.

III Solange man annimmt, das die kausale Relation nur in einer singulären Relation zwischen Ursache und Wirkung besteht und von keinerlei weiteren Tatsachen abhängt, scheint der These, dass man kausale Prozesse wahrnehmen kann, nichts mehr weiter im Wege zu stehen, zumindest wenn man dabei nur makroskopische Prozesse im Auge hat. Der so genannte Singularismus (Ducasse, Anscombe, Menzies) ist also sehr gut verträglich mit der Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse. Doch viele der herkömmlichen Theorien der Kausalität beinhalten weitere problematische Voraussetzungen der Kausalbeziehung. So vertreten Regularitätstheoretiker die Auffassung, dass kausale Relationen zwar Beziehungen zwischen Einzelereignissen sind, dass solche Beziehungen jedoch immer unter ein Gesetz fallen müssen, damit die Beziehung eine genuin kausale Beziehung ist. Kausale Beziehungen setzen also die Existenz von entsprechenden Gesetzen voraus. Und dass dies der Fall ist, soll aus dem Begriff der Kausalität selbst folgen. Kontrafaktische Theorien der Kausalität, wie sie z.B. von David Lewis vertreten werden, verstehen die kausale Relation als kontrafaktische Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache. Demnach wäre die Wirkung nicht eingetreten, wenn die Ursache nicht aufgetreten wäre. Auch diese kontrafaktische Analyse der Kausalität soll sich aus dem Begriff der Kausalität ergeben. Sowohl die Regularitätstheorie als auch die kontrafaktische Analyse der Kausalität beanspruchen beide, begrifflich wahr zu sein. Was würde passieren, wenn eine dieser Analysen korrekt wäre? Könnte man immer noch daran festhalten, dass kausale Prozesse wahrnehmbar sind? Dagegen spricht die folgende Überlegung von Tooley und Sosa, die unter der Annahme der Regularitätstheorie formuliert wird: „if (a causal) relation were an instance of some law, to observe that two events were causally related would be to observe that there was some relevant law, and it is not easy to see how a single obseravtion could serve to establish such a

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conclusion.“4 Man kann den Fall auch etwas verallgemeinern. Nehmen wir an, kausale Relationen würden begrifflich implizieren, dass ein Naturgesetz gilt oder dass eine bestimmte modale Abhängigkeit besteht. Dass ein Naturgesetz gilt, kann man nicht unmittelbar wahrnehmen. Einzelne Wahrnehmungen beziehen sich nur auf konkrete Einzeltatsachen. Sie haben niemals Gesetze zum Inhalt. Aber auch modale Abhängigkeiten kann man nicht wahrnehmen, denn man kann nur wahrnehmen, was aktual der Fall ist, nicht, was der Fall wäre, wenn etwas, das aktual der Fall ist, nicht geschehen wäre. Solche Tatsachen scheinen einfach zu weit von der Aktualität entfernt zu sein. Vielleicht kann man Annahmen darüber auf die Wahrnehmung stützen, aber es scheint nicht unmittelbar selbst Inhalt der Wahrnehmung zu sein. Also kann man Tatsachen nicht wahrnehmen, die durch den Begriff der Kausalität impliziert werden. Aber das läuft darauf hinaus, dass man Kausalität selbst nicht wahrnehmen kann. Diesen Einwand kann man mit Hilfe des folgenden Arguments der Geschlossenheit der Wahrnehmung unter begrifflicher Implikation rekonstruieren: (1)

Wenn eine Erfahrung repräsentiert, dass ein Ereignis a ein Ereignis b verursacht, dann muss sie auch alles repräsentieren, was begrifflich durch die Kausalrelation zwischen a und b impliziert wird. (2) Kausalrelationen zwischen zwei beliebigen Ereignissen implizieren begrifflich schwergewichtige Tatsachen. (3) Schwergewichtige Tatsachen lassen sich nicht wahrnehmen. ----------------------------------------------------------------------------------Also: Keine Erfahrung kann repräsentieren, dass ein Ereignis a ein Ereignis b verursacht. Nehmen wir einmal an, dass (2) wahr ist, weil Kausalität begrifflich Gesetze oder kontrafaktische Abhängigkeiten impliziert (die ich als schwergewichtige Tatsachen bezeichne). Und nehmen wir ferner an, dass auch Prämisse (3) wahr ist, und Gesetze oder kontrafaktische Abhängigkeiten aus den genannten Gründen nicht wahrnehmbar sind. Sind wir dann nicht

4

Sosa/Tooley 1993, S. 13.

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dazu gezwungen anzunehmen, dass kausale Prozesse prinzipiell nicht wahrnehmbar sind? Nicht so schnell! Die Prämisse (1) drückt das Prinzip der Geschlossenheit der Wahrnehmung unter begrifflicher Implikation aus. Dieses Prinzip lässt sich bestreiten. Fred Dretske hat es zusammen mit dem Geschlossenheitsprinzip des Wissens angegriffen. Nun bin ich selbst der Auffassung, dass Wissen geschlossen unter begrifflicher Implikation ist. Wenn ich also weiß, dass eine bestimmte Proposition wahr ist, dann muss ich auch in einer Position sein, alles das, was logisch-begrifflich aus dieser Proposition folgt, zu wissen. Mit anderen Worten, würde ich eine logisch-begriffliche Implikation aus einer von mir gewussten Proposition ableiten, dann würde ich auch die abgeleitete Proposition wissen. Das ist sehr plausibel und ist vermutlich das Grundprinzip aller Argumentation. Aber bezüglich der Wahrnehmung bin ich ganz und gar einer Meinung mit Dretske. Er illustriert die Ungültigkeit der Geschlossenheit der Wahrnehmung unter begrifflicher Implikation mit dem folgenden Beispiel: Nehmen Sie an, Sie sehen einen Keks in einem Glas. Dass sich ein Keks in einem Glas befindet impliziert begrifflich, dass es materielle Gegenstände in der Welt gibt und dass der Idealismus falsch ist. Doch Sie können nicht sehen, dass es materielle Gegenstände in der Welt gibt oder dass der Idealismus falsch ist. Das sind unbeobachtbare Implikationen ihrer Beobachtung. Die verwendeten Begriffe sind viel zu abstrakt, als dass sich Inhalte Ihrer Wahrnehmung mit Hilfe dieser Begriffe charakterisieren ließen. Doch wenn sich mit Hilfe von unkontroversen Beispielen zeigen lässt, dass das Geschlossenheitsprinzip für die Wahrnehmung nicht gilt, dann darf man es in einem Argument gegen die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse auch nicht verwenden.5 Das kann jedoch nicht das letzte Wort sein. Es mag sein, dass man eine Tatsache sehen kann, ohne alles zu sehen, was sie begrifflich impliziert. Aber es wäre eigenartig, wenn man behaupten wollte, dass man eine Tatsache auch dann sehen kann, wenn man nichts sieht, was sie beinhaltet. Es stellt sich also die Frage, was man positiv sieht, wenn man kausale Prozesse sieht, deren modale und gesetzesartige Implikationen man nicht sieht. Und die Antwort auf diese Frage kann nicht lauten, dass man die Kontiguität der Ereignisse sieht. Denn wir wollen ja gerade sagen, dass der phäno5

Ansätze zu einem solchen Argument finden sich in Siegel Ms.

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menale Eindruck der Kausalität sich von dem der Kontiguität unterscheidet. Hier muss man wohl sagen, dass der Sinneseindruck von kausalen Prozessen so etwas wie die Aktivität oder Dynamik der Ereignisse repräsentiert, die modale oder gesetzesartige Implikationen haben. Zweitens stellt sich die Frage, wie wir den Begriff der Kausalität durch Erfahrung erwerben können, wenn wichtige Elemente des Kausalbegriffs selbst nicht wahrnehmbar sind. Auf diese Frage kann ich keine endgültig überzeugende Antwort anbieten. Aber vielleicht hilft die folgende Analogie weiter. Ich hatte vorhin gesagt, dass man die Existenz materieller Gegenstände nicht unmittelbar wahrnehmen kann, weil es sich bei dem Begriff MATERIELLER GEGENSTAND um einen zu abstrakten Begriff handelt. Dennoch kann man diesen Begriff aus den wahrgenommenen Tatsachen abstrahieren. Vermutlich ist es mit schwergewichtigen Elementen des Kausalbegriffes ähnlich. Wir können sie als solche nicht wahrnehmen, aber aus dem, was wir wahrnehmen (nämlich der Aktivität der Ereignisse) abstrahieren. Mit diesem tentativen Ausblick möchte ich schließen. Es hat sich gezeigt, dass sich Humes vermeintliche knock-down Argumente gegen die Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse durchaus entkräften lassen. Außerdem sprechen die experimentellen und phänomenologischen Befunde dafür, dass Kausalität tatsächlich durch unsere Erfahrung repräsentiert wird. Und da das Prinzip der Geschlossenheit der Wahrnehmung unter begrifflicher Implikation nicht plausibel ist, folgt aus der Tatsache, dass wir bestimmte schwergewichtige Implikationen kausaler Beziehungen nicht wahrnehmen können, nicht ohne weiteres, dass wir kausale Prozesse nicht wahrnehmen können. Am Ende ist die These der Wahrnehmbarkeit kausaler Prozesse doch nicht ganz so unplausibel, wie die Mehrheit der Philosophen gegen den Common Sense immer noch annimmt.

Literatur Anscombe, G.E.M. 1971: „Causality and Determination“, in: E. Sosa / M. Tooley: Causation, Oxford UP 1993, S. 88-104,

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Ducasse, C.J. 1926: „On the Nature and Observability of Causal Relations“, in: E. Sosa / M. Tooley: Causation, Oxford UP, S. 126-136. Hume, David 1993: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg: Meiner. Menzies, Peter 1998: “How Justified are the Humean Doubts about Intrinsic Causal Links?”, in: Communication & Cognition 31, S. 339-364. Michotte, Albert 1963: The Perception of Causality, London: Methuen. Siegel, Susanna Ms.: “The Visual Experience of Causation”, online. Sosa, Ernest / Tooley, Michael 1993: Causation, Oxford UP.

Erwin Tegtmeier: Grossmanns Philosophie der Wahrnehmung

ABSTRACT. Grossmanns ontologische und erkenntnistheoretische Analyse der Wahrnehmung ergibt, dass wir die Welt so wahrnehmen wie sie an sich ist und dass wir auch abstrakte Gegenstände, wie Zahlen, wahrnehmen können. Er entkräftet die skeptischen Argumente dagegen (die zeigen sollen, dass die Wahrnehmung relativ und unvollständig ist) sowie das physikalische Argument mit der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten und er weist darauf hin, dass zentrale Voraussetzungen der Gegenargumente (z.B. die Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff) von der traditionellen Ontologie herrühren, die Grossmann durch eine bessere ersetzen will. Jene Argumente haben seit Descartes zum Repräsentationalismus und schließlich zum Idealismus geführt. Als Alternative dazu entwickelt Grossmann im Anschluss an Brentano eine Erkenntnistheorie mit einer intentionalen Relation. Die Theorie kommt ohne repräsentationale Inhalte aus und führt die Beziehung zum Erkenntnisgegenstand nicht auf eine Kennzeichnung oder Abbildung zurück wie der Repräsentationalismus.

1. Grossmanns Verteidigung der Wahrnehmung Grossmanns Erkenntnistheorie ist eine einzige Verteidigung der Wahrnehmung. Und diese Verteidigung ist einzigartig. Kein anderer Philosoph der Neuzeit hat die Wahrnehmung in solchem Masse und so vollständig verteidigt. Grossmann vertritt das natürliche Verständnis der Wahrnehmung, wonach die physischen Dinge im Großen und Ganzen so sind, wie wir sie wahrnehmen. Diese Auffassung hat man abschätzig naiven Realismus genannt, weil man sie für völlig unhaltbar hielt. Dabei

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hat man die Argumente gegen das natürliche Verständnis sehr überschätzt. Grossmann entkräftet sie der Reihe nach. Zunächst muss er jedoch herausarbeiten, dass es den Erkenntniswert der Wahrnehmung in Frage stellt, wenn den Wahrnehmungsgegenständen ein großer Teil der oder alle die Eigenschaften abgesprochen werden, die wir an ihnen wahrnehmen. Diese Konsequenz entgeht vielen heutigen Philosophen, weil sie sich an die Umdeutung der Wahrnehmung als Befassung mit Empfindungen gewöhnt haben, weil sie diese subjektivistische Auffassung der Wahrnehmung für selbstverständlich nehmen. Die Annahme, dass die betreffenden Empfindungen durch den jeweils wahrgenommenen Gegenstand verursacht sind, gilt ihnen schon als Realismus, obwohl diese Verursachung offenbar nicht wahrgenommen wird. So diskreditiert ist die Wahrnehmung in der Erkenntnistheorie, dass die heutigen Verteidiger der Wahrnehmung sehr bescheiden auftreten. Sie beanspruchen für die Wahrnehmung höchstens einen gewissen Beitrag zur Rechtfertigung unseres Wissens und einen Charakter der Gewissheit oder zumindest der Unrevidierbarkeit für gewisse Wahrnehmungsgehalte. Diesen Charakter erwartet man sozusagen als Lohn für die Subjektivierung der Wahrnehmung. Dabei orientiert man sich am, von Grossmann so genannten, Immanenzprinzip. Es besagt, dass wir mit den Inhalten unseres Bewusstseins und nur mit ihnen vertraut sind. Das Immanenzprinzip wird durch skeptische Argumente gegen die Wahrnehmung gestützt. Grossmann macht nicht nur auf die Diskreditierung der Wahrnehmung aufmerksam, die aus dem Abbau der Wahrnehmungsgegenstände folgt, sondern auch auf diejenige, die mit der Annahme einhergeht, dass nicht alle Kategorien von Entitäten wahrnehmbar sind, insbesondere, dass Allgemeines nicht wahrnehmbar ist. Die Auffassung, dass nur Einzelnes wahrnehmbar ist, hat eine lange Tradition. Mit ihr hängt aber die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand zusammen. Diese wird von Grossmann entschieden abgelehnt, von anderen gegenwärtigen Verteidigern der Wahrnehmung jedoch vorausgesetzt, obwohl sie den Erkenntniswert der Wahrnehmung deutlich einschränkt. Manchen Philosophen, die in der lebensphilosophischen Tradition das Primat der Wahrnehmung verfechten, kommt diese Unterscheidung, derzufolge das Wahrgenommene unbestimmt und irrational ist, allerdings gerade recht.

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Denn ihr Engagement gilt der Unmittelbarkeit und Irrationalität und nicht eigentlich der Wahrnehmung. Grossmann behauptet, dass man Entitäten aller Kategorien wahrnimmt, auch Universalien. Er arbeitet die Gründe der gegenteiligen Ansicht heraus und zeigt deren Schwäche auf. Er macht auch darauf aufmerksam, dass Wahrnehmungen nicht mit mentalen Zuständen zusammenarbeiten, die sich mit nicht wahrnehmbaren Kategorien von Entitäten befassen. Wenn man z.B. annimmt, dass Universalien (also allgemeine Eigenschaften) nicht wahrgenommen werden, so ist kaum zu erklären, wie sich eine Eigenschaftszuschreibung auf eine Wahrnehmen stützen können soll. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir das Ding wahrnehmen und die allgemeine Eigenschaft (die Universalie) ideal anschauen, wir aber das Zusammensein von beiden, den Eigenschaftsbesitz weder wahrnehmen, noch ideal anschauen können.

2. Die Diskreditierung der Wahrnehmung in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie Grossmann untersucht, wie es in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie zu der Diskreditierung der Wahrnehmung gekommen ist und wie sich diese Diskreditierung entwickelt hat. Der Anstoß kam aus der neuzeitlichen Physik bzw. aus der philosophischen Konsequenzen, die Galileo Galilei aus ihr gezogen hat. Mit seiner Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten der Wahrnehmungsobjekte hatte er ihnen einen großen Teil ihrer Qualitäten abgesprochen und in das Subjekt verlegt. Die Farbe z.B. verstand er nicht mehr als Qualität eines Körpers, sondern als Reaktionsweise des wahrnehmenden Subjekts. Im Zusammenspiel mit dem physikalischen Anstoß wirkten zwei philosophische Traditionen in dieselbe Richtung, der Nominalismus, der sich im Universalienstreit des Mittelalter schließlich durchgesetzt hatte und die althergebrachte Skepsis gegenüber der Wahrnehmung. Beim Begründer der neuzeitlichen Philosophie, Descartes, führen die drei erwähnten Einflüsse zum Repräsentationalismus. Zentral für den Repräsentationalismus ist neben der Annahme von Ideen, also Bewusstseinsinhalten, die Dinge außerhalb des Bewusstseins

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repräsentieren, vor allem aber das Festhalten am mittelalterlichen Prinzip der Immanenz, wie Grossmann es nennt. Es besagt, dass wir nur mit dem bekannt sind, was sich in unserem Bewusstsein befindet. Demnach wären uns physische Gegenstände in keinem Fall bekannt. In der mittelalterlichen Erkenntnistheorie wird allerdings angenommen, dass das Wesen (die substanzielle Form) physischer Gegenstände auch in dem Bewusstsein ist, das sich mit ihnen befasst. Diese Annahme ist für Descartes jedoch wegen seines Substanzdualismus völlig ausgeschlossen. Statt dessen stellt er den physischen Gegenständen Ideen im Bewusstsein gegenüber, die die physischen Gegenstände außerhalb des Bewusstseins repräsentieren. Das letztere heißt, dass wir die physischen Gegenstände mittels der betr. Ideen erfassen müssen. Nicht dass die Ideen dabei zu dem werden, worauf sich das Erkennen richtet, aber die Ideen, die Bewusstseinsinhalte sind doch das einzige in diesem Zusammenhang unmittelbar Bekannte. Wie schon andere Kritiker Descartes bezeichnet Grossmann dessen Auffassung als Repräsentationalismus. Wegen der grundsätzlichen Verschiedenheit von Psychischem und Physischem schließen Descartes und die Cartesianer eine Ähnlichkeit zwischen einer Idee und dem von ihr repräsentierten Gegenstand aus. Nichtsdestoweniger folgt aus dem Repräsentationalismus, dass wir von einem physischem Gegenstand nur die Idee, die ihn repräsentiert, unmittelbar kennen. Descartes’ Repräsentationalismus ist in der Folgezeit bald abgelöst worden von einer Auffassung, die Grossmann als idealistisch charakterisiert, wonach sich die Wahrnehmungsgegenstände vollständig aus Bewusstseinsinhalten zusammensetzen. Diese Auffassung findet sich zum Beispiel im französischen und englischen Empirismus. Grossmanns Analyse des Empirismus ergibt, dass der Empirismus keineswegs wie sein Name nahe legt die Wahrnehmung rehabilitiert. Vielmehr vollendet er die Diskreditierung der Wahrnehmung, indem er die Wahrnehmungsgegenstände, die sich eindeutig als physische darbieten, zu psychischen macht, zu Komplexen von Sinnesdaten. Das kann ja nur heißen, dass uns in dieser Hinsicht die Wahrnehmung gewöhnlich trügt und diese Hinsicht ist offenbar fundamental. In der analytischen Philosophie der Gegenwart ist der Repräsentationalismus sehr verbreitet, wenn auch ohne Bezug auf Descartes und obwohl Descartes und das, was man dort unter

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Repräsentationalismus versteht, in dieser Philosophie einen schlechten Ruf haben. Nicht dass die analytischen Philosophen das von Grossmann so genannte Immanenzprinzip ausdrücklich vertreten. Allerdings spielen Begriffe und der Gegensatz von Begriffen und Anschauungen eine große Rolle bei Ihnen. Vor allem aber setzen sie ganz klar voraus, dass uns die Gegenstände des Erkennens, (einschließlich der Wahrnehmens) in einem strengen Sinne nicht bekannt sind. Ebenso deutlich setzen sie voraus, dass der Inhalt des Erkennens, im Gegensatz zu seinem Gegenstand, dem Erkennenden bekannt ist. Ohne diese beiden Voraussetzungen wäre nicht zu erklären, dass sie den Erkenntnisinhalt als Kennzeichnung oder als Bild des Erkenntnisgegenstandes verstehen. Grossmann nimmt auch einen Wahrnehmungsinhalt im Gegensatz zum Wahrnehmungsgegenstand an. Dieser Inhalt enthält jedoch keinerlei Information über den Gegenstand. Der Gegenstand ist Gegenstand der Wahrnehmung allein dadurch, dass er zu diesem in der intentionalen Relation steht. Und diese Relation ist die Relation der Bekanntschaft. Dagegen impliziert die repräsentationalistische (auch die zeigenössische) Auffassung keine Bekanntschaft mit dem Gegenstand. Der zeitgenössische Repräsentationalismus, die von Frege inspiriert ist und seiner Konzeption einer Gegebenheitsweise des Gegenstandes überlässt es sozusagen dem Wahrnehmungsinhalt, sich seinen Gegenstand zu suchen. Und ein Gegenstand wird dadurch Gegenstand einer Wahrnehmung, dass er derem Inhalt entspricht, dass er deren Inhalt erfüllt. Zum Teil beruht also, nach diesem Repräsentationalismus, die Beziehung der Wahrnehmung zu ihrem Objekt zum einen Teil darauf, dass dieses Objekt bestimmte Eigenschaften hat, zum anderen Teil darauf, dass Elemente des Inhalts Eigenschaften repräsentieren. Diese Repräsentationsbeziehung bleibt im Unklaren. Das kommt als Schwierigkeit noch hinzu.

3. Das physikalische Argument (the argument fom physics) Die schon erwähnte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten stützte sich auf die Elementarteilchenphysik der 17. Jahrhunderts. Sie besagte, dass die Wahrnehmungsdinge an sich nur die primären, nicht aber die sekundären Qualitäten besitzen. Das Aurgument

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dafür, dass eine bestimmte Qualität E sekundär ist, lautete: die Elementarteilchen haben die Qualität nicht. Die Stichhaltigkeit des Arguments ist längst nicht so stark wie seine historische Wirkung. Es ist zumindest unvollständig. Welche Prämisse muss hinzugefügt werden, um es zu einem logisch stichhaltigen Aurgument zu machen? Die fehlende Prämisse wird von Grossmann als Prinzip der Reduktion bezeichnet, weil ihmzufolge die Eigenschaften eines Komplexes auf die seiner Bestandteile reduzierbar sind.1 Grossmann setzt sich vor allem mit W. Sellars auseinenander, der sich am intensivsten bemüht hat, das physikalische Argument zu vervollständigen und zu stärken. Dabei führt Grossmann seine Kategorie der Struktur (die im Grossen und Ganzen dem algebraischen Begriff entspricht) in die Auseinandersetzung ein. Er spielt Sellars Erklärungen mit verschiedenen ontologischen Interpretationen durch und er kommt nach der Untersuchung von Beispielen zu dem Ergebnis, dass Strukturen viele Eigenschaften haben, die ihren Bestandteilen nicht zukommen.2 Was das Prinzip der Reduktion ja ausschliesst, sind sogenannte emergente Eigenschaften. Grossmann bestreitet nicht, dass Farben emergente Eigenschaften sind, sondern besteht nur darauf, dass physische Dinge emergente Eigenschaften haben können, dass also z.B. karminrot zu sein und aus farblosen Elementarteilchen zu bestehen, verträglich sind, dass also seine Zusammensetzung aus farblosen Elementarteilchen das physische Ding nicht daran hindert, karminrot zu sein, überhaupt, eine Farbe zu haben. Es diskreditiert die Wahrnehmung, wenn man annimmt, dass die physischen Dinge die sekundären Qualitäten in Wirklichkeit nicht haben, die wir an ihnen wahrnehmen. Es diskreditiert die Wahrnehmung nicht weniger, wenn man vertritt, dass das, was wir an den physischen Dingen wahrnehmen, wenn wir sekundäre Qualitäten wahrnehmen, mikrophysikalische Eigenschaften sind. Denn dann wäre das, was wir an den Dingen wahrnehmen, ganz anders als es sich uns darstellt. Es sind materialistische Philosophen (Grossmann erwähnt Smart und Armstrong), die Farben und andere sekundäre Qualitäten mit atomaren Zuständen identifizieren. Grossmann kritisiert diese Identifikation. An Beispielen wird sofort deutlich, wie verfehlt die Identifikation ist. Das Köngsblau 1 R. Grossmann: The Fouth Way, S. 59 2 a.a.O., S.61

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einer Schreibtinte z.B. ist offenbar kein atomarer Zustand. Wir nehmen ja überhaupt keine Atome wahr, wenn wir die Farbe des Tinte sehen. Nach Grossmann besteht zwischen beiden nur ein naturgesetzlicher Zusammenhang aber keine Identität. Verteidiger der Identitätsthese machen geltend, dass die betr. Naturgesetze nicht gerade im Mittelpunkt der Physik stehen. Jedoch tut es dem Bestehen von Gesetzen keinen Abbruch, wenn sie keine grosse erklärende Rolle spielen. Die Gesetze, die Farben und mikrophysikalische Zustände verbinden, werden nur für Beobachtung und Messung gebraucht, z.B. zur exakten Bestimmung von Farben.

4. Das Halluzinationsargument Grossmann bezieht sich hier auf A.J.Ayer als einen Vertreter des Halluzinationsarguments. Auch dieses Argument soll die These stützen, dass die Qualitäten, die wir an den physischen Dingen wahrnehmen, subjektiv sind, dass sie dem Wahrnehmungssubjekt und nicht dem Wahrnehmungsobjekt zukommen. Ayer will mit dem Halluzinationsargument zu der Schlussfolgerung führen, dass wir tatsächlich nur Sinnesdaten (also Bewusstseinsinhalte, also Mentales) wahrnehmen, wenn wir z.B. ein farbiges Ding wahrnehmen. Ayers Beispiel ist Shakespeares Macbeth, der halluzinatorisch einen Dolch sieht. Das Argument beginnt mit der Prämisse, dass kein Dolch da ist, den Macbeth sehen könnte. Dann geht er zu der Prämisse über, dass Macbeth aber doch etwas sieht. Des weiteren glaubt Ayer voraussetzen zu können, dass dieses Etwas (das Objekt des Sehens) nur Macbeth allein zugänglich ist und nur so lange existiert wie Mcbeth es sieht, da es sich ja um eine Halluzination handeln soll. Ayer schliesst dann in einem Zwischenschritt, dass nur die Sinneseindrücke, die Macbeth bei der Halluzination hatte, das Wahrnhmungsobjekt sein können, weil nur sie alle in den Prämissen aufgeführten Bedingungen erfüllen. Mit der Verallgemeinerung, dass bei allen Hallzinationen Sinnesempfindungen des Halluzinierenden und nicht physische Gegenstände das Wahrgenommene sind, ist Ayer jedoch noch nicht am Ziel seiner Argumentation. Das letzte Argumentationsziel ist selbstverständlich die Verallgemeinerung auf alle

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Wahrnehmungen. Der Schluss soll sein, dass alle Wahrnehmungen Sinnesempfindungen des Wahrnehmenden zum Gegenstand haben. Dafür ist Ayers entscheidende Prämisse, dass der halluzinierte Dolch genauso aussieht, wie ein wahrgenommener tatsächlich vorhandener. Daraus folgert Ayer, dass beide dieselbe Art von Objekt haben und ensprechend für alle Wahrnehmungen, dass sie dieselbe Art von Objekten haben wie Hallzinationen. Grossmann akzeptiert Ayers entscheidende Prämisse, dass Macbeth etwas sieht, also sein Sehen ein zweites Relatum hat. Er macht aber auf eine versteckte Prämisse Ayers aufmerksam. Diese gehört ins Zentrum der Erkenntnistheorie. Sie betrifft nämlich die Beziehung zwischen einem psychischen Akt und seinem Gegenstand, also die von Brentano so genannte intentionale Beziehung. Brentano hat als eine Besonderheit der intentionalen Beziehung herausgestellt, dass das zweite Relatum nicht in allen Fällen existiert, z.B. im Fall von Halluzinationen nicht. Ayers setzt jedoch das Gegenteil als selbstverständlich voraus. Oder er ist sich dessen gar nicht bewusst, dass er es voraussetzt. Grossmann schliesst sich jedoch in diesem Punkt Brentano an, obwohl er mit ihm in dem Verständnis der Relationen sehr differiert. Ayer setzt offenbar voraus, dass das Objekt der Wahrnehmung existiert. Sonst könnte er den Dolch als Objekt der Halluzination von Macbeth nicht ausschließen. Demgegenüber besteht Grossmann darauf, dass der Dolch sehr wohl das Objekt sein kann und ist. Sein Argument: das Objekt einer psychischen Aktes muss nicht existieren. Wenn man jedoch annehmen kann, dass Halluzinationen physische Objekte haben und nicht psychische, so fehlt der Ansatzpunkt zu Ayers verallgemeinernder Schlussfolgerung, dass alle Wahrnehmungen psychische Objekte haben, nämlich Sinnesempfindungen.

5. Das Relativitätsargument Das Relativitätsargument ist auch auf die Sinnesempfindungen gerichtet, allerdings nicht in der Absicht, sie als eigentliche Gegenstände der Wahrnehmung zu erweisen. Vielmehr soll es zu dem Schluss führen, dass wir die Eigenschaften der physischen Dinge nicht direkt wahrnehmen, sondern höchstens aus Wahrnehmungen erschließen können.Grossmann

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hält das Relativitätsargument für äußerst einflussreich. Er urteilt, dass sich kaum ein Philosoph ihm habe entziehen können. Als Verfechter dieses Arguments diskutiert er Russell, Moore und Husserl. Das Relativitätsargument geht von Fällen aus, in denen die Wahrnehmung nicht vom Wahrgenommenen, sondern von der Position und von Umständen der Wahrnehmung abzuhängen scheint. Es handelt sich z.B. darum, dass mehrere verschieden platzierte Beobachter an demselben Hausdach wegen der Beleuchtung und nicht aufgrund der Färbung des Dachs gleichzeitig verschiedene Farben sehen oder darum, dass ein sich bewegender Beobachter denselben physischen Gegenstand in verschiedener Gestalt sieht, eine rechteckige Tischplatte z.B. als unterschiedliche Parallelogramme. Wenn solchermaßen unverträgliche Wahrnehmung gemacht werden, ohne dass man dabei von irrtümlicher Wahrnehmung sprechen könnte, scheint die Schlussfolgerung unausweichlich, dass die Eigenschaften physischer Gegenstände nicht wahrgenommen werden, sondern höchstens aus dem, was man wahrnimmt, gefolgert werden können. Eine solche Folgerung setzt bei der Wahrnehmung allerdings einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen den Sinnesdaten und dem wahrgenommenen Gegenstand voraus. Deswegen ist das Relativitätsargument meist mit der kausalen Theorie der Wahrnehmung verbunden. In einer Hinsicht passen beide zusammen. Die kausale Theorie der Wahrnehmung besagt zum einen, dass uns in der Wahrnehmung Sinnesdaten als Wirkungen äußerer Gegenstände gegeben sind und auf diese Auffassung arbeitet ja auch das Relativitätsargument hin. In einer anderen Hinsicht stehen das Relativitätsargument und die kausale Theorie der Wahrnehmung zumindest in einer Spannung. Denn das Relativitätsargument geht von einer fehlenden Korrespondenz zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand aus und von einer Abhängigkeit der Wahrnehmung von anderem als dem Wahrnehmungsgegenstand, eben von einer Abhängigkeit vom Subjekt und seiner Position. Der Verfechter des Relativitätsarguments kann den Wahrnehmungsgegenstand daher nur als Teilursache seiner Wahrnehmung ansehen. Seit Kant überschätzen viele Erkenntnistheoretiker die Annahme, dass die die Sinnesdaten bei einer Wahrnehmung von einem Ding außerhalb des Bewusstseins verursacht worden sind. Grossmann macht darauf aufmerksam, dass diese Annahme zwar die Kennzeichnung des

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Wahrnehmungsgegenstandes erlaubt, als desjenigen nicht-mentalen Gegenstandes, der die betreffenden Sinnesdaten verursacht hat, sie jedoch kaum Aufschlüsse über seine Beschaffenheit erbringt.3 Dessen ist sich z.B. Bertrand Russell bewusst, der sowohl das Relativitätsargument als auch die kausale Theorie der Wahrnehmung vertritt. Er gesteht ein, dass die Überzeugung, äußere Gegenstände verursachten unsere Wahrnehmungen, nicht begründet werden, sondern nur instinktiv sein kann. Da wir immer nur Sinnesdaten wahrnehmen, wie er selbst wegen des Relativitätsarguments annimmt. Russell glaubt, nicht mehr über das äußere Wahrnehmungsobjekt sagen zu können als Kant über das Ding an sich, nämlich, dass er Ursache der betreffenden Sinnesdaten ist. Grossmann kritisiert Meinong, der sich eigentlich in derselben argumentativen Situation befindet wie Russell, jedoch lehrt, dass die kategoriale Struktur der Sinnesdaten auf die physischen Wahrnehmungsgegenstände übertragbar sei. Grossmann wendet ein, dass man es es nicht als selbstverständlich voraussetzen kann, dass die physische Welt dieselbe kategoriale Struktur hat wie die phänomenale.4 Ein Spezialfall des Relativitätsarguments ist die These, dass wir immer nur einen räumlichen Teil eines physischen Dings wahrnehmen, z.B. seine Vorderseite, nie jedoch das ganze Ding. Welchen räumlichen Teil jemand wahrnimmt, das hängt von seiner räumlichen Position gegenüber dem wahrgenommenen Ding ab. Von verschiedenen Positionen aus werden verschiedene räumliche Teile eines Dings wahrgenommen. Insofern ist die Wahrnehmung der räumlichen Position des Wahrnehmenden gegenüber relativ. Grossmann setzt sich mit G. E. Moore und Husserl auseinander, die das räumliche Relativitätsargument besonders prägnant vertreten haben. Im Hinblick darauf muss daran erinnert werden, dass das Relativitätsargument vor allem die Beschränkung der Wahrnehmung auf die Sinnesdaten zeigen soll. Genau genommen nimmt man demnach nicht räumliche Teile von physischen Dingen, sondern nur räumliche Teile von phänomenalen, also aus Sinnesdaten zusammengesetzten, Dingen. G. E. Moore versucht, darüber hinauszugehen, indem er annimmt, dass die physischen Dinge Sinnesdaten als Oberflächen haben. Dies steht offenbar im Widerspruch zum 3 R. Grossmann: The Fourth Way. S. 40f. 4 a.a.O. S. 83

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Common Sense, den Moore ansonsten verteidigt. Grossmann weist darauf hin, dass Moore mit seiner Auffassung die Oberflächen physischer Dinge zu mentalen Dingen macht.5 Er diskutiert ausführlich Husserls Konzeption des Aspekts eines Wahrnehmungsobjekts. Wenn Moore vertritt, dass wir nur jeweils einen Teil der Oberfläche eines physischen Dings wahrnehmen und nie das ganze Ding, so vertritt Husserl, dass wir immer nur einen Aspekt eines physischen Dings wahrnehmen, aber nie dieses selbst. Nach Grossmann meint Husserl mit "Aspekt" zweierlei: zum einen die Sinnesdaten, die von einem physischen Ding bei seiner Wahrnehmung verursacht werden, zum anderen den räumlichen Teil, der sich bei einer visuellen Wahrnehmung jeweils darbietet. Die unvollkommene, zu mindestens unvollständige Erkenntnis der physischen Dings kontrastiert bei Husserl zur vollkommenen Erkenntnis der abstrakten Wesenheiten und der vollkommenen Selbsterkenntnis eines Bewusstseins. Grossmann hebt die epistemologische Aufwertung des Bewusstseins durch Husserl hervor und ihren Zusammenhang mit ontologischen Abstufungen, die er vornimmt. Husserl misst dem Psychischen eine höhere ontologischen Status zu als dem Physischen. Er geht so weit, zu sagen, dass das Physische anders existiert als das Psychische und hält es für sinnvoll, von einer abhängigen Existenz als einer besonderen Existenzweise zu sprechen. Den physischen Dingen misst Husserl eine intentionale Existenz, eine Existenz, die davon abhängig ist, dass ein Bewusstsein zu ihm in der intentionalen Beziehung steht. Nach Husserl ist also nicht nur die Wahrnehmung des physischen Dings vom Erkenntnissubjekt abhängig, sondern auch seine Existenz. Grossmann wendet sich gegen das Relativitätsargument im Allgemeinen und das räumliche Relativitätsargument im Besonderen. Er nennt das Relativitätsargument ausdrücklich nicht Argument der Relativität des Wahrnehmens, sondern das Argument der Relativität des Empfindens (sensing). Grossmanns Hebel, mit dem er die ganze erkenntnistheoretische Tradition aus den Angeln hebt, ist die Unterscheidung zwischen Wahrnehmen (perceiving) und Empfinden. Es handelt sich dabei nicht um eine Unterscheidung, die aus seiner ontologischen Theorie erwächst, sondern um eine theorieneutrale, phänomenologische Unterscheidung, um eine 5 a.a.O. S. 86

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Verschiedenheit, die sich unmittelbar darbietet. Jeder kann feststellen, dass er bei einer Wahrnehmung auf den physischen Gegenstand gerichtet ist und nicht auf Sinnesdaten. Wir können uns auch mit Sinnesdaten befassen, aber das ist eine spezielle Art Akt, der sehr viel seltener vorkommt als die Wahrnehmung. Das Erfassen von Sinnesdaten, das Empfinden, kommt vor allem bei der Vorbereitung von bildlichen Darstellungen vor: z.B. bei impressionistischer Malerei oder wenn man aufgefordert wird, ein Möbelstück perspektivisch darzustellen. Wenn man einen Tisch mit rechteckiger Platte sieht, sieht man eine rechteckige Tischplatte, wenn man jedoch aufgefordert wird, den Tisch perspektivisch darzustellen, bemerkt (empfindet) man die Parallelogrammform der Sinnesdaten. Grossmanns Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Empfindung ist nicht nur gegen das Relativitätsargument gerichtet, sondern auch gegen die traditionelle und auch heute noch für selbstverständlich genommene Auffassung, dass Wahrnehmung zum Teil Empfindung ist (in Grossmanns Terminologie). Manche analytischen Philosophen, wie z.B. Ayer, mit dem Grossmann sich, wie erwähnt, auseinander setzt, verstehen Wahrnehmung als Empfinden zusammen mit einem Schlussfolgern aus diesem. In der Kantischen Tradition wird die Wahrnehmung aus einem völlig diffusen und gegenstandslosen Empfinden und dessen Bearbeitung durch den Verstand zusammengesetzt. Der Erkenntniswert des Empfindens soll in der Kantischen Auffassung darauf beruhen, dass es durch die Aussenwelt verursacht ist. Nach Grossmanns Auffassung ist die Wahrnehmung eigenständig und baut nicht auf die Empfindung auf. Er arbeitet ja vor allem heraus, was das Empfinden genau ist und dass es sehr selten und keineswegs als Teil jeder Wahrnehmung auftritt. Die Eigenständigkeit der Wahrnehmung gründet bei Grossmann auch auf der intentionalen Relation. Sie besteht direkt zum Wahrgenommenen. Durch sie ist das jeweils Wahrgenommene das jeweils Wahrgenommene. Nach Grossmann bekommen alle Arten von psychischen Zuständen, seien es Erinnerungen, Überzeugungen oder Empfindungen, ihre Gegenstände (das sind immer Sachverhalte) dadurch, dass sie zu diesen in der intentionalen Relation stehen. Die intentionale Relation ist bei Grossmann wie bei Brentano und Meinong eine spezifische Relation. Es ist auch eine einfache Relation, d.h. eine, die nicht andere Relationen enthält, die sich nicht auf andere Relationen zurückführen lässt. Sinn und

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Wichtigkeit dieser Spezifizität und Irreduzibilität sind vielen, die sich an die Brentano-Tradition anschliessen wollen, nicht klar. Searle z.B. führt die Intentionalität auf das Unter-einen-Begriff fallen bzw. auf das EinPrädikat-Erfüllen zurück. Damit fällt er auf den Repräsentationalismus, den Brentano gerade überwinden wollte, zurück. Der Repräsentationalist fasst Erkennen als Darstellen auf, nicht als Erfassen des Gegenstandes. Mit Russells Terminus der Bekanntschaft könnte man sagen, dass die intentionale Relation die Bekanntschaftsrelation ist. In den Termini der phänomenologischen Tradition würde man sagen, dass der Gegenstand eines pychischen Aktes sich durch die intentionalen Relation dem Akt präsentiert. Damit wird auch die Direktheit der intentionalen Beziehung ausgedrückt. Wie schon erwähnt neigen die Verfechter des Relativitätsarguments zu einem kausalen Verständnis der Beziehung zwischen Kognition und Gegenstand. Häufig ist dieses Verständnis nicht explizit und gilt als alternativlos. Bei Kant wird die Beziehung jedoch hauptsächlich als Produktionsbeziehung aufgefasst. Ein Gegenstand wird dadurch Gegenstand eines Bewusstseins, dass dieses ihn regelrecht produziert. Die kausale Beziehung zum Ding an sich ist bei Kant offenbar keine kognitive Beziehung. Grossmann macht darauf aufmerksam, dass die kausale Theorie der Wahrnehmung den skeptischen Argumenten wenig entgegen zusetzen hat und daher zum Skeptizismus führt.6 Gegen das räumliche Relativitätsargument wendet Grossmann ein, dass es eine angreifbare implizite Prämisse hat, nämlich die Prämisse, dass man ein physisches Ding selbst nur dann wahrnimmt, wenn man alle seine räumlichen Teile wahrnimmt. Er versucht, diese Prämisse ad absurdum zu führen mit dem Hinweis, dass dann ein Ding auch dann nicht als erkannt gelten könnte, wenn irgend eine Eigenschaft und sei sie noch so nebensächlich nicht bekannt ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Besitz eines räumlichen Teil bloß eine Beziehung, ein Attribut des betreffenden Dings ist.7 Die Haltbarkeit der impliziten Prämisse scheint jedoch von der Ontologie abzuhängen, die man zu Grunde legt. Moore und Husserl vertreten ja die so genannte Bündeltheorie, wonach das Einzelding aus allen seinen Bestimmungen, einschließlich der relationalen, besteht. Wenn das konkrete 6 R. Grossmann: The Fourth Way. S.83f. 7 a.a.O., S. 87

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Einzelding ein solches Bündel wäre, so könnte man kaum den Anspruch erheben, ein Einzelding selbst zum Gegenstand zu haben ohne sämtliche Eigenschaften und Beziehungen zu erfassen. Diese Konsequenz ist allerdings gerade etwas, das gegen die Bündeltheorie spricht. Nach Grossmanns ontologischer Analyse des physischen Einzeldings besteht es nicht aus seinen Eigenschaften und Beziehungen, vielmehr ist es eigenständig und von diesen unabhängig und mit ihnen nur durch Sachverhalte verbunden. Es sind die Sachverhalte, die bei Grossmann aus Eigenschaften und Beziehungen bestehen, nicht die Dinge (Individuen). Außerdem bestehen die Sachverhalte auch aus Individuen (particulars). Physische ebenso wie psychische Einzeldinge werden von Grossmann als Individuen kategorisiert. Zu Grossmanns Ontologie der Erkenntnis gehört der Satz, dass alle Wahrnehmungen, überhaupt alle mentalen Zustände, Sachverhalte zum Gegenstand haben, was immer die üblichen Beschreibungen dieser Zustände nahelegen. Nach Grossmanns ontologischer Analyse genügt schon die Wahrnehmung einer einzigen Eigenschaft oder Beziehung eines konkreten Dings, um das ganze Ding (Individuum) zu erfassen. Deswegen liefert sie anders als die Bündeltheorie dem Skeptizismus und Idealismus auch keine Ansatzpunkte.

6. Der Nominalismus in der Philosophie der Wahrnehmung In seiner Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen und gegenwärtigen Wahrnehmungsphilosophie macht Grossmann auf den ontologischen Hintergrund zentraler Prinzipien und Unterscheidungen aufmerksam. Damit will er deren Selbstverständlichkeit in Frage stellen. Schlüsselprinzipien und -unterscheidungen der neuzeitlichen Erkenntnistheorie haben einen nominalistischen Hintergrund. Grossmann meint "nominalistisch" nicht in einem engen Sinne, sondern in dem Sinne, dass Universalien abgelehnt werden. Die Erkenntnistheorie der Neuzeit, so sehr sie sich auch gegen den Aristotelismus wendet, ist doch vom mittelalterlichen Nominalismus bestimmt. Die Entgegensetzung von Begriff und Anschauung, überhaupt die von Verstand und Sinnlichkeit, die in der Neuzeit Standard geworden sind, rührt von der Annahme her, dass es keine Universalien in der physischen Welt gibt und dass deshalb auch keine wahrgenommen werden können.

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Begriffe sind, sozusagen, mentaler Ersatz für physische Universalien. Und sie wären ein Beitrag des Bewusstseins zur Struktur der physischen Welt. Insofern sind Begriffe eine idealistische Komponente. Viele Philosophen, die den Nominalismus und seine Konsequenzen für eine Selbstverständlichkeit nehmen, glauben, man könne der Wahrnehmung direkt entnehmen, dass wir es nie mit Allgemeinem, also nie mit Universalien, sondern immer nur mit Einzelnem zu tun haben. Sie verweisen, um ihre Auffassung zu stützen, meist darauf, dass alles, was wir wahrnehmen, hier oder dort, also lokalisiert, ist. Dabei beruft man sich jedoch gerade auf das, von Grossmann so genannte, Prinzip der Lokalisation, das er als Dogma angreift, und das er auch mit dem Nominalismus in Zusammenhang bringt (Sensory Intuition and the Dogma of Localisation, in: E.B.Allaire (ed.) Essays in Ontology. The Hague 1963). Kant bringt das Prinzip der Lokalisation auf die Formel, dass der Raum eine Anschaungsform ist, d.h. angeschaut werden kann nur, was räumlich lokalisiert ist. Wenn die Universalien nicht lokalisiert wären, wie auch die meisten Universalienrealisten annehmen, würde das Prinzip der Lokalisation in der Tat die Wahrnehmbarkeit der Universalien ausschliessen. Wie schon erwähnt, hat das Prinzip einen nominalistischen Ursprung. Aber auch unabhängig vom Universalienstreit hat das Prinzip eine gewisse Plausibilität. Zumindest ein Teil der Eigenschaften physischer Objekte scheinen lokalisiert und Eigenschaften werden ja von den Universalienrealisten als Universalien kategorisiert. Allerdings machen die Beziehungen nicht den Anschein, hier oder dort zu sein. Die Rede davon, dass eine Relation "zwischen" den Relata bestehe, ist sicher nicht im räumlichen Sinne zu verstehen. Grossmann versucht den Eindruck, den wir bei manchen Eigenschaften physischer Dinge haben, dass sie nämlich lokalisiert sind, zu zerstreuen. Er kategorisiert die Eigenschaften als Universalien und nach seiner Auffassung sind Universalien nicht lokalisiert. Der irreführende Eindruck einer Lokalisation gewisser Eigenschaften rührt nach Grossmann daher, dass die Eigenschaften immer mit Entitäten verbunden sind, die tatsächlich einen Ort haben, mit Individuen nämlich. Grossmann kann umso mehr darauf verweisen, als er die These vertritt, dass man immer Sachverhalte wahrnimmt. Wenn man z.B. eine bestimmte Eigenschaft wahrnimmt, so nimmt man nach Grossmann wahr, dass ein bestimmtes physisches Ding (das er

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als Individuum kategorisiert) diese Eigenschaft hat. Einen solchen Sachverhalt fasst Grossmann als Komplex aus einen Individuum und zwei Universalien auf, einer nicht-relationalen und einer relationalen Universalie. Die erstere ist die zukommende Eigenschaft, die zweite die Relation des Zukommens oder wie Grossmann sie nennt "die Relation der Exemplifikation". Die Empiristen des 17. und 18. Jahrhunderts gaben, wie schon erwähnt, vor, dass man bei unvoreingenommener Durchsicht des Wahrgenommenen keine Universalien auffinde. Dasselbe taten sie auch hinsichtlich der Beziehungen und Komplexe. Sie erklärten damit genau diejenigen Kategorien von Entitäten für empirisch nicht gegeben, die in der hochmittelalterlichen Metaphysik als bloße Begriffe im Bewusstsein ohne Entsprechung in der physischen Realität verstanden wurden. Dies war unbestreitbar ein Schritt zum Idealismus. Denn Begriffe dachte man sich als Mentales (anders als Platon oder später Frege). In der Nachfolge nehmen die Empiristen dann an, dass allgemeine Begriffe sowie Beziehungs- und Komplexbegriffe, nicht gegeben sind, sondern durch das Bewusstsein erzeugt werden. So wenig die Empiristen berechtigt waren, aus unmittelbarer Anschauung zu behaupten, wir nähmen Universalien nicht wahr, so wenig kann Grossmann das Gegenteil unmittelbar behaupten. Grossmann begnügt sich ja auch damit, die Gründe, die dagegen sprechen, dass wir Universalien wahrnehmen, zu entkräften. Entscheidend für die Frage, ob wir Universalien wahrnehmen, ist vor allem die ontologische Auseinandersetzung über Universalien. Grossmann geht von einem Universalienrealismus aus, den er in früheren Veröffentlichungen verteidigt hat. Natürlich folgt daraus, dass Universalien existieren, nicht unmittelbar, dass wir Universalien wahrnehmen. Es folgt erst mit zwei zusätzlichen Prämissen. Der Prämisse, dass die Eigenschaften an und die Beziehungen zwischen den physischen Dinge Universalien sind und der Prämisse, dass wir die Eigenschaften an den Dingen und die Beziehungen zwischen den Dingen wahrnehmen. Die letztere Behauptung folgt aus Grossmanns These, dass wir immer Sachverhalte wahrnehmen. Gegen Grossmanns These drängt sich er Einwand auf, dass wir doch z. B. sagen: "ich sehe einen Baum". Dabei scheinen wir doch nicht in Beziehung zu einem Sachverhalt zu stehen, Anders bei der Aussage: "ich sehe, dass der Baum von Mehltau befallen ist." Man verbindet Sachverhalte nur

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mit dass-Sätzen. Im Hinblick auf Grossmanns These ist jedoch zu beachten, dass darin das Wort "Sachverhalt" als theoretischer Terminus gebraucht wird. Bei Grossmann sind Sachverhalte eine ontologische Kategorie. Der Terminus muss also im Kontext von Grossmanns ontologischer Theorie verstanden werden. Und auch die Frage, worauf sich das Wort "Baum" in unserem Beispiel bezieht, muss von der ontologischen Theorie her beantwortet werden. Bäume wären bei Grossmann als Individuen zu kategorisieren. Allerdings haben die Individuen nach Grossmanns ontologischer Theorie von sich aus keine Eigenschaften. Sie bekommen sie erst dadurch, dass sie mit den betreffenden einstelligen Universalien verbunden sind. Diese Verbindung beruht nun auf Sachverhalten, in denen sowohl das Individuum als auch die Universalie Bestandteil ist. Wenn jemand sagt, er sehe einen Baum, so kann nicht gemeint sein, dass er das Individuum Baum sieht. Denn ihm sind dabei offenbar Eigenschaften des Baums gegeben, zumindest die Eigenschaft, ein Baum zu sein. So ergäbe sich aus Grossmanns ontologischer Theorie, dass wir einen Sachverhalt wahrnehmen. Es ist, denke ich, absehbar, wie in allen Fällen, wo der Sprachgebrauch nahelegt, dass wir ein Ding wahrnehmen, man mit Grossmanns ontologischer Theorie zeigen kann, dass doch Sachverhalte wahrgenommen werden. Die Wahrheit dieser Theorie wird dabei vorausgesetzt. Sie muss natürlich in anderem Zusammenhang geprüft werden wie alle wissenschaftlichen Theorien. Grossmann beansprucht für seine Ontologie und für Ontologien überhaupt nicht den Status einer höheren Einsicht. Und er versteht alle wissenschaftlichen Theorien als empirische, einschliesslich der Arithmetik.8 Die Kategorie des Sachverhalts spielt in Grossmanns ontologischer Theorie eine entscheidende Rolle. Sie ist es, die ihm hauptsächlich eine Stützung des erkenntnistheoretischen Realismus erlaubt. Diese Kategorie ist erst Ende des 19. Jahrhundert ontologisch etabliert (d.h. in eine ontologische Theorie eingebettet) worden, bei Meinong nämlich. In der Anfangszeit der sprachanalytischen Philosophie wurde sie kurz aufgenommen, aber dann fallen gelassen. Die führenden analytischen Philosophen lehnen die Kategorie ab und bei denjenigen, die die Kategorie akzeptieren, spielt sie längst nicht die zentrale Rolle, die sie bei Grossmann hat. 8 R. Grossmann: The Fourth Way. Part Three

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Inwiefern stützt die Kategorie des Sachverhalts entscheidend Grossmanns erkenntnistheoretischen Realismus? Insofern als sie einen Universalienrealismus haltbar macht. Ein Universalienrealismus mit Universalien in den Dingen führt in schon Platon bekannte große Schwierigkeiten, die ein Universalienrealismus vermeidet, der die Universalien durch Sachverhalte äußerlich verbunden sein lässt (s. Tegtmeier: Sachverhalte und Universalien, in: Hüntelmann/ Tegtmeier). Grossmann erspart sich mit seinen Universalien in wahrgenommen Sachverhalten dann auch die unlösbaren Probleme, die man mit platonischen, nicht wahrnehmbaren Universalien bei der Erklärung des Eigenschaftsbesitzes und bei der Erklärung seiner Erkenntnis hat. Diese Probleme stehen ebenso wie die der Universalien in den Dingen einem erkenntnistheoretischen Realismus entgegen. Den Kern der erkenntnistheoretischen Realismus bildet nach Grossmann die These, dass wir die physischen Dinge so wahrnehmen, wie sie an sich sind. (Dafür genügt es nicht, zu zeigen, dass die physischen Dinge im Großen und Ganzen so sind, wie wir sie wahrnehmen.) Wenn es keine Universalien gäbe, sondern statt dessen nur unsere allgemeinen Begriffe oder sprachlichen Prädikate, wie die Konzeptualisten und Nominalisten im engeren Sinne annehmen, hätten die physischen Dinge an sich keine Eigenschaften in dem Sinne, in dem diese mehreren Dingen zukommen können. Wenn der Eigenschaftsbesitz physischer Dinge auf den Begriffen oder den sprachlichen Prädikaten der Erkenntnissubjekte beruhte, wäre er von ihnen bzw. von ihren mentalen Zuständen oder ihren sprachlichen Zeichen abhängig. Das anzunehmen stünde offenbar nicht im Einklang mit dem erkenntnistheoretischen Realismus. Denn er verteidigt auch die gewöhnliche Überzeugung, dass die Wahrnehmungsgegenstände mit ihren Eigenschaften unabhängig vom Wahrnehmen sind. Der Nominalismus mit seiner Annahmen von Begriffen oder allgemeinen Prädikaten anstelle von Eigenschaften ist also unter mehreren Gesichtspunkten mit dem erkenntnistheoretischen Realismus unvereinbar. Nun gibt es Nominalisten im weiten Sinne, der Konzeptualisten einschliesst, die sich als erkenntnistheoretische Realisten verstehen. Für sie genügt es, eine kausale Beziehung zwischen dem Wahrnehmungsgegenstand und der betr. Wahrnehmung anzunehmen, um einen Philosophen zum Realisten zum machen. Nach dieser Definition des erkenntnistheoretischen Realismus vertrüge er sich mit einer Abhängigkeit des Erkenntnisob-

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jekts vom Erkennen, wobei das Erkenntnisobjekt einschliesslich seiner Eigenschaften und Beziehungen gemeint ist. Nicht zuletzt die Analyse der Intentionalität spielt bei Grossmann eine Schlüsselrolle für die Verteidigung eines erkenntnistheoretischen Realismus. So kritisch er gegenüber Brentano auch eingestellt ist, so setzt er doch die Brentanosche Revolution fort. Diese besteht neben der Schärfung der Unterscheidung zwischen „psychisch“ und „physisch“, die in der neuzeitlichen Philosophie zunehmend verwischt worden ist, vor allem aber in der Annahme einer spezifischen intentionalen Relation. Beides ist bei Brentano gegen den Reprsäsentationalismus und den Idealismus gerichtet. Brentanos intentionale Relation ist die Relation des geistigen Erfassens. Sie besteht zwischen einem mentalen Akt und seinem Objekt. Das Objekt ist nach Grossmann, wie schon erwähnt, immer ein Sachverhalt, nach Brentano etwas, das er Akzidenz nennt und das man als lokalisierte Qualität charakterisieren könnte. Brentano und Grossmann stimmen darin überein, dass die intentionale Relation auch dann bestehen kann, wenn das zweite Relatum, das Objekt, nicht existiert. Die repräsentationalistische Auffassung der Beziehung zum Objekt, die in der gegenwärtigen analytischen Philosophie vorherrscht, ja den meisten als selbstverständlich erscheint, ist eine ganz andere. Nach ihr ist es keine spezifische, nur zwischen diesen Arten von Relata bestehende Beziehung. Vielmehr wird sie teils auf die Kausalität und teils auf die Beziehungen des Eigenschaftsbesitzes und des Bestehens einer Beziehung zurückgeführt. Man könnte sagen, dass nach Brentano die Beziehung zwischen Bewusstsein und Objekt direkt und unvermittelt ist, nach repräsentationalistischer Auffassung durch einen mentalen Inhalt vermittelt werden muß. Der mentale Inhalt fungiert dabei als eine Art Bild oder als Kennzeichnung des Objekts. Die Auffassung, dass die Beziehung zum Gegenstand auf einer Kennzeichnung beruht, schließt an Frege an, wurde allerdings von Searle ahnungsloserweise unter dem Brentanoschen Stichwort der Intentionalität in die analytische Diskussion eingeführt. Der Objektbezug mittels Kennzeichnung ist uns geläufig aus Situationen, in denen wir verstehen oder mitteilen müssen, welches Objekt gemeint ist. Allerdings habe wir in jenen Situationen schon einen Objektbezug. Wir stehen zu den Objekten, aus denen wir das richtige auswählen müssen, schon in einer kognitiven Beziehung. Das Problem, das Brentano mit der intentionalen Relation lösen will, ist jedoch das der pri-

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mären Beziehung zu den Erkenntnisobjekten. Zur Lösung dieses Problems ist der Objektbezug durch Kennzeichnung nicht geeignet, weil er auf dem Besitz der kennzeichnenden Eigenschaften beruht, dieser Eigenschaftsbesitz vorausgesetzt, jedoch nicht erkannt wird. Das heißt aber auch, dass das Objekt nicht erfasst wird. Wenn man z,B. ein rotes Lämpchen wahrnähme, würde man nach der repräsentationalistischen Auffassung tatsächlich bloß wahrnehmen, dass genau ein Ding die kennzeichnenden Eigenschaften hat und rot ist. Eine so verstandene Wahrnehmung könnte kaum zur Stützung allgemeiner Erkenntnisse dienen. Sie hätte selbst die Stützung durch andere Erkenntnisse nötig. Der Objektbezug durch eine Kennzeichnung kann misslingen, z. B., wenn sie von mehreren Objekten im Nahbereich erfüllt wird. Diesen Umstand habe analytische Philosophen, die repräsentationalistisch denken, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie z.B. Putnam, gegen die intentionale Relation vorbringen wollen. Ihr Einwand: diese Relation bestimme das Objekt nicht immer. Bei Grossmann kann jedoch (ebenso wie bei Brentano) von einer Unterbestimmtheit des Gegenstandes, des zweiten Relatums der intentionalen Relation, nicht die Rede sein. Wenn z.B. ein rotes Lämpchen gesehen wird und ein anderes genau Gleiches sich daneben befinden, kann es bei Grossmann trotzdem nicht zu einer Unbestimmtheit kommen, weil nach ihm das rote Lämpchen selbst als Individuum in dem wahrgenommenen Sachverhalt vorkommt und das andere Lämpchen ein anderes, numerisch verschiedenes Individuum ist.

7. Grossmanns radikaler Empirismus Bisher ging es um das Realismusproblem und die kategoriale Struktur des Wahrnehmens, Die Lösung des Realismusproblems hängt nach Grossmanns Auffassung hauptsächlich von der ontologischen Theorie des Wahrnehmens bzw, des Erkennens überhaupt ab. Auch Grossmanns radikaler Empirismus, wie er ihn nennt, ist zunächst auf die Ontologie ausgerichtet. Was er beinhaltet, ist nämlich, dass wir Entitäten aller Kategorien wahrnehmen, auch sog. abstrakte Gegenstände, einschliesslich der reellen Zahlen. Der radikale Empirismus ist aber auch für das Problem der Rechtfertigung der Erkenntnis, das seit Descartes meist im Vordergrund steht,

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relevant. Grossmann schließt sich durchaus der traditionellen Definition des Empirismus an, in der er als These über die Quelle des Wissens verstanden wird. Er meine mit "Empirismus" die Ansicht, dass unser Wissen über die Aussenwelt gänzlich auf der Wahrnehmung beruhe und all unser Wissen über unser eigenes Bewusstsein auf Introspektion, schreibt Grossmann einleitend.9 Grossmann versucht mit seinem radikalen Empirismus eine Schwierigkeit zu beheben, die der neuzeitliche Empirismus von Gassendi bis Hume aufwirft. Die Empiristen stimmen darin überein, dass uns in der Wahrnehmung nur individuelle und einfachen Qualitäten gegeben sind, alle anderen aristotelischen Kategorien jedoch nicht. Diese werden als Begriffe gebildet durch mentale Operationen an den mentalen Repräsentanten der individuellen einfachen Qualitäten. Die Empiristen haben hauptsächlich eine kausale Theorie der Erkenntnis und des Gegenstandsbezugs. Deswegen stellt sich bei gebildeten, also nicht unmittelbar verursachten, Begriffen die Frage, ob sie sich überhaupt auf Gegenstände beziehen, auch wenn die mentalen Operationen, durch die sie gebildet werden, relativ einfach sind, wie Kombination und Assoziation. Die Empiristen sind nicht besonders an der Gegenstandsfrage interessiert, sondern nur daran, welche Begriffe auf einfache Gegebenheiten zurückgeführt werden können und wie diese Zurückführung genau aussieht. Die Unterscheidung zwischen gegebenen und produzierten Vorstellungen legt jedoch nahe, dass den letzteren keine Gegenstände entsprechen. Wenn jedoch nur individuelle Qualitäten existierten in der physischen Welt und z. B. keine Relationen, was hat die Bildung von Relationsvorstellungen und ihre Anwendung auf die physische Welt dann für einen Sinn? Am ehesten leuchtet da noch die idealistische Annahme ein, dass die physische Welt selbst eine mentale Produktion aus einfachen Sinnesdaten ist. Diese Annahme ist unter Einfluss des neuzeitlichen Idealismus sehr verbreitet und man nennt es schon Realismus, dass die Sinnesdaten als gegeben (also von ausserhalb des Bewussteins verursacht) angesehen werden und insofern als nicht vom Bewusstsein Produziertes. Es war Meinong, der eine echt realistische Semantik für die produzierten Vorstellungen entwickelt hat. Dafür zieht er die Kategorie der Gegenstände 9 R. Grossmann: The Fourth Way, S.VII

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höherer Ordnung heran. Ein Gegenstand höherer Ordnung baut gemäss Meinongs Ontologie auf einen Gegenstand nächstniedrigerer Ordnung auf und zwar entsprechend der Weise, in der die betreffende produzierte Vorstellung aus anderen produzierten oder einfachen Vorstellungen produziert worden sind. Meinongs Gegenstände niederster Ordnung sind individuelle (also nicht allgemeine) Qualitäten. Meinongs Semantik und Ontologie liefert eine Erklärung dafür, dass die unmittelbare Wahrnehmung Aufschluss über etwas geben kann, das prinzipiell nicht wahrnehmbar ist (nach empiristischer Auffassung), aber nichtsdestoweniger existiert, wie z. B. eine Relation bzw. das Bestehen einer Relation. Der betreffende Schluss von der Wahrnehmung auf nicht Wahrgenommenes ist insofern mit dem erkenntnistheoretischen Realismus vereinbar, als das nicht Wahrgenommene bewusstseinsunabhängig ist und nach Meinongs Theorie der Gegenstände höherer Ordnung sich aus dem Wahrgenommenen notwendig ergibt. Der Kernsatz von Meinongs Theorie besagt, dass ein Gegenstand höherer Ordnung existiert, wenn die Gegenstände niederer Ordnung, auf die er aufbaut, existieren. Der Vergleich mit dem entsprechenden Schluss bei den Empiristen macht Meinongs erkenntnistheoretischen Realismus deutlich. Bei den Empiristen kann der Schluss von der unmittelbaren Wahrnehmung auf das nicht Wahrgenomme ausschliesslich darauf beruhen, dass wir bestimmte Begriffe gebildet haben, sei dies auch durch Gesetzmäßigkeiten bedingt. Denn diese Gesetzmäßigkeiten sind psychologische, auch wenn sie als Bedingungen der Möglichkeit bestimmter zentraler Begriffsbildungen verstanden werden können. Die Schwäche von Meinongs realistischem Ansatz besteht darin, dass sie voraussetzt, die Relata einer Relation seien dieser intern und gehe aus diesen hervor. Diese Auffassung hat große Schwierigkeiten (s, Bergmann: Realism) und nach Meinong sind alle Gegenstände Relationen und zugleich Komplexe. Grossmanns Relationen sind alle extern, sie sind mehrstellige Universalien, die in Sachverhalte durch die Relation der Exemplifikation mit ihren Relata, sozusagen äusserlich, verbunden sind. Eine noch größere Stärke Grossmanns gegenüber Meinong besteht jedoch darin, dass er die Wahrnehmbarkeit von Relationen verteidigt, indem er die traditionellen Argumente dagegen entkräftet. Deswegen hat Grossmann von vornherein nicht das Problem, Gegenstände für produzierte Vorstellungen zu finden. Nach Grossmann sind für alle Kategorien die Vorstellungen nicht

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produziert, sondern gegeben und das heißt bei ihm, der keine kausale, sondern eine intentionale Auffassung der Wahrnehmung hat, dass wir zumindest in jeweils einem Fall zu allen Kategorien durch Wahrnehmungen in der intentionalen Beziehung stehen. Die prinzipielle Frage, ob und wie unmittelbar Wahrgenommenes das Urteil rechtfertigen kann, dass eine Relation besteht, stellt sich bei Grossmann gar nicht, weil wir ihm zufolge Relationen unmittelbar wahrnehmen können. Grossmann meint natürlich nicht, dass wir alle relationalen Sachverhalt wahrnehmen. Viele von ihnen müssen aus Wahrnehmungen geschlossen werden. Das gilt für alle Kategorien. Mindestens ein Mitglied einer Kategorie nehmen wir im Zusammenhang von Sachverhalten wahr, wenn es sich nicht selbst um Sachverhalte handelt. Die meisten Mitglieder einer Kategorie in der physischen Welt nehmen wir nicht wahr. Auch nach Grossmanns Ansicht sind wir auf Schlüsse aus der Wahrnehmung angewiesen. Auch nach seiner Ansicht ist die Wahrnehmung eine Rechtfertigungsinstanz für Erkenntnisse, die über die Wahrnehmung hinausgehen. Grossmanns radikaler Empirismus legitimiert die Wahrnehmung als Rechtfertigungsinstanz bzw. des Schließens von Wahrgenommenen auf nicht Wahrgenommenes insofern als eine kategoriale Korrespondenz, ja Gleichheit, zwischen dem Wahrgenommenen und dem Erschlossenen behauptet und verteidigt wird. Grossmanns radikaler Empirismus macht auch deutlich, wie sehr der klassische neuzeitliche Empirismus die Empirie als Rechtfertigungsinstanz in Frage stellt, da er den größten Teil der Vorstellungen als nicht gegeben, sondern als durch das Bewusstsein produzierte auffasst. Das stellt zumindest den Rechtfertigungswert der Wahrnehmung dann in Frage, wenn man nicht voraussetzt, dass die physische Welt durch mentale oder sprachliche Tätigkeit erst produziert wird, wenn man also eine idealistische Auffassung ablehnt. Zur ausgeprägt realistischen Ausrichtung von Grossmanns Wahrnehmungsund Erkenntnistheorie trägt jedoch nicht nur nur sein radikaler Empirismus bei, sondern auch auch seine reichhaltige Ontologie, insbesondere seine Kategorie der Sachverhalte, die auch die Subkategorien der molekularen Sachverhalte, einschließlich der generellen Sachverhalte, aufweist. Naturgesetze analysiert er ontologisch als generelle Sachverhalte. Daher dienen ihm zufolge empirische Daten in den Erfahrungswissenschaften nicht zur Rechtfertigung von Gesetzesüberzeugungen oder sprachlicher Darstellungen von Gesetzen (wie es die Nominalisten sehen), sondern sie lassen

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Schlüsse auf bestehende Sachverhalte zu, also von Entitäten jenseits des Denkens und Schreibens.

Literatur R. Grossmann: The Structure of Mind. Madison 1965 R. Grossmann: The Categorial Structure of the World. Bloomington 1983 R. Grossmann: The Fourth Way. A Theory of Knowledge. Frankfurt 2006

PhilosophischeAnalyse PhilosophicalAnalysis 1 Herbert Hochberg Russell, Moore and Wittgenstein The Revival of Realism

8 Rafael Hüntelmann Existenz und Modalität Eine Studie zur Analytischen Modalontologie

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9 Andreas Bächli / Klaus Petrus Monism

ISBN 3-937202-00-5 334 pp., Hardcover € 94,00

Heinrich Ganthaler Das Recht auf Leben in der Medizin Eine moralphilosophische Untersuchung

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3 Ludger Jansen Tun und Können Ein systematischer Kommentar zu Aristoteles’ Theorie der Vermögen im neunten Buch der „Metaphysik“ ISBN 3-937202-02-1 302 pp., Hardcover € 70,00

4 Manuel Bremer Der Sinn des Lebens Ein Beitrag zur Analytischen Religionsphilosophie ISBN 3-937202-03-X 134 pp., Hardcover € 58,00

5 Georg Peter Analytische Ästhetik Eine Untersuchung zu Nelson Goodman und zur literarischen Parodie ISBN 3-937202-04-8, 332 pp. Hardcover € 94,00

6 Wolfram Hinzen / Hans Rott Belief and Meaning Essays at the Interface ISBN 3-937202-05-6 250 pp., Hardcover € 58,00

7 Hans Günther Ruß Empirisches Wissen und Moralkonstruktion Eine Untersuchung zur Möglichkeit von Brückenprinzipien in der Natur- und Bioethik ISBN 3-937202-06-4 208 pp., Hardcover € 58,00

ISBN 3-937202-07-2 189 pp., Hardcover € 58,00

ISBN 3-937202-19-6 340 pp., Hardcover € 70,00

10 Maria Elisabeth Reicher Referenz, Quantifikation und ontologische Festlegung ISBN 3-937202-39-0 ca. 300 pp., Hardcover € 89,00

11 Herbert Hochberg / Kevin Mulligan Relations and Predicates ISBN 3-937202-51-X 250 pp., Hardcover € 74,00

12 L. Nathan Oaklander C. D. Broad's Ontology of Mind ISBN 3-937202-97-8 105 pp., Hardcover € 39,00

13 Uwe Meixner The Theory of Ontic Modalities ISBN 3-938793-11-2 374 pages, Hardcover,€ 79,00

14 Donald W. Mertz Realist Instance Ontology and its Logic ISBN 3-938793-33-3 252 pp., Hardcover, EUR 79,00

15 N. Psarros / K. Schulte-Ostermann (Eds.) Facets of Sociality ISBN 3-938793-39-2 370 pp., Hardcover, EUR 98,00

16 Markus Schrenk The Metaphysics of Ceteris Paribus Laws ISBN 13: 978-3-938793-42-8 192pp, Hardcover, EUR 79,00

EditedBy • HerbertHochberg • RafaelHüntelmann ChristianKanzian • RichardSchantz • ErwinTegtmeier

PhilosophischeAnalyse PhilosophicalAnalysis 17 Nicholas Rescher Interpreting Philosophy The Elements of Philosophical Hermeneutics

25 Laird Addis Mind: Ontology and Explanation Collected Papers 1981-2005

18 Jean-Maurice Monnoyer(Ed.) Metaphysics and Truthmakers

26 Hans Bernhard Schmid, Katinka Schulte-Ostermann, Nikos Psarros Concepts of Sharedness Essays on Collective Intentionality

ISBN 978-3-938793-44-2 190pp., Hardcover € 89,00

ISBN 978-3-938793-32-9 337 pp., Hardcover € 98,00

19 Fred Wilson Acquaintance, Ontology, and Knowledge Collected Essays in Ontology ISBN 978-3-938793-58-9 XX, 726., Hardcover, EUR 159,00

20 Laird Addis, Greg Jesson, and Erwin Tegtmeier (Eds.) Ontology and Analysis Essays and Recollections about Gustav Bergmann ISBN 978-3-938793-69-5 312 pp., Hardcover, EUR 98,00

21 Christian Kanzian (Ed.) Persistence ISBN 978-3-938793-74-9 198pp., Hardcover, EUR 79,00

22 Fred Wilson Body, Mind and Self in Hume’s Critical Realism ISBN 978-3-938793-79-4 512pp., Hardcover, EUR 139,00

23 Paul Weingartner Omniscience From a Logical Point of View ISBN 978-3-938793-81-7 188pp., Hardcover, EUR 79,00

ISBN 978-3-938793-86-2 289pp., Hardcover, EUR 79,00

ISBN 978-3-938793-96-1 306pp., Hardcover, EUR 89,00

27 Holger Gutschmidt , Antonella Lang-Balestra, Gianluigi Segalerba (Hrsg.) Substantia - Sic et Non Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen ISBN: 978-3-938793-84-8 565pp., Hardcover, EUR 149,00

28 Rosaria Egidi, Guido Bonino (Eds.) Fostering the Ontological Turn Gustav Bergmann (1906-1987) ISBN 978-3-86838-008-8 274pp., Hardcover, EUR 89,00 29 Bruno Langlet, Jean-Maurice Monnoyer (Eds.) Gustav Bergmann Phenomenological Realism and Dialectical Ontology ISBN 978-3-86838-035-4 235pp., Hardcover, EUR 89,00 30 Maria Elisabeth Reicher (Ed.) States of Affairs ISBN 978-3-86838-040-8 219pp., Hardcover, EUR 79,00

24 Simone Gozzano, Francesco Orilia Tropes, Universals and the Philosophy of Mind Essays at the Boundary of Ontology and Philosophical Psychology ISBN 978-3-938793-83-1 196pp., Hardcover, EUR 69,00

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