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German Pages [380] Year 2021
Natur, Umwelt, Nachhaltigkeit
Sprache und Wissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning, Ingo H. Warnke und Martin Wengeler
Band 51
Natur, Umwelt, Nachhaltigkeit Perspektiven auf Sprache, Diskurse und Kultur Herausgegeben von Anna Mattfeldt, Carolin Schwegler und Berbeli Wanning
ISBN 978-3-11-074034-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074047-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074057-8 ISSN 1864-2284
Library of Congress Control Number: 2021940039 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Carolin Schwegler, Anna Mattfeldt & Berbeli Wanning Natur, Umwelt, Nachhaltigkeit Literarische, diskurslinguistische, kritische und bildungspolitische Perspektiven auf Sprache und Kultur im Überblick | 1
Teil 1: Umwelt im Spiegel von Geschichte, Politik und Bildung Verena Winiwarter Umweltgeschichte verstummt in Plutopia Von der (Un-)Möglichkeit, die nukleare Zivilisation zur Sprache zu bringen | 35 Hildegard Haberl, Eric Leroy du Cardonnoy & Axel Goodbody Nach der Katastrophe leben lernen Adolf Muschgs Heimkehr nach Fukushima als literarische Suche nach einer Sprache der ökologischen Nachhaltigkeit | 63 Sieglinde Grimm & Berbeli Wanning Bildung für nachhaltige Entwicklung in und durch Sprache und Literatur | 85 Roman Bartosch „Tiere erzählen“: Fachdidaktische Perspektiven auf Nachhaltigkeit | 101
Teil 2: Wissen im Diskurs – Exemplarische Diskursperspektiven auf Natur und Nachhaltigkeit Pamela Steen & Ulrike Schmid Diskursive Schemata der Wolfskonstruktion – auf medialer Spurensuche nach materiell-semiotischen Knoten | 123 Johan Horst Recht und Umwelt zwischen Schutz und Gestaltung Das Beispiel des Solar Radiation Managements | 165
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Vasco Alexander Schmidt Unsichere Modelle – ermutigende Prognosen Wissenschaftlicher Skeptizismus von Mathematikern als Chance und Risiko im Klimadiskurs | 195 Sandra Reimann Werbung mit Nachhaltigkeit Strategien der Unternehmenskommunikation aktuell | 217 Valentina Crestani Deutsche und italienische Institutionenkommunikation: Nachhaltigkeitsberichte zwischen Sprach- und Bildlichkeit | 247 Paul Reszke „Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme gelöst werden können“ Joseph Beuys’ Aktion Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung als Beispiel nachhaltigen kommunikativen Handelns zwischen Kunst, Politik und Öffentlichkeit | 281
Teil 3: Ökologische Sprachkritik und Moral Alwin Fill Ökolinguistik: Wie uns Sprache von der Umwelt zur Mitwelt führen kann | 307 Jöran Landschoff Sprachkritik als Moralkritik Konsequenzen einer systemtheoretischen Sprachauffassung für Nachhaltigkeitskommunikation | 325 Werner Moskopp Über die Kategorien der Moralität. Erleben, Sprechen und Welten | 351
Anhang Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 369 Index | 373
Carolin Schwegler, Anna Mattfeldt & Berbeli Wanning
Natur, Umwelt, Nachhaltigkeit Literarische, diskurslinguistische, kritische und bildungspolitische Perspektiven auf Sprache und Kultur im Überblick
1 Sprache und bzw. in Nachhaltigkeit Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit sind Themen und Forschungsbereiche, die in verschiedenen Disziplinen hochrelevant sind, klassischerweise aber oft in den Naturwissenschaften verortet werden. Im Rahmen naturwissenschaftlicher oder technischer Ansätze ist die kulturelle Dimension jedoch nicht wegzudenken, sondern immer gegenwärtig. Dies betrifft bereits ganz grundlegende Paradigmen von Herangehensweisen und (Lösungs-)Ansätzen im Themenbereich Nachhaltigkeit, wie unter anderem die Kulturpraktik der technisierten Effizienzsteigerung (vgl. dazu kritisch Schneidewind/Zahrnt 2013) oder etwa die Entscheidungsgrundlagen in Bezug auf Schutzwürdigkeit von Lebewesen im Rahmen von Biodiversitätsbestrebungen, die neben qualitativer und quantitativer Vielfalt von Arten und Genen auch die funktionale Vielfalt berücksichtigen (UN 1992a, Convention on Biological Diversity CBD). Die kulturell geprägten, gesellschaftlichen Orientierungsmuster, die Rahmenwerte wie Effizienz oder Funktionalität unhinterfragbar erscheinen lassen (vgl. dazu diskurslinguistisch u.a. Schwegler 2018), beeinflussen Herangehensweisen aller Disziplinen auch implizit. Ebenso sind Spannungsverhältnisse zwischen der Natur auf der einen und dem Menschen auf der anderen Seite immer kulturell eingebettet (vgl. Böhme/ Matussek/Müller 2007 [2000]) bis hin zur kulturellen Konstruktion dieses Dualismus (vgl. Beck 2016 [1986]; Heise 2010). Hierbei zeigen sich sprachliche Begriffsdifferenzierungen und fachspezifisch geprägte Verständnisse von Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit. Ist es für manche Ansätze im Bereich des Natur- und Umweltschutzes, wie u.a. die oben genannten, notwendig, die „Natur“ (forschungsprag-
|| Carolin Schwegler, Universität Koblenz-Landau, Institut für Germanistik, Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz, Deutschland, schwegler[at]uni-koblenz.de Anna Mattfeldt, Universität Bremen, Fachbereich 10 Sprach- und Literaturwissenschaften, Postfach 33 04 40, 28334 Bremen, Deutschland, an_ma1[at]uni-bremen.de Berbeli Wanning, Universität Siegen, Germanistisches Seminar, Hölderlinstr. 3, 57076 Siegen, Deutschland, wanning[at]germanistik.uni-siegen.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-001
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matisch) zu objektivieren, so ist es für andere Perspektiven, beispielsweise die des Ecocriticism (Goodbody/Rigby 2011), der Ökolinguistik (Fill/Mühlhäusler 2001) oder auch der derzeit entstehenden Tierlinguistik (Steen i. E.) essentiell, diese dualistische Konstruktion unterschiedlich intensiv zu hinterfragen. Eine einheitliche Konzeptualisierung ist daher nicht sinnvoll und auch nicht wünschenswert mit Blick auf die vielen Perspektiven, die sich mit Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit beschäftigen. Der Klappentext von Hartmut Böhmes naturästhetischem Essay Aussichten der Natur (2017) beginnt passenderweise mit der Benennung eines Dilemmas, das hieraus erwächst und vor dem auch dieser Überblickstext eines interdisziplinären Bandes steht: Die Rede von der Natur ist heute in vielfacher Weise problematisch geworden. Das geht mitunter so weit, dass von einer vorauszusetzenden Natur gar nicht mehr gesprochen werden kann.
An die Stelle einer vorauszusetzenden Natur tritt heute eine bewusste Pluralität von Bedeutungen der Begriffstrias Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit. Wir schlagen für diese zentralen Schlüsselwörter keine übergeordneten Definitionen vor, zumal diese der Interdisziplinarität der 13 Beiträge nicht angemessen wären, geben aber in Kapitel 3 Beispiele zu diskursiv vorherrschenden Bedeutungen in verschiedenen Themenbereichen und Domänen. Auch wenn wir in diesem einführenden Text an einigen Stellen aus pragmatischen Gründen verkürzt von einem Begriff der NACHHALTIGKEIT ausgehen, der Natur- und Umweltbetrachtungen konzeptuell inkludiert, wird für die darauffolgenden Texte keine Hierarchisierung der zentralen Begriffe vorgegeben, da diese sich auch aus den jeweiligen Perspektiven ergeben kann (aber nicht muss). Stattdessen möchten wir Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit zunächst einmal als Themenbereiche begreifen, die unseren Alltag, unsere Sprache, Literatur, Kunst sowie öffentliche Diskurse prägen und wiederum durch diese geprägt werden. Es handelt sich somit um Themen, die viele „Wissensdomänen“ (Felder 2006: 13ff.) berühren und darin spezifische Subthemen und -diskurse, Aushandlungsbereiche, Wertegefüge und Agonalitätskonstitutionen (Felder 2012; Mattfeldt 2018) sowie ganz generell natürlich unterschiedliche Perspektiven und Betrachtungsweisen hervorbringen. Als einschlägige gebündelte Kristallisationspunkte dienen diesem Band1 dahingehend beispielhaft:
|| 1 Ein ausführlicher Überblick – zum Aufbau des Bandes und dieser Einleitung – findet sich am Ende des ersten Kapitels dieses Einleitungstextes. Konkrete Verknüpfungspunkte zu den einzelnen Beiträgen sind in den Ausführungen der darauffolgenden Einleitungskapitel kursiv und in Fettdruck hervorgehoben.
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das Thema Atomenergie sowie dessen Auswirkungen und literarische Verarbeitungen, das Sprechen/Schreiben über Tiere sowie die diskursiven und literarischen Zugänge zu Tieren und das damit verbundene gesellschaftliche Wertegefüge, die Domäne WIRTSCHAFT und deren Sprache mitsamt der kommunikativen Aneignung von Nachhaltigkeit im ökonomischen Berichtswesen, dessen konkrete Betrachtung sprach- und registerbezogene Auffälligkeiten offenbart, die Auswirkungen der politisch geforderten gesamtgesellschaftlichen Transformation zur Nachhaltigkeit auf Bildung, Recht, Kunst sowie Moral und (insbesondere in den Jahren 2020 und 2021 bedeutsam und hochaktuell) das Aufeinandertreffen von wissenschaftlichen und populistischen Argumenten im Diskurs – hier mit Fokus auf der Kritik an Klimamodellen.
Interdisziplinarität und Nachhaltigkeit Eine Bündelung verschiedener Fachdisziplinen, wie sie etwa auch im Rahmen der Environmental Humanities gefordert wird (vgl. Heise 2016), ist essentiell, um sich den Problemen und drängenden Fragen des Bereichs auch aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zu nähern. Daher bieten einige Texte dieses Bandes Überschneidungen hinsichtlich der genannten Kristallisationspunkte von Nachhaltigkeit an, arbeiten jedoch aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Methoden. Andere Beiträge betonen auf der Basis verschiedener genannter thematischer Aspekte dezidiert den Wert linguistisch-diskursiver Methoden, wie im Folgenden noch näher ausgeführt wird. Auch wenn wir hierauf einen starken Fokus legen, ist nicht zu vergessen, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Thema ist, das man u.a. text- und diskurslinguistisch oder historisch-semantisch untersuchen kann. NACHHALTIGKEIT entfaltet als facettenreicher Begriff und historisch festgeschriebenes Prinzip (vgl. Carlowitz 1732 [1713]), als dreidimensionales wirtschaftspolitisches Konstrukt (Ökonomie, Ökologie, Soziales) sowie als bildungs- und wirtschaftspolitische Zielesammlung (UN 2015, Sustainable Development Goals (SDG) der Agenda 2030) immer auch normatives Potential. Im Zentrum dessen erscheint hierbei implizit sowie mitunter explizit die alte Frage, wie der Mensch zur Natur steht – und stehen möchte. Dies ist sowohl eine grundlegende philosophische Frage als auch eine Frage, die sich aus historischer Perspektive für verschiedene Zeiten, Disziplinen, Kulturen und politische Entwicklungen ganz unterschiedlich beantworten lässt (Heise 2016: 23) und in diesem Band insbesondere mit Blick auf die Bildungspolitik elaboriert wird. Normative Überlegungen und Implikationen – wie sie beispielsweise im Bildungsbereich
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angestellt werden können (s. dazu Kapitel 5 dieses einleitenden Textes) – und diskurslinguistische Ergründungen nachhaltigkeitsbezogener Aushandlungen sind, wie wir zeigen möchten, kein Gegensatz, sondern können ergänzend verbunden werden. Debatten um gesellschaftliche Normalitäten und Werte werden in den letzten Jahren verstärkt gesellschaftlich(-medial) eröffnet und geführt; aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel (Rockström et al. 2009) und zur Veränderung der Biodiversität (IPBES 2019) oder die Frage nach den Bedürfnissen zukünftiger Generationen (Tremmel 2012), wie sie gerade von der Bewegung Fridays for Future betont wird, stellen die Menschheit vor Herausforderungen. Diese Aushandlungen können wir zum einen auf verschiedene Weisen diskursiv betrachten, nicht zuletzt diachron hinsichtlich eines Wandels von Werten und den dabei eingesetzten kommunikativen Strategien (vgl. Schwegler 2018). Zum anderen können wir diese Debatten bezüglich des normativen Ziels einer nachhaltigen Entwicklung und der Bedeutung von Bildung für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Ziels erörtern und bewerten. Insgesamt möchten wir mit diesem Band die fruchtbare Ausdifferenzierung von Themen und die methodische Pluralität von sprachbezogenen deskriptiven, kritischen und normativen Beiträgen hervorheben, die der Themenbereich erfordert (s.u. Überblick). Zu diesem Zweck ziehen wir zum einen Verbindungslinien zwischen Traditionen des Bereichs Nachhaltigkeit innerhalb der Linguistik (s. folgender Abschnitt) und hin zu den Environmental Humanities. Zum anderen möchten wir damit die Bedeutung, die Sprache und Sprachförderung in diesem Kontext haben können, betonen. Die Aufmerksamkeit soll somit auf den Aspekt Sprache und bzw. in Nachhaltigkeit – sowie Umwelt und Natur – gelenkt werden.
Ökolinguistik und Nachhaltigkeit im Diskurs Zurzeit gewinnt die Sprachbetrachtung von Nachhaltigkeitsthemen in der Linguistik verstärkt an Bedeutung, insbesondere in der Diskurslinguistik (u.a. Freitag 2013; Tereick 2016; Jacob 2017; Mattfeldt 2018; Schwegler 2018; Steen i. E.), wie einige Beiträge dieses Bandes und die elaborierten Beispielbereiche des dritten Kapitels dieses Textes zeigen werden. Mit dem Beginn der Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 als weltweite Pandemie rückte eine zentrale ökologische Herausforderung ganz aktuell ins Bewusstsein. Betrachtet man die davon ausgehende Erkrankung COVID-19 und mögliche Ursachen dieser Zoonose, werden Schwierigkeiten im Mensch-Natur/Kultur-Verhältnis unter neuen Gesichtspunkten verhandelt, z.B. im Kontext der Wildtiermärkte oder dem allgemeinen Schwund an Lebensräumen für Tierarten.
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Themen mit Nachhaltigkeits-, Umwelt- oder Naturbezug sind in der Linguistik ganz grundsätzlich nicht neu. Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich die Ökolinguistik (Fill 1987, 1993, 1996, 2015; Trampe 1990, 1991, 2015; Halliday 2001; Fill/ Mühlhäusler 2001; Mühlhäusler 2003) mit der Sprachökologie, d.h. mit der „Verbindung von Linguistik und Ökologie“ (Fill 1996: VII), um u.a. „Umwelt-Themen, Umwelt-Wörter und Umwelt-Texte“ (Fill 1996: VIII) zu untersuchen (vgl. Alwin Fill in diesem Band). Die Ökolinguistik ist aufgrund ihrer starken Fokussierung auf das Aufdecken einer anthropozentrischen Lexik häufig v.a. mit einer ökologischen Sprachkritik konnotiert, betont aber, dass es dabei nicht um eine ökologische Sprachzensur geht (Fill 1993: 6). Ein weiterer Fokus der Ökolinguistik, der zwar weniger zentral, aber umso anschlussfähiger an die (auch deskriptive) Diskurslinguistik ist, ist die Erforschung der genannten Umwelt-Themen in Form einer Untersuchung der sprachlichen Ebene von natur- und nachhaltigkeitsbezogenen Konflikten (Fill 1993: 8– 9), wie sie etwa auch in den o.g. aktuellen diskurslinguistischen Arbeiten zu ökologischen Themen untersucht werden.2 Da die Ökolinguistik den Schwerpunkt auf das „Funktionieren und Versagen“ (Fill 1993: 8) von Sprache im Konflikt legt und sich darauf fokussiert, „die Rolle der Sprache in der Beziehung des Menschen zur Natur zu untersuchen, in Frage zu stellen und einen Beitrag zur Verbesserung dieses Verhältnisses zu leisten“ (Fill 1993: 103), betreibt sie zugleich bei der Untersuchung von diskursiven Sprachstrategien immer Sprachkritik und ist – möchte man sie der Diskurslinguistik fruchtbar annähern – prinzipiell dem Bereich der kritischen Diskursanalyse zuzuordnen. Allerdings kann man mit einer ökolinguistischen sowie mit einer deskriptivdiskurslinguistischen Betrachtungsweise „‚Sprache in ihrer Rolle als Teil eines Beziehungssystems zwischen Menschen, politischen Parteien, Völkern, Religionen etc.‘ verstehen und jede einzelne Sprachäußerung in diesem Lichte sehen“ (Fill 1993: 3). Denn Einigkeit besteht darin, dass „Sprache als Medium der Aushandlung von Werten und als Wert selbst“ (Spitzmüller/Warnke 2011: 196) angesehen werden kann – ganz gleich ob sie als „Mittel der Wissenskonstituierung […] [sowie der] Evokation von mentalen ‚Projektionen‘“ (Spitzmüller/Warnke 2011: 62) betrachtet wird oder die Analysierenden die dabei zutage tretenden Dis|| 2 Die Ökolinguistik will über die hier gezogenen Parallelen zur Diskurslinguistik hinaus in Methode und Themensetzung vielfältig sein, da diese Vielfalt selbst „ein wichtiges ökologisches Prinzip“ (Fill 1996: IX) darstellt. In diesem Sinne ist etwa Ökolinguistik der umfassendere Titel des Gesamtprogramms und Sprachökologie der Begriff für die „Erforschung der Zusammenhänge zwischen Sprache und [einzelnen] ‚ökologischen‘ Fragen“ (Fill 1996, X). Hier ist sie somit anschlussfähig an die Environmental Humanities, auch wenn sich die Vielfalt zunächst auf verschiedene linguistische Methoden bezieht.
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kurspositionen kritisch einordnen und sich politisch positionieren (Wodak/ Meyer 2009). Eine mögliche Positionierung ist dabei – ganz ähnlich wie in der Ökolinguistik angedacht – „gegen Krieg, gegen Rassismus, gegen Ausgrenzungen aller Art, gegen ökologische Fehlentwicklungen […] und vieles mehr“ (Jäger 2005: 69), jedoch ohne die vorausgesetzte Eingrenzung auf ökologische Themen. Während die Ökolinguistik von Vertreterinnen und Vertretern deskriptiver Forschungszweige bislang weniger zur Kenntnis genommen wurde und sich die kritische Diskursanalyse weitreichender (also nicht lediglich auf die Bereiche Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit bezogen) auf politische Macht und Herrschaftsmechanismen konzentriert, könnte die Ökolinguistik möglicherweise über die Human-Animal Studies (vgl. Pamela Steen & Ulrike Schmid sowie Roman Bartosch in diesem Band) neuen Aufwind bzw. eine Aktualisierung erfahren, wofür wir uns hier aus diskurslinguistischer Perspektive aussprechen möchten.3 Die Human-Animal Studies erweitern sich seit der Jahrtausendwende stetig interdisziplinär, behandeln zunehmend linguistische Themen und werfen, wie auch die Ökolinguistik, einen kritischen Blick auf sprachliche Konstruktionen – jüngst beispielsweise im Rahmen der Tierlinguistik (Steen i. E.). Dieser neuere linguistische Zweig der Human-Animal Studies könnte somit ein Bindeglied zwischen den oft unverbunden agierenden Forschungszweigen Ökolinguistik und Diskurslinguistik darstellen.
Überblick – zum Aufbau des Bandes und der Konzeption dieser Einleitung Wie oben betont, steht im Zentrum des Bandes zum einen der diskursive, thematisch vielseitige Niederschlag von Natur-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen auf sprachlicher Ebene; zum anderen wird die Eröffnung von differenzierten und sprachsensiblen Zugängen zu Natur und Umwelt diskutiert sowie im Anschluss daran die Förderung eines reflektierten Umgangs mit Werten und Einstellungen im Rahmen der sprachbezogenen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) erörtert. Die Kombination der Beiträge stellt eine Verbindung von deskriptiven und || 3 Steen betont hierbei im Anschluss an Heuberger (2015) allerdings ein Dilemma, das die Ökolinguistik noch überwinden bzw. zumindest adressieren müsste, um auch einer Tierlinguistik gerecht zu werden: „Zwar arbeitet die Ökolinguistik dezidiert gegen die Anthropozentrik der Sprache an, indem sie ‚Euphemismus, Bedeutungsverschleppung, Verdinglichung/Mechanisierung‘ (Trampe 1996, S. 71) kenntlich machen will, eine Annahme von Menschen aber, die sprachlich auf ,die Natur‘ Bezug nehmen können, zieht implizit wieder eine Trennung von Menschen (Natur/Kultur) und Tieren (Mitwelt/Natur) ein“ (Steen i. E.).
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kritischen (diskurs-)linguistischen Ansätzen mit literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Zugängen dar und integriert sprachbezogene historische, philosophische und rechtswissenschaftliche Perspektiven. Insgesamt bieten die oben aufgelisteten Kristallisationspunkte diesem Facettenreichtum dabei einen thematischen Rahmen. Der Band schließt an die Tagung Natur – Kultur – Mensch. Sprachliche Praktiken um ökologische Nachhaltigkeit (2019)4 des Netzwerks Sprache und Wissen an, greift Vorträge, Anschlussüberlegungen und Ergebnisse aus den wissensdomänenspezifischen Tagungsworkshops auf und bietet Einblicke in drei verschiedene, jedoch allesamt sprachbezogene Bereiche, die sich in der Gliederung des Bandes niederschlagen: 1. Im ersten Teil Umwelt im Spiegel von Geschichte, Politik und Bildung wird die Thematik aus historischer, literarischer, didaktischer und bildungspolitischer Perspektive diskutiert; darüber hinaus werden bildungsrelevante Vorschläge für den Literaturunterricht vorgestellt. 2. Im zweiten Teil Wissen im Diskurs – Exemplarische Diskursperspektiven auf Natur und Nachhaltigkeit wird anhand diskursbezogener Betrachtungen von Aushandlungen um Natur und Nachhaltigkeit diskursives und kollektives Wissen interdisziplinär und facettenreich untersucht. Die o.g. Kristallisationspunkte bilden hierbei einen (sub-)thematischen Rahmen. Gewonnene Erkenntnisse lassen u.a. kritische Sprachbetrachtungen und Schlussfolgerungen für die spezifischen, betrachteten Wissensbereiche zu und spannen somit einen Bogen zum aktualisierten Überdenken ökolinguistischer und sprachkritischer Ansätze. 3. Im dritten Teil Ökologische Sprachkritik und Moral geht es abschließend um die Metaebene der Moralkommunikation und ökologischen Sprachkritik, die durch ihre normative Perspektive und Diskussion auch einen Beitrag zur im ersten Teil angestoßenen Diskussion um (die Vermittlung von) Einstellungen und dazugehörigen Werten leisten kann. Diese Dreiteilung spiegelt sich ebenfalls in den folgenden Kapiteln (2, 3 und 4) dieses einleitenden Beitrags, die Ausführungen einzelner wesentlicher Knotenpunkte des Themas enthalten – beispielsweise zur Relevanz von Literatur für den Zugang zu Themen der Nachhaltigkeit, zu Natur und Umwelt in mehrsprachigen Diskursbetrachtungen oder semantische, agonale und argumentative Aushandlungen um Nachhaltigkeit. Darüber hinaus werden in jedem Kapitel diejenigen
|| 4 Ein ausführlicher Bericht zu den Inhalten und Ergebnissen dieser Tagung ist in der Zeitschrift für Germanistische Linguistik erschienen (Münch 2020).
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Beiträge vorgestellt, die dem jeweiligen Teil des Bandes zugeordnet sind. Das fünfte Kapitel dieses einführenden Textes schließt an die Überlegungen und Ergebnisse dieses Bandes im Hinblick auf die Frage nach Nachhaltigkeit als gesellschaftliche Aufgabe an und diskutiert aktuelle Entwicklungen im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE).
2 Hinführung zum Thema Nachhaltigkeit und Umgang mit Natur Sowohl Ecocriticism (vgl. den Überblick von Wilke 2015) und Ökolinguistik (Fill 1987) als auch die diskurslinguistische Beschäftigung mit Nachhaltigkeitsthemen können aus historischer Perspektive in Zeiten verortet werden, in denen umweltbezogenen Themen politische (und gesellschaftlich-diskursive) Aufmerksamkeit geschenkt wird. Viele Texte – auch in diesem Band – orientieren sich darüber hinaus an (umweltpolitisch) einschneidenden Ereignissen sowie umwelt- (und z.T. wirtschafts-)politischen Leittexten (ein bekanntes Beispiel ist der Brundtland-Bericht, UN 1987). Wir möchten hier deshalb mit einem kurzen historischen Abriss ausgewählter globaler Ereignisse einsteigen, der bis zu den aktuellen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen reicht, welche u.a. die Grundlage für Maßnahmen und Handlungsempfehlungen der UNESCO im Rahmen von BNE darstellen. Ein politisch relevantes Thema wird die ökologische Nachhaltigkeit, bzw. zunächst der Umweltschutz, in den 1960er Jahren. In diesen Jahren wurde das gesamte Ausmaß des Einsatzes von Agent Orange (ein giftiges Herbizid) zur Entlaubung ganzer Waldgebiete während des Vietnamkriegs (1955–1975) bekannt. Die Risiken der Atomenergie-Nutzung und die immer deutlicher erkennbaren Folgen von Radioaktivität sowie das erhöhte Aufkommen neuartiger industrieller Emissionen sorgten für wachsendes Unbehagen in der Bevölkerung (vgl. dazu den Beitrag von Verena Winiwarter). Auffällig ist, dass gerade die Literatur zu Umweltthemen – hier maßgeblich Rachel Carsons Buch Silent Spring (1962) – an umweltkritischen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur beteiligt war, sondern diese teilweise überhaupt erst auslöste. Dies unterstreicht von Beginn an den Wert der literarischen Verarbeitung von Natur-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen, was sich in der Zusammenstellung dieses Sammelbandes spiegelt. Ein großer Teil der Umweltbewegung, die damals entstand, geht auch in Deutschland auf zahlreiche Neugründungen von Bürgerinitiativen (Radkau 2011: 142) zurück und gipfelte schließlich in der Gründung der Partei Die Grünen (1980). Neben der
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Politik adressierte die Umweltbewegung auch die Industrie und das damit verbundene Wachstumsideal. Die produzierende Industrie bietet aufgrund ihres teilweise fahrlässigen Umgangs mit Emissionen und Chemikalien Angriffsflächen für eine tiefgreifende Kritik. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Chemieunfälle zu nennen, zunächst das Flixborough-Unglück (1974), aus dem aber kaum die notwendigen Lehren gezogen wurden. Wie ein Fanal wirkte daher zwei Jahre später das Unglück von Seveso (1976), bei dem stark umweltgiftiges Dioxin freigesetzt wurde. Die Katastrophe von Bhopal (1984) war nicht nur verheerend in den Auswirkungen, sondern auch bezüglich ihrer Ursachen: Durch Einsparung in den Produktionsabläufen wurde das Risiko eines Unglücks erhöht, das dann auch prompt eintrat. Als letztes Ereignis in dieser Reihe steht der Sandoz-Großbrand in Basel (1986).5 Die rasche Abfolge von vier Katastrophen in knapp zwölf Jahren machte die Gefahren der chemischen Industrie deutlich, die außer den punktuellen katastrophalen Ereignissen auch kontinuierlich sichtbar verschmutzte Flüsse, problematische Auswirkungen von saurem Regen, kontaminierte Böden oder verstärkte Industrieemissionen in der Luft hinterließ. Doch erst der GAU, vor dem die Anti-Atom-Proteste immer gewarnt hatten, löste durch die zunächst historisch einmalige Tschernobyl-Katastrophe (1986) eine neue Phase des Umweltbewusstseins aus. Erst ein weiterer GAU, die Atomkraftwerksexplosion in (bzw. Nuklearkatastrophe von) Fukushima in Verbindung mit einem Tsunami 25 Jahre später (2011), brachte dann einen Industriestaat wie Deutschland dazu, sich schließlich wegen der unwägbaren Risiken von dieser Form der Energieerzeugung abzuwenden. Dem literarischen Umgang mit den Gefahren der zivilen Atomenergienutzung gehen Hildegard Haberl, Eric Leroy du Cardonnoy & Alex Goodbody in ihrem Beitrag über die Katastrophe in Fukushima am Beispiel des 2018 erschienenen Romans Heimkehr nach Fukushima des schweizerischen Schriftstellers Adolf Muschg nach, in dem sie untersuchen, welchen Einfluss Literatur auf die Nachhaltigkeitsthematik im Zeitalter des Anthropozäns haben kann. Auch Verena Winiwarter, die einleitend die militärische Atomenergienutzung stärker fokussiert und sich mit nuklearen Altlasten aus umwelthistorischer Perspektive be-
|| 5 Die Komposita-Endungen -Unglück oder -Katastrophe sind hierbei nicht willkürlich gewählt, sondern wurden durch den damaligen öffentlichen/medialen Diskurs geprägt und anschließend von historischen Darstellungen übernommen und verfestigt. Die entsprechenden Wikipedia-Artikel nutzen diese Ausdrucksweisen ebenso als Titel (vgl. beispielsweise die Nuklearkatastrophe von Fukushima (2011), https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fukushima, letzter Zugriff 29.04.2021).
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schäftigt, indem sie die Monstrosität (atomarer) Ereignisse sowie die Grenzen des Sagbaren herausstellt, hebt die bedeutende Funktion literarischer Zugänge in diesem Zusammenhang hervor, durch die das Verstummen überwunden und eine Sprache der Kritik am euphemistischen Umgang mit Altlasten gefunden werden kann. Am Ende von Winiwarters Beitrag sind die beiden Gedichte Strahlung! (i. O. Radiation) und Schadstoff (i. O. Plume) von Kathleen Flenniken (2012) in offizieller deutscher Erstübersetzung abgedruckt und verdeutlichen die literarische Verarbeitung bzw. den Versuch des Begreiflichmachens der Monstrosität. Parallel zu den oben genannten chemischen und atomaren Katastrophen reift in den 1970er Jahren die Einsicht heran, dass das massive Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum Ausmaße annimmt, die die Welt nicht auf Dauer ertragen kann. Nach der Studie The Limits to Growth (Meadows et al. 1972) des Club of Rome zu den Wachstumsgrenzen auf dieser Erde und der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen (erste Weltumweltkonferenz, UNCHE, 1972) folgt mit der Erstellung des Brundtland-Berichtes (UN 1987) die schriftliche Fixierung des damals drängendsten Umweltthemas angesichts der spür- und sichtbaren industriellen Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie der immer deutlicher erkannten Gefahren für die menschliche Gesundheit: das Ziel der Erhaltung des Planeten für die zukünftigen Generationen, d.h. die Nachhaltige Entwicklung. Im Jahr 1992 folgt die Rio-Konferenz UNCED, die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, auch Erdgipfel genannt, die als „welthistorischer Integrationsakt des Umweltschutzes“ (Radkau 2011: 555) bezeichnet werden kann. Sie bringt Natur- und Umweltschützerinnen und -schützer sowie Ökonominnen und Ökonomen näher zusammen, indem Artenschutz nun Biodiversität genannt wird, denn Artenvielfalt bedeutet nicht gleich unberührte Wildnis, sondern ist von nun an auch eine Ressource. „Ökologie und Ökonomie, die sich so viele unfruchtbare Schaukämpfe gegeneinander geliefert [haben, sind] in sustainable development vereint, ebenso wie Umwelt und Entwicklung, die Leitthemen des Nordens und des Südens“ (Radkau 2011: 555). All dies ist im Ausdruck Nachhaltigkeit bzw. Nachhaltige Entwicklung enthalten, der auch diesen Band prägt. Von einer starken Ausdehnung des Begriffes, um alle verschiedenen Bedeutungsaspekte zu vereinen, ist deshalb von Beginn an abzusehen; eine solche Ausweitung findet sich auf sprachlicher Ebene u.a. in unternehmerischen Nachhaltigkeitsberichten (vgl. dazu Schwegler 2018, 2020 sowie Valentina Crestani und Sandra Reimann im zweiten Teil dieses Bandes). Der Rio-Konferenz 1992 entstammt die Agenda 21 (UN 1992b), die Aktionsdirektive der Nachhaltigen Entwicklung für das 21. Jahrhundert. Sie wurde vom Ergebnisprotokoll der Rio+20-Konferenz (The Future We Want, UN 2012), den Millennium
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Development Goals (MDG) der UN (2000) sowie der Agenda 2030 (UN 2015) und den darin enthaltenen, weiter entwickelten 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDG)6 abgelöst. Gegenüber den acht MDG wurde die Zahl der Nachhaltigkeitsziele hin zu den SDG verdoppelt. In deren 17. Ziel verpflichten sich die wirtschaftsstärkeren Staaten der Erde, die Finanzierung aller 16 anderen Ziele zu gewährleisten und die wirtschaftlich schwächeren Staaten hierbei zu unterstützen. Gerade von dieser globalen Zusammenarbeit wird es abhängen, ob die 16 konkreten Ziele bis zum Jahr 2030 erreicht werden können. Diese derzeit gültigen SDG gaben ab dem Jahr 2015 den Impuls für weitere Maßnahmen im Rahmen nationaler Umsetzungen. In Deutschland wurde dafür ein Nationaler Aktionsplan (NAP) für Bildung für nachhaltige Entwicklung (Nationale Plattform BNE 2017)7 erarbeitet, der sich vor allem um die Bildung kümmert (gemäß SDG 4). Ein wichtiges Aktionsfeld ist hier der Bereich Schule. Mittlerweile ist BNE eine in Kernlehrplänen verankerte Querschnittsaufgabe des Unterrichts geworden, zu der die einzelnen Fächer unterschiedliches Wissen beisteuern. Der ästhetisch-literarischen Bildung kommt in diesem Sinne eine besondere Rolle zu: Der deutsch- und fremdsprachliche Literaturunterricht trägt zur BNE nicht nur Wissen und Fähigkeiten bei, sondern fördert auch Reflexionen bezüglich der (persönlichen) Einstellungen und Werte, wie der Beitrag von Sieglinde Grimm & Berbeli Wanning im ersten Teil dieses Bandes Umwelt im Spiegel von Geschichte, Politik und Bildung verdeutlicht. Damit kann die wichtige Verknüpfung von Wissen und Handeln adressiert werden. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist bekannt, dass eine klaffende Lücke zwischen dem Wissen um die Umweltkrise und dem entsprechenden Handeln besteht, die als „environmental doublethink“ (Buell 1995, 4) bezeichnet wird. Der Beitrag von Roman Bartosch zeigt darauf aufbauend, wie Skalierung und Modellierung mit und durch Literatur (die wiederum als Grundlage fachdidaktisch orientierter Gedanken zur Literaturvermittlung dient) die Differenzen zweier Zugänge zu Tieren überwinden bzw. verbinden kann. Literatur ermöglicht multiperspektivische Blickwinkel zur Darstellung von Tieren, die von dem Blick auf das individuelle Haustier bis zur abstrakten Speziespopulation in ihrem ökologischen Habitat reichen. Dieser multiperspekti|| 6 Die 17 Ziele konzentrieren sich auf folgende Themen: 1) keine Armut, 2) kein Hunger, 3) Gesundheit und Wohlergehen, 4) hochwertige Bildung, 5) Geschlechtergleichheit, 6) sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen, 7) bezahlbare und saubere Energie, 8) menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum, 9) Industrie, Innovation und Infrastruktur, 10) weniger Ungleichheit, 11) nachhaltige Städte und Gemeinden, 12) verantwortungsvoller Konsum und Produktion, 13) Maßnahmen zum Klimaschutz, 14) Leben unter Wasser, 15) Leben an Land, 16) Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen, 17) Partnerschaften zur Erreichung der Ziele. 7 https://www.bne-portal.de/de/nationaler-aktionsplan-1702.html (letzter Zugriff 29.04.2021).
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vische Zugang zu Tieren durch die Literatur kann als prototypischer Zugang und Vorbild für (andere) Subthemen der Nachhaltigkeit dienen, die Sieglinde Grimm & Berbeli Wanning in ihrem Beitrag als Bestandteile eines literarischen Ordnungsmusters vorschlagen, das nicht nur nach Epochen und Gattungen gliedert, sondern auch nach Themen des Nachhaltigkeitsbereichs. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Literatur und Sprache entscheidende Bausteine für ein verändertes Umweltbewusstsein, hin zu mehr Nachhaltigkeit, liefern können. Dies wird in den vier Beiträgen des ersten Teils Umwelt im Spiegel von Geschichte, Politik und Bildung aus verschiedenen Perspektiven und für unterschiedliche thematische Bereiche von Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit deutlich.
3 Nachhaltigkeit und Natur als diskursives und internationales Thema in verschiedenen Wissensdomänen Die meisten der einleitend angeführten Kristallisationspunkte, anhand derer das weitreichende Spektrum von Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit für diesen Band thematisch etwas zugeschnitten wurde, sind als Diskursthema, -phänomen oder -praktik im zweiten Teil des Bandes Wissen im Diskurs – Exemplarische Diskursperspektiven auf Natur und Nachhaltigkeit aufgeführt. Die Perspektiven auf Sprache in einer Vielfalt von Wissensdomänen, die dabei in Erscheinung treten, werden durch verschiedene (diskurs-)linguistische Analysen verdeutlicht. Nachhaltigkeitsthemen werden aus der Perspektive bzw. im thematischen Rahmen von Wirtschaft, Kunst, Recht, Mathematik und Mensch-Tier-Beziehungen betrachtet sowie sprachlich ganz divers verhandelt und definiert. Was hierbei fehlt, ist eine Betrachtung von übergeordneten thematischen Ausdrücken wie Natur, Umwelt, Landschaft oder gar Nachhaltigkeit und den mit ihnen verbundenen diskursiven Konflikten und Aushandlungen. Um diese Perspektive zu gewährleisten, möchten wir über die Beitragsthemen hinaus einen kurzen Einblick in zwei diskurslinguistische Studien (Mattfeldt 2018 sowie Schwegler 2018) aus dem Bereich bieten, die nicht zuletzt ein Anlass für diesen Sammelband bzw. die zuvor veranstaltete Tagung waren.
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Domänenspezifik und Internationalität von Nachhaltigkeit Wie bisherige Studien zeigen, ergeben sich im Rahmen vieler Natur- und Nachhaltigkeitsthemen Dissense, widerstreitende Argumentationen und agonale Aushandlungen, die diskursanalytisch untersucht werden können (u.a. Freitag 2013; Tereick 2016; Jacob 2017; Mattfeldt 2018; Schwegler 2018; Steen i. E.). Hierbei wird insgesamt deutlich, dass vermeintlich unstrittige Ausdrücke wie Umwelt, Landschaft oder Umweltrecht sowie das Hochwertwort Nachhaltigkeit selbst diskursiv sehr unterschiedlich definiert werden und mit verschiedenen politischen Forderungen, handlungsleitenden Konzepten (Felder 2012; Mattfeldt 2018) oder Wertevorstellungen, Orientierungsmustern und konkurrierenden Werteverständnissen, die zur Argumentation herangezogen werden (Schwegler 2018: 549), verbunden sind. Dies geschieht diskursiv auch und gerade in Abhängigkeit von den jeweiligen (Sub-)Themen oder den entsprechenden Wissensdomänen, in denen die Ausdrücke gebraucht werden. So kann z.B. UMWELT in Wirtschaftskontexten anders definiert und verstanden werden als in Texten von Umweltschutzorganisationen – und kann sich außerdem jeweils zusätzlich diachron verändern. NACHHALTIGKEIT stellt gesellschaftlich nicht nur ein (Diskurs-)Thema und ein handlungsleitendes sowie ausdeutbares Prinzip dar (nämlich nur so viel zu verbrauchen, wie man wieder ‚herstellen‘ oder wachsen lassen kann), das obendrein noch heterogen definiert ist, sondern wird politisch und vor allem wirtschaftlich auch als Argument genutzt (Schwegler 2018: 318ff.), um Handlungen zu legitimieren und Daseinsberechtigungen (z.B. von Unternehmen) zu stärken. Gerade im Bereich der Wirtschaft ist NACHHALTIGKEIT deshalb auch ein strategisches Element – bis hin zu einer werbenden Stützung (vgl. dazu Gansel 2012). Unternehmerische Nachhaltigkeitsberichte, die in den letzten Jahren verstärkt linguistisch untersucht wurden (vgl. dazu den aktuellen Sammelband zur Textsorte Nachhaltigkeitsbericht von Gansel/Luttermann 2020 sowie Sandra Reimann und Valentina Crestani in diesem Band), eröffnen eine Diskursperspektive, die Mediendiskurse auf verschiedenen Ebenen ergänzen. Die Rollen und Intentionen der Akteure zeigen sich darin durch argumentative Muster und Strategien (vgl. Schwegler 2018, 2020), denn für börsennotierte Unternehmen stellen Nachhaltigkeitsberichte seit dem Jahr 2017 eine verpflichtende Textsorte dar, die es jedoch auch erlaubt, das Fixieren von Handlungszielen als nachhaltiges Handeln zu versprachlichen. Was dabei als „nachhaltig“ eingestuft wird und auf welche Bereiche des unternehmerischen Handelns strategisch fokussiert wird, kann variieren und ist seit der Ausdifferenzierung der 17 Nachhaltigkeitsziele (UN 2015) thematisch breiter gefächert als je zuvor. Die Möglichkeiten einer positiven Selbstdarstellung im Rahmen der Nachhaltigkeit hebt auch der Beitrag von Sandra Reimann hervor, der
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Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen aus linguistisch-werbestrategischer Perspektive betrachtet, denn diese Berichte enthalten nicht nur die eingeforderten Informationen, sondern ebenso zahlreiche Merkmale von Werbesprache (Janich 2013). Reimann arbeitet dabei textsortenübergreifende und textsortenspezifische Werbekategorien heraus, die es den Firmen ermöglichen, das Image einer nachhaltigen Unternehmensidentität zu konstituieren. Wie attraktiv eine solche Möglichkeit zur Selbstpräsentation als nachhaltige Institution ist, zeigt sich daran, dass mittelständische Unternehmen oder Bildungseinrichtungen wie Universitäten teilweise freiwillig dazu übergehen, Nachhaltigkeitsberichte zu verfassen und prominent auf ihren Internetpräsenzen zu veröffentlichen, oder dass Hotels ihre Nachhaltigkeit auf den eigenen Webseiten betonen (vgl. Crestani 2018). In ihrem Beitrag in diesem Band analysiert Valentina Crestani sprachvergleichend Nachhaltigkeitsberichte deutscher und italienischer Universitäten und zeigt dabei, wie Universitäten diese Plattform länderübergreifend nutzen, um sich als Orte guter Praktiken zu präsentieren. Der Themenbereich Nachhaltigkeit eröffnet somit Potential für sprach- und kulturvergleichende linguistische Untersuchungen (vgl. Crestani 2017 und Mattfeldt 2018) sowie vergleichend-diachrone Analysen (z.B. zu Nachhaltigkeitsberichten und Medientexten, Schwegler 2018) und erlaubt interessante Einsichten – gerade auch im Hinblick auf zentrale Schlagworte. Beispielsweise ist Natur (-schutz) ein solches Schlagwort, das von unterschiedlichen Konzepten geprägt ist, die diskursiv vergleichend – je nach Diskursthema (und Domäne) variierend – deutlich werden: NATUR kann im diskursiven Streit um „Landschaft“ etwa einen ästhetischen oder emotionalen Wert haben, aber auch zur Energiegewinnung genutzt werden (bei Tagebauen, Fracking, Stauseen, Solarparks oder Windkraftanlagen etc.), d.h. als Sinnträger oder (von der gegenüberstehenden Partei) als Funktionsträger angesehen werden. Werden in der Aushandlung um den Schutz von Natur und Landschaft weitere Argumente notwendig, beispielsweise zur Untermauerung des ästhetischen Werts, muss hier zum Teil die Perspektive gewechselt werden, um erfolgreich zu argumentieren: Die Nutzung der ästhetischen, gewachsenen „Landschaft“ als Erholungsraum ist eine Form des argumentativen Perspektivwechsels, der das Verständnis von einer SINNTRAGENDEN NATUR durch das einer NUTZBAREN bzw. GENUTZTEN NATUR ersetzt (Schwegler 2018: 292ff.). Die oben erwähnten kultur- und sprachvergleichenden Analysen sind im Rahmen von Natur- und Nachhaltigkeitsthemen darüber hinaus nicht nur möglich, sondern auch nahezu unumgänglich, denn Natur(-schutz) ist ein globales Thema, das auch hier – vielleicht sogar verstärkt – von unterschiedlichen Konzepten geprägt ist, die diskursiv deutlich werden: Beispielsweise kann NATUR im Sprach- und Kulturvergleich ebenso als etwas Unberührtes und zu Schützendes,
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als eine nützliche Ressource für den Menschen oder gar als etwas transformatorisch zu Rettendes charakterisiert werden, wie die sprachvergleichende Analyse von Mattfeldt (2018) verdeutlicht. Als nützliche Ressource aus einer stark anthropozentrischen Sicht (vgl. dazu auch Descola 2014, zu öko- und tierlinguistischen Kritik daran Alwin Fill und Pamela Steen & Ulrike Schmid in diesem Band sowie Steen i. E.) wird NATUR etwa in Diskursen perspektiviert, die Energiegewinnung betreffen. Hierzu möchten wir im Folgenden konkretere diskursive Auffälligkeiten vorstellen, die zum einem beim Fracking, zum anderen beim Braunkohleabbau im Tagebau auftreten, da das Subthema Energiegewinnung v.a. durch zwei (historisch und literaturwissenschaftlich geprägte) Texte des ersten Teils des Bandes abgehandelt wird, aber auch – oder gerade – diskursiv ein zentrales Thema ist.
Energiegewinnung und Naturkatastrophen diskursiv Beim Thema Fracking, einer umstrittenen Energiegewinnungsmethode, die es ermöglicht, schwer erreichbare Vorkommen von Schiefergas für die Energieproduktion nutzbar zu machen, wird die Perspektive auf NATUR als nützliche Ressource sehr deutlich. In medialen Texten zum Thema Fracking werden die wirtschaftlichen Chancen und Potentiale einer Nutzung betont. Dieser Eingriff in die Natur kann entsprechend mit großem Profit für den Menschen verbunden sein. Etwa wird in den Medien spekuliert, dass für die USA durch solch eine Nutzung weitgehende Energieunabhängigkeit von anderen Staaten möglich werden könnte – mit allen dazugehörigen innen- und außenpolitischen Konsequenzen (Mattfeldt 2018: 220). Dieses profitbezogene Konzept von Natur prägt gerade den US-amerikanischen Diskurs zu diesem Thema entscheidend. Doch auch hier werden andere mögliche Naturkonzepte angedeutet. Beispielsweise erscheint NATUR auch als etwas kaum Berechenbares – etwa, wenn mögliche Risiken wie Trinkwasserverseuchung oder die Problematik des vergifteten Abwassers, das beim Fracking entsteht, diskutiert werden (Mattfeldt 2018: 194ff.). Das Konzept NATUR erfährt also auch innerhalb eines Diskursthemas sehr verschiedene Perspektivierungen. Ebengleiches passiert mit dem oben erwähnten Ausdruck Landschaft oder auch mit Heimat im Rahmen des deutschen Braunkohletagebaus bzw. der Umsiedlung von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie ganzen Dörfern für den Braunkohleabbau. HEIMAT ist für die Bewohnerinnen und Bewohner des zukünftigen Abraumgebietes sehr stark mit der Gewachsenheit von Natur und Landschaft (die sie und ihr Dorf umgibt, aber sie selbst als Dorfgemeinschaft auch inkludiert) verbunden. Der Ausdruck wird im Sinne eines ausgewogenen, gewach-
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senen Verhältnisses von Land und Leuten konzeptualisiert und genutzt, was von unternehmerischer Seite (im Rheinland konkret von der RWE AG) nicht aufgegriffen wird: In den Texten und medialen Äußerungen der RWE AG wird HEIMAT vor allem im Sinne von Wohnort, Ortschaft oder Gemeinschaft aus Bewohnerinnen und Bewohnern gebraucht (Schwegler 2018: 430ff., insb. 433 und 438), was die Aspekte ästhetische Landschaft und gewachsene Natur mehr oder weniger ausschließt und dadurch schon semantisch sehr weit weg von der Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner ansetzt. Die semantischen Kämpfe (Felder 2006), die im Themenbereich Natur und Nachhaltigkeit mitunter latent ausgetragen werden (z.B. um die verschiedenen Konzepte von NATUR), betreffen nahezu alle zentralen Begriffe, die für Entitäten stehen, die dem Menschen schützenswert erscheinen: So ist nicht nur NATUR konzeptuell facettenreich, auch das Verständnis von UMWELT oder – wie oben verdeutlicht – LANDSCHAFT, HEIMAT und NACHHALTIGKEIT ist divers und von semantischen Gegensätzen geprägt, die mitunter strategisch eingesetzt werden können (Schwegler 2018: 294) und Agonalitäten provozieren. Dies ist besonders auffällig, wenn Sachverhalte von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlich bewertet werden, wie bei den oben genannten Beispielen zu Heimat, bezüglich der Einschätzung von Risiken, z.B. von Verhaltensweisen des Menschen, die den Klimawandel begünstigen, oder auch von Naturkatastrophen, die zum einen als ernstzunehmend, zum anderen als vernachlässigbar perspektiviert werden können, was unterschiedliche Handlungsweisen impliziert. Naturkatastrophen zeigen darüber hinaus eine vom bisher skizzierten semantischen Spektrum abweichende Vorstellung von NATUR, nämlich als zerstörerische Kraft. Während vielfach der Mensch als Akteur auftritt, der die Umwelt gestaltet, prägt oder zerstört, begegnen wir in Diskursen rund um Naturkatastrophen auch Perspektivierungen, die die NATUR als Akteurin zeigen, so zum Beispiel bei der Hurrikankatastrophe Sandy, die im Jahr 2012 vor allem die Ostküste der USA traf. Bei solchen Katastrophen reagiert der Mensch auf ein Agens, das ihm mit zerstörerischer Kraft begegnet; politische Wahlen (wie im Jahr 2012 die Präsidentschaftswahl in den USA), Infrastruktur, Planungen für Sportereignisse etc. werden z.B. massiv getroffen und teils unmöglich gemacht. Aus sprachlicher Sicht fasziniert hier, dass solche Katastrophen mit menschlichen Namen wie Sandy, Katrina, Irene oder in Deutschland auch Sturm Lothar belegt werden. Eine Entität, die solche Macht besitzt, scheinen wir – in verschiedensten Sprachen – vermenschlichen und mit Namen möglicherweise auch greifbarer und weniger erschreckend machen zu wollen (Mattfeldt 2018: 290ff.). Diskursakteurinnen und -akteure bringen ihre Perspektiven prononciert in den Diskurs ein; dies wird beim Transfer wissenschaftlicher Darstellungen, etwa
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aus der Wissensdomäne MATHEMATIK in die Domäne POLITIK, die andere Ziele und Intentionen verfolgt sowie abweichende Anforderungen an ein Thema oder einen Sachverhalt stellt, besonders deutlich (vgl. dazu Liebert 2002 sowie den Beitrag von Vasco Alexander Schmidt in diesem Band). In Diskursen um Energiegewinnung lässt sich dies außerdem sehr deutlich an den oben skizzierten Beispielen der umstrittenen Energiegewinnungsmethode Fracking oder am Braunkohleabbau im Tagebau beobachten – vor allem wenn letzterer zu einem Politikum wird, wie Ende des Jahres 2018 bei der Debatte um den Hambacher Forst. Welche Perspektiven bei solchen Aushandlungen letztlich dominieren und ausschlaggebend für politisches und wirtschaftliches Handeln sind, ist nicht nur vom Thema (bzw. der Wissensdomäne) abhängig, sondern auch von den konkreten einzelsprachlichen und kulturell geprägten Diskussionen. Beim Fracking dominieren in den USA beispielsweise die oben genannten Aspekte des wirtschaftlichen Nutzens, während in Großbritannien das Risiko von Erdbeben thematisiert wird, welches in Deutschland und den USA nicht von den Medien aufgegriffen wird (Mattfeldt 2018: 198f.). Dies verdeutlicht, dass Sachverhalte wie natürliche Gegebenheiten oder Eingriffe in die Natur zwar als konkrete Phänomene kulturund sprachübergreifend sein können; gleichzeitig ist unsere Wahrnehmung dieser Sachverhalte aber auch immer sprachlich und kulturell geprägt. Was in den Vordergrund tritt, kann dabei sehr verschieden sein und gar zu Konflikten führen (Mattfeldt 2018: 370ff.). Letzteres ist ebenso beim Hambacher Forst geschehen, den die RWE AG zum Zweck der Erschließung der darunterliegenden Braunkohleflöze als ihr Eigentum und bloßen Abraumbereich ansieht. Die demonstrierenden Umweltaktivistinnen und -aktivisten gaben dem Waldstück den Spitznamen Hambi, der sich im Slogan „Hambi bleibt“ festgesetzt hat, der wiederum als Name des waldschützenden Aktionsbündnisses dient und sogar in der (medialen) Alltagssprache aufgegriffen wurde (Freundeskreis Hambacher Forst undatiert).8
Nachhaltigkeit diskursiv – multimodal und interdisziplinär Dass nicht nur sprachliche, sondern auch visuelle Elemente entscheidend für diskursive Bilder (im wahrsten Sinne des Wortes) sein können, zeigt die Rolle von Visiotypen im Diskurs, wie dies etwa Tereick (2016) anhand des „Eisbären“ als Symbolbild für den Klimawandel diskutiert. Doch auch Piktogramme, Bilder und Farbgebungen in Medien- sowie den oben genannten Nachhaltigkeitsberichten spielen eine wichtige Rolle. Künstlerische Formen wie Aktionskunst oder politi-
|| 8 https://hambacherforst.org/ (letzter Zugriff 29.04.2021).
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scher Protest in Form von Transparenten (so beispielsweise bei den Demonstrationen zum Schutz des Hambacher Forstes oder der Bewegung Fridays for Future) verbinden solche Bildlichkeiten oder Text-Bild-Kombinationen mit konkreten Handlungen in öffentlichen Räumen und sorgen damit für eine besondere Diskursöffentlichkeit, der sich die Gesellschaft mitunter nicht entziehen kann. So schaffte etwa schon Joseph Beuys’ Projekt 7000 Eichen der documenta 7 (1982) mit konkret fassbaren Bäumen und Basaltstelen Tatsachen, zu denen sich andere positionieren (müssen) und somit im Kontext von Nachhaltigkeit stehen, ohne dass dabei der Ausdruck nachhaltig dominant gesetzt wird. Diesem Projekt widmet sich Paul Reszke mit einem textsemantischen Ansatz. Er zeichnet nach, wie die Perspektiven und Interessensbereiche KUNST/KÜNSTLER und POLITIK interagieren und in diesem Kontext interdiskursive Möglichkeiten entstehen, umweltpolitisch verantwortliches Handeln nachhaltig in der Gesellschaft zu verankern. Partizipationsmöglichkeiten wie etwa Bürgerinitiativen, die mittlerweile in Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion wieder an Bedeutung gewinnen, werden hier bereits sichtbar. Nachhaltigkeit und Natur erweisen sich insgesamt als Aushandlungsbereiche, die linguistisch vielschichtig und fruchtbar für diverse (diskurs-)linguistische und multimodale Ansätze sind. Interessant ist dabei der durch Sprache und sprachliche Untersuchungen nachvollziehbar gemachte Perspektivwechsel zwischen diversen Akteurinnen und Akteuren, Gruppen, Einstellungs- und Wertegemeinschaften. Dabei kann durch die linguistische Analyse sogar die Offenlegung zugrundeliegender gesellschaftlicher Werte gelingen, die handlungsleitend sind, oder es können Spuren für einen Wertewandel gefunden werden. Medial stellt sich ebenso bezüglich weiterer Natur- und Nachhaltigkeitsthemen die Frage nach Wissen, das über z.B. naturwissenschaftliche Zusammenhänge vermittelt wird, und der gesellschaftlichen Reaktion darauf bzw. dem gesellschaftlichen Umgang damit. Der beispielhafte Blick auf Tiere und Mensch-Tier-Verhältnisse verdeutlicht dies: Literatur bietet – wie oben angedeutet und von Roman Bartosch in diesem Band ausgeführt – einen multiperspektivischen Blick auf Tiere, der im Zusammenhand mit dem Artensterben gerade im Rahmen der schulischen Bildung zur Nachhaltigkeit dienlich ist. Die öffentlichen Medien prägen oder verfestigen jedoch ebenfalls literarische Konzeptionen oder gar historische Stereotype, wie beispielsweise bei Wölfen, die (etwa in weithin bekannten Märchentexten) als gefährlich, aber zunehmend auch als gefährdet und schützenswert charakterisiert werden (vgl. den Beitrag von Pamela Steen & Ulrike Schmid). Hier schließen sich gesellschaftlich hochrelevante Fragen an, wie: Was wissen wir (woher) über Wölfe und wie wird dieses Wissen sprachlich im Mediendiskurs geprägt? Wie reagiert eine Gesellschaft auf ein Tier, das als Errungenschaft des Natur-
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schutzes seinen Weg zurück in die diskursive Aushandlung (und die deutschen Wälder) gefunden hat? Die Entstehung von Tierkategorien oder allgemein das Sprechen über Tiere geschieht häufig aus einer utilitaristischen Anthropozentrik (vgl. Heuberger 2015; Steen i. E.) heraus. Tieren wird dadurch ein geringerer Wert als Menschen beigemessen, wie Pamela Steen & Ulrike Schmid in ihrem Beitrag eindrücklich anhand von (kritisch-)diskursanalytischen und tierlinguistischen Untersuchungen verschiedener Diskursfragmente vorführen, die ganz im Sinne einer Ökolinguistik beim Aufdecken einer anthropozentrischen Lexik beginnen.9 Der Beitrag geht anschließend auf die genannten Fragen ein und widmet sich der materiell-semiotischen Verknüpfung diskursiver und realer Wölfe. Gezeigt wird, dass dabei typische diskursive Schemata der sprachlich-medialen Wolfskonstruktion einer kommunikativen und materiellen Aneignung dienen, der sich der Wolf in letzter Konsequenz immer wieder entzieht. Wie wandelbar und insbesondere auch für Normfestsetzungen schwer greifbar unsere diskursgeprägten Vorstellungen von UMWELT sind, zeigt wiederum eine rechtswissenschaftliche Perspektive mit Fokus auf sprachliche Aspekte. Selbst ein Handeln, das die Natur schont, ist letztlich ein menschliches Verhalten, das Auswirkungen auf die Natur hat, und kann entsprechend normativ – beispielsweise aus juristischer und ethischer Perspektive – betrachtet werden. Eindrücklich zeigt sich dies, wenn konkrete Maßnahmen ergriffen werden, z.B. im Sinne des Geoengineering, wie im Beitrag von Johan Horst, der rechtliche Fragen dieser Thematik aufgreift. Solche Maßnahmen, die der Klimaerwärmung entgegenwirken sollen, stellen einen Eingriff und somit ein dezidiertes Handeln dar und widersprechen damit etwa Vorstellungen von Natur als etwas in ihrer Gewachsenheit Schützenswertem. Horst nimmt Maßnahmen des Geoengineering, die gestalterisch in die Natur eingreifen, als Ausgangspunkt, um Grundsätze des Umweltvölkerrechts mit Blick auf Selbstbestimmungs- und Berücksichtigungsverhältnisse neu zu diskutieren. Dabei ergeben sich auch zuvor nicht gestellte Fragen bezüglich der Partizipation in Demokratien und damit Anknüpfungspunkte an die Wissensdomäne der POLITIK. Dies gilt auch für den Beitrag von Vasco Alexander Schmidt, der diskurslinguistisch betrachtet, wie Aussagen aus dem Fachdiskurs der Mathematik im populistischen Sprachgebrauch aufgegriffen und argumentativ verzerrt werden. In seiner qualitativen Analyse wird verdeutlicht, wie Klimawandelskeptikerinnen und -skeptiker Formulierungen aus der Mathematik verwenden (z.B. mit Bezug zur Chaostheorie), um die Sinnhaftig-
|| 9 Ebenso wie bei den oben verdeutlichten Perspektiven auf NATUR (dort im Sinne von „Landschaft“) wird die Trennung in nutzbar/genutzt und sinntragend auch bei Tieren vorgenommen. Es entsteht eine anthropozentrische Kategorisierung von Tieren als Nutztiere und Haustiere.
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keit klimaschonender Maßnahmen zu bestreiten. Die Sprache der Politik (bzw. des Populismus) und die Sprache der Wissenschaft stehen dabei in einem schwierigen Verhältnis. Wie aktuell dieses Spannungsfeld bleibt, macht nicht zuletzt die Diskussion um wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext der COVID19-Pandemie in unterschiedlicher Perspektivierung deutlich. Aus der Vielfalt der genannten Perspektiven, die in den angeschnittenen beiden Studien sowie den Beiträgen des Teils Wissen im Diskurs – Exemplarische Diskursperspektiven auf Natur und Nachhaltigkeit ausgeführt werden, ergeben sich facettenreiche Untersuchungsmöglichkeiten und interessante weiterführende Fragen. Alle sechs Beiträge des zweiten Teils dieses Bandes erarbeiten in ihren Analysen grundlegende gesellschaftliche Werte und Einstellungen, die sprachlich (und teilweise auch bildlich/künstlerisch) im jeweiligen Diskursausschnitt sichtbar werden. Dabei ist der Übergang von der sprachlichen Oberfläche der Argumente zur normativen Perspektive, wie sie etwa die Ökolinguistik mit der ökologischen Sprachkritik einnimmt, oft fließend oder auch schon in den Ansätzen (wie der kritischen Diskursanalyse und der Tierlinguistik) selbst angelegt.
4 Norm, Moral und Sprache Diskursive Sprachbetrachtungen, wie sie im vorherigen Kapitel vorgestellt und im Teil Wissen im Diskurs – Exemplarische Diskursperspektiven auf Natur und Nachhaltigkeit dieses Sammelbandes durchgeführt werden, orientieren sich an Spitzmüller/Warnke (2011), Felder (2012) oder Niehr (2014) und gehen demnach eher deskriptiv vor. Doch insbesondere die Tradition der Critical Discourse Analysis (Fairclough 1992, 2001, 2013; Wodak/Meyer 2009 sowie Jäger 2015), die sich gut mit Perspektiven der Human-Animal Studies verbinden lässt (vgl. den Beitrag von Pamela Steen & Ulrike Schmid), da sie ihre Beobachtungen zu sprachlichen Praktiken in Diskursen mit einem kritischen Impetus sowie gegebenenfalls Empfehlungen für einen angemessenen Sprachgebrauch kombiniert, wie einleitend schon ausgeführt wurde. Hieran knüpft der dritte Teil dieses Sammelbandes Ökologische Sprachkritik und Moral mit theoretisch-sprachkritischen und moralphilosophischen Beiträgen an und stellt Normen, Werte und Moralvorstellungen heraus (z.B. TOLERANZ, bestimmte Vorstellungen von GERECHTIGKEIT oder auch ökologische Grundsätze). Nachhaltigkeit und der Umgang mit Umwelt und Natur werden nicht nur gesellschaftlich, sondern auch sprachlich sehr schnell mit moralischen Fragestellungen verbunden. Wenn NACHHALTIGKEIT als erstrebenswertes Gut oder übergeordnetes Ziel angesehen und gesellschaftlich relevant gesetzt wird, so können
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daraus moralische Grundsätze abgeleitet werden, aus denen Handlungsempfehlungen und Normen in Bezug auf das Individuum, aber auch im Hinblick auf Politik und Bildung folgen. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Rolle die Wahl der Ausdrücke auf den Einfluss, den Kommunikation auf moralisches Denken ausübt, spielt – etwa ob wir, wie oben erwähnt, wetterbedingte Naturkatastrophen mit Personennamen anthropomorphisieren oder ob wir eine bestimmte Handlung als umweltschonend oder umweltschützend bezeichnen (vgl. zu dieser anthropozentrischen Sicht auch Descola 2014) und wie wir Natur und Umwelt bzw. unsere Verantwortung in diesem Kontext wahrnehmen. Dies wird auch innerhalb der linguistischen Sprachkritik von verschiedenen Ansätzen unterschiedlich diskutiert. Die Betrachtung von Sprache und Denken bzw. des Einflusses von Sprache auf das Denken steht sowohl in der linguistischen Diskursanalyse als auch in der Sprachkritik im Vordergrund, wird aber in der Sprachkritik noch stärker mit Forderungen in Bezug auf einen kritisch reflektierten Gebrauch von Sprache verbunden. Deshalb möchten wir trotz einer einleitend angeregten Anknüpfung der Diskursanalyse an die Ökolinguistik einerseits und der Ökolinguistik an die Human-Animal Studies andererseits eine dezidierte (eher theoretische) ökologische Sprachkritik von den (auf systematisch zusammengestellten Korpora aufbauenden) diskursiven Ansätzen unterscheiden. Der dritte Teil des Bandes greift eine solche eher grundsätzliche und theoretische Sprachkritik auf und schließt philosophisch-moralische Überlegungen an. Um den Fokus auf den sensiblen Gebrauch oder Umgang mit Sprache bzw. auf den Gedanken einer Kopplung von Sprache und Denken zu lenken und aufzuzeigen, ob und wie sprachliche Muster zu einem ausbeutenden Umgang mit der Natur beitragen oder diesen implizit rechtfertigen, geht Alwin Fill in seinem Beitrag in Anlehnung an Hallidays Forderungen an eine angewandte Linguistik davon aus, dass Sprache das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zumeist als Diskontinuität konstituiert – wie einleitend schon für die Ökolinguistik betont wurde und Pamela Steen & Ulrike Schmid im zweiten empirisch-diskursiven Teil des Bandes bestätigen. Der Mensch erscheint in Ausdrücken wie Umwelt als zentral und von Natur umgeben. Ökolinguistinnen und -linguisten gehen davon aus, dass bestimmte Ausdrücke besser als andere betonen, dass der Mensch eines von vielen Elementen der Natur ist. Alwin Fill legt grundlegende Argumente der Ökolinguistik dar. Er sieht die Ökolinguistik als logischen Teil der menschlichen Evolution, die qualitative Entwicklung und Verteilung anstelle von quantitativem Wachstum propagiert. Die Lösung für Umweltprobleme beginnt entsprechend bereits bei der Sprachverwendung. Beispielhaft plädiert Fill in seinem Beitrag dafür, auch im politischen Kontext das Nachhaltigkeitsbewusstsein zu stärken, indem eher von der Mitwelt statt von der Umwelt gesprochen werden sollte.
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Ausgehend von Niklas Luhmanns Systemtheorie (1984) diskutiert der Text von Jöran Landschoff anschließend hingegen, was eine Sprachkritik, die die Ausdrucksverwendung zu ändern sucht, tatsächlich bewirken kann, und kritisiert diesen Ansatz (und Moralkommunikation) als nicht zielführend. Dies begründet er damit, dass für bestimmte Teile einer Gesellschaft andere Rationalitäten gelten, die es zu beachten gilt, wenn sich deren Handeln verändern soll. Er schlägt vor, stattdessen Nachhaltigkeit in die Sprache der Wirtschaft und damit in ein anderes System zu übertragen, um langfristig Veränderungen zu bewirken. Einen anderen Blick auf Moral und Sprache wählt wiederum Werner Moskopp in seinem Beitrag. Ziel ist hier die Entwicklung von Kategorien, anhand derer eine Beschreibung der Welt ermöglicht werden soll. Die Dimensionen Erleben, Denken und Sprechen werden dabei als Handeln zusammengefasst. Im Zentrum dieses Moralverständnisses steht der Begriff der Verbindlichkeit, der von der gesellschaftlichen Perspektive stärker zum Handeln des Individuums zurückführt. Mit diesen sprachkritischen und moralphilosophischen Beiträgen schließt der dritte Teil dieses Bandes logisch an den zweiten empirischen Teil und die darin enthaltenen verschiedenen diskurslinguistischen Ansätze an, die über kritische und hinterfragende Perspektiven sowie aber auch Analyseanteile mit Fokus auf rhetorisch-strategische, lexikalisch-semantische und pragmatische Aspekte verfügen, sowie Wissensdomänen, Register und Disziplinen zusammenführen. Rückblickend möchten wir nun an den Bogen anknüpfen, der zwischen den hier beteiligten Fachbereichen gespannt wurde, indem wir Implikationen von Sprach- und Literaturbetrachtungen reflektieren – und zwar im Hinblick auf Bildung, BNE und den universitären Literatur- und Sprachenunterricht. Im folgenden Kapitel widmen wir uns somit abschließend der Frage nach Nachhaltigkeit als gesellschaftliche Aufgabe mit Fokus auf den Bildungsbereich (SDG 4).
5 Nachhaltigkeit als gesellschaftliche Aufgabe? Ein Blick auf den Bildungsbereich und die Rolle der Literaturbetrachtung Die Rolle der Literatur(-wissenschaften) in Bezug auf Nachhaltigkeit Ökologisch informierte Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften untersuchen die Frage, wie das Verhältnis von Sprache bzw. Literatur zur Natur in historischer sowie aktueller Perspektive zu beschreiben und zu bewerten ist. Dabei
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stehen die Betrachtungsweisen, die sich mit der Bewusstmachung dieser Prozesse und der daraus resultierenden Möglichkeit der Veränderung befassen, im Zentrum. In Bezug auf Literatur ist daraus ein doppelter Fokus entstanden: Zum einen beschreibt, gestaltet und verbreitet Literatur ökologische Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz mit den ihr eigenen Mitteln. Sie leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag, da sie unmittelbar mit Sprache arbeitet, eigentlich eine besondere Form der Sprache ist. Durch ihre stete Perspektivierung und inhärente Mehrdeutigkeit führt Literatur zu spezifischen Erkenntnissen und Einsichten, die anders so nicht zu gewinnen sind: Sie kann Empathie integrieren (Wanning/Mattfeldt 2020), Zukunftsszenarien entwerfen oder Sachinformationen in ästhetischen Kontexten vermitteln, die oft überraschend sind (vgl. dazu auch die Beiträge von Hildegard Haberl, Eric Leroy du Cardonnoy & Alex Goodbody, Sieglinde Grimm & Berbeli Wanning und Roman Bartosch). Zum anderen ist Literatur selbst ökologisch verfasst und verortet sich auf diese Weise in der Gesellschaft. Sie ist historisch gewachsen, von Beginn der Kultur mit Gesellschaft verknüpft, sie treibt Gesellschaft an, nimmt teil und ist distanzierte Beobachterin, reagiert auf Entwicklungen und initiiert zugleich Prozesse, die Veränderungen herbeiführen, indem sie Denken, Handeln und moralische Gewichtung beeinflusst. Somit ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, die nachfolgende Generation situationsgerecht zu erziehen und ihr Nachhaltigkeitskompetenzen zu vermitteln (Rauscher 2020: 199). Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat darauf bereits im Jahr 2017 politisch reagiert und die Rahmenbedingungen für Bildungspläne usw. nachjustiert. Entsprechend der internationalen Vereinbarungen auf der Ebene der SDG kommt es zu einer Neuorientierung von Bildung und Lernen. Es entsteht gleichsam ein weiterer doppelter Fokus, damit sich jede Schülerin und jeder Schüler Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Werte anzueignen vermag, um zur Nachhaltigkeit handelnd beitragen zu können. Die KMK plädiert für ein partizipatives Lernen, wodurch die Bedeutung von Projekten, Programmen und Aktivitäten, die sich für eine nachhaltige Entwicklung einsetzen, gestärkt wird (KMK 2017: 2). Es geht längerfristig darum, die oben angesprochene und immer noch bestehende Lücke zwischen Wissen und Handeln zu schließen. Diesbezüglich herrscht bereits ein gesellschaftlicher Konsens; so hält eine überwältigende Mehrheit der Lehrkräfte und Eltern schulpflichtiger Kinder die „Schaffung von Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt“ für einen hoch relevanten Wert, der noch über den Status quo hinaus gefördert werden sollte (Drahmann et al. 2018, 19f.).
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Didaktik und Nachhaltigkeit – Bildungsziele Für die Umsetzung dieser anspruchsvollen Ziele durch eine auf Nachhaltigkeitsaspekte ausgerichtete didaktische Praxis gibt es verschiedene Ansätze, die als Bausteine einer transformativen Bildung an der Global Citizenship Education (GCE), der Erziehung zur Weltbürgerschaft, mitwirken. Im Mittelpunkt steht hier der Gedanke, dass zukünftige Generationen die vorhandenen Umweltprobleme und weiteren Herausforderungen nur gemeinsam im Rahmen einer friedlichen Weltgemeinschaft lösen können. Dahinter steht eine von den SDG beeinflusste Vision von nachhaltiger Bildung und friedlicher Entwicklung, die in Verbindung mit den Menschenrechten die Zukunft der Welt durch bessere Bildung sichern soll. Damit ist nicht nur gemeint, dass der Erwerb grundlegender Lese-, Schreibund Rechenfertigkeiten sowie anderer elementarer Kenntnisse für möglichst alle Kinder und Jugendlichen gewährleistet werden soll. Das Ziel wird noch weiter gesteckt, indem durch entsprechende Bildung Fähigkeiten, Werte und Einstellungen entstehen sollen, die es den Menschen ermöglichen, gemeinsam an den Projekten zu arbeiten, die Klimawandel, Artensterben und ähnliche globale Probleme aufhalten können. Mit anderen Worten: Nachhaltigkeitsbildung muss heute Elemente wie Entscheidungsfähigkeit und Handlungsabsicht beinhalten. Wie Lehrmaterialien erstellt werden könnten, um diese Ziele zu unterstützen und zu erreichen, untersucht das Mahatma Gandhi Institute of Education for Peace and Sustainable Development (MGIEP) im Auftrag der UNESCO. Seit dem Jahr 2017 liegt ein Handbuch vor, das für die Verankerung von BNE in allen Fächern des Schulunterrichts plädiert (deutsche Ausgabe 2019). BNE soll zu einem integralen Element in den Curricula und anderen Strukturen der formalen Bildung werden und nicht etwa nur ein Zusatz sein (UNESCO/MGIEP 2019: 22). Die Bildungsinhalte werden in die Bereiche Mathematik, Naturwissenschaften, Geographie und Sprachen gegliedert, wobei letzterer im hier angesprochenen Kontext besonders im Zentrum steht. Sprachlich interessant ist bereits, dass dieser nachhaltigkeitsrelevante Bildungsansatz der Verankerung auf eine Metapher zurückgreift: Die Metapher der Verankerung beschreibt den Prozess der tiefen Integration eines gewünschten Elements in ein System. Es wird fest in dieses System eingebaut, im Gegensatz zum bloßen Hinzufügen. Das verankerte Element kann immer noch erkannt werden, und es wird nicht sofort das System verändern, obwohl es durchaus dessen Funktion verbessern kann. Verankerung ist eine Strategie, die Möglichkeiten der Transformation des Bildungssystems von innen eröffnet. (UNESCO/MGIEP 2019: 23)
Es ist evident, welche entscheidende Rolle die Sprache hier spielt, unterstützt sie doch das Umdenken, das durch transformative Bildung stattfinden wird. Die Ver-
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änderung erfolgt nicht schnell, dafür aber nachhaltig, und führt rasch zu einer stärker verankerten Funktion (von Sprache) in der vielfältigen Debatte. Der vorliegende Band legt selbst Zeugnis dieser Entwicklung ab: Über Nachhaltigkeit wird heute unter sehr vielen Aspekten gesprochen, deren Ausdifferenzierung noch vor wenigen Jahren so nicht existierte. Der bildungspolitische Weg basiert auf zwei Prinzipien: Erstens rückt Nachhaltigkeit in der Bildung von der Peripherie ins Zentrum. Es entsteht ein multidisziplinärer Ansatz, der Fächer verbindet und das Denken in Zusammenhängen fördert. Zweitens hebt das Prinzip des doppelten Lernziels (nachhaltiges Wissen und Handeln, UNESCO/MGIEP 2019: 24) die Verantwortung jedes Fachs hervor, neben der Vermittlung seines fachlichen Inhalts zugleich einen Beitrag zu einer sozialeren, ökologischeren und friedvolleren Welt zu leisten. Besonders der Unterricht in den sprachlichen Fächern (inklusive Fremdsprachen) soll die Verflechtung von Wissen und Werten stärken: So wird die kognitive Entwicklung der Lernenden sowie deren wissensbasierte Fähigkeit, Werte und Haltungen zur Nachhaltigkeit hervorzubringen, gefördert. Um ein Beispiel zu nennen: Für den Sprachunterricht (inklusive Fremdsprachenunterricht) gibt das Guidebook die Empfehlung, Literatur einzusetzen: Literatur ergänzt den Sprachunterricht […] Schülerinnen und Schüler lernen durch Literatur verschiedene Perspektiven und Werte, die wir für eine nachhaltige Welt brauchen. Sie lernen, Empathie zu entwickeln – sich in andere hineinzuversetzen. […] In den Schulbüchern für den Sprachunterricht kann Literatur eingesetzt werden, um das Verständnis der Schülerinnen und Schüler von ihrer Welt zu vertiefen, insbesondere das Verständnis der Werte, die wir für ihren Erhalt benötigen. (UNESCO/MGIEP 2019: 209)
Die Lernenden erwerben durch literarisches und ökokritisches Lesen ein kritisches Bewusstsein, zugleich eine Sensibilität und nachhaltige Wertschätzung in Bezug auf die Umwelt. „Den Lernenden kann eine Art des Lesens vermittelt werden, die einen Bezug zur Nachhaltigkeit herstellt. Darin liegt für uns der Wert von ökokritischen Theorien und ökokritischem Lesen“ (UNESCO/MGIEP 2019: 209). Auf der europäischen Ebene forscht das Netzwerk A Rounder Sense of Purpose (RSP) an der Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsbildung, die soziale, ökonomische und ökologische Erkenntnisse noch gründlicher verknüpft. Ohne eine wertebasierte Erziehung kann Nachhaltigkeitsbewusstsein, das mit Handlungskompetenz verbunden ist, nicht an die kommenden Generationen vermittelt werden; das belegen mittlerweile übereinstimmend Untersuchungen aus den Bereichen Pädagogik (Brandl 2011: 7), Bildungsforschung (Rieckmann/Schank 2016: 67) und Schulentwicklung (Rohmann 2018: 13f.). Es fehlt bisher eher an praktikablen Wegen, die zur Umsetzung dieser Einsichten beschritten werden können. Das RSP-Projekt bereitet einen davon. Es hat das Ziel, zwölf einschlägige Kompetenzen zu vermitteln, zu denen u.a. Empathie sowie Werte- und Verantwortungsbe-
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wusstsein gehören, die in enger Verbindung zu den 17 SDG stehen. Diese grundständigen Kompetenzen sollen nicht in Untergruppierungen zerfallen, damit nachhaltiges Lernen nicht in zusammenhanglose Teilgebiete auseinanderbricht, sondern ein ganzheitlicher Lernprozess entsteht: „Such an approach of assessing individual ‚pieces of learning‘ runs counter to the whole notion of holistic thinking that is central to sustainable development“ (EU-Projekt RSP 2019). Ohne hinreichende Sprachbewusstheit lässt sich dieses Grundprinzip einer modernen Nachhaltigkeitsbildung nicht verwirklichen, welches wiederum zur Voraussetzung der politischen und moralischen Weiterentwicklung der Gesellschaften und Staaten dieser Welt wird. Die in diesem Band versammelten Beiträge geben einen Eindruck von der enormen Bedeutung, die Sprache und Sprachförderung in diesem Kontext haben. Sie gehören damit selbst zu dem Projekt transformativer Bildung, auf dem die Hoffnungen für eine nachhaltige Zukunft liegen.
Danksagung Viele Personen haben zum Gelingen dieses Sammelbandes beigetragen. Wir danken insbesondere Ekkehard Felder, dem Koordinator des Netzwerks Sprache und Wissen und Herausgeber dieser Reihe, für seine Begleitung des vorliegenden Bandes sowie für seine Unterstützung der Tagung Natur – Kultur – Mensch. Sprachliche Praktiken um ökologische Nachhaltigkeit, die vor dem Hintergrund der in dieser Einleitung skizzierten Blickwinkel im Herbst 2019 an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften stattfand. Die interdisziplinär angelegte Struktur des linguistischen Netzwerks Sprache und Wissen erwies sich für das Tagungsthema als besonders gewinnbringend: Die Vielfalt an Wissensdomänen, die spezifische Zugänge zu übergeordneten Themen Disziplinen verbindend zulässt (ARCHITEKTUR UND STADT, BILDUNG UND SCHULE, GESCHICHTE – POLITIK – GESELLSCHAFT, KUNST – KUNSTBETRIEB – KUNSTGESCHICHTE, LITERATUR – KULTUR, MATHEMATIK, MEDIZIN UND GESUNDHEITSWESEN, NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK, RECHT, RELIGION, SPRACHREFLEXION – SPRACHKRITIK – SPRACHIDEOLOGIE, TIER – MENSCH – MASCHINE sowie WIRTSCHAFT), erlaubte es, die verschiedenen Facetten der Thematik Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit im Hinblick auf ihre sprachliche Gestaltung sowie auf weitere sprach- und kulturbezogene Aspekte in Vorträgen, Diskussionen und intensiven thematischen Workshops interdisziplinär in den Blick zu nehmen. Aus dieser Tagung heraus entstanden viele der Beiträge, die in diesen Sammelband eingingen. Die angeregten Diskussionen im Rahmen der Konferenz gaben zudem Denkanstöße für weitere im Sammelband vertretene Perspektiven. Daher
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danken wir ausdrücklich allen Vortragenden, allen Workshopleiterinnen und Workshopleitern, den Diskutantinnen und Diskutanten der Podiumsdiskussion Diskutieren, lehren, handeln…? Der Umgang der Wissenschaften mit Nachhaltigkeit sowie allen Teilnehmenden der Tagung. Wir danken außerdem der Autorin Marie Gamillscheg für die eindrucksvolle Lesung aus ihrem Roman Alles was glänzt (2018). Weitere Beiträge aus dem Themenfeld und Kontext der Tagung mit Fokus auf verschiedene aktuelle linguistisch-methodische Innovationen (z.B. Agonalität, Argumentationsanalyse, Terminologieforschung oder auch linguistische Wissenschaftskommunikation) sind außerdem zusätzlich zu diesem Band in einem Themenheft der Zeitschrift Deutsche Sprache gebündelt, das im Herbst des Jahres 2021 erscheint (Nachhaltigkeit und Linguistik. Sprachwissenschaftliche Innovationen im Kontext einer globalen Thematik, hrsg. von Carolin Schwegler und Anna Mattfeldt). Für die freundliche Unterstützung bei der Tagung danken wir der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie allen helfenden Händen vor Ort, insbesondere Mahlet Gebrewold vom Bistro zuckerRohr und Renate Schwegler für die nachhaltige und regionale Verköstigung. Besonderer Dank gebührt zudem den Hilfskräften Sven Bloching, Miriam Kohl und Tao Wu für die tatkräftige Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie Hannah Claudia Müller für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Nicht zuletzt danken wir den anonymen Gutachterinnen und Gutachtern für wertvolle Hinweise zum Manuskript des Bandes sowie Carolin Eckardt, Albina Töws und Gabriela Rus vom Verlag De Gruyter für die fachkundige und umsichtige Betreuung.
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| Teil 1: Umwelt im Spiegel von Geschichte, Politik und Bildung
Verena Winiwarter
Umweltgeschichte verstummt in Plutopia Von der (Un-)Möglichkeit, die nukleare Zivilisation zur Sprache zu bringen Zusammenfassung: Der Nicht-Ort Hanford im US-Bundesstaat Washington, die teuerste Altlast der USA, liegt womöglich am Ende der Welt. Sie liegt dort dann, wenn es nicht gelingt, die darin befindlichen gefährlichen Abfälle dauerhaft von der Umwelt abzuschließen. Es ist keineswegs sicher, dass dies gelingen wird. Kathleen Flennikens Plume (Flenniken 2012) und Michele Stenehjem Gerbers On the Home Front: The Cold War Legacy of the Hanford Nuclear Site (Stenehjem Gerber 1992) könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch, der Band mit Gedichten der Zivilingenieurin, die selbst drei Jahre in Hanford arbeitete, und der Klassiker der Hanford-Aufarbeitungsliteratur, minutiös recherchiert und faktentreu dargestellt, sind beides Zeugnisse des sprachlichen Umgangs mit einer Monstrosität, die sich nur unzureichend in Wissen verwandeln lässt. Plutopia, der von Karen Brown geprägte Begriff für eine Zivilisation, die mit Plutonium, dem Bombenbaustoff, der in Hanford zwischen 1943 und 1987 hergestellt wurde, leben muss, ist ein Versuch, die Kluft zu benennen, die uns von der Zeit vor 1945 trennt (Brown 2013). Doch wir leben nicht nur mit Hanford, sondern mit Hunderten durchaus ähnlich heimtückischen Altlasten, die noch nie kalkulierte Ewigkeitskosten mit sich bringen. WissenschaftlerInnen kämpfen um angemessene Ausdrucksformen dafür und sind gleichzeitig auf ihre eigene, unhintergehbare Betroffenheit verwiesen. Es fragt sich, wie solche Monstrositäten überhaupt zur Sprache gebracht werden können. Nach einem kurzen Überblick über umwelthistorische Zugänge bieten die folgenden Seiten einen Einstieg in die Arbeit an den Grenzen des Sagbaren. Schlüsselwörter: Monster, Altlasten, Hanford, Christa Wolf, Poesie, Umweltgeschichte
|| Verena Winiwarter, Universität für Bodenkultur Wien, Institut für Soziale Ökologie, Schottenfeldgasse 29, 1070 Wien, Österreich, verena.winiwarter[at]boku.ac.at https://doi.org/10.1515/9783110740479-002
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1 Kurze Einführung in die Umweltgeschichte Umweltgeschichte1 versteht sich als historischer Beitrag zur Nachhaltigkeitsforschung. Aus historischer Sicht kann argumentiert werden, dass der Nachhaltigkeitsdiskurs als reformorientierter, imaginativer Diskurs im Sinne von John S. Dryzek erst durch Verdrängung bestimmter Problemkategorien überhaupt möglich wird (Dryzek 2013: 16). Eine dieser Problemkategorien sind die Altlasten der nuklearen Technologien des 20. Jahrhunderts. Diese Altlasten geben Anlass, darüber nachzudenken, wie eine „Versprachlichung des Monströsen“ aussehen könnte. Umweltgeschichte untersucht die Vergangenheit um der Zukunft willen. Sie befasst sich mit der Rekonstruktion von Umweltbedingungen in der Vergangenheit: Wie sah eine Landschaft einmal aus? Wie wurde sie genutzt? Was für ein Wald wuchs an einem bestimmten Ort vor 200 Jahren? Wo verlief früher ein Fluss? Die Forschung muss sich dafür auch mit der Rekonstruktion der Wahrnehmung und Interpretation dieser vergangenen Umwelten durch die damals lebenden Menschen beschäftigen. Wie haben Menschen etwa Berge oder Flüsse wahrgenommen, als Bedrohung oder als Freizeitareal und wann und warum hat sich das geändert? Nur in Kombination beider Aspekte, Umwelt und Wahrnehmung der Umwelt, ist eine Interpretation vergangener Handlungen möglich (vgl. ZUG 2019). Kurz gesagt befasst sich Umweltgeschichte mit den Wechselbeziehungen zwischen Menschen und dem Rest der Natur. Sie konzipiert dabei Menschen als Natur, ihr aber zugleich gegenüberstehend, in Natur eingreifend, sie verändernd, um leben zu können. Umweltgeschichte ist ein interdisziplinäres Fach, das Zugänge aus den Kultur-, Sozial-, Natur- und Ingenieurwissenschaften miteinander verbindet (Winiwarter/Knoll 2007). Der hier zunächst umgangssprachlich verwendete Begriff „Natur“ und ebenso jener der „Natürlichkeit“ sind als analytische Kategorien hoch problematisch, da eine Ontologisierung nahezu unvermeidbar ist, ebenso wie Wertzuschreibungen. Meine Arbeitsgruppe hat daher einen konzeptiven Vorschlag gemacht, der diese Dichotomie vermeidet, und spricht von Sozio-Naturalen Schauplätzen als einem Nexus von Praktiken und Arrangements (Winiwarter/Schmid 2020b).
|| 1 Dieser Abriss beruht auf Winiwarter/Schmid 2020a. Die Grundlagenarbeit an diesem Aufsatz wurde darüber hinaus durch ein Sabbatical am Complexity Science Hub in Wien möglich. Ich danke Stefan Thurner und Philipp Marxgut für die Einladung, am Hub zu arbeiten und dessen Ressourcen zu nutzen, und Johannes Sorger für viele anregende Diskussionen über die Darstellbarkeit der Monster. Dank geht wie so oft an Michael Bürkner für die Unterstützung.
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Der amerikanische Umwelthistoriker John McNeill hat 2003 drei Typen von Umweltgeschichte unterschieden, die die Historiographie bis heute gut beschreiben. Unter den durchaus um Legitimation und Aufmerksamkeit konkurrierenden Hauptarten fokussiert eine auf Materielles (dazu zählen auch die Flussgeschichten, die wir in Wien erforschen), eine auf kulturell/mentalitätsgeschichtliche Phänomene und eine vorwiegend auf das Politische im weiteren Sinn. Die materielle Umweltgeschichte beschäftigt sich mit Veränderungen in der biologischen und physikalischen Umwelt und damit, wie sich diese Veränderungen auf die menschliche Gesellschaft auswirken. Betont werden die wirtschaftlichen und technologischen Aspekte der Gesellschaft. Der kulturell/ideen- und mentalitätsgeschichtliche Typ betont Darstellungen und Bilder der Natur in Kunst und Literatur, untersucht, wie sich diese verändert haben und welche Aussagen sie über die Menschen und Gesellschaften, die sie hervorgebracht haben, ermöglichen. Die politische Umweltgeschichte betrachtet obrigkeitliches Handeln in Bezug auf die Natur (McNeill 2003a: 6–9). Auch innerhalb der materiellen Umweltgeschichte gibt es Binnendifferenzen. Die wohl auffälligste ist jene zwischen ländlichen und städtischen Themen. Zu den ländlichen Themen zählen Agrarökosysteme, Weide- und Graslandökologie, Wälder und die besonders in der US-Historiografie betonte „Wildnis“. Urbane Umweltgeschichte war ursprünglich hauptsächlich auf Umweltverschmutzung und Hygiene ausgerichtet, beschäftigt sich aber inzwischen mit der Entwicklung technischer Systeme im Allgemeinen und untersucht die Versorgung und den „Stoffwechsel“ von Städten über die Zeit. Es ist möglich und notwendig, städtische und ländliche Umwelt gemeinsam zu betrachten, aber Quellen und Ressourcenbeschränkungen umwelthistorischer Projekte führen oft zur Konzentration auf das eine oder andere. Während die Umweltgeschichte in den 1970er Jahren in den USA als Teil der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Umwelt als eines zentralen Handlungsfelds entstand und daher vorwiegend kritisch ausgerichtet war, wurde diese kritische Ausrichtung bald als „declentionist“, als zu sehr an der Degradation und am Untergang orientiert empfunden. Zerstörungs- und Verfallserzählungen wurden in Folge zugunsten von Narrativen aufgegeben, die die spezifischen Faktorenkombinationen von Mentalitäten und Handlungen in Begriffen wie „Wandel“ und „Wechselwirkung“ offener zu fassen versuchten. Positivbeispiele, Erfolgsgeschichten vom Schutz wichtiger Ökosysteme, von den Erfolgen von Umweltgesetzgebung und Protest wurden auch aus didaktischen Gründen betont. Zuletzt hat dies Christoph Mauch in einem Slow Hope betitelten Band getan (Mauch 2019).
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Am Beginn einer eigenständigen deutschsprachigen Umweltgeschichte in den 1980er Jahren stand die „Holznotdebatte“, in der Joachim Radkau die Rolle von behaupteter Knappheit als Argument in Professionalisierungsdiskursen von Forstwirten betonte (Radkau 1986), während Rolf Peter Sieferle eine reale Holzknappheit diagnostiziert hatte (Sieferle 1982). Ohne deshalb in Umweltdeterminismus zu verfallen, was der Klima- und Umweltgeschichte früher oft vorgeworfen wurde, geht Umweltgeschichte von der grundsätzlichen Einsicht aus, dass gesellschaftlicher Wandel immer ein Wandel des Umgangs mit Natur (inklusive deren diskursiver Konzeptualisierung) ist. Dies hat Bernd Grewe in seiner Dissertation, die die Holznotdebatte abschloss, gezeigt (Grewe 2004). Die energetische Basis erweist sich jedoch letztlich auch beim „hölzernen Zeitalter“ (Werner Sombart 2012 [1902]) als unhintergehbar (Smil 2017). Seit Menschen vor etwa 10.000 Jahren zunächst im fruchtbaren Halbmond sesshaft wurden, waren Viehzucht, Ackerbau oder Fischfang für die Gesellschaft bestimmend. Das blieb bis in die 1890er Jahre so, um 1900 waren in Europa immer noch mehr als die Hälfte der Menschen Bauern, derzeit sind es je nach Zählung zwei bis fünf Prozent. Das hat mit dem Wandel des Energieregimes zu tun. Zunächst Kohle, dann Erdöl und Erdgas ersetzten die nachwachsenden Rohstoffe sowie die Windenergie für Segelschiffe und Mühlen. Der Energiewandel hatte eine umfassende, auch die menschlichen Körper selbst erfassende Transformation zur Folge. Körpergröße und die Lebenserwartung stiegen, heute sind wir im Zeitalter der technischen Machbarkeit der Reproduktion angelangt, können künstlich befruchten, Geburten einleiten und oft den Tod hinauszögern, damit wandeln sich auch Familienstrukturen und soziale Bedürfnisse. Die zentrale Erkenntnis dieses kurzen Streifzugs durch die Umweltgeschichte ist auch für die Argumentation dieses Aufsatzes bedeutsam. Die Menschheit hat, indem sie Gesellschaft energetisch transformiert hat, ihr Verhältnis nicht nur zur äußeren Natur, sondern auch zur inneren Natur tiefgreifend gewandelt. Historische Vergleiche erlauben es, heutige Systemzustände besser zu verstehen. Die wesentlichen Treiber des Wandels seit der industriellen Revolution sind neben Bevölkerungswachstum – und der damit einhergehenden Urbanisierung – Technologie und Politik, die auch für die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns sorgt. Die Ausgestaltung dieser gesellschaftlichen Prozesse hängt von der Verfügbarkeit von Energie ab (vgl. McNeill 2003b: 26ff.). Umweltgeschichte beschäftigt sich auch mit Umweltbewegungen und ihren Akteuren. Seit der industriellen Revolution sind immer wieder kritische Stimmen laut geworden, die davor warnen, die Umwelt zu zerstören. Seit den 1970er Jahren machte das Wort Umweltschutz Karriere, und Umwelt wurde zur Politikmaterie, nicht nur für „grüne“ Parteien, sondern für alle politischen Akteure. Seit-
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dem gehört ein gewisses Umweltwissen zur Allgemeinbildung – heute vermutlich mit Schwerpunkt auf Treibhausgasen und Klimawandel, früher an Schmutzskandalen wie dem Dioxinunfall von Seveso, der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder dem Vogelsterben der 1960er Jahre durch DDT orientiert. Die Muster darin zu erkennen ist ebenfalls eine Leistung der Umweltgeschichte (vgl. Schmoll 2004; Frohn/Schmoll 2006; Radkau/Uekötter 2003; Brüggemeier/Engels 2005). Auch in einer ergebnisoffenen Untersuchung von Wechselwirkungen sind verschiedene Narrative möglich. „Gesellschaftliche Naturverhältnisse“ (Jahn/ Wehling 1998)2 können etwa als „Risikospirale“ konzeptualisiert werden. Wenn Menschen in natürliche Systeme absichtsvoll eingreifen, kommt es neben den erwünschten oder zumindest vorhergesehenen Folgen auch zu unbeabsichtigten Wirkungen (Sieferle/Müller-Herold 1996). Dies macht auf eine grundsätzliche Problematik aufmerksam, ohne den erfolgreichen Umgang mit Herausforderungen zu unterschlagen. Mit Hilfe der „Risikospirale“ wird dieser Zusammenhang fassbar. Die erfolgreiche Bewältigung eines Risikos durch Innovation hat üblicherweise Nebenwirkungen. Da die Menschen das Risiko, z.B. von schwankenden Erträgen wilder Pflanzen, durch Umstieg auf Landwirtschaft erfolgreich bewältigten, mussten sie den Eindruck gewinnen, alles richtig gemacht zu haben. Die Nebenwirkungen, etwa Ernteausfälle durch Parasiten oder Unwetter, überraschten sie dann und führten zu neuen Innovationen, die wiederum erfolg- und nebenwirkungsreich waren und bis heute sind. UmwelthistorikerInnen präsentieren historische Entwicklungen als Risikospiralen, um vor Augen zu führen, dass Nebenwirkungen typisch und normal sind und keine Ausnahme darstellen. Das soll zu einer vorsorgenden Innovationskultur beitragen. Risikospiralen findet man an vielen Orten und in vielen || 2 „Der Begriff der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, wie Christoph Görg [Görg (2003), Anm. d. A.] ihn ausgearbeitet hat, verweist darauf, dass Natur begrifflich und stofflich gesellschaftlich konstruiert ist. Es gibt kein Substrat der Natur, ‚was quasi übrigbliebe, wenn alle gesellschaftlichen Vermittlungen abgezogen würden‘ [...]. Gleichzeitig wird mit dem Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse angezeigt, dass es keine Autonomie des Sozialen gibt. Gesellschaft wird dagegen als grundlegend mit Natur vermittelt begriffen [...]. Damit steht der Begriff gegen Tendenzen der Ausblendung von Natur und für die Anerkennung von Natur als Existenzbedingung für Gesellschaft [...]. Von gesellschaftlichen Naturverhältnissen zu sprechen impliziert also eine Kritik an dualistischen Vorstellungen von Natur und Gesellschaft“ (Krüger 2013: 422). In eine ähnliche Richtung argumentiert Lawrence Hazelrigg, wenn er schreibt: „Writing nature in/as the universality of what culture is not is the work of a culture inscribing its limits within itself. The depth and the mystery of the ground of conscious-being, the ground of history, are presentments of the hole in culture, where nature bodies forth in ist own measure no matter how much a culture has cultivated/colonized/normalized what it is not“ (Hazelrigg 1995: 160).
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Zusammenhängen. Das Trockenlegen von Mooren führt zu dauerhafter Bodensenkung; Flussregulierungen schützen einen Ort deshalb vor Hochwasser, weil sie es anderswohin verlagern. Staudämme verändern nicht nur den Grundwasserspiegel anders, als man gedacht hätte, sondern auch den Feststofftransport in den Flüssen, was zum Einreißen von Löchern und der Entstehung von Wirbeln stromab führen kann. Nach den Ölpreisschocks 1973 und 1979 sahen viele Regierungen Kernkraftwerke als eine Möglichkeit, die gefährliche Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu vermindern; bis heute ist das Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle aus solchen Kraftwerken ungelöst. Die Zeit der industriellen Revolution hat UmwelthistorikerInnen stark beschäftigt, weil die Nebenwirkungen menschlicher Handlungen auf die Natur besonders auffällig wurden. Die heutige industrielle Lebensweise ist durch Güter gekennzeichnet, bei deren Herstellung und Gebrauch es zur Verschmutzung von Boden, Wasser und Luft kommt. Während der ersten Phase der Industrialisierung wurden vorwiegend die Zentren der Produktion verschmutzt. Das Wort Smog (smoke + fog) wurde zur Beschreibung der dicken Londoner Luft erfunden, die durch Abgase von Heizungen und Produktionsbetrieben entstand (Brimblecombe 1987). Seit der Transformation zur Konsumgesellschaft in den 1950er Jahren ist der ordnungsgemäße Gebrauch legal hergestellter Güter verantwortlich für weit gestreute, diffuse und schwer regulierbare Verschmutzung, auch diese Entwicklung lässt sich als Risikospirale erzählen (Pfister 1995). Während etwa der WBGU schon 2011 feststellte, dass der „fossilnukleare Metabolismus“ der Industriegesellschaft keine Zukunft hat (WBGU 2011), steigen der Ressourcenverbrauch und seine Folgen weiterhin an (UNEP 2019).
2 Monströse Altlasten – ein Rundgang durch das Kabinett des Schreckens Umweltgeschichte ist zu Beginn des 3. Jahrtausends gefordert, sich den Aporien der Gegenwart zu stellen und eine adäquate Sprache für die als „Anthropozän“ nur unzureichend charakterisierte fossil-nukleare Zivilisation zu finden (Winiwarter 2017a). Sie steht in einer kritischen Distanz zum imaginativen, reformorientierten Diskurs der „Nachhaltigkeit“. Diese Kritik kennt verschiedene Spielarten, unter denen die Historisierung des Begriffs ebenso zu nennen ist wie seine Ablehnung für historische Analysen, weil es sich um ein zeitfremdes Konzept handelt (Winiwarter/Knoll 2007: 301–314). Spätestens seit dem Brundtland-Bericht (WCED 1987) wurde der Begriff der Nachhaltigkeit Leitbegriff des zentralen
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Umweltdiskurses (Winiwarter 2013). Er wird immer wieder kritisiert, bleibt aber die erfolgreichste Begriffsprägung des erfolgreichsten Umweltdiskurses, eben des reformorientiert-imaginativen. Allerdings gerät dieser Diskurs durch einen neuen Krisen- oder Katastrophendiskurs unter Druck, was sich an medialen Berichten der jüngsten Vergangenheit zeigen lässt. Dies kann hier nur an einem Beispiel verdeutlicht werden. Die Veröffentlichung des Special Report des IPCC im Jahr 2018 (IPCC 2018) gab etwa im Guardian zu deutlichen Worten Anlass. Die Reportage zitiert dafür eine beteiligte Wissenschaftlerin: „‚It’s a line in the sand and what it says to our species is that this is the moment and we must act now‘, said Debra Roberts, a cochair of the working group on impacts. ‚This is the largest clarion bell from the science community and I hope it mobilises people and dents the mood of complacency‘“ (Watts 2018). Der IPBES Report, der das sechste Große Artensterben der Erdgeschichte in dramatischen Zahlen deutlich machte (IPBES 2019), wurde zwar weniger als die anthropogene Klimaveränderung zur „Krise in aller Munde“, hat aber dazu beigetragen, dass Beiträge wie jene von Nathaniel Rich in der New York Times, der einen sehr stark rezipierten Artikel über das Jahrzehnt, in dem die Menschheit den Klimawandel beinahe stoppte, schrieb, den er mit Losing Earth betitelte (Rich 2018), oder Jonathan Franzens Warnung, dass ohne Eingeständnis der Unvermeidbarkeit der Katastrophe kein entsprechendes Handeln möglich ist, prominent platziert erschienen. Franzen formuliert unmissverständlich: „There may come a time, sooner than any of us likes to think, when the systems of industrial agriculture and global trade break down and homeless people outnumber people with homes.“ Franzen schwenkt danach unvermittelt in einen hoffnungsvollen Schluss ein, in dem er ein lokales Sozialprojekt für Obdachlose (Homeless Garden) ins Zentrum stellt: Kindness to neighbors and respect for the land—nurturing healthy soil, wisely managing water, caring for pollinators—will be essential in a crisis and in whatever society survives it. A project like the Homeless Garden offers me the hope that the future, while undoubtedly worse than the present, might also, in some ways, be better. Most of all, though, it gives me hope for today. (Franzen 2019)
Die Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften, Internetseiten und anderen Medien lässt zumindest zwei narrative Muster erkennen. Eines ist die eben an einem Beispiel gezeigte Abzweigung in Richtung Hoffnung, die sich oft auf der lokalen Ebene kristallisiert. Das zweite Muster besteht darin, nach einer deutlichen Analyse des Zustands und der Diagnose, dass Änderungen nicht in Sicht sind, einen normativen Schluss anzubieten: „Es muss, es ist dringend, dass…“. Dieser
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Schluss konterkariert die vorher präsentierten Analysen und Einsichten. Zudem wird im Wesentlichen über die „Klimakrise“ oder, seltener, die „Klimakatastrophe“ gesprochen, kaum darüber, dass auch das Artensterben, die Verschmutzung weiter Teile des Planeten (nicht nur mit Plastik), Eingriffe in den globalen Stickstoff- und Phosphorkreislauf und die Bodendegradation unserer Aufmerksamkeit ebenso dringend bedürfen, weil auch solche „planetare Grenzen“ bereits überschritten sind (Steffen et al. 2019). Doch auch diese Ausweitung ist noch nicht ausreichend. Während die Nachhaltigkeitsziele (SDG) der Vereinten Nationen (2015) eine inklusive Agenda (Agenda 2030) der Transformation in sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht darstellen, sind die planetaren Grenzen auf die ökologische Sichtweise begrenzt und machen die Verursacher nicht deutlich. Die Nachhaltigkeitsziele selbst sind wiederum durch ihre Einbettung in den reformorientiert-imaginativen Diskurs geprägt und eingeschränkt. Der bereits 1961 von Dwight Eisenhower angesprochene „militärisch-industrielle Komplex“ (Roland 2007) wird in keinem der beiden einflussreichen Nachhaltigkeitskonzepte auch nur erwähnt. Dies, so versuche ich in der Folge zu argumentieren, ist seinem monströsen Charakter geschuldet. Daraus lässt sich als zentrale These ableiten: Der imaginativ-reformorientierte Diskurs, der unter dem begrifflichen Schirm „Nachhaltigkeit“ die Möglichkeit eines guten Ausgangs eines inkrementellen Transformationsprozesses betont, muss einen Typus von Problemkonstellationen verdrängen, der diese Art des „guten Ausgangs“ nicht erkennen lässt. Ich habe diesen Typus gemeinsam mit Martin Schmid als „heimtückische Altlasten“ bezeichnet (Winiwarter/ Schmid 2018). Nun soll der „Heimtücke“ das „Monströse“ zugesellt werden, um die Diagnose noch einmal zu verschärfen. „Monster“, so der Duden, bezeichnet ein furchterregendes, hässliches Fabelwesen, ein Ungeheuer von fantastischer, meist riesenhafter Gestalt. Zu letzterem bietet Grimms Wörterbuch als Definition: bisweilen ins concrete übergehend, grauenvolles, greuel, schrecken, gefahr, schwere not, unglück, unfall, widerwärtigkeit u. dgl.; von kriegsgefahr, der folter Staub-Tobler 2, 1588; widerwärtigkeit, unfall Schmeller 1, 1155; mnd. wildheit, ausschweifung (DWB 1984).
Grimms Wörterbuch kommt damit dem, wovon hier die Rede ist, sehr nahe. Das Ungeheuer wird meist als Lebewesen gedacht, es ist uns nicht geheuer (also nicht lieblich, angenehm oder trefflich), es ist uns unheimlich, es erregt Angst. Seine Monstrosität hat auch mit seiner Größe zu tun, die es unbezwingbar macht. Beim Versuch, über Altlasten zu sprechen, wird deren Monstrosität bald greifbar. Altlasten sind seit den 1980er Jahren zunehmend in den Blick geraten, es gibt sie – zumindest im Sinne langfristiger, anthropogener problematischer Verän-
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derungen von Ökosystemen – allerdings schon sehr viel länger.3 Sie stellen eine massive Hypothek auf die zukünftige Entwicklung dar. Altlasten entstehen entlang der ganzen Wertschöpfungskette extraktiver Industrien und entfalten eine besondere Problematik dort, wo sie im Zusammenhang mit militärischen Unternehmungen stehen. Seit den 1980er Jahren hat sich der Begriff in der deutschsprachigen Raumplanung und Abfallwirtschaft verbreitet, um Orte, an denen sich für Menschen und andere Organismen gefährliche Stoffe befinden, zu bezeichnen. Das OnlineWörterbuch LEO übersetzt etwa 40 englische Begriffe alle mit dem deutschen Wort „Altlast“.4 Das macht auf die große Bandbreite solcher Altlasten aufmerksam. Der im Kompositum „Alt-Last“ gebändigte Charakter der Last wird bei der Rückübersetzung einiger englischer Begriffe deutlicher. Die Begriffe „hazardous“ (gefährlich, im Bereich des Abfalls auch oft mit „Sondermüll“ in Verbindung), „contaminated land“ (also etwa: „kontaminiertes Land“) und „recalcitrant compounds“, zu übersetzen etwa als langlebige oder schwer abbaubare Verbindungen, beschreiben verschiedene Aspekte des Problems von Altlasten. „Inherited liability“ und „inherited pollution burden“ machen auf einen Aspekt besonders aufmerksam, zu dem die Umweltgeschichte beitragen kann. Altlasten sind „ererbt“, sie stammen aus der Vergangenheit, sie stellen eine Verpflichtung dar, die den gegenwärtig Lebenden von ihren Vorfahren auferlegt wurde. Das bedeutet auch, dass sie den Handlungsspielraum in der Zukunft einschränken. Das Ausmaß des Altlastenproblems wird massiv unterschätzt. Die hier präsentierte These dazu lässt sich schlicht ausdrücken: Es wird unterschätzt, weil es ungeheuerlich ist. Die folgenden Hinweise sollen deutlich machen, dass Altlasten entlang der ganzen Wertschöpfungskette gefährlicher Stoffe entstehen und dass auch Phänomene, die gemeinhin nicht als solche bezeichnet werden, langlebig und problematisch, durchaus monströs sein können. Am Beginn der Wertschöpfungskette stehen die Gewinnung von Rohstoffen und die damit einhergehenden Umweltbelastungen, die sehr langlebig sein können. Der Abbau von Uran hat weltweit 938×106 m3 Rückstände, teils in Form von Schlamm, teils als Gesteinsbrocken, erzeugt. Die Radioaktivität dieser Rückstände hängt von der abgebauten Erzart ab und variiert. Die gebräuchlichste Art der Entsorgung ist oberflächennahe Aufstauung der Schlämme in der Nähe der Mine oder Aufbereitungsanlage. Die hauptsächlichen Strahlungsrisiken von Uranabbaurestmassen sind Gammastrahlung, im Wesentlichen durch Radium-
|| 3 Die folgenden Ausführungen zu Altlasten wurden in einer ersten Fassung veröffentlicht in Winiwarter (2018). 4 https://dict.leo.org/englisch-deutsch/altlast (letzter Zugriff 08.03.2021).
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zerfall; Ausbreitung radioaktiven Staubs durch den Wind sowie Radongas und seine radioaktiven Töchter, von denen bekannt ist, dass sie Lungenkrebs verursachen. Uranabbaurückstände sind oft auch mit erhöhten Konzentrationen anderer hochtoxischer Schwermetalle verbunden, die eine Hauptquelle für Oberflächen- und Grundwasserverunreinigungen darstellen. Aufgrund ihres hohen Sulfidgehaltes (einige bis einige zehn Gewichtsprozent) können Abraumhalden Grundwasser ansäuern und die Freisetzung radioaktiver und gefährlicher Elemente dadurch noch beschleunigen (Abdelouas 2006). Allein im Westen der USA sind 15.000 aufgegebene Uranminen mit Abraumhalden bekannt, sie stellen damit das größte Volumen radioaktiver Abfälle in den USA dar (Joseph et al. 2017). Am Ende der zivilen Uran-Wertschöpfungskette stehen Endlager für abgebrannte Brennelemente, die als solche eine Ewigkeitslast darstellen, ein wesentlicher Grund dafür, warum es bislang nur an einer einzigen Stelle ein Endlager gibt (Auffermann et al. 2015), während aller andere Abfall in sogenannten „Zwischenlagern“ auf den nicht herstellbaren Konsens über die Einrichtung einer Endlagerstätte wartet. Ein Endlager nimmt gleichartige, gut definierte radioaktive Substanzen auf, deren Eigenschaften im Wesentlichen bekannt sind. Militärische Anlagen sind deutlich heimtückischere Altlasten. Die amerikanische Plutoniumfabrik Hanford, am Columbia River im Bundesstaat Washington in einer wenig besiedelten Steppenlandschaft gelegen, wurde ab 1943 errichtet und war bis 1987 in Betrieb. Sie wird nach offiziellen Angaben von 2010 bis mindestens zum Jahr 2052 dringliche Sicherungsmaßnahmen erfordern (DOE 2010). Insbesondere die 177 unterirdischen Abfalltanks, die mit unbekannten Mischungen chemisch und radioaktiv bedenklicher Substanzen gefüllt sind und die ihre geplante Lebensdauer schon deutlich überschritten haben, stellen eine heimtückische Altlast dar. Die Eröffnung der Anlage zur Aufarbeitung der Tankinhalte („Vit-plant“) wird seit Jahren aus technischen Gründen verschoben. Berichte über den Fortschritt der Sicherungsaufgaben in Hanford machen inzwischen keine Angaben über den Zeitpunkt des Abschlusses mehr, denn die Geschwindigkeit hängt von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab. Je nach deren Verfügbarkeit wird es bis 2062 oder länger dauern (Brown 2013). Der investigative Journalist Tom Mueller hat in seinem Buch über Whistleblowing ein sehr umfangreiches und exzellent recherchiertes Kapitel zu Hanford inkludiert. Er macht deutlich, dass die Aufräumungsarbeiten auch deswegen so lange dauern, weil in einer zur Korruption einladenden Konstellation die privaten Auftragnehmer nicht effektiv kontrolliert werden und für sie keinerlei Anreiz besteht, die Arbeiten, die ihre Geschäftsgrundlage darstellen, fertigzustellen. Zudem ist es für die beauftragten Firmen durchaus plausibel, jene Arbeiten, die besonders gefährlich
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sind, möglichst hinauszuzögern und lieber Ungefährlicheres vorzuziehen (Mueller 2019: 261–344). In der Anlage von Hanford wurden zwischen 1944 und 1987 rund 55 Tonnen Plutonium produziert, mehr als die Hälfte der gesamten US-Produktion stammt aus den neun Schnellen Brüter-Reaktoren am Columbia River. Das sowjetische Gegenstück, „Produktionsverbund ‚Majak‘“, das auch unter dem Codenamen Tscheljabinsk-65 bekannt ist, liegt am Tetscha-Fluss bei Osjorsk am Südural. Majak produzierte Plutonium ab 1948 – bis zur endgültigen Stilllegung 1990 wurden etwa 56 Tonnen waffenfähiges Plutonium produziert. Kate Brown hat in ihrer vergleichenden Studie der beiden Anlagen rekonstruiert, welche Langzeitfolgen auch außerhalb der Anlagen die Umwelt belasten. Der Columbia River ist derzeit nur in geringem Maße radioaktiv verseucht, sein ehemals sowjetisches Gegenstück, die Tetscha, ist massiv belastet, auch noch 2020, also Jahrzehnte nach dem Ende der Produktion. Es gibt keine öffentlich zugänglichen Pläne, wie damit umzugehen ist (Brown 2013). Der Umgang mit radioaktiven Substanzen ist nicht die einzige industrielle Aktivität, derentwegen für die Ewigkeit geplant werden muss. Der deutsche Kohlebergbau im Ruhrgebiet wurde 2018 geschlossen. Bei den Ewigkeitsaufgaben, die die Ruhrkohle AG-Stiftung seit 2019 finanziert, handelt es sich um Bergbaufolgen, die auf ewig Maßnahmen erfordern, Grubenwasserhaltung zum Trinkwasserschutz, Grundwassermanagement und die Erhaltung von Poldern. Die RAG muss für die Finanzierung dieser Ewigkeitsaufgaben geschätzte 220 Millionen Euro pro Jahr aufwenden. Auf ewig, oder zumindest, solange die dicht besiedelte Gegend weiterhin bewohnbar sein soll (RAG 2018). Alternativ würde eine Seenlandschaft, die mit verschmutztem Wasser gefüllt ist, entstehen, einige Millionen Einwohner würden ihre Heimat verlieren. Über dem Grundwasserreservoir der Stadt Yellowknife in Kanada liegt Giant Mine, eine seit dem Jahr 2004 geschlossene Goldmine, die ab 1948 etwa 218 Tonnen Gold produzierte. Die Betreiberfirma ging 1999 in Konkurs, wodurch alle Sanierungskosten von der Öffentlichkeit getragen werden müssen. Beim Goldabbau entstanden über 237.000 Tonnen Arsentrioxid, da das Gold dort in Erzkörpern von Arsenopyrit (FeAsS) gebunden ist. Die meisten Formen von Arsen sind giftig, und anorganische Arsenika sind krebserregend. Das Ausmaß der Arsen-Toxizität hängt stark von der chemischen Form ab, wobei anorganische Formen, die das dreiwertige As(III)-Ion enthalten, typischerweise giftiger sind (Houben et al. 2016). Oral aufgenommen können bereits weniger als 100 mg tödlich sein. Um Gold zu gewinnen, musste das Erz geröstet werden, wobei Arsen und Schwefel zu Arsentrioxid und Schwefeldioxid (SO2) umgewandelt wurden. Diese
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wurden in den ersten drei Jahren, zusammen mit anderen giftigen Metallen aus dem Erz, wie etwa Antimon (Sb), einfach in die Atmosphäre geblasen. Nach dem Tod eines Kindes wurde 1951 eine Filteranlage gebaut, deren Ergebnis die jetzige Altlast von 237.000 Tonnen Arsenik ist. Eine Risikospirale der besonderen Art war in Gang gesetzt worden. Der Verhandlungsprozess über den Umgang mit dieser Altlast erbrachte eine „Zwischenlösung“, von der aber viele Einwohner fürchten, dass sie auf unbestimmte Zeit die einzige bleiben wird. Der Klimawandel hat zum Auftauen des Permafrostbodens beigetragen, der das unterirdische Giftlager vor seiner Auflösung ins Grundwasser bewahrt hat, auf den allein sich zu verlassen aber jedenfalls eine Hochrisikostrategie darstellt. Thermosiphons wurden installiert, die den unterirdisch in den alten Minengängen lagernden Arsentrioxidstaub mit einer Schicht aus gefrorenem Boden umgeben, damit das wasserlösliche Gift nicht ins Grundwasser gelangen kann. Diese Wärmetauscher arbeiten angeblich „wartungsfrei“, allerdings wohl kaum „auf ewig“. Arsenik ist in Wasser gelöst farbgeruch- und geschmacklos, wenn es ins Grundwasser gelangt, könnte es sich unterirdisch auch weiterbewegen und an entfernten Orten eine chronische Arsenvergiftung der WassernutzerInnen bewirken. Das kann zu einer Zeit in der Zukunft geschehen, zu der sich niemand mehr an die Mine erinnert, wo daher auch die mögliche Ursache von gesundheitlichen Folgen vergifteten Trinkwassers nicht mehr so leicht erkannt werden könnte. Giant Mine ist eine höchst kostspielige Altlast, Sanierungs- und Ewigkeitskosten übersteigen den Gewinn um ein Vielfaches (Houben et al. 2016). Die indigene Bevölkerung bezeichnet die mit Arsenik gefüllte Mine als „monster“. Mary Rose Sundberg, eine Angehörige der Yellowknives Dene First Nation, in deren Territorium Giant Mine liegt, spricht in einem Dokumentarfilm über Giant Mine mehrfach davon. Der Film trägt den bezeichnenden Titel Guardians of Eternity, denn die Dene betrachten sich als Wächter dieses unterirdischen Monsters in Ewigkeit.5 Die Bezeichnung „Monster“ erschien mir besser als viele andere auszudrücken, welches Verhältnis Menschen zu solchen Altlasten haben. Ich schlage ihn daher als allgemeinen „Gattungsbegriff“ für bestimmte, besonders heimtückische Altlasten vor. Freilich könnte auch die Entwaldung großer Teile Mexikos durch den kolonialen Silberbergbau als langlebiges, problematisches Erbe gelten. Diese Entwaldung zeigt, dass Altlasten im Sinne von dauerhafter Umweltdegradation keine Angelegenheit des 20. Jahrhunderts sind, sondern auch in kolonialen Ausbeutungskontexten entstanden. Für die Minen der spanischen Kolonialherren im
|| 5 Guardians of Eternity (Sheba Films 2018), https://vimeo.com/150291898 (letzter Zugriff 25.02.2021).
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heutigen Mexiko wurde je Kilogramm Silber der Holzbestand von mehr als 6.000 m2 Wald, verbraucht, insgesamt mehr als 315.000 km2 (das entspricht etwa der Landesfläche von Polen). Dazu kommen etwa 76.000 km2 Waldrodung, die die mit Erz bezahlten Minenarbeiter zur Gewinnung des Silbers in kleinen, ineffizienten Öfen verursachten. Zwischen 1558 und 1804 wurden so 20% der Landesfläche Mexikos für die Silbergewinnung entwaldet. Die Gebirgsregionen in der Landesmitte, in denen die Minen lagen, waren am schlimmsten betroffen. Mitte des 17. Jahrhunderts sahen sich Reisende einer baumlosen, nackten Landschaft gegenüber, in der nur mehr einzelne Yuccapalmen überlebt hatten. Die Wälder waren der Holzkohleproduktion zum Opfer gefallen, darunter auch der Süßhülsenbaum (auch Mesquite genannt), der zur Familie der Hülsenfrüchte gehört. In der subtropischen Hitze ist schon der Schatten, den Bäume spenden, ein entscheidender ökologischer Faktor, dazu kam der stickstofffixierende Mesquitebaum, dessen Düngewirkung auch anderen Pflanzen zugutekam, die den so angereicherten Boden nutzten. War der Baumbestand auf den Bergen um die Silberminen erst einmal gerodet, setzten Wüstungsprozesse ein. Eine Wiederbewaldung ist daher bis heute nicht möglich. Die Gewässer sind mit giftigen Schwermetallen belastet, Sanierung kann nur bedeuten, einen Zustand herzustellen, der eine Verschlimmerung hintanhält (Studnicki-Gizbert/Schecter 2010; Gutiérrez-Yurrita 2016). Nicht alle Altlasten sind Monster, wenngleich sie in ihrer Gesamtheit monströse Ausmaße haben. Lässt sich die Monstrosität von Altlasten messen? Das amerikanische Hazard Ranking System charakterisiert drei Dimensionen: (1) Eigenschaften des Schadstoffes, also etwa dessen Giftigkeit, Löslichkeit, Bioakkumulationspotential, chemische Stabilität; (2) die Wahrscheinlichkeit, dass ein Standort gefährliche Stoffe in einen der folgenden vier Expositionspfade freigesetzt hat oder freisetzen könnte – Grundwassermigration, Oberflächenwassermigration, Bodenexposition und/oder Luftmigration; und (3) von der Freisetzung betroffene Personen oder empfindliche Umwelten. Dieses System wurde von der Umweltorganisation Pure Earth Institute mit Blick auf die Anwendung in Ländern des globalen Südens abgewandelt zum Blacksmith Index (Caravanos et al. 2014). Allerdings geht in die Priorisierung die Frage der Langlebigkeit leider nicht stark ein. Mehr noch, allein durch die Zuweisung einer Indexzahl wird selbst die monströseste Altlast normalisiert, denn mehr als die maximale Punktezahl kann kein noch so monströses Problem haben. Dieses Bedenken soll nicht kritisieren, dass vergleichbare Daten für eine Priorisierung nötig sind, aber die Nebenwirkungen des Unterfangens verdeutlichen. Mit der Konzentration auf das gut Messbare, auf die Toxizität einzelner Stoffe, die Pfade der Ausbreitung und die Anzahl potentiell unmittelbar gefährdeter Personen werden bei allem erkennbaren Bemühen, gesellschaftliche Ver-
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hältnisse nicht zu ignorieren, viele Fragen ausgeblendet. Darunter fällt das von den Yellowknife Dene angesprochene Problem intergenerationeller Kommunikation. Das unterirdisch lagernde Arsentrioxid bleibt giftig und krebserregend und wird für Menschen gefährlich bleiben, solange es Menschen gibt. Wie aber kann mit weit in der Zukunft lebenden Menschen zuverlässig kommuniziert werden? Dieses in der Nuklearsemiotik behandelte Problem ist weiterhin ungelöst. Allgemein lässt sich festhalten, dass Altlasten desto monströser sind, je höher ihr Potential ist, gesellschaftliche Entwicklung global negativ zu beeinflussen. Dazu zählen solche, die aufgrund ihrer Langlebigkeit und Gefährlichkeit, sei es durch ihre Giftigkeit und/oder ihre Verwendbarkeit in terroristischen Waffen, aufgrund ihrer Lage in armen, instabilen oder korrupten Ländern und aufgrund fehlender Informationen über sie, oder, wie häufig, aufgrund einer Kombination aller dieser Faktoren in verschiedenen Konstellationen, nahezu unbearbeitbar sind. Altlasten sind ein konstitutiver Teil der globalen Gesellschaft, die nicht ohne die ihr zugrundeliegende militärische Logik begriffen werden kann. Diese wiederum war eine zentrale Triebfeder der Entwicklung der Konsumgesellschaft und befördert diese bis heute. Das hat Kate Brown in ihrem Buch Plutopia zu den Plutoniumfabriken und USA und UdSSR deutlich herausgearbeitet (Brown 2013). Richland, die für die Familien der in Hanford Arbeitenden gebaute Stadt, und ihre sowjetische Parallele Osjorsk sind atomic cities. Richland sollte als Heimat von „Kernfamilien“ (nuclear families) dienen, die aus Sicherheitsgründen unverheirateten Arbeiter(inne)n vorzuziehen waren. Die amerikanische Siedlung war von General Electric, dem Betreiber von Hanford, errichtet worden, um der vergleichsweise gut bezahlten Arbeiterschaft durch günstige Mieten den Eindruck vermitteln zu können, sie hätte den sozialen Aufstieg in den Mittelstand geschafft. Ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm, vor allem aber volle Regale mit leistbaren Waren sollten für Zufriedenheit sorgen. Zufriedene Arbeiter(innen) halten einem Unternehmen die Treue, ihre Erfahrung war für die Plutoniumherstellung wichtig. So lange sie blieben, war auch das Sicherheitsrisiko für den Verrat von militärischen Geheimnissen geringer. Es kam zu massiver Segregation: Nur Weißen traute man zu, die Geheimnisse von Hanford zu bewahren. Die sowjetische Siedlung Osjorsk funktionierte erstaunlich ähnlich, sie war eine Insel von Konsum und städtischen Freizeitangeboten in einer Blase von Geheimhaltung und Lüge. In der an Konsumgütern armen Sowjetunion war Osjorsk eine Konsuminsel. Dort gab es auch sonst völlig unerreichbare Konsumgüter wie Fernsehapparate, Radios und ausländisches Schuhwerk. So wird auch erklärbar, warum Menschen nichts von der Gefahr wissen wollten, ja in beiden Städten sich sogar für einen neuen Reaktor und den Erhalt der Anlage aussprachen, als die Schließung anstand: Das Recht, zu konsumieren, wohlhabend zu werden und es
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zu bleiben, war den Menschen in der unmittelbaren Umgebung wichtiger als weitgehend unbekannte Krankheiten und Spätfolgen. Die Privilegien der dort ansässigen „Kern“-Familien, die nicht nur aus Mutter, Vater, Kind bestehen, sondern auch nuklear geprägt sind, hatten einen hohen Preis, den der körperlichen Unversehrtheit – oder, wie Kate Brown es formuliert: „Die Menschen begaben sich ihrer biologischen Rechte“ [Übers. d. A.] (Brown 2013: 338). Diejenigen, die am meisten verstrahlt wurden, wurden oft am schlechtesten überwacht und dekontaminiert und mit zusätzlichen Prämien in die Gefahr gelockt. So schuf der Kalte Krieg die Konsumgesellschaft, schuf die Familie modernen Zuschnitts, ihre räumlichen Arrangements, ihre Ziele und Sehnsüchte, ihren Fortschrittsglauben und ihre Loyalität zu Privilegien und Arbeitsplätzen. Er schuf sie zuerst in den Atomstädten, in denen die „Kern“-Familie strahlend der militärischen Sicherheitslogik und deren Menschenverachtung erlag.6 Mit diesen letzten Sätzen überschreitet das hier vorgelegte Narrativ eine unsichtbare Grenze, jene zur literarischen Ausdrucksweise. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, sind (Er-)ForscherInnen und ErzählerInnen von Umweltthemen so stark persönlich betroffen, dass sie entweder selbst in Verdrängung gehen (und sich dem Nachhaltigkeitsdiskurs hingeben) oder andere, zum Beispiel poetische Ausdrucksformen heranziehen, um eine adäquate Sprache zu finden (Winiwarter 2017a). Auf der Suche nach Formen, die der Monstrosität Ausdruck verleihen, sie gerade nicht normalisieren, sondern ihre Unbeherrschbarkeit deutlich machen, wurde ich im Nachhaltigkeitsdiskurs nicht fündig. Ich habe mit einiger Hoffnung die Spur des Nuclear Criticism verfolgt, doch dieses Forschungsfeld ist meinen Intentionen geradezu entgegengesetzt. Der Nuclear Criticisim fokussiert auf die ultimative Katastrophe, auf den Atomkrieg. Das genau erlaubt es seinen VertreterInnen, sich mit Textualität und Fiktion zu beschäftigen, denn es hat noch nie einen Atomkrieg gegeben. Ich hingegen versuche, von existierenden Monstern zu sprechen. Nuclear Criticism hat sich als ein eigenes Feld innerhalb der Literaturwissenschaften zu etablieren begonnen. Jacques Derrida gab 1984 wohl den Anstoß dazu, indem er diagnostizierte, dass er und andere VertreterInnen der Geisteswissenschaften durch mehrfache Inkompetenz gekennzeichnet seien. Er nennt sie „technologisch-naturwissenschaftliche-militärisch-diplomatische“ Inkompetenz und zeigt damit, wie umfassend unbearbeitbar die nukleare Apokalypse ist, geht aber dann dazu über, ihre Textualität zu betonen. Über die nukleare Apokalypse lasse sich nur schreiben oder sprechen, denn sie habe bislang nicht statt|| 6 Zuerst formuliert in einer Rezension für GAIA (Winiwarter 2017b).
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gefunden, sie sei ein Nicht-Ereignis. Die furchterregende Realität eines nuklearen Krieges war 1984 gewärtig, was Derrida durchaus eingesteht (Derrida et al. 1984). Er geht soweit, „die massive ‚Realität‘ der Atomwaffen und der furchterregenden Kräfte der Zerstörung, die überall gestapelt und kapitalisiert werden,“ als „das Movens der Kapitalisierung“ zu betrachten und auf die Differenz zwischen dieser Realität und der Fiktion eines Atomkrieges hinzuweisen. Im nächsten Schritt macht er darauf aufmerksam, dass die „Realität“ des Atomzeitalters und die Fiktion des Atomkrieges zwar verschieden seien, aber keine voneinander getrennten Dinge darstellen: Es ist, so Derrida, der Krieg (wie er formuliert, „die Fabel“), der diesen fabulösen Aufwand der Kriegsvorbereitung in Gang setzt, diese unsinnige Kapitalisierung von ausgefeilter Bewaffnung, das schnelle Rennen um die Schnelligkeit, diese Verrücktheit, die, durch die Techno-Wissenschaft, durch all den techno-wissenschaftlichen Einfallsreichtum, den er motiviert, nicht nur das Heer, sondern auch Diplomatie, Politik, die ganze menschliche Gesellschaft heute strukturiert, alles das, was in der Kultur und Zivilisation der Alten Welt Bildung hieß, schole, paideia. Die Realität des nuklearen Zeitalters, so Derrida, wird durch die Fabel des Krieges konstruiert, durch ein Ereignis, das nie stattgefunden hat, außer in der Phantasie (Derrida et al. 1984: 23). Soweit Derrida, den ich möglichst wortwörtlich wiedergegeben habe. In der Ko-Kreation von Militär und Ökonomie, Krieg und Zivilisation, die ja schon Eisenhower angesprochen hatte, folge ich ihm gerne. Doch Derrida spricht nicht über die Art des Sprechens über die Realität, er thematisiert nicht die Frage, wie und ob ein Sprechen über diesen Wahnsinn möglich wäre und er weiß nichts von monströsen Altlasten, die keinen Krieg brauchen, um ihr Zerstörungswerk zu vollbringen. Ausgehend von Derrida haben AutorInnen wie Ruthven (1993), Cordle (2006) oder Schell (2007) das Feld weiterentwickelt, doch bleibt es weiterhin auf literaturwissenschaftliche Analyse von textlichen, insbesondere literarischen Zeugnissen beschränkt (Lütticken 2015). Die Literatur selbst aber setzt sich durchaus mit der Materialität der Monster auseinander. Die Sprache für die Monstrosität des Nuklearen hat sich bislang eher an Katastrophen orientiert als an den nuklearen Altlasten – zumindest eine davon, die Wismut AG in der damaligen DDR, war als Geheimsache nicht zugänglich und daher auch nicht sprachlich umsetzbar. Hingegen hat die DDR-Autorin Christa Wolf in „Störfall“ (Wolf 1987), einem kurz nach dem GaU von Tschernobyl geschriebenen, autobiographischen, aber deklariert literarischen Essay, an mehreren Stellen meisterhaft gezeigt, wie über das Monströse eines zivilen Reaktorunfalls gesprochen werden kann. Ich zitiere einige Passagen, die besonders eindrücklich zeigen, wie die Konfrontation mit dem Monströsen sprachliche Fassung finden kann.
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Dabei habe ich mich gefragt, ob ich nicht seit langem schon diejenigen Bilder, die mir auftauchten, greller und gegen mich selbst rücksichtsloser hätte beschreiben müssen, aber ich habe zugleich gewußt, daß dies nicht die Frage war, und obwohl ich gespürt habe, daß alles, was in mir vorging, unscharf blieb, ungenügend in jedem Sinn, habe ich wieder einmal bewundern können, wie schlafwandlerisch sicher alles ineinander greift: der meisten Menschen Lust auf ein bequemes Leben, der meisten Neigung, den Rednern hinter den erhöhten Pulten und den Rednern im weißen Kittel zu glauben, jedermanns Übereinstimmungssucht und Widerspruchsangst scheinen dem Machthunger und der Arroganz, der Gewinnsucht, der skrupellosen Neugier und der Selbstverliebtheit der wenigen zu entsprechen. (Wolf 1987: 24–25)
Nach einem Telefonat mit einer Freundin reflektiert die Ich-Erzählerin ihre eigene literarische Produktion, fragt nach einem Schreiben nach dem GaU: Sie, oder ich, oder wir beide hatten uns verändert, und ich habe an gewisse Dokumente denken müssen, auf denen erst unter einer chemischen Behandlung, die wahre, die geheime Schrift hervortritt, während der ursprüngliche, absichtlich belanglose Text sich als Vorwand entpuppt. Unter der Bestrahlung habe ich die Schrift verblassen, womöglich schwinden sehen, und ob einst ein dauerhafter Untertext zwischen den Zeilen hervortreten würde, ist noch ungewiß gewesen. Ich habe eine neue Erfahrung mit einer bösen Art von Freiheit gemacht. (Wolf 1987: 31–32)
Die Freiheit, von der Wolf spricht, ist jene von selbstauferlegten Pflichten wie dem täglichen Schreiben. Christa Wolf lässt sodann einen jungen Mann auftreten, der als Leser von Astronomie, Zukunftsforschung und utopischen Romanen charakterisiert wird. Diese Sentenz bringt die Grundlage der Verdrängung auf den Punkt, die auch Grundlage für den Erfolg des reformorientiert-imaginativen Diskurs der „Nachhaltigkeit“ ist: Ihm kann keiner erzählen, daß die Menschheit erschaffen und verurteilt wurde, all die Mühen der Entwicklung auf sich zu nehmen, all das zu ertragen, was sie ertragen mußte, um sich am Ende selbst zu vernichten. Das kann mir keiner erzählen, hat er gesagt. Das soll glauben, wer keine Kinder hat. Ich habe drei Kinder. Ich glaube das nicht. (Wolf 1987: 45– 46)
Ein Telefongespräch mit einer Freundin bietet wenig später der Ich-Erzählerin Gelegenheit, über den Glauben an die Machbarkeit zu reflektieren und über die Rolle, die alle Menschen, auch die LiteratInnen, dabei spielen: Nun, hat sie gesagt, können sie doch aber nicht mehr behaupten, daß sie jedes Ding und jedes Problem in den Griff kriegen. Also mag auch dies sein Gutes haben, wie? Da wir uns doch sowieso angewöhnt haben, verkehrtherum zu denken? – Ich habe gesagt, da würde ich nicht so sicher sein. Aus irgendwelchen Gründen stehe der Glaube, daß es für alles und jedes eine technische Lösung gibt, immer wieder auf. – Ja, hat sie erwidert. Ob ich übrigens auch an mir beobachte, daß irgendetwas in mir geil sei auf diese bösen Nachrichten jede
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Stunde? Eine finstere Schadenfreude, gegen uns selbst gerichtet? – Leider verstünde ich das, habe ich gesagt. – Na sieh mal, hat sie gesagt. Da wären wir schon zwei. Also sollten wir die ganze Angelegenheit vielleicht unter dem Gesichtspunkt unserer Mitschuld untersuchen. – Ein bißchen viel verlangt, habe ich gesagt. – Mitverantwortung, hat sie vorgeschlagen. – Du sagst es, habe ich erwidert. (Wolf 1987: 67–68)
Störfall erschien kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl. Wolf erzählt in der Chronik eines einzigen Tages parallel und miteinander verschränkt die Folgen des GaU und die Gehirnoperation ihres Bruders. Sie wartet auf Nachrichten aus dem Krankenhaus, während die Medienberichte über Tschernobyl in der Filterung der Medien ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Mit dieser Parallelführung gelingt es ihr, nicht einfach simple Technikkritik zu schreiben, sondern ein Narrativ vorzulegen, das die Technisierung von Gesellschaft sowohl als Segen als auch als Fluch beleuchtet. Die erinnerten Dialoge mit dem 1932 geborenen Bruder Horst, der als Physiker eingeführt wird, markieren entscheidende Stellen der Erzählung. Die Kulmination wird in einer Engführung mit dem Grimm’schen Märchen von Brüderchen und Schwesterchen erreicht. Das innere Zwiegespräch mit dem eben operierten Bruder Horst beginnt nach einer Sequenz, in der die Autorin bei einem Spaziergang Zeichen von Waldkrankheiten sucht, in den Tagen nach dem GaU eine verständliche Suche. Daß wir nur die Wahl haben sollen, mit der Radioaktivität oder mit dem Waldsterben zu leben, hat mich, als wir einmal darüber sprachen, zu übersteigerten, wie Du fandest: zu überspitzten Äußerungen verführt. Äußerungen über die falschen Alternativen, zwischen die wir gestellt sind. Dann – habe ich dich reden hören –, dann müsse ich auch bereit sein, meine Ansprüche an Komfort zurückzunehmen. Was macht mein Kind / was macht mein Reh / nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr. Ist es denn wahr: haben uns unsere eigenen Wünsche an diesen Punkt gebracht? Hat unser übergroßer unbeschäftigter Gehirnteil sich in eine manisch-destruktive Hyperaktivität geflüchtet und, schneller und schneller, schließlich – heute – in rasender Geschwindigkeit immer neue Phantasien herausgeschleudert, die wir, unfähig, uns zu bremsen, in Wunschziele umgewandelt und unserer Maschinenwelt als Produktionsaufgaben übertragen haben? (Wolf 1987: 87)
An diese Sequenz schließt eine fast drei Seiten lange Kindheitserinnerung an, die Autorin und ihr Bruder spielten das Märchen nach, was detailliert beschrieben wird. Die Erinnerung endet mit der geradezu beschwörenden Formel: „Brüderchen und Schwesterchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende“ (Wolf 1987: 90). Die Passage gemahnt an Günter Anders, der mit der Phrase des „prometheischen Gefälles“ die Diskrepanz zwischen „machen-können“ und „sichder-Verantwortung-stellen können“ schon in den 1950er Jahren benannte (Anders 1956). Zudem ist in der oben zitierten Passage über die Geilheit auf böse Nachrichten die Mediatisierung von Katastrophen und deren Folgen, die Anders
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auch beschäftigte, angesprochen. Christa Wolf beschreibt die Aporien, die Fluchtrichtungen der Gedanken, die Mitverantwortung der KonsumentInnen, Störfall ist damit unverzichtbarer Baustein auf dem Weg, über das Monströse sprechen zu können. Doch die Materialität des Monsters bleibt durch die literarische Form der Erzählung eines einzigen Tages unmittelbar nach dem GaU, als noch keine Informationen vorliegen, ausgespart. Michele Stenehjem Gerber, die 1992 eine seitdem mehrfach wieder aufgelegte Geschichte Hanfords publizierte, ist im Gegensatz zu Christa Wolf Autorin einer wissenschaftlichen Studie (Stenehjem Gerber 2006). Ich versuche, den Spuren der nicht beschreibbaren Monstrosität im 2006 verfassten Nachwort zur dritten Auflage ihres Buches nachzugehen, wobei ich mich auf zwei Stellen beschränke. Es geht mir vor allem darum, zu zeigen, dass die normale wissenschaftliche Sprache nicht ausreicht, um Hanford zu fassen. Die Autorin zitiert zunächst einen Bericht des National Research Council aus dem Jahr 2000, in dem Hanford und 26 weitere problematische Altlasten untersucht wurden. Radiological and non-radiological hazardous wastes will remain, posing risks to humans and the environment for tens or even hundreds of thousands of years. Complete elimination of unacceptable risks to humans and the environment will not be achieved, now, or in the foreseeable future. (Stenehjem Gerber 2006: 221)
Diese dürren Sätze sind atemberaubend: Hier steht ja nichts anderes als das Eingeständnis, formuliert von einem Gremium der Nationalen Forschungsgemeinschaft, dass die Menschheit mit dem militärisch-industriellen Komplex ein durch sie nicht kontrollierbares Monster geschaffen hat. „Die vollständige Beseitigung unannehmbarer Risiken für Mensch und Umwelt wird jetzt und in absehbarer Zeit nicht erreicht werden.“ Das unannehmbare Risiko, das nicht vollständig beseitigt werden kann, ist eine monströse Tatsache. Stenehjem Gerber hat das Zitat als gute Historikerin ausgewählt, weil es pointiert auf das Problem hinweist, um das es ihr geht. Sie arbeitet sich daran ab, wenn sie schreibt: Yet, real human beings, with no choice but to live their lives, must do something with Hanford. They must find practical ways to isolate, contain, repackage, reposition, and keep track of the enormous load (nearly 500 million curies worth) of nuclear wastes and SNM [special nuclear materials, V.W.] at the site today. […] Americans working at, studying, funding or visiting the rugged old Cold War arsenal site struggle to make sense of their history. At this place of dumbfounding contrasts, most of the real threats are silent and invisible, and the only sounds heard for hundreds of square miles are bird songs, the rustle of dry desert grasses and the whooshing sound of a huge and rapid river. Yet the immediacy of history, the demand to participate and to be heard, the fears and hopes expressed, and the constant press of those coming to hear the Hanford story create a cacophony of voices and visitors in this remote place. A silent war at a silent place? Hanford is isolated and de-
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ceptively quiet, but even in the new century it has lessons to teach about who we are as Americans, how we exercise power, how we respond to the limitations of our power, who we want to be, and how we want the world to know us. (Stenehjem Gerber 2006: 221)
Eine Arbeitsübersetzung dieses Texts hilft, zu erkennen, wie die Monster sich einer Beschreibung entziehen: Und doch müssen echte Menschen, die keine andere Wahl haben, als ihr Leben zu leben, etwas mit Hanford unternehmen. Sie müssen praktische Wege finden, um die enorme Menge (fast 500 Millionen Curie) an Atommüll und SNM (speziellen Kernmaterialien) am heutigen Standort zu isolieren, einzudämmen, umzuverpacken, neu zu lagern und im Auge zu behalten. Amerikaner, die an dem rauen alten Standort des Kalten Krieges arbeiten, studieren, ihn finanzieren oder besuchen, kämpfen darum, ihre Geschichte zu verstehen. An diesem Ort der verblüffenden Kontraste sind die meisten der wirklichen Bedrohungen still und unsichtbar, und die einzigen Geräusche, die über Hunderte von Quadratkilometern zu hören sind, sind Vogelstimmen, das Rascheln von trockenen Wüstengräsern und das Rauschen eines großen, schnellen Flusses. Doch die Unmittelbarkeit der Geschichte, die Forderung, teilzuhaben und gehört zu werden, die Ängste und Hoffnungen, die geäußert werden, und der ständige Druck derjenigen, die die Hanford-Geschichte hören wollen, erzeugen an diesem abgelegenen Ort eine Kakophonie von Stimmen und Besuchern. Ein stiller Krieg an einem stillen Ort? Hanford ist isoliert und trügerisch ruhig, aber auch im neuen Jahrhundert hat es Lektionen zu vermitteln, wer wir als Amerikaner sind, wie wir Macht ausüben, wie wir auf die Grenzen unserer Macht reagieren, wer wir sein wollen und wie wir wollen, dass die Welt uns kennt. [Übers. d. A.] (Stenehjem Gerber 2006: 221)
Stenehjem Gerber erkennt und formuliert existenzielle Fragen, die mit dem Monster Hanford verbunden sind: Wie reagieren wir an den Grenzen unserer Macht, wie verstehen wir unsere Geschichte und wie gehen wir praktisch mit den Monstern um? Das Nachwort geht auf technische Verfahren ein, entsprechend technisch durchsetzt ist die Sprache. Die verschiedenen Reaktoren und Anlagenteile haben Namen und Abkürzungen, so auch „U-Plant“, von der in der Folge die Rede ist. Doch gibt die Sprache auch Zeugnis von der Unfassbarkeit des Geschehens. Die Autorin beschreibt den Prozess der Altlastensanierung: Then all internal spaces, vessels, cells and other void space areas in the plant will be filled with grout, the facility’s roof and top wall sections will be removed and an engineered barrier will be constructed over the remnants of the building. The barrier’s ability to wick away moisture will be enhanced by planting specially chosen vegetation over it. The finished barrier will still mound up nearly fifty feet, standing as far into the future as can be foreseen as testimony to the frenzied activities that took place in this desert in the mid-twentieth century. (Stenehjem Gerber 2006: 235) Dann werden alle Innenräume, Behälter, Zellen und andere Hohlräume in der Anlage mit Mörtel gefüllt, das Dach und die oberen Wandabschnitte der Anlage entfernt und eine technische Barriere über den Überresten des Gebäudes errichtet. Die Fähigkeit der Barriere,
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Feuchtigkeit abzuleiten, wird durch die Bepflanzung mit speziell ausgewählter Vegetation verbessert. Die fertige Barriere wird immer noch fast fünfzig Fuß hochragen und ragt so weit in die Zukunft, wie vorhergesehen werden kann, als Zeugnis für die hektischen Aktivitäten, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in dieser Wüste stattfanden. [Übers. d. A.] (Stenehjem Gerber 2006: 235)
U-Plant ist sprachlich gefasst als ein Zeugnis, das so weit in die Zukunft ragt, wie vorhergesehen werden kann. Diese Wendung ist ein Versuch, mit dem Monströsen sprachlich umzugehen, ein Versuch einer Bricolage aus technischen Details und reflexiven Einsichten, nicht Nuclear Criticism, sondern Nuclear Testimony, ein Zeugnis für die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, das reformistisch-imaginative Narrativ einer nachhaltigen Zukunft um das Eingeständnis der Monstrosität anzureichern. (vgl. Voices of Manhattan Project 2018)7 Und doch, so will ich zum Schluss kommen, berührt diese Sprache immer noch nicht ausreichend. Und doch, so wage ich zu behaupten, leistet Christa Wolf Pionierarbeit, wenn sie ihre literarische Fähigkeit am GaU schärft und das Unsagbare, das Monströse, das Ungeheuerliche, die Monster, die Heerscharen von Frankensteins in die Welt gesetzt haben, in Worte bringt, die nicht verschleiern, worum es sich handelt. Einen der Monstrosität angemessenen Umgang mit Hanford hat eine Dichterin gefunden. Kathleen Flennikens zweiter Gedichtband, Plume, wurde 2012 von der University of Washington Press veröffentlicht. Er gewann in Folge den Washington State Book Award und war Finalist der Pacific Northwest Book Awards und des William Carlos Williams Award for the Poetry Society of America. Kathleen Flenniken wuchs auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in Richland, WA, der Siedlung neben Hanford, in der die Mitarbeiter lebten, auf und arbeitete drei Jahre lang selbst als Ingenieurin in Hanford. Flennikens Vater war in der Anlage beschäftigt, ebenso wie der ihrer Jugendfreundin Carolyn, der Ende der 1980er Jahre an strahlenbedingten Krankheiten starb. Die zu dieser Zeit zum ersten Mal öffentlich verfügbaren Archivmaterialien zu Hanford machten klar, dass die Zusicherung an die Arbeiter und ihre Familien, dass sie sicher waren und immer sicher gewesen waren, Täuschung und Lüge war. Jahrzehntelange Waffenproduktion um jeden Preis hatte Menschen und die Umgebung kontaminiert. Flenniken begann daraufhin, sich poetisch dem Schrecken anzunähern und beobachtete dabei auch ihren eigenen Widerstand gegen die Fakten. Ich habe einige der Gedichte aus dem Band übersetzt und sie der Dichterin vorgelegt, die meine Übersetzungen für gut befunden hat. Ich halte es für nötig, || 7 Interview mit Michele Stenehjem Gerber, https://www.manhattanprojectvoices.org/oral-histories/michele-gerbers-interview-2018 (letzter Zugriff 25.02.2021).
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sie in der Muttersprache zu lesen, um die Monster zu erfühlen, braucht es die Unmittelbarkeit der Muttersprache. Die Arbeit an den Übersetzungen hat mir die Gedichte zudem in einer Intensität nahegebracht, die ich für die Arbeit daran als nützlich erachte. Wie Michele Stenehjem Gerbers Versuch zeigt, verstummt selbst die Umweltgeschichte angesichts der Monstrosität der nuklearen Altlasten. Flennikens Gedichte sind keine Umweltgeschichte mehr, sie gehen einen anderen Weg. Sie sind für mich kein Ersatz, sondern ein notwendiger Teil des Begreiflichmachens der Monstrosität, ein gelungener Versuch, in Plutopia – auf dem Planeten des Plutoniums8 – zu sprechen, ohne zu verniedlichen, die nötige nukleare Kritik am Nachhaltigkeitsdiskurs.
Kathleen Flenniken (2012) (offizielle Übersetzungen der Gedichte Strahlung! (Radiation) und Schadstoff (Plume), Winiwarter 2019)
Strahlung! unsichtbar, geschmacklos und geruchlos aber auf bestimmten Zungen klingt sie wie tiefes Misstrauen gegen Gleichungen und Labormäntel wie Panik, zum Naschen verpackt wie das Mädchen in Godzilla-Filmen das nicht gleichzeitig schreien und flüchten kann und sich für schreien entscheidet.
|| 8 Derzeit gibt es auf der Erde über 2.000 Tonnen Plutonium, ca. 11 kg sind die kritische Masse für eine nukleare Kettenreaktion.
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Schadstoff Er kann lange Jahre in der Matrix aus Schluff und Sand eingeschlossen sein wie ein fotografisches Bild, ruhig und unbewegt absorbiert und adsorbiert; dann das Entstehen eines Gradienten zu ungesättigten Böden Versickerung und er erwacht breitet sich aus wie ein Wedel ein Teppich, der sich ausrollt, von allein entfernt untergründig diese wunderschöne Bewegung aufgefächert zwischen den Poren federnd von Leere zu Leere beschreibt die dunkle Erde die Schichtung von durchlässigen und undurchlässigen Böden;
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dieser Fehler ist nicht mehr in unserer Hand dieses Gift dieser 50 Jahre alte Fehler ja er bewegt sich hin zum Fluss, ja er wandert zwischen Körnchen nach unten in gesättigtes Sediment offenkundig abwärts und wenn es soweit er kann herabgekommen ist wird er schwimmen Tröpfchen reitend wie Schwanenboote treiben sich verbreitend sich blähend diffundierend seinen filigranen Paisleyschal nachschleifend und wie alles, was ein Schicksal hat, ein Schwarm Vögel, Sperma, Atem wird er sich bewegen stromab bis zum Fluss ja der Fluss wird ihn aufnehmen
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Hildegard Haberl, Eric Leroy du Cardonnoy & Axel Goodbody
Nach der Katastrophe leben lernen Adolf Muschgs Heimkehr nach Fukushima als literarische Suche nach einer Sprache der ökologischen Nachhaltigkeit Zusammenfassung: In diesem Artikel wird der Roman Heimkehr nach Fukushima (2018a) des Schweizer Autors Adolf Muschg als literarischer Beitrag zum Diskurs um ökologische Nachhaltigkeit untersucht. Dabei werden formale Aspekte des Textes neben inhaltlichen berücksichtigt. Im ersten Teil wird der Inhalt des Romans vorgestellt, der, ausgehend von der Katastrophe des nuklearen Reaktorunfalls in Fukushima, die Möglichkeiten der Idylle als tödliche Gefahren bergende, aber trotzdem Hoffnung für die Zukunft bietende literarische Landschaft auslotet. In einem zweiten Teil wird die intertextuelle Rolle Adalbert Stifters im Text näher beleuchtet, wobei hier vor allem auf das Mensch-Natur-Verhältnis eingegangen wird. Der dritte Teil untersucht schließlich mit Hilfe der Theorien von Ulrich Beck (Risikogesellschaft, 1986), Frederic Buell (dwelling in crisis, 2003) und Hubert Zapf (literarische Nachhaltigkeit, 2019) den Zusammenhang von Literatur und ökologischer Nachhaltigkeit am Beispiel des Romantextes. Schlüsselwörter: Katastrophe, Idylle, Adolf Muschg, Adalbert Stifter, Nachhaltigkeit
1 Von der Katastrophe zur Idylle zurück Und die Provokation in Fukushima ist, dass es aussieht wie eine Landschaft, die Stifter gemalt haben könnte – er ist ja auch ein Maler gewesen –, eine reine Idylle. Und in dieser Idylle sitzt der Tod. (Adolf Muschg in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur aus dem Jahr 2018 [Muschg 2018b])
Adolf Muschg zählt zu den Schriftsteller*innen, die sich sehr früh für ökologische Fragen und das Thema der Nachhaltigkeit interessiert haben. Bereits im Jahr 1986
|| Hildegard Haberl, Université Caen Normandie, Département dʼEtudes Germaniques, Esplanade de la Paix, 14032 Caen cedex 05, France, hildegard.haberl[at]unicaen.fr Eric Leroy du Cardonnoy, Université Caen Normandie, Département dʼEtudes Germaniques, Esplanade de la Paix, 14032 Caen cedex 05, France, eric.leroyducardonnoy[at]unicaen.fr Axel Goodbody, University of Bath, United Kingdom, mlsahg[at]bath.ac.uk https://doi.org/10.1515/9783110740479-003
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– im Jahr der Atomkatastrophe von Tschernobyl – veröffentlichte er eine Textsammlung, der er den Untertitel Auf der Suche nach dem Grünen bei Goethe gibt und dort in der Einleitung betont, dass Goethe für ihn deshalb so wichtig sei, weil dieser „die Bedingungen unserer Existenz in der ‚Natur‘ suchte, in der Verbindung mit ihr fand; daß er unser Fortbestehen als Kultur abhängig macht von einem hinreichenden Kontakt mit allem Mitgeschaffenen“ [H. i. O.] (Muschg 1986: 11). Sein jüngster Roman, der im Jahr 2018 bei Beck erschienen ist, trägt nun den Titel Heimkehr nach Fukushima. Dieser Titel spielt mit der Spannung zwischen einem Zurück in etwas Vertrautes, Bekanntes, Intaktes und dem Ort der Katastrophe und der Zerstörung nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011. Das im Titel inszenierte Oxymoron wird noch gesteigert, wenn man weiß, dass Fukushima auf Deutsch „Glücksinsel“ bedeutet. Der Roman behandelt ein altes Thema der Weltliteratur, bereichert um eine desaströse moderne Komponente. Es geht um Liebe in Zeiten einer Katastrophe, genauer um eine Liebe in Zeiten und vor allem am Ort der atomaren Umweltverseuchung. Muschgs Text ist ein literarisches Zeugnis für das Erscheinen des Menschen im Anthropozän, ein Versuch, die „verstörte Landschaft“ (Muschg 2018a: 173) nach der Katastrophe zum Thema zu machen. Der vorliegende Beitrag wird in einem ersten Teil den Inhalt des Romans vorstellen, der ausgehend von der Katastrophe die Möglichkeiten der Idylle auslotet. In einem zweiten Teil wird die intertextuelle Rolle Adalbert Stifters im Text näher beleuchtet, wobei hier vor allem auf das Mensch-Natur-Verhältnis eingegangen wird. Der dritte Teil untersucht schließlich mit Hilfe der Theorien von Ulrich Beck (Risikogesellschaft, 1986), Frederic Buell (dwelling in crisis, 2003) und Hubert Zapf (literarische Nachhaltigkeit, 2019) den Zusammenhang von Literatur und Nachhaltigkeit am Beispiel des Romantextes. Adolf Muschg kennt Japan sehr gut. Er war bereits als junger Mann von 1962 bis 1964 Lektor für Deutsch an der International Christian University in Tokio. Im autobiographischen Text Hansi, Ume und ich. Ein Lesestück für ein japanisches Schulbuch erklärt er, dass das gleichnamige Märchenbuch seiner Halbschwester Elsa Muschg über eine Reise in den fernen Osten zur Utopie für ihn wurde: Gerade darum muß sich ‚Japan‘ in meiner Phantasie mit ‚Heimkehren‘ verbunden haben. Der kleine Leser fand in der niedlichen Welt aus Papierwänden, Lackschalen und geheimnisvollen Puppen ein Wunschbild zur Stillung seines eigenen Heimwehs – ein Gefühl das Kinder, die zu Hause gut aufgehoben sind, nicht kennenlernen. (zit. n. Dierks 1989: 269)
Das Land und die Kultur sind seit seinem ersten sehr erfolgreichen Roman Im Sommer des Hasen (1965) eine wichtige Inspirationsquelle für sein Schreiben (vgl. Gellner 2010). Er hat viele Reisen in dieses Land unternommen und lebt mittler-
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weile in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto zusammen. Wie er in einem Interview erklärt, ist er auch im Jahr 2011 nach dem Reaktorunfall nach Japan aufgebrochen, und er selbst hat, wie die Hauptfigur seines Romans, die fast skurrile Einladung eines Bürgermeisters erhalten, im Sperrgebiet der Katastrophe eine Künstlerkolonie einzurichten, um damit für die Rückkehr der Menschen in ihre Heimat zu werben, die wieder besiedelt werden sollte, nachdem die kontaminierte Erde abgetragen worden war (vgl. Greiner 2018). Im Roman wird die Notwendigkeit der Rückkehr aus den Notlagern in das verlassene Heimatdorf auch typographisch hervorgehoben: […] Sie sagte: Seizō-sama lädt Sie ein, morgen eine Notunterkunft zu besuchen und mit den Menschen dort zu sprechen. Sie leben sehr eingeschränkt, und da die alten Nachbarschaften zerrissen sind, kennen sie nicht einmal die Leute, mit denen sie Wand an Wand leben. Sie haben auch keine menschenwürdige Beschäftigung mehr. Einheimische meiden die Notlager, sie halten die Verstrahlung, der die Opfer ausgesetzt waren, für ansteckend. Darum haben die Männer zu trinken begonnen, und viele nehmen Drogen. An Geld fehlt es einstweilen nicht, die Regierung zahlt jedem Evakuierten 100 000 Yen im Monat, plus Kindergeld, das ist mehr, als die meisten früher verdient haben. Diese Hilfe wird gestrichen, wenn sie nicht im nächsten Jahr zurückkehren, aber die Mehrzahl weigert sich, und Herrn Iries Kollegen bestärken sie noch darin. Dabei leiden sie an ihrem Leben, sie haben Heimweh – […] ZURÜCKKOMMEN! dröhnte der Bürgermeister. Er möchte, daß sein Dorf das erste ist, das Pionierdorf einer andern Welt, wenn nicht das schönste Dorf Japans, so doch das mutigste. Keinem Gewinn zuliebe, sondern aus Selbstachtung, aus Sorge um die Zukunft des Menschen. Wie wir handeln, wird ein Vorbild dafür sein, wie alle Menschen handeln müssen. Und sie können es auch, sie brauchen nur ein wenig Zuspruch dabei. Die wahre Katastrophe ist nicht die nukleare, es ist die soziale. Sie zerstört den Kern des Menschen. [H. i. O.] (Muschg 2018a: 92–93)
Die Hauptfigur des Romans, Paul Neuhaus, ein zweiundsechzigjähriger Architekt und Schriftsteller, lebt in einer brüchigen Beziehung mit der Architektin Suzanne. In jüngeren Jahren hat er ein Werk mit dem Titel Hier und Jetzt verfasst, das auch in Japan rezipiert wurde, lebt aber jetzt – etwas taten- und inspirationslos – vor sich hin, bis er von einem befreundeten japanischen Ehepaar Ken-Ichi und Mitsuko einen Brief erhält, in dem sie Suzanne und ihn einladen, in die Gegend nahe beim Unglücksmeiler von Fukushima zu kommen, die wieder besiedelt werden soll. Paul stimmt zu und macht sich allein im Frühling zur Zeit der Kirschblüte auf die Reise nach Fukushima mit Adalbert Stifters Erzählungen im Gepäck, die immer wieder zitiert werden:
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[…] und nahm Stifters Erzählungen in die Hand; sie waren an der Stelle offengeblieben, die er zuletzt angestrichen hatte. Aber eigentlich mag es kein Fatum geben, sondern eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls und sendet ihren Schimmer in die Herzen – die Kette der Ursachen und Wirkungen – und in das Haupt des Menschen wurde die schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft, das Auge der Seele, die Kette daran anzuknüpfen und an ihr Blume um Blume, Glied um Glied hinabzuzählen bis zuletzt zu jener Hand, in der das Ende ruht. Paul Neuhaus schloß die Augen. (Muschg 2018a: 28)
Gemeinsam mit Mitsuko besucht er die kontaminierte Zone. Zwischen den beiden entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesgeschichte. Sie sind das im Text so bezeichnete „Menschenpaar“, das im verseuchten Paradies den „Sündenfall“ begeht und ein Kind zeugen wird. Eine Art Wahlverwandtschaft besteht zwischen diesen beiden Geschöpfen. Beide sind Halbwaisen, haben also auch familiäre Katastrophen erlebt. Die Katastrophe ist im Roman nicht nur eine technisch-naturwissenschaftliche, sondern – etwas versteckter – auch eine zwischenmenschliche. In jedem Fall stößt die Katastrophe etwas an – eine Art Kettenreaktion des Schicksals, das die Familiengeschichte, die Genealogie beeinflussen wird. Paul verliert seine Mutter mit fünf Jahren bei einem Fahrradunfall. Mitsukos Mutter, die aus einer altehrwürdigen japanischen Familie stammt, ging eine Beziehung mit einem Künstler ein, woraufhin sie von der Familie verstoßen wurde. Dieser Künstler und Vater Mitsukos wird zum Trinker und verlässt die Familie. Um das verlassene Kind und die Mutter kümmert sich in der Folge ein bereits verheirateter Mann. Die Mutter wird eines Tages von einem Zug überfahren. Es ist nicht ganz klar, ob es sich um einen Unfall oder Selbstmord handelt. Mitsukos Vormund ist nun der ehemalige Vorgesetzte und Geliebte der Mutter, der die Pflegetochter finanziell gut versorgt und sich um ihre Ausbildung kümmert, sie aber auch sexuell missbraucht. Ihren späteren Mann Ken lernt Mitsuko an der Universität kennen. Dieser muss seine Tätigkeit als Philosophie-Dozent wegen Gerüchten um seine mögliche Homosexualität abbrechen. Er wird schwer krank und depressiv. Sein Vater ist nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima sehr früh an Leukämie gestorben und hat diese Krankheit an seine Kinder vererbt. Auch hier haben wir wieder eine Art Parallelität zwischen Familien- und Nationengeschichte: So wie sich Hiroshima/Nagasaki in gewissem Sinn in Fukushima wiederholt, wird auch die Krankheit weitergegeben. Die zynisch-kritische Stimme Kens kann man an der folgenden Textstelle ablesen, in der er die Atompolitik Japans kommentiert.
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[…] Die Frist bis zu den Olympischen Spielen 2020 wird zum Saubermachen etwas knapp, wenn man an die Halbwertszeiten von Trivium, Strontium, Cäsium und Konsorten denkt, aber unsere Regierung erklärt: wir schaffen das! Und zehn Kilometer von unserem Großen Werk entfernt sei die Strahlung heute schon fast gesund. Oder zweifelst du, daß unsere Tüchtigkeit aus dem Ende eines Atomwerks gleich die nächste Zukunftsindustrie entwickelt? Dai-Ichi ist ein Laboratorium, eine Versuchsstation für Techniken, die wir ohnehin brauchen, aber jetzt ganz schnell. Zum Beispiel Roboter, die vor keiner Strahlung schlappmachen. Jetzt müssen sie die Masse geschmolzenen Urans nur noch finden, damit wir sie entsorgen können – bis dahin werden wir auch wissen, wohin. Wozu haben die Russen so viel Platz? Da bietet sich doch ein Deal an. Vielleicht läßt sich die Strahlung auch zum Heizen verwenden, dafür hat die Hölle immer Bedarf, und warum soll uns der Teufel keinen guten Preis machen? Seit Hiroshima und Nagasaki sind wir doch im Geschäft und haben unsere Meiler nicht umsonst mit buddhistischer Weisheit dekoriert. Prinzipiell ist Energie aus der Kernspaltung immer noch die günstigste, der Mensch muß ihr nur sein Fassungsvermögen anpassen, vielleicht für eine Mutation sorgen, die damit umgehen kann. Aber brauchen wir noch einen Organismus, wenn es Computer besser können? Wenn sie für ihre Reproduktion noch irgendwelche Gefühle brauchen: die wird man ihnen einprogrammieren. Und warum soll der Bot die Kettenreaktion fürchten, wenn er sich von ihr ernähren kann? Dann hätten wir endlich das Perpetuum mobile geschaffen – danach spielt die Zeit keine Rolle mehr, denn jeder Tag ist der jüngste. [H. i. O.] (Muschg 2018a: 52–53)
Paul und Mitsuko fahren also mit Schutzanzügen und Geigerzählern ausgestattet in die Zone und in das Dorf Yoneuchi. Sie besuchen das Haus der Kindheit Mitsukos, in dem jetzt Wildschweine ihr Unwesen treiben. Die beiden Reisenden begegnen auch einer Frau, die den letzten Wunsch ihres verstorbenen Mannes erfüllt und das Feld von Unkraut befreit, obwohl der Reis weder geerntet noch verzehrt werden darf. Sie begegnen weiters einem Mann, der die zurückgelassenen Rinder mit Wasser und Futter versorgt, obwohl sie zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Und sie sehen Landschaften von Millionen schwarzer Müllsäcke mit abgetragener Erde, die den Versuch darstellen, „zwei verschmolzene Realitäten“ zu trennen, „die unsichtbar tödliche und die sichtbar schöne“: Inzwischen sehen die Sackkolonien, größer als die Dörfer, schon wie schwarze Plantagen aus, simulieren bestellte Felder, erinnern an die vorbildliche Landwirtschaft Fukushimas, auch wenn sie den Boden dafür eingesackt haben. Und wenn auch hier nichts mehr wachsen sollte, und wenn es doch wächst, von niemandem gekauft und genossen wird: geschürft kann hier noch lange werden, insofern auch produziert, auch wenn es nur weitere Plastiksäcke sind. Wir stehen vor einem japanischen Kunstwerk der Verzweiflung, einem flächendeckenden Tagebau des reinigenden Wahns. Aber auch was nicht, was nie wieder gesäubert werden kann, Busch und Wald, Baum und Gras, Berg und Tal: alles blüht und gedeiht, wuchert und wildert in diesem Silent
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Spring, je naturbelassener, desto üppiger. Fukushima ist schon fast beängstigend malerisch. […] War was? Hier und jetzt leuchtet sie von jungem Grün, die verstrahlte Erde, und wenn Fukushima immer von der Natur gesegnet war, jetzt hat es sich zu einer fast atemberaubenden Idylle ausgewachsen. Darum atmet man ja auch besser durch eine Maske, wenn man sich nicht den Tod holen will. Aber was soll’s? Ein entsprechender Befund wird sich, statistisch gesehen, erst in zwanzig, dreißig Jahren zeigen. Und in alter Zeit, der großen Zeit der Idylle, sind die Menschen nicht einmal so alt geworden. [H. i. O.] (Muschg 2018a: 111)
Muschg verweist in diesem Absatz nicht nur auf einen klassischen Text der Umweltbewegung von Rachel Carson (Silent Spring), auf den wir weiter unten noch zu sprechen kommen, sondern mit der „großen Zeit der Idylle“ auch auf eine deutsche Gattungstradition, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in einem idealen bzw. idealisierten Rahmen darstellt (vgl. Zemanek 2015: 187). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheinen Idyllen als eine Besonderheit der deutschsprachigen Literatur (vgl. Schneider 1981). Bis zum Werk des Schweizers Salomon Gessner, das der Idylle eine neue Dimension verleiht, hat sich die Idylle aus der Bukolik und der Schäferdichtung in der Tradition Theokrits und Vergils entwickelt. Durch Gessner wird die Idylle „zum Dreh- und Angelpunkt der Reflexion der literarischen Darstellung des Verhältnisses von Natur und Kultur im 18. Jahrhundert“ (Heller 2018: 78). Etymologisch – und darin besteht auch ihr enger Zusammenhang mit der Kunstgeschichte – waren Idyllen ursprünglich kleine Bilder (vgl. Schneider 1981). Allgemein kann man sagen, dass die Idylle in der (deutschsprachigen) Literatur generell ein kurzer Text in Prosa oder Versen ist, der ein einfaches und friedliches Leben auf dem Land weitab von der negativ konnotierten Stadt darstellt. Da die Naturentfremdung der Städter hierbei auch als eine Art Selbstentfremdung zu interpretieren ist, sieht Evi Zemanek in der Analyse der Idylle unter einem ökokritischen Blickwinkel eine Form von Kulturkritik am Werk, die in der bisherigen Forschung weniger wahrgenommen wurde (vgl. Zemanek 2015: 193). Muschg schließt an diese kulturkritische Tradition der Idylle an, wenn die Hauptfiguren des Romans gerade in der von den Menschen verlassenen und in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückgekehrten Landschaft von Fukushima, die idyllisch schön, aber zugleich kontaminiert ist, zueinanderfinden. Die Natur in Form der sinnlichen Anziehungskraft ist stärker als das Bewusstsein um die Gefahr des verseuchten Gebietes. Paul erfüllt am Ende, kurz vor seinem Rückflug nach Europa, den Wunsch des Bürgermeistes und kauft das Haus in Yoneuchi. Und er will Japanisch lernen. Das Leben geht (noch) weiter, wie auch immer.
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2 Stifters Erzählungen als Folie zur Bestimmung der eigenen Position Muschgs Der Schriftsteller Adalbert Stifter (1805–1866) taucht im Roman Muschgs an mehreren Stellen auf. Die Verweise auf ihn ziehen sich wie ein roter Faden durch den Text, da er schon auf Seite 20 in einem Dialog zwischen Paul Neuhaus und Suzanne erwähnt wird und Muschg den Roman durch ein Zitat aus den letzten Zeilen von Stifters Erzählung Nachkommenschaften abschließt (Muschg 2018a: 244). Es wird aus verschiedenen Stifter-Texten zitiert, wobei man sich fragen darf, inwiefern sie alle mit dem Thema Nachhaltigkeit zu tun haben. Die Natur spielt zwar bei Stifter eine außerordentlich wichtige Rolle – sie ist fast immer mehr als bloße Kulisse und wird nicht selten gleichsam zu einer der handelnden Figuren der jeweiligen Erzählungen –, doch kann bei ihm noch nicht eindeutig von Nachhaltigkeit im heutigen ökologischen Sinn gesprochen werden. Seinem Blick auf die Natur haftet eine noch vormoderne Auffassung der Stellung des Menschen in seiner Umwelt an, auch wenn dieser Blick bei ihm bereits einer kritischen Einschätzung unterworfen wird. Muschg übernimmt dieses „Bild“ Stifters, formuliert jedoch die Naturauffassung seinem eigenen Projekt entsprechend um. Drei Texte Stifters werden von Paul Neuhaus und vom Erzähler herangezogen, wobei die zwei Stimmen einander oft überlagern: es handelt sich zuerst um die Erzählung Abdias (1847 [1843]) aus den Studien, dann um die Vorrede zu den Bunten Steinen, in der Stifter das sanfte Gesetz zu bestimmen versucht, welches das Universum regiert, und schließlich Nachkommenschaften, eine der letzten Erzählungen des österreichischen Schriftstellers. In den drei Texten geht es um die Position des Einzelnen gegenüber etwas Höherem, sei es das Schicksal oder Fatum, sei es die Natur oder Mitwelt, sei es die Familie oder Gesellschaft oder alle zusammen. Stifter wird so die Rolle einer intertextuellen Instanz zugesprochen, da der Roman – sowohl explizit als auch implizit – auf Intertextualität gebaut ist, die die Form des Romans mitgestaltet und ihm seine „rauhe“ unruhige Oberfläche verleiht. Er wirkt so wie eine Art beschädigter, bzw. explodierter Text:1 Die Bezüge auf mehrere Erzählungen, die Querverweise und direkten Anspielungen auf bestimmte Textauszüge, die Zitate (jedoch ohne Verweis) spiegeln sozusagen den Zustand der zerstörten Welt nach der Katastrophe wider. Zum Vorschein kommt eine metaphorische und sehr konkrete Veranschaulichung der nuklearen
|| 1 Dazu können auch noch die typographischen Hervorhebungen, die verschiedenen Sprachen und Dialekte hinzugefügt werden, die dem Roman den Anschein eines Patchworks, einer gewissen Uneinheitlichkeit, geben.
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Kettenreaktion – Echos, Wiederholungen, Gedankenassoziationen – die auch an die „Blumenkette“ aus Abdias erinnert, worauf noch zurückzukommen sein wird. Darüber hinaus gibt es auch Verknüpfungen von biographischen Elementen der Protagonisten mit den Figuren Stifters: Die Geliebte Friedrich Roderers in Nachkommenschaften z. B. heißt Susanna, wie die Lebenspartnerin von Paul Neuhaus; es geht dann auch um die Erbanlagen der Menschen – siehe Ken und seine vom Vater geerbte Krankheit – und sowohl um den eigensinnig betretenen Lebensweg – Roderer wie Ken schlagen eine Richtung ein, welche ihre Verwandten nicht verstehen – als auch um die Rückführung in die Familie – Paul Neuhaus meint gegen Ende des Romans seinen lang verleugneten Sohn gesehen zu haben, er zeugt ein neues Kind mit Mitsuko und kauft ein Haus in der vom Bürgermeister geplanten Künstlerkolonie. Bei Stifter wie bei Muschg spielt die Onomastik eine wichtige Rolle: Paul „Neuhaus“ fasst vielleicht eine künftige Ansiedlung in Japan in einem neuen Haus ins Auge, während Friedrich Roderer alles metaphorisch rodet, was ihm auf seinem Gemälde nicht gefällt. Auch gilt Stifter gleichsam als Schutzpatron, als Viatikum, als Talisman für Paul Neuhaus im verseuchten Gebiet (Muschg 2018a: 27).2 Ich habe sonst nichts Schweres dabei, nur Stifters Erzählungen. Der ist aber nie geflogen. Trotzdem schützt er vor Strahlen. Er hat jedenfalls an Gott geglaubt, sagte sie. – Möge er dich behüten.
Das Wichtigste aber kreist um das, wofür Stifter zu stehen scheint, nämlich das berühmte sanfte Gesetz, das von Paul im 6. Kapitel indirekt genannt und erläutert wird (Muschg 2018a: 77f.) und auf das wir noch zurückkommen werden. Es stellt sich nämlich die Frage, ob bei Muschg das sanfte Gesetz als das, was Stifter damit meint, zu verstehen ist oder eher als das, was allgemein damit gemeint wird, nämlich eine Fügung in eine vom Allmächtigen oder von einer höheren Instanz wohl geleiteten Welt. Das sogenannte sanfte Gesetz wird zum ersten Mal in der mit naturphilosophischen Gedankengängen aufgeladenen poetologischen Vorrede zu den Bunten Steinen aus dem Jahre 1853 als Erwiderung auf die von Hebbel satirisch formulierten Vorwürfe erläutert, denen zufolge sich Stifter (wie manche andere „Naturdichter“) nur für das Kleine interessieren und den Menschen vernachlässigen würde, indem er seine Aufmerksamkeit ausschließlich Käfern und Gräsern widme (Zitat Hebbels bei Muschg 2018a: 77). Eine der wichtigsten Zielsetzungen Stifters in der Vorrede ist das Ausräumen dieses Missverständnisses: || 2 In Muschg (2018a: 212) wird Stifter sogar als „Kompass“ für Paul bezeichnet.
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Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor, und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau empor schwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge empor treibt und auf den Flächen der Berge hinab gleiten läßt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist. (Stifter 1982: 10)
Alles, was seit Kant in die ästhetische Rubrik des Erhabenen fällt, wird umgedeutet, und diese Position wird Stifter durchhalten; Mathias Mayer spricht diesbezüglich von einer „dialektischen Relativitätstheorie von Groß und Klein“ (Mayer 2001: 117). Die welterhaltende Kraft der Natur und die menschenerhaltenden Sittengesetze der Menschheit sind eng verbunden: Stifter stellt eine Analogie zwischen äußerer Natur und innerer Natur des Menschen her: So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit Einfachheit Bezwingung seiner selbst Verstandesgemäßheit Wirksamkeit in seinem Kreise Bewunderung des Schönen verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemüthes furchtbar einherrollenden Zorn die Begier nach Rache den entzündeten Geist, der nach Thätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme feuerspeiende Berge Erdbeben. (Stifter 1982: 12)
Das täglich Wiederholte, das Unspektakuläre von außerordentlicher Bedeutung, die aufmerksame Fokussierung auf das Detail erinnern an die weiter unten noch eingehender besprochene Bedeutung der Zen-Philosophie für Muschg. Die in der Vorrede verkündete heilsgeschichtliche Weltdeutung sollte von den Naturwissenschaften, bzw. der Dichtung übernommen werden, nachdem der Säkularisierungsprozess der Aufklärung in Gang gesetzt worden war. Mit anderen Worten fällt der Dichtung die überhaupt wichtigste Aufgabe nach der Religion zu: die Herstellung eines Sinnzusammenhangs, die Etablierung einer Gesetzmäßigkeit, die zum Wesen der „wirklichen Wirklichkeit“ drängt. Der Dichter wäre demnach „der priesterliche Wohltäter der Menschheit“ (Laufhütte 2000: 65), die Dichtung sollte den ethischen Impuls in Zeiten der metaphysischen Desorientierung lie-
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fern.3 Laut Laufhütte geht es also um den „Verlust der Mitte“, um das Infragestellen der „alten Zentralinstanzen für jedes Wirklichkeitsverständnis“ (Laufhütte 2000: 66). Um die Sichtbarmachung dieses Ganzen, um die Neuorientierung des zentrifugal gewordenen Einzelnen auf ein Allgemeines hin mit den Mitteln der Dichtung, um den warnenden Hinweis auf die katastrophalen Folgen des Fehlens solcher Orientierungsmöglichkeiten geht es Stifter. (Laufhütte 2000: 67)
Dieses Allgemeine wird zwar postuliert, jedoch nie benannt, denn es gebührt dem Menschen nicht, in diesen Bereich einzudringen. Wo das Allgemeine nicht mehr durch den Glauben gesichert wird, kann es nur auf dem Wege der Wissenschaft, durch Induktion und stufenweise Fortschreiten an der Kette der Abhängigkeiten entlang – im Abdias wird dafür das Bild der Blumenkette der Erkenntnis verwendet – oder durch ein wissenschaftsanaloges Erfinden der Dichtkunst erreicht werden. Da der Anfang der konkret fassbaren Kausalitäten aber in unendlicher Ferne sich befindet, ist das Leistbare und immer neu zu Leistende das unentwegte Fragen und Darstellen auf das Allgemeine hin, das Bewahren des früher Erreichten, zu dem das Neuerkannte hinzugefügt werden muss. Nur geduldige Induktion, der Ausgang vom Kleinsten, das Rekonstruieren der Gesetzlichkeiten kann eine chaotische Verschiebung der Perspektiven verhindern. Und aller Induktionsarbeit liegt – wie später bei den positivistischen Wissenschaftlern – die Unterstellung einer harmonisch-teleologischen Struktur der Wirklichkeit zugrunde, die Stifter ja auch immer noch „Schöpfung“ nennt. (Laufhütte 2000: 67)
Das Ethische der menschlichen Natur, so Stifter, soll den Egoismus des Einzelnen verhindern und den Altruismus, die Existenz in der „Mitwelt“ – um mit Klaus Michael Meyer-Abich zu reden (vgl. Meyer-Abich 1990) – befürworten und unterstützen, auch wenn der Autor nach dem Ursprung des Höheren in uns erst gar nicht fragt, denn die ethische Kompetenz wird in den Rang eines Naturgesetzes erhoben.4 Hartmut Laufhütte schreibt diesbezüglich zu Recht:
|| 3 Mit dem sanften Gesetz, so Johann Lachinger, halte Stifter am „christlich-aufklärerischen Welterklärungsmodell fest [...] auch angesichts [...] des Materialismus und skeptizistisch-pessimistischen Nihilismus und angesichts einer Naturwissenschaft, die sich mehr und mehr von der Metaphysik verabschiedete“ (Laufhütte/Möseneder 1996: 98, sowie im gesamten Abschnitt 96– 104). 4 Die naturgesetzliche Verankerung der Ethik (Komplementärexistenz zur Naturzyklik) steht auf philosophisch schwachen Füßen (Laufhütte 2000: 70 mit Zitat aus HKG 2.2: 13). „Die Tragik (der menschlichen Existenz) bewirkt den Untergang im Kampf für das Sittengesetz und gegen egozentrische Einseitigkeit in Vorgängen menschheitsgeschichtlicher Dimensionierung“ (Laufhütte 2000: 72).
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Das sanfte Gesetz, die Naturgesetzlichkeit der Ethik, die sicherstellt, dass wie früher das Kleine zum Indiz des Großen werden, das Spektakuläre als die Schaudern erregende Einseitigkeit relativiert und entwertet werden kann: Es ist ein Wunsch- und Sehnsuchtsprogramm, nicht [...] beschriebene Realität. Es ist zu propagieren, es ist die Mission der Dichtung. (Laufhütte 2000: 70)5
Das sanfte Gesetz wäre also als „poetische Konstruktion“ aufzufassen, wo Groß und Klein in ihrer Ambivalenz nebeneinanderstehen: Diese Ambivalenz macht die Oberfläche der Stifterschen Texte durchscheinend für eine literarische Struktur, in der in scheuer Zurückhaltung nicht beurteilt und verurteilt wird, sondern in der menschliche Möglichkeiten vorgeführt und sichtbar gemacht werden. (Laufhütte 2000: 21)
Jedoch zeigt die stets behauptete „Korrespondenz von Naturgesetzlichkeit und Ethik das gravierende Defizit des Wirklichkeitsbildes Stifters“, so Laufhütte. Für Stifter wird die ganze Menschheit durch ein sanftes Gesetz geführt und es sind Kräfte, die den Bestand des einen und dadurch aller sichern: Eine unglaubliche Zusammengehörigkeit (Welt der innermenschlichen Verhältnisse) existiert demnach, auch wenn die Menschen sie nicht wahrnehmen können, bzw. wollen. (Enklaar 2006: 46)6
Die Hauptfigur Paul analysiert die Vorrede Stifters auf eigene Faust und verbindet sie auch sofort mit der Biographie des Dichters. Das sanfte Gesetz bedeutet für ihn die Eingebundenheit des Menschen in ein Ganzes und gleichzeitig die Gleichstellung aller Erscheinungen der Welt, der lebendigen wie der leblosen: „Stifter hat ihm in den ‚Bunten Steinen‘ erklärt, warum es in der Natur nichts Großes gebe, aber ebenso wenig etwas Kleines“ (Muschg 2018a: 77). Paul liest also die Vorrede vorerst als eine Aussage, die gegen die althergebrachte Auffassung, wonach der Mensch der seine Umwelt beherrschende Mittelpunkt des Weltalls wäre, gerichtet ist: Er gehöre einem Ganzen an, dem er sich auch fügen muss, um weiter- bzw. zu überleben. Der Mensch soll also nicht auf Naturbeherrschung orientiert sein, sondern eine organische Auffassung vertreten, wonach Natur und Menschen eng miteinander verbunden „arbeiten“ sollen: die Menschen sind nicht
|| 5 Vgl. auch Alfred Doppler (2006: 16) „Das ‚Sanfte Gesetz‘ [...] ist kein Gesetz im naturwissenschaftlichen Sinn […] es ist die Veranschaulichung eines literarischen Programms“ gemäß eines Damms „[...] gegen die im Menschen wuchernde Agression [sic!]“ sowie (2006: 17): „Die Natur ist bei Stifter Lehrmeisterin und zugleich ein mächtiger, unheimlicher Gegenspieler des Menschen“.
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wichtiger als die Natur. Weiter geht die Interpretation (Muschg 2018a: 78–79) auf das nach Paul fehlende Element der Stifterschen Dichtung, nämlich den Körper und seine Sinnlichkeit, ein. Er ist für ihn „der blinde Fleck seiner Kunst – und zugleich das Auge, mit dem sie sieht. Jedenfalls ist das meine Theorie“ [H. i. O.] (Muschg 2018a: 78). Der Autor von Körper und Sprache – das neue Buch von Paul (vgl. Muschg 2018a: 212) – will also die allgegenwärtige, zerstörerische Selbstbescheidung Stifters nicht nachmachen, die sich gegen das durch ungebändigte Leidenschaften drohende Chaos zu wappnen versucht; so lässt sich unter anderem auch der Geschlechtsakt mit Mitsuko erklären. Stifter, so Paul (Muschg 2018a: 215), konnte auf eine Welt blicken, wo Gottesvertrauen noch eine Erschließung der Welt und eine Vertröstung zugleich lieferte, „wo [seine] „Blumenkette“ der Kausalität nicht gähnende Lücken zulässt [...] sondern aus Lücken besteht, in denen nur noch die Blume des Todes gedeiht“ [H. i. O.] (Mariacher 2006: 88); so erscheinen die Erzählungen Stifters mit all ihren Brüchen als Bewältigungsstrategien, Verschleierungsversuche und Idyllen, die gegen das Chaos geschaffen werden.7 Für Abdias steht diese Blumenkette für den Zufall, der gerade als eine Lücke im Erkenntnisprozess von Ursache und Wirkung erscheint, der „also nicht von außen auf den Menschen Kommendes [ist], sondern auf seiner [des Menschen] Unfähigkeit alle Kausalzusammenhänge, die da sind, zu erkennen [beruht]“. Auch wenn der Glaube an ein höheres Wesen immer vorhanden ist, entspricht die Metapher der Blumenkette, die Stifter – und auch Muschg – bemüht, zum Teil der Herderschen Auffassung von Gott.8 Was sich in der Vorrede zu Bunte Steine anbahnte, findet man in Nachkommenschaften eindeutig zum Ausdruck gebracht: Das Welt- und Menschenerhaltende wird hier zusammengeknüpft mit der Frage der Perspektive des Betrachters, bzw. Malers oder Lesers. Was groß oder klein erscheint, beruht auf der korrekten oder unzuverlässigen Position des Betrachters (Laufhütte 2000: 66), so zum Beispiel beim Maler Friedrich Roderer und seiner immer von neuem angefertigten Abbildung des Dachsteins – siehe auch Paul und seine Betrachtung des Fuji (Muschg 2018a: 216–217). Als meist zitierter Text bei Muschg ist Nachkommenschaften, eine Erzählung, in der es hauptsächlich um zwei Schwerpunkte || 7 Für Ferdinand von Ingen (1996: 69) wird in Abdias „die Ketten-Metapher als bildhafte Vorstellung vom Kausalnexus menschlichen Handelns und Verfehlens eingesetzt und die Frage von Schuld und Unschuld gestellt“. 8 Von Ingen (1996: 68) verweist auf Athanasius Kirchers barocke Universalwissenschaft mit dem Hervorheben der menschlichen Dignität: Der Mensch ist der einzige, der das Weltganze rational erschließen kann bzw. darf, der als „copula“, als spiegelbildlicher Mikrokosmos zu verstehen ist. „Wenn für Stifter das Sittengesetz den Charakter eines Naturgesetzes annimmt, ist auch das die Konsequenz der Ketten-Vorstellung“.
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geht: erstens um die Genealogie (Adelung et al. 1811: 377–378)9 der Hauptfigur, Friedrich Roderer, der nach Umwegen seinen Platz innerhalb einer komplexen Familiengeschichte findet und zweitens um die beruflich-gesellschaftliche Verortung als Künstler und Landschaftsmaler. Die Entwicklung der Hauptfigur zeigt einerseits ihr Aufgehen in der Masse der Familienmitglieder und andererseits ein sich Auszeichnen in dem ausgewählten Beruf, bzw. Betätigungsfeld. Daneben geht es auch um das von Peter Roderer unternommene Unterfangen, das Lüpfinger Moor trocken zu legen, um es der Landwirtschaft zuzuführen, mit anderen Worten, durch die Kultur im Sinne eines Eingriffs des Menschen in einen sonst natürlichen Prozess die Natur so zu verwandeln, dass sie den Menschen einen Profit bringt. Der Sumpf soll verschwinden, und Roderers Nachkommen sollen die Aufgabe einer nachhaltigen Kultivierung der Landschaft fortsetzen (Seewald 2013: 63). Die Geschichte von Friedrich Roderer ist auch die Geschichte seiner Liebe zu Susanna, der Tochter von Peter Roderer, und ihrer glücklichen Vermählung, die „den Stamm der Roderer“ in der Gegend verankern soll in verantwortungsbewusstem Umgang mit der Umwelt und ihren Bewohnern. Das durch das Prisma von Muschg gezeichnete Bild von Nachkommenschaften zeigt die enge Verbindung der Menschen mit der Natur: Die neue Idylle, die nach der Katastrophe entstehen konnte, kann gelebt werden, und die Literatur soll davon Zeugnis ablegen, denn „Jetzt war es an ihm, die richtige Sprache zu finden“ (Muschg 2018a: 212). Auffällig sind das Präfix und die Präposition „nach“: sowohl in den Texten von Stifter als auch in dem Muschgs ist das „Nach“ eine der wichtigsten Komponenten und eines der bedeutendsten Strukturmerkmale. Gleichzeitig kann man sich fragen, inwiefern „Heimkehr nach Fukushima“ örtlich, geographisch (lokal), aber auch zeitlich (temporal) und vielleicht auch modal (im Sinne von laut, gemäß, zufolge) zu verstehen ist. Insofern wäre die Heimkehr für Paul Neuhaus eben anders wahrzunehmen und zu interpretieren: Er würde sozusagen zu sich selbst, zu seinen inneren Überzeugungen und Träumen, zu seinem wahren Ich – mit einem Zitat aus den letzten Zeilen von Nachkommenschaften10 – zurückfinden.
|| 9 „Die Nachkommenschaft plur. die -en, ein Collectivum, Leute, welche nach uns kommen oder leben, zu bezeichnen. In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, Verwandte in absteigender Linie. Eine zahlreiche Nachkommenschaft haben. Ich sehʼ in ihnen schon Nachkommenschaften, die dereinst, wie uns, die Vorsicht glücklich macht, Gieseke“ (Adelung/Soltau/Schönberger 1811: 377–378). 10 „Ich möchte einen festen Stamm der Roderer in dieser Gegend gründen, und ihn an diese Gegend heften, und wenn meine Nachkommen so denken wie ich, so trocknen sie das Moor völlig aus, verwalten ihre liegende Habe, genießen das Erworbene, vermindern es nie, vermehren
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Letztendlich geht es bei Muschg ebenso wie bei Stifter um die Frage nach der Nachhaltigkeit der menschlichen Spezies in ihrer Mitwelt und um die Nachhaltigkeit der Literatur, bzw. von Dichtung überhaupt, die einzig und allein imstande ist, eine neue Zukunft jenseits der zerstörerischen, weltvernichtenden Kräfte der menschlichen Kultur und Zivilisation, also nach der Katastrophe, zu entwerfen. Dabei dürfen die Brüche in dem Idyllischen, Friedenstiftenden von Stifters Naturbild jedoch nicht vergessen werden. Ausschließlich die Literatur in ihren Projektionsmöglichkeiten und Zukunftskonzepten, die u. a. dank ihrer intertextuellen Dimension, wie Muschg hier am Beispiel von Stifter exemplifiziert, nachhaltig wirkt, kann den Menschen, sprich den Lesern, Hoffnung und Sinngebung vermitteln. Um mit Laufhütte zu sprechen, geht es also sowohl Stifter als auch Muschg um „die ethische Legitimation der Kunst“, die zeigen soll, dass die Menschen nicht weniger sind als die Natur. Somit vollziehen Stifter und Muschg mit Hilfe von ökologischem Gedankengut und in Opposition zu einer seit Jahrhunderten dominierenden Tradition der abendländischen Kultur, die den Menschen und seine Ansprüche an die Natur in den Mittelpunkt stellt, ganz diskret eine Art kopernikanische Wende in der literarischen Sinnstiftung von Welt.
3 Nachhaltigkeit in Heimkehr nach Fukushima Explizites Thema von Muschgs Roman ist die Frage der Wiederbewohnbarkeit des radioaktiv verseuchten Gebiets um das havarierte japanische Kernkraftwerk von Fukushima. Darüber hinaus geht es um den Umgang mit gefährlichen Technologien. Aber Muschg spricht damit die Befindlichkeit des Menschen schlechthin im Zeitalter der schleichenden Umweltzerstörung, der ‚Risikogesellschaft‘ Ulrich Becks, an. Fukushima steht für die Welt im 21. Jahrhundert, und die Einladung, dort eine Künstlerkolonie zu gründen, für die Herausforderung an Schriftsteller, sich am Versuch zu beteiligen, Wege zu finden, wie man mit einer von Menschenhand veränderten, zunehmend geschädigten Natur leben und so handeln kann, dass das Lebensrecht und die Selbsterfüllungschancen künftiger Generationen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. In diesem Sinne erscheint Heimkehr nach Fukushima als Beitrag zur kulturellen Nachhaltigkeit.
|| es dagegen, wirken gut für die Menschen hier, verwachsen mit ihnen, werden stetig und ruhig“ (Muschg 2018a: 243).
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Mit seiner einflussreichen Studie der Normalisierung von Umweltrisiken in der Industriegesellschaft, Risikogesellschaft, machte Beck ‚Risiko‘ zur Schlüsselkategorie der Gesellschaftstheorie. Er schrieb: In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlichtechnisch produzierter Risiken entstehen (Beck 1986: 25).
Menschlich verursachte Umweltrisiken gehörten zum Alltag. Dazu käme, dass radikale Unsicherheit darüber herrscht, welche Folgen gegenwärtiges Handeln für die Zukunft hat. Gefahren seien oft nicht mehr auf einen Ort oder eine Zeit beschränkt, daher schwer kontrollierbar und bestrafbar: Oft sei es nicht möglich, Schuld für Unfälle zuzuweisen. Schon im Jahr 1962 hatte Rachel Carson die Unsichtbarkeit der überall vorhandenen, Pflanzen, Tiere und auch menschliches Leben gefährdenden Umweltvergiftung durch den Einsatz von DDT als Insektenvertilgungsmittel in Silent Spring betont. Für Beck ist das Paradigma heutiger Risiken die oft erst Jahre später wahrnehmbare Zersetzung des menschlichen Körpers durch Radioaktivität. (Dass sein Buch im selben Jahr wie der Unfall von Tschernobyl veröffentlicht wurde, trug weiter zu seiner breiten Aufnahme in der Öffentlichkeit bei.) Wir lebten im Zeitalter der schleichenden Katastrophe, meinte Beck: Das heutige Lebensgefühl sei vom Bewusstsein charakterisiert, dass wir in einer natürlichen und sozialen Umwelt leben, die sich jenseits der Grenzen der Nachhaltigkeit befindet. Einerseits seien heute diffuse Ängste vor Risiken in der Bevölkerung weit verbreitet (was zu Versuchen seitens von Behörden führe, diese zu verheimlichen), andererseits verursache die Inflation „gefühlter Risiken“ paradoxerweise mehr Gleichgültigkeit. Diesen Zustand dramatisiert Muschg durch eine Personenkonstellation, in der Vertreter unterschiedlicher Haltungen zu Wort kommen. Paul Neuhaus ist beispielsweise „jeden Tag vom Gefühl verfolgt, dass ein Weltuntergang am Laufen war“, während seine langjährige Lebenspartnerin Suzanne meint, „sie habe Fukushima nicht verursacht, und mit ihrem schlechten Gewissen sei niemandem gedient“ (Muschg 2018a: 12). Muschg erkundet die Möglichkeit eines zukunftsorientierten Lebens auf zwei Weisen: erstens durch eine Handlung, in der der Protagonist Paul Neuhaus mit dem ethischen Dilemma, wie man ein „guter Mensch“ (Muschg 2018a: 19) unter Berücksichtigung künftiger Generationen werden kann, auf sehr persönliche Weise konfrontiert wird, um am Ende zur Entscheidung zu kommen, sich wenigstens als Privatperson am Projekt der Rückkehr ins verstrahlte Gebiet zu beteili-
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gen; und zweitens, wie oben angedeutet, durch eine Sprache, die eine veränderte Beziehung zur Natur modelliert, indem sie der Eingliederung des Menschen im Naturganzen Rechnung trägt. Dabei betrachtet er die Gefahren der Kernenergie aus einem anderen Blickwinkel, als es Günter Grass, Christa Wolf und andere dreißig Jahre zuvor getan hatten. Zu den bekannteren deutschsprachigen Werken der 1980er Jahre, die Gefahren der Kernenergie thematisieren, gehören Störfall (vgl. Winiwarter in diesem Band) und Die Rättin. Was Muschg in Heimkehr nach Fukushima beschäftigt, sind Haltungen und Verhaltensweisen ‚nach der Katastrophe‘ – freilich in diesem Fall, einem im Vergleich mit Tschernobyl weniger ernsthaften Unfall, dessen Folgen räumlich begrenzt sind. Darin entspricht der Roman der Entwicklung in der amerikanischen Literatur, die von Frederick Buell in seinem Buch From Apocalypse to Way of Life nachgezeichnet und kritisch beleuchtet wurde. Aus dem Jahr 2002 rückblickend, stellte Buell fest, dass die Umweltkrise in der amerikanischen Gesellschaft längst nicht mehr als einmalige, unmittelbar bevorstehende Katastrophe aufgefasst wurde, sondern als bereits präsente, stets zunehmende Verschlechterung der Umwelt- und Lebensbedingungen. Es sei allgemein anerkannt, dass die Menschheit weit über ihre Verhältnisse lebe und anscheinend nicht imstande sei, die Radikalkur auf sich zu nehmen, die allein diese Entwicklung aufhalten könne. Man lebe schon mitten in der Krise, von unsichtbaren wie sichtbaren Risiken umgeben. Buell umreißt (Buell 2003: 248–251) drei Hauptphasen in der Entwicklung der öffentlichen Haltung gegenüber der Umweltkrise in den Vereinigten Staaten anhand von Filmen und Belletristik: in den 1960er und 1970er Jahren Katastrophenszenarien vorwiegend als Warnung, dass eine das Weiterbestehen der Menschheit gefährdende Katastrophe bevorstehe, wenn sich nichts ändere; in den 1980er und 1990er Jahren ‚postmoderne‘ Umdeutung der Umweltprobleme in eine als Abenteuer verstandene Herausforderung an die menschliche Erfindungskraft, bei gleichzeitig genussvoller Intensivierung des Schauders vor dem Umfang der Umweltzerstörung; und um die Jahrhundertwende Reaktionen auf eine solche Sublimierung von Umweltgefahren in der Form eines Nebeneinanders von weiterer Leugnung und erneuter ernsthafter Auseinandersetzung mit Umweltproblemen. In dieser neuesten Phase literarischer Produktion werde die Umweltkrise nicht mehr primär in den Zukunftsvisionen der Science Fiction, sondern auch in realistischen Gegenwartsbildern und quer durch alle Gattungen der Literatur behandelt. Das von Schuldgefühlen und Hilflosigkeit begleitete Lebensgefühl von ‚dwelling in crisis‘ habe in der Gegenwartskultur immer breiteren Raum eingenommen. Es werde nicht nur als Thema angesprochen, sondern habe auch in Figuren, Handlungen und Erzählstrukturen Eingang gefunden. Werke wie Don DeLillos Roman White Noise, Richard Powers
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Gain und Octavia Butlers Parable of the Sower würden den ökosozialen Zerfall als bestimmenden Faktor im heutigen Leben inszenieren, und dabei mit Ironie, Pathos und Imagination der Zukunft arbeiten, ohne jedoch den Versuch anzustellen, Lösungen zu bieten. Ähnlich richtet Muschg den Blick auf psychologische und soziale Deformationen, speziell im heutigen Japan, aber auch darüber hinaus, ohne dass er Entsetzen hervorzurufen oder zur kurzfristigen Aktion anzuspornen sucht. Er fordert den Leser vielmehr dazu heraus, das Problem des heutigen, oft unscheinbaren Umweltverbrauchs, der gefährlichen Umweltverschmutzung, -vergiftung und -zerstörung und die vielen damit verbundenen Unsicherheiten wahrzunehmen. Was Buell von der Gegenwartsliteratur verlangt (und in einzelnen Fällen zumindest in Ansätzen vorfindet), ist eine Kombination von Vermittlung faktischen Wissens über den Zustand der Umwelt mit einer Anleitung zur Neubelebung der Sinne durch Kontakt mit der Natur (Buell 2003: 205–208). Letztere könne durch Kultivierung unserer ästhetischen Wahrnehmung der Natur, durch Beschäftigung mit den intuitiven Einsichten prämoderner und indigener Kulturen oder auch durch trauernde Erinnerung an verlorene Landschaften und Arten erreicht werden. Vor allem hebt er aber als Desiderat ein gesteigertes Bewusstsein unserer menschlichen Körperlichkeit (embodiment) und unserer Einbindung in Ökosysteme (embeddedness) hervor: People’s bodies are vulnerable to ecosystems, as ecosystems are vulnerable to people; environmental and ecosocial deterioration is increasingly an intimate matter […]. To achieve sustainability, to dwell in crisis, then, people need to work with a new economy of feeling, one that extends a variety of affects and affective practices to environmental contexts. (Buell 2003: 207)
Muschg legt die Spannungen und Widersprüche von dwelling in crisis kritisch bloß und sucht ihnen durch Kultivierung ästhetischer Wahrnehmung der Natur, Hervorrufung einer affektiven Beziehung zu ihr und Stärkung des Bewusstseins der geteilten Verwundbarkeit von Menschen und Ökosystemen zu begegnen. Seizō beschreibt die moderne Zivilisation schlechthin als „ein Produkt jener Strahlung […], vor der sie sich fürchte“. „Nicht nur das Weltmeer und alle Kontinente, sondern auch die Seelen“ seien radioaktiv verseucht, denn ein „fortschreitender bösartiger Prozess der Desintegration und fortschreitenden Entdifferenzierung“ charakterisiere die Gegenwart (Muschg 2018a: 92). Dass die Strahlenwerte in Yoneuchi messbar seien, habe sogar einen Vorteil, weil man hier nicht darum herumkomme, die Belastung zu bemerken (Muschg 2018a: 91). „Wenn man wisse, dass man der Strahlung nicht entgehen könne, hänge alles am Mehr oder Weniger, am rechten Maß, das den Unterschied mache zwischen Gift und
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Gabe. Das aber sei doch genau wie überall! Es sei das wahre Leben unter den Bedingungen der Katastrophe“ (Muschg 2018a: 96). „Verhältnismäßig sichere Wege“ seien alles, was man sich wünschen dürfe (Muschg 2018a: 98). Die Festsetzung der Grenzen gesundheitsgefährdender radioaktiver Strahlung wird wiederholt als willkürlich dargestellt: Sie ist nichts mehr als eine „Topographie guten Willens“ (Muschg 2018a: 175). Die Schutzmaßnahmen vor Gesundheitsgefahren in Fukushima wirken hilflos und sogar bedenklich, wo die umliegende Bevölkerung infolge der Evakuation des Gebiets heimatlos geworden ist, die Gemeinschaften aufgelöst wurden und die Menschen schlecht behaust und ohne Beschäftigung bleiben. Dazu fordert die neue Normalität, die von Fukushima versinnbildlicht wird, zur Anerkennung der Wirkungsmacht der Natur auf: Muschg erklärt, wie Fukushima kein einfacher Kernkraft-Unfall war, sondern aus gleich drei katastrophalen Ereignissen bestand: einem Erdbeben, einem Tsunami und einem nuklearen GAU. Ohne Erdbeben und Tsunami wäre der GAU nicht passiert. Auch radioaktive Strahlung wird als eine allgegenwärtige invasive Kraft beschrieben, die menschliche Kontrolle als Illusion entlarve (Muschg 2018a: 109). Die Hauptpersonen im Roman vertreten jedoch verschiedene Standpunkte in der Debatte um den richtigen Umgang mit der Krise: Glaube an die Technik, der bis zur Selbsttäuschung reicht (bei Seizō, Bürgermeister des zwangsevakuierten Dorfs) vs. vehemente Ablehnung (seitens des an Leukämie als Spätfolge von Hiroshima sterbenden Ken-Ichi), mit der Rückkehrwilligen Mitsuko als Trägerin der Hoffnung dazwischen. Bis zum Schluss zögert Paul, aber am Ende entscheidet er sich, wie bereits erwähnt, ein Haus im verseuchten Gebiet zu kaufen. Das Kind, das er mit Mitsuko gezeugt hat, soll hier aufwachsen: Liebe und Hoffnung siegen also über Apathie und Verzweiflung. In den Personen von Ken und Seizō führt uns Muschg gegensätzliche Extremhaltungen von zynischem Nihilismus und närrisch-prophetischem, Gesundheitsgefahren übersehendem Optimismus vor. Aber nicht alle ihre Argumente sind von der Hand zu weisen. Seizō gibt beispielsweise zu bedenken, wenn er meint, es gehe weltweit darum, nicht mehr vor den Gefahren des modernen Lebens zu fliehen, sondern aus „Selbstachtung“ und „Sorge um die Zukunft des Menschen“ „in diesen Grenzen“ wohnen zu lernen (Muschg 2018a: 91, 93). Rückkehr nach Yoneuchi könne das Gefühl für gegenseitige Verantwortung und den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken. Das Dorf könne zum Vorbild für alle Menschen werden, denn Fukushima sei eine große Chance, die „zerstreuungswütige“, trocken und hart gewordene Zivilisation „durch Recycling wieder dehnbar und geschmeidig zu machen“ (Muschg 2018a: 96). Es ist kein Zufall, dass Muschg hier eine Brücke zu Pauls Philosophie der Ansiedlung im „Hier und Jetzt“ baut und einen Zusammenhang zwischen solcher
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Feier des Augenblicks und dem Zen-Buddhismus andeutet, der Lehre von fortgesetzter, bewusster Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments, Achtsamkeit ohne zu urteilen, Aufhebung der Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt, und Aufgabe des selbstbezogenen Denkens. Die ungeteilte Wachheit und Achtsamkeit im Jetzt steht bereits im Zentrum von Muschgs Erfahrungen in einem japanischen Zenkloster aus dem Jahr 1985 (vgl. Gellner 2010: 131 ff.). Die Faszination für den Zen-Buddhimus wird nicht abreißen und auch in Muschgs Alterswerk – wie beispielsweise in Der Rote Ritter – eine wichtige Rolle spielen. Heimkehr nach Fukushima stellt hierbei keine Ausnahme dar. Das Thema der Nachhaltigkeit findet sich in einem Verständnis der Welt, die auf Analogie beruht, der tendenziellen Übereinstimmung mit einem unvermittelten Kosmos (vgl. Gellner 2010: 118). Das zweite Weltbild, in dem Paul Aufschluss findet, ist das bereits oben behandelte von Adalbert Stifter, das Vertrauen in einer größeren, sinngebenden Ordnung trotz der bestürzenden Zufälle und Ungerechtigkeiten im Leben ausdrückt und aus der Vorstellung eines ‚sanften Gesetzes‘ in der Natur Trost schöpft. Beide können als zukunftsorientierte, Nachhaltigkeit fördernde Weltbilder gelten. Im von Ursula Kluwick und Evi Zemanek herausgegebenen Sammelband Nachhaltigkeit interdisziplinär bietet Hubert Zapf einen hilfreichen Überblick über die neuere Forschung zum Thema ‚Nachhaltigkeit in der Literaturwissenschaft‘. In seinem ‚Fazit und Ausblick‘ (Zapf 2019: 374–375) listet er die Hauptfacetten des Beitrags der Literatur zur Debatte um Nachhaltigkeit auf. Es lassen sich zusammenfassend zwei Hauptgruppen von Argumenten ausmachen. Die erste betrifft die inhaltliche Ebene von Texten. Einerseits erscheint Literatur als kritische Instanz: Insofern sie als Gegendiskurs zur rein technisch-ökonomisch verstandenen Moderne auftritt, wirkt sie als ein Sensorium für Erstarrungen und Einseitigkeiten in der dominanten Kultur, die ihre Selbsterneuerungsfähigkeit beeinträchtigen. Andererseits imaginieren viele Texte eine alternative Naturauffassung und inszenieren eine nachhaltigere Beziehung zu ihr. Neben persönlichen und kollektiven Traumata werden Potenziale der Befreiung und Regeneration zur Sprache gebracht. Literarische Texte bieten immer neu aktualisierte Bilder und Narrative der Koevolution von Mensch und nichtmenschlicher Natur. Als reflexive Form komplexen Lebenswissens dient Literatur zur Aushandlung von ethischen Fragen, nicht zuletzt von Fragen des ‚guten Lebens‘: Hier dürfen das Lebensrecht künftiger Generationen, ihr Recht auf persönliche Selbstentfaltung und Konvivialität, und der Zustand der ihnen überlieferten Umwelt nicht außer Acht gelassen werden. Eine zweite Gruppe von Argumenten betrifft Form und Sprache. In den Worten Zapfs stellt Literatur „in ihrer ästhetischen Eigendynamik eine imaginativ-kreative Form nachhaltiger kultureller Praxis“ dar.
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Literarische Texte sind zeitlich weniger gebunden als thematisch verwandte Sachtexte. Sie erkunden kulturelle Prozesse nicht nur in ihrer kurzfristigen, historisch-politischen Aktualität, sondern auch in kultureller Erinnerung und antizipativen Zukunftsszenarien. Ihre ästhetisch abgerundete Form erlaubt ihnen auch, eine längere Geltungsdauer zu beanspruchen. Aufgrund ihrer Offenheit und interaktiven Qualität sind literarische Texte grundsätzlich auf Auslegung angewiesen. Indem sie zu kreativer Aneignung durch immer neue Generationen von Lesern einladen, stellen sie eine stets erneuerbare Quelle kreativer Energien in der Kultur dar. Schließlich verkörpert literarische Sprache durch ihren Einbezug von nicht nur semantischen, sondern auch somatischen Erfahrungs- und Kommunikationsprozessen auch die komplexe Vernetzung von Geist und Körper, Kultur und Natur, menschlicher und nichtmenschlicher Welt, die allein nachhaltiges Leben untermauert. Hieraus wird ersichtlich, dass, obwohl Heimkehr nach Fukushima eher Fragen stellt als Antworten bietet, kein Modell einer nachhaltigen Zukunft entwirft und Leser nicht zu ökologischem Engagement auffordert, der Roman in anderen Hinsichten sehr wohl als Beitrag zur kulturellen Nachhaltigkeit gelten kann. Denn er fördert das Komplexitätsbewusstsein, sensibilisiert Leser für ihre Körperlichkeit und ihre Einbindung in die Umwelt, fordert durch Hinweis auf alternative Denksysteme und kreative Ansätze (Buddhismus und Stifter) zur kritischen Reflexion auf und vermittelt durch naturnahe Landschaftsbilder sinnhafte Zugehörigkeitserfahrungen, die Nachhaltigkeitswerte beim Leser hervorrufen. Seine Botschaft, dass die Schönheit der Natur und die „Blüte des Augenblicks“ (Muschg 2018a: 179) ein erfüllendes Weiterleben ermöglichen, vermittelt Muschg, wie Stifter, primär durch gleichzeitig verhüllende und enthüllende Bilder: im Phoenix, den Mitsuko auf ihrem Rücken trägt, was sie als Person mit Wiedergeburt und Resilienz verbindet, sowie in den schon erwähnten Figuren der alten Frau im verseuchten Gebiet, die Unkraut mit Gift spritzt, obwohl es völlig sinnlos ist, weil es das Letzte war, was sich ihr Mann vor seinem Tod vorgenommen hatte (Muschg 2018a: 115), und des Bauers Yoshimura, der die eigene Verstrahlung in Kauf nimmt, um sich um die im Stich gelassenen Kühe zu kümmern (Muschg 2018a: 161) – übrigens ein Verhalten, das die mögliche Verschwisterung von Mensch und Tier versinnbildlicht – ; und in Seizōs Verständnis von Heimat als Inbegriff des Ausharrens und Dableibens begegnet Paul „Ikonen der Revolte gegen nuklearen Defätismus“ (Muschg 2018a: 161). Vor allem deutet aber Pauls und Mitsukos Liebe ein mögliches Verhalten in einer imperfekten Welt an. Dass sie sich, die Gefahr für ihre Gesundheit momentan ausschaltend, in der radioaktiv verseuchten Landschaft lieben, drückt einen Sieg von Hoffnung über ängstliche Vorsicht aus. Ihre bewusste Aufgabe der isolierenden Trennung von der Erde symbolisiert gleichzeitig Anerkennung der Kör-
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perlichkeit des Menschen und der Durchlässigkeit der Barrieren zwischen Mensch und Materie. Muschgs Roman, der Hoffnung ohne Selbsttäuschung bieten will, kann als literarische Suche nach einer Sprache der ökologischen Nachhaltigkeit aufgefasst werden.
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Sieglinde Grimm & Berbeli Wanning
Bildung für nachhaltige Entwicklung in und durch Sprache und Literatur Zusammenfassung: Der Beitrag setzt sich mit dem Verhältnis von sprachlichem Verstehen, literarischer Vorstellungsbildung und tatsächlichem Handeln vor dem Hintergrund einer Bildung für nachhaltige Entwicklung auseinander. Er macht anhand ausgewählter Beispiele aus den Bereichen der Kinder- und Jugendliteratur, der Literaturgeschichte und der Lyrik deutlich, was Sprache und Literatur zu einem modernen Umweltbewusstsein und zu dessen Weiterentwicklung beisteuern können. Doch wie lässt sich ein solches Umweltbewusstsein in umweltbezogenes Handeln übersetzen? Hier fokussiert der Beitrag auf eben solche literarischen Texte, in denen Perspektivwechsel, Empathie und subjektive Involviertheit in das Geschehen zusätzliche Faktoren sind, deren Reflexion verändertes Handeln auslösen kann oder zumindest dazu anregt. Schlüsselwörter: Umweltbewusstsein, Agenda 2030, Klimawandel, Kinder- und Jugendliteratur, Literaturgeschichte
1 Einleitung Der Beitrag untersucht anhand zweier Leitfragen, in welchem Verhältnis sprachliches Verstehen, literarische Vorstellungsbildung und tatsächliches Handeln vor dem Hintergrund einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zueinander stehen. Er spürt zunächst der Frage nach, wie sich das Umweltbewusstsein im 21. Jahrhundert verändert hat, und stellt dann in drei ausgewählten Bereichen vor, was Sprache und Literatur dazu beitragen können. Obwohl viel Wissen über das Zusammenwirken von Ökonomie, Technik und Ökologie in der Gesellschaft vorhanden ist, entspricht das Handeln in Bezug auf die Probleme des Klimawandels oft nicht dem Wissensstand – ein Phänomen, das als konative Komponente in verschiedenen Theorien des sozialen Lernens verhandelt wird. Diese umfasst die Handlungstendenz, also den Willen und konkretes verbales bzw. nonverbales
|| Sieglinde Grimm, Universität zu Köln, Institut für Deutsche Sprache und Literatur II, AlbertusMagnus-Platz 1, 50923 Köln, Deutschland, sieglinde.grimm[at]uni-koeln.de Berbeli Wanning, Universität Siegen, Germanistisches Seminar, Hölderlinstr. 3, 57076 Siegen, Deutschland, wanning[at]germanistik.uni-siegen.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-004
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Verhalten, in Bezug auf eine Einstellung (vgl. Wellhöfer 2012: 87). Im Rahmen der im Folgenden diskutierten Herausforderungen ist der konative Konnex zum Thema Nachhaltigkeit besonders wichtig: Allein das einschlägige Wissen reicht nicht aus, um bisher gewohntes Handeln tatsächlich nachhaltig zu verändern. Eine der Ausgangsthesen dieses Beitrags lautet deshalb, dass die Menschen zwar viel über das Zusammenwirken von Ökonomie, Technik und Ökologie wissen, doch hinkt das Handeln diesem Wissensstand hinterher. Lawrence Buell kennzeichnete diese paradox anmutende Situation bereits vor knapp 25 Jahren mit dem Begriff „environmental doublethink“ (Buell 1995: 4) und spielte damit auf eben das Verhältnis von Umweltwissen zu Umwelthandeln an, das in der Praxis häufig als konative Differenz auseinanderfällt. Wie aber lässt sich Umweltbewusstsein und Umweltwissen in umweltbezogenes Handeln übersetzen? Diese Frage eröffnet aktuell sogar eine Diskussion zwischen Generationen, drängt doch die jüngere auf schnelleres Handeln zugunsten des Klima- und Artenschutzes. Sprache und Literatur leisten einen besonderen Beitrag zur Übersetzung von Wissen in Handeln, kann doch insbesondere die Literatur als Probenraum konkreter Handlungen verstanden werden, indem Perspektivwechsel, Empathie und subjektive Involviertheit in das Geschehen z.B. eines Romans zusätzliche Faktoren sind, deren Reflexion verändertes Handeln auslösen oder zumindest beeinflussen können. Während Naturwissenschaft und Technik die entsprechenden Probleme beschreiben, analysieren und nach Lösungen suchen bzw. bereits Lösungen anbieten, besteht in Bezug auf das gesellschaftliche Handeln ein weltweiter Konsens in Form der Agenda 2030, die die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (UN) für das laufende Jahrzehnt definiert. Darin enthalten ist das Ziel einer qualitativ hochwertigen Bildung (Ziel 4), die interdisziplinäres Wissen und sprachlich-partizipatives Lernen stärkt. Dazu gehören soziale, kognitive, emotionale, empathische und konative Prozesse rund um das Thema Nachhaltigkeit. Noch gibt es zu wenige Untersuchungen, wie sich Umweltbewusstsein in umweltbezogenes Handeln übersetzen lässt, doch ist die Schule ein geeigneter Ort, mit den notwendigen Veränderungen zu beginnen (vgl. Rodriques 2010: 56). Entsprechend fordern die Kultusminister in ihrem Bericht Zur Situation und zu den Perspektiven der Bildung für nachhaltige Entwicklung eine Neuorientierung von Bildung und Lernen, wodurch alle Heranwachsenden die Möglichkeit erhalten, sich Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Werte anzueignen, um zur Nachhaltigkeit beitragen zu können (vgl. KMK 2017: 2). Wenn sich Umweltbildung mit einer Werteerziehung verbinden lässt, kann die Lücke zwischen Wissen und Handeln allmählich geschlossen werden. Dazu eignen sich ästhetische Texte, gerade solche mit größerer Komplexität wie z.B. die Klassiker der Literatur, besonders gut:
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„Klassiker sind zudem wertvoll, weil sie aufgrund der Kanonisierungsprozesse, die sie durchlaufen haben, repräsentativ für die zentralen Wertvorstellungen einer Gesellschaft stehen“ (Rupp/Wild 2019: 24). Ähnliches gilt für die Kinder- und Jugendliteratur: „Kinderliteratur ist Sozialisationsmedium und dient damit u.a. allgemeiner Wertevermittlung“ (Rupp/Wild 2019: 26).
2 Umweltkrise und Umweltbewusstsein Die Umweltkrise hat sich im bisherigen Verlauf des 21. Jahrhunderts paradigmatisch anders entwickelt als während der vorhergehenden drei Dekaden. Die sogenannte „ökologische Epochenschwelle“ setzen Umwelthistoriker für die Zeit um 1970 (Sieferle 1994: 250) an. Prägend waren verschiedene große Umweltkatastrophen (Seveso, Bhopal und Tschernobyl, Amoco Cadiz, zur historischen Perspektive s. auch Winiwarter in diesem Band). Daraus entstand ein verändertes, bereits ansatzweise global ausgerichtetes Umweltbewusstsein mit weitreichenden politischen Folgen, die letztlich zu zahlreichen internationalen Abkommen geführt haben. Heute beherrscht ein zugleich diffuses und konkretes Gefühl der Bedrohung durch die allgegenwärtige Globalisierung der Umweltprobleme große Teile der Gesellschaft. Das Missverhältnis von Wissen und Handeln besteht jedoch fort. Es ist umso schwerer zu verändern, je stärker die Verhältnisse als undurchdringbar wahrgenommen werden (vgl. Horn 2017: 14). Klimawandel und Artensterben sind weder an einen Ort gebunden noch sind sie zeitlich in eine klare VorherNachher-Struktur einzuordnen, ganz im Gegensatz zu anderen weltweiten Katastrophen wie etwa in Tschernobyl, ein Ereignis, das sich in Fukushima in diesem Jahrhundert sozusagen wiederholt hat. Diese Katastrophen datieren auf den Tag genau, ab wann sich die Situation verändert hat. Hingegen sind Klimawandel und Artensterben Prozesse, die sich durch kein Tagesdatum markieren lassen, und sie sind auf der gesamten Erde verortet. Solche Entwicklungen verdeutlichen, dass die drei Säulen Ökonomie, Ökologie und Soziales, die weltpolitisch als anerkannte Bestandteile oder Dimensionen von Nachhaltigkeit gelten, allesamt zu wackeln scheinen, so dass Orientierung fehlt, Ordnung zerbricht und die Sicht auf Lösungen versperrt bleibt. Die langfristigen Umweltschäden durch den Klimawandel und das Artensterben sind begrifflich und diskursiv allgegenwärtig, doch als Phänomene kaum so augenfällig sichtbar wie ein explodiertes Kernkraftwerk. Sie sind vielmehr erklärungsbedürftig. Deshalb erkannte Ulrich Beck in den globalen ökologischen Krisen eine „Schlüsseldimension“ der Weltrisiko-
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gesellschaft, deren Gefahren sich weder räumlich noch zeitlich oder sozial eingrenzen lassen (Beck 2007: 153). Neben dem Umweltbewusstsein hat sich in dieser Phase noch etwas verändert: Das lange vertraute Verursacherprinzip mit anschließender Schuldzuweisung, also z.B. Schuld an der Tschernobyl-Katastrophe habe die Sowjetunion mit ihrer Mangelwirtschaft, lässt sich kaum noch anwenden, womit auch die Entlastungsfunktion dieses Prinzips wegfällt. Die große Erzählung von der „guten“ Natur und ihren „bösen“ Zerstörern funktioniert schon lange nicht mehr als universelles Legitimationsmuster (vgl. Gumbrecht/Müller-Charles 1989: 69–70). Im Rahmen des ökologischen Transformationsprozesses wird dieses Denken abgelöst durch die grüne Schuld, die eben auf der Prämisse beruht, dass die jüngere Generation über ein bestimmtes Nachhaltigkeitswissen verfügt, „das sich auf die ökologischen Implikationen der im Raum stehenden Handlungsoptionen bezieht“ (Pape 2019: 180). Dieses Wissen, beispielsweise um die Produktionsbedingungen eines Konsumguts, überträgt per Konsum die Last der Schuld auf das Subjekt, das entsprechend entscheiden muss zwischen einer eher schuldbehafteten oder tendenziell schuldneutralen Handlung, z.B. durch Verzicht auf dieses Konsumgut oder durch Kompensation (z.B. von CO2, vgl. Pape 2019: 194). Wenn sich Artensterben und der Kollaps von Ökosystemen simultan vollziehen, ist es ‚normal‘ geworden, diese komplexen Konsumentscheidungen treffen zu müssen, woran sich zugleich die Bedrohlichkeit festmacht: „Die ‚Normalität‘ wird hier zum Signifikanten für das Ausgeschlossene, Verworfene des Diskurses um die ökologische Begrenzung“ (vgl. Pape 2019: 195). Um diese Entwicklung besser zu verstehen, ist ein Blick zurück auf die Struktur des ‚alten Denkens‘ hilfreich, das ehemals zum Fortschritt beigetragen hat, nun aber weiterentwickelt werden muss, um ein moderneres Nachhaltigkeitsbewusstsein im Sinne von BNE zu fördern. Es sind hier drei Prinzipien bzw. Argumente hervorzuheben. Das ‚Polluter-Pays Principle‘ besagt, dass klimarelevante Effekte des Lebensstils nicht die Schuld des Einzelnen sind, der nichts daran ändern kann. Sie müssen vielmehr von denjenigen geändert werden, die ursächlich dafür verantwortlich sind, also z.B. die Industrie. Das Prinzip geht zurück auf die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992, auch als Earth Summit bekannt. Es ist nicht als Bestrafung gemeint, sondern formuliert eine Verantwortlichkeit nach dem Verursacherprinzip. Umweltschädliches Verhalten wird mit Kosten belegt, so dass es sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt – das war vor knapp 30 Jahren ein Fortschritt (vgl. BMZ undatiert). Auf diese Zeit, Anfang der 1990er Jahre, datiert auch der Begriff der ökologischen Schuld, geprägt von sozialen Bewegungen des globalen Südens, welcher sich auf alle Aktivitäten
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beziehen lässt, die anderswo Umweltschäden hervorrufen oder durch Konsum die Rechte anderer verletzen (vgl. Dietz/Garrelts 2013: 379). In diesem globalen Konzept verschwindet jedoch das einzelne Subjekt, das sich in seinem Umwelthandeln eher als ohnmächtig empfindet. Das wiederum liegt an der Kombination des Prinzips mit dem ‚Argument der kausalen Ineffizienz‘, welches besagt, dass der Einzelne in seinen Handlungen völlig wirkungslos ist. Sein verändertes Verhalten macht keinen Unterschied, es ist unerheblich. Eine Variation dieses Arguments gibt es auch in Bezug auf Staaten, wenn Menschen z.B. behaupten, Deutschland könne auf seine Klimaziele verzichten, weil es nur einen angeblichen Anteil an der globalen Klimabelastung von 2% habe, was letztlich egal sei. Erst einmal seien andere verantwortlich und müssten sich ändern. Das ‚Argument der politischen Verantwortung‘ rundet dieses Denken ab, indem es fordert, Regierungen müssten das Klimaproblem lösen und die Rahmenbedingungen schaffen, in denen der Einzelne klimaschonend leben kann. Alle diese Erklärungen sprechen gegen einen individuellen Beitrag zum umweltschonenden Verhalten, aber es sind Erklärungsmuster der Distanzierung und Ausgrenzung. Sie wirken zumindest bei den Jugendlichen der Fridays for Future-Bewegung nicht mehr, die sich der grünen Schuld zunehmend bewusst werden, aber auch verstehen, dass ihre Handlungsoptionen umso kleiner werden, je weniger umkehrbar die Fakten sind, die die ältere Generation in Bezug auf Umweltzerstörung schafft. Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen ist deshalb eine andere als die des skizzierten ‚alten Denkens‘. Ihre Lebenserfahrungen einer komplex verflochtenen, sich rasch verändernden Welt vielfältiger Risiken erfordern andere Strukturen von Verantwortung, die auf Selbstwirksamkeit basieren: Der einzelne Mensch kann etwas erreichen. Insofern nicht mehr ein kollektives Subjekt, eine Firma, Institution oder ein Staat, sondern ‚der Mensch‘ allgemein als Urheber an kritischen Umweltveränderungen ursächlich beteiligt ist, sind ‚alle Menschen‘ davon betroffen. Vorrangig gilt es, dieses Abstraktum ‚alle Menschen‘, dem die Anschaulichkeit fehlt, zu begreifen. Hier füllen literarische Texte, die von der Natur und den Menschen handeln, die Lücke zwischen dem Wissen um Fakten und dem Verstehen der Zusammenhänge. Angesprochen werden dadurch nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch Emotionen wie z.B. Empathie. Letztere sind essentiell für die Orientierung in der Welt, sie beeinflussen unser Denken und unser Handeln. Die Verbindung von Emotion und Kognition ist eng, zusammen bilden sie ein Erkenntnisvermögen ab, das den Bezug zur Realität gewährleistet. Die der Literatur eigenen imaginativen Verfahren involvieren den Leser und machen die historischen, kausalen und materialen Verflechtungen zwischen Mensch, Natur
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und Umwelt vorstellbar. Der Literaturunterricht regt Lernende im Sinne des Involvierungskonzepts dazu an, sogenannte bridging experiences zu ermöglichen, also Bezüge zwischen dem Text und sich selbst herzustellen, wobei sie das Verhältnis von Nähe und Distanz eigenständig bestimmen (vgl. Winkler 2015: 161). Der zweite Teil des Beitrags verdeutlicht nun durch ausgewählte Beispiele aus Kinder- und Jugendliteratur, aus Texten der Literaturgeschichte sowie aus lyrischen Texten, wie Sprache und Literatur zu BNE beitragen können.
3 BNE und Kinder- und Jugendliteratur Die deutsche Akademie für KJL veröffentlicht schon seit einigen Jahren unter dem Motto ‚Drei für unsere Erde‘ monatlich je einen Klima-, Umwelt- und Naturbuchtipp quer durch alle Altersgruppen und Genres, Romane, Sachbücher, Bilderbücher. Da können Kinder und Jugendliche die Wildnis vor der Haustür entdecken, kindliche Klimahelden kennenlernen, anhand der Gefahren für Gorillas die Zusammenhänge zwischen Artenschutz und Konsumverhalten begreifen lernen oder sich mit Darwins Über die Entstehung der Arten (engl.: On the Origin of Species, 1859) beschäftigen, nacherzählt in einer altersangemessenen Form. Hierfür finden sich Beispiele sowohl in bereits kanonisierten Texten als auch in Texten der Gegenwart. So spielt in dem durch die Disney-Verfilmung berühmt gewordenen Kinder- und Jugendroman Bambi von Felix Salten aus dem Jahr 1923 die den Rehen zugewiesene einfache und geradezu verfremdend naive Sprache eine entscheidende Rolle, um eine Zerstörung der Umwelt durch den Menschen zu kennzeichnen. Der Jäger, repräsentativ für den Menschen schlechthin, wird lediglich mit dem Pronomen „Er“ bezeichnet. Sein Gewehr erscheint Bambi als ausgestrecktes drittes „Bein“, die Schüsse daraus werden aus der Perspektive der Rehe als ein aus dem Menschen hervorbrechendes „Feuer“ gedeutet, und die Baumsäge, mit der die Menschen den Wald roden, erweist sich in der Wahrnehmung der Tiere als ein „riesengroße[r], blinkende[r] Zahn“ (Salten 1959: 46, 76, 157). Hinsichtlich der Gegenwart entstehen im Kontext des Insektensterbens zahlreiche Publikationen zum Thema ,Bienen‘. In Norbert Scheuers 2019 erschienenem Roman Winterbienen helfen Bienen bei der Rettung verfolgter jüdischer Kinder. Für die Kinderliteratur sticht unter den Neuerscheinungen das 2017 mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Sachbilderbuch Bienen (2016) von Pjotr
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Socha hervor.1 Petra Posterts Kinder- und Jugendroman Das Jahr, als die Bienen kamen (2017) schildert die Erfahrungen der 12-jährigen Protagonistin Josy mit einem Bienenstock, den ihr der Großvater vererbt hatte. Indem sie sich das Fachvokabular der Imkerei aneignet (z.B. „Zargen aus Weymouthskiefer“, Postert 2017: 92), wird ihr nicht nur in der Schule, sondern auch im Imkerverein Anerkennung zuteil. Sie gewinnt an Selbständigkeit und kann ihren Eltern selbstbewusster gegenübertreten. Jugendliche Leser und Leserinnen erwerben nahezu spielerisch Wissen und Kenntnisse über die Abläufe im Bienenstock und werden angeregt, sich mit den vom Artensterben bedrohten Insekten auseinanderzusetzen (vgl. Grimm i. Dr.). Bei Jugendlichen besonders beliebt sind die Future Fictions, eine Untergattung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Die phantastischen Phänomene und Erfindungen werden von der Technik bestimmt, sind schon heute vorstellbar und in der Zukunft zu erwarten: Verheerende Klimawandelfolgen, Kampf und Krieg um Ressourcen, künstlich erzeugte Mutationen. Gezeigt wird der Fortschritt der Naturbeherrschung nicht von seiner nützlichen, sondern von seiner bedrohlichen Seite (vgl. Rank 2014: 6). Der Erfolg dieser Gattung reflektiert das Katastrophengefühl der jungen Generation (vgl. Hollm/Uebel 2006: 181), die selbiges auf diese Weise zugleich bewältigen kann. Das beliebte Genre Young Adult Dystopia (YAD) vermittelt Jugendlichen über die literarischen Identifikationsfiguren den ungeheuren Verlust, der durch die Zerstörung der Natur eintreten wird, wenn alles so weitergeht. Insofern sind YAD nicht nur genuiner Gegenstand eines modernen Literaturunterrichts, sondern leisten auch einen wichtigen Beitrag zur Umwelterziehung, der sich unter dem Oberbegriff ‚Wertschätzung der Natur‘ zusammenfassen lässt. Die Figuren dieser Romane reden und erklären nicht nur oder suchen nach Ursachen, sie handeln – und daran orientieren sich die Jugendlichen. In Suzanne Collinsʼ Tribute von Panem (amerikan. The Hunger Games, 2008–2010) müssen jeweils zwei aus den zwölf Distrikten von Panem ausgewählte Jugendliche als Tribut für eine vergangene Rebellion auf Leben und Tod in einer künstlich hergestellten Wildnis mit gefährlichen Tieren gegeneinander kämpfen, bis eine/r übrigbleibt. Die Kämpfe werden sowohl zur Unterhaltung als auch zur Abschreckung und Warnung an die Bevölkerung, weitere Aufstände anzuzetteln, im ganzen Land im Fernsehen ausgestrahlt. Der dargestellte Überlebenskampf in der wilden Natur soll die jugendlichen Leser und Leserinnen bzw. das Publikum der Verfilmungen anregen, über das Verhältnis des Menschen zur Natur und insbesondere deren begrenzte Ressourcen nachzudenken. Die Hauptfiguren bieten dem jungen Lesepublikum genug Identifikationsspielraum, um || 1 Für Kinder ab 5 Jahren, erschienen im Gerstenberg-Verlag Hildesheim.
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ihnen Empathie fördernde Zugänge zu ermöglichen: Gerade Empathie als mehrdimensionale soziale Fähigkeit verfügt über kognitiv-rationale und affektiv-emotionale Komponenten (vgl. de la Camp 2019: 390), welche durch das Lesen von Literatur gefördert werden und so zu einer Verankerung von BNE im Bewusstsein beitragen können.
4 BNE und Texte der Literaturgeschichte Sprache und Literatur können mittels historischer literarischer Texte zu BNE beitragen. Sie veranschaulichen, wie unser heutiges Naturverständnis entstand und unterstützen das so notwendige Erkennen der Zusammenhänge, indem sie dessen Entstehung und Wandlung verdeutlichen. Literatur hat sich z.B. in den Epochen der Romantik und des poetischen Realismus mit der beginnenden Industrialisierung, mit den Veränderungen durch technikbasierte Mobilität (Eisenbahn) und den Folgen extensiver Energieerzeugung auf die Umwelt (Bergbau) auseinandergesetzt. Mit anderen Worten: Sie zeigt die Kehrseiten und Problematiken der Modernisierungsprozesse. Von den Anfangszeiten der Mechanisierung und Naturforschung lässt sich aus entsprechenden literarischen Texten des 17. bis 20. Jahrhunderts einiges lernen. In der romantischen Literatur offenbaren die Naturdarstellungen noch weitgehend religiöse und z.T. mythologische Aufladungen, die erst mit der zunehmenden Säkularisierung zurückgehen. In Novalisʼ (d.i. Friedrich von Hardenbergs) Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) wird der Titelheld von einem alten Bergmann in die zugleich faszinierende und gefährliche Welt des Bergbaus mit ihren metallenen Schätzen eingeführt, deren Abbau durch göttlichen Segen legitimiert werden muss. Das Thema des Bergbaus setzt sich fort in E.T.A. Hoffmanns spätromantischer Erzählung Die Bergwerke zu Falun (1819). Hier ist der junge Elis Fröbom hin- und hergerissen zwischen der geheimnisvollen Bergkönigin mit ihrem Kristallreich, zu dem ihn die Erscheinung eines einst verschütteten Bergmanns geführt hat, und seiner Liebe zu Ulla, zu der er sich in der realen Welt hingezogen fühlt. Am Tag der Hochzeit möchte er noch einen Edelstein aus dem Berg holen, um seine Ehe zu festigen, er kehrt aber nicht mehr zurück. Nach 50 Jahren wird seine konservierte Leiche geborgen, Ulla erkennt in ihm ihren Bräutigam und stirbt, als sie den toten Körper umarmt. Johann Peter Hebels Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds (1811) ist eine wahre Fundgrube für das Naturbild im frühen 19. Jahrhundert, welches sich einerseits auf naturkundlich-aufklärerische Forschungen stützt, andererseits aber diese Kenntnisse noch im Rahmen eines göttlichen Schöpfungsplans ver-
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ortet. Die Kalendergeschichte Der Mensch in Kälte und Hitze preist die Anpassungsfähigkeit des Menschen in klimatisch unterschiedlichen Gegenden der Welt als Vorzug gegenüber den Tieren. In Der Maulwurf verweist der Erzähler auf anatomische Untersuchungen mit dem Ziel einer Umdeutung des Titeltiers vom Schädling zum Nützling, da der Maulwurf selbst andere Schädlinge beseitigt. In Baumzucht schließlich nimmt der Erzähler bereits den heutigen Nachhaltigkeitsdiskurs vorweg, wenn er dafür plädiert, eher einen Obstbaum zu pflanzen, denn ein „Kühlein“ zu kaufen, da der Obstbaum im Unterhalt weniger aufwändig sei und im Vergleich für eine längere Dauer Nahrung für zukünftige Generationen produziere (Hebel 1999: 281). Die Kehrseiten und Problematiken des Modernisierungsprozesses werden deutlich in Wilhelm Raabes Pfisters Mühle (1883/84), der die „industrielle Bedrohung der Natur“ (Wanning 2005a: 6) thematisiert und daher als erster ökologischer Roman gelten kann. In der Rahmenhandlung verbringen Ebert Pfister und seine Frau die Sommerferien in ‚Pfisters Mühle‘, dem ehemaligen Ausflugslokal seines mittlerweile verstorbenen Vaters. In Rückblicken erzählt Ebert, wie durch den Gestank der industriellen Abwässer und die verendeten Fische im Mühlenbach die Existenz seines Vaters vernichtet wurde. Der realistische Anspruch des Romans wird eingelöst, indem das Geschehen auf einem tatsächlichen Gerichtsprozess beruht, den 1881 zwei Mühlenbesitzer aus der Umgebung von Braunschweig gegen die Rautheimer Zuckerfabrik führten. Im Roman findet Eberts Vater Beistand im erfolgreichen Prozess gegen die Zuckerrübenfabrik Krickerode vonseiten des Chemikers Dr. Adam Asche. Dessen wissenschaftliche Analysen führen die Ursachen der Verunreinigung des Bachs nachweislich auf Krickerode zurück. Asche verkörpert insbesondere durch seine Sprache die nunmehr durch die Wissenschaften erfahrbare Welt – die Welt der alten Mühle des Vaters Pfister bleibt als „beschädigte Idylle“ (vgl. Wanning 2005b: 326–392) in Erinnerung. Theodor Fontanes Ballade Die Brückʼ am Tay (28. Dezember 1879) (1880) thematisiert das Eisenbahnunglück auf der schottischen Firth of Tay-Brücke in der Nähe von Edinburgh, die lediglich eineinhalb Jahre nach der Eröffnung im Sturm einstürzte und mit dem Zug 75 Menschen in den Tod riss. Die Schulbücher besprechen die Ballade, in der das Brückenwärtersehepaar seinen Sohn Johnie verliert, in der Regel unter dem Aspekt der Technikkritik. Das Geschehen wird sprachlich gerahmt von einer Unterhaltung dreier Hexen, die Fontane Shakespeares Tragödie Macbeth entlehnt. Deren Refrain – „Tand, Tand ist das Werk von Menschenhand“ – zielt darauf, den Glauben des Menschen, in dem Falle Johnies, an die Naturbeherrschung – „Wir kriegen es unter: das Element“ (Fontane 1966: 285) – in Frage zu stellen.
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Als Fluchtpunkt ökologisch ausgerichteter Romane der Gegenwartsliteratur ist auf Ilija Trojanows Klimawandelroman EisTau (2011) einzugehen. Darin berichtet der Wissenschaftler und Glaziologe Zeno Hintermeier auf sprachlich verschiedenen Erzählebenen von einer Kreuzfahrtexpedition in die Antarktis, bei der er den reichen Touristen das Eis erklärt. Zeno befindet sich in dem Dilemma, dass er einerseits Ausbeutung und Zerstörung der Natur kritisiert, zugleich aber selber in seiner Rolle als Touristenführer zum Akteur dieses Geschehens wird und koloniale Muster wiederholt. Seine Liebe zum Gletscher steigert sich in dem Maße, wie sich seine echte Ehe auflöst. Die Erkenntnis, dass der Gletscher nicht zu retten ist, durchzieht den Roman mit einem elegischen Ton. Erbost über den naiven und falschen Umgang der Touristen mit der Natur entführt er am Ende das Kreuzfahrtschiff, als ein Event-Künstler mit dem gesamten Personal und Gästen auf dem antarktischen Festland ein SOS-Symbol bildet.
5 BNE und lyrische Texte Ein dritter hervorzuhebender Beispielbereich sind lyrische Texte, die durch ihre besondere Sprachform weitere Möglichkeiten bieten, einen Beitrag zu BNE zu leisten. Natur ist eines der wichtigen Themen der Lyrik. Es finden sich Gedichte über Pflanzen und Tiere, Landschaften und Meere, Tages- und Jahreszeiten sowie über den Nutzen der Natur, über Saat- und Erntezeiten, über die Freude, die der Mensch an der Natur hat, aber auch über die Zerstörung der Natur, über ihr Leiden. Zugleich wird Wissen über die Natur oder, genauer, über das Verhältnis von Mensch und Natur in einer besonderen Weise vermittelt, die viel mit der Sprachverwendung im Gedicht zu tun hat. Barthold Hinrich Brockesʼ kunstvolles Gedicht über Die kleine Fliege (1736) aus der Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott grenzt sich ab von der zeitgenössischen Barockdichtung, die den Menschen auf ein besseres Leben im Jenseits vertröstet. Das lyrische Ich beschreibt die einzelnen Teile des kleinen Fliegenkörpers, das „Köpfgen grün“, das „Cörperchen vergüldet“, das klare „Flügel Par“ und deren farblich variierendes Schillern im Sonnenlicht (Brockes 1736: 120f.). Das zeitgenössische Lesepublikum empfand ,irdische Vergnügen‘ angesichts der sinnvoll und zweckmäßig eingerichteten Ordnung der Natur, was zugleich als Gottesbeweis diente. Durch die mit der sprachlichen Darstellung gegebene historische Distanz können die Schüler und Schülerinnen nicht nur Vergleiche zum heutigen Umgang mit Insekten anstellen, sondern sie erfahren auch etwas über die sprachgeschichtliche Entwicklung. In vielfacher Hinsicht aufschlussreich ist die Thematisierung des Waldes in der deutschen Lyrik. In der romantischen Dichtung Ludwig Tiecks zerfällt die
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Trennung von Phantasie- und Tatsachenwelt in der Vorstellung der ,Waldeinsamkeit‘, die gleichsam zu einem poetischen Ideal erhoben wird. In Eichendorffs Gedicht Abschied (1810), das mit dem Ausruf „O Täler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald“ (Eichendorff 1970: 67) einsetzt, dient der Wald als Rückzugsort gegenüber der Geschäftswelt der Moderne. Die Natur erscheint bei Eichendorff nach wie vor religiös aufgeladen, der Mensch weiß sich in ihr geborgen. Im späteren Gedicht Zwielicht (1815) werden aber auch die Gefahren des Waldes thematisiert, das vormals Heimliche schlägt ins Unheimliche um, und der Wald als Ort der Jagd erhält eine neue Bedeutung als Repräsentant der modernen Ambivalenz und zunehmenden Orientierungslosigkeit. Elias Canetti hat in diesem Kontext allerdings auch an den sprachlichen Missbrauch der Waldmetapher etwa in Eichendorffs Tiroler Nachtwache (1810) durch die Nationalsozialisten erinnert, welche die metaphorische Vorbildfunktion der Baumstämme im Wald für den menschlichen Zusammenhalt zum Anlass nahmen, Heer und Wald im Bild des „marschierende[n] Wald[es]“ miteinander zu verknüpfen (Canetti 1960: 195). Gedichte halten auf unterschiedliche Weise die Waage zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit, das gilt gerade auch für Kindergedichte. Natur-Gedichte sind damit geeignet, einen sprachreflexiven Zugang zu öffnen. Sie fordern als kleine literarische Formen zur Ausbildung unterschiedlicher Nachhaltigkeitskompetenzen auf: zum Wissenserwerb, zum ästhetischen Schreiben über die Natur und zum Reflektieren über das Verhältnis des Menschen zur Natur (vgl. Wanning/Stobbe 2020: 226f.). Ausgehend von einem einfachen, achtzeiligen Kindergedicht, betitelt Verlassene Alm (1954) von Günter Eich, führt Kaspar H. Spinner in beeindruckender Weise vor, wie mit produktiven Schreibaufgaben zu den verschiedenen Jahreszeiten sprachliche Strukturen, so etwa Tempus, Fragesatz, Reime bzw. Reimlosigkeit, eingeübt und Sprachbewusstsein entwickelt werden kann (vgl. Spinner 2004). Zugleich repräsentieren Gedichte die Natur auf eine Weise, die über die Alltagserfahrung hinausgeht. Das Lesen von Gedichten erzeugt Vorstellungen, die im Zusammenwirken visueller und verbaler Elemente zum Verstehen der Texte führen. Mit anderen Worten: Kinder und Jugendliche erfahren etwas über die Natur, was sie so einem Sachtext nicht entnehmen könnten. In Goethes Ballade Erlkönig (1782) erzeugt die Angst des Knaben Vorstellungsbilder über die Bedrohungen der Natur, die der Vater vergebens zu beschwichtigen sucht. Die vielschichtige Ballade, in der neben Vater und Sohn auch der Erlkönig zu Wort kommt und den bangen Knaben mit seinen Töchtern lockt, lässt sich in unterschiedlichen Stimmlagen lesen und mit entsprechenden Illustrationen verbinden. Letztlich wäre die Angst des Knaben als das Erwachen seiner eigenen Natur und seiner Triebe zu verstehen, wodurch er die Kindheit hinter sich lässt. Auf diesen wich-
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tigen Schritt hin zum Erwachsenendasein werden die jugendlichen Leser und Leserinnen in subtiler Weise vorbereitet. Dekodierungsprozesse spielen bei Gedichten eine große Rolle, so dass die jungen Rezipienten kognitiv-emotional involviert werden, wodurch wiederum affektive Komponenten ins Spiel kommen. Bei einem Text über die Biologie der Rose ist deren Schönheit, und weshalb Menschen sie bewundern, unerheblich – es geht nur um die Fakten. Das ist in Gedichten über Rosen mit vielfältigem symbolischen und ästhetischen Gehalt anders. Eine solche Herangehensweise an die Rose steht nicht in Konkurrenz zur Biologie, sie ergänzt diese vielmehr. Erst die verschiedenen disziplinären Herangehensweisen zusammen tragen zum Aufbau eines nachhaltigen Umweltbewusstseins bei, das kognitive und affektiv-emotionale Aspekte verbindet. Handeln entsteht nicht aus kognitiver Einsicht allein. So kündigt in Goethes Heidenröslein (1771 und 1789) der Knabe, der dem Röslein gegenübersteht, an, es zu brechen, worauf das Röslein droht, sich mit einem Stich zur Wehr zu setzen. Beides wird im Gedichttext wahrgemacht; Goethe hatte hier wohl eher die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Blick, aus heutiger Sicht lässt sich eine Deutung jedoch durchaus auf das faktische Pflücken einer Rose oder im Hinblick auf den Umgang mit der Umwelt erweitern. Legitimiert wird dies nicht zuletzt im Blick auf das spätere Gedicht Gefunden (1813), in dem Goethe das Motiv wieder aufgreift. Anstatt das „Blümchen“ zu brechen, schildert das lyrische Ich, wie es die Pflanze ausgräbt und „mit allen den Würzlein“ im Garten einpflanzt (Goethe 1989: 254ff.). Eine moderne Skepsis gegenüber den Auswüchsen des wissenschaftlichen und – in diesem Fall biologischen – Forschens spricht sich aus in Durs Grünbeins Biologischer Walzer (1994), in dem sich der Autor mit den Grenzen der Wissenschaft auseinandersetzt. Das Zustandekommen der Sprache, etwa von Vokalen oder Konsonanten, kann letztlich durch „nichts erklärt“ werden. Versuche, Emotionen wie Trauer durch Gehirnströme in Tierversuchen messen zu wollen, stellt die Humanität des Wissenschaftlers in ein zweifelhaftes Licht und lässt seine hehren Ansprüche verkümmern. Dies wird in folgendem Refrain ausgedrückt: „Wenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind / sind wir schwierige Tiere, weil nichts mehr stimmt“ (Grünbein 2006: 315).
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6 Nachhaltigkeit als literarisches Ordnungsmuster und der Beitrag von Literatur zu BNE Wurden die bisherigen Beispiele nach dem bekannten Schema von Epoche und Gattung organisiert, so lässt sich noch ein anderes, Sprache und Literatur verbindendes Ordnungsmuster denken. Es stützt sich auf die Begriffe, die im Nachhaltigkeitskontext ganze Themenfelder generieren, welche dann mit entsprechenden literarischen und anderen Texten angefüllt werden können. Dazu muss freilich literarisches Orientierungswissen und symbolbildendes Sprachverständnis gewissermaßen als Substruktur vorhanden sein. Die unter den einzelnen Inhalten subsumierten Begriffe können dann ,verkettet‘ werden. Raum und Landschaft Landschaft und Energie Energie und Klimawandel Klimawandel und Artensterben Artensterben und Menschenbild Dieser Aufbau orientiert sich an den großen „ökologischen Narrativen“ (vgl. Bühler 2016: 152–157). Andere populäre Begriffe wie Katastrophe, Anthropozän, Mobilität können als Einzelthemen mehrfach verortet werden und lassen sich sogar durch die verschiedenen ‚Kettenglieder‘ hindurch schieben. Die drei hier vorgestellten Beispielbereiche haben gezeigt: Durch eine entsprechende Literaturauswahl wird es möglich, sehr genau auf das Alter und die Interessen der Kinder und Jugendlichen einzugehen, was der Lesemotivation dient und die exakte Passung an den Leistungsstand erleichtert. Ebenso lassen sich Themen leicht aktualisieren und synchrone bzw. diachrone Perspektiven einrichten. So kann die Beschäftigung mit einschlägigen literarischen Texten zur Bildung eines zeitgemäßen ökologischen Bewusstseins beitragen. Literatur ermöglicht Kindern und Jugendlichen, die mit den Umweltproblemen zusammenhängenden gesellschaftlichen Faktoren und Prozesse zu durchschauen. Die vorgestellten Szenarien wecken ihr Interesse, geben Orientierung durch sinn- und identitätsstiftende Figuren und Perspektiven, begeistern sie durch Spannung und fördern das Nachdenken durch mehrschichtiges Interpretieren. Die notwendige Verknüpfung von Denken (in seinen Funktionen als „Erkennen“ und „Bewerten“) und Handeln gehört bereits zu einem kompetenzorientierten Deutschunterricht und wird durch die Ausrichtung auf BNE zusätzlich betont (vgl. Hoiß 2019: 28f.) In diesem Zusammenhang treten die Stärken literarischer Texte noch-
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mals hervor: Die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre eigenen Fragen und Bedürfnisse zu artikulieren. Zusätzlich können sie mittels literarischer Spielräume erkunden, wie politische oder persönliche Intervention denkbar und Zukunft gestaltbar wird. Da jeder Text einen Vorstellungsraum öffnet, ist es möglich, diesen mit alternativen Kulturentwürfen und Naturkonzepten zu füllen und die kulturelle Phantasie zu schulen. Schule und Unterricht stehen heute in der Pflicht, sie dies zu lehren. Somit ist BNE auch ein Bildungskonzept der Verantwortung, das die „Möglichkeit eines Nachdenkens über eine verantwortungsvolle Rolle der Spezies Mensch auf dem Planeten“ (Hoiß 2019: 231) eröffnet. In der Forschung wird zudem die Forderung nach einer „Bildungsethik zur Nachhaltigkeit“ laut, die jedoch nicht politisch-ökologisch funktionalisiert werden darf, sondern letztlich ihren Kern im Subjekt hat (Leinfelder 2013: 290). Kinder und Jugendliche können über die Texte hinausgehen und deren Inhalte mit ihrer unmittelbaren Lebenswelt verbinden. Sie erkunden auf diese Weise kausale und interdependente Strukturen, um sich eine Meinung zu bilden und eine ethische Haltung zu entwickeln. Später sind es diese Kinder und Jugendlichen, die als nachfolgende Generation die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Wissen über die Umwelt, die Fähigkeit, eigene Einstellungen im Hinblick auf Verantwortung für die Zukunft zu verändern sowie eine Orientierung der Werte am Prinzip der Nachhaltigkeit – all dies kann eine durch Sprache und Literatur geschulte BNE der nächsten Generation aus dieser besonderen Perspektive vermitteln. Es geht gar nicht unbedingt darum, ganz neue thematische Inhalte aufzunehmen: Es geht stattdessen um die Neuausrichtung der Fächer, damit sie einem sozial und global relevanteren Zweck dienen: beizutragen zu einer nachhaltigen, gerechten und friedlichen Welt mit jungen Menschen, die motiviert, darauf vorbereitet und mündig sind, bestehende und lokale sowie globale Herausforderungen zu meistern (vgl. UNESCO/MGIEP 2019: 24).
Damit verbunden ist ein doppeltes Lernziel: „(1) die Förderung der kognitiven Entwicklung der Lernenden und (2) die Kultivierung von Fertigkeiten, Wissen, Werten und Einstellungen“ (UNESCO/MGIEP 2019) im Sinne einer Verankerung von BNE in die Bildung. All dies kann der nächsten Generation durch die intensive Beschäftigung mit Sprache und Literatur aus der kulturell-ästhetischen Perspektive vermitteln werden, wenn BNE in die entsprechenden Bildungsprozesse integriert wird. Gerade durch Literatur lernen Schülerinnen und Schüler „verschiedene Perspektiven auf ein Thema kennen und so auch die Perspektiven und Werte, die wir für eine nachhaltige Welt brauchen“ (UNESCO/MGIEP 2019: 209). Dieser Beitrag hat konkrete Wege aufgezeigt, um die genannten bildungspolitisch fundierten Ziele erreichbar zu machen.
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Roman Bartosch
„Tiere erzählen“: Fachdidaktische Perspektiven auf Nachhaltigkeit Zusammenfassung: Das Thema Nachhaltigkeit findet seine fachdidaktische Entsprechung in der in letzter Zeit immer lauter werdenden Forderung nach Nachhaltigkeitserziehung sowie der jüngst curricular verankerten Querschnittsaufgabe einer „Erziehung für nachhaltige Entwicklung“. Die dort formulierten Ideen deuten jedoch darauf hin, dass es einer grundlegenden Auseinandersetzung über den Eigenwert narrativer Fiktion und somit einer Zusammenarbeit zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik bedarf, welche die Rolle und Funktion literarischen Lernens klarer konturiert. Der Beitrag stellt einen Versuch in diese Richtung dar und diskutiert Nachhaltigkeit aus einer didaktischen Perspektive, die Mensch-Tier-Beziehungen im Kontext von Biodiversität und Artensterben einerseits und der sprachlichen Verfasstheit von Literatur andererseits theoretisch reflektiert und im Hinblick auf die sprachwissenschaftliche Unterscheidung verschiedener Wissensdomänen und die literaturtheoretische Frage nach einer „Wissenspoetik“ und der modellierenden Funktion der Literatur untersucht. Schlüsselwörter: Human-Animal Studies, Erziehung zur Nachhaltigkeit, Literaturdidaktik, Wissenspoetologie, literarische Modellierung, T.C. Boyle, Question 62
1 Einleitung Tiere erfreuen sich im didaktischen Feld, bei Lernenden wie Lehrenden, einiger Beliebtheit: In Erzählungen, die im Unterricht eingesetzt werden, finden sie sich ebenso wie in Aufgaben und in curricular festgesetzten Schwerpunkten wie dem Erfahrungsfeld „eine Welt für alle“ mit dem Unterpunkt „our nature“ in den Kernlehrplänen Englisch des Landes Nordrhein-Westfalen. In jüngster Zeit rücken Tiere auch in einem anderen Kontext in den Fokus der Aufmerksamkeit: Im Zuge der Debatte um Biodiversität und Artensterben im Kontext der Klimakrise entwickelt sich langsam ein Bewusstsein dafür, dass auch im Rahmen von Versuchen
|| Roman Bartosch, Universität zu Köln, Englisches Seminar II, Gronewaldstraße 2, 50931 Köln, Deutschland, roman.bartosch[at]uni-koeln.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-005
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einer Bildung zur Nachhaltigkeit über Tiere gesprochen werden muss (vgl. Bartosch i. Dr.). Der folgende Beitrag greift beide Befunde auf und diskutiert sie vor dem Hintergrund der These, dass beide Zugänge – der das individuelle Tier als literarische Figur oder als Haustier begreifende ebenso wie der abstrakt-ökologische, der Biodiversität durch das Prisma der Speziespopulation betrachtet – Überschneidungen, aber vor allem auch fundamentale Differenzen aufweisen. Diese Diagnose bildet den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen zu Skalierung und Modellierung mit und durch Literatur, die wiederum als Grundlage fachdidaktisch orientierter Gedanken zur Literaturvermittlung dienen. Das Thema der Nachhaltigkeit findet seine fachdidaktische Entsprechung in der in letzter Zeit immer lauter werdenden Forderung nach Nachhaltigkeitserziehung sowie der jüngst sogar curricular verankerten Querschnittsaufgabe einer „Erziehung für nachhaltige Entwicklung“ (vgl. den Orientierungsrahmen für den Lernbereich „Globale Entwicklung“ der KMK 2016). Der dort erkennbare Fokus auf das Subthema „nachhaltigen Konsum“ einerseits sowie die wiederholt formulierte Idee, sprachliche Fächer eigneten sich vor allem deshalb zur Nachhaltigkeitserziehung, weil sie Lernenden helfen könnten, wissenschaftliche Fakten aus literarischen Texten zu extrahieren, deuten jedoch darauf hin, dass es einer grundlegenden Auseinandersetzung über den Eigenwert narrativer Fiktion und somit einer Zusammenarbeit zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik bedarf, welche die Rolle und Funktion literarischen Lernens klarer konturiert. In diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, Nachhaltigkeit aus einer didaktischen Perspektive zu konzeptionieren, die Mensch-Tier-Beziehungen im Kontext von Biodiversität und Artensterben einerseits und der sprachlichen Verfasstheit von Literatur andererseits theoretisch reflektiert. Literarische Tiere werden dabei hinsichtlich ihrer semantischen Ambiguität beschrieben und im Hinblick auf die sprachwissenschaftliche Unterscheidung verschiedener Wissensdomänen (vgl. Schwegler/Mattfeldt/Wanning in diesem Band) und die literaturtheoretische Frage nach einer „Wissenspoetik“ untersucht und als Grenzgänger des Domänenwissens beschrieben. Unter Rückgriff auf die Idee der literarischen Modellierung sollen abschließend die Implikationen einer solchen Sichtweise für eine theoretisch fundierte Fachdidaktik dargestellt werden.
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2 Human-Animal Studies in der kulturwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung Aktuelle Debatten zur Nachhaltigkeit fokussieren oftmals auf Phänomene des Klimawandels und dabei vor allem auf den menschlichen CO2-Ausstoß. Die einschlägigen Texte – so beispielsweise der allseits bekannte Bericht des Club of Rome, The Limits to Growth (Meadows et al. 1972) oder das seit 2009 oftmals zitierte Konzept der planetaren Grenzen, das dem sogenannten Rockström-Bericht (Rockström et al. 2009) entnommen ist – thematisieren zwar auch immer Aspekte der Biodiversität bzw. des Biodiversitätsverlusts; dennoch konzentrierte sich die nachhaltigkeitsorientierte Forschung ebenso wie entsprechend ausgerichtete didaktische Modelle zuvorderst auf klimatische Problemlagen und daraus erwachsene Implikationen für Konsumgewohnheiten, globales Wirtschaften oder auch die diesen Praktiken zugrundeliegenden Mensch-Natur-Verhältnisse und -Verständnisse. Auch in der literatur- und kulturdidaktischen Forschung sah es bislang ähnlich aus: Zwar gab es schon früh Untersuchungen z.B. zu kulturellen Vorstellungen einer Grenze zwischen Menschen und Tieren ebenso wie Studien zu Tiermotivik und Tiergeschichten (z.B. Römhild 1999), doch das seit den 1990er Jahren verstärkt institutionalisierte Forschungsparadigma des Ecocriticism bzw. der Kulturökologie behandelte primär Naturvorstellungen und seit einigen Jahren ebenfalls vor allem Darstellung des Klimawandels in Literatur, Film und anderen Medien (Goodbody/Rigby 2011; Zapf 2008; Johns-Putra 2019). Ein Grund liegt laut Rebecca Raglon und Marian Scholtmeijer in den unterschiedlichen auktorialen, aber auch analytischen Absichten von einerseits ökologisch orientierter Literatur(wissenschaft) und andererseits jener, die Tierperspektiven vor allem im Sinne einer Anwaltschaft und Fürsprache („advocacy“) thematisieren: The most obvious difference emerges from the fact that environmental literature is frequently philosophically oriented toward a „big picture“ view, that is, concerned with nature’s processes as a whole, or with ecosystems. Since writers cannot really „experience“ an ecosystem, such a focus frequently relies on scientific knowledge (if the author herself is not a naturalist) to fill in missing parts of the picture. (Raglon/Scholtmeijer 2007: 122)
Im Gegensetz dazu fokussiere „animal advocacy literature“ eher die Beziehung zwischen individuellen Menschen und ebenso individuellen Tieren, während die ökologische Makroperspektive als emotionslos kritisiert oder hinterfragt und die Idee einer menschlichen Beobachtungsposition auf das große Ganze erzähllogisch und ethisch problematisiert wird. Raglon und Scholtmeijer betonen dabei, dass ihre Darstellung vereinfachend sei und es natürlich Beispiele in der Literatur
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gebe, in denen diese Perspektiven in Einklang gebracht werden, wie es auch dieser Beitrag zeigen will. Nichtsdestoweniger halte ich die Diagnose der Autorinnen insofern nach wie vor für angemessen, als dass sowohl die primär ökologisch als auch die primär phänomenologisch oder tierethisch konturierte Perspektive bedeutsame Inkommensurabilitäten aufweisen, die im Folgenden vor dem Hintergrund von Skalierungsproblemen diskutiert werden (siehe auch Chakrabarty 2016). Als weiteren Grund für die divergierenden Forschungsprogrammatiken des ökologischen Ansatzes gegenüber dem tierorientierten, die beide aus den unterschiedlichen Perspektiven der jeweiligen literarischen Texte hervorgehen, nennen Raglon und Scholtmeijer die unterschiedlichen Grade emotionaler Verbundenheit: Während ökologische Perspektiven nicht zuletzt durch naturwissenschaftliche Validierung, aber auch aufgrund einer oft eher konservativen Fokussierung auf den Erhalt bestehender Ökosysteme entweder im Modus des Erhabenen und der Ehrfurcht operieren, sind Tiererzählungen mit dem Problem konfrontiert, als (zu) emotional und anthropomorphisierend wahrgenommen zu werden: „the writer focusing on nonhuman animals appeals to emotional sensibilities and is thus often charged with sentimentality, even if they take note of dwindling numbers of disappearing species“ (Raglon/Scholtmeijer 2007: 124– 125). Verstärkte Aufmerksamkeit erlangten entsprechende, vermeintlich primär tierethische und oft als sentimental markierte Fragestellungen in der Literaturwissenschaft und -didaktik unter anderem durch einen Schlüsseltext zu kulturellen und vor allem philosophischen Mensch-Tier-Beziehungen, der auch für die hier vorgestellten Überlegungen interessant ist: 2008 erschien Jacques Derridas The Animal that (Therefore) I Am (in der deutschen Übersetzung: Das Tier, das ich also bin). Dieser Text stellt nämlich eine interessante Doppelbewegung dar: Die im Verlauf vorgestellten Analysen und die damit verbundenen Reflexionen zur Rolle und zum Verständnis der Mensch-Tier-Grenze in der westlichen Literatur und Philosophie, die schließlich in der Dekonstruktion der Idee des Tiers gipfeln, werden durch eine ganz und gar banale Alltagssituation provoziert. Derrida, der weltweit bekannte Philosoph, schildert, wie er eines Morgens aus der Dusche steigt – und von seiner Katze angeschaut wird. Der daraus erwachsene Moment des gegenseitigen Anblickens sowie das Gefühl der Scham ob seiner Nacktheit bringen Derrida dazu, philosophische Überlegungen zum Erblicken und Erkennen und Fragen von Sprache, Kognition, Bewusstsein und eben Scham zu reflektieren. (Die Philosophin Donna Haraway kritisiert deshalb dann auch die scheinbar instinktive Reaktion, diese sehr materielle und persönliche Situation zugleich ins Abstrakt-Analytische aufzulösen: „He came right to the edge of respect, of the
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move to respecere, but he was sidetracked by his textual canon of Western philosophy and literature […]. Somehow in all this worrying and longing, the cat was never heard from again […]“, Haraway 2008: 20). Derridas Überlegungen führen ihn zu der Frage, ob man überhaupt jemals sinnvoll von ‚dem‘ Tier sprechen und annehmen könne, von ‚dem‘ Tier angeblickt zu werden, und er stellt fest, dass der die Überlegungen auslösende Vorfall eben kein Aufeinandertreffen mit ‚dem‘ Tier als solchem war: „I must immediately make it clear, the cat I am talking about is a real cat, truly, believe me, a little cat. It doesn’t silently enter the bedroom as an allegory for all the cats on the earth, the felines that traverse our myths and religions and fables“ (Derrida 2008: 6). Im weiteren Verlauf analysiert Derrida, wie individuelle Tiere in der Philosophie im Gegensatz zu dieser singulären Alltagserfahrung zu einem „allgemeinen Singular“ verformt werden und bezeichnet dies – gewohnt kreativ – als bêtise bzw. Eselei (Derrida 2008: 18). Diese Überlegungen fasst er in einem weiteren Wortspiel zusammen, wenn er vorschlägt, statt vom Tier bzw. Tieren (franz. animal bzw. animaux) lieber vom animot zu sprechen: Phonetisch nicht von der Pluralform zu unterscheiden, stellt es morphologisch den kritisierten allgemeinen Singular dar und dekonstruiert ihn durch den Zusatz, dass es sich bloß um eine sprachliche Markierung handelt (vgl. Derrida 2008: 47). In der kultur- bzw. literaturwissenschaftlichen Forschung, deren Expertise sowie theoretisches und methodisches Werkzeug sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass sie es erlauben, Bedeutung und deren Herstellung durch Symbole, Allegorese und Ambiguitäten zu analysieren, haben sich diese Gedanken Derridas als äußerst fruchtbar erweisen (siehe z.B. Borgards 2016). So schlägt die Literaturwissenschaftlerin Susan McHugh das Programm einer „narrativen Ethologie“ vor und behauptet, ein solches Unterfangen, bei dem literarische Texte darauf hin untersucht werden, wie sie beispielsweise Grenzen zwischen Menschen und (anderen) Tieren konstruieren oder eben hinterfragen, sei „useful for interrogating key elements of identity and society, inspiring as well as confronting the limitations of knowledge“ (McHugh 2011: 211). Und der Narratologe David Herman, der sich in seiner Forschung seit Jahren aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive mit Fragen der narrativen Immersion und dem epistemischen Potenzial solcher Prozesse beschäftigt, ergänzt: fictional accounts can serve as a workspace for reconsidering – for critiquing, or re-affirming, dismantling or reconstructing – narratives about human selves in a world where selfhood extends beyond the domain of the human. (Herman 2014: 132)
Dieser Fokus auf das Vermögen literarischer Darstellungen, vor allem die Relationalität von Selbstbewusstsein und Weltbezug erfahrbar zu machen (vgl. Bar-
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tosch 2017) hat sich wiederum als anschlussfähig in der oben erwähnten kulturwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung erwiesen. So beschreibt die Komparatistin und Kulturwissenschaftlerin Ursula K. Heise in ihrem Buch Nach der Natur. Das Artensterben und die moderne Kultur (2010) die „komplexe Kombination von wissenschaftlichen Einsichten und Erzählmustern“, die menschlichen Vorstellungen und Erzählungen von Biodiversität(sverlust) zugrunde liegen. Sie vergleicht und analysiert diese Muster topologisch und stellt fest: „Das Hauptaugenmerk liegt dabei oft nicht auf der Biodiversitätskrise insgesamt, sondern auf bestimmten Arten, deren Schicksal als für die Kultur bedeutsam dargestellt wird“ (Heise 2010: 47). Auch in diesem Kontext, so könnte man sagen, finden wir l’animot. Heise bleibt aber nicht bei der Beschreibung und Katalogisierung sogenannter „charismatischer Megafauna“ als Leitsymbolen für Biodiversitätskrisen stehen, sondern erschließt in ihrer Forschung Texte, die bisher nicht im Zentrum philologischer Aufmerksamkeit standen. So befasst sie sich ausführlich mit nicht-literarischen Textsorten wie Datenbanken und roten Listen, die sie als „im Grunde […] neues kulturelles Genre, das ökologische Risikowahrnehmungen artikuliert“ (Heise 2010: 95–96) beschreibt und in ihrer Funktion mit den Epen der Antike vergleicht. In Imagining Extinction fasst sie daher zusammen: Biodiversity databases and Red Lists of endangered species can be understood as a new variant of the modern epic or world text and as a new form of nature writing: the forever incomplete attempt to map the entirety of biological life and classify it according to its risk of extinction […] [a]n epic view of contemporary environmentalism if ever there was one! (Heise 2016: 65–66)
Neben einer Erweiterung literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Untersuchungsbereiche um nicht-literarische Gegenstände, die curricular betrachtet traditionell eher in Biologie und Geographie als in den sprachlich-kulturellen Fächern zu finden sind, zeigen Heises Ausführungen nicht nur diese textsortenbezogene Überschneidungspunkte – ganz im Sinne der jüngst curricular verankerten Querschnittsaufgabe „Erziehung für nachhaltige Entwicklung“ – auf. Interessanterweise legen diese Ausführungen ebenfalls nahe, dass in dem Versuch der Kartierung, wie ihn Heise beschreibt, auch der Versuch gesehen werden kann, die eingangs beschriebene Friktion zwischen ökologischen und tier-orientierten Erzählungen zu überwinden. Schließlich lässt sich auch für die hier skizzierten Forschungsprogramme konzedieren, dass der Widerspruch zwischen individuellen oder sprachlich individualisierten Tieren – der den Philosophen anblickenden Katze ebenso wie Vertretern der Megafauna, also z.B. der hungrigen Eisbärmutter, die die Klimakatastrophe symbolisiert, einerseits und der Fau-
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na andererseits – bislang nicht zufriedenstellend aufgehoben werden kann. Wie Heises Verweis auf die Formen der unvollständigen Versuche einer Kartierung des biologischen Lebens und die daraus folgenden ‚epischen‘ Erzählformen nahelegt, bedarf nicht zuletzt die literaturorientierte Fachdidaktik eines Ansatzes, der diese Inkommensurabilität produktiv aufgreift.
3 (Nicht-)Wissen in der Literatur: Von der Poetologie zum Modell In der Forschung existiert seit einigen Jahren der äußerst produktive Ansatz der Wissenspoetologie, der „die spezifischen Korrespondenzen zwischen Wissen und Darstellungsweisen untersucht“ (Schäfer 2013: 36; siehe auch Vogl 2011). Aus dieser Perspektive ließe sich argumentieren, dass im Falle von Tierdarstellungen bzw. narrativen Auseinandersetzungen mit Biodiversität und Artensterben die Bedeutung von fundamentalem Nichtwissen als besonders entscheidend zu bewerten sind: Weder lässt sich das singuläre Tier in seiner kreatürlichen Tierhaftigkeit jenseits der Sprache erzählen, noch besteht die Möglichkeit des Verstehens und Erzählens biodiverser Totalität jenseits einer medial-abstrakten Modellierung beispielsweise durch Datenbanken und in naturwissenschaftlichen Fachdiskursen. Dieser Herausforderung begegnen manche literarischen Texte nun mit vermeintlicher wissenschaftlicher Akkuratheit und bewegen sich in Richtung einer hochrealistischen Darstellung, die biologisch und ökologisch angemessen erscheint; andere Texte experimentieren stark spekulativ. Dadurch werden Ideen wie jene einer telepathischen Kommunikation zwischen Elefanten (wie in Barbara Gowdys The White Bone, 1999) oder der Phänomenologie eines Bienenschwarms narrativisiert (beispielsweise in Laline Paulls Jugendroman The Bees, 2014 – überhaupt finden sich in Kinder- und Jugendliteratur zahlreiche Beispiele für derartige Spekulation). Marco Caracciolo gibt jedoch zu denken: Literary (imaginary) accounts of animal Umwelten may build on existing scientific knowledge, and they may serve a heuristic function in advancing it. This points to the feedback loop between literary and scientific explorations of mind, which Herman himself has often productively highlighted. Yet bringing to light a feedback loop should not lead to collapsing distinctions between a literary project and a more scientifically oriented phenomenology. (Caracciolo 2014: 486)
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Das Bemühen, um dergestalt naturwissenschaftlich „realistische“ Überlegungen verlustarm zu übertragen, ist also mit dem Problem konfrontiert, dass die besondere Funktionalität von literarischen Diskursen unzureichend beachtet und somit die Domänenspezifik des Literarischen ignoriert wird, was die Frage aufwirft, welches alternative Verständnis literarischer Texte die Frage der Nachhaltigkeit im Kontext dieses Bandes besser adressieren kann. Für die Analyse dieser spezifischen Form des literarischen (Nicht-)Wissens, das zwar verschiedene Diskurse aufgreift, sich zu ihnen jedoch in produktiver Spannung verhält, möchte ich hier den Begriff des Modells vorschlagen. Die Idee von Literatur als Modell bietet nämlich die Möglichkeit, die analytischen und schließlich didaktischen Potenziale von Literatur unter den Vorzeichen von Ambiguität und Nicht-Wissen genauer zu fassen. Der Text als Modell erlaubt es, so das Argument, die domänenübergreifende, interdiskursive Natur von Literatur in ihrer Komplexität zu verstehen, ohne poetologisch die eine oder andere Erzählweise zu privilegieren. Im Gegenteil: Es werden vielmehr gerade diejenigen Spannungsverhältnisse in den Vordergrund gestellt, die der Text produktiv zusammenzubringen vermag. Die „Gütekriterien“ eines solchen Modells sind dabei wohlgemerkt andere als jene, die Modellen v.a. in den Naturwissenschaften zugrunde liegen. Vorgeschlagen wird hier im weiteren Verlauf die Kategorie der Plausibilität, die es erlaubt, dem experimentellen Charakter von Literatur und der epistemischen Funktion des Literarischen gerecht zu werden und darauf aufbauend Forderungen für die Literaturvermittlung im Zeichen von Nachhaltigkeit zu formulieren. Neben der Domänenüberschreitung wird dazu das Phänomen der Skalierung diskutiert.
4 Der Text als Modell? Domänen, Skalierung und Narrativisierung Der Modellbegriff bietet sich in der hier angerissenen Diskussion vor allem deshalb an, weil Modelle naturgemäß verstanden werden als externe Repräsentationen von Wissen und „tools for thinking“ (Ciula/Eide 2017: 34). Ihre heuristische bzw. epistemische Funktion, die auch begründet, warum Modelle immer Modelle von etwas und Modelle für etwas sind (Mahr 2004: 12) und damit eng mit dem Prozess des Urteilens verbunden sind, fußt dabei auf Strategien der Komplexitätsreduktion einerseits und der Narrativisierung von Komplexität andererseits (Nitzke 2016: 100). Dies erklärt den Nutzen des Modellbegriffs gerade im Kontext der hier angestellten Überlegungen zur Nachhaltigkeit: Sowohl Biodiversität als
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auch Klimawandel sind ja eben Phänomene größter Komplexität. Hinsichtlich Klimaerzählungen spricht Solveig Nitzke daher auch explizit von der modellierenden Funktion von Literatur und zeigt in einer Untersuchung der Erzählformen des Klimawandels, dass die Erzählweisen klimatologischer Komplexität „als Praktiken des Modellierens“ bezeichnet werden können (Nitzke 2016: 92), die ihr Potenzial gerade im Spannungsfeld von naturwissenschaftlichen Praktiken der Faktizitätsherstellung sowie subjektiven Eindrücken und Bedeutungen entfalten. Angesichts der Problematik des tierliterarischen (Nicht-)Wissens, das oben angesprochen wurde, ist dieser Befund sicherlich auf Tiergeschichten übertragbar. Dazu ist es sinnvoll, sich die von Nitzke entwickelte Typologie genauer anzusehen. Sie schlägt drei Grundmuster des literarischen Modellierens vor: Erstens erkennt sie Erzählungen, die von „Infragestellungen des Status und der Legitimität von […] Klimawissen“ (Nitzke 2016: 96) geprägt sind – diese primär an naturwissenschaftlichen Diskursen sich abarbeitenden Texte finden sich, damit an biologische und ethologische Forschungsdiskurse andockend, ebenfalls im Bereich der Tiererzählung. Zu nennen wären realistisch erzählte aber animalisch fokussierte Texte wie Jack Londons Call of the Wild (1903) oder Richard Adamsʼ Watership Down (1972). Als zweites Muster erkennt sie die Zukunftsexploration „im Gedankenexperiment/Szenario“ (Nitzke 2016: 96): Während dies im Klimakontext häufig apokalyptische bzw. post-apokalyptische Zukunftserzählungen sind, würde ich im Kontext der Tiererzählung dieser Kategorie zukünftige (z.B. Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten, 2008) wie gegenwärtige Versuche (z.B. den bereits genannten Roman The White Bone von Barbara Gowdy), tierliche Sichtweisen zu narrativisieren, zuordnen. Schließlich fasst sie in einer dritten Kategorie Texte zusammen, die den Klimawandel, „anstatt ihn ereignishaft zu gestalten, in seiner Unsichtbarkeit thematisier[en]“ (Nitzke 2016: 98). Vor allem diese dritte Kategorie ist interessant, weil sie die fundamentalen Ambiguitäten – wie sie eben auch in der Mensch-Tier-Forschung als zentrale Herausforderung erkannt worden sind – auszuhandeln vermag (man denke an Roland Borgards Begriff der material metaphor, mit dem er das unaufhörliche Changieren von Tierfiguren zwischen realen und symbolischen Dimensionen beschreibt). Diese dritte Kategorie, welche die Unmöglichkeiten der eindeutigen Repräsentation mit poetologischer Programmatik verknüpft, vermag nun in besonderer Weise, der ‚materiellen Metaphorik‘ und der unauflösbaren Ambiguität von l‘animot gerecht zu werden. Sie tut dies vor allem, weil die dort zu verortenden Texte, auf die ich im Folgenden Bezug nehme, das Abstrakte mit dem Individuellen verbinden. Anderen Modellen, v.a. aus den Naturwissenschaften, gelingt dies deutlich weniger erfolgreich, was bereits auf das didaktische Potenzial von Lite-
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ratur im Kontext der Bildung zur Nachhaltigkeit verweist. Eine vergleichbare Bewertung zu den besonderen Möglichkeiten der literarischen Erzählung und vor allem des Klimawandelromans hinsichtlich dieser dritten Kategorie beschließt daher auch Nitzkes Studie: Dieses [dritte] Modell begreift das Klima als ein Phänomen, das sich einer totalen Perspektive entzieht […]. [Es problematisiert] Verantwortlichkeit und Schuld und beleuchte[t] damit den menschlichen Anteil des anthropogenen Klimawandels auf eine Weise, die wissenschaftlicher Modellierung nicht zugänglich ist. (Nitzke 2016: 100)
Man erkennt den Wert eines solchen literarischen Modellbegriffs, wenn man sich vergleichsweise die Klimamodellierung in den Geowissenschaften oder aber auch im Kontext bestehender nachhaltigkeitsorientierter Didaktik anschaut, die den menschlichen Einfluss meist auf den Messwert des CO2-Ausstoßes reduzieren und den Faktor „Kultur“ nur selten und dann verallgemeinernd reflektieren (vgl. Shepardson/Roychoudhury/Hirsch 2017). Aber auch und gerade als Inspiration für eine kulturwissenschaftliche Mensch-Tier-Forschung und daraus anleitbare didaktische Überlegungen zeigt sich der Wert eines solchen Blickwinkels. Dies liegt daran, dass letzterer aufzuzeigen vermag, inwiefern literarische Texte als Modelle spezifische Domänen erkenntnisgewinnend überschreiten und somit verbinden, vor allem hinsichtlich biologisch-ethologisch und anderer – stärker subjektiv oder primär kulturell geprägter – Diskurse, und sie im Sinne einer Interdiskursanalyse (Link 1988) oder kulturökologisch (Zapf 2008) ins Verhältnis setzt. Im Sinne einer solchen literarischen bzw. philologischen Arbeit mit dem Modellbegriff argumentiert auch Jens Martin Gurr: „what literary and cultural studies [...] can contribute is an understanding of [...] complexity that cannot be measured, [numerically] modelled, classified or studied in terms of information theory“ (Gurr 2014: 146). Der Vorteil, trotz dieser Unterschiede am Begriff des Modells und der Modellierung festzuhalten, liegt zum einen in der Möglichkeit einer interdisziplinären Erforschung von Narrativität, die eben auch naturwissenschaftlichen Modellen eingeschrieben ist (vgl. Nitzke 2016: 100). Zum anderen erfordert eine solche konzeptionelle Rahmung, die Funktionen von Literatur differenziert zu beschreiben – u.a. im Hinblick auf die erwähnte Domänenüberschreitung in der Tierfiktion. Es geht ja beim Modell um die Medialisierung und Repräsentation von Wissensbeständen und Zusammenhängen. Daher ist das bloße Zueinanderbringen inkommensurabler Diskurse kein Wert an sich. Vielmehr muss die Frage nach Plausibilität narrativer Konvergenz als Gütekriterium eines solchen interdiskursiven literarischen Modells dienen. Wenn ein Text die individuellen Perspektiven einzelner Menschen und Tiere in eine sinnvolle –
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erzähllogisch und hermeneutisch plausible – Kommensurabilität überführt, bietet der Text einen Erkenntnisgewinn, der über die jeweiligen Sichtweisen der von ihm verbundenen Diskursdomänen produktiv hinausgeht. Vor allem in Hinblick auf die fachdidaktischen Potenziale eines solchen Erkenntnisgewinns möchte ich nun diese besondere Form des Modellierens anhand von Tiertexten diskutieren, die, wie zu zeigen sein wird, die „Frage nach dem Tier“ (Wolfe 2003) zu einer Frage der Skalierung werden lassen. Dies ist wiederum hinsichtlich der Domänenspezifik einzelner tierbezogener Diskurse bedeutsam. Denn wie oben argumentiert wurde, zeigt sich nicht nur unser alltäglicher Umgang mit Tieren, sondern auch die Erforschung der Frage nach dem Tier von eben dieser Spannung geprägt, das individuelle Tier mit den kulturell und diskursiv komplexen Abstraktionen zusammenzuführen, die biologische, ethologische und geowissenschaftliche Zugänge prägen. Das Konzept der Skalierung übernehme ich dabei von Timothy Clark, der – abermals im Kontext von Klimawandel-Narrativen – von scale effects spricht und herausstellt, dass das Neue und Herausfordernde am Klimawandel sei, dass bisherige Interpretationsrahmen als unzureichend wahrgenommen und in Richtung einer phänomenologisch kaum greifbaren Planetarität ausgeweitet werden müssen: scale effects are confusing because they take the easy, daily equations of moral and political accounting and drop into them both a zero and an infinity: the greater the number of people engaged in modern forms of consumption then the less the relative influence or responsibility of each but the worse the cumulative impact of their insignificance. (Clark 2012: 150)
Individuelles Verhalten im Kontext globaler Klimaveränderung zu reflektieren, stellt Menschen bekanntermaßen vor beinah unlösbare Herausforderungen. Dies betont auch der Philosoph Bernd Scherer im Hinblick auf aktuelle Debatten zum sogenannten Anthropozän: Ein grundlegendes Problem vieler dieser anthropozänen Prozesse besteht darin, dass sie nicht unmittelbar erfahrbar sind und deshalb auch keine Strategien entwickelt wurden, um mit ihnen umzugehen. Das hat wesentlich mit den Skalierungseffekten zu tun. Wir erleben zwar Trockenheit und Regen, aber nicht die Klimaveränderungen über längere Zeiträume. Wir unternehmen zwar Fernreisen, können aber nicht fassen, was es für den Planeten bedeutet, wenn täglich mehr als zweihunderttausend Flugzeuge Millionen von Menschen um die Erde transportieren. (Scherer 2020: o. A.)
Clark spricht deshalb auch von derangements of scale, die er nicht zuletzt an moralischen Dilemmata aufzeigen kann, die entstehen, wenn versucht wird, erdsystemisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse – beispielsweise aktuell zu den ökologisch begrüßenswerten, aber sozial und ökonomisch desaströsen Konse-
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quenzen einer globalen Pandemie – mit den individuellen und gesellschaftlichen Tragödien einer solchen Katastrophe in Einklang zu bringen. Er schlägt vor, heuristisch drei verschiedene Skalierungen zu unterscheiden, die nicht zuletzt Interpretationen von Erzählungen rahmen und hier in Bezug auf Tiergeschichten fruchtbar gemacht werden sollen: we could read the text on a (critically naïve) personal scale that takes into account only the narrator’s immediate circle of family and acquaintances over a timeframe of several years. […] A second scale at which to read the text is that […] of a national culture and its inhabitants, with a time frame of perhaps a few decades, a ,historical period‘ of some kind. […] A third, larger, hypothetical scale […] would be, spatially, that of the whole earth and its inhabitants. (Clark 2015: 99–100)
Diese Formen der Skalierung lassen sich nicht nur in literarischen Erzählungen und deren Interpretation identifizieren, sie finden sich ebenso in wissenschaftlichen Disziplinen (man denke an die ‚Untersuchungsgegenstände‘ von Pädagogik und Psychologie einerseits sowie Soziologie und schließlich Erdsystemforschung andererseits). Eine besonders produktive, weil interdiskursiv operierende Form der Skalierung findet sich aber eben nicht zuletzt in literarischen Klimawandelund Biodiversitätserzählungen, wo die domänenspezifischen Zugänge zum Nichtmenschlichen auf vielgestaltige Weise miteinander in Konflikt geraten (Bartosch 2019). In diesen Kontexten lassen sich Skalierungsprobleme also auch als Domänenprobleme lesen, wenn diese verstanden werden als unterscheidbare Wissensdomänen, die auf ihre jeweiligen Arten und Weisen die Komplexität der Welt in Diskursivierungs- und Medialisierungsprozessen versprachlichen. Fasst man nun die unterschiedlichen und literarisch synthetisierten, ökologischen und tierbezogenen Perspektiven in diesem Sinne als literarische und hermeneutische Modellbildung, ist der potenzielle Konflikt zu analysieren, der sich daraus ergibt, dass beide Domänen Poetik und Rezeption solcher Texte beeinflussen und sich womöglich gegenseitig in Frage stellen. Dies wiederum kann und soll als zentraler Teil literarischer Modellierung verstanden werden. Interessanterweise kann jedoch nicht mehr bloß von einer komplexitätsreduzierenden Funktion des literarischen Modells gesprochen werden: Das Phänomen der Skalierung erhöht vielmehr mitunter die Komplexität eines erzählten Gegenstands. Die folgenden Analysen sollen deshalb verdeutlichen, inwiefern ein literarisches Skalieren die aus der Trennung von Wissensdomänen resultierenden Probleme – derangements of scale – adressieren helfen kann und welche Schlüsse sich daraus für eine an Nachhaltigkeit orientierte Literatur- und Kulturdidaktik ziehen lassen.
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5 Tiere erzählen – Tiere skalieren In T.C. Boyles Erzählung Question 62 (2010)1 treffen Leser*innen auf verschiedene Mensch-Tier-Konstellationen, die unterschiedlich skaliert werden. Zu Beginn erfahren sie von Mae, die sich gerade in ihrem Garten betätigt: „She was out in the flower beds, crushing snails“ (37). Diese eher banale Tätigkeit wird nun direkt am Anfang der Erzählung einem komplexen planetarischen Kontext gegenübergestellt, der die Protagonistin nachweislich – nachgewiesen nämlich durch erlebte Rede – verwirrt und überfordert: She was wearing a hat even though it was overcast because the doctor had removed a basal cell carcinoma from the lobe of her left ear […] and she wasn’t taking any chances, not with the hole in the ozone layer and the thinning – or was it thickening? – of the atmosphere. (37)
Diese skalenbezogene Sensibilisierung verstärkt der Text nun, indem er das Gärtnern, das ja primär aus dem Zerquetschen von Schnecken besteht, größer skalierten affektiven und normativen Kontexten gegenüberstellt: „She was a vegetarian […] and she didn’t like to kill anything […], but this was different, this was a kind of war. The snails were an invasive species“ (37). Der potenzielle Konflikt zwischen einer vegetarischen Überzeugung und Lebensweise und der Praxis des Tiertötens wird also aufgelöst, indem die Differenz der Situation – „normales Leben“ einerseits, „a kind of war“ andererseits – betont wird. Diese Differenz wird zudem sprachlich markiert, indem nicht mehr von einzelnen Tieren gesprochen, sondern der ökologische Diskurs der invasiven Arten aufgerufen (und mit der Kriegsrhetorik der Invasion zumindest latent verbunden) wird. Im Verlauf der Erzählung wird deutlich, dass damit der narrative Kernkonflikt bereits konturiert ist: Es geht um die Unterscheidung zwischen pets und pests. Diesen Konflikt erlebt Mae nun interessanterweise als eklatantes Skalierungsproblem am eigenen Leib: Als sie von der Gartenarbeit aufschaut, blickt sie direkt in die Augen eines offenbar entlaufenden Tigers (und verweist damit auch auf den oben beschriebenen Moment zwischen Philosoph und Hauskatze, der nachdrücklich rekontextualisiert wird, da nicht mehr der alte, kluge Mann beschämt auf sein Kätzchen schaut, sondern die weibliche Figur im Anblick eines Tigers einen Moment des Erhabenen erlebt). Mae muss diese Erscheinung und ihre Verwunderung darüber nun kognitiv verarbeiten, was der Text en detail
|| 1 Der Primärtext Question 62 (Boyle 2010) wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl (ohne erneute Angabe von Autor und Jahr) zitiert.
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widergibt. So erfahren wir beim Lesen von Maes perzeptiver Skalierung: Im ersten Moment meint Mae, „a big cat“ zu sehen, sie korrigiert dann ihre eigene Wahrnehmung, indem sie einen gut bekannten Maßstab verwendet und an „a big striped cat the size of a pony“ (38) denkt; nachdem sie sich eingesteht, dass es ein Tiger sein muss, der sie anschaut, skaliert sie dessen Bedeutung augenblicklich erneut und schließt, dass das Tier entlaufen und daher verängstigt sein muss: „The animal was a pet. And it had got loose. It was probably hungry. Bewildered. Tired“ (41). Der Tiger ist anfänglich sowohl unwirklich oder exotisch – es ist unmöglich zu ignorieren, dass er einer nicht-endemischen Art angehört, weshalb Mae schließt, es müsse sich um ein aus dem Zoo entlaufendes Tier handeln, und ihn schließlich als Haustier skaliert, was ihre empathische Reaktion erklärt. Dieser Schluss kann von ihr allerdings nicht endgültig verifiziert werden, und während sie nachdenkt, entschwindet der Tiger und damit auch die Skalierungsproblematik. Der Text weist nun zudem eine interessante Doppelstruktur auf, die Mae einerseits und ihre entfernt lebende Schwester Anita andererseits umfasst. Anita, die den zweiten Handlungsstrang fokalisiert, trifft regelmäßig einen alten Kater – und plötzlich einen attraktiven Nachbarn. Skalierung, so lernt man beim Lesen, kann auch ein veritables Beziehungsproblem darstellen. Auch darauf bereitet der Text durch Skalierung vor, wenn Anita, die als einsame, überarbeitete Nachtschwester beschrieben wird, den plötzlich auftauchenden Mann zuerst für einen Jäger und dann für einen religiösen Eiferer hält – bis dieser sich schließlich als ihr Nachbar Todd Gray vorstellt, also Nähe herstellt, die auch in der körperlichen Nähe einer Liebesbeziehung mündet. Gray bittet darum, sich für die von ihm organisierte Petition Question 62 einzusetzen. Diese hat zum Ziel, in der Nachbarschaft umherstreunende Katzen als Gefahr einzustufen und sie töten zu dürfen. Katzen – sozusagen skalierte Tiger – sind aber nun endemisch, weshalb sich die Frage nach ihrer kulturellen Bedeutungszuschreibung unmittelbarer stellt: Für Anita sind sie Haustiere und konnotiert als schützens- und liebenswert. Ihr Liebhaber dagegen sieht sie als verwildert an, skaliert sie also auf andere Art, indem er sie nicht der häuslichen, sondern der größeren biologischen Sphäre zuordnet – und dementsprechend das Recht für sich ableitet, die Tötung dieser als invasiv wahrgenommenen Gattung zu fordern, die er auch nur als Gattung, nicht mehr als Individuen wahrnehmen kann und entsprechend diskursiv ökologisch komplex rahmt: „Habitat destruction and whatever, minimalls, diesel engines and what, plastics“ (52). Der Text bindet diesen Handlungsstrang durch die Frage der Invasivität von Spezies daher klug an den Beginn der Geschichte, die ja eine vergleichbare Frage – allerdings hinsichtlich der Schnecken in Maes Garten – aufwirft. Diese Paral-
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lelen lassen nun zu, den Text als Versuch zu deuten, beide Handlungen und die in den ihnen zugrunde liegenden Diskursen berührten Domänen bedeutungsstiftend zu verbinden: Vor allem die Frage, ob der Tiger als Zootier nicht doch gerade kulturell überformt ist, da er als exotisch konstruiert und in der Handlungsdimension als wild und durch Einsperrung gezähmt verstanden werden muss, bietet sich an. Explizit thematisiert der Text diese Verbindung am Ende, wenn die titelgebende „Question 62“ aufgegriffen und zum Gegenstand des Nachdenkens über die Verbindung von Ökologie und Politik wird. Mae fragt sich: „What had Question 61 been, or question 50, Question 29? Pave over the land? Pollute the stream? Kill the buffalo?“ (56). Indem sie aufgrund der numerischen Reihung entdeckt, dass die Petitionen die Geschichte der Ausbeutung und Zerstörung des natürlichen Lebensraums darstellen, erkennt sie plötzlich, was am Anfang dieser unseligen Reihe gestanden haben muss: „That must have been it: Kill off the Indians“ (57). Das abstrakt-ökologische wird augenblicklich politisch und auch individualisiert, weil den Genozid an der indigenen Bevölkerung bloß auf einer ökologisch abstrakten Ebene zu thematisieren moralisch nicht vertretbar wäre. Der Text verweist so nicht zuletzt auf die komplexe Verbindung von Hauskatzen, Zoohaltung und amerikanischem Völkermord. Diese Analyse soll zeigen, dass vermeintlich nicht direkt verbundene Elemente plausibel in einem Zusammenhang zu bringen, das primäre Vermögen der literarischen Modellierung ist und daher nicht zuletzt im Rahmen didaktischer Diskussion über Unbestimmtheitsmomente in der (Tier-)Literatur thematisiert werden sollte. Da Ambiguitäten in der Literatur eben auch immer Momente der Modellierung beinhalten, können sie zu einer bestimmten Form der Erkenntnis führen, die es auch in der Bildung zur Nachhaltigkeit zu beachten gibt, wenn über bloße Repräsentation nachhaltigkeitsbezogener Phänomene und naturwissenschaftlicher Faktizität hinausgegangen werden soll. Wenn Roland Borgards von literarischen Tieren als material metaphor spricht, deute ich diese Beschreibung als Verweis auf eben diese grundlegende literarische Unbestimmtheit ebenso wie auf das Potenzial dieser Besonderheit im epistemischen bzw. hermeneutischen Kontext der nachhaltigkeitsorientierten Textanalyse und Interpretation. Denn der Begriff der materiellen Metapher unterstreicht die Fähigkeit von Literatur, Skalierung domänenübergreifend und erkenntnisgenerierend einzusetzen, was als zentrale und nicht zuletzt didaktisch relevante Fähigkeit bezüglich der Auseinandersetzung mit der Komplexität von Artensterben und Klimawandel und somit im Kontext von Nachhaltigkeit gesehen werden muss. Diese Gedanken zusammenfassend, möchte ich meine Überlegungen abschließen.
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6 Transkulturelle Kompetenz und scalar literacy Darin der oben skizzierten Entwicklungen innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften nicht unähnlich, ist die Beachtung von Tieren jenseits bloßer textlicher Motivik in der Fachdidaktik eine neue Entwicklung. Trotz oder wegen der Beliebtheit von Tiergeschichten bei Kindern erschien es lange Zeit unnötig, den fachdidaktischen Begriff des Tiers theoretisch-konzeptionell weiterzuentwickeln. Das im Kontext der Tierschutz- und Ökologiebewegung verspätet die Universitäten erreichende Bewusstsein für die Relevanz jener Ansätze, die ich oben als Ecocriticism bzw. Human-Animal Studies zusammengefasst habe, fokussiert sich auch didaktisch zurzeit primär auf tierethische Fragen (Schröder/Hayer 2016). Obwohl die diskursive und mediale Inszenierung von Tieren in manchen Forschungsarbeiten betont und bedacht wird (Matthewman 2011), stehen Fragen von Empathie und (Mitleids-)Ethik, Würde, Tierrecht und Verantwortung, aber natürlich auch Überlegungen zu Haltung, Schlachtung und menschlicher Ernährung in diesen Ansätzen im Vordergrund. Dies mag einerseits mit der Dringlichkeit jener Fragen zusammenhängen oder mit der moralischen Überzeugung der Protagonist*innen – es stellt aber gerade auch innerhalb einer kulturtheoretischen Perspektive, wie sie oben angerissen ist, eine zumindest bedenkenswerte Verkürzung dar. Neben solchen Ansätzen und didaktischen Praktiken wie jener, Tiere als Teil eines curricular vorgegebenen „Erfahrungsfeldes“ zum Gegenstand kommunikativer Aushandlungen und so zum Katalysator von Lernprozessen zu machen (Bartosch 2016), gibt es Forschung zum Einsatz von Tieren in pädagogischen Institutionen (Pedersen 2010), vor allem auch hinsichtlich der neurologischen und psychologischen Potenziale von Bindungen zu Tieren im Kontext sogenannter tiergestützter Intervention (Julius et al. 2014). Auch hier spielen tierethische Überlegungen naturgemäß eine Rolle; ansonsten ist die semiotische Komplexität, die in der obigen Diskussion anklingt, nachgeordnet einer anthropozentrischen Sicht auf Bildung, was allein deshalb nicht überrascht, weil das Bildungsgeschehen als Subjektivierungs- und Enkulturationsbemühen immer dezidiert auf den Menschen abzielt und dessen individuelles Fortkommen auch organisationslogisch – beispielsweise im Rahmen individueller und standardisierter Kompetenzmessungen – in den Blick nimmt (Bartosch 2019). Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Überlegungen lassen sich jedoch zwei Schlüsse formulieren, die vor allem im Kontext nachhaltigkeitsbezogener Literaturvermittlung relevant sind und die Spezifik des Literarischen bzw. die besonderen Möglichkeiten des literarischen Lernens in den Blick nehmen. Zum einen betrifft dies die Funktionalität von Literatur im Sinne des oben skizzierten Modellbegriffs. Literarisches Lernen mit Tiererzählungen, so die obige
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These, findet gerade nicht in klar konturierten Domänen des Biologischen oder des Symbolischen statt, sondern in der Ambiguität von Tieren als material metaphors. Literatur verbindet dabei verschiedene Domänen und überwindet sie, was als Modellierung der Komplexität von Mensch-Tier-Beziehungen gelesen werden kann. Möchte man diese Modellfunktion nun hinsichtlich ihrer didaktischen Bedeutung evaluieren, zeigt sich, dass die in anderen Kontexten relevanten Gütekriterien für Modellierungen – beispielsweise Validität oder Generalisierbarkeit und prognostisches Potenzial – hier eben keine übergeordneten Rollen spielen können. Im Gegenteil (und im Einklang mit literaturtheoretischen Überlegungen seit Aristoteles) präfiguriert Literatur ja das Ungedachte und schlägt neue, ungewöhnliche Sichtweisen vor, indem auf ungewöhnliche Art heterogene (Diskurs-) Elemente zusammengebracht werden. Die zentrale Kategorie einer literarischen Modellierung wäre somit „Plausibilität“: Nur, wenn das unerwartete und überraschende interdiskursive Modell plausibilisiert werden kann, vermag es sein literarisches Potenzial auszuschöpfen. Diese Plausibilität – und damit komme ich zum zweiten Schluss – generiert es nun vor allem durch Skalierungsprozesse, die eine individuelle bzw. subjektive Ebene mit größeren kulturellen oder abstrakt-statistischen bzw. planetaren Dimensionen, wie sie im Biodiversitätsdiskurs eine zentrale Rolle spielen, verbindet. Als „epistemisches Muster“ (Mahr 2004: 11) erlaubt das literarische Modell, die Verbindungen und Divergenzen der verschiedenen, vom Text in ein Verhältnis gesetzten Skalierungen zu erfahren und zu durchdenken, was eine Reflexion und den produktiven Umgang mit Skalierung zum fachdidaktischen Ziel nachhaltigkeitsorientierter Literaturvermittlung machen und nicht etwa das Faktenwissen oder die affektive Gefälligkeit von Geschichten. Ähnlich argumentiert Clark, wenn er seine Analyse des epistemischen Gehalts von Literatur mit der Forderung nach „scalar literacy“ beschließt: Diese definiert er als „an intellectual practice attentive to the way the nature of an issue or situation alters according to the scale at which it is considered“ (Clark 2019: 40) und deutet so an, dass sich literarisches Lernen in besonderem Maße für all jene Verstehenspraktiken eignet, die Plausibilität und Kontextsensitivität als Grundlage haben. Damit lassen sich die hier gemachten Überlegungen auch von mitunter vorgebrachten Überlegungen unterscheiden, die Nachhaltigkeit gleichsetzen mit einer veränderten – globalen, planetarischen oder ökologischen – Perspektive auf die umweltliche Gesamtheit, die als „hegemonic system for representing the world as a totality to be governed“ (Bonneuil/Fressoz 2017: 48) kritisiert wurde. Ebenso sind sie abzugrenzen von tierethisch motivierten und explizit normativ argumentierenden Ansätzen, die Tierdarstellungen in der Literatur tendenziell auf deren Referenzialität begrenzen. Beides stellt eine Beschränkung auf eine
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mögliche Skalierungsebene dar und würde damit der modellierenden Funktion von Literatur nicht gerecht. Stattdessen – und damit der Forderung nach scalar literacy nicht unähnlich – liegt das Ziel literarischen Lernens in meinem Verständnis in der Kultivierung einer transkulturellen Kompetenz, die das menschlich-kulturelle und das außerhalb dieser Sphäre stehende im Sinne einer beides umfassenden Diskursivierung – eben trans-kulturell – verortet. Dies erfordert nun einerseits das Wahrnehmen, Differenzieren und Harmonisieren unterschiedlicher Skalenniveaus. Aufgaben und fachdidaktisch begründbare Lernziele müssten also dementsprechend formuliert werden, dass Skalenniveaus und ihre Plausibilierungsfunktionen zum Gegenstand literarischer Analysen werden. Solche Analysen würden andererseits aufzeigen helfen, dass jede, auch spekulativ mehr-als-menschliche bzw. mehr-als-kulturelle Perspektive in komplexen Verbindungszusammenhängen mit Domänen und Diskursen gedacht werden muss, die Literatur zu verstehen helfen kann: „The aim of transcultural competence is not to assume a homogeneous ,nonhuman perspective‘ but to competently move across scales in interpreting the world and its texts“ (Bartosch 2019: 41). Konkret bedeutet dies für die (unterrichtliche) Literaturanalyse: Weder werden Tierfiguren auf ihre biologisch oder ökologisch akkurate Darstellung hin untersucht; der literarische Text wird also nicht als eine von vielen Repräsentationsformen naturwissenschaftlichen Wissens gefasst. Noch wird er verstanden als versteckte ethische Handlungsanweisung oder als Versuch, der Ambiguität der Tierfrage aus dem Weg zu gehen, indem Tierfiguren einseitig als bloß Symbolisches, als Variable für das Menschsein bzw. spezifische menschliche Charaktereigenschaften oder als bloße Objekte des Mitleids dekodiert bzw. domestiziert werden. Vielmehr muss ein Text mehrfach gelesen und in seiner mehrfach lesbaren Polyvalenz verstanden werden, die sich mit dem Begriff der Skalierung umschreiben lässt und so notwendigerweise in verschiedene Unterrichtsfragen mündet, die sich zum Teil widersprechen, in jedem Fall aber verschiedene Skalenniveaus berühren. Dies betrifft die ganz persönliche Bedeutung und individuelle Lesart spezifischer Tiercharaktere ebenso wie Prozesse kulturellen und nachhaltigkeitsbezogenen Lernens, in deren Verlauf die kulturelle Bedeutung bestimmter Tiere und Spezies in konkreten Räumen und Kontexten und in der abstrakten bzw. globalen Frage nach Animalität, aber auch Biodiversität verhandelt werden. Dass ein Eisbärjunges beispielsweise als niedliche Identifikationsfigur für tausende Kinder, als emblematisch für Praktiken der Zoohaltung und der Vermarktung und als bemitleidenswerte Ikone des Klimawandels gelesen werden kann – wie es die Episode um den Berliner Eisbären Knut gezeigt hat – ist eine komplexe kognitive Erkenntnis, die der literarischer Text durch seine Modellfunktion verstehen lehrt.
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| Teil 2: Wissen im Diskurs – Exemplarische Diskursperspektiven auf Natur und Nachhaltigkeit
Pamela Steen & Ulrike Schmid
Diskursive Schemata der Wolfskonstruktion – auf medialer Spurensuche nach materiellsemiotischen Knoten Zusammenfassung: Am 27. Februar 1904 wurde in der Lausitz der letzte Wolf auf deutschem Boden erschossen. Man nannte ihn den „Tiger von Sabrodt“. Da er ‚Nutztiere‘ getötet hatte, schrieb man zunächst einem ausgebrochenen ‚Zirkustier‘ diese nicht tolerierbare Agency zu. Heute gibt es wieder Wölfe in Deutschland und Österreich. Deshalb sind sie auch im medialen Diskurs – in den lokalen und überregionalen Zeitungen, Wildtier-, Natur- und Jäger-Blogs, auf Homepages von Naturschutzvereinen etc. – seit einigen Jahren allgegenwärtig. Die einen freuen sich, dass die Wölfe in Zeiten des Artensterbens wieder da sind, die anderen verteufeln sie als Gefahr für Leib und Leben. Die mediale Omnipräsenz und damit die menschliche Deutungshoheit über die Tiere macht Wölfe heute scheinbar nur noch zu ‚Papiertigern‘, zu Spielbällen menschlicher Zuschreibungen und Interpretationen ohne Agency. Dieser Beitrag widmet sich dieser materiell-semiotischen Verknüpfung diskursiver und realer Wölfe aus der Perspektive einer durch die Human-Animal Studies inspirierten Diskursanalyse. Gezeigt wird, dass dabei typische diskursive Schemata der sprachlich-medialen Wolfskonstruktion – Dämonisierung, Charismatisierung, Exotisierung, Zivilisierung – einer kommunikativen und materiellen Aneignung dienen, der sich ‚der Wolf‘ in letzter Konsequenz immer wieder entzieht. Wölfe als Akteur/innen ernst nehmend begeben wir uns mit dem vorliegenden Beitrag also auf eine Spurensuche, indem wir zeichenhaften bzw. medialen Wolfsfährten folgen, um typische Konturen realer und diskursiver Wölfe in ihrer Verwobenheit nachzuzeichnen. Schlüsselwörter: Wölfe, Human-Animal Studies, Diskursanalyse, New Materialism, Spuren, Kommunikative Aneignung
|| Pamela Steen, Universität Koblenz-Landau, Institut für Germanistik, Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz, Deutschland, steen[at]uni-koblenz.de Ulrike Schmid, Universität Innsbruck, Institut für Erziehungswissenschaft, 6020 Innsbruck, Österreich, ulrike.schmid[at]student.uibk.ac.at https://doi.org/10.1515/9783110740479-006
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1 Diskursanalyse und Human-Animal Studies „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überquerte ein einzelner Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen.“ So beginnt der beinahe gleichnamige Roman von Schimmelpfennig (2018: 5). Ganz ähnlich klingt es in dem Fachbuch Der Wolf kehrt zurück von Bloch/Radinger (2017: 9): „Ende des letzten Jahrtausends machte sich im deutsch-polnischen Grenzgebiet ein junger Wolf bereit, die Neiße zu durchschwimmen und damit, ohne es zu ahnen, Naturgeschichte zu schreiben“. Sie fügen relativierend hinzu: „So oder so ähnlich könnte es sich abgespielt haben, als der Wolf nach Deutschland kam“ (2017: 9). Erzählt werden mögliche Geschichten über Wölfe als Einwanderer/innen, zudem kursieren Verschwörungstheorien, nach denen die Tiere von Tierschützer/innen nach Deutschland geschmuggelt wurden. Fakt und Fiktion werden bei der Beantwortung der elementaren Fragen „Wo ist der Wolf?“ und „Was ist der Wolf?“ ununterscheidbar, vor allem deshalb, weil es keine menschlichen Augenzeugen gibt.1 Es sind Alltagsmythen – außeralltägliche Themen, die ihren Ort im Alltag haben (vgl. Tappenbeck 1999: 79) – mit unterschiedlichen kommunikativen Funktionen (z.B. Erzählen einer guten Geschichte, Rehabilitierung oder Schädigung des WolfsImages). Der schillernde Status des Wolfs, der auch davon herrührt, dass selbst der postmoderne Diskurs über ihn noch mit archaischen Denkmustern aufgeladen ist, und die Tatsache, dass „der Wolf nicht nur in textuellen und visuellen Medien eine herausragende Rolle spielt, sondern dass auch in der realen Welt ein anhaltender öko-zoologischer, emotional aufgeladener Wolfs-Diskurs zu konstatieren ist“ (Burkhart 2018: 81), macht Wölfe zu interessanten Forschungsobjekten für die Diskursanalyse. Semantische Kämpfe (vgl. Felder 2006) darüber, welches das richtige kulturelle Konzept ,Wolf‘ ist, und die zeitweilige Omnipräsenz medialer Wölfe stehen dabei in einem krassen Widerspruch zur Präsenz realer Wölfe in der menschlichen Welt.
|| 1 Vgl. die folgende wechselseitige Anschuldigung, Märchen zu erzählen: So titelt die Zeitschrift Jäger in ihrer Februar-Ausgabe (2014) Das Märchen über den wilden Wolf und behauptet, Wölfe und Luchse seien in einem Kofferraum über die polnische Grenze nach Deutschland eingeschleust worden. Man gibt zu, dass die Geschichte viele Varianten habe, doch der wahre Kern sei, dass Wölfe illegal ins Land kämen (Jägermagazin.de 01.02.2014, https://www.jaegermagazin.de/jaeger-welt/magazine-abos/jaeger/das-maerchen-vom-wilden-wolf, letzter Zugriff 01.03. 2020). Für die Bundespolizeidirektion Berlin verbreitet jedoch die Jäger-Zeitschrift „ein neues Märchen“: „Einen solchen Fall hat es nicht gegeben.“ (Presseportal.de 27.01.2014, https://www. presseportal.de/blaulicht/pm/70238/2649638, letzter Zugriff 01.03.2020).
Diskursive Schemata der Wolfskonstruktion | 125
Obwohl es (laut NABU Deutschland) hierzulande derzeit wieder 73 Wolfsrudel, 25 Paare und ca. 13 Einzeltiere gibt, die vornehmlich im Norden und Nordosten des Landes leben (Nabu.de undatiert)2, haben bisher nur wenige Menschen in freier Wildbahn Wölfe mit eigenen Augen gesehen. „Sie sind der Nachbar, den meist niemand sieht“, fassen Bloch/Radinger (2017: 14) das territoriale MenschWolf-Verhältnis zusammen. Dennoch erscheinen Wölfe als Bedrohung, ausgestattet mit einer sich gegen Menschen und ihr Eigentum gerichteten Agency.3 Denn die Tiere erbeuten hin und wieder sogenannte ‚Nutztiere‘ oder geraten in den Verdacht, dies getan zu haben. Derartige Ereignisse werden dann zu Diskursereignissen, hier verstanden als einerseits von den Medien konstruierte Ereignisse, bei denen andererseits aber auch „ein Diskurs besonders stark in Erscheinung tritt“ (Link 1982, vgl. Spitzmüller/Warnke 2011: 108). Dies wird an den folgenden drei Headlines aus Artikeln von Online-Zeitungen bzw. -Magazinen deutlich, die Ende des Jahres 2019 erschienen sind und die typische Texteinstiege repräsentieren: (1) Gefahr für Nutztiere: Der Wolf gehört nicht zu Deutschland. (Welt.de 21.12.2019)4 (2) Nach Angriffen auf Nutztiere: Regeln für Abschuss von Wölfen gelockert – Wenn Wölfe „ernste Schäden“ für Nutztierhalter verursachen, können sie in Zukunft geschossen werden. [H. i. O.] (Spiegel.de 14.02.2020)5
|| 2 https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/wolf/deutschland/index.html (letzter Zugriff 03.02.2020). In Österreich lebten nach Auskunft des WWF 2018 noch drei Rudel: eines in Oberösterreich (Freiwald) und zwei in Niederösterreich (Allensteig, Litschau an der Grenze zu Tschechien); aufgrund illegaler Abschüsse bzw. Wilderei war es 2019 jedoch nur mehr eines (vgl. Heute.at undatiert, https://tierisch.heute.at/a/40688338/warum-in-%C3%B6sterreich-die-w% C3%B6lfe-wieder-verschwinden?fbclid=IwAR3mNyxni_A2d9JpieOTCa35NHqCPKw315wRdg8Fs Mp1aPWEgWk9yf_Znrg, letzter Zugriff 21.03.2020). 3 Vgl. für die hier verstandene Auffassung von Agency zum einen den soziologischen Begriff, der mit den Fragen verbunden ist, „wer mit wem was in welcher Weise macht/machen kann, wessen Wirkung wem (dem Individuums [sic!], der Gesellschaft, anonymen Mächte etc.) zugerechnet werden kann und was in der Macht des Einzelnen steht (faktisch oder als Vorstellung)“ (Helfferich 2012: 10), zum anderen den Agency-Begriff, wie er in den HAS verwendet wird, der beispielsweise über sprachliche Agentivierungen hinausgeht und auch tierliche Individuen als mit einer relationalen Agency ausgestattet begreift, insofern auch Tiere in einem Akteur-Netzwerk andere Akteur/innen modifizieren (vgl. Latour 2015: 108). 4 https://www.welt.de/debatte/kommentare/article204491644/Gefahr-fuer-Nutztiere-DerWolf-gehoert-nicht-zu-Deutschland.html (letzter Zugriff 16.02.2020). 5 https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/woelfe-regeln-fuer-abschuss-gelockert-a-faa670 1d-2272-499f-9c92-aae3e2c0cf58 (letzter Zugriff 16.02.2020).
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(3) Serientäter flüchtet vor seinem Todesurteil. (Süddeutsche.de 19.11.2019)6
Wölfe werden als Täter/innen (und manchmal sogar „Serientäter“ (3)), ‚Nutztiere‘ dagegen als Opfer konstruiert. In Beispiel (1), einem Kommentar von der Meinungsseite der WELT, geht es scheinbar um die „Gefahr für Nutztiere“. Die Autorin argumentiert deshalb gegen die Anwesenheit von Wölfen in deutschen Gebieten, indem sie ein anderes Diskursereignis kontextualisiert. Mit der Aussage „Der Wolf gehört nicht zu Deutschland“ wird (anhand eines Austauschs des Subjekts des Satzes) Intertextualität zu einem Zitat aus der Grundsatzrede des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 hergestellt („Der Islam gehört zu Deutschland.“). Während das Wulff-Zitat eine affirmative Aussage in der damaligen Islam-Debatte ist, die das im Diskurs bereits als ,das Andere‘ oder ,das Fremde‘ Identifizierte integrieren soll, wird hier die negierte Version dazu verwendet, die Debatte um die Anwesenheit der Wölfe implizit zu politisieren, wobei die Exklusion der Tiere aus dem Land Deutschland (als Umwelt, nicht als nationalem Staat) einen Akt des territorialen Speziesismus darstellt. Das Andere, das Fremde ist das Bedrohliche, das auf Distanz gehalten werden muss. Aber das Fremde an Wölfen und auch das Bedrohliche an ihnen wird nicht direkt in der Begegnung mit ihnen wahrgenommen und erfahren. Die Konstruktion des Fremden und Bedrohlichen ist selbst nur eine Reaktion auf die medialen Inszenierungen und damit eine Reaktion auf die im kollektiven Gedächtnis gespeicherten „Schemata der Fremdwahrnehmung und Fremdbeschreibung sowie affektiven Reaktionsweisen darauf, die abrufbar sind und abgerufen werden“ (Schaffers 2009: 149). Dazu gehört zum Beispiel das Narrativ vom bösen Wolf, wie wir es aus Märchen kennen (vgl. Heintz 2019), das auch im aktuellen Mediendiskurs noch immer als Argumentation contra Wölfe eingesetzt wird. Für Borgards (2007: 135) ist „die Handlung der Exklusion notwendig mit Gewalt verbunden“, wodurch der obige Kommentar paradox wird, da es der Kommentatorin um einen entwilderten, befriedeten Kulturraum geht, der durch ihre sprachliche Geste der Gewalt selbst konterkariert wird. Die Headline aus dem Spiegel (2) entlarvt dagegen die eigentlichen Zusammenhänge: Zwar sind es (zumeist) Schafe, die von Wölfen attackiert werden, die also die „ernsten Schäden“ an Leib und Leben aufweisen. In der Aussage ist jedoch von „ernsten Schäden für Nutztierhalter“ die Rede. Für eine Argumentation contra Wölfe werden daher die Schafe oft als ‚Opferlämmer‘ konstruiert, obwohl es eigentlich um finanzielle Schäden geht. Dies ist ein typisches „Verhalten über
|| 6 https://www.sueddeutsche.de/panorama/problemwolf-jagd-abschuss-1.4688528 (letzter Zugriff 16.02.2020).
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einen Stellvertreter“ [H. i. O.] (Sager 1995: 156). Das Image des Schafs und letztlich aller ‚Nutztiere‘ als sanft, wehrlos und nicht zuletzt ‚nützlich‘ wird ausgenutzt, um den dagegen ‚unnützen‘ Schädling, den Wolf, zu diffamieren. Dies geschieht manchmal sehr drastisch: Eine Variante des Narrativs vom bösen Wolf stellt die Diskursaussage (3) dar, in der ein konkreter Wolf als „Serientäter“ bezeichnet wird, der vor seinem „Todesurteil“ flüchtet. Dabei wird der Wolf nicht nur mit Lexemen aus dem Wortfeld ‚Verbrechen‘ kriminalisiert, sondern das (auch für Märchen typische) animistisch-anthropomorphisierende Register bemüht. Marrone (2018) unterscheidet mit Descolas (2013: 189)7 Ontologien – die dieser als elementare Teile „einer Art Syntax der Zusammensetzung der Welt“ versteht (Descola 2013: 194) – vier mögliche Arten der Bedeutungskonstruktion von ‚Natur‘ bzw. Elementen der Natur (Pflanzen, Tiere). Diese sind „effects of meaning derived from precise discursive dispositifs“ (Marrone 2018: 122): Animismus (psychische Kontinuität/physische Diskontinuität), Naturalismus (psychische Diskontinuität/physische Kontinuität), Totemismus (psychische und physische Kontinuität) und Analogismus (psychische und physische Diskontinuität). Zwar zieht der Wolf in dem oben genannten Artikel in der Süddeutschen Zeitung weiter durch sein Territorium oder erweitert es, dieses natürliche Verhalten von Wölfen (physische Diskontinuität) wird jedoch als bewusste „Flucht“ vor Menschen – vor seinem Todesurteil – konstruiert, als wüsste er um die Gesetze, gegen die er aus menschlicher Perspektive verstoßen hat (psychische Kontinuität). Im Zuge der miteinander zusammenhängenden diskursiven Schemata der Ökonomisierung (Wölfe richten wirtschaftlichen Schaden an), Politisierung (Wölfe sind das bedrohliche Fremde, vor dem uns eine bestimmte politische Partei – als Regierungspartei – schützen kann) und Kriminalisierung (Wölfe sind gefährliche Delinquenten, die gegen menschliche Gesetze verstoßen) wird jeweils ausgedrückt, dass Wölfe in Deutschland nicht willkommen sind. Diese Schemata sind dem Gefahrentopos (vgl. Wengeler 2007: 170) als einem kontextspezifischem Argumentationsmuster zuzuordnen, der Wölfe als vielfältige Bedrohung für Menschen konstruiert. Selbst eine (pro Wölfe zuzuordnende) Aussage wie: „Seitdem erobern sich die Wölfe ihren alten Lebensraum zurück“ [H. d. A.] (Nabu.de undatiert)8, die auf der Webseite des NABU Deutschland zu lesen ist,
|| 7 „Diese Identifikationsprinzipien definieren vier große Ontologietypen, das heißt Systeme von Eigenschaften der Existierenden, die kontrastierenden Kosmologieformen, Modellen des sozialen Bandes und Theorien der Identität und Andersheit als Ankerpunkt dienen“ (Descola 2013: 189). 8 https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/wolf/deutschland/index.html (letzter Zugriff 05.05.2020).
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impliziert mit der Verwendung der Kriegsmetapher „erobern“, dass Wölfen eine Macht gegenübersteht, von der sie den Lebensraum (zurück-)erobern müssen. Das semantische Konzept von erobern beinhaltet, dass Wölfe bei der Besetzung der neuen Gebiete ,oben‘ sind, d.h. Macht haben („Der Status eines Menschen hängt zusammen mit (gesellschaftlicher) Macht, und (physische) Macht ist OBEN“ [H. i. O.] Lakoff/Johnson 1980: 25), während eine andere, eben aus ihrer Sicht feindliche Partei mit anderen Ansprüchen und Absichten bezüglich des Gebietes sich wehrhaft, aber nicht erfolgreich zeigt und daher ,unten‘ ist bzw. ,unterdrückt‘ wird. Da Wölfe Beutegreifer ohne natürliche Feinde sind, kommen für diese Gegenpartei praktisch nur Menschen in Frage, die dadurch die Kontrolle verlieren: In unserer Kultur betrachtet sich der Mensch als ein Wesen, das Tiere, Pflanzen und die physische Umgebung unter seiner Kontrolle hat; und seine einzigartige Fähigkeit zu reflektieren stellt den Menschen über das Tier und verleiht ihm diese Kontrolle. (Lakoff/Johnson 1998: 26)
Insofern stellen Wölfe für den Menschen die Gefahr eines ganz basalen Kontrollverlusts dar, wodurch die menschliche Agency in ihren Wurzeln (nämlich als Selbstaufwertung in Abgrenzung zu Tieren) angezweifelt wird: „Die Metapher KONTROLLE IST OBEN gibt folglich eine Grundlage für die Metapher DER MENSCH IST OBEN und somit für die Metapher VERSTAND IST OBEN“ [H. i. O.] (Lakoff/Johnson 1998: 26).
1.1 Der Wolf ist (nicht) des Menschen Wolf: Kommunikative Aneignung Der Wolf hat es wieder geschafft / Er verwandelte sich / in eine Person (Scheuermann, Wolf, 2008: 109)
Sprachlich-mediale Wolfs-Konstruktionen sind nur im Rahmen kommunikativer Aneignungsprozesse im Zuge eines zeichenhaften Transformationsprozesses zu verstehen. Dabei ist meist von ,dem Wolf‘ als einem Typus („Der Wolf gehört nicht zu Deutschland“) oder von Wölfen im Plural die Rede9 und eher selten von tier-
|| 9 Um diese Verallgemeinerung (,das Tier‘/,l’animal‘) zu vermeiden, weil sich Menschen „das Recht und die Autorität gegeben haben“ (Derrida 2016: 47), Tiere zu benennen, entwickelt Derrida als Alternative den Ausdruck „l’animot“, wobei das Suffix „-mot im animot [...] an das Wort, ja an das Wort namens Namen (mot nommé nom) erinnern“ [H. i. O.] (Derrida 2016: 80) soll. Der
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lichen Individuen, über die charakterliche oder biografische Einzelheiten bekannt wären (es sei denn, sie werden als Missetäter identifiziert). Typisierung und Kategorisierung sind daher Akte der Aneignung im doppelten Sinne: Erstens transformieren Medien (und Literatur) „Lebewesen in Zeichenbestände. In dieser Hinsicht wiederholt jede literarische [und mediale, Anm. d. A.] Tierdarstellung die anmaßende Missachtung und die in unserer abendländischen Kultur so selbstverständliche Aneignung der Tiere durch den Menschen“ (Borgards 2016b: 233). Zweitens finden durch Typisierung und Kategorisierung meist unzulässige Generalisierungen und Anonymisierungen statt, die durch das jeweilige ontologische Register modifiziert und dann entweder pro oder contra Wolf eingesetzt werden. Denn „durch die Konstruktion von solchen abstrakten Einheiten werden Tiere und Menschen im Diskurs verfügbar gemacht“ (Wild 2016: 56). Diese Problematisierung des Verfügbarmachens von Tieren durch Sprache geht im Sinne der Human-Animal Studies (HAS) und des New Materialism (vgl. Latour 2015, Haraway 2016)10 über eigentliche diskursanalytische Fragestellungen hinaus, weil auf Tiere nicht nur als zeichenhafte Konstrukte geblickt wird.11 Einerseits wird hier traditionell (beispielsweise mit Jäger 2007: 21) davon ausgegangen, dass Sprache Welt konstituiert und nicht nur darstellt, insofern „sprachliche und andere Medien nicht nur die Inhalte der kulturellen Semantik [distribuieren], sondern sie sind auch wesentlich an ihrer Hervorbringung beteiligt.“ Gleichzeitig wird aber nicht ausgeblendet, dass es eine materielle Wirklichkeit gibt, dass es also echte Wölfe auf deutschem und österreichischem Gebiet gibt und dass sprachlich-mediale Diskurse, mit denen Wort-Wölfe konstruiert werden, weitere Handlungen nach sich ziehen, die die Lebensbedingungen der wirklichen Tiere verändern. Ebenso wirken auch echte Wölfe auf die sprachlich-medialen Diskurse ein. Daher löst Borgards (2016b: 225) für die Literary Animal
|| semantische Unterschied ist nur in der Schrift erkennbar, er soll aber die versammelnde Macht der Sprache aufheben. 10 Die interdisziplinären Human-Animal Studies unterteilen sich in viele verschiedene Unterdisziplinen, so z.B. in die Cultural Animal Studies oder die Critical Animal Studies. Sie haben gemeinsam, dass sie die herkömmliche Unterscheidung von Menschen und Tieren und die damit verbundenen Konzepte Subjekt/Objekt, Kultur/Natur, Handeln/Verhalten usw. in Frage stellen (vgl. Borgards 2016a). Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour 2015) sowie Haraways Konzept von Tieren als Companions (vgl. Haraway 2016) spielen bei den Revisionen der herkömmlichen Disziplinen eine maßgebliche Rolle. 11 Vgl. das von Steen (2020, 2019a, 2018a) aufgeworfene Desiderat einer Tierlinguistik, die das kommunikative Mensch-Tier-Verhältnis aus posthumanistischer Perspektive mit linguistischen Methoden rekonstruiert.
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Studies die strikte Trennung von wirklichen Tieren auf der einen Seite und literarischen/zeichenhaften Tieren auf der anderen Seite auf: Es mag eine Unterscheidung zwischen literarischen und realen Tieren geben. Doch die Literary Animal Studies zeigen, dass diese Unterscheidung nicht selbstverständlich, nicht trivial, nicht natürlich und nicht einfach ist. In allen literarischen Wortwölfen spielen – auf eine jeweils genau zu analysierende Weise – die realen Wölfe eine konstitutive Rolle; und in allen realen Weltwölfen finden sich – auf eine gleichfalls genau zu untersuchende Weise – Spuren der literarischen Wölfe. (Borgards 2016b: 226)
Die Trennung zwischen Wortwölfen und echten Wölfen wird also nicht aufgehoben, aber es wird postuliert, dass eine Verbindung zwischen ihnen besteht, die diskutiert werden muss. Zwar können Wortwölfe uns nicht beißen und wir Menschen können sie nicht töten (vgl. Borgards 2016b: 225), dennoch sind wir – um ein einfaches Beispiel zu konstruieren – eher geneigt, echte Wölfe zu töten, wenn uns Wortwölfe gleichsam als böse Serienkiller/innen aus den Zeitungen anspringen. Borgards exemplifiziert diese Verknüpfung im Hinblick auf historische Wölfe: So werden z.B. die im 17. Jahrhundert in Europa lebenden Wölfe begleitet von den Wissenswölfen der Naturkunden und der Jagdtraktate sowie von den metaphorischen Wölfen der politischen Theorie, z.B. bei Hobbes, und artikulieren sich in den diegetischen Wölfen der Kriegschroniken und der Literatur, etwa in Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen Der seltzame Springinsfeld (1670) mit seinen wolfserfüllten Kriegs- und Verwüstungsszenarien. [H. i. O.] (Borgards 2016b: 239)
Wölfe sind uns daher niemals (mehr) unmittelbar präsent, selbst wenn wir ihnen direkt gegenüberstehen. „Sie werden immer durch den ‚Filter‘ eines textuellen oder nicht-textuellen, eines in der Tradition überlieferten und eines gegenwärtigen Kontexts wahrgenommen“ (Kling 2019a: 36).
1.2 Was/Wo ist der Wolf? Es geschah / zwischen zwei pelzigen Schritten / im Grün / zwischen / zwei kleinen Knurrlauten / direkt vor dem Kaninchen / links im Bild (Scheuermann, Wolf, 2008: 109)
Die Fragen „Was ist der Wolf?“ und „Wo ist der Wolf?“ werden in diesem Beitrag unter Berücksichtigung der HAS als Forschungsperspektive und einer dem New Materialism zugewandten Diskursanalyse aus zwei Perspektiven beantwortet: Was ist der Wolf? Da die HAS Tiere grundsätzlich nicht als „kulturelle Gegenstände, Symbole oder Muster“ betrachten, „sondern als Lebewesen mit eigenen
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Erfahrungen, Empfindungen, Perspektiven und Interessen, als gesellschaftliche Akteur_innen und als Individuen“ (Spannring et al. 2015: 17), wird auf der Diskursebene danach gefragt, wie die Tiere im Gegensatz dazu sprachlich-medial als ,das Andere‘ konstruiert werden, welche Muster des Othering eingesetzt werden und wie sich dabei eine utilitaristische Anthropozentrik manifestiert (vgl. Heuberger 2017: 48–54). Hierfür können mit Borgards zwei Arten sprachlich konstruierter Wölfe unterschieden werden: Erstens: Wölfe als ‚lebendige‘, d.h. diegetische Tiere und Handlungsträger/innen. Die Erzähluniversen, in denen sie auftreten, können realistisch (z.B. in Zeitungsartikeln, realistischen Romanen) oder phantastisch (in Märchen oder phantastischer Literatur) sein. Dabei können phantastische Wölfe auch durch realistische Texte schleichen, insofern Phantastik nicht nur als Genre, sondern als Modalität der Beschreibung verstanden wird (vgl. Steen 2013). Zweitens: Wölfe als sprachliche/semiotische Tiere in Redewendungen, Metaphern und Namen (vgl. Borgards 2016b: 226–227). Zudem gibt es die realen Wölfe: Während die „idiomatischen Ausdrücke und Figuren des Wolfs, diese Interpretationen, diese Fabeln oder diese Phantasmen [...] von einem Ort und einem historischen Augenblick zum anderen“ (Derrida 2008: 24–25) variieren, passieren die „realen Wölfe [...], ohne um Erlaubnis zu fragen, nationale und institutionelle Grenzen, die von Menschen und ihren souveränen Nationalstaaten gesetzt wurden“ (Derrida 2008: 25). Derrida nimmt an, dass die realen Wölfe überall dieselben sind und sich nur die diskursiven Wolfsfiguren voneinander unterscheiden (vgl. Derrida 2008: 25). Doch letztlich sind auch „die wirklichen Wölfe mit Bedeutungen (mit Semiotischem)“ und die „literarischen [oder auch die sprachlich-medialen, Anm. d. A.] Wölfe mit historischen Lebenswirklichkeiten (mit Materiellem) verknüpft“ (Borgards 2016b: 239).12 Beispielsweise wird mit der Diskursaussage „In Niedersachsen hat sich ein Wolf mehrfach Menschen genähert und galt daher als Gefahr.“ (Stern.de 27.04.2016)13 der Anspruch verfolgt, auf einen echten Wolf zu referieren. Die weitere Aussage in dem Text, dass dieser Wolf ein „Problemwolf“ und damit ein gefährliches Tier ist, ist semiotisch-materiell mit der anschließenden Tötung des Wolfs namens „Kurti“ verflochten. Bezogen auf die systematische Ausrottung der Wölfe in der Geschichte formuliert Ahne (2017) diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Man kann eine beliebige Naturgeschichte des 16., 17., 18. oder 19. Jahrhunderts aufschlagen und stellt fest:
|| 12 Vgl. hierzu Kling (2015), der zeigt, wie über Poetisierungen und Ästhetisierungen Wölfe auf einem Kupferstich von Johann Elias Ridinger (1736) mit den Wölfen des Gedichtes Die Wölfe von Barthold Heinrich Brockes und mit den historischen echten Wölfen verbunden sind. 13 https://www.stern.de/panorama/wissen/natur/niedersachsen--wolf-kurti-wurde-vorsichtshalber-getoetet-6818002.html (letzter Zugriff 26.02.2020).
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Die Beseitigung des Wolfs und wie sie gelingen kann war Teil des Sprechens und Schreibens über ihn“ (Ahne 2017: 10). Wo ist der Wolf? Es macht (auch für die realen Wölfe) einen Unterschied, ob Wölfe als Typus oder Individuen konstruiert werden, ob mit diesen Konstruktionen auf Wölfe im Allgemeinen referiert wird oder ob ein spezifisches Individuum gemeint ist, und auch in welchen Kommunikationsformen und Textsorten als mediale Orte für Tiere (Theriotopien, vgl. Borgards 2016b) Wölfe konstruiert werden, z.B. in einer Liste für vom Aussterben bedrohte Tiere (Tiere als Kategorien) oder in einem Nachruf der New York Times (das wölfische Individuum) (Nytimes.com 10.12.2002).14 Zusammenfassend wird mit Borgards zur Diskursanalyse im Zeichen des New Materialism festgehalten: Wie die Diskursanalyse und die Dekonstruktion setzt damit auch der New Materialism nicht als gegeben voraus, was ein Mensch, was ein Tier und was deren Beziehung ist, sondern fokussiert die politischen, sozialen und kulturellen Aushandlungsprozesse, in denen Menschen und Tiere überhaupt erst ihre Kontur gewinnen. Doch anders als die Diskursanalyse und Dekonstruktion geht es dem Neumaterialismus um den Nachweis, dass die Tiere in diesen Aushandlungsprozessen nicht nur passive Objekte, sondern involvierte Akteure sind. (Borgards 2016b: 240)
2 Semiotisch-materielle Verflechtungen: Anwesend-abwesende Wölfe Natürlich änderte sich seine Fußspur Siehst du / wie er spazieren geht und den Tauben das Brot / hinstreut? (Scheuermann, Wolf, 2008: 110)
Es sind Aussagen wie diese, die ein Simulakrum (vgl. Baudrillard 1978) aus einer semiotisch-materiellen An- und Abwesenheit von Tieren/Wölfen erschaffen: „Eigentlich ist die Welt voller Spuren. Wenn man es genau nimmt, existieren kaum tierspurlose Orte.“ (Tiere-entdecken.de 05.07.2015)15, „Ich habe dort keinen einzi-
|| 14 Vgl. den bis dato einzigartigen Nachruf der New York Times aus dem Jahr 2012 mit dem Titel Mourning an Alpha Female, den die Zeitung für eine von Jäger/innen erschossene Wölfin des Yellowstone Nationalparks schaltete, wodurch die Wölfin ein mediales Gesicht erhielt, an das man sich erinnern kann: https://green.blogs.nytimes.com/2012/12/10/mourning-an-alpha-female/?mtrref=www.google.com&gwh=71EA1DCE0BD2676B9450D950522B3ADA&gwt=pay&assetType=REGIWALL (letzter Zugriff 24.02.2020). 15 https://www.tiere-entdecken.de/beifang/wolfslosung (Autor: Sascha Lobo) (letzter Zugriff 26.02.2020).
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gen wilden Wolf zu Gesicht bekommen, und doch waren die Landschaften allein durch das Wissen um das Anwesend-Sein der Tiere geprägt“ (Mangelsdorf 2007: 17) und: „Sich den Wölfen zuzuwenden, bedeutet Spurenlesen. Den Spuren und Zeichen zu folgen, geht einher mit der Hoffnung, am Ende auf den tatsächlichen Wolf zu stoßen“ (Kling 2019a: 27). Die sprachlich konstruierten Spuren realer Wölfe, die ihre Anwesenheit und temporäre Abwesenheit in der Landschaft indizieren, werden zu Datenspuren (vgl. Latour 2015: 257) im Diskurs; die realen Wölfe, die Landschaften verändern, verändern damit auch die diskursiven Konzepte, die wir mit den Gegenden verbinden, in denen Wölfe leben, sodass Aussagen wie die folgende möglich werden: „Deutschland ist ein Wolfsland“ (Sachsen.nabu.de undatiert)16. Deutschland könnte aber genauso gut Regenwurmland oder Mauerseglerland genannt werden, aber die Spuren dieser Tiere werden in den Medien selten dergestalt thematisiert, dass sie eine Relevanz erreichen, die ein neues Kompositum rechtfertigt, durch das Deutschland einer einzigen Spezies gewidmet wird. „Literarische Tiertexte“, aber auch wissenschaftliche Texte oder Zeitungsartikel „werden damit lesbar als Protokolle dessen, was sich in den ,contact zones‘, in den Begegnungen zwischen Menschen und Tieren ereignet hat“ (Borgards 2016b: 239) – und man muss hinzufügen, auch in den nicht stattgefundenen Begegnungen, z.B. weil die Tiere gar nicht da waren, weil sie scheu sind oder weil Menschen sich mit ihnen face to face nicht auseinandersetzen wollen. So betont Bailly (2020: 71), dass die tatsächlichen „Spuren der Tierwelten“ Spuren „der Verbindungen und Querverweise (auf das Leben, auf das Lebendige, auf den Tod, auf die Welt)“ sind, die wir Menschen gar nicht als solche erfassen können, weil wir ihnen selten folgen. Alles ist miteinander verbunden, komplex und kontingent und führt am Ende auf uns selbst zurück, als ein „wahrhaftiges und ehrwürdiges Knäuel von Verhaltensweisen und Kontiguitäten“ (Bailly 2020: 71). Weil wir auch reale Wölfe als von uns abgetrennt erleben, sind auch sie für uns meist nur als Spuren und damit in einem endlosen Aufschub – einer différance – zugänglich. Die wesentliche Erkenntnis hierzu ist, dass auch Wölfe, die (noch) als wild und autonom gelten, nicht mehr der Sphäre der Natur im Gegensatz zur Kultur zugeordnet werden können, weil es nur noch „Naturkulturen“ gibt, die durch „historische Spezifität und bedingte Veränderlichkeit“ (Haraway 2016: 18) bestimmt sind. Während wir über Wölfe sprechen und schreiben, nähern sie sich auf leisen Wolfssohlen – „à pas de loup“, wie Derrida (2008: 25) schreibt, wobei „pas“ nicht nur ‚Schritte‘ bedeutet, sondern auch als Negationsadverb gelesen werden kann || 16 https://sachsen.nabu.de/news/2018/24328.html (letzter Zugriff 26.02.2020).
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– „il n’y a pas de loup [‚es gibt keinen Wolf‘]“ (Derrida 2008: 26). „[E]s gibt nur einen anderen ‚Wolf‘, der etwas anderes figuriert“ (Derrida 2008: 26), während der echte Wolf abwesend ist/bleibt. Die Abwesenheit des echten Wolfes durch die Anwesenheit semiotischer Wölfe macht echte Wölfe jedoch nicht machtlos, im Gegenteil: „Die Kraft des Wolfs ist umso stärker, ja souveräner, sie überwältigt alles umso mehr, als der Wolf nicht da ist, als es den Wolf selbst nicht gibt“ (Derrida 2008: 27). (4) Erneut ist in Brandenburg ein Wolf gesichtet worden: Beim Gassigehen hat eine Spaziergängerin aus Niederlehme (Dahme-Spreewald) einen verdächtigen Haufen entdeckt. Sie schickte ein Foto an einen Experten. Schnell war klar: Das ist die Hinterlassenschaft eines Wolfs. (Märkische Allgemeine online 13.02.2018)17
In einem Artikel aus der Märkischen Allgemeinen (4) mit der Headline „Beim Gassigehen: Frau entdeckt Kotspuren vom Wolf“ wird ein abwesender realer Wolf aufgrund seiner hinterlassenen Spur medial anwesend. Der reale Wolf und seine „Hinterlassenschaft“ stehen damit nicht nur in einem biologischen Kontiguitätsverhältnis zueinander. Die Wolfsspur wird zugleich als Wolfssichtung konstruiert („Erneut ist in Brandenburg ein Wolf gesichtet worden“), sodass die Anwesenheit der auf den abwesenden Wolf verweisenden Spur zur Anwesenheit des Wolfs wird. (5) Sie hat in der Senziger Heide einen Wolf entdeckt. Indirekt jedenfalls. [...] Für die Niederlehmerin war das ein bewegender Moment. „Ich bin immer noch total ergriffen und stolz. Wann kommt man einem Wolf schon mal so nahe?“, schrieb sie. (Märkische Allgemeine online 13.02.2018)
Aus der Entdeckung der Spuren wird die Entdeckung des Wolfs – „Indirekt jedenfalls“ (5), wobei der Ausdruck Ent-deckung impliziert, dass etwas gefunden wurde, das ursprünglich ver-deckt war und nicht gefunden werden wollte/sollte oder nicht einfach zu finden war. Wäre Wolfskot häufiger oder weniger überraschend auffindbar, wäre er keine Sensation. Eben diese Indirektheit und Seltenheit sind es, weshalb der Fund für die Gassi gehende Frau zu einem „bewegende[n] Moment“ (5) wird und die etwa Lobo auf seiner Webseite als „Erhabenheit“ bezeichnet: „Wölfe, diese großartigen Tiere, waren in Deutschland schon ausgestorben – und jetzt steht man nachweislich an einem Ort, an dem noch kurz zuvor ein echter, wilder Wolf stand.“ (Tiere-entdecken.de 05.07.2015, vgl. FN 15) „Wann kommt man einem Wolf schon mal so nahe?“ (5). || 17 https://www.maz-online.de/Lokales/Dahme-Spreewald/Ein-Wolf-zog-durch-die-SenzigerHeide (letzter Zugriff 26.02.2020).
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Der Wolf kann schon weitergewandert sein und sich 100 Kilometer von der Fundstelle entfernt aufhalten, dennoch konstruieren die menschlichen Akteur/innen das Gefühl, dem Tier selbst nahe gewesen zu sein. Dabei wird der Kot (als Teil vom Wolf) zum verbindenden Medium zwischen den Spezies, und zwar zu einem materiell-semiotischen Knoten, der sich mit den ins Internet gestellten Fotos/Abbildungen der Losungen („ab und zu fotografiere ich Tierkacke“, Tiere-entdecken.de 05.07.2015, vgl. FN 15) und über die Beschreibungen derselben in die mediale Sphäre erweitert. Auch die Losung selbst ist materiell-semiotisch, da sie als Zeichen (Index) für die (vorgängige) Anwesenheit des Wolfs gedeutet wird und zugleich aus Wolfsmaterial besteht – der Wolf ist an- und abwesend zugleich. Zudem ist die Losung bereits diskursiv, weil es die mittlerweile weit verbreitete Praktik des Aufspürens von Wolfslosungen durch Hobbybiolog/innen gibt, die ihren Fund mit anderen Interessierten in den sozialen Medien teilen.
Abb. 1a und 1b: Interspezifische Spuren als materiell-semiotischer Knoten. Links: 1a) Wolfskot und Wildschweinhaare. Rechts: 1b) Wölfische Trittsiegel (Goldschmidt 2020)18
|| 18 Die Fotos (a und b) von Abbildung 1 wurden uns von Lilith Goldschmidt zur Verfügung gestellt, die sie im Sommer 2020 Rahmen einer Führung des Naturschutzgroßprojekts (NGP) Lausitzer Seenland gemacht hat. Im Rahmen des Projekts werden regelmäßig Wolfswanderungen
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Wolfskot ist somit ein Beispiel dafür, dass Materie produziert wird und zugleich produktiv ist, „sie wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen“ (Barad 2018: 14–15). Abbildung 1a (links) zeigt Wolfskot verknotet mit Wildschweinhaaren. Von Menschen entdeckte Wolfslosungen (oder auch getötete Schafe, zurückgelassenes Fell usw.) und auch die menschlichen Entdecker/innen selbst, im Prinzip alle ontologischen Einheiten, sind (im agentiellen Realismus Barads) „Phänomene – dynamische, topologische Rekonfigurationen/Verschränkungen/Relationalitäten/ (Neu-)Gliederungen der Welt“ (Barad 2018: 22). In materiell-diskursiven Praktiken werden erst „(ontische und semantische) Grenzen konstituiert“ (Barad 2018: 22). Haraway spricht ganz ähnlich von „Fadenspielen“, „in denen wer in oder von einer Welt ist, oder sein wird, durch Intra- und Interaktion konstituiert wird. Die PartnerInnen gehen der Verknotung nicht voraus“ (Haraway 2018: 24; vgl. Barad 2018). Aus der Perspektive des New Materialism und des agentiellen Realismus rekonfiguriert sich die Welt fortlaufend und mit ihr die Relata. Im sprachlich-medialen Diskurs finden sich somit Spuren von Wolfsspuren, wobei deutlich wird, dass auch Diskurse nicht nur sprachlich, sondern ebenso materiell sind. So wie Wölfe für ihre Wanderungen oft Wege und Trampelpfade nutzen – Spuren der menschlichen Zivilisation – um Kraft zu sparen, wodurch sich wölfische und menschliche Spuren überlagern, konstituieren sich auch im medialen Diskurs interspezifische ,Trampelpfade‘ mit typischen Mustern. Menschliche Fußabdrücke, wölfische Trittsiegel, Hundepfoten, Autoreifen, Vogelkrallen u.v.m. hinterlassen ihre Abdrücke in der Landschaft und vermengen sich zu einem neuen sinnstiftenden materiell-semiotischen Muster (voneinander differenzierbar und doch zu etwas Neuem verbunden). Ebenso verbinden sich medialisierte Wolfsabdrücke mit sprachlichen und bildlichen diskursiven Mustern. Diese sind einzeln betrachtbar, fließen aber diskursiv ineinander (vgl. Abb. 1b). Ausgangspunkt ist jeweils ‚der Wolf‘ als diegetisches Tier und sprachliches Konstrukt, das in kulturelle Muster und Aneignungsprozesse eingebunden wird, wenn sein Image als böses Tier und Täter, wildes Tier und Wildtier, Vorfahre des Hundes oder Transformator der Umwelt hergestellt wird. Hierzu dienen, wie in Tabelle 1 aufgelistet, verschiedene dynamische Schemata der Aneignung, die flexibel für die jeweilige Argumentation pro oder contra Wolf eingesetzt werden. Dabei können vier zentrale Funktionen der Aneignung rekonstruiert werden: Dämonisierung, Charismatisierung, Zivilisierung und Exotisierung, die nicht voll-
|| durchgeführt: https://www.ngp-lausitzerseenland.de/cms/index.php/angebote/naturerlebnisfuehrungen (letzter Zugriff 05.02.2021).
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ends voneinander zu trennen sind, insofern sie polarisierend aufeinander bezogen werden können. Tab. 1: Aneignungsmuster
Diegetisches Tier
Image
Schemata der Aneignung
Funktion
Wolf
böses Tier/Täter
Fiktionalisierung Kriminalisierung Politisierung
Dämonisierung
Wolf
wildes Tier/Wildtier
Naturalisierung Ökonomisierung
Exotisierung
Wolf
Vorfahre des Hundes
Objektifizierung
Zivilisierung
Wolf
Transformator
Ökologisierung
Charismatisierung
Die folgende Untersuchung von Diskursfragmenten aus der Perspektive der Human-Animal Studies, die typische materiell-semiotische Knoten zu rekonstruieren versucht, versteht sich als exemplarisch und erhebt nicht den Anspruch, allen medialen Spuren systematisch und erschöpfend zu folgen. Das Ziel ist vielmehr, auffälligen Knoten zu folgen und diese an manchen Stellen zum besseren Verstehen, was und wo der Wolf (derzeit im Diskurs) ist, etwas zu entwirren.
2.1 Dämonisierung und Charismatisierung Zeitlich eng beieinander / verwandelt er sich in Alte und Junge / in Gute und Heilige / gern auch mal in ein Opfer / er liebt Abwechslung (Scheuermann, Wolf, 2008: 110)
Selbst wer noch nie einem echten Wolf begegnet ist, hat doch schon mit fiktiven Wölfen Bekanntschaft gemacht, in Mythen (z.B. Romulus und Remus), in der Bibel (reißende Wölfe und friedliche Schafe), in Romanen (z.B. Wolfsblut von Jack London), in Gedichten (z.B. Die Wölfe von Barthold Heinrich Brockes) und Märchen (z.B. Rotkäppchen und der böse Wolf bei den Brüdern Grimm und diversen Werwölfen).19 Aus vielen Geschichten ‚lernen‘ wir, dass Wölfe böse sind. Seit Jahrhunderten gibt es hierzu eine mehr oder weniger unausgesprochene Übereinkunft: Der Wolf „war dem Menschen ein unfreiwilliger Gehilfe bei dessen nie en-
|| 19 Zur Entstehungsgeschichte des bösen Märchenwolfs und seiner Verbindung zum Werwolf siehe Ahne (2017: 25–43), für eine umfangreiche Aufarbeitung fiktionaler Wölfe Burkhart (2018).
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dendem, oft schmerzvollem Versuch, sich seiner selbst zu vergewissern, Ordnung zu schaffen in seiner Welt“ (Ahne 2017: 29). Der ‚böse Wolf‘ bedeutet Chaos, Unordnung, Grausamkeit, das Dunkle und Unbezähmbare, all das, was der Mensch von sich selbst abspalten will. Er wird damit zum Symbol des in der westlichen Kultur vorherrschenden Mensch-Tier-Differenzdenkens, das Mütherich (2015: 71) als konstitutives Element einer „tiefenkulturellen Matrix“ ansieht, in der der Mensch, stets „Ort – und zugleich das Ergebnis – von unablässigen Teilungen und Zäsuren ist“ (Agamben 2017: 26). Als Verursacher und eigenes Opfer der (Zwie-)Spaltungen ist der Mensch damit selbst ein Hybridwesen, das im Werwolf-Mythos einen starken Ausdruck findet. Noch heute führen Spuren realer Wölfe in die Märchen und fiktionalen Welten hinein und durchwandert der Märchenwolf die Tatsachen-Berichte über Wolfssichtungen und Wolfstaten, wodurch sich echte und fiktionale Wölfe zu intertextuellen Hybridwesen verbinden. Manche dieser Wissensstrukturen über Wölfe wurden und werden noch heute aus dem lebensweltlichen Sinnbereich der Jagd gespeist, wo der Wolf immer noch verteufelt wird (aber auch dort gibt es positive Stimmen). Auf der österreichischen Webseite Jagdfakten.at20 findet sich ein Beitrag mit dem Titel Rotkäppchens Erbe – bis uns der gute Wolf in den Hintern beißt, aus dem die folgenden Zitate entnommen sind und die das typische intertextuelle Wolf-Hybridwesen auf verschiedenen semanto-pragmatischen Ebenen anschaulich macht. (6) Rotkäppchens Erbe – bis uns der gute Wolf in den Hintern beißt. Kaum ein anderes Wildtier lässt zurzeit die Wogen höher schlagen [sic!] als Canis Lupus – der Wolf. Wobei es besser gefräßiger Wolf heißen sollte, denn ein erwachsener Wolf benötigt bis zu 6 Kg Fleisch am Tag. Und der wilde Vorfahre des besten Freundes des Menschen, [sic!] lässt sich seinen Speiseplan nicht vorschreiben. Medienberichten zur Folge [sic!] wurden bereits bis zum März 2018 über 500 Wolfsrisse in Österreich nachgewiesen. Gefühlt jeden zweiten Tag kommen weitere Berichte wie Kriminalfälle daher. DNA-Analysen, Wildkamera-Sichtungen, Augenzeugen und Wolfsspuren – auch hier halten die 20 bestätigten Wölfe in Österreich so viele Menschen auf Trab, wie kein anderes Wildtier. [H. d. A.] (Jagdfakten.at 26.09.2018)21 (7) Das [sic!] die Geschichte von Rotkäppchen weder an den Haaren, [sic!] noch am roten Käppchen herangezogen ist, belegen sogenannte Matrikenbücher aus dem 17. Jahrhundert. In diesen Büchern wurden Geburts- und Sterbedaten jeder Gemeinde eingetragen. Pfarrer,
|| 20 Die Seite versteht sich als „Informationsplattform zur Förderung des Wissens und zur Förderung des Dialoges zu den Themen Natur, Wild & Jagd“ und liefert nach eigenen Angaben „umfangreiche Informationen, unterschiedliche Sichtweisen und aktuelle Daten & Fakten rund um Österreichs Wald, Wild, Natur, Jäger, Jagd und Tradition“ (Jagdfakten.at undatiert, https:// www.jagdfakten.at/ueber-uns, letzter Zugriff 12.02.2021). 21 https://www.jagdfakten.at/rotkaeppchens-erbe-bis-uns-der-gute-wolf-in-den-hintern-beisst/ (letzter Zugriff 28.02.2020).
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die besonders gründlich arbeiteten, haben meist auch die Todesursache notiert. Viele Eintragungen aus dieser Zeit sind nicht präzise genug, dennoch finden sich allein in Ober- und Niederösterreich mehr als ein Dutzend klare Eintragungen von tödlichen Wolfsattacken. [H. d. A.] (Jagdfakten.at 26.09.2018, vgl. FN 21)
Durch den Namen der Webseite „Jagdfakten“ wird die Validität der dort publizierten Artikel vorgegeben. Aber bereits die Nennung des Märchens mit dem Namen „Rotkäppchen“ (6) als erster Ausdruck im Titel des Beitrags gibt eine andere Stoßrichtung des Artikels vor. Die Konstruktion „Rotkäppchens Erbe“ ist eine Verschmelzung von Fakt und Fiktion, insofern mit „Erbe“ heutige Praktiken im Umgang mit Wölfen gemeint sind, die in einer traditionellen Verbindung zu den Taten von Wolf (Menschen fressen) und Jäger (Wolf töten) im Märchen zu stehen scheinen und mit dem Verweis auf „Rotkäppchen“ der fiktionale Text thematisiert wird. Erst der Nachsatz „bis uns der gute Wolf in den Hintern beißt“ ist in einer scherzhaften Modalität gehalten, mit der die Validität des Gesagten scheinbar eingeschränkt wird. Der Scherz bezieht sich auf die Attribut-Konstruktion „der gute Wolf“ (6), die als Antonym zum ,bösen Wölf‘ ironisch gemeint ist, was erkennbar wird durch seine gewaltsame Tat, durch die sich der eigentlich böse Wolf zu erkennen gibt. Die Redewendung „in den Hintern beißen“ (6) ist hier aber durchaus ernst gemeint, insofern dem Wolf unterstellt wird, er würde auch Menschen attackieren, wenn man ihm nicht vorher Einhalt gebietet. Da die Menschen ihn aber heute nicht mehr als ‚bösen Wolf‘ ansehen, unterschätzen sie ihn und werden dafür die Quittung erhalten. Angriffe von Wölfen auf Menschen werden als Gefahr absolut gesetzt, andere, wesentlich realistischere Gefahren ausgeklammert. Kein/e Jäger/in käme auf die Idee, die Weidehaltung von Kühen zu verbieten, obwohl „Kühe [...] bei uns um ein Vielfaches mehr Menschen getötet [haben] als die für gefährlicher gehaltenen Wölfe“ (Reichholf 2017: 34). Im Anschluss an die Konstruktion einer generellen Gefährlichkeit wird das Thema durch die metaphorische Behauptung, der Wolf „lasse die Wogen höher schlagen“ (6), emotionalisiert. Der Grund für diese emotionale Aufladung des Diskurses: weil der Wolf „gefräßig“ (6) ist. Die wissenschaftliche, wertfreie Bezeichnung „Canis Lupus“ (6), die die genetische Verwandtschaft kenntlich macht, dass Wölfe zur Familie der Hunde gehören, soll durch die pejorative Attribut-Konstruktion „gefräßiger Wolf“ (6) ersetzt werden, durch die der Wolf auf eine vermeintlich typische Eigenschaft reduziert wird, die ihn zur Bestie macht.22
|| 22 Auch in einer von Heintz (2019) in Ausschnitten analysierten Bundestagsdebatte vom 2. Februar 2018 werden Wölfe auf dieses märchenhaft inspirierte Stereotyp reduziert. Kritische Stimmen (z.B. Bündnis 90/Grüne), die die Diskussion zu versachlichen suchten, wurden zunächst verlacht (vgl. Heintz 2019: 151).
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Eine wertneutrale Beurteilung der Nahrungsmenge, die ein Lebewesen zu sich nehmen muss, um in der freien Wildbahn zu überleben, gibt es nicht, da die Beurteilung, was viel und was wenig ist, nur mit anthropozentrischen Maßstäben erfolgen kann. Ebenso gut könnte man die menschlichen Jäger/innen, die laut Deutschem Tierschutzbund etwa 5 Millionen Tiere jährlich töten, als gefräßig bezeichnen und ihnen deshalb die Jagd verbieten. „Gefräßiger Wolf“ ist daher eine imageschädigende anthropozentrische, stereotype Konstruktion, die sich beispielsweise auch bei Alfred Brehm („schleicht und lungert umher und sieht, ob nichts für seinen ewig bellenden Magen abfalle“, Brehm/Pechuel-Loesche 1883: 529), bei Georges-Louis Comte de Buffon („Wenn ihn der Hunger drueckt, scheuet er keine Gefahr und waget alle Anfaelle auf Thiere, die unter der Hut der Menschen stehen“, de Buffon 1760: 22) und in vielen anderen anthropomorphisierenden Texten23 finden lassen, vor allem aber in Märchen. Pesl (2017: 175) fasst diese konstruierte hyperbolische wölfische Mentalität folgendermaßen zusammen: „Wölfe fressen alles und verdauen nichts. [...] Außer eingenähten Steinen im Magen kann sie kaum etwas umbringen.“ Mit der Gefräßigkeit sind weitere kulturelle Kontextualisierungen verknüpft: „[D]er hungrige Wolf (Redewendung ‚einen Wolfshunger haben‘) gilt als die verkörperte Gier (Gieremund heißt die Wölfin im Tierepos), als ein zu Verstellung und Täuschung fähiges Raubtier“ (Burkhart 2018: 81). Auch die Behauptung, dass Wölfe bis zu „6 Kg Fleisch am Tag“ (6) fressen – Bloch/Radinger (2017: 63) sprechen von einem „Fünf-Kilo-Mythos“ – wird durch empirische Studien, die auf bis zu zwei Kilogramm pro Tag kommen, widerlegt (vgl. Bloch/Radinger 2017: 63). Mit der Metapher, der Wolf „lässt sich seinen Speiseplan nicht vorschreiben“, wird dem Wolf diejenige Art menschenunabhängiger Agency konstruiert, die weiter oben bereits angesprochen wurde. Sie impliziert eine Deontik, der zufolge er sich von Menschen vorschreiben lassen sollte, was er zu essen hat, und damit eine Form der utilitaristischen Anthropozentrik. Mit dem Adverb „gefühlt“ in der Aussage „Gefühlt jeden zweiten Tag kommen weitere Berichte wie Kriminalfälle daher“ (6) wird sogar explizit zugegeben, dass die Häufigkeit der Rezeption von Berichten über den Wolf nur gefühlte Wahrheiten und keine Fakten sind. Indem die Berichte mit „Kriminalfällen“ verglichen werden, erfolgt eine explizite Kriminalisierung der Tiere als Täter/innen.
|| 23 „Vor allem diente der Wolf den Tierbüchern dazu, die wölfischsten unter den menschlichen Sünden zu illustrieren. Man müsse die Sünden des Wolfs hassen, sagten die Bestiarien, sie zu fürchten reiche nicht, denn diese Sünden – die Sünden von Gaunern, Abtrünnigen und Straßenräubern – seien hinterlistig. Hört diese Worte vom Wolf, ihr Sünder, und dann bedenkt den Wolf, der euer inneres Lamm jederzeit zerreißen kann“ (Passarello 2018: 24).
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In der Terrorismusforschung wird die Metapher „einsamer Wolf“ für einen menschlichen Täter/innen-Typus verwendet, der allein und ohne einen spezifischen Auftrag von Dritten handelt, wodurch seine Taten schwerer nachvollziehbar sind. Auch mit dieser Tiermetapher wird eine unabhängige Agency ausgedrückt, wobei das Wolf-Konzept des GNADENLOSEN KILLERS aktiviert wird.24 Beide Konstrukte machen aus dem Wolf ein typisches ambivalentes Agens: „einerseits die Attribuierung Stärke, Kraft, Animalität“ (Burkhart 2018: 81), andererseits „Blutgier, Gefährlichkeit, angsteinflößende Wildheit und Fremdheit des Raubtiercharakters“ (Burkhart 2018: 81). Die Konstruktion eines wölfischen Einzeltäters erfolgt im Diskurs vor allem über die Problemtier-Kategorie, z.B. „Problemwolf zieht Leine. Wo Schafs-Killer GW 1430m jetzt sein Unwesen treibt.“ (Hamburger Morgenpost 07.01.2020)25; „Mit insgesamt 40 toten Opfern ist er der schlimmste Serientäter der letzten 30 Jahre und zudem ein wahrer Langstreckenläufer: Die Rede ist vom Problemwolf GW 924m“ (Radio7 undatiert)26. Bemerkenswert ist der Versuch der Autor/innen von Jagdfakten.at, das Märchen vom bösen Wolf als Fakt erscheinen zu lassen (7), ungeachtet jeglicher historischen Einordnung. „Matrikenbücher aus dem 17. Jahrhundert“ werden als verlässliche Quelle für die Dokumentation von Wolfsangriffen auf Menschen herangezogen, obwohl auch hier zugegeben wird, dass „viele Eintragungen aus dieser Zeit [...] nicht präzise genug“ sind, die Validität der nachfolgenden Behauptungen also eingeschränkt wird. Unabhängig davon, dass auch die Pfarrer, die die Sterbeursache in die Bücher eintrugen, nicht selbst Augenzeugen waren, lässt sich die Institution der Kirche im 16. und 17. Jahrhundert gegenüber Wölfen kaum als neutral eingestellt einstufen, da sie noch Hexen- und Werwolfprozesse veranstaltete. Sollte es tatsächlich zu Wolfsangriffen gekommen sein, ist es möglich, dass diese die Tollwut hatten und sich deshalb nicht wolfstypisch verhielten (vgl. Ahne 2017: 36–37). Zudem hat die massenhafte Tötung von Wölfen von der Mitte des 17. Jahrhunderts an eine kulturelle Funktion (auch für die Kirche), sie symbolisiert den zivilisatorischen Fortschritt des Zeitalters der Aufklärung (vgl. Kling 2019a: 12). Auch in vielen Online-Kommentaren unabhängig vom Jagd-
|| 24 Vgl. die Interaktionstheorie der Metapher nach Black (1983: 71), nach der mit der Verwendung von Metaphern bekannte Gemeinplätze und Überzeugungen aufgerufen werden: „Von einem Sprecher, der ‚Wolf‘ sagt, nimmt man normalerweise an, er schließe irgendwie den Verweis auf etwas Wildes, Raubtierhaftes, Verräterisches usw. mit ein“. 25 https://www.mopo.de/im-norden/kiel/problemwolf-zieht-leine-wo-schafs-killer-gw1430mjetzt-sein-unwesen-treibt-33705224 (letzter Zugriff 02.03.2020). 26 https://www-fastly.radio7.de/zuhause/news/problemwolf-entgeht-knapp-seinem-todesurteil (letzter Zugriff 02.03.2020).
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Kontext finden sich Anspielungen auf den bösen Märchenwolf, so wie in dem folgenden Deutschlandfunk-Kommentar von Andreas Rinke: (8) Dies liegt auch am zwiespältigen Image des grauen Vierbeiners: Einerseits kennt ihn jedes Kind als Oma- und Rotkäppchen-verschlingende Bestie. Andererseits hat sich nach seiner Ausrottung in Deutschland in den siebziger Jahren das Bild in Kinderbüchern radikal verändert: Nach und nach wurden allen Raubtieren die Zähne gezogen – in den Geschichten wimmelt es nun von kuschelnden Eisbären sowie Haien und Wölfen, die lieber spielen als jagen wollen. Auch die Natur wird im konsensbesessenen Deutschland idealisiert. [H. d. A.] (Deutschlandfunk Kultur 10.06.2015)27
Hier wird der „graue Vierbeiner“ (8), also der reale, rezente Wolf, auf den mit dieser neutralen Umschreibung referiert wird, mittels des Prädikativums mit der „Oma- und Rotkäppchen-verschlingende[n] Bestie“ gleichgesetzt. Denn den grauen Vierbeiner „kennt“ schon „jedes Kind als“ ein solches Ungeheuer. Es heißt nicht „den Märchenwolf kennt jedes Kind als Bestie“. Mit der Referenz auf reale Wölfe werden diese durch die vorliegende Konstruktion daher unmerklich fiktionalisiert, aber so, dass die Attribute des Märchenwolfs als Fakten auf diese übergehen. Die Fiktionalisierung ist hier keine offen konstruierte Rahmung, sondern hat die Funktion eines Fingierens von ‚Fakten‘.28 Anschließend kritisiert der Autor, dass die heutigen Kinderbücher Wölfe nicht mehr realistisch darstellen, „die Natur“ sei idealisiert. Mithin geschehe hier das, was Pesl scherzhaft die „Entwolfung des Wolfs“ (Pesl 2017: 175) nennt. Darin verbirgt sich die Behauptung, dass die naturalisierten (psychische Diskontinuität/physische Kontinuität) Märchenwölfe realistischer seien als die animistischen, anthropomorphisierten Wölfe (psychische Kontinuität, physische Diskontinuität).29 Bei Heintz (2019) fällt die Bewertung neuer Märchen- und Kinderbüchern hingegen positiv aus: Wölfe werden heute differenzierter dargestellt als im Grimmschen Märchen. Viele Kinderbücher rekurrieren weiterhin auf das Narrativ des ‚bösen‘ Wolfs, brechen dieses aber und dekonstruieren es, z.B. durch metafiktionale Methoden. Die Dichotomie von Gut und Böse, die in den Medien heute immer noch für eine Stimmungsmache contra Wolf eingesetzt wird, wird aus didaktischen Gründen hinterfragt und
|| 27 https://www.deutschlandfunkkultur.de/rueckkehr-der-raubtiere-der-deutsche-wolfs-wahn sinn.1005.de.print?dram:article_id=322143 (letzter Zugriff 02.03.2020). 28 Zum Unterschied von Fiktion (als Aussagen, die für alle Akteur/innen erkennbar eine alternative Wirklichkeit konstruieren) und Fingieren (als ein Ausschmücken der Wirklichkeit, das nicht aufgedeckt werden soll), siehe z.B. Steen (2018b: 264). 29 Ignoriert werden Computerspiele wie WolfQuest, die Wölfe möglichst realistisch darstellen und die ebenfalls „über stereotype Mythisierungen des Wolfs als geheimnisvolles Wesen oder Bestie hinausgehen“ (Podrez 2019: 161).
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Empathie für den Wolf geweckt (vgl. Heintz 2019: 151). Wölfe sind heute (wieder) ein Politikum, explizit politisiert30 werden sie, wenn sie auf Wahlplakaten eingesetzt werden, wie z.B. von der CDU in Niedersachsen im Jahr 2017 (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Wahlplakat CDU in Niedersachsen (FacebookSeite der CDU in Niedersachsen 28.09.2017)
Der Schutz der Bevölkerung vor der ‚Gefahr Wolf‘ soll Wählerstimmen bringen. Dabei wird suggeriert, dass andere (Parteien) nur den Wolf schützen und das Wohl von Menschen und Nutztieren als zweitrangig behandeln, während die CDU „auch“ diese schützt. Die kontrastierende Gegenüberstellung von Gut und Böse geschieht hier mittels der jeweils halbseitigen, zusammengefügten Porträtansicht von (dunklem) Wolf und (hellem) Schaf. Assoziationen wie die Redewendung „der Wolf im Schafspelz“ werden dadurch geweckt (‚der Wolf ist schlimmer als wir denken‘, siehe oben), zudem evoziert die direkte Gegenüberstellung (hier: die Verschmelzung von Prädator und Beute) Empathie für den Schwächeren. Die Aussage der CDU impliziert, dass sie den Schutz aller Akteur/innen forciert, dabei geht es der Partei aber um einen leichteren Abschuss von Wölfen: „Wir neh-
|| 30 Die Politisierung von Tieren gehört zum Forschungsprogramm der Politischen Zoologie (vgl. von der Heiden/Vogl 2007). Untersucht wird, wie „an und mit Tieren Politik gemacht wird“ (Kling 2019a: 33), dazu gehören auch figurative Wölfe wie in Hobbesʼ Sinnspruch „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“.
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men die berechtigten Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger sehr ernst. Wir sagen ganz klar: Wenn der Wolf für den Menschen und seine Nutztiere zur Gefahr wird, muss regulierend eingegriffen werden!“ (CDU in Niedersachsen, Facebook 16.12.2019). „Regulierend eingreifen“ ist eine fachsprachliche, euphemistische Umschreibung für das Töten von Wölfen. Obwohl Wolfsexpert/innen immer wieder betonen, dass Wölfe keine Menschen angreifen, dient die medial geschürte Angst der Bürger/innen für den Schutz-Topos (Ordnung, Sicherheit, menschliche Souveränität) als Pendant zum Gefahren-Topos (Unsicherheit, Unordnung, Chaos). „Die Behauptung einer destruktiven Handlungsmacht der Wölfe“, so Kling (2019a: 47), stellt damit auch heute noch jenen Probierstein dar, „an dem sich die Zivilisation und die Souveränität ihre eigene Handlungsmacht beweisen.“ Die CDU konstruiert sich selbst als handlungsmächtig – gegenüber imaginierten Wolfsangriffen auf Menschen. Kling (2019a: 13) schreibt über verschiedene Texte des 17. Jahrhunderts, in denen die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges dargestellt werden und die Auskunft darüber geben, wie massiv die Jagd auf Wölfe in dieser Zeit betrieben wurde, dass die Wölfe „in einem doppelten Sinne die Souveränität herausfordern: zum einen die politische Souveränität in Hinsicht auf ihre Schutzpflicht gegenüber den Untertanen, zum anderen die menschliche Souveränität in Hinsicht auf die Vorherrschaft der Zivilisation gegenüber der Wildnis.“ Beides lässt sich aus der heutigen Politisierung von Wölfen immer noch herauslesen. Der Partei geht es darum, eine allgemeine Bedrohung zu konstruieren (die eigentlich nur für die Besitzer/innen von ‚Nutztieren‘ partiell gegeben ist), vor der die Bevölkerung dann von der CDU-Regierung geschützt werden kann. „Im Kampf gegen den Wolf formiert sich der politische Körper“ (Kling 2019a: 13).31 Der politische Apparat präsentiert sich dabei als eine „überlegene[...] gegenwölfische[...] Kulturgewalt“, die der „wölfischen Naturgewalt“ (Borgards 2007: 135) trotzen kann. Der böse Märchenwolf wird aber auch von Wolfsbefürworter/innen konstruiert, gleichsam als neutralisierende Gegenstrategie, die die Wolfsangst als unangemessene Hysterie entlarvt. Abbildung 3 zeigt ein Schild, auf dem relativ sachlich vor Wölfen gewarnt wird und Handlungsanweisungen zum Schutz von Hunden und Kindern gegeben werden. Doch diese Warnung geht demjenigen, der ein weiteres, selbstgebasteltes Schild angehängt hat, offenbar zu weit. Mit der Aussage „Ich habe Angst um Oma – gez. Rotkäppchen“ wird einerseits intertextuell auf die mediale Wolfsdebatte inkl. Rotkäppchenkonstruktion Bezug genom-
|| 31 Vgl. hierzu auch die von Heintz (2019: 150–151) rekonstruierte Bundestagsdebatte, bei der der AFD-Abgeordnete Karsten Hilse Wölfe als „Migranten“ bezeichnete. Die im Diskurs konstruierte Angst vor Migranten/Flüchtlingen weist insgesamt Parallelen zum Wolf-Diskurs auf.
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men, die beispielsweise metadis-kursiv auch als „Rotkäppchensyndrom“32 bezeichnet wird (Welt.de 01.12.2011)33.
Abb. 3: Netzfund (Lachschon.de undatiert)
Durch die scherzhafte Fiktionalisierung, die Rotkäppchen mittels einer gedruckten Unterschrift als ängstliche Akteurin (bzw. als eigentlicher principal der Äußerung, vgl. Goffman 1981) inszeniert, werden der ubiquitäre Gefahren- und Schutztopos lächerlich gemacht. Einer medialen Dämonisierung mittels scherzhafter Modalität, Figuralisierung (Metaphern, Anthropomorphisierung), pejorativer Stereotypisierung, Hyperbolik und verdeckter Fiktionalisierung (als Fingieren vermeintlicher Fakten) steht damit eine dramatisierende, scherzhafte Fiktionalisierung gegenüber (Rotkäppchen als kulturelles Konzept wird gegen eine Naturalisierung eingesetzt), die in ironischer Weise Gelassenheit ausdrückt. Zusammenfassend kann zur Dämonisierung realer Wölfe mittels literarischer Wölfe festgehalten werden: „Wer so unvorsichtig ist, sich von einer gut erzählten Geschichte ablenken zu lassen, den frisst das Untier des Textes“ (Präauer 2018: 62). Einerseits werden Wölfe im Diskurs also dämonisiert und ent-dämonisiert, andererseits werden sie im Zuge einer Lupophilie charismatisiert. Beide Muster
|| 32 Das „Rotkäppchensyndrom“ ist bei Kling (2019a: 28) auch die „Beschreibung der durch Geschichten und Märchen verbreiteten Angst vor dem Wolf, obwohl dieser bereits ausgerottet ist“ und damit Ausdruck einer allgemeinen Lupophobie. 33 https://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article13745369/Rotkaeppchen-Syndrommacht-Woelfen-das-Leben-schwer.html (letzter Zugriff 02.03.2020).
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beruhen auf Re-Mythologisierungen. Grundsätzlich sind dabei zwei verschiedene Arten von Charismatisierungen zu beobachten, die auch zusammen auftreten können: solche, die Mensch-Wolf-Begegnungen thematisieren und damit individuelle Tiere fokussieren, und solche, die Wölfe als Akteur/innen, eingebettet in ein Ökosystem betrachten, quasi als „Repräsentanten der freien Natur“ (Kling 2019a: 29). In beiden Fällen wird den Tieren eine konstruktive Form der Agency zugeschrieben. Sie sind autonome Wesen mit ökologischen Kräften, die die von Menschen negativ beeinflusste Natur wieder ins Gleichgewicht bringen können. Charismatisierung und Ökologisierung hängen hierbei eng zusammen. Charismatisierungen werden hier verstanden als sprachliche Akte, mit denen Akteur/innen, auf die referiert wird, eine transzendente oder zumindest geheimnisvolle Bedeutungsaufladung erfahren.34 Die Funktionen einer solchen charismatischen Aufladung können vielschichtig sein. Mit Bezug auf den aktuellen Diskurs über die Wiederansiedelung von Wölfen ist die primäre Funktion die Konstruktion eines positiven Images, um Wölfe zu schützen, indem z.B. archaische Mensch-Wolf-Verbindungen konstruiert werden. Charismatisierungen können explizit (9), (10) und implizit (11), (12), (13) sein: (9) Fakten zum Wolf: Es sind charismatische Raubtiere. Wölfe zählen zweifelsfrei zu den charismatischsten Raubtieren in Europa. [H. d. A.] (Wolfcenter.de undatiert)35 (10) Was diese Tiere umgibt, kann man gut mit dem Begriff des Charisma [sic!] fassen. Also eine gewisse Besonderheit, die von ihnen auszugehen scheint, etwas, das sie heraushebt und doch ein bisschen sperriger macht für das menschliche Verständnis als zum Beispiel ein hübsch bunt gefärbter Schmetterling oder ein Rotkehlchen. [H. d. A.] (Weser-Kurier 29.04.2017)36 (11) [...] Sobald der Wolf auftauchte, erst waren es nur ganz wenige, traten interessante Effekte zutage. [...] Durch das Zusammenspiel, unter anderem mit dem Biber, änderten die Wölfe den Lauf der Bäche und Flüsse. [...] Also, der Wolf, so klein seine Zahl ist, veränderte
|| 34 Vgl. für eine diskurslinguistische Perspektive auf Charismatisierungen auch: Steen (2017, 2019b). Es geht hier nicht um eine charismatische Herrschaftsform in Sinne Max Webers, vgl. hierzu Moby Dick als tierlicher Charismaträger bei Vogl (2007), sondern um ein postmodernes Charisma, um die Praktik, „vorhandene (und verstärkte) gesellschaftliche Stimmungslagen mit den passenden emotionalistischen ‚Hoffnungsträgern‘ zu besetzen“ (Lenze 2002: 133). 35 https://www.wolfcenter.de/ueber-uns-woelfe/vision-standpunkte/fakten-zum-wolf (letzter Zugriff 03.02.2020). 36 https://www.weser-kurier.de/region/niedersachsen_artikel,-die-angst-des-menschen-vordem-wolf-_arid,1590514.html (Interview mit der Diplompsychologin Uta Maria Jürgens) (letzter Zugriff 02.03.2020).
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nicht nur das Ökosystem des Yellowstone Nationalparks, sondern auch die Landmasse und damit die Geografie dessen. [Transkription d. A.] (chwolf.org undatiert)37 (12) Wenn ich in Yellowstone als Guide Menschen zu den Wölfen führe, erlebe ich, dass etwas Geheimnisvolles mit ihnen geschieht, sobald sie das Heulen eines Wolfes hören oder in seine Augen sehen. Etwas Vertrautes. Sie sehen etwas, das in uns allen ist, das wir kennen, aber vielleicht schon verloren haben. Etwas, das wir fürchten und zu dem wir uns gleichzeitig hingezogen fühlen. Solche Momente verändern uns. Mit Wölfen (und anderen Wildtieren) erleben wir einen intensiven Moment der Gegenwart. [...] Nicht jeder kann sich in die Wildnis zurückziehen, um wilden Wölfen zu begegnen. Doch wir alle können, wenn wir offen sind, die Weisheit der Wölfe in uns selbst erleben und dem Wolf in uns begegnen. [H. d. A.] (Radinger 2019: 217) (13) Dass dieses Zusammentreffen mit den Wölfen, das war für mich schon im Moment, wo es passiert ist, ganz eindeutig, dass es ganz was Besonderes war. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es äh kurz darauf noch eine ganz zusätzliche Bedeutung, eine ganz andere Bedeutung für mich bekommen würde. Und zwar, als ich keinen Monat später wieder Zuhause mit einem bösartigen Gehirntumor diagnostiziert worden bin. Die einheimischen Indianer an der Küste haben ein sehr schönes Sprichwort, sie sagen „Ein Wolf zeigt sich dir nur, wenn er dir etwas erzählen oder mitteilen will.“ Und ich denke, dass in meinem Fall diese Wölfe mir einfach ihre Kraft mitgeben wollten und ihre Ausdauer, für meine neue Reise, die ich eben jetzt vor mir habe. [...] Und auch darum denke ich, dass es extrem wichtig ist, so natürliche Plätze und eine ursprüngliche wilde Natur zu erhalten, weil die Natur ist einer der größten Heiler für uns. [Transkription d. A.] (Matthews 2006)38
Für viele Charismatisierungen ist es typisch, dass den Akteur/innen Charisma in Form einer Behauptung explizit zugeschrieben wird, ohne dass erklärt wird, was das Charismatische an ihnen sein soll. Auf der Webseite des niedersächsischen Wolfcenters wird das Charisma von Wölfen als Fakt ausgegeben (9). Als charismatisch eingestufte Tiere werden offenbar in der Forschung weitaus mehr beachtet als Tiere, die als hässlich angesehen werden.39 Zudem lockt eine Charismatisierung möglicherweise mehr Besucher/innen an. Es ist dabei kein Zufall, dass Charisma speziell dem „Raubtier“ Wolf zugeschrieben wird, da mit Raubtieren
|| 37 https://chwolf.org/assets/film/content/woelfe-kennenlernen/Oekosystem/How-WolvesChange-Rivers_de.mp4 (hier: Transkript d. A. des Videos) (letzter Zugriff 02.03.2020). 38 Dokumentarfilm Auf der Spur der Küstenwölfe von Richard Matthews (Regie) über Gudrun Pflüger, deren Äußerungen hier (und in Beispiel 14) transkribiert wurden. Online anzusehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=vha468Dc-6U (letzter Zugriff 03.03.2020). 39 Beispielsweise kämpft die Ugly Animal Preservation Society dafür, Forschungsgelder auch für weniger ästhetische Tierarten zu generieren: https://uglyanimalsoc.com (letzter Zugriff 03.03.2020). Vgl. auch den sogenannten Bambi-Effekt, nach dem Menschen Tieren mehr Empathie entgegenbringen, wenn diese niedlich aussehen.
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eine starke Agency sowie Autonomie verbunden wird.40 Es werden also im Prinzip die gleichen stereotypen Eigenschaften von Wölfen, wie sie zur Dämonisierung konstruiert werden, für eine Charismatisierung genutzt. Eine solche positive Bewertung wölfischer Agency ist gleichermaßen aus anthropozentrischer und lykozentrischer Perspektive möglich. In Beispiel (10) erklärt eine Psychologin, weshalb viele Menschen von Wölfen fasziniert sind. Sie behauptet, Charisma sei eine Eigenschaft der Tiere, die „diese Tiere umgibt“ und die als „eine gewisse Besonderheit“ von den Tieren „auszugehen scheint“. Dieses Charisma hat dann eine bestimmte Wirkung auf Menschen, die von einem bunten Tier, wie dem Schmetterling, oder einem niedlichen Tier, wie dem Rotkehlchen, nicht ausgehen kann. Der Rekurs auf die Wirkung von Wölfen macht die typisierte anthropozentrische Perspektive deutlich. Interessanterweise wird dabei ignoriert, dass diese Wirkung in erster Linie ein Konstrukt ist – ein diskursiver semantisch-materieller Knoten, da Menschen Wölfen eben selten in Face-to-Face-Begegnungen gegenüberstehen; Charisma (das Besondere, das Sperrige) wird als ontologisches Merkmal konstruiert. In den Beispielen (12) und (13) berichten Menschen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Wölfen. Auch für die Wissenschaftlerin Radinger werden Wölfe zu einem Symbol für die ‚wilde Natur‘ in uns, die dem Großstadtmenschen fremd geworden ist. Sie mystifiziert Wölfe („etwas Geheimnisvolles“ (12)). Das Geheimnisvolle am Wolf ist aber zugleich „etwas Vertrautes“. Die Charismatisierung speist sich in ihrer Beschreibung aus den Begegnungen mit den Tieren, da den Tieren hier eine Agency zur Transformation zugeschrieben wird („Solche Momente verändern uns“), die darauf beruht, dass Wölfe uns Menschen „einen intensiven Moment der Gegenwart“ (12) spüren lassen. Die Wölfe sind immer schon da, nämlich in uns – als der anwesend-abwesende Wolf. Mangelsdorf (2007: 179) sieht darin, dass „sich aufgeklärte Menschen nicht mehr vorstellen können, sich in einen Wolf zu verwandeln – eine Vorstellung, die für unterschiedliche Ethnien weltweit durchaus prägend war und in schamanistischen Praktiken Ausdruck fand (und findet)“, eine Ursache dafür, dass Wölfe hierzulande ausgerottet wurden. Anders ausgedrückt: Die diskursive Charismatisierung von Wölfen, die das Wiedererkennen des Wölfischen im Menschen involviert, könnte die Tiere vor der Verfolgung durch den Menschen schützen.
|| 40 Vgl. hierzu die Charismazuschreibung in Bezug auf Barack Obama, als dieser noch Präsident der USA war: „Wir haben in Deutschland auch gerade niemanden, der so ein Charisma ausstrahlt wie der amerikanische Präsident. Obama sieht gegen unsere Politiker aus wie eine Raubkatze“ (Süddeutsche.de 20.08.2009, https://www.sueddeutsche.de/leben/erika-berger-ueberguttenberg-wie-sexy-ist-der-minister-1.162832, letzter Zugriff 03.03.2020).
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Die Dämonisierung funktioniert über die innere Abspaltung vom Wolf im Menschen bei gleichzeitig abwesenden realen Wölfen, sodass (fiktionale) Geschichten über die Wölfe mehr Definitionsmacht erhalten als das tatsächliche Verhalten der Tiere. Demgegenüber leben Charismatisierungen von Präsenz-Behauptungen, da tatsächliche Begegnungen mit Wölfen geheimnisvolle Verwandlungen involvieren und „der Wolf in uns“ (12) erfahren werden kann. Dabei wird die wölfische Präsenz – für Charismatisierungen typisch – mit transempirischen (vgl. Schneider 2008: 143), eben nicht vollständig erklärbaren Eindrücken aufgeladen. Die Biologin Gudrun Pflüger, die Wölfen in den Küstenregenwäldern British Columbias im Westen Kanadas begegnete (13) und die kurz nach dieser Begegnung erfuhr, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt an einem Hirntumor litt, empfindet daher diesen Moment der Zusammenkunft als mystisches Zeichen, inspiriert durch ein indianisches Sprichwort. Aufgerufen wird der Archetypus des Wolfs als spirituelles Krafttier, denn sie hofft, dass die Tiere, die irgendwie ihre Krankheit erspürt haben, bevor sie selbst davon wusste, ihr „Kraft mitgeben wollten und ihre Ausdauer“ (13). Auch für sie sind die Wölfe Symbole der wilden Natur, die wiederum „einer der größten Heiler für uns“ (13) ist. Im Schamanismus gelten Wölfe als Krafttiere, wobei auf verschiedene Mythen (der Kelten, der Inuit usw.) Bezug genommen wird.41 Analog dazu tritt der Wolf als Heiler eines gesamten Ökosystems in Beispiel (12) auf. In dem äußerst populären Video, das in ähnlicher Form mehrfach bei YouTube und anderen sozialen Plattformen erschienen ist, wird in einer sprachlich hergestellten kausalen Verkettung (genannt: trophische Kaskade) der Wolf als transformierender Akteur mit einer Agency konstruiert, die das Ökosystem des Yellowstone Nationalparks dergestalt verändert, dass am Ende ganze Landmassen anders aussahen. Die Entwicklung zusammenfassend heißt es in dem Video zum Schluss, es „änderten die Wölfe den Lauf der Bäche und Flüsse“ und „(d)er Wolf [...] veränderte nicht nur das Ökosystem des Yellowstone Nationalparks, sondern auch die Landmasse und damit die Geografie dessen.“ Die so konstruierte Agency der Wölfe zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine (in)direkte Wirkmacht auf alle anderen Akteur/innen in diesem ökologischen Netzwerk ausübt, sodass am Ende ein für das gesamte Netzwerk positives – heilendes – Ergebnis entsteht.42 Die Konstruktion ist damit ambivalent: Einerseits werden komple-
|| 41 Vgl. z.B. http://www.schamanische-krafttiere.de/krafttier-wolf.html (letzter Zugriff 03.03. 2020). 42 Diese vereinfachte Kettenreaktion ist offenbar auch Unterrichtsstoff an Schulen, wenngleich es kritische Stimmen dazu gibt, z.B.: „Und schließlich kann vom Auftreten eines Großen Beutegreifers wie dem Wolf nicht auf zu erwartende Veränderungen des Schalenwildeinflusses auf
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xe Zusammenhänge vulgarisiert und ist das natürliche Verhalten der Wölfe nur der Anstoß einer gesamten Reihe von Entwicklungen; andererseits wird der Wolf als Agens konstruiert, wodurch es nicht nach einer indirekten Wirkmacht klingt, sondern nach einer direkten (intentionalen) Agency. Nur aus dieser Ambivalenz (konkreter Handlungsträger kombiniert mit großer, wunderbarer Entwicklung und menschlicher Absenz) kann der Glaube an die heilenden ökologischen Kräfte des Wolfs ‚Berge versetzen‘. Denn obwohl die Darstellung des Akteur-Netzwerks scheinbar lykozentrisch ist, weil die Wölfe den Anstoß für alle Veränderungen geben, ist diese gerade deshalb anthropozentrisch zu nennen, da sich hierin der menschliche Wunsch nach einem einfachen, verstehbaren Ablauf hochkomplexer ökologischer Zusammenhänge manifestiert. Trotz archaischer Anklänge bei der Charismatisierung von Wölfen greift hier ein postmodernes Charisma, das Kontingenz reduziert und trivialisiert, wobei alltägliche Krisen – wie der allgegenwärtige Klimawandel – Charismatisierungen mit Heilsversprechen befördern. Die Heilung ist dann zwar ganz irdischer Natur, wird aber auf einen zentralen Akteur verengt, sodass dieser aufgrund seiner einzigartigen Agency, die ihn von anderen Akteur/innen abhebt, charismatisiert wird. Während die Dämonisierung der Wölfe auch von einer Naturalisierung lebt, die das Raubtierhafte am Raubtier (als Bestie) im Kontrast zum zivilisierten Menschen besonders hervorkehrt und in negativer Weise stereotypisiert, lebt die Charismatisierung von einer (auch den Menschen) umfassenden Naturalisierung, indem sie Wölfe als Transformator/innen (als Heilsbringer/innen) für die Gesundheit von Ökosystemen (Ökologisierung) und Menschen konstruiert.
2.2 Exotisierung und Zivilisierung Schon nachmittags sah man ihn auf der Bank murmelnd / das Buch der Verwandlung durchblättern / Sieh mal ein Hund mit einem Buch / sagte ein anderer Junge und die Mutter / zog ihn fort Ja / es war gruselig (Scheuermann, Wolf, 2008: 110)
In der Regel gehören (Wild-)Biolog/innen sowie Jäger/innen zu den Personengruppen, deren Chancen, Spuren des Wolfs bzw. den realen Wolf selbst zu Gesicht zu bekommen, am ehesten als realistisch zu bezeichnen sind, so beispielsweise im Rahmen wissenschaftlicher Forschung oder bei Wildmonitoring-Pro-
|| die Vegetation gefolgert werden, von der weiteren Walddynamik ganz zu schweigen. [...] Die Botschaft wurde auch in Europa gern gehört: Wo der Wolf zurückkommt, wächst der Wald wieder! Inzwischen wurde diese stark vereinfachte und irreführende Darstellung von Fachkollegen mehrfach kritisiert und zurechtgerückt (vgl. Peterson et al. 2014)“ (Miller 2018: 43–48).
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grammen sogenannter ‚Wolfsmanagement‘-Maßnahmen. Wenngleich weniger ausgeprägt als auf der Diskursebene der (Alltags-)Medien, verflechten sich auch hier objektive Information und subjektive Projektion in den entworfenen Bildern vom Wolf, die per se meist mehr über die Menschen verraten, als über den Wolf an sich (vgl. Anhalt 2019: 36). Die oben schon genannte Dokumentation der Biologin Pflüger, „Auf den Spuren der Küstenwölfe“, wählt für die mediale Aufmachung anstelle des sachlichen Duktus einer rein informativen Berichterstattung das detektivische Konzept der Spurensuche, das durch die Analogie zu Verfolgung/Ermittlung zudem eine Verknüpfung mit der Jagd nach etwas Besonderem oder Geheimnisvollem impliziert. Die filmische Suche nach der konkreten Tierart des Kanadischen Küstenwolfs wird als biografische Episode erzählt, an deren (glücklichem) Ende die Hauptfigur schließlich auf reale Wölfe trifft. (14) Gudrun Pflüger in Auf den Spuren der Küstenwölfe [Transkription d. A.] (Matthews 2006, vgl. FN 38) 1
Gudrun Pflüger: Es ist verrückt. Ich lieg hier inmitten eines wilden Wolfsrudels, bin umgeben von
2
ihnen, von Wölfen, die vielleicht noch nie zuvor einen Menschen gesehen haben. Und auch ich hab
3
diese Wölfe noch nie erlebt. Wir haben absolut überhaupt keine Erfahrung miteinander. Es kann jetzt
4
eigentlich alles passieren. Ich fühle überhaupt keine Angst. Und dafür ist eigentlich auch überhaupt
5
kein Grund.
6
Hans-Peter Bögel (Sprecher): Auch die Wölfe scheinen keine Angst zu haben. Neugierig, ohne
7
Scheu, aber dennoch vorsichtig umkreisen sie Gudrun. Eine Sensation! Offensichtlich ist sie der erste
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Mensch, dem diese Tiere jemals begegnet sind.
9
Gudrun Pflüger: Alle sechs Wölfe sind total ruhig. Da ist kein Knurren, nichts. Die Alphawölfin
10 steht vor mir, aber da ist überhaupt kein Anzeichen von Aggression. Nicht die geringste Andeutung, 11 dass sie aggressiv gegenüber mir wäre. Ihre Nackenhaare stehen nicht auf. Sie verhält sich absolut 12 ruhig. Es ist sehr schön, wie ein Wolf behandelt zu werden, von einem Wolf. […] Gibt es etwas 13 Harmonischeres als mit total wilden Wölfen tief in einem so ursprünglichen Land einen Abend zu 14 verbringen und den Wölfen beim Spielen zuzusehen? Das ist ja schon fast paradiesisch.
Die Wölfe werden als neugierige, aber vorsichtige und auch verspielte Tiere figuriert (Z 6–7, 14), in deren Anwesenheit trotz totaler Wildheit eine Atmosphäre (fast) paradiesischer Ruhe zu entstehen scheint (Z 12–14), selbst wenn „jetzt eigentlich alles passieren (kann)“ (Z 3–4). Pflüger schildert ihr Empfinden als „verrückt“ (Z 1) und es ist ihr wichtig zu betonen, dass „überhaupt kein Anzeichen von Aggression“ (Z 10) erkennbar ist, was den Rückschluss zulässt, dass sie die formelhafte Attribuierung der Wölfe als aggressiv antizipativ beantwortet und damit die stereotype Etikettierung relativieren will. Exotisierung, aufgefasst als
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die Übertragung innerpsychischer Wunschvorstellungen auf materielle Objekte (vgl. Anhalt 2008: 2), und Zivilisierung, i.S.v. Veredelung oder Sublimierung, fließen dabei ineinander und basieren auf dem diskursiven Aneignungsschema der Objektifizierung. Pflüger wendet hier den Topos des ‚edlen Wilden‘ auf den Wolf an und exotisiert den „total wilden“ Wolf, in dessen Gegenwart bzw. mit dem ein harmonischer Abend verbracht werden kann. Ihre subjektive Wahrnehmung der „Alphawölfin“ als „absolut ruhig“ (Z 9, 11) trotz Pflügers Anwesenheit sowie das Beobachten der Wölfe beim Spielen (Z 14) entwerfen das Bild eines Spielplatzes, auf dem Kinder mit ihren Eltern fröhlich und unbeschwert spielen.43 Die Wölfe werden als Akteur/innen anthropomorphisiert und mit entsprechenden Charakteristika belegt, die sie in die Nähe des menschlichen Zivilisationsraums rücken. Gleichzeitig eröffnet sich darüber hinaus eine anthropozentrische Lesart der (Selbst-)Exotisierung, die sich in der projektiven Imagination der Protagonistin artikuliert: „Es ist sehr schön, wie ein Wolf behandelt zu werden, von einem Wolf“ (Z 11–12). Wenngleich der Dokumentarfilm des ZDF aus dem Jahr 2007 eine eher positiv-zugewandte (lupophile) Darstellung der Tierart Wolf beabsichtigt hat, bildet dennoch die (zunächst scheinbar erfolglose) Forschungsreise der Grazer Biologin und die Suche nach den ‚Forschungsobjekten‘ (Kanadische Küstenwölfe) die Essenz der Geschichte (pas de loup). Dass sie am Ende ihrer „Spurensuche“ von realen, „total wilden“ Wölfen umgeben ist (Z 13), darf als Teil der medialen Inszenierung interpretiert werden. Aus ethologischer Sicht wäre zu hinterfragen, ob die Wölfe die Biologin Pflüger tatsächlich wie einen Wolf behandelt haben. Wahrscheinlicher ist wohl, dass sie weder als Wolf noch als Beutetier wahrgenommen wurde.44 Darauf wird weiter unten noch zurückgekommen. „Kein Tier steht dem Menschen näher als der Wolf in Form des Hundes“ (Anhalt 2019: 37). Der Wolf gilt heute als genetischer Ursprung aller Hunderassen. || 43 Die Wiese, auf der sich Gudrun Pflüger während der besprochenen Filmsequenz befand, dürfte denn auch der so genannte „Rendezvous-Platz“ gewesen sein (Danke an Christina Steiner vom Verein CHWOLF für diesen Hinweis). In diesem Teil des Wolfsreviers warten i.d.R. jene Wolfsnachkommen, die noch nicht alt genug sind, um sich an der gemeinsamen Jagd zu beteiligen. Der Familienverband, d.h. die Elterntiere sowie die Jungtiere kommen stets dorthin zurück, um sich mit den Welpen wieder zu versammeln. Dass dieser Teil als Revier der Wölfe beansprucht wird, zeigt der Film an mehreren Stellen, wo durch die Elterntiere Markierungen abgesetzt werden (z.B. Minute 36.35 und 36.58). Darüber hinaus sind Wölfe durch neugieriges, vorsichtiges, misstrauisches und scheues Verhalten gekennzeichnet, wobei die Jungwölfe (wie viele andere menschliche wie nicht-menschliche Tiere) prinzipiell verspielter sind und was summa summarum eigentlich keine Sensation darstellt. 44 Diese Deutung ergibt sich auch aus dem Kontext des Films, der u.a. über die Jahreszeit sowie über die reichliche Nahrungsversorgung informiert, was jeweils einen wesentlichen Einfluss auf das Verhalten von realen Wölfen haben dürfte.
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Die faktische Verwandtschaft von Wölfen und Hunden ist im 21. Jahrhundert allerdings nur noch in materiell-semiotischen Spuren vorhanden, denn Hunde sind schon lange keine Wölfe mehr. Seit wahrscheinlich mehr als vierzehntausend Jahren verändern wir durch Züchtung ihre Gene, wodurch sich nicht nur zahlreiche Körpermerkmale, sondern auch ihr Stoffwechsel und zahlreiche Verhaltensmuster stark verändert haben. Die Angleichung an das menschliche Umfeld ist wissenschaftlich vielfach messbar […]. So kennen wir heute mindestens 122 Hundegene mit wesentlichen Unterschieden zum Wolf durch Domestikation. Viele davon betreffen Gehirnfunktionen, die Entwicklung des Zentralnervensystems sowie bestimmte Verhaltensmuster. Dass sich Charakter und Wesen unserer besten Freunde stark durch genetische Variationen, also Zucht, beeinflussen lassen, ist Kennern der vielen Hunderassen längst bewusst. [H. d. A.] (Gruber 2019: 40–41)
Die Domestikation (Metamorphose) des ‚fernen‘ Wolfes in die Figur des ‚nahen‘ Hundes (besten Freundes) repräsentiert augenscheinlich wohl die radikalste Form der Objektifizierung, die sich in der Züchtung von Hunden diskursiv manifestiert und materialisiert. Objektifizierung meint einen Prozess der Verdinglichung bzw. das Zum-Objekt-Machen von Menschen oder (anderen) Tieren. Tiere werden hierbei in erster Linie auf ihren Nutzen für Menschen reduziert, „ihre Individualität sowie ihr Status als Akteur_innen werden negiert“ (Chimaira 2011: 415). Dem Wolf wird in der Gestalt des Hundes das Wölfische explantiert; er ist als modellier- und konfektionierbarer Körper vollständig objektifiziert, enkulturiert und (mehr oder weniger) Teil/Accessoire des ‚Zivilisationsraums‘. Der Berliner Tierpathologe Gruber (2019: 188–119) erklärt, dass sich Wolf und Hund physiologisch und psychisch heute deutlich voneinander unterscheiden, insbesondere auch mit Blick auf jene ‚Rassestandards‘, die in der Folge Defekt- und Qualzucht-Merkmale aufweisen. Mit Descola gesprochen dokumentiert sich hierbei eine performativ-körperliche Analogisierung von Wolf und Hund (psychische und physische Diskontinuität). Der Hund, man könnte auch behaupten – das Artefakt ‚Hund‘, als formbares und nach menschlichen Wünschen gestaltbares (Lebe-)Wesen –, soll den realen Wolf ersetzen; der reale Wolf wird damit praktisch ‚überflüssig‘.45
|| 45 Die menschliche Idee, ‚Natur‘ und Leben unterwerfen und beherrschen zu wollen, wird allerdings auch da und dort als anthropozentrische Hybris entlarvt. Beispielsweise fürchtet der australische Züchter Wally Conron durch sein Labradoodle-Zuchtexperiment (eine Kreuzung aus Labrador und Pudel) die „Büchse der Pandora“ geöffnet und „Frankensteins Monster herausgelassen“ zu haben (Orf.at 26.09.2019, https://orf.at/stories/3138604, letzter Zugriff 21.03. 2020).
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Die Objektifizierung wird diskursiv besonders deutlich in jenen ‚Hunderassen‘ dekuvriert, die möglicherweise auch die latente, fast vergessene Verhöhnung des Wolfes (vgl. hierzu exemplarisch Bernard 1983)46 wiedererkennen lassen. In der entstellenden Plastizität und Pervertiertheit (Ironisierung) der kontrollierten Hundezüchtungen sowie auch in der ‚Hundehaltung‘ wird u.a. die gestalterische Instrumentalisierung der Körper bzw. die Reduktion auf körperliche Funktionen und Aussehen generell demonstriert sowie die meist völlige Abhängigkeit in Hinblick auf Ernährung und Sexualleben und der damit verbundene Mangel an Autonomie (Patiens).47 Der Wolf im Chihuahua, welcher als kleinster Hund der Welt geführt wird, wird auf ein Gewicht zwischen 1,5 bis 2,5 kg reduziert und ist somit praktisch unsichtbar. Auf dem Foto in Abbildung 4a (links) sieht man weit aus den Augenhöhlen heraustretende ‚Kulleraugen‘, die das Kindchen-Schema allegorisieren; die Bezeichnung der Kopfform als „apfelförmig“ stellt eine semiotische Verbindung zum Bereich der Pflanzen dar.48
Abb. 4a und 4b: Links: 4a) Chihuahua (Pixabay.com 21.12.2015). Rechts: 4b) Nackthund (Pixabay.com 2010 17.06.2019)
|| 46 Auch die Comicfigur Lupo wurde in der von Rolf Kauka entwickelten Geschichte über die beiden Fuchsbrüder Fix und Foxi zunächst als ‚böser Wolf‘ skizziert, „entwickelte sich in der Folge [aber; Anm. d. A.] zu dem faulen Verlierertyp“ (Duve/Völker 1999: 241). 47 Die Weltorganisation der Kynologie, die Fédération Cynologique Internationale (FCI), listet aktuell Standards zu 352 Hunderassen. (Fci.be 27.04.2020, http://www.fci.be/de/Prasentationunserer-Organisation-4.html (letzter Zugriff 10.02.2021). 48 Die Rassestandards der FCI sowie die auftretenden pathologischen Defekt- und Qualzuchtmerkmale bei vielen, insbesondere den hier abgebildeten Hunden können, wenngleich diskursanalytisch vermutlich veritabel, im vorliegenden Rahmen leider nicht detailliert erörtert werden.
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Der als Mops bezeichnete Hund in Abbildung 5a (links) soll gemäß Rassestandard das Kriterium „Multum in Parvo (= viel Masse in kleinem Raum)“ erfüllen (Fci.be 13.07.2011)49. Wesentliche Sinnesleistungen über die Nase, die den Hund als Makrosmatiker kennzeichnen, können kaum mehr erbracht werden und auch das Luftholen selbst ist großenteils mit Atemnot verbunden (vgl. Gruber 2019: 213– 222). Während sich die ca. 125.000.000 Riechzellen in der Nase eines Dackels (vgl. Abb. 5b) noch auf ca. 75 cm² Schleimhautfläche verteilen (vgl. Löffler/Gäbel 2008: 400), ist dies bei extrem kurznasigen Hunden sichtlich unmöglich, wie der visuelle Vergleich zwischen Mops und Rauhaardackel in Abbildung 5 erahnen lässt.
Abb. 5a und 5b: Links: 5a) Mops (Pixabay.com 13.07.2017). Rechts: 5b) Rauhaardackel (Pixabay.com 25.07.2019)
Obwohl Nackthunde, die aufgrund eben dieser ‚Zuchtziele‘ nur noch teilweise bzw. gar nicht mehr behaart sind, anatomisch (proportional) noch die größten Analogien mit dem Wolf aufweisen mögen, wird in der Konfektion dieses ‚Rassehundes‘ ein anthropomorphisierendes, dem Anschein nach sexistisch-motiviertes Simulakrum produziert, das eher an Models, als an den wilden ‚Stammvater‘ erinnert, wie das Foto in Abbildung 4b (rechts) verdeutlicht. Dergestalt entstehen materiell entwolfte Wölfe, die anthropomorphisierend dekoriert und auf den Arm genommen werden können. Die Demarkationslinie von ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ bildet mit Blick auf die Verwandtschaft von Hund und Wolf das Konzept der ‚Reinrassigkeit‘ (Sloan 2019, mündl. Mitteilung).50 Das Wölfische im Hund wird, zumindest morphologisch,
|| 49 http://www.fci.be/Nomenclature/Standards/253g09-de.pdf (letzter Zugriff 22.03.2020). 50 Das letzte Element einer zoologischen Systematik bildet derzeit die ‚Spezies‘. Bei Hunden (bzw. den 352 durch die FCI anerkannten ‚Rassen‘) handelt es sich nach Angaben einiger Wolfs-
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weitgehend eliminiert, und der Hund muss als kulturelle Kreation eindeutig identifizierbar sein; anderenfalls scheinen die Fundamente sozialer Wahrnehmungs- und Ordnungsschemata des ‚besten Freundes‘ bzw. des ‚bösen Wolfs‘ zu erodieren. So erzeugt ein wölfisch aussehender Hund auf einer Bundesstraße große Aufruhr, wie in Reichraming/Österreich zu beobachten war: (15) Vermeintlicher Wolf löst Aufregung aus. Im steirischen Ennstal spazierte mitten am Tag ein ‚Wolf‘ auf dem Mittelstreifen einer Fahrbahn. Ein Bürgermeister reagierte besonnen, beruhigte die Gemüter und verhinderte Schlimmeres. Der Fall wirft dennoch Fragen auf. (Salzburger Nachrichten 25.05.2019)51
Auch ein Jägermagazin titelt: „Wolfshybriden in Deutschland. Von vielen lange befürchtet, von anderen oft abgestritten, sind nun in Deutschland offiziell Wolfshybriden bestätigtet [sic!] worden“ (Jägermagazin.de 20.10.2017).52 Diskursstrategisch wird im Text der „Verantwortlichkeits-Topos“ bemüht (vgl. Wengeler 2003: 318) und sodann (raffiniert) argumentiert, dass „Halbwölfe“ aus „Artenschutzgründen“ getötet werden sollten, „(d)a eine Haltung in einem Gehege als wenig artgerecht angesehen werden muss“ (Sloan 2019, mündl. Mitteilung). Wenngleich es realiter absurd scheint, ist die präzise genetische Zuordnung zur Tierart Wolf bzw. zur ‚Rasse‘ Hund als diskursordnende Kategorie offenkundig obligat. Der Wolf muss als Wolf erkennbar bleiben; eine ‚entartende‘ Hybridisierung ist damit ein weiteres Sinnbild für Kontrollverlust. Der Hund als Symbol für einen modernen Kerberos wird zu einem Mittel der Verteidigung, um das drohende ‚Chaos‘ abzuwenden und dazu benutzt, den wölfischen ‚Stammvater‘ aus dem Zivilisationsraum zu vertreiben. „Niemanden hasst der Hund so wie den Wolf, denn er erinnert ihn an seinen Verrat, sich dem Menschen verkauft zu haben“ (Tucholsky 1929: 139). Die wölfischen Fähigkeiten werden im Hund neu angeordnet (programmiert) und der Hund gegen den Wolf als ‚Eindringling‘ eingesetzt: In der Figur des Herdenschutzhundes, um seine Ahnen als potenzielle Schadensverursacher abzuwehren,53 oder im Sinnbereich der Jagd, um als ‚Jagdhelfer‘ die Beute des menschlichen Jägers zu verteidigen.
|| forscher/innen hierbei um Subspezies. Dort wird das Konzept der Spezies als Konstruktion aufgefasst, das mit der Realität als progressiver Evolution nichts zu tun hat (Sloan 2019: mündl. Mitteilung im Rahmen eines Vortrags). 51 https://www.sn.at/panorama/oesterreich/vermeintlicher-wolf-loest-aufregung-aus-7072123 0 (letzter Zugriff 10.02.2021). 52 https://www.jaegermagazin.de/jagd-aktuell/woelfe-in-deutschland/wolfshybriden-in-deut schland/ (letzter Zugriff 24.03.2020). 53 Hierbei ist zu betonen, dass das faktische Risiko beispielsweise für Schafe nicht verharmlost werden soll. „Der Wolf ist weder eine reißende Bestie, noch ein Kuscheltier“ (meinbezirk.at
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(16) Actionkamera hält Wolfsattacke auf Jagdhund fest (Jägermagazin.de 24.10.2015)54 (17) Wolf greift Jagdhunde im Einsatz an und wird getötet (Jagdverband.de 21.01.2019)55 (18) Staatsanwaltschaft ermittelt: Jäger erschießt Wolf, um Hund zu retten (Neue Westfälische 22.01.2020)56
Dies sind drei Schlagzeilen (16–18), in denen Wölfe und Hunde als kulturelle Antagonisten konstruiert werden. Dabei kann der Jagdhund als menschlicher Stellvertreter betrachtet werden – insofern sich das Bestimmungswort „Jagd“ (16, 17) im Kompositum auf die menschliche Praktik einer durch und durch kulturalisierten Jagd und nicht etwa auf die tierliche, arteigene Praktik einer Jagd bezieht. Wird der Hund als erweiterter Arm des Menschen (oder auch hier als Stellvertreter) angegriffen, so wird indirekt auch der Mensch attackiert. Andererseits ist es nicht selten, dass Jäger/innen den Tod eines Jagdhundes als Kollateralschaden konstruieren, wie z.B. Pauline de Bok in ihrer Jagdautobiografie: „Wenn man selbst Wild erlegt, kann man sich kaum darüber beklagen, wenn ein in die Enge getriebenes Wildschwein den eigenen Hund tötet. Das muss man schlucken“ (de Bok 2018: 176). Ebenso kommt es vor, dass sich Jäger/innen nicht mit ihren Hunden als kulturelles Werkzeug, sondern mit ihrem Rivalen auf der Jagd, dem Wolf, identifizieren und sich die Stärke der Tiere und die Legitimation des Tötens anderer Tiere durch einen Direktvergleich kommunikativ aneignen: „Wolf und Mensch sind beide ,Top-Prädatoren‘“ (de Bok 2018: 55) – ein weiteres Beispiel dafür, dass Tiere für die Zwecke der jeweiligen Argumentation im Kontext menschlicher Identitätsbildung verwendet werden.57
|| 05.07.2018, https://www.meinbezirk.at/innsbruck/c-lokales/wolf-weder-reissende-bestie-noch -kuscheltier-mahnt-wwf_a2740967, letzter Zugriff 27.03.2020). 54 https://www.jaegermagazin.de/jagd-aktuell/woelfe-in-deutschland/actionkamera-haeltwolfsattacke-auf-jagdhund-fest/?fbclid=IwAR2uy6Xv7LLGLH7pF0NmZNIGnSwPqUzbjgDnAX_ d-g4yGM-MKWMl7EwWEMc (letzter Zugriff 21.03.2020). 55 https://www.jagdverband.de/wolf-greift-jagdhunde-im-einsatz-und-wird-getoetet (letzter Zugriff 05.02.2021). 56 https://www.nw.de/nachrichten/nachrichten/22672741_Staatsanwaltschaft-ermittelt-Jaege r-erschiesst-Wolf-um-Hund-zu-retten.html?fbclid=IwAR2JXfhWWfl_rua_NfIlpKaA4FacvslBr6N uwrRXgFlx25gH3VVSyqqFPCs (letzter Zugriff 21.03.2020). 57 Es dürfte aber in Frage stehen, inwieweit der Wolf als zusätzlicher Jäger durch jagende Menschen akzeptiert wird: „In einem Land, in dem Menschen, wenn auch nur für einige Jahrzehnte, die einzigen Prädator*innen waren, die sich die Schalenwildbestände in säuberlich kartierte Jagdreviere einteilen, Pacht zahlten, hegten und pflegten, haben Wölfe das Potenzial zu Unruhestiftenden und Konkurrierenden um die Ressourcen“ (Fenske/Heyer 2019: 23).
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Was mag nun die (realen) Wölfe dazu bringen, Hunde anzugreifen? Derrida wies realen Wölfen „eine unveränderbare und ahistorische Selbstidentität zu“ (Kling 2019b: 61). Aus der meist negierten resp. ignorierten Perspektive der Tiere selbst wird der Wolf (als Individuum, Agens) höchstwahrscheinlich einen außerfamiliären Artgenossen oder einen unbekannten Nahrungskonkurrenten erkannt und, hier rekurrierend auf Pflügers Aussage (Beispiel 14), ihn behandelt haben wie einen Wolf. Aspekte wie diese scheinen jedoch zumeist außerhalb des Sagbarkeitsfeldes, vor allem der Diskurspositionen der Jäger- und Landwirtschaft zu liegen. Dort wird der Vorfahre aller Hunde innerhalb des menschlichen ‚Kulturraums‘ bestenfalls noch als semi-domestiziertes Ausstellungsstück bzw. als GehegeWolf geduldet, selbst wenn „eine Haltung in einem Gehege als wenig artgerecht angesehen werden muss“ (vgl. Sloan 2019, mündl. Mitteilung). Dieserart überwacht, wird der Wolf offenbar nicht mehr der Sphäre der ‚Natur‘ zugeordnet und es scheint möglich, ihn als Teil menschlicher ‚Kultur‘ sogar im Leben willkommen zu heißen bzw. seinen Tod zu betrauern: (19) Hallo liebe Welt. Überraschung im Wildpark Feldkirch: Wolfsmama Inge präsentierte gestern erstmals ihre beiden Anfang Mai geborenen Sprösslinge. (Witwer 2019) (20) Trauer um Wolfswelpen im Wildpark. Jungtiere im Feldkircher Wildpark fielen Virus zum Opfer. Die Freude über Nachwuchs im Wolfsgehege in Feldkirch dauerte nur kurz an. Die beiden Jungtiere sind nämlich innerhalb kurzer Zeit verendet. (Walser 2019)
Die Beispiele zeigen, wie zugleich ein exotisierter und zivilisierter Wolf konstruiert wird. Das Exotische am Wildtier Wolf sorgt für die Relevanz der Nachricht, gleichzeitig wird der Wolf – analog einer säugenden Wölfin à la Romulus und Remus – als fürsorgliche „Mama Inge“ im animistischen Register anthropomorphisiert, die ihre Kinder pflichtschuldigst den neugierigen Menschen „präsentiert“. Doch die „Sprösslinge“ der zivilisierten Wölfe enttäuschen die Besucher/innen – und „verenden“ gleich wie das ‚wilde Tier‘ (Chwolf.org undatiert).58 „Im Wolf redet der Mensch über sich“ (Anhalt 2019: 36). Es überrascht daher wenig, dass die tierliche Trauer der realen Wölfe nicht sagbar ist. Die Frage, in welcher Weise sich diskursive Formationen über den Wolf verändern werden, bleibt hier offen. Die materiellen und semiotischen Kontroversen befinden sich in der Entwicklung. Jedoch: „Beide Fremdverwandlungen – die der Wölfe in aus-
|| 58 „Die Welpensterblichkeit bei freilebenden Wölfen ist sehr hoch. Solange ihr Immunsystem noch nicht voll ausgebildet ist, sind sie anfällig für verschiedene Krankheiten, wie Staupe, Parvovirose oder Parasiten“ (Chwolf.org undatiert, https://chwolf.org/woelfe-kennenlernen/biologie-ethologie/krankheiten, letzter Zugriff 27.03.2020).
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zurottende DämonInnen und die der Hunde in zu unterwerfende BegleiterInnen – bilden zwei Seiten einer Medaille. Beide verlangen sie eine Auseinandersetzung mit der monströsen Seite des Zivilisationsprozesses“ (Mangelsdorf 2007: 182).
3 Fazit: Der Wolf ist kein Papiertiger Kümmere dich / nicht um die Wölfe in welcher / Gestalt auch immer / sei freundlich / geh weiter / unverdrossen in Parks / und lächle den Alten an der sabbernd / von seinem Bänkchen her fragt / glaubst du das Rudel vermisst mich? (Scheuermann, Wolf, 2008: 112)
Die exemplarischen Analysen haben gezeigt, dass dem Wolf im aktuellen Diskurs ein vielschichtiges Porträt – als Bestie (Dämonisierung), transformierender Heilsbringer (Charismatisierung), Wildtier (Exotisierung) und Vorfahre tierlicher Freunde des Menschen (Zivilisierung) – gezeichnet wird und dass diese unterschiedlichen Bilder strukturell miteinander zusammenhängen. Das Beispiel ‚Wolf‘ zeigt: [E]in Organismus als signifikante Entität in der Umwelt [wird] nicht allein durch die materiellen und kognitiven Ausrüstungen bestimmt, die seine Identifizierung, seine Tötung und seinen Verzehr ermöglichen, sondern durch eine Gesamtheit ihm zugesprochener Eigenschaften, die im Gegenzug angemessene Verhaltens- und Vermittlungsformen verlangen, die seiner mutmaßlichen Natur entsprechen. (Descola 2013: 138)
Der materiell-semiotische Knoten der Mensch-Wolf-Beziehung mit seinen vielen kleinen Verflechtungen spannt sich quer durch alle lebensweltlichen Sinnbereiche. Obwohl die Fadenspiele manchmal kaum entwirrbar scheinen, ist der Wolf in ihnen nicht nur ein passiver Spielball. So sind trotz der quantitativen Dominanz der so konstruierten diegetischen Wölfe auch die realen Wölfe nicht ohne Agency – sie sind keine Papiertiger, denn sie leben wieder in unserer Nähe – und anders als zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert schaffen es die Tiere, bar jeder Mythologisierung, Menschen für die Erforschung ihres Lebens zu faszinieren. Auch diese Stimmen werden im Diskurs hörbar und sprechen ‚für den Wolf‘, wodurch eine erneute Ausrottung (zumindest der diegetischen) Wölfe (zunehmend) unwahrscheinlich wird, zumal, wenn sich der Wolf so facettenreich in alle möglichen Gestalten verwandeln kann. Und vielleicht heißt es irgendwann: „Der Wolf hat es wieder geschafft. Er verwandelte sich in eine Person“ (Scheuermann 2008: 109). Auch das ist Agency.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Interspezifische Spuren als materiell-semiotischer Knoten. Links: 1a) Wolfskot und Wildschweinhaare (Goldschmidt 2020). Rechts: 1b) Wölfische Trittsiegel (Goldschmidt 2020). Die beiden Fotos wurden von Lilith Goldschmidt zur Verfügung gestellt, die sie im Sommer 2020 Rahmen einer Führung des Naturschutzgroßprojekts (NGP) Lausitzer Seenland gemacht hat. Im Rahmen des Projekts werden regelmäßig Wolfswanderungen durchgeführt: https://www.ngp-lausitzerseenland.de/ cms/index.php/angebote/naturerlebnisfuehrungen (letzter Zugriff 05.02.2021).
Abb. 2:
Wahlplakat CDU in Niedersachsen (Facebook-Seite der CDU in Niedersachsen 28.09.2017). https://www.facebook.com/pg/CDUNiedersachsen/posts/?ref= page_internal (letzter Zugriff 03.03.2020).
Abb. 3:
Netzfund (Lachschon.de undatiert). Das Foto kursiert auf mehreren Webseiten, eine Zuordnung zu den Ersteller/innen des Fotos ist nicht mehr möglich. Die Webseite Lachschon.de wurde mittlerweile eingestellt, der letzte Zugriff erfolgte am 26.04.2019.
Abb. 4:
Links: 4a) Chihuahua (Pixabay.com 21.12.2015). https://pixabay.com/de/photos/chihuahua-hund-winzig-geliebt-1031488/ (Autor/in: Free-Photos) (letzter Zugriff 06.05.2020). Rechts: 4b) Nackthund (Pixa-bay.com 2010 17.06.2019). https://pixabay.com/de/photos/hund-chinese-crested-nackthund-pet-4279569/ (Autor/in: Distelfink) (letzter Zugriff 11.02.2021).
Abb. 5:
Links: 5a) Mops (Pixabay.com 13.07.2017). https://pixabay.com/de/photos/ hund-mops-feier-h%C3%A4tten-tier-rosa-2557266/ (Autor/in: Stocknap) (letzter Zugriff 06.05.2020). Rechts: 5b) Rauhaardackel (Pixabay.com 25.07.2019). https://pixabay.com/de/ photos/dackel-rauhaardackel-hund-tier-4362064/ (Autor/in: Alexas_Fotos) (letzter Zugriff 06.05.2020).
Johan Horst
Recht und Umwelt zwischen Schutz und Gestaltung Das Beispiel des Solar Radiation Managements Zusammenfassung: Es gibt – so lautet in nuce die These dieses Aufsatzes – einen grundlegenden Wandel des Selbstverständnisses des Umweltvölkerrechts. Das Verhältnis von Normativität und Natürlichkeit wandelt sich von einem dichotomischen zu einem transformatorischen. Vor allem seit der Ausrufung des sogenannten Anthropozäns steht nicht mehr der Schutz einer als natürlich und unberührt empfundenen Natur im Vordergrund, sondern die Frage nach normativen Kriterien für die Gestaltung der Natur durch Recht. Dies findet seinen paradigmatischen Ausdruck in jüngeren regulatorischen Bemühungen des Umgangs mit Geoengineering, insbesondere des Solar Radiation Management (SRM). Dieses dient nicht mehr dem Schutz eines natürlichen Klimas, sondern der Erzeugung neuer klimatischer Verhältnisse. Dadurch stellen diese Maßnahmen das bisherige Selbstverständnis des Umweltvölkerrechts in Frage. Dies hat nicht zuletzt Konsequenzen für die Anforderungen, die an ein richtiges und gerechtes Recht der Gestaltung von Natürlichem gestellt werden. Am Beispiel der Regulierung des SRM zeichnet dieser Aufsatz die Herausforderungen dieses Wandels im Verhältnis von Normativität und Natürlichkeit nach. Schlüsselwörter: Recht, Anthropozän, Umweltvölkerrecht, Posthumanismus, Klimawandel, Geoengineering
1 Einleitung Nachdem die bisherigen Bemühungen um die Bekämpfung des Klimawandels weitgehend erfolglos geblieben sind, gibt es nunmehr konkrete Debatten über den rechtlichen Rahmen für den Einsatz neuartiger Climate Engineering Maßnahmen. Allerdings stellt die Regulierung des Geoengineerings das Umweltvöl-
|| Johan Horst, Humboldt-Universität zu Berlin, Integrative Research Institute Law & Society, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Deutschland, johan.horst[at]rewi.huberlin.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-007
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kerrecht vor große Herausforderungen. Das scheint nicht nur daran zu liegen, dass es sich hierbei um neue Technologien handelt, vielmehr scheinen diese Maßnahmen das Selbstverständnis des Umweltvölkerrechts grundlegend zu erschüttern. Nachfolgend soll versucht werden, die Probleme des Umweltvölkerrechts im Umgang mit Geoengineering genauer zu fassen. Dabei wird zunächst das Solar Radiation Management als paradigmatisches Beispiel für derartige Maßnahmen vorgestellt (Abschnitt 2). Daran anschließend wird ein Überblick über die existierenden Regelungen des Umweltvölkerrechts zum Umgang mit Solar Radiation Management gegeben (Abschnitt 3) und das Problem des regulatorischen Umgangs mit diesen Maßnahmen auf einen paradigmatischen Unterschied zwischen Schutz und Gestaltung zurückgeführt (Abschnitt 4). Das Umweltvölkerrecht ist danach geprägt von einem dichotomischen Verständnis des Verhältnisses von Normativität und Natürlichkeit, welches durch neue Formen der Gestaltung des Natürlichen zunehmend in Frage gestellt wird (Abschnitt 5). Vor diesem Hintergrund werden abschließend einige Aspekte für die Herausforderungen eines gestaltenden Umweltvölkerrechts aufgezeigt (Abschnitt 6).
2 Das Beispiel: Solar Radiation Management (SRM) Nach einer viel verwendeten Definition der Royal Society bezeichnet Geoengineering allgemein die „deliberate large-scale manipulation of the planetary environment to counteract anthropogenic climate change“ (The Royal Society 2009: 1). Unter diese Definition fällt eine Vielzahl sehr verschiedener Techniken, die gerade aus rechtlicher Sicht ganz unterschiedliche Probleme aufwerfen. Eine besonders viel diskutierte und zugleich besonders kontroverse Technik zur Absenkung der globalen Temperatur durch menschliche Eingriffe ist das Solar Radiation Management (SRM), genauer die Stratospheric Aerosol Albedo Modification (Kintisch 2018: 2932): Diese schon von einem der Apologeten des Anthropozän – Paul Crutzen (Crutzen 2002) – zur Erforschung ausgerufene Technik (Crutzen 2006) sieht vor, große Mengen von Schwefelpartikeln in die Stratosphäre einzubringen, um dadurch die Sonneneinstrahlung zu reduzieren (The Royal Society 2009: 23). Dadurch soll eine signifikante Absenkung der Temperatur auf der Erdoberfläche erreicht werden. Die Einbringung von Schwefelpartikeln würde sich allerdings nicht global gleichmäßig auswirken. Klimatische Verhältnisse würden sich lokal ebenso verändern wie Niederschlagsmengen und Wetterverhältnisse (IPCC 2014: 89). Die rechtliche Debatte über Zulässigkeit und Regelung von SRM-
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Maßnahmen findet vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen über Machbarkeit und Gefahren dieser Maßnahmen statt (Irvine et al. 2019; Smith/Wagner 2018). Dabei gibt es sowohl Studien, die zumindest den explorativen Einsatz von SRM-Maßnahmen befürworten (MacMartin et al. 2018; Crutzen 2006) und die mit SRM-Maßnahmen verbundenen Risiken als vertretbar einschätzen (Irvine et al. 2019) als auch Studien, die solchen Maßnahmen eher skeptisch gegenüberstehen (IPCC 2018: 347352) und deren Risiken für derzeit unkalkulierbar halten (National Research Council [U.S.] 2015: 182184). Dabei scheint der überwiegende Teil der naturwissenschaftlichen Einschätzungen jedoch zumindest darin einig, dass SRM-Maßnahmen und ihre Auswirkungen noch nicht hinreichend wissenschaftlich untersucht sind. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass wirklich belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse über Funktion, Effektivität und Gefahren unterschiedlicher Geoengineering-Maßnahmen bislang weitgehend fehlen (Boyd/Vivian 2019; GESAMP Working Group 41 2019). Zwar hat es das Recht stets auch mit der Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu tun (Möllers 2012: Rn. 50). Im Klimaschutzrecht nehmen naturwissenschaftliche Erkenntnisse jedoch traditionell eine besonders hervorgehobene Rolle ein.1 Trotz der unklaren naturwissenschaftlichen Erkenntnislage gehen viele Stimmen in der Literatur davon aus, dass es nicht mehr darum gehe, ob diese Techniken eingesetzt werden, sondern nur noch darum, wann, von wem und wie (Bodansky 2011). Die naturwissenschaftliche Diskussion wird dabei begleitet von intensiven politischen Debatten (National Research Council [U.S.] 2015; Horton et al. 2018) sowie ökonomischen Studien (Moreno-Cruz/Keith 2013; Weitzman 2015). Die Frage der rechtlichen Regulierung des Geoengineerings ist vor diesem Hintergrund kein abstraktes, sondern ein drängendes und konkretes Problem. Dies gilt in besonderem Maße für SRM-Maßnahmen. Wegen der geringen Kosten (Rickels et al. 2011: 153154) und der realistischen Möglichkeit der technischen Umsetzbarkeit gelten SRM-Maßnahmen als besonders attraktive Technik des Geoengineerings. Der Einsatz von SRM-Maßnahmen wird deshalb in diesem Beitrag beispielhaft für das Problem der rechtlichen Regulierung des Geoengineerings behandelt.
|| 1 Besonders deutlich wird diese Prägung durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse am Beispiel der Rolle des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), vgl. hierzu Johns (2015: 153183), vgl. ferner Kracht (2007: 169173).
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3 Die SRM-Maßnahmen im transnationalisierten Klimaschutzrecht Der Einsatz von SRM-Maßnahmen berührt potenziell gleich eine Reihe von völkerrechtlichen Abkommen, gewohnheitsrechtlichen Normen, allgemeinen Prinzipien, Soft Law Instrumenten sowie transnationalen Normbildungen (Krüger 2020; Proelß 2012; Reynolds 2019). In diesem Kontext eines transnationalisierten (Viellechner 2013; Horst 2020: 314315) Klimaschutzrechts (Boysen 2018; Spießhofer 2019) gibt es allerdings bisher keine Norm und kein völkerrechtliches Abkommen, welches SRM-Maßnahmen umfassend und abschließend regelt. Als Überblick über den regulatorischen Kontext werden nachfolgend einige der wichtigsten existierenden völkerrechtlichen Regeln zum Einsatz von SRM-Maßnahmen vorgestellt.
3.1 UNFCCC Das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaveränderungen vom 9. Mai 1992 (UNFCCC, BGBl 1993 II: 1783) gilt als zentrales Instrument des internationalen Klimaschutzrechts (Reynolds 2019: 92). Nach Art. 2 UNFCCC ist das Ziel dieses Abkommens eine „Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird.“ Das UNFCCC enthält kein Verbot oder eine explizite Regelung von SRM-Maßnahmen (Reynolds 2019: 93). SRM-Maßnahmen sind auch nicht direkt auf die Beeinflussung der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre gerichtet und sind deshalb zumindest nicht als sogenannte Mitigation-Maßnahmen zur Verhinderung der Ursachen des Klimawandels anzusehen (Stoll 2017: Rn. 13; Güssow 2012: 58; differenzierend hingegen Reynolds 2019: 93). Allerdings beinhaltet die Konvention an verschiedenen Stellen auch Aussagen zu Maßnahmen, die nicht auf die Verhinderung der Treibhausgaskonzentration gerichtet sind, sondern die Abschwächung nachteiliger Auswirkungen von Klimaveränderung und sogenannte Anpassungsmaßnahmen betreffen (Krüger 2020: 362375). So enthält Art. 4 Nr. 1 f) UNFCCC für die Vertragsparteien die Verpflichtung in ihre einschlägigen Politiken und Maßnahmen [...] soweit wie möglich Überlegungen zu Klimaänderungen ein[zu]beziehen und geeignete Methoden, [...] an[zu]wenden, um die nachteiligen Auswirkungen der Vorhaben oder Maßnahmen, die sie zur Abschwächung der Klimaänderungen oder zur Anpassung daran durchführen, auf Wirtschaft, Volksgesundheit und Umweltqualität so gering wie möglich zu halten.
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Diese Pflicht zur Verhinderung nachteiliger Auswirkungen sowie die Regelungen zu Adaptionsmaßnahmen können zumindest potentiell auch einen möglichen Einsatz von SRM-Maßnahmen umfassen (Reynolds 2019: 9495). Obwohl SRMMaßnahmen damit grundsätzlich in den Anwendungsbereich der UNFCCC fallen (Stoll 2017: Rn. 12), lassen sich aus ihr – abgesehen von möglichen Pflichten zum Informationsaustauch und Technologietransfer (Reynolds 2019: 94) – nach ganz einhelliger Auffassung keine konkreten Vorgaben für den Einsatz von SRM ableiten (Proelß 2012: 208). Dies gilt auch für das die Konvention konkretisierende Kyoto-Protokoll zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 10. Dezember 1997 (2303 UNTS: 148) und die dort vorgesehenen Emissionsziele (Reynolds 2019: 95).
3.2 Paris-Abkommen Das Übereinkommen von Paris vom 12. Dezember 2015 (Paris-Abkommen, BGBl. 2016 II: 1082), welches trotz anfänglicher Irritationen (Oberthür/Bodle 2016: 4546) als ein völkerrechtlicher Vertrag gemäß des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (WVK, BGBl. 1985 II: 927) einzuordnen ist (Proelß 2016: 6263; Bodansky 2016; Oberthür/Bodle 2016: 42; Stoll 2017: Rn. 74), ist nicht primär auf die Reduktion von Treibhausgasen, sondern auf die Verminderung der Klimaerwärmung selbst gerichtet. Es formuliert in Art. 2 Abs. 1 lit. a Paris-Abkommen das Ziel, dass der Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2°C über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen […].
Da SRM-Maßnahmen auf die Absenkung der (globalen) Temperatur gerichtet sind, scheinen sie diesem Ziel des Paris-Abkommens zu entsprechen. Auch das Paris-Abkommen enthält jedoch keine explizite Regelung von SRM-Maßnahmen (Craik/Burns 2019) und es ist umstritten, ob diese als möglicher Bestandteil der Erreichung des in Art. 2 Abs. 1 lit. a Paris-Abkommen genannten Ziels eingeordnet werden können (Reynolds 2019: 96). Betrachtet man die weiteren Regelungen des Abkommens, fällt auf, dass SRM-Maßnahmen weder den Ausstoß von Treibhausgasen im Sinne von Art. 4 Paris-Abkommen senken noch als Speicher oder zum Senken von CO2 im Sinne von Art. 5 Paris-Abkommen fungieren können. SRMMaßnahmen können deshalb wohl zumindest nicht als Bestandteil der gemäß Art. 3 Paris-Abkommen von den Vertragsstaaten zu bestimmenden nationally de-
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termined contributions (Stoll 2017: Rn. 76) der Vertragsstaaten angesehen werden (Craik/Burns 2019: 11124).
3.3 CLRTAP Auch das Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverschmutzung vom 13. November 1979 (UN Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution, CLRTAP, BGBl 1982 II: 373) mit immerhin 51 Signatarstaaten enthält keine eindeutige Regelung von Climate Engineering in der Form des SRM. Nach der Legaldefinition in Art. 1 (a) CLRTAP ist die Luftverunreinigung die unmittelbare oder mittelbare Zuführung von Stoffen oder Energie durch den Menschen in die Luft, aus der sich abträgliche Wirkungen wie eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit, eine Schädigung der lebenden Schätze und der Ökosysteme sowie von Sachwerten und eine Beeinträchtigung der Annehmlichkeiten der Umwelt oder sonstiger rechtmäßiger Nutzungen der Umwelt ergeben.
Zwar erfasst diese Definition grundsätzlich auch die Einbringung von Schwefelpartikeln in die Stratosphäre und zumindest größer angelegte SRM-Maßnahmen würden auch eine „weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung“ im Sinne von Art. 1 (b) CLRTAP darstellen. Allerdings setzt Art. 1 (a) zusätzlich voraus, dass die Einbringung einen die Umwelt verschlechternden Effekt („deleterious effect“) hat: ‚Air Pollution‘ means the introduction by man, directly or indirectly, of substances or energy into the air resulting in deleterious effects of such a nature as to endanger human health, harm living resources and ecosystems and material property […].
Dies setzt nach weitgehend einhelliger Auffassung voraus, dass diese schädigenden Effekte auf die Umwelt wissenschaftlich gesichert feststehen (Proelß 2017a: Rn. 13, 2012: 207208; Wiertz/Reichwein 2010: 22; Zedalis 2010: 2122). Gerade dies lässt sich aber für SRM-Maßnahmen nicht sagen (Reynolds 2019: 9798). Es ist vielmehr gerade ungeklärt, ob und inwieweit SRM-Maßnahmen umweltschädigende Folgewirkungen hätten.2 Solange umweltschädigende Effekte von SRMMaßnahmen nicht feststehen, greift mithin auch nicht die Bemühenspflicht aus Art. 2 CLRTAP, die Einbringung von Schwefelaerosolen einzudämmen.
|| 2 In diesem Punkt anderer Ansicht ist hier Krüger, der von einem Verbot der hier in Rede stehenden SRM-Maßnahmen ausgeht, vgl. Krüger (2020: 167).
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3.4 Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht Ähnlich stellt sich die Situation in Bezug auf das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht vom 22. März 1985 (BGBl 1988 II: 901) dar. Gemäß Art. 2 des Übereinkommens sind die Vertragsparteien verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen zu schützen, die durch menschliche Tätigkeiten, welche die Ozonschicht verändern oder wahrscheinlich verändern, verursacht werden oder wahrscheinlich verursacht werden.
Die Einbringung von Schwefelpartikeln kann durchaus die Ozonschicht verändern (Wiertz/Reichwein 2010: 22). Auch hier kommt es jedoch entscheidend darauf an, ob dies zumindest wahrscheinlich schädliche Auswirkungen verursachen wird. Obwohl hier anders als bei CLRTAP nicht eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis gefordert ist, sondern nur eine Wahrscheinlichkeit (Proelß 2017a: Rn. 23), ist fraglich, ob dies für SRM-Maßnahmen angenommen werden kann. So neigen in der Literatur einige zu der Ansicht, für SRM-Maßnahmen eine solche Wahrscheinlichkeit anzunehmen (Proelß 2017a: Rn. 23), andere lehnen dies hingegen ab (Zedalis 2010: 23; Wiertz/Reichwein 2010: 22; Reynolds 2019: 97). Zudem besteht keine Einigkeit darüber, ob bei dieser Frage etwaige positive Auswirkungen der SRM-Maßnahmen mitzuberücksichtigen sind (Proelß 2017a: Rn. 23). So ist etwa nicht geklärt, ob von einer schädlichen Auswirkung auch dann ausgegangen werden kann, wenn die SRM-Maßnahmen zugleich dazu führen würden, den globalen Temperaturanstieg auf einem erträglichen Niveau zu halten. Auch das Genfer Übereinkommen gibt mithin keine eindeutige Antwort auf die Frage der Zulässigkeit von SRM-Maßnahmen. Das Montrealer Protokoll vom 16. September 1987 über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen (BGBl 1988 II: 1014; letzte Änderung in BGBl 1999 II: 2183), ist hingegen schon deshalb nicht einschlägig, da Schwefelaerosole nicht in den Annexen als kontrollierte Substanz (Sands/Peel/Fabra 2018: 282) aufgeführt werden.
3.5 Völkergewohnheitsrecht Neben den Normen des Völkervertragsrechts können auch völkergewohnheitsrechtliche Normen für SRM-Maßnahmen von Bedeutung sein (Krüger 2020: 31; Reynolds 2019: 8491).
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3.5.1 Verbot erheblicher Umweltschäden Zunächst könnte hier das völkergewohnheitsrechtliche Verbot, erhebliche Umweltschäden auf fremdem Staatsgebiet zu verursachen (oder solche Schäden durch grenzüberschreitende Aktivitäten Privater zuzulassen), einschlägig sein. Dieses völkergewohnheitsrechtlich geltende Verbot3 setzt – jenseits der Frage, ob es sich hierbei um eine obligation of result oder obligation of conduct handelt (Proelß 2017b: Rn. 10) – eine drohende oder bereits erfolgte erhebliche grenzüberschreitende Umweltschädigung voraus.4 Dies lässt sich für SRM-Maßnahmen aber – zumindest nach derzeitigem Kenntnisstand – gerade nicht feststellen (Krüger 2020: 44; Reynolds 2019: 87).
3.5.2 Vorsorgeprinzip Schließlich wird regelmäßig eruiert, ob und inwiefern das Vorsorgeprinzip Aussagen über die Zulässigkeit von SRM-Maßnahmen enthält. Die bekannteste Formulierung des Vorsorgeprinzips entstammt Prinzip 15 der Rio Declaration on Environment and Development vom 12. August 1992 (UN Doc. A/CONF.151/26 [Vol. I]). Sie lautet: In order to protect the environment, the precautionary approach shall be widely applied by States according to their capabilities. Where there are threats of serious or irreversible damage, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for postponing cost-effective measures to prevent environmental degradation.
Es spricht vieles dafür, dass das Vorsorgeprinzip mittlerweile gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt hat.5 Dies ist allerdings weiterhin umstritten (Proelß 2017b:
|| 3 Dieses Verbot geht auf den Trail Smelter-Schiedspruch (United States of America v. Canada: Schiedsspruch vom 16. April 1938 und 11. März 1941. RIAA III: 1905 und 1938 [1965]) zurück, ist etwa in Prinzip 21 der Stockholm-Erklärung von 1972 aufgegriffen worden und der IGH hat unter anderem im Nuclear Weapons-Fall (IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, ICJ Reports 1996: 226) die gewohnheitsrechtliche Geltung dieses Prinzips bestätigt. 4 So lautet die Formulierung in Art. 3 der ILC Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities, 2001 (Yearbook of the ILC 2001/II-2: 148 ff.): „The State of origin shall take all appropriate measures to prevent significant transboundary harm or at any event to minimize the risk thereof.“ 5 Zumindest geht der IGH im Pulp-Mills Fall (ICJ: Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay). Urteil vom 20. April 2010. ICJ Rep 2010: 14) implizit davon aus, dass dieses Prinzip einen für die Auslegung und Anwendung von Völkervertragsrecht relevanter Völkerrechtssatz
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Rn. 29). Es besitzt aber zumindest für den hiesigen Kontext vertragliche Geltung, da es unter anderem in Art. 3 Nr. 3 UNFCCC eingegangen ist. Das Vorsorgeprinzip verpflichtet Staaten allgemein dazu, Vorsorgemaßnahmen zu treffen, wenn von Aktivitäten auf ihrem Staatsgebiet erhebliche Umweltgefahren ausgehen, auch wenn es keine absolute wissenschaftliche Gewissheit über den Schadenseintritt gibt. Schon Umfang und Gehalt dieser allgemeinen Pflicht sind umstritten (Calliess 2001: 153). Auf ein grundlegendes Problem des Vorsorgeprinzips, welches speziell für die Bewertung von SRM-Maßnahmen von Bedeutung ist, hat zudem bereits vor einiger Zeit Cass Sunstein hingewiesen (Sunstein 2003, 2007): Das Vorsorgeprinzip scheint für Situationen wenig aussagekräftig zu sein, in denen es mehrere gegenläufige Risiken gibt. So liegt der Fall aber bei SRM-Maßnahmen (Farber 2015; Reynolds/Fleurke 2013). Zwar ist der Einsatz von SRM-Maßnahmen fraglos mit erheblichen Risiken (und Unsicherheiten) verbunden. Aber auch der weitere Anstieg der globalen Temperatur ist äußerst risikoreich. Diese Einschätzung schlägt sich nicht zuletzt in Art. 2 Nr. a) des Paris-Abkommens nieder. Je nachdem auf welches Risiko abgestellt wird, könnte das Vorsorgeprinzip hier mithin für die Erforschung und den Einsatz von SRM-Maßnahmen streiten oder gegen den Einsatz derselben. In der Tat gibt es deshalb im Schrifttum Autoren, die der Auffassung sind, dass das Vorsorgeprinzip für die Erforschung und den Einsatz (Reynolds/Fleurke 2013) von SRM-Maßnahmen spricht, mit der Begründung, dass dies die Gefahren der Erhöhung der Erdtemperatur abfedert. Andere Autoren leiten aus dem Vorsorgeprinzip angesichts der unabsehbaren Gefahren des Einsatzes von SRM-Maßnahmen hingegen ein Verbot von SRM-Maßnahmen ab (Proelß 2012: 210; Winter 2011: 460461). Auch das Vorsorgeprinzip gibt deshalb nur wenige Anhaltspunkte für die rechtliche Bewertung des Einsatzes von SRM-Maßnahmen.
3.6 Zusammenfassung Allgemein lässt sich festhalten, dass existierende völkervertragliche und völkergewohnheitsrechtliche Mechanismen keine eindeutige Antwort auf den Einsatz von SRM-Maßnahmen geben. Zwar erfassen existierende völkerrechtliche Regeln Aspekte des Einsatzes von SRM-Maßnahmen, eine umfassende und kohärente || im Sinne von Art. 31 Abs. c) WVK darstellt. Und das International Tribunal for the Law of the Sea (ITLOS) hat in einer Advisory Opinion festgehalten, dass dieses Prinzip dabei ist, in Völkergewohnheitsrecht zu erwachsen (ITLOS: Responsibilities and Obligations of States Sponsoring Persons and Entities with Respect to Activities in the Area. Case No 17. Gutachten vom 1. Februar 2011. ITLOS Rep 2011: 10 [§ 135].).
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Regulierung von SRM-Maßnahmen lässt sich aus diesen Regeln jedoch nicht ableiten. Rechtslinguistisch informierte Theorien des Rechts weisen als strukturierende Rechtslehre in Absetzung von rechtspositivistischen und dezisionistischen Auffassungen (Müller/Christensen/Sokolowski 1997: 19; Fischer-Lescano/Christensen 2005) freilich schon länger darauf hin, dass ein „Normtext als Textformular [...] die Textbedeutung nicht vorgeben [könne]“ (Müller/Christensen/Sokolowski 1997: 32). Der Befund, dass sich aus den vorhandenen Rechtstexten allein nicht ohne weiteres eine kohärente Regulierung von SRM ergibt, ist deshalb aus rechtslinguistischer Perspektive nicht erstaunlich, sondern vielmehr folgerichtig. In Abgrenzung zur Geltung wird die Bedeutung einer Rechtsnorm nämlich immer erst im Prozess der Rechtarbeit erzeugt (Müller/Christensen 1997: 7374). Mit Hilfe dieses rechtslinguistischen Ausgangspunktes lässt sich der hiesige Befund präzisieren: Die Schwierigkeiten der Erfassung vom SRM können nicht allein darin begründet sein, dass es sich hierbei um eine neue Technik handelt. Denn für das Recht gilt allgemein, „dass jede Entscheidung den Normtext einem neuen Kontext aufpropft, welcher bei Erlass des Textes nicht vorhersehbar war“ (Müller/Christensen/Sokolowski 1997: 28). Es würde auch nicht weiterführen, die Problematik der Erfassung des Geoengineerings bloß auf den Wortlaut spezifischer Rechtstexte zurückzuführen. Wenn es zutrifft, dass „Rechtstexte [...] ihre für die Zwecke bzw. Aufgaben der Institution Recht relevanten Bedeutungen im Kontext der für die Auslegung und Anwendung ausschlaggebenden fachspezifischen Wissensrahmen [entfalten]“ (Busse 2017: 36), dann kommt es vielmehr entscheidend darauf an zu erläutern, welche Elemente des Wissensrahmens des Umweltvölkerrecht dazu führen, dass Geoengineering nicht ohne weiteres als Bestandteil bestehender umweltvölkerrechtlicher Rechtstexte verarbeitet werden können. Nicht die bloße Neuartigkeit des Geoengineerings ist deshalb für die Probleme bei der rechtlichen Regulierung derselben entscheidend. Es muss vielmehr eine spezifische Eigenart des Geoengineerings sein, die dazu führt, dass in rechtlichen Diskursen Schwierigkeiten bei der Generierung plausibler Argumente für die rechtliche Einordnung des Geoengineerings entstehen.
4 Das Problem der Regulierung von Geoengineering Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend untersucht, welche Eigenschaften des Geoengineerings dafür verantwortlich sein könnten, dass eine rechtliche Einord-
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nung desselben mit Bezug auf die existierenden völkerrechtlichen Regeln als problematisch empfunden wird.
4.1 Geoengineering als Risiko Ein erster Erklärungsansatz im Schrifttum führt diese Schwierigkeiten vor allem darauf zurück, dass der Einsatz von SRM-Maßnahmen nicht nur mit erheblichen Risiken, sondern auch mit nicht kalkulierbarer Unsicherheit einhergeht.6 Rechtsregeln, die – wie CLRTAP, Wiener Übereinkommen, aber auch das völkergewohnheitsrechtliche Verbot grenzüberschreitender Umweltschädigungen – eine relative Klarheit über die Schädlichkeit der Maßnahmen voraussetzen, haben schon deshalb für die Regulierung von SRM-Maßnahmen wenig Aussagekraft.
4.2 Geoengineering als Kollision umweltrechtlicher Schutzgüter Ein zweiter Erklärungsansatz stellt vor allem darauf ab, dass es sich bei Geoengineering um Maßnahmen handele, für die die grundlegende Einsicht von Cass Sunstein paradigmatisch gelte: „[...] risks are on all sides of social situations“ (Sunstein 2003: 1008). Gerade mit Blick auf das Vorsorgeprinzip wurde jedoch deutlich, dass viele völkerrechtliche Regeln auf Konstellationen zugeschnitten sind, in welchen ein relativ ungefährlicher Ist-Zustand mit der relativen Gefährlichkeit einer Maßnahme kontrastiert wird. Diese Regeln basieren mithin auf einer Vorstellung einer „[…] relative safety of nature and the relative risk of new technologies […]“ (Sunstein 2003: 10091010). Bei SRM-Maßnahmen steht aber – wie bereits erwähnt – den Gefahren ihres Einsatzes das nicht weniger bedrohliche Szenario eines erheblich über das 2° C Ziel hinausgehenden Anstiegs der globalen Temperatur gegenüber. Es handelt sich bei Geoengineering mit anderen Worten um Konstellationen, in welchen unterschiedliche Risiken abgewogen werden müssen. Dies führt viele Autoren dazu, die Einordnung von Geoengineering-Maßnahmen im Allgemeinen und SRM-Maßnahmen im Speziellen vor allem als Problem der Risikoabschätzung und -abwägung zu verstehen (Abelkop/Carlson 2013). Dahinter steht der Gedanke, dass es im Umweltrecht nicht erst im Rah-
|| 6 Diese Sichtweise liegt etwa dem einflussreichen Report der Royal Society (The Royal Society 2009: 3739) zugrunde. Die klassische Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit geht zurück auf Knight (1921).
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men von Geoengineering zu sogenannten umweltschutzinternen Zielkonflikten kommen könne (Kloepfer 2016: § 1 Rn. 76), in welchen etwa Ziele des Artenschutzes und Ziele des Pflanzenschutzes in Bezug auf einzelne Maßnahmen kollidieren können (sog. Umweltrecht kontra Umweltrecht [Kloepfer 1978]). In diesem Sinne schlägt Proelß mit Bezug auf SRM-Maßnahmen vor, aus dem Vorsorgeprinzip Kriterien für die Abwägung unterschiedlicher Risiken des Geoengineerings für unterschiedliche umweltrechtliche Schutzgüter abzuleiten (Proelß 2012: 209210).
4.3 Geoengineering als Gestaltung Auch dieser Fokus auf unterschiedliche Risiken scheint jedoch eine noch grundlegendere Eigenheit bestimmter Geoengineering-Maßnahmen zu verdecken: Geoengineering-Maßnahmen zielen, richtig verstanden, gar nicht mehr auf den Erhalt eines umweltrechtlichen Schutzgutes. Sie bezwecken vielmehr die Herstellung neuer „natürlicher“ Verhältnisse nach bestimmten normativen Vorgaben: So zielen SRM-Maßnahmen – durch Einbringung von Schwefelpartikeln in die Stratosphäre – nicht auf die Erhaltung eines natürlich empfundenen klimatischen Gleichgewichts. SRM „results in an unprecedented composition of the atmosphere and amounts to a clear case of environmental enhancement“ (Somsen 2017: 390). Es handelt sich mithin um eine bewusste Gestaltung klimatischer Verhältnisse (u.a. mit neuen Temperaturen, lokalen und globalen Wetterphänomenen und Niederschlagsmengen (Abelkop/Carlson 2013; Scott 2013; Parson/Ernst 2013)) nach menschlichen Normen (Jasanoff 2010; Rojas 2016). Die rechtliche Bewertung von Geoengineering-Maßnahmen ist vor diesem Hintergrund nicht nur wegen der Abwägung möglicher Risiken für unterschiedliche umweltrechtliche Schutzgüter schwierig. Vielmehr scheint es gerade diese gestaltende Ausrichtung (Somsen 2017: 386 sowie 2016) der Geoengineering-Maßnahmen zu sein, die ihre umweltrechtliche Einordnung problematisch macht. Dies lässt sich insbesondere mit Blick auf das UNFCCC beispielhaft demonstrieren. Ich hatte bereits erwähnt, dass das Ziel dieses Abkommens nach Art. 2 UNFCCC darin besteht, eine „Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird.“ In diesem Ziel kommt das Selbstverständnis des Klimaschutzrechts zum Ausdruck. Es versteht sich primär als ein Recht, welches ein natürliches Klima vor anthropogenen Auswirkungen schützen will. Es ist aber nicht darauf ausgelegt, Kriterien für die anthropogene Steuerung klimatischer Verhältnisse bereitzuhalten. Mit ihrer gestaltenden Dimension stellen SRM-Maßnahmen mithin das Selbstverständnis des Klima-
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schutzrechts in Frage. Das Paradigma des Schutzes der Umwelt ist über das Klimaschutzrecht hinaus für das geltende Umweltvölkerrecht von wesentlicher Bedeutung. Zwar lässt sich das Umweltvölkerrecht als Feld nicht leicht definieren und von anderen Rechtsbereichen abgrenzen und es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Rechtsmaterien noch zum Umwelt(völker)recht zu zählen sind und welche nicht (Aagaard 2010: 259263). Die weit überwiegende Zahl der existierenden Definitionen bestimmen aber das Umweltrecht (Kloepfer 2016: § 1 Rn. 6068) und Umweltvölkerrecht (Epiney 2017: Rn. 8) – trotz aller Unterschiede im Detail – wesentlich als Recht des Schutzes der Umwelt (Birnie/Boyle 2002: 1). Das Umwelt(völker)recht ist nach seinem Selbstverständnis in erster Linie Umweltschutzrecht. So gelten als Umweltvölkerrecht in diesem Sinne „diejenigen völkerrechtlichen Normen, die den Schutz der Umwelt betreffen bzw. bezwecken“ (Epiney 2017: Rn. 8) oder als „alle Regelungen, die sich auf den Schutz, die Pflege und die Entwicklung der ‚Umwelt‘ oder einzelner ihrer Teile […] bzw. auf die Inanspruchnahme der Umwelt durch den Menschen beziehen“ (Sparwasser/Engel/Voßkuhle 2003: § 1 Rn. 13). Im anglo-amerikanischen Kontext wird das Umweltrecht etwa definiert als „(broadly) aimed at preventing and/or rectifying environmental damage“ (Pedersen 2013: 109), bzw. als „laws that reflect a consideration of human impacts on the natural environment“ (Aagaard 2010: 263). Damit ist nicht gesagt, dass die real existierenden umweltrechtlichen Regelungen stets exklusiv umweltschützende Anliegen zur Geltung bringen, vielmehr zeichnen sich rechtliche Regeln, die die Umwelt betreffen, in der Regel dadurch aus, dass sie neben umweltschützenden Belangen oft auch ökonomische und sonstige auch konfligierende Interessen und Belange in unterschiedlichem Maße in Bezug nehmen (Aagaard 2010: 263). Gleichwohl lassen sich die Spezifika des Umweltrechts ohne Bezug auf den Gedanken des Umweltschutzes nicht erläutern. Der Umweltschutz ist mit anderen Worten das Proprium des Umweltrechts. Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass die Problematik der Einordnung von SRM-Maßnahmen in geltende umweltvölkerrechtliche Normen primär darauf zurückzuführen ist, dass diese Formen des Geoengineerings nicht dem Paradigma des Schutzes der Umwelt entsprechen, sondern auf die Gestaltung der Umwelt gerichtet sind (Umweltschutz kontra Umweltgestaltung). SRM-Maßnahmen bewegen sich damit außerhalb des Propriums des Umweltrechts.
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5 Die Natur(en) des Umweltvölkerrechts Es ist also nicht weniger als das grundlegende Selbstverständnis des Umweltrechts als Umweltschutzrecht, welches durch Geoengineering in Frage gestellt wird. Warum aber ist für ein Recht, welches sich dem Schutz der Umwelt verpflichtet sieht, der Gedanke der Gestaltung der Umwelt so problematisch?
5.1 Die inhaltliche Diversität der Naturbegriffe In einigen affirmativen Ausdeutungen des Konzeptes des Anthropozäns (Laux 2018; Kersten 2014; Ellis 2020; Bergthaller/Horn 2019) wird diese grundlegende paradigmatische Herausforderung des Rechts durch Geoengineering darauf zurückgeführt, dass das Umweltvölkerrecht durch eine bestimmte inhaltliche Vorstellung von „Natur“ geprägt sei: Das Umweltvölkerrecht verstehe die Natur traditionell vor allem als vom Menschen unberührte Wildnis.7 Es sei diese Vorstellung einer unberührten Natur, die durch die Einsicht, dass der Mensch zu einem entscheidenden Faktor für die Veränderung der Natur geworden sei (Schellnhuber 1999), ins Wanken gerate. Das Umweltvölkerrecht ist jedoch eine Materie, die sich seit jeher besonders stark durch einen politisierten Umgang mit dem eigenen Gegenstandsbereich auszeichnet, und es ist von Kämpfen um die inhaltliche Bestimmung des Begriffs der Natur geprägt worden.8 So lassen sich in den unterschiedlichen Bereichen des Umweltvölkerrechts zu unterschiedlichen Zeiten diverse und konkurrierende Ausdeutungen der „Natur“ finden, die u.a. imperialistische kapitalistische, liberale, romantische, anthropozentrische, animistische, ökologische und ökozentrische Strömungen aufweisen (Sand 2007: 29). Jedediah Purdy zeichnet etwa in seiner Untersuchung für den US-amerikanischen Kontext den Wandel dieser Naturvorstellungen nach, die hinter den jeweiligen Phasen der Umweltgesetzgebung standen (Purdy 2015). Schutzgut des Umweltvölkerrechts ist spätestens seit der Stockholm-Konferenz von 1972 zwar vor allem auch die sogenannte natürliche Umwelt (Heintschel von Heinegg 2014: 988) und ihre Flora und Fauna. So beginnt etwa die Präambel der Convention on
|| 7 Zur Kritik an dieser zu kurz greifenden Analyse bereits Latour (2017: 32) mit weiteren Nachweisen. 8 Zur Geschichte dieser Auseinandersetzungen siehe etwa: Radkau (2011) sowie ideengeschichtlich: Wilson (2016) ferner mit spezifischem Bezug auf das Recht Purdy (2015) und Jasanoff (2001) sowie aus systemtheoretischer Sicht Luhmann (1999).
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International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora vom 3. März 1973 (CITES, BGBI 1975 II: 773) mit den Worten: The Contracting States, Recognizing that wild fauna and flora in their many beautiful and varied forms are an Irreplaceable part of the natural systems of the earth which must be protected for this and the generations to come […].
Aber schon die Declaration of the United Nations Conference on the Human Environment (Stockholm-Erklärung, Report of the United Nations Conference on the Human Environment, Stockholm, 5. bis 12. Juni 1972, UN Doc. A/CONF.48/14/ Rev.1) operiert dabei mit einem Umweltbegriff, der sowohl die menschengemachte als auch die natürliche Umwelt erfasst: So heißt es in Nr. 1 der Erklärung: Man is both creature and moulder of his environment […], man has acquired the power to transform his environment in countless ways and on an unprecedented scale. Both aspects of manʼs environment, the natural and the man-made, are essential to his well-being and to the enjoyment of basic human rights the right to life itself.
Und auch das UNFCCC schützt in Art. 1 Nr. 1 nicht nur die natürliche Umwelt, sondern auch die vom Menschen beeinflussten Ökosysteme. Die von Menschen geformte Natur, etwa als Kulturlandschaft oder die Natur als Ressource zur Ausbeutung durch den Menschen, konnte damit stets ganz selbstverständlich zum Naturverständnis des Umweltrechts gehören. Nicht erst seit der Ausrufung des sogenannten Anthropozäns (Kersten 2014; Crutzen 2002; Robinson 2014; Kotzé 2015) ist die „Natur“ des Umweltvölkerrechts deshalb nicht nur unberührte Wildnis, sondern ebenso sehr eine vom Menschen veränderte, versehrte oder kultivierte Natur. Dies gilt für sämtliche Bereiche der Natur, vom Klima (Jasanoff 2010) über Biotope (Purdy 2015: 25) bis etwa zur Fauna (Braverman 2015; WandesfordeSmith 2016). Daraus lässt sich folgern, dass sich die Schwierigkeiten des Umgangs des existierenden Umweltrechts mit Geoengineering nicht allein mit einer Entzauberung der Naturbegrifflichkeit (Radkau 2011: 615616) oder der Einsicht in den human factor (Schellnhuber 1999) erklären lassen. Es geht hier mit anderen Worten überhaupt nicht um eine vermeintlich feststehende Wortlautgrenze (Christensen 2017) von „Natur“ und „Natürlichkeit“ in umweltvölkerrechtlichen Rechtstexten, die durch Geoengineering überschritten werde.
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5.2 Das dichotomische Verhältnis von Normativität und Natürlichkeit Rufen wir uns in Erinnerung, dass Geoengineering nicht mehr dem Schutz der Umwelt verpflichtet ist, sondern sich als Gestaltung derselben begreift, scheint das Problem weniger in der inhaltlichen Ausgestaltung des Naturbegriffs9 zu liegen, als vielmehr in dem Modus, wie das Umweltrecht sein Verhältnis zur Natur bestimmt. Zwar umfasst der Schutzgedanke – dies lässt sich beispielhaft an § 1 Abs. 1 BNatSchG aufzeigen – neben Pflege und Entwicklung auch die Wiederherstellung der Umwelt (Schlacke 2019: § 1 Rn. 6). Der Schutzgedanke kann sich also durchaus auch als aktiver Eingriff in die Umwelt äußern. Allerdings dienen diese Eingriffe ihrem Selbstverständnis nach dem umweltrechtlichen Schutzgedanken folgend stets der Wiederherstellung eine status quo ante (Somsen 2017: 383386) und nicht der Schaffung eines neuen Zustandes. Denn im Gedanken des Schutzes der Umwelt kann die Umwelt selbst immer nur als das nicht durch das Recht Bestimmte auftreten, d.h. als dasjenige, welches nicht nach normativen Maßstäben abläuft, sondern als Kausalität nach chemischen, biologischen und physikalischen Prozessen. Dies lässt sich insbesondere daran erkennen, dass das Umweltrecht stets nur auf die Regulierung menschlichen Verhaltens gerichtet sein kann und nicht auf die Regulierung biologischer Prozesse selbst: Das Umweltschutzrecht reguliert menschliche Zugriffe auf das Natürliche. Es weist etwa Eigentumspositionen an Natürlichem zu und ermöglicht dadurch die Ausbeutung von Natur oder es setzt den menschlichen Zugriffen auf die Umwelt normative Schranken. Das Umweltschutzrecht stellt hingegen nach seinem Selbstverständnis keine normativen Maßstäbe für biologische Prozesse auf. Das käme dem Umweltschutzrecht vielmehr wie ein Kategorienfehler vor. Dies lässt sich am Klimaschutzrecht verdeutlichen: Im Klimaschutzrecht wird das Klima selbst als ein
|| 9 Der Begriff der Natur und des Natürlichen wird in dieser Untersuchung ohne Bezug auf eine bestimmte philosophische Theorietradition verwendet. Die Natur meint hier also nicht allein die Natur im aristotelischen Sinne, d.h. das von Natur aus Seiende im Gegensatz zum nicht von Natur aus Seienden (Aristoteles, Physik II: 1, 192b) bzw. „die Entstehung des Wachsenden […] der erste immanente (Stoff), woraus das Wachsende erwächst […] dasjenige, wovon bei einem jeden natürlichen Dinge die erste Bewegung ausgeht“ (Aristoteles Met. V 4, 1014b). Ebenso wenig bezieht sich der Begriff hier von Beginn an ausschließlich auf eine Hegelsche Bestimmung der Natur als Äußerlichkeit (vgl. Hegel GW 20: § 247) und auch nicht allein auf eine Marxsche (vgl. Schmidt 1978) oder systemtheoretische Begriffsbildung (vgl. Luhmann 1999). Es geht hier lediglich um die Art und Weise, wie das Recht diese Begrifflichkeit verwendet, auch wenn diese Verwendung von unterschiedlichen philosophischen Traditionen geprägt wurde (vgl. zu dieser philosophischen Tradition: Kaulbach 1984: 422–482; Latour 2010: 7381).
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dem Recht äußerlicher, d.h. natürlicher Prozess oder als ein natürliches Gleichgewicht behandelt. Die Aufgabe des Klimaschutzrechtes besteht folglich darin, normative Vorgaben für den Schutz, die Erhaltung und die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts aufzustellen, und wo dies nicht möglich ist ggf. Anpassungsmaßnahmen vorzunehmen. Das Klimaschutzrecht beschäftigt sich aber nicht mit der Frage, nach welchen normativen Kriterien dieses Klimagleichgewicht als ökologischer Prozess selbst gestaltet werden könnte. Es fragt nicht nach einem richtigen oder gerechten Klima, weil es das Klima nur als eine natürliche Gegebenheit im Recht vorkommt. Es ist insofern kein Zufall, dass einige im Geoengineering etwa eine Pervertierung des Vorsorgegedankens sehen, der schließlich auf „menschliches Verhalten [gerichtet sei], das die Umwelt zu zerstören geeignet ist [...]“ (Winter 2011: 461). Unabhängig davon, ob die Umwelt extensiv oder restriktiv anthropozentrisch oder ökozentrisch (Kloepfer 2016: § 1 Rn. 5260) ausgedeutet wird, ist sie im Umweltvölkerrecht das schlechthin Nichtrechtliche, d.h. dasjenige, welches nicht nach normativen Maßstäben abläuft und auch nicht nach normativen Maßstäben gestaltet werden darf. Dem Gedanken des Schutzes der Umwelt liegt mithin ein Verständnis des Verhältnisses von Normativität und Natürlichkeit zu Grunde, welches die Natur als das Andere des Rechts begreift. Das dem Schutzgedanken verpflichtete Umweltvölkerrecht bestimmt sein Verhältnis zu Natur als Dichotomie.10 Genau dieses dichotomische Verständnis von Normativität und Natürlichkeit hat Latour im Blick, wenn er festhält, dass die Rede von menschlichen Repräsentationen der Natur und ihren Veränderungen, von materiellen, ökonomischen und politischen Bedingungen, durch die sie zu erklären sind, […] stillschweigend voraus[setze], daß die Natur selbst sich die ganze Zeit hindurch um keinen Deut verändert oder bewegt hat. Man behauptet in aller Ruhe die gesellschaftliche Konstruktion der Natur, beachtet aber nicht, was sich wirklich in der Natur abspielt… (Latour 2010: 50)
Mit Blick auf SRM-Maßnahmen wird nun deutlich, warum diese für das Umweltvölkerrecht so problematisch sind: Wir haben gesehen, dass sie nicht mehr als Maßnahmen zum Schutz von Natur aufgefasst werden können. Dies liegt daran, dass diese das dichotomische Verständnis des Verhältnisses von Normativität und Natürlichkeit im Umweltrecht unterlaufen. Das geltende Recht kann diese
|| 10 Der Philosoph Christoph Menke hält dieses dichotomische Verhältnis von Normativität und Natürlichkeit sogar für das grundlegende Merkmal des modernen Rechts. Dieses zeichne sich nämlich genau dadurch aus, dass „[...] das nicht durch die Form des Rechts Bestimmte – die Umwelt des Rechts oder die ‚Natur‘ – den Status des Anderen des Rechts [hat]“ (Menke 2015: 135).
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Maßnahmen immer nur als Eingriffe des Menschen in Natürliches verstehen und diesen Eingriff verbieten oder erlauben, je nach Risikoprognose. Geoengineering ist hingegen auf die Normierung der klimatischen Verhältnisse selbst gerichtet. In seinen grundlegenden Beiträgen zur Debatte unterscheidet Han Somsen deshalb Maßnahmen des environmental enhancements von herkömmlichen Schutzmaßnahmen als paradigmatische Herausforderungen für das Umweltrecht: Unter environmental enhancement versteht er [i]ntentional interventions to alter natural systems, resulting in unprecedented characteristics and capabilities deemed desirable or necessary for the satisfaction of human and ecological imperatives or desires. (Somsen 2017: 380)
Diese Eigenschaften teilt das Geoengineering mit einer Vielzahl weiterer neuartiger Konstellationen rechtlicher Regulierung (Kersten 2017a). So würden sich etwa neuere technische naturwissenschaftliche Entwicklungen „deutlich von den traditionellen Formen der Intervention in den Biowissenschaften und der Medizin unterscheiden“, sie beträfen „nicht mehr länger die Kontrolle der äußeren, sondern die Transformation der inneren Natur“ (Lemke 2013: 163). Paul Rabinow belegt diese Veränderung mit Blick auf das Beispiel des Human Genom Projects mit dem Begriff der Biosozialität (Gruber 2015: 73). In der Biosozialität werde die Natur „auf der Grundlage von Kultur modelliert werden […]. Natur wird mit Hilfe von Technik erkannt und neu hergestellt werden. Und sie wird schließlich artifiziell werden, genauso wie Kultur natürlich werden wird“ (Rabinow 2004: 139). Das Problem des Umgangs des Umweltrechts mit Geoengineering ist vor diesem Hintergrund – so die Grundthese dieses Aufsatzes – Ausdruck einer allgemeinen Transformation des Verhältnisses von Normativität und Natürlichkeit, also des „schlechthin grundlegende[n] Verhältnis[ses], in dem das Recht zu seinem Anderen, der vor- oder außerrechtlichen Natur, steht“ (Menke 2015: 101). Diese Transformation besteht darin, dass sich das Recht der Regulierung und Verwaltung von Natur nicht mehr als ein Recht verstehen kann, welchem das Natürliche als vorrechtlich gegeben ist, sondern als ein Recht, welches das Natürliche materiell selbst mit hervorbringt. Das Recht wird zu einem Design dieser Prozesse.
6 Aspekte für ein gestaltendes Umweltvölkerrecht Was heißt dieser Befund für die Frage des rechtlichen Umgangs mit Geoengineering-Maßnahmen? In aktuellen Diskussionen wird in Bezug auf diese neuartigen
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Phänomene teilweise ein Bedeutungsverlust rechtlicher Normativität konzediert. Dafür werden zwei Gründe angeführt: Erstens könne das Recht diese Formen der technischen Innovation nicht mehr steuern. Es werde deshalb zunehmend von lernfähigen und adaptiven Strukturen verdrängt und durch technische Prozesse ersetzt werden (Wischmeyer 2018). Zweitens könne das Recht zur Steuerung dieser Prozesse auch normativ nicht beitragen, da das Recht nach Aufgabe des Bezugs auf eine außerrechtliche Natürlichkeit keinen normativen Bezugspunkt mehr habe (Birnbacher 2008: 17). Allgemein finden diese Vorstellungen Ausdruck in der auf Luhmann (Luhmann 2005, 1995: 555556) zurückgehenden These der Ablösung normativer durch kognitive Erwartungsstrukturen (Gruber 2015: 73). Diese These des doppelten Bedeutungsverlustes des Rechts verkennt allerdings die Charakteristika des Wandels im Verhältnis von Normativität und Natürlichkeit. Die Gestaltung natürlicher Prozesse führt – richtig verstanden – gerade nicht zu einer Ablösung normativer durch kognitive Strukturen, vielmehr prägen normative Elemente die Gestaltung natürlicher Prozesse intensiv mit. Dies zeigt nicht zuletzt auch die intensive Debatte um die normative Einhegung des Geoengineerings (Horton et al. 2018). Aus dem Bedeutungswandel des Rechts im Verhältnis zu Natürlichkeit kann zudem auch nicht die Konsequenz gezogen werden, dass das Recht im Rahmen der Gestaltung natürlicher Prozesse die Aufgabe verlieren würde, normative Schranken zu etablieren. Gerade in Bezug auf die Gestaltung von Natürlichkeit stellt sich die Frage, wie das Recht normative Kriterien für die wirksame Einhegung der Hybris eugenischer Fehlvorstellungen (Habermas 2013), anthropozentrischer Naturausbeutung (Latour 2017) und technischer Allmachtsphantasie (Jasanoff 2016) finden kann. Drei Aspekte sind dabei für ein Recht der Gestaltung des Natürlichen von herausgehobener Bedeutung und sollen deshalb im Folgenden dargelegt werden:11
6.1 Das Selbstverständnis eines gestaltenden Rechts Der erste Aspekt betrifft das Selbstverständnis des Umweltvölkerrechts: Das Umweltvölkerrecht muss Wege finden, sein Proprium über den Schutz von Natürlichem hinaus auch für gestaltende Konstellationen zu öffnen. Dabei kann an eine durchaus heterogene Gruppe von Theorien angeschlossen werden, die zum Teil als Vertreterinnen eines neuen Materialismus eingeordnet werden (Lemke 2014; Ağin Dönmez 2016). Diese Theorien befassen sich als Post-/Transhumanismus mit transformatorischen Verhältnissen von Normativität und Leben (Braidotti
|| 11 Die nachfolgenden Überlegungen basieren auf Horst (2020).
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2014; Loh 2018; Kersten 2017a), als spezifische Richtung der science and technology studies mit transformatorischen Verhältnissen von Normativität und Technik (Haraway 1995, 2016; Simondon 2012; Jasanoff 2016) und schließlich in kritischer Auseinandersetzung mit dem Anthropozänkonzept (Crutzen 2002; Laux 2018) mit transformatorischen Verhältnissen von Normativität und Natur (Latour 2010, 2017; Kersten 2014). Dabei suchen sie – und dies macht sie für diese Untersuchung interessant – bei allen Unterschieden im Detail jeweils auch nach Begründungen für Unverfügbarkeiten in Bezug auf das Natürliche jenseits eines dichotomischen Verständnisses von Natur/Kultur (Descola 2011), Subjekt/Objekt (Latour 2017: 33) sowie Mensch/Natur (Braidotti 2014). Sie betonen insbesondere auf unterschiedliche Weise die Eigenständigkeit und die Widerständigkeit von Materie, die sich eines menschlichen Zugriffs entzieht. Diese Widerständigkeit und Eigenständigkeit von Materie kann ein Ansatzpunkt für ein erweitertes Selbstverständnis des Umweltvölkerrechts sein: Wird das Natürliche – hier etwa die klimatischen Verhältnisse – von einem dem Recht äußerlichen biologisch/ physikalischem Prozess zu einem vom Recht mitgeprägten Phänomen, besteht die Aufgabe des Rechts nunmehr auch darin, in dieser Gestaltung Sensibilitäten für Widerständigkeiten der Materie zur Geltung zu bringen. Das Proprium des Umweltvölkerrechts im Anthropozän besteht wesentlich auch darin, dass es in der Lage ist, jenseits des Schutzgedankens Unverfügbarkeiten für das Natürliche als Grenze der Allmacht des technischen Zugriffs zu entwickeln.
6.2 Die Legitimität gestaltenden Rechts Ein zentraler Aspekt dieser Aufgabe ist die Frage, wie ein richtiges und gerechtes Recht der Gestaltung des Natürlichen geschaffen werden kann. Diese neuen Konzepte der Legitimität gestaltenden Rechts werden einerseits die Planetary Boundaries (Steffen et al. 2015) für die Gestaltung des Natürlichen zur Kenntnis nehmen müssen. Das Recht muss aber gerade für die Gestaltung des Natürlichen darüber hinaus Elemente der demokratischen Selbstbestimmung etablieren. In dem Maße, wie etwa das Klima ein vom Recht miterzeugter Prozess wird, muss dieser Prozess auch der demokratischen Partizipation geöffnet werden. Für die Entwicklung solch neuer demokratischer Elemente kann das Recht allerdings nicht allein auf bereits existierende Foren parlamentarischer Demokratie zurückgreifen (Horst 2020: 318). Und auch eine darüberhinausgehende kosmopolitische Agenda muss in Rechnung stellen, dass der „struggle over a new foundation of legitimacy“ (Zumbansen 2010: 184) nicht mehr allein dadurch aufgelöst werden kann, dass Kongruenz zwischen den im Einzelfall von den Normbildungen betroffenen und den Autorinnen dieser Normbildungen hergestellt wird (Forst
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2012). Die Eigenheiten der neuen demokratischen Fragen, die etwa darauf gerichtet sind, unter welchen klimatischen Verhältnissen wir leben wollen, erfordern den Ausbau neuartiger Selbstbestimmungs- und Berücksichtigungsverhältnisse.
6.3 Rechtspersonalitäten gestaltenden Rechts Das Recht muss hier insbesondere zur Kenntnis nehmen, dass im Prinzip der Selbstbestimmung regelmäßig nur diejenigen repräsentiert werden, die jeweils etwa als Bürgerinnen vom Recht als Rechtssubjekte erfasst werden (Brown 2011). Nichtmenschliches Leben und die Natur selbst werden deshalb prinzipiell aus der Partizipation an der politischen Machtausübung ausgeschlossen, obwohl diese Entitäten ohne Zweifel von dieser betroffen sind (Kersten 2014). In Reaktion auf diese Problematik wird zunehmend diskutiert, die Natur mit Eigenrechten auszustatten (Fischer-Lescano 2018a, 2018b; Sanders 2017; Stone 1972; Gutmann 2019; Kersten 2020), was für Bestandteile derselben in Form von Flüssen und Bergen, aber auch allgemeiner durch entsprechende verfassungsrechtliche Verankerungen durchaus schon Rechtsrealität geworden ist.12 Hinzu kommen Bemühungen um die Anerkennung tierlicher Personen (Raspé 2013; Gruber 2006). Zwar lässt sich darüber streiten, ob jeweils die Zuerkennung von Rechtspersonalität mit den damit einhergehenden Fragen der rechtlichen und politischen Repräsentation der richtige Weg ist (Kersten 2017b; Teubner 2006, 2018; Augsberg 2016). Es muss aber anerkannt werden, dass mit diesen Konstellationen ein grundlegendes Problem gerechter Partizipation an der politischen Machtausübung angesprochen ist, das nicht mehr einfach abgetan werden kann. Bruno
|| 12 In jüngerer Zeit wurde etwa dem Ganges und dem Yamuna in Indien (vgl. Theguardian.com 21.03.2017, https://www.theguardian.com/world/2017/mar/21/ganges-and-yamuna-rivers-gran ted-same-legal-rights-as-human-beings, letzter Zugriff 22.06.2020) sowie dem Whanganui (vgl. Theguardian,com 16.03.2017, https://www.theguardian.com/world/2017/mar/16/new-zealandriver-granted-same-legal-rights-as-human-being, letzter Zugriff 22.06.2020) und dem Mount Taranaki (vgl. Theguardian.com 22.12.2017, https://www.theguardian.com/world/2017/dec/22/ new-zealand-gives-mount-taranaki-same-legal-rights-as-a-person, letzter Zugriff 22.06.2020) in Neuseeland Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Aber auch in den USA gibt es bereits eine dahingehende Klage (vgl. Nytimes.com 26.09.2017, https://www.nytimes.com/2017/09/26/us/does-thecolorado-river-have-rights-a-lawsuit-seeks-to-declare-it-a-person.html?_r=0, letzter Zugriff 22. 06.2020). Die Verfassung von Ecuador (Constitución de la República del Ecuador, 2008) enthält insofern besonders weitgehende Regelungen. So lautet Art. 71 Abs. 1: „Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes“.
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Latour schlägt vor diesem Hintergrund bekanntlich schon seit einiger Zeit eine neue Gewaltenteilung vor (Latour 2010: 140168), die mit der Teilung in eine einbeziehende und eine ordnende Gewalt (Latour 2010: 148156) versucht, Ansätze für eine politische Ökologie zu entwickeln. Damit ist noch nicht festgelegt, ob eine gerechte Partizipation in der Zuerkennung von Rechtspersonalität oder in anderen Formen zu suchen ist. Ein Umweltvölkerrecht, welches demokratische Strukturen für die Gestaltung des Natürlichen etablieren will, muss diese Repräsentationsprobleme aber zum Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer partizipativer Strukturen nehmen.
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Vasco Alexander Schmidt
Unsichere Modelle – ermutigende Prognosen Wissenschaftlicher Skeptizismus von Mathematikern als Chance und Risiko im Klimadiskurs Zusammenfassung: Im Klimadiskurs scheinen sich die Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern des Klimawandels zu ähneln. Beide Gruppen üben Kritik an Klimamodellen, wenn auch aus verschiedenen Gründen: Die einen möchten Forschungslücken benennen und Klimamodelle weiterentwickeln; die anderen zweifeln an den Aussagen von Klimaforschern und verfolgen politische Ziele. Dass sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede vor allem im Umgang mit Modellbildungen festmachen lassen, soll in einer linguistischen Analyse der Äußerungen von Mathematikern und Skeptikern gezeigt werden; dabei kommen auch Berührungspunkte zum Fachdiskurs in der Klimaforschung und zum populistischen Sprachgebrauch zum Vorschein. Als Korpus dient zum einen das Plenarprotokoll einer Bundestagsdebatte zu einem Antrag der AfD-Fraktion, mit dem diese im Jahr 2018 den Stopp nationaler Klimaschutzmaßnahmen erreichen wollte. Zum anderen werden Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern analysiert, die aus Internetauftritten von Zeitungsverlagen, parteinahen Plattformen, mathematischen Fachmedien und Universitäten stammen. Schlüsselwörter: Mathematik, Klimadiskurs, Klimamodelle, Klimaprognosen, Unsicherheit, Misstrauen, Populismus
1 Einleitung Bei der Fridays for Future-Demonstration zum Weltklimatag am 20. September 2019 in Heidelberg gab es eine Gegendemonstration, die aus einem einzigen Mann bestand. Er hielt dem Strom der vor allem jugendlichen Demonstranten ein Plakat entgegen, das den folgenden Spruch zeigte: „Mathematik statt Klima-
|| Vasco Alexander Schmidt, SAP SE, Dietmar-Hopp-Allee 16, 69190 Walldorf, Deutschland, vasco.alexander.schmidt[at]sap.com https://doi.org/10.1515/9783110740479-008
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politik“.1 Diese Äußerung knüpft gleich zweifach an den Klimadiskurs an und führt unmittelbar zur Kernfrage dieses Beitrags, der nach der Stimme der Mathematik im Klimadiskurs fragt und danach, warum diese Stimme so ähnlich klingt wie die der Skeptiker im Klimadiskurs. Als Skeptiker werden hier Bürger bezeichnet, die einen menschengemachten Klimawandel und die Wirksamkeit von Klimaschutzmaßnahmen bezweifeln und sich dazu öffentlich äußern. Sie vertreten sicher nicht die Mehrheitsmeinung, aber erreichen in Medien und Parlamenten Aufmerksamkeit. Die Analyse und Einordnung ihrer Wortbeiträge erscheint angeraten und kann helfen, die Möglichkeiten und Grenzen einer Klimadebatte auszuloten. Auch werden Herausforderungen beim Wissenschaftstransfer mathematischer Inhalte im Klimadiskurs deutlich. Die Äußerung „Mathematik statt Klimapolitik“ lässt sich in einer ersten Lesart als Ermahnung an die demonstrierenden Schüler verstehen, die am Tag der Demonstration nicht in die Schule gingen: Sie sollen doch besser den Unterricht besuchen als zu demonstrieren. „Mathematik“ steht hier für das Schulfach Mathematik bzw. für die Schule und den Schulbesuch insgesamt. In einer zweiten Lesart kann „Mathematik“ aber auch als Wissensressource und als Vertreterin der Naturwissenschaften verstanden werden. Die Äußerung „Mathematik statt Klimapolitik“ ist dann ein Aufruf an die Öffentlichkeit, in der Klimadebatte mehr auf mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu setzen. Der Plakatspruch wäre dann eine Erinnerung an die Beteiligten, dass ihnen mathematischnaturwissenschaftliche Bildung auch in Debatten zum Klimawandel guttun würde. Diese zweite Lesart spiegelt sich in einer Beobachtung wider, die erklärungsbedürftig erscheint und im Folgenden differenzierter betrachtet werden soll: Dass sich im Klimadiskurs Wissenschaftler und Skeptiker gleichermaßen auf die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sowie die Grenzen naturwissenschaftlicher Methoden beziehen. So hat im Januar 2020 die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) gemeinsam mit den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachgesellschaften eine Pressemitteilung veröffentlicht, die unter dem Titel Hört auf die Wissenschaft steht (Dachverband der Geowissenschaften et al. 2020). Darin erinnern die Fachgesellschaften an den großen wissenschaftlichen Konsens zur Klimaerwärmung und fordern von Wirtschaft und Politik Maßnahmen zum Klimaschutz und zum Ausbau regenerativer Energie. Dem Mathematik-Professor und damaligen Präsidenten der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV), Friedrich Götze, kommt dabei die Rolle zu, die Bedeutung einer soliden
|| 1 Ich danke Andrea Schmieden aus Wiesloch für diese Information.
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wissenschaftlichen Basis für solche Forderungen zu betonen; er wird wie folgt zitiert: „Die DMV befürwortet nachdrücklich, dass diese Fakten zur Grundlage weiterer Forschung und nachhaltiger Handlungsstrategien gemacht werden.“ Skeptiker im Klimadiskurs verweisen ganz ähnlich auf die hohe Bedeutung der Naturwissenschaften, wie das folgende Zitat zeigt, das aus einem offenen Brief (Oberdörffer 2014) stammt, der auf einer Internetplattform veröffentlicht wurde, die als parteinah zur Alternative für Deutschland (AfD) gilt: „Die Frage des menschlichen Einflusses auf das Klima ist eine rein naturwissenschaftliche Frage, die mit naturwissenschaftlichen Methoden gelöst werden kann und muß.“ Ebenso werden die Grenzen von Klimamodellen und Klimavorhersagen in Äußerungen beider Gruppen hervorgehoben. Der Mathematiker Rupert Klein, Professor für numerische Strömungsmechanik an der Freien Universität Berlin erklärt in einem Beitrag (Klein 2013) in der Tageszeitung Die Welt beispielsweise: „Eine letzte Warnung: Klimavorhersagen im eigentlichen Sinne wird es niemals geben.“ Entsprechende Zitate finden sich auch bei den Skeptikern, die von einer prinzipiellen Unmöglichkeit von Klimaprognosen ausgehen, da die Aussagekraft von Modellrechnungen in ihren Augen nicht an wissenschaftliche Nachweise heranreichen. Beispielhaft sei hier nochmals der offene Brief (Oberdörffer 2014) zitiert, der auf einer AfD-nahen Internetplattform erschienen ist: „Statt Beweise vorzulegen, nehmen sie Zuflucht zu Modellrechnungen, mit denen sie die zukünftige Entwicklung des Klimas voraussagen wollen.“ Neben der inhaltlichen Nähe der Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern finden sich auch Ähnlichkeiten im Umgang mit Fachwörtern aus der Mathematik und Klimaforschung. Bei Formulierungen von Kritik und bei Bewertungen von Wissenschaftlern gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede. Dass die Gemeinsamkeiten in den Wortmeldungen der beiden Gruppen kein Zufall sind, soll im Folgenden anhand weiterer Quellen herausgearbeitet werden. Zum einen wird hierfür die Dokumentation einer Bundestagsdebatte verwendet, die aus Anlass eines Antrags der AfD-Fraktion geführt wurde, mit dem diese im Jahr 2018 den Stopp der durch die Bundesregierung initiierten Klimaschutzmaßnahmen erreichen wollte. Zum anderen werden Texte analysiert, die aus Internetauftritten von Zeitungsverlagen, parteinahen Plattformen, mathematischen Fachmedien und Universitäten stammen. Die Analyse führt zur zentralen These des Beitrags: Dass sich nämlich die Ähnlichkeit der Wortmeldungen von Mathematikern und Klimaskeptikern an zwei Eigenschaften der mathematischen Forschungsarbeit festmachen lässt, die sich die Klimaskeptiker zunutze machen können. Dies sind zum einen die Tatsache, dass Mathematiker abstrakte Modelle und deren Eigenschaften als Gegenstand ihrer Forschung wäh-
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len, und zum anderen ihr Anspruch, durch Kritik an bestehenden Modellen Forschungslücken aufzuzeigen und die Weiterentwicklung der Modelle anzugehen.
2 Mathematik und Klimaforschung Für die Einordnung der Wortmeldungen im Klimadiskurs lohnt ein Blick darauf, wie Mathematiker den Beitrag ihrer Wissenschaft zur Klimaforschung beschreiben. Als Grundlage dient hierfür ein Themendossier, das in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufenen Wissenschaftsjahr Mathematik 2008 veröffentlicht wurde (Redaktionsbüro Jahr der Mathematik 2008).2 Es ist eines von 14 Dossiers, die damals entstanden, um Journalisten und der Öffentlichkeit die Bedeutung der Mathematik in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft näher zu bringen. Dass ein eigenes Themendossier zur Wetter- und Klimaforschung erstellt wurde, begründen die Autoren mit der wichtigen Rolle, die Wettervorhersagen und Klimaprognosen für Unternehmen und Politik spielen, und der Tatsache, dass diesen Vorhersagen umfangreiche mathematische Modellrechnungen vorangehen (RJM 2008: 1). Grundlage der mathematischen Beiträge in der Klimaforschung sind Modelle, die verschiedene Ausschnitte der Natur beschreiben und von Forschern verschiedener Disziplinen entwickelt werden; das Dossier erwähnt unter anderem Meteorologen, Biologen, Agrarwissenschaftler sowie Meeres- und Polarforscher (RJM 2008: 2). Die heute verwendeten Klimamodelle bestehen dabei aus Einzelmodellen, die miteinander kombiniert werden, um Subsysteme wie Atmosphäre und Ozeane zusammenzuführen und ihre für die Beschreibung des Klimas relevanten Abhängigkeiten zu beschreiben. Die Mathematik wird in dieser interdisziplinären Arbeit als gemeinsame Sprache und Grundlagenwissenschaft bezeichnet; diese Eigenschaft ermögliche der Mathematik, zur Entwicklung präziserer Wetter- und Klimamodelle sowie verbesserten Rechenverfahren und damit auch zur Verbesserung der Klimasimulationen und -vorhersagen beizutragen (RJM 2008: 3). Diese zwei Forschungsaspekte – eine präzise Klimamodellierung und eine verbesserte Berechnung von Klimaprognosen – sind nicht unabhängig voneinander. Eine wesentliche Herausforderung für die Mathematiker besteht darin, mit den mathematischen Modellrechnungen beide Aspekte in eine gute Balance zu bringen:
|| 2 Im Folgenden wird das Themendossier mit der Sigle RJM zitiert.
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Um Wetter und Klima zu beschreiben, sind komplizierte und vielschichtige Systeme mit partiellen Differentialgleichungen nötig. Die Klimaforscher haben die Vorgänge in der Erdatmosphäre zwar im Prinzip verstanden, aber das dazugehörige mathematische Modell ist viel zu komplex und die Rechnungen sind noch zu aufwändig. Deshalb sind die Mathematiker noch immer auf der Suche nach einem vereinfachten Wetter- und Klimamodell. Gebraucht werden „abgespeckte“ Gleichungen, die noch immer die wesentlichen Eigenschaften der Erdatmosphäre beschreiben, aber leichter zu analysieren und zu berechnen sind. (RJM 2008: 4)
Die Balance zwischen der gewünschten Präzision der Klimamodelle und der notwendigen Vereinfachung für die Berechnung ist auch deshalb so wichtig, weil selbst heutige Hochleistungsrechner bestimmte Berechnungen nicht in einer angemessenen Zeit erledigen können. Aussagekräftige und für Prognosen geeignete Modelle zu finden sowie die dazu passenden, schnellen und präzisen Rechenverfahren zu entwickeln, ist dabei eine wesentliche mathematische Herausforderung. Die Hauptschwierigkeit liegt dabei in der Verschiedenheit der Größen bzw. Skalen der Wetter- und Klimaphänomene, die Klimaprognosen über längere Zeiträume weiterhin schwierig machen, aber gleichzeitig Ansatzpunkt für die mathematische Forschung sind: Möchte man derart unterschiedliche Wetterphänomene in einem mathematischen Modell kombinieren, braucht man für einige der Erscheinungen einfache „Ersatzmodelle“. Sonst wird das Gesamtmodell zu komplex. Dabei schleichen sich aber Ungenauigkeiten ein. Der Mathematiker Rupert Klein forscht unter anderem daran, möglichst gute Ersatzmodelle zu finden und den Fehler, den solche Modelle erzeugen, möglichst präzise abzuschätzen. Für eine schnelle und zuverlässige Wettervorhersage für mehrere Tage bleibt also noch viel zu tun – und für die Klimaprognose der kommenden Jahrzehnte ohnehin. (RJM 2008: 5)
Während im zitierten Themendossier die Forschungsarbeit der Mathematiker im Vordergrund steht, stellen Autoren anderer Darstellungen heraus, dass es auch prinzipielle Grenzen für die Vorhersagbarkeit von Wetter und Klima geben kann. Als Grund wird genannt, dass deren Beschreibung durch Gleichungssysteme erfolgt, die mathematisch gesehen chaotisches Verhalten aufweisen können. Was es damit auf sich hat, beschreibt der Mathematiker Pierre Basieux in einem populärwissenschaftlichen Buch mit dem Titel Abenteuer Mathematik. Brücken zwischen Wirklichkeit und Fiktion wie folgt: Heute hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass fast alle dynamischen Systeme Chaos zulassen. Bei ihnen genügt eine beliebig kleine Änderung der Ausgangsposition oder der beeinflussenden Faktoren, um zu einem grundsätzlich anderen Resultat zu kommen. Die Beschreibung unserer gewohnten Welt offenbart immer mehr Unberechenbares, Nichtlineares, Chaotisches und Unvorhersehbares. Ja selbst Deterministisches ist nicht immer vorhersagbar – und zwar prinzipiell nicht. […]
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Mathematisch gesehen sind alle Systeme höchst chaosverdächtig, die mehr als zwei „Freiheitsgrade“ (Bewegungsmöglichkeiten, Bestimmungsfaktoren) besitzen; dies trifft praktisch auf alle komplexen Naturprozesse zu: Wetter: Aerodynamische Turbulenzen und Klimaentwicklung sind genauso unberechenbar wie tropfende Wasserhähne. […] Wirtschaft und Gesellschaft: Die Entwicklung der Börsenkurse sowie das soziale Verhalten unter Berücksichtigung psychologischer, irrationaler Faktoren sind im Detail nicht vorhersagbar. […] (Basieux 2011: 161–162)
Die hier geäußerten Einsichten beziehen sich dabei auf die Eigenschaften der mathematischen Systeme, die vor allem zur Beschreibung von Naturphänomenen genutzt werden, und auf die Abhängigkeit der Rechenergebnisse von den Ausgangsdaten. Dieser und zwei weitere mathematische Gedanken, die in dieser kurzen Zusammenfassung zur Sprache gekommen sind, werden in der nun folgenden korpuslinguistischen Analyse aufgegriffen: 1) die prinzipielle Eigenschaft dynamischer Systeme, chaotisches Verhalten zu zeigen, was längerfristigen Klimaprognosen entgegenzustehen scheint, 2) der Anspruch, in der Klimaforschung komplexe Klimamodelle zu verwenden und weiterzuentwickeln, und 3) die darauf aufbauende Berechnung von Klimaprognosen mithilfe von Computern.
3 Korpus und Diskurs Um die Wortbeiträge von Mathematikern und Skeptikern im Klimadiskurs in einem größeren Rahmen analysieren und bewerten zu können, wurde ein Textkorpus zusammengestellt, das Medienberichte und das Protokoll einer Bundestagesdebatte zur Klimaschutzpolitik enthält. Das Korpus der Medienberichte wurde durch eine Suchanfrage mit den Stichwörtern „Klima“ und „Mathematik“ sowie „Klima“ und „Mathematiker“ bzw. „Mathematikerin“ bei Google Search zusammengestellt. Ziel war es, veröffentlichte Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern zu finden. Dieses Kriterium hat die Trefferliste der Suchmaschine stark verkürzt, da nur Belege ins Korpus aufgenommen werden sollten, in denen sich Mathematiker bzw. Skeptiker selbst an die Öffentlichkeit wenden oder in journalistischen Beiträgen in wörtlicher Rede zitiert werden. Die Ergebnisliste zeigt bereits, dass sich Mathematiker öffentlich nur selten bzw. sporadisch zu Wort melden. Unter den 15 Treffern, die die Kombination der oben genannten Suchbegriffe hervorgebracht haben, befinden sich acht Treffer, die auf journalistische Beiträge hinweisen, in denen auf Themen wie Klimawandel und Klimavorhersage eingegangen wird, aber in denen Mathematiker lediglich erwähnt werden. Beispiele hierfür sind Programmhinweise auf Filmdokumentationen im
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Fernsehen und Berichte von Demonstrationen für mehr Klimaschutz. Diese Beiträge sind nicht in das Korpus eingegangen. Die übrigen sieben Treffer stellen Beiträge dar, die von Mathematikern verfasst wurden (5 Belege) oder von Skeptikern stammen (2 Belege). Diese Beiträge bilden das Korpus für die folgende Analyse. Ergänzt werden sie durch einen Antrag und das Plenarprotokoll der dazugehörigen Bundestagesdebatte, die in einem der Medienberichte erwähnt wird und dadurch eine tiefere Beschreibung des im Korpus gefassten Diskursausschnitts erlaubt. Die neun Beiträge des Korpus können den Anspruch eines repräsentativen Ausschnitts des Klimadiskurses sicher nicht erfüllen. Die über eine kontextfreie, mit Stichwörtern durchgeführte Internetsuche und Zusammenstellung des Korpus birgt dennoch Erkenntniswert, wie ein Blick auf den Anlass der Veröffentlichungen und deren Erscheinungsdatum zeigt. Auch wenn die Medienbeiträge heute als Ergebnisse von Suchanfragen sichtbar und dadurch im Klimadiskurs durchaus präsent sind, liegt ihre Erstveröffentlichung zum Teil Jahre zurück; die Texte im Korpus sind über einen Zeitraum von elf Jahren (2008 bis 2019) erstmals erschienen. Die Beiträge der Mathematiker verteilen sich dabei bis auf eine Ausnahme auf die Jahre 2008 und 2013, was unmittelbar zeigt, dass sich Mathematiker offenbar nur zu bestimmten Anlässen öffentlich äußern bzw. dazu Gelegenheit erhalten. Sowohl das Jahr 2008 als auch das Jahr 2013 waren sogenannte Wissenschaftsjahre. Dies sind Jahre, in denen politische Institutionen und Fachgesellschaften mit Pressemitteilungen und Veranstaltungen die Leistungen bestimmter Wissenschaften herauszustellen versuchen. Das Jahr 2008 war das von der Bundesregierung ausgerufene und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung koordinierte Jahr der Mathematik,3 in dem auch das eingangs zitierte Themendossier Mathematik in Wetter- und Klimavorhersage erschienen ist, das auch zum Korpus gehört. Das Jahr 2013 war wiederum das internationale Jahr Mathematics of Planet Earth,4 das unter der Schirmherrschaft der UNESCO stand und von mathematischen Institutionen in mehreren Ländern koordiniert wurde, in Deutschland unter anderem von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Im Titel des internationalen Mathematikjahres klingt bereits das Thema Nachhaltigkeit an, weshalb es nicht verwundert, dass Mathematiker in diesem Jahr zu Klimaprognosen und Klimaschutz Stellung beziehen. Dies geschieht durch die Mathematikprofessoren Martin Grötschel in einem Beitrag mit dem Titel Warum die Mathematik eine grüne Wissenschaft ist (Grötschel 2013) und Rupert Klein mit einem Beitrag mit dem Titel Warum sich der Klimawandel nicht vorhersagen lässt
|| 3 Siehe http://www.wissenschaftsjahr.de/2008 (letzter Zugriff 11.06.2020). 4 Siehe http://www.mathofplanetearth.org (letzter Zugriff 11.06.2020).
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(Klein 2013) sowie durch den Journalisten Holger Dambeck in einem Beitrag unter dem Titel Die Krux wolkenloser Klimamodelle (Dambeck 2013), in dem unter anderem der Mathematikprofessor Günter Ziegler zitiert wird. Der fünfte Beitrag mit der Wortmeldung eines Mathematikers stammt aus dem Jahr 2019 und geht nicht auf die mathematischen Aspekte von Klimaprognosen ein, sondern bezieht unter dem Titel Es gibt gute Gründe für Tempo 130 auf Autobahnen – Klimaschutz gehört nicht dazu zur Klimaschutzpolitik Stellung (von Storch 2019). Die zwei Beiträge von Skeptikern stammen aus den Jahren 2014 und 2019 und sind auf der AfD-nahen Internetplattform Freiewelt.net erschienen. Der erste Beitrag befasst sich kritisch mit einem Artikel, der von einem Theologen in der Zeitung Junge Freiheit publiziert wurde, und führt mathematische und naturwissenschaftliche Argumente gegen die Äußerungen des Theologen ins Feld, der sich für Engagement zum Klimaschutz ausgesprochen hatte (Oberdörffer 2014). Der zweite Beitrag hat ebenfalls einen äußeren Anlass, in diesem Fall eine Episode, die bei einer Fridays for Future-Demonstration im März 2019 in Bautzen begann und eine Fortsetzung auf einem populärwissenschaftlichen Blog im Internet nahm; auf der Demonstration konfrontierte ein AfD-Bundestagsabgeordneter Jugendliche mit Fragen zum Klimawandel, die diese nicht beantworten konnten, was er in einem Video aufzeichnete und veröffentlichte, woraufhin der Klimaforscher Stefan Rahnsdorf die Fragen aus wissenschaftlicher Sicht in seinem Blog beantwortete, was wiederum den Widerspruch auf Freiewelt.net auslöste (Limburg 2019). Der Autor des Beitrags wiederum bezieht sich auf den Antrag der AfDBundestagsfraktion vom Juni 2018, der die Einstellung aller Klimaschutzmaßnahmen auf Bundesebene fordert, da diese angeblich unwirksam seien (Deutschen Bundestag 2019, Drucksache 19/2998). Da es sich bei diesem Antrag um ein offenbar zentrales Dokument von Politikern, die als Skeptiker im Klimadiskurs gelten, handelt, wurden der Antrag und die verschriftliche Form der dazugehörigen Bundestagsdebatte in das Korpus aufgenommen (Deutscher Bundestag 2018, Plenarprotokoll 29/42). Die Bedeutung des Dokuments spiegelt sich auch darin wider, dass dessen Inhalte fast wörtlich in einem weiteren Antrag im Bundestag 2019 wieder auftauchten (Deutscher Bundestag 2020, Drucksache 19/14069).
4 Analyse der Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern Zunächst sollen nun Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern auf der sprachlichen Ebene, danach auf der
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inhaltlichen Ebene behandelt werden. Auffällig ist, dass beide Gruppen kaum auf die Positionen der jeweils anderen eingehen; semantische Kämpfe (Felder 2006: 14), sprachliche Auseinandersetzungen um die Diskurshoheit, strittige Begriffe und agonale Zentren (Felder 2015: 96), die sich als Ausgangspunkt einer sprachwissenschaftlichen Analyse anbieten würden, finden sich im Korpus nicht.
4.1 Präzision bei mathematischen Fachwörtern und Zahlen Sowohl die Mathematiker als auch Skeptiker verwenden mathematische Fachbegriffe. Dies scheint allerdings nicht zu geschehen, um mathematische Theorien oder Berechnungen wissenschaftlich darzustellen. Die Autoren nutzen die Fachwörter, um ihre mathematische Kompetenz und wissenschaftliche Präzision zu signalisieren, oder gehen einfach davon aus, dass ihre Leser mit den entsprechenden Fachbegriffen vertraut sind. Beispiele sind die Verwendung der Substantive „Mehrskalenverfahren“ und „Mehrgitterverfahren“ (beide in RJM 2008) sowie „Differenzialgleichung“ (Dambek 2013; Klein 2013; Oberdörffer 2014) und „Chaos“ (als „chaotisch“ bei Oberdörffer 2013; „Chaos-Theorie“ in RJM 2008). Das Substantiv „Differenzialgleichung“ kommt beispielsweise in drei Texten vor, wobei keiner der Autoren eine Definition des Begriffs gibt, aber kennzeichnet, dass die hiermit bezeichneten mathematischen Objekte für die Klimamodellierung und -prognose relevant sind. In einem journalistischen Beitrag (Dambeck 2013) heißt es: „Die Modelle, mit denen Forscher die Klimazukunft simulieren, beruhen auf Differenzialgleichungen, die mit Hilfe von Supercomputern gelöst werden.“ Ganz ähnlich ist der Begriff Differenzialgleichung in einem Beitrag eines Skeptikers (Oberdörffer 2014) formuliert: „Dazu müssen sie das System Atmosphäre – Ozeane – Landflächen mit Hilfe eines Systems sehr vieler nichtlinearer gekoppelter partieller Differenzialgleichungen beschreiben, dessen Verhalten als chaotisch gilt.“ Das zweite Zitat enthält das Adjektiv „chaotisch“, das zunächst als in seiner Alltagsbedeutung verwendet erscheint, dann aber im darauffolgenden Satz als mathematisches Fachwort gekennzeichnet und in seiner Bedeutung erklärt wird; die Kennzeichnung des Fachworts geschieht in dem Beitrag (Oberdörffer 2014) durch das nachgestellte Präpositionalattribut „im mathematischen Sinne“: „Chaotisch im mathematischen Sinne bedeutet, daß die numerischen Lösungen bei kleinen Änderungen der Anfangs- und Randbedingungen sehr große Abweichungen ergeben können.“ Eine praktisch gleiche Definition findet sich im Themendossier des Jahres der Mathematik. Auffällig ist die Formulierung des Nebensatzes, die sich im folgenden Zitat fast wörtlich wiederfindet, von der Verwendung des Modalverbs „können“ über die Verwendung des Adjektivs „klein“ als Attribut zum Fachwort „Anfangsbedingung“ und des Adjektivs
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„groß“ als Attribut der Substantive „Abweichung“ bzw. „Verschiebung“, die hier nahezu gleichbedeutend sind, bis zur Verwendung der ähnlich bedeutenden Verben „ergeben“ und „führen“: Anfang der 1960er Jahre experimentierte Lorenz mit Computersimulationen einfacher Wettermodelle und fand dabei heraus, dass kleinste Änderungen in den Anfangsbedingungen zu großen Verschiebungen beim Wetterverlauf führen können. Lorenz legte damit eine wichtige Grundlage in der Chaos-Theorie. (RJM 2008: 4)
Eine Vermischung von fachsprachlicher und alltagssprachlicher Bedeutung, wie sich dies im eingangs zitierten populärwissenschaftlichen Buch durch die Verwendung des Adjektivs „chaosverdächtig“ zeigt, findet sich im Korpus nicht. In den Wortmeldungen der Mathematiker sind aber sehr wohl sprachliche Strategien der populärwissenschaftlichen Vermittlung zu finden, wie sie beispielsweise Niederhauser (1999) beschreibt; dazu gehört die Verwendung von Fachwörtern ohne Definition sowie deren Kennzeichnung als Fachwörter durch vorangestellte Adjektive wie „sogenannt“ und „komplex“, beispielsweise „das so genannte Mehrgitterverfahren“ (RJM 2008: 3). In den Wortmeldungen der Skeptiker finden sich solche sprachlichen Merkmale der Vermittlung nicht. Dagegen kommen Zahlen und Formeln nur bei ihnen und zwar in jedem der Texte vor. Auch hier ist der Wunsch nach Präzision und Wissenschaftlichkeit zu erkennen. Anders als die Mathematiker, die in ihren Wortmeldungen den Beitrag ihrer Wissenschaft zur Klimaforschung darstellen wollen und dazu textsortentypische Ausdrücke zur populärwissenschaftlichen Vermittlung verwenden, möchten die Skeptiker ihre Leser offenbar mit einer wissenschaftlichen Argumentation von bestimmten Sachverhalten überzeugen. Die Zahlenangaben referieren dabei unter anderem den CO2-Gehalt in der Atmosphäre, historisch ermittelte Temperaturerhöhungen oder angenommene Temperaturerhöhungen und werden in Argumenten gegen die These eines vom Menschen verursachten Klimawandels (Oberdörffer 2014) oder gegen die Behauptung einer Wirksamkeit nationaler Klimaschutzmaßnahmen verwendet (Limburg 2019 und AfD-Antrag in Deutscher Bundestag 2018, Drucksache 19/2998). Das folgende Zitat stammt aus dem Antrag der AfD-Fraktion und zeigt eine Berechnung des deutschen Beitrags zur globalen Klimaerwärmung. Wie in einem wissenschaftlichen Aufsatz wird zunächst eine Formel für den zu berechnenden Wert vorgestellt (allerdings ohne Quelle). Anschließend folgt die Ermittlung der einzelnen Größen in der Formel und schließlich die Berechnung. Die im Zitat verwendete Abkürzung „ECS“ steht hierbei für die Variable Equilibrium Climate Sensitivity, mit der die Temperaturerhöhung bei Verdopplung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre angegeben wird:
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Die daraus folgende Temperaturerhöhung kann nach folgender Formel errechnet werden: ΔT = ECS/ln(2)x ln(KCneu/KCalt) Dabei ist ΔT, die gesuchte Temperaturdifferenz in °C, ECS der ECS Wert in °C; KCneu die neue CO2 Konzentration und KCalt die alte CO2 Konzentration. Auf Deutschlands Emissionen bezogen ergibt sich deshalb folgendes. […] Deutschlands Anteil erhöht also die globale Menge jährlich um 0,453 Gt. Eingesetzt in die Formel ergibt sich mit KCneu=3.200,453 und KCalt = 3.200 eine Temperaturdifferenz ΔT von 0,000.653°C. […] 0,000.653°C sind ein Wert, den niemand messen kann, fühlen schon gar nicht und der in jedem denkbaren Fall keinerlei Auswirkungen auf das sog. Weltklima hätte. (Deutscher Bundestag 2018, Drucksache 19/2998: 4–5)
Durch die Einordnung im letzten Satz des Zitats ist deutlich zu erkennen, dass die Formeln und Zahlen nicht für die Darstellung oder Erklärung einer wissenschaftlichen Aussage, sondern als Argument für eine politische Forderung dient. Indem die vermeintliche, durch den CO2-Ausstoß in Deutschland verursachte Temperaturerhöhung in Zahlen gefasst wird und die so berechnete Temperaturerhöhung im globalen Maßstab naturgemäß klein ausfällt, entsteht beim Lesen der Eindruck, dass Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland wirkungslos sind. Die Präzision in der Verwendung von Fachwörtern und Zahlen dient den Skeptikern offenbar dazu, eine Wissenschaftlichkeit zu signalisieren und diese in einen Rahmen zu stellen, der es ihnen erlaubt, die Rechnungen als Argumente für die eigenen politischen Forderungen zu nutzen. Dieselbe Argumentation findet sich auch in einer weiteren Wortmeldung, allerdings ohne Verwendung von Formeln (Limburg 2019).
4.2 Differenzierung bei Klimabegriffen und Bewertungen Wie die Verwendung mathematischer Fachbegriffe ist auch der Umgang mit wesentlichen Begriffen der Klimamodellierung und -prognose bei Mathematikern und Skeptikern ähnlich, auch wenn sie verschiedenen Anlässen und Wünschen folgen. So setzt der Mathematiker Rupert Klein die Substantive „Klima“ und „Vorhersage“ in Anführungszeichen, um zu signalisieren, dass Mathematiker diese Begriffe nicht in ihrer Alltagsbedeutung verwenden, sondern dass diese Begriffe im wissenschaftlichen Kontext als abstrakte und von wissenschaftlichen Entscheidungen abhängige Abbilder von Naturphänomenen zu verstehen sind. Damit klingt auch die immanente Vagheit von Termini an, die in verschiedenen Wissenschaften mit jeweils anderer Bedeutung verwendet werden und deren Bedeutung in der interdisziplinären Arbeit stets neu ausgehandelt werden muss. Ein solches gemeinsames Verständnis besteht beim Klimabegriff für den Mathematiker Rupert Klein in der Einigung auf Gleichungen, die den Begriff für die Be-
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teiligten treffend beschreiben und eine sichere Berechnung möglicher Zukunftsszenarien erlauben: Als Mathematiker werde ich oftmals nach der „Vorhersagbarkeit“ des Klimas gefragt. Meine Antwort besteht dann immer aus mehreren Teilen: Wenn sich die Wissenschaft auf Gleichungssysteme geeinigt hat, die wirklich „das Klima“ beschreiben können, dann kann man auch mathematische Methoden auf diese Gleichungen ansetzen und prüfen, ob sie „wohl gestellt“ sind, also eindeutige und kontrolliert von den Eingabedaten abhängige Lösungen besitzen. (Klein 2013)
Die Skeptiker markieren Substantive wie „Klima“ bzw. „Weltklima“ und „Temperaturerhöhung“ ebenfalls und signalisieren damit die Abstraktheit und Abhängigkeit dieser Begriffe von zugrundeliegenden Modellierungen. Dies geschieht durch Anführungszeichen (Limburg 2019) sowie durch die Voranstellung der Adjektive „sogenannt“, „vermutet“, „hypothetisch“ und „imaginär“ (Deutscher Bundestag 2018, Drucksache 19/2998). Gerade die letztgenannten Adjektive legen nahe, dass die Skeptiker anders als die Mathematiker nicht nur die wissenschaftliche Bedeutung der Wörter verdeutlichen, sondern mit den als Attributen verwendeten Adjektiven auch die Arbeit der beteiligten Wissenschaftler bewerten möchten. Die genannten Adjektive werden jeweils gleich und austauschbar verwendet, wodurch sie in diesem Kontext sowohl neutral auf wissenschaftliche Vermutungen verweisen können (zum Beispiel durch das Adjektiv „vermutet“) als auch bewertend den Vorwurf einer politisch motivierten Erfindung anklingen lassen (etwa durch das Adjektiv „imaginär“). Dies kann beim Leser den Eindruck hinterlassen, dass die Modellbildung der kritisierten Wissenschaftler fehlerhaft bzw. irrelevant ist. Allein dadurch ist ein deutscher Beitrag nahezu wirkungslos, denn sein Einfluss auf ein wie auch immer geartetes sog. Weltklima existiert vielleicht theoretisch aber nicht praktisch. (Deutscher Bundestag 2018, Drucksache 19/2998: 3) Außerdem beeinflussen sie insgesamt ein nur imaginäres Weltklima so gut wie nicht. (Deutscher Bundestag 2018, Drucksache 19/2998: 1)
Durch die Verwendung des Adjektivs „imaginär“ erfolgt die Abwertung der Wissenschaftler insbesondere dadurch, dass der politische Gegner als irrational bezeichnet wird und sich damit der Autor der Wortmeldung als der eigentlich Rationale inszeniert. Auch die Personenbezeichnungen, mit denen die Skeptiker die Wissenschaftler belegen, sind abwertend; hier werden unter anderem die Substantive „Klimaideologe“ (Deutscher Bundestag 2018, Plenarprotokoll 29/42: 4133), „Zuarbeiter“ (Limburg 2019) und „Betrüger“ verwendet:
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Es liegt natürlich ganz im Interesse dieser Betrüger, daß die angeblich drohende Klimakatastrophe als ethisch-spirituelle Frage diskutiert wird und nicht als naturwissenschaftliches Problem von unabhängigen Wissenschaftlern erforscht wird. (Oberdörffer 2014)
In den Wortmeldungen der Mathematiker finden sich solche abwertenden Personenbezeichnungen nicht. Anders als bei den Skeptikern finden sich in ihren Beiträgen allerdings Hochwertworte, mit denen die Mathematiker den wichtigen Beitrag ihrer Disziplin in der Klimaforschung unterstreichen möchten. Dies geschieht durch positiv belegte Adjektive als Attribute von Substantiven, die Methoden der Mathematik oder deren Anwendbarkeit auf lebensweltliche Herausforderungen benennen. So wird von „mächtigen Werkzeugen“ (Dambeck 2013), die Mathematikern zur Verfügung stehen, gesprochen und die „universelle Einsetzbarkeit“ (Grötschel 2013) der Mathematik betont; sie wird zudem als „präziseste Sprache, die wir haben“ (RJM 2008: 3) und „wahre ‚grüne‘ Technologie“ (Grötschel 2013) bezeichnet: Mathematik lässt sich anwendungsübergreifend nutzen. Methoden zur Optimierung von Telekommunikationsnetzen können zum Beispiel auch bei der Optimierung von Strom-, Gas- oder Verkehrsnetzen verwendet werden. Diese universelle Einsetzbarkeit macht die Mathematik zur wahren „grünen Technologie“. Sie kann dazu beitragen, dass unser Planet lebenswert bleibt. (Grötschel 2013)
Auch wenn der mathematische Beitrag zur Klimaforschung an anderer Stelle der hier zitierten Wortmeldung sehr wohl erwähnt wird, bezieht sich der Autor hier nicht in erster Linie auf den Klimadiskurs. Ihm geht es vorrangig um den Hinweis, dass mathematische Strukturen eine Universalität besitzen, die sie für praktisch alle naturwissenschaftlich-technischen Bereiche relevant und nützlich macht. Dank ihrer Abstraktheit lassen sich die mathematischen Modelle von einem Anwendungsgebiet auf andere Problemstellungen übertragen. Diese Anwendbarkeit und Übertragbarkeit sind die Basis für eine besondere Rolle, die die Mathematik bei strittigen Fragen in Politik und Wirtschaft einnehmen kann; mathematische Strukturen ermöglichen es, so der Autor, einen Konsens bei der Beschreibung von Phänomenen in Natur und Technik zu erreichen und Handlungsoptionen für die Politik aufzuzeigen.
4.3 Berufung auf die Wissenschaft und Kritik an Klimamodellen Die Beobachtungen auf der Ausdrucksseite setzen sich auf der Inhaltsseite fort, wie ein Blick auf die Aussagen der Mathematiker und Skeptiker zur Rolle der
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Wissenschaft und auf deren Bewertung von Klimamodellen und deren Unsicherheit zeigt. Interessanterweise berufen sich beide Gruppen gleichermaßen auf die Wissenschaft als Wissensressource und sehen deren Rolle darin, eine verlässliche Grundlage für politische Entscheidungen bereitzustellen. Beispielhaft für die Wertschätzung der Naturwissenschaft sei hier die weiter oben zitierte Äußerung eines Skeptikers erwähnt, der die Frage nach dem menschlichen Einfluss auf das Klima als eine „rein naturwissenschaftliche Frage“ sieht, die „mit naturwissenschaftlichen Methoden“ gelöst werden könne und müsse (Oberdörffer 2014). Die hohe Bedeutung, die den Naturwissenschaften beigemessen wird, zeigt sich auch im Antrag der AfD-Bundestagsfraktion, in dem eine „faktenbasierte Klima- und Energiepolitik“ (Deutscher Bundestag 2018, Drucksache 19/2998: 1) gefordert wird, sowie in der Begründung des Antrags, bei der auf naturwissenschaftliche Sachverhalte hingewiesen und eine Berechnung zur Stützung der Behauptung, dass nationale Klimaschutzprogramme ohne Effekt seien, gegeben wird. Der Verweis auf eine hohe Bedeutung der Naturwissenschaften ist allerdings nicht frei von Meinungen und eigenen Interessen, da mit dem Antrag naturgemäß eine politische Forderung verbunden ist. Wie oben ausgeführt wird in der Antragsbegründung eine Berechnung gezielt als Argument für den Antrag verwendet. Bereits im Antragstitel ist eine politische Haltung zu erkennen; mit der Forderung einer faktenbasierten Klimapolitik wird angedeutet, dass die bisherige Klimapolitik aus Sicht der Autoren des Antrags nicht faktenbasiert sei. Interessant ist nun, dass die von den Skeptikern explizit formulierte Wertschätzung gegenüber den Naturwissenschaften mit einer Kritik an Klimaforschern und ihren Methoden einhergeht, insbesondere der Arbeit mit Modellen des Klimas. So fordert Limburg von der Wissenschaft „realistische Grundlagen“ für eine „realistische Politik“ (Limburg 2019), und Oberdörffer bezweifelt, dass die Behauptungen der Klimaforscher zum menschengemachten Klimawandel naturwissenschaftlich bewiesen wurden, da die Klimaprognosen allein auf Modellrechnungen beruhen (Oberdörffer 2014). In gleicher Weise nimmt der AfDBundestagsabgeordnete Karsten Hilse in der Plenardebatte zum Antrag seiner Fraktion Stellung: Wir alle müssen aber feststellen, dass es trotz milliardenschwerer Forschungen in den 30 Jahren nicht ein einziges Mal gelungen ist – nicht ein einziges Mal! –, die Annahme zu beweisen, dass der Mensch mit seinen CO2-Emissionen die Welttemperatur nennenswert oder auch nur messbar beeinflusst. Und auch wenn es einige nervt, wiederhole ich mich hier gern: Die einzigen Beweise stammen aus Klimacomputermodellen. (Deutscher Bundestag 2018, Plenarprotokoll 29/42: 4133)
Die Unsicherheit der Klimaprognosen wird hier offensichtlich nicht mehr als wesensgemäße Eigenschaft einer naturwissenschaftlichen Arbeit verstanden, die
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auf Modellen und Berechnungen fußt, sondern als Hinweis auf ein unwissenschaftliches Arbeiten der Klimaforscher gewertet. Im Zitat oben werden das Verb „beweisen“ und das Substantiv „Beweis“ offenbar im mathematischen Sinne verwendet, wo sie auf die Bestätigung einer Behauptung durch eine logische Kette zwingender und aufeinander aufbauender Argumente verweist. Diese strikte Beweislogik ist bei Klimaprognosen nicht zu erwarten; das Fehlen einer solchen logischen Schlussfolgerung bei Klimaprognosen wird den Klimaforschern dennoch vorgeworfen. Offenbar nutzen die Skeptiker die Unsicherheit, die Klimamodelle mit sich bringen, um die Äußerungen von Naturwissenschaftlern insgesamt, zumindest solchen mit abweichenden Meinungen und Ergebnissen, in Zweifel zu ziehen und ihnen eine fehlende Unabhängigkeit zu Regierungen und Klimaschützern sowie Opportunismus zu unterstellen: Es waren 30 Jahre, in denen das IPCC der Wissenschaft nicht nur vorschrieb, woran sie zu forschen hätte, sondern auch, welches Ergebnis man erwarte, nämlich wissenschaftlich zu belegen, dass der Klimawandel gefährlich, weil riskant sei, und vor allem, dass er von Menschen gemacht werde. Genau so steht es im Mandat des IPCC. Und was tun einige Wissenschaftler, wenn es um Milliarden und Abermilliarden für ihre Forschung geht, was unter Klimawissenschaftlern gehäuft vorkommt? Sie forschen nach der Devise: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. (Deutscher Bundestag 2018, Plenarprotokoll 29/42: 4133)
Solche Vorwürfe gegen die Klimaforscher sind in den Wortmeldungen der Mathematiker nicht zu finden. Das ist auch nicht verwunderlich, da die Texte der Mathematiker Selbstauskünfte sind. Sie zeigen das Bild, das Mathematiker von ihrer Wissenschaft und der eigenen Arbeitsweise haben. Insbesondere ist ein von den Skeptikern abweichender Umgang mit der Unsicherheit von Klimaprognosen zu erkennen, der nun im Kontext der Verantwortung, die sich Mathematiker im Klimadiskurs zuschreiben, behandelt wird.
4.4 Verantwortung der Mathematiker in der Unsicherheit des Wissens Wie bereits herausgearbeitet wurde, verstehen Mathematiker ihre Wissenschaft als eine Sprache, die allen Naturwissenschaften gemeinsam ist und somit die Grundlage der Wetter- und Klimamodelle darstellt (RJM 2008: 3). Dadurch können sie bei der Modellbildung zwischen verschiedenen Vorstellungen vermitteln und zur Versachlichung von Debatten beitragen (Grötschel 2013). Dass Klimaprognosen unsicher sind, wird nicht als Zeichen einer schlechten Wissenschaft, sondern als eine wesensgemäße Eigenschaft der Modellbildung gesehen, die nie alle relevanten Aspekte abdecken kann:
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Klimavorhersagen im eigentlichen Sinne wird es niemals geben. Wir können immer nur „wenn-dann“-Aussagen erwarten, denn vieles hängt ja von politischen Weichenstellungen und ökonomischen Entscheidungen ab, und die werden wir nicht vorhersagen können. (Klein 2013)
Diese prinzipielle Unsicherheit der Klimaprognosen ist für die Mathematiker allerdings kein Anlass für eine Kritik an den Klimaforschern, sondern wird als Motivation für das eigene Handeln als Forscher gesehen. So möchten Mathematiker helfen, Klimamodelle zu prüfen und zu verbessern sowie die Unsicherheiten von Simulationen möglichst präzise abzuschätzen (RJM 2008: 5) und zu verringern (Dambeck 2013). Zu jeder der im Themendossier zum Jahr der Mathematik vorgestellten Theorien werden Weiterentwicklungen erwähnt, an denen Mathematiker arbeiten. Im Korpus ist zu erkennen, dass Mathematiker diese Weiterentwicklung als Engagement im Klimadiskurs verstehen. Engagement in Form politischer Forderungen werden in den Wortmeldungen der Mathematiker nicht erwähnt. Sie scheinen ein Engagement ausschließlich auf die eigene Forschungsarbeit zu beziehen. So erwähnt Dambeck (2013) zunächst die Präsidentin der europäischen mathematischen Gesellschaft, die das Engagement der Mathematik in Natur und Gesellschaft betont, um dann den Mathematikprofessor Günter Ziegler wie folgt zu zitieren: „‚In der Diskussion über den Klimawandel kommen Mathematiker kaum vor, obwohl sie eine Menge über die Stärken und Schwächen von Klimamodellen sagen können‘, beklagt Ziegler.“ Diese Orientierung an einer interessenfreien Bemühung um Wahrheit und Fortschritt, an der Lösung lebensweltlicher Probleme und die Kritikbereitschaft gegenüber bisherigem Wissen passt sich ein in das Selbstbild, das auch andere Wissenschaftler in der Klimaforschung zeigen, wie Janich und Stumpf in einer Studie zu Unsicherheit und Klimaforschung herausgearbeitet haben (Janich/ Stumpf 2018: 201). Auch dass die Klimaforscher ihre persönliche Verantwortung in der eigenen Wissenschaft und einer interdisziplinären Zusammenarbeit sehen und dies von einem politischen Handeln trennen (Janich/Stumpf 2018: 202), lässt sich für die Mathematiker im Korpus erkennen. So äußern die Mathematiker in ihren Wortmeldungen, dass die Modelle des Klimas im Zuständigkeitsbereich der Mathematik stehen, nicht aber die Klimavorhersagen. Sie liegen, sofern es noch keinen Konsens über die Modellbildung, beispielsweise zur Entwicklung entsprechender Gleichungssysteme, gibt, außerhalb des Verantwortungsbereichs der Mathematiker: Insofern es Gleichungen sind, die zeitliche Entwicklungen beschreiben, wird man dann auch sagen können, ob mit ihnen Vorhersagen über lange Zeiträume robust möglich sein werden. Bis dahin haben Aussagen zur Vorhersagbarkeit des Klimas sozusagen „außermathematischen“ Charakter. (Klein 2013)
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4.5 Optimismus, Skeptizismus und Populismus Blickt man nun in einer starken Vereinfachung auf die Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern, so lassen sich beide Gruppen als Optimisten im Klimadiskurs bezeichnen. Anders als Umweltverbände und Demonstranten, die vor schwerwiegenden Folgen eines menschengemachten Klimawandels warnen und die Öffentlichkeit aufrütteln möchten, richten sich Mathematiker und Skeptiker mit positiven bzw. entlastenden Erzählungen zum Klimawandel an die Öffentlichkeit und gehören damit nicht einem Alarmismus, eher einem Optimismus im Klimadiskurs an (vgl. Ereaut/Segni 2006: 13). Die Mathematiker sind Optimisten in Bezug auf wissenschaftliche Weiterentwicklung in ihrem Fach, weil sie in ihren Wortmeldungen die Verbesserung bisheriger Klimamodelle in Aussicht stellen und den Wert ihrer Wissenschaft für die Herstellung eines Konsenses in der ideologiebelasteten Klimapolitikdebatte herausstellen. Sie vermitteln in ihrer Rolle als Mathematiker eine optimistisch-technokratische Erzählung über den kontinuierlichen Ausbau eines gesicherten Wissens, das den politischen Entscheidern helfen kann. Die Skeptiker können ebenfalls dem Optimismus zugerechnet werden, wenn auch aus anderen Gründen. Sie bieten eine zweifache Entlastungserzählung an. Da sie den menschengemachten Klimawandel verneinen sowie die Relevanz und Realität von Klimaprognosen bezweifeln, geben sie Entwarnung an alle, die sich Sorgen machen, dass sich die Lebensbedingungen durch ein umweltschädliches Handeln der Menschen verschlechtern. Indem sie zudem die Wirksamkeit von Klimaschutzmaßnahmen bezweifeln, ist ihre politische Forderung, diese Maßnahmen zu stoppen, eine Entlastung von Kosten, die die Gemeinschaft trägt, sowie von Zumutungen wie dem Zwang zu individuellen Verhaltensänderungen im Rahmen von Klimaschutzmaßnahmen. Ein schlechtes Gewissen bei vermeintlich klimaschädlichen Verhaltensweisen – vom Autofahren bis zu Fernreisen – erscheint aus dieser Perspektive gar nicht nötig. Eine solche Entlastungserzählung ist freilich nur durch das Misstrauen möglich, das die Skeptiker gegenüber Wissenschaftlern äußern, die bei der Frage, ob der Klimawandel menschengemacht ist und wie wirksam Klimaschutzmaßnahmen sind, mehrheitlich zu anderen Ergebnissen kommen. Genau dieser rhetorische Skeptizismus (Ereaut/Segnit 2006) ist auch im Korpus dieser Untersuchung deutlich zu erkennen. Der rhetorische Skeptizismus weist Muster eines Populismus auf (vgl. Felder 2017): So ist in den Wortmeldungen der Skeptiker Misstrauen gegenüber Eliten in Wissenschaft und Politik zu erkennen, beispielsweise der Vorwurf des unwissenschaftlichen Arbeitens und Opportunismus an die Klimaforscher. Indem eine faktenbasierte Klimapolitik gefordert wird, suggerieren die Skeptiker, dass die bisherige Klimapolitik nicht auf Fakten basiert. Zwar berufen sich die Skeptiker auf
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die Wissenschaft und geben durch die Verwendung von Fachwörtern, Zahlen und Formeln den Eindruck einer wissenschaftlichen Präzision ihrer Argumente, doch das in ihren Wortmeldungen erkennbare Wissenschaftsverständnis ist vereinfacht und wird offenbar instrumentalisiert. Selbst dort, wo Modellierungen und Simulationen in der wissenschaftlichen Arbeit unabdingbar sind, werden sie als fiktiv und hypothetisch aufgefasst und ihre innewohnende Unsicherheit als Anlass für eine pauschale Kritik gegenüber Forschern verwendet. Indem sie in der Debatte zur Klimapolitik nationale Interessen als Rahmen setzen, können sie die Wirksamkeit von deutschen Klimaschutzmaßnahmen im globalen Maßstab als gering bewerten, aber die Kosten der Maßnahmen für die deutsche Volkswirtschaft als hoch und damit als Wettbewerbsnachteil einstufen. Es verwundert nicht, dass die AfD das Thema Klima neben Zuwanderung und europäischer Währung als geeignetes Wahlkampfthema sieht (Kamann 2019). Wenn sich die Wortmeldungen der Skeptiker einem rhetorischen Skeptizismus zuordnen lassen, dann gehören die Wortmeldungen der Mathematiker einem wissenschaftlichen Skeptizismus an. Ihr Skeptizismus zeigt sich in einer dem Selbstbild vieler Wissenschaftler innewohnenden eristischen Grundhaltung (Janich/Stumpf 2019: 188). In ihrem Fall richtet sie sich an die verwendeten Klimamodelle, die als verbesserungswürdig wahrgenommen werden. Mit ihrem Skeptizismus reflektieren die Mathematiker die Aussagekraft der verwendeten Klimamodelle und nehmen so offenbar eine Verantwortung in der Forschung wahr, die für den Klimadiskurs als notwendig erachtet wird: Auf der Ebene der Forschungspraxis kann Verantwortung konkret auch dadurch wahrgenommen werden, dass die verwendeten Klimamodelle stärker als bisher in ihren Möglichkeiten und Grenzen reflektiert werden. (Janich/Stumpf 2019: 202)
Dass es sich dabei um eine große Verantwortung handelt, gibt Oschlies zu bedenken, der sich mit den Grenzen der Modellbildung in der Klimaforschung und im Klimadiskurs beschäftigt hat. Die Aufgabe bestehe nämlich nicht nur darin, in der Forschungsarbeit die Unsicherheiten zu verstehen und einzugrenzen, sondern diese auch für die Öffentlichkeit verständlich darzustellen: Eine wesentliche Herausforderung an die Klimaforschung sehe ich darin, diese Unsicherheiten besser zu beschreiben, abzuschätzen und für die Allgemeinheit zugänglich darzustellen. (Oschlies 2019: 28)
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5 Zusammenfassung und Ausblick Das zugrunde liegende Korpus enthält lediglich neun Texte, wodurch es in seiner Aussagekraft nicht zu hoch bewertet werden sollte. Dennoch lassen sich auf seiner Basis folgende Ergebnisse ableiten: Die Ähnlichkeiten der Wortmeldungen von Mathematikern und Skeptikern im Klimadiskurs haben ihren Grund in der gemeinsamen Wertschätzung der Wissenschaft als Grundlage für politische Entscheidungen, aber auch in einer Kritik an Klimamodellen und Klimaprognosen. Diese Kritik speist sich bei beiden Gruppen aus einem Skeptizismus gegenüber dem Wissen und den Methoden der Klimaforschung, der aber jeweils völlig anders gelagert ist. Die Skeptiker im Klimadiskurs sind einem rhetorischen Skeptizismus zuzurechnen, der die Unsicherheit von Klimamodellen und Klimaprognosen als Anlass nimmt, Misstrauen gegenüber Eliten wie Wissenschaftler und Politiker zu äußern, wobei die geäußerte Kritik mit einer politischen Auffassung und politischen Zielen verbunden ist. Die Mathematiker zeigen dagegen einen wissenschaftlichen Skeptizismus, der die Verbesserungswürdigkeit bisheriger Klimamodelle und Klimaprognosen als eine gegebene, in der naturwissenschaftlichen Methode begründete Eigenschaft der Modelle sieht. Diese Verbesserungswürdigkeit ist Anlass für eine Forschungsarbeit, mit der die Mathematiker aus ihrer Sicht und gemeinsam mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen ein Engagement zeigen, das unabhängig von politischen Forderungen und Entscheidungen in einer verantwortungsbewussten Klimaforschung liegt. Die Unsicherheit der Klimamodelle und Klimaprognosen stellt damit nicht nur ein aktives mathematisches Forschungsfeld dar, sondern ist auch ein produktiver Schnittpunkt im Klimadiskurs, an dem sowohl die Wortmeldungen der Mathematiker als auch die der Skeptiker im Klimadiskurs ihren Ausgangspunkt haben. Die Reflektion der Möglichkeiten und Grenzen der Klimamodelle und Klimaprognosen wird als wünschenswerter Beitrag im Klimadiskurs, aber auch als Herausforderung gesehen. Da Mathematiker die Modellbildung sowie die Kritik und Weiterentwicklung von Modellen als ihren Forschungsgegenstand ansehen, können sie zum einen mit ihrer Forschung Verantwortung für den Klimadiskurs wahrnehmen, sich zum anderen aber auch gut in den Klimadiskurs einbringen. Die ihrer Arbeit innewohnende wissenschaftliche Skepsis führt dazu, dass sie die Unsicherheit von Klima-modellen in ihren Wortmeldungen zum Thema machen, was als Beitrag zur Bewusstmachung dieser Unsicherheit zunächst wünschenswert ist. Gleichzeitig aber ist es genau diese Eigenschaft ihres Forschungsinteresses und Selbstverständnisses, die sie, zumindest in ihren öf-
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fentlichen Wortmeldungen, formal in die Nähe populistischer Wortmeldungen eines rhetorischen Skeptizismus rücken. Die Herausforderung im Klimadiskurs ist daher nicht nur, die Grenzen von Klimamodellen und Klimaprognosen zu beschreiben und einer Öffentlichkeit näher zu bringen, sondern dabei auch einen Balanceakt zu meistern, der es erlaubt, eine differenzierte Kritik an Klimamodellen und -prognosen zu äußern, ohne dabei Zweifel an Expertise und Wissen der beteiligten Wissenschaftler zu säen, wie dies die Skeptiker im Klimadiskurs tun. Diese Balance zu finden erscheint auch deshalb so schwierig, weil Skeptiker in ihrem rhetorischen Skeptizismus offenbar genau solche Aspekte einer mathematischen Kritik an Klimamodellen bewusst herausgreifen, die es ihnen erlauben, diese Modelle als unzuverlässig zu bezeichnen und dies im Kontext politischer Forderungen als Argumente zu verwenden. Vor diesem Hintergrund erscheint die innewohnende wissenschaftliche Skepsis der Mathematiker als Chance, aber auch als Risiko für die Wissenschaftskommunikation zur Klimaforschung.
Literaturverzeichnis Basieux, Pierre (2011): Abenteuer Mathematik. Brücken zwischen Wirklichkeit und Fiktion. 5. üb. Aufl. Heidelberg: Spektrum. Dachverband der Geowissenschaften; Deutsche Mathematiker-Vereinigung; Gesellschaft Deutscher Chemiker; Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (2020): Naturwissenschaftliche Fachgesellschaften zum Klimawandel: „Hört auf die Wissenschaft!“. Die naturwissenschaftlich-mathematischen Fachgesellschaften fordern Politik zum Handeln auf. Gemeinsame Pressemitteilung, 13.01.2020. https://www.mathematik.de/images/Presse/Presseinformationen/200113_Klima-PI.pdf (letzter Zugriff 11.06.2020). Deutscher Bundestag (2019): Drucksache 19/14069. Echten Umweltschutz betreiben – Aufgabe aller Klimaschutz- und Energiewendeziele, für eine faktenbasierte Klima- und Energiepolitik. Antrag der Abgeordneten Karsten Hilse, Dr. Heiko Wildberg, Dr. Rainer Kraft, Udo Theodor Hemmelgarn, Marc Bernhard, Peter Boehringer, Jürgen Braun, Marcus Bühl, Petr Bystron, Joana Cotar, Thomas Ehrhorn, Dr. Michael Espendiller, Peter Felser, Franziska Gminder, Mariana Iris Harder-Kühnel, Verena Hartmann, Dr. Roland Hartwig, Lars Herrmann, Martin Hess, Dr. Heiko Heßenkemper, Martin Hohmann, Leif-Erik Holm, Johannes Huber, Jens Kestner, Stefan Keuter, Enrico Komning, Jörn König, Steffen Kotré, Frank Magnitz, Jens Maier, Andreas Mrosek, Christoph Neumann, Ulrich Oehme, Frank Pasemann, Tobias Matthias Peterka, Dr. Robby Schlund, Uwe Schulz, Detlev Spangenberg, Dr. Dirk Spaniel, Dr. Harald Weyel, Dr. Christian Wirth und der Fraktion der AfD, 16.10.2019 https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/140/1914069.pdf (letzter Zugriff 11.06.2020).
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Ereaut, Gill; Segnit, Nat (2006): Warm Words. How are we telling the climate story and can we tell it better? Institute for Public Policy Research (IPPR), 03.08.2006. https://www.ippr. org/files/images/media/files/publication/2011/05/warm_words_1529.pdf (letzter Zugriff 11.06.2020). Felder, Ekkehard (2006): Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York: De Gruyter, 13–46. Felder, Ekkehard (2015): Lexik und Grammatik der Agonalität in der linguistischen Diskursanalyse. In: Kämper, Heidrun; Warnke, Ingo (Hrsg.): Diskurs – interdisziplinär. Zugänge, Gegenstände, Perspektiven. Berlin/Boston: De Gruyter, 87–121. Felder, Ekkehard (2017): Anmaßung in der politischen Sprache – nicht nur ein Merkmal sogenannter Populisten. In: IDS Sprachreport 2017 (2), 44–49. Janich, Nina; Stumpf, Christiane (2018): Verantwortung unter der Bedingung von Unsicherheit – und was KlimawissenschaftlerInnen darunter verstehen. In: Janich, Nina; Rhein, Lisa (Hrsg.): Unsicherheit als Herausforderung für die Wissenschaft. Reflexionen aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Berlin u.a.: Lang, 179–206. Kamann, Alexander (2019): Die AfD und die „sogenannte Klimaschutzpolitik“. In: Die Welt, 28.09.2019. https://www.welt.de/politik/deutschland/article201093000/CO2-Emissionen-Die-AfD-und-die-sogenannte-Klimaschutzpolitik.html (letzter Zugriff 11.06.2020). Niederhauser, Jürg (1999): Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung. Tübingen: Narr. Oschlies, Andreas (2018): Bewertung von Modellqualität und Unsicherheiten in der Klimamodellierung. In: Janich, Nina; Rhein, Lisa (Hrsg.): Unsicherheit als Herausforderung für die Wissenschaft. Reflexionen aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Berlin u.a.: Lang, 15–30.
Primärquellen (Korpus) Dambeck, Holger (2013): Die Krux wolkenloser Klimamodelle. In: Spiegel Online, 06.03.2013. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mathematik-kongress-in-paris-die-kruxwolkenloser-klimamodelle-a-887041.html (letzter Zugriff 11.06.2020). Deutscher Bundestag (2018): Drucksache 19/2998. Aufgabe der Energie- und Klimaschutz-Zwischenziele 2030 des Energiekonzeptes 2010 – Für eine faktenbasierte Klima- und Energiepolitik. Antrag der Abgeordneten Karsten Hilse, Dr. Heiko Wildberg, Dr. Rainer Kraft, Udo Theodor Hemmelgarn, Marc Bernhard und der Fraktion der AfD, 27.06.2018. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/029/1902998.pdf (letzter Zugriff 11.06.2020). Deutscher Bundestag (2018): Plenarprotokoll 29/42. Stenografischer Bericht. 42. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28.06.2018. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19042.pdf. (letzter Zugriff 11.06.2020). Grötschel, Martin (2013): Warum die Mathematik eine grüne Wissenschaft ist. In: Die Welt, 18.12.2013. https://www.welt.de/wissenschaft/article123084550/Warum-die-Mathematik-eine-gruene-Wissenschaft-ist.html (letzter Zugriff 11.06.2020).
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Klein, Rupert (2013): Warum sich der Klimawandel nicht vorhersagen lässt. In: Die Welt, 23.05.2013. https://www.welt.de/wissenschaft/article116445500/Warum-sich-der-Klimawandel-nicht-vorhersagen-laesst.html (letzter Zugriff 11.06.2020). Limburg, Michael (2019): Wie viele Engel passen auf eine Nadelspitze. In: Freie Welt, 25.03.2019. https://www.freiewelt.net/blog/wie-viele-engel-passen-auf-eine-nadelspitze-10077407/ (letzter Zugriff 11.06.2020). Oberdörffer, Elmar (2014): Offener Brief an Professor Rosenberg. In: Freie Welt, 02.10.2014. https://www.freiewelt.net/blog/offener-brief-an-professor-rosenberg-10043691/ (letzter Zugriff 11.06.2020). Redaktionsbüro Jahr der Mathematik (2008): Mathematik in Wetter- und Klimavorhersage. Themendossier. [abgekürzt als RJM] https://www.wissenschaftsjahr.de/2008/coremedia/generator/wj2008/de/b__Downloads/06__Presse/Dossier__Klima.pdf (letzter Zugriff 11.06.2020). Storch, Hans von (2019): „Es gibt gute Gründe für Tempo 130 auf Autobahnen – Klimaschutz gehört nicht dazu“. In: Stern.de, 28.01.2019. https://www.stern.de/panorama/wissen/natur/hans-von-storch---klimawandel-ernst-nehmen---dummen-aussagen-aktiv-entgegentreten--8550822.html (letzter Zugriff 11.06.2020).
Sandra Reimann
Werbung mit Nachhaltigkeit Strategien der Unternehmenskommunikation aktuell Zusammenfassung: Der Nachhaltigkeitsbericht ist heute ein wichtiger Bestandteil der Unternehmenskommunikation und im Marketing-Mix – je nach Größe des Unternehmens besteht Berichtspflicht oder nicht – und enthält nicht nur die gesellschaftlich-politisch eingeforderten Informationen. Es stellt sich aber sogar die Frage, ob der Nachhaltigkeitsbericht auch Strategien der klassischen (Image-) Werbung beinhaltet und so gezielt von Unternehmen als werbende Plattform genutzt wird. An Beispielen ausgewählter Nachhaltigkeitsberichte verschiedener Marken werden in diesem Beitrag bekannte Werbestrategien gesucht und kontextuell analysiert. Wie zeigt sich also neben der erwarteten Informations- auch eine Appellfunktion im Nachhaltigkeitsbericht? Darüber hinaus geht es ebenso um eine Suche nach möglicherweise neuen bzw. textsortenspezifischen Werbeargumenten, wie beispielsweise die durchaus werbend zu verstehende Sprechhandlung VERSPRECHEN, die im Zusammenhang mit der Thematisierung von Unternehmenszielen gängig ist. Übergeordnet dürfte damit seitens der Firmen das Image einer nachhaltigen Unternehmensidentität angestrebt werden. Schlüsselwörter: Nachhaltigkeitsbericht, Werbestrategien, Aufwertung, Appell, Emotionalisierung
1 Hinführung: Der Nachhaltigkeitsbericht und die Werbung Nachhaltigkeitsberichte gehen auf die von Unternehmen und anderen öffentlichen Institutionen veröffentlichten Umweltberichte zurück, enthalten Leistungen im Bereich Ökologie, Ökonomie und Soziales und dienen ursprünglich der Rechenschaftslegung der Unternehmen. Zunächst waren sie freiwillig, seit dem Jahr 2017 sind sie für börsennotierte Unternehmen Pflicht (Schwegler 2018: 21– 30). Zunächst gab es die Berichte als Druckfassung oder PDF-Version. Mittlerwei-
|| Sandra Reimann, University of Oulu, Research Unit for Languages and Literature, P.O. Box 8000, 90014 University of Oulu, Finland, sandra.reimann[at]oulu.fi, sandra.reimann[at]ur.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-009
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le liegen sie teilweise ausschließlich als Homepages (Hypertext) vor, wie beim im Beitrag genannten Beispiel VAUDE. Dass die Textsorte Nachhaltigkeitsbericht im Rahmen der Unternehmenskommunikation nicht nur die gesellschaftlich-politisch eingeforderten Informationen enthält – die erste Funktion dürfte die „der externen und internen Rechenschaftslegung“ sein und der Einsatz als „Kontrollinstrument“ (Schach 2015: 184) – wird in Literatur und Öffentlichkeit durchaus erwähnt. Es stellt sich aber die Frage, ob der Nachhaltigkeitsbericht auch Strategien der ‚klassischen‘ (Image-)Werbung beinhaltet und so gezielt von Unternehmen als werbende Plattform genutzt wird. Anhaltspunkte dazu liefert u.a. Schach, die sich mit der Textsorte Nachhaltigkeitsbericht aus Sicht der Angewandten Linguistik knapp, aber für pragmatisch-funktionale Analysen gewinnbringend beschäftigt (2015: 181): Die Vorstellung der Inhalte und sprachlichen Merkmale zeigt auch, dass der Nachhaltigkeitsbericht neben seiner informativen Text-Funktion als imagebildende Publikation eingesetzt wird – und somit auch eine Appell-Funktion besitzt. […] In der massenmedialen und digitalen Öffentlichkeit ist die Sensibilität für die Auswirkungen unternehmerischen Handelns auf natürliche Ressourcen und Gesellschaften stark angestiegen. Shareholder und Stakeholder fordern von den Unternehmen eine ethisch vertretbare, ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Leistungserbringung. Dies hat direkte Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Erfolg, wie Ulrich Beck konstatiert.1
Die wichtigste und ursprüngliche Funktion eines Nachhaltigkeitsberichts ist die Informationsfunktion; die Umsetzung sollte sich an den GRI-Leitlinien zur Nachhaltigkeitsberichterstattung orientieren: Dazu gehören allgemeine Standardangaben, nämlich „Strategie und Analyse, Organisationsprofil, ermittelte wesentliche Aspekte und Grenzen, Einbindung von Stakeholdern, Berichtsprofil, Unternehmensführung sowie Ethik und Integrität“ (GRI 2015: 20)2, und spezifische Standardangaben: „Wirtschaftlich, Ökologisch und Gesellschaftlich“; letztere mit der weiteren Aufgliederung „Arbeitsbedingungen und menschenwürdige Beschäftigung, Menschenrechte, Gesellschaft und Produktverantwortung“ (GRI 2015: 43, vgl. FN 2). Als erwartbare Elemente des Nachhaltigkeitsberichts nennt
|| 1 Zu Argumentation und Persuasion in diachroner Betrachtung bei Nachhaltigkeitsberichten dreier Marken siehe Schwegler (2018). Zu Werbestrategien im Nachhaltigkeitsbericht siehe außerdem Greule/Reimann (2020). Zur Nachhaltigkeits- und Klima-Kommunikation in Werbeanzeigen siehe Janich (2013a), zu „Nachhaltigkeit in der Werbung“ Arnold/Erlemann (2012: 147– 150). 2 Global Reporting Initiative (2015: 20). Aktualisierungen der einzelnen GRI-Standards (in verschiedenen Sprachen) finden sich unter https://www.globalreporting.org/how-to-use-the-gristandards/resource-center/ (letzter Zugriff 07.03.2021).
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Schach (2015: 186) „Vorwort des Vorstands, Organisationsprofil, Nachhaltigkeitsstrategie, Managementsysteme, Kennzahlen/Key Performance Indicators (KPI), Nachhaltigkeitsprogramm mit Zielen“.3 Die Zielgruppenpalette von Nachhaltigkeitsberichten ist groß: „Shareholder, Mitarbeiter, Anwohner, Kunden, Behörden, Lieferanten oder Medien zeigen Interesse an der Publikation“ (Schach 2015: 184). Die Objektivität, die beim Geschäftsbericht zu einer wichtigen Textfunktion gehört (vgl. Silberschmidt 2013, 54), wird im Nachhaltigkeitsbereich ergänzt durch eine Appellfunktion, mit der das Image des Unternehmens sprachlich geformt werden soll (Schach 2015: 185).
Wichtig für funktional ausgerichtete Analysen kann auch die Tatsache sein, dass – wie oben schon kurz genannt – seit dem Jahr 2017 eine Berichtspflicht für kapitalmarktorientierte Unternehmen und Firmen in der Kredit-, Finanz-, und Versicherungsbranche ab einer Größe von 500 Mitarbeitern, einer über 20 Mio. Euro hohen Bilanzsumme und über 40 Mio. Euro Umsatz besteht (CSR-Berichtspflicht.de undatiert).4 Das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten der EU haben 2014 eine Richtlinie zur Erweiterung der Berichterstattung von großen kapitalmarktorientierten Unternehmen, Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Versicherungsunternehmen verabschiedet (sog. CSR-Richtlinie [Corporate Social Responsibility, Anm. d. A.]). Ziel der Richtlinie ist es insbesondere, die Transparenz über ökologische und soziale Aspekte von Unternehmen in der EU zu erhöhen. Dabei geht es um Informationen zu Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelangen sowie die Achtung der Menschenrechte und die Bekämpfung von Korruption und Bestechung. Deutschland hat die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz). Das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz ist seit dem Geschäftsjahr 2017 auf Lageberichte anwendbar. (Bundesministerium für Arbeit und Soziales undatiert)5
Interessant ist deshalb, dass heute gewöhnlich auch kleinere Unternehmen oder auch Bildungsinstitutionen/Universitäten (vgl. Crestani in diesem Band) – ohne Berichtspflicht – einen Nachhaltigkeitsbericht verfassen, was sich „im Berichtswesen von Unternehmen etabliert hat“ (Schach 2015: 181). Dazu schreibt beispielsweise Berg (2018: 116):
|| 3 Siehe auch Clausen et al. (2001: 20–26). 4 https://www.csr-berichtspflicht.de/fragen-und-antworten#BetroffeneUnternehmen (letzter Zugriff 06.07.2020). 5 https://www.csr-in-deutschland.de/DE/Politik/CSR-national/Aktivitaeten-der-Bundesregie rung/CSR-Berichtspflichten/csr-berichtspflichten.html (letzter Zugriff 06.07.2020).
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Die Motive für Unternehmen, eine freiwillige Nachhaltigkeitsberichterstattung zu veröffentlichen, sind als Reaktion auf den öffentlichen Druck sowie die steigende Aufmerksamkeit der Medien zu interpretieren, um die öffentliche Wahrnehmung bei allen Stakeholdern hinsichtlich der eigenen Nachhaltigkeitsleistung zu verbessern.
Hier kommen also wiederum der werbende Aspekt und die Imagekommunikation, die mit dem Nachhaltigkeitsbericht betrieben wird, zur Sprache. Auch „das Layout und das großzügige Bildkonzept“ – wie beim Beispiel C&A von 2012 (Schach 2015: 188) – können einen Beitrag zur Unterstützung der Werbefunktion leisten. Hetze (2013: 146) fasst die Ergebnisse eigener Studien zu europäischen Banken-Großunternehmen folgendermaßen zusammen und stützt damit auch die Hypothese der Werbefunktion im Sinne der Erhöhung der Unternehmensreputation: Auch wenn die Untersuchungsergebnisse nicht aussagen, dass Kommunikations- und Reputationsmanagement den einzigen Grund für Unternehmen darstellen, um CSR-Kommunikation und -Berichterstattung zu betreiben, zeigen sie, dass es sich doch um einen wichtigen Grund handelt. Es kann aus allen Studien die Erkenntnis abgeleitet werden, dass CSRBerichterstattung ein wesentliches Element der Unternehmenskommunikation ist, das einen wichtigen Beitrag zur Unternehmensreputation leistet. Dies ist dann der Fall, wenn es sich um eine nachhaltige Kommunikation handelt, die durch Glaubwürdigkeit und Transparenz zu einer guten Reputation beiträgt.
Mittlerweile lässt sich festhalten, dass das Thema ‚Nachhaltigkeit‘ – gewöhnlich wird zwischen ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit unterschieden (z.B. Schach 2015: 184) – ein positiv konnotiertes ist, das gezielt zu Werbezwecken eingesetzt werden kann. Meffert et al. (2019: 297) beispielsweise verwenden den Terminus „Nachhaltigkeitsmarketing“ auf Grundlage der folgenden Ausführungen: Nach der Jahrtausendwende haben die Diskussionen um den Klimawandel und die Probleme von sich abzeichnenden Ressourcenengpässen angesichts des weltweiten Wirtschaftswachstums und der zu lösenden Armutsprobleme eine neue Sensibilität für die Berücksichtigung von Umweltschutz- und Nachhaltigkeitszielen ausgelöst (vgl. Winn und Kirchgeorg 2005, 2006). Durch eine frühzeitige Integration von Umweltschutzzielen können Marktchancen und Wettbewerbsvorteile erzielt und Marktstellungs- und Rentabilitätsziele positiv beeinflusst werden. (Meffert et al. 2019: 285)6
|| 6 Zu weiteren im Marketing interessanten Aspekten in diesem Kontext und dem dabei verwendeten Terminus CSR (Corporate Social Responsibility) siehe weiter Meffert et al. (2019: u.a. 872– 875). Zur Nachhaltigkeitskommunikation aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Sicht siehe z.B. Hoppe/Wolling (2017: 339–354, auch mit einem Kapitel zur werbenden Perspek-
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Im Internet findet man jedoch auch kritische Ansätze in diesem Kontext, wie in dem Text Nachhaltigkeitsbericht: Nicht mehr als eine Image-Broschüre? (NWB Experten-Blog 2017).7 In diesem Blogbeitrag aus dem Finanzmarktbereich wird weiter auch der Rat kommuniziert: Also: wer es ernst nimmt und authentisch berichtet – und dazu zählt auch, was nicht erreicht wurde – kann zumindest ausschließen, dass sein Nachhaltigkeitsbericht in den Stapel der Imagebroschüren landet. (Rinker 2017)
Zu dieser Forderung passt folgendes Beispiel aus dem Geschäftsbericht Nachhaltigkeit von PUMA (2019: 6) zu Zielen im Bereich Wasser und Luft, das durch die mutmaßlich transparente Kommunikation der vorläufigen Nicht-Erreichung eines Vorhabens auch einen Beitrag zur Glaubwürdigkeit leisten könnte und die eingangs angesprochene Funktion der „Rechenschaftslegung“ – vollzogene Aktivitäten transparent machen und über Ergebnisse berichten – abdeckt. Im Rahmen der Überblickstabelle zu allen möglichen Zielen wird in roter Schrift notiert: Wasser und Luft: nicht auf Kurs, weitere Aktivitäten erforderlich. Auch beim in Kapitel 3 näher untersuchten Nachhaltigkeitsbericht der Marke REWE findet sich beispielsweise im Kapitel Bio die Thematisierung eines nicht erreichten Ziels (in positiv konnotiertem Kontext): Die unterschiedlichen Bio-Sortimente der Vertriebslinien der REWE Group haben sich im Berichtszeitraum leicht negativ entwickelt. Eine positive Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft ist für ganz Deutschland zu beobachten: Betrug der Umsatz für Öko-Lebensmittel in Deutschland 2016 noch 9,8 Mrd. Euro, so waren es 2018 bereits 10,9 Mrd. Euro. (REWE 2019: 98)
Gansel (2012) weist auf einen Leitfaden zur Praxis glaubwürdiger Kommunikation für zukunftsfähige Unternehmen des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung von 2001 hin, mit dem der Gefahr, den Nachhaltigkeitsbericht zum Werbeprospekt umzufunktionieren, vorgebeugt werden soll. An Beispielen zu ausgewählten Nachhaltigkeitsberichten prüft Gansel (2012: 267) „nachweisbare[...] Glaubwürdigkeitsindikatoren“ (nach Reinmuth), die sie entweder dem Bereich des Überredens oder Überzeugens zuordnet. Das Überreden sei typisch für werbende Textsorten, das Überzeugen typisch für Public Relations und funktional angemessener für den Nachhaltigkeitsbericht; in der Abgrenzung wird die Dauer
|| tive). Zu wirtschaftlichen Potenzialen der Nachhaltigkeitskommunikation vgl. beispielsweise auch Prexl (2010). 7 https://www.nwb-experten-blog.de/nachhaltigkeitsberichterstattung-nicht-mehr-als-eineimage-broschuere/ (Autorin: Carola Rinker) (letzter Zugriff 07.07.2020).
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(z.B. langfristig angelegte Vertrauensbildung beim PR) angeführt (Gansel 2012: 259). Esmann Andersen et al. (2013) zitieren Schrader (2005), der gegen die (erfolgreiche) Werbung mit Nachhaltigkeit argumentiert; u.a. nennt er folgende Gründe: [1] The value for the consumer is not individual. Not only the specific consumer will benefit from e.g. a positive environmental effect of buying a sustainable product, everybody will, including consumers, who might choose an unsustainable brand or version. [2] Eco-advertising has been a kind of green washing since it has focused on characteristics that are less important for the product: packaging and recycling ability are relevant features, but preproduction, production, transportation and most important of all: usage of the products have a much heavier effect [3] Many sustainability factors are complex and interwoven with other aspects, which makes sustainability difficult to communicate and convey in a clear and convincing manner (Andersen et al. 2013: 33).
An Beispielen ausgewählter Nachhaltigkeitsberichte verschiedener Marken werden folgend aus der linguistischen Werbeforschung bekannte Werbestrategien gesucht und kontextuell analysiert. Wie zeigt sich also neben der erwarteten Informations- auch eine Appellfunktion im Nachhaltigkeitsbericht? Darüber hinaus geht es um eine Suche nach möglicherweise ‚neuen‘ bzw. textsortenspezifischen Werbeargumenten, wie beispielsweise die durchaus werbend zu verstehende Sprechhandlung VERSPRECHEN, die im Zusammenhang mit der Thematisierung von Unternehmenszielen gängig ist, aber als Strategie in klassischen Werbemitteln (Anzeige, Plakat, Radio, Fernsehen) keine wichtige Rolle spielte. Allgemein dürfte damit seitens der Firmen das Image einer nachhaltigen Unternehmensidentität angestrebt werden. Folgende Nachhaltigkeitsberichte sind Gegenstand der weiteren Ausführungen: Allianz Sustainable Future Brochure (2019), Alnatura-Nachhaltigkeitsbericht 2015/16 (2016), C&A Nachhaltigkeitsbericht 2018 (2018), Sustainability Report 2017 der H&M Gruppe (2018), Lidl Fortschrittsbericht 2018 (2018), PUMA Geschäftsbericht 2018 Nachhaltigkeit (2019), REWE GroupNachhaltigkeitsbericht 2018 (2019), Tchibo Nachhaltigkeitsbericht 2018 (2019) und VAUDE Nachhaltigkeitsbericht 2018 (2019).8
|| 8 Nachhaltigkeitsberichte über ein bestimmtes Jahr werden häufig im ersten oder zweiten Quartal des Folgejahres veröffentlicht. Dies erklärt das vom Berichtszeitraum abweichende Veröffentlichungsdatum. Falls Letzteres im Bericht nicht angegeben ist, wurde im Rahmen dieses Beitrags das Jahr genutzt, über das der jeweilige Bericht verfasst wurde (beispielsweise bei den Berichten der Unternehmen C&A und Lidl).
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2 Werbestrategien im Nachhaltigkeitsbericht Aus Sicht der linguistischen Werbekommunikation ist der Nachhaltigkeitsbericht kein klassisches Untersuchungsobjekt. Denn seine Aufgabe ist – wie angesprochen – vorrangig eine andere. In der Literatur wird bereits vorsichtig und eher pauschal die Image-Funktion des Nachhaltigkeitsberichts, der nicht nur von den berichtspflichtigen Unternehmen verfasst wird, genannt. Dazu schreibt beispielsweise Young (2011: 124): CSR can play a role in building customer loyalty based on distinctive ethic values. Several major brands, such as The Co-operative Group and the Body Shop are closely aligned to ethical values. Business service organizations can benefit too from building a reputation for integrity and best practice.
Die alte Definition zur Werbung von Hoffmann (1981: 10) ist immer noch hilfreich, da sie die Intention in den Mittelpunkt stellt, aber die Wirkung richtigerweise außen vor lässt: Werbung wird die geplante, öffentliche Übermittlung von Nachrichten dann genannt, wenn die Nachricht das Urteilen und/oder Handeln bestimmter Gruppen beeinflussen und damit einer Güter, Leistungen oder Ideen produzierenden oder absetzenden Gruppe oder Institution (vergrößernd, erhaltend oder bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben) dienen soll.
Klassische Werbung ist so angelegt, dass die gesamte Gestaltung von der Appellfunktion (Persuasion) motiviert ist: Bei Produktwerbung geht es vor allem um die Aufwertung des Produkts durch alle möglichen Werbestrategien, die gleich bei der Textsorte Nachhaltigkeitsbericht beleuchtet werden, und die Hervorhebung der Unverwechselbarkeit im Kontext der Konkurrenz sowie im weiteren Sinne in der Regel um Imagebildung für die zugehörige Marke. Ziel ist der Kaufakt durch die Zielgruppe. Folgend werden Werbestrategien in der Textsorte Nachhaltigkeitsbericht ermittelt, die der ‚klassischen‘ Werbekommunikation entnommen oder neu und somit mutmaßlich textsortenspezifisch sind. Die Klassiker9 kann man beispielsweise aus inhaltlicher Perspektive unter Berücksichtigung der an der Kommunikation beteiligten Rollen in Strategien mit Senderbezug (z.B. Werbung mit Erfahrung und Tradition), Einsatz von Sekundärsendern (Testimonials wie bekannte Persönlichkeiten, aber auch Expert*innen wie Wissenschaftler*in-
|| 9 Siehe dazu beispielsweise Janich (2013b), und zwar insbesondere die Kapitel Argumentation (131–147) und Besondere Werbestrategien (191–241), außerdem Reimann (2008: 78–87).
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nen, Ärzt*innen), Einblicke ins Unternehmen (Verkaufsräumlichkeiten, Produktionsstätten), Nennung von Qualitätssiegeln, Produktbezug (z.B. Einsatz von positiv konnotiertem Wortschatz im Hinblick auf Produktmerkmale, Anführen von Auszeichnungen, Nennung des (günstigen) Preises) und Empfängerbezug (z.B. Werbung mit erstrebenswerten individuellen oder altruistischen Werten wie ‚Schönheit‘, ‚Erfolg‘, ‚Umweltbewusstsein‘, ‚Partnerschaft‘) einteilen. Bei den herangezogenen Nachhaltigkeitsberichten fällt dahingehend auf, dass mehrere (Werbe-)Strategien zum Senderbezug zum Einsatz kamen, die deshalb folgend detaillierter vorgestellt werden.
2.1 Senderbezug Senderbezogene Strategien rücken das werbetreibende Unternehmen in den Mittelpunkt. Zu diesen gehört der Einsatz des Werbeslogans, also eines Textbausteins, der aus der Markenkommunikation stammt und zu den ‚klassischen‘ Werbemitteln gehört; er findet sich mitunter auch in Nachhaltigkeitsberichten, wo er „nachträglich“ – also in Fortführung des Einsatzes in typischen Werbetextsorten – verwendet wird. Beispiel: Lidl lohnt sich erscheint als Teil des farblich die Corporate Identity aufgreifenden Logos der Unternehmensmarke auf der ersten Seite des Fortschrittsberichts zur Nachhaltigkeit über das Geschäftsjahr 2018 bei Lidl, wie in Abbildung 1a (links) zu erkennen ist.
Abb. 1a und 1b: Links: 1a) Deckblatt des Fortschrittsberichts von Lidl 2018 (2018: 1). Rechts: 1b) Fotografie aus dem Nachhaltigkeitsbericht von Tchibo 2018 (2019: 13)
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Senderbezogene Strategien sind auch solche, die die Tradition des Unternehmens, der Marke oder von Aktivitäten beinhalten, wie in folgendem Beispiel mit dem Syntagma seit jeher und der knappen historischen Einbettung. Nachhaltigkeit ist seit jeher ein Bestandteil der täglichen Arbeit für alle Mitarbeiter. So waren schon die ersten Alnatura Produkte 1985/86 in Bio-Qualität. Auch im ersten Alnatura Super Natur Markt, 1987 eröffnet in Mannheim, wurden Bio-Lebensmittel angeboten und es wurde auf eine umweltschonende Ladengestaltung geachtet. [H. d. A.]10 (Alnatura 2016: 12)
Außerdem gehören zum Senderbezug der Einsatz von Testimonials und das Werben mit Wissenschaftlichkeit. Mit diesen Strategien soll die Glaubwürdigkeit einer Marke oder eines Unternehmens gegenüber den Rezipient*innen gefördert und ein Beitrag zur Qualitätssicherung geleistet werden, z.B. mit den Ausdrücken zertifizierte Bio-Lebensmittel, vom Arbeitskreis Qualität prüfen, unabhängigen Experten, Expertenrunde, Hochschule Darmstadt oder Internationalen Hochschulinstitut Zittau. Die Qualität der Produkte steht an erster Stelle. Wir verkaufen ausschließlich zertifizierte Bio-Lebensmittel und lassen jedes Alnatura Produkt bei der Entwicklung vom Arbeitskreis Qualität prüfen. Dieses Gremium aus fünf externen, unabhängigen Experten ist innerhalb der Bio-Branche einzigartig. Ohne Zustimmung der Expertenrunde kommt kein Alnatura Produkt auf den Markt (siehe S. 32 f.). (Alnatura 2016: 10–11) In 2014 und 2015 tauschten wir uns zudem mit der Hochschule Darmstadt und dem Internationalen Hochschulinstitut Zittau zur Priorisierung der Themen in der Matrix aus. Dadurch flossen die Sichtweisen verschiedener Interessengruppen ein. (Alnatura 2016: 12) Gemeinsam mit zahlreichen externen und internen Experten haben wir eine ehrgeizige Strategie entwickelt, die nach Möglichkeit immer einem wissenschaftlich basierten Ansatz folgt. (H&M 2018: 1)
Das Anführen von Auszeichnungen und Preisen – in folgendem Beispiel sogar explizit als Rubrik genannt – ist vermutlich in der Auftretenshäufigkeit vorrangig senderbezogen, kann aber auch produktbezogen sein. Im weiteren Sinne bezieht sich diese Strategie natürlich ebenfalls auf die Rezipient*innen und soll zur Kommunikation der Qualität beitragen. Auszeichnungen und Anerkennungen Dow Jones Sustainability Europe Index Dow Jones Sustainability World Index Fashion Revolution’s Fashion Transparency Index
|| 10 Das gilt auch für alle künftigen Hervorhebungen in Beispielen aus dem Korpus.
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FTSE4Good Global Compact 100 index Global 100 Most Sustainable Corporations Newsweek Green Ranking SIGWATCH – von Aktivisten meist gelobteste Firma der Welt Sustainable Cotton Ranking – Kategorie „Leading the way“ Textile Exchange Preferred Fiber & Materials Report 2017 – zweitgrößter Abnehmer von recycelter und Bio-Baumwolle The Business of Fashion – Einer der bester [sic!] Arbeitgeber in der Modebranche 2017 [H. i. O.] (H&M 2018: 2).
Die Thematisierung von Zielen (Versprechen, Absichtserklärungen) ist wichtiger Bestandteil des Nachhaltigkeitsberichts – entweder explizit (Unser Ziel, zum Ziel gesetzt) oder implizit beispielsweise mit Modalverben (Wir wollen). Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine traditionelle Werbestrategie, sondern dürfte ein textsortenspezifisches Phänomen sein. Unser Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 nur nachhaltig angebaute Baumwolle einzukaufen.* […] *Dazu zählen zertifizierte Bio-Baumwolle, Better Cotton (BCI) und/oder recycelte Baumwolle. (H&M 2018: 2) Wir wollen die Bekleidungsindustrie in eine Zukunft führen, in der jedes Material sicher genutzt und wiederverwendet wird, in der Ökosysteme geschützt werden und in der die Menschen unter würdigen Arbeitsbedingungen tätig sind. (C&A 2018: 35) Wir wollen unsere Kunden zufrieden stellen, sie immer wieder aufs Neue begeistern und sie daran beteiligen, gemeinsam den Weg in Richtung mehr Nachhaltigkeit zu gehen. Denn es geht nicht nur um unsere Zukunft als Unternehmen, sondern um unsere Zukunft als Gesellschaft. Wir wollen unseren Kunden ein Sortiment nachhaltiger Produkte bieten, das qualitativ hochwertig und gleichzeitig auch bezahlbar ist. (Tchibo 2019: 42) PUMA hat sich zum Ziel gesetzt, die schnellste Sportmarke der Welt zu werden. (PUMA 2019: 3)
Auch Wortschatz aus dem semantischen Bereich ‚Unterstützung, Hilfe‘ findet sich in den untersuchten Nachhaltigkeitsberichten und ist vorrangig sender-, aber auch empfängerbezogen. Es erfolgt also eine Aufwertung durch die Thematisierung altruistischer Werte (Therapie-/Unterstützungs-Wortschatz), was sich beispielsweise in den Verben unterstützen, helfen, fördern und verbessern (auch in entsprechender Substantivierung)11 in verschiedenen Nachhaltigkeitsberichten zeigt.
|| 11 Siehe hierzu auch die Strategien in der Werbung zum autonomen Fahren (Reimann 2019).
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Von der Bewältigung des Klimawandels über nachhaltige Investitionen und die Entwicklung von Produkten mit ökologischen und sozialen Vorteilen bis hin zur Unterstützung junger Menschen – wir wollen eine Welt gestalten, die gesünder, weniger verschwenderisch, gerechter und nachhaltiger ist. (Allianz 2019: 2) Die Allianz ist ein Spezialist für die Versicherung erneuerbarer Energien und wir unterstützen kohlenstoffarme Entwicklungen auf der ganzen Welt. (Allianz 2019: 4) Über unser Detox-Programm reduzieren unsere Textilproduzenten den Einsatz gefährlicher Chemikalien und verbessern die Abwasserqualität. (Tchibo 2019: 8) Wir sind überzeugt, dass das Geschäftsmodell „Vermietung von Alltagsgegenständen“ den nachhaltigen Konsum fördert (Tchibo 2019: 13).
Schließlich fällt die Obligationsfunktion auf, die im Nachhaltigkeitsbericht auch zu den appellierenden Kommunikationsstrategien gerechnet werden kann. Hierher gehören die Kommissiva wie versprechen und verpflichten. Bereits im Oktober 2014 haben wir uns mit Unterzeichnung des von Greenpeace initiierten Detox Commitments dazu verpflichtet, den Einsatz gefährlicher Chemikalien in unserer Textilproduktion bis 2020 zu beenden. (Tchibo 2019: 54) Im Oktober 2014 haben wir uns mit Unterzeichnung des von Greenpeace initiierten Detox Commitments dazu verpflichtet, den Einsatz gefährlicher Chemikalien in unserer Textilproduktion bis 2020 zu beenden. (Tchibo 2019: 56)
Das Verb versprechen findet sich in den untersuchten Berichten nicht, lediglich das Substantiv (Versprechen) kommt bei C&A zum Einsatz, allerdings bezieht es sich nicht auf C&A, sondern auf Dritte, nämlich eine unterstützte Initiative. Nature Coatings war Teil der Förderung. Und Fashion for Good hat alle Versprechen eingelöst, findet Jane. (C&A 2018: 41)
2.2 Weitere klassische Werbestrategien Aufwertender Wortschatz und Emotionalisierung (Emotionswortschatz oder Visualisierung) sind klassische Werbestrategien, die sich auf Sender, Empfänger und – besonders erwartbar – das Produkt beziehen können. Zum Emotionswortschatz gehören z.B. die Lexeme glücklich, zufrieden, stolz, begeistern, Vertrauen; in den beiden folgenden Beispielen handelt es sich zugleich um senderbezogenen Wortschatz. Wir sind stolz auf das 2018 Erreichte (C&A 2018: 5).
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Wir freuen uns darauf, den erzielten Fortschritt mit unseren 10FOR20 Zielen und deren Beitrag zu unserem Geschäftserfolg weiter auszubauen. (PUMA 2019: 4)
Im folgenden Beispiel wird die Marke Tchibo durch den Einsatz von positiv konnotiertem Wortschatz (Grundwort Qualität im Determinativkompositum) und eines Superlativs (beste) aufgewertet. Tchibo steht schon immer für beste Kaffeequalität (Tchibo 2019: 20).
Emotionalisierung erfolgt nicht nur auf Ausdrucksebene, sondern auch durch eine Fotografie lachender Kleinkinder, die mutmaßlich Tchibo-Kleidung in Schattierungen der Unternehmensfarbe Blau sowie in Grau- und Beigetönen tragen, wie oben auf Abbildung 1b (rechts) zu sehen ist. Eine in der Struktur bekannte Strategie, die vorrangig produktbezogen ist, lautet Problem – Lösung (hier sprachlich aufgegriffen durch das Substantiv Tierschutzprobleme einerseits sowie die Verbformen zu beseitigen und (intensiv daran) gearbeitet andererseits). In den letzten zehn Jahren haben wir intensiv daran gearbeitet, Tierschutzprobleme in unserer Lieferkette zu beseitigen. (C&A 2018: 27)
3 Auszeichnungen und mehr in der Nachhaltigkeitsberichterstattung am Beispiel von VAUDE und REWE Am Beispiel der Nachhaltigkeitsberichte von VAUDE und REWE, die beide bereits erste Preise bei Nachhaltigkeitsrankings bekommen haben (IÖW/future undatiert)12 – VAUDE im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, REWE bei den Großunternehmen (also mit Nachhaltigkeitsberichtspflicht) – seien einige Werbestrategien exemplarisch beleuchtet. Ein Vergleich sei hiermit als Anregung für weiterführende Forschungen angesprochen. Das Unternehmen für Bergsportausrüstung VAUDE wurde von Albrecht von Dewitz gegründet. Es handelt sich um einen Familienbetrieb: 1974 gründete er das Unternehmen VAUDE, das er nach seinen Initialen v. D. (sprich [fauˈde]) benennt. Aus dem Ein-Mann-Unternehmen wird eine der führenden Bergsport-
|| 12 https://www.ranking-nachhaltigkeitsberichte.de/die-besten-berichte.html (letzter Zugriff 06.07.2020). Die Studien werden vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.
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marken Europas. Seit 2009 leitet Albrechts Tochter Antje von Dewitz das Unternehmen. (VAUDE undatiert)13
Auf der Website ist von zahlreichen klima- und umweltaffinen Aktivitäten und Auszeichnungen im Hinblick sowohl auf die Arbeitsprozesse als auch auf die Produktherstellung die Rede. REWE hat aktuell – die Anfänge des heutigen Großunternehmens reichen fast 100 Jahre zurück (REWE 2016)14 – den 1. Platz beim Ranking des F.A.Z.-Instituts (2020)15 zur Nachhaltigkeit bei Supermärkten inne; Basis war dabei die „Nachhaltigkeitsreputation 10/2019“. Folgend werden punktuell Werbestrategien in den Nachhaltigkeitsberichten über das Jahr 2018 der beiden Unternehmen herausgearbeitet. Bei REWE liegt dafür eine (verkürzte) Downloadversion des Berichts vor, die im Jahr 2019 veröffentlicht wurde (REWE 2019). Der VAUDE-Nachhaltigkeitsbericht 2018 ist ausschließlich als Hypertext angelegt und wurde am 1. August 2019 veröffentlicht (VAUDE 01.08.2019).16 Er ist bequem über eine Suchfunktion durchsuchbar, kann aber nicht heruntergeladen werden. Der obere Teil der Eingangsseite (s.u. Abb. 2a, links) besteht aus einem wechselnden Startbild auf weißem Grund; es fällt eine aufmerksamkeitsweckende (farblich bunte) Bild-Text-Gestaltung auf.
3.1 Exemplarische Analyse am Beispiel der Material Policy von VAUDE Zunächst soll es exemplarisch um die Seite Material Policy (VAUDE 01.08.2019)17 und die dort ermittelten Strategien, die auch als Werbung verstanden werden können, gehen. Im Hinblick auf die Text-Bild-Architektur18 sei vorab angemerkt, dass die Möglichkeiten der Hypertextstruktur (Verlinkung mit anderen thematisch jeweils passenden Seiten) genutzt werden.
|| 13 https://www.vaude.com/de-DE/Unternehmen/UEber-VAUDE/Historie/ (letzter Zugriff 01. 07.2020). 14 https://www.rewe-group.com/de/unternehmen/unternehmensgeschichte/index.html#!/ chapter/1927 (letzter Zugriff 08.07.2020). 15 https://www.faz.net/asv/exzellente-nachhaltigkeit/ (letzter Zugriff 07.07.2020). 16 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/ (letzter Zugriff 08.07.2020). 17 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/material-policy.php (letzter Zugriff 01.07.2020). 18 Zur Terminologie siehe Greule/Reimann (2015).
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Abb. 2a und 2b: Links: 2a) Eingangsseite des hypertextuellen VAUDE-Nachhaltigkeitsberichts 2018 (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 16). Rechts: 2b) Oberer Teil (Startbild und Überschrift) der Seite Material Policy des VAUDE-Nachhaltigkeitsberichts 2018 (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17)
Die grünlich-gelbe Fotografie im oberen Teil der Material Policy-Seite (siehe Abb. 2b) hat vermutlich ästhetische Funktion, die späteren Bilder dienen der Veranschaulichung und Orientierung (siehe Abb. 3a und 3b) im Hinblick auf das vorab Erwähnte (VAUDE Materiallieferanten nach Anzahl und Anteil je Land). Die Überschrift der Seite beginnt mit einem Superlativ und aufwertendem Wortschatz: Das Beste für Dein Produkt: Funktion mal Verantwortung (vgl. Abb. 2b). Es finden sich weitere Superlative: das beste Produkt für deinen Einsatzbereich, beste Qualität mit technischer Performance und ökologischer Verantwortung, die beste (also umweltfreundlichste) Technologie, eine größtmögliche Nachverfolgbarkeit aller Materialien zu ihrem Ursprung zu gewährleisten.
Abb. 3a und 3b: Materiallieferanten nach Anzahl und Anteil je Land. Links: 3a) Europa. Rechts: 3b) Asien (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17)
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Um die Sprechhandlung VERSPRECHEN geht es zu Beginn des Fließtextes: Schutz vor Hitze und Kälte, Wind, Regen und Sonne, ferner Naturgenuss und sportliche Höchstleistungen. Die zugehörigen Verben erwecken den Eindruck der Personifikation der thematisierten Produkte: sollen […] bieten […] erleichtern […] dich viele Jahre lang […] begleiten. In diesen Kontext passt thematisch auch der Wortschatz, den man mit dem positiv konnotierten Thema ‚auf Sicherheit bezogen‘ zusammenfassen könnte: zuverlässig, sorgfältig, (wir) prüfen, Vorsorgeprinzip, sorgen (wir). Überschneidungen gibt es dabei zum Thema ‚Unterstützung/Hilfe‘, z.B. Wir helfen unseren Lieferanten, umweltfreundlicher zu arbeiten. Ferner – und teils in Überschneidung – findet sich Wortschatz zum Thema ‚Transparenz‘ der Unternehmensaktivitäten, wie […] und eine größtmögliche Nachverfolgbarkeit aller Materialien zu ihrem Ursprung zu gewährleisten. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17) Konsequent streng bedeutet auch, dass wir bei Naturmaterialien, die aus Umwelt- oder Tierschutz-Sicht kritisch sein könnten, auf eine möglichst große Transparenz achten. Das heißt, wir prüfen ganz genau ab, woher die Wolle, Daune und Baumwolle kommt, ob sie unseren in der Material Policy definierten Anforderungen entsprechen und nach den von uns geforderten Standards zertifiziert sind. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17) Transparenz über die Lieferkette ist wichtig, fehlt aber in der Textilproduktion oft noch an allen Ecken und Enden. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17)
Wissenschaftlichkeit und Expertise – beliebte Werbestrategien – sind ebenfalls auf dieser Seite vorhanden und werden hier u.a. durch die Wortgruppen wissenschaftlich zweifelsfrei, Empfehlungen von unabhängigen Experten (mit Namensnennungen) aufgegriffen. Wir halten uns dabei an die Empfehlungen von unabhängigen Experten – z. B. das Bundesamt für Risikobewertung BfR oder das Umweltbundesamt, Hochschulen oder Organisationen der Zivilgesellschaft wie unseren Kooperationspartner WWF Deutschland. (VAUDE 01.08. 2019, vgl. FN 17) Bis eine Technologie wissenschaftlich zweifelsfrei als ungefährlich eingestuft wird, lassen wir die Finger davon. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17)
Aufwertung durch die Thematisierung von Gütekriterien ist auch nachweisbar. Dazu gehört der Hinweis auf den Responsible Down Standard. Das heißt, wir prüfen ganz genau ab, [...] ob sie nach den von uns geforderten Standards zertifiziert sind. Beispielsweise verwenden wir nur Daune, die nach dem Responsible Down Standard zertifiziert ist. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17)
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Sogar negativ konnotierter Wortschatz findet sich – teils referierend auf die Konkurrenz –, was im weiteren Sinne an die Werbestrategie Problem – Lösung erinnert. In diesen Zusammenhang gehört auch die Strategie der Negierung bzw. Reduktion, also die Kommunikation des Verzichts oder Abbaus, z.B. des Einsatzes problematisch eingestufter Stoffe, hier verpflichten wir uns freiwillig, auf umstrittene Technologien und Materialien zu verzichten: Für unseren Geschmack hat die Industrie zu oft vermeintliche Innovationen auf den Markt gebracht, ohne vorab die Risiken ausreichend zu bewerten. Tauchen später Schäden für Gesundheit oder Natur auf, ist die böse Überraschung da. Aktuelles Beispiel: die Fluorcarbon-Technologie für wasserabweisende Materialien. Was daran schädlich ist und warum VAUDE aussteigt? (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17) Mit unserer VAUDE Material Policy verpflichten wir uns freiwillig, auf umstrittene Technologien und Materialien zu verzichten (Unterüberschrift) (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17).
Dabei ist das Verb verpflichten der Obligationsfunktion und den Kommissiva zuzuordnen, was im vorliegenden Kontext allerdings wiederum auch werbend verstanden werden darf und das Vertrauen in die Marke stützen soll. Ein weiteres Beispiel findet sich im Text: Hinter den Kulissen verpflichtet sich VAUDE dazu, immer die beste (also umweltfreundlichste) Technologie anzuwenden. Expliziter Empfängerbezug (Dein) liegt ebenfalls mehrfach vor. Das Beste für Dein Produkt (Überschrift) (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17). Deine VAUDE-Produkte sollen dir draußen zuverlässig Schutz vor Hitze und Kälte, Wind, Regen und Sonne bieten damit du das beste Produkt für deinen Einsatzbereich bekommst (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17). Die Nachhaltigkeit Deines VAUDE-Produktes beginnt schon bei der ersten Produktidee unserer Designer (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17). Auch Deine Entscheidung zählt! (graphisch hervorgehoben) (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17)
Insgesamt wird deutlich, dass über die funktionale Perspektive der Werbekommunikation zahlreiche Beispiele herausgearbeitet werden können, die klassischen Werbestrategien zuzuordnen sind. Dazu gehört der Einsatz von Superlativen und aufwertendem Wortschatz, die Thematisierung von Wissenschaftlichkeit und von Gütekriterien sowie die Strategie Problem – Lösung. Hinzu kommt Aufwertung durch die Sprechhandlung VERSPRECHEN und die Verwendung von Kommissiva.
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3.2 Beliebte Werbestrategien in den Nachhaltigkeitsberichten des Jahres 2018 von VAUDE und REWE Die Analyse des gesamten Nachhaltigkeitsberichts von VAUDE zeigt ein dominantes Vorkommen der klassischen Werbestrategien Fachlichkeit, Tradition und Auszeichnungen/Gütesiegel. Dass die Thematisierung von Zielen positiv konnotiert ist und deshalb auch werbend verstanden werden kann, sei nur am Rande erwähnt und wird folgend nicht aufgeführt. Beispiele zu ausgewählten Lexemen und Morphemen werden im Folgenden genannt und funktionalisiert. Auch die Kommunikation der eigenen Marktführerschaft ist natürlich ein Thema, das zur Aufwertung der Marke beitragen soll. Zudem verwundert nicht, dass Superlative, Komparative und Emotionalisierung zum Einsatz kommen. Die Strategien Sprechhandlung VERSPRECHEN mit der Thematisierung von Zielen und Aufwertung durch Reduktion werden aus dem Nachhaltigkeitsbericht von REWE ergänzt. Tendenziell handelt es sich vorrangig um senderbezogene Strategien.
Strategie „Expertentum, Wissenschaftlichkeit und Forschung“ Im Nachhaltigkeitsbericht von VAUDE 2018 finden sich einschlägige Lexeme zur Strategie Expertentum, Wissenschaftlichkeit und Forschung. Übergeordnet sei nochmals angesprochen, dass Transparenz hinsichtlich der Lieferkette und der einzelnen Handlungsschritte die Glaubwürdigkeit fördern sollen und das Anführen von positiv konnotierten Institutionen und Prüfungen – wie im folgenden Beispiel (z.B. RDS-Label, die unabhängige Non-Profit Organisation Textile Exchange) – Qualitätssicherung signalisieren soll: Alle Produkte mit RDS-zertifizierter Daune werden mit dem RDS-Label gekennzeichnet. Träger des RDS ist die unabhängige Non-Profit Organisation Textile Exchange. Die Auditierung der gesamten Lieferkette unserer Daunen von der Elterntierfarm über Schlachtbetriebe und Zwischenhändler bis zur Verarbeitung der Daune übernimmt ein von Textile Exchange akkreditiertes Prüfinstitut. (VAUDE 01.08.2019)19
|| 19 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/daune.php (letzter Zugriff 06.07. 2020).
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Lexem Experte Das Lexem Experte kommt sowohl allein als auch attribuiert vor – mehrfach mit den Adjektiven unabhängig und extern, die – wie auch übergeordnet angesprochen wurde – mutmaßlich den Eindruck von Transparenz und Seriosität noch erhöhen sollen. Wir halten uns dabei an die Empfehlungen von unabhängigen Experten – z. B. das Bundesamt für Risikobewertung BfR oder das Umweltbundesamt, Hochschulen oder Organisationen der Zivilgesellschaft wie unseren Kooperationspartner WWF Deutschland. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 17) Als Mitglied des Textilbündnis berichten wir gemäß den Kriterien des Bündnisses umfangreich zu unseren Tätigkeiten und Maßnahmen für faire Sozialstandards, Umweltmanagement und umweltfreundliche Materialbeschaffung in der Lieferkette und setzen uns im Einklang mit unserer Unternehmensstrategie ambitionierte Ziele. Die Inhalte wurden von einem unabhängigen Experten der Global Sustainable Management GmbH überprüft. (VAUDE 01.08.2019)20 Unsere Selbstverpflichtung für umweltfreundliche Materialverbräuche gibt den derzeit besten Wissensstand wieder, auch nach Beratung durch externe Experten wie zum Beispiel den WWF. Die Selbstverpflichtung entwickeln wir laufend weiter: Wir nehmen weitere Bereiche auf, ergänzen oder ändern Inhalte, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. (VAUDE 01.08. 2019)21
Die Strategie Fachlichkeit/Wissenschaftlichkeit findet sich auch bei REWE, beispielsweise lässt sich das Lexem Experte 16 Mal im Bericht nachweisen, z.B. Zielkonflikte reflektiert sie [die REWE Group, S.R.] sowohl mit Experten im eigenen Unternehmen als auch mit externen Anspruchsgruppen. (REWE 2019: 13) Fachexperten der REWE Group stehen darüber hinaus mit den jeweiligen themenspezifischen Fachstakeholdern in Hintergrundgesprächen und institutionalisierten Dialogen im Austausch. (REWE 2019: 32) Der gesamte Prozess wird von einem unabhängigen Stakeholdergremium begleitet: Der Fachbeirat Nachhaltigkeit, der den PRO PLANET-Prozess seit 2009 begleitet, besteht aus
|| 20 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/csr-standards/buendnis-fuer-nachhaltigetextilien.php (letzter Zugriff 30.06.2020). 21 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/umwelt/materialverbraeuche.php (letzter Zugriff 30.06.2020).
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NGO-Experten, die ihr Fachwissen einbringen und die Freigabe zur Verwendung des PRO PLANET-Labels erteilen. (REWE 2019: 102)
Der Eindruck von Professionalität soll durch eine gewisse kommunizierte Institutionalisierung, wie teils schon gezeigt, noch verstärkt werden. Das gilt auch für die folgenden Ausschnitte aus dem VAUDE-Nachhaltigkeitsbericht (VAUDE 2018) mit Beispielen wie Experten von Universitäten und Industrieverbänden, von der interdisziplinären 75-köpfigen Expertenjury. Das ist ein langer und aufwändiger Prozess, den wir nur gemeinsam mit den Herstellern der Materialien, der DWR-Chemikalien und Experten von Universitäten und Industrieverbänden vorantreiben können. Nur die Materialien, die volle Performance bieten, setzen wir in der Kollektion ein. Nass werden willst Du ja auch nicht… (VAUDE 01.08.2019)22 Die finale Entscheidung wurde von der interdisziplinären 75-köpfigen Expertenjury getroffen, die sich aus unabhängigen Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und Medien zusammensetzt. (VAUDE 01.08.2019)23
Morphem {fach} Das Morphem {fach} gehört ebenfalls in diesen Themenbereich und soll auch zur kommunizierten Qualitätssicherung bei VAUDE beitragen, z.B. Fachliche Unterstützung, fachliche Weiterentwicklung, Fachleuten oder fachkundige Anleitung. Fachliche Unterstützung vom Profi Eine externe Fachkraft für Arbeitssicherheit und ein Betriebsarzt beraten und begleiten VAUDE bei der Konzeption, Umsetzung und Überprüfung aller Brandschutz- und Arbeitssicherheits-Aspekte. (VAUDE 01.08.2019)24 Persönliche und fachliche Weiterentwicklung ist uns ein wichtiges Anliegen, im Jahr 2018 mit insgesamt über 1.938 zentral organisierten Weiterbildungsstunden und zusätzlichen intensiven individuellen Weiterbildungsmaßnahmen (VAUDE 01.08.2019).25
|| 22 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/wasserabweisende-materialien. php (letzter Zugriff 30.06.2020). 23 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/news/VAUDE-gewinnt-GreenTec-Award2018.php (letzter Zugriff 01.07.2020). 24 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/menschen/arbeitssicherheit.php (letzter Zugriff 01.07.2020). 25 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/menschen/vaude-in-deutschland.php (letzter Zugriff 01.07.2020).
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Darüber hinaus berücksichtigen wir relevante Gesetze und freiwillige Vereinbarungen wie beispielsweise den „Code of Labour“ der „Fair Wear Foundation“ (FWF) sowie Nachhaltigkeitsauswirkungen, die durch eine Überprüfung von Fachleuten ermittelt wurden – beispielsweise die Biodiversität an unserem Standort in Tettnang-Obereisenbach. (VAUDE 01.08.2019)26 Auch im Fabrikverkauf bei VAUDE in Tettnang gibt es ein Repair Café. Dort können Kunden ihre Jacken, Rucksäcke, Zelte oder Taschen – auch von anderen Marken – mit Unterstützung kompetenter VAUDE Mitarbeiter selbst nähen oder reparieren. Die fachkundige Anleitung und die Nutzung der Geräte und Werkzeuge ist kostenlos. (VAUDE 01.08.2019)27
(Kontext) Wissenschaft und Universität Die Betonung des wissenschaftlichen bzw. universitären Aspekts ist ebenfalls in diesem thematischen Kontext anzuführen (und war auch schon bei einigen Beispielen oben mit dabei). Hierher gehören auch Fälle mit dem Lexem Wissenschaft und davon abgeleitete Wortbildungen (z.B. wissenschaftlichen Netzwerk) sowie solche mit dem Morphem {forsch} (z.B. Forschungsprojekt). Acht Studenten des interdisziplinären Studienganges Risk Assessment and Sustainability Management (RASUM) an der Hochschule Darmstadt haben sich mehrere Monate lang intensiv mit der Fragestellung befasst, wie VAUDE seine Warenströme optimieren kann, um Emissionen einzusparen. (VAUDE 01.08.2019)28 Auf Basis der von VAUDE bereitgestellten Daten und Fakten und gemeinsam mit den Experten der Spedition Group7, ihrem wissenschaftlichen Netzwerk und der Unterstützung ihres Professors Martin Führ haben die Studenten elf Handlungsempfehlungen für VAUDE entwickelt, wie wir bei der Warenanlieferung Emissionen einsparen können. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 28) Gemeinschaftswerk der Textilindustrie Im Bewusstsein, dass hier Handlungsbedarf besteht und wir alle im selben Boot sitzen, haben sich etliche Unternehmen der Textilindustrie und viele Organisationen aus Zivilgesell-
|| 26 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/vaude/wesentliche-aspekte.php (letzter Zugriff 01.07.2020). 27 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/reparieren-statt-wegwerfen.php (letzter Zugriff 01.07.2020). 28 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/umwelt/warenlogistik.php (letzter Zugriff 01. 07.2020).
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schaft, Wissenschaft und Forschung zusammengetan und entwickeln den Higg Index unter dem Dach der Sustainable Apparel Coalition. (VAUDE 01.08.2019)29 Um hier mit vereinten Kräften voranzukommen, haben wir ein großes Forschungsprojekt initiiert: Am 1. September 2017 fiel der Startschuss für das Verbundprojekt „TextileMission“, an dem VAUDE aktiv mitwirkt. Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die Belastung der Umwelt durch Mikroplastikpartikel zu reduzieren, die Textilien aus Synthetik-Fasern bei der Haushaltswäsche freisetzen. „TextileMission“ läuft über einen Zeitraum von drei Jahren und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderschwerpunktes „Plastik in der Umwelt – Quellen, Senken, Lösungsansätze“ mit rund 1,7 Millionen Euro gefördert. (VAUDE 01.08.2019)30
Strategie „Tradition“ Die Betonung langjährig bestehender Kontakte zu für die Rezipient*innen vertrauenswürdig erscheinenden Institutionen und thematisch einschlägiger Mitgliedschaften oder seit langem durchgeführter positiv konnotierter Handlungen ist eine beliebte Strategie, um eine Marke oder ein Produkt aufzuwerten. Zugleich handelt es sich bei der Thematisierung von Tradition (z.B. mit den Lexemen und Syntagmen traditionell, lange Tradition oder seit über einem Jahrzehnt) um eine bewährte Werbestrategie: Langjähriges Bestehen auf dem Markt wird in der Regel aus Sicht der Rezipient*innen als Erfolg für das Unternehmen verbucht. Ein defektes Produkt heißt noch lange nicht, dass damit sein Lebensende besiegelt ist. Unsere VAUDE-eigene Reparaturwerkstatt behebt traditionell kleine und größere Schäden, tauscht defekte Teile aus und verlängert damit die Lebensdauer Deines geliebten Produktes. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 27) Daunen haben eine gute Haltbarkeit und sind ein wertvoller Rohstoff für die Textilindustrie. Deshalb hat Daunen Recycling eine lange Tradition. Es macht sowohl ökologisch als auch ökonomisch Sinn. (VAUDE 01.08.2019, vgl. FN 19) Seit 1980 produzieren wir in Tettnang-Obereisenbach hochwertige Rucksäcke, Rad- und Lifestyle-Taschen und sind stolz auf unsere Manufaktur. 1995 haben wir uns an diesem
|| 29 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/higg-index.php (letzter Zugriff 06. 07.2020). 30 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/umwelt/mikroplastik.php (letzter Zugriff 06. 07.2020).
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Standort auf die Herstellung von wasserdichten Produkten spezialisiert. (VAUDE 01.08. 2019)31 Die Fair Wear Foundation VAUDE ist seit 2010 Mitglied der Fair Wear Foundation. Die FWF zählt zu den anerkanntesten und strengsten Standards im Bereich soziale Verantwortung. Die unabhängige Organisation konzentriert sich hauptsächlich auf die nähende Industrie der Lieferketten, da dort die arbeitsintensiven Prozesse stattfinden und somit eine große Anzahl an Arbeitern erreicht werden kann. Die FWF prüft daher die Arbeitsbedingungen in unseren Produktionsbetrieben. (VAUDE 01.08.2019)32 Seit 2010 benutzen wir bei VAUDE ausschließlich Strom aus regenerativen Quellen. Seit 2013 heizen wir außerdem mit Biogas. (VAUDE 01.08.2019)33 Damit Du sichere und saubere VAUDE Produkte ganz ohne Schadstoffe kaufen kannst, bemühen wir uns seit über einem Jahrzehnt um ein umfassendes Schadstoffmanagement: 2001 wurde VAUDE der erste bluesign® Systempartner und 2016 haben wir als eine der wenigen Outdoormarken das strenge Greenpeace Detox Commitment unterzeichnet. (VAUDE 01.08. 2019)34 Wir verarbeiten schon seit vielen Jahren zertifizierte Biobaumwolle, z.B. von Materialherstellern aus Portugal. (VAUDE 01.08.2019)35
Thematisierung von Auszeichnungen Die beliebte Werbestrategie, Preise, Auszeichnungen und Qualitätssiegel zu thematisieren, lässt sich auch bei VAUDE nachweisen. Da ist beispielsweise von fünf der begehrten Trophäen oder der Auszeichnung in der Kategorie „Industrieunternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern“ die Rede. Auf der Sportfachmesse ISPO in München erhielt VAUDE gleich fünf der begehrten Trophäen. Für unser umfangreiches Engagement im Bereich Nachhaltigkeit wurden wir mit
|| 31 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/Made-in-Germany.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 32 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/menschen/unsere-verantwortung.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 33 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/umwelt/energiemanagement.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 34 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/schadstoff-management.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 35 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/biobaumwolle.php (letzter Zugriff 06.07.2020).
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dem Eco Achievement Brand Award ausgezeichnet. Besonders beeindruckt war die Jury von der Green Shape Core Collection, einer komplett nachhaltigen Kollektion, die wir auf der ISPO präsentierten. (VAUDE 01.08.2019)36 VAUDE gewinnt Umweltpreis für Unternehmen 2018 10. Dezember 2018 – VAUDE gewann die Auszeichnung in der Kategorie „Industrieunternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern“. Das Preisgeld von 10.000 Euro wird VAUDE für künftige Umwelt-Maßnahmen am Firmenstandort nutzen. (VAUDE 01.08.2019)37
Thematisierung der Marktführerschaft Die führende Rolle in einem Sektor einzunehmen oder gar Vorreiter*in zu sein ist eine beliebte senderbezogene Argumentation, die dazu dient, die Qualität der Marke oder des Unternehmens zu unterstreichen; bei VAUDE wird beispielsweise von Führungsrolle und Pionierunternehmen gesprochen; teils finden sich zusätzliche aufwertende Attribute: Europas nachhaltigster Outdoor-Ausrüster, als erstes Unternehmen der Outdoor-Branche. Als Europas nachhaltigster Outdoor-Ausrüster bekennen wir uns klar zu unserer Führungsrolle bei Umweltschutz und sozialer Verantwortung. Wir arbeiten seit Jahren konstant daran, unser Unternehmen und unsere Produkte immer nachhaltiger zu machen. Wir berichten jährlich nach den strengsten Standards transparent über Fortschritte und Herausforderungen. (VAUDE 01.08.2019)38 Durch unsere Arbeit und unsere Produkte wollen wir einen Mehrwert für Dich und für die Natur schaffen. Deshalb sind wir als erstes Unternehmen der Outdoor-Branche Pionierunternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) und messen unseren Beitrag zum Gemeinwohl. Bereits zum zweiten Mal veröffentlichen wir eine auditierte Gemeinwohl-Bilanz. (VAUDE 01.08.2019)39
|| 36 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/news/ISPO-Eco-Achievement-Brand-Awardfuer-VAUDE.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 37 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/news/VAUDE-gewinnt-Umweltpreis-fuerUnternehmen-2018.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 38 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/csr-standards/Detox-Commitment.php (letzter Zugriff 06.07.2020). 39 https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/csr-standards/gemeinwohloekonomie.php (letzter Zugriff 06.07.2020).
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Strategie „Versprechen“ Die Sprechhandlung VERSPRECHEN ist in Nachhaltigkeitsberichten erwartbar; sie wird exemplarisch am Beispiel des Kapitels Grüne Produkte (REWE 2019: 66–72) des REWE-Nachhaltigkeitsberichts, in dem sie gesamthaft für Kohärenz sorgt und somit den roten Faden darstellt, herausgearbeitet. Dass sie sich als Werbestrategie eignet, liegt an den positiv konnotierten Propositionen. Die REWE Group will diesen Bedürfnissen Rechnung tragen und zugleich immer mehr Menschen für nachhaltigere Produkte und Dienstleistungen begeistern. (REWE 2019: 66)
Einblicke in das Vorgehen bei der Umsetzung der Strategie Grüne Produkte 2030 für die Lieferketten der Eigenmarken der REWE Group, die in Deutschland bei REWE, PENNY und toom Baumarkt vertrieben werden (REWE 2019: 66), sollen Vertrauen in Transparenz und Qualität fördern. Mehrfach kommen in diesem Kapitel das positiv konnotierte Substantiv Verantwortung und damit gebildete Wortbildungsprodukte (z.B. verantwortungsvolle, verantwortungsbewusst, Verantwortungsbereich) vor, die stets auf die Marke REWE bezogen sind:40 […] verantwortungsvolle landwirtschaftliche Lieferketten (REWE 2019: 66). Bei den Eigenmarkenprodukten hat die REWE Group einen größeren Einfluss und damit eine besondere Verantwortung (REWE 2019: 67). Die Mission der Nachhaltigkeitssäule Grüne Produkte – „Wir handeln verantwortungsbewusst für Mensch, Tier und Umwelt“ – bildet das Dach der Strategie, an dem konkrete Maßnahmen ausgerichtet werden. (REWE 2019: 67) Das Handelsunternehmen nimmt seine Verantwortung wahr und setzt sich mit unterschiedlichen Maßnahmen für einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen entlang seiner Lieferkette ein. (REWE 2019: 70) Drei der höchstbewerteten SDGs fallen in den Verantwortungsbereich der Säule Grüne Produkte: SDG 12: Verantwortungsvoller Konsum, SDG 15: Leben an Land, SDG 14: Leben unter dem Wasser. (REWE 2019: 72)
|| 40 Im REWE-Nachhaltigkeitsbericht über das Jahr 2018 werden insgesamt 30 Mitgliedschaften zur Unterstützung von „Initiativen und Organisationen für nachhaltiges Handeln, Umwelt- und Tierschutz, bewusste Ernährung und vieles mehr“ (REWE 2019: 15) aufgelistet, was die Verantwortung des Unternehmens in diesem Kontext zeigen und somit zur positiven Imagekommunikation beitragen soll.
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Im Laufe des Kapitels werden weitere Ziele thematisiert, zum Beispiel nachhaltigere Sortimente anzubieten oder die Auswirkungen ihrer Eigenmarkenprodukte auf Mensch, Tier und Umwelt [zu] identifizieren, [zu] bewerten und effektive Maßnahmen [zu] ergreifen: Die Unternehmensgruppe arbeitet daran, vermehrt nachhaltigere Sortimente anzubieten. Dazu zählen im Lebensmittelbereich Bio-Produkte und regionale Produkte sowie Eigenmarkenprodukte, bei denen in der Lieferkette Verbesserungen erzielt wurden. Vor diesem Hintergrund hat die REWE Group das PRO PLANET-Label entwickelt. PRO PLANET steht für das Ziel der REWE Group, konventionelle Produkte im Massenmarkt nachhaltiger zu gestalten und nachhaltigeren Konsum in der Breite zu fördern. […] Auch im Tourismus werden immer mehr nachhaltigere Angebote geschaffen. (REWE 2019: 67) Mit der Strategie Grüne Produkte 2030 möchte die REWE Group die Auswirkungen ihrer Eigenmarkenprodukte auf Mensch, Tier und Umwelt identifizieren, bewerten und effektive Maßnahmen ergreifen. (REWE 2019: 67)
Als Ziele lassen sich ferner die Themen Fairness: existenzsicherndes Einkommen sowie Zwangs- und Kinderarbeit; Tierwohl: Haltungsbedingungen, Eingriffe am Tier sowie Zucht und Rasse; Ressourcenschonung: Kreislaufwirtschaft, Wasser sowie Biodiversität und Ernährung: vielfältige und gesunde Ernährung verstehen mit den damit verbundenen Konkretisierungen: Bis 2020 wollen REWE und PENNY das gesamte Eigenmarkensortiment hinsichtlich des Zucker- und Salzgehalts überprüfen und bei 50 Prozent der relevanten Artikel eine Zuckeroder Salzreduktion umsetzen. Dabei werden keine alternativen Süßungsmittel als Ersatz genutzt. Der Zuckergehalt der Produkte wird Schritt für Schritt reduziert, damit sich die Kunden langsam an den neuen Geschmack gewöhnen. (REWE 2019: 71)
Auffallend ist, dass im Rahmen der Thematisierung von Zielen und beabsichtigten oder unabgeschlossenen Aktivitäten in keinem Fall das Futur zum Einsatz kommt. Stattdessen werden die Verbformen wollen (als Voll- und als Modalverb), möchte oder arbeitet (daran) verwendet. Es finden sich Jahresangaben und Wortgruppen wie immer mehr und Schritt für Schritt, die die Handlungen „in progress“ versprachlichen. In den Kontext passt auch der Einsatz von Komparativen, z.B. das Ziel der REWE Group, konventionelle Produkte im Massenmarkt nachhaltiger zu gestalten (REWE 2019: 67).
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Aufwertung durch Reduktion Als themenspezifische Strategie lässt sich die Aufwertung durch Reduktion, die im Mittelpunkt des Kapitels Verpackungen (REWE 2019: 105–114) des REWE-Nachhaltigkeitsberichts steht, bezeichnen. Auch in diesem Kapitel findet sich die Sprechhandlung VERSPRECHEN: Im Jahr 2030 soll jede Verpackung der Eigenmarkenprodukte der REWE Group in Deutschland und Österreich einen umweltfreundlicheren Mehrwert bieten. (REWE 2019: 106) Durchwegs dominant ist aber die Strategie der Aufwertung durch Reduktion; sie geht einher mit thematisierten Zielen und der Kommunikation bereits getätigter Handlungen und zeigt sich vorrangig an Sätzen mit den Verben reduzieren, vermeiden, einsparen, verzichten sowie mit den Substantiven Reduktion, Verringerung und Weglassen. Zu jedem Lexem wird folgend ein Beispiel genannt. So reduziert die REWE Group die ökologischen Auswirkungen von Verpackungen und fördert eine kreislaufgeführte Wirtschaft. „Umweltfreundlichere Verpackungen“ sind definiert als solche, die einen negativen Effekt auf die Umwelt reduzieren, indem die Verpackung vermieden, verringert oder verbessert wurde. (REWE 2019: 106) Um ein Zeichen für die Reduzierung des Plastikmülls zu setzen, hat die REWE Group in ihren Vertriebslinien REWE (2016), PENNY (2017), DER Touristik Reisebüros (2017) und toom Baumarkt (2018) in Deutschland sowie bei BILLA, MERKUR, PENNY, BIPA und ADEG in Österreich (2017) die Plastiktüte ausgelistet. (REWE 2019: 108) Zudem werden rund 630 REWE- und nahkauf-Märkte in Baden-Württemberg, RheinlandPfalz und dem Saarland ab April 2019 einen Test durchführen, bei dem im Bereich Bio-Obst und -Gemüse weitestgehend auf Plastikverpackungen verzichtet wird oder umweltfreundlichere Verpackungen eingesetzt werden. Mit den Maßnahmen können jährlich gut 90.000 Kilogramm Verpackungsmaterial eingespart werden, davon rund 55.000 Kilogramm Kunststoff. (REWE 2019: 110–111) Ein Beispiel zur Verringerung von Verpackungsmaterial ist die Umstellung von Folienverpackung auf Klebebanderolen oder Klebeetiketten bei Bananen. (REWE 2019: 111) Materialreduktion durch den Einsatz von Leichtglas, Weglassen der Siegelfolie zwischen Dose und Deckel bzw. Umstellung auf einen Originalitätsverschluss an der Dose, Verpackungsverringerung bei Kunststoffschalen (REWE 2019: 114).
Ein Bezug zur Werbekommunikation fällt hier als Parallele im weiteren Sinne auf: Das semantische Merkmal ‚Reduzierung betreffend‘ findet sich bisweilen als Hinweis auf die Verknappung des Angebots bzw. die Verengung der Zeitspanne, in der das Produkt angeboten wird, z.B. Limited Edition (Reimann 2018: 110).
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4 Fazit Die Untersuchung von Nachhaltigkeitsberichten aus der Perspektive der Werbekommunikation zeigt Gestaltungsstrategien, die als Werbung interpretiert werden können, weil sie auch aus der Rezeption klassischer Werbetextsorten (Anzeige, Plakat, Fernseh- und Hörfunkwerbung) bekannt sind. Aufwertender Wortschatz und Emotionalisierung finden sich ebenso bei den Nachhaltigkeitsberichten wie spezifische Strategien zum Sender (z.B. der Hinweis auf langjährige Mitgliedschaft in im Sinne der Nachhaltigkeit wertvollen Institutionen), zum Produkt (hier geht es in der Regel nicht um einzelne Produkte, sondern z.B. um Lieferketten zu Produktbestandteilen oder um die Verarbeitung der angebotenen Produkte generell) und zum Empfänger (z.B. Vorteile, wie Schutz bei unterschiedlichem Wetter für die Träger*innen der VAUDE-Kleidung oder direkte Anrede), die Thematisierung von wissenschaftlichen Bezügen im Arbeitsablauf und die Erwähnung von Expert*innen. Dabei fällt auf, dass die verschiedenen Möglichkeiten des werbenden Senderbezugs differenziert zum Einsatz kommen. In einer weiteren quantitativen Studie könnte geprüft werden, ob also der Bezug auf das Unternehmen/die Marke dominant ist im Verhältnis zum Empfänger- und Produktbezug. Dass man dabei die Frage, was unter dem Bezug auf das Produkt zu verstehen ist, nochmal klären müsste, wurde bereits angedeutet. Insgesamt liegt der Schluss nahe, dass der Nachhaltigkeitsbericht auch als Werbeplattform – mindestens im Sinne der Imageförderung der Marke – genutzt wird. Die vorliegenden Analysen zeigen, dass themenspezifische Strategien vorkommen (z.B. Aufwertung durch Reduktion beim Kapitel Verpackungen von REWE) und dass es Themen gibt, die aus der Werbung nicht oder weniger bekannt sind, die man demnach als textsortenspezifisch für den Nachhaltigkeitsbericht einordnen könnte (z.B. die Formulierung von Versprechen und Zielen). Systematische Analysen müssten folgen, beispielsweise der gesamthafte Vergleich der Nachhaltigkeitsberichte von berichtspflichtigen (Beispiel: REWE) und nicht-berichtspflichtigen Unternehmen (Beispiel: VAUDE) im Hinblick auf alle möglichen Gestaltungsaspekte, die Hinweise auf eine zugrunde liegende Appellfunktion liefern könnten (von der Struktur über platzierte Themen bis hin zum Bild-/Farbkonzept).
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REWE (2019): Rewe Group-Nachhaltigkeitsbericht 2018: https://rewe-group-nachhaltigkeitsbericht.de/2018/sites/default/files/pdfs/rewe_group-nachhaltigkeitsbericht_nach_gristandards_2018.pdf (letzter Zugriff 15.04.2021). REWE (2016): Die Rewe Geschichte. https://www.rewe-group.com/de/unternehmen/unternehmensgeschichte/index.html#!/chapter/1927 (letzter Zugriff 08.07.2020). Tchibo (2019): Tchibo Nachhaltigkeitsbericht 2018. TchiboNachhaltigkeitsbericht2018.pdf (letzter Zugriff 05.09.2019). VAUDE Website (undatiert): vaude.com/de-DE/ (letzter Zugriff 09.07.2020). VAUDE (2019): Nachhaltigkeitsbericht 2018. https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/ (letzter Zugriff 08.07.2020).
Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Links: 1a) Deckblatt des Fortschrittsberichts von Lidl 2018 (2018: 1). Rechts: 1b) Fotografie aus dem Nachhaltigkeitsbericht von Tchibo 2018 (2019: 13).
Abb. 2:
Links: 2a) Eingangsseite des hypertextuellen VAUDE-Nachhaltigkeitsberichts 2018 (VAUDE 01.08.2019). https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/ (letzter Zugriff 08.07.2020). Rechts: 2b) Oberer Teil (Startbild und Überschrift) der Seite Material Policy des VAUDE-Nachhaltigkeitsberichts 2018 (VAUDE 01.08.2019). https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri/produkte/material-policy.php (letzter Zugriff 01.07.2020).
Abb. 3:
Materiallieferanten nach Anzahl und Anteil je Land. Links: 3a) Europa (VAUDE 2019). Eingebettete Bilddatei, separat einsehbar unter: https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri-wAssets/fotos/inhalte/Bilder-fuer-GRI-2020/GRI_Produkt-Materialien_Material-Policy_Europa_DE.jpg (letzter Zugriff 15.04.2021). Rechts: 3b) Asien (VAUDE 2019). Eingebettete Bilddatei, separat einsehbar unter: https://nachhaltigkeitsbericht.vaude.com/gri-wAssets/fotos/inhalte/Bilder-fuer-GRI-2020/GRI_Produkt-Materialien_Material-Policy_Asien_DE.jpg (letzter Zugriff 15.04.2021).
Valentina Crestani
Deutsche und italienische Institutionenkommunikation: Nachhaltigkeitsberichte zwischen Sprach- und Bildlichkeit Zusammenfassung: Linguistische Analysen zur universitären Nachhaltigkeitskommunikation sind ein Forschungsdesiderat; insbesondere fehlen sprachwissenschaftliche Beiträge aus kontrastiver Perspektive. Der vorliegende Beitrag präsentiert die Hauptergebnisse einer exemplarischen Untersuchung zu deutschund italienischsprachigen Nachhaltigkeitsberichten, die inhaltliche und formale Aspekte fokussiert, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen deutschund italienischsprachigen Texten herauszuarbeiten. Hinsichtlich des Inhalts werden zentrale thematische und lexikalische Merkmale vorgestellt; bezüglich der Form betrachtet dieser Beitrag insbesondere strukturelle Merkmale und syntaktisch-räumliche Muster des Sprache-Bild-Verhältnisses. Schlüsselwörter: Nachhaltigkeitsberichte, Universitäten, Deutsch, Italienisch, Kontrastivität, Bilder
1 Einleitung Die Nachhaltigkeit im Allgemeinen und die spezifischen Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit und Institutionen im Speziellen sind seit einigen Jahren ein etabliertes Forschungsthema in verschiedenen Fachbereichen (insbesondere Wirtschaft), zu denen aber die Sprachwissenschaft noch nicht systematisch gehört. Es gibt auch multidisziplinär ausgerichtete Arbeiten, die sich im Gebiet der Environmental Humanities positionieren, die die vorwiegend wirtschaftswissenschaftlichen Studien mit Analysen zur kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit bereichern (vgl. dazu Kluwick/Zemanek 2019). Linguistische Untersuchungen zur Nachhaltigkeitskommunikation im unternehmerischen und institutionellen Bereich sind nicht sehr zahlreich (vgl. Janich 2013: 50), insbesondere wenn man den Faktor Kontrastivität miteinbezieht.
|| Valentina Crestani, Università degli Studi di Milano, Dipartimento di Scienze della Mediazione Linguistica e di Studi Interculturali, Piazza Indro Montanelli 1, 20099 Sesto San Giovanni (MI), Italia, valentina.crestani[at]unimi.it https://doi.org/10.1515/9783110740479-010
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Wenn man das Sprachenpaar Deutsch-Italienisch berücksichtigt, sind die publizierten Arbeiten dazu sogar nur sporadisch zu nennen: Zu den wenigen Analysen zählen die Arbeiten von Glausch (2017) und Rocco (2017a), die die Nachhaltigkeitsberichte von deutschen und italienischen Unternehmen miteinander vergleichen, und der Aufsatz von Rocco (2017b), die neben den unternehmerischen Nachhaltigkeitsberichten auch die städtischen berücksichtigt. Es ist aber auch zu betonen, dass der Begriff ‚Nachhaltigkeitskommunikation‘ und die damit verbundene Forschung noch relativ jung sind, wobei diese vorwiegend wirtschaftsorientiert ist, in dem Sinne, dass die Unternehmenskommunikation besonders im Vordergrund steht. Rödel (2013: 116) behandelt die Nachhaltigkeit als marketing-verbundenen Begriff, also primär als Begriff, der die Unternehmen betrifft und dabei eine negative Konnotation tragen kann, weil dieser „inhaltsleer“1 (vgl. dazu aber auch die Ergebnisse der Analyse von Fischer/ Haucke 2016 und Fischer 2019) ist oder mit dem abwertenden Begriff Greenwashing in Zusammenhang steht.2 Für das Marketing selbst ist Nachhaltigkeit ein positiver Ausdruck, der wegen dieser positiven Merkmale häufig verwendet wird; gerade diese Häufung kann aber zur negativen Konnotation führen und ein Gefühl der Inhaltslosigkeit bei den Rezipienten auslösen. Unternehmen und Nachhaltigkeit sind also – zumindest theoretisch – eng miteinander verbunden, auch wenn Rödel (2013) den Ausdruck im Bereich der Unternehmenskommunikation als inhaltslos bewertet. Glausch (2017: 187) gibt folgende Definition zur unter-
|| 1 Vgl. auch Ott (2019: 2278) zur Idee der nachhaltigen Entwicklung: „Die äußerlich imposante Erfolgsgeschichte ging jedoch mit einer sprachlichen Inflationierung und konzeptionellen Konturlosigkeit einher, die in der Kompromissformel bereits angelegt waren. Da niemand sich direkt gegen eine nachhaltige Entwicklung aussprechen kann, versuchen viele Akteure, diesen Begriff in ihrem Interesse strategisch zu besetzen. Die damit einhergehende Ausweitung des Begriffs führt zu einem Verlust an Bedeutung; denn Begriffe mit großer Extension (Umfang) verlieren notwendig an Intension (Bedeutung)“. 2 Bei Greenwashing handelt es sich um den „Versuch (von Firmen, Institutionen), sich durch Geldspenden für ökologische Projekte, PR-Maßnahmen o. Ä. als besonders umweltbewusst und umweltfreundlich darzustellen“ (Duden Online). In ihrer Dissertation zu Nachhaltigkeitsberichten deutscher Unternehmen betont Schwegler (2018: 426), dass Greenwashing in Medientexten vorkommt, also selbstverständlich nicht in den von den Firmen publizierten Berichten, und damit eine Diskrepanz zwischen der Kommunikation und dem tatsächlichen Handeln entsteht. Man vergleiche folgendes Beispiel aus dem DeReKo-Korpus (Archiv: N-öffentlich – alle öffentlichen Neuakquisitionen), der dieses diskrepante Verhalten fokussiert und explizit als „pseudogrüne Tünche“ bezeichnet: „Um die Pariser CO2-Ziele zu erreichen, muss sich endlich jeder ernsthaft anstrengen: die Bundesregierung, die Landesregierungen, die Städte, die Firmen und jeder Bürger selbst. Da reicht kein Greenwashing mehr, keine pseudogrüne Tünche, die viele Firmen so gerne haben“ (Rhein-Zeitung 25.09.2019).
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nehmerischen Nachhaltigkeitskommunikation an, die als alternative Definition für die von Brugger (2010: 3–4) vorgeschlagene gilt: alle kommunikativen Handlungen einer gewinnorientierten Wirtschaftseinheit in der internen und in der externen Kommunikation über die im Zuge ihrer Geschäftstätigkeit erfolgende Wahrnehmung und Ausübung ihrer eigenen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung sowie über ökologische, soziale und ökonomische Zusammenhänge und ihre Interdependenzen im Kontext der Nachhaltigkeit.
Diese Definition gilt als Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit, die sich mit der Institutionenkommunikation beschäftigt und zwar spezifisch mit der externen Kommunikation von deutschen und italienischen Universitäten, die Nachhaltigkeitsberichte auf ihren offiziellen Webseiten publizieren. Es handelt sich dabei weder um eine zeitlich konstante Handlung noch um eine universelle Handlung; die Hochschulen, die Nachhaltigkeitsberichte veröffentlichen, publizieren nicht jedes Jahr einen Bericht. Zudem sind nicht alle Universitäten in diesem Prozess involviert, auch wenn sie sich in der Tat mit Nachhaltigkeit aus vielen Perspektiven befassen. Es ist festzustellen, dass die tatsächliche Nachhaltigkeitsleistung einer Institution nicht mit dem Umfang und der Tiefe ihrer Kommunikation zur Nachhaltigkeit gleichzusetzen ist, wie Bey (2008: 37) in Bezug auf die Unternehmen beobachtet. Um wieder auf die oben zitierte Definition von Glausch (2017) zurückzukommen, ist es zwar korrekt, dass Universitäten keine gewinnorientierten Wirtschaftseinheiten sind, aber sie sind auf jeden Fall Institutionen, die – auch wegen ihrer Größe und ihrer Mitgliederzahl – gesellschaftlich relevant sind und die aufgrund ihrer sozialen Relevanz als Bildungsorte eine interne und eine externe Kommunikation zu ihren Nachhaltigkeitspraktiken, -forschungen und -bildungsmöglichkeiten führen. Obwohl die Nachhaltigkeit für Rödel (2013: 116) als entsemantisierter Marketing-Begriff fungiert, übt sie nach dem Linguisten auch gleichzeitig die Funktion eines globalen Leitkonzepts aus, so dass sie einerseits als negatives Extrem und andererseits als positives Extrem ihres Bewegungsspielraums und damit als „Hochwertwort des aktuellen politisch-medialen und unternehmerischen Diskurses“ (Rocco 2017b: 241) gilt. Dabei stellen Nachhaltigkeitsberichte ein wichtiges informationsorientiertes Verbreitungsmittel dar: Bei diesen Texten handelt es sich um „eine relativ junge Textsorte“ (Rocco 2017b: 244), die sich in den letzten Jahren im Rahmen der Kommunikation insbesondere von Großunternehmen entwickelte, wie sprachwissenschaftliche Untersuchungen dazu zeigen. Während die Nachhaltigkeitsberichterstattung in der Unternehmenskommunikation bereits Beachtung in der linguistischen Forschung fand – für intralinguale Studien im deutschsprachigen Raum sei auf die Arbeiten von
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Gansel (2011, 2012) und von Schwegler (2018) verwiesen –, weckte diese in der Kommunikation anderer Institutionen wie Hochschulen das Interesse der LinguistInnen noch nicht. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass Nachhaltigkeitsberichte von Hochschulen publiziert werden können, aber nicht müssen, weil die Nachhaltigkeitsberichtserstattung nicht gesetzlich verpflichtend ist. Aus dem sprachwissenschaftlichen Blickwinkel heraus gesehen ist es aber interessant, die von Universitäten erstellten Nachhaltigkeitsberichte zu untersuchen, nicht nur, weil kontrastive linguistische Studien dazu noch nicht veröffentlicht wurden, sondern auch, weil die Aufmerksamkeit zunehmend mehr auf die Nachhaltigkeit dieser Institutionen gelenkt wird. Hochschulen werden gesellschaftlich als Institutionen gesehen, die einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten müssen und können: „Nachhaltige Universitäten werden zur Voraussetzung für eine zukunftsfähige Gesellschaft, da […] ihre Aktivitäten zum Vorbild für unsere Gesellschaft taugen“ (Brinken undatiert: 25). Damit ist die Berichterstattung der Universitäten ein konkreter Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Verantwortung (Albrecht 2006: 6), die sie charakterisiert.
2 Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitskommunikation an Universitäten In der einschlägigen (nicht-linguistischen) Literatur (vgl. u.a. Velazquez et al. 2006 und Lozano et al. 2013, zit. n. Brinken undatiert: 26) gilt die gesellschaftliche Verantwortung als anerkannter Wirkungsbereich der Universitäten. Zu den allgemein zutreffenden Gebieten, in denen die Universitäten nachhaltig sein können, zählen die Lehre, die Forschung, der Betrieb (d.h. das Umweltmanagement), die Verwaltung und das gesellschaftliche Engagement (Brinken undatiert: 27), die integriert zur Nachhaltigkeit beitragen können. Während der Betrieb und die Verwaltung eine lokale Begrenztheit haben, weil sie sich spezifisch auf die Universitätsgebäude beziehen, haben die Lehre und die Forschung auch einen externen Bezug, denn sie beeinflussen die Gesellschaft. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Betrieb keinen Einfluss auf die externe Welt (und zwar in primis auf die Region, wo sich die Universitätsgebäude befinden) hat. Im Gegenteil: Da der Betrieb sich negativ auf die Umwelt auswirken kann, wird besonders auf denselben geachtet, so dass eine Reflexion zum besseren Umgang mit der Umwelt sowohl in Deutschland als auch in Italien auf der Agenda vieler Hochschulen steht. Es ist daher kein Zufall, dass viele Nachhaltigkeitsberichte das Umweltmanagement fokussieren und es mit den ISO-Normen und Zertifizie-
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rungen in Verbindung setzen (ein Beispiel aus dem Nachhaltigkeitsbericht 2018 der Freien Universität Berlin: „Die Freie Universität Berlin richtet ihr Umweltmanagement an der international gültigen ISO-Norm 14001 aus. Im Jahr 2004 begann die schrittweise Zertifizierung einzelner Fachbereiche und von 2007 bis 2013 war die gesamte Universität nach ISO 14001 zertifiziert.“). Eine Universität ist aber nicht nur nachhaltig, wenn sie auf die Umwelt achtet, sondern wenn sie ihre Aufmerksamkeit allen drei Säulen der Nachhaltigkeit3 auf eine konkrete und geplante Weise schenkt und zwar, wenn sie „auf regionaler und globaler Ebene die Minimierung der negativen sozialen, ökologischen, ökonomischen und gesundheitlichen Effekte thematisiert, fördert und beinhaltet“ (Velazquez et al. 2006: 812, zit. n. Brinken undatiert: 36). In Bezug auf den Betrieb soll die Universität abzielen auf die starke Reduktion von negativen Einflüssen im Bereich Energie, Abfall, Mobilität, Klima, Fläche und Biodiversität (Brinken undatiert: 86). Die unternehmerische Nachhaltigkeitskommunikation ist als eine „Form gesellschaftsorientierter Unternehmenskommunikation“ (Gansel 2018: 110) oder als eine „PR-Strategie zur Ausrichtung des Unternehmens an den Prinzipien der Nachhaltigkeit“ (Gansel 2018: 110) definierbar. Obwohl Universitäten sich deutlich von Unternehmen unterscheiden, auch wenn sie Managementpraktiken aus der Wirtschaft übernehmen, ist die universitäre Nachhaltigkeitskommunikation der unternehmerischen ähnlich, in dem Sinne, dass sie sich in Richtung der Gesellschaft orientiert. Durch ihre kennzeichnenden Aktivitäten (Forschung, Lehre und Wissenstransfer) leisten die Hochschulen ihren Beitrag zu mehreren Bereichen: zur Lösung von lokalen, regionalen, nationalen oder globalen Problemen, zur Ausbildung von Menschen, die in ihrem zukünftigen Arbeitsleben an Prozes-
|| 3 Das Drei-Säulen-Modell, in welchem die Dimensionen ökologisch, sozial und wirtschaftlich separat nebeneinander stehen, wird oft mit der Triple Bottom Line (Elkington 1997) verglichen, obwohl diese tatsächlich das Modell bearbeitet und die nachhaltige Entwicklung in der Schnittmenge der drei Dimensionen verortet. Das Drei-Säulen-Modell verdankt seine Verbreitung der integrativen Berücksichtigung und Illustrierung verschiedener Entwicklungsdimensionen. An dieser illustrierenden Funktion, an der Anzahl der Säulen, an ihrem Verhältnis zueinander und an ihrer postulierten Gleichrangigkeit wurde Kritik geübt (zum letzten Punkt vgl. Ott 2019: 2288). Aus der daraus entstandenen Diskussion entwickelten sich neue Modelle mit einer erweiterten Säulenanzahl (vgl. Fischer 2019: 53), z.B. das Lüneburger Vier-Säulen-Modell (Stoltenberg/Michelsen 1999) mit der Kultur als vierter Säule, das Fünf-Säulen-Modell der Bund-Länder-Kommission (BLK 1998) mit einer globalen Dimension als fünfter Säule und das Sechs-Säulen-Modell (Becker 2017), das die drei Dimensionen Bildung, Gerechtigkeit und Partizipation hinzufügt. Ein in den letzten Jahren verbreitetes Modell ist das so genannte Oxfam-Doughnut, das von Raworth (2012) bei der UN-Konferenz präsentiert wurde: Hier wird die Wirtschaft nicht wie bei anderen Modellen als eigene Dimension betrachtet, sondern als eine der unterschiedlichen Voraussetzungen, um ein gutes Leben zu führen.
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sen der Gesellschaftsverbesserung teilnehmen, und zur Wissensvermittlung und -diffusion in die Gesellschaft. Dieser letzte Aspekt ist so zu verstehen, dass die Universitäten als wissensvermittelnde und wissenspopularisierende Institutionen gelten, etwa durch bestimmte Vermittlungs- und Popularisierungsprozesse: Die Universitäten als Sender verfügen nämlich über ein ausreichendes Wissen, um die LeserInnen als Empfänger mit weniger umfassendem Wissen zu informieren (Liebert 2002: 93).4 Durch ihre Vermittlung kann somit der Horizont der LeserInnen erweitert und ihre Neugier befriedigt werden.5 Dabei geht es im ersten Fall um eine verhaltensbeeinflussende Vermittlung (Engberg 2017: 119), im zweiten Fall um eine informationsorientierte Vermittlung (Engberg 2017: 119), auch Popularisierung genannt. Die Universitäten sind auch Stellen der Verbreitung der guten Praktiken (vgl. Leal Filho 2018: 2).6 Diese betreffen nicht nur die hochschulische bzw. interne Gemeinschaft (Studierende, Lehrende, MitarbeiterInnen), sondern auch die externe Gemeinschaft, die damit auf Innovationen in Richtung Nachhaltigkeit aufmerksam gemacht wird. Die Universität trägt somit eine Verantwortung bei der Implementierung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung. An den Hochschulen erfolgt die Nachhaltigkeitskommunikation primär auf ihren offiziellen Webseiten oder auf den offiziellen Webseiten in sozialen Netzwerken. Im Folgenden werden die offiziellen Webseiten berücksichtigt, auf de|| 4 Zum Unterschied zwischen Popularisierung und Vermittlung von fach(sprach)lichem Wissen vgl. auch Turnbull (2018: 218), welche den ersten Begriff als Wissenstransfer versteht, der wahrscheinlich keinen Einfluss auf das Leben der Laien hat, und den zweiten Begriff als Wissenstransfer, der einen relevanten Einfluss auf ihr Leben hat: „Knowledge involves a real understanding of information, which has to be integrated into an individual’s existing knowledge and experience so that it is ready to be used. This is where the main difference lies between popularizations, as for example on scientific discoveries, which aim to transfer information to broaden the reader’s general knowledge, but probably will have no direct effect on his life, and mediation where information […] will actually be used by the reader to empower him/herself.“ Der Unterschied zwischen Popularisierung liegt also in der mehr oder weniger möglichen Partizipation am fach(sprach)lichen Diskurs. 5 Zu weiteren Zielen der Vermittlungskommunikation vgl. Liebert (2002: 84). 6 Dass Hochschulen als Orte der guten Praktiken gelten, wird nicht nur von ihnen selbst durch einen Prozess der positiven Selbstdarstellung auf ihren Webseiten betont, sondern auch von externen Akteuren, z.B. JournalistInnen, durch ihre (Medien)texte. Es sei hier ein Beispiel aus der italienischsprachigen Zeitung La Stampa (19.05.2019) angeführt, in welchem Egidio Dansero, Professor an der Universität Turin, über die Projekte zur ökologischen Nachhaltigkeit an der Universität Turin berichtet: „Una delle prossime sfide del nostro Green Office – spiega il docente – sarà cercare di replicare le politiche sostenibili attuate nell’ateneo anche all’esterno“. Der Professor erklärt, dass eine der nächsten Herausforderungen der Versuch sei, die an der Universität implementierte nachhaltige Politik außerhalb der Universität zu replizieren.
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nen spezifische Sektionen zur Nachhaltigkeit vorgesehen sind oder – wenn noch keine Sektion vorliegt – auf jeden Fall die Nachhaltigkeitsberichte publiziert werden:7 Ihre Veröffentlichung erfolgt im Rahmen einer Kommunikation nach außen. Die Berichterstattung stellt damit „ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit“ (Albrecht 2006: V) dar, das – auf Glaubwürdigkeit (s. unten) gerichtet – sich auf detailreiche Analysen zur Ist-Situation und auf die Darstellung der bestehenden Aktivitäten stützt mit dem Ziel, die Institution zu profilieren, ihre Nachhaltigkeitsidee klar zu konturieren und zukünftige Verbesserungen zu erreichen. Insbesondere drei Aspekte sind für hochschulische Nachhaltigkeitsberichte hervorzuheben: – Einbettung in eine weitere nachhaltigkeitsorientierte Kommunikationsstrategie: Nachhaltigkeitsberichte sind Teile eines umfassenderen Nachhaltigkeitskommunikationsprozesses und tatsächlich haben sie oft die Form von statischen Dokumenten (üblicherweise PDF-Texte), die im spezifischen Bereich zur Nachhaltigkeit zugänglich gemacht werden. Sie gehören also zu einer der Textsorten, die von Institutionen spezifisch benutzt werden, um „eine allumfassende Darstellung“ (Gansel 2018: 109) ihrer Tätigkeit zu vermitteln. – Explizite Thematisierung: Berichte thematisieren explizit die Nachhaltigkeit, weil sie sich auf direkte Weise mit dem Thema auseinandersetzen und es aktiv ausdeuten.8 Es geht also dabei um eine Nachhaltigkeitskommunikation im engeren Sinne (Fischer 2019: 56). – Transparenz: Nachhaltigkeitsberichte sind Mittel der Transparenz9 der Institution (vgl. Jarolimek/Raupp 2011: 501), deren Handeln öffentlich als legitim oder nicht legitim bewertet werden kann und im zweiten Fall durch Mei-
|| 7 Nach Isenmann (2007: 630) sind drei Typen von Online-Nachhaltigkeitsberichten zu unterscheiden: „Konvertierte Berichte“: Dabei geht es um die einfachste Form mit einer starken Orientierung an den Printmedien, so dass sie statisch sind; „Web-basierte Berichte“: Auch diese sind statisch und haben eine einfache Verweisstruktur, da sie HTML-basiert sind; „Internet-basierte Berichte“: Diese nutzen am stärksten die multimedialen Charakteristika der Hypertexte aus. 8 Die Nachhaltigkeitskommunikation kann auch implizit die Nachhaltigkeit thematisieren und somit ist sie eine Nachhaltigkeitskommunikation im weiteren Sinne. Vgl. dazu Fischer (2019: 56): „Implizite Thematisierungen verwenden den Begriff der Nachhaltigkeit nicht notwendigerweise, eine aktive Ausdeutung des Begriffs findet hier nicht statt. Jedoch gibt es indirekte Bezüge, indem auf zentrale Problemstellungen und Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung Bezug genommen wird […]“. 9 Nach der Global Reporting Initiative (GRI) ist das Ziel der Nachhaltigkeitsberichterstattung die Transparenz bei der Offenlegung der Auswirkungen der Institution auf die globale Nachhaltigkeit (https://www.globalreporting.org/, letzter Zugriff 21.02.2021).
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nungsänderung und Vertrauensverlust10 sanktioniert wird. Die Berichte sind Mittel, durch die die Universitäten ihre positive Reaktion auf die externen Erwartungen und Forderungen explizit zeigen und die dennoch negative Meinungen verursachen können, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. Die Berichterstattung ist also gleichzeitig ein Kommunikationsmittel und ein transparenzförderndes Instrument, das die nachhaltigkeitsbezogenen Charakteristika der Universität in den Mittelpunkt stellt und damit der „Reputations- und Legitimitätssicherung“ (Albrecht 2006: 6–7) dient.11 Die Transparenz führt zu einer erkennbaren Glaubwürdigkeit der universitären Institutionen, die als „wesentliches Merkmal“ (Gansel 2018: 111) der Nachhaltigkeitsberichte gilt. Die Glaubwürdigkeit konstituiert sich im internen und externen Nachhaltigkeitskommunikationsprozess, durch den sie der Universität – die als Kommunikator fungiert – zugeschrieben wird. Sie ist also als Effekt des Kommunikats zu beschreiben, der durch Inhalt und Stil betreffende Sprachmittel – die so genannten „linguistischen Glaubwürdigkeitsindikatoren“ (Reinmuth 2006: 233f.)12 – erzeugt wird. Durch diese wird also Vertrauen geschaffen, das seit Ende der 1990er Jahre intensiv in der Forschung zur Unternehmenskommunikation behandelt wird und als „ein zentraler Garant für den Erfolg eines Unternehmens“ gilt (Ebert 2005: 482).
|| 10 Nach Bentele/Seidenglanz (2015: 421) ist die Transparenz – kommunikativ gesehen – einer des Vertrauensfaktoren zusammen mit Sachkompetenz, Problemlösungskompetenz, Kommunikationsadäquatheit, gesellschaftlicher Verantwortung (und anderen). 11 Zur Reputation und Legitimität vgl. u.a. Campbell/Craven/Shrives (2003) und Ogden/Clarke (2005) (zit. n. Albrecht 2006: 6–7). 12 Reinmuth (2006: 235–292) ermittelt insgesamt 22 Indikatoren, von denen einige hier aufgelistet und kurz erläutert werden: – sprachliche Korrektheit auch im Sinne von Sprachrichtigkeit: Ein Kommunikator, der grammatische, morphologische und semantische Fehler begeht, vermittelt den Eindruck, unfähig zu sein; – angemessener Detailgrad: Details spiegeln „die Mitteilungsbereitschaft eines Kommunikators“ (Reinmuth 2006: 239) wider: „Je mehr ein Rezipient über einen Sachverhalt weiß (quantitativer Detaillierungsgrad) und je hochwertiger die dargebotenen Informationen aus seiner Sicht sind (qualitativer Detaillierungsgrad), desto niedriger wird sein persönliches Risiko und desto leichter fällt es ihm, eine positive Vertrauensentscheidung zu treffen“.
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3 Grundlagen vorliegender Arbeit Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts hat die Idee der Nachhaltigkeit „eine Virulenz entwickelt, die zu einer diskursiven Auseinandersetzung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen geführt hat“ (Fischer 2019: 55), die u.a. durch ihre Universalität (Pies 2006) zu begründen ist. Auf diese universale Verbreitung reagierten die unterschiedlichen Disziplinen mit zahlreichen Studien dazu, insbesondere aus der wirtschaftlichen Perspektive (auch weil das Ökonomische eine eigenständige Säule im Drei-Säulen-System darstellt). Die linguistische Perspektive auf das Phänomen ist aber unentbehrlich gerade wegen dieser imposanten Verbreitung (oder der Invasion, um den Terminus von Pies 2006 zu verwenden). Sie fällt mit wichtigen Änderungen zusammen, z.B. der Tatsache, dass sowohl der deutschen als auch der italienischen Bevölkerung Konzept und Begriff der Nachhaltigkeit in den letzten Jahren zunehmend bekannt wurden und sich in beiden Ländern ein zunehmendes Bewusstsein für Nachhaltigkeit entwickelte, wie Studien dazu (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017; Scuri 2019) belegen. Nach der von Fischer zusammen mit anderen LinguistInnen durchgeführten Analyse zur Verwendung der flektierten Begriffsverwendungen („nachhaltig*“) in deutschen Printmedien (2001, 2007, 2013)13 nimmt die Benutzung der alltagssprachlichen Bedeutungen kontinuierlich ab (vgl. Fischer/Haucke 2016; Fischer/Haucke/Sundermann 2017; Fischer 2019): Dabei geht es um eine „‚semantische Aufwertung‘ der Terminologie von Nachhaltigkeit, welche sich von einem nicht-spezifischen und ersetzbaren Modewort weg bewegt hin zu einer anspruchsvolleren und ausgearbeiteten Reflektion von Modellen einer nachhaltigen Entwicklung“ (Fischer 2019: 63). Zu dieser Reflexion tragen auch die Universitäten bei: Während die Forschung zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (und anderen standardsetzenden Institutionen) als etabliert und umfassend (Isenmann/Zinn 2015) definierbar ist, befindet sich die Forschung zur Berichterstattung von Universitäten noch in der Anfangsphase. Das gilt für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung; für die sprachwissenschaftliche Forschung gilt das nicht, da bisher keine Arbeiten publiziert worden sind. Daher steht die Forschung vergleichsweise noch nicht einmal am Anfang. Es ist also notwendig, über die nicht-sprachlichen und sprachlichen Faktoren der sprach-
|| 13 Die LinguistInnen untersuchten sechs deutsche Zeitungen unterschiedlicher politischer Ausrichtungen und analysierten die Begriffsverwendungen aus drei Jahrgängen (2001, 2007 und 2013).
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wissenschaftlichen Zurückhaltung zu reflektieren, die so subsumiert werden können: – Rolle der Universitäten: Im Jahr 2015 beobachten Isenmann/Zinn (2015), dass nur wenige Hochschulen in Deutschland ihre potenzielle Rolle als nachhaltigkeitsberichterstattende Akteure wahrnehmen. Diese Beobachtung kann auch auf die italienische Hochschullandschaft ausgedehnt werden, da ein wesentlicher Teil noch keinen Bericht zu seiner Nachhaltigkeitspraxis publiziert. – Verfügbarkeit der sprachlichen Daten: Dieser zweite Faktor ist direkt mit dem ersten verbunden. Bis Mitte des Jahres 2014 haben nur 14 der 395 deutschen Hochschulen einen Bericht publiziert (Sassen et al. 2014, zit. n. Isenmann/ Zinn 2015); dies entspricht 3,5 % der Hochschulen. Von 2015 bis 2017 hat sich die Situation in Deutschland leicht verändert: Nach Angaben von Prof. Sassen, Leiter des Forschungsprojekts Nachhaltigkeitsberichterstattung von Hochschulen (Universität Hamburg, HOCHN 2020),14 berichten etwa 5% aller Hochschulen zu ihrer Nachhaltigkeit (Halfmann 2018: 30). Auch in Italien haben nur einige Hochschulen in den letzten sechs Jahren einen Nachhaltigkeitsbericht auf ihren Webseiten veröffentlicht, obwohl es Universitäten gibt, die sich konkret mit Nachhaltigkeitsprojekten beschäftigen und die zur sogenannten Rete delle Università per lo Sviluppo Sostenibile (RUS), d.h. zum Netzwerk der Universitäten für die nachhaltige Entwicklung gehören. – Qualitative Vergleichbarkeit der sprachlichen Daten: Während von Nachhaltigkeitsberichten auf den Webseiten deutscher Hochschulen die Rede ist, wobei man mit diesem Terminus ein dokumentgebundenes Instrument der Nachhaltigkeitskommunikation versteht, ist die Terminologie auf den Webseiten italienischer Universitäten vielfältig. Zu der Verteilung dieser Vielfältigkeit gibt es quantitative Daten der Umfrage der RUS (2019),15 auf die 48 italienische Universitäten (also nicht alle Universitäten) geantwortet haben. Auf die Frage nach dem Typ der publizierten Berichte (Mehrfachnennungen möglich) antworteten die Universitäten folgendermaßen: 16 Universitäten publizieren die bilanci sociali, zwölf die bilanci di sostenibilità, elf die bilanci di genere, vier die bilanci integrati, sechs weitere Dokumente (die nicht spezifiziert werden) und 16 keine Berichte dieser Art. Das bedeutet, dass 33% der analysierten Hochschulen keinen Bericht publizieren, während die meisten (anderen) die sogenannten bilanci sociali publizieren. Es folgt daraus, dass
|| 14 https://www.hochn.uni-hamburg.de/1-projekt.html (letzter Zugriff 21.02.2021). 15 https://reterus.it/public/files/Documenti/Mappature/MappaturaRUS2019.pdf (letzter Zugriff 21.02.2021).
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die Berichte nur schwer miteinander vergleichbar sind, insbesondere wenn man eine intralinguale Perspektive einnimmt. Die Berichtsform bilancio di genere betrifft z.B. vorwiegend das Soziale, weil sie sich auf die Gendergerechtigkeit bezieht, während die Variante bilancio di sostenibilità (die auch als rapporto di sostenibilità bezeichnet wird) und die Variante bilancio sociale auch das Ökologische und das Ökonomische berücksichtigen. Quantitative Vergleichbarkeit der sprachlichen Daten: Einige Universitäten publizieren schon seit Jahren ihre Nachhaltigkeitsberichte, während andere bisher nur einen Bericht (Stand: März 2020) publiziert haben. Das gilt sowohl für Deutschland als auch für Italien. Rein quantitativ gesehen gibt es also eine Diskrepanz zwischen den einzelnen Hochschulen, die sich auch qualitativ widerspiegelt, wobei diachronische Untersuchungen (noch) nicht möglich sind. Synchron ausgerichtete Untersuchungen sind aber möglich, wobei auf bestimmte Kriterien geachtet werden muss (s. Abschnitt 4).
Die oben beschriebenen Faktoren stellen problematische oder zumindest beschränkende Aspekte dar, die bei der Analyse von universitären Berichten zu berücksichtigen sind. Obwohl es Gründe gibt, aus denen die Hochschulen die Nachhaltigkeitsberichte noch nicht systematisch im Bereich ihrer Nachhaltigkeitskommunikation nutzen, sind auch relevante Gründe zu nennen, die dafür sprechen, dass die Universitäten in den nächsten Jahren vermehrt auf Nachhaltigkeitsberichte zurückgreifen werden (Isenmann/Zinn 2015: 1): Unter diesen gilt als Hauptkriterium die Erwartung, einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten, die insbesondere seit der UN-Konferenz (1992) und der Agenda 21 immer größer geworden ist. Diese Erwartung betrifft auch die Universitäten selbst, die durch bestimmte Handlungen nachhaltiger werden müssen: Sowohl in Deutschland als auch in Italien wird diese Forderung insbesondere von der Hochschulrektorenkonferenz betont. Im Jahr 2018 hebt die deutsche Hochschulrektorenkonferenz die Rolle der Hochschulen im Prozess zur nachhaltigen Entwicklung in einer Empfehlung hervor (HRK 2018).16 Im Jahr 2019 unterstreicht die italienische Hochschulrektorenkonferenz auch durch das Manifest Da le ‚Università per la Sostenibilità‘ a ‚La Sostenibilità nelle Università‘ die tragende Rolle der Hochschulen nicht nur in der Lehre, sondern auch in den guten
|| 16 Vgl. https://www.hrk.de/themen/hochschulsystem/nachhaltigkeit/ (letzter Zugriff 21.02. 2021) sowie https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschluesse /HRK_MV_Empfehlung_Nachhaltigkeit_06112018.pdf (letzter Zugriff 21.02.2021).
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Praktiken (CRUI 2019).17 Ein anderer Grund, aus dem sich Universitäten zunehmend als nachhaltigkeitsberichterstattende Institutionen bekennen können, ist, dass die Berichte als Anstoß für eine systematische Auseinandersetzung mit der Nachhaltigkeit gelten, so dass diese Auseinandersetzung zu einem kontinuierlichen und institutionalisierten Prozess mit dem Ziel einer detaillierten Analyse der Schwäche und einer daraus folgenden Verbesserung wird. Die zwei genannten Gründe sprechen dafür, dass die Analyse der bereits bestehenden Nachhaltigkeitsberichte fruchtbar sein und gleichzeitig als Impuls zur weiteren Forschung dienen kann. Insbesondere wird dafür plädiert, dass Analysen mit dem Fokus auf Kontrastivität erwünscht und sogar notwendig sind, wenn man im Sinn eines transnationalen Nachhaltigkeitsbegriffs arbeiten will.
4 Ziele, Methode und Korpus Ausgehend von den im Abschnitt 3 angestellten Beobachtungen können die Ziele vorliegender Arbeit formuliert werden. Das Hauptziel ist es, den Bedarf an Analysen zur hochschulischen Nachhaltigkeitsberichterstattung aufzugreifen und im Sinne einer anstoßgebenden Übersicht die bereits existierenden Studien zu universitären Nachhaltigkeitsberichten, welche in nicht-sprachwissenschaftlichen Disziplinen entstanden sind, zu bereichern und die wissenschaftliche Diskussion über die ökologische Nachhaltigkeit ein kleines Stück voranzubringen. Die Leitfrage der Untersuchung lautet: Wie wird die ökologische Nachhaltigkeit versprachlicht und verbildlicht? Diese Frage bezieht sich auf formale und inhaltliche Gestaltungsfaktoren: – Formale Faktoren: Wie sind die deutschen und die italienischen Berichte strukturiert? – Inhaltliche Faktoren: Welche thematischen und lexikalischen Merkmale weisen die deutschen und die italienischen Berichte auf? Diese Aspekte werden um einen weiteren ergänzt, und zwar die visuelle Gestaltung der Texte: Welche Rolle spielen die verschiedenen Bildtypen und die Farben? Das Korpus besteht aus sechs Berichten von deutschen und italienischen Universitäten, die nach folgenden Kriterien gesammelt wurden:
|| 17 https://www.crui.it/archivio-notizie/le-universit%C3%A0-per-la-sostenibilit%C3%A02.html (letzter Zugriff 21.02.2021).
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Typ des Berichts: Deutsche Texte gehören eindeutig zur Textsorte der Nachhaltigkeitsberichte oder zumindest werden diese Texte explizit so bezeichnet. Eine vergleichbare Textsorte in der italienischen Sprache wäre somit der rapporto di sostenibilità. Wenn man diesem Versprachlichungskriterium folgt, sind es aber wenige Universitäten, die Texte unter dieser Bezeichnung veröffentlichen (vgl. auch das zweite Kriterium und die Ergebnisse der RUSUmfrage). Es werden daher auch Berichte berücksichtigt, die als bilanci di sostenibilità vorkommen. Jahr des Berichts: Das Jahr der Veröffentlichung ist auch ein wichtiges Kriterium, das neben dem Kriterium Typ zu betrachten ist. Das erste berücksichtigte Erscheinungsjahr ist sowohl für die deutschen als auch für die italienischen Texte das Jahr 2016 mit der Begründung, dass die italienische RUS (undatiert)18 im Juli 2015 gegründet wurde. Es werden also italienischsprachige Berichte gesammelt, die im Zeitraum 2016–2019 veröffentlicht wurden. Um einen vergleichbaren Zeitraum zu haben, werden auch die deutschsprachigen Berichte aus dieser Zeitspanne aufgenommen. Charakteristika der nachhaltigkeitsberichterstattenden Universitäten: Unter diesem Kriterium versteht man Merkmale der Hochschulen, die vergleichbar (aber nicht unbedingt ähnlich) sind, damit auch die Institutionen selbst, die berücksichtigt werden, Gemeinsamkeiten miteinander aufweisen. Die Gemeinsamkeiten sollen zuerst auf der nationalen Ebene und dann auf der internationalen Ebene vorliegen. Das bedeutet, dass deutsche bzw. italienische Hochschulen zunächst untereinander vergleichbar sein müssen und in zweiter Linie auch mit den italienischen bzw. deutschen Universitäten. Die Gemeinsamkeiten betreffen: Zugehörigkeit zu einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Netzwerk: Für die deutschen Universitäten gilt die Zugehörigkeit zum Nachhaltigkeitsnetzwerk HOCHN (Universität Hamburg 2020);19 für die italienischen gilt die Zugehörigkeit zur RUS (undatiert, vgl. FN 18). Vorhandensein eines spezifischen Bereichs zur Nachhaltigkeit auf der offiziellen Webseite: Obwohl dieses Kriterium nicht direkt die Universität als Institution betrifft, sondern ihre Politik in Bezug auf die Nachhaltigkeitskommunikation, wird es als besonders relevant behandelt. Es geht um eine präzise kommunikative Maßnahme, die von der Universi-
|| 18 https://reterus.it/ (letzter Zugriff 26.02.2021). 19 https://www.hochn.uni-hamburg.de/1-projekt/gesamtkoordination.html (letzter Zugriff 21. 02.2021).
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tät getroffen worden ist und die ihre Aufmerksamkeit auf die externe Kommunikation widerspiegelt. Allen oben genannten Kriterien folgend sind drei deutsche und drei italienische Universitäten identifiziert worden, und zwar: die Universität Hamburg, die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt und die Freie Universität Berlin für Deutschland sowie die Università Ca’ Foscari Venezia (Venedig), die Università degli Studi di Torino (Turin) und die Università degli Studi di Roma Tor Vergata (Rom) für Italien. Für jede Universität wird der letzte veröffentlichte Nachhaltigkeitsbericht im oben genannten Zeitraum berücksichtigt (vgl. Tabelle 1). Gemeinsam haben die Berichte außerdem, dass sie alle zum Typ der konvertierten Berichte (Isenmann 2007, vgl. FN 7) gehören: Es handelt sich also um statische Dokumente, die innerhalb der spezifischen Sektion zur Nachhaltigkeit publiziert werden. Tab. 1: Deutsch- und italienischsprachige Nachhaltigkeitsberichte
Universität (DE)
Jahr
Universität (IT)
Jahr
Berlin (FU)
2018
Rom (UNIROMA2)
2018
Eichstätt-Ingolstadt (KU)
2018–2019
Turin (UNITO)
2017–2018
Hamburg (UHH)
2015–2018
Venedig (UNIVE)
2018
5 Analyse der Nachhaltigkeitsberichte 5.1 Deutschsprachige Nachhaltigkeitsberichte 5.1.1 Strukturierung der Berichte Obwohl die vorliegende Analyse die ökologische Nachhaltigkeit, d.h. spezifische Abschnitte der Berichte fokussiert, ist es im ersten Schritt der Analyse interessant zu sehen, wie die Berichte strukturell aufgebaut sind. Diese strukturelle Voranalyse ist notwendig, um zu sehen, ob und – falls ja – wo die Thematisierung des Ökologischen im Gesamtbericht platziert ist und ob es explizit in den Haupttiteln genannt wird. Zuerst werden also die Inhaltsverzeichnisse (Haupttitel) der drei Berichte der Universitäten Berlin (FU), Eichstätt-Ingolstadt (KU) und Hamburg (UHH) gegenübergestellt (vgl. Tabelle 2).
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Tab. 2: Deutsche Nachhaltigkeitsberichte: Strukturierung
Universität Berlin (FU)
Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU)
Universität Hamburg (UHH)
Geleitwort Vorwort Vorworte Vorwort 1. Einleitung Governance und Partizi1. Einführung 2. Nachhaltigkeit als pation gestalten 2. Strategie Leitbild der KU Lehre, Forschung und 3. Governance 3. Forschen für die Nachhaltigkeit Wissenstransfer mit4. Forschung 4. Nachhaltigkeit im Studium einander verknüpfen 5. Lehre und Studium 5. Nachhaltige KU als Lebensraum Den Universitäts6. Umwelt – studentische Initiativen Campus nachhaltig 7. Gesellschaft und So6. Integrierte Umwelterklärung entwickeln ziales 2019 nach EMAS/EMASPLUS Gleichstellung, Vielfalt 7. Partnerschaften, Kooperationen, und Gesundheit fördern und Netzwerke Anspruchsvolle Ziele definieren und umsetzen 8. Nachhaltigkeit im Transfer – Dialoge ermöglichen Anhang Zusammenfassung & Ausblick Anhang
Mit Blick auf die Tabelle liegt auf der Hand, dass die drei Berichte unterschiedlich komplex aufgebaut sind. Diese Komplexität scheint aber von der Nummer des Berichts unabhängig zu sein: Die Universität Eichstätt-Ingolstadt publizierte vor dem hier analysierten Bericht seit dem Jahr 2012 schon sechs weitere Berichte; auch die Universität Hamburg veröffentlichte schon andere Berichte, der hier betrachtete ist der dritte seit dem Jahr 2010. Schon in den ersten Berichten beider Universitäten ist eine Strukturierung in (nummerierten) Kapiteln vorhanden, auch wenn die Titel der Kapitel im Laufe der Jahre eine Modifizierung erfuhren. Beispielsweise benutzt der erste Bericht für das Jahr 2010/2011 der Universität Hamburg explizit den Ausdruck „Ökologische Nachhaltigkeit“ für ein mehrseitiges Kapitel: Diese explizite Verwendung ist damit zu begründen, dass der Bericht auf den ersten Seiten den Begriff Nachhaltigkeit thematisiert und zwar sowohl sprachlich durch eine im Beispielsatz 1 wiedergegebene Erklärung mit Popularisierungszielen (im Sinne von Turnbull 2018, s. FN 4) als auch bildlich durch das Schema des Drei-Säulen-Modells der nachhaltigen Entwicklung.
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(1) Der Begriff nachhaltige Entwicklung beschreibt die stetigen Veränderungsprozesse unserer Gesellschaft, die dazu führen, dass ökonomische Effizienz, ökologisches Bewusstsein und soziale Verantwortung in Einklang gebracht werden. (UHH 2012: 6)20
Das Schema, das wie ein stilisiertes Haus aussieht, bei welchem das Dach die nachhaltige Entwicklung ist, die Säulen die drei Komponenten sind und die Ausdrücke Profit, Umwelt und Menschen das Fundament bilden, steht mit der vorangehenden Textpassage in einem Konvergenzverhältnis. Spezifisch geht es um eine Informationserweiterung durch das Bild, weil dieses zum Textinhalt weitere Informationen liefert, die von den LeserInnen für eine Einbettung in den größeren Zusammenhang des gesamten Berichts genutzt werden können. Ein Kapitel (-titel) mit der expliziten Nennung der ökologischen Nachhaltigkeit ist im dritten Nachhaltigkeitsbericht nicht mehr vorhanden. Auch in den Berichten der Universität Berlin und der Universität Eichstätt-Ingolstadt gibt es auf der Metaebene keinen expliziten Verweis darauf. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ökologische Aspekte überhaupt nicht erwähnt, sondern nur, dass sie durch andere Ausdrücke thematisiert werden. Beispielsweise wird im Bericht der Universität Hamburg das Wort Umwelt verwendet, das als Haupttitel des sechsten Kapitels fungiert: Dieses Kapitel steht nach dem Kapitel Lehre und Studium und vor dem Kapitel Gesellschaft und Soziales und ist somit zwischen zwei sozial orientierten Kapiteln angesiedelt. Im Bericht der Universität Eichstätt-Ingolstadt ist das sechste Kapitel der umweltorientierten Nachhaltigkeit gewidmet: Es steht nach dem Kapitel Nachhaltige KU als Lebensraum – studentische Initiativen und vor dem Kapitel Partnerschaften, Kooperationen und Netzwerke, folglich ist es – ähnlich wie im Bericht der Universität Hamburg – zwischen zwei sozial konzipierten Kapiteln platziert. Die komplexe Strukturierung durch Kapitel bzw. Abschnitte ist, wie oben beschrieben, keine Konsequenz einer mehrjährigen Erfahrung in der Berichterstattung, sondern vielmehr ein Ergebnis von kommunikativen Auswahlprozessen, die bestimmte Konzepte der Nachhaltigkeitskommunikation widerspiegeln. Der Bericht der Freien Universität Berlin, der als der erste derartige Bericht dieser Institution gilt, weist dagegen eine anscheinend weniger komplexe Strukturierung im Vergleich mit den anderen Berichten auf: Die vergleichsweise einfachere Struktur ist durch kurze, nicht nummerierte Haupttitel (keine Abschnitte) charakterisiert, die als einleitende Einheiten zu spezifischen Themen dienen. Die ökologische Nachhaltigkeit wird im Kapitel Den Universitäts-Campus nachhaltig
|| 20 Beispielsätze aus den universitären Nachhaltigkeitsberichten (s. Tab. 1) werden hier und im Folgenden unter Nennung der jeweiligen Akronyme der Universitäten zitiert.
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entwickeln betrachtet. Alle drei Berichte zeigen auf den Seiten, die den Inhalt enthalten, auch bildliche Elemente: Der Bericht der Universität Berlin und der Bericht der Universität Hamburg bieten jeweils eine Fotografie an, während der Text der Universität Eichstätt-Ingolstadt keine Fotografie enthält, sondern eine Reihe von Piktogrammen. Genauer gesagt dient ein bestimmtes Piktogramm als Begleitbild jedes Kapitels, da es vor dem Haupttitel positioniert ist. Nach Ballstaedt (2012: 9) sind Piktogramme darstellende Bilder, die eine Übergangsform vom Bild zur Schrift darstellen und die ikonisch, symbolisch und hybrid sein können. Die im Bericht benutzten sind – einzeln berücksichtigt – ikonisch nach der Klassifizierung von Ballstaedt (2012), weil sie eine schematische Reduktion der dargestellten Handlungen oder Objekte sind und damit eine Ähnlichkeit mit ihren Gegenständen aufweisen. Das Piktogramm, welches das Kapitel zur ökologischen Nachhaltigkeit einleitet, stellt eine stilisierte Hand dar, die eine symbolische Funktion trägt: Sie steht für die konkreten Handlungen der universitären Gemeinschaft, die damit zur nachhaltigen Entwicklung beiträgt und der Umwelt eine Hand reicht. Auch Fotografien sind darstellende Bilder, die eine identitätsbildende und eine illusionsherstellende Funktion haben. Die erste Funktion wird durch den direkten Verweis auf den Namen der Universität ausgeübt, wie bei dem Bericht der Universität Berlin, wo ein Universitätsgebäude mit dem gut lesbaren ersten Teil des Namens („Freie Univer [sic!]“) gezeigt wird. Die zweite Funktion ist mit dem Status der Fotografie als Bildtyp verbunden: Fotografien verweisen auf Realitätsausschnitte und bilden damit eine Illusion. Außerdem bieten sie immer eine bestimmte Perspektive (z.B. von unten nach oben) an, so dass sie als subjektivierungsbedingte Produkte zu betrachten sind.
5.1.2 Sprachliche Merkmale und visuelle Merkmale Der erste Schritt in der qualitativen Analyse ist die Suche nach allen flektierten Formen von nachhaltig und Nachhaltigkeit mit dem Ziel zu sehen, in welcher morphosyntaktischen Form (Nomen, Adjektiv, Adverb), an welcher Stelle im Text und in Bezug auf welche Themen Nachhaltigkeit verwendet wird. Im Bericht der Universität Berlin sind 14 Wortformen gefunden worden, die Adverbien (nachhaltig entwickeln), Adjektive (nachhaltige Entwicklung, nachhaltige Lösungen, im Sinne einer nachhaltigen Beschaffung) und Nomen sind, die als Bestandteile von Komposita (z.B. Nachhaltigkeitsaspekte, Nachhaltigkeitssicht) und als autonome Nomen (z.B. die Stabsstelle Nachhaltigkeit & Energie) fungieren. Im Bericht der Universität Eichstätt-Ingolstadt wurden 106 Wortformen gefunden, die – wie im Bericht der Universität Berlin – als Adjektive (z.B. nach-
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haltige Entwicklung, nachhaltige Gestaltung von Printmedien) und Nomen vorkommen (es gibt dagegen kein Beispiel mit nachhaltig als Adverb). Als Nomen fungiert Nachhaltigkeit oft als Determinans von nominalen Determinativkomposita (z.B. Nachhaltigkeitsmanagement, Nachhaltigkeitsprogramm und Nachhaltigkeitsziel, Nachhaltigkeitsleitlinien, Nachhaltigkeitsorganisation) und von adjektivischen Determinativkomposita (Bearbeitung von nachhaltigkeitsrelevanten Fragen), aber auch als autonomes Wort (vgl. Beispiel 2 und 3). (2) Die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt orientiert sich seit 2010 am Leitbild der Nachhaltigkeit. (KU 2019: 60) (3) Studierende sollten sich im Studium vertieft mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. (KU 2019: 73)
Das Vorhandensein von Komposita, in denen Nachhaltigkeit als Determinans und andere Lexeme als Determinata dienen, ist nicht nur morphologisch, sondern auch lexikalisch interessant. Denn die Vielfältigkeit an Determinata zeigt, dass der Begriff in verschiedenen Bereichen der Universität als etabliert gilt: Beispielsweise ist die Nachhaltigkeit als organisationsführende Idee konzipiert, wenn Ausdrücke wie Nachhaltigkeitsorganisation, Nachhaltigkeitsbeauftragte, Steuerungsgruppe „Nachhaltigkeit und fairer Handel“ und DenkNachhaltig! e.V. benutzt werden. Im Bericht der Universität Hamburg kommen zehn Wortformen vor, die sich – wie beim Bericht der Universität Eichstätt-Ingolstadt – als Adjektive (im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung, Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen DGNB) und als Nomen realisieren. Als Nomen ist Nachhaltigkeit Determinans von Komposita (z.B. Nachhaltigkeitsrelevanz, Nachhaltigkeits-Dilemma, Nachhaltigkeitsimpact, Nachhaltigkeitskriterien) und Bestandteil von Eigennamen von Programmen, Aktionstagen und Gesellschaften (das Arbeits- und Maßnahmenprogramm „Nachhaltigkeit in der Verwaltung“, Aktionstage Nachhaltigkeit). Auch wenn formale Gemeinsamkeiten (Vorkommen als Adjektive und Nomen) ermittelbar sind, erfolgt die Verwendung von nachhaltig-Wortformen in den drei Berichten unterschiedlich, denn Nachhaltigkeit verbindet sich zusammen mit unterschiedlichen Lexemen, die für jeden Bericht jeweils unterschiedlich sind. Die einzige gemeinsame Verbindung ist die Kombination nachhaltige Entwicklung, die in allen Berichten benutzt wird. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Vorhandensein des Wortes Umwelt und der mit ihm verbundenen Komposita (z.B. Umweltbilanz, Umweltziele, umweltfreundlich), wie folgende Beispiele belegen: (4) Der Energieverbrauch der Freien Universität Berlin ist von besonderer Bedeutung für ihre Klima- und Umweltbilanz. (FU 2018: 39)
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(5) Darüber hinaus sind alle Universitätsangehörigen aufgefordert, sich an der Umsetzung der Umweltziele zu beteiligen. (KU 2019: 60) (6) Hierzu zählen unter anderem eine Lebenszykluskostenrechnung, die Reparaturfähigkeit, eine recyclinggerechte Konstruktion und Anforderungen an umweltfreundliche Verpackung. (UHH 2019: 94)
Interessant ist es zu sehen, wie die drei Berichte das Thema der ökologischen Nachhaltigkeit einführen: Der einzige Bericht, der eine Art Einführung anbietet, bevor das Thema in Kapitel 6 konkret behandelt wird, ist der Bericht der Universität Hamburg mit seiner Einleitung mit dem Titel Umwelt. Dies ist der einzige Teil, der ohne quantitative Daten auskommt und gleichzeitig einen allgemeinsprachlichen Wortschatz benutzt (anders als in Kapitel 6, in dem viele quantitative Indikatoren und Fachwörter auftreten). Die Universität nutzt diese Einleitung auch als Selbstdarstellung im Bereich des Umgangs mit der Umwelt. Man vergleiche den Beginn: (6) Die Universität Hamburg ist nicht nur ein Ort, an dem viel nachgedacht und geforscht wird – oft auch zur Verbesserung des Zustandes unserer Umwelt – sondern sie hat als „Betrieb“ einen erheblichen Impact auf natürliche Ressourcen. (UHH 2019: 93)
Die Selbstdarstellung erfolgt hier zuerst mit einer selbstcharakterisierenden Beschreibung (Universität als Ort des Denkens und des Forschens auch mit dem Ziel des Umweltschutzes), die als positiv interpretierbar ist, und dann mit einer Beschreibung der negativen Seite (Universität als Betrieb und als physischer Ort, der die natürlichen Ressourcen nutzt). Hier ist die Perspektive eine Außenperspektive, die durch die Verwendung des Subjekts die Universität Hamburg markiert wird: Das Pronomen wir, das z.B. in der Unternehmenskommunikation als Marker der Kollektivität und Zugehörigkeit benutzt wird, kommt nie vor. Auch die anderen zwei Berichte verwenden immer eine neutralisierende bzw. objektivierende Perspektive, und zwar lexikalisch durch die Verwendung des Wortes Universität und morphosyntaktisch durch die Benutzung von passiven Formen und anderen Konstruktionen (wie Funktionsverbgefügen): (7) Im Rahmen des Projekts HOCHN […] werden Videokonferenzen erprobt. (UHH 2019: 99) (8) Um genauere Basisdaten zum Thema „Mobilität“ zu gewinnen, ist eine Online-Befragung zum Mobilitätsverhalten von Mitgliedern der Universität in Vorbereitung. (UHH 2019: 99)
Das Kapitel der Freien Universität Berlin bietet auch eine kurze Einleitung, bevor Themen der nachhaltigen Entwicklung für den Campus angesprochen werden.
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Diese Einleitung ist aber vergleichsweise kürzer und wird nicht optisch hervorgehoben (anders als im Kapitel der Universität Hamburg, in welchem die Einleitung weiß auf einem hellblauen Hintergrund geschrieben ist und mit Hilfe der Fotografie eines Pinienwaldes die positiv konnotierten Werte – an erster Stelle den Naturschutz – vermittelt).21 Die Freie Universität Berlin beginnt die Einleitung mit einem handlungsbeschreibenden Satz, der das Verb beitragen enthält. Dieses Verb unterstreicht das zielgerichtete Handeln der Universität im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung (Beispiel 9): (9) Die Freie Universität Berlin trägt als Hochschule zur zukunftsorientierten Entwicklung der Gesellschaft bei. (FU 2018: 39)
Dieser einleitende Aussagesatz, in welchem die Freie Universität Berlin als handlungsfähiges Agens auftritt, ist besonders einleuchtend. Die Institution markiert zweimal ihre Rolle, nämlich zuerst durch ihre explizite identifikationsunterstützende Benennung (vollständiger Name der Universität als Abgrenzung gegenüber anderen städtischen Hochschulen) und anschließend durch ihre Kategorisierung als Hochschule, die eine soziale Einheit ist und für die Entwicklung der Gesellschaft arbeitet. Durch die Hervorhebung der Zukunftsdimension (zukunftsorientierten) bezeichnet sich die Institution als nachhaltig: Damit wird ein direkter Verweis auf das Inhaltsverzeichnis am Anfang des Berichts hergestellt, welcher die englischsprachige Definition für nachhaltige Entwicklung (BrundtlandBericht, WCED 1987) wiedergibt („Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“). Ähnlich wie in dieser Definition, die zwischen Gegenwart und Zukunft pendelt, gibt es im einleitenden Satz eine Bewegung zwischen der Gegenwartsdimension (durch die Präsensform betont) und der Zukunft: Diese Bewegung vermittelt eine Idee von Dynamik, die konkret durch Beispiele in den nachfolgenden Sätzen (Beispiel 10) weiter unterstrichen wird. Hier wird auch eine Verbindung mit der Vergangenheit hergestellt, immer aber mit einer Perspektive der Kontinuität ab einem Zeitpunkt, der durch die Präposition seit in der Präpositionalphrase seit vielen Jahren eröffnet wird:
|| 21 Es ist trotzdem zu bemerken, dass diese Fotografie geradezu im Widerspruch zu einigen der angeführten Ausdrücke steht wie Impact auf natürliche Ressourcen (s. Beispiel 6) und Verbrennung von Kohle. Die Fotografie der idyllischen Natur steht somit für das Dilemma, über das in der Einleitung explizit gesprochen wird: „So ist es z.B. wünschenswert, […] Forschungen in der Chemie zu betreiben, die zu mehr gefährlichen Abfällen führen“ (UHH: 93).
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(10) Sie versteht die Universität und ihren Campus selbst als einen Lern- und Arbeitsort, der eine Vielzahl von Möglichkeiten bietet, vorbildliche Lösungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu etablieren. Maßnahmen zum Ressourcen- und Klimaschutz kommen dabei seit vielen Jahren eine besondere Bedeutung zu. (FU 2018: 39)
Unter den drei Berichten tritt nur der Bericht der Universität Eichstätt-Ingolstadt sofort in medias res: Das Kapitel 6 beginnt mit einem Abschnitt zu den Zielen, Maßnahmen und Erfolgen. Diese drei Ausdrücke, die den Titel konstituieren, verbergen auch eine zeitliche Dimension: Die Ziele werden in der Zukunft erreicht, die Maßnahmen wurden in der Vergangenheit getroffen und/oder werden in der Zukunft getroffen und die Erfolge sind retrospektivisch beschreibbar. Tatsächlich beschreibt der erste Satz des Abschnittes (Beispiel 11) einen Erfolg: (11) Der größte Meilenstein im Jahr 2018 war für die KU Eichstätt-Ingolstadt die erfolgreiche Auditierung nach EMASplus. (KU 2019: 58)
Das Beispiel (11) enthält das Wort Auditierung, das mit weiteren Konzepten verbunden ist, und zwar mit dem Nachhaltigkeitsmanagement und mit den ISO-Normen, die dazu benutzt werden, um ein Primat der Universität (Beispiel 12) vorzustellen: (12) Die KU ist damit die erste deutsche Hochschule, welche es geschafft hat, zukünftig das EMASplus-Siegel zu tragen. (KU 2019: 58)
Der Aspekt der Zertifizierungen und der ISO-Normen zu Beginn des Kapitels ist auch im Bericht der Freien Universität Berlin vorhanden. Die explizite Nennung von Zertifizierungsprozessen dient der Transparenz und dem Schaffen der Glaubwürdigkeit. Die Analyse der drei Berichte ergibt, dass die Kapitel zur ökologischen Nachhaltigkeit nicht nur eine wissensbereitstellende Funktion ausüben, sondern auch eine selbstbewertende Funktion, die zusammen mit einer selbstdarstellenden Funktion vorkommt. Diese Selbstbewertungsfunktion kann mit einer vertrauensbildenden Funktion verbunden sein, z.B. wenn die Universität objektive Hinweise auf anerkannte Zertifizierungen vornimmt. Beispielsweise beginnt die Freie Universität Berlin den Abschnitt Management systematisch betreiben ganz am Anfang des Kapitels wie folgt (Beispiel 13): (13) Die Freie Universität Berlin richtet ihr Umweltmanagement an der international gültigen ISO-Norm 14001 aus. Im Jahr 2004 begann die schrittweise Zertifizierung einzelner Fachbereiche und von 2007 bis 2013 war die gesamte Universität nach ISO 14001 zertifiziert. Die Arbeit mit einem systematischen Managementsystem hat sich insgesamt als sehr wirksam erwiesen. (FU 2018: 39)
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Dieser Beginn präsentiert die aktuellen Handlungen der FU, die durch eine Präsensform (richtet […] aus) beschrieben werden, aber er setzt im nachfolgenden Satz mit einer vergangenheitsorientierten Perspektive fort, die durch die genauen Jahresangaben wieder auf Objektivität abzielt. Es folgt anschließend eine positive Bewertung der Arbeit mit einem systematischen Managementsystem (sehr wirksam). Die Wirksamkeit der Maßnahmen und die Positivität der erreichten Ziele werden in allen drei Berichten durch quantitative Daten (im Text beschrieben und durch Graphen und Tabellen grafisch visualisiert) untermauert und mit Hilfe einer sprachlichen Beschreibung, die die Ist-Situation im Vergleich zur Situation in vergangenen Jahren darstellt, ergänzt. Oft wird auf die Graphen und die Tabellen durch verbale Ausdrücke verwiesen. Einige Beispiele: „Die beiden Abbildungen 18 und 19 geben einen Überblick über den Stromverbrauch“ (KU: 64); „Wie aus Abbildung 20 zu entnehmen ist“ (KU: 65); „Die Tabelle 06.3 zeigt wesentliche Maßnahmen […]“ (UHH: 110). Das einzige Kapitel ohne sprachliche Verweise dieser Art ist das der Universität Berlin: Hier werden quantitative Daten visuell präsentiert, d.h. durch Graphen, die betitelt (z.B. CO2-Emissionen 2000– 2017 in Tausend Tonnen), aber nicht nummeriert werden. Während die hier enthaltenen Graphen ohne Abbildungen vorkommen, enthalten die Graphen der Universität Eichstätt-Ingolstadt Piktogramme, die visuell das Objekt der Graphen ikonisch darstellen: Beispielsweise wird ein stilisierter Wasserhahn mit einem fallenden Wassertropfen benutzt, um die Grafik zum Wasserverbrauch optisch zu markieren. Es geht aber nicht nur um eine Markierung, denn die Piktogramme üben auch eine entlastende Funktion aus: Bild und Sprache kommen hier in einem simultanen Muster (Stöckl 2011: 58) vor, weil sie miteinander integriert sind, so dass sie als eine optische Gesamteinheit simultan wahrnehmbar sind.
5.2 Italienischsprachige Nachhaltigkeitsberichte 5.2.1 Strukturierung der Berichte Die Tabelle 3 zeigt die Strukturierung der italienischsprachigen Berichte der Universitäten Rom (UNIROMA2), Turin (UNITO) und Venedig (UNIVE). Aus der Tabelle ist sofort ersichtlich, dass die drei italienischsprachigen Berichte das Wort ambiente ‚Umwelt‘ und das abgeleitete Adjektiv ambientale ‚umweltbezogen‘ benutzen: Im Bericht der Universität Rom ist das Wort zusammen mit den Wörtern tutela ‚Schutz‘ und rispetto ‚Achtung‘ verbunden, während der Bericht der Universität Venedig das Wort ambiente allein im Haupttitel benutzt. Nur der Bericht der Universität Turin betitelt das vierte Kapitel Il capitale naturale e la sostenibilità ambientale. Der Bericht der Universität Venedig ist der einzige, der die Kapitel
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nicht nummeriert und der das Kapitel zur Umwelt unter den ersten Kapiteln platziert. Die Kapitel zur ökologischen Nachhaltigkeit befinden sich in den anderen zwei Berichten nach dem Kapitel zur sozialen Nachhaltigkeit (die nicht direkt genannt wird, sondern nur durch die mit ihr verbundenen Ausdrücke risorse umane ‚Humanressourcen‘ und capitale umano ‚Humankapital‘ angesprochen wird). Tab. 3: Italienische Nachhaltigkeitsberichte: Strukturierung
Universität Rom (UNIROMA2) 1. 2. 3.
Oggi, l'Ateneo del domani Lettera del Rettore Nota metodologica Profilo istituzionale Qualità dei servizi offerti agli studenti e alle studentesse 4. Ricerca 5. Valorizzazione e coinvolgimento delle risorse umane 6. Tutela e rispetto dell’ambiente 7. Impegno, partecipazione e collaborazione 8. Gestione etica e trasparente 9. Sostenibilità economica Riferimenti GRI Allegati
Universität Turin (UNITO) Introduzione al Rapporto Introduzione metodologica Nota metodologica La definizione e la scelta degli argomenti trattati Gli argomenti trattati e i Sustainable Development Goals 1. UniTo in breve 2. Sostenibilità economica 3. Il capitale umano e relazionale 4. Il capitale naturale e la sostenibilità ambientale GRI Standards
Universität Venedig (UNIVE)
Lettera del rettore Ca’ Foscari Valore Ambiente Personale Studenti Didattica Ricerca Coinvolgimento KPI GRI Standards – Global Reporting Initiative Attuazione dell’Agenda 2030
Strukturell ist auch interessant zu beobachten, dass die drei Berichte auf die GRI G5-Standards (GRI 2016)22 verweisen, an denen sie sich orientieren. Im Bericht der Universität Venedig wird der 102-50-GRI-Standard („Reporting period“) auf der Seite des Inhaltsverzeichnisses direkt zitiert. Wie der Bericht der Universität Turin enthält diese Seite kein Bild, sondern nur die Farbe Violett, in welcher die Haupttitel geschrieben sind: Hier spielt folglich nur eine Farbe eine Rolle, dagegen werden unterschiedliche Farben für die vier Kapitel im Bericht der Universi-
|| 22 https://www.globalreporting.org/standards (letzter Zugriff 21.02.2021).
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tät Turin verwendet, wobei die Farbe Blau nicht zufällig für die ökologische Nachhaltigkeit verwendet wird.23 Nur der Bericht der Universität Rom enthält eine Fotografie, die sich auf dem linken Rand der zwei Inhaltsseiten befindet. Dabei geht es um einen Stapel von Blättern aus Papier in drei Farbnuancen (Dunkelweiß, Leichtgrün und Grün): Insbesondere die grüne Farbe, die in der Fotografie eine ikonische Funktion ausfüllt, kommt vielfach in nachhaltigkeitsbezogenen Texten vor, weil sie für die Umwelt und die Ökologie steht (vgl. Agnello 2013: 29).
5.2.2 Sprachliche Merkmale und visuelle Merkmale Die gezielte Suche nach allen flektierten Formen von sostenibile und sostenibilità ergab folgende Ergebnisse: Im Kapitel der Universität Rom sind nur zwei Wortformen zu finden, von denen beide als Adjektive auftreten (einmal im Eigennamen Rete delle Università per lo Sviluppo Sostenibile und das andere Mal in der Kombination irrigazione sostenibile ‚nachhaltige Bewässerung‘). Das Kapitel der Universität Turin weist 14 Wortformen auf: Adjektive (università sostenibili ‚nachhaltige Universitäten‘, scelte di spostamento prevalentemente sostenibili ‚überwiegend nachhaltige Bewegungsentscheidungen‘), wobei auch einige Belege für das negative Adjektiv insostenibile vorkommen, und Nomen (sostenibilità ambientale ‚ökologische Nachhaltigkeit‘, sostenibilità economica ‚wirtschaftliche Nachhaltigkeit‘), einschließlich Eigennamen (Direzione Amministrazione e Sostenibilità ‚Abteilung Verwaltung und Nachhaltigkeit‘). Im Kapitel der Universität Venedig sind acht Wortformen vorhanden: Adjektive (comportamenti sostenibili ‚nachhaltiges Handeln‘, mobilità sostenibile ‚nachhaltige Mobilität‘) und Nomen (sostenibilità di un edificio ‚Nachhaltigkeit eines Gebäudes‘, sostenibilità ambientale ‚ökologische Nachhaltigkeit‘). Der Begriff der ökologischen Nachhaltigkeit ist also in zwei der drei Kapitel explizit unter Nennung des Ausdrucks bzw. Formen dieses Ausdrucks versprachlicht. Nur das Kapitel der Universität Venedig bietet zusammen mit einer kurzen sprachlichen Einführung in das Kapitel eine detaillierte quantitative Einführung an. Beide Einführungen sind farblich markiert: Die Hintergrundfarben der quantitativen Daten zu unterschiedlichen Aspekten (wie consumo acqua ‚Wasserkonsum‘ und emissioni di CO2 ‚CO2-Emissionen‘) sind hellgrün und dunkelgrün, während die Hintergrundfarbe der sprachlichen Beschreibung hellblau ist. Dieses Farbspiel (von oben nach unten: zuerst hellgrün, dann dunkelgrün und endlich
|| 23 Zur Verwendung der Farbe Blau in Nachhaltigkeitstexten vgl. Crestani (2017) und Schwegler (2017).
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hellblau) übt in erster Linie eine Verweisfunktion aus: Die erste Farbe ist mit dem Begriff ambiente verbunden, der in der Sektion auf der Seite 11 – wo die Interessenträger der Universität vorkommen – genannt wird: Diesem Begriff wird die Farbe Hellgrün zugeteilt. Dabei geht es um einen externen Verweis, da eine Verbindung zwischen Seite 16 und Seite 11 hergestellt wird. Die dunkelgrüne Farbe (auch wenn es um eine leicht unterschiedliche Nuance geht) verweist direkt auf das Sustainable Development Goal Nummer 13 agire per il clima (Maßnahmen zum Klimaschutz, vgl. Engagement Global 202124), dessen Logo auf Seite 17 wiedergegeben ist. Dieser direkte Verweis ist auch durch das in diesem Logo enthaltene Bild zu rechtfertigen: Dabei geht es um ein Auge, dessen Augapfel die stilisierte Erde ist. Visuell wird also die Aufmerksamkeit auf die Erde vermittelt. So vermittelt auch die dunkelgrüne Farbe auf der Seite 16 des Berichts dasselbe Aufmerksamkeitsgefühl, das durch quantitative Daten über die sinkenden CO2-Emissionen belegt ist. Die letzte Farbe verweist auf das Wasser. Nicht zufällig beginnt der Text mit einer Beschreibung des Umgangs mit Ressourcen, unter denen das Wasser explizit genannt wird (s. Beispiel 14). Zahlen und Wörter sind weiß geschrieben. Im Text präsentiert die Universität ihre Pflicht gegenüber der Umwelt und dem Gebiet, wo sich die Universitätsgebäude befinden: (14) L’Università Ca’ Foscari si impegna a migliorare la gestione delle risorse energetiche e idriche e a diminuire il proprio impatto ambientale, tutelando il delicato ecosistema in cui l’Ateneo è inserito. (UNIVE 2019: 16) ‚Die Universität Ca’ Foscari hat sich verpflichtet, ihre Verwendung der Energie- und Wasserressourcen zu verbessern und ihre Umweltbelastung zu verringern, indem sie das empfindliche Ökosystem, in dem sich die Universität befindet, schützt.‘ [Übers. d. A.]
Das Wort ambiente ‚Umwelt‘, das im Titel des Kapitels der Universität Venedig enthalten ist, ist auch in den Kapiteln der anderen zwei Universitäten vorhanden: Im Kapitel der Universität Rom ist das Wort selbst Teil des Haupttitels Tutela e rispetto dell’ambiente ‚Umweltschutz und -respekt‘ und ebenfalls im spezifischen Abschnitt Rispetto e tutela dell’ambiente, wo das Adjektiv ambientale (Beispiel 15) in Verbindung mit impatto vorkommt: (15) L’impatto ambientale è tra i principali temi d’interesse per „Tor Vergata“. (UNIROMA2 2019: 79) ‚Die Umweltbelastung stellt eines der Hauptthemen für die Universität dar.‘ [Übers. d. A.]
|| 24 Engagement Global (2021) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, https://17ziele.de/ziele/13.html (letzter Zugriff: 21.02.2021).
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Die Kombination impatto ambientale wird auch im Kapitel der Universität Turin und im Kapitel der Universität Venedig benutzt, zusammen mit der Idee der Verringerung (ridurre l’impatto ambientale und diminuire il proprio impatto ambientale): (16) UniToGO è la struttura che opera per promuovere e attuare la strategia di sostenibilità ambientale di UniTo con l’obiettivo di ridurre l’impatto ambientale dell’Ateneo, coinvolgendo e impegnando l’intera comunità universitaria. (UNITO 2018: 170) ‚UniToGO ist die Struktur, die die ökologische Nachhaltigkeitsstrategie von UniTo fördert und umsetzt, mit dem Ziel, die Umweltbelastung der Universität zu verringern, wobei die gesamte Universitätsgemeinschaft einbezogen wird.‘ [Übers. d. A.]
Weitere Ausdrücke, die gebraucht werden, um die Verringerung auch in anderen Bereichen zu beschreiben, sind in calo („I consumi elettrici risultano in calo rispetto ai valori registrati nel 2017“ [UNIROMA2 2019: 75]. Der Stromverbrauch ist im Vergleich zu den 2017 verzeichneten Werten rückläufig‘ [Übers. d. A.]) und decremento (decremento dei consumi di metano ‚Abnahme des Methanverbrauchs‘). Diese Minimierungen werden als positive Ergebnisse in den Berichten präsentiert, wie auch die Verbesserungen in Bezug auf bestimmte Bereiche wie miglioramento dell’efficienza energetica ‚Verbesserung der Energieeffizienz‘, migliorare le perfomance ambientali ‚Verbesserung der Umweltleistung‘ und migliorare la gestione dei rifiuti ‚das Abfallmanagement verbessern‘. Sowohl die Reduzierungen als auch die Verbesserungen werden nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ durch den Einsatz von Grafiken und Tabellen vorgestellt, welche als glaubwürdigkeitsunterstützende Elemente dienen. Auch der Bezug auf Zertifizierungen und auf Standards dient der Glaubwürdigkeitsgewährleistung. Weiter dient der Glaubwürdigkeitsherstellung auch die Verwendung von verbalen Vergangenheitsformen (insbesondere passato prossimo), weil diese Formen benutzt werden, um über wichtige Prozesse und die konsequenten Ergebnisse zu berichten und gleichzeitig um die erworbene Erfahrung zu unterstreichen. Ein Beispiel: (17) Ca’ Foscari ha introdotto il carbon management a partire dal 2010 quando, primo fra gli Atenei italiani, ha avviato il progetto pilota „Carbon Management“ finanziato dal Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio. (UNIVE 2019: 22) ‚Ca’ Foscari führte 2010 das Kohlenstoffmanagement ein und, als erste italienische Universität, startete das vom Ministerium für Umwelt und Gebietsschutz finanzierte Pilotprojekt „Carbon Management.“‘ [Übers. d. A.]
In einigen Textpassagen findet ein Perspektivenwechsel statt, der durch einen Wechsel in den verbalen Formen ausgedrückt wird: Von der Vergangenheit ausgehend, d.h. von den schon erreichten Ergebnissen bzw. von den bereits getrof-
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fenen Maßnahmen, wird ein Blick auf zukünftige Perspektiven (z.B. eine Schätzung der vermutlich erreichbaren Ziele) angeboten, wie im Beispiel (18): (18) Per ridurre il quantitativo di plastica derivante dal consumo di acqua in bottiglia, è stata prevista l’installazione di distributori d’acqua di rete […], che si stima permetterà di evitare 99.000 bottiglie all’anno. (UNITO 2018: 173) ‚Um die Menge an Plastik zu reduzieren, die durch den Verbrauch von Flaschen entsteht, ist geplant, […] Leitungswasserspender zu installieren, wodurch schätzungsweise 99.000 Flaschen pro Jahr vermieden werden können.‘ [Übers. d. A.]
Anders als das Kapitel der Universität Turin, das kein Bild enthält, werden in den Kapiteln der anderen Universitäten Bilder genutzt: Dabei geht es um Piktogramme, die im Kapitel der Universität Venedig den 17 sustainable development goals (UN 2015)25 entsprechen, oder um Fotografien, die in einem alternierenden Muster (Stöckl 2011: 57) mit der sprachlichen Komponente in Zusammenhang stehen und sie erläutern und ergänzen.
6 Abschließende Bemerkungen Diese Untersuchung zeigte die Hauptergebnisse der exemplarischen Analyse zu deutschen und italienischen Nachhaltigkeitsberichten, wobei insbesondere thematische und sprachliche Aspekte fokussiert wurden, mit einigen Beobachtungen zu der visuellen Komponente (insbesondere zu den Bildtypen und zu den verwendeten Farben). – Zu den thematischen Aspekten: Keiner der deutschsprachigen Berichte enthält einen expliziten Verweis auf die ökologische Nachhaltigkeit im Inhaltsverzeichnis. Dagegen weist einer der italienischsprachigen Berichte den konkreten Gebrauch des Ausdrucks sostenibilità ambientale im Inhaltsverzeichnis auf. Auch in den Abschnitten, die Aspekte der Umwelt betrachten, weisen die deutschsprachigen Berichte keinen expliziten Bezug auf die ökologische Nachhaltigkeit auf; dagegen kommt der Ausdruck sostenibilità ambientale in den italienischsprachigen Kapiteln (mindestens zwei davon) vor, der immer zusammen mit sozialen und wirtschaftlichen Aspekten betrachtet wird.
|| 25 Die 17 Sustainable Development Goals (SDG) wurden 2015 von den Vereinten Nationen in der Agenda 2030 festgelegt und sind online verfügbar unter: https://sustainabledevelopment.un. org/?menu=1300 (letzter Zugriff 04.04.2020).
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Zu der visuellen Komponente: Sowohl in den deutschen als auch in den italienischen Berichten werden Piktogramme eingesetzt, die als entlastende Elemente (z.B. Piktogramm eines Wassertropfens) und/oder gleichzeitig als spezifizierende Elemente (z.B. Piktogramm eines Wasserhahns, in dem quantitative Daten gezeigt werden) fungieren. Wie Piktogramme sind Fotografien (die aber nicht in allen Berichten vorkommen) polyfunktional (z.B. gibt es Fotografien, die als Identifikationseinheiten gelten, während andere weitere Funktionen ausüben). Während nur eine Farbe oder zwei Farben in den deutschen Texten vorkommen (z.B. werden Bordeauxrot und Rosa im Bericht der Universität Eichstätt-Ingolstadt sogar für Piktogramme eines Wassertropfens benutzt), werden in den italienischen Berichten unterschiedliche Farben verwendet. Zu den sprachlichen Aspekten: In deutschsprachigen Berichten tritt das Wort Nachhaltigkeit als Determinans von Komposita (wie Nachhaltigkeitsimpact und Nachhaltigkeitsbeauftragte) auf. Sostenibilità ist in italienischen Texten in Ausdrücken wie sostenibilità ambientale und sostenibilità di un edificio vorhanden. Sowohl in deutschen als auch in italienischen Texten sind Belege mit nachhaltig und sostenibile als Adjektive zu ermitteln (z.B. nachhaltige Entwicklung und sviluppo sostenibile). Der Ausdruck Umwelt bzw. ambiente kommt sowohl in deutschen als auch in italienischen Texten vor, wobei er sich nicht nur auf die externe und somit umgebende Entität „Umwelt“ bezieht, sondern gleichsam die Universität integriert – beziehungsweise letztere möchte sich integriert sehen. Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen deutschen und italienischen Kapiteln ist das Vorhandensein einer zeitlichen Entwicklungsperspektive, die durch die Verwendung von alternierenden Verbformen sprachlich konstruiert wird. Die nicht-sprachliche Komponente in Form von quantitativen Daten bildet die existierende Basis: Von dieser Basis ausgehend, können die Universitäten weitermachen, wenn sie bereits gute Ergebnisse erzielten, oder Verbesserungen vornehmen. Auch wenn es Textpassagen gibt, in denen die Universitäten eine positive Selbstdarstellung anbieten, die sich immer auf verifizierbare und konkrete Daten stützt, wird stets eine kritisch-propositive Stellung im Sinne von Verbesserungen eingenommen. Dabei entwickelt sich die Kommunikation nicht so sehr als Kommunikation von der Nachhaltigkeit, sondern vielmehr als Kommunikation über Nachhaltigkeit (im Sinne von Fischer 2019: 57), d.h. als eine Kommunikation, die „stärker auf den Austausch von Konzepten und Deutungen im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung, um Verständigung zu fördern und ein geteiltes Verständnis zu entwickeln“, abzielt.
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Paul Reszke
„Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme gelöst werden können“ Joseph Beuys’ Aktion Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung als Beispiel nachhaltigen kommunikativen Handelns zwischen Kunst, Politik und Öffentlichkeit Zusammenfassung: Während der siebten Ausgabe der documenta (1982), der Kasseler Weltausstellung für zeitgenössische Kunst, treten die Wissensdomänen Kunst und Politik sowohl miteinander als auch mit der Öffentlichkeit in einen Dialog über Nachhaltigkeit: Joseph Beuys plant die Anpflanzung von 7000 neuen Bäumen im Stadtgebiet als künstlerische Aktion, was auf ein breites Spektrum der Resonanz zwischen Akzeptanz und Ablehnung stößt. Der vorliegende Beitrag zeichnet den in Kassel etwa zwischen den Jahren 1981 und 1987 geführten gesellschaftlichen Dialog mithilfe von Textmaterial aus dem documenta archiv nach (darunter Zeitungsartikel, Leser*innenbriefe, Kommunikate von Beuys und seinem Team). Die zu belegende Hypothese ist, dass sich in diesem Austausch kommunikative Muster zeigen, von denen erstens umweltpolitische Diskurse auch gegenwärtig geprägt sind, die aber auch zweitens vor Augen führen können, inwiefern durch die Interaktion zwischen den Domänen Kunst und Politik interdiskursive Möglichkeiten entstehen, umweltpolitisch verantwortliches Handeln nachhaltig in der Gesellschaft zu verankern. Schlüsselwörter: Ökolinguistik, Diskursanalyse, Kunstkommunikation, documenta, brute facts und institutional facts
1 Eingrenzung des Begriffs Nachhaltigkeit für die Untersuchung Die zentrale Frage, die in diesem Beitrag beantwortet werden soll, lautet: Inwiefern kann sprachwissenschaftliches Arbeiten zur Wissensdomäne Kunst dazu
|| Paul Reszke, Universität Kassel, Institut für Germanistik, Kurt-Wolters-Str. 5, 34127 Kassel, Deutschland, paul.reszke[at]uni-kassel.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-011
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beitragen, neue Erkenntnisse zum Thema Nachhaltigkeit zu generieren? Das titelgebende Zitat1 Joseph Beuys’ scheint dafür zu sprechen, dass dies kein abwegiges Unterfangen sei – und die darin formulierte starke These soll hier zumindest zum Teil nachvollzogen werden. Mittels eines pragmasemiotischen Zugriffs auf Dokumente aus dem documenta archiv wird der öffentliche Diskurs rekonstruiert, der um die künstlerische Aktion Joseph Beuys’ Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung – zumeist besser bekannt unter dem inoffiziellen Namen 7000 Eichen2 – zur siebten documenta (1982) entsteht. Zu den künstlerischen Aspekten dieser Arbeit ist aus kunstwissenschaftlicher und teils interdisziplinärer Perspektive bereits intensiv geforscht worden.3 Der hier gewählte sprachwissenschaftliche Fokus liegt somit in erster Linie auf den die Arbeit umgebenden kommunikativen Mustern, die sich aus dem Archivmaterial rekonstruieren lassen, sowie – darauf aufbauend – auf der Frage, inwiefern sich aus der Rekonstruktion dieses Diskurses Erkenntnisse in Bezug zum Thema des Sammelbandes, der Nachhaltigkeit, gewinnen lassen. Im Folgenden soll zunächst begründet werden, inwiefern eine Verbindung der Themenbereiche Nachhaltigkeit und Kunst(-kommunikation)4 aus sprachwissenschaftlicher Perspektive einen Mehrwert erzeugen kann. Dazu muss zunächst der Begriff Nachhaltigkeit geschärft werden: Umweltbezogene Problemstellungen – und damit Fragen der Nachhaltigkeit – werden in der Breite der Gesellschaft als ein Feld wahrgenommen, welchem sich aus wissenschaftlicher Warte zuallererst die Naturwissenschaften annehmen. Sowohl diese Wahrnehmung als auch die zunehmende Perspektivierung von Nachhaltigkeit als einem (auch) kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschungsfeld äußern sich im folgenden Zitat Sverker Sörlins, eines Wissenschaftstheoretikers und Umwelthistorikers. Es ist recht lang, aber aus diesem Auszug können sowohl direkt im An-
|| 1 Beuys’ Zitat wird immer wieder im Kontext der Arbeit Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung erwähnt, hier sind nur zwei der möglichen Belege: Hülbusch/Scholz (1984: 31) sowie Nemeczek (2020: 1). 2 Im Beitrag werden beide Bezeichnungen genutzt, ohne dass eine gegenüber der anderen jeweils eine besondere Bedeutung hätte. Bei den gepflanzten Bäumen handelt es sich größtenteils, aber nicht nur um Eichen. 3 Beispielsweise gegenwärtig zum ökologischen Aspekt Bijvoet (2016) oder aus soziologischer Perspektive Drössler (1990). 4 In diesem Beitrag wird mit Hausendorf/Müller (2016) – sowie den ästhetiktheoretischen Positionen, die sie dazu ebenfalls heranziehen, wie u.a. denjenigen von Arnold Gehlen oder Nelson Goodman – davon ausgegangen, dass zeitgenössische Kunst immer schon in einen kommunikativen Kontext eingebettet ist und ohne diesen sich der Kunstcharakter eines Objekts nicht konstituieren könnte (vgl. dazu insbesondere Hausendorf/Müller 2016: 5).
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schluss als auch im weiteren Argumentationsverlauf zentrale Gedanken für die theoretische Grundlage der Analyse herausgearbeitet werden: Our belief that science alone could deliver us from the planetary quagmire is long dead. For some time, hopes were high for economics and incentive-driven new public management solutions. […] In February 2012, the Responses to Environmental and Societal Challenges for Our Unstable Earth (RESCUE) initiative, commissioned by the European Science Foundation and Europe’s intergovernmental Cooperation in Science and Technology program, presented its synthesis report. It gives a high profile to the humanities, arguing that in a world where cultural values, political and religious ideas, and deep-seated human behaviors still rule the way people lead their lives, produce, and consume, the idea of environmentally relevant knowledge must change. We cannot dream of sustainability unless we start to pay more attention to the human agents of the planetary pressure that environmental experts are masters at measuring but that they seem unable to prevent. (Sörlin 2012: 788)
Sörlins Essay ist, wie der Titel Environmental Humanities: Why Should Biologists Interested in the Environment Take the Humanities Seriously? bereits zeigt, zunächst als Appell an Naturwissenschaftler*innen zu lesen, sich stärker auf interdisziplinäre Kooperationen zur Lösung von Umweltproblemen einzulassen. Zentral an dieser Stelle ist jedoch sein zugespitzt formulierter Hinweis darauf, dass man nicht einmal von Nachhaltigkeit träumen könne, wenn man sich nicht mit den menschlichen Akteur*innen hinter den drohenden Katastrophen beschäftige. Wenn man – so Sörlin weiter – die Art und Weise der menschlichen Lebensführung, des Produzierens und Konsumierens sowie die dahinter stehenden kulturellen Werte und tief verwurzelten Handlungsweisen als entscheidende Faktoren ernst nehme, so würde sich das Verständnis von umweltrelevantem Wissen – und damit auch von Nachhaltigkeit – wandeln. Alle von Sörlin genannten Faktoren sind auch im von 1981 bis 1987 (und darüber hinaus) in Kassel geführten Diskurs über Beuys’ Arbeit relevant. Damit erlaubt die sprachwissenschaftliche Aufbereitung dieses historischen Ausschnitts einen Blick auf die kommunikative Dimension von Nachhaltigkeit, durch den auch die von Sörlin fokussierten gesellschaftlichen Werte und Handlungsweisen sichtbar werden. Diese Eingrenzung des Begriffs Nachhaltigkeit soll auch der Kritik an ihm Rechnung tragen. Die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter kritisiert den Begriff und deutet ihn als zentrales Schlagwort eines bestimmten Umweltdiskurses, nämlich des „reformorientiert-imaginativen“ (vgl. Winiwarter in diesem Band, Kapitel 2). Sie fasst die darin vertretene zentrale Diskursposition als eine Haltung, die stets betont, es gebe trotz aller bestehenden Umweltprobleme die „Möglichkeit eines guten Ausgangs“ (vgl. Winiwarter in diesem Band, Kapitel 2), wobei aber gleichzeitig die menschengemachten Ursachen für die kommenden Umwelt-
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krisen ausgeblendet und die bereits bestehenden Probleme unter dem Begriff der Altlasten in unüberschaubarer Weise zusammengeführt und somit letztlich verdrängt würden (vgl. Winiwarter in diesem Band, Kapitel 1). Diese imaginativ-reformorientierte Haltung streift auch Sörlin, wenn er (im Jahr 2012) von der „lange toten“ (s. oben) Hoffnung spricht, dass beispielsweise ökonomische Anreize zu umweltbewussteren Handlungsweisen in der Wirtschaft führen könnten (vgl. oben). Winiwarter hingegen betont in ihrem Aufsatz, dass dieser Glaube auch weiterhin verbreitet sei, nicht zuletzt durch die Omnipräsenz des Schlagworts Nachhaltigkeit. In diesem Beitrag soll unter Rückgriff auf die von Winiwarter und Sörlin formulierten Positionen ein Zwischenweg gewählt werden: Sofern man unter Nachhaltigkeit ein menschliches umweltpolitisch verantwortliches Handeln fasst, das die bestehenden und drohenden Gefahren nicht ausblendet, sondern miteinbezieht, kann an diesem Begriff festgehalten werden. Allerdings soll auch, um diese Begriffsspezifizierung im weiteren Verlauf des Textes bewusst zu halten, von nun an immer verkürzt von nachhaltigem Handeln die Rede sein. Die zu Anfang dieses Abschnitts formulierte Ausgangsfrage lässt sich damit nun in folgender Weise präzisieren: Inwiefern kann sprachwissenschaftliches Arbeiten zur Wissensdomäne Kunst dazu beitragen, neue Erkenntnisse zu ökologisch nachhaltigem Handeln zu generieren? Dass sich nachhaltiges Handeln aus sprachwissenschaftlicher Perspektive als ein in erster Linie kommunikatives Handeln modellieren und untersuchen lässt, zeigen sowohl Winiwarters Überlegungen zur „(Un)Möglichkeit, die nukleare Zivilisation zur Sprache zu bringen“ (vgl. Winiwarter in diesem Band, Titel), als auch der sich nun anschließende Umriss der Ausgangsbedingungen der Beuys’schen Aktion zur siebten documenta-Ausstellung.
2 Die Aktion Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung – Eckdaten für die Analyse In diesem Abschnitt sollen in aller Kürze (und teils mit großen Zeitsprüngen) nur die nötigsten Informationen gegeben werden, um bestimmte Bezugspunkte und Verweise in der Analyse unmittelbar nachvollziehbar zu machen. Dazu zählen grundlegende Informationen über die Ausstellungsreihe documenta sowie über Joseph Beuys, einen ihrer bekanntesten ausstellenden Künstler. Informationen zur Aktion selbst werden hier nicht gegeben, sie entwickeln sich in Abschnitt 4
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gemeinsam mit der Analyse.5 Die im Jahr 1955 vom Maler und Hochschullehrer Arnold Bode gegründete Kunstausstellung documenta findet (mit leichten Abweichungen in ihrer Anfangszeit) im Fünfjahresturnus in der nordhessischen Großstadt Kassel statt, die sich auch auf ihren Ortsschildern als „documenta-Stadt“ bezeichnet. Seit ihrer fünften Ausgabe (im Jahr 1972) wird die Künstlerische Leitung zu jeder documenta neu gewählt und der Leiter der hier besprochenen siebten Ausgabe ist der niederländische Kunsthistoriker und Kurator Rudi Fuchs. Eine documenta dauert immer 100 Tage und sowohl das Ereignis selbst als auch viele der einzelnen Arbeiten und Projekte greifen teils für 100 Tage, teils darüber hinaus in das Stadtbild ein – Beuys’ 7000 Bäume sind dafür eines der bekanntesten Beispiele.6 Die Bürger*innen Kassels haben ebenfalls ein besonderes Verhältnis zur documenta, was sich immer wieder in engagierten Diskussionen zeigt, wie beispielsweise gegenwärtig in der Frage des Standorts für den demnächst entstehenden Bau des documenta Instituts (vgl. Hagemann/Hermann 2018). Zwei Beispiele, wie sich dieses Engagement in Form von Bürger*inneninitiativen manifestiert, sind das documenta forum7 sowie die Stiftung 7000 Eichen,8 die im weiteren Fortgang der Argumentation noch eine Rolle spielt. Das zentrale lokale Berichterstattungsorgan Kassels ist die Hessische/Niedersächsische Allgemeine Zeitung (HNA), die die documenta immer zu einem Schwerpunktthema macht und aus der in der Analyse mehrfach zitiert wird. Der Aktionskünstler und Düsseldorfer Kunstprofessor Joseph Beuys nimmt an den Ausstellungen documenta 3–7 teil und ist einerseits einer der auch international bekanntesten deutschen Künstler – vor allem in den USA und Japan. Gleichzeitig ist er aber auch umstritten, nicht nur wegen seiner provokanten Kunst, sondern auch aufgrund seiner Vergangenheit während des Nationalsozialismus, da er sich z.B. im Jahr 1941 im Alter von 19 Jahren freiwillig zur Luftwaffe
|| 5 In diesem Abschnitt wird aus Gründen der Übersichtlichkeit überall dort auf Quellenverweise verzichtet, wo es sich um leicht recherchierbare Fakten handelt. Die Basisdaten der documentaAusstellungen finden sich beispielsweise auf der vom documenta archiv mitbetreuten Retrospektive-Website der documenta: Scharrer, Eva (2015): https://www.documenta.de/de/retrospec tive/documenta_7# (letzter Zugriff 05.07.2020). 6 Weitere Beispiele sind u. a. Horst H. Baumanns Lichtinstallation Laserscape Kassel zur documenta 6 oder Jonathan Borofskys Man Walking to the Sky (besser bekannt als der Himmelsstürmer) bei der documenta 9. 7 https://documentaforum.de/ (letzter Zugriff 05.07.2020). 8 https://www.7000eichen.de/index.php?id=2 (letzter Zugriff 05.07.2020).
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meldet und mehrere Einsätze als Bordschütze fliegt.9 Beuys kandidiert im Jahr 1979 als Mitglied der Grünen für das Europaparlament und ist bis zu seinem Tod im Jahr 1986 Mitglied, wobei seine aktivste Zeit in den Zeitraum der documenta 7 (im Jahr 1982) fällt, bevor er sich zu Anfang des Jahres 1983 aufgrund von Differenzen zurückzieht. Bei der Aktion Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung wird er finanziell von der New Yorker Dia Art Foundation gefördert, die gezielt schwer realisierbare Großkunstprojekte unterstützt. Beuys selbst holt sich während der Aktion die Hilfe von Mitarbeiter*innen seines mit anderen Künstlerkollegen gegründeten Projekts Free International University (FIU), darunter seinen Meisterschüler Johannes Stüttgen, der zu diesem Zeitpunkt Geschäftsführer der FIU ist und sich vor allem um die finanziellen Belange von Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung kümmert. Der Begriff Nachhaltigkeit wird im Rahmen der Analyse keine Rolle spielen, da er zu dieser Zeit noch kaum in Umweltdiskursen präsent ist und entsprechend nicht in den analysierten Texten auftaucht; nach Winiwarter wird er im Umweltdiskurs erst ab dem Jahr 1987 zentral (vgl. Winiwarter in diesem Band) und auch eine Abfrage seiner Frequenz im Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache zeigt, dass das Lexem „Nachhaltigkeit“ in deutschsprachigen Zeitungen erst ab dem Jahr 1990 zunehmend präsenter wird.10
3 Korpus und methodische Grundlagen Das im Folgenden untersuchte Textkorpus ist vollständig im documenta archiv einsehbar, in drei Aktenordnern, die als Pressedossiers zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen aufzufinden sind. Darin finden sich insgesamt etwa 750 Dokumente, darunter hauptsächlich Pressetexte aus regionalen und überregionalen Tages- und Wochenzeitungen sowie aus Magazinen, außerdem einige verschriftlichte Radiointerviews. Einen kleineren Anteil bilden Dokumente des ausstellungsinternen Schriftwechsels mit Beuys und seinem Team, von ihm ausgehende Kommunikate wie selbstinitiierte Interviews im Rahmen der Ausstellung, Angebotsanfragen für die für seine Aktion benötigten Basaltsteine und Bäume sowie Planungs-
|| 9 Vgl. dazu u.a. Gieseke/Markert (1996) Flieger, Filz und Vaterland: eine erweiterte Beuys Biografie oder Riegel (2013) Beuys: die Biographie. 10 https://www.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=sp line&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xra nge=1946%3A2019&q1=Nachhaltigkeit (letzter Zugriff 05.07.2020).
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unterlagen für die Pflanzaktion. Bei den in der Analyse genutzten Quellen lassen sich keine genaueren Angaben über den Fundort geben als das Veröffentlichungsdatum. Die Dokumente in den drei Ordnern sind thematisch nach Presse und internem Schriftverkehr sortiert, ansonsten aber schlicht chronologisch angeordnet. Die Texte wurden händisch11 auf Basis von Andreas Gardts Textsemantischem Analyseraster gesichtet und bearbeitet. Es wurden jeweils drei Dimensionen des jeweiligen Texts in den Fokus gerückt: Erstens der kommunikativ-pragmatische Rahmen, also die Frage, wer mit wem zu welchem Zweck kommuniziert; zweitens die textuelle Makrostruktur, bei der den auf den ersten Blick greifbaren Textelementen wie Bildern und ihren Unterschriften oder Überschriften in Pressetexten ein besonderes Gewicht bei der Bedeutungskonstitution zugeschrieben wird; drittens die textuelle Mikrostruktur, bei der Besonderheiten wie beispielsweise Leitmetaphern eines Textes ins Zentrum der Analyse rücken (vgl. Gardt 2013). Diesen Kriterien folgend wurden für die Analyse nur einige der Texte ausgesucht, nämlich diejenigen, mit denen sich erstens der Diskurs um Beuys’ Aktion am klarsten nachzeichnen lässt und die zweitens für die Frage nach nachhaltigem Handeln von zentraler Bedeutung sind. Da, wo es nötig ist, werden die wichtigsten textuellen Elemente eines Dokuments in der Analyse an passender Stelle direkt am Beispiel erläutert, so z.B. der pragmatische Rahmen des lokalen Magazins Stattzeitung, der relevant für die Argumentation, aber nicht als Vorwissen voraussetzbar ist. Einen zentralen theoretischen Bezugspunkt für die Analyse bildet ein Begriffspaar des Sprachphilosophen John Searle, nämlich rohe und institutionelle Tatsachen bzw. die hier bevorzugten englischen Varianten brute facts und institutional facts. Durch deklarative Sprechakte wie eine Abstimmung oder eine Amtseinführung entsteht das, was Searle als institutional facts bezeichnet. Solche Tatsachen grenzen sich von brute facts ab, die, wie beispielsweise die Tatsache, dass Menschen sterben müssen, typischerweise natürlich gegeben sind und auch ohne menschlichen Einfluss existieren würden – was nicht heißt, dass sie nicht unter menschlichem Einfluss stehen oder sogar durch ihn verursacht sind. Searle drückt dies folgendermaßen aus: Years ago I made a distinction between brute facts, such as the fact that the sun is ninetythree million miles from the earth, and institutional facts, such as the fact that I am a citizen of the United States. [...] [But] it would be a misunderstanding to suppose that there are separate isolated classes of brute facts and institutional facts. On the contrary we have complex interpenetrations of brute and institutional facts. Indeed, typically the purpose or the
|| 11 Das heißt, ohne Einsatz von computerbasierten Tools zur Korpusanalyse.
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function of the institutional structure is to create and control brute facts. (Searle 1998: 123, 131)
So könnte man beispielsweise im Diskurs um den Klimawandel davon sprechen, dass der durch menschliches Handeln („create“) erhöhte CO2-Gehalt in der Atmosphäre ein brute fact ist, der durch die politisch beschlossenen Klimaziele, institutional facts, unter Kontrolle gebracht werden soll („control“). In seiner aktuelleren Publikation Making the Social World (Searle 2010) verdichtet Searle den Anspruch seiner Theorie einer sozialen Ontologie auf folgende Formel: This book uses my account of intentionality and my theory of speech acts to explain social ontology. How do we get from electrons to elections and from protons to presidents? (Searle 2010: 3)
Die Auswahl der Beispiele mag natürlich auch ihren Gleichklängen und der sich daraus ergebenden Prägnanz geschuldet sein, aber den Weg von den brute facts („electrons, protons“) zu den institutional facts („elections, presidents“) – und auch wieder zurück – beschreibbar zu machen, steht im Fokus von Searles Arbeiten. Es ist ein Vorzug des Konzepts der deklarativen Sprechakte, dass es trotz der Komplexität der damit zu beschreibenden Vorgänge dennoch eine klare Übersicht über die Zusammenhänge verschaffen kann. Dies zeigt sich am Ende von Making the Social World, wo Searle in vier Schritten zusammenfasst, inwiefern deklarative Sprechakte für ihn die zentrale Beschreibungsgröße komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge sind: […] first, all of human institutional reality, and in that sense nearly all of human civilization, is created in its initial existence and maintained in its continued existence by a single, logico-linguistic operation. Second, we can state exactly what that operation is. It is a Status Function Declaration. And third, the enormous diversity and complexity of human civilization is explained by the fact that that operation is not restricted in subject matter and can be applied over and over in a recursive fashion, is often applied to the outcomes of earlier applications and with various and interlocking subject matters, to create all of the complex structures of actual human societies. (Searle 2010: 201)
Zentral für die Überlegungen der sich anschließenden Analyse werden die in Schritt 3 und 4 dargelegten Beobachtungen Searles sein: Die Diversität und Komplexität menschlicher Gesellschaften ist dadurch zu erklären, dass der kommunikative Akt, neue institutional facts (und damit oftmals auch daraus hervorgehende neue brute facts) zu schaffen, rekursiv und aufeinander aufbauend genutzt werden kann. So entsteht potenziell eine Unübersichtlichkeit in gesellschaftlichen Strukturen, die die Handlungsspielräume Einzelner stark eingrenzen kann.
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Am nun untersuchten Diskurs wird zu sehen sein, wie die Wissensdomäne Kunst mithilfe der ihr inhärenten kommunikativen Mechanismen und Muster den Zugriff auf komplexe Strukturen anderer Domänen (vor allem diejenigen der Politik), durch eigene deklarative Akte vereinfacht und damit neue – und eben auch nachhaltige – Handlungsspielräume eröffnet. Bereits der Titel von Beuys’ Projekt zeigt, dass dabei die Durchsetzung von brute facts, „Stadtverwaldung“, gegenüber institutional facts, „statt Stadtverwaltung“, von zentraler Bedeutung ist.
4 Analyse: Rekonstruktion des Diskurses um 7000 Eichen Für mich als Bürger dieser Stadt und, wie ich glaube, für den größten Teil der Bevölkerung, ist diese dekadente Art „Kunstausübung“ Dokumentation und solche „Künstler“ die Personifizierung des sich im Gange befindlichen kulturellen Niedergangs der abendländischen Zivilisation. (Leser*innenbrief von Kurt Möller, Eine ‚dekadente Art der Kunstausübung‘ in der HNA vom 24.03.1982) Stiftung 7000 Eichen: Zur Förderung der weltweit einmaligen Sozialen Raum-Zeit-Skulptur von Joseph Beuys (Untertitel der Broschüre der Kasseler Stiftung 7000 Eichen, 2020)
Die nun folgende Analyse12 wird erstens den Weg aufzeigen, durch den aus dem „Niedergang der abendländischen Zivilisation“ eine „weltweit einmalige[] Soziale[] Raum-Zeit-Skulptur“ wird. Wichtiger auf diesem Weg wird der zweite aufzuzeigende Aspekt sein: In der Art, wie sich dieser Diskurs im Wechselspiel zwischen Öffentlichkeit, der Domäne Kunst und der Domäne Politik konstituiert, lässt sich eine Form nachhaltigen Handelns greifen, die im Sinne Sörlins einen Beitrag dazu leisten kann, umweltrelevantes Wissen neu zu begreifen. Mit Rückgriff auf Searle lässt sich sagen: Dieser Diskurs beginnt mit einem deklarativen Sprechakt, der vom documenta 7-Informationsdienst am 13. November 1981 durch folgende Mitteilung an die Presse verlautbart wird: 7000 Bäume wird der bekannte Künstler Joseph Beuys zur documenta 7 in Kassel pflanzen. An jedem dieser Bäume soll ein Stein mit einer Inschrift darauf hinweisen, daß diese Bäume zur documenta 7 gepflanzt wurden. Der Künstler wird diese Arbeit gemeinsam mit
|| 12 Jegliche Korpusbelege in diesem Abschnitt sowie die abgebildeten Fotografien sind entnommen aus den drei Aktenordnern: „Pressedossier zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen“. Kassel: documenta archiv.
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zahlreichen Helfern aus Kassel ausführen, die zur Zeit Standorte für die Bäume im Stadtbereich suchen. (Mitteilung des documenta 7-Informationsdienstes vom 13.11.1981)
Die im Zitat erwähnten Steine sind ein entscheidender Bestandteil des Projekts. Beuys’ Kooperationspartner*innen suchen parallel nicht nur nach den Standorten für die Bäume, sondern auch nach guten Angeboten für 7000 Basaltstelen. Franz Dahlem von der Dia Art Foundation, die Beuys bei der Aktion unterstützt, bekommt so beispielsweise folgende Auskunft: Bei einer Höhe von 1,50 m und einem Durchmesser von 30 x 40 cm – Preis pro Stein DM 150,-- voraussichtlich zuzüglich Transport Gesamtkosten DM 1.050.000,-- […] qm-Bedarf bei senkrechter Aufstellung der Steine und bei einem Querschnitt von 30 - 40 cm pro Stein = 840 qm, mit Zwischenräumen entsprechend mehr. (Auskunft von der Firma Basaltunion an Franz Dahlem, Dia Art Foundation, 1982)
Was Beuys mit dieser riesigen Menge und damit auch Fläche von Basaltstelen vorhat, wird am besten durch ein Bild und seine Bildunterschrift aus dem im Jahr 1980 gegründeten natur-Magazin vor Augen geführt (Abb. 1a), welches sich vornehmlich mit ökologischen Themen beschäftigt. Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass Beuys’ Projekt aus der Domäne Kunst für dieses Magazin von Relevanz ist.
Abb. 1a und 1b: Links: 1a) Ausschnitt aus dem natur-Magazin, Ausgabe 6/84: 30. Rechts: 1b) Joseph Beuys’ Signatur für den Neubeginn auf der documenta 7
Beuys lässt die Basaltsteine auf den Friedrichsplatz ausschütten, direkt vor dem Hauptstandort jeder documenta – dem Museum Fridericianum. Das ist im Jahr
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1982 insbesondere provokant, da die siebte documenta nach den sehr stark politisierenden Ausstellungen 5 und 6 ihrem Leiter Rudi Fuchs zufolge wieder stärker den ästhetischen Aspekt von Kunst in den Vordergrund rücken sollte, was durch den Anblick der schlichten Steinbrocken konterkariert wird. Der zu Anfang der Analyse zitierte Leser*innenbrief ist eine unmittelbare Reaktion auf die Ausschüttung der Basaltsteine. Weitere Leser*innenbriefe aus der HNA im März 1982 werden unter anderem betitelt mit Friedrichsplatz wird verunstaltet, Steine haben wir doch schon genug oder Unfaßbar: Stadtbild wird verschandelt. Die im Blick dieser Bürger*innen wenig ästhetische Qualität der Steine ist aber nur die erste Provokation, die zweite hängt mit den Kosten zusammen, die bereits im Brief der Firma Basalt Union erwähnt werden. So fragt sich auch Margrit Ackermann aus dem zuletzt erwähnten Leser*innenbrief: „Wie Sie schreiben, übernimmt das städtische Gartenamt den Transport. Wer zahlt? Doch indirekt die Bürger Kassels, durch die Steuer…“ Bereits nach Beuys’ Ankündigung über den documenta 7-Informationsdienst sind vor allem in der Lokalpresse die Kosten für das Projekt das Thema: Kunst-Professor Beuys beschert Kassel 7000 Bäume für 2 Millionen. Motto: „Verwaldung statt Verwaltung“ – Wer zahlt Aktion? (Überschrift aus der HNA vom 16.12.1981) 0,03 Bäume mehr pro Bürger zum Stückpreis von 1717 Mark, da kann Oberbürgermeister Hans Eichel mit seiner Parole „Mehr Grün für die Nordstadt“ wirklich nicht mehr hausieren gehen. Und vor allen Dingen: wo bleibt denn bei ihm der künstlerische Aspekt? (Auszug aus dem EXTRA Tip-Artikel Des Einen Kunstlust des Bürgers Kunstfrust vom 17.12.1981)
Das Thema der Finanzierung bleibt auch nach dem Anfang der documenta 7 am 19. Juni 1982 präsent. So reagiert Friedrich-W. Engelhardt auf eine Kolumne der HNA vom 10. Juli 1982 mit dem Titel Bäume haben immer Recht in einem sich daran anschließenden Leser*innenbrief mit folgender Überlegung: Ich habe mit einem mir sehr befreundeten Forstmann errechnet, daß jedes hessiche [sic!] Forstamt flächenmäßig die gesamte Innenstadt Kassels in einen dichten, alle heimischen Baumarten beinhaltenden Mischwald für die veranschlagten 1,5 Mio. verwandeln könnte. Allerdings würden dann die Basaltblöcke fehlen. (Leser*innenbrief Ist das Kunst? in der HNA vom 12.07.1982)
Die Art der Verknüpfung zwischen Steinen und Bäumen ist die dritte große Provokation Beuys’. Wie bereits die Bildunterschrift unter dem natur-Magazin (Abb. 1a) feststellt, nutzt er die Basaltseine sinnbildlich als Vertrag mit der Stadt Kassel und ihren Bürger*innen. Für jeden der zu pflanzenden 7000 Bäume liegt eine Basaltstele auf dem Friedrichsplatz, welche auch erst abtransportiert werden darf, wenn tatsächlich einer der Bäume gepflanzt ist. Diese drei Provokationen sind
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die Steine des Anstoßes für einen öffentlich und teils hart geführten Disput zwischen Kassels Bürger*innen und der lokalen Politik, dem die Domäne Kunst das Spielfeld bietet. Da Beuys die ausgeschütteten Basaltsteine als Skulptur, und damit als ein künstlerisches Objekt der siebten documenta, deklariert, können sie trotz Bürger*inneninitiativen nicht an anderer Stelle gelagert werden. Ein Beispiel für den Disput ist die Antwort des Leiters des Stadtgartenamtes Hans-Jürgen Taurit in einem Leser*innenbrief in der HNA, in dem er selbst auf einen anderen Leser*innenbrief Bezug nimmt: Herr Helmut Schmalz fragt in seinem Leserbrief vom 26. März 1982 „Beuys ist nur auf Spektakulum aus“ wer oder was den Leiter des Gartenamtes eigentlich genötigt habe, diesen groben Unfug mitzumachen und Geld, Personal und Geräte des Gartenamtes dafür einzusetzen? Ich kann nur gegenfragen, warum soll ich das nicht tun, wenn durch die Aktion Beuys [sic!] Kassel in rd. 4 Jahren um 7000 Bäume grüner wird? (Leser*innenbrief Warum soll ich das nicht tun? in der HNA vom 29.03.1982)
Während auf der einen Seite über die Kosten für Bäume und Steine gestritten wird, finden sich auf der anderen Seite auch schon erste Bürger*inneninitiativen, die Bäume pflanzen. So berichtet die HNA am 22. März 1982 über die erste Bepflanzungsaktion. Als gewählter Ort wird „ein Eckgrundstück gegenüber der Kirche“ in dem Stadtteil Oberzwehren genannt, das laut Aussagen der Bürger schon längst von der Stadt Kassel hätte begrünt werden sollen. Zugesagt habe man es zwar immer wieder, nur getan hätte sich halt nichts. Und so sei man auf die Beuys-Bäume gekommen, die bei Dixieland-Musik einer Band von der Gesamtschule Lohfelden und Freibier gepflanzt wurden. (Auszug aus dem HNA-Artikel Bürgerinitiative pflanzte Beuys-Bäume in Oberzwehren vom 22.03.1982)
Dieser erste Einblick in die Anfangsphase des Diskurses soll Folgendes vor Augen führen: Betrachtet man die in den Leser*innenbriefen geäußerte Kritik, so ist der Ausgangspunkt zwar oft der Zweifel an der künstlerischen Qualität der Arbeit Beuys’, allerdings rücken immer wieder Fragen an die Domäne Politik in den Vordergrund. Werden die Steine von den Steuergeldern bezahlt? Muss das Gartenamt an der Aktion beteiligt sein? Warum lässt der Oberbürgermeister dies zu? Letztlich sind es Fragen, die darauf hindeuten, dass es den Bürger*innen an Übersicht darüber fehlt, wie hier die Verzahnungen der Domänen Kunst und Politik genau funktionieren. Zu Anfang wird nirgendwo offengelegt, dass Beuys von der Dia Art Foundation eine Anschubfinanzierung bekommt, die dann schließlich über Spenden – zumindest teilweise – wieder zurückgezahlt werden soll. In dieses komplexe Netz von institutional facts bringt Beuys Klarheit und Übersicht, indem er die Bürger*innen Kassels vor vollendete Tatsachen in Form von – im wahrsten Sinne – brute facts stellt: Basaltsteine auf dem Friedrichsplatz. Diesen
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Basaltsteinen verleiht er durch einen ersten deklarativen Akt einen unantastbaren Kunststatus und durch einen zweiten werden sie zu sinnbildlichen Verträgen zwischen Kassels Bürger*innen und dem Künstler, die Anpflanzung der Bäume voranzutreiben. Dies ist eine klare Forderung, durch die sich die Debatte entfalten und an der sie sich abarbeiten kann. Die provokative Kraft, die die Basaltstelen entfalten, übersetzt sich in einen gesellschaftlichen Dialog und eben auch schon in erste Handlungen: Statt auf die träge, da komplexe Domäne Politik zu warten, können die Bürger*innen in Oberzwehren durch die von der Domäne Kunst eröffneten Handlungsspielräume selbst eine Bepflanzung vornehmen – und damit den Titel der Arbeit Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung wortwörtlich realisieren. In den Archivmaterialien, die von Beuys und seinem Team ausgehen, findet sich auch ein Schriftwechsel aus der Zeit nach der documenta 7, in dem sich Beuys und sein Team der Freien Internationalen Universität bemühen, in Absprache mit dem Magistrat der Stadt Kassel, dem Steueramt der Stadt Kassel und der documenta GmbH ein Verfahren zu finden, durch das der Ankauf und die Einpflanzung von Bäumen als Spende steuerlich absetzbar wird. So heißt es in einer handschriftlichen Notiz von Johannes Stüttgen: Die FIU legt eine Durchschrift eines Vertrages zwischen FIU und Beuys vor, wonach die FIU der „Erfüllungsgehilfe“ von Beuys ist und die Baumpflanzaktion durchführen soll. Die doc[umenta] schreibt an Beuys, daß sie von dem Vertrag Kenntnis erhalten hat und daß sie im Rahmen der Baumpflanzaktion alle Zahlungen an die FIU leiten will. (Notiz von Johannes Stüttgen, FIU, 16.12.1982)
Durch diese Bemühungen wird ein damals in Deutschland neuer institutional fact geschaffen: Zum ersten Mal sind Baumpflanzungen als Spende steuerlich absetzbar. Damit setzen Beuys und sein Team etwas um, das bereits vor Beginn der documenta 7 geplant war und den Bürger*innen auch kommuniziert wurde. Denn als nach den ersten Bürger*inneninitiativen sichtbar wird, dass das Verfahren zu funktionieren scheint, berichtet beispielsweise auch der zuvor kritisch eingestellte EXTRA Tip wie folgt: Die Kosten: pro Baum 500 Mark (einschließlich Basaltsäulen, Transport, Pflanz- und Aufbauarbeit). Die Vorfinanzierung und ein wesentlicher Anteil an den Gesamtkosten wird [sic!] von der „Dia Art Foundation“, einer Kunst-Stiftung, getragen. Aber auch jeder Bürger kann sich daran beteiligen. Als Einzelner mehrere Bäume oder zu mehreren einen Baum pflanzen. (Auszug aus dem EXTRA Tip-Artikel Beuys’ Bäume: ihre Bedeutung, Bezahlung, Bürgerbeteiligung vom 22.04.1982)
Anzahl und Höhe der Spenden steigen erst nach der documenta 7 merklich, noch während der Ausstellung reichen die Gelder bei Weitem nicht zur Finanzierung
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der kompletten Baumpflanzaktion. So bemüht sich Beuys um weitere Finanzierungsmöglichkeiten, von denen hier nur zwei genauer erläutert werden sollen. Von dem Düsseldorfer Gastronomen Helmut Mattner erhält Beuys als Spende eine Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen. Mattner hatte diese ursprünglich in seiner Nobelkneipe ausgestellt und wer besonders viel Geld zu zahlen bereit war, durfte aus ihr Sekt trinken. Beuys kündigt im Rahmen der documenta an, die Zarenkrone am 30. Juni 1982 vor dem Museum Fridericianum öffentlich einzuschmelzen und in ein Symbol des Friedens zu verwandeln. Dies ruft in ähnlicher Weise Proteste hervor wie die Ausschüttung der Basaltsteine. Die Einschmelzung wird von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten aufgezeichnet, somit sind die Proteste auch heute noch dokumentiert (vgl. Räune 2004). Das Ergebnis der Einschmelzung ist ein goldener Hase, den Beuys als Friedenssymbol deklariert13 und gemeinsam mit den aus der Krone gebrochenen Edelsteinen an den Meistbietenden versteigert. Der Kunstsammler Josef Froehlich kauft das Objekt für 770.000 DM, die komplett in die Aktion 7000 Eichen eingehen. Auch an dieser Aktion ist das interessante Wechselspiel zwischen rohen und institutionellen Tatsachen zu beachten. Das Imitat der Zarenkrone, von dem vermutlich viele Protestierende nicht wissen, dass es sich um kein historisches Insigne handelt, wurde zu diesem Zeitpunkt auf einen Materialwert von 350.000 DM geschätzt. Den für Lai*innen verhältnismäßig schwer einschätzbaren institutional fact, auf welchen Wert man den Preis eines kunsthandwerklich hergestellten Objektes aus Edelmetallen und -steinen schätzt, reduziert Joseph Beuys wie schon bei den Basaltstelen auf einen naturgegebenen brute fact: Er lässt das Gold auf ca. 1100 C° erhitzen. Dass man Gold zunächst schmelzen muss, um es in eine neue Form zu bringen, ist für alle als ein brute fact der Physik nachvollziehbar. Und auch die offenkundig sich um diese Tatsache herum bildende institutionelle Tatsache, dass diese Einschmelzung nun mal auch eine Aktion des bekannten Künstlers Joseph Beuys auf der Weltkunstaustellung documenta ist, ist in diesem Rahmen ebenfalls klar fassbar. In diesem Sinne betreibt Beuys hier wieder eine provokante, aber eingängige Komplexitätsreduktion. Ebenso erlangt der neue Kaufpreis von 770.000 DM einen klar markierten und nachvollziehbaren kommunikativen und symbolischen Charakter, da es sich eben um eine Aktion auf der documenta 7 zur Pflanzung von 7000 Eichen handelt.
|| 13 Beuys gibt für die gewählte Form des Hasen, die bei Räune (2004) dokumentiert ist (ab der Zeitangabe 12:46) nur eine esoterisch anmutende Begründung. Interessanter für die Argumentation dieser Analyse ist, dass er durch seine abschließende Bemerkung den deklarativen Charakter mehrfach betont: „Wir werden also hiermit den Hasen zum Friedenssymbol natürlich MACHEN. Wir MACHEN ihn zum Friedenssymbol“ [H. d. A.] (Räune 2004, 13:09).
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Interessanterweise – das ist leider in der oben erwähnten Fernsehaufnahme nicht dokumentiert – berichtet Johannes Stüttgen, dass in der Zeit, die benötigt wurde, um das Gold auf die nötige Temperatur zu erhitzen, Beuys „in rhythmischen Abständen die Namen großer Alchimisten“ in sein Mikrofon hineinrief, darunter Athanasius Kirchner oder Paracelsus (vgl. Stüttgen 2020). Die von Beuys mit alchimistischen Metaphern zur Wandlung überhöhte Aktion ist in der sprachwissenschaftlichen Lesart eine Bewegung weg von komplexen institutional facts (Schätzung des Werts einer kunsthandwerklichen Kopie) hin zu einem klaren brute fact (flüssiges Gold) und einer darauf aufbauenden institutionellen Tatsache (Goldhase als Kunstobjekt). Ein nicht ganz so großer Geldbetrag sorgt allerdings für eine ähnlich große Provokation, nämlich 5 DM, die man für die sogenannte „Signatur für den Neubeginn“ auf der documenta 7 bezahlen kann (s. o. Abb. 1b). Beuys verknüpft in dem im oberen Beispiel lesbaren Appell alle Dimensionen des Diskurses – die politische, die künstlerische und die ökologische – und sie bleiben dennoch als klare Handlungsanweisungen auf der rohen und der institutionellen Ebene greifbar: Will man nachhaltig handeln, so kann man als brute fact einen Baum pflanzen (oder durch eine Spende zumindest dazu beitragen) und als institutional fact den Grünen bei der hessischen Landtagswahl seine Stimme geben. Selbstverständlich sorgt die über dem Autogramm befindliche Wahlempfehlung für Protest bei anderen Parteien, zunächst bei der FDP, worüber die HNA am 21. Juli 1982 unter der Überschrift FDP: Beuys wirbt für die Grünen berichtet. Mit Rückgriff auf diesen Bericht wendet sich dann auch der Kreisverband der CDU an die documenta-Geschäftsführung und beklagt, dass Prof. Joseph Beuys nicht nur einseitig Reklame für die Grünen macht, vielmehr in unverschämter, ehrenrühriger und beleidigender Weise die demokratischen Parteien attackiert und abqualifiziert. (Anschreiben des CDU-Kreisverbands der Stadt Kassel an die documenta GmbH-Geschäftsführung vom 26.07.1982)
Auf Bitten der documenta-Leitung hin unterlässt Beuys die Verteilung der Wahlempfehlung. Dennoch wird an diesem Beispiel sichtbar, dass Beuys – wie bei der Ausschüttung der Basaltsteine sowie bei der Einschmelzung der Zarenkrone – die der Domäne Kunst zugeschriebene Freiheit und Exzentrizität nutzt, um durch die Konfrontation mit der Domäne Politik sowie mit der Öffentlichkeit einen domänenübergreifenden Dialog zu erzwingen. Dass die Kunst dabei zum Katalysator gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse wird, lässt sich bereits an der ersten Pflanzung der Bäume durch die Bürger*innen in Oberzwehren zeigen, die – so setzte es zumindest der bereits zitierte Beitrag der HNA in Szene – etwas selber in
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die Hand nehmen müssen, bei dem die Politik versagt hatte und die Kunst einen alternativen Lösungsweg ermöglicht. Beuys’ doppelter Status, sowohl als anerkannter Künstler als auch als Parteimitglied der damals noch jungen Grünen Partei, sorgt im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass Kassel zum Zeitpunkt der documenta 7 von einer Koalition von SPD und Grünen regiert wird, bereits im Vorlauf der Ausstellung für eine verstärkte Berichterstattung, die sich auf die politischen (In-)Kompetenzen der jungen Partei fokussiert. Unter dem Titel Unter der Fuchtel der Grünen berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 10. April 1982, wie – so der Untertitel – Kommunalpolitik zum Krisenmanagement wird. Im Artikel dient zunächst Beuys’ Aktion als Aufhänger und es kommen mehrere nicht namentlich genannte Lokalpolitiker zu Wort, die sich „kummervoll und zornig zugleich“ äußern. Der damalige SPD-Oberbürgermeister Hans Eichel betont hingegen „die Gemeinsamkeiten der Kasseler SPD mit den Grünen in der Energie- und Umweltpolitik und auf etlichen anderen Gebieten“. Bemerkenswert ist vor allem die „Prognose“, mit der die FAZ den Artikel schließt: „Über Beuys und seine Bäume wird man in Kassel noch reden, wenn über die Grünen längst Gras gewachsen ist.“ An diesem Textbeispiel wird sichtbar, wie durch den Grad an Intensität, den der Diskurs um die 7000 Eichen bereits im März des Jahres 1982 aufgenommen hat, auch die politischen Dimensionen des Umweltdiskurses über den Katalysator der Kunst in die breitere Gesellschaft transportiert werden. Aber trotz seiner Parteimitgliedschaft bei den Grünen kann Beuys (auch aufgrund seiner Vergangenheit während des Nationalsozialismus) nicht als reine Gallionsfigur einer politisch linken Ausrichtung gelten. Die Ambivalenz, mit der ihm die politisch Linke gegenübersteht, lässt sich durch einen Bericht des lokalen Magazins Stattzeitung vorführen. Ausgehend von der im Jahr 1971 gegründeten Gesamthochschule Kassel bildet sich im Stadtteil Vorderer Westen eine linke studentische Szene heraus, die im Jahr 1976 mit der Stattzeitung eine linksalternative Gegenöffentlichkeit herstellen möchte (vgl. Schmitz 2020). In der Ausgabe vom April 1982 berichtet sie über Beuys’ Aktion und betitelt die Pflanzaktion als einen Subversive[n] Eingriff in die Planungspolitik. Schon der Einstieg des Berichts geht ironisch mit der Person Beuys um. So heißt es, als über die Pflanzung des ersten Baumes durch Beuys selbst berichtet wird: Montag, 15.3.82, Friedrichsplatz Kassel – ein Dutzend Pressefotografen und drei Fernsehteams stehen mit geladener Kamera bereit. Als der erste 1,20 m lange Basaltstein den Boden des Platzes berührt, schreitet ER in die Mitte, begutachtet ihn, berührt ihn. Die Pressegeier treten sich auf die Füße, das Kamerasurren schwillt zum Donner. Als ob ein Heiliger in den Kasten zu bringen ist, der Stein zu Brot werden läßt. [H. i. O.] (Auszug aus dem StattzeitungArtikel Subversiver Eingriff in die Planungspolitik, Ausgabe 4/82: 3)
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Auch wenn Beuys im weiteren Verlauf des Textes immer wieder ironisch bis zynisch überhöht wird, so wird die Aktion selbst durchweg positiv beurteilt: Bei einer Aktion „Bäume auf Schulhöfe“ würden die Schüler auch was Praktisches lernen in Sachen Bürokratie und Biologie. […] Denn eins ist klar: Je mehr Bürger engagiert für ihren vorgeschlagenen Baumstandort kämpfen, desto eher wird der Baum wahr. (Auszug aus dem Stattzeitung-Artikel Subversiver Eingriff in die Planungspolitik, Ausgabe 4/82: 5)
Es ist auffällig, dass im ersten Zitat aus der Stattzeitung bereits eine Transmutationsmetapher – wenn auch wieder ironisch – auf Beuys’ Aktion angewendet wird („Stein zu Brot“), noch bevor es zur Einschmelzung der Zarenkrone kommt, und auch, dass am Ende des zweiten Zitats der Baum – im Wortspiel mit dem ersetzten Lexem „Traum“ – metaphorisch zum institutional fact gemacht wird: „Je mehr Bürger [...] kämpfen, desto eher wird der Baum wahr.“ Ein Baum, der als brute fact wahrgenommen wird, muss nicht erst wahr werden – die nur scheinbar natürlich gegebenen Tatsachen werden durch den Diskurs zunehmend als gesellschaftliches Aushandlungsobjekt perspektiviert. Interessant an dem Text insgesamt ist, dass er zeigt, wie die Beschaffenheit der Aktion Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung auch einer linken, Beuys kritisch gegenüberstehenden Haltung die Möglichkeit der Aneignung bietet, indem sie die Person Beuys von der Aktion 7000 Eichen löst. Dies lässt sich auch explizit am Bericht der Stattzeitung aufzeigen: Nun muß sich die Aktion mehr von IHM, dem Guru, lösen. Eine Bürgeraktion muß sie werden – und sie ist es auch schon in den Anfängen. Die ganze Dimension der Aktion wird deutlich, zwei Stunden nach der ersten Baumpflanzung: SIEBEN EICHEN IN DEN BÜROKRATENSUMPF [H. i. O.] (Auszug aus dem Stattzeitung-Artikel Subversiver Eingriff in die Planungspolitik, Ausgabe 4/82: 3)
An dieser Stelle wird nun verstärkt greifbar, was sich bereits im Bericht über die erste Pflanzungsaktion in Oberzwehren andeutete: Wie das Potential, nicht regelkonform im Rahmen der Domäne Politik handeln zu müssen, aus der Domäne Kunst in das Handlungsfeld der Bürger*innen übertragen wird. Überall, wo nun in Kassel Bäume gepflanzt werden, ist durch die diskursive Einbettung der Aktion ein aktivistischer Impetus impliziert, es entsteht gleichzeitig auch ein Diskussionsforum und die beteiligten Bürger*innen werden als selbstverantwortlich politisch Handelnde greifbar: Sie standen gerade drei Wochen, da gab’s Protest: die Beuys-Bäume an der Ecke Schönfelder-/Ziegelstraße sind einem angrenzenden Autohaus teilweise im Weg. Am Dienstagnachmittag war Lokaltermin. Stadtplaner, Firmenvertreter, Mitglieder des Ortsbeirates und Anwohner trafen sich. Hart prallte Meinung auf Meinung, aber als man sich trennte, zeichnete
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sich ein kompromißlicher Streifen am Horizont ab. (Auszug aus dem EXTRA Tip-Artikel Erster Protest gegen Bürgerpark vom 29.04.1982)
Die von der Domäne Kunst eröffneten Handlungsspielräume ermöglichen nicht nur das Einpflanzen der Bäume selbst, sie werfen auch ein Licht auf die für die Öffentlichkeit ansonsten zwar zugänglichen, aber selten genutzten politischen Handlungsmöglichkeiten. Bemerkenswert ist hierbei auch, dass die gepflanzten Bäume im Titel des Artikels als „Bürgerpark“ bezeichnet werden, was markiert, dass es eben kein von der Domäne Politik, sondern ein von den Bürger*innen selbst veranlasstes Projekt war. Beuys’ Verpflichtung gegenüber der Stadt Kassel und ihren Bürger*innen wird aber auch in seiner Gesamtheit von der Domäne Politik ernstgenommen und die Regierenden der Stadt Kassel erklären sich bereit, bis zur achten documenta (im Jahr 1987) alle 7000 Bäume gepflanzt zu haben. Das aktivierende Konfliktpotential der Aktion bleibt jedoch auch über die Laufzeit der siebten documenta hinaus und damit auch der Status der Kunstobjekte als Katalysatoren einer öffentlichen Debatte. So berichtet die HNA am 25. März 1986: Unbekannte zerstören zehn „Beuys-Eichen“. Gleichzeitig wird in einem Beitrag namens Wo leben Stadtbäume? über eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Kasseler Gartenamt und den Städtischen Werken berichtet, in der den Bürger*innen gezeigt werden soll, „wie kompliziert die Stadtstraßen als Lebensraum für Bäume und Sträucher geworden sind“. Die Bindung an die und die Akzeptanz der Bäume wächst zunehmend. Insbesondere als Beuys am 23. Januar 1986 verstirbt, steigt auch das deutschlandweite Interesse an der Aktion wieder und es wird für Kassel – Stadt und Bürger*innen – besonders wichtig, die Aktion pünktlich zu Ende zu bringen. So berichtet beispielsweise auch der Berliner Tagesspiegel am 6. Juni 1987: „Zweihundert Kinder aus Kassel sind Paten des 6999. Beuys-Baumes, der gestern während eines Kinderfestes offiziell seinem neuen Standort übergeben wurde: […].“ Und auch die Münchner Abendzeitung betitelt ihren zentralen Bericht im Feuilleton zur Eröffnung der documenta 8 mit Ein Wachsen und Vergehen. Heute eröffnet die 8. ,documenta‘/ Beuys-Witwe pflanzt 7000. Stadt-Baum. Letztlich ist es Beuys’ Sohn Wenzel, der den letzten Baum vor dem Museum Fridericianum neben den ersten, von seinem Vater gepflanzten setzt. Die zu Anfang formulierte Ausgangsfrage dieser Untersuchung lautete: Inwiefern kann sprachwissenschaftliches Arbeiten zur Domäne Kunst dazu beitragen, neue Erkenntnisse zu ökologisch nachhaltigem Handeln zu generieren? Die in der Analyse gewählten schlaglichtartigen Beispiele am Diskurs über die 7000 Eichen haben immer wieder vor Augen geführt, wie durch die Begegnung zwischen den Domänen Kunst und Politik sowie der Öffentlichkeit komplexe institu-
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tionelle Sachverhalte in nachvollziehbare Einzelphänomene segmentiert werden: Statt dass Verträge zwischen der Stadt Kassel und der documenta GmbH oder Beuys’ Freier Internationaler Universität in den Vordergrund treten, werden brute facts in Form von Basaltsteinen vor dem zentralen repräsentativen Standort der documenta ausgeschüttet, mit der der Domäne Kunst inhärenten deklarativen Macht zum unantastbaren Kunstwerk erklärt und in einem zweiten deklarativen Akt zu einem Vertrag mit Kassels Bürger*innen verwandelt, der sie zur Pflanzung von Bäumen verpflichtet. Ein ähnliches Verfahren zur Schaffung von Übersicht im komplexen institutionellen Netz wurde am Beispiel der Einschmelzung der Zarenkrone erläutert. Bereits zu Anfang der Analyse ist deutlich geworden, wie viel Beuys’ Team im Hintergrund an Arbeit im institutionellen Bereich leistet, um beispielsweise das Anpflanzen von Bäumen als Spende steuerlich absetzbar zu machen; und auch die enge Zusammenarbeit mit dem Kasseler Gartenamt hat sich in einem Leser*innenbriefdisput zumindest angedeutet. Aus den Dokumenten von Beuys’ Team, die sich im documenta archiv finden lassen, geht auch klar hervor, wie viel Planungszeit damit zugebracht wird, geeignete Standorte für die Bäume, aber auch die jeweils richtigen Baumarten für die gewählten Standorte zu finden. Dies soll an dieser Stelle anhand von zwei Fotografien (Abb. 2a und 2b) dokumentiert werden.
Abb. 2a und 2b: Ausschnitte aus den Planungsunterlagen der Aktion 7000 Eichen. Links: 2a) Notiz der 195 Orte, der gewählten Baumarten und das (geplante) Datum der Einpflanzung im Stadtteil Harleshausen. Rechts: 2b) Ausschnitt eines Stadtplans der Innenstadt Kassels, in dem zu pflanzende Bäume als schwarze Punkte markiert sind
Die auf Abbildung 2b im oberen rechten Bildbereich befindlichen zwei schwarzen Punkte vor dem Museum Fridericianum stehen für den ersten und 7000. Baum der
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Aktion 7000 Eichen. Wer diese (oder andere) von Basaltstelen begleitete Bäume sieht, sieht zunächst einmal brute facts. Wer aber, wie viele Kasseler Bürger*innen, mit dem Diskurs um diese Bäume vertraut ist, verknüpft sie mit der für die Stadt Kassel zentralen documenta oder dem Provokateur Beuys. Vielleicht haben einige Bürger*innen aber auch durch Erzählungen anderer mehr Wissen darüber oder sie haben eben durch das Selbsterleben aktiv an der Aktion teilgehabt. Auch heute noch gibt es die bürger*inneninitiativ gegründete gemeinnützige Stiftung 7000 Eichen, die die Bepflanzung weiterer Bäume befördert und die die bereits gepflanzten Bäume dokumentiert und nötigenfalls bei größeren Bauprojekten schützt. Auch die Politisierung dieser Kunstobjekte setzt sich in die Gegenwart fort. So stellte die Kasseler FDP laut einem Bericht der HNA vom 6. Oktober 2016 den Antrag, „Parteiwerbung an Beuys-Bäumen für unzulässig“ (Hermann 2016) zu erklären. Durch all diese Beobachtungen lässt sich auf die zu Anfang formulierte Ausgangsfrage, inwiefern sprachwissenschaftliches Arbeiten zur Wissensdomäne Kunst dazu beitragen kann, neue Erkenntnisse zu ökologisch nachhaltigem Handeln zu generieren, mit drei in der Analyse erarbeiteten Aspekten antworten: Durch einen pragmasemiotisch-analytischen Zugriff auf Texte kann nachgezeichnet werden, wie von Akteur*innen der Domäne Kunst etablierte institutionelle Strukturen hinterfragt und durchkreuzt werden können, um neue brute facts und darauf aufbauende institutional facts zu erschaffen. Diese neuen Tatsachen sind für die am Diskurs partizipierende Öffentlichkeit erstens nachvollziehbarer als die ursprünglichen. Zweitens öffnen sie dadurch auch Handlungsspielräume, die ohne das Eingreifen der Domäne Kunst verschlossen bleiben würden, und drittens wird den Bürger*innen damit ermöglicht, die in diesen Handlungsspielräumen erschaffenen neuen Tatsachen selbst wiederum institutionell zu verankern, beispielsweise in Form der zuletzt genannten Stiftung 7000 Eichen. Die so gepflanzten Bäume sind somit nicht nur als brute facts verwurzelt, sondern auch in fünffacher Weise als institutional facts: Sie sind erstens Teil der Geschichte der Weltkunstaustellung documenta; zweitens damit auch Teil der Stadtgeschichte Kassels, die sich stolz als documenta-Stadt bezeichnet; drittens sind sie auch als individuelle Geschichten im kollektiven Gedächtnis verankert, wenn beispielsweise einzelne Bürger*innen bei der ersten selbstinitiierten Pflanzung in Oberzwehren Teil der Dixieland-Band waren oder das Freibier gestellt haben; sie sind viertens inzwischen durch ihren Kunststatus denkmalgeschützt und fünftens auch durch das mehrfach genannte Engagement der Stiftung 7000 Eichen. Der von Beuys im Kontext seiner Arbeit geäußerte und für diesen Beitrag titelgebende Ausspruch, „Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme ge-
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löst werden können“ erfährt hier also insofern eine Bestätigung, als dass mit Rückgriff auf Sörlin Folgendes festgehalten werden kann: Der die Pflanzung von 7000 Bäumen umgebende Diskurs lässt die kulturellen Werte, die politischen Ideen und das tief verwurzelte menschliche Verhalten, welche allesamt die Art und Weise der Lebensführung der Menschen diktieren, für die beteiligten Bürger*innen zu Tage treten. Auf der Basis, die der Kunstdiskurs bietet, können Werte, Ideen und Verhalten neu miteinander ausgehandelt werden, sodass die gepflanzten Bäume nicht nur Kunstobjekt sind, sondern auch Symbol und Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, an dem alle Bürger*innen sich zu beteiligen eingeladen – vielleicht gar provoziert – waren. Damit ist an der Oberfläche etwas passiert, das zu Nachhaltigkeit beigetragen hat, nämlich die dauerhafte Pflanzung neuer Bäume, die bis heute voranschreitet. Auf einer tieferen Ebene ist die Langlebigkeit dieser Bäume und der damit verbundenen Aktion durch die bereits genannten fünf Aspekte garantiert. Somit ist der in Kassel am 13. November 1981 initiierte und bis heute geführte Diskurs ein prototypisches Beispiel für nachhaltiges Handeln, das sich in der (zumindest Kasseler) Gesellschaft verankert hat. Inwiefern die Rekonstruktion eines solchen Diskurses auch weitere Erkenntnisse zum Thema Nachhaltigkeit erzeugen kann, soll im Fazit diskutiert werden.
5 Fazit Ob Kunst tatsächlich die „einzige“ Form ist, in der Umweltprobleme gelöst werden können, kann und soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Was aber gezeigt werden konnte, ist, dass die kommunikativen Muster der Domäne Kunst eine besondere deklarative Kraft entfalten können, die die Regeln anderer Domänen wie der Politik zeitweise, aber auch auf Dauer neu strukturieren können, sodass für die Öffentlichkeit Handlungsspielräume eröffnet werden, wodurch wiederum – im Sinne Sörlins – neues umweltrelevantes Wissen entsteht. Methodisch konnte gezeigt werden, dass ein pragmasemiotischer Zugriff auf Dokumente und Pressetexte offenlegen kann, inwiefern verschiedene gesellschaftliche Domänen produktiv miteinander in Diskurs treten können, was in Anbetracht der globalen umweltpolitischen Herausforderungen eine Grundbedingung jeglicher zukünftiger Handlungsmöglichkeiten sein wird. Die hierbei aufgezeigten Muster dürften wiederholt bei den Leser*innen Assoziationen zu aktuellen umweltpolitischen Diskursen geweckt haben, so wie beispielsweise die Kritik der CDU und FDP an Beuys’ Wahlempfehlung 1982 an den im Jahr 2019 geführten Diskurs über das Video Die Zerstörung der CDU des Youtubers Rezo und dessen Wahlempfehlung erinnert (vgl. Böhm/Reszke i. V.).
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Die Kategorisierung Searles in brute und institutional facts hat sich als fruchtbar erwiesen, wenn es darum geht, das Entstehen und vor allem die Neuperspektivierung von Tatsachen zu beschreiben, wie sie typisch für die Domäne Kunst ist – gerade dort, wo die Kunst versucht, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen. Hierzu sei als Beispiel nur die Arbeit der norwegischen Künstlerin Máret Ánne Sara genannt, die auf der documenta 14 (2017) als brute facts Rentierschädel in Form eines Vorhangs ausstellte; und daneben in Vitrinen die institutional facts, die dazu geführt haben: Gesetzestexte und Anschreiben der norwegischen Regierung, die die Tötung der Tiere verlangen, höchstwahrscheinlich um die auf die Rentiere angewiesenen eingeborenen Sámi von rohstoffreichen Gebieten zu vertreiben (Sara 2017).14 Kritisch gegen die Untersuchung einzuwenden wäre, dass der hier rekonstruierte Diskurs in gewisser Weise eine nicht reproduzierbare Ausnahme darstelle, dass er nur unter den ihn rahmenden besonderen Bedingungen entstehen konnte: Nicht jede Großstadt hat eine Großkunstausstellung, die so eng mit ihrer Stadtgeschichte verwoben ist, und auch der besondere Status des Künstlers Beuys ist ein entscheidender Faktor bei der Realisierung des Projekts 7000 Eichen. Vielleicht wäre es aber mit Blick auf Bemühungen um ein erneuertes Nachhaltigkeitsbewusstsein in der Bevölkerung lohnenswert, genau diese besonderen Bedingungen kommunikativ herzustellen.
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|| 14 https://maretannesara.com/pile-o-sapmi/ (letzter Zugriff 05.07.2020).
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Hausendorf, Heiko; Müller, Marcus (Hrsg.) (2016): Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin/Boston: De Gruyter. Hermann, Andreas (2016): FDP: Stadt Kassel soll Parteiwerbung an Beuys-Bäumen für unzulässig erklären. In: Hessische/Niedersächsische Allgemeine (Online), 06.10.2016. https://www.hna.de/kassel/stadt-soll-parteiwerbung-beuys-baeumen-unzulaessig-erklaeren-6813739.html (letzter Zugriff 05.07.2020). Hermann, Andreas; Hagemann, Florian (2018): Wohin mit documenta-Institut? Kritik am Standort Holländischer Platz. In: Hessische/Niedersächsische Allgemeine (Online), 17.12.2018. https://www.hna.de/kultur/documenta/wohin-mit-documenta-institut-standort-hoplakritik-ngz-10872898.html (letzter Zugriff 05.07.2020). Hülbusch, Karl-Heinrich; Scholz, Norbert (1984): Joseph Beuys – 7000 Eichen zur documenta in Kassel. Kassel: Kasseler Verlag. Nemeczek, Alfred (2020): Klimawandel im Beuysland. Website der Stiftung 7000 Eichen. https://www.7000eichen.de/index.php?id=29 (letzter Zugriff 05.07.2020). Räune, Werner (2004): Joseph Beuys – Einschmelzung der Zarenkrone. ZDF doku. https://www.youtube.com/watch?v=t2j-579VznQ (letzter Zugriff 05.07.2020). Riegel, Hans Peter (2013): Beuys: die Biographie. Berlin: Aufbau. Schmitz, Andreas (2008): Vor 30 Jahren. Die Stattzeitung. https://www.vorderer-westen.net/geschichte/stadtteilgeschichte/vor-30-jahren-stattzeitung/ (letzter Zugriff 05.07.2020). Searle, John R. (1998): Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World. New York: Basic Books. Searle, John R. (2010): Making the Social World. The Structure of Human Civilization. Oxford: University Press. Sörlin, Sverker (2012): Environmental Humanities: Why Should Biologists Interested in the Environment Take the Humanities Seriously? In: BioScience 62, 788–789. https://doi.org/10.1525/bio.2012.62.9.2 (letzter Zugriff 05.07.2020). Stüttgen, Johannes (2020): Die Einschmelzung der Zarenkrone. Website der Stiftung 7000 Eichen. https://www.7000eichen.de/index.php?id=28 (letzter Zugriff 05.07.2020).
Primärquellen Jegliche Korpusbelege in Abschnitt 4, Analyse: Rekonstruktion des Diskurses um 7000 Eichen, sowie die abgebildeten Fotografien sind entnommen aus den drei Aktenordnern: Pressedossier zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen. Kassel: documenta archiv. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des documenta archivs.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Links: 1a) Ausschnitt aus dem natur-Magazin, Ausgabe 6/84: 30. Fotografiert aus dem Pressedossier zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen im documenta archiv [Fotografie d. A.]. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des documenta archivs. Rechts: 1b) Joseph Beuys’ Signatur für den Neubeginn auf der documenta 7. Fotografiert aus dem Pressedossier zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen im documenta archiv [Fotografie d. A.]. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des documenta archivs.
Abb. 2:
Links: 2a) Ausschnitt aus den Planungsunterlagen der Aktion 7000 Eichen; hier sind die 195 Orte, gewählten Baumarten und das (geplante) Datum der Einpflanzung im Stadtteil Harleshausen notiert. Fotografiert aus dem Pressedossier zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen im documenta archiv [Fotografie d. A.]. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des documenta archivs. Rechts: 2b) Aus den Planungsunterlagen der Aktion 7000 Eichen, hier ein Ausschnitt eines Stadtplans der Innenstadt Kassels, in dem zu pflanzende Bäume als schwarze Punkte markiert sind. Fotografiert aus dem Pressedossier zu Joseph Beuys’ 7000 Eichen im documenta archiv [Fotografie d. A.]. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des documenta archivs.
| Teil 3: Ökologische Sprachkritik und Moral
Alwin Fill
Ökolinguistik: Wie uns Sprache von der Umwelt zur Mitwelt führen kann Zusammenfassung: In seiner Definition von Ökologie verwendet Ernst Haeckel (1866) das Wort Außenwelt und meint damit die organische und anorganische Umgebung der Lebewesen. Heute sprechen wir von der Umwelt, ein Terminus, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, dem diese Umwelt (Tiere, Pflanzen, anorganische Ressourcen) dienen soll. Als Gegenbegriff wurde das Wort Mitwelt geschaffen, das nicht mehr den Menschen im Zentrum sieht, sondern die Natur, in der der Mensch nur ein Element ist. Im Sinne einer Linguistik für die Natur und das Anerkennen einer Mitwelt entstand gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Ökolinguistik, wobei ein Vortrag von Michael Halliday einen wichtigen Anstoß dazu gab. In diesem Vortrag zeigte Halliday (2001: 194–195), wie die Sprache auf verschiedene Weise eine „Diskontinuität“ zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung schafft. In diesem Beitrag soll auch das Wachstumsdenken und das Denken in Gegensätzen (beide beruhen auch auf der Sprache) kritisiert werden. Damit soll gezeigt werden, wie die Ökolinguistik einen Beitrag zum Frieden auf dieser Welt leisten kann. Schlüsselwörter: Ökolinguistik, Umwelt und Mitwelt, Tiersprachen, Wachstumsdenken, Gegensatzdenken, Sprache und Frieden
1 Einleitung „Ökologie ist die Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen Organismen und zwischen den Organismen und ihrer Außenwelt“. So definierte Ernst Haeckel (1866: 286) die ‚Ökologie‘ – ein Terminus, den er vom griechischen oikos (Wohngemeinschaft) abgeleitet hatte. Zu diesen Organismen zählt eigentlich auch der Mensch, aber seine Sprache schafft eine Distanz zwischen ihm und den anderen Organismen, und zwar auf verschiedene Art und Weise. Dies hat besonders der 2018 verstorbene Ökolinguist Michael Halliday gezeigt, dem dieser Aufsatz gewidmet ist.
|| Alwin Fill, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Anglistik, Heinrichstraße 36, 8010 Graz, Österreich, alwin.fill[at]uni-graz.at https://doi.org/10.1515/9783110740479-012
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Michael Halliday hielt 1990 in Thessaloniki einen wichtigen Vortrag, der mehrmals publiziert wurde. In diesem zeigte er (Halliday 2001: 194–195), wie die Sprache eine „Diskontinuität“ zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung erzeugt, da viele Wörter (z.B. Sprache, denken, einschätzen etc.) nur für Menschen verwendet werden. Dadurch erscheint die Natur als passives Phänomen. Dazu kommt die sogenannte Distanzierung: Für dieselben Handlungen und Eigenschaften werden für Tiere und Menschen andere Wörter verwendet. Tiere ‚fressen‘ – Menschen ‚essen‘; weibliche Tiere sind ‚trächtig‘ – Frauen sind ‚schwanger‘ etc. Weitere Punkte, die Halliday in seinem Vortrag ansprach, sind die vielen Gegensatzwörter in unseren Sprachen – etwa nützlich : schädlich – mit denen ebenfalls eine Trennung zwischen Mensch und Natur erfolgt, da wir natürlich unter nützlich das verstehen, was für uns Menschen nützlich ist. Die vielen Wortgegensätze in unseren Sprachen verleiten uns zum Gegensatzdenken (gut : böse; Freund : Feind), das nicht zum Frieden beiträgt (siehe unten, Kap. 4). Außerdem zeigte Halliday, dass die Sprache uns zum Wachstumsdenken anregt, weil das Wachstumswort (groß, hoch, schnell etc.) immer mit gut assoziiert wird, während das Gegenteil (klein, niedrig, langsam etc.) eher mit schlecht verbunden ist. Weiter unten werden wir sehen, dass auch dieses Denken nicht zum Frieden führt und auch Initiativen gegen den Klimawandel behindert. Halliday schreibt auch, dass die sogenannten ‚Ressourcen‘ (Wasser, Kohle, Strom etc.) in unseren Sprachen als unbegrenzt erscheinen (unbounded), was suggeriert, dass diese Ressourcen unermesslich, also unbegrenzt verfügbar sind (Halliday 2001: 194). Er schlägt daher vor, immer ein bestimmtes Maß, eine bestimmte Menge (Größe) zu nennen (etwa ‚ein Kübel Wasser‘, ‚eine Kiste mit Kohle‘ etc.), wie es etwa in der Hopi-Sprache geschieht, einer indigenen amerikanischen Sprache, die Benjamin Lee Whorf (1956) beschrieben hat. Jedes Jahr wird gemessen, wann die Menschen die Ressourcen des Jahres verbraucht haben. Den Tag, an dem dies der Fall ist, nennt man „Erschöpfungstag“, oder englisch overshootday (overshoot = darüber hinausgehen). Im Jahr 2019 war dieser Tag (nach Zeitungsberichten) weltweit der 29. Juli, in den 1970er Jahren lag er noch im Dezember. In Deutschland war er übrigens später als in Österreich, nämlich am 3. Mai, in Österreich schon am 9. April – und in den USA schon am 15. März. Die Länder, bei denen er erst gegen Jahresende ist, sind übrigens Uruguay, Guatemala, Ägypten und Indonesien – eine Tatsache, die wohl etwas überraschend ist und zum Nachdenken anregt.
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2 Ökolinguistik als Teil der Evolution Ich sehe die Ökolinguistik, die Halliday mitbegründet hat, als einen Teil der Evolution des Menschen, die aber nun in eine neue Richtung geht. Bis jetzt hat man die Evolution als „the survival of the fittest“ interpretiert, was hieß, dass sie dahin wirke, alles größer, zahlreicher, stärker zu machen. Herbert Spencer, der 1864 diese Phrase schuf (fittest: eigentlich ‚am besten angepasst‘) schreibt, dass es auch um Vermehrung geht. Die Ökolinguistik propagiert aber, dass alles gleich groß bleiben, aber qualitativ besser und besser verteilt werden soll (vgl. auch Finke 2018). Es gibt auch den Slogan „small is beautiful“: Der Ökonom Ernst Friedrich Schumacher hat 1973 ein Buch mit diesem Titel geschrieben (Untertitel 1985: Die Rückkehr zum menschlichen Maß), und der österreichische Philosoph Leopold Kohr schrieb ein ähnliches mit dem Titel Das Ende der Großen (1986). Sowohl Schumacher als auch Kohr argumentieren, dass nicht alles weiterwachsen soll. Aber zu sagen „je kleiner, desto besser“ ist auch nicht wünschenswert, sondern das richtige Maß muss das Ziel sein. Schumachers Buch enthält auch Ökologisches: In seinem Kapitel „Die richtige Nutzung von Grund und Boden“ heißt es auf der ersten Seite: „Der Mensch, ob einer Kultur angehörig oder als Wilder, ist ein Kind der Natur – nicht ihr Herr. Er muss sein Tun bestimmten Naturgesetzen anpassen, will er die Beherrschung seiner Umwelt aufrechterhalten“ (Schumacher 1985: 93). Die Umwelt ist also etwas, das die Menschen beherrschen sollen. Als Gegenbegriff zu Umwelt wurde (von Jakob von Uexküll 1921/1909) das Wort Mitwelt geschaffen, das nicht mehr den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern die Natur, in der der Mensch nur ein Teil (ein Element) ist. Ganz in diesem Sinn hat den Begriff Klaus Michael Meyer-Abich verwendet, dessen Buchtitel sogar lautet: Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt. Hier schreibt er: „Der entscheidende Gedanke, mit dem die Umkehr beginnt, ist, dass andere Lebewesen nicht nur um uns, sondern mit uns in der Welt sind“ [H. i. O.] (Meyer-Abich 1990: 11). Wenn man diesen Gedanken konsequent verfolgt, kommt man zu einer Sprache, die nicht ‚anthropozentrisch‘, sondern ‚anthropomorph‘ ist, die also alle Menschenwörter auch bei Tieren (und vielleicht sogar bei Pflanzen) verwendet. Man würde dann auch bei Tieren von Eltern, Brüdern und Schwestern sprechen; Tiere können ‚denken‘, aber auch ‚verliebt sein‘; sie haben ein Bewusstsein und auch eine ‚Sprache‘. Die Sprache der Tiere ist allerdings nicht die Menschensprache, sondern alle Tierarten haben ihre eigenen Sprachen – ein Thema, das auch Philosophen angesprochen haben, insbesondere Michel de Montaigne, der französische Philosoph, dessen Essays zwischen 1572 und 1592 entstanden sind. In seinem be-
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kanntesten Essay, Apologie für Raymond Sebond (Montaigne 1998: 217–299) spricht er von der Anmaßung des Menschen, der sich auserlesen und von den Tieren abgesondert dünkt. Tiere haben zwar nicht unsere Sprache, aber sie haben ihre eigenen Formen der ‚Kommunikation‘, wie weiter unten gezeigt wird. Wenn wir mit einer Katze spielen, dann spielt wahrscheinlich eher die Katze mit uns. Hier zeigt uns Montaigne ein ‚Mitweltdenken‘, das im Gegensatz zum Umweltdenken der meisten Menschen – sowohl zur Zeit Montaignes wie auch in unserer Zeit – steht (siehe unten, Kap. 3). Bekanntlich hat es andere Philosophen gegeben, die gesagt haben, der Mensch unterscheide sich vom Tier hauptsächlich dadurch, dass er Sprache hat. Descartes war einer dieser Philosophen (vgl. Louden 2009: 376ff.), aber auch Aristoteles, der zwar im ersten Buch seiner Politik den Tieren eine ‚Stimme‘ zugesteht, die aber nur zum Ausdruck von Schmerz und Lust dient (Aristoteles Pol. 1251a 1ff.; vgl. auch Louden 2009: 374f.). Hier zeigt sich eine „Umweltideologie“, bei Montaigne eine „Mitweltideologie“. Es folgt eine Liste der Kommunikationsarten, die (bis jetzt!) bei Tieren entdeckt wurden und mit unterschiedlicher Intensität erforscht werden (vgl. Fill 2012: 261–266): – Laute (Vogelgesang; bei Primaten Rufe, Grunzen etc.; Laute werden auch von Bienen, Delphinen und Fröschen verwendet) – Ultraschall, ‚Echoorientierung‘ (Fledermäuse, vgl. Marler/Hamilton 1972: 452–473) – Infraschall (Elefanten) – Bewegungsverhalten (etwa der Rundtanz und der Schwänzeltanz der Bienen; vgl. von Frisch 1950). – Gesten und Handlungen, z.B. Ästeschütteln bei Schimpansen – Jane Goodall, die 2019 den Preis der österr. Akademie der Wissenschaften erhalten hat, berichtet hierzu von männlichen Schimpansen, die vor einer Schimpansin einen belaubten Zweig schütteln. Sie schreibt: „Grob übersetzt heißt das: ‚Komm her, komm mit mir!‘ Wenn das Zweigeschwenken von einer Erektion begleitet ist, heißt es: ‚Komm her. Ich will mich mit dir paaren!‘“ (Goodall 1991: 106). – Gesichtsausdruck (Wölfe, Katzen, Primaten) – Gerüche und chemische Reize (Bienen, Schmetterlinge, Eisbären; Quelle der Gerüche sind Urin und Sekrete aus der Fußsohle). „Dem Geruchssinn kommt eine entscheidende Bedeutung bei der Suche nach dem richtigen Partner zu“ (Niemann 2010: 154). – Elektrische Impulse (Zitteraal, Fischarten). In einem Aufsatz über diese Impulse gibt Hopkins (1999: 466) eine Liste von 21 Fischarten (mit Abbildungen), die elektrisch kommunizieren.
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Geschlechtsunterschiede in der Tiersprache: Warum haben bei den Vögeln die Männchen das ‚Vorrecht‘ zu singen? Mögliche Gründe sind Revierverteidigung und Werbung.
Wir gestatten uns also, anthropomorph über ‚Tiersprachen‘ zu schreiben. Berühmte Gelehrte, die diese untersucht haben, waren (außer Jane Goodall) die beiden Nobelpreisträger Konrad Lorenz (z.B. 1984) und Karl von Frisch (z.B. 1950). Karl von Frisch unterrichtete eine Zeit lang an meiner Universität in Graz, und ich kenne einen emeritierten Kollegen, der ihn noch bei der Untersuchung der Bienensprache beobachtet hat: Wie er herausgefunden hat, dass die Bienen ihren Genossinnen mit Hilfe einer Tanzsprache (Rundtanz, Schwänzeltanz) mitteilen, wo bestimmte Nahrungsquellen (etwa Honigblumen) sind. Die Erforschung der Tiersprachen beruht auf einer klaren Mitweltideologie. Übrigens kommunizieren auch Bäume miteinander, und zwar entweder über ihre Wurzeln oder über bestimmte Duftstoffe, mit denen sie andere Bäume vor Gefahren warnen können. Aber wir verlassen jetzt Tiere und Bäume und wenden uns der Geschichte des ökologischen Denkens zu. Schon bevor die Ökolinguistik ins Spiel kam, gab es Ansätze zu einem Denken, das man heute Mitweltdenken (oder ökologisches Denken) nennt. Als Vorfahren der Ökologen könnte man etwa Franz v. Assisi und Albert Schweitzer nennen. Besonders wichtig sind aber die folgenden: – Alexander v. Humboldt (sein Geburtstag jährte sich am 14.09.2019 zum 250. Mal), der die Pflanzen und Tiere in Südamerika untersuchte und sie als seine Brüder und Schwestern sah. – Rachel Carson, die 1962 ihr Buch Silent Spring publizierte, in dem sie sich dagegen wandte, die Ernte größer zu machen, indem Insekten getötet werden. Sie nannte die ‚Insektizide‘ sogar ‚Biozide‘ (alles Leben Tötende) und befürchtete, wie ihr Buchtitel sagt, dass damit auch alle Vögel aussterben würden und der Frühling somit stumm würde. Das Buch führte zum Verbot von DDT in den U.S.A. und inspirierte eine Umweltbewegung, die zur Gründung der U.S. Environmental Protection Agency führte. Weitere wichtige Daten: – 1970 war das erste europäische Naturschutzjahr, 1995 das zweite. In diesen Jahren haben sich viele Menschen in Europa zum ersten Mal für Naturschutz interessiert. – Im April 1970 feierte Amerika seinen ersten „Erdentag“ (Earth Day). Das hatte mit der ersten Landung von Menschen auf dem Mond zu tun, die im Jahr 1969 stattfand. Einer der Astronauten, William Anders, fotografierte die Erde vom
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Mond aus. Die Bilder zeigten die Erde als „verletzlichen Körper“ (as a violable body), der von dünner Atmosphäre umgeben ist und einsam und allein durch das Universum fliegt. Diese Bilder waren ein früher Anstoß, die Erde als etwas Besonderes zu sehen, das geschützt werden muss. 1968 wurde der Club of Rome gegründet, der 1972 das Buch The Limits of Growth herausbrachte (Autoren: Dennis and Donella Meadows); hier geht es zwar um den Schutz von Ökosystemen, aber hauptsächlich in Bezug auf wirtschaftliche Aspekte. Das Zentrum des Club of Rome ist jetzt in Winterthur (Schweiz), es gibt aber auch eine Deutsche Gesellschaft Club of Rome, die sich als ein Think & Do Tank versteht. 2004 gründete sie gemeinsam mit Schulen aus dem ganzen Bundesgebiet das Netzwerk der Club of Rome Schulen. In all diesen Initiativen und Publikationen – so wichtig sie auch waren – wurde die Rolle der Sprache noch nicht thematisiert. Dies geschah erst mit dem Beginn der Ökolinguistik, also 1972 mit der Publikation des Buches The Ecology of Language von Einar Haugen und dann mit dem schon zu Beginn erwähnten Vortrag von Michael Halliday (1990/2001). 1987 erschien das erste Buch auf Deutsch – Alwin Fills Wörter zu Pflugscharen. Versuch einer Ökologie der Sprache.
Seit damals wird die Rolle der Sprache beim sogenannten Umweltschutz thematisiert. Das Wort „Umwelt“ (englisch environment) ist wichtig, wenn wir vom „Umweltschutz“ sprechen, also von der Erhaltung der Tiere und Pflanzen. Und dennoch – wie schon gesagt – haftet diesem Wort etwas an, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, um den herum die Umwelt ist, die der Mensch für alles Mögliche verwenden kann. Darum argumentiere ich in diesem Aufsatz für die Ersetzung dieses Wortes durch Mitwelt und für die Einführung von Mitweltschutz.
3 Benützung der „Umwelt“ durch die Jagd Gegenwärtig wird aber noch fast nur von der Umwelt gesprochen, die wir schützen müssen: Für ‚Umweltschutz‘ gibt es in Google über 20.600.000 Einträge, für ‚Mitweltschutz‘ nur 18.400. Wir sollen die Umwelt nicht nur ‚schützen‘, wir dürfen sie auch benützen, etwa als Nahrung, aber auch zu unserer eigenen Belustigung, etwa bei der Jagd. Ich habe mich seit einiger Zeit für Jagdlieder interessiert, von denen es im Deutschen über 100 gibt (z.B. Ein Jäger aus Kurpfalz, Gamslan schiassn is mei gresste Freid, Auf zum fröhlichen Jagen). In all diesen Liedern wird die Jagd als große Freude (besonders für Männer) dargestellt. So wird etwa in der
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Steirischen Landeshymne und im Erzherzog-Johann-Jodler (ca. 1830) das Jagen von Gemsen als besonders freudvoll und sogar „heimattreu“ besungen. Es gibt eine eigene Jagdsprache, in der die gejagten Tiere und ihre Körperteile wie Sachen benannt werden. In dem Buch Die Weidmannssprache von Hans-Dieter Willkomm (1990) wird für jede Wildart (insgesamt etwa 40) die Benennung der Tiere und ihrer Körperteile gezeigt und besprochen. Hier ein paar Beispiele zum Rotwild (Willkomm 1990: 87–98): – Lichter für Augen, – Lauscher für Ohren, – Windfang für Nase, – Äser für Maul (vgl. Maul und Mund), – Grandeln für Zähne, – Läufe für Beine usw. Insgesamt gibt es hunderte von Spezialwörtern, die Tiere sprachlich vom Menschen trennen, die aber das Jagen weniger grausam erscheinen lassen, weil ja nur „Dinge“ gejagt werden. Die getöteten Tiere sind bekanntlich die Strecke, weil die Tiere nach der Jagd ausgestreckt am Boden liegen. Ein angeschossenes Tier, das blutet, wird als angeschweißt bezeichnet, denn Schweiß ist harmloser als Blut. Die Jäger selbst behaupten allerdings, dass sie dem Tier Ehre erweisen, indem sie eigene Namen für seine Körperteile verwenden. Die Jagdsprache kann als Fachsprache bezeichnet werden, denn ‚Jungjäger‘ müssen diese Sprache lernen, um in den Kreis der Weidmänner aufgenommen zu werden. „Darüber hinaus [schafft] die traditionelle Weidmannssprache ein gewisses Gefühl der Verbundenheit“ (Willkomm 1990: 15). In der österreichischen Zeitung Die Presse las ich einen Artikel von Karin Schuh (2017: 20) mit dem Titel: Was Jäger für die Wirtschaft leisten! In dem Artikel wird behauptet, dass die Jagd in Österreich etwa 5900 Arbeitsplätze schafft und dass ihre Wirtschaftsleistung 732 Million Euro pro Jahr beträgt. Dafür müssen jedes Jahr allerdings 726.000 Tiere sterben. Von manchen Wildarten (etwa Rehen) sind es etwa 30 % des Bestandes pro Jahr. Die wirtschaftliche Wirkung unseres Gebrauchs der Jagdtiere ist für viele das Wichtigste! Nicht nur Jäger singen, auch die Mitwelt singt. Es gibt Tierschutzlieder, wenn auch im Deutschen nur wenige, die eher an Kinder gerichtet sind. Auf Englisch haben aber Pete Seeger, Paul McCartney (einer der Beatles), Prince und andere bekannte Sänger und Sängerinnen Tierschutzlieder gesungen. Zum Beispiel gibt
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es von Pete Seeger ein Lied über The World’s Last Whale (2008)1. Zwei Strophen davon lauten wie folgt: It was the musical singing and the passionate wail that came from the heart of the world’s last whale. In London town they’ll be telling the tale if it’s life or death for the world’s last whale.
Melanie Safka, eine Teilnehmerin am Woodstock Festival vor 50 Jahren, sang ein Lied mit dem Titel I don’t eat animals. Es beginnt mit einer Hervorhebung des Vegetarismus: I’m thinking about the way it’s supposed to be. I’ll eat the plants and the fruit from the trees And I’ll live on vegetables and I’ll grow on seeds But I don’t eat animals and they don’t eat me…
Hier macht sich schon eine „Mitweltideologie“ bemerkbar, die an sich als Thema der Pop-Musik etwas ungewöhnlich erscheint.2
4 Ökolinguistik als Initiative für den Frieden Zu Beginn habe ich Michael Halliday zitiert, der sich gegen das Wachstumsdenken gewandt hat (von ihm growthism genannt; 2001: 194). Ihm ist aufgefallen, dass wir, wenn wir ein bestimmtes Maß nennen wollen, immer das „Großwort“ (oder „Wachstumswort“) verwenden: Wie hoch ist der Berg? (nicht: „wie niedrig?“) Wie groß ist dein Zimmer (nie: „wie klein?“), wie schnell ist das Auto (nie: „wie langsam?“). Groß, größer wird mit gut und besser gleichgesetzt. Das Wort schrumpfen (englisch shrink) hat äußerst negative Konnotationen. Die Gleich-
|| 1 Ursprünglich komponiert in den 1970er Jahren, erstmals aufgenommen auf dem Studioalbum At 89 (2008). Online anzuhören unter: https://www.youtube.com/watch?v=-Ofig_4IlIg&ab_ channel=littleweed (letzter Zugriff 27.01.2021). 2 Weitere animal protection songs, siehe: List of Songs about animal rights: Wikipedia unter https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_songs_about_animal_rights (letzter Zugriff 04.03.2021).
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setzung von groß mit gut mag zu einer Zeit entstanden sein, als die Erde noch nicht so besiedelt war wie heute und als es noch wichtig für die Menschheit war, sich weiter auszudehnen. Aber, wie schon gesagt, die menschliche Evolution muss sich jetzt drehen und ‚klein‘ als ‚gut‘ sehen, sonst verbrauchen wir Menschen zu viel von dieser Erde. Halliday schreibt sogar, dass wir statt grow das Wort shrink als positiven Ausdruck verwenden sollten: „should we not exploit the power of words by making shrink the positive term and labelling ‚growth‘ very simply as negative shrinkage?“ [H. i. O.] (Halliday 2001: 193). Vielleicht wäre es allerdings am besten, weder wachsen noch schrumpfen, sondern gleich bleiben und besser verteilen als Ziel anzustreben. Das Buch Small is Beautiful von Ernst Friedrich Schumacher wurde schon erwähnt. Schumacher (1985: 29) schreibt: „Wachstum auf ein endliches Ziel hin ist möglich, doch nicht ein unbegrenztes, allgemeines Wachstum. Es ist mehr als wahrscheinlich, wie Gandhi sagte, dass ‚die Erde genug bietet, um das Bedürfnis jedes Menschen zu befriedigen, nicht aber seine Habsucht.‘“; dennoch müssen wir jährlich Berichte über den Earth Overshoot Day lesen: „Die Welt verbraucht im Jahr 2020 die Ressourcen von mehr als 1,5 Erden. […] Wir leben als ob wir drei Planeten zur Verfügung hätten – und heizen damit auch die Klimakrise weitere an“ (Lindorfer 2020). „Small is beautiful“ ist auch ein Slogan, der zum Frieden führen könnte. Denn gerade das Immer-größer-werden-wollen von Völkern und Ländern hat zu Kriegen geführt. Semper augustus war der Wahlspruch des Römisch-deutschen Kaisers, der als „allzeit Mehrer des Reiches“ (lat. augere = vermehren) verstanden wurde, obwohl semper augustus ursprünglich nicht so gemeint war, sondern ‚immer erhaben‘ bedeuten sollte. Das Vergrößern-Wollen des eigenen Landes hat viele Kriege verursacht, u.a. den Zweiten Weltkrieg (man denke an „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt“). Es wurde schon gesagt, dass die Evolution des Menschen sich ändern muss und nicht zu mehr und Größerem führen darf, sondern zur Erhaltung des Jetzigen – zu besserer Qualität statt zu mehr Quantität, und zur Verbesserung der Verteilung von Ressourcen. So sehe ich auch eine der Aufgaben der Ökolinguistik darin, vom Wachstumsdenken wegzuführen und stattdessen ein Verteilungsdenken als wünschenswert zu zeigen. Eine weitere Weltsicht, die zum Großteil auf die Sprache zurückgeht, ist das Denken in Gegensätzen. Wir haben in unseren Sprachen eine ‚riesige‘ Menge von Gegensatzwörtern (groß : klein, gut : böse, Freund : Feind), die uns suggerieren, dass die Welt aus Gegensätzen besteht. Alles ist entweder ‚gut‘ oder ‚böse‘/,schlecht‘, und die anderen Menschen sind ‚Freunde‘ oder ‚Feinde‘. Auch das ist eine der Aufgaben der Ökolinguistik, dieses Gegensatzdenken bewusst zu machen und uns davon abzubringen. In der Realität des Lebens gibt es nämlich
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nicht nur Gegensätze, sondern eher Übergänge und Stufen: Statt groß und klein kann man in der Sprache (und auch in der Realität) mindestens vier Stufen finden: Riesig, mittelgroß, klein und winzig. Noch wichtiger ist, dass man nicht in den Wortgegensätzen ‚Freund‘ und ‚Feind‘ denkt, sondern zumindest drei Stufen anerkennt, also etwa Gleichdenkender, Ähnlich-denkender und Andersdenkender. Unser ‚entweder – oder‘ soll vom chinesischen ‚sowohl – als auch‘, oder ‚nicht nur – sondern auch‘ abgelöst werden, wodurch statt des Denkens in Gegensätzen ein Zustimmungsdenken entstehen wird. Eine im Umweltdenken und -schreiben häufige Strategie ist der Euphemismus, also die Beschönigung einer unangenehmen Tatsache durch die Sprache. Euphemismen findet man vor allem in der Politik, sowie in Texten zu Krieg und Frieden: Kollateralschaden (für die Tötung von Zivilpersonen), Friedenshüter (Soldaten) und Nachrüstung (für jede Art von Aufrüstung) sind bekannte Beispiele dafür. Euphemismen sind aber auch besonders häufig in Bezug auf unsere ‚Verwendung‘ anderer Lebewesen, besonders der Tiere, was im nächsten Kapitel anhand von Beispielen besprochen wird.
5 Beschönigung unserer Verwendung der Tiere Wilhelm Trampe hat in landwirtschaftlichen Zeitschriften einige dieser Euphemismen gesammelt. Hier sind ein paar davon: – ‚Fleisch-Produktions-Fabrik‘ – für Schlachthaus, – ‚Fleischproduzenten‘ für Bauern, die Tiere schlachten, – ‚Bodenverbesserung‘ für Düngung, – ‚unproduktives Land‘ für Land, das nicht für Getreideanbau oder Viehzucht verwendet wird (vgl. Trampe 2001: 236–237). Letzteres Beispiel ist allerdings kein Euphemismus, sondern nur ein Ausdruck, der den (angeblich nicht vorhandenen) Nutzen des Landes ins Zentrum stellt. Die verharmlosenden Namen sind besonders im Bereich des Pelzhandels geläufig, womit die Käuferinnen von der Grausamkeit der ‚Pelzproduktion‘ (Euphemismus!) abgelenkt werden, um ihre Freude am Pelzmantel nicht zu trüben (Welzig 1994). Die Sprache lässt die Tiere verschwinden – und die Pelze heißen z.B. (siehe Fill 2014: 185): – Sobaki (russisch Hund) = Fell von Hunden – Grönländer, Blaumann = Fell junger Robben – Feh = Fell des sibirischen Eichhörnchens – Lipiskin = Fell von Bengalkatzen
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Euphemismen gibt es auch bei den sogenannten ‚Tierversuchen‘. Hier wird verschwiegen, dass ein großer Teil der Tiere bei den Versuchen stirbt. Da gibt es etwa den LD-50-Test. Das Wort klingt harmlos, LD steht aber für letale Dosis, d.h. dass 50 % der Tiere bei dem Test sterben – was den Fachsprache-Verwendenden bekannt ist, aber für andere vom Wort „LD-50“ verschleiert wird. Verschleiernd ist auch der fachsprachliche Ausdruck LC (Abkürzung des englischen lethal concentration), der sich auf eine für Tiere tödliche Konzentration von bei Tierversuchen verwendeten Stoffen bezieht. In einer Innsbrucker Dissertation wurden Berichte über Tierversuche genauer analysiert, und es wurde herausgefunden, dass Tierversuche, besonders in Amerika, so dargestellt werden, als ob die Tiere freiwillig mitmachten: Unter anderem wird davon gesprochen, dass Primaten „kooperieren“ bzw. „mit den Forschern arbeiten“ (Roider 2018: 189). Die Tiere werden nicht als Opfer der Versuche gezeigt, sondern als Teil des Teams, das diese Versuche durchführt. Ein Denken, das den Tod der Tiere auf diese Weise beschönigt, kann kaum als ‚Mitweltdenken‘ bewertet werden. Beschönigung gibt es auch mit Hilfe von Bildern. Eine Reklame der Agrarmarkt Austria für Rindfleisch hatte folgenden Text: „Österreichs bestes Rezept. Man nehme: einen Hauch klarer Alpenluft, ein Stück saftiger Wiesen, und serviere mit viel Liebe!“ (Neue Kronenzeitung 26.10.1997: 2). Das begleitende Bild zeigte zwar eine schöne alpine Landschaft, aber absolut keine Tiere. Dass ein Tier geschlachtet werden muss, um das Rindfleisch mit Liebe servieren zu können, wird sowohl textlich als auch bildlich verschwiegen (vgl. dazu Stibbe 2012). Im Juli 2018 war ich in Brasilien, wo in Fortaleza (an der Ostküste) eine Ökolinguistik-Tagung stattfand. Trotz dieses Themas kam nicht zur Sprache, dass in Brasilien ständig Wald gerodet wird, um weitere Flächen der Rinderzucht zu widmen. Man lese das Buch Die grüne Lüge von Kathrin Hartmann, in dem Hartmann auch über die Fleischproduktion in Brasilien schreibt (Hartmann 2018; wurde auch verfilmt). So wird eine große Rinderfarm Spa Bovino genannt, um den Eindruck zu erwecken, dass die Rinder in einem Wellness-Resort leben. Das Rindfleisch wird ‚nachhaltig‘ genannt, und ein Rinderzüchter sagt: „die Rinder sterben glücklich und in Würde, weil sie sich freuen, dass du sie genießt. Ich esse sie jeden Tag, am liebsten roh, das freut sie am meisten“ (zit. n. Hartmann 2018: 159). Im Juli 2019 wurden in Brasilien 2.250 Quadratkilometer Regenwald gerodet – die fünffache Fläche von Wien. Die Ursache dafür ist die Lust auf billiges Fleisch (in Deutschland werden 60 Kilo Fleisch pro Jahr und Person gegessen, in Österreich sogar 64 kg). Nicht nur die CO2-Bilanz von Rindfleisch ist schlecht, sondern auch das Methan, das die Tiere bei der Verdauung ausstoßen. Nach Zeitungsberichten (2019) entstehen 15 bis 20 % aller klimaschädlichen Emissionen durch die Produktion von Fleisch. Das ist mehr, als alle Flugzeuge und Autos zusammen er-
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zeugen. Was sollen wir tun? Dazu wurde der englische Koch Jamie Oliver zitiert (Kleine Zeitung Graz 03.09.2019), der sagt, dass die Großeltern nur einmal in der Woche (am Sonntag) Fleisch aßen. Oliver beschönigt hier allerdings, denn gerade die ältere Generation ist mit erheblichem Fleischkonsum aufgewachsen.
6 Die Ökologie der Sprachen Die euphemistische Darstellung unseres ‚Gebrauchs‘ der Tiere könnte in noch größerem Umfang erörtert werden, soll aber hiermit abgeschlossen sein. Die Ökolinguistik behandelt noch weitere Themen, etwa die Ökologie der Sprachen. Der erste Linguist, der „Language and Ecology“ in den Mittelpunkt gestellt hat, war der aus Norwegen stammende Amerikaner Einar Haugen. Interessanterweise ist Haugen (1972) trotz dieses Titels nicht auf Themen wie Sprache und Umwelt (oder Mitwelt), Sprache und Tiere etc. eingegangen, sondern nur auf die Wechselwirkungen zwischen den Sprachen in einem Land und im Gehirn eines mehrsprachigen Menschen. Es ging ihm dabei um große und kleine Sprachen (nach der Sprecherinnenzahl), aber auch um ‚Sprachgefährdung‘ und das Aussterben von Sprachen. Haugen hat also das Schicksal der Sprachen mit dem der Lebewesen verglichen. In Europa gibt es Dutzende von Minderheitensprachen (auch LWULs = less widely used languages genannt), von denen die meisten gefährdet sind, etwa das Katalanische, Asturische, Korsische, Bretonische und Baskische. Einige, besonders keltische Sprachen sind auch schon ausgestorben, etwa das Manx (auf der Insel Man gesprochen, siehe unten) und das Cornish (in Cornwall). In Europa gibt es etwa 38 gefährdete und 26 „ernsthaft gefährdete“ Sprachen (Salminen 1999). Auch bei diesem Thema, das nichts mit Tieren und Pflanzen zu tun hat, kann man Umwelt von Mitwelt unterscheiden. Man könnte etwa sagen, dass die Staatssprache eines Landes (Spanisch in Spanien) eine Umwelt von kleineren Minderheitssprachen hat, wie z.B. das Katalanische, das Asturische, das Baskische und das Aragonesische. Wenn man diese Sprachen als die Umwelt der Staatssprache sieht (wie es etwa die Franco-Diktatur tat), dann wird man sich kaum anstrengen, sie zu retten. Wenn man sie aber als die Mitwelt der Staatssprache sieht (d.h. gleichberechtigt), dann wird man versuchen, die Sprachenvielfalt zu erhalten. Also auch bei der Ökologie der Sprachen gibt es ein Umwelt- und ein Mitweltdenken. Einige Linguisten haben auf Grund ihres Mitweltdenkens Initiativen gegen das Aussterben dieser Sprachen gesetzt, z.B. wurden Radio- und Fernsehsendungen in den kleinen Sprachen sowie Unterricht dieser Sprachen in den Schulen vorgeschlagen (vgl. Grin 2016 und Fill 2018).
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Bekannt ist die Geschichte des letzten Sprechers des Manx (der keltischen Sprache auf der Insel Man zwischen Wales und Irland). Dieser Sprecher, er hieß Ned Maddrell, war Fischer von Beruf, und starb erst im Jahre 1974 (96 Jahre alt), zu einer Zeit, als die Linguistik sich schon für Sprachminderheiten interessierte. Um 1960 erschien der erste Zeitungsartikel über ihn, und 1964 wurde die erste Tonbandaufnahme mit ihm gemacht. Immer wieder wurde er von Linguistinnen und Linguisten besucht, die ihn über seine Muttersprache befragten. So ist das Manx recht gut erhalten, auch wenn es niemand mehr als Muttersprache spricht. Seine Wiederbelebung wird versucht, indem Manx als Freifach an Schulen unterrichtet wird (vgl. Broderick 2015: 33–34; Romaine 2018: 41). Auch in der Politik kann Umweltdenken von Mitweltdenken unterschieden werden. Ein Politiker, der überhaupt kein Mitweltdenken hat, ist der amerikanische Ex-Präsident Donald Trump. Sein Leitsatz ist „America first“: Amerika ist im Zentrum, und alle anderen Länder sind dazu da, ihm zu nützen und es noch größer zu machen. Ganz krass zeigte sich das im August 2019, als er Grönland, das zu Dänemark gehört, durch Kauf den U.S.A. einverleiben wollte (siehe etwa Wall Street Journal 16.08.2019). Hier sieht man sehr typisch das semper augustus-Denken. Trump will allzeit Mehrer des Reiches sein, aber natürlich auch die Bodenschätze von Grönland (Öl) gewinnen. Er erhoffte sich auch mehr Wählerstimmen, wenn es ihm gelungen wäre, das Reich zu mehren. Leider ist die Politik meist auf den Nutzen einer bestimmten Gruppe oder Partei ausgerichtet und daher keineswegs mitweltorientiert. Man könnte die Mitweltideologie als eine christliche Idee bezeichnen, weil sie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“3 propagiert. Auf der anderen Seite könnte man natürlich argumentieren, dass gerade im Christentum (im Alten Testament!) der Mensch im Mittelpunkt steht und um ihn herum die Umwelt ist. Dazu gibt es verschiedene Meinungen, die man diskutieren könnte. In der Genesis (1: 28) heißt es: „Seid fruchtbar und mehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ Diese Aufforderung mag vor Tausenden von Jahren wichtig und gültig gewesen sein, muss aber heute überdacht werden.
|| 3 Jesus: „Fahrt fort, eure Feinde zu lieben und für die zu beten, die euch verfolgen, damit ihr euch als Söhne eures Vaters erweist, der in den Himmeln ist“ (Mt. 5: 43–45).
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7 Zusammenfassung Wie gezeigt, kritisiert die Ökolinguistik einige Punkte unseres Denkens, die besonders in der Sprache verankert sind. Auch junge Menschen sollten eine sogenannte ‚Ecoliteracy‘ besitzen (vgl. Orr 1992 und Capra 1995) – also eine Bewusstheit des Zusammenhangs zwischen Sprache und einem Denken, das ökologisch sein sollte. Zur ecoliteracy gehört etwa das Wissen über folgenden Tatsachen: 1. Sprache schafft eine Diskontinuität zwischen Menschen und Natur, indem sie viele Wörter für die Menschen reserviert (denken, handeln, annehmen, bewirken), wodurch die Natur passiv erscheint. Dazu gehört auch das Bewusstmachen der „Distanzierung“, d.h. dass wir bei Tieren und Pflanzen andere Wörter verwenden als bei Menschen (z.B. essen : fressen, schwanger : trächtig etc.). 2. Das Wachstumsdenken, das aus der Verwendung des ‚Großwortes‘ als neutrale Beurteilung entsteht (wie groß, wie schnell, wie hoch…). Daraus entsteht die intuitive Meinung, dass ‚groß‘ gut und ‚klein‘ schlecht ist. Wir finden das besonders in der Werbung, die meist mit viel – MEHR, schnell – SCHNELLER operiert: ein Denken, das nicht dem Frieden dient! 3. Das Gegensatzdenken, das aus den vielen Gegensatzwörtern in unserer Sprache entsteht (gut : böse, Freund : Feind). Statt der Gegensatzwörter sollten wir Abstufungen verwenden, wie etwa Gleichdenkender, Ähnlichdenkender und Andersdenkender. Ein Bewusstmachen der Punkte (2) und (3) ist besonders für die Erhaltung des Friedens wichtig. 4. Schaffung eines Bewusstseins dafür, dass unsere Sprache die sogenannten „Ressourcen“ (Wasser, Energie, Öl, Holz etc.) als unbegrenzt darstellt. 5. Zur ecoliteracy gehört auch das ‚Mitweltdenken‘, das an die Stelle des Umweltdenkens treten sollte. Letzteres führt dazu, dass wir uns im Mittelpunkt sehen, von dem aus wir alles andere benützen dürfen. Wir haben das beim Thema Jagd gesehen, aber auch bei den Euphemismen für unseren Gebrauch der Tiere (z.B. Pelznamen). Auch durch die Benennung der Tiere nach ihrem Nutzen für uns (Reittiere, Schlachttiere, Tragtiere, Versuchstiere etc.) schafft die Sprache ein Umweltdenken. Ein Mitweltdenken würde auch zu weniger Fleischverzehr führen und damit (indirekt) klimaschonend wirken. 6. Erhaltung der Sprachenvielfalt und damit Verhinderung des Aussterbens von Minderheitssprachen. Auch hier könnte man, wie in Kap. 6 gezeigt, von Mitweltdenken sprechen. Insgesamt soll uns die Ökolinguistik bewusst machen, dass die Evolution heute in eine andere Richtung als früher gehen sollte – also nicht mehr alles größer,
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zahlreicher und stärker zu machen, sondern die Quantität auf gleicher Ebene zu halten, aber die Qualität zu erhöhen. Zugleich sollte auch die Verteilung dessen, was Menschen brauchen, verbessert werden. Mein Traum ist, dass uns die Ökolinguistik in ein Goldenes Zeitalter führt, wie Ovid es in seinen Metamorphosen beschreibt (Verse 79–81): Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo Sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. Poena metusque aberant, […] sed erant sine vindice tuti.
In diesem goldenen Zeitalter mussten Städte nicht mit Mauern und Gräben geschützt werden, auch keine Schwerter und Soldaten waren notwendig. Es wurden auch keine Bäume gefällt, um zu Schiffen verarbeitet zu werden (Ovid Metamorphosen: Verse 94–95.). Die Natur musste nicht gezwungen werden, uns Nahrung zu liefern, denn (Ovid Metamorphosen: Vers 102) „per se dabat omnia tellus“ („aus eigenem Antrieb gab uns die Erde alles, was wir brauchen.“) In Zeiten des Klimawandels ist es eher unwahrscheinlich, dass uns ein solch Goldenes Zeitalter bevorsteht. Doch vielleicht könnte die Ökolinguistik mit ihrem Mitweltdenken dazu beitragen, irgendwann ein solches Zeitalter herbeizuführen. Und vielleicht könnte die Corona-Krise viele Menschen zum Umdenken bewegen.
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Jöran Landschoff
Sprachkritik als Moralkritik Konsequenzen einer systemtheoretischen Sprachauffassung für Nachhaltigkeitskommunikation Zusammenfassung: Nachhaltigkeitsdebatten in der Öffentlichkeit zielen auf eine bessere Zukunft ab. Dabei werden vordergründig Politiker, Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes in die Pflicht genommen. Ich möchte hier darstellen, wie sich eine Sprachkritik, die sich für eine nachhaltige Zukunft einsetzen möchte, an diesen Diskursen beteiligen könnte. Dazu wird die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns herangezogen, der die Gesellschaft als die Summe aller Kommunikationen als ausdifferenziertes Sinnsystem definiert. Die Teile der Gesellschaft folgen dabei ihren eigenen Rationalitäten, und folgt man Luhmanns Argumentation, so stehen Individuum, Sprache und das gesellschaftliche Teilsystem Wirtschaft in einem hochkomplexen Verhältnis, das Beeinflussung und Veränderung durch Sprache schwierig erscheinen lässt. Dennoch bestehen, wie ich zeigen will, sprachkritische Chancen im Bereich der Werbung und der öffentlichen Kommunikation, die auf Moralisierung verzichten sollte. Schlüsselwörter: Systemtheorie, Kommunikation, Niklas Luhmann, Moralisierung, Werbung, Gesellschaft, Sprachkritik
1 Einleitung Das überraschende Auftreten eines neuartigen Ökologiebewusstseins hat wenig Zeit gelassen für theoretische Überlegungen. Zunächst denkt man deshalb das neue Thema im Rahmen der alten Theorie. Wenn die Gesellschaft sich durch ihre Entwicklungen auf die Umwelt selbst gefährde, dann solle sie das eben lassen; man müsse die daran Schuldigen ausfindig machen und davon abhalten, notfalls sie bekämpfen und bestrafen. Das moralische Recht dazu sei auf der Seite derer, die sich gegen die Selbstdestruktion der Gesellschaft einsetzen. Unversehens geht so eine Theoriediskussion in moralische Frageformen über, und das Theoriedefizit wird mit moralischem Eifer kompensiert. Die Absicht der Demonstration guter Absichten bestimmt die Formulierung der Probleme. So diskutiert man aufs
|| Jöran Landschoff, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Karlstraße 2, 69117 Heidelberg, Deutschland, j.landschoff[at]gs.uni-heidelberg.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-013
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Geratewohl über eine neue Umweltethik, ohne die Systemstrukturen zu analysieren, um die es geht. (Luhmann 1986: 19)
Dass der Terminus ‚Nachhaltigkeit‘ Eingang in breite öffentliche Diskurse gefunden hat, ist offensichtlich. Klima- und Umweltschutzbewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion haben sich einen prominenten Platz in politischen und medialen Debatten erobert. Die Frage nach der zukunftsfähigen Gesellschaft hat sich mit Umweltfragen verknüpft wie wohl seit dem Waldsterben der 1980er Jahre nicht mehr. Während Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich von einigen beobachtet werden (Stehr 2007), sind die meisten Statistiken über umweltschonendes Wirtschaften und Leben ernüchternd.1 Wie kann sich die Sprachkritik in diesen Diskursen einbringen, wenn Wissensbestände in großer Zahl versprachlicht (Teubert 2013: 70) und über Kommunikation veränderlich sind (Fangerau 2009: 219), also persönliche Einstellungen und Haltungen grundsätzlich kontingent und nicht statisch sind? Es soll hier um Sprachkritik der moralischen und politischen Form gehen, die auf die Dimension der Angemessenheit abzielt (Heringer/Wimmer 2015: 44–47). Ich möchte von einer kritischen Linguistik sprechen, da ich von der Unmöglichkeit objektiver Wissenschaft ausgehe. Es wird hier einem grundsätzlich konstruktivistischen Ansatz gefolgt, der davon ausgeht, dass auch jede wissenschaftliche Betrachtung der Phänomene der Welt unausweichlich perspektiviert ist. Fragen nach der ‚richtigen‘ Sprache und Ausdrucksweise sind daher nur mit Hilfe von Reflexion und Versuchen der Objektivierung der eigenen Praxis möglich. Daher ist auch mein Verständnis von Kritik dahingehend, dass stets beachtet werden muss, was sie (nicht) leistet (Nonhoff 2019, dort besonders 24–25). Kritik im Sinne der Nachhaltigkeit kommt nicht ohne eine vorher feststehende Position aus, denn sie nimmt teil am Diskurs über Welt- und Gesellschaftsentwürfe, also an deontischen Argumentationen. Ziel ist es, zwei Möglichkeiten einer solchen linguistischen Kritik zu entwickeln: die Kritik an moralischer Kommunikation seitens der Nachhaltigkeitsbewegung und die Kritik an Täuschungen von Unternehmen. Problematisiert wird dabei ausgehend von Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie der sozialen Systeme die Frage nach dem Zusammenhang von Bewusstsein, Kommuni-
|| 1 Siehe dazu den IPCC-Bericht aus dem Jahr 2014, insbesondere Kapitel 5, (IPCC (2014a), https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2018/02/ipcc_wg3_ar5_full.pdf, letzter Zugriff 06.04. 2020) sowie den technischen Bericht (IPCC (2014b), https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/ 2018/02/ipcc_wg3_ar5_technical-summary.pdf, letzter Zugriff 06.04.2020) oder die Statistiken des Umweltbundesamts, das zwischen 2009 und 2017 keine Reduzierung der Emissionen verzeichnen konnte (Umweltbundesamt undatiert, https://www.umweltbundesamt.de/indikatoremission-von-treibhausgasen#wie-ist-die-entwicklung-zu-bewerten, letzter Zugriff 06.04.2020).
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kation und Gesellschaft. Dazu ist zunächst ein Exkurs über zentrale Konzepte und Begriffe Luhmanns Theorie unerlässlich, bevor das sich daraus ergebende Kommunikationskonzept dargestellt wird. Anschließend werden die Konsequenzen eines systemtheoretischen Sprachverständnisses für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beleuchtet, bevor daraus anhand zweier Gegenstände – Werbung und Moralkommunikation – Überlegungen für eine kritische Linguistik in Bezug auf Nachhaltigkeitsdiskurse angestellt werden. Letzteres ist zwar das Ziel dieses Beitrags, das allerdings in seiner theoretischen Grundlage erarbeitet werden soll. Sprachkritik als solche steht daher erst am Ende der Argumentation, welche die kommunikations-, sprach- und gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen fokussiert.
2 Systeme und soziale Systeme Bevor auf Luhmanns Kommunikationsbegriff eingegangen wird, muss der damit zusammenhängende Systembegriff dargelegt werden. Luhmann steht in der Tradition der allgemeinen Systemtheorie, die sich ab den 1920er Jahren aus verschiedenen Disziplinen, vor allem aber aus der Biologie, entwickelte. Sie entstand in der Auseinandersetzung mit dem Problem der analytischen Methode, das sich aus dem Ansatz ergibt, den wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand in Einzelteile aufzuteilen, diese Einzelteile zu untersuchen und somit auf Funktionsweisen des Ganzen zu schließen. Von Bertalanffy nennt als Erfolgsbedingungen für diese Methode, die zweifelsfrei großen Erfolg bei vielen Fragen gebracht hat, zweierlei: Erstens müssen die Interaktionen der Teile, die in der Analyse als solche behandelt werden, vernachlässigbar sein, da sonst Abläufe zwischen den Elementen keine Berücksichtigung in der Untersuchung finden können. Zweitens müssen die Elemente in einer linearen Beziehung zueinander stehen. Ist eine der beiden Bedingungen nicht erfüllt, bringt die analytische Methode keine befriedigenden Ergebnisse (von Bertalanffy 1968: 19). So verhalten sich beispielsweise medikamentöse Wirkstoffe in Laborversuchen häufig genug anders als in einem menschlichen Körper, also einem organischen System. Daher reichen Labortests für die Zulassung von Medikamenten nicht aus, sondern diese müssen in den Organismen selbst klinisch getestet werden. Systemtheorien verschreiben sich daher der Untersuchung der Teile in ihrer Interaktion,2 wobei stets der Blick
|| 2 Interaktion wird hier ausdrücklich allgemein gefasst und nicht im Sinne kommunikativen Handelns zwischen Individuen.
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auf das Ganze gerichtet bleibt, das als System definiert wird. Systeme weisen eine Struktur auf, organisieren sich selbst nach ihrer eigenen Logik in Teilsystemen und entziehen sich einer direkten, kausalen Steuerung von außen (Blauberg/Sadovskij/Judin 1977: 37–40). Luhmann wendet diese Prinzipien auf soziologische Fragestellungen an3 und entwickelt ein umfangreiches Theoriegebäude, dessen Grundsätze hier skizziert werden sollen. Es wird sich somit maßgeblich am Systembegriff orientiert, wie er in Luhmann (1984) entwickelt wird. Das grundlegendste Strukturierungselement in Luhmanns Denken ist die Differenz von System und Umwelt (nicht zu verwechseln mit dem ökologischen Umweltbegriff!). Dabei definiert sich jedes System in Abgrenzung zu allem, das nicht zu ihm gehört und nennt dies Umwelt. Diese ist ausdrücklich kein System, da sich ihre Einheit erst relativ zum System bildet, weshalb jedes System auch eine ihm eigene Umwelt besitzt.4 Eine Umwelt im Luhmann’schen Sinne hat daher keine Möglichkeiten zu handeln, weil sie kein System ist. Zwischen jedem System und seiner Umwelt bestehen aber Rückkopplungen – Ereignisse im System können Ereignisse in der Umwelt erwirken und umgekehrt. Zu berücksichtigen ist, dass sich in einer beliebigen Umwelt mehrere operationsfähige Systeme befinden können. Gehen wir vom Bewusstsein als psychisches System aus (im nächsten Abschnitt wird dies vertieft), so ist alles außerhalb dieses Systems seine Umwelt. Das Verdauungssystem liegt in dieser Umwelt und funktioniert operativ unabhängig vom Bewusstsein. Dennoch können Bewusstsein und Verdauung aufeinander Wirkung haben, ohne dass das Bewusstsein verdauen oder der Magen denken könnte. Ebenso wirken die Temperatur und die Luftzusammensetzung als Teile der Umwelt auf die Systeme ein. Daher sind Wechselwirkungen zwischen Systemen untereinander unbedingt von solchen zwischen dem System und seiner Umwelt zu unterscheiden (Luhmann 1984: 37). Denken wir an die ökologische Umwelt und unsere Gesellschaft, ist die Antwort auf die Frage nach der Richtung der Abhängigkeit geradezu unmöglich zu lösen. Sie bedingen sich gegenseitig in ihrer Definition und wirken reziprok aufeinander ein. Im Verhältnis von Umwelt und System gibt es in keine Richtung eine verabsolutierbare Abhängigkeit (Luhmann 1984: 36). Das heißt, dass stets beide zusammenwirken und es schwer ist, dem einen vor dem anderen Vorrang zu geben. Soziale Systeme machen dies deutlich, da hier psychische Systeme (Individuen) mit dem System der
|| 3 Luhmann ist keinesfalls der erste, der diese Unternehmung macht. Vielmehr baut er maßgeblich auf Talcott Parsons strukturfunktionaler Systemtheorie von Gesellschaften (nachzulesen bei Parsons 1976) auf, die hier aber nicht weiter betrachtet werden soll. 4 An dieser Stelle wird die Differenz zur ökologischen Umwelt deutlich, da diese für gewöhnlich als eigenes System gedacht wird, dass sich von allem Menschengemachten abgrenzt.
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Kommunikation zusammenwirken (Luhmann 1984: 40; mehr dazu in Abschnitt 3 und 4). Diese Einsicht ist elementar für die spätere Argumentation, die darstellen will, wie komplex Überzeugungsvorgänge durch Kommunikation sind (siehe Abschnitte 4 und 7). Systeme unterscheiden sich von ihrer Umwelt durch ihre niedrigere Komplexität.5 Das heißt nichts anderes, als dass sie aus den Möglichkeiten der Relationierungen ihrer Elemente selegieren. Je stärker die Selektivität eines Systems ist, desto kleiner ist seine Komplexität – eine Maschine, die nur die Temperatur regelt, ist weniger komplex als eine, die auch Luftfeuchtigkeit und Luftdruck reguliert. Die Selektionen bleiben aber kontingent und ergeben keine vollständige Ordnung und Starre, sondern bieten Freiheitsgrade der Relationen, sie können sich grundsätzlich verändern (Willke 2016: 440). Jedes System nimmt also Unterscheidungen in Bezug auf seine Umwelt vor, ja es ist genau die daraus resultierende Differenz (Thye 2013: 6). Dazu selegiert es seine Elemente, wobei es sie gleichzeitig als elementar konstituiert. So ergibt sich die Einheit einer Kommunikation nicht aus ihrer elementaren Natur, sondern aus ihrer Selektion und Behandlung als Einheit durch soziale Systeme (siehe dazu ausführlicher den nächsten Abschnitt). Sie ist Einheit nur in und für soziale Systeme, in denen sie als solche wahrgenommen (und das heißt: unterschieden) wird (Luhmann 1984: 44). Um die komplexen Beziehungen zwischen Individuum, Sprache, Wirtschaft und Ökologie systemtheoretisch begreifbar zu machen, muss noch die Frage nach den Grenzen und den Elementen selbst beantwortet werden. Elemente des Systems sind, anders als es intuitiv anmuten mag, nicht in einer Teil-Ganzes-Beziehung angeordnet. Vielmehr wird die System-Umwelt-Differenz innerhalb des Systems radikal fortgeführt. Innerhalb von Systemen sind somit weitere Systeme auffindbar, für die dieselbe System-Umwelt-Definition gilt wie für das übergeordnete System: Alles, was nicht Teil eines bestimmten Systems ist, ist für dieses System Umwelt, weshalb auch alle anderen Subsysteme für ein beliebiges Subsystem Teil ihrer Umwelt sind (Luhmann 1984: 34). Gegenläufig zu Teil-Ganzes-Relationen sind in der Systemtheorie höherrangige Systeme gerade weniger komplex als ihre Subsysteme, da letztere weniger stark selegieren (Luhmann 1984: 43). Grenzen zwischen Systemen markieren ausdrücklich nicht den Ort, an dem Zusammenhänge entfallen. Bei der Überschreitung von Grenzen wird vielmehr ein Bruch in der Verarbeitungs- und Prozesslogik vollzogen. Information, die in ein anderes System gelangt, wird dort anders ver-
|| 5 Komplexität bedeutet in einfachster Form die „Gesamtheit aller möglichen Ereignisse“ (Luhmann 1974: 115).
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arbeitet als im vorherigen (Luhmann 1984: 35–36). Grenzen trennen somit Elemente, bedeuten aber nicht das Ende für Relationen, sondern sie leisten Selektionsoperationen für die Selbstreproduktion (Luhmann 1984: 52–53). Die Trias von Relationen, Elementen und Grenzen muss beständig von jedem System selbst reproduziert werden. Als anschauliches Beispiel kann an die zelluläre Reproduktion gedacht werden, bei der unaufhörlich nichts anderes geschieht als die Wiederherstellung und Inbezugsetzung der eigenen Elemente. Dazu müssen sie in der Zeit agieren. Systeme erhalten sich – und das ist gleichbedeutend mit ‚erneuern sich‘ – durch Operationen. Sie existieren nur in der Reproduktion ihrer Elemente, und weil sie diese Elemente selbst konstituieren, produzieren sie aus Produkten (Luhmann 1984: 79). Diese eigentümliche Selbstständigkeit des Systems ist ausdrücklich so gemeint, denn Luhmanns Systeme sind autopoietisch6, also sich selbst reproduzierend in Bezug auf sich selbst – eine menschliche Zelle kann sich nicht durch die Selbsterneuerung in eine pflanzliche Zelle erneuern (jedenfalls nicht von einer Erneuerung zur nächsten). Weil Operationen Zeit in Anspruch nehmen, sind alle Bestandteile des Systems einer radikalen Zeitlichkeit unterworfen: Zunächst ist der Faktor Zeit überhaupt der Grund für den Selektionszwang. Eine Umwelt ist, wie schon erwähnt, kein System, weshalb in ihr maximale Komplexität, also Verknüpfung herrscht, für die die Umwelt keine Zeit aufbringen muss, weil die Umwelt nicht operiert (dort ‚geschieht‘ einfach alles mit allem verknüpft). Ein System hingegen muss Zeit für seine Operationen aufbringen, weshalb ihm unmöglich ist, alles zu relationieren und alles zu kontrollieren (Luhmann 1984: 46, 70). Zweitens sind sowohl Strukturen als auch Elemente als auch Prozesse des Systems zeitlich instabil. Die Elemente des Systems haben eigentlich keine Dauer, weshalb das System nicht ihnen sein Fortbestehen verdankt, sondern nur sich selbst. Im Fall von sozialen Systemen sind die Elemente des Systems Kommunikationen (siehe nächster Abschnitt), die schnell, ja fast augenblicklich vergangen sind, und trotzdem besteht das System aus ihnen (Luhmann 1984: 78). Wenn dem aber so ist, muss das System konstant seine eigenen Elemente reproduzieren. Wir erinnern uns: Elemente sind nur für das System elementar, sodass nur das System diese Elemente reproduzieren kann. Autopoiesis ist somit die Reproduktion der Typik der Elemente, die das System selbst als Elemente definiert (Luhmann 1984: 61) und es muss seine Elemente, Relationen und Grenzen beständig neu selegieren in der Art und Weise, dass dieselbe Typik erhalten bleibt. Dadurch ist auch der Strukturbegriff in die Zeitlichkeit überführt und die || 6 Dieser Begriff ist wieder einmal Biologen zu verdanken, namentlich Maturana/Varela (1987).
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dynamische Veränderung von Strukturen erklärlich. Die Differenz von Strukturen und Prozessen ist neu zu definieren: Erstere bilden Erwartbarkeiten für Selektionen, die wiederholt werden können und weitere Selektionen vorbereiten. Letztere sind als Sequenzierungen von Ereignissen, also von Selektionen zu verstehen, die aber reflexiv vonstattengehen (Luhmann 1984: 74). Ein forstwirtschaftlicher Betrieb fällt Bäume und entwickelt so erwartbare Entscheidungen – nämlich das Fällen bestimmter Bäume – als Struktur heraus. Das Fällen der Bäume selbst, der Prozess also bezieht sich auf die Struktur, kann diese aber reflektieren und so mit der Zeit die Struktur im Ergebnis modifizieren, beispielsweise, indem andere Bäume gefällt werden oder weniger Bäume pro Jahr, um nachhaltiger zu wirtschaften. Das System ist durch seine selbstreferentielle Natur keineswegs unveränderlich, es bleibt nur eben immer dieses selbe System und nicht ein anderes. Die Grenzen eines Systems werden durch die ständige Reproduktion der Elemente mit reproduziert. Sie sind deshalb aber nicht statisch, sondern dynamisch stabil7 (Luhmann 1984: 79). Entscheidend und weitreichend für das Verständnis solcher Systeme ist, dass alles, was vom System aufgenommen wird, durch seine Eigenlogik verarbeitet wird. Da die system(re)produzierenden Ereignisse Operationen genannt werden, heißt Luhmann Systeme „operativ geschlossen“, was nicht gleichbedeutend ist mit einer Unabhängigkeit von der Umwelt, einer losgelösten Kausalität oder „Kontaktlosigkeit“ (Luhmann 2018: 68). Ganz im Gegenteil ist die Umwelt notwendige Bedingung, denn für die Autopoiesis sind Informationen aus der Umwelt unerlässlich, um Anschlussfähigkeit zu gewährleisten (Luhmann 1984: 80). Für Überlegungen über Sprachkritik und Nachhaltigkeit gibt der Luhmann’sche Ansatz Folgendes zu bedenken: (1) Umwelten unterscheiden sich je nach System, und so ist auch bei Fragen nach Umweltschutz im ökologischen Sinne immer zu bedenken, welche Umwelt überhaupt gemeint ist, also mit welchen Umweltaspekten das jeweilige System überhaupt Kontakt hat. (2) Systeme sind selektiv und stehen in Wechselbeziehung sowohl zu anderen Systemen als auch zur Umwelt. Daher sind beispielsweise unökologisch arbeitende Firmen als gesellschaftliche Systeme nicht isoliert zu betrachten. (3) Systeme stehen unter dem Zwang, sich selbst zu erneuern, weshalb die grundlegende Veränderung von Systemoperationen höchst schwierig ist. (4) Systeme sind operativ geschlossen, weshalb Individuen, wenn sie als System betrachtet werden, nur auf ganz bestimmte Weise auf das System Gesellschaft einwirken können. Diese Weise ist Kommunikation.
|| 7 Systemgrenzen können jeden Augenblick anders sein. Wie alles am System sind sie augenblicklich kontingent. Aber es gibt in jedem Augenblick eine klar definierte Grenze.
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3 Systemtheoretischer Kommunikationsbegriff nach Luhmann Der Begriff der Kommunikation ist für Luhmanns Theorie sozialer Systeme zentral, weil er unter ihm die Operationen subsumiert, aus denen alle sozialen Systeme bestehen. Die Elemente sozialer Systeme sind also keineswegs Individuen, sondern Operationen, die als Kommunikation stattfinden (Luhmann 1975: 9). In diesem Sinne ist jeder Kontakt zwischen Individuen als eigenes soziales System verstanden und die Gesellschaft als ein System der „Gesamtheit [...] aller möglichen Kontakte“ (Luhmann 1984: 33). Gern wird voreilig der Vorwurf gemacht, das Individuum würde in Luhmanns Sozialtheorie verloren gehen (Abels 2019: 208). Dabei sind Personen, wie sie in Luhmanns Terminologie heißen, notwendig für das Zustandekommen von Systemen. Sie werden als psychische Systeme begriffen, die von sozialen beobachtet werden können, und daher für jeden Beobachter (Selbstbeobachtung eingeschlossen) personale Systeme sind (Luhmann 1984: 40 bzw. 155). Eine Vielzahl von solchen Systemen kann aber gar kein soziales System sein, denn kein Bewusstsein kann auf anderes Bewusstsein als Bewusstsein einwirken, geschweige denn chemische Prozesse im Körper eines anderen Menschen beeinflussen.8 Daher sind die Elemente von sozialen Systemen keine Menschen, sondern Kommunikation selbst (Luhmann 1984: 68). Das Soziale entsteht erst in der Kommunikation und wird augenblicklich System. Dies ist gleichbedeutend damit, dass erstens nur soziale Systeme Kommunikation verwenden, und dass zweitens alle Kommunikation soziale Systeme entstehen lässt (Luhmann 1984: 60–61). Obige Überlegungen zur Autopoiesis bedeuten angewandt auf soziale Systeme, dass Kommunikation zum Erhalt ihrer selbst Kommunikation produzieren und Strukturen bilden muss. Kommunikation ist nicht durch Subjekte steuerbar, sondern nur durch neue kommunikative Operationen, weshalb sie als ein operativ geschlossenes System anzusehen ist (Luhmann 1995: 118). Das Problem, auf das sie dabei stößt, ist nicht die Wiederholung desselben, sondern die Anschlussfähigkeit einer Struktur, die darüber entscheidet, ob sie reproduziert wird oder nicht (Luhmann 1984: 62). Kein Gespräch ist durch dieselbe Abfolge von Äußerungen charakterisiert. Dennoch lassen sich bestimmte
|| 8 „Wir wissen überhaupt nicht, wie wir es begreifen sollen, daß Bewußtsein Kommunikation bewirkt. […] Sieht man das einmal ein, erreicht man die Frage, ob, und gegebenenfalls wie, Bewußtsein an Kommunikation beteiligt ist. Dies kann wiederum nicht ernsthaft bestritten werden, da Kommunikation ohne Bewußtsein zum Erliegen käme“ (Luhmann 1995: 37).
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Arten von Gesprächen in ihrer Struktur vergleichen (ein Arbeitstreffen unterscheidet sich strukturell von einem Smalltalk am Bahnsteig). Ihre Anschlussfähigkeit erhalten Kommunikationsoperationen einerseits durch die Produktion von Sinn, andererseits durch Koordination von Erwartungen. Sinn ist „eine aktualitätsfähige Repräsentation von Weltkomplexität im jeweiligen Moment“ (Luhmann 1986: 44). Alle sozialen Systeme sind ebenso wie personale Systeme Sinnsysteme. Aus diesem Grund können die beiden interagieren: Sie werden durch Sinn strukturell gekoppelt (Thye 2013: 10). Ein Arbeitstreffen wird erst dadurch zu einem Arbeitstreffen, dass die beteiligten psychischen Systeme den Sinn erkennen und die Strukturen kommunikativ reproduzieren und erinnern. Die Kommunikationen finden aber nicht innerhalb der psychischen Systeme statt, sondern dazwischen, und diese Gesamtheit ist ein soziales System. Beide Arten von Systemen operieren ausschließlich mit diesem Universalmedium Sinn, das grundsätzlich auf seine Umweltphänomene Zugriff haben kann, aber eben nur als Sinn. Ebenso wenig kann Sinn Sinn negieren, weil er in seiner Operation mit Sinn denselben voraussetzt (Luhmann 1984: 95–97). Er ist keineswegs ein Zeichen, er verweist nicht auf etwas anderes, sondern er schafft den Weltbezug als Kontext für jedes Zeichen (Luhmann 1984: 107), indem er selbst ein Verweisungszusammenhang ist, der aktuell aufgerufen werden kann, ohne andere Möglichkeiten dadurch auszuschließen (Luhmann 2018: 50). Dieser schwierige Gedanke ist nachzuvollziehen, wenn wir an die Arbitrarität und Konventionalität des Zeichens denken und eine pure Verweisfunktion auf mentale Repräsentation (Assoziativprinzip) jenseits von Sinn imaginieren. Ein solches Zeichen erfüllt alle notwendigen und hinreichenden Bedingungen, um diesen Namen zu verdienen, es wäre dennoch unbrauchbar für die Kommunikation. Zeichen verweisen daher nicht nur auf Dinge und deren mentale Repräsentation, sondern auch auf den mit ihnen verbundenen Sinn. Zeichen bauen eine semiotische Realität auf und emanzipieren sich daher von der rein materiellen Realität (Luhmann 2018: 218). Zwei weitere Beispiele sollen diesen zentralen Begriff noch deutlicher machen. Wenn Luhmann Sinn als „Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen, […] die als solche nicht vorgegeben sind“ (Luhmann 1984: 101) definiert, heißt das nichts anderes, als dass ohne Sinnsysteme auch kein Sinn besteht, also jeder Sinn nur für diese Systeme vorhanden ist. Alle Studien zu linguistischer Relativität sind Zeugnis der Kontingenz von Selektivität von Sinn. Eleanor Roschs (1978) berühmte Analyse der Kategorisierung legt nahe, dass Kategorien unabhängig davon, wie universell oder kulturell bedingt menschliche Kategorisierungsleistungen sind, nicht einfach in der Welt vorliegen. Sie hängen maßgeblich von der Beschaffenheit der psychischen Systeme ab, in anschaulichster Weise von deren
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Wahrnehmungsfähigkeit. So ist der Flügel eines Vogels als Einheit nur zu erkennen, wenn kognitiv eine Gestalt dafür gebildet werden kann. Sinn prozessiert diese Unterscheidungen, und differenzieren kann nur ein System (Luhmann 1986: 45). Sinn verknüpft auf diese Weise Ereignisse miteinander. Er leitet den Selektionsprozess an, der aktuell Möglichkeiten auswählt und andere für den Geltungsbereich dieses Systems ausschließt, ohne sie zu vernichten. In Kommunikation nehmen nun psychische Systeme diese Reduzierung der Komplexität (denn Selektion ist genau dies) gemeinsam vor, indem sie die zugrundeliegenden Erwartungen koordinieren. Erwartungen können grundsätzlich voraussetzungsfrei gehandhabt werden (Luhmann 1984: 363). Sie sind Produkte psychischer Systeme, die sich in der Erfahrung bewähren. Real liegt also in jedem Erleben eine laufende Reorganisation von Erwartungen vor, in der soziale Systeme sich unter anderem auch auf z.B. das Funktionieren außermenschlicher Sinnobjekte (Überschwemmungen, Messgeräte, Niederschläge etc.) verlassen. Dabei werden weniger verwendete Erwartungen nicht mehr aktualisiert. Die Funktion dieser Generalisierungen von Erwartbarkeiten ist die Überbrückung von Diskontinuität, also die Übertragbarkeit bei veränderter Situation (Luhmann 1984: 140). Dass psychische Systeme, die diese Erwartungen für sich bilden können, nicht direkt miteinander interagieren können, wurde oben dargestellt. Daher benötigen sie soziale Systeme, also Kommunikation, um individuelle Erwartungsstrukturen zu sozialen Erwartungen zu generalisieren. Einander verstehen bedeutet in dieser Theorie der Kommunikation nicht länger eine „bloße Reduplikation der Mitteilung in einem anderen Bewußtsein“ (Luhmann 1995: 116), sondern stellt einen Selektionsprozess dar, der qua Kommunikation zu koordinieren versucht wird. Ohne solche Schematisierungsprozesse würden Unsicherheiten über Gemeintes jede Kommunikation langwierig und ineffektiv machen (Luhmann 1984: 126). Für die Sprache bedeutet dies, dass Erwartungen sich zu Verweisen auf Sinnzusammenhänge durch generalisierte (Zeichen-)Symbole verdichten. Erwartungen und generalisierte Symbole stehen in einem ko-evolutionären und sich aktualisierenden Zusammenhang (Luhmann 1984: 139). Aus man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick/Beavin/Jackson 1974: 51) wird in Luhmanns Theorie: Die Kommunikation kann nichts als kommunizieren und das Bewusstsein kann ein Kommunikationssystem bloß irritieren, und zwar über Formen von Sinn (siehe Abschnitt 4), die dann vom Kommunikationssystem prozessiert werden, um von anderen psychischen Systemen beobachtet zu werden. Psychische Systeme können sich zwar mit einigen Aspekten des Kommunikationssystems identifizieren, indem sie bestimmte Worte und Narrative gegenüber anderen präferie-
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ren. Worte sind aber keine Ausdrücke bewusstseinseigener Gedankengänge. Sie können niemals mit dem Bewusstsein identisch sein (Luhmann 1995: 122–123). Wir können unsere Definition aus dem ersten Abschnitt nun verfeinern: Soziale Systeme sind das Ergebnis von Selektionsprozessen von psychischen Systemen, bei denen ein Ausschnitt der Welt aufgrund von wiederkehrenden Ereignissen relevant gesetzt, mit Sinn gefüllt wird und über diesen Sinn Eingang in die Kommunikation erhält. Sie sind also die augenblickliche Konstruktion einer kontingenten Welt, die eine von vielen möglichen Welten darstellt. Der Mensch muss selegieren, da ihn die Komplexität der Möglichkeiten ansonsten überfordern würde. Kommunikation erlaubt nun die weitere Einschränkung von Erwartungen, die weitere Handlungen anschlussfähig, also einige wahrscheinlicher als andere machen. Kommunikationsoperationen stellen diese geteilten Erwartungen her und bilden damit ein soziales System, das sich autopoietisch reproduziert. Daraus folgt, dass Erwartungsstruktur identisch ist mit der Struktur (nicht mit den Elementen!) des sozialen Systems (Luhmann 1984: 398), also soziale Systeme von generalisierten Verhaltenserwartungen strukturiert sind (Luhmann 1984: 139). Wichtig ist, dass sich die sozialen generalisierten Erwartungen von den individuellen dahingehend unterscheiden, dass letztere das Wissen über Erwartungen mehrerer Systeme verfügen können, erstere aber Strukturelement spezifischer sozialer Systeme sind. So entstehende, sich reproduzierende Erwartungsstrukturen können sich stark ausdifferenzieren, also sich voneinander abgrenzen und mit immer spezifischerer Komplexität operieren, sodass sich innerhalb des großen Sozialsystems Gesellschaft Teilsysteme wie das Wirtschaftssystem (siehe Abschnitt 5) etablieren, die ihre eigenen generalisierten Symbolwelten aufweisen. Wie aber läuft Kommunikation ab, wenn nicht die Individuen kommunizieren, sondern die Kommunikation selbst? Zunächst wird Kommunikation in die drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen aufgeteilt (Luhmann 1995: 115). Ein Bewusstsein wählt dabei eine Information und die dafür genutzte Mitteilung aus, während ein anderes diese Unterscheidung von Information und Mitteilung erkennen muss. Geschieht letzteres nicht, liegt eine bloße Wahrnehmung, keine Kommunikation vor (Luhmann 1995: 118). Kommunikation nimmt ein Verhalten (Sprechen, Gestikulieren) als Form eines Mediums des Bewusstseins wahr (Luhmann 1995: 43), und erst in der Unterscheidung der beiden durch ein anderes Bewusstsein emergiert Kommunikation als soziales System (Thye 2013: 25). Die Definition der drei Selektionen hilft beim Verstehen dieser zunächst seltsamen Auffassung. Information ist immer nur Information für ein System. Ohne System keine Unterscheidung, und ohne Unterscheidung keine Information
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(Luhmann 1984: 104). Psychische Systeme sind sehr wohl fähig, Informationen ihrer Umwelt zu entnehmen, also Unterscheidungen durchzuführen (dies wurde oben mit dem Begriff Sinn umschrieben). Solche Informationen gewinnt das System über bloße Wahrnehmung, die als sensomotorische Interaktion mit der Welt (Fuchs 2018: 222) beschrieben werden kann. Von ihr unterscheidet sich nun Kommunikation derart, dass ein Bewusstsein nicht bloß Information wahrnimmt, sondern diese von der Mitteilung, die sie transportiert, unterscheidet (Luhmann 1995: 195). Es macht einen bedeutenden Unterschied, ob mein Bewusstsein Buchstaben als sich farblich absetzende Markierungen auf Papier als Information erkennt, oder ob ihm die Unterscheidung dieser Information und einer Mitteilung gelingt. Kommunikation bedeutet nicht die Übertragung von Informationen, sondern die Anregung einer Unterscheidung durch einen Beobachter (Luhmann 2018: 194). Der Vorteil liegt auf der Hand: Gelingt es, bereits vorgenommene Unterscheidungen wahrzunehmen, können sehr viel schneller Informationen gewonnen werden (Luhmann 2018: 192). Doch dazu werden Medien benötigt, allen voran: Sprache.
4 Sprache, Gesellschaft und Medien Sprache ist für Luhmann ausdrücklich kein System,9 sondern ein Medium, das Mitteilung, Information und Verstehen zusammenbringt und unterscheidet (Luhmann 2019: 234). Seinen Medienbegriff entlehnt Luhmann einerseits in Bezug auf generalisierte Kommunikationsmedien Parsons (1976: 291ff.), andererseits die Unterscheidung von Medium und Form betreffend Fritz Heider (2005). Medien fungieren als das Bindeglied zwischen Kommunikationsereignissen, denn ohne rekursiven Bezug wäre Kommunikation nicht möglich (Luhmann 2018: 190). Kommunikationssysteme unterscheiden zwischen Medium und Form, wobei jedes Medium nur in seiner Form aktuell als bestimmte Kopplung von Medienelementen wahrnehmbar ist. Licht als Medium der Wahrnehmung kann nicht selbst gesehen werden, sondern nur die spezifische Kopplung bestimmter
|| 9 Dies bedeutet keineswegs, dass Sprache im strukturalistischen Sinne nicht als System untersucht werden kann, da die beiden Systembegriffe sehr verschieden sind. Ferner wäre es eine interessante Aufgabe zu versuchen, Luhmanns nicht weiter ausgeführte Begründung, Sprache könne nicht selbst operieren und sei daher kein System (Luhmann 2018: 112) einmal durchzuspielen und zu prüfen. An dieser Stelle möchte ich dies zunächst allerdings so übernehmen und akzeptieren. Bei Bülow (2017: 84ff.) ist bereits eine Diskussion über diese Thematik zu finden.
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Frequenzen durch Prozessieren des Wahrnehmungssystems, und so sehen wir ein Farbenspiel, aber kein Licht (Luhmann 2018: 197). Ebenso ist Sprache nur in Formen sichtbar. Wir können die Sprache nicht sehen, wir können nur ihre Formen sehen, zum Beispiel Wörter, Sätze oder einfach Zeichen. Letztere sind Einheiten von Unterscheidungen. Ein Zeichen ist daher die Einheit der Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, aber keinesfalls eine Repräsentation, sondern eine systeminterne Unterscheidung, „die nicht voraussetzt, daß es das in der Außenwelt gibt, was bezeichnet wird“ (Luhmann 2018: 208–209). Zeichen sind Generalisierungen von Sinn, also Generalisierungen von Unterscheidungen von Information und Mitteilung: Wer jemanden winken sieht, muss das Winken als Mitteilung verstehen, nicht als Information (Luhmann 2018: 210). Es gilt also, eine sichtbare Form als das Medium Sprache zu erkennen. Aus der autopoietischen Natur psychischer Systeme erwächst die Konsequenz, dass sie zu bloßen Beobachtern werden – es existiert somit keine voraussetzungsfreie Beobachtung der Außenwelt (Pörksen 2018: 78). Sprache entsteht also aus Verfestigungen von Sinnverknüpfungen in sozialen und psychischen Systemen, was eine Co-Evolution von Individuum und Gesellschaft zur Folge hat (Luhmann 2018: 211). Das ist offensichtlich, weil psychische Systeme für Kommunikation unabdingbar sind und Gesellschaft die Gesamtheit der Kommunikationen darstellt. Die Kontingenz von Sprachzeichen, also ihre grundsätzlich anders mögliche Kopplung an Sinn, bleibt durch die autopoietischen Prinzipien immer erhalten (Luhmann 2018: 211). Das in der Linguistik viel zitierte grundlegende Verhältnis von Sprache und Gesellschaft (Wengeler/Ziem 2015: 493; Felder/Gardt 2015; Felder 2013) ist auch in der hier vorgestellten Theorie unzweifelhaft – die Frage nach der genauen Art, wie und unter welchen Bedingungen Sprache zu gesellschaftlichen Veränderungen (wo auch immer diese dann verortet sein würden) oder gar individuellen Bewusstseinsveränderungen führen kann oder umgekehrt Bewusstseinsveränderungen die sprachlichen Ausdrucksformen prägen, bleibt unklar. Nicht umsonst fragen Diskursanalytiker nach der Macht in der Gesellschaft, die entweder qua Änderung der Sprache auf Wissen oder qua Wissensveränderung auf Sprache zugreifen kann. Sie versuchen sie aber fast immer an Individuen zu binden (Maeße/ Nonhoff 2014). Dabei wird gern argumentiert, dass jedes Sprechen oder Sprachhandeln Bedeutungen durch Verknüpfung von mentalen Repräsentationen konstruiere und so durch Wiederholungen Veränderungen herbeigeführt werden (Jergus 2019: 77). Auch wenn dies nicht in Abrede gestellt werden kann: Sprechen ist nicht dasselbe wie Kommunikation, und die individuelle Verknüpfung von Elementen zu Bedeutung ist nicht identisch mit einer sozialen Verknüpfung, egal
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wie oft sie wiederholt wird. Dies wird, wie wir später sehen werden, zu einem beträchtlichen Problem einer Sprachkritik, die an den Ausdrucksformen ansetzt. Jede handlungstheoretische Gesellschaftstheorie geht von der Gesellschaft als einer Pluralität von Personen aus. Es ist dadurch aber mitnichten deutlich, was die Gesellschaft überhaupt sei. Es muss konsequenterweise von Individuen ausgehend und aus diesen die Gesellschaft entwickelt werden. Auf diese Weise führt aber kein Weg hin zu einem kollektiven Wissen, weil es kein kollektives Bewusstsein gibt. Ein Kommunikationssystem vermag hingegen als kollektives Gedächtnis (Assmann 1988) zu fungieren, aber nicht als transzendentes Bewusstsein, sondern als erwartbare Erwartbarkeiten, als generalisierte Symbolik. Paradoxerweise rettet Luhmann bei näherer Betrachtung viel stärker das Individuum als zunächst vermutet, denn das systemtheoretische kollektive Gedächtnis ist nun in jeder Kommunikationssituation (also in jedem sozialen System) ein spezifisches, das sich aus den Überschneidungen der beteiligten psychischen Systeme ergibt. Es bildet sich in der Kommunikation und ist auch oft genug Gegenstand der Kommunikation, nämlich, wenn Missverstehen zu reduzieren versucht wird oder Informationen vermittelt werden. Performative Kritik wie die Judith Butlers sieht ähnlich wie Luhmann die Offenheit des Begriffs als Voraussetzung für eine radikal offene und veränderliche Zukunft (Jergus 2019: 78). Der Schluss für die kritische Praxis, das beständige Reprozessieren und Wiederholen, verkennt dennoch das eigentliche Problem, das in der Unwahrscheinlichkeit der Wiederholung selbst liegt. Es wird zwar erkannt, dass konventionalisierte Zeichen, also auch konventionalisierte Bedeutung, und individuelle Bedeutungsherstellung gemeinsam entstehen. Die Folge, dass die beiden Zeichen zu unterscheiden sind, wird allerdings nicht konsequent zu Ende gedacht. Die Wiederholung neuer Sinnverknüpfungen (nichts anderes ist eine Bedeutungsveränderung) ist für jedes psychische System unproblematisch. Die Einführung desselben im sozialen System durch ein psychisches System ist dagegen sehr schwer. Die eigentliche Schwierigkeit, an der Aktivisten verzweifeln, nämlich dass ihre Sinnverknüpfungen und nicht nur ihre Zeichenverwendung breite Wiederholungen finden sollen, wird entproblematisiert und als Kausalität aus der individuellen Wiederholung vorausgesetzt oder als fehlende Macht beklagt. Selbst wenn die individuelle Wiederholung von Ausdrücken, Sätzen oder Morphemen für eine bestimmte Gruppe sozial anerkannt wird, ist dies nicht notwendig gleichbedeutend mit einer Veränderung des Sinns. Systemtheoretisch gedacht ist von Veränderungen auf der Ebene des Bezeichnenden schon deshalb wenig zu erwarten, weil es das gesamte Zeichen ist, das es zu ändern gälte, und so wäre nur gesichert, dass sich das Wort ändert, nicht aber das Zeichen (Heringer/Wimmer 2015: 184). Eine Sprachkritik, die sich Veränderung gesellschaft-
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licher Art zum Ziel setzte, müsste daher daran interessiert sein, Zugriff auf „historische und relativ stabile Sinneinheiten, die […] Anschlussmöglichkeiten offerieren und somit permanent die Systemstrukturen aktualisieren“ (Bülow 2017: 90), zu erhalten. Nun mag man einwenden, dass genau dies selbstverständlich das Ziel kritischer Analysen sei. Tatsächlich ist aber eine Fokussierung der Signifiant-Seite z.B. in der Sprachkritik des Feminismus und der Politischen Korrektheit zu beobachten (Piirainen 2018: 173–174; Klann-Delius 2005: 185). Schon Luhmann fiel die leichte Verwechslung von Signifiant und Zeichen auf (Luhmann 2018: 208, Fußnote 31). Dass die Linguistik ihrem Gegenstand, dem Wort, eine wichtige Position zugesteht, ist verständlich. Zu einfach aber wird ihm eine seltsame Macht zugesprochen (vgl. Tereick 2019: 384–385), die das komplexe Funktionieren von Gesellschaft und Individuum zu umgehen scheint. Luhmanns Theorie sozialer Systeme stellt uns zwar vor die pessimistischere Einsicht, dass die Wirkmacht der Ausdrucksseite doch kleiner ist als gern angenommen. Sie leistet dafür aber zweierlei: Fehlschläge bei der Etablierung von Sprachkultur (die insgeheim immer auf soziales Verhalten insgesamt abzielt) können erklärt werden, weil der lineare Kausalzusammenhang von Sprechen und kollektivem Gedächtnis in den komplexen Zusammenhang von Bewusstsein in Kommunikation überführt wird. Zweitens ermöglicht sie durch die konsequente Berücksichtigung jedes Individuums als an Kommunikation beteiligtem psychischen System den Anschluss an Wirkungsmodelle der Psychologie. Sprachgebrauch wirkt situationsspezifisch auf jedes Individuum unterschiedlich, und ebenso sind Framing-Effekte (Schemer 2013: 165) und Persuasions-Effekte (Wirth/Kühne 2013: 323–324) nicht so leicht generalisierbar, auch wenn dies immer wieder angenommen wird und daraus allgemeine kausale Mechanismen für „die Gesellschaft“ abgeleitet werden (Oswald 2019: 28; Wehling 2016; Niehr 2019: 5). Auch bieten sich Chancen, Kritik am Sprechen eines Individuums von diesem abzugrenzen, etwa bei diskriminierendem Sprechen. Systemtheoretisch überrascht nicht, dass sich ein Individuum durch eine unbedachte Frage wie ‚Wo kommen Sie her?‘ angegriffen fühlt, denn es selegiert diesen Sinn ja selbst.10 Es ist daher auch falsch, im Fall der Verwendung des N-Wortes von einer Unabhängigkeit der Diskriminierung vom Verwendungskontext zu sprechen (Tereick 2019: 389), denn zur Konstruktion der Beleidigung als Sinnzusammen-
|| 10 Das ist nicht gleichbedeutend mit einer Schuldzuweisung im Sinne einer Selbst-Viktimisierung. Es verdeutlicht nur die Problematik der Zuschreibung von Verantwortung. Die Sinnkonstruktion einer Beleidigung durch ein psychisches System geschieht aufgrund von Anschlussfähigkeiten, die in den Strukturen des sozialen Systems Gesellschaft vorliegen, und sind daher sowohl analysierbar als auch nachvollziehbar als auch legitim.
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hang benötigt das psychische System genau den historischen Kontext, in den die Sprechhandlung fällt, und diesen gibt das soziale System. Ich habe mich hier absichtlich auf wohlbekannte, nicht-ökologische Beispiele bezogen, um nun Überlegungen anzustellen, wie eine linguistische Kritik sich für Nachhaltigkeit einsetzen könnte. Sie müsste zunächst definieren, was sie darunter versteht, um anschließend Sinnkonstruktionen in einer Sprachanalyse aufzuzeigen, die sie dahingehend kritisieren könnte. Im Folgenden sei ein Versuch über die Kritik an Täuschungen in Kommunikation von Unternehmen und über die Kritik moralischer Kommunikation von Umweltaktivisten gewagt.
5 Wirtschaft und Wirtschaftssystem Unternehmen sind in Luhmanns Terminologie Organisationen des Wirtschaftssystems. Letzteres ist eines der Funktionssysteme der Gesellschaft, und das bedeutet, dass es ein soziales System, also ein Kommunikationssystem ist. Die Gesellschaft als Gesamtsystem ist in solche Teilsysteme aufgeteilt, die meist eine einzige Funktion erfüllen und daher hochkomplex sind11 (Luhmann 1986: 74). Ausdifferenzierung gelingt durch die Etablierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, die für jedes Teilsystem spezifisch sind (Luhmann 1981: 29). Die Wirtschaft ist zu verstehen als die Gesamtheit aller wirtschaftlichen Kommunikationsoperationen, und diese sind Zahlungen, die das Medium Geld verwenden (Luhmann 2019: 16). Als soziales System im Sinne Luhmanns ist das System Wirtschaft selbstverständlich autopoietisch und operativ geschlossen, weshalb wirtschaftlich nur ist, was in Zahlungen kommuniziert wird, wobei Zahlungen und Preise nur im und für diesen Sinnzusammenhang existieren (Luhmann 2019: 15–17). Ferner muss sich Zahlung selbst reproduzieren, also weitere Zahlungen anschlussfähig machen, was dadurch gelingt, dass Zahlungen immer Zahlungsfähigkeit und -unfähigkeit erzeugen (Luhmann 2019: 131). Wirtschaftliche Kommunikation gelingt nur, weil und solange die Erwartungen an die Weiterführung der Zahlungen immer wieder erzeugt werden. Wer nicht davon ausgeht, mit dem Geld, das er für sein Produkt erhält, etwas anderes erwerben zu können, wird diese Produkte
|| 11 Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch zu obiger Ausführung, dass die Komplexität bei geringerer Selektivität steigt. Das Wirtschaftssystem ist funktional singulär – es beschäftigt sich mit Zahlungen. Weil es aber nur diese eine Funktion erfüllt, kann es in diesem Bereich sehr viel komplexer Selektionen vornehmen als ein einziges System, das sich um Politik, Recht und Wirtschaft gleichzeitig kümmern muss.
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nicht verkaufen (Luhmann 2019: 137). Letztlich sei noch darauf hingewiesen, dass Wirtschaft ebenfalls ein Sinnsystem ist und ausschließlich mit Sinn (in Geld generalisiert) operiert (Luhmann 2019: 232). Kohle aus einem Bergwerk zu gewinnen, ist nur dann wirtschaftlich, wenn der Sinn der Zahlung damit verknüpft wird. Ansonsten handelt es sich um nichts als eine Handlung. Als Sinnsystem kann Wirtschaft im Medium Sinn auf seine Umwelt zugreifen, und seine Umwelt ist konstitutiv für das System, weshalb die ökologische Umwelt Teil der Umwelt des Wirtschaftssystems, aber nicht Teil von ihm ist (Luhmann 1984: 97 und Luhmann 2019: 14). Soweit laufen die Beschreibungen von wirtschaftlichem und sozialem System allgemein analog. Um Unternehmen zu begreifen, muss aber die Rationalität des Wirtschaftssystems verstanden werden. Sie entsteht durch die Ausrichtung an einem binären Code (Haben/Nicht-Haben und Zahlen/Nicht-Zahlen, Luhmann 1986: 102) und der Einrichtung von Programmen, die darüber entscheiden, wann psychische Systeme sich für das eine oder das andere entscheiden (Luhmann 2019: 249). Der Code ist dabei wertfrei – es kann durchaus sinnvoll sein, nicht zu zahlen, genauso wie es sein kann, dass ein Unternehmen zu viele Zweigstellen besitzt, die nur Kosten verursachen (Luhmann 1986: 82). Für Programmierungen des Systems, also für Kriterienbildung für Operationen, benötigt das System Informationen, und diese sind Preise, die Erwartungseinschränkungen ermöglichen (Luhmann 2019: 18). Umweltbedingungen können im System Wirtschaft nur über Preise wahrgenommen werden (Luhmann 1986: 106). Die Einführung von Geld und Preisen bewirkt wahre Wunder in Hinblick auf die beiden Probleme der Knappheit und der Zeit. Knappheit wird als Paradox wahrgenommen: Eine Ressource (zum Beispiel Öl) ist nicht verfügbar und muss beschafft werden, doch durch die Beschaffung ist weniger von dieser Ressource außerhalb des Systems verfügbar als vorher (und es kann auch nicht jeder mit dem Öl verfahren, da es nur einmal verbrannt werden kann). So ist im System Knappheit verringert, gleichzeitig außerhalb Knappheit als begrenzte Verfügbarkeit erhöht worden (Luhmann 2019: 98). Es ist insgesamt weniger Öl vorhanden, und eine bestimmte Menge wurde anderen möglichen Gebrauchsweisen entzogen. Geld und Preise überwinden dieses Paradox, indem einfach zwischen Mengen- und Allokationsproblemen unterschieden wird und mit Hilfe des Sinnzusammenhangs ‚Wachstum‘ nur noch Allokationsfragen behandelt werden (Luhmann 2019: 99–100). Der Zugriff auf knappe Ressourcen wird erst dadurch hinnehmbar, dass dafür bezahlt werden muss, also dass er in Form von Geld und Preisen in einen Sinnzusammenhang gestellt wird (Luhmann 2019: 253). Die reale Knappheit wird so in eine vermeintlich künstliche Form der Knappheit des Geldes überführt (Luhmann 2019: 197). Zynisch ließe sich sagen, das Wirtschaftssys-
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tem basiert auf der Illusion, dass alles durch die grundsätzlich mögliche Vermehrung von Geld möglich wäre. Preise als Informationen leisten zudem eine beachtliche Zeitersparnis, weil nicht mehr jeder mit jedem interagieren muss, sondern alle gleichzeitig handeln und über Preise die Entscheidungen anderer mitberechnen können (Luhmann 2019: 102–103). Knappheit und Zeit sind als Voraussetzung für die Entwicklung der Geldwirtschaft anzusehen. Eigentum wird erst im Hinblick auf das Problem der Knappheit wirtschaftlich interessant, und erst über den Ausdruck von Besitz in Geld kann er nahezu universal operationalisiert werden (Luhmann 2018: 349). Dies ist notwendig zum Verständnis für das Operieren von Unternehmen als wirtschaftliche Organisationen.
6 Unternehmen und Werbung – Kritik an der Täuschung Organisationen regulieren wiederkehrende Arbeit und schaffen interne Abhängigkeiten, um sich zu einem gewissen Grad vom Gesamtsystem Wirtschaft abhängig zu machen (Luhmann 2018: 827–828). Dies gelingt, weil die Mitglieder einer Organisation sich an bestimmte Regeln binden und damit Verhaltenskontingenz reduzieren (Luhmann 2018: 829). Es gelingt ihnen, über die Kommunikation von Entscheidungen weitere Entscheidungen zu kontextualisieren und vorzubereiten, und in dieser Weise sind auch Organisationen autopoietische Systeme (Luhmann 2018: 833). Unternehmen werden daher nun als eigenständige Entscheidungssysteme behandelt, die sich an wirtschaftssystemischer Rationalität orientieren. Als Gegenstand der Sprachkritik sind Kommunikationsoperationen zwischen Organisation und Individuen interessant, insbesondere Werbung. Diese wird in der Hoffnung auf Profit produziert, der nichts anderes ist als ein Erhalt von Zahlungsfähigkeit, die dadurch entstanden ist, dass selbst Zahlungen getätigt werden. Profit erhält eine Organisation durch die Einrichtung eines selbstreflexiven Prozesses der Zahlungen (Luhmann 2019: 55–56). Werbung ist daher ein wichtiges Instrument für wirtschaftliches Gelingen, und ihre Kommunikation soll den Profitzweck erfüllen. Daher ist auch eine Sprachkritik im Sinne des „Gelingens“ von Werbung möglich (Bendel Larcher 2012: 123–125). Hier soll jedoch überlegt werden, wie Sprachkritik Täuschungen im Sinne nur scheinbar ökologischen Wirtschaftens aufdecken und objektivieren könnte.
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Täuschungen sind wie Irrtümer in Luhmanns Sprachtheorie unvermeidliche Möglichkeiten von Kommunikation und könnten nur durch Beendigung sprachlicher Kommunikation insgesamt verhindert werden (Luhmann 2018: 225–226). Als Täuschung kann der intentionale Missbrauch der Zeichen definiert werden, weshalb Vertrauen für Kommunikation unerlässlich ist (Luhmann 2018: 225). Täuschen ist nur möglich, weil sich wie oben beschrieben Erwartbarkeiten in sozialen Systemen etablieren, die dann bewusst missbraucht werden können. Grundsätzlich ist es unmöglich, Verstehen zu sichern, denn eine solche Versicherung müsste wiederum über Kommunikation erfolgen, die erneut unsicher ist. Daher wird Konsens in Kommunikation grundsätzlich unterstellt, nicht gesichert (Luhmann 2018: 229). Problematisch ist zudem, dass Konsumenten keine Möglichkeit haben, mögliche Zweifel an Aussagen in Werbung in die sprachliche Kommunikation zurückzuführen (Luhmann 2018: 225–226) – sie können mit Unternehmen nur wirtschaftlich, also mit Zahlungen kommunizieren. Eine Sprachkritik von Werbung, die nachhaltiges Wirtschaften im Auge hat, müsste sich nach obigen Überlegungen als kritische Linguistik verstehen, die 1. die zu kritisierenden Zeichen, Sätze oder Texte auf die von ihnen konstruierten Sinnzusammenhänge hin überprüft, 2. Kriterien für nachhaltiges Wirtschaften entwickelt, 3. prüft, ob die Sinnzusammenhänge aus 1) mit den Kriterien aus 2) übereinstimmen, und 4. prüft, ob diese wiederum mit den Zahlungszusammenhängen (dem Wirtschaften) der Firma zu vereinbaren sind. Eine Täuschung läge nur dann vor, wenn (a) plausibilisiert wird, dass in der Kommunikation, die Werbung anstößt, der Sinnzusammenhang ‚Nachhaltigkeit‘ emergiert und (b) gleichzeitig die erkennbaren systemischen Zahlungszusammenhänge nicht als ‚nachhaltig‘ zu codieren sind. Diese Voraussetzungen an den gerechtfertigten Vorwurf einer Täuschung bedeuten hohe Anforderungen an eine berechtigte Kritik an Unternehmen, die aber notwendig sind, soll eine einfache Kausalkette in der Form ‚Wort x verursacht y bei Konsumenten, der dann z kauft, obwohl z nicht x entspricht‘ vermieden werden. Ein Beispiel: Bewirbt ein Supermarkt ein Produkt mit dem Etikett ‚nachhaltig hergestellt‘, ist dies erstens ohne intersubjektive Kriterienbildung für das Konzept ‚nachhaltig‘ kaum überprüfbar. Zweitens müsste sichergestellt werden, dass die Kommunikation aktuell Erfolg verspricht, den unter den Kriterien gefassten Sinnzusammenhang zu kommunizieren. Drittens muss die Werbung als von der Organisation ausgehend bewertet werden, da zum Beispiel die Vertreibung nachhaltig hergestellter Produkte letztlich zu Mehrproduktion nicht-nachhaltiger Produkte führen kann, indem die hö-
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heren Preise ersterer die Kosten für Mehrproduktion letzterer ausgleichen (Jonas 2018: 401–403). Zu einer guten Einschätzung für wahrscheinliches Verstehen von Aussagen in Werbetexten (also 1): Sinnbildungen) müssten weitreichende (auch quantitative) semantische Analysen angestellt werden, wie sie beispielsweise Ziem (2013), Keller (2018) oder Busse (2008) vorschlagen. Bei der Entwicklung von 2) könnten Methoden der Kritischen Diskursanalyse als Orientierung dienen (Langer et al 2019: 8ff.; Bendel Larcher 2012: 125ff.). 4) verlangt ökonomisches Verständnis und investigative Recherchearbeit. Eine solche kritische Linguistik könnte ein hohes Maß an Objektivität erreichen und Täuschungen aufdecken. Ob sie selbst im Erfolgsfall aber ein transformatorisches Potenzial hätte, darf dennoch bezweifelt werden, denn sie würde schnell Gefahr laufen, moralisch zu wirken, und Moral ist kein Bestandteil des wirtschaftlichen Codes, weshalb sprachkritische Auseinandersetzung mit Moralkommunikation förderlich für Nachhaltigkeitsbewegungen sein könnte.
7 Kritik an Moralkommunikation Luhmann sah bereits in den 1980er Jahren eine Verknüpfung von Moral und Angst in der ökologischen Kommunikation, die aber auf kein Funktionssystem der Gesellschaft einwirken könne, weil sie simplifiziere, sich selbst steigere und daher beim Erfolg im Kontrollieren des Ausgriffs der Gesellschaft auf ihre Umwelt interne Gefahren blind in Kauf nehme (Luhmann 1986: 244–246). So vernachlässigen moralische Rufe nach wirtschaftlichen Veränderungen die sehr real möglichen Insolvenzen einiger Unternehmen, die als ökonomische Organisationen im Zweifelsfall immer die ökonomische Rationalität der ökologischen vorordnen und systemtheoretisch auch gar nicht anders können (Engels 2010: 122). Moral als Kommunikationsmedium verfügt über einen leicht aktualisierbaren Code, der Programme entwirft, die kaum Konsens finden, weshalb sie aus Konflikten entsteht und weitere hervorruft (Luhmann 2018: 404). Sie führt sicher zu Entrüstung, vermag aber wenig praktische Lösungen zu formulieren, die zu den moralischen Zielen führen sollten (Luhmann 2018: 405). Appelle an die Moral von Unternehmen und Individuen haben neben diesem noch zwei weitere blinde Flecke: Sie setzen die Gesellschaft als handlungsfähiges Subjekt voraus (Luhmann 1986: 249) und überbewerten die Konsumentenmacht (so z.B. Stehr 2007: 282), die nur bei einer Etablierung einer langfristigen Veränderung von Zahlungserwartungen vorhanden wäre (Engels 2010: 114). Diese ist aber nicht zu erwarten, weil die Zahlungsfähigkeitsverteilungen eine signifikante
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Strukturveränderung nicht erlauben – und auch dies wird in der moralisierenden ökologischen Kommunikation gern übersehen (Engels 2010: 113). Letztlich wäre auch die Frage nach der Art, wie Bewusstseinsveränderungen einer Vielzahl von psychischen Systemen und die Umkodierung des Wirtschaftssystems selbst mittels Moral vonstattengehen solle, zu beantworten. Der Blick auf das Funktionssystem Wirtschaft bietet Auswege: Moralische Verantwortung scheint betriebswirtschaftlich wenig Wirkung zu zeigen (Kachler 2013: 74). Das ist nicht verwunderlich, wenn vor Augen gehalten wird, dass eine wichtige Funktion und gleichzeitig der Grund für den Erfolg der Geldwirtschaft die Aufhebung der moralischen Verpflichtung ist,12 die sie leistet (Luhmann 2019: 40 und 239). Umweltmanagement mag formal Unternehmen dazu bringen, ökologische Konsequenzen im Sinne einer Kosten/Nutzen-Logik zu integrieren – real zeigt sich jedoch, dass diese auf langfristige Überlebenschancen der Organisationen abzielenden Kriterien in der Praxis wenig Anwendung finden (Engels 2010: 122). Der Code, an dem Entscheidungen orientiert werden, kann nicht unterwandert werden, und so sind Bewusstseinsänderungen von Individuen zunächst effektlos für eine Ökologie, die wirtschaftliche Abläufe verändern möchte (Luhmann 1986: 49). Die Wirtschaft kann Information nur über das Medium Geld (wie auch immer es symbolisch Anwendung findet) wahrnehmen, und zwischen den Funktionssystemen der Gesellschaft gibt es kaum Korrelationen. Das heißt, dass nichts deshalb bezahlbar wird, weil es wahr oder moralisch richtig ist (Luhmann 1986: 86–87). Erfolgversprechender sind Versuche, Ziele der Nachhaltigkeit in die operationalisierbare Domäne der Wirtschaft zu bringen – in die Sprache des Geldes. Die bereits erreichten Erfolge der Umweltbewegung sind auf solche gelungenen Übertragungen zurückzuführen (Engels 2010: 102–103). Auch hier ist aber Vorsicht geboten, denn Argumente wie langfristige Profite, die ökologisches NichtHandeln insgesamt teurer als Handeln machen, können zu Resonanz im Wirtschaftssystem führen (Daschkeit/Dombrowsky 2010: 85), aber langfristige Investitionen muss sich ein Unternehmen auch erst einmal leisten können. So ist wieder zu erwarten, dass die kurzfristige Aufrechterhaltung von Zahlungsfähigkeit priorisiert wird. Der Grundsatz „Was wirtschaftlich nicht geht, geht wirtschaftlich nicht“ (Luhmann 1986: 122) gilt auch heute weiterhin. Eine kritische Linguistik könnte in diesem Zusammenhang als Hilfe für Umweltaktivisten, -bewegungen und -politiker fungieren, die auf die Einhaltung er-
|| 12 Geld vermag es, den Kampf um Ressourcen zu entmoralisieren, indem durch die Erwartbarkeit der Konvertierbarkeit von Ressourcen in Geld akzeptabel wird, dass jemand auf eine Ressource zugreift und ein anderer nicht (siehe Abschnitt 5).
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folgversprechender Codes achtet. Sie müsste auf die erwartbare (Nicht-)Wirkung der Moralisierung hinweisen, und überlegen, wie Programme (im Sinne von Abschnitt 5) von Wirtschaftsorganisationen Nachhaltigkeit als Kriterium in die Zahlen/Nicht-Zahlen-Codierung geschrieben werden könnten. Seit den 2000er Jahren verfahren NGOs mit solchen Versuchen sehr gut (Engels 2010: 104), und auch Modelle wie der Emissionshandel übertragen die moralischen Verpflichtungen in die Preislogik und gelten nicht umsonst als aussichtsreiche Chance (Engels 2010: 105). Wenn der Erfolg des Geldes die Umgehung der Moral ist, so ist einleuchtend, dass Moral kaum das Mittel zur wirtschaftlichen Veränderung sein kann. Es müsste funktionale Äquivalente finden, mit denen das Wirtschaftssystem operieren kann. In der Unterwerfung unter die Preise liegt allerdings auch die Hoffnung, denn das ausdifferenzierte Wirtschaftssystem kann grundsätzlich alles, was in dieser Sprache formuliert ist, auch behandeln (Luhmann 1986: 122–125). Und so bliebe das Schlusswort Luhmanns „Ökologischer Kommunikation“ die Anleitung für eine Sprachkritik der Nachhaltigkeit: „Jedenfalls wird die ökologische Kommunikation [...] selbst auf Distanz zur Moral achten müssen. Sie ist heute in der Richtungsangabe Umweltethik falsch dirigiert. […] Wenn im Kontext ökologischer Kommunikation der Umweltethik eine spezifische Funktion zugedacht werden könnte, dann dürfte es die sein: zur Vorsicht im Umgang mit Moral anzuhalten“ (Luhmann 1986: 265).
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Werner Moskopp
Über die Kategorien der Moralität. Erleben, Sprechen und Welten Zusammenfassung: Die Übergänge zwischen den Teilbereichen der Moralphilosophie von der Begründung der Moral bis hin zur Angewandten Ethik verlaufen auch heute noch alles andere als glatt. Der Beitrag versucht daher, ein Forschungskontinuum zu entfalten, das aus einem transzendentalen Gedankenexperiment hervorgehend die Geltungs- sowie die Sprachebene der moralischen Prinzipien und Maximen anschlussfähig beschreibt. Letztlich reicht das Kontinuum dann bis in die Sphäre der Authentizität des Akteurs inmitten seiner konkreten lebensweltlichen Entscheidungssituationen hinein. Um diese „Übergänge“ umfassend zu entfalten, werden zunächst einige Kategorien und Existenzialen der Moralität entwickelt und in Anlehnung an Martin Gorkes Überlegungen zum „Eigenwert der Natur“ in die Theorien der holistischen Ökologie eingebunden. In einem offenen Schlussplädoyer des Textes wird eine Variation des Radikalen Egoismus nach Max Stirner vorgestellt, die sowohl eine universale Autonomie der Handelnden als auch (tiefen-)ökologische Verantwortung in die aktuelle Debatte einbringen könnte. Schlüsselwörter: Umweltethik, transzendental, Idealismus, Holismus, Verbindlichkeit, Parrhesia, Pragmatismus, Relation
1 Moralphilosophie – Erste Schritte Den Schönen Schönes sagen und den Menschen vom Tode befreiʼn (Anonyme Autorin)
Die Moralphilosophie ist mehrere tausend Jahre alt und trotzdem macht es in vielen aktuellen Debatten den Anschein, als würde ihre Geschichte jetzt gerade erst richtig beginnen. Die entscheidende Frage unserer Zeit, vielleicht sogar die entscheidende Frage der Menschheitsgeschichte überhaupt, ist die Frage nach dem Übergang von dem, was wir als moralisch richtig erkennen, zu der Motivation
|| Werner Moskopp, Universität Koblenz-Landau, Institut für Philosophie, Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz, wmoskopp[at]uni-koblenz.de https://doi.org/10.1515/9783110740479-014
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einer entsprechenden Handlung – in diesem Streben nach einer „lebendigen Erkenntnis“ tut sich eine erschreckende Kluft auf, die von der Angewandten Ethik überbrückt werden soll. Damit dies gelingen kann, will ich untersuchen, inwiefern Erkennen und Handeln in einem Verweisungszusammenhang stehen. In meiner philosophischen Grundhaltung gehe ich davon aus, dass alles mit allem zusammenhängt. Allerdings kann ich dies nur für den Bereich behaupten, in dem ich auch ergänze: Alles hängt mit allem zusammen, weil es auch mit mir zusammenhängt. Ausgangspunkt und Ergebnis der folgenden Überlegungen werden also einen transzendentalen Idealismus mit einer anarchistischen und universalistischen Tendenz präsentieren, der „je mich“ selbst in die Rolle des Grundlegenden – nicht des Befolgenden – einer Moral versetzt. Ich möchte auf diesem Weg eine Möglichkeit für die Systematisierung einer solchen philosophischen Auffassung näherbringen, indem wir gemeinsam – Autor und Leser – die Kategorien entwickeln, die eine Beschreibung der Welt ermöglichen. Daraus leiten wir die Dimensionen Erleben, Denken und Sprechen her, wobei hier auch synonym ein weiter Begriff des Handelns stehen könnte. Der Aufbau des Textes führt uns über die Stationen einer (a) ersten Entscheidung der Moralität und (b) der transzendentalen Grundlage der Kategorien nebst (c) der transzendentalen Grundlage der Existenzialien und (d) der Artikulation, um schließlich (e) unter dem Zeichen des schwarzen Herzens in einem Radikalen Egoismus zu enden. Es gilt für den Zweck dieses Aufsatzes, dass ich Ethik definiere als die Theorie der Moral und Metaethik als Theorie der Theorie der Moral, wobei der Gegenstand – also die Moral – verstanden wird als Verbindlichkeit aller möglichen Aspekte rund um Werte und Normen in einer menschlichen Gemeinschaft (vgl. etwa Scarano 2002: 25). Unsere Definition von Moral ist also schlicht: „Verbindlichkeit“. Metaethik betrachtet dann ethische Positionen, die alles andere als einheitlich sind, und überprüft deren Geltungsansprüche, Prinzipien und Anwendungsbereiche. Dabei konzentriert sie sich hauptsächlich auf die Grundlagen ethischer Argumentationen in den Bereichen Sprache, Kognition, Philosophie des Geistes und Ontologie. Was dies bedeutet, möchte ich in einem ersten (Selbst-)Versuch veranschaulichen: George Edward Moore (1873–1958), ein englischer Philosoph, konfrontiert uns Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. Principia Ethica 1996 [1903]: 132) mit folgendem Gedankengang: Es gibt in sich wertvolle Güter und Eigenschaften. Schönheit ist eine davon. Wenn wir uns ein Universum vorstellen, in dem kein Bewusstsein existiert, dann ist es trotzdem besser, wenn dieses Universum schön ist, als wenn es hässlich ist. Moore antwortet damit implizit auf ein Gedankenexperiment von William James (1842–1910) (vgl. James 1891: 334), einem Vertreter
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des US-amerikanischen Pragmatismus: In einem Universum ohne Bewusstsein gibt es auch keine Werte oder Normen. Erst mit dem ersten Bewusstsein, das in diesem Universum zu sich kommt, können wir auch die Annahme von Wertschätzungen beginnen lassen. Sobald ein zweites Bewusstsein hinzukommt, müssen die Wertschätzungen relativiert werden usw. Wenn Sie die erste Position favorisieren, sind Sie moralische*r Realist*in (vielleicht sogar ähnlich wie Moore Nonnaturalist*in oder Intuitionist*in) – dann habe ich in diesem Text keine Macht mehr über Sie. Wenn Sie jedoch die Argumentation von William James stärker befürworten, dann gehören Sie ins Lager der Non-Realisten*innen, denn dann haben Werte und Normen keinen Seinsanspruch als Dinge an sich selbst, sondern sie bestehen in Relationen, die durch ein bewusstes Lebewesen und seine kognitiven, emotionalen und physischen Fähigkeiten aufgebaut werden. Was mich nun interessiert, sind die allgemeinen Formen (Strukturen des Bewusstseins), die von solchen Lebewesen als kognitive Grundlagen der Reflexion dieser Werte anerkannt werden können. Ich nenne diese Formen in Anlehnung an Martin Heidegger (GA 2: 153), wenn sie sich auf erfahrbare Gegenstände der Welt beziehen „Kategorien“ und wenn sie sich auf das Dasein/Erleben beziehen „Existenzialien“. Wir versuchen daher, Moral in den Relationen zu lokalisieren und eine graduelle Kontinuität, sozusagen ein Wertenetz auf den „Kanten“ (den konstruierten Linien) der Verbindungen unserer alltäglichen Lebenswelt zu etablieren, das seinen Ursprung im Selbstwert des eigenen Daseins findet (vgl. zu einem ähnlichen Vorgehen etwa Jaspers 1919: 190). So schauen wir erst auf die transzendentalen Strukturen des Denkens und generieren dazu mittels eines Gedankenexperiments ein Universum der Wechselwirkungen, aus dem sich schließlich die universale Eigenschaft der Moralität herauskristallisiert. In diesem Zuge geben wir dem abstrakten Universum eine Tiefendimension, die ich „das schwarze Herz“ nennen möchte, von der ausgehend dann auch der Ort der Sprache ausgemacht werden kann.
2 Kategorien der Moralität Der erste Schritt in „die transzendentale Grundlegung der Kategorien“ hinein besteht aus einer bipolaren Bewegung, erstens die Kategorien herzuleiten und dann zweitens deren Grundlegungscharakter selbst in den Blick zu bekommen. Unter „Kategorie“ verstehe ich zunächst: die Bedingung der Möglichkeit dafür, unsere Wahrnehmungen unter einen Begriff des Denkens zu bringen. Wenn wir etwas
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wahrnehmen, sagen wir beispielsweise: „da steht ein Stuhl“. Wir verbinden also die sinnliche Wahrnehmung (unsere Anschauung) mit einem Akt des Denkens. Ich schlage vor, drei solcher Kategorien anzunehmen, aus denen sämtliche Relationen des Denkens, Sprechens usw. deduziert werden können: Synthesis, Relation, Reflexion. Diese drei Aspekte sind immer und notwendig miteinander verbunden und können in loser Orientierung an Charles S. Peirce (vgl. Pape 2000: 43) daher als „Triade“ bezeichnet werden: Synthese besteht in einem Vollzug des Verbindens, Relation besteht in Verbindungen, Reflexion besteht im verbindenden Schlussfolgern aus bestehenden Verbindungen. In der Kombination dieser drei Annahmen können untereinander beliebige Rückkopplungen aufgebaut werden, etwa: Die ursprüngliche Synthesis manifestiert sich in einem alles umfassenden Erlebnismoment des Daseins (hic et nunc); folglich befinden sich mehrere erinnerte Erlebniszustände in einer zeitlichen Relation zueinander usw. Woher stammen diese Kategorien? Lassen Sie uns zur Beantwortung dieser Frage erneut ein gemeinsames Gedankenexperiment durchführen, das seine Herkunft aus der (neu)platonischen Ontologie oder aus dem (absoluten) Deutschen Idealismus (vgl. etwa Hegel GW 20: §§ 84–106) nicht verleugnen kann. Wir nehmen einen ersten – recht langweiligen – Zustand des Seins an (Abb. 1).
Abb. 1: Erster Zustand des Seins
Verstehen wir die gereichte Illustration als ein Universum, in dem alles mit allem auf ursprüngliche Weise eins und in einem einzigen (vollkommenen) Zustand ist – wir erkennen dies daran, dass wir kein Einzelnes sehen. In diesem Universum stellen wir uns nun ein singuläres Ereignis vor, das eine Markierung innerhalb des Universums nach sich zieht (Abb. 2).
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Abb. 2: Singuläres Ereignis
„Alles“ steht nun in Differenz zu dieser Negation des Ganzen. Aus diesem Ansatz heraus lässt sich alles Weitere als eine bloße Kompensation der Privation der ursprünglichen Vollkommenheit (Abb. 1) verstehen.
Abb. 3: Erste Relation
Wir haben gerade nachvollzogen, wie innerhalb der Vorstellungen eine erste Relation entsteht, eine Beziehung zwischen dem Universum und dem markierten Teil im Universum. Innerhalb dieser Negation des ersten Allzustandes scheint zunächst nichts enthalten zu sein; allerdings ist selbst dieses Nichts immerhin doch die Negation des Ganzen, denn sie ist nur ein Teil, der für sich selbst (in sich gegeben: bewusst) wiederum alles ist. Wir sollten festhalten, dass der Teil sich auf das Ganze nach wie vor dadurch bezieht, dass auch das Ganze nun nicht mehr das Ganze als solches ist, sondern ein Ganzes mit einer Einschränkung. Es bildet sich eine Relation des Teils zum Ganzen heraus, die aber auf das Ganze als „Ganzes ohne die Negation“ und auf das „Ganze mit der Negation“ verweist. Da wir oben im „Alles“ (Abb. 1) kein Einzelnes erkennen konnten, müssen wir uns ab
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jetzt in unseren Vorstellungen von Sachverhalten darauf konzentrieren, was innerhalb der Negation im Bezug zur Umwelt aufgebaut wird. Wir verlassen diesen Kreis lebend nicht mehr (Abb. 3). Unabhängig von der Plausibilität dieses metaphysischen Experiments erhalten wir hier eine erste Kategorie des Denkens, die wir festhalten sollten: Wo Analyse möglich ist, muss eine Synthese vorhergegangen sein. Innerhalb des Kreises, der nicht alles ist, steht nun alles, das etwas ist, mit allem anderen, das etwas ist, notwendig in Verbindung, weil jedes etwas in Verbindung zum Nichts der ersten Negation steht. Diese Negation bleibt also gerade durch ihre negierende Wirkung auf das von außen Diffundierende synthetisierend. Dies drückt sich in jeder weiteren Verbindung so aus, dass alles zu etwas wird, indem es sich auf diese Negation bezieht. Nur die Negation selbst ist eben nicht das, worauf sie sich bezieht.1 Zugleich haben wir mit diesem Dasein, das doch eigentlich Nicht-Etwas ist, den Ursprung für das Phänomen qualitativer Wertungen vorliegen: Nicht, Nein, Minus... Am Ende dieser – zugegeben: spekulativen – Ausführungen liegen uns also die Übergänge aus der ersten Negation „zu etwas“ vor, und wir haben damit die Synthese und die Relation bereits als erste Kategorien erarbeitet. Beide sind gleichursprünglich „synthetisierend“ und werden von uns in ihrer Leistung nachträglich reflektiert bzw. erschlossen. Die Relationen, die sich zwischen Phänomenen aufbauen, haben selbst immer eine negierende und daher im Zuge der Negation in der Negation zugleich eine synthetisierende Wirkung, nämlich eine bestimmte Nähe bzw. Distanz. Innerhalb der Grenze der ersten Negation ist es wegen der hier entstehenden Kanten der Relationen angemessen, einen kontinuierlichen Übergang von Sachverhalten und auch von Werten anzunehmen. Dieser offene Prozess der Relationen durchzieht also „je meine“ Welt. Für die Moralphilosophie ist dieses System kein großer Abweg: So kann ich in den Kreis meiner Welt also einzelne Sphären von Relationen einziehen, die – wie das sog. „Zwiebelschalenmodell“ der Umweltethik (vgl. Ott et al. 2016: 12; hier Darstellung d. A. in Abb. 4) – auf unterschiedliche Reichweiten von moralischen Werten abzielen. Für die Synthese, die sich innerhalb der Negation durch die weiteren Negationen ergibt, gilt, dass sie sich selbst als unterschieden von allem anderen und damit in einer gleichbleibenden negativen Identität (als Nichts) erlebt. Ein solches Geschehen bildet eine Art „Intuition“ und damit keinen eigenständigen „Sachverhalt“ innerhalb der Welt, sondern ein direkt mit mir als Bewusstsein
|| 1 Probieren Sie den Extremfall eines Selbstbezugs aus: Wenn Sie sich selbst beschreiben wollen, werden Sie zum Beschriebenen und es entzieht sich das Beschreibende, weil die Negation eben nicht ist, was die „Etwasse“ sind, die sie beschreiben können.
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verbundenes Erleben: Ich bin dieses erstheitliche Erleben; nicht nur, aber doch in besonderem Maße.2
Abb. 4: Reichweiten der Moral in der Umweltethik („Zwiebelschalenmodell“)
Die Tiefendimension des eigenen Erlebens wird gerne als Erste-Person-Perspektive aus der Beschreibung der Welt verbannt, wenn objektive wissenschaftliche Maßstäbe angelegt werden sollen. Der Ausdruck des Erlebens wird vor allem in naturalistischen Studien gerne zu einem bloß expressiven Ausdruck von psychologischen Zuständen eines Organismus degradiert (vgl. Rüther 2015: 39). Solche bloß subjektiven Expressionen gibt es auch tatsächlich,3 aber auf dem Weg des Ausdrucks unseres Erlebens finden wir auch wesentlich differenziertere Formen des Artikulierens.4 Obwohl alle Relationen, die wir oben dargestellt haben, ein Spiel zwischen Analyse und Synthese ausdrücken (Abb. 5), verlieren wir gerne die synthetische Leistung im Erleben aus den Augen. Meine Stimmungen etwa || 2 Auch für unser gemeinsames Gedankenexperiment musste ich die ursprüngliche Synthesis für kurze Zeit vernachlässigen – Sie hatten möglicherweise schon bei Abb. 1 gezweifelt, woher der Rahmen des Universums stammt oder wo Sie denn selbst in diesem Universum vorkommen. Mittels dieser Überlegung und der daraus geforderten Tiefendimension des Vorstellungsraums bestätigen Sie auf transzendentale Weise, dass wir den Zusammenhang der universalen Relationen nicht hätten reflektieren können, bevor wir überhaupt „da“ waren: „Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant KrV B, AA 03: 108). 3 Affekte, die sich situativ in Mimik und Gestik direkt Bahn brechen. 4 Jung (2009: 12) definiert „Artikulation“ als „anthropologisch basale Tatsache, dass Menschen ihre Lebensvollzüge für sich und andere verständlich machen, indem sie erlebte Qualitäten und motorische Impulse artikulieren, sie also in gegliederte Handlungsabläufe und syntaktisch strukturierte Symbolketten transformieren.“
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setzen zum Beispiel eben auch auf Bündelungen und auf Identifikation, die das Selbstbewusstsein als gleichbleibenden Bezugspunkt generiert.
Abb. 5: Tiefendimension der Moralsphären
2.1 Erleben Ich behaupte nun, dass die Universalität der eigentlichen Moral genau in diesem Reflexionsmoment auf die ursprüngliche Synthesis meines Bewusstseins ihren Ursprung hat, nämlich darin, dass jedes selbstbewusste und rationale Lebewesen mit einer solchen reflektierten Synthesis im Kern „je meiner“ Weltwahrnehmung vorzustellen ist. Welche Welt also in welcher Stimmung auftritt, ist dabei möglicherweise völlig unterschiedlich von Lebewesen zu Lebewesen – wer kann das sagen? Für die Grundlage der Moral sind diese konkreten Zustände jedoch irrelevant (Wittgenstein TLP 6:43), da zumindest die bewusste Synthese hinter den Artikulationen und hinter den Relationen der Sachverhalte universal gesetzt werden kann (Abb. 6). Im Kern des kontinuierlichen Relationengefüges, das wir je „meine Welt“ nennen und in das wir uns hinein verwirklichen, pulsiert also die Synthesis des Erlebens (hier: „das schwarze Herz“) als Taktgeber, und dieses ursprüngliche Nichts ist universal gültig, da jeder von uns „meine“ Weltsicht hat, die aber unermesslich reich ist an konkreten emotionalen, empirischen, sozialen, wissenschaftlichen, religiösen usw. Sachverhalten. Die ursprüngliche Synthese selbst ist dabei aber niemals Sachverhalt der Welt und daher auch niemals als solche aussagbar oder bedeutbar. Sie ist die Form der Verbindlichkeit. Jedoch haben das Bewusstsein und auch das Erleben konkrete Auswirkungen in die Welt hinein, die sich in Sachverhalten zeigen können (Ethik), etwa in Handlungen, die ich aus einem moralischen Ursprung heraus vollziehe. Zu diesem Handeln gehört eben
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auch die Artikulation, die damit in einer besonderen Tiefenrelation zur Synthese steht, weil sie hier nicht nur Phänomene verbindet, sondern diese auch erneut reflektiert, bewertet und kreativ gestaltet. Das Sprechen scheint dabei zunächst – weil es direkt an das Erleben angrenzt – in die Reihe der Existenzialien zu gehören.
Abb. 6: Existenzialien
2.2 Sprechen Was ist uns Sprache im Zusammenhang eines solchen Modells? „Sprache“ ist selbst ein singulärer Ausdruck für ein ergon, ein vorläufiges System, das zum Konstrukt wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. Während eine Systematisierung das Performative des Umgangs mit den fluiden Gegenständen zu wahren versucht, stellt das System die Sprache „fest“. Lassen Sie uns daher vielleicht vom ergon der „Sprache“ zur en-ergeia des Sprechens übergehen. Für die Systematisierung der Auswirkungen unserer Synthesis bauen das Sprechen und das Denken gleichursprünglich auf den Bedingungen der oben beschriebenen Kategorien auf: Beide sind synthetisch, relational und reflektierend zugleich. Im Sprechen reflektiert sich derart immer eine Triangulation, die andere Lebewesen, vor allem aber unsere Mitmenschen mit ihrer lebendigen Welt- und Wertsicht, in die Sachverhalte meiner Welt einbettet. Das ist die Ebene, auf der sich unser qualitatives Erleben artikuliert und in der sequentiellen Gestaltung von physischen Bedingungen in der sozialen Welt verwirklicht (Abb. 7). Spontane Expressionen, gelenkte Expressionen, Sprechhandlungen, Glaubensmomente sind Variationen der aktiven Verbindungsmöglichkeiten meiner sozialen Welt. Für die Untersuchung dieser Phänomene geben wir den Staffelstab
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gerne an die (empirischen) Wissenschaften ab. Mir ist an dieser Stelle wichtig: Wenn auch die ursprüngliche Synthesis unbestimmbar bleibt und selbst das Erleben sich nur schwer im Sprechen wiedergeben lässt, so zeigen sich diese Tiefendimensionen doch indirekt in jedem konkreten Handeln und Sprechen. Da sich die Artikulation immer innerhalb der Welt als Negation verwirklicht, sozusagen eingebettet und verkörpert und als kleine soziale Welt kontextualisiert, gibt es keine Grenze für das schöpferische Sprech-Handeln: Wir können also nicht von einem statischen Holismus sprechen, sondern müssen stattdessen einen kontinuierlichen Prozess oder eine Genese annehmen.
Abb. 7: Reflexionen des sozialen Netzes
Weder die Sprache noch das Sprechen können also Moral schaffen oder Werte und Normen begründen. Gleichursprünglich zum logischen Denken reflektiert die Artikulation zwar Geltungsansprüche, aber auf den Kanten der Relationen des Gesprochenen wurden immer schon Verbindlichkeiten transportiert. Vielleicht kommen Ihnen daher folgende Überlegungen bekannt vor: Urteile, die versuchen, einen absoluten ethischen Wert zu vermitteln, sind unsinnig – aber deshalb (also, weil sie etwas versuchen, das sie nicht erreichen können) noch lange nicht unwichtig (vgl. Wittgenstein 1989: 19). Was bedeutet dieser Vorrang des absolut Ethischen vor den relationalen (sinnvollen) Sachverhalten für Natur- und Umweltethik? Schauen wir uns diese Konstellation im Bereich der Umweltethik und Biodiversität anhand des „Zwiebelschalenmodells“ an (vgl. Abb. 4).
Über die Kategorien der Moralität. Erleben, Sprechen und Welten | 361
2.3 Welten Martin Gorke, den ich hier prototypisch für die Position des Holismus anführen möchte, analysiert die Situation der Moralphilosophie zutreffend, indem er die Reichweiten der Moral als anthropozentrisch und anthroponorm anerkennt (also Erkennen und Normierungen gehen vom Menschen aus), doch das heißt eben nicht, dass diese Perspektiven auch nur einen Wert bei den Menschen ansetzen müssen. Ganz im Gegenteil wird nicht klar, warum eine rationale Ethik so parteiisch, weil speziesistisch, sein kann wie die gängigen Moralauffassungen. „Konsequenterweise“, so Gorke (1999: 250), müsste man dann eigentlich jede Moral egoistisch begründen und auch „die Menschen“ höchstens ex gratia einbinden. Dieses Vorgehen aber ergebe für eine Ethik keinen Sinn, da Ethik eben von vornherein die Entscheidung beinhalte, andere Wesen mit zu berücksichtigen. Gorke (s.u.) sieht es umgekehrt als eine Verpflichtung für Ethiker an, zu begründen, warum sie beliebige Bereiche aus der Reichweite der wertvollen Entitäten ausgrenzen. Für ihn besteht in dieser Ausgrenzung ein konkretes Problem, zu dem die Ethik neu Stellung beziehen müsse, denn die ökologische Krise und der Klimawandel seien nach normalen abendländischen Ethik-Standards nicht lösbar, wenn sie auf die Gefährdung des Menschen reduziert und die übrigen Sphären bloß zu verfügbaren Ressourcen abgewertet würden. Die Entwicklung dieser ethischen Standards zeigt aber auch, dass die gemeinhin akzeptierten Reichweiten seit der Antike stetig zugenommen haben – vielleicht ließen sich dann Utilitarismus und Kategorischer Imperativ etc. ebenfalls ausdehnen?5
3 Das schwarze Herz Wir kommen damit zur Funktion des „schwarzen Herzens“ (Abb. 8): Wenn wir oben korrekt geschlussfolgert haben, bilden die drei Kategorien Synthese, Relation und Reflektieren die Bedingung der Möglichkeit unseres Weltbildes mit seinen natürlichen und sozialen Phänomenen. Moralität sitzt auf den Kanten der Relationen von solchen phänomenalen Sachverhalten und verweist ihrerseits auf die Existenzialien Bewusstsein, Erleben und Wirken (Artikulieren/Sprechen /Denken/...). Ich verstehe damit alle Mittel-Zweck-Relationen als abgeleitete wert- und normgeladene Zielsetzungen in der Welt, während die (reine) Moralität sich lediglich darin zeigen kann, dass jedes Lebewesen aus der ursprünglichen Nega-
|| 5 Vgl. dazu etwa Derek Parfits Projekt On What Matters (2013).
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tion der Negation heraus Verbindung und Verbindlichkeit generiert. Die Reden von Nachhaltigkeit, Tierbefreiung, Klimaschutz usw. sind allesamt richtig, aber sind sie auch „moralisch“?
Abb. 8: Under the Sign of the Black Heart
Sollte Moral verstanden werden, etwa als bereits vorgegebener Kodex für unser Verhalten oder als bloßes Motivationsphänomen einer Fußballmannschaft o.ä., wäre sie nichts weiter als eine Fremdbestimmung und würde sich konzeptuell selbst aufheben; nur wenn Moral als spontane, die Privation der Vollkommenheit kompensierende Wert- und Normschöpfung verstanden wird, bin ich selbst (für alles) verantwortlich, was ich in meiner Überzeugung verfestige und in der Welt bewirke. Für Gorke etwa entsteht aus dieser Entscheidung gleichermaßen auch die Forderung, im Zusprechen von Werten nicht bei Menschen, Tieren, Pflanzen halt zu machen (vgl. Gorke 1999). Die Umkehr der Beweis-/Begründungslast für jede Ausgrenzung wird vielmehr gefordert, da jedes exklusive Moralverständnis voraussetzungsstärker sei als der Holismus (vgl. Gorke 1999: 1826 und 257–276 sowie Gorke 2010: 47–58). Diese Position würde ich durch die Auffassung unterstützen, dass Moral etwa in der Tierethik zunächst derart hypostasiert wird, als wäre sie im Vergleich zum Ganzen der Welt selbst der höhere Wert, nur um dann für die holistischen Harmonien eine zusätzliche externe (und reale) Moral zu fordern.
|| 6 Vgl. auch das einschlägige „Last People Experiment“ (Gorke 1999: 183).
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Unser Entwurf greift also diesen Holismus Gorkes auf, allerdings ohne seine moralischen Werte als Realitäten an/in sich zu übernehmen und ohne direkte Vorschriften auszusprechen. Stattdessen bin ich selbst notwendig der Ausgangspunkt der Moralität, durch den alle Werte dieser Welt in einem Kontinuum der Relationen erst konstruiert werden. Es liegt ganz allein in meiner privativen Macht (also: in der Macht der Unvollkommenheit), was ich aus rein moralischer Sicht tun werde. Freilich gibt es hier gute und schlechte, richtige und falsche, gut gemeinte und schlecht getane Absichten, Handlungen und Handlungsfolgen. Aber woran bemesse ich dies, wenn nicht an der Universalität der Verbindlichkeit und an einem hieraus abgeleiteten Maßstab: etwa die Selbigkeit oder das Erleben von Freude oder Schmerzen. Umgekehrt heißt das: Was ich tatsächlich tun werde, ist nur insoweit moralisch, als es sich auf das reflektierende und reflektierte lebendige Bewusstsein in mir beruft. Dieses Vermögen ist das Universale in Kategorie sowie in Existenzial, denn es tritt als die Tiefendimension der Synthesis bei jedem selbstbewussten Lebewesen in Geltung. Was mehr kann ich eigentlich darüber aussagen: eben Nichts. Sind wir moralische Wesen? Ja! Zu was genau verpflichtet uns das? Ich sehe hier keinen „real“ existierenden Maßstab der Moral an sich. Vielmehr werden in den Varianten der Ethik, wie wir sie entwickelt haben, die Autonomie und die „parrhesia“ – d.i. die freie Rede, das Einstehen für das, was ich nach reiflicher Überlegung als richtige Überzeugung entwickelt habe – zum Kriterium der Moralität. Nehme ich mir also den Gegenstand dieses Sammelbandes zum Anlass einer ethischen Überlegung, so möchte ich nach all dem, was geschrieben wurde, dafür plädieren, Natur, Umwelt, Klima nicht als in-sich-wertvolle Gegenstände der Moral aufzufassen, denn dadurch würde ihr vollkommener natürlicher Eigenwert gerade gemindert. Empirisch reale nichtmenschliche Tiere (ohne Selbstbewusstsein und Sozioprudenz) sind also in meinem Verständnis keine moralischen Wesen an sich, weder aktiv noch passiv, aber das soll ihnen eben nicht zur Last gelegt werden, da die Moral selbst doch lediglich eine Mangelerscheinung darstellt. Ich möchte damit eine Art „double bind“ der ausgrenzenden Tierethik vermeiden, die den Moralbegriff selbst zuerst als Spezifikum des („heiligen“) menschlichen Mängelwesens extrem hoch bewertet, um ihn in einem zweiten, egalitaristischen Schritt auch für Tiere einzufordern, als wären diese eben auch mit menschlichen Mängeln behaftet. Außerdem warne ich davor, das gute Leben und die menschliche Glückseligkeit als eine spezifische Kategorie der Politik und der öffentlichen Meinung statt der Autonomie und der Parrhesie zu etablieren. Der nächste Schritt in der aktuellen Klima-Debatte wird eben nicht sein, dass die gesellschaftlichen Institu-
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tionen diese Bereiche wieder sich selbst überlassen, sondern sie setzen neue Techniken, neue Maßnahmen, neue Verbote ein, um auch die weitesten Sphären der Natur zu ihrem eigenen Besten zu beherrschen und damit auch alle Lebewesen, die sich in den engeren Kreisen befinden. Die Dualismen „Natur und Kultur“, „Ethik und Politik“, „Privatheit und Öffentlichkeit“ bereiten hier eine folgenschwere politische Entscheidung vor, die gegen die Extreme einer Technokratie auf der einen und einer Art „grüner Faschismus“ auf der anderen Seite laviert. Im Sinne einer politischen Ökologie und insgesamt eines offenen pragmatistischen Forschungskontinuums können diese Dualismen durch filigranere Ordnungsinstrumente abgelöst werden. Wie wir gesehen haben, lassen sich nämlich Natur und Kultur, Fakt und Wert, Leib und Seele formaliter durch ein Kontinuum von Relationen aufheben, das seinerseits an die Tiefendimension „je meiner“ Moralität angebunden ist. Inhaltlich liegt damit zwar selbstverständlich keine (Auf-)Lösung für die Probleme der Zukunft vor. Aber es lässt sich eine Art und Weise erkennen, wie wir den Einzelnen dazu in die Lage versetzen, sich selbst mit der Nachhaltigkeit seines Verhaltens zu beschäftigen. Der Weg zu einem gelingenden Leben führt über die Vor-Haltigkeit der Moralität selbst, sozusagen als Besinnungspunkt oder als Sorge um sich selbst – das ist es vor allen anderen Dingen, was in unserer Macht steht. Seien Sie versichert: Damit verschwindet kein einziger Topos aus den aktuellen Debatten; doch die Sicht darauf verändert sich gravierend. Mein Vorschlag lautet daher: Lassen Sie uns zuerst einmal genauer betrachten, was nicht alles unsere Sache sein soll, um dadurch die Freiheit in Rede und Handlung vor Manipulationen und Schwärmerei zu bewahren. Ich für meinen Teil hab’ damit „mein’ Sach’ auf Nichts gestellt“ (Stirner 2008: 412).
Literaturverzeichnis Gorke, Martin (2010): Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen. Stuttgart: Hirzel. Gorke, Martin (1999): Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur. Stuttgart: Klett-Cotta. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1992 [1830]): Gesammelte Werke 20. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Unter Mitarb. v. Udo Rameil, hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Hans Christian Lucas. Hamburg: Meiner. Heidegger, Martin (1977): Gesamtausgabe 2. Sein und Zeit. Frankfurt a. M.: Klostermann. James, William (1891): The moral philosopher and the moral life. In: International Journal of Ethics 1 (3), 330–354. Jung, Matthias (2009): Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation. Berlin/New York: De Gruyter.
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Jaspers, Karl (1919): Psychologie der Weltanschauungen. Berlin: Springer. Kant, Immanuel (1904 [1787]): Gesammelte Schriften. Abt. 1, 3. Kritik der reinen Vernunft B. Hrsg. von der Preußischen, Deutschen, Göttinger und Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. (Akademie-Ausgabe). Berlin: Reimer. Moore, George Edward (1996 [1903]): Principia Ethica. Erweiterte Ausgabe. Stuttgart: Reclam. Ott, Konrad; Dierks, Jan; Voget-Kleschin, Lieske (2016): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch Umweltethik. Stuttgart: Metzler, 1–18. Pape, Helmut (2000): Einleitung. In: Pape, Helmut; Kloesel, Christian J. W. (Hrsg.): Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften (Band 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7–83. Parfit, Derek (2013): On what matters 1. Edited and introduced by Samuel Scheffler (The Berkeley Tanner Lectures). Oxford: Oxford University Press. Scarano, Nico (2002): Metaethik – ein systematischer Überblick. In: Düwell, Marcus; Hübenthal, Christian; Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart: Metzler, 25–35. Stirner, Max (2008): Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort hrsg. von Ahlrich Meyer. Stuttgart: Reclam. Wittgenstein, Ludwig (1989): Vortrag über Ethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (2014): Tractatus logico-philosophicus (Werkausgabe 1). 21. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Erster Zustand des Seins [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 2:
Singuläres Ereignis [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 3:
Erste Relation [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 4:
Reichweiten der Moral in der Umweltethik, „Zwiebelschalenmodell“ [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 5:
Tiefendimension der Moralsphären [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 6:
Existenzialien [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 7:
Reflexionen des sozialen Netzes [eigene Darstellung d. A.].
Abb. 8:
Under the Sign of the Black Heart [eigene Darstellung d. A.].
| Anhang
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Jun.-Prof. Dr. Roman Bartosch ist Juniorprofessor für Didaktik: Anglophone Literaturen und Kulturen an der Universität zu Köln. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden die Schnittstellen zwischen Literaturwissenschaft und Literatur-, Kultur- und Mediendidaktik, Inter- und Transkulturelles Lernen, Inklusion sowie Bildung für Nachhaltigkeit. Er ist Stellvertretender Direktor des Kölner Interdisziplinären Zentrums für Didaktiken der Geisteswissenschaften (IFDG) und Sprecher des universitätsweiten Kompetenzfeldes Kulturen und Gesellschaften im Wandel der Universität zu Köln. Jun.-Prof. Dr. Valentina Crestani ist Juniorprofessorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der Università degli Studi di Milano. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Sprache und Nachhaltigkeit, dabei betrachtet sie sowohl Aspekte der ökologischen als auch der sozialen Nachhaltigkeit. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen insbesondere kontrastiv ausgerichtete Aufsätze, z.B. zum Genus der Personenbezeichnungen, die auch die Begriffe Sexus und Gender berücksichtigen. Zurzeit ist sie außerdem Leiterin des interdisziplinären Projekts DIR-LING+. Prof. em. Dr. Alwin Fill ist emeritierter Universitätsprofessor für Anglistik an der Universität Graz. Er hat in Innsbruck studiert und sich dort für englische Linguistik habilitiert. Seit 1980 arbeitet er an der Universität Graz (Österreich). Er hat in den Forschungsbereichen Kontrastive Linguistik, Spannungslinguistik und Ökolinguistik publiziert. Neben der breit rezipierten Einführung in die Ökolinguistik (1993) ist sein wichtigstes Buch der Ecolinguistics Reader (2001), den er gemeinsam mit Peter Mühlhäusler herausgegeben hat. Alwin Fill widmet sich seit einigen Jahren der Friedenslinguistik. Prof. em. Dr. Axel Goodbody ist emeritierter Professor an der University of Bath, wo er deutsche Sprache, Literatur, Film und Geschichte gelehrt hat. Seine Hauptforschungsgebiete sind Umweltliteratur, Naturlyrik und Ecocriticism. Er war Leiter der Arbeitsgruppe Memory, History, Identity und hat bei britischen, deutschen und amerikanischen Forschungsprojekten zum Umwelt-, Energie- und Klimadiskurs mitgewirkt. Er war Mitbegründer der Vereine ASLE-UKI und EASLCE und Associate Editor der Zeitschrift Ecozon@ von 2010 bis 2020. Er ist gegenwärtig Visiting Research Fellow am Centre for Environmental Humanities der Bath Spa University und arbeitet zu den Themen Climate Fiction und Nature Writing. Prof. Dr. Sieglinde Grimm lehrt Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Friedrich Hölderlin, Klassische Moderne (Rainer M. Rilke, Franz Kafka), Migrantenliteratur/Interkulturelles Lernen, Kulturökologie/Ecocriticism sowie Bildung und ästhetische Erziehung im 18. und 19. Jahrhundert. Zurzeit beschäftigt sie sich mit kulturökologischem Lernen im Literaturunterricht und mit Nature Writing am Beispiel von Friedrich Hölderlin und Henry D. Thoreau.
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Dr. Hildegard Haberl ist Maîtresse de conférence am Institut für Germanistik der Universität Caen Normandie. Sie betreut dort das Forschungsseminar Imaginäre Räume – zu schützende Räume: Natur/Ästhetik/Ökologie der Forschungseinheit ERLIS (EA 4254). Ihre aktuellen Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit der Darstellung von Gärten und Landschaften in der Literatur der Sattelzeit sowie in der zeitgenössischen Literatur. Gartenräume interessieren sie auch im Zusammenhang mit der Ideengeschichte der Melancholie. Gemeinsam mit Annette Lensing und Corona Schmiele veröffentlichte sie hierzu die Online-Ausgabe Jardin et mélancolie en Europe entre le XVIe siècle et l’époque contemporaine in Histoire culturelle de l’Europe 3, 2018 (http:// www.unicaen.fr/mrsh/hce/index.php?id=673). Dr. Johan Horst, LL.M. (Georgetown) ist Postdoc am Integrative Research Institute Law & Society der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat dort den Forschungsbereich Recht in Transformation aufgebaut und forscht in seinem Habilitationsprojekt zum Recht im Anthropozän, im Posthumanismus sowie in der Gesellschaft technischer Objekte. Darüber hinaus arbeitet er zu wirtschaftsvölkerrechtlichen und transnationalrechtlichen Themen, zu Recht und neuer politischer Ökonomie sowie zu rechtstheoretischen Fragen. Jöran Landschoff promoviert am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg in der Linguistik im Rahmen des Forschungsprojekts Ein transdisziplinäres Modell zur Struktur- und Musterbildung kollektiven Entscheidens: Synergieeffekte zwischen linguistischen, biologischen und physikalischen Ansätzen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er untersucht in diesem Rahmen sprachlich mediierte Meinungsbildungsprozesse in der Internetkommunikation. Daneben liegen seine Forschungsschwerpunkte im Bereich der Sprachphilosophie, Polito- und Soziolinguistik, wobei sprachliche Invektivitätspraktiken sowie Gender- und Identitätskonstruktionen im Fokus stehen. Prof. Dr. Eric Leroy du Cardonnoy lehrt Deutsche Sprache sowie Deutschsprachige Landeskunde und Literatur (19.–20. Jahrhundert) an der Universität Caen, Frankreich. Er beschäftigt sich mit Texten österreichischer Autoren (Franz Grillparzer, Adalbert Stifter u.a.) sowohl in literarischer als auch in kultureller Hinsicht und hat u.a. Sammelbände über die europäische Rezeption des Wiener Kongresses mitherausgegeben. Zehn Jahre lang leitete er die Forschungsgruppe ERLIS (transdisziplinäres Zentrum für Germanisten, Skandinavisten, Slawisten, Italianisten, Hispanisten und Lusitanisten); zudem stand er dem Interdisziplinären Zentrum für virtuelle Realität (CIREVE) vor und war Dekan der Sprachenfakultät. Seit Dezember 2020 ist er Vizerektor für Forschung der Universität Caen. Dr. Anna Mattfeldt arbeitet als Lecturer in der Deutschen Sprachwissenschaft (mit Ergänzungsbereich Deutsch als Zweitsprache) an der Universität Bremen. In ihrer Dissertation zu Umweltdiskursen im Deutschen und Englischen untersuchte sie Konfliktdarstellungen in Medien aus diskurslinguistischer Sicht (2018 in der Reihe Sprache und Wissen unter dem Titel Wettstreit in der Sprache. Ein empirischer Diskursvergleich zur Agonalität im Deutschen und Englischen am Beispiel des Mensch-Natur-Verhältnisses veröffentlicht). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Sprache und Umwelt sowie in der (sprachvergleichenden) Diskurslinguistik, der Internetlinguistik und der Soziolinguistik.
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PD Dr. habil. Werner Moskopp lehrt und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Moralphilosophie im Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Aktuelle Forschungsprojekte setzen sich mit den Themen Dialogforschung, Methodologie und Verbindlichkeit von Normen und Werten auseinander. Neben einer Auswahl an Klassikern liegen die Forschungsschwerpunkte darüber hinaus in der Philosophie des langen 19. Jahrhunderts sowie in den Themenbereichen Transzendentaler Idealismus, Pragmatismus, Anarchismus, Mystik und insgesamt der Moralphilosophie. Im Bereich der Angewandten Ethik begleitet Werner Moskopp als externer Redakteur das Online-Dossier Bioethik der bpb. Prof. Dr. Sandra Reimann ist Professorin für Germanistik an der Universität Oulu (Finnland) und Privatdozentin am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Regensburg. Ihre Dissertation schrieb sie über die Umsetzung von Werbestrategien in mehrmedialen Kampagnen; in ihrer Habilitation beschäftigte sie sich mit Selbsthilfekommunikation im Internet. Sie vertrat Professuren in Paderborn, Bonn, Regensburg und war Gastprofessorin an der Karl-Franzens-Universität Graz. Sandra Reimann ist Sprecherin des Regensburger Verbunds für Werbeforschung (RVW) und Mitherausgeberin der Online-Zeitschrift Mitteilungen. Außerdem hat sie die wissenschaftliche Leitung des Regensburger Archivs für Werbeforschung inne. Seit 1992 ist sie Radiojournalistin. Dr. Paul Reszke forscht und lehrt im Bereich der Germanistischen Sprachwissenschaft an der Universität Kassel und ist Teil des entstehenden documenta Instituts. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Diskursanalyse, Kunstkommunikation sowie gesellschaftlicher Wissenstransfer durch Pressetexte, Wissenschaften und Popkultur. Er ist außerdem Mitherausgeber des Living Handbooks Climate Thinking. Ulrike Schmid, M.A. promoviert an der Universität Innsbruck im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Sie ist dort studentisches Mitglied des Forschungszentrums Bildung-Generation-Lebenslauf sowie der Human-Animal Studies Gruppe. Ihre Dissertation befasst sich mit der sozialen Konstruktion von (Wild-)Tieren in Biologie-Schulbüchern der Sekundarstufe I in Österreich. Die kritisch orientierte diskursanalytische Studie richtet den Blick u.a. auf institutionalisierte Wissensbestände und Sprechweisen sowie spezifische Ordnungsmuster, die sich über die Texte und Bilder der Lehrwerke materialisieren. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mensch(Wild-)Tier-Beziehungen und Diskursanalyse. Dr. Vasco Alexander Schmidt ist Senior Director und Head of Design für SAP HANA bei der SAP SE in Walldorf. In dieser Rolle leitet er ein globales Team von UX-Designern und technischen Redakteuren für das Datenbank-Portfolio der SAP. Zuvor hat er als Wissenschaftsjournalist und technischer Redakteur gearbeitet und war im Forschungsmarketing tätig. Mit der Integration linguistischer Theorien in die Praxis und der linguistischen Reflexion seiner praktischen Arbeit betreibt er eine gelebte Angewandte Linguistik. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wissenschaftssprache, Technik-Kommunikation sowie Fach- und Mediendiskursanalyse (mit Bezug zu Mathematik/Informatik).
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Dr. Carolin Schwegler ist Postdoc in Germanistischer Linguistik am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau. Ihre thematischen Forschungsschwerpunkte sind Sprache und Nachhaltigkeit sowie Sprache und (prädiktive) Medizin. Für ihr kulturwissenschaftlich-linguistisches Habilitationsprojekt zu kommunikativen Praktiken der prädiktiven Medizin kooperiert sie u.a. mit dem interdisziplinären Center ceres (Universität zu Köln) sowie den Universitätskliniken Köln und Genf. Sie ist Teilprojektleiterin im trinationalen Era-Net-Neuron Verbundprojekt PreTAD. Ihre Doktorarbeit, die Argumentationen und sprachliche Strategien in Nachhaltigkeitsberichten und Pressetexten untersucht, wurde von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gefördert. Jun.-Prof. Dr. Pamela Steen ist Juniorprofessorin für Integrierte Germanistik an der Universität Koblenz-Landau. Schwerpunkte ihrer Arbeit bilden die gesprächslinguistische und kultursemiotische Identitätsforschung, die diskurslinguistische Charismaforschung sowie die Tierlinguistik als Verbindung der linguistischen Pragmatik mit den interdisziplinären Ansätzen der Cultural Animal Studies. Ihre Monografie Menschen – Tiere – Kommunikation. Praxeologische Studien zur Tierlinguistik erscheint im Frühjahr 2022 in der Reihe Cultural Animals Studies bei J.B. Metzler/Springer Nature. Prof. Dr. Berbeli Wanning lehrt deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität Siegen. Sie beschäftigt sich aus der Sicht der kulturellen Fächer mit der Bildung für nachhaltige Entwicklung und dem globalen Lernen; in diesem Kontext ist sie zudem bildungspolitisch beratend tätig und an deren Implementierung in Lehr- und Bildungspläne beteiligt. Zudem leitet sie an der Universität Siegen die Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen darüber hinaus auf dem Gebiet der Vermittlung ökologischer Themen im Literaturunterricht, besonders Energie, Klimawandel und Artensterben. Prof. Ing. Dr. Dr. h.c. Verena Winiwarter ist promovierte Historikerin, hat eine venia legendi für Humanökologie und ist Ingenieurin für technische Chemie. Sie lehrt am Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur Wien Umweltgeschichte und leitet das dortige Zentrum für Umweltgeschichte (ZUG). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind neben Altlasten auch die Umweltgeschichte von Agrargesellschaften, insbesondere die Geschichte des Wissens über Böden und die Umweltgeschichte von Flüssen.
Index Agenda 2030 3, 11, 42, 86, 269, 273 Altlasten 9, 36ff., 284 Aneignung, kommunikative 3, 19, 123, 128, 297 Anthropozän 5, 9, 15, 19, 21, 40, 64, 97, 111, 116, 131, 140, 148, 150, 152, 165ff., 309, 361 Appell 218f., 222f., 227, 243, 295, 344 Aufwertung 128, 223, 226, 231ff., 242f., 255 Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) 6, 8, 11, 22, 24, 85ff., 251 Boyle, T.C. 101, 113ff. Brundtland-Bericht 8, 10, 40, 266 brute facts, institutional facts 281, 287ff., 292ff., 302 Diskurs 2ff., 36ff., 81, 108ff., 123ff., 174, 200f., 249, 282ff., 337 – Diskursanalyse 1ff., 123ff., 200ff., 281ff., 344 – diskursiv 2ff., 87, 111, 114, 123ff., 255, 297 – Klimadiskurs 195ff. – Nachhaltigkeitsdiskurs 4, 93, 327 documenta 18, 281ff. Ecocriticism 2, 8, 81, 103 Emotion 14, 86, 89, 92, 96, 104, 124, 139, 146, 353, 358 – Emotionalisierung 217, 227f., 233, 243 Erziehung zur Nachhaltigkeit 24f., 86, 91, 101ff. Expertinnen, Experten 134, 144, 223, 225, 231, 233ff., 243, 283 Frieden 11, 76, 126, 294, 307f., 314ff., 320 Gedicht 10, 35, 55f., 94ff., 131, 137, 159 Gegensatzdenken 307f., 315, 320 Geoengineering 19, 165ff.
https://doi.org/10.1515/9783110740479-015
Gesellschaft 1, 3f., 8, 13, 18, 20, 22f., 26, 37, 48, 50, 78, 85, 87, 97, 112, 125, 128, 131, 146, 181, 198, 210, 218, 226, 231, 250ff., 281ff., 325ff. – Gesellschaftstheorie 77 Hanford 35ff. Holismus 26, 360ff. Human-Animal Studies (HAS) 6, 20, 101ff., 123ff., 316 Idealismus 351f., 354 Idylle 63ff., 93 Katastrophe 9, 15f., 21, 39, 41f., 49, 52, 63ff., 87f., 91, 97, 106, 112, 207, 283 Klimaprognose 195ff. Klimawandel 4, 16f., 19, 24, 39, 46, 85ff., 103ff., 150, 165, 168, 195ff., 220, 227, 288, 308, 361, 363 Kommunikation 4, 7, 21f., 27, 48, 82, 107, 116, 132, 214, 217ff., 247ff., 281ff., 310, 325ff. – Kunstkommunikation 17, 281ff. – Nachhaltigkeitskommunikation 325 – Unternehmenskommunikation 13, 218ff., 251ff. Kontrastivität 247, 250, 258 – Kontrast 54, 143 Literatur 2, 18, 22f., 25, 64ff., 85ff., 101ff., 129ff. – Kinder- und Jugendliteratur 85ff., 142 – Literaturdidaktik 7, 11, 101ff. – Literaturgeschichte 85, 90, 92 Luhmann, Niklas 22, 178, 180, 183, 325ff. Mathematik 19, 24, 195ff. Misstrauen 56, 152, 195, 211, 213
374 | Index
Mitwelt 6, 21, 69, 309ff., 317ff. Modell 82, 108, 110, 117, 127, 153, 182, 195, 197ff., 251, 255, 261, 284, 346, 356f., 359f. – Klimamodell 3, 195ff. – Modellierung, literarische 11, 101ff. Monster 35ff. Moral 20, 22, 111, 115, 325ff., 351ff. – Moralisierung 325, 346 Multimodalität 17, 247, 263, 273, 287 Muschg, Adolf 9, 63ff.
Sprachvergleich 14f., 247ff. – Sprachvergleich, deutsch-italienischer 247ff. Spuren 18, 53, 123ff. Stifter, Adalbert 64ff. Sustainable Development Goals (SDG) 3, 11, 22ff., 26, 42, 98, 240, 273 Systemtheorie 22, 178, 180, 325ff.
Nachhaltigkeit 1ff., 64ff., 86ff., 101ff., 197, 201, 220ff., 247ff., 317, 326, 331, 340, 343, 345f., 362, 364 – Nachhaltigkeitsbericht 10, 13, 17, 217ff., 247ff. – Nachhaltigkeitsforschung 1ff., 36, 103, 106 New Materialism 123, 129f., 132, 136
Umwelt 1ff., 35ff., 69ff., 90, 92, 117, 126, 136, 159, 165ff., 240, 242, 250, 262ff., 269f., 274, 282, 286, 296, 307ff., 325ff., 356 – Umweltbewusstsein 9, 12, 85ff. – Umweltethik 326, 346, 351, 356, 360 – Umweltgeschichte 8, 36ff. – Umweltrisiko 77, 175 Universitäten 14, 247ff. Unsicherheit 77, 79, 144, 173, 175, 195ff., 334, 343
Ökolinguistik 2, 5f., 8, 19ff., 281ff., 307ff. Parrhesia 363 Populismus 3, 195, 211, 214 Posthumanismus 129, 165, 183 Pragmatismus 353 Question 62 101, 113ff. Recht 19, 48, 81, 89, 114, 116, 128, 165ff., 325, 340 – Umweltvölkerrecht 165ff. Sprachkritik 5, 20ff., 307ff., 325ff.
Tiersprache 307, 311 transzendental 146, 338, 351ff., 357
Verbindlichkeit 22, 352, 358, 360, 362f. Wachstumsdenken 307f., 314f., 320, 341 Werbung 217ff., 300, 320, 325, 327, 342f. – Werbestrategie 217ff. Wissen 7, 11f., 18, 23, 25, 35, 39, 79, 81, 85ff., 102, 107ff., 118, 133, 138, 174, 210, 213f., 252, 283, 287, 289, 300f., 320, 335, 337f. – Wissenspoetologie 101f., 107 Wolf, Christa 50, 52f., 55 Wölfe 18f., 123ff., 310