Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert: Eine empirische Untersuchung zum Vokalismus 3515102957, 9783515102957

Ist Lautwandel regelmäßig oder lexikalisch gesteuert? Sind dabei exogene oder endogene Faktoren maßgeblich? Wie ist das

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German Pages 584 [586] Year 2015

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
1 ZUR UNTERSUCHUNG VON DIALEKTWANDEL
1.1 EINLEITUNG
1.2 STAND DER FORSCHUNG
1.3 METHODISCHE ANSÄTZE DER DIALEKTWANDELFORSCHUNG
2 ZIELE, FRAGESTELLUNGEN UND METHODIK
2.1 ZIELE DER ARBEIT
2.2 FRAGESTELLUNGEN DER ARBEIT
2.3 METHODIK UND DATEN
2.4 AUFBAU DER ARBEIT
3 DIE NEUHOCHDEUTSCHE DIPHTHONGIERUNG
3.1 EINLEITUNG
3.2 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Î
3.3 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Û
3.4 GESAMTANALYSEN ZU MHD. Î UND Û
3.5 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. IU
3.6 ZUSAMMENFASSUNG
4 DIE REALISIERUNG VON MHD. EI
4.1 EINLEITUNG
4.2 DATENKORPUS
4.3 WANDELPROZESSE IN DEN EINZELNEN LEXEMEN
4.4 GESAMTDARSTELLUNG DER WANDELPROZESSE
4.5 ZUSAMMENFASSUNG
5 DIE REALISIERUNG VON MHD. OU
5.1 EINLEITUNG
5.2 DATENKORPUS
5.3 WANDELPROZESSE IN DEN EINZELNEN LEXEMEN
5.4 GESAMTANALYSEN
5.5 ZUSAMMENFASSUNG
6 DIE SCHWÄBISCHE DIPHTHONGIERUNG
6.1 EINLEITUNG
6.2 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Ô
6.3 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Ê
6.4 INTERPOLATION
6.5 ZUSAMMENFASSUNG
7 DIE REALISIERUNG VON MHD. Ë
7.1 EINLEITUNG
7.2 DATENKORPUS
7.3 WANDELPROZESSE INNERHALB DER LEXEMGRUPPE I
7.4 GESAMTANALYSEN ZU LEXEMGRUPPE I
7.5 WANDELPROZESSE INNERHALB DER LEXEMGRUPPE II
7.6 GESAMTANALYSEN ZU LEXEMGRUPPE II
7.7 ZUSAMMENFASSUNG
8 DIE REALISIERUNG VON MHD. Â IM AUSLAUT
8.1 EINLEITUNG UND DATENKORPUS
8.2 WANDELPROZESSE IN DEN EINZELNEN LEXEMEN
8.3 ZUSAMMENFASSENDE GESAMTANALYSE
9 DIE NEUHOCHDEUTSCHE MONOPHTHONGIERUNG
9.1 EINLEITUNG
9.2 MONOPHTHONGIERUNG VON MHD. UO
9.3 MONOPHTHONGIERUNG VON MHD. IE
9.4 GESAMTANALYSEN
9.5 ZUSAMMENFASSUNG
10 ENTRUNDUNG
10.1 EINLEITUNG
10.2 ENTRUNDUNG VON MHD. IU
10.3 ENTRUNDUNG VON MHD. Ü
10.4 ENTRUNDUNG VON MHD. OE
10.5 GESAMTANALYSEN ZUR ENTRUNDUNG
11 VOKALDEHNUNG
11.1 EINLEITUNG
11.2 DEHNUNG IN OFFENER SILBE
11.3 EINSILBLERDEHNUNG
11.4 ZUSAMMENFASSUNG
12 STATISTISCHE AGGREGATANALYSEN
12.1 EINLEITUNG
12.2 METHODIK
12.3 ISOGLOSSENABSTAND
12.4 MORPHOLOGISCHE KOMPLEXITÄT
12.5 INNOVATIVE VS. KONSERVATIVE DIALEKTGEBIETE
12.6 DER FAKTOR GESCHLECHT
12.7 SITUATIVE FAKTOREN
12.8 REZENZ-EFFEKTE
12.9 SIGNIFIKANZHIERARCHIE DER FAKTOREN
12.10 ZUSAMMENFASSUNG
13 RESÜMEE
LITERATURVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
ANHANG
A.1 ISOGLOSSENABSTAND: ERGEBNISPLOTS
A.2 REZENZ: ERGEBNISSE DER CHI-QUADRAT-TESTS
A.3 INTERPOLATIONEN
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Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert: Eine empirische Untersuchung zum Vokalismus
 3515102957, 9783515102957

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Christian Schwarz Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 159

Christian Schwarz

Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert Eine empirische Untersuchung zum Vokalismus Ein Beitrag zur Interaktion von Phonologie und Morphologie

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Kompetenzzentrums Sprachen der Freien Universität Bozen sowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10295-7 (Print) ISBN 978-3-515-10790-7 (E-Book)

VORWORT Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Version meiner Dissertation, die im September 2011 von der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Sie entstand im Rahmen des von Peter Auer geleiteten Projekts „Phonologischer Wandel am Beispiel der alemannischen Dialekte Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert“, das zwischen 2006 und 2011 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Aus dem Forschungsprojekt ist neben der vorliegenden Arbeit das „Zwillingswerk“ von Tobias Streck (2012) hervorgegangen, das sich schwerpunktmäßig auf den Bereich des Konsonantismus bezieht. Ohne die finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft wäre es nicht möglich gewesen Datenmaterial im hier dargebotenen Umfang aufzuarbeiten. Durch die Förderung hatten wir die Möglichkeit über mehrere Jahre hinweg studentische Hilfskräfte einzustellen, die uns tatkräftig unterstützten und für den erfolgreichen Abschluss der Projektarbeit unerlässlich waren. Mein herzlicher Dank gilt Sonja Fischer, Sabrina Deck, Carolin Schwarz, Lea Nirk, Silke Gemünden, Friederike Proff, Nina Rudloff, Elias Hauguth, Marina Geng, Katharina Kurz und Florian Sieg. Mein Dank geht außerdem an Bridget Smith für ihre unentgeltliche Hilfe in der Frühphase des Projekts. Zu ganz besonderem Dank verpflichtet bin ich Peter Baumann und Uli Held, mit deren Hilfe die Aufarbeitung und Auswertung des spontansprachlichen Materials im Rahmen der statistischen Analysen erst ermöglicht wurde. Meinem Projekt-Partner Tobias Streck möchte ich sehr für seine große Hilfsbereitschaft, die gute Zusammenarbeit sowie die gemeinsamen Konferenz- und Vortragsreisen danken. Auch Javier Caro Reina gilt mein Dank für seine Korrekturen und die wertvollen Hinweise. Zur Analyse und Aufbereitung des Datenmaterials waren technische Hilfsmittel notwendig, die z. T. speziell auf die Bedürfnisse unseres Forschungsvorhabens ausgerichtet waren. Zu nennen sind hier besonders das Datenbanksystem „moca“ sowie das Kartierprogramm „SSA-Kart“, ohne die Analyse und Kartierung der spontansprachlichen Daten um ein Vielfaches aufwendiger gewesen wären. Mein besonderer Dank gilt Daniel Alcón Lopez, der mir bei technischen Problemen mit „moca“ stets behilflich war. Außerdem möchte ich mich für das Engagement von Rudolf Post bedanken, der das Kartierprogramm „SSA-Kart“ nicht nur entwickelt, sondern es zudem in vielen Arbeitsstunden für die Bedürfnisse unseres Projekts optimiert hat. Von meinen Betreuern Peter Auer und Helmut Spiekermann erhielt ich in den letzten Jahren vielfältige inhaltliche Anregungen und konstruktive Kritik zu meiner Arbeit. Besonders mein Erstbetreuer Peter Auer hat durch seine zahlreichen Hinweise während der Datenauswertung und der Schreibphase für so manchen „Aha-

6

Vorwort

Effekt“ gesorgt. Ich danke ihm sehr für seine jahrelange Förderung und das mir entgegengebrachte Vertrauen! Den Abschluss erlebte meine Dissertation nicht mehr in Freiburg, sondern in Bozen, wo ich von 2011 bis 2013 am Kompetenzzentrum Sprachen der Freien Universität tätig war. Rita Franceschini gilt mein besonderer Dank dafür, dass sie in den letzten Monaten mit großer Geduld das herannahende Ende meiner Schreibphase abwartete und mir in großzügiger Weise Freiräume für das Zu-Ende-Schreiben zugestand. Weiterhin möchte ich dem Kompetenzzentrum Sprachen dafür danken, dass es den Druck der vorliegenden Arbeit finanziell in großzügiger Weise unterstützt hat. In gleicher Weise gilt mein Dank der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Meine Freunde haben mich in ganz besonderem Maße unterstützt. So möchte ich mich bei meinen ehemaligen Mitbewohnern Saher und Carolin aus der WannerWG für die tolle Zeit bedanken, die wir während all der Jahre zusammen hatten! Meiner Alex sei für ihre große Geduld gedankt, die sie mir gegenüber während der Schreibphase aufbrachte. Darüber hinaus gebührt ihr mein großer Dank für die sprachlich-stilistische Korrektur des kompletten Manuskripts. Vor allem und allen möchte ich aber schließlich meinen Eltern danken. Sie haben meine Interessen von Kindesbeinen an gefördert und mir somit letztlich eine Betätigung in den Wissenschaften erst ermöglicht. Auch habe ich es ihnen zu verdanken, dass der zentrale Gegenstand dieser Arbeit – nämlich der alemannische Dialekt – quasi ganz nebenbei zu meiner Erstsprache wurde. Münster im Oktober 2014 Christian Schwarz

Meinen Eltern

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1

ZUR UNTERSUCHUNG VON DIALEKTWANDEL . . 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Methodische Ansätze der Dialektwandelforschung 1.3.1 Wissen vs. Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Real-Time vs. Apparent-Time . . . . . . . . . 1.3.3 Vergleich von Isoglossenverläufen . . . . . .

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17 17 20 24 24 25 28

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ZIELE, FRAGESTELLUNGEN UND METHODIK . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Fragestellungen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Endogener vs. exogener Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Regelmäßiger Wandel vs. lexikalische Steuerung . . . . . . 2.2.3 Horizontaler vs. vertikaler Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Konservative vs. innovative Gebiete . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Methodik und Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Der doppelte Vergleich in Real-Time und Apparent-Time 2.3.2 Untersuchungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Dateninterpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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29 29 30 30 30 31 34 35 35 40 40 45 47 49

3

DIE NEUHOCHDEUTSCHE DIPHTHONGIERUNG . . . . . . . . 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Diphthongierung von mhd. î . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wandelprozesse innerhalb der einzelnen Lexeme . . 3.2.2.1 Lexem bleib(en) . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Lexem Eis . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Lexem Eisen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.4 Lexem gleich (Temporaladverb) . . . . . 3.2.2.5 Lexem sein (Infinitiv) . . . . . . . . . . . 3.2.2.6 Lexem Weib . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.7 Lexem Wein . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.8 Lexem weiß . . . . . . . . . . . . . . . .

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51 51 54 54 57 57 61 63 65 67 70 73 78

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5

10

Inhaltsverzeichnis

3.3

3.4

3.5

3.6 4

3.2.2.9 Lexem weit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.10 Lexem Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diphthongierung von mhd. û . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Wandelprozesse innerhalb der einzelnen Lexeme . . . . . . . 3.3.2.1 Lexem Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Lexem laut (Adjektiv) . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3 Lexem lauter (Indefinitpronomen) . . . . . . . . 3.3.2.4 Lexem sauber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtanalysen zu mhd. î und û . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Real-Time-Gesamtvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Mhd. î . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2 Mhd. û . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Apparent-Time-Gesamtvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Mhd. î . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Mhd. û . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Interpolationen zu mhd. î und û . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität . Diphthongierung von mhd. iu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . 3.5.3.1 Lexem neun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.2 Lexem heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.3 Lexem Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.4 Lexem Zeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.5 Umlautformen Häuser, Häuschen und Mäuse . . 3.5.4 Gesamtanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.1 Real-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.2 Apparent-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . 3.5.4.3 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.4 Quantitative Verteilung der Ersatzlaute . . . . . 3.5.4.5 Morphologische Komplexität . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

DIE REALISIERUNG VON MHD. EI . . . . . . . . 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 4.3.1 Lexem Fleisch . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Lexeme Seife, Teig und Seil . . . . . 4.3.3 Lexem heim . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Lexem heiß (Adjektiv) . . . . . . . . . 4.3.5 Lexem heiß(en) (Verb) . . . . . . . . .

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82 84 88 88 90 90 96 98 101 104 105 105 112 114 114 116 118 120 125 125 127 128 128 134 141 143 146 149 150 153 153 155 157 158 161 161 163 165 165 171 176 184 188

11

Inhaltsverzeichnis

4.3.6

Lexem zwei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6.1 zwei + Bezugsnomen im Neutrum . . . . . . . . 4.3.6.2 zwei + Bezugsnomen im Maskulinum . . . . . . 4.3.6.3 zwei + Bezugsnomen im Femininum . . . . . . . 4.3.6.4 Gesamtanalyse zum Lexem zwei . . . . . . . . . Gesamtdarstellung der Wandelprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Real-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Apparent-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität . 4.4.5 Analogie mit mhd. î und iu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190 191 196 201 205 210 210 212 215 216 220 222

5

DIE REALISIERUNG VON MHD. OU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Lexem Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Lexem Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Lexem (ver)kaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Lexeme laufen und rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Gesamtanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich . . . . . . . . 5.4.2 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität . 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223 223 224 226 226 230 234 240 242 242 244 245 247

6

DIE SCHWÄBISCHE DIPHTHONGIERUNG . . . . . . . . . 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Diphthongierung von mhd. ô . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . 6.2.2.1 Lexem groß . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Lexem hoch . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.3 Lexem schon . . . . . . . . . . . . 6.2.2.4 Lexem Brot . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Zusammenfassende Analysen . . . . . . . . . . . 6.2.3.1 Real-Time-Vergleich . . . . . . . . 6.2.3.2 Apparent-Time-Vergleich . . . . . 6.3 Diphthongierung von mhd. ê . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . 6.3.2.1 Lexeme Schnee und weh . . . . . . 6.3.2.2 Lexem See . . . . . . . . . . . . .

249 249 251 251 252 252 255 258 262 264 264 264 267 268 268 268 271

4.4

4.5

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12

Inhaltsverzeichnis

6.4 6.5

6.3.3 Zusammenfassende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Interpolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

7

DIE REALISIERUNG VON MHD. Ë . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Lexem recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Lexem Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Lexem Wetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Lexem schlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 Lexem Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.6 Lexem Speck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.7 Lexem Blech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Real-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Apparent-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Lexikalische Diffusion und morphologische Komplexität 7.5 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe II . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Lexem Besen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Lexem Leben (Substantiv + Verb) . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Lexem lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Lexem Regen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.5 Lexem Leder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Apparent-Time-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.3 Lexikalische Diffusion und morphologische Komplexität 7.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277 277 280 282 282 285 289 292 295 297 299 299 301 304 306 307 310 310 314 316 318 320 320 322 322 324 326

8

DIE REALISIERUNG VON MHD. Â IM AUSLAUT 8.1 Einleitung und Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . 8.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . 8.2.1 Lexem blau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Lexem grau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Zusammenfassende Gesamtanalyse . . . . . . . .

. . . . . .

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. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

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329 329 332 332 336 339

9

DIE NEUHOCHDEUTSCHE MONOPHTHONGIERUNG 9.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Monophthongierung von mhd. uo . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

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. . . . .

343 343 344 344 345

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

Inhaltsverzeichnis

13

9.2.2.1 Lexem gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2.2 Lexem Bruder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2.3 Lexem Bube(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2.4 Lexeme Buch, Fuß und Schuh . . . . . . . . . . Monophthongierung von mhd. ie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . 9.3.2.1 Lexem lieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2.2 Lexem Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2.3 Lexem nie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2.4 Lexeme bieten, Lied und schließen . . . . . . . . Gesamtanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Zusammenfassende Apparent-Time-Vergleiche . . . . . . . . 9.4.2 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345 348 352 352 354 354 357 357 360 360 363 365 365 369 369 372

10 ENTRUNDUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Entrundung von mhd. iu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . 10.2.2.1 Lexem neun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2.2 Lexem heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2.3 Lexem Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2.4 Lexem Zeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2.5 Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse . . . . . 10.2.3 Zusammenfassende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Entrundung von mhd. ü . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . 10.3.2.1 Lexem über . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2.2 Lexeme Hütte, Schlüssel, Schüssel, schütteln, schütten und Stückchen . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Entrundung von mhd. oe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . 10.4.2.1 Lexem schön . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.2.2 Lexem böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Gesamtanalysen zur Entrundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.1 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.2 Quantitative Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373 373 375 375 376 376 380 383 386 388 388 392 393 394 394

9.3

9.4

9.5

396 398 398 399 399 401 401 401 404 407

14

Inhaltsverzeichnis

11 VOKALDEHNUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 11.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 11.2 Dehnung in offener Silbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 11.2.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 11.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen . . . . . . . . . . . 416 11.2.2.1 Lexem Ofen (+ Plural Öfen) . . . . . . . . . . . 416 11.2.2.2 Lexem geblieben . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 11.2.2.3 Lexem Boden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 11.2.2.4 Lexeme geschrieben, Laden (Substantiv), laden (Verb), Leben (Substantiv), leben (Verb), lesen und Räder . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 11.2.3 Gesamtanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 11.2.3.1 Real-Time- und Apparent-Time-Vergleich . . . . 427 11.2.3.2 Interpolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 11.2.3.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 11.3 Einsilblerdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 11.3.1 Datenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 11.3.2 Wandelprozesse in der Lexemgruppe A . . . . . . . . . . . . . 435 11.3.2.1 Lexeme Fisch, Tisch, Most, Mist und Kopf . . . 435 11.3.2.2 Lexeme Dach und Loch . . . . . . . . . . . . . 439 11.3.3 Wandelprozesse in der Lexemgruppe B . . . . . . . . . . . . . 441 11.3.3.1 Lexem bald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 11.3.3.2 Lexem Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 11.3.3.3 Lexem alt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 11.3.3.4 Lexem Stall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 11.3.3.5 Lexem Salz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 11.3.3.6 Lexem kalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 11.3.4 Lexem schwarz (Lexemgruppe C) . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 11.3.5 Gesamtanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 11.3.5.1 Apparent-Time-Vergleich zur Lexemgruppe B . . 464 11.3.5.2 Interpolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 11.3.5.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 11.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 12 STATISTISCHE AGGREGATANALYSEN . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Datenaufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1.1 Operationalisierung der Variable Variation . 12.2.1.2 Extraktion geeigneter Variationsgebiete . . 12.2.2 Das Gemischte Logistische Regressionsmodell . . . . 12.3 Isoglossenabstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.... .... .... .... . . . . . . .... ....

471 471 473 473 474 474 475 479

15

Inhaltsverzeichnis

12.3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3.1 Einige „einfache“ Analysen . . . . . . . . . . . 12.3.3.2 Analyse mit einem gemischten logistischen Regressionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.4 Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Morphologische Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.1 Morphologisch komplexe Wortformen vs. Simplizia . . . . 12.4.2 Ein Modell des standardinduzierten Lautwandels . . . . . . . 12.4.3 Die Rolle der Gebrauchsfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Innovative vs. konservative Dialektgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.3 Ergebnis und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Der Faktor Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6.1 Einleitung und theoretische Einbettung . . . . . . . . . . . . . 12.6.2 Ergebnisse und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7 Situative Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8 Rezenz-Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8.2 Theoretische Einbettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8.3 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8.5 Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . 12.9 Signifikanzhierarchie der Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479 480 482 483 488 494 496 496 498 502 506 506 507 509 512 513 513 515 517 518 518 519 520 522 529 530 532

13 RESÜMEE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.1 Isoglossenabstand: Ergebnisplots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.1.1 Durchschnittlicher Isoglossenabstand dialektferner und dialektnaher Tokens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.1.2 Korrelation von Isoglossenabstand der Quadranten und Anteil dialektnaher Tokens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.2 Rezenz: Ergebnisse der Chi-Quadrat-Tests . . . . . . . . . . . . . . A.3 Interpolationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 563 . . 563 . . 563 . . 566 . . 569 . . 572

1 ZUR UNTERSUCHUNG VON DIALEKTWANDEL 1.1 EINLEITUNG In der traditionellen Dialektologie werden Dialektgebiete häufig als homogene und nach außen durch klare Sprachscheiden (Isoglossen) abgegrenzte Einheiten verstanden. Der Faktor Raum wird dementsprechend als das entscheidende, wenn nicht einzige, Kriterium angesehen, das für Variation innerhalb einer Sprechergemeinschaft verantwortlich ist. Die Kartierungen des umfangreichsten dialektologischen Erhebungsprojekts des deutschen Sprachgebietes, W ENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, der nunmehr in einer vollständigen Online-Ausgabe als „Digitaler Wenker-Atlas“ (S CHMIDT / H ERRGEN 2001 ff.) vorliegt, machen dies besonders deutlich. Die in dieses Kartenwerk eingeflossenen lautlichen Dialektmerkmale sind in ihrer räumlichen Verbreitung in Form von Isoglossen-Flächenkarten dargestellt. Zwischen einzelnen Realisierungsgebieten werden also scharfe Grenzen gezogen, durch die eine sprachliche Variable kategorisch einem bestimmten Gebiet zugeordnet wird. Diese Zuordnung ist in neueren Regionalatlanten, wie beispielsweise dem „Südwestdeutschen Sprachatlas“ (S TEGER 1989–2011) sogar noch stärker ausgeprägt. Zwar werden hier die Dialektgrenzen nicht in Form von Isoglossen hervorgehoben, die verwendeten Punktsymbole lassen die in sich sehr homogenen Dialektgebiete sowie ihre Außengrenzen aber klar erkennen. Die Ursachen für die sprachlichen Unterschiede zwischen den Dialektgebieten wurden häufig in außerlinguistischen Merkmalen gesucht, die „Sprachlandschaften als Spiegelbilder der Geschichte“ ansehen (BACH 1950, 31) und auf einen Zusammenhang der identifizierten Isoglossen mit Territorien des Mittelalters oder noch älteren Stammesgrenzen hinweisen (vgl. N IEBAUM / M ACHA 1999, 77). Weiterhin stellen natürliche Grenzen, wie Flussläufe und Bergketten, häufig herangezogene Interpretationshilfen für die räumliche Verbreitung dialektaler Realisierungen dar. Gemäß W IESINGER (1994) war die Sichtweise auf das Wesen der Dialekte (im Sinne von Basisdialekten) innerhalb der Dialektologie bis in die ausgehenden 60er-Jahre relativ einheitlich. Da die dörflichen Gemeinschaften bis dahin nur in geringem Maße von gesellschaftlichen Wandelprozessen betroffen waren, blieb ihre Grundmundart erhalten und war nur geringfügigen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Als Gewährspersonen dienten im Sinne von C HAMBERS / T RUDGILL (2005) sogenannte NORMs und (in Analogie dazu) NORFs, idealerweise ältere Personen mit starker Bindung an das dörfliche Umfeld, die zudem über eine geringe Schulbildung verfügten. Sie sollten nach außen möglichst wenig Kontakt pflegen und bereits seit langem im entsprechenden Ort ansässig sein (vgl. hierzu auch L ÖFFLER 2003). Die Forderung nach der Einhaltung dieser Kriterien bei der Auswahl geeigneter Informanten stellt K RANZMAYER (1956) besonders deutlich heraus:

18

Zur Untersuchung von Dialektwandel

Schon seit drei Generationen wissen unsere Dialektforscher, daß bei Ihrer Forscherarbeit die Einheit der Maße des menschlichen Soziallebens eingehalten werden muß [...] Es ist notwendig, nur eine bestimmte Altersstufe auszuwählen [...] bei Erkundung von Sprachzuständen erstens zur Wahrung der zeitlichen Einheit nur die ältesten Leute als Gewährsleute heranzuziehen, zweitens zur Wahrung der räumlichen Einheit einzig und allein im Beobachtungsort selbst geborene und aufgewachsene Vertrauenspersonen auszuwählen und drittens, soweit erreichbar, nur Bauern zu Wort kommen zu lassen. (zitiert aus W IESINGER 1994, 6)

Aus dieser rigiden Forderung geht allerdings hervor, dass homogene Dialektzustände selbst unter Einhaltung aller für nötig gehaltenen Voraussetzungen um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nur schwer vorzufinden waren und nur durch eine vorherige Auswahlprozedur und durch wissensbasierte Erhebungsverfahren (als Artefakte) konstruiert werden konnten. Die sozialen Anforderungen an die Gewährspersonen gemäß der oben genannten Kriterien waren immer schwerer zu erfüllen, da sich im Laufe der Zeit ein Diasystem zwischen Dialekt und Standard herausgebildet hatte und, damit einhergehend, die alten Basisdialekte zunehmendem Abbau unterworfen waren. Die Notwendigkeit der Erhebung der ältesten noch fassbaren Basisdialekte wurde also offensichtlich, da diese womöglich nicht mehr lange vorhanden sein würden. Diese Erkenntnis mündete, größtenteils in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Initiierung einer Reihe von regionalen Sprachatlanten, die sich die Dokumentation und Konservierung der alten Basisdialekte zum Ziel machten. Einer dieser Sprachatlanten ist der „Südwestdeutsche Sprachatlas“ (S TEGER 1989–2011), dessen Erhebungsdaten wesentlicher Bestandteil der vorliegenden Studie sind. Weitere Kleinraumalatlanten, deren Bearbeitungszeit ebenfalls in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt, sind u. a. der „Vorarlberger Sprachatlas“ (G ABRIEL 1985–2007) und der „Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace“ (B EYER / M ATZEN 1969). In den 80er- und 90er-Jahren begannen die Arbeiten an den unterschiedlichen Regionalprojekten des „Bayerischen Sprachatlas“, zu denen beispielsweise der „Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben“ (K ÖNIG 1996– 2009) und der „Sprachatlas von Oberbayern“ (E ICHINGER 2005–2009) gehören. Für viele der Regionalatlanten diente der „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (H OTZENKÖCHERLE 1962–1997) in methodischer Hinsicht als Vorbild, da dessen Anfänge bereits in den 30er-Jahren liegen und die von H OTZENKÖCHERLE (1962) ausgearbeitete Methodologie von den Bearbeitern weiterer Kleinraumatlanten bereitwillig übernommen wurde.1 Die Erhebungsdaten der traditionellen Dialektologie sind nur in begrenztem Umfang repräsentativ für die in einer Ortschaft oder in einem Dialektgebiet gesprochene Sprachform. Durch die eindimensionale Herangehensweise handelt es sich bei den erhobenen Daten um Konstrukte, die mit der sprachlichen Wirklichkeit in den seltensten Fällen übereinstimmen. Die Suche nach den noch verbliebenen Basisdialektsprechern und die Elizitierung des ältesten noch fassbaren Dialekts belegt, dass wir es bei den von der klassischen Dialektologie geschaffenen Produkten mit 1

Für eine genauere Beschreibung der genannten sowie weiterer Groß- und Kleinraumatlanten bis 1989 siehe die Zusammenstellung von V EITH (1989).

1.1 Einleitung

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archaischen Artefakten zu tun haben.2 Einzige Ausnahme bildet im deutschsprachigen Raum der zweidimensionale „Mittelrheinische Sprachatlas“ (B ELLMANN / H ERRGEN / S CHMIDT 1994–2002), der neben der horizontalen (arealen) auch eine vertikale (soziale) Dimension in die Dokumentation und Beschreibung von Dialekten integriert. Seine zweidimensionale Anlage erlaubt nicht nur die Gegenüberstellung sprachgeografischer Unterschiede, sondern differenziert weiter nach konservativen und modernen Sprechergruppen.3 Stellt man sich nun die Frage nach Dialektwandelprozessen, so können diese beispielsweise durch die synchrone Analyse von eindimensional erhobenen Sprachdaten ermittelt werden (vgl. für einen frühen Ansatz F RINGS 1913). Sie erfolgt als Interpretation der Variation innerhalb von Dialektkarten, die aber, wie bereits erwähnt, nur geringfügig oder gar nicht in den Kartenbildern vorzufinden ist. Durch die Veröffentlichung des „Digitalen Wenker-Atlas“ (S CHMIDT / H ERRGEN 2001 ff.), in dem sämtliche Ergebniskarten von W ENKERS Erhebungen (sowie digitalisierte Karten weiterer Sprachatlasprojekte) online zugänglich sind, ist es möglich, durch Vergleiche der Karten W ENKERS mit einem jüngeren Regionalatlas Lautwandelprozesse in einem Zeitraum von ca. hundert Jahren in Echtzeit (Real-Time) zu analysieren.4 In der vorliegenden Arbeit wird ein solcher Vergleich vorgenommen, wobei als jüngeres Vergleichskorpus der „Südwestdeutsche Sprachatlas“ (SSA) dient. Ein Vergleich der beiden Kartenwerke ist aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden nicht immer unproblematisch (vgl. hierzu Kapitel 2.3.1), doch können Isoglossenvergleiche in vielen Fällen Hinweise darauf geben, in welche Richtung sich ein Lautwandelprozess bewegt und durch welche Faktoren dieser bedingt ist. Neben den genannten, auf der Grundlage von Dialektabfrage entstandenen, Kartenwerken sind aus den Erhebungen des SSA weiterhin 282 Tonbandaufnahmen mit ungezwungenen Gesprächen, meist zwischen Gewährspersonen und Exploratoren, vorhanden, die für die Beschreibung von Lautwandelprozessen von besonders hohem Wert sind. Sie ermöglichen im zweiten Schritt der Analyse einen Vergleich in der scheinbaren Zeit (Apparent-Time) mit den wissensbasierten Daten aus den Kartenbildern des SSA. Man geht hierbei davon aus, dass in der Spontansprache in der Regel eine neuere, stärker variierende Form des Dialekts gesprochen wird als diejenige, die in der Abfragesituation elizitiert wurde (vgl. AUER 2010a; C HAMBERS 2003, Kap. 1). Im Korpus der spontansprachlichen Daten ist demnach eine höhere Variation zu erwarten als in den Kartenbildern W ENKERS und des SSA, was sie wiederum für eine quantitative Analyse von Lautwandel besonders nutzbar 2

3 4

Die Erfassung des tatsächlichen Sprachgebrauchs war auch nicht erklärtes Ziel der diversen Atlasprojekte, weswegen die hier formulierten Aussagen nicht als Kritik an deren verdienstvoller Arbeit gewertet werden dürfen. Es steht außer Frage, dass die Dokumentation des ältesten noch greifbaren Dialektwissens von hohem, kulturhistorischem Wert ist. Für eine Projektbeschreibung zum „Mittelrheinischen Sprachatlas“ vgl. B ELLMANN / H ERR GEN / S CHMIDT (1989). Die Vergleiche der Karten W ENKERS mit denjenigen jüngerer Regionalatlanten wären natürlich auch vorher schon möglich gewesen. Allerdings hätte der manuelle Vergleich der großformatigen Kartenbögen, die zudem in unterschiedlichen Maßstäben vorliegen, gravierende praktische Probleme mit sich gebracht.

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Zur Untersuchung von Dialektwandel

macht. Zwar sind auch die spontansprachlichen Daten nicht ganz unproblematisch, da sie zumeist in Anwesenheit eines den Gewährspersonen fremden Explorators entstanden sind. Doch wurde bei der Auswahl der Aufnahmen darauf geachtet, dass nur solche Gesprächsteile in das spontansprachliche Korpus aufgenommen wurden, in denen von einer möglichst geringen Beeinflussung der Informanten durch die Exploratoren ausgegangen werden kann (vgl. hierzu Kapitel 2.3.4). Auf dem Gebiet der Dialektologie sind bis heute zahlreiche Arbeiten erschienen, die Lautwandelprozesse größtenteils in einem sich horizontal erstreckenden Dialektkontinuum beschreiben und erklären (vgl. u. a. BAUR 1967, R AMGE 1982, RUOFF 1992, S EIDELMANN 1983; 1999). Vernachlässigt wird hierbei häufig, dass sich die sprachliche Wirklichkeit spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert grundlegend verändert hat. Sprachkontakt findet nicht mehr nur zwischen den miteinander benachbarten Dialekten statt, sondern hinzu tritt der vertikale Einfluss der Standardsprache bzw. ihr nahestehender, dialektal gefärbter Sprechweisen, die häufig als „regionale Standards“ (regional standards) bezeichnet werden (vgl. AUER 2005, 22). Das Ziel dieses einleitenden Kapitels besteht darin, zunächst den Stand der Forschung auf dem Gebiet des phonologischen Dialektwandels im deutschsprachigen Gebiet vorzustellen und die vorliegende Arbeit im Umfeld bereits durchgeführter Untersuchungen einzuordnen. Hierfür sollen methodische Ansätze der Dialektologie, mit denen bislang versucht wurde Dialektwandel zu beschreiben und zu erklären, skizziert und kritisch diskutiert werden. Im darauf folgenden Kapitel 2 werden die wichtigsten Fragestellungen beschrieben, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, und im Anschluss die Methodik und das Datenkorpus vorgestellt, das zur Klärung der formulierten Fragestellungen herangezogen wurde.

1.2 STAND DER FORSCHUNG Für die Frage nach Dialektwandel ist das konkrete Verhältnis von Dialekten zur Standardvarietät zentral, da es in fast allen europäischen Dialekt-Standard-Repertoires im 20. Jahrhundert zu tiefgreifenden Veränderungen kam (vgl. AUER 2005). Die alten diglossischen Konstellationen sind bis auf wenige Ausnahmen verschwunden und in diaglossische Repertoires übergegangen (vgl. B ELLMANN 1983; M ATT HEIER 1996; S CHMIDT 1998; A MMON 2003). Charakteristisch hierbei ist das Verschwinden von Basisdialekten, an deren Stelle Regiolekte treten (vgl. S CHMIDT / H ERRGEN 2011). Für Südwestdeutschland ist die Entstehung von Regiolekten und Standard-Dialekt-Kontinua typisch (vgl. JAKOB 1985, 28–32; D ÜRRSCHMIDT 2001, 16–17). Obwohl diese Entwicklung allgemein bekannt ist, fehlen bislang systematische areallinguistische Untersuchungen zur Entwicklung der Basisdialekte, gerade im südwestdeutschen Sprachraum. Nur für das Erhebungsgebiet des bereits erwähnten „Mittelrheinischen Sprachatlas“ (B ELLMANN / H ERRGEN / S CHMIDT 1994–2002) liegt eine bereits abgeschlossene, flächendeckend durchgeführte Untersuchung vor, in der auf phonetisch-phonologischer Basis versucht wurde, vertikale Dialektalitätskontraste im Raum zu quantifizieren, d. h. sprachgeografische

1.2 Stand der Forschung

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und soziolinguistische Faktoren (Alter) zu verknüpfen. Aus der Auswertung der Erhebungsdaten gehen gemäß H ERRGEN / S CHMIDT (1989) und S CHMIDT (1992) folgende Hauptergebnisse hervor: Dialektale Reliktformen werden vornehmlich am Rand dialektaler Teilareale ersetzt. Innerhalb bestehender Reliktgebiete erweisen sich vor allem solche Lautformen als stabil, die sich besonders von der Standardform unterscheiden. Weiterhin weisen die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die Richtung des dialektalen Wandels vor allem von der Standardsprache bestimmt wird und eine allgemeine Tendenz zum großräumigen Ausgleich zwischen dialektalen Formen besteht. Im Unterschied zu den Basisdialekten erfährt die Untersuchung von Sprachwandelprozessen in Regiolekten und überregionalen Sprechweisen im südwestdeutschen Sprachraum jüngst höhere Aufmerksamkeit. Zu nennen ist hierbei besonders die Arbeit von S PIEKERMANN (2008), in der sich der Autor der Frage nach den phonologischen Besonderheiten der in Baden-Württemberg gesprochenen Standardsprache(n) widmet. Darüber hinaus ist das an der Universität Freiburg beheimatete Projekt „REDI (Regionaldialekte im alemannischen Dreiländereck)“ zu erwähnen. Ziel des Projektes ist es die Stratifizierung von regionalen Sprechweisen auf der Grundlage von soziolinguistisch ausdifferenzierten Erhebungsdaten aus objektiver und subjektiver (laienlinguistischer) Perspektive zu erfassen.5 Schließlich ist das im Jahr 2008 angelaufene Forschungsprojekt „REDE (Regionalsprache.de)“ zu erwähnen, das sich einerseits zum Ziel gesetzt hat, die sprachgeografische Ausprägung der standardnächsten Sprechlagen in den verschiedenen Dialektregionen der Bundesrepublik Deutschland zu erheben und andererseits das Variationsspektrum zwischen den jeweiligen Dialekten und der Standardsprache zu analysieren. K EHREIN (2012) legte hierzu jüngst seine in diesem Kontext entstandenen Forschungsergebnisse zur „linguistischen Struktur der Vertikale“ vor.6 In weiteren Forschungsarbeiten, die sich mit Dialektwandel in der jüngsten Vergangenheit beschäftigt haben, beschränkt sich die Untersuchung häufig auf nur wenige phonologische Variablen. Zu nennen sind hierbei u. a. die Untersuchungen von H ERRGEN (1986) zur Ausbreitung der mitteldeutschen ch-Koronalisierung oder die Analyse von S CHRAMBKE (1983) zu den Veränderungen im Vokalsystem der mittelbadischen Dialekte durch die mittelhochdeutschen Gleitlaute j, w und g. Andere Untersuchungen zum Dialektwandel integrieren zwar eine große Anzahl von sprachlichen Variablen, beschränken sich in ihrer Anlage aber auf einen relativ kleinen geografischen Raum. Die Lage der ausgewählten Untersuchungsräume ist dabei nicht willkürlich, sondern häufig im Grenzgebiet zwischen zwei traditionellen Dialektgruppen positioniert. Durch die hier aufeinandertreffenden Varianten der beiden Dialektgebiete ist natürlich eher mit Lautwandelprozessen zu rechnen als im zentralen, homogenen Bereich. Im Folgenden sollen einige dieser Untersuchungen kurz umrissen werden. 5

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Eine kurze Beschreibung des Projektes ist in S TOECKLE (2010) enthalten. Die vollständigen Ergebnisse der Studie sind den Arbeiten von S TOECKLE (2014) und H ANSEN (i. V.) zu entnehmen. Eine Skizzierung des Projektes findet sich u. a. in K EHREIN (2008) sowie auf der ProjektHomepage (08.02.2014).

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Zur Untersuchung von Dialektwandel

R AMGE (1982) führte im Rahmen seiner Untersuchung zum Dialektwandel im Saarland auf phonologisch-morphologischer Ebene in Anlehnung an die W EN KER sche Übersetzungsmethode in 98 Ortschaften Neuerhebungen durch. Als Informanten dienten ortsansässige Personen beiden Geschlechts, die der älteren, mittleren und jüngeren Generation angehörten. Mittels der Erhebungsmethode, die W EN KER erstmals eingesetzt hatte, sollte die Vergleichbarkeit der Daten mit den etwa 100 Jahre älteren Erhebungsergebnissen W ENKERS gewährleisten werden. Hauptergebnis dieses Echtzeit-Vergleichs war, dass nur geringfügige Veränderungen festgestellt werden konnten und keine Tendenzen zu Dialektausgleich nachweisbar waren. Allerdings konnte eine, wenn auch nur geringe, Verschiebungstendenz der Isoglossen nach Norden festgestellt werden, was vom Autor auf den kulturellen Einfluss Saarbrückens zurückgeführt wurde. Alle analysierten sprachlichen Variablen waren zum Zeitpunkt der Zweiterhebung noch im Repertoire der Gewährspersonen vorhanden. Eine weitere Untersuchung zu Wandelprozessen im Grenzgebiet zwischen zwei Dialekten wurde von RUOFF (1992) zusammen mit einer Gruppe von Studierenden entlang der etwa 250 Kilometer langen und bis zu 100 Kilometer tiefen alemannischfränkischen Dialektgrenze durchgeführt. Die Erhebung konzentrierte sich auf phonologische und morphologische Erscheinungen und wurde durch kompetenzbezogene Abfrage einer Wortliste mit ortsfesten Dialektsprechern unterschiedlichen Geschlechts und Alters durchgeführt. Als Ergebnis dieser Studie wurde im Grunde festgestellt, dass sich in den Übergangsgebieten weder das Fränkische noch das Alemannische durchsetzt. Vielmehr werden „instabile“ Formen häufig durch die standardsprachliche Realisierung ersetzt. Geografische Faktoren, wie z. B. Verkehrswege und politische Grenzen, werden also vornehmlich als dominierende Determinante für die Konstitution von Dialektgrenzen angesehen, soziolinguistische Aspekte als potenzielle Einflussgrößen dagegen abgelehnt. Interessant ist die genauere Untersuchung eines Teilgebietes der Grenzzone entlang des Neckars um Heilbronn. Hierfür konnten die Ergebnisse einer Erhebung von VON K ELLER (1855) in Form eines Echtzeitvergleichs in die Untersuchung einbezogen und mit den neuen Erhebungen verglichen werden. Als Hauptergebnisse des Vergleichs sind das tendenzielle Auseinanderdriften der schwäbisch-fränkischen Dialektgrenze innerhalb der letzten 130 Jahre und die Ersetzung von autochthon dialektalen „Mischlautungen“ im Interferenzgebiet durch standardsprachliche Lautungen anzusehen. TATZREITER (1992) analysiert in seiner Arbeit den dialektalen Wandel im Obermurgebiet (Steiermark) anhand eines Vergleichs von zwei Kartensätzen, deren Erhebungsdaten ca. 50 Jahre auseinander liegen und auf wissensbasierter Dialektabfrage beruhen. Die Daten der ersten Erhebung stammen aus dem Jahr 1931 (von Eberhard Kranzmayer erhoben), die Daten der zweiten Erhebungen wurden vom Autor selbst elizitiert. Im Vordergrund des Interesses standen vor allem lautliche sowie morphologische und lexikalische Erscheinungen. Bezüglich der lautlichen Wandelprozesse konnte Tatzreiter feststellen, dass es bei verschiedenen Formen sowohl zu Grenzverschiebungen nach Osten als auch nach Westen kommt, wobei häufig Grenzversteifungen entlang der Landesgrenze Steiermark-Salzburg auftreten, politische und linguistische Grenzen also zunehmend zusammenfallen. Besonders

1.2 Stand der Forschung

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interessant sind weiterhin die Ergebnisse der lexikalischen Wandelprozesse: Diese zeigen die Verdrängung von dialektalen durch standardsprachliche Benennungen. D ÜRRSCHMIDT (2001) untersucht anhand der Dialekte im fränkisch-bairischen Interferenzgebiet (südlicher Bayreuther Raum), ob sich Dialektwandel vom Basisdialekt hin zu standardsprachlichen Varietäten vollzieht oder ob es auch alternative Entwicklungswege gibt. Die Untersuchung wurde auf der Grundlage von Interviews mit 80 Gewährspersonen durchgeführt, wobei besonders phonologische Wandelerscheinungen im Vordergrund stehen. Aus den Ergebnissen gehen deutliche Ersetzungstendenzen durch standardnahe Formen hervor, sowohl im fränkischen als auch im bairischen Teil des Untersuchungsgebiets. Weiterhin stellt die Autorin fest, dass Dialektwandel insbesondere im Zentrum des Untersuchungsgebietes auftritt, also dort, wo die meisten Sprachscheiden verlaufen. In größerer Entfernung von den Isoglossen, wo keine Übergangs- oder Mischdialekte vorliegen, geht der Dialektwandel hingegen langsamer vonstatten. Neben den beschriebenen arealen Untersuchungen existiert eine ganze Reihe von Analysen zu Wandelprozessen in nicht (bzw. kaum) geografisch ausgedehnten städtischen Innovationszentren. Zu erwähnen sind hier u. a. die Untersuchungen von H OFER (1997) und L EUENBERGER (2000), deren Ergebnisse darauf hinweisen, dass sich der Basler Dialekt in einem moderaten Wandel befindet, sich dabei aber lautlich nach größeren Dialektarealen der Schweiz richtet und nicht etwa nach einer standardnahen Varietät. Gleichzeitig breiten sich Basler Dialektmerkmale über die Stadtgrenzen hinweg in das Umland aus. Die Ausstrahlung städtischer Variablen in die angrenzenden Gebiete stellt auch R ENN (1994) in seiner Untersuchung zum Augsburger Stadtdialekt fest. Ebenso hebt BAUER (2003) bezüglich der von ihm beobachteten Dialektwandelprozesse im südlichen Nürnberger Raum die Bedeutung der Stadt Nürnberg als primäres Innovationszentrum für das südliche Umland hervor. Die beschriebenen Untersuchungen machen deutlich, dass bislang eine umfassende Analyse von Lautwandelprozessen fehlt, die (1) sowohl einen großen geografischen Raum abdeckt als auch (2) die horizontal und vertikal wirkende Wandelkomponente einbezieht und (3) neben den wissensbasierten Erhebungsdaten auch spontansprachliche Daten in großem Umfang berücksichtigt. Nichtsdestotrotz stellen die soeben besprochenen Untersuchungen Ergebnisse bereit, die für die vorliegende Arbeit wichtige Anknüpfungspunkte für eigene Fragestellungen darstellen. Besonders der Einfluss von standardnahen Varietäten auf den Wandel der Basisdialekte ging aus den beschriebenen Forschungsprojekten wiederholt hervor, weswegen diesem Faktor in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit zuteil werden wird. Bevor wir aber zur konkreten Beschreibung der Fragestellungen und Methodik dieser Arbeit kommen, soll ein Abriss zweier wichtiger Methodologien erfolgen, die bei der Analyse von Dialektwandel häufig eingesetzt werden und auch für die vorliegende Studie eine wichtige Grundlage bilden.

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Zur Untersuchung von Dialektwandel

1.3 METHODISCHE ANSÄTZE DER DIALEKTWANDELFORSCHUNG Wie aus der vorhergehenden Beschreibung von Untersuchungen zum Dialektwandel hervorgegangen ist, werden in der Sprachwissenschaft unterschiedliche Methoden zur Beschreibung und Erklärung der stattfindenden Wandelprozesse verwendet. Oftmals basieren diese auf der Dialektkompetenz der Gewährspersonen, die anhand von Fragebüchern oder Wortlisten elizitiert wird. Andererseits werden im freien Gespräch geäußerte spontansprachliche Tokens zur Analyse von Dialektwandelprozessen herangezogen. Weiterhin kann zur Ermittlung von Sprachwandel entweder ein Vergleich von Datensätzen in der tatsächlichen Zeit (Real-Time-Vergleich) vorgenommen werden, bei dem ältere Daten mit neueren verglichen werden, oder es wird in der scheinbaren Zeit (Apparent-Time-Vergleich) argumentiert, wobei hier die Datensätze zeitlich nicht oder nur geringfügig auseinanderliegen. Diese beiden methodischen Ansätze, nämlich Vergleiche von Wissen vs. Praxis sowie Vergleiche in Real-Time vs. Apparent-Time, sollen im Folgenden näher betrachtet werden.7

1.3.1 Wissen vs. Praxis Zur Beschreibung von Dialektwandel kann zunächst zwischen kompetenzbezogenen (Wissen) und produktionsbezogenen (Praxis) Methodologien unterschieden werden. Beim ersten Verfahren werden durch gezielte Befragungen die sprachlichen Kompetenzen und auf Introspektion beruhende Urteile der Gewährspersonen erhoben. Der Zugriff auf die im Langzeitgedächtnis vorhandenen sprachlichen Wissensbestände gleicht dabei dem Zugriff auf explizites sprachliches Wissen. Dieses Verfahren wird in der traditionellen Dialektologie eingesetzt und erhebt das sprachliche Wissen auf der Grundlage von Fragebögen oder Fragebüchern, in denen die Gewährspersonen beispielsweise per Multiple Choice die Richtigkeit vorgegebener sprachlicher Tokens beurteilen oder Übersetzungs- und Ergänzungsaufgaben vornehmen. Diese Herangehensweise wird auch in neueren Untersuchungen angewandt, wie beispielsweise in den jüngeren Teilprojekten des „Bayerischen Sprachatlas“ und im Bereich der Dialektsyntax. Hier ist insbesondere der „Syntaktische Atlas der Deutschen Schweiz“ zu nennen (vgl. G LASER 2006). Im Gegensatz zu den eben besprochenen kompetenzbezogenen Daten entspringen produktionsbezogene Daten dem spontanen Sprachproduktionsprozess, in dessen Verlauf innerhalb kürzester Zeit die kognitive Äußerungsbasis in eine sprachliche Form gebracht und artikuliert wird (vgl. L EVELT 1989). Hinzu kommt, dass es sich bei den spontansprachlichen Daten um einen fortlaufenden Redefluss handelt, während dessen der Sprecher die zusätzliche Leistung vollbringt, komplexe Sachverhalte in eine eindimensionale Redesequenz zu transferieren. Die kognitiven Bereiche, die zur Generierung von spontan produzierter Sprache aktiviert werden, 7

Eine ausführliche Darstellung der Vergleichsebenen Real-Time und Apparent-Time liefert BAI LEY (2008). Außerdem ist, im Hinblick auf des Senslerdeutsche (CH), auch H AAS (1999) zu erwähnen.

1.3 Methodische Ansätze der Dialektwandelforschung

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sind also offensichtlich mit denjenigen, die sprachliches Wissen abrufen, nicht identisch. Die Erhebung und Analyse von spontansprachlichen Daten ist besonders in der variationslinguistischen Forschung in Form der sogenannten soziolinguistischen Interviews zu finden. Die Daten werden entsprechend der Fragestellung annotiert und quantitativ ausgewertet. Man versucht dabei, das Vorkommen bestimmter Varianten einer Variable (abhängige Variable) in einen systematischen Zusammenhang mit außersprachlichen Merkmalen (unabhängige Variablen) zu bringen und diesen Zusammenhang auf statistische Signifikanz zu prüfen. Als abhängige Variable könnte beispielsweise eine bestimmte dialektale Realisierung gelten, deren Auftreten vom Geschlecht der Informanten (unabhängige Variable) abhängt. Da sowohl wissens- als auch produktionsbezogene Methodologien Vor- und Nachteile haben können, werden sie in einigen (wenigen) Studien kombiniert. So werden beispielsweise textbasierte variationslinguistische Ergebnisse mit älteren Fragebucherhebungen verglichen, wie sie etwa im Rahmen von Sprachatlanten oder Ortsgrammatiken entstanden sind. Solche Herangehensweisen finden sich u. a. in den Untersuchungen von C HRISTEN (1998) oder S IEBENHAAR (2000). Man geht hierbei davon aus, dass die Erhebungsdaten konservativer sind als die (schriftlichen) Produktionsdaten, besonders weil im Rahmen dialektologischer Befragungen eine Tendenz zur Archaisierung besteht (vgl. AUER 2010a). Auch S CHWARZ (2009) bezieht in seine dialektsyntaktische Untersuchung zum Gebrauch von periphrastischem tun im Bodenseealemannischen eine Kombination von kompetenzund produktionsbezogenen Daten ein. In der vorliegenden Arbeit werden ebenfalls kompetenz- und produktionsbasierte Datensätze miteinander kombiniert.

1.3.2 Real-Time vs. Apparent-Time Hat man bei der Untersuchung von Sprachwandel die Wahl zwischen einem RealTime- und einem Apparent-Time-Vergleich, so erscheint es zunächst plausibel, den ersten Ansatz vorzuziehen. Der Grund dafür liegt darin, dass zwei Sprachzustände unterschiedlicher Zeitstufen, zwischen denen „echte“ Zeit vergangen ist, einander gegenüberstellt werden. Das Ergebnis des Vergleichs ist folglich tatsächlicher Sprachwandel, der in der entsprechenden Zeitspanne stattgefunden hat. Problematisch bei diesem Verfahren ist allerdings die oftmals unzureichende oder gar schlichtweg nicht vorhandene Datengrundlage, gerade wenn es darum geht einen größeren geografischen Raum abzudecken. Weiterhin können sich methodische Probleme ergeben, die auf die unterschiedliche Erhebungsweise der Daten zurückgehen. Wie in den Analysen der vorliegenden Arbeit wiederholt gezeigt werden wird, erschwert gerade dieser Aspekt oftmals die Interpretation der Real-TimeVergleiche. Trotz des Problems der oft fehlenden Vergleichsbasis, existiert allerdings eine ganze Reihe von Untersuchungen, die in Real-Time durchgeführt worden sind. Mit Bezug auf das deutsche Sprachgebiet sind dies einige der bereits im vorhergehenden Kapitel 1.2 erwähnten Studien, so R AMGE (1982) zum Dialektwandel entlang des Isoglossenbündels zwischen nord- und südsaarländischen Dialek-

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Zur Untersuchung von Dialektwandel

ten, RUOFF (1992) zur alemannisch-fränkischen Dialektgrenze sowie TATZREITER (1992) zu Wandelprozessen im steirischen Obermurtal. Darüber hinaus existieren weitere Untersuchungen, wie beispielsweise die Studie von K REYMANN (1994), in der der Autor im Rahmen des „Erp-Projektes“ (vgl. B ESCH 1981) erhobene Daten mit eigenen Nacherhebungen vergleicht. Weiterhin ist die Arbeit von L ENZ (2003) zu nennen, in der Erhebungsdaten W ENKERS mit selbst erhobenen Daten aus der Kleinstadtregion Wittlich (Eifel) verglichen werden. Eine diachrone Analyse der Wandelprozesse von mittelschwäbischen Brechungen führten S CHRAMBKE / N ÜB LING (2006) durch. Eine Real-Time-Untersuchung, die das Verbreitungsgebiet der hochdeutschen Dialekte abdeckt und sich auf morphologische Wandelprozesse konzentriert, wurde von R ABANUS (2008) vorgelegt. Die Studie von C HRISTEN (2004) kann ebenfalls als Vergleich in Real-Time gewertet werden. Die Autorin stellt darin die Dialektalität junger Sprecher aus der deutschsprachigen Schweiz älteren Daten des „Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS)“ kontrastiv gegenüber. Im Ergebnis erhält sie einen ausgesprochen konservativen Sprachstand der Jugendlichen, der mit den älteren Atlasdaten annähernd identisch ist. Schließlich sind noch Analysen zum standardnahen Variationsspektrum zu erwähnen, die in Real-Time durchgeführt worden sind. Hierzu gehören beispielsweise die Analysen von L AMELI (2004) für Mainz und Neumünster sowie die Studie von S PIEKERMANN (2008) für BadenWürttemberg. Wie bereits erwähnt, besteht beim Vergleich in der tatsächlichen Zeit oftmals das Problem der fehlenden Vergleichsdaten. Aus diesem Grund werden in soziodialektologischen Forschungen zumeist Vergleiche in der scheinbaren Zeit angestellt. Aussagen zu Dialektwandelprozessen bei synchron erhobenen Daten können durch Gegenüberstellung verschiedener Datentypen gemacht werden, wie beispielsweise durch den Vergleich von Sprechergruppen mit unterschiedlichen soziolinguistischen Merkmalen (männlich vs. weiblich, Mittelschicht vs. Oberschicht, alt vs. jung, etc.).8 Diese Herangehensweise wird beispielweise in der Untersuchung von B IGLER (1979) zum Mundartwandel im mittleren Aargau verfolgt, in der er die Ortsansässigkeit (alteingesessen, eingesessen, zugezogen) und das Alter (jüngere, mittlere, ältere Generation) der Informanten variiert. Die Ergebnisse der bereits erwähnten Untersuchungen von H ERRGEN / S CHMIDT (1989) und S CHMIDT (1992) beruhen auf der Datengrundlage des Mittelrheinischen Sprachatlas und basieren auf dem Vergleich der darin enthaltenen unterschiedlichen Altersgruppen. Auch die Untersuchung von R ENN (1994) zum Dialektwandel im Raum Augsburg gründet methodisch auf einem Untersuchungsansatz in Apparent-Time, bei dem Informanten unterschiedlichen Alters untersucht wurden und außerdem der Aspekt der Eigenund Fremdeinschätzung der Dialektkompetenz im Vordergrund steht. Weiterhin zu erwähnen ist B ERROTH (2001) mit ihrer Analyse der altersbedingten Variation im mittelschwäbischen Dialekt von Ruppertshofen sowie D ÜRRSCHMIDT (2001), die 8

Für eine Erläuterung einiger wichtiger soziolinguistischer Merkmale siehe u. a. die umfassende Darstellung Labovs (2001) sowie die Diskussion der drei soziolinguistischen Hauptfaktoren „soziale Klasse“, „Geschlecht“ und „Alter“ in C HAMBERS (2008). Eine gezielte Beschreibung einzelner Faktoren geben A SH (2008) (soziale Schicht), C HESHIRE (2008) und ROMAINE (2005) (Geschlecht) sowie S CHILLING -E STES (2008) (Stil).

1.3 Methodische Ansätze der Dialektwandelforschung

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auf der Grundlage von Interviews mit 76 Gewährspersonen aus 37 Ortschaften im fränkisch-bairischen Kontaktraum Dialektwandel untersucht hat; die Informanten entstammen zwei Altersgenerationen: 10–20 Jahre und älter als 60 Jahre. Die Untersuchung von BAUER (2003) gründet auf einem Apparent-Time-Vergleich im südlichen Umland von Nürnberg. Hierfür wurde ebenfalls die Variable Alter variiert, wobei die ältere Generation aus Grundmundartsprechern besteht, die jüngere hingegen aus Sprechern beliebiger umgangssprachiger Varietäten. Schließlich seien die Ergebnisse von L ENZ (2003) zur Wittlicher Region (Eifel) erwähnt, die auf dem Vergleich verschiedener Erhebungssituationen beruhen. In Bezug auf die vorliegende Studie ist die Beschreibung von Dialektwandel auf der Grundlage einer Apparent-Time-Hypothese lediglich durch einen Vergleich der unterschiedlichen Entstehungsweisen der Daten möglich: wissensbasiert vs. spontan. Der vorliegende Ansatz ähnelt damit der Vorgehensweise von Labov, der Lautwandel durch den Vergleich unterschiedlicher Stile untersuchte (vgl. L ABOV 1972, 79–85). Da es sich bei den Gewährspersonen dieser Arbeit ausschließlich um NORMs und NORFs handelt, kann zur Untersuchung von Dialektwandel die Methode des Vergleichs sozial ausdifferenzierter Datensätze nicht herangezogen werden, da die sozialen Größen größtenteils stabil gehaltenen sind (einzige Ausnahme bildet der Faktor Geschlecht, der in Kapitel 12.6 näher untersucht wird). Bei Apparent-Time-Vergleichen kann das sogenannte age grading problematisch sein. Hinter diesem Terminus, der auf H OCKETT (1950) zurückgeht und später von L ABOV (1994, 46) in der Variationslinguistik verwendet wurde, steckt die Erkenntnis, dass Sprecher im Laufe ihres Lebens ihre individuelle Sprechweise verändern. Dies ist ein generell feststellbarer Prozess, der sich unabhängig von den allgemein stattfindenden gesellschaftlichen Sprachwandelprozessen vollzieht. Folglich sind Vergleiche in Apparent-Time, bei denen Unterschiede zwischen Sprechern unterschiedlichen Alters vorgefunden werden, möglicherweise nicht als allgemein stattfindender Sprachwandel interpretierbar. Weitere Untersuchungen zur Stabilität der Sprecherweise während der sprachlichen Ontogenese bestätigten das Vorhandensein von age grading, allerdings ergaben die Analysen auch, dass diese Erscheinung vor allem vor dem frühen Erwachsenenalter in deutlicher Weise auftritt und dann rapide absinkt. Im Erwachsenenalter scheint sich der Idiolekt der Sprecher nur noch geringfügig zu verändern (BAILEY 2008, 320–321). Um die angesprochenen Probleme von Real-Time- und Apparent-Time-Vergleichen besser in den Griff zu bekommen, werden die beiden Verfahren in einigen Studien kombiniert. Beispiele sind AUER (1990) zum Konstanzer Stadtdialekt, H OFER (1997) zum Sprachwandel im Baseldeutschen, H AAS (1999) zum Senslerdeutschen im Kanton Freiburg sowie S IEBENHAAR (2000) zu Variation und Wandel im Dialekt der Stadt Aarau. In der vorliegenden Arbeit wird zur Beschreibung von Lautwandel ebenfalls eine Kombination aus Real-Time- und Apparent-TimeVergleich gewählt.

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Zur Untersuchung von Dialektwandel

1.3.3 Vergleich von Isoglossenverläufen Eine weitere Herangehensweise zur Beschreibung von Wandelprozessen in Apparent-Time besteht in der Dialektologie aus der Interpretation von synchron erhobenen Isoglossenverläufen. Eine solche Herangehensweise wurde beispielsweise von N ÜBLING / S CHRAMBKE (2004) auf der Grundlage des „Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA)“ und des „Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS)“ verfolgt. K LAUSMANN (2000) stellt in seiner Untersuchung die dialektalen Situationen im links- und rechtsrheinischen Oberrheingebiet gegenüber und erhält im Ergebnis deutliche Entwicklungsunterschiede mit einer klaren Divergenz der jeweiligen Dialekte. Für Südwestdeutschland sind weiterhin die Untersuchungen von S CHRAMB KE (1988; 1997) zu nennen, in denen die Autorin Dialektwandelprozesse in der Ortenau und im alemannischen Dreiländereck (Südwestbaden, Oberelsaß, Nordwestschweiz) beschreibt. In der vorliegenden Untersuchung sollen ebenfalls Aussagen zum Lautwandel auf der Grundlage von Isoglossenvergleichen gemacht werden. Da die synchron erhobenen Daten wort- und satzweise abgefragt wurden, können Isoglossenverläufe unterschiedlicher lexikalischer Kontexte innerhalb einer etymologischen Klasse verglichen werden. Bei sehr uneinheitlichen Verläufen ist dies ein Hinweis für Instabilität und Lautwandelprozesse im entsprechenden Gebiet, und zudem für eine lexikalische Steuerung des Lautwandels. Im Real-Time- und Apparent-Time-Vergleich kann weiterhin überprüft werden, ob sich dieser Hinweis bestätigt und ein tatsächlicher Lautwandel vorliegt.

2 ZIELE, FRAGESTELLUNGEN UND METHODIK Nachdem sich die bisherigen Erläuterungen in erster Linie auf den Untersuchungsgegenstand, den Forschungsstand sowie auf methodische Aspekte des Dialektwandels im Allgemeinen bezogen, werden sich die folgenden Ausführungen konkret auf die vorliegende Arbeit konzentrieren. In diesem Zusammenhang werden zunächst die wichtigsten Ziele der Arbeit genannt und eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands vorgenommen. Daraufhin werden die Fragestellungen und die Motivation dieser Untersuchung ausführlich erläutert. Schließlich wird auf die Methodik und die Daten eingegangen, die zur Beantwortung der Fragestellungen verwendet werden.

2.1 ZIELE DER ARBEIT Ziel der Arbeit ist es, die phonologischen Wandelprozesse in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands zu beschreiben und zu analysieren. Der betrachtete Zeitraum der Untersuchung bildet in etwa das 20. Jahrhundert und wird durch den Erhebungszeitpunkt W ENKERS (1880er-Jahre) und durch den des SSA (1970/80er-Jahre) eingegrenzt. Die Daten entstammen den klassischen Dialektsprechern, d. h. Personen, die fest in ihrem Ort und dem dort gesprochenen Dialekt verankert sind.9 Der Untersuchungsgegenstand besteht, innerhalb eines geschichteten Diasystems mit den beiden Polen Basisdialekt und Standardsprache betrachtet, also aus dem standardfernsten Pol: dem Basisdialekt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dementsprechend die phonologischen Sprachwandelprozesse innerhalb der Basisdialekte und nicht Dialektwandel im Sinne von Dialektverwendungswandel. Folglich wird die Beschreibung sich neu formierender regionaler Sprechweisen sowie ihre soziolinguistische Einbettung nicht im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.10 Die beschriebene Eingrenzung des Forschungsgegenstandes soll nicht den Eindruck vermitteln, dass die Basisdialekte hier als isolierte und lediglich in sich selbst arbeitende Sprechlagen verstanden werden. Eine wichtige Prämisse der Analyse ist vielmehr, dass Sprachkontakt, besonders der vertikal wirkende, eine außerordentlich wichtige Rolle für Wandelprozesse innerhalb der ländlichen Grunddialekte des 20. Jahrhunderts spielt; er ist daher wesentlicher Gegenstand der vorlie-

9 10

Zumindest im Falle des SSA kommen die Gewährspersonen außerdem aus dem landwirtschaftlichen Milieu und gehören der älteren Generation an. Zur Untersuchung dieser hier nicht berücksichtigten Fragestellungen siehe besonders die bereits erwähnten Studien von S PIEKERMANN (2008), S TOECKLE (2014) und H ANSEN (i. V.).

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Ziele, Fragestellungen und Methodik

genden Untersuchung. Weiterhin ist zu erwähnen, dass sich die Untersuchung auf den Vokalismus beschränkt.11 Die zentralen Fragestellungen, denen auf der Grundlage der basisdialektalen Daten nachgegangen werden soll, liegen im Wesentlichen in drei Bereichen: (1) dem Verhältnis von endogenem und exogenem (kontaktinduziertem) Sprachwandel, (2) der damit zusammenhängenden Frage nach dem Verhältnis zwischen regelmäßigem und lexikalisiertem Wandel sowie (3) dem Verhältnis von Standardvarietät und Dialekt. Diese Fragestellungen und die Möglichkeiten ihrer Beantwortung sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

2.2 FRAGESTELLUNGEN DER ARBEIT 2.2.1 Endogener vs. exogener Wandel Der Einfluss von endogenem vs. exogenem Wandel in den Basisdialekten ist bislang noch nicht ausreichend geklärt (vgl. H AAS 1993, 116–119; AUER / H INS KENS 1996). Die allgemeine Sprachwandelforschung beschäftigt sich in der Regel mit endogenen Veränderungen innerhalb eines linguistischen Systems. Dialektwandel, wie er sich in der sprachlichen Wirklichkeit von dörflichen Gemeinschaften des 20. Jahrhunderts vollzieht, kann auf diese Weise jedoch nicht sinnvoll beschrieben werden. Ortsdialekte sind heute immer in ein Gefüge von anderen Dialekten eingebunden und auf eine Standardvarietät hin orientiert, die sie überdacht. Sich aus dieser Konstellation ergebende Wandelprozesse sind dementsprechend unvermeidbar, weswegen horizontaler (Dialekt-Dialekt) sowie vertikaler (Standard-Dialekt) Kontakt für eine adäquate Analyse von Dialektwandel von zentraler Bedeutung sind (vgl. H AAS 1993; AUER / H INSKENS 1996; AUER / H INSKENS / K ERSWILL 2005).

2.2.2 Regelmäßiger Wandel vs. lexikalische Steuerung Eng mit der Frage nach der Unterscheidung von endogenem vs. exogenem Wandel hängt dessen Lexikalisiertheit, d. h. die lexikalische Steuerung (lexical diffusion) zusammen. Hier geht es besonders um die Frage, ob sich ein Wandelprozess regelmäßig (d. h. unbewusst und produktiv) vollzieht oder ob er an die Träger der phonologischen Segmente, d. h. an die Lexeme, gebunden ist und unregelmäßig, d. h. im Sinne einer lexikalisch gesteuerten Wortverdrängung, agiert (vgl. H AAG 1929/30, dazu AUER 1993). Die erste Position entspricht einer junggrammatischmechanistischen Auffassung von der Verbreitung von Innovationen im Raum. Diese impliziert, dass Verbreitungsgebiete von Vertretern einer etymologischen Lautklasse genau deckungsgleich sein müssten, was jedoch nicht der Fall ist. Doch ist die 11

Die Eingrenzung auf den Vokalismus geht nicht auf theoretische Vorüberlegungen zurück, sondern ist organisatorischer Natur. Die vorliegende Arbeit ist Teilergebnis einer Gesamtuntersuchung zum phonologischen Wandel in den Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert und wird durch die Arbeit von S TRECK (2012b) zum Konsonantismus ergänzt.

2.2 Fragestellungen der Arbeit

31

gegenteilige Position, wonach sich Lautwandel von Lexem zu Lexem anders verhält (vgl. S CHUCHARDT 1885), ebenfalls empirisch nicht haltbar. So gelten einige phonologische Regeln für bestimmte Dialektregionen ausnahmslos und ohne lexikalische Ausnahmen, wie etwa die n-Apokope in Südwestdeutschland. Die Komplexität der Faktoren, die die Ausbreitung einer phonologischen Form beeinflussen, machte es in der theoretischen Diskussion notwendig, die Gleichsetzung von endogenem mit regelmäßigem (unbewusstem) Wandel und exogenem mit lexikalischem (bewusstem) Wandel aufzugeben. Das Verhältnis dieser vier Faktoren wird u. a. in S EIDELMANN (1992) diskutiert, der davon ausgeht, dass die beiden Prozesse Lautwandel und Lautersatz sowohl auf interne (endogene) als auch externe (exogene) Faktoren zurückgeführt werden können. Der graduelle Übergang von einer lautlichen Realisierung zur anderen (Lautwandel) ist dementsprechend nicht fest an endogene Faktoren geknüpft, ebenso wenig wie die lexemabhängige Verteilung von Sprachlauten an exogene Faktoren gebunden ist. H AAS (1993) greift die Dichotomie von Lautwandel und Lautersatz an und vertritt die Auffassung, dass beide Wandelprozesse „als Etappen eines grundsätzlich einheitlichen Prozesses aufgefaßt werden, der mit der Übernahme von Wörtern beginnt“ (H AAS 1993, 111). Seit der junggrammatischen Epoche bis heute ist also das Verhältnis von regelmäßigem vs. lexikalischem Wandel in der Sprachwandelforschung umstritten (vgl. PAUL 1886, 46–65, AUER 2008, 1722–1723). Aus diesem Grund wird die vorliegende Arbeit im Rahmen der Analyse des spontansprachlichen Datenmaterials besonders der Frage nachgehen, inwieweit der Lautwandel regelmäßig ist oder von seiner lexikalischen Einbettung abhängt. Auch die erwähnte Übernahme von lexikalischen Items aus einer anderen Varietät (hier: vertikale Übernahme aus standardnahen Varietäten) wird in der vorliegenden Untersuchung besonders berücksichtigt. Solche Entlehnungsvorgänge können insbesondere auf der Grundlage der Analyse von morphologisch komplexen Wortformen vorgenommen werden – eine Herangehensweise, die im folgenden Abschnitt näher erläutert wird.

2.2.3 Horizontaler vs. vertikaler Wandel Unmittelbar mit der Frage nach regelmäßigem vs. lexikalisiertem Lautwandel hängt die Frage nach der Ausbreitung innovativer Formen im Raum zusammen. Der junggrammatischen Forschungstradition folgend, wurde häufig davon ausgegangen, dass sich ein Lautwandel von einem Innovationszentrum ausgehend wellenartig ausbreitet und sich lautgesetzlich im gesamten von ihm erfassten Gebiet durchsetzt. Als maßgebend dafür, wie schnell ein Lautwandel vorankommt, sei die Stärke der kommunikativen Kontakte zwischen den Ortsgemeinschaften anzusehen, wobei der fortschreitende Lautwandel erst dann stoppt, wenn Verkehrsscheiden (wie beispielsweise Gebirgsketten, Flussläufe oder Grenzen mittelalterlicher Territorien) die weitere Ausbreitung verhindern.12 Dieses Modell der wellenartigen Ausbreitung von Inno12

Eine Zusammenfassung hierzu ist z. B. in BACH (1950) zu finden. Eine ausführliche Besprechung der Bedeutung von Verkehrsscheiden für die Verbreitung von Dialektvariablen geben außerdem N IEBAUM / M ACHA 1999, 93–96.

32

Ziele, Fragestellungen und Methodik

vationen im Raum geht auf eine mechanistische Vorstellung von Dialektkontakt zurück, die besonders von T RUDGILL (1986) vertreten wird und davon ausgeht, dass Sprachwandel direkt von der Dichte des kommunikativen Netzwerks abhängt, in dem sich die Sprecher befinden. Das unbewusste Operieren von Wandelprozessen scheint demnach mit den junggrammatischen Vorstellungen von lautgesetzlichem Wandel in Einklang zu stehen. Allerdings stehen seiner Gültigkeit verschiedene empirische Evidenzen gegenüber, die insbesondere mit Fragen der Spracheinstellung zusammenhängen (vgl. AUER / H INSKENS 2005).13 Die Untersuchung des Einflusses attitudinaler Faktoren auf die Ausbreitung von Lautwandel ist, bedingt durch die Beschaffenheit der Datengrundlage, in dieser Arbeit nicht möglich. Die Beeinflussung der Dialekte durch überdachende Standard- oder Regionalvarietäten darf in der Kontaktlinguistik als anerkannt gelten. Ebenso wird das Modell der vertikal wirkenden Wandelkomponente (Standard-Dialekt) und der horizontalen Beeinflussung der Dialekte untereinander (Dialekt-Dialekt) häufig verwendet, um kontaktinduzierte Wandelprozesse zu beschreiben. Das Ergebnis von Wandelprozessen, die aus diesen beiden Perspektiven betrachtet werden, bestehen bei vertikalem Wandel häufig aus Standardadvergenz, bei horizontalem Wandel aus dialect levelling. Das genaue Verhältnis dieser beiden Komponenten zueinander stellt allerdings noch ein Forschungsdesiderat dar, weswegen die vorliegende Arbeit Antworten darauf finden möchte, in welchem (quantitativen) Verhältnis dialekt- und standardinduzierter Lautwandel in Südwestdeutschland zueinander stehen. Lassen sich beispielsweise an der Peripherie eines Dialektgebietes häufiger innovative Realisierungen nachweisen als in dessen Zentrum, so ist vom Vorhandensein einer horizontalen Komponente des Lautwandels auszugehen. Ist ein variierendes Dialektgebiet jedoch flächendeckend von Variation betroffen, ohne eine Verstärkung an dessen Rändern aufzuweisen, so scheint allein der vertikale Einfluss der überdachenden Varietäten ausschlaggebend. Morphologisch komplexe Wortformen können dabei als Grundlage dienen, um die vertikale Komponente des Lautwandels näher zu untersuchen. Dies ist deswegen möglich, weil komplexe Wortformen (Komposita und Derivationen) häufig lexikalische Übernahmen aus den standardnahen Varietäten darstellen. Die im Standard gebildeten morphologisch komplexen Wortformen gelangten dabei in der jüngeren Vergangenheit mit der standardnahen phonologischen Realisierung in das Dialektrepertoire der Sprecher und können als Ad-hoc-Entlehnungen oder nonceborrowings verstanden werden (vgl. P OPLACK 2004).14 In der deutschsprachigen Schweiz werden Übernahmen aus dem Standard der dialektalen Lautung phonologisch und morphologisch fast immer angeglichen (wie z. B. Bruefstätigi ‘Berufstätige’, Verchehrsteilnähmer ‘Verkehrsteilnehmer’, etc.), wobei „die Wahl der Lexeme

13

14

Für noch frühere kontra-junggrammatische Positionen, die das Fehlen von attitudinalen Faktoren in der Theoriebildung des Sprachwandels kritisieren, siehe zusammenfassend BACH 1950, 65–66). M OOSMÜLLER (1991) verwendet im Rahmen ihrer Untersuchung zum Standard- und Dialektgebrauch in Österreich den Terminus Input-Switch.

2.2 Fragestellungen der Arbeit

33

themen- und registergebunden“ ist und auf einen „hoch bewerteten lebensweltlichen Ausschnitt referiert“ (C HRISTEN 2009, 147).15 In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, dass die phonologischen Auswirkungen, die eine standardsprachliche Übernahme haben kann, eng mit ihrem Alter zusammenhängt; der Zeitpunkt ihrer Übernahme in den Basisdialekt wird also als determinierender Faktor angesehen. Lexikalische Elemente, die bereits früh aus einer überdachenden Varietät in das dialektale Repertoire aufgenommen wurden, realisieren tendenziell die dialektale Form, neuere Entlehnungen hingegen die standardnahe. Es drängt sich aber spätestens an diesem Punkt die Frage auf, wie lexikalische Übernahmen aus dem Standard identifiziert werden können. Dialektwörterbücher erscheinen hierfür nur wenig geeignet, da sie nur selten Datierungen enthalten. Man kann anhand von Dialektwörterbüchern also in den meisten Fällen nicht ermitteln, ob es sich bei einem Lexem um ein altes Dialektwort oder eine neuere Übernahme handelt. Es kommt hinzu, dass morphologisch komplexe Wortformen im Sinne von Wortbildungsprodukten (Komposita und Derivationen) oftmals nicht ausreichend lexikalisiert sind, um als Lemmata Eingang in die Wörterbücher zu finden. Da also jüngere Übernahmen nicht über deren Eintrittszeitpunkt in das Dialektrepertoire direkt bestimmt werden können, muss eine andere (indirekte) Methode angewandt werden: die Operationalisierung des Faktors morphologische Komplexität als Indikator für eine Entlehnung aus dem Standard. Dabei gilt folgende Hypothese: Je höher der Anteil an morphologisch komplexen Formen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass standardsprachliche Lautungen über diese Übernahmen in das dialektale Repertoire transportiert werden und dort über Analogieprozesse zur Ausbreitung der Standardform führen. Eine weitere Möglichkeit, wie wir zwischen älteren dialektalen Formen und jüngeren Übernahmen aus der Standardvarietät unterscheiden können, ist die Semantik der lexikalischen Einheiten. Ist in einem Korpus morphologisch komplexer Wortformen beispielsweise der Anteil an standardnahen Lautungen höher als der der dialektalen, so interessiert natürlich weiterhin die Frage, welche der komplexen Types den entscheidenden Beitrag zur häufigeren standardsprachlichen Realisierung leisten. Es wird angenommen, dass hauptsächlich jene Wortformen, die erst in neuerer Zeit aufgetretene Entitäten bezeichnen, die standardsprachliche Lautung tragen. Komplexe Types, die hingegen seit langem im Dialekt vorhanden sind, bezeichnen Entitäten der traditionellen dörflichen Alltagswelt. In der vorliegenden Arbeit wird die genannte Hypothese systematisch untersucht. Dazu soll der Zusammenhang von morphologischer Komplexität und lautlicher Realisierung in den Einzelanalysen der fünfzehn phonologischen Phänomene analysiert werden. Des Weiteren wird, wenn möglich, eine genauere semantische Analyse der morphologisch komplexen Types durchgeführt. In Kapitel 12.4 wird der Zusammenhang zwischen morphologischer Komplexität und lautlicher Realisierung in Form einer statistischen Aggregatanalyse zusammenfassend betrachtet

15

Zur Entlehnung standardsprachlicher Formen in der deutschsprachigen Schweiz siehe auch C HRISTEN (2000; 2012).

34

Ziele, Fragestellungen und Methodik

und schließlich der Versuch unternommen, die beobachteten Ergebnisse im Rahmen eines Lautwandelmodells zu interpretieren.16

2.2.4 Konservative vs. innovative Gebiete Eine weitere zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist die Identifizierung von konservativen und innovativen Teilarealen innerhalb des Untersuchungsgebietes.17 Solche Gebiete können einmal für einzelne etymologische Klassen, die sich in einem Wandel befinden, identifiziert werden, andererseits kann auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich über sämtliche phonologische Phänomene hinweg bestimmte Bereiche innerhalb des Untersuchungsgebietes wiederholt als besonders „wandelresistent“ darstellen, während andere einen hohen Grad an Variation zwischen der traditionellen und der innovativen Lautung aufweisen. Die Frage, ob sich phänomenübergreifende Strukturen zeigen oder ob sich keine geografischen Muster ausmachen lassen, wird im zusammenfassenden Ergebnisteil der Arbeit in Kapitel 12.5 aufgegriffen und in Form einer aggregierten Untersuchung behandelt. Methodisch wird die Beantwortung der Fragen auf der Grundlage von qualitativen Analysen der angefertigten Karten verfolgt. Diese bestehen einerseits aus den Real-Time-Vergleichen zwischen den älteren W ENKER-Erhebungen und den etwa 100 Jahre jüngeren SSA-Abfragedaten und andererseits aus den Apparent-TimeVergleichen zwischen SSA-Abfragedaten und den spontansprachlichen Daten derselben Sprecher. Als weitere Methode zur Identifizierung von konservativen und innovativen Arealen dienen interpolierte Kartierungen, die mithilfe eines geostatistischen Verfahrens auf der Basis der spontansprachlichen Daten erstellt wurden. Auf dieses Verfahren wird in Kapitel 2.3.5 näher eingegangen. Neben den in diesem Abschnitt beschriebenen zentralen Fragestellungen soll eine Reihe weiterer Fragestellungen Beachtung finden, die nicht innerhalb der einzelnen Analysekapitel der Arbeit, sondern erst zum Schluss in Kapitel 12 ausführlich untersucht werden. Es handelt sich dabei vor allem um zwei Faktoren dialektaler Variation, die in Form von aggregierten statistischen Analysen auf der Basis des Gesamtkorpus untersucht werden: (1) Der Faktor Geschlecht. Dieser stellt die einzige analysierbare soziolinguistische Variable dar, die innerhalb der Sprechergruppe des SSA variiert und mit Lautwandel in Bezug gesetzt werden kann. Im Rahmen der statistischen Aggregatanalysen soll herausgearbeitet werden, inwiefern es geschlechtsspezifische Tendenzen bezüglich des Gebrauchs von dialektalen vs. davon abweichenden phonologischen Variablen gibt und, falls dem so ist, wie diese erklärt werden können. (2) Der Faktor Rezenz. Die phonologische Rezenz stellt eine Größe sprachlicher Variation dar, die besagt, dass die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung einer bestimmten phonologischen Variante im Laufe der Sprechsequenz umso höher ist, je weniger Zeit zwischen der ersten Äußerung und der zweiten vergangen ist. Varia16 17

In Abschnitt 12.4.3 wird außerdem der Faktor Frequenz mit morphologisch komplexen Wortformen in Bezug gesetzt. Vgl. hierzu auch S CHWARZ (2012a).

2.3 Methodik und Daten

35

tion wäre innerhalb der Redesequenz demnach nicht gleichmäßig verteilt, sondern würde in zeitlichen Clustern auftreten. In Kapitel 12.8 soll versucht werden mittels statistischer Analysen einen Nachweis für die Existenz phonologischer Rezenz zu erbringen sowie daraus weitere Schlüsse zur Erklärung bestimmter Variationsmuster in den untersuchten spontansprachlichen Daten zu ziehen.

2.3 METHODIK UND DATEN Nachdem im vorherigen Kapitel die Fragestellungen dieser Arbeit beschrieben worden sind, soll es im Folgenden darum gehen, welche Methoden und welche Daten zur Bearbeitung dieser Fragestellungen herangezogen werden.

2.3.1 Der doppelte Vergleich in Real-Time und Apparent-Time Die phonologischen Dialektwandelprozesse, die in Südwestdeutschland zwischen dem späten 19. und dem späten 20. Jahrhundert stattgefunden haben, werden über einen doppelten Vergleich rekonstruiert. Darunter ist der Vergleich einer älteren mit einer jüngeren kompetenzbasierten Erhebung im ersten Schritt (Real-TimeVergleich) und der Vergleich der jüngeren kompetenzbasierten Erhebung mit einer performanzbasierten Erhebung bei größtenteils denselben Sprechern im zweiten Schritt zu verstehen (Apparent-Time-Vergleich). Das Prinzip des verwendeten doppelten Vergleichs ist schematisch in Abbildung 2.1 dargestellt. Wie auf der Darstellung zu erkennen ist, werden im Real-Time-Vergleich die Daten der bereits erwähnten Atlasprojekte verglichen, nämlich die Fragebuchdaten des „Südwestdeutschen Sprachatlas“ (S TEGER 1989–2011) aus den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts (1974–1986) mit den Erhebungen im Gebiet des SSA durch W ENKER im Rahmen des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (W REDE 1926–1956), die in Südwestdeutschland in den Jahren 1887–88 erhoben wurden.18 Die Erhebungen W ENKERS beruhen auf einer indirekten Erhebungsmethode, durch die eine großflächige Untersuchung, die das gesamte damalige Deutsche Reich umfasste, erst ermöglicht wurde. Dazu wurden die 40 bekannten Wenkersätze in ca. 50.000 Ortschaften verschickt und durch Dorflehrer zusammen mit ihren Schülern aus der standardsprachlichen Form in die jeweilige Ortsmundart übersetzt. Die in Laientranskription festgehaltenen Übersetzungen der Lehrer wurden sodann zurück nach Marburg geschickt, wo bis 1895 ca. 48.500 beantwortete 18

Eine ausführliche Beschreibung der Geschichte des von G EORG W ENKER initiierten Atlasprojekts bieten u. a. K NOOP / P UTSCHKE / W IEGAND (1982). Für eine detaillierte Beschreibung des „Digitalen Wenkeratlas (DiWA)“ sei auf K EHREIN / L AMELI / N ICKEL (2005) verwiesen. Der direkte Link zum DiWA lautet: (08.02.2014). Eine Beschreibung zum „Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA)“ findet sich in den beiden Einleitungsbänden S TE GER / S CHUPP (1993b; 1998), in denen u. a. detailliert auf die Konzeption (S TEGER / S CHUPP 1993a), die Planung und Durchführung der Erhebungen (S CHRAMBKE 1993) sowie auf das Transkriptionssystem (S EIDELMANN 1993) eingegangen wird.

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Ziele, Fragestellungen und Methodik

Abb. 2.1: Schematische Darstellung der Methode des doppelten Vergleichs zur Rekonstruktion von phonologischem Wandel (vgl. AUER / S CHWARZ / S TRECK 2008, 116 und S TRECK 2012b, 28). Fragebögen vorlagen (vgl. N IEBAUM / M ACHA 1999, 57). Die großformatigen und handgezeichneten Karten stehen mittlerweile im „Digitalen Wenker-Atlas (DiWA)“ (S CHMIDT / H ERRGEN 2001 ff.) online zur Verfügung. Dieser erste Schritt des Vergleichs stellt also eine Herangehensweise in der realen Zeit dar, die auf der Grundlage von Wissensdaten argumentiert. Die zweite, in Abbildung 2.1 horizontal dargestellte Ebene, stellt den ApparentTime-Vergleich dar, in dem die aus den Fragebüchern stammenden kompetenzbasierten Erhebungsdaten des SSA mit einer performanzbasierten Erhebung bei (fast) denselben Informanten verglichen werden, nämlich den spontansprachlichen Tonbandaufnahmen des SSA. Die Daten sind etwa 100 Jahre jünger als diejenigen W ENKERS und wurden im südlichen Teil des heutigen Baden-Württemberg anhand eines umfangreichen Fragebuchs (2200 Fragen) in 600 Ortschaften erhoben (wobei nur 579 Ortschaften tatsächlich in die Kartierungen einflossen). Die Datenerhebung erfolgte, anders als bei W ENKER, direkt und wurde durch ausgebildete Linguisten vor Ort im Gespräch mit den Informanten durchgeführt. Während der Befragungen wurden dabei die Ergebnisse in Form der speziell für deutsche Dialekte entwickelten Teuthonista-Umschrift in den Fragebüchern notiert (vgl. S EIDELMANN 1993). Nach Abschluss der Erhebungen wurden die Daten auf Punktsymbolkarten aufgetragen und in zehn Lieferungen zwischen 1989 und 2011 publiziert. Die Daten stehen sowohl in gedruckter als auch in digitaler Form zur Verfügung, zu einem großen Teil auch auf dem Server des DiWA in Marburg. Wie erwähnt, wurden in Ergänzung zu den kompetenzbezogenen Erhebungsdaten des SSA während der eigentlichen Dialektabfrage stellenweise zusätzliche Ton-

2.3 Methodik und Daten

37

bandaufnahmen erstellt, die in erster Linie Kontrollfunktion innehatten, um perzeptive Unsicherheiten während der eigentlichen Aufnahme nachträglich noch beseitigen zu können (S CHRAMBKE 1993, 35). Außerdem waren die Exploratoren dazu angehalten, freie Gespräche mit den Gewährspersonen, meist nach der eigentlichen Erhebungsarbeit, durchzuführen. Inhaltlich wurden dabei in erster Linie Erzählungen aus dem eigenen Leben, dem Dorf oder zu volkskundlichen Themengebieten aufgenommen (S EIDELMANN 1993, 65). Insgesamt kamen auf diese Weise aus insgesamt 260 Orten des Erhebungsgebietes des SSA Tonbandaufnahmen zusammen. Beim zweiten Schritt des Vergleichs handelt es sich also um einen Ansatz, der in der scheinbaren Zeit argumentiert und die kompetenz- und performanzbezogenen Datensätze gegenüberstellt. Im Idealfall erhält man als Ergebnis des beschriebenen doppelten Vergleichs eine gleichgerichtete Entwicklung der Wandelprozesse. Wandeltendenzen, die sich bereits im Rahmen des Real-Time-Vergleichs zeigen, werden also durch den Apparent-Time-Vergleich bestätigt. Die zweite Möglichkeit stellt das Gegenteil einer solchen Entwicklung dar, nämlich ein sich andeutender Wandelprozess im RealTime-Vergleich, der sich im Rahmen des Apparent-Time-Vergleichs nicht bestätigt. Als dritte Entwicklungsmöglichkeit ist schließlich vorstellbar, dass sich weder im Real-Time- noch im Apparent-Time-Vergleich ein Anzeichen von Wandel zeigt, womit wir ein statisches (indifferentes) Bild ohne Anzeichen dialektalen Wandels vorliegen hätten.

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Ergebnis Real-Time-Vergleich Ausbreitung von (a) Abbau von (a) (a) indifferent Ausbreitung von (a) Ausbreitung von (a) Abbau von (a) Abbau von (a) (a) indifferent (a) indifferent

Ergebnis Apparent-Time-Vergleich Ausbreitung von (a) Abbau von (a) (a) indifferent Abbau von (a) (a) indifferent Ausbreitung von (a) (a) indifferent Abbau von (a) Ausbreitung von (a)

Tab. 2.1: Mögliche Entwicklungsszenarien im Rahmen des doppelten Vergleichs (Real-Time und Apparent-Time) bei zwei sich gegenüberstehenden Realisierungen (a) und (b). Neben der Frage, ob sich Entwicklungstendenzen von Apparent-Time- zu RealTime-Vergleich bestätigen, kann auch die Entwicklungsrichtung innerhalb der jeweiligen Vergleichsebenen variieren. Bei zwei angenommenen dialektalen Realisierungen (a) und (b) sind dementsprechend insgesamt neun theoretische Entwicklungsszenarien denkbar, die in Tabelle 2.1 dargestellt sind. Wie daraus hervorgeht, handelt es sich nur bei den ersten drei der möglichen Wandelszenarien um „Idealfälle“, bei denen Real-Time- und Apparent-Time-Vergleich in dieselbe Entwicklungsrichtung weisen oder sich zumindest nicht widersprechen. Die sechs übrigen Sze-

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Ziele, Fragestellungen und Methodik

narien 4–9 entsprechen hingegen nicht dem Idealbild. Ohne den Einsatz eines doppelten Vergleichs würden solche nicht eindeutigen Fälle von Lautwandel nicht zum Vorschein kommen, da ja nur ein Real-Time- oder Apparent-Time-Vergleich vorläge. Es bestünde also keine Kontrollinstanz in Form der jeweils anderen Vergleichsebene, durch die eventuelle Widersprüche in Erscheinungen treten würden, die wiederum falsche Interpretationen vermeiden könnten.19 Hier wird also deutlich, weswegen für diese Arbeit die Methode eines doppelten Vergleichs gewählt wurde: Die beobachteten Wandelprozesse der Real-Time- und Apparent-Time-Vergleiche können gegenseitig validiert werden. Weisen, gemäß der soeben beschriebenen Szenarien, beide Vergleiche einen gleichgerichteten Wandel auf, so spricht dies dafür, das der beobachtete Lautwandel im 20. Jahrhundert tatsächlich so stattgefunden hat. Bei sich nicht bestätigenden bzw. widersprüchlichen Ergebnissen müssen diese genauer betrachtet und auf mögliche „Störfaktoren“ überprüft werden. Besonders die unterschiedlichen Erhebungsmethoden von W ENKER und SSA können dabei eine Rolle spielen. Die direkte Erhebungsmethode des SSA führt oft zu einer Archaisierung, die sich in den Kartenbildern des Wenker-Atlasses bedingt durch seine indirekte Erhebungsweise nicht zeigt. Außerdem ist aufgrund der Informantenwahl der beiden Atlasprojekte, die zeitliche Tiefe von ca. 100 Jahren nur eine scheinbare. Denn im Unterschied zu den Informanten W ENKERS (Schüler), handelt es sich bei denen des SSA um Sprecher der älteren Generation. Es kann deswegen davon ausgegangen werden, dass die Geburtsjahrgänge der beiden erhobenen Sprechergruppen von W ENKER und SSA nicht wirklich 100 Jahre auseinander liegen, sondern womöglich nur 20–30. Der Sprachstand, den die Erhebungen des SSA repräsentieren, kann dementsprechend älter sein, als dies durch den Erhebungszeitpunkt zu vermuten wäre. Bezüglich dieser Problematik bietet der Einbezug der spontansprachlichen Daten auf der Ebene des Apparent-Time-Vergleichs eine Kontrollmöglichkeit, denn dadurch können u. a. Reliktformen, die in den Erhebungen des SSA womöglich noch elizitiert wurden, im alltäglichen Sprachgebrauch der Gewährspersonen aber nicht mehr vorkommen, ermittelt werden. Die indirekt durch Schullehrer erhobenen Daten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ und ihr Vergleich mit modernen, anhand von direkter Fragebuchtechnik durch geschulte Exploratoren erhobenen Materialen, galt lange Zeit als problematisch. Besonders die Laientranskription der Schullehrer sowie die indirekte Erhebungsweise wurden kritisiert. Die Wenker-Fragebögen können tatsächlich nicht verwendet werden, wo es um sehr feine phonetische Unterschiede geht oder ein Graphem zur Transkription nicht zur Verfügung steht. Weiterhin können bestimmte orthografische Repräsentationen im Kartenmaterial phonologisch mehrdeutig sein. Außerdem kann es vorkommen, dass phonetische Realisierungen, obwohl diese perzeptiv unterscheidbar sind und zwei Grapheme zu deren Wiedergabe zur Verfügung stünden, nicht unterschieden werden (vgl. etwa die Entrundung in Kapitel 10).20 19 20

Wie aus den Analysen noch hervorgehen wird, sind besonders Szenarien der Typen 4–7 in den Analysen häufig vorzufinden. Zur Problematik der Dialektverschriftlichung siehe besonders die Arbeiten von K LEINER (2004; 2006), in denen der Autor der Problematik der Transkription durch Laien nachgeht und eine Methode vorstellt, um unklare phonetische Werte der Grapheme zu reinterpretieren.

2.3 Methodik und Daten

39

Neben der Problematik einer Laientranskription sah sich W ENKERS Sprachatlas außerdem dem Vorwurf der Unzuverlässigkeit der indirekten Erhebung ausgesetzt.21 Dieser Kritikpunkt konnte mittlerweile jedoch durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen widerlegt werden, in denen durch Vergleiche zwischen den Erhebungsdaten W ENKERS und modernen regionalen Sprachatlanten gezeigt wurde, dass sich ein hoher Grad an Übereinstimmung ergibt. Dies lässt darauf schließen, dass die Erhebungen W ENKERS durchaus zuverlässig sind und als Datenbasis für Untersuchungen zum Dialektwandel genutzt werden können (vgl. R ABANUS 2008 sowie S CHMIDT 2010, 137–140). Auch im Vorfeld der vorliegenden Studie wurden solche Voranalysen anhand von Isoglossenvergleichen zwischen den Erhebungsdaten W ENKERS und denen des SSA mit dem Ergebnis durchgeführt, dass hohe Übereinstimmungen zwischen den beiden Datensätzen ermittelt werden konnten (vgl. u. a. der Real-Time-Vergleich zur Diphthongierung von mhd. î im Lexem Eis, Abbildung 3.4, Kapitel 3.2.2.2). Aus den genannten Analysen ergibt sich ein nahezu identischer Verlauf der Isoglossen jüngerer Regionalatlanten mit den älteren, während Veränderungen in den Isoglossenverläufen als systematisch angesehen werden können und einen tatsächlichen Sprachwandel widergeben, so wie dies beispielsweise beim Verschwinden von kleinräumigen Reliktgebieten der Fall ist (vgl. u. a. der Real-Time-Vergleich zur Diphthongierung von mhd. iu in Abbildung 3.39, Kapitel 3.5.3.2). Hier zeigen die älteren Karten noch das Vorhandensein dieser Gebiete, während sie in den neueren Daten kaum oder gar nicht mehr aufzufinden sind. Im Gegensatz zu den häufig geäußerten Bedenken zur Validität der Wenker-Karten können neuere Studien also das Gegenteil nachweisen. Auch die verwendeten spontansprachlichen Daten sind nicht immer unproblematisch. So kann das sogenannte Beobachter-Paradoxon dazu führen, dass die Gewährspersonen ein anderes Register wählen als dasjenige, das sie auch in alltäglichen Kommunikationssituationen im dörflichen und familiären Umfeld einsetzen würden. Um dies zu vermeiden, wurde während der Aufnahmen des SSA darauf geachtet für eine Situation zu sorgen, die eine natürliche Sprechweise fördert. So wurden die Aufnahmen beispielsweise in der vertrauten Umgebung der eigenen Wohnung durchgeführt. Außerdem beherrschten die Exploratorinnen und Exploratoren allesamt selbst einen oberdeutschen Dialekt, den sie in den Aufnahmen bis zu einem gewissen Grad auch einsetzten. Dadurch wird den Sprechern zusätzlich die Scheu vor der eigentlich nicht angebrachten Verwendung des Dialekts mit Fremden genommen. S CHRAMBKE berichtet zu ihren eigenen Erhebungen Folgendes: „Eine anfängliche Befangenheit der Gp. durch die Aufnahme legte sich im allgemeinen nach wenigen Minuten“ (S CHRAMBKE 1993, 43). Weiterhin ist zur Beschaffenheit der spontansprachlichen Daten zu erwähnen, dass diese auch Abschnitte enthalten, in denen die Gewährspersonen zitieren, vorlesen, singen oder sich in einer Abfragesituation mit dem Explorator befinden und dabei metasprachliche Kommentare äußern. Solche Gesprächsabschnitte wurden natürlich nicht in das spontansprachliche Korpus aufgenommen. 21

Diese Kritik wurde schon früh laut, wobei besonders OTTO B REMER (1895) massive Einwände gegen das methodische Vorgehen W ENKERS äußerte. Für die generelle Problematik der indirekten Erhebung siehe auch N IEBAUM / M ACHA (1999, 16–17).

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Ziele, Fragestellungen und Methodik

2.3.2 Untersuchungsgebiet Das Gebiet, auf das sich die vorliegende Untersuchung bezieht, ist identisch mit dem Erhebungsgebiet des „Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA)“. Es nimmt den südlichen Teil des heutigen Baden-Württemberg ein22 und ist im Süden und Westen durch die Staatsgrenzen zur Schweiz und zu Frankreich sowie im Osten zum Bundesland Bayern abgegrenzt. Eine Linie, die in etwa zwischen Ulm und Karlsruhe verläuft, bildet die nördliche Begrenzung des Erhebungsgebietes. Somit nimmt das Untersuchungsgebiet eine Fläche von etwa 17.000 km2 ein und ist damit knapp halb so groß wie die Schweiz. Das Untersuchungsgebiet beinhaltet 24 Land- sowie 5 Stadtkreise, die in Abbildung 2.2 dargestellt und benannt sind. Von den 579 Erhebungsorten des SSA, die im Durchschnitt 6,4 Kilometer auseinander liegen, befinden sich nicht alle innerhalb der politischen Grenzen von Baden-Württemberg: zwei Erhebungen wurden in der Schweiz durchgeführt und vier stammen aus dem bayerischen Landkreis Neu-Ulm. Bis auf den nordwestlichsten Teil, der zum südfränkischen Dialektgebiet gehört, werden im Untersuchungsgebiet alemannische Dialekte gesprochen. Die traditionelle Binnengliederung des alemannischsprachigen Teils des Untersuchungsgebietes umfasst nach dem im Wesentlichen auf M AURER (1942) zurückgehenden Gliederungsvorschlag von S TEGER / JAKOB (1983) die Teildialekte Schwäbisch, Bodenseealemannisch, Südalemannisch und Oberrheinalemannisch.23 Für die genannten Dialekte sind weitere Termini gebräuchlich. So wird von W IESIN GER (1983b) in seiner Untergliederung das Bodenseealemannische als Mittelalemannisch bezeichnet, das Südalemannische als Hochalemannisch und das Oberrheinalemannische als Niederalemannisch.

2.3.3 Datenkorpus Das Datenkorpus dieser Arbeit besteht, wie bereits erwähnt, aus den Karten des „Digitalen Wenker-Atlas (DiWA)“, dem Kartenmaterial des „Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA)“ sowie aus einem spontansprachlichen Datenkorpus, das sich größtenteils aus Tonaufnahmen zusammensetzt, die während der Erhebungen zum SSA entstanden sind. Bei den online publizierten Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ von W ENKER handelt es sich um handgezeichnete Flächen-Isoglossenkarten. Das Gebiet, das durch eine bestimmte phonologische Variante eingenommen wird, ist also durch eine Linie (Isoglosse) von den angrenzenden Gebieten abgetrennt. Die Realisierungsgebiete sind dabei nicht gezwungenermaßen homogen dargestellt. Kommen innerhalb dieser Gebiete Realisierungen vor, die von der zu erwartenden Leitform 22 23

Genauer: die ehemaligen Regierungsbezirke Südbaden und Südwürttemberg (S TEGER / S CHUPP 1993a, 4). Eine Karte mit der Untergliederung des Alemannischen gemäß S TEGER / JAKOB (1983) ist in Kapitel 3.1 im Rahmen der Untersuchung der nhd. Diphthongierung (Abbildung 3.1) dargestellt.

Abb. 2.2: Untersuchungsgebiet des „Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA)“: Erhebungsorte (schwarze Kreissymbole), Landkreise (durchgehende Linien) und Stadtkreise (durchbrochene Linien).

2.3 Methodik und Daten

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42

Ziele, Fragestellungen und Methodik

abweichen, so werden diese als Punkt- oder Strichsymbole aufgetragen. In einer Legende, die auf jeder Karte enthalten ist, sind die Lautwerte der jeweiligen Symbole vermerkt. Die Karten W ENKERS sind lexembezogen, d. h. es wurden keine Kombinationskarten für bestimmte etymologische Klassen oder Lautkontexte publiziert, sondern die areale Verbreitung von lautlichen Realisierungen immer für ein einzelnes Lexem in einer gesondert dafür gezeichneten Karte festgehalten. Für die vorliegende Untersuchung konnten 50 Karten W ENKERS verwendet werden. Ob eine bestimmte Karte zur Analyse eines phonologischen Phänomens herangezogen wurde oder nicht, hing in erster Linie davon ab, ob auf den beiden anderen Vergleichsebenen (SSA-Karten und spontansprachliche Daten) ebenfalls Material in genügendem Umfang vorlag (für eine Erläuterung der Vorgehensweise bei diesem Auswahlprozess siehe das folgende Kapitel 2.3.4). Bei den Karten des SSA handelt es sich im Unterschied zu W ENKER um Punktsymbolkarten, d. h. an jedem erhobenen Ortspunkt wird der zu einem bestimmten phonologischen Phänomen erhobene Lautwert in Form eines Punktsymbols aufgetragen und hinsichtlich seiner Bedeutung in der Legende jeder Karte aufgeschlüsselt. Die Symbole variieren in Form und Farbe, wobei „linguistisch/sprachsystematisch Zusammengehöriges durch eine entsprechende Symbolwahl gekennzeichnet und von Unterschiedenem abgesetzt“ wird (S TEGER / S CHUPP 1993a, 7). Die Karten des SSA sind in den meisten Fällen ebenfalls lexembezogen, es wurden aber auch Kombinationskarten angefertigt, die die Lautverhältnisse für eine Gruppe von Lexemen zusammenfassen. In die vorliegende Untersuchung konnten 35 publizierte SSA-Karten integriert werden. Darüber hinaus war es möglich weitere, digital verfügbare Abfragedaten des SSA selbst anzufertigen und in die Analysen einzubeziehen, wodurch weitere 35 Karten entstanden (zum Verfahren der Produktion dieser Karten siehe Kapitel 2.3.4). Neben dem erwähnten Kartenmaterial von W ENKER und SSA konnten auch Karten anderer Arbeiten, deren Erhebungszeitpunkt zumeist jenem von W ENKER ähnlich ist, in die Analysen aufgenommen werden. Es handelt sich dabei vor allem um die Kartierungen und lautgeografischen Beschreibungen von F ISCHER (1895), H AAG (1929/30; 1932), B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39) und M OSER (1954/55), die ihren geografischen Schwerpunkt, mit Ausnahme von Fischer (1895), im schwäbisch-alemannischen Übergangsgebiet haben. Das spontansprachliche Korpus besteht, wie bereits oben erwähnt, aus Kassetten- und Tonbandaufnahmen, die während oder im Anschluss an die eigentliche Befragung durch die SSA-Exploratorinnen und Exploratoren durchgeführt worden sind. Zusätzlich zu den spontansprachlichen Daten der SSA-Erhebungen wurden in das Korpus Aufnahmen aus zwei weiteren Erhebungsprojekten eingefügt, nämlich die des „Badischen Wörterbuchs“ und diejenigen aus dem „Zwirner-Korpus“ (Institut für Deutsche Sprache, Mannheim). Die Ergänzung des Korpus durch diese Aufnahmen ist besonders durch die heterogene Verteilung der SSA-Aufnahmeorte im Untersuchungsgebiet begründet. Durch die zusätzlichen Aufnahmen konnte eine höhere Homogenität und Datendichte erreicht werden, was letztlich den Vorteil hat, dass die aus den spontansprachlichen Daten entstandenen Ergebnisse valider werden. Insgesamt handelt es sich bei den drei Teilkorpora um 478 Aufnahmen, die

Abb. 2.3: Spontansprachliches Korpus: Geografische Verteilung der Tonaufnahmen von SSA, Badischem Wörterbuch und Zwirner-Korpus im Untersuchungsgebiet. (Karte aus S TRECK 2012b, 37. Bearbeitet von CS).

2.3 Methodik und Daten

43

44

Ziele, Fragestellungen und Methodik

sich auf 360 Ortspunkte im Untersuchungsgebiet verteilen. Die Länge der einzelnen Aufnahmen variiert dabei in etwa zwischen 15 Minuten und einer Stunde. Das SSAKorpus besteht aus Tonaufnahmen aus 260 Ortschaften im Erhebungsgebiet.24 Die Aufnahmen des „Badischen Wörterbuchs“ verteilen sich auf 100 Ortspunkte des badischen Teils von Baden-Württemberg und wurden in den 1970er-Jahren von Mitarbeitern der gleichnamigen Arbeitsstelle der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erstellt. Die Aufnahmen aus dem „Zwirner-Korpus“ stammen aus dem Jahr 1955 und stellen mit Aufnahmen aus 20 Ortspunkten das kleinste Teilkorpus dar. Bei den Sprechern in den ausgewählten Aufnahmen handelt es sich gemäß der Beschreibung des „Zwirner-Korpus“ ausschließlich um Basisdialektsprecher. Die Gewährspersonen aus den beiden Ergänzungskorpora sind zwar nicht mit denen aus der SSAErhebung identisch, wodurch ihre Integration in die Apparent-Time-Vergleiche auf den ersten Blick problematisch erscheinen mag. Sie entsprechen in ihren sozialen Kriterien jedoch den Gewährspersonen des SSA, d. h. es handelt sich um NORMs und NORFs mit landwirtschaftlichem oder handwerklichem Hintergrund, die alle etwa aus derselben Generation stammen. Den Aufnahmen sind weiterhin die Gesprächsinhalte gemeinsam. In allen geht es um biografische Erzählungen aus dem Leben der Gewährspersonen oder um Berichte aus dem Alltag. Nahezu alle Aufnahmen wurden im Beisein eines oder mehrerer Exploratoren durchgeführt (auch die Anzahl der Gewährspersonen variiert). Bei 19 Aufnahmen handelt es sich allerdings um Selbstaufnahmen, die Erzählmonologe oder Dialoge zwischen zwei Gewährspersonen enthalten. In Abbildung 2.3 ist die geografische Verteilung der Aufnahmen aus den drei spontansprachlichen Teilkorpora dargestellt. Schwarze Kreissymbole stehen für die Aufnahmen des SSA, graue für diejenigen des „Badischen Wörterbuchs“ und die weißen für die Aufnahmen des „Zwirner-Korpus“. Die Größe der Kreissymbole steht für die Anzahl der Aufnahmen, die an einem Ortspunkt vorliegen. Die Karte zeigt zugleich, auf welche Art und Weise die analysierten spontansprachlichen Daten im Rahmen dieser Arbeit kartografisch dargestellt werden, nämlich in Form von Punktsymbolen. Das gesamte Korpus der spontansprachlichen Daten umfasst 42.970 analysierte Tokens (einzelne Lautereignisse), die sich auf 99 Lexeme verteilen. Die Lexeme bilden wiederum die Grundlage, um die Wandelprozesse innerhalb der 15 in den Kapiteln 3 bis 11 dieser Arbeit untersuchten phonologischen Phänomene (etymologischen Klassen) zu beschreiben. In Tabelle 2.2 ist eine Übersicht der 15 phonologischen Phänomene dargestellt, wobei jedem Phänomen zusätzlich die Menge der verfügbaren Daten (Anzahl an Wenker-Karten, SSA-Karten, spontansprachlichen Tokens) zugeordnet ist. Der Tabelle ist zu entnehmen, dass die Anzahl von Wenker- und SSA-Karten innerhalb eines phonologischen Phänomens nicht immer identisch ist. Dies hängt damit zusammen, dass die Vergleiche nicht nur dann durchgeführt wurden, wenn dies über alle drei Vergleichsebenen möglich war. Vergleiche wurden auch dann 24

Im Vorfeld der Untersuchung war das SSA-Korpus noch etwas größer. Einige Aufnahmen wurden aufgrund ihrer schlechten akustischen Qualität jedoch entfernt. Andere beinhalteten lediglich Dialektabfrage, also keine spontansprachlichen Gesprächsteile.

45

2.3 Methodik und Daten

Phonologisches Phänomen

Beispiel

Diphthongierung mhd. î Diphthongierung mhd. û Diphth./Entrund. mhd. iu Monophth. mhd. uo Monophth. mhd. ie Diphthongierung mhd. ô Diphthongierung mhd. ê Dehnung in offener Silbe Einsilblerdehnung Realisierung mhd. ei Realisierung mhd. ë

Ziit – Zait Huus – Haus Liit – Lait Brueder – Bruder lieb – liib groß – grauß Schnee – Schnai sagen – saagen baald – bald

Realisierung mhd. ou Entrundung mhd. ü Entrundung mhd. oe Realisierung mhd. â (Ausl.) Gesamt

hoaß – hoiß – haiß

schleacht – schlecht – schlacht Frou – Frau über – iber bös – bes bloo – blau

WenkerKarten 6 3 5 2 2 4 1 2 6 5 5

SSAKarten 10 4 5 2 2 4 1 6 10 7 11

SpontanTokens 6177 1910 4851 2923 1045 2581 76 1971 4046 8331 2987

3 2 2 2 50

3 2 1 2 70

2484 2315 1120 153 42.970

Tab. 2.2: Untersuchte phonologische Phänomene (etymologische Klassen) und Menge der jeweiligen Daten aus dem Korpus der Wenker-Karten, der SSA-Karten sowie der spontansprachlichen Daten. angestellt, wenn die Daten einer Vergleichsebene fehlten, sodass sich im Falle mancher Lexeme die Vergleiche ausschließlich auf die Ebene Real-Time oder ApparentTime beschränken, also keinen doppelten Vergleich darstellen. Das Ergebnis ist somit (im Sinne eines doppelten Vergleichs) nicht vollständig, hat aber den Vorteil, dass dadurch das Gesamtergebnis der Analyse zu einem phonologischen Phänomen zusätzlich unterfüttert werden kann. In einigen Fällen wurden zudem die spontansprachlichen Daten eines Lexems auch dann untersucht, wenn weder eine WenkerKarte noch eine SSA-Karte zum Vergleich zur Verfügung stand. Solche Lexeme konnten zur spontansprachlichen Datenverdichtung dienen, indem sie gemeinsam mit anderen Lexemen in eine Kombinationskarte integriert wurden.

2.3.4 Datenanalyse Die online verfügbaren Wenker-Karten können am Bildschirm abgerufen und im Detail betrachtet werden. Das gleiche gilt für die bereits veröffentlichten SSAKarten, die ebenfalls bequem über den DiWA-Server aufgerufen und betrachtet werden können. Für den Vergleich beider Kartensätze wurden diese durch Aufruf auf

46

Ziele, Fragestellungen und Methodik

zwei (oder bei Bedarf auch auf mehr) Ebenen übereinander projiziert. Da die Karten geokodiert sind, geschieht das genaue Übereinanderlegen automatisch. Die im Overlay enthaltenen Karten können in ihrer Opazität stufenlos verändert werden. So ist es möglich, Unterschiede zwischen den beiden Vergleichsstufen durch Vergleich der Isoglossenverläufe in der Wenker-Karte und der Verteilung der Punktsymbole in der SSA-Karte zu visualisieren. Das doppelte Kartenbild wurde im nächsten Schritt per Screenshot in ein Grafikprogramm übertragen, in dem die Isoglossenverläufe und weitere Details (z. B. Einzelbelege für eine bestimmte lautliche Realisierung) auf die Ergebniskarte des Real-Time-Vergleichs aufgetragen werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die durch Punktsymbole dargestellten Realisierungsgebiete des SSA in Form von Isoglossen auf die Ergebniskarte übertragen. Somit können Veränderungen in den Isoglossenverläufen zwischen W ENKER und SSA erkannt werden. Die Darstellung auf den Ergebniskarten des Real-Time-Vergleichs begnügen sich natürlich nicht mit einer bloßen Darstellung von Isoglossenverläufen. Sowohl in den Karten W ENKERS als auch in denen des SSA tauchen abweichende Realisierungen innerhalb geschlossener Realisierungsgebiete auf. Diese wurden durch Punktsymbole in die Ergebniskarte übertragen. Auf der Grundkarte, die den Hintergrund aller Ergebniskarten bildet, sind neben dem Rhein, der Donau und einigen Kreisstädten auch der Bodensee sowie die politischen Grenzen zur Schweiz und nach Bayern aufgetragen. Weitere Arbeitsschritte, die an dieser Stelle nicht genauer beschrieben werden, bestehen aus dem Erstellen einer Kartenlegende und dem Exportieren der fertigen Karte in ein hochaufgelöstes JPG-Format. Die SSA-Karten lagen nicht immer in publizierter Form vor. In solchen Fällen bestand die Möglichkeit, die Karten mit Hilfe eines von Rudolf Post entwickelten Kartier-Programms – „SSAKart“ – selbst zu erstellen. Dies geschah auf der Grundlage der in digitaler Form vorhandenen Fragebuchdaten des SSA. Die entstandene SSA-Karte wurde dann in das Grafikprogramm geladen und als Overlay über den Screenshot der jeweiligen Wenker-Karte gelegt. Das Erstellen der Ergebniskarte entspricht nun wiederum dem oben beschriebenen Ablaufschema. Für die Herstellung der Ergebniskarten des Apparent-Time-Vergleichs müssen die spontansprachlichen Daten ebenfalls kartiert werden. Um dies zu erreichen bedarf es einer ganzen Reihe von Vorarbeiten, die, nach der eigentlichen Aufnahme der Gespräche und der Digitalisierung, aus deren Transkription besteht.25 Die Transkription erfolgte in einer ortografischen Form, d. h. der Dialekt der Gewährspersonen wurde nicht in einer phonetischen Umschrift transkribiert, sondern in das Standarddeutsche übertragen. Diese Form der Transkription war notwendig, weil andernfalls die verwendete Datenbank „moca“ nicht lexembezogen durchsuchbar gewesen wäre, denn ein und dasselbe Lexem hätte, je nach Dialekt, in vielen unterschiedlichen Schreibweisen (Graphemsequenzen) vorgelegen. Im nächsten Bearbeitungsschritt wurden die nun vorhandenen Transkripte mit den dazugehörigen digitalen Audio-Dateien aligniert und in die Datenbank „moca“

25

Die Transkription der großen Datenmengen wurde von studentischen Hilfskräften besorgt, wofür Ihnen an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt sei!

2.3 Methodik und Daten

47

eingespeist.26 Über die Suchmaske von „moca“ konnte das spontansprachliche Korpus nun nach Lexemen durchsucht werden, die in einer Suchergebnisliste mit den zugehörigen Informationen, wie z. B. Transkriptzeilennummer, Transkriptausschnitt und Gewährsperson angezeigt werden. Über einen Abspielknopf kann der Transkriptausschnitt angehört und ohrenphonetisch analysiert oder, für genauere Analysen, in das Phonetikprogramm „Praat“ überführt werden.27 Die Ergebnisse der phonologischen Analyse wurden in einem Analysefenster an das entsprechende Token annotiert. Darüber hinaus können weitere Informationen eingetragen werden, wie beispielsweise Angaben zum morphologischen oder syntaktischen Kontext, metasprachliche Kommentare, etc. Nachdem die Analyse der Suchergebnisliste abgeschlossen war, wurde diese aus „moca“ in Form eines Tabellendokuments exportiert, um im nächsten Schritt in das bereits erwähnte Kartierprogramm „SSAKart“ importiert zu werden. In „SSAKart“ wurden die in Tabellenform vorliegenden spontansprachlichen Daten nach lautlichen Realisierungen gruppiert und grafischen Symbolen zugeordnet. Danach konnten die spontansprachlichen Daten in eine zweidimensionale Darstellung gebracht und auf der bereits erwähnten Grundkarte aufgetragen werden. Im letzten Schritt wurde die so entstandene Karte in ein Grafikprogramm geladen, wo der Apparent-Time-Vergleich mit den Abfragedaten durchgeführt und auf einer Ergebniskarte festgehalten wurde.

2.3.5 Dateninterpolationen Neben der kartographischen Darstellung der spontansprachlichen Daten mit Hilfe des Programms „SSAKart“ wird in dieser Arbeit noch eine weitere Form der Datenpräsentation angewendet. Es handelt sich dabei um die Darstellung in Form von farbigen Interpolationsplots, die mit Hilfe der Statistik-Software „R“ und auf der Grundlage eines speziellen geostatistischen Verfahrens erstellt wurden.28 Die Interpolationen sind im Anhang A.3 dieser Arbeit abgedruckt (die dazugehörigen Beschreibungen finden sich in den jeweiligen Analysekapiteln). Auf den Interpolationsplots ist zu erkennen, dass die spontansprachlichen Daten nicht als Punktsymbole erscheinen, sondern in Form einer flächigen Darstellung der Gebrauchshäufigkeiten bestimmter lautlicher Realisierungen. Die Gebrauchshäufigkeit ist dabei farblich symbolisiert: Blau steht für geringe Gebrauchshäufigkeit, die Komplementärfarbe Rot für eine hohe. 26

27 28

Die Datenbank „moca (multimodal oral corpus administration)“ ist aus der von Peter Gilles (Luxemburg) entwickelten Vorgängerversion „prosoDB“ hervorgegangen und wird aktuell von Daniel Alcón Lopez (Freiburg) weiterentwickelt und betreut. Weitere Informationen sind zu finden unter: (08.02.2014). Vgl. (08.02.2014). Das Basisprogramm „R“ sowie sämtliche Pakete können kostenfrei von der Seite (08.02.2014) heruntergeladen werden. Einen praktischen Einstieg in das Analysieren linguistischer Daten mit „R“ bieten BAAYEN (2008) und G RIES (2008). Zur Erstellung der Interpolationen in dieser Arbeit wurden die Pakete „fields“, „sp“ und „maps“ verwendet. Nähere Informationen zum Paket „fields“ finden sich auf der Entwickler-Seite (08.02.2014).

48

Ziele, Fragestellungen und Methodik

Der Grund für die zusätzliche Visualisierung der spontansprachlichen Daten in Form von Interpolationsplots besteht vor allem aus der häufig auftretenden Beurteilungsschwierigkeit der geografischen Distribution lautlicher Realisierungen auf der Grundlage von Punktsymbolkarten. Stehen sich zwei Varianten im Raum gegenüber, so mag eine Beurteilung der Auftretenshäufigkeiten auf der Grundlage des Kartenbildes noch leicht möglich sein. Sobald jedoch mehr als zwei Varianten darzustellen und zu beurteilen sind, werden Punktsymbolkarten schnell unübersichtlich. Aus diesem Grund können Interpolationen größere Klarheit schaffen, da sie die Gebrauchshäufigkeit jeder einzelnen lautlichen Realisierung im Verhältnis zu allen anderen darstellen können. Ein zweiter Grund für die Datendarstellung mit Hilfe von Interpolationen ist die Klärung der Frage, inwiefern dialektale Formen homogene Realisierungsgebiete bilden, die geografisch fest verankert sind. Damit hängt außerdem die Frage nach dem Konzept der Isoglosse zusammen, dessen Validierung auf der Grundlage von Interpolationen ebenfalls leichter möglich ist als mit Hilfe von Punktsymbolkarten. Das genaue geostatistische Verfahren bei der Erstellung von Interpolationen räumlich ausgeprägter Daten stellt in dieser Arbeit das sogenannte Kriging dar.29 Darunter ist zu verstehen, dass für Messpunkte im Raum, für die keine Werte vorliegen, aus den Werten der umliegenden Messpunkte ein Wert interpoliert wird. Besonderer Vorteil des Kriging gegenüber anderen Interpolationsmethoden ist dabei die Berücksichtigung unterschiedlich starker Datendichten im Raum. So wird zwischen einem zu interpolierenden Messpunkt und den Nachbarn, aus denen die Berechnung des interpolierten Wertes erfolgt, der statistische Abstand in die Berechnung einbezogen, d. h. die geschätzten Werte werden entsprechend der Datenanhäufung gewichtet. Da die spontansprachlichen Daten der vorliegenden Untersuchung geografisch nicht homogen verteilt sind, ist das Kriging demnach als besonders geeignete Interpolationsmethode zur Darstellung sprachlicher Realisierungen im Raum anzusehen.30 Für die visuelle Darstellung der Daten als Interpolations-Plots müssen diese, wie für statistische Analysen üblich, in Form einer Datenmatrix vorliegen. Hier ist jedes analysierte Token in einer eigenen Zeile aufgeführt und wird in entsprechenden Spalten durch zusätzliche Informationen annotiert, wobei für die zweidimensionale Darstellung der Daten jedem Token georeferenzierte Koordinaten zugewiesen werden müssen.31

29 30

31

Das Kriging geht auf Daniel Krige (1951) zurück, der dieses geostatistische Verfahren zunächst im Bergbau einsetzte. Auch L AMELI (2013, 92–97) verwendet in seiner Arbeit das Kriging zur interpolierten Darstellung von dialektalen Raumstrukturen. Datengrundlage seiner Analysen bilden allerdings die kompetenzbasierten Daten von W ENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, während in den Interpolationen der vorliegenden Untersuchung spontansprachliche Daten die Grundlage bilden. Des Weiteren stehen bei ihm Ähnlichkeitswerte zwischen den deutschen Dialekten im Fokus der Betrachtungen, während es hier Gebrauchshäufigkeiten einzelner Lautrealisierungen sind. Für technische Unterstützung bei der Erstellung der Interpolationsplots gilt mein besonderer Dank Michael Cysouw (München) und Peter Baumann (Chicago).

2.4 Aufbau der Arbeit

49

Neben der Dateninterpolation werden zur Analyse der Wandelprozesse, die sich aus den spontansprachlichen Daten ergeben, noch weitere statistische Verfahren eingesetzt. Diese kommen in Kapitel 12 im Rahmen der Aggregatanalysen zur Anwendung und werden aus diesem Grund erst dort ausführlich beschrieben.

2.4 AUFBAU DER ARBEIT Der Hauptteil dieser Arbeit besteht aus den Kapiteln 3 bis 11, in denen die Analyse der Wandelprozesse in den 15 phonologischen Phänomenen erfolgt. Einige der phonologischen Phänomene werden dabei in übergeordneten Kapiteln zusammengefasst, besonders, wenn sie sich lautgeografisch gleich bzw. ähnlich verhalten (so beispielsweise die Diphthongierung von mhd. ô und ê). In jedem der Analysekapitel werden nach einer Einleitung die kartierten Real-Time- und Apparent-TimeVergleiche vorgestellt. Am Ende jedes Analysekapitels erfolgt, je nach Datenlage, eine zusammenfassende Gesamtanalyse des jeweiligen Phänomens in Real-Time und Apparent-Time. Besonders die Analyse der spontansprachlichen Daten wird in der Folge noch weiter vertieft. Hier geht es zum einen um die Frage nach der geografischen Verteilung dialektaler Formen, die mit Hilfe der interpolierten Datendarstellungen beantwortet werden kann. Zum anderen wird die lexikalische Steuerung des Lautwandels sowie der Einfluss morphologischer Komplexität auf die beobachteten Wandelprozesse in Form von prozentualen Vergleichen (in Tabellenform) diskutiert. In Kapitel 12 werden die spontansprachlichen Daten in eine umfangreiche statistische Aggregatanalyse überführt und dort bezüglich verschiedener Fragestellungen und Hypothesen quantitativ ausgewertet. Den Abschluss bildet Kapitel 13 mit einem Resümee zum phonologischen Dialektwandel in Südwestdeutschland.

3 DIE NEUHOCHDEUTSCHE DIPHTHONGIERUNG 3.1 EINLEITUNG Bei der sog. neuhochdeutschen Diphthongierung handelt es sich um einen Lautwandelprozess, der im 12. Jahrhundert im Süden des bairisch-österreichischen Dialektgebietes (Kärnten) erstmals in den schriftlichen Quellen auftritt und sich in der Folge nahezu im gesamten ober- und mitteldeutschen Dialektraum ausbreitet (W EINHOLD 1883, 98–107). Dieser Lautwandel betraf die mittelhochdeutschen langen Oberzungenvokale î, û und iu, die im Laufe der weiteren Entwicklung zu den neuhochdeutschen Realisierungen [aI] (z. B. in Zeit), [aU] (z. B. in Haus) und [OI] (z. B. in neun) diphthongiert wurden.32 Die einzigen Dialektgebiete, die nicht von der Diphthongierung ergriffen wurden, sind das Niederdeutsche sowie der Großteil des Gesamtalemannischen. Innerhalb des letztgenannten Dialektgebietes bildet das Schwäbische eine Ausnahme; hier wurde die Diphthongierung durchgeführt und war im 16. Jahrhundert im Wesentlichen abgeschlossen. B ESCH (1967, 75) spricht in seiner auf der Untersuchung von Handschriften basierenden Arbeit allerdings von der „Resistenz des schwäbischen Gebietes westlich des Lechs, auch noch in der 2. Hälfte des 15. Jhs.“. Auch im „Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas“, dessen Datengrundlage aus Urbaren des 13. bis 15. Jahrhunderts besteht, treten digrafische Schreibungen lediglich im Nordosten des Untersuchungsgebietes auf, gelten aber auch hier als Sonderschreibungen (vgl. K LEIBER / K UNZE / L ÖFFLER 1979, Karte 51). Offenbar herrschte also (zumindest in der Schriftsprache) noch bis in das 15. Jahrhundert deutliche Variation zwischen ursprünglichem Langvokal und Diphthong im Schwäbischen. Neben der Frage nach der geografischen Ausbreitung der nhd. Diphthongierung befassen sich die zahlreich vorliegenden Abhandlungen mit den Ursachen dieses Lautwandels.33 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Ansatz von W RE DE (1895), wonach ein ursächlicher Zusammenhang der e-Apokope bzw. Synkope (als auslösendes Moment) mit der nhd. Diphthongierung bestehe. Er vertritt die Meinung, dass „die diphthongierung bei den ursprünglich mehrsilbigen wortformen begonnen hat [...] und dass die einsilbigen per analogiam folgten“ (W REDE 1895, 266). W REDES Theorie konnte sich allerdings nicht dauerhaft halten und wurde von L INDGREN (1961) anhand quantitativer Analysen zum Zusammenhang von Apo32 33

In den Basisdialekten sind die Reflexe von mhd. î, û und iu viel stärker ausdifferenziert, wie aus der folgenden Analyse noch hervorgehen wird. Eine erschöpfende Darstellung der Theorien zu den auslösenden Faktoren der Diphthongierung in mittelhochdeutscher Zeit soll hier aus Platzgründen nicht erfolgen, auch wenn eine solche in der linguistischen Fachliteratur m. E. bislang fehlt. Es sei an dieser Stelle auf die knappe Zusammenfassung von W IESINGER (1983a) verwiesen, die hier in modifizierter Form wiedergegeben wird.

52

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

kope und Diphthongierung widerlegt. Weitere Ansätze gründen auf strukturalistischen Annahmen eines Systemzwangs. So vertritt P ENZL (1974) für das Bairische und S EIDELMANN (1999) für das Alemannische die Auffassung, dass die Dehnung von mhd. i, u und ü (in offener Silbe) Druck auf die bereits vorhandenen Langvokale î, û und iu ausübte und diese somit zur Diphthongierung „gezwungen“ wurden. Ansätze, wonach die Diphthongierung einen polygenetischen Ursprung habe und durch allmähliche Dissimilierung der Langvokale erfolgte (bedingt durch geringeren Atemdruck in dessen Onglide) vertreten beispielsweise B OHNENBERGER (1913), S CHMITT (1931) und W IESINGER (1962). Wenngleich die genauen Umstände der historischen Ausbreitung der nhd. Diphthongierung noch nicht endgültig geklärt sind, so ist folgende Tatsache doch unumstritten: Die mitten im Untersuchungsgebiet des SSA zu liegen kommende Diphthongierungsisoglosse stellt die gegenwärtig wohl bedeutendste und markanteste Isoglosse Südwestdeutschlands dar, besonders aufgrund ihrer Bedeutung hinsichtlich der Abtrennung des Schwäbischen von den übrigen alemannischen Dialekten. In Abbildung 3.1 ist die Dialektgliederung Südwestdeutschlands nach S TEGER / JAKOB (1983) zu sehen. Wie dem Kartenbild zu entnehmen ist, bildet die fett hervorgehobene Linie die Grenze zwischen dem Schwäbischen einerseits und dem Bodensee- bzw. Niederalemannischen andererseits. Diese Linie entspricht im Wesentlichen dem Isoglossenbündel der nhd. Diphthongierung und verdeutlicht somit, dass diese von zentraler Bedeutung für die Herausarbeitung der gesamtalemannischen Binnengliederung ist.34 Zur jüngsten Entwicklung der Diphthongierung in den alemannischen Dialekten Südwestdeutschlands sind bislang keine flächendeckenden Arbeiten erschienen. Beschreibungen, Karten und Analysen zu kleineren Teilgebieten finden sich u. a. in H AAG (1929/30), B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39), B OHNENBERGER (1953), M OSER (1954/55), AUER (1988; 1990), RUOFF (1992), H ALL (1991) sowie in S EIDELMANN (1995; 1999). Die folgende Untersuchung stellt somit einen ersten Versuch dar, die weitere Entwicklung der nhd. Diphthongierung in einem breiten geografischen Rahmen auf der Grundlage eines umfangreichen Datenkorpus wissensbasierter und spontansprachlicher Daten aus dem 19. und 20. Jahrhundert zu beschreiben. Hierzu werden die beiden etymologischen Klassen mhd. î und û aufgrund ihrer parallelen Entwicklungstendenzen in einem gemeinsamen und mhd. iu wegen des breiteren Spektrums an dialektalen Reflexen in einem separaten Teilkapitel behandelt.35 Innerhalb dieser Teilkapitel wird jeweils näher auf das zugrunde liegende Datenkorpus eingegangen, bevor die Entwicklung der Diphthongierung innerhalb der einzelnen, in die Untersuchung eingegangenen Lexeme beschrieben wird. Danach erfolgt eine zusammenfassende Gesamtanalyse in Form aggregierter Real-Time- und Apparent-Time-Analysen, die für mhd. î und û aufgrund ihrer gleichlaufenden Entwicklung zusammen und für mhd. iu separat erfolgt. Ergänzt 34 35

Auch in älteren Gliederungsversuchen ist das Isoglossenbündel der nhd. Diphthongierung stets von zentraler Bedeutung (vgl. M AURER 1942, B OHNENBERGER 1924). Die sog. Hiatusdiphthongierung (z. B. zu nhd. bauen, schneien, etc.), die bereits in althochdeutscher Zeit auftritt und somit eine ältere Entwicklung darstellt, wird nicht Gegenstand der folgenden Untersuchung sein.

3.1 Einleitung

53

Abb. 3.1: Dialektale Gliederung Südwestdeutschlands nach S TEGER / JAKOB (1983), entnommen aus: K LAUSMANN / K UNZE / S CHRAMBKE (1997, 30). Die fett hervorgehobene Linie grenzt das Schwäbische von den übrigen alemannischen Dialekten ab und entspricht zugleich dem Verlauf des Isoglossenbündels der nhd. Diphthongierung.

54

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

werden die Gesamtanalysen durch zusätzliche Interpolationen, die die Gebrauchshäufigkeit der einzelnen phonologischen Realisierungen im Raum besser erkennbar machen. Zuletzt folgt jeweils eine quantitative Darstellung, die verdeutlichen soll, wie weit die beobachteten Lautwandelprozesse bereits fortgeschritten sind. In diesem Zusammenhang soll weiterhin die Frage nach der lexikalischen Steuerung des Lautwandels und der Bedeutung morphologischer Komplexität nachgegangen werden. Schließlich werden die wichtigsten Ergebnisse in einer Zusammenfassung noch einmal aufgegriffen.

3.2 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Î 3.2.1 Datenkorpus Zur Analyse der Diphthongierung von mhd. î wurden dreizehn Lexeme herangezogen. Tabelle 3.1 und 3.3 ist zu entnehmen, dass nicht für alle Lexeme Karten aus dem Wenker-Korpus und dem SSA-Korpus zur Verfügung stehen, sodass ein vollständiger dreistufiger Vergleich zwischen Wenker, SSA-Abfrage und spontansprachlichem Material nur partiell möglich ist. Aus diesem Grund beschränkt sich die Analyse derjenigen Lexeme, für die nur eine Wenker- oder SSA-Karte existiert, auf den Vergleich der jeweiligen Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten. Wie Tabelle 3.1 zu entnehmen ist, existieren lediglich für sechs der im Datenkorpus vorhandenen Lexeme Wenker-Karten. Dies sind die Karten für das Verb bleib(en), das Adjektiv weiß, das Adverb gleich (mit temporaler Bedeutung) sowie für die drei Substantive Eis, Wein und Zeit. Lexem bleib(en) Eis

Wenker-Karte III-4, 180 III-4, 51

gleich (temporal) Wein

III-4, 15 III-4, 224

weiß (Adjektiv)

III-4, 441

Zeit

III-4, 174

Wenker-Fragesatz Mein liebes Kind, bleib hier unten stehn,... Der gute alte Mann ist mit dem Pferde durch´s Eis gebrochen... Es hört gleich auf zu schneien,... Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein auszutrinken,... Habt ihr kein Stückchen weiße Seife für mich auf meinem Tische gefunden? Es sind schlechte Zeiten.

Tab. 3.1: Korpus der Wenker-Karten für die Realisierung von mhd. î. Neben den Karten W ENKERS und des SSA konnte auf Kartierungen von H AAG (1929/30; 1932), B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39) und M OSER (1954/55) zurückgegriffen werden (Tabelle 3.2). Welche Daten, Sprecher und Erhebungsmethoden den Karten zugrunde liegen, konnte lediglich teilweise in Erfahrung gebracht werden. So gründen die Sprachkarten H AAGS einerseits auf eigener Feldforschung, die er offensichtlich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts betrie-

55

3.2 Diphthongierung von mhd. î

ben hat (vgl. H AAG 1929/30, 1), sowie auf Lehrerauskünften und Schüleraufsätzen (vgl. H AAG 1932, 769). Bei den Karten von B OHNENBERGER und S CHÖLLER handelt es sich um eine Zusammenfassung verschiedener bereits bestehender Arbeiten sowie um Einzelkarten aus den 20er- und 30er-Jahren (vgl. B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39, 85). M OSERS Karten schließlich gehen auf Aufnahmen zurück, die er selbst in den Jahren 1952–53 durchgeführt hat. Welche Gewährspersonen ihm neben einigen Sprachgelehrten aus der Region zur Verfügung standen, geht aus seiner Arbeit leider nicht hervor. Die Karten entsprechen also der erwachsenen Sprechergeneration der Wenker-Erhebungen und können somit als Erweiterung des Wenker-Korpus, bzw. als Bindeglied zwischen diesem und dem SSA-Kartenkorpus angesehen werden. Lexem Eis Weib Wein Zeit

H AAG (1929/30) + + +

H AAG (1932) + -

B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39) + -

M OSER (1954/55) + -

Tab. 3.2: Korpus zusätzlicher Karten aus Publikationen der 1920er- bis 50er-Jahre für die Realisierung von mhd. î. Das Korpus der SSA-Karten (Tabelle 3.3) ist mit zehn Lexemen ergiebiger als das Wenker-Korpus. Das liegt unter anderem daran, dass im Falle des Nichtvorhandenseins einer SSA-Karte das betreffende Lexem mit Hilfe des Programms „SSA-Kart“ selbständig kartiert werden konnte (hier: Wein und Zeit). Das SSA-Kartenkorpus besteht aus den Verben bleib(en) und sein, den Adjektiven weiß und weit, dem Adverb gleich (in temporaler Bedeutung) sowie aus den Substantiven Eis, Eisen, Weib, Wein und Zeit. Die Schnittmenge der sowohl im Wenker- als auch im SSA-Kartenkorpus auftretenden Lexeme besteht aus den sechs Lexemen bleib(en), Eis, gleich, Wein, weiß und Zeit. Mit diesen kann also unter Einbezug der spontansprachlichen Daten ein kompletter Vergleich durchgeführt werden. Tabelle 3.4 zeigt das Korpus der spontansprachlichen Daten. Es besteht aus insgesamt 6177 Tokens, die über 320 Ortspunkte verteilt sind.

56

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Lexem bleib(en) Eis Eisen gleich (temporal) sein (Infinitiv) Weib

SSA-Karte/ Frage II/210.00 II/25.01 II/25.02 II/25.07 III/1.511 II/210.01

Wein weiß (Adjektiv) weit Zeit

210/005 II/210.06 II/210.04 286/004

SSA-Fragesatz (Wollt ihr) bei uns bleiben? Wenn das Wasser gefriert, gibt es Eis. Der Schlüssel ist aus Eisen. (Das habe ich mir) gleich gedacht. (Man kann nicht immer) still sein. (Nach der Hochzeit sagt er:) „Das ist mein Weib.“ Einzelwortabfrage weiße (Haare) Einzelwortabfrage Ich würde auch gehen, wenn ich Zeit hätte.

Tab. 3.3: Korpus der SSA-Karten für die Realisierung von mhd. î.

Lexem

Anzahl der Tokens

bleib(en) Eis Eisen eisern gleich (temporal) sein (Infinitiv) seit Seite Weib Wein weiß weit Zeit GESAMT

342 52 235 42 558 918 198 317 246 502 296 1114 1354 6177

Anzahl punkte 147 25 84 22 181 238 101 129 111 94 117 229 253 320

der

Orts-

Tab. 3.4: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. î.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

57

3.2.2 Wandelprozesse innerhalb der einzelnen Lexeme Im Folgenden soll die Diphthongierung von mhd. î in zwölf Lexemen des spontansprachlichen Korpus beschrieben und diskutiert werden.36 Dabei wird zunächst, soweit möglich, von einem Kartenvergleich ausgegangen. Im zweiten Schritt werden die spontansprachlichen Daten in die Untersuchung einbezogen. Hauptaugenmerk liegt bei der Beschreibung auf der Vokalqualität (Diphthongierung) von mhd. î. Für die Lexeme weit und Zeit, die den lautlichen Kontext mhd. î vor Verschlusslautfortis gemeinsam haben, wird zusätzlich die Vokalquantität betrachtet.

3.2.2.1 Lexem bleib(en) Abbildung 3.2 zeigt den Vergleich der Diphthongierungsisoglossen nach W ENKER (schwarz) und SSA (grau) für das Verb bleib(en). Die beiden Isoglossenverläufe unterscheiden sich nur unwesentlich voneinander. Lediglich im südöstlichen Bereich bei Ravensburg verläuft die SSA-Isoglosse weiter südlich und deutet einen Rückgang des Monophthong-Gebietes an. Im nördlichsten Abschnitt weisen die Isoglossenverläufe in unterschiedliche Richtungen. Insgesamt ist auf der Grundlage des Isoglossenvergleichs keine klare Wandeltendenz in eine bestimmte Richtung zu erkennen. Die 16 im MonophthongGebiet auftretenden Diphthong-Einzelbelege sind jedoch ein Indiz dafür, dass bereits zu Zeiten W ENKERS ein großflächiger Abbau der Monophthonge zugunsten der Diphthonge begonnen hat. Die recht gleichmäßige Verteilung der Einzelbelege weist hier darauf hin, dass der Abbau weniger durch Dialektkontakt als durch überdachende, standardnahe Varietäten motiviert ist. Eine Ausnahme bildet allerdings der äußerste Norden des Monophthong-Gebietes, wo Einzelbelege für Diphthonge konzentrierter auftreten und somit auf eine Beeinflussung durch die nördlich angrenzenden südfränkischen Dialekte hinweisen. Die Erhebungsdaten des SSA bestätigen dies jedoch nicht. In der SSA-Kartierung erscheint das gesamte traditionelle Monophthong-Gebiet homogen und lässt keine Tendenz zur Diphthongierung erkennen. Auch in den (wissensbasierten) Erhebungen RUOFFS (1992, Karte 77) ist das Gebiet südlich von Wenker- und SSA-Isoglosse als kaum variierendes Monophthong-Gebiet dargestellt. In Abbildung 3.3 wurden zu den bereits vorgestellten SSA-Abfragedaten die spontansprachlichen Daten hinzugefügt (Kreissymbole). Die geografische Verteilung der spontansprachlichen Daten bestätigt – wenngleich relativ schwach – den bereits in den Wenker-Daten angedeuteten Abbau der Monophthonge zugunsten der diphthongischen Realisierung. So werden 21,6 % (42) der Tokens, die im traditionellen Monophthong-Gebiet auftauchen, diphthongisch realisiert. Bezogen auf das Diphthong-Gebiet kommen hingegen bei insgesamt 144 Tokens nur zwei einzelne 36

Für das Adverb eisern, die Präposition seit und das Substantiv Seite existieren keine Wenkeroder SSA-Karten, weswegen mit ihnen im Folgenden keine Einzeluntersuchungen durchgeführt werden. Sie dienen der Verdichtung des spontansprachlichen Korpus im Rahmen der Gesamtanalysen, die in Kapitel 3.4 vorgestellt werden.

Abb. 3.2: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte III-4/180 und der SSA-Karte II/210.00 für das Lexem bleib(en).

58 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Abb. 3.3: Vergleich der SSA-Abfragedaten (Karte II/210.00) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem bleib(en).

3.2 Diphthongierung von mhd. î

59

60

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Monophthonge (1,4 %) in den Aufnahmeorten Altheim (Lkr. Biberach) und Baach (Lkr. Reutlingen) vor.37 Der im Real-Time-Vergleich angedeutete Abbau der monophthongischen Realisierung bestätigt sich demnach in den spontansprachlichen Daten. Betrachtet man die geografische Verteilung der Diphthongierung, so lässt sich in den spontansprachlichen Daten ein heterogenes Bild erkennen: Entlang der Diphthongierungsisoglosse ist vor allem das Gebiet nördlich des Bodensees zu erwähnen, wo in keinem der Ortspunkte noch Monophthonge nachgewiesen sind. In diesem Raum scheint somit der Abbau des Monophthongs innerhalb des Lexems bleib(en) sehr weit fortgeschritten bzw. bereits abgeschlossen zu sein. Stellt man sich weiter die Frage, ob der Wandel in diesem Gebiet eher aus dem Kontakt zur Standardsprache oder zu den benachbarten schwäbischen Dialekten resultiert, lohnt es sich die Realisierung der Diphthonge genauer zu betrachten. So ist der standarddeutsche Reflex von mhd. î ein stark steigender Diphthong [aI], in den schwäbischen Dialekten jedoch ein schwach steigender Diphthong [eI]. Sind die diphthongischen Ersatzlaute innerhalb des alten Monophthong-Gebietes schwach steigend, lässt sich also vermuten, dass dies eine Übernahme aus den benachbarten schwäbischen Dialekten ist. Sind die Diphthonge hingegen stark steigend, so ist dies ein Hinweis darauf, dass hier nicht nur der Einfluss des Schwäbischen, sondern auch der des Standarddeutschen vorhanden ist. Betrachtet man die Verteilung der beiden Diphthonge im nördlichen Bodenseeraum, zeigt sich diesbezüglich kein einheitliches Bild: Innerhalb der vier Orte wird nur in zweien (bei Friedrichshafen) der schwach steigende Diphthong realisiert. In den restlichen Ortschaften weiter westlich sind hingegen nur stark steigende Diphthonge belegt. Zwei weitere Gebiete, in denen innerhalb des Monophthong-Gebietes vermehrt diphthongische Realisierungen auftreten, sind in einem ost-westlich verlaufenden Streifen zwischen Freiburg und Villingen-Schwenningen zu erkennen. Des Weiteren ist das Gebiet im äußersten Norden bei Baden-Baden und Rastatt zu erwähnen. Hier bestätigt sich die bereits bei Wenker angedeutete Wandeltendenz, während die SSA-Erhebungsdaten ein konservativeres Bild zeichnen. Im Gegensatz zu den beschriebenen innovativen Regionen, ist im südwestlichsten Teil des Untersuchungsgebietes ein besonders konservatives Gebiet zu erkennen. Trotz der hohen Tokendichte treten hier nur einige wenige DiphthongRealisierungen auf. Ob ein aktiver Dialektkontakt zu den hochalemannischen Dialekten der südlich angrenzenden Schweiz für die Konservativität verantwortlich ist, dürfte eher unwahrscheinlich sein, denn aus ethnodialektologischer Perspektive orientieren sich Dialektsprecher im südwestlichsten Deutschland nur wenig an der Schweiz (vgl. S TOECKLE 2010). Andererseits ist eine gewisse kontaktlinguistische Abschirmung des nordrheinischen Gebietes durch die dialektal konservative Schweiz durchaus denkbar. 37

Woher das unerwartete Auftreten der beiden spontansprachlichen Monophthonge inmitten des schwäbischen Dialektgebietes herrührt, kann anhand der vorliegenden Daten nicht ermittelt werden. Bei den Nennungen handelt es sich weder um metasprachliche Äußerungen oder Zitate, noch kann von Allegroformen die Rede sein, die durch Verschleifung der Diphthonge entstanden sind.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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In die Karte in Abbildung 3.3 wurden alle Wortformen des Lexems bleib(en) aufgenommen, auch morphologisch komplexe Wortbildungsprodukte (es handelt sich zumeist um Präfigierungen wie beispielsweise wegbleiben oder dableiben). Um der Frage nachzugehen, inwiefern die häufig auftretenden Diphthonge innerhalb des alten Monophthong-Gebietes auf die Übernahme morphologisch komplexer Wortformen aus der Standardsprache zurückzuführen sind, wurde der prozentuale Anteil an Diphthongen ausschließlich für die Infinitivform bleiben berechnet. Dies ergab, dass der Lautwandel nicht nur morphologisch komplexe Wortformen, sondern auch basisdialektal verankerte Simplizia betrifft. Im Fall des Infinitivs von bleib(en) werden innerhalb des Monophthong-Gebietes immer noch 20,0 % (24) der Tokens diphthongisch realisiert. Morphologisch komplexe Wortformen sorgen im Fall des Lexems bleib(en) also nur für eine unwesentliche Erhöhung der diphthongischen Realisierung.

3.2.2.2 Lexem Eis Auch für das Lexem Eis ist sowohl ein Real-Time- als auch ein Apparent-Time-Vergleich möglich. Da die Tokenfrequenz aber nur sehr gering ist (52), wurden beide Vergleiche zusammen aufgetragen, wie in Abbildung 3.4 zu sehen ist. Betrachtet man im Real-Time-Vergleich zunächst die Diphthongierungsisoglossen nach W ENKER (schwarz), M OSER (durchbrochene Linie) und SSA-Abfragedaten (grau), erscheinen diese im nordwestlichen Teil des Untersuchungsgebietes annähernd deckungsgleich, während sie im Südosten, nördlich des Bodensees, deutlich variieren. Hier ist anhand der Isoglossenverläufe kaum eine klare Richtung der Wandeltendenz zu erkennen: Teilweise verläuft die SSA-Diphthongierungsisoglosse südlich der älteren Isoglossen, auf der Höhe Ravensburgs jedoch weiter nördlich. Die Diphthongierungsisoglosse nach M OSER verläuft im nördlichen Bodenseeraum nördlicher als die Wenker-Isoglosse und ließe auf eine Ausbreitung der Monophthong-Realisierung schließen. Einen klaren Hinweis auf den Rückgang des Monophthong-Gebietes liefern jedoch mehrere Diphthong-Realisierungen (gemäß SSA-Abfragedaten) in Konstanz, Wangen (Lkr. Ravensburg) und Isny (Lkr. Ravensburg). Es scheint sich im Real-Time-Vergleich also tendenziell eine Labilisierung des zu Zeiten W ENKERS noch homogenen Monophthong-Gebietes abzuzeichnen. Durch das Fehlen von Tokens im Gebiet nördlich des Bodensees (siehe Abbildung 3.4) lassen sich hier keine Schlüsse hinsichtlich des Rückgangs der Monophthongierung ziehen. Die Verteilung der 35 Tokens innerhalb des gesamten Monophthong-Gebietes bestätigt jedoch den tendenziellen Abbau der Monophthonge. So werden 20,0 % (7) der Tokens diphthongisch realisiert, wobei Diphthonge nicht nur in Isoglossennähe auftreten, sondern auch im äußersten Westen. Dies zeigt, dass auch im Fall des Lexems Eis der vertikale Einfluss der Standardsprache offensichtlich am Diphthongierungsprozess beteiligt ist.

Abb. 3.4: Vergleich der Wenker-Karte III-4/51 mit der Diphthongierungsisoglosse nach M OSER (1954/55), der SSA-Karte II/25.01 und den spontansprachlichen Daten für das Lexem Eis.

62 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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3.2.2.3 Lexem Eisen Für das Lexem Eisen existiert keine Wenker-Karte, weswegen lediglich ein Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und den spontansprachlichen Daten möglich ist. In Abbildung 3.5 ist die Diphthongierungsisoglosse nach SSAAbfragedaten sowie die Verteilung der spontansprachlichen Tokens dargestellt. Insgesamt zeigen die spontansprachlichen Tokens eine deutliche und unidirektionale Ausbreitung der Diphthonge im Monophthong-Gebiet. Innerhalb des MonophthongGebietes fällt vor allem südwestlich von Villingen-Schwenningen ein prägnantes Cluster von diphthongisch realisierten Tokens auf. Auch der gesamte nördliche Teil des Monophthong-Gebietes (ab Emmendingen nordwärts) weist hohe Variation zwischen Monophthong und Diphthong auf. Im Bereich nördlich des Bodensees sind spontansprachliche Tokens nur in zwei Ortspunkten belegt, wobei es sich dabei ausschließlich um monophthongische Realisierungen handelt. Auf der Datengrundlage des Lexems Eisen kann in diesem Gebiet demnach nicht von einem Wandel hin zur Diphthong-Realisierung ausgegangen werden. Eine besondere Stabilität des Gebietes lässt sich aus dem Befund aber ebenso wenig ableiten, da hierfür die Datenlage zu dünn ist. Im äußersten Südwesten des Untersuchungsgebietes, vor allem zwischen Lörrach und Waldshut, ist eine Anhäufung von konsistent monophthongischen Realisierungen auszumachen. Es scheint sich hier also um ein besonders konservatives Gebiet zu handeln, in dem der Einfluss benachbarter Dialekte sowie der Standardsprache bis in die 1980er-Jahre hinein nur wenig wirksam war. In quantitativer Hinsicht zeigt sich in den Spontandaten die Wandeltendenz für das Lexem Eisen besonders deutlich. Während im Diphthong-Gebiet kein monophthongisch realisierter Beleg auftritt, werden umgekehrt im traditionellen Monophthong-Gebiet 40,8 % (64) der Tokens diphthongisch realisiert. Im Verhältnis zu den anderen untersuchten Lexemen ist der Anteil an diphthongischen Tokens also vergleichsweise hoch. Bei genauerer Betrachtung der Daten zum Lexem Eisen fällt jedoch auf, dass es sich bei einem erheblichen Teil der Belege um morphologisch komplexe Formen handelt, die innerhalb des Monophthong-Gebiets einen Anteil von 65,4 % (102) ausmachen. Sind also die morphologisch komplexen Formen für die hohen Abweichungen von der traditionellen Form verantwortlich? Eine Antwort auf diese Frage gibt der Vergleich des prozentulalen Anteils der diphthongisch realisierten Simplizia im Monophthong-Gebiet mit den diphthongisch realisierten komplexen Wortformen. Demnach werden 42,6 % (23) der Simplizia diphthongisch realisiert, während es bezogen auf die komplexen Wortformen (allesamt Komposita) 39,8 % (41) sind. Der Unterschied ist also nur gering und weist wider Erwarten sogar darauf hin, dass morphologisch komplexe Formen einen geringeren Anteil an diphthongischen Realisierungen hervorzurufen scheinen als Simplizia. Die Hypothese, wonach morphologische Komplexität beim Lexem Eisen für den hohen Anteil der Diphthong-Belege im Monophthong-Gebiet verantwortlich sei, lässt sich also nicht halten. Weshalb weisen aber nun die zahlreichen komplexen Wortformen einen ebenso hohen Grad an Stabilität auf wie Simplizia? Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass viele der untersuchten komplexen Wortformen keine neuzeitlichen

Abb. 3.5: Vergleich der SSA-Karte II/25.02 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Eisen.

64 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.2 Diphthongierung von mhd. î

65

Entlehnungen darstellen, sondern vermutlich schon sehr früh in den Dialekt gelangt sind oder in diesem gebildet wurden. Im vorliegenden Korpus handelt sich hierbei durchweg um Bezeichnungen für landwirtschaftliche Geräte. Einige Beispiele sind Loteisen (2 von 5 Tokens diphthongisch), Pflugeisen (0 von 8 Tokens diphthongisch), Rosseisen (0 von 5 Tokens diphthongisch), Steckeisen (2 von 8 Tokens diphthongisch) und Steigeisen (0 von 7 Tokens diphthongisch).

3.2.2.4 Lexem gleich (Temporaladverb) Für das Adverb gleich in seiner temporalen Verwendung (im Sinne von sogleich) ist ein vollständiger Vergleich zwischen W ENKER, SSA und Spontansprache möglich. Der Real-Time-Vergleich in Abbildung 3.6 zeigt bereits eine deutliche Tendenz des Lautwandels in Richtung Abbau der monophthongischen Realisierung. Beim Vergleich der Isoglossen fällt (wie auch bei anderen Lexemen) der hohe Deckungsgrad in der nordwestlichen Hälfte auf. Der südöstliche Bereich zeigt jedoch ab etwa Villingen-Schwenningen kaum noch übereinstimmende Isoglossen. Verlaufen Teile der SSA-Isoglosse zwischen Villingen-Schwenningen und dem Nordwestzipfel des Bodensees deutlich weiter südlich, so ist im nördlichen Bodenseeraum gar kein zusammenhängendes Monophthongierungsgebiet mehr zu erkennen. Vielmehr handelt es sich um ein Konglomerat aus sechs Ortschaften, in denen sich die Sprecher während der Abfrage offenbar noch an die alte monophthongische Realisierung erinnern konnten. Der Rückgang des Monophthong-Gebietes wird bereits in den Kartierungen W ENKERS angedeutet, in denen insgesamt 22 diphthongische Einzelbelege innerhalb des Monophthong-Gebietes aufgezeichnet sind. Fünf der Abweichungen sind nördlich des Bodensees lokalisiert und lassen somit das später in den SSA-Daten auftauchende Bild bereits erahnen. Weitere abweichende Cluster von Einzellexemen treten im südwestlichen Bereich des Monophthong-Gebietes auf (v. a. um Freiburg). In dieser Region zeigen die jüngeren SSA-Abfragedaten jedoch keine Fortsetzung des Lautwandels, genau so wie im nördlichsten MonophthongGebiet bei Baden-Baden. Auch hier zeigt W ENKERS Karte ein dichtes Cluster von sechs Diphthong-Einzelbelegen, in der SSA-Karte erscheint das Gebiet jedoch als völlig homogenes Monophthong-Gebiet. Weiterhin fällt beim Real-Time-Vergleich das Gebiet für die Realisierung von [OI] gemäß SSA auf, das in den Daten W EN KERS gar nicht (auch nicht in Form von Einzelbelegen) verzeichnet ist. Man könnte vermuten, dass das Fehlen dieser Realisierungen bei W ENKER auf die methodische Vorgehensweise zurückgeht, bei der die Laientranskriptoren die Diphthongvariante [OI] nicht gesondert berücksichtigten, sondern sie der Variante [eI]/[aI] zuordneten. Dies erscheint allerdings als unwahrscheinlich, da im Diphthong-Gebiet zwischen feinen phonetischen Unterschieden durchaus differenziert wird (beispielsweise zwischen [aI] und [eI]). Es wird sich auch bei anderen Lexemen zeigen, dass diese kleinräumige Variante häufiger in den SSA-Abfragedaten zu finden ist als in den Erhebungsdaten W ENKERS. In Abbildung 3.7 ist zu erkennen, dass nur drei Ortspunkte mit spontansprachlichen Realisierungen innerhalb des [OI]-Gebietes auftreten. In keinem dieser Ortspunkte sind Realisierungen der Variante [OI] belegt, was dem

Abb. 3.6: Vergleich der Wenker-Karte III-4/15 mit der SSA-Karte II/25.07 für das Lexem gleich.

66 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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angedeuteten Lautwandel aus dem Real-Time-Vergleich widerspricht. Womöglich handelt es sich bei der Variante [OI] um eine Reliktform, an die nur noch durch die exhaustiven Erhebungsmethoden des SSA heranzukommen war. Betrachtet man das Kartenbild der spontansprachlichen Daten hinsichtlich der Diphthongierungsprozesse, so werden die Ergebnisse des Real-Time-Vergleichs bestätigt. Gerade im nördlichen Bodenseegebiet ist in den spontansprachlichen Daten keine einzige Realisierung eines Monophthongs mehr nachgewiesen. Auch im restlichen Monophthong-Gebiet tauchen gerade dort gehäuft diphthongische Realisierungen auf, wo bereits die Wenker-Karte diphthongische Einzelbelege aufwies. In quantitativer Hinsicht tritt der Rückgang der Monophthong-Realisierungen klar hervor. So werden innerhalb des alten Monophthong-Gebietes 31,0 % (66) der Tokens diphthongisch realisiert. Bei den untersuchten spontansprachlichen Daten handelt es sich ausschließlich um Simplizia, da für das Adverb gleich keine komplexen Wortformen im spontansprachlichen Korpus auftreten. Insgesamt lässt sich für die Realisierung von mhd. î im Lexem gleich festhalten, dass der im Real-Time-Vergleich angedeutete Wandel nördlich des Bodensees durch den Apparent-Time-Vergleich bestätigt wird. Im übrigen Monophthong-Gebiet erscheinen die Daten der SSA-Abfrage hingegen konservativer als diejenigen W ENKERS, weswegen der Real-Time-Vergleich hier auf eine Stabilisierung der monophthongischen Realisierung hindeutet. Dies wird durch die spontansprachlichen Daten nicht bestätigt, da aus diesen die Ausbreitung der Diphthongierung hervorgeht.

3.2.2.5 Lexem sein (Infinitiv) Da für das Lexem sein keine Wenker-Karte zur Verfügung steht, beschränkt sich die folgende Analyse auf einen Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten. Dieser ist aufgrund der hohen Tokendichte (918) besonders aussagekräftig. Gemäß SSA-Abfragedaten ist die Diphthongierung für die Wortform sein hinsichtlich ihrer geografischen Ausbreitung nicht so weit fortgeschritten wie dies bei den anderen in die Analyse einbezogenen Lexeme der Fall ist (Abbildung 3.8). Dies dürfte einerseits auf die hohe Gebrauchsfrequenz dieser Wortform (sowohl im Dialekt als auch in der Standardsprache) zurückzuführen sein. Zudem handelt es sich um eine isolierte Wortform des Verbparadigmas, die nur den Infinitiv bezeichnet und zu keinerlei komplexen Wortbildungsprozessen fähig ist. Hinsichtlich der geografischen Distribution fällt im Raum Rottweil eine deutliche Ausbuchtung des Monophthong-Gebietes nach Osten auf. Allerdings handelt es sich hier bei den Monophthongen hauptsächlich um eine kleinräumige, gesenkte Variante [e:] des großräumig verbreiteten Monophthongs [i:]/[i]. Diese Realisierung ist im untersuchten Korpus nur für das Lexem sein belegt und stellt eine Sonderform dar. Betrachtet man hingegen den nördlichen Bodenseeraum, fällt er durch eine vergleichsweise hohe Homogenität auf und bildet in den Abfragedaten des SSA ein zusammenhängendes Monophthong-Gebiet, das nur von wenigen Diphthong-

Abb. 3.7: Vergleich der SSA-Karte II/25.07 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem gleich.

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Abb. 3.8: Vergleich der SSA-Karte III/1.511 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem sein.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Belegen in Friedrichshafen, Wangen (Lkr. Ravensburg) und Isny (Lkr. Ravensburg) durchsetzt ist. Wie auch bei den anderen untersuchten Lexemen wird im übrigen Monophthong-Gebiet gemäß SSA-Abfragedaten konsistent Monophthong realisiert. Bezieht man die spontansprachlichen Daten in die Betrachtungen mit ein, ist der angedeutete Rückgang des Monophthong-Gebietes klar zu erkennen. Betroffen sind der nördliche Bodenseeraum und das nördlichste Untersuchungsgebiet. Ein dritter, deutlich hervortretender Variationsraum bildet der nördliche SchwarzwaldBaar-Kreis bei Villingen-Schwenningen. Das Argument der Isoglossennähe kann zur Erklärung der in diesem Gebiet gehäuft auftretenden Diphthonge nur bedingt herangezogen werden, denn östlich des betreffenden Variationsgebietes tauchen in unmittelbarer Isoglossennähe fast ausschließlich Monophthonge auf. Interessanterweise sind hier in den spontansprachlichen Daten aber keinerlei Belege für die gehobene Monophthong-Variante [se:(n)] mehr nachgewiesen. Bei allen monophthongischen Tokens handelt es sich um die Realisierung [si:]/[si]. Neben den besprochenen Variationsgebieten sind in den spontansprachlichen Daten auch besonders konservative Regionen auszumachen. Das am deutlichsten hervortretende liegt im Südwesten des Untersuchungsgebietes südlich von Freiburg und bildet einen nahezu homogenen Raum mit konsistent monophthongischen Realisierungen. Die Stabilität dieses Reliktgebietes wird zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass trotz der hohen Tokendichte keinerlei Diphthonge auftreten. Interessant ist die spontansprachliche Realisierung der Variante [OI] im Ortspunkt Dobel (Landkreis Calw), die in den SSA-Abfragedaten nicht verzeichnet ist. Im Fall des Lexems sein entsteht der Eindruck, als ob es sich hier um eine spontane Neubildung an einem einzigen Ort handelt, während innerhalb anderer Lexeme diese Realisierungsform offenbar verschwindet. Im Allgemeinen lässt sich für die geografische Verteilung des Diphthongierungsprozesses im Lexem sein festhalten, dass der Grad der Abweichung im Vergleich zu den anderen untersuchten Lexemen im gesamten Monophthong-Gebiet gering ist. So wird lediglich ein Anteil von 14,2 % (68) der Tokens diphthongisch realisiert, was der zweitniedrigste Anteil innerhalb der Gesamtheit aller untersuchten Lexeme darstellt. Als Hauptgrund hierfür dürfte die hohe Gebrauchsfrequenz des Lexems sein angesehen werden. Hinzu kommt die bereits oben angesprochene Kopplung mit den Faktoren der grammatischen Exlusivität (Ausdruck des Infinitivs) sowie der ausschließlich „simplizischen“ Vorkommensweise.

3.2.2.6 Lexem Weib Für das Lexem Weib ist nur ein Vergleich in Apparent-Time möglich, der in Abbildung 3.9 dargestellt ist. Hierzu wurde die Diphthongierungsisoglosse gemäß SSAFrage 272/006 gegen die spontansprachlichen Daten aufgetragen. Eine WenkerKarte existiert für dieses Lexem zwar nicht, doch stehen Isoglossen aus den Kartierungen von H AAG (1929/30; 1932) sowie B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39) zur Verfügung. Beim Vergleich der beiden Isoglossen zeigt H AAGS Isoglosse im

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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mittleren Teil ihres Verlaufs nur eine geringe Abweichung nach Südwesten. Erst im nördlichen Bodenseeraum treten deutlichere Unterschiede zutage. Sowohl die Isoglosse nach H AAG als auch diejenige nach B OHNENBERGER und S CHÖLLER verlaufen (insbesondere im Raum Ravensburg) weiter nördlich als die SSA-Isoglosse. Die beiden erstgenannten unterscheiden sich merklich voneinander, obwohl es sich um das gleiche Lexem handelt und den Karten Sprecher aus etwa derselben Generation zugrunde liegen. Dieser Unterschied könnte ein weiterer Hinweis für die starke Variation sein, die in diesem Raum bereits um die Jahrhundertwende geherrscht haben muss. Andererseits sind methodische Erhebungsprobleme als Ursache für die unterschiedlichen Isoglossenverläufe denkbar. Im nächsten Schritt sollen nun die spontansprachlichen Daten in die Betrachtung einbezogen werden. Sie weisen einen nur geringen Anteil an Diphthongen im traditionellen Monophthong-Gebiet auf. Dennoch ist innerhalb des MonophthongGebietes eine eindeutige Tendenz zur Diphthongierung zu beobachten. Interessant ist angesichts dieser Entwicklung das Auftreten von Monophthongen nördlich von Rastatt und südlich von Freudenstadt, obwohl sich beide Ortspunkte bereits im Diphthong-Gebiet befinden. Womöglich handelt es sich hierbei um hyperdialektale Formen, d. h. die „fehlerhafte“ Annäherung an die Zielvarietät, in diesem Fall also den eigenen Dialekt (vgl. L ENZ 2003, 207–211). Es wäre denkbar, dass den Sprechern die benachbarte monophthongische Realisierung bekannt ist und sie diese einsetzen, um besonders dialektal (bzw. standardfern) zu klingen. Aus der Interpretation der kartierten Spontanbelege entsteht der Eindruck, als sei der Wandel hin zur diphthongischen Realisierung – wenngleich vorhanden – deutlich schwächer als bei den meisten anderen Lexemen. Diesen Eindruck einer relativ hohen Wandelresistenz bestätigt die quantitative Analyse. So werden innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes nur 11,6 % (12) aller Tokens diphthongisch realisiert. Damit ist das Lexem Weib das stabilste im Gesamtkorpus der untersuchten Lexeme. Eine mögliche Erklärung für diese Stabilität ist, dass das Lexem Weib in den untersuchten Dialekten ein breiteres Spektrum an semantischen Feldern abdeckt, während dies im gesprochenen Standard nicht mehr der Fall ist. Man denke beispielsweise an die Bedeutungsverschlechterung des Simplex Weib im Neuhochdeutschen, weswegen dieses Lexem zur Bezeichnung des wertneutralen Begriffs ‘weiblicher Mensch’ in der Standardsprache nicht mehr gebräuchlich ist, im Dialekt jedoch sehr wohl. Dem dialektalen Lexem Weib würde somit ein Pendant im Standard fehlen, das ähnliche semantische Felder abdeckt und eine ähnliche Gebrauchsfrequenz aufweist. Die Beeinflussung durch den Standard, in dem das Lexem Weib weniger gebräuchlich ist, dürfte dementsprechend stark eingeschränkt sein, was wiederum die geringe Wandeltendenz im vorliegenden Spontankorpus erklären würde. Auch wenn die Wandeltendenz im Lexem Weib nur schwach ausgeprägt ist, so stellt sich weiterhin die Frage, ob diese durch die überdachende Standardsprache induziert ist oder durch den Einfluss des benachbarten Schwäbischen. Wie aus Abbildung 3.9 hervorgeht, tauchen die diphthongischen Realisierungen im Monophthong-Gebiet auch fern der Diphthongierungsisoglosse auf, ein Befund, der auf standardsprachlichen Einfluss hindeutet. Ein weiterer Hinweis auf eine vertikale

Abb. 3.9: Vergleich der Daten aus SSA-Frage 272/006 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Weib.

72 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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Einflussnahme bietet der prozentuale Vergleich des Diphthong-Anteils von Simplizia mit komplexen Wortformen im Monophthong-Gebiet. Gemäß der Hypothese, wonach es sich bei komplexen Wortformen häufig um Entlehnungen aus dem Standard handelt, müsste der Anteil an Diphthongen im Monophthong-Gebiet bei alleiniger Betrachtung von Simplizia geringer erscheinen. Diese Annahme bestätigt sich in den Daten für das Lexem Weib: Durch das Weglassen der morphologisch komplexen Wortformen entsteht ein nahezu homogenes Korpus, mit einem Anteil von nur 4,8 % (2) diphthongischer Belege, die in einem einzigen Ortspunkt auftreten (Liel, Lkr. Lörrach). Aus diesem Befund lässt sich ableiten, dass für die diphthongisch realisierten Tokens im Monophthong-Gebiet allein die morphologische Komplexität verantwortlich zu sein scheint. Nahezu alle morphologisch komplexen Tokens werden diphthongisch realisiert, umgekehrt sind fast alle Simplizia monophthongisch. Betrachtet man die morphologisch komplexen Wortformen genauer, so fällt auf, dass es sich häufig um Wortbildungsprodukte handelt, die vermutlich in jüngerer Zeit aus dem Standard entlehnt worden sind. Dies trifft insbesondere für das Derivat weiblich zu, bei dem es sich ohne Zweifel um eine Übernahme aus dem Standarddeutschen handelt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Adjektivbildung mit dem Suffix -lich an das Wurzelmorphem Weib in den Dialekten nicht produktiv ist und es sich demnach nicht um eine autochthon dialektale Bildung handeln kann. Ebenfalls um eine Entlehnung handelt es sich wohl beim (im Standarddeutschen) bereits stark lexikalisierten Kopulativkompositum Mann(s)weib.

3.2.2.7 Lexem Wein Die verfügbaren Daten für das Substantiv Wein erlauben sowohl einen Real-Timeals auch einen Apparent-Time-Vergleich. In Abbildung 3.10 ist zunächst der RealTime-Vergleich zwischen Wenker- und SSA-Abfragedaten zu sehen. Die entsprechenden Diphthongierungsisoglossen weichen in ihrem nordwestlichen Teil nur leicht voneinander ab. Erst im Südosten fallen deutlichere Unterschiede in der Variation der beiden Isoglossen auf. Nach Wenker ist der südöstliche Teil des Monophthong-Gebietes durch einen schmalen Korridor (ca. von Meersburg nach Norden weisend) vom restlichen Monophthong-Gebiet abgetrennt, während das Monophthong-Gebiet in den SSA-Abfragedaten zusammenhängend erscheint. Der Abbau des Monophthong-Gebietes im nördlichen Bodenseeraum tritt an dieser Stelle in den Daten W ENKERS deutlicher zutage als in den Abfragedaten des SSA. Die Isoglossen weisen im weiteren Verlauf (in abwechselnder Richtung) stark auseinander, wobei die SSA-Isoglosse eine tendenziell nach Süden gewandte Ausbreitung der Diphthong-Realisierung andeutet. Die Ausbreitung der Diphthonge nördlich des Bodensees wird in den SSA-Abfragedaten zusätzlich durch vier diphthongische Einzelbelege bekräftigt. Das restliche Monophthong-Gebiet erscheint gemäß den SSA-Abfragedaten homogen. Diese Stabilität gilt für den nördlichsten Bereich um Baden-Baden auch gemäß RUOFF (1992, Karte 31). In den Daten W ENKERS tauchen im Monophthong-Gebiet hingegen drei diphthongische Einzelbelege auf.

Abb. 3.10: Vergleich der Wenker-Karte III-4/224 mit den SSA-Abfragedaten (Frage 210/005) für das Lexem Wein.

74 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.2 Diphthongierung von mhd. î

75

Innerhalb des Diphthong-Gebietes existiert eine kleinräumige Variante [OI], die im nordwestlichsten Untersuchungsgebiet zwischen Karlsruhe und Pforzheim sowohl in den Daten W ENKERS als auch in den SSA-Abfragedaten auftritt. Diese Realisierung ist bei W ENKER durch 14 Einzelbelege kartiert. Im Vergleich mit den SSAAbfragedaten fällt eine erhebliche Verkleinerung des Realisierungsgebietes für [OI] auf. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass das Erhebungsgebiet des SSA nicht weit genug nach Norden reicht, um das Verbreitungsgebiet von [OI] gemäß W ENKER abzudecken. Der Vergleich der Wenker-Daten und des zur Verfügung stehenden südlichen Verbreitungsgebietes nach SSA weist auf eine leicht nach Süden weisende Ausbreitung des [OI]-Gebietes hin. Bei den SSA-Abfragedaten handelt es sich um fünf benachbarte Erhebungsorte, in denen konsistent die Variante [OI] produziert wird. Bezieht man die spontansprachlichen Daten mit ein, kann diese Ausbreitungstendenz der Variante [OI] allerdings nicht bestätigt werden (Abbildung 3.11), da keine spontansprachlichen Tokens innerhalb des Verbreitungsgebietes gemäß SSA-Abfragedaten vorliegen. Die nordöstlich dieses Gebietes auftretenden Tokens der Aufnahmen des „Badischen Wörterbuchs“ werden alle als Variante [aI] realisiert; ein Befund, der nicht für eine Stabilisierung oder gar Ausbreitung der Variante [OI] in diesem Raum spricht. Betrachten wir das Monophthong-Gebiet, so entwickelt sich dieses auch im Falle des Lexems Wein zurück. Insgesamt werden hier 25,1 % (103) der Tokens diphthongisch realisiert, was im Vergleich mit den übrigen untersuchten Lexemen ein durchschnittlicher Wert darstellt. Im nördlichen Bodenseeraum gibt es in keinem der vier kartierten Ortspunkte eine monophthongische Realisierung. Im restlichen Monophthong-Gebiet ist der Anteil der monophthongisch realisierten Tokens zwar höher als die diphthongisch realisierten, doch lässt sich in kaum einem Teilareal ein konsistentes Monophthong-Gebiet in den spontansprachlichen Daten festmachen. Es herrscht überall deutliche Variation, gerade entlang des Rheins zwischen Offenburg und Lörrach. Dass es gerade in diesem Raum zu Abweichungen von der traditionellen monophthongischen Lautung kommt, verwundert, ist das Lexem Wein aufgrund der hohen Bedeutung des Weinbaus im hiesigen Berufs- und Kulturleben doch sehr frequent (wie auch die Symbolgrößen in der Karte zeigen). Der erhöhte Anteil an diphthongischen Realisierungen dürfte also auf die zahlreichen morphologisch komplexen Wortformen im Datenkorpus für das Lexem Wein zurückzuführen sein: Innerhalb des Monophthong-Gebietes sind 41,9 % (174) der Tokens morphologisch komplex. Davon werden 35,5 % (61) diphthongisch realisiert, wohingegen dies nur für 17,6 % (42) der Simplizia zutrifft. Der starke Rückgang der Diphthonge bei Herausnahme aller Komposita wird in Abbildung 3.12 deutlich, wobei vor allem das bereits erwähnte Gebiet entlang des Rheins zwischen Offenburg und Lörrach nun durch einen wesentlich geringeren Anteil an Diphthongen auffällt. Bei den morphologisch komplexen Wortformen handelt es sich ausschließlich um Komposita, die bestimmte Weinsorten bzw. Geräte und Entitäten bezeichnen, die für den Weinbau bestimmt sind. Insgesamt verteilen sich die 174 Tokens morphologisch komplexer Wortformen auf 72 Types, von denen diejenigen mit mindestens fünf Tokens in Tabelle 3.5 aufgeführt sind.

Abb. 3.11: Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 210/005) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Wein.

76 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Abb. 3.12: Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 210/005) mit den spontansprachlichen Daten (nur Simplizia) für das Lexem Wein.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

77

78 Type Rotwein Weinwagen Weingeist Weinbauer(n) Weinbau Weinstein(e) Weinberg(e)

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Anzahl Ortspunkte 4 3 1 7 7 3 4

Anzahl Tokens 13 10 5 8 17 9 9

Anzahl Diphthonge 0 0 0 1 7 4 9

Anteil Diphthonge 0% 0% 41,2 % -

Tab. 3.5: Morphologisch komplexe Wortformen des Lexems Wein im Monophthong-Gebiet. Die Auswahl in Tabelle 3.5 zeigt, dass der Grad der Abweichung sehr stark vom Type der morphologisch komplexen Wortform abhängt und von einem Type zum nächsten sehr unterschiedlich sein kann. Konkret scheint es sich bei den Wortformen Rotwein, Weinbauer(n), Weingeist und Weinwagen um fest im Dialekt verankerte Formen zu handeln, wobei sie (mit Ausnahme des Lexems Weinwagen) keine autochthon dialektalen Bildungen sind, sondern auch in der Standardsprache vorkommen können. Bei den Lexemen Weinbau, Weinberg(e) und Weinstein(e) scheint es sich hingegen um Wortformen zu handeln, die gegenüber dem Einfluss der Standardsprache empfänglicher sind.

3.2.2.8 Lexem weiß Mit dem Adjektiv weiß kann ein vollständiger Vergleich durchgeführt werden. Im Real-Time-Vergleich auf Abbildung 3.13 ist zu sehen, dass die Diphthongierungsisoglossen gemäß SSA-Abfragedaten und Wenker ausgesprochen deckungsgleich verlaufen. Lediglich östlich von Baden-Baden verläuft die SSA-Isoglosse etwas weiter im Westen und weist auf eine Ausbreitung der Diphthongierung in diesem Areal hin. Auch im ansonsten recht stark variierenden südöstlichen Teil des Untersuchungsgebietes weicht die SSA-Isoglosse nur im Raum Ravensburg deutlich nach Süden ab. Eine deutliche Wandeltendenz hin zum Abbau der diphthongischen Lautung lässt sich alleine aus dem Isoglossenvergleich also noch nicht erkennen. Zusammen mit den diphthongischen Einzelbelegen innerhalb des traditionellen MonophthongGebietes wird das Bild schon etwas klarer: Gemäß der Wenker-Kartierung tauchen hier zwölf Einzelbelege auf, die sich vor allem im nördlichsten Monophthong-Gebiet und nördlich des Bodensees konzentrieren. In den SSA-Abfragedaten erscheint das Gebiet jedoch homogener: Abweichende Einzelbelege tauchen lediglich im nördlichen Bodenseegebiet auf. Innerhalb des Diphthong-Gebietes ist in den Daten W ENKERS auch für das Lexem weiß ein kleines Gebiet mit der Variante [OI] zwischen Karlsruhe und Pforzheim nachgewiesen. Hier treten sechs Einzelbelege dieser

Abb. 3.13: Vergleich der Wenker-Karte III-4/441 mit der SSA-Karte II/210.06 für das Lexem weiß.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

79

80

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Variante auf. Das Gebiet ist in den SSA-Abfragedaten nicht mehr verzeichnet und somit offensichtlich verschwunden. Dieser Befund kann durch die spontansprachliche Daten nicht überprüft werden, da solche in diesem Gebiet nicht vorliegen. Betrachtet man die Entwicklung der Diphthongierung in den spontansprachlichen Daten, so werden innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes 31,6 % (49) der Tokens diphthongisch realisiert. Es fällt der Rückgang der Monophthonge nördlich des Bodensees und weiter nach Nordwesten bis in den Raum westlich von Villingen-Schwenningen auf. Die restlichen Tokens innerhalb des MonophthongGebietes sind recht großräumig verteilt und lassen (auch aufgrund der teilweise recht geringen Tokendichte) keine besonders innovativen Gebiete erkennen. Innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes ist der hohe Anteil an schwach steigenden Diphthongen [eI] auffällig, der bezüglich der stark steigenden Diphthonge [aI] im Verhältnis 90,1 % : 9,9 % vorkommt. Im Vergleich hierzu ist der relative Anteil an schwach steigenden Diphthongen im traditionellen Monophthong-Gebiet gering (38,8 % : 61,2 %). Dies deutet darauf hin, dass die Diphthongierung insgesamt stärker durch die Standardsprache vermittelt wird als durch das benachbarte Schwäbische. Bei genauerem Betrachten der Tokenverteilung in Abbildung 3.14 ist jedoch zu sehen, dass die schwach steigenden Diphthonge vermehrt in Isoglossennähe auftreten (v. a. entlang der südöstlichen Hälfte der Diphthongierungsisoglosse), wohingegen stark steigende Diphthonge im restlichen Monophthong-Gebiet verteilt sind. Auch für das Adjektiv weiß soll der Einfluss komplexer Wortformen auf den Lautwandel berücksichtigt werden. Von den insgesamt 155 Tokens im traditionellen Monophthong-Gebiet handelt es sich bei 68 um morphologisch komplexe Wortformen, von denen 64 Komposita sind und vier Tokens das Derivat weißeln bilden. Von den morphologisch komplexen Wortformen werden innerhalb des Monophthong-Gebietes 25,0 % (17) diphthongisch realisiert. Auf die verbleibenden 87 Simplizia kommt eine wesentlich höhere Abweichung von 32 Tokens (36,8 %). Für das Datenkorpus des Lexems weiß scheint sich die Hypothese, wonach morphologisch komplexe Wortformen zur phonologisch standardnahen Realisierung neigen, nicht zu bestätigen. Der Befund verdeutlicht vielmehr das Gegenteil, dass nämlich komplexe Wortformen die dialektale Lautung stärker bewahren als Simplizia. Eine Interpretation gestaltet sich auf der Grundlage des vorliegenden Daten schwierig, da die im Korpus enthaltenen komplexen Wortformen allesamt im Standard gebräuchlich sind und eine Entlehnung aus diesem durchaus denkbar ist (Tabelle 3.6). Allerdings sind alle Wortformen ebenso im Dialekt gebräuchlich, da sie womöglich schon früh in diesen aufgenommen wurden und dort samt der monophthongischen Lautung fest verankert sind.38 Insgesamt lässt sich für das Lexem weiß also festhalten, dass sich, wie auch bei den anderen bisher diskutierten Lexemen, die diphthongische Lautung im traditionellen Monophthong-Gebiet ausbreitet. Hiervon sind vor allem die Gebiete nordwestlich des Bodensees sowie der nördliche Schwarzwald-Baar-Kreis betroffen. 38

Ein Nachweis des Alters dieser Wortformen ist anhand einschlägiger Wörterbücher, wie z. B. dem „Badischen Wörterbuch“ (O CHS et al. 1925 ff.), dem „Schwäbischen Wörterbuch“ (F I SCHER 1904–1936) oder dem „Deutschen Wörterbuch“ (G RIMM / G RIMM 1854–1971) nicht zu erbringen.

Abb. 3.14: Vergleich der SSA-Karte II/210.06 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem weiß.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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82 Type weißeln halbweißes (Brot) Weißherbst Weißrüben Weißtanne Weißbrot Weißfisch

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Anzahl Ortspunkte 1 5 2 5 4 3 4

Anzahl Tokens 4 5 4 9 4 6 10

Anzahl Diphthonge 0 0 0 0 0 1 5

Tab. 3.6: Morphologisch komplexe Wortformen des Lexems weiß mit mindestens vier Tokens im Monophthong-Gebiet. 3.2.2.9 Lexem weit Das Lexem weit taucht im spontansprachlichen Korpus in einer ganzen Reihe unterschiedlicher syntaktischer und morphologischer Kontexte auf, die alle in die Analyse einbezogen wurden. So kann weit beispielsweise als Adjektiv oder Adverb verwendet werden und ist in seiner Komparativform außerdem als Verbalpräfix weiterproduktiv. Die Abfragedaten des SSA beruhen hingegen auf der Einzelwortabfrage des Simplex weit. Eine Wenker-Karte für das Lexem weit existiert nicht, weswegen sich die folgende Analyse auf einen Apparent-Time-Vergleich von SSA-Abfrageund Spontandaten beschränkt. Dieser ist in Abbildung 3.15 zu sehen. Betrachtet man die SSA-Diphthongierungsisoglosse für das Lexem weit, so erscheint das Monophthong-Gebiet im Vergleich mit den anderen untersuchten Lexemen relativ klein. Besonders die bis auf einen einzigen Ortspunkt (Sipplingen, Lkr. Konstanz) fortgeschrittene Auflösung des Monophthong-Gebietes im nordwestlichen Bereich des Bodensees ist auffällig, wohingegen der nordöstliche Bereich weitestgehend als geschlossener Raum erscheint. Doch auch hier sind bereits vier abweichende Ortspunkte belegt, von denen besonders Konstanz und Friedrichshafen auch in den anderen untersuchten Lexemen häufig Diphthonge realisieren. Betrachtet man nun die spontansprachlichen Daten im nördlichen Bodenseeraum, so geht daraus hervor, dass im tatsächlichen Sprachgebrauch der Abbau der monophthongischen Realisierung fast abgeschlossen ist. Nur im Erhebungsort Oberteuringen (Lkr. Ravensburg) sind im spontanen Sprachgebrauch noch monophthongische Realisierungen belegt. Am nordwestlichsten Zipfel des Bodensees sind noch zwei weitere Monophthonge im Erhebungsort Bonndorf (Lkr. Konstanz) nachgewiesen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Sprecher im nördlichen Bodenseeraum hinsichtlich der Realisierung des Lexems weit fast komplett zur diphthongischen Realisierung übergegangen sind. Im restlichen Monophthong-Gebiet ist ebenfalls durchgehend starke Variation nachgewiesen. Besonders betroffen ist die Region im nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis zwischen den Flüssen Brigach und Breg. Hier sind kaum noch Monophthonge vorzufinden. Ebenso neigt das Gebiet

Abb. 3.15: Vergleich der SSA-Karte II/210.04 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem weit.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

83

84

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

westlich von Emmendingen sowie der Nordwesten des Monophthong-Gebietes stärker zur diphthongischen Realisierung. Sogar das ansonsten sehr stabile Reliktgebiet im äußersten Südwesten weist nahezu flächendeckend Variation auf. Das weitere Fortschreiten der Diphthongierung tritt im Fall des Lexems weit also sehr deutlich in Erscheinung. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass umgekehrt ein einziger Monophthong-Beleg innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes im Erhebungsort Kuppingen (Lkr. Böblingen) auftritt. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine Allegroform, die zusätzlich durch die drei vorhergehenden Silbennuklei [i] hervorgerufen wurde ([o: dan braUx i nimi vi:t SvEtsE] ‘Oh, dann brauche ich nicht mehr weit/lange zu sprechen’). Differenziert man innerhalb des Datenkorpus zwischen morphologisch komplexen Wortformen und Simplizia, so ergeben sich in Bezug auf die Variation im Monophthong-Gebiet kaum Unterschiede: Innerhalb der komplexen Wortformen werden 40,2 % (58) diphthongisch realisiert, während dies in der Teilgruppe der Simplizia für 40,1 % (160) der Tokens zutrifft.39 Auch innerhalb der komplexen Wortformen bleibt die Variation bei einer weiteren Differenzierung nach verschiedenen Wortbildungstypen ähnlich. So beträgt der Anteil an Diphthongen in den frequenten Partikelverben 38,9 % (131) (z. B. weitergehen) und in den seltener vorliegenden Komposita 35,7 % (14) (z. B. himmelweit). Schließlich soll für das Lexem weit die Variation zwischen Kurzvokal [vit] und Langvokal [vi:t] erwähnt werden. Es geht dabei um den Erhalt alter Länge vor Verschlusslautfortis, der laut SSA-Abfragedaten nur noch in einem kleinen Gebiet nordwestlich des Bodensees existiert (ungefähr zwischen Konstanz und VillingenSchwenningen). Wie Abbildung 3.15 zu entnehmen ist, sind Langvokale (schwarze Dreiecke) gemäß den spontansprachlichen Daten jedoch nicht nur innerhalb des traditionellen Kürzegebietes vorzufinden, sondern sind auch im Gebiet westlich hiervon zahlreich vertreten.40 Offenbar breiten sich die Langvokale also im südwestlichen Untersuchungsgebiet aus.

3.2.2.10 Lexem Zeit Das Substantiv Zeit lässt einen vollständigen Vergleich zwischen den Daten W EN KERS, den SSA-Abfragedaten sowie den spontansprachlichen Daten zu. Wie im Real-Time-Vergleich auf Abbildung 3.16 zu sehen ist, weichen die Verläufe der Diphthongierungsisoglossen nach W ENKER und SSA-Abfragedaten in ihrem westlichen Bereich nur wenig voneinander ab. Auch die hier aufgetragene Isoglosse nach H AAG verläuft nahezu deckungsgleich mit den beiden anderen. Die WenkerKartierung zeigt diphthongische Einzelbelege im Raum Baden-Baden und Rastatt 39 40

Hinsichtlich der geografischen Verteilung der Variation erscheint das Kartenbild für Simplizia und komplexe Wortformen ebenfalls ähnlich. Die Symbole sind folgendermaßen zu verstehen: Die Gesamtmenge der an einem Ortspunkt auftretenden Monophthonge ([i]/[i:]) wird durch einen schwarzen Kreis symbolisiert. Der Anteil an Langvokalen wird durch ein rechts neben diesem Kreissymbol stehendes schwarzes Dreieck dargestellt.

Abb. 3.16: Vergleich der Wenker-Karte III-4/174 mit der aus SSA-Frage 286/004 erstellten Karte für das Lexem Zeit.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

sowie um Freiburg. Diese Wandeltendenz bestätigt sich in den SSA-Abfragedaten kaum; auch die Erhebungen RUOFFS weisen für dieses Gebiet nur sehr geringe Variation auf (vgl. RUOFF 1992, Karte 30). Der Bereich nördlich des Bodensees zeigt im Real-Time-Vergleich jedoch deutliche Veränderungen zuungunsten des traditionellen Monophthong-Gebietes. Zum einen verläuft die SSA-Diphthongierungsisoglosse hier fast durchgehend südlicher als die Diphthongierungsisoglosse gemäß W ENKER, zum anderen sind laut SSA-Abfragedaten vier Erhebungsorte innerhalb des geschlossenen Monophthong-Gebietes zur diphthongischen Realisierung übergegangen. Der Einbezug der spontansprachlichen Daten zeigt, dass sich der im Kartenvergleich angedeutete Wandel im nördlichen Bodenseeraum fortsetzt (vgl. Abbildung 3.17). Zwar sind in zwei Erhebungsorten noch einheitlich monophthongische Realisierungen belegt, in den anderen Orten variieren Monophthonge aber mit Diphthongen oder sind vollständig zur diphthongischen Realisierung übergegangen. Insgesamt zeigt sich innerhalb des alten Monophthong-Gebietes eine deutliche Ausbreitung der diphthongischen Realisierung. 30,5 % (241) der Tokens werden hier diphthongisch realisiert, was im Vergleich mit den übrigen analysierten Lexemen einem durchschnittlichen Anteil entspricht. Betrachtet man die geografische Verteilung der Variation, so fällt das Gebiet des Schwarzwald-Baar-Kreises um Villingen-Schwenningen herum als Variationsgebiet besonders auf. Für diesen Raum ist auch bereits in den übrigen Lexemanalysen eine hohe Variation nachgewiesen. Interessant hierbei ist, dass die Monophthonge in diesem Gebiet (wie auch im nördlichen Bodenseeraum) nicht nur durch stark steigende (= standardnahe) Diphthonge ersetzt werden, sondern auch durch schwach steigende (= schwäbische) Diphthonge. In diesen Gebieten scheint also nicht allein der flächendeckende, vertikale Einfluss der Standardsprache zu wirken, sondern zudem durch den horizontal hinzukommenden Einfluss der benachbarten schwäbischen Varietäten verstärkt zu werden. Dieser synergetische Effekt ist im restlichen Monophthong-Gebiet nicht erkennbar, denn hier ist der Anteil an Monophtongen insgesamt geringer und als Ersatzlaut dient fast ausschließlich der stark steigende (standardnahe) Diphthong. Für das Lexem Zeit erscheint der südwestlichste Teil des Untersuchungsgebietes südlich von Freiburg besonders konservativ. Zwar weisen auch hier eine ganze Reihe von Erhebungsorten Variation (mit stark steigenden Diphthongen) auf, doch in geringerem Maße als die übrigen Teile des traditionellen Monophthong-Gebietes. Im Folgenden soll die beschriebene Variation unter Berücksichtigung der morphologischen Komplexität betrachtet werden. Bei separater Betrachtung von Simplizia und morphologisch komplexen Tokens ändert sich die Variation nur wenig. Insgesamt beträgt der Anteil an Diphthongen innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes bei ausschließlicher Berücksichtigung von Simplizia 27,6 % (146). Betrachtet man nur die Gruppe der komplexen Wortformen, werden hiervon 36,5 % (95) diphthongisch realisiert. Das Kriterium der morphologischen Komplexität hat bei der Betrachtung des Gesamtkorpus für das Lexem Zeit demnach keinen erheblichen Einfluss auf den Lautwandel.

Abb. 3.17: Vergleich der aus SSA-Frage 286/004 erstellten Karte mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Zeit.

3.2 Diphthongierung von mhd. î

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Das heterogene Bild von Gebieten mit wenig bzw. viel Variation lässt eine gesonderte Analyse des Einflussfaktors morphologische Komplexität für letztere Gebiete sinnvoll erscheinen, da hier eine Adaption an den Standard wahrscheinlicher ist. Tatsächlich ergibt sich hinsichtlich der Einflussgröße morphologische Komplexität ein viel klareres Bild, wenn man sich auf das stark variierende Gebiet um VillingenSchwenningen konzentriert. Entfernt man alle morphologisch komplexen Tokens aus diesem Teilgebiet, so nimmt der Anteil an stark steigenden (standardnahen) Diphthongen ebenfalls ab. Dies zeigt, dass stark steigende Diphthonge innerhalb dieses Gebietes besonders in komplexen Wortformen auftreten, während schwach steigende Diphthonge häufiger in Simplizia vorkommen. Komplexe Wortformen sind demnach oftmals neuere Übernahmen aus dem Standarddeutschen und selten im Dialekt traditionell vorkommendende komplexe Lexeme. Schließlich lässt sich das Lexem Zeit innerhalb des traditionellen MonophthongGebietes hinsichtlich seiner Variation zwischen Langvokal [tsi:t] und Kurzvokal [tsit] näher betrachten. Abbildung 3.16 zeigt das Auftreten von Vokallänge nach Wenker im Untersuchungsgebiet. Auffallend ist im Vergleich der Wenker-Karte mit den SSA-Abfragedaten die breitere Streuung von W ENKERS Belegen im südlichen Untersuchungsgebiet, wobei sich die Belegdichte innerhalb des kompakten SSALänge-Gebietes deutlich konzentriert. Damit deuten die Daten Wenkers auf eine größere geografische Ausdehnung von Vokallänge hin, die in den SSA-Abfragedaten jedoch nicht bestätigt wird. Hier ist das Vokallänge-Gebiet klar umgrenzt und nimmt das Gebiet nordwestlich des Bodensees ein. Der Einbezug der spontansprachlichen Daten (vgl. Abbildung 3.17) deutet wiederum auf eine Ausbreitung der Vokallänge im südlichen Untersuchungsgebiet hin – ein Befund, der sehr der Datenlage W ENKERS sowie den Ergebnissen für das zuvor besprochene Lexem weit ähnelt.

3.3 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Û 3.3.1 Datenkorpus Das verfügbare Datenkorpus für die Analyse von mhd. û ist weniger umfangreich als dasjenige für mhd. î. Lediglich vier Lexeme eignen sich aufgrund des Vorkommens im Wenker-Korpus, den SSA-Abfragedaten sowie den spontansprachlichen Daten zu einer vergleichenden Analyse. Es handelt sich um das Substantiv Haus, das Adjektiv laut, das Indefinitpronomen lauter sowie das Adjektiv sauber. Die verfügbaren Karten aus dem Korpus W ENKERS sind in Tabelle 3.7 aufgeführt. Neben den Karten Wenkers und des SSA kann auch auf einige Kartierungen von H AAG (1929/30; 1932), B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39) sowie M OSER (1954/55) zurückgegriffen werden.41 Den Beschreibungen der Publikationen ist zu entnehmen, dass die Isoglossen zumeist exemplarisch für eine ganze Reihe von Lexemen einer etymologischen Klasse stehen und nicht exklusiv für das in der Le41

Für Ausführungen bezüglich der zugrunde liegenden Daten dieser Kartierungen siehe Kapitel 3.2.1 zur Realisierung von mhd. î.

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3.3 Diphthongierung von mhd. û

Lexem Haus

Wenker-Karte III-7, 373

laut sauber (temporal)

III-7, 326 III-7, 265

Wenker-Fragesatz Hinter unserm Hause stehen drei schöne Apfelbäumchen... Man muß laut schreien, sonst... Einzelwortabfrage

Tab. 3.7: Korpus der Wenker-Karten für die Realisierung von mhd. û. gende genannte Lexem. Die in Tabelle 3.8 mit „+“ gekennzeichneten Lexeme sind diejenigen, die in den Legenden oder Beschreibungen explizit genannt werden. Lexem

H AAG (1929/30)

H AAG (1932)

Haus laut lauter sauber

+ + -

+ -

B OHNENB . S CHÖLLER (1938/39) + + -

/

M OSER (1954/55) + -

Tab. 3.8: Korpus zusätzlicher Karten aus Publikationen der 1920er- bis 50er-Jahre für die Realisierung von mhd. û. In Tabelle 3.9 ist das Korpus der SSA-Karten zu sehen. Die Lexeme Haus, laut (Adjektiv) und sauber bilden die Schnittmenge mit dem Korpus der Wenker-Karten und sind somit für einen Real-Time-Vergleich verwendbar. Für das Lexem lauter (Indefinitpronomen) beschränkt sich die Analyse auf einen Apparent-Time-Vergleich, da Kartierungen einer älteren Zeitstufe nicht vorliegen. Lexem Haus sauber laut lauter

SSA-Karte/Frage 218/003 372/004 (Qualität) III-7/265 (Quantität) 506/004 282/005

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Man muss fest reiben, sonst wird es nicht sauber. Man muss fest reiben, sonst wird es nicht sauber.

Einzelwortabfrage Sie hat lauter gesunde Kinder.

Tab. 3.9: Korpus der SSA-Karten für die Realisierung von mhd. û. In Tabelle 3.10 ist das Korpus der spontansprachlichen Daten aufgeführt. Insgesamt handelt es sich um 1910 Tokens, verteilt auf vier Lexeme und 284 Ortspunkte. Damit ist das spontansprachliche Korpus etwa dreimal kleiner als das für die Realisierung von mhd. î. Hinsichtlich der Verteilung der Tokens ist zu beachten, dass der Großteil der Tokens auf das Lexem Haus entfällt. Zuletzt soll neben den bisher aufgeführten Datenkorpora eine letzte Vergleichsebene erwähnt werden, die zur Analyse der Diphthongierung im alemannisch-südfränkischen Grenzgebiet herangezogen

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

werden kann. Es handelt sich dabei um eine Kartierung für das Lexem Haus, die auf wissensbasierten Erhebungsdaten RUOFFS (1992) aus den 1980er-Jahren gründet. Lexem Haus laut (Adjektiv) lauter (Indefinitpronomen) sauber GESAMT

Anzahl der Tokens 1475 51 218 166 1910

Anzahl der Ortspunkte 255 31 112 91 284

Tab. 3.10: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. û.

3.3.2 Wandelprozesse innerhalb der einzelnen Lexeme Im Folgenden werden die vier Lexeme, die für die Untersuchung von mhd. û herangezogen werden konnten, einzeln beschrieben und die dabei beobachtbaren Lautwandelprozesse interpretiert. Pro Lexem wird zunächst (wenn möglich) ein RealTime-Vergleich durchgeführt und die daraus erhaltene Lautwandeltendenz durch einen Apparent-Time-Vergleich erweitert. Für die Realisierung von mhd. û ist nicht nur die Diphthongierung beschreibbar, die Lexeme laut (Adjektiv) und lauter (Indefinitpronomen) erlauben darüber hinaus eine Analyse der Entwicklung alter Vokallänge. Sie gehören mit ihren Lautkontexten zum gleichen regelhaften Lautprozess „Kürzung alter Länge vor Verschlusslautfortis“, der auch für einige Lexeme der î-Diphthongierung beschrieben werden konnte (weit, Zeit, Seite). In den spontansprachlichen Daten der Lexeme Haus und sauber herrscht ebenfalls Variation zwischen Vokallänge und Vokalkürze. Hier handelt es sich jedoch nicht um einen geografisch gleichlaufenden Prozess, sondern um lexemspezifische Alternationen.

3.3.2.1 Lexem Haus Der Real-Time-Vergleich für mhd. û im Lexem Haus ist in Abbildung 3.18 zu sehen. Vergleicht man die Isoglossenverläufe, so sind im westlichen und mittleren Teil keine größeren Abweichungen zu erkennen. In der Wenker-Karte sind fünf diphthongische Einzelbelege innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes bei Baden-Baden auffällig. Diese lassen einen Rückgang der monophthongischen Realisierung vermuten, der durch die SSA-Abfragedaten aber nicht bestätigt wird. Ebenfalls heterogener als die SSA-Kartierung erscheinen die Abfragedaten RUOFFS (1992, 51–52 bzw. Karte 36). Wie auf der Karte zu erkennen ist, sind auch in diesen Daten diphthongische Realisierungen innerhalb des Monophthong-Gebietes belegt (in Gausbach, Lkr. Rastatt und Haueneberstein, Lkr. Baden-Baden). Im östlichsten Abschnitt des Isoglossenbündels (etwa ab Ravensburg) weichen die Isoglossen von W ENKER und SSA teilweise deutlich voneinander ab. Insgesamt ver-

Abb. 3.18: Real-Time-Vergleich von Wenker-Karte und SSA-Abfragedaten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem Haus. Zusätzlich sind die Daten H AAGS (1929/30, 1932), B OHNENBERGERS / S CHÖLLERS (1938/39), M OSERS (1954/55) sowie RUOFFS (1992) aufgetragen.

3.3 Diphthongierung von mhd. û

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92

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

läuft die SSA-Isoglosse weiter im Süden und schließt im Gegensatz zur WenkerKartierung auch nicht mehr die Stadt Ravensburg in das Monophthong-Gebiet ein. Die zunehmende Labilität dieses Gebietes wird in den SSA-Abfragedaten außerdem durch die Diphthong-Realisierungen in Konstanz und Friedrichshafen erkennbar. Auch der Vergleich der SSA-Isoglosse mit den Isoglossen H AAGS (1929/30, 1932), B OHNENBERGERS und S CHÖLLERS (1938/39) sowie M OSERS (1954/55) weist auf einen tendenziellen Rückgang der monophthongischen Realisierung hin. Die weitere Entwicklung zeigt Abbildung 3.19, in der alle 1475 spontansprachlichen Tokens für das Lexem Haus gegen die Isoglosse aus den SSA-Abfragedaten aufgetragen sind. Am deutlichsten ist hier zunächst der unidirektionale Abbau der monophthongischen Realisierung zu erkennen. Im traditionellen Diphthong-Gebiet herrscht keine Variation zwischen Monophthong und Diphthong, während im Monophthong-Gebiet insgesamt 28,2 % (200) der Tokens als Diphthonge realisiert werden.42 Die geografische Verteilung der diphthongischen Realisierungen im Monophthong-Gebiet ist nicht homogen. Besonders gehäuft treten Diphthonge im nördlichen Bodenseeraum, im hieran nordwestlich angrenzenden Gebiet und im nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis auf. Weiterhin fällt Variation westlich von Freiburg und Emmendingen und im nördlichsten Untersuchungsgebiet um BadenBaden und Rastatt auf. Besonders stabil erscheint hingegen die Region im südwestlichsten Untersuchungsgebiet, die in nördlicher Richtung bis ca. auf Höhe von Freiburg und nach Osten bis in die südliche Baar reicht. Besonderes auffällig ist zudem die Verteilung von schwach steigenden Diphthongen [OU] (graue Kreissymbole) und stark steigenden Diphthongen [AU] (weiße Kreissymbole). Schwach steigende Diphthonge sind eine typisch schwäbische Realisierungsform, während stark steigende Diphthonge der Standardrealisierung als auch der traditionell südfränkischen Realisierungsform entsprechen. Aus der Kartierung der spontansprachlichen Daten geht hervor, dass die Monophthonge in deren altem Vorkommensgebiet zum größten Teil durch standardnahe Diphthonge ersetzt werden ([AU]: 22,0 % [156], [OU]: 6,2 % [44]). Lediglich im nordöstlichen Bodenseeraum tauchen an vier Ortspunkten auch schwach steigende Diphthonge in nennenswerter Anzahl auf, woraus ein gewisser Einfluss des Schwäbischen auf den Diphthongierungsprozess abgeleitet werden kann. Der Einfluss morphologischer Komplexität auf den Lautwandel lässt sich anhand des Lexems Haus gut untersuchen, denn innerhalb des Monophthong-Gebietes handelt es sich bei 342 (48,2 %) der ingesamt 710 Tokens um morphologisch komplexe Wortformen. Schauen wir uns hierzu Abbildung 3.20 an, auf der ausschließlich Simplizia aufgetragen sind. Verglichen mit der Karte in Abbildung 3.19 fällt eine höhere Konsistenz der monophthongischen Realisierung innerhalb des Monophthong-Gebietes auf. Variation besteht zwar immer noch, auch in denselben Regionen wie in Abildung 3.19, doch ist diese jetzt deutlich geringer. Prozentual lässt sich dieser Eindruck bestätigen: Der Anteil an Diphthongen innerhalb des Monophthong-Gebietes sinkt bei Nichtberücksichtigung der morphologisch komplexen Wortformen um etwa vier Prozent auf 24,1 % (89). Zieht man umgekehrt nur die 42

Dieser Wert stimmt in etwa mit dem durchschnittlichen Diphthong-Anteil innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes für mhd. î überein (vgl. Abschnitt 3.4.4).

Abb. 3.19: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem Haus.

3.3 Diphthongierung von mhd. û

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Abb. 3.20: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem Haus (nur Simplizia).

94 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

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3.3 Diphthongierung von mhd. û

komplexen Wortformen in Betracht, ergibt sich ein höherer Anteil an Diphthongen von durchschnittlich 32,5 % (111) innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes. Wie sich die diphthongischen Tokens auf die konkreten komplexen Wortformen verteilen, wird in Tabelle 3.11 verdeutlicht. Type Haustür Rathaus Wirtshaus Schulhaus Haushalt(e) Krankenhaus Wohnhaus

Anzahl Ortspunkte 12 34 13 10 10 15 9

Anzahl Tokens 18 64 20 24 15 34 16

Anzahl Diphthonge 0 12 4 6 5 19 10

Anteil Diphthonge 0% 18,8 % 20,0 % 25,0 % 33,3 % 55,9 % 62,5 %

Tab. 3.11: Morphologisch komplexe Wortformen des Lexems Haus. Alle Angaben beziehen sich auf das traditionelle Monophthong-Gebiet. Es sind nur komplexe Wortformen enthalten, deren Grundmenge mindestens aus zehn Tokens besteht. Zunächst ist zu erkennen, dass der prozentuale Anteil an Diphthongen zwischen den einzelnen Types sehr stark variiert. Weiterhin ergibt sich aus Tabelle 3.11, dass es sich bei den komplexen Wortformen ausschließlich um substantivische Komposita handelt, die Entitäten des alltäglichen Lebens bezeichnen.43 Eine Argumentation, wonach es sich bei einigen Wortformen um Entlehnungen aus dem Standard handelt (→ hoher Anteil an Diphthongen) oder aber um autochthon dialektale Types (→ geringer Anteil an Diphthongen), ist für die vorliegenden Daten nicht plausibel. Insgesamt lässt sich für die Diphthongierung im Lexem Haus festhalten, dass sich im Real-Time-Vergleich nur leichte Wandeltendenzen im nördlichsten Monophthong-Gebiet sowie nördlich des Bodensees (um Ravensburg) zeigen. Deutlicher fällt der Befund im Apparent-Time-Vergleich aus, der auf einen Rückgang der monophthongischen Realisierung hinweist. Besonders morphologisch komplexe Wortformen fallen im Durchschnitt durch eine erhöhte Tendenz zur diphthongischen Realisierung auf, wobei jedoch die differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Types eine breite Streuung der Wandeltendenz erkennen lässt.

43

Der einzige Beleg im Gesamtkorpus der morphologisch komplexen Wortformen, bei dem es sich nicht um ein Kompositum handelt, ist die Derivation hausieren.

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.3.2.2 Lexem laut (Adjektiv) In Abbildung 3.21 ist der Kartenvergleich zwischen W ENKER und SSA-Abfragedaten für das Adjektiv laut zu sehen.44 Betrachtet man die Diphthongierungsverhältnisse, so teilt sich das Monophthong-Gebiet in zwei Teile auf: ein großes im Westen sowie ein kleines im Osten. Im westlichen Teil erscheinen die Isoglossen nach W ENKER und SSA-Abfragedaten relativ deckungsgleich. Erst kurz vor Erreichen des Bodensees weichen die beiden Grenzlinien voneinander ab. Allein aus dem Vergleich der Isoglossen ist also noch keine klare Wandeltendenz zu erkennen. Lediglich die diphthongischen Einzelbelege, die in den Daten W ENKERS innerhalb des alten Monophthong-Gebietes auftauchen, weisen auf die Ausbreitung der Diphthongierung hin. In den Erhebungen des SSA erscheint das Gebiet völlig homogen und zeigt keinerlei Wandeltendenz. Im kleineren östlichen MonophthongGebiet kann zusätzlich zu den Wenker- und SSA-Abfragedaten die Isoglosse nach B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39) in die Analyse einbezogen werden. Insgesamt ergibt sich dadurch eine Stufung der drei Isoglossen in der Reihenfolge (von Norden nach Süden) B OHNENBERGER / S CHÖLLER > W ENKER > SSA. Dass die Isoglosse von B OHNENBERGER / S CHÖLLER den konservativsten Sprachstand aufweist, war nicht zu erwarten, ist sie (zumindest ihre Publikation) doch 50 Jahre jünger als die Wenker-Erhebungen. Wie weit die ihr zugrunde liegende Sprecherschicht jedoch tatsächlich zurückreicht, kann aus den Ausführungen B OHNENBER GERS und S CHÖLLERS nicht in Erfahrung gebracht werden. Ob womöglich eine ältere Sprechergeneration zugrunde liegt als bei W ENKER, muss spekulativ bleiben. Was den Vergleich der Daten betrifft, scheint die monophthongische Realisierung in diesem Gebiet jedenfalls zunehmend durch die diphthongische ersetzt zu werden. Hierauf weisen auch die diphthongischen Einzelbelege gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten innerhalb des geschlossenen Monophthong-Gebietes hin. Neben der Diphthongierung kann für das Adjektiv laut die Entwicklung der alten Langvokale analysiert werden. Ein Gebiet erhaltener Länge vor Verschlusslautfortis ist in den Daten W ENKERS nicht klar abgegrenzt, eine Konzentration der Einzelbelege findet sich jedoch in den Landkreisen Konstanz und Schwarzwald-Baar, während vereinzelte Einzelbelege auch im übrigen westlichen Monophthong-Gebiet vorkommen. H AAG (1929/30) grenzt das Vokallänge-Gebiet (nach Westen) klar von einem Kürze-Gebiet ab, genau so wie dies in den Abfragedaten des SSA der Fall ist. Abweichende Realisierungen innerhalb der beiden Gebiete sind nicht verzeichnet. Vergleicht man die Isoglosse H AAGS (1929/30) mit derjenigen des SSA, so ist entlang der Westgrenze eine geringe Verkleinerung des Länge-Gebietes um einige Dörfer in den SSA-Abfragedaten zu erkennen. Ausgehend von den Daten W ENKERS über diejenigen H AAGS (1929/30) bis zu denen des SSA scheint sich in der Gesamtentwicklung also eine Verkleinerung des Vokallänge-Gebietes zu vollziehen. 44

Die Kartierung konnte außerdem durch die Diphthongierungsisoglosse nach B OHNENBER GER / S CHÖLLER (1938/39) sowie die Vokallänge-Isoglosse nach H AAG (1929/30) ergänzt werden.

Abb. 3.21: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte mit den SSA-Abfragedaten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem laut (Adjektiv). Zusätzlich aufgetragen sind Isoglossen nach B OHNENBER GER / S CHÖLLER (1938/39) sowie H AAG (1929/30).

3.3 Diphthongierung von mhd. û

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Die weitere Entwicklung ist den spontansprachlichen Daten nur bedingt zu entnehmen, da das Korpus aus lediglich 51 Tokens besteht (vgl. Abbildung 3.22). Doch zeigt sich, wenngleich sehr ausgedünnt, ein ähnliches Szenario wie für die anderen untersuchten Lexeme. Die Diphthongierung breitet sich aus, und wird von den Sprechern innerhalb des Monophthong-Gebietes in 43,5 % (10) der Fälle umgesetzt, und zwar vorwiegend im nördlichsten Untersuchungsgebiet sowie im nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis. Der Ersatz der Monophthonge erfolgt fast ausschließlich durch den stark steigenden, standardnahen Diphthong [aU], mit Ausnahme eines einzigen Belegs für [OU] im Raum nördlich des Bodensees. Trotz der wenigen spontansprachlichen Tokens lohnt sich für das Lexem laut ein Blick auf den Einfluss morphologischer Komplexität auf die Diphthongierung. Alle fünf im Korpus auftretenden komplexen Wortformen werden diphthongisch realisiert, da es sich um eindeutige Fälle von Übernahmen aus dem Standard handelt: Wortlaut, Lautsprache, Doppellaut, Leiselaut, Lautsprecher. Weitreichende Aussagen zur Entwicklung der Vokallänge sind aufgrund der geringen Tokendichte kaum möglich. Es wird aber deutlich, dass die Langvokale nicht auf das kleine Längegebiet gemäß den SSA-Abfragedaten beschränkt sind. Vielmehr ähnelt ihre Verbreitung dem Kartenbild W ENKERS, wo Belege für Vokallänge im gesamten westlichen Monophthong-Gebiet auftreten.45

3.3.2.3 Lexem lauter (Indefinitpronomen) Das Indefinitpronomen lauter ist in den Kartierungen W ENKERS nicht vertreten, weswegen lediglich ein Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten möglich ist. Obwohl das Indefinitpronomen lauter homonym mit dem Adjektiv laut ist, verhalten sich beide Lexeme hinsichtlich der Ausbreitung ihrer traditionellen Monophthong-Gebiete sehr unterschiedlich (vgl. Abbildungen 3.22 und 3.23). Im Vergleich fällt für lauter das nicht mehr en bloc vorhandene Monophthong-Gebiet im Osten auf. Vielmehr sind die monophthongischen Realisisierungen gemäß den SSA-Abfragedaten auf einige wenige, zumeist nur aus einem Ortspunkt bestehende Kleinstgebiete beschränkt. Im Vergleich mit den spontansprachlichen Daten bestätigt sich die Vermutung der sich auflösenden monophthongischen Realisierung. Nur an einem einzigen Ortspunkt ist noch eine monophthongische Realisierung belegt, und dies, obwohl dieser Ortspunkt gemäß den SSA-Abfragedaten bereits im Diphthong-Gebiet liegt. So wenig der östliche Teil des Monophthong-Gebietes in den SSA-Abfragedaten noch vorhanden ist, so stabil erscheint der verbleibende westliche Teil, in dem keinerlei diphthongische Einzelbelege vorzufinden sind. In den spontansprachlichen Daten variiert dieses Gebiet mit einem Diphthong-Anteil von 29,9 % (23) jedoch deutlich. Besonders innovative Gebiete können allerdings aufgrund der recht 45

Hinweis zur Interpretation der Symbole: Die schwarze Füllung der Kreissymbole steht für die Gesamtmenge an Monophthongen, die an einem bestimmten Ortspunkt vorkommen (Kurz- und Langvokale), während das direkt rechts daneben stehende schwarze Dreieckssymbol entsprechend seiner Größe den Anteil an Langvokalen angibt.

Abb. 3.22: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem laut.

3.3 Diphthongierung von mhd. û

99

Abb. 3.23: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem lauter (Indefinitpronomen).

100 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.3 Diphthongierung von mhd. û

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geringen Tokendichte im Monophthong-Gebiet (insgesamt 77 Tokens) und der nur schwach ausgeprägten Diphthongierung kaum ausgemacht werden. Besonders im südwestlichsten Teil sind kaum Realisierungen belegt. Da dieses Gebiet in den Analysen anderer Lexeme aber immer besonders konservativ erscheint, dürfte dies auch für das Lexem lauter gelten. Hinsichtlich des Einflusses von schwach vs. stark steigenden Diphthongen sind letztere im Vorteil. Wenn schwach steigende Diphthonge auftreten, ist dies ausschließlich in Isoglossennähe der Fall. So dienen sie innerhalb der (gemäß SSAAbfragedaten) verbliebenen Restgebiete nördlich des Bodensees durchgehend als Ersatzlaut, was ein klarer Hinweis für die hier bestehende Dominanz des Schwäbischen ist. Auch das Lexem lauter eignet sich zur Analyse der Vokalquantität in der phonotaktischen Position vor Verschlusslautfortis. Von den sieben Ortspunkten innerhalb des Vokallänge-Gebietes (nach SSA-Abfragedaten) werden in vier Ortspunkten alle Monophthonge lang realisiert, in drei Ortspunkten alle Monophthonge kurz. Daraus ergibt sich, dass dieses Gebiet nicht mehr in dem Maße homogen ist wie in den Abfragedaten des SSA. Da innerhalb des Kürzegebietes jedoch zwei Belege für Vokallänge auftreten, kann aus diesem Befund offenbar nicht gefolgert werden, dass Vokallänge einem unidirektionalen Abbauprozess unterworfen ist. Vielmehr kann durch die zwei Einzelbelege auch auf eine Ausbreitungstendenz geschlossen werden. Eine klare Entwicklungsrichtung der Vokalquantität ist dem Kartenbild demnach nicht zu entnehmen, wie bereits die Analysen weiterer phonotaktisch ähnlicher Lexeme gezeigt haben.46

3.3.2.4 Lexem sauber Die Analyse des Lexems sauber kann auf der Basis aller drei Vergleichsebenen durchgeführt werden. Die Abfragedaten W ENKERS und des SSA sowie die spontansprachlichen Daten wurden hierzu gemeinsam auf einer Karte aufgetragen (vgl. Abbildung 3.24). Die Diphthongierungsisoglossen zeigen einen vergleichsweise hohen Deckungsgrad. Bis auf ein Teilstück nordwestlich von Freudenstadt und ab Ravensburg ostwärts verlaufen die beiden Stränge nahezu identisch. Der südlichere Verlauf der SSA-Isoglosse im Vergleich zur Wenker-Isoglosse nördlich des Bodensees lässt auf einen Rückgang des Monophthong-Gebietes schließen. Unterstützt wird diese Vermutung durch das Auftreten von diphthongischen Einzelbelegen in den SSA-Abfragedaten sowohl in Friedrichshafen als auch in Baden-Baden, während diphthongische Einzelbelege innerhalb des Monophthong-Gebietes in den Daten W ENKERS völlig fehlen. Bezieht man in die Analyse die spontansprachlichen Daten mit ein, so erkennt man den weiteren Abbau der monophthongischen Realisierungen: Von den insgesamt 89 Tokens innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes werden 36,0 % (32) diphthongisch realisiert. Die Gebiete des nördlichen Bodenseeraums, des nörd46

Vgl. für mhd. î die Lexeme weit und Zeit.

Abb. 3.24: Vergleich der Wenker-Karte mit den SSA-Abfragedaten sowie den spontansprachlichen Daten für die Diphthongierung von mhd. û im Lexem sauber.

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3.3 Diphthongierung von mhd. û

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lichen Schwarzwald-Baar-Kreises, des Kaiserstuhls und schließlich das nördlichste Teilgebiet um Baden-Baden weisen dabei die höchsten Anteile an Diphthongen auf. Weiterhin fällt auf, dass die Monophthonge im traditionellen Monophthong-Gebiet nahezu ausnahmslos durch stark steigende, standardnah realisierte Diphthonge ([aU]) ersetzt werden.

Abb. 3.25: Anteil an Diphthongen innerhalb des Monophthong-Gebiets in Abhängigkeit von verschiedenen morphologischen und syntaktischen Kontexten für das Lexem sauber. Neben dem Real- und Apparent-Time-Vergleich lässt sich für das Lexem sauber auch der Effekt morphologisch komplexer Wortformen analysieren. Ein weiterer potenzieller Einflussfaktor ist die syntaktische Verwendung des Lexems sauber, das als Adverbial, als Prädikativ sowie als Attribut eingesetzt werden kann. Welchen Effekt diese morphologischen und syntaktischen Faktoren auf den Grad der Diphthongierung haben, zeigt Tabelle 3.25. Die höchsten Abweichungen weisen die adverbiell und prädikativ gebrauchten Formen auf. Deutlich weniger Abweichung ist hingegen bei der attributiven Verwendung zu erkennen. Auch bei den morphologisch komplexen Wortformen ist dies der Fall, wobei hier noch zu erwähnen ist, dass alle 30 komplexen Tokens im Korpus aus dem Partikelverb saubermachen bestehen. Womöglich spielt die hohe Gebrauchsfrequenz in diesem speziellen Kontext eine entscheidende Rolle für die überdurchschnittliche Stabilität der monophthongischen Lautung. Interessanterweise tauchen auch alle sieben Kurzvokale, die inner-

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

halb des spontansprachlichen Korpus identifiziert werden konnten, ausschließlich im morpholologischen Kontext saubermachen auf. Dies ist kein Zufall, denn durch die Einbettung eines Lexems in einen frequenten Wortdbildungsprozess kann es zu zunehmender Lexikalisierung und weiterhin zu Kontraktions- und Kürzungsprozessen kommen, die wiederum die Diphthongierung blockieren können. Auf diesen Zusammenhang wies bereits AUER (1990) für die Stadtsprache von Konstanz hin, wo nach der fast komplett abgeschlossenen Diphthongierung nur noch gekürzte Formen der Präpositionen auf / aus, die in stark lexikalisierten Zusammensetzungen wie z. B. husse (< hie-außen) auftraten, die monophthongische Realisierung bewahrten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Lexem sauber sowie in den drei weiteren untersuchten Lexemen ein Rückgang der monophtongischen Realisierung nachgewiesen werden kann. Dieser Rückgang ist auf der Grundlage der Real-TimeVergleiche meist nur schwach erkennbar, während er in den spontansprachlichen Daten deutlich zutage tritt. Welches Gesamtbild sich für die Diphthongierung von mhd. û ergibt und wie sich die Diphthongierung im Vergleich zwischen den einzelnen Lexemen darstellt, soll in den folgenden Gesamtanalysen betrachtet werden.

3.4 GESAMTANALYSEN ZU MHD. Î UND Û Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln die Wandelprozesse für jedes der einzelnen Lexeme der beiden etymologischen Klassen mhd. î und û separat betrachtet wurden, sollen im Folgenden verschiedene Aggregatanalysen einen Eindruck von der Gesamtentwicklung vermitteln. Hierzu werden zunächst die Analysen zu den einzelnen Lexemen für mhd. î in Kombinationskarten zusammengefasst, wobei drei Isoglossengruppen in einem Real-Time-Vergleich gegenübergestellt werden. Bei den drei Gruppen handelt es sich um die ältesten greifbaren Kartierungen W EN KERS, die etwas jüngeren Karten von B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39), H AAG (1929/30, 1932) und M OSER (1954/55) aus den 20er- bis 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts sowie um die Erhebungsdaten des „Südwestdeutschen Sprachatlas“. Im Anschluss daran wird ein entsprechender Real-Time-Gesamtvergleich mit den verfügbaren Isoglossen für mhd. û durchgeführt. Danach werden die Ergebnisse aus den Apparent-Time-Vergleichen als Gesamtkartierung für mhd. î und û zusammenfassend dargestellt. Um die Verteilung der drei Hauptrealisierungen [i(:)], [eI] und [aI] für mhd. î bzw. [u(:)], [OU] und [aU] für mhd. û innerhalb des Untersuchungsgebiet eingehender beurteilen zu können, werden diese außerdem in Form von Interpolations-Plots dargestellt und miteinander verglichen. Schließlich folgt eine quantitative Zusammenstellung der Variation (Anteil an Diphthongen) innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes, anhand derer die lexikalische Steuerung des Lautwandels sowie der Einfluss morphologischer Komplexität diskutiert wird.

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

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3.4.1 Real-Time-Gesamtvergleiche 3.4.1.1 Mhd. î Für den Real-Time-Vergleich wurden alle zur Verfügung stehenden Isoglossen für die Realisierung von mhd. î herangezogen und sind als Overlay in Abbildung 3.26 dargestellt. Es handelt sich um insgesamt zwanzig Isoglossen, die sich auf zehn Lexeme verteilen und nach den Erhebungen W ENKERS (schwarze Linien), den Kartierungen B OHNENBERGERS und S CHÖLLERS (1938/39), H AAGS (1929/30, 1932) und M OSERS (1954/55) (graue durchbrochene Linien) sowie den Abfragedaten des SSA (graue Linien) gruppiert wurden. Aus Gründen der Erkennbarkeit beschränkt sich die Gesamtkartierung auf die Darstellung der Diphthongierungsisoglossen (ohne Einzelbelege). Um dennoch eine genauere Betrachtung zu ermöglichen und zwischen einzelnen Lexemen und Ihrer Entwicklung genauer differenzieren zu können, wurde die Gesamtkarte in drei Detail-Karten aufgeteilt, von denen jede jeweils alle Isoglossen nach W ENKER (Abbildung 3.27), B OHNENBERGER und S CHÖLLER, H AAG und M OSER (Abbildung 3.28) sowie gemäß der SSA-Abfragedaten (Abbildung 3.29) zeigt. Zunächst soll ausgehend von Abbildung 3.26 der Verlauf der Diphthongierungsisoglossen betrachtet werden. Hierfür kann der Isoglossenverlauf in vier Abschnitte eingeteilt werden. Abschnitt I: Das Isoglossenbündel läuft im äußersten Nordwesten, nördlich von Baden-Baden, deutlich auseinander. Der Hauptunterschied zwischen dem Verlauf der Wenker- und SSA-Isoglossen besteht im Rückgang der Monophthong-Realisierung in den Lexemen Weib und sein nach SSA. Die Isoglossenverläufe der anderen Lexeme sind annähernd deckungsgleich. Das sich somit abzeichnende Fortschreiten der Diphthongierung in diesem Gebiet war durch die große Anzahl diphthongischer Einzelbelege bei Wenker erwartbar, auch wenn diese Einzelbelege andere Lexeme betreffen (bleiben, gleich, weiß). Abschnitt II: Von Baden-Baden südwärts bis auf Höhe von Schramberg befindet sich der Abschnitt des Isoglossenbündels, der am einheitlichsten ist. Außer für das Lexem Zeit kann in keinem der einbezogenen Lexeme eine nennenswerte Abweichung der Isoglossenverläufe festgestellt werden. Es handelt sich in diesem Abschnitt demnach um einen regelmäßigen phonologischen Wandel, der das gesamte Lautsystem gleichermaßen betrifft und nicht lexikalisch gesteuert zu sein scheint. Die Homogenität der Isoglossenverläufe in diesem Abschnitt könnte auf die (außersprachliche) Tatsache zurückgeführt werden, dass genau dieser Abschnitt des Isoglossenbündels entlang des Schwarzwaldhauptkammes verläuft, während das Isoglossenbündel in seinem übrigen (weit stärker variierenden Teil) Räume quert, deren geografische Zugänglichkeit wesentlich leichter ist und in denen zudem eine höhere Besiedlungsdichte herrscht. Insgesamt kann also gesagt werden, dass im Abschnitt der höchsten Isoglossenstabilität der Sprachkontakt aus geografischen Gründen sehr gering gewesen sein muss und somit die Bedingungen dafür geschaffen wurden, dass der stattfindende Lautwandel östlich des Schwarzwaldkammes zwar lexemübergreifend durchgeführt wurde, sich aber nicht weiter nach Westen ausbreiten konnte.

Abb. 3.26: Vergleich aller Diphthongierungsisoglossen nach W ENKER, B OHNENBERGER / S CHÖL LER (1938/39), H AAG (1929/30, 1932), M OSER (1954/55) und SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. î.

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3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

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Abschnitt III: Ab Schramberg südwärts bis ca. auf Höhe von Tuttlingen kommt es zu deutlicher Variation des Isoglossenbündels. Zum einen ist bereits die zwischenlexikalische Variation innerhalb der Wenker- und SSA-Abfragedaten hoch. Es lassen sich für die vom Hauptisoglossenstrang abweichenden Lexeme gleich und Wein zudem auch deutliche Abweichungen in Echtzeit nachweisen. Für beide Lexeme zeigen die SSA-Abfragedaten einen Rückgang des Monophthong-Gebietes im Vergleich zu den Wenker-Daten sowie den Daten H AAGS (für Wein). Dieser markante Rückggang resultiert wohl daraus, dass nur noch diese beiden Lexeme (sowie das Lexem sein, für das kein Real-Time-Vergleich möglich ist) den Lautwandel im betreffenden Variationsgebiet noch nicht abgeschlossen haben und somit durch ihre monophthongische Lautung stark markiert sind. Die restlichen Lexeme, deren Isoglossen nahezu übereinstimmen, haben den Lautwandel hingegen bereits abgeschlossen. Abschnitt IV: Vergleicht man den vorherigen Abschnitt zwischen Schramberg und Tuttlingen mit dem Abschnitt ab Tuttlingen ostwärts (nördlicher Bodenseeraum), so zeigt sich bezüglich der Abgeschlossenheit des Lautwandels gerade das umgekehrte Bild. Der Hauptisoglossenstrang verläuft in relativ scharfer Abgrenzung zum Schwäbischen, während die abweichenden Isoglossen südlich dieses Hauptstranges verlaufen und einen Lautwandel anzeigen, der nicht kurz vor dem Abschluss zu stehen scheint, sondern in vollem Gange ist. Der Vergleich von Wenker- und SSAIsoglossen zeigt einen nahezu lexemübergreifenden Rückgang des MonophthongGebietes im Raum Ravensburg und etwas östlich davon. Für einige Lexeme (v.a. gleich, weit und Zeit) hat sich die diphthongische Realisierung in den SSA-Abfragedaten bereits deutlich im traditionellen Monophthong-Gebiet nach W ENKER ausgebreitet. Tauchen Belege für diphthongische Realisierung innerhalb des Monophthong-Gebietes nach Wenker nur vereinzelt auf (insgesamt 14 Belege), so sind diese in den SSA-Abfragedaten weit häufiger und für vier Ortspunkte nahezu durchgehend vertreten. Es handelt sich um die Ortspunkte Konstanz, Friedrichshafen, Wangen und Isny. Hinsichtlich der Verteilung von Einzelbelegen innerhalb des Monophthong-Gebietes fällt beim Vergleich von Wenker- und SSA-Abfragedaten auf, dass gemäß W ENKER Abweichungen auch im Hinterland des Monophthong-Gebietes auftreten, wohingegen nach SSA-Abfrage solche Einzelbelege nur nahe der Isoglosse vorkommen und sich auf die oben besprochenen Abschnitte I und IV beschränken. W ENKERS Einzelbelege im Hinterland des Monophthong-Gebietes sind vor allem im Raum Freiburg zu finden, in dem sie sich in einer ost-westlich verlaufenden Achse anordnen. Die insgesamt sechzehn diphthongischen Einzelbelege verteilen sich auf vier Lexeme, wobei das Lexem gleich mit neun Einzelbelegen den höchsten Anteil an Abweichungen verzeichnet. Im folgenden Kapitel wird aus den Kombinationsanalysen der spontansprachlichen Daten ersichtlich werden, dass sich diese bei W ENKER auftretende Variation verstärkt. Schließlich soll noch auf die kleinräumige Variable [OI] eingegangen werden, die sich in der nordwestlichsten Ecke des Untersuchungsgebietes zeigt. Beim Vergleich der Wenker- und SSA-Belege ist der sehr kleine Überschneidungsraum beider Verteilungen zu erkennen, wobei sich die Wenker-Belege tendenziell im nord-

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

östlichen Teil und die SSA-Belege im südwestlichen Teil anordnen.47 Dabei ist das Lexem Wein das einzige, das sowohl bei W ENKER als auch in den SSA-Abfragedaten auftritt. Hier ist beim Real-Time-Vergleich eine Verkleinerung des Verbreitungsgebietes zu verzeichnen. Alle anderen Lexeme tauchen entweder nur bei W ENKER (weiß) oder nur im SSA (gleich, Weib) auf. Ob sich die schwach angedeutete Verkleinerung des Verbreitungsgebietes für die Realisierungsform [OI] bestätigt, wird nur durch Heranziehung der spontansprachlichen Kombinationsanalysen ersichtlich. Zusammenfassend lässt sich anhand der Isoglossenvergleiche eine zunehmende Destabilisierung des Isoglossenbündels von Nordwesten nach Südosten feststellen. Diese Wandeltendenz entspricht, wenngleich in der vorliegenden Analyse weit stärker ausgeprägt, jener von M OSER (1954/55), der seine eigenen Aufnahmen aus den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit einigen, ca. 30 Jahre älteren Erhebungen K ARL B OHNENBERGERS verglich.

47

Es muss hierbei jedoch darauf hingewiesen werden, dass der nördliche Teil des Verbreitungsgebietes nach W ENKER nicht mehr innerhalb des SSA-Erhebungsgebietes liegt und somit aus der Datenlage nicht sicher geschlossen werden darf, dass sich das Realisierungsgebiet der Variante [OI] nach Südwesten verschoben hat.

Abb. 3.27: Vergleich der Diphthongierungsisoglossen nach W ENKER für die Lexeme bleib(en), Eis, gleich, Wein, weiß und Zeit.

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

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Abb. 3.28: Vergleich der Diphthongierungsisoglossen nach B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39), H AAG (1929/30, 1932) und M OSER (1954/55) für die Lexeme Eis, Weib, Wein und Zeit.

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Abb. 3.29: Vergleich der Diphthongierungsisoglossen nach SSA für die Lexeme bleib(en), Eis, Eisen, gleich, sein, Weib, Wein, weiß, weit und Zeit.

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3.4.1.2 Mhd. û Für den Real-Time-Vergleich wurden alle zur Verfügung stehenden Isoglossen für die Realisierung von mhd. û herangezogen und als Overlay auf eine Karte aufgetragen (Abbildung 3.30). Insgesamt konnten hierfür zehn Isoglossen verwendet werden, die sich auf die vier untersuchten Lexeme verteilen. Zunächst soll der Verlauf der Diphthongierungsisoglossen verglichen werden. Hier zeigt sich im Vergleich zu den Isoglossenverläufen von mhd. î eine höhere Einheitlichkeit. Konnte für die Realisierung von mhd. î lediglich der Abschnitt von Baden-Baden südwärts bis etwa Schramberg als besonders deckungsgleich eingestuft werden, verlaufen für mhd. û bis auf einige wenige Alternationen alle Diphthongierungsisoglossen im gesamten westlichen Teil bis auf Höhe von Tuttlingen konform. Erst im östlichen Abschnitt nördlich des Bodensees beginnen die Isoglossen deutlich auseinanderzulaufen. Doch muss hier genauer differenziert werden. Würde man nur die Isoglossen für die Lexeme Haus und sauber betrachten, so erschiene auch dieser Isoglossenabschnitt relativ stabil (gemäß allen verfügbaren Isoglossen). Nur die Isoglossen der beiden Lexeme laut und lauter verlaufen südlich des Hauptisoglossenbündels und weisen auf einen weiter fortgeschrittenen Lautwandel hin. Hierfür sprechen außerdem die 19 bei W ENKER verzeichneten diphthongischen Einzelbelege innerhalb des Monophthong-Gebietes für das Adjektiv laut. Im Bodenseegebiet sind die beiden Städte Konstanz und Friedrichshafen zu erwähnen, die bei fast allen Lexemen diphthongische Realisierungen in den SSA-Abfragedaten aufweisen (die einzige Ausnahme bildet das Lexem sauber in Konstanz). Neben dem nördlichen Bodenseeraum weist auch das nördlichste Monophthong-Gebiet eine gewisse Variation auf. Wie auch im Südosten, weichen die Isoglossen der beiden Lexeme laut und lauter vom Hauptstrang ab. Doch scheint hier auch das Lexem Haus bereits Ende des 19. Jahrhunderts vom Lautwandel ergriffen worden zu sein, da für dieses Lexem im Gebiet um Baden-Baden Einzelbelege innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes auftreten. Zusammenfassend kann hinsichtlich des Real-Time-Vergleichs festgehalten werden, dass sich das Isoglossenbündel in zwei unterscheidbare Abschnitte unterteilen lässt: einen westlichen, der mit Ausnahme des nördlichsten Teils sehr konsistent erscheint, sowie einen östlichen, der durch seine deutliche Variation auffällt. Ausgehend von diesem Befund kann demnach von einem Rückgang der monophthongischen Realisierung nördlich des Bodensees sowie im äußersten Nordwesten ausgegangen werden.

Abb. 3.30: Vergleich aller Isoglossen nach Wenker, Haag (1929/30, 1932), Moser (1954/55), Bohnenberger und Schöller (1938/39) sowie nach SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. û.

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

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3.4.2 Apparent-Time-Gesamtvergleiche 3.4.2.1 Mhd. î In der Kombinationskarte des Apparent-Time-Vergleichs sind insgesamt 6177 Tokens enthalten, die sich auf 320 Ortspunkte und 13 Lexeme verteilen.48 In Abbildung 3.31 sind die spontansprachlichen Tokens für die Realisierung von mhd. î sowie die Isoglossen der zehn Lexeme aus den SSA-Abfragedaten aufgetragen. Im Unterschied zu den Kartierungen bei den Einzellexemanalysen steht die Größe der Kreissymbole in dieser Darstellung nicht für die Anzahl der Tokens, sondern für die Anzahl der Lexeme an einem Ortspunkt, auf die sich die Tokens verteilen. In der Kombinationskarte zeigt sich eine klare Ausbreitung der Diphthongierung innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes. Wie bereits im Real-TimeVergleich angedeutet, setzt sich die Diphthongierung in Abschnitt I des Isoglossenbündels nach Süden fort. Allerdings ist ungefähr ab Baden-Baden südwärts der Anteil an Lexemen mit monophthongischer Realisierung höher als derjenige mit diphthongischer Realisierung. Dieses nur schwach variierende Gebiet reicht etwa bis auf Höhe von Emmendingen. Westlich von Emmendingen ist ein Cluster von fünf Erhebungsorten zu erkennen, das sehr starke Variation über mehrere Lexeme hinweg aufweist. Ein besonders konservatives Gebiet mit nur schwacher Variation zeigt sich südlich von Freiburg, im Südwesten des traditionellen Untersuchungsgebietes. Es nimmt einen relativ großen Raum ein und weist stellenweise absolute Konsistenz in der lautlichen Realisierung und in allen lexikalischen Kontexten auf. Besonders deutlich tritt diese Stabilität im südlichsten Schwarzwald zutage, wobei westlich (Oberrheingraben) und östlich (Schwarzwald-Baar-Kreis) die Variation wieder zunimmt. In direkter Nachbarschaft zu diesem stabilen Gebiet liegt nordöstlich angrenzend der mittlere und nördliche Schwarzwald-Baar-Kreis. Auf der Grundlage des kombinierten Real-Time-Vergleiches war für dieses Gebiet keine Fortsetzung des Lautwandels zu erwarten, da nahezu alle Isoglossen gebündelt nordöstlich dieses Gebietes vorbeiliefen und kaum Variation oder eine Verschiebung der Diphthongierung nach Südwesten anzeigten.49 In den spontansprachlichen Daten bildet der nördliche Schwarzwald-Baar-Kreis allerdings ein auffallend stark variierendes Areal, in dem die Diphthongierung bereits weit vorangeschritten ist. Noch stärker von der Diphthongierung betroffen ist der nördliche Bodenseeraum, in dem an keinem einzigen Ortspunkt konsistent Monophthong-Realisierungen belegt sind. Von starker Variation kann hier bereits nicht mehr die Rede sein, da der Lautwandel kurz vor seinem Abschluss steht. Typisch für dieses Gebiet ist auch, dass der Monophthong in erster Linie durch den schwach steigenden schwäbischen Diphthong ersetzt wurde, was auf eine primär horizontale Komponente, d. h. den Einfluss des Schwäbischen, beim hier wirkenden Lautwandelprozess hindeutet. 48 49

In den Apparent-Time-Gesamtvergleich sind neben den Tokens der bereits diskutierten zehn Lexeme außerdem die Tokens der Lexeme eisern, Seite und seit eingeflossen. Auch bei H ALL (1991, Karte 111) erscheint dieses Gebiet durchweg monophthongisch und ließ eine Variation in dem Maße, wie sie in den spontansprachlichen Daten vorliegt, nicht erwarten.

Abb. 3.31: Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich aller verfügbarer SSA-Isoglossen und spontansprachlicher Daten (6177 Tokens) für die Realisierung von mhd. î.

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Zuletzt sei noch auf die kleinräumige Variante [OI] verwiesen, die sich bereits in den Wenker- und SSA-Abfragedaten innerhalb verschiedener Lexeme gezeigt hat. Der spontansprachliche Befund bestätigt die Tendenz aus dem Real-Time-Vergleich: Das vormalige Gebiet dieser Realisierungsform ist auf einen einzigen Ortspunkt (Dobel, Landkreis Calw) geschrumpft. Von den hier auftretenden vierzehn Tokens enthalten neun die Realisierungsform [OI], die innerhalb fast aller hier belegten Lexeme (Eisen, eisern, sein sowie Seite) auftritt. Einzige Ausnahme bildet das Lexem bleib(en). Die Tatsache, dass die Realisierungsform [OI] innerhalb von Lexemen auftritt, für die sie weder nach W ENKER noch nach SSA belegt ist, zeigt, dass es sich offenbar um eine phonologische Form handelt, die im spontansprachlichen Gebrauch auf mehr Lexeme verteilt ist als in den wissensbasierten Daten. Die Form könnte sich also durch Analogie auf weitere Lexeme ausgebreitet haben, ist in ihrer geografischen Verbreitung jedoch auf die Sprechergruppe eines einzigen Dorfes reduziert worden.

3.4.2.2 Mhd. û In der Kombinationskarte des Apparent-Time-Vergleichs sind insgesamt 1910 Tokens enthalten, die sich auf 284 Ortspunkte und vier Lexeme verteilen (Abbildung 3.32). Weiterhin sind zum Vergleich die Isoglossenverläufe zu den untersuchten Lexemen Haus, laut, lauter und sauber gemäß SSA-Abfragedaten aufgetragen. Die Kombinationskarte weist, wie alle Einzellexemanalysen, eine klare Ausbreitung der Diphthongierung innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes auf. Prozentual werden insgesamt 29,5 % (265) der Tokens innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes diphthongisch realisiert, womit der Gesamtanteil an Diphthongen nur unwesentlich über demjenigen für mhd. î liegt (28,7 %). Somit setzt sich, wie im Real-Time-Vergleich angedeutet, die Diphthongierung im östlichen Abschnitt des Isoglossenbündels nach Süden fort. Dies ist nun aber auch für die beiden gemäß W ENKER und SSA-Abfrage recht stabil erscheinenden Lexeme Haus und sauber der Fall. In etwa der Hälfte der hier verzeichneten Ortspunkte wird in keinem der Lexeme noch ein Monophthong realisiert. In den übrigen Ortspunkten treten monophthongische Realisierungen zwar auf, variieren aber fast immer mit Diphthongen. Typisch für den nördlichen Bodenseeraum ist nicht nur der bereits weit fortgeschrittene Lautwandel, sondern die vornehmliche Ersetzung der Monophthonge durch schwäbische (schwach steigende) Diphthonge. Im übrigen traditionellen Monophthong-Gebiet erfolgt der Lautersatz meist durch standardnahe (stark steigende) Diphthonge. Neben dem nördlichen Bodenseeraum ist der mittlere und nördliche Schwarzwald-Baar-Kreis als stark variierendes Gebiet zu erkennen, wobei hier, mit Ausnahme der Ortspunkte in unmittelbarer Isoglossennähe, der stark steigende Diphthong den alten Monophthong ersetzt. Hier ist also offensichtlich der Einfluss des Standarddeutschen dominanter als der des benachbarten Schwäbischen. Die in diesem Areal deutlich hervortretende Variation war ausgehend vom Real-Time-Vergleich in diesem Gebiet nicht zu erwarten. Schließlich konnte aufgrund des hohen De-

Abb. 3.32: Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich aller SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten der analysierten Lexeme für die Realisierung von mhd. û.

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

117

118

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

ckungsgrades der östlich vorbeilaufenden Isoglossen keine nach Westen gerichtete Ausbreitungstendenz der diphthongischen Realisierung erwartet werden. Der Ersatz der Monophthonge durch Diphthonge muss in diesem Gebiet also in erster Linie durch vertikalen Kontakt zur Standardsprache erfolgt sein, wofür weiterhin die als Ersatzlaute dienenden stark steigenden Diphthonge [aI] sprechen. Etwas schwächer ausgeprägte Variation taucht entlang des Oberrheingrabens auf und zieht sich am Rheinknie beginnend bis etwa auf Höhe von Offenburg. Das Gebiet des Kaiserstuhls westlich von Emmendingen fällt hierbei durch seine Variation besonders auf. Ganz im Norden des Monophthong-Gebietes um Baden-Baden und Rastatt ist ebenfalls ein hoher Anteil an diphthongischen Realisierungen zu erkennen. Neben den eben erwähnten innovativen Arealen innerhalb des MonophthongGebietes lassen sich zwei konservative Gebiete identifizieren. Dies ist zum einen ein Gebiet von etwa 50 Kilometern Durchmesser um Offenburg und zum anderen der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebietes. Der südwestlichste Teil fiel bereits im Rahmen der Apparent-Time-Analyse von mhd. î durch seinen ausgesprochen hohen Grad an Stabilität auf.

3.4.3 Interpolationen zu mhd. î und û In den vorhergehenden Apparent-Time-Analysen wurden die Lautwandelprozesse, die sich in den spontansprachlichen Daten zeigen, auf der Grundlage von Symbolkarten interpretiert. In erster Linie konkurrieren dabei drei Realisierungsformen miteinander, nämlich für mhd. î die Reflexe [i(:)],[aI] und [eI] sowie für mhd. û die analogen Reflexe [u(:)], [aU] und [OU]. So gut anhand der Symbolkarten die stattfindenden Lautwandelprozesse bereits beschrieben werden konnten, so schwierig bleibt es dennoch, die prozentuale Gebrauchshäufigkeit einer der drei Variablen in Bezug zu den beiden anderen Realisierungen über das gesamte Untersuchungsgebiet hinweg zu beurteilen bzw. überhaupt zu erkennen. Dieses Problem kann anhand von Farbinterpolationen gelöst werden, die in einer feinkörnigen Skalierung erstellt wurden. In Abbildung A.1 sind die Gebrauchshäufigkeiten der monophthongischen Reflexe von mhd. î ([i(:)]) und û ([u(:)]) dargestellt. Die diphthongischen Reflexe für mhd. î ([aI], [eI]) und û ([aU] und [OU]) sind in Abbildung A.2 zu sehen.50 Kommen wir zunächst zur Betrachtung der monophthongischen Realisierungen [i(:)] bzw. [u(:)]. Auf dem Plot der Realisierung [i(:)] ist deutlich zu erkennen, dass sich der Übergang von überwiegend monophthongischer zu überwiegend diphthongischer Realisierung (hellgrüne Färbung) in einer leicht gekrümmten Linie von Baden-Baden bis nach Konstanz erstreckt. Östlich dieser Linie ist (in türkis-blauer Färbung) ein Streifen zu erkennen, in dem der interpolierte Anteil an Monophthongen auf 20–40 % abfällt. Im sich noch weiter östlich anschließenden, dunkelblau gefärbten Gebiet, sinkt die Gebrauchshäufigkeit der monophthongischen Realisierung abrupt auf den Wert Null. Innerhalb des rot gefärbten Monophthong-Gebietes beträgt der Anteil monophthongischer Realisierungen ca. 70–80 %. Nur südlich von 50

Alle Interpolationen sind aus satztechnischen Gründen am Ende dieses Buches in Anhang A.3 abgedruckt.

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

119

Freiburg steigt dieser Wert auf ca. 100 % an. Auffallend ist die orange eingefärbte Region westlich von Villingen-Schwenningen, in der die Gebrauchshäufigkeit des Monophthongs auf einen Wert von ca. 60–70 % absinkt. Insgesamt verdeutlicht die interpolierte Verbreitung der Monophthonge den starken Rückgang des Monophthong-Gebietes. So erscheint der nördlichste Teil zwischen Baden-Baden und Karlsruhe sowie der südöstliche nördlich des Bodensees bereits nicht mehr als Monophthong-Gebiet (wenn man das Monophthong-Gebiet als solches definieren möchte, in dem der Anteil monophthongischer Realisierungen höher als 50 % ist). Die Interpolation für die Gebrauchshäufigkeit des Monophthongs [u(:)] unterscheidet sich nur unwesentlich von derjenigen für [i(:)]. Lediglich im nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis hat sich die diphthongische Realisierung im Falle von mhd. û bereits etwas stärker durchgesetzt. In Abbildung A.2 sind Plots zu sehen, die die Gebrauchshäufigkeit der standardnahen Diphthonge [aI] bzw. [aU] sowie der schwäbischen Diphthonge [eI] bzw. [OU] als Interpolationen darstellen. Die Interpolationen können darlegen, inwieweit der oben beschriebene Rückgang des Monophthong-Gebietes auf horizontalen oder vertikalen Wandel zurückzuführen ist. Aus den Interpolationen für die Realisierungen [aI] und [aU] geht hervor, dass diese Lautungen besonders häufig im nordwestlichsten Teil des Untersuchungsgebietes vorkommen. Sie bilden hier die dialektale südfränkische Realisierung, die sich offensichtlich durch Dialektkontakt bis auf Höhe von Baden-Baden ausgebreitet hat. Weiterhin treten die Realisierungen [aI] und [aU] im nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis um Villingen-Schwenningen als auch im nordwestlichen ([aI]) und nördlichen Bereich ([aU]) des Bodensees gehäuft auf. In diesen Arealen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Realisierungen durch Dialektkontakt mit dem Südfränkischen zustande kamen. Vielmehr muss hier der vertikale Kontakt zu einer überregionalen Varietät eine Rolle spielen. Zuletzt soll der bereits zuvor diskutierte Einfluss des Schwäbischen auf den nördlichen Bodenseeraum betrachtet werden. Dieser tritt anhand der Interpolation zur Realisierung [eI] bzw. [OU] ebenfalls zutage, besonders im nordöstlichen Bereich des Bodensees um Ravensburg. Hier liegt die Gebrauchshäufigkeit der beiden Lautungen über 50 %, womit dieses Gebiet, zumindest hinsichtlich der Realisierung von mhd. î und û, eher als schwäbisch denn als (bodensee)alemannisch anzusprechen ist. Als zusammenfassendes Ergebnis der Interpolations-Analysen kann Folgendes festgehalten werden: Auf der Grundlage der spontansprachlichen Daten kann von homogenen Dialektgebieten mit einheitlichen Realisierungen nicht (mehr) die Rede sein. Auch das Konzept der Isoglosse im Sinne einer scharf abgrenzenden Sprachscheide erscheint vor dem Hintergrund der vorliegenden Daten obsolet. Es muss demnach hinsichtlich des Gebrauchs einer bestimmten Lautung – selbst innerhalb einer Sprechergruppe, die ausschließlich aus NORMs und NORFs besteht – die Vorstellung einer kategorischen geografischen Zuordnung aufgegeben und stattdessen von Gebieten mit höherer oder geringerer Gebrauchshäufigkeit gesprochen werden.

120

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.4.4 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität Aus den Einzelanalysen in den Kapiteln 3.2 und 3.3 ging bereits hervor, dass der Lautwandel in den untersuchten Lexemen nicht gleichermaßen weit vorangeschritten ist. Vielmehr deuten die Analysen auf eine lexikalische Steuerung des Diphthongierungsprozesses hin. Weiterhin ergaben die Analysen, dass die Wortbildungsmorphologie einen gewissen Einfluss auf die Diphthongierung ausübt. Darin war die Tendenz erkennbar, dass morphologisch komplexe Wortformen offenbar stärker zur Diphthongierung neigen als Simplizia. Diese Tendenz ist jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass morphologische Komplexität per se eine standardsprachliche Realisierung induziert. Vielmehr scheint es sich bei komplexen Wortformen häufig um lexikalische Entlehnungen aus dem Standard zu handeln, die samt ihrer Lautung in den Dialekt aufgenommen werden. Um die in den vorhergehenden Analysen genannten Prozentwerte unmittelbar vergleichen zu können, sind diese für mhd. î in Tabelle 3.12 aufgetragen, für mhd. û in Tabelle 3.13. Für jedes der im spontansprachlichen Korpus untersuchten Lexeme ist der prozentuale Anteil an Diphthongen innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes aufgeführt, einmal bezogen auf die gesamten Tokens innerhalb des Monophthong-Gebietes, dann allein auf die Menge der Simplizia sowie auf die Menge aller morphologisch komplexen Wortformen.51 Außerdem wird nicht nur der Anteil an Diphthongen generell berücksichtigt, sondern zusätzlich zwischen den standardnahen Diphthongen [aI] und [aU] einerseits und schwäbischem [eI] und [OU] andererseits unterschieden. Gemäß der Hypothese, dass morphologisch komplexe Wortformen häufig Entlehnungen aus dem Standard darstellen, müsste der prozentuale Anteil von [aI]/[aU] in diesen Kontexten höher sein als in Simplizia. Umgekehrt sollte der Anteil an [eI]/[OU] in morphologisch komplexen Wortformen geringer sein als in Simplizia. Kommen wir aber zunächst zur Betrachtung der lexikalischen Steuerung des Lautwandels. Aus Tabelle 3.12 geht aus dem Vergleich der einzelnen Lexeme eine klare Abstufung der Wandeltendenz hervor. Die Lexeme sind entsprechend ihres Anteils an Diphthongen von links nach rechts angeordnet. Es lässt sich erkennen, dass der Anteil an Diphthongen von Lexem zu Lexem relativ graduell ansteigt und sich der Anteil an Diphthongen zwischen 11,6 % (Weib) und 47,1 % (seit) bewegt. Eine Interpretation der lexikalischen Abstufung gestaltet sich schwierig. Lediglich zur hohen Stabilität der Lexeme sein und Weib ergaben sich plausible Erklärungen, die in den Abschnitten 3.2.2.5 und 3.2.2.6 näher erläutert wurden. Betrachtet man die lexikalische Steuerung des Lautwandels anhand des Datenkorpus für mhd. û (siehe Tabelle 3.13), so lässt sich erkennen, dass die Lexeme Haus und lauter die monophthongische Realisierung am stärksten bewahrt haben, während der Anteil an Diphthongen in den Lexemen sauber und vor allem laut höher ist. Eine Erklärung für diese Unterschiede liefert z. T. das Kriterium der morphologischen Komplexität: Der deutlich höhere Diphthong-Anteil im Korpus des Lexems laut ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei allen fünf darin enthaltenen komplexen Tokens um 51

Die morphologische Komplexität konnte nur innerhalb des spontansprachlichen Korpus berücksichtigt werden, da die Kartierungen Wenkers und des SSA in erster Linie auf Simplizia beruhen und keine Differenzierung nach morphologischem Kontext erlauben.

25,1% (103) 0% (0) 25,1% (103) 17,6% (42) 0% (0) 17,6% (42) 35,5% (61) 0% (0) 35,5% (61)

17,5% (34) 4,1% (8) 21,6% (42) 17,3% (33) 4,2% (8) 21,5% (41) -

-

-

Wein 64 411

bleib82 194

100% (14) 0% (0) 50,0% (14)

18,8% (28) 3,3% (5) 22,1% (33)

23,7% (42) 2,8% (5) 26,5% (47)

Seite 73 177

-

-

-

-

-

-

100% (5) 0% (0) 27,8% (5)

eisern 13 18

33,1% (86) 3,4% (9) 36,5% (95)

19,5% (103) 8,1% (43) 27,6% (146)

23,4% (185) 7,1% (56) 30,5% (241)

Zeit 128 789

-

-

-

-

-

-

17,4% (37) 13,6% (29) 31,0% (66)

gleich 83 213

22,1% (15) 2,9% (2) 25,0% (17)

17,2% (15) 19,6% (17) 36,8% (32)

19,4% (30) 12,2% (19) 31,6% (49)

weiß 65 155

22,9% (33) 17,3% (25) 40,2% (58)

30,3% (121) 9,8% (39) 40,1% (160)

28,3% (154) 11,8% (64) 40,1% (218)

weit 118 543

29,1% (30) 10,7% (11) 39,8% (41)

35,2% (19) 7,4% (4) 42,6% (23)

31,2% (49) 9,6% (15) 40,8% (64)

Eisen 48 157

100% (12) 0% (0) 50,0% (12)

46,2% (36) 0% (0) 46,2% (36)

47,1% (48) 0% (0) 47,1% (48)

seit 51 102

27,5% (241) 6,1% (53) 33,6% (294)

20,7% (518) 6,3% (158) 27,0% (676)

22,5% (759) 6,2% (211) 28,7% (970)

∑ 173 3375

Tab. 3.12: Anteil an Diphthongen innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes für mhd. î. Zahlenwerte sind nur dann angegeben, wenn die entsprechende Grundmenge aus wenigstens zehn Tokens besteht und wenn das entsprechende Lexem komplexe Wortformen bildet.

Weib sein Eis Orte 47 122 15 Tokens 103 478 35 ALLE WORTFORMEN Anteil [aI] 9,7% 11,7% 17,1% (10) (56) (6) Anteil [eI] 1,9% 2,5% 2,9% (2) (12) (1) 11,6% 14,2% 20,0% ∑ (12) (68) (7) NUR SIMPLIZIA Anteil [aI] 2,4% 12,0% (1) (3) Anteil [eI] 2,4% 0% (1) (0) 4,8% 12,0% ∑ (2) (3) NUR KOMPLEXE WORTFORMEN Anteil [aI] 14,5% 30,0% (9) (3) Anteil [eI] 1,6% 10,0% (1) (1) 16,1% 40,0% ∑ (10) (4)

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

121

122

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

eindeutige Übernahmen aus dem Standard handelt (z. B. Lautsprecher, Wortlaut, etc.), die samt der diphthongischen Lautung in den Sprachgebrauch der Gewährspersonen gelangt sind. Insgesamt lässt sich aus der lexikalischen Abstufung folgern, dass es sich bei der Diphthongierung von mhd. î und û um keinen regelmäßigen phonologischen Wandel handelt, der das gesamte Lautsystem gleichermaßen betrifft. Vielmehr kann von einer Abhängigkeit der Wandeltendenz vom einbettenden Lexem ausgegangen werden. Aus den einzelnen Zahlenwerten und dem durchschnittlichen Gesamtanteil an Diphthongen von 28,7 % für mhd. î sowie 29,5 % für mhd. û ist weiterhin erkennbar, dass der stattfindende Lautwandel aus quantitativer Sicht beide etymologischen Klassen gleichermaßen betrifft. Zuletzt soll der Einfluss morphologischer Komplexität auf den Lautwandel zusammenfassend diskutiert werden.52 Den Tabellen 3.12 und 3.13 ist zu entnehmen, dass der Gesamtanteil an Diphthongen innerhalb morphologisch komplexer Kontexte höher ist als in Simplizia (mhd. î: 33,6 % vs. 27,0 %, mhd. û: 33,1 % vs. 25,5 %). Eine separate Betrachtung der einzelnen Lexeme weist darauf hin, dass lexemspezifische Unterschiede zwischen Simplizia und komplexen Wortformen bestehen. Die Analyse ergibt, dass die Tendenz zur diphthongischen Realisierung in komplexen Wortformen in den meisten Fällen stärker ist als in Simplizia, wobei dieser Effekt bei den Lexemen Eis, Seite, Zeit und Wein besonders deutlich in Erscheinung tritt, in den Lexemen Weib, weit und seit jedoch nur schwach ausgeprägt ist. Die entgegengesetzte Tendenz (d. h. ein geringerer Anteil an Diphthongen in komplexen Wortformen im Vergleich zu Simplizia) ist im Lexem Eisen schwach und im Lexem weiß deutlich erkennbar. Bei letzterem wurde argumentiert, dass der weitaus geringere Anteil an Diphthongen in komplexen Wortformen auf eine zeitlich weit zurückliegende Aufnahme einiger dieser Formen in den Dialekt zurückzuführen sei (siehe Abschnitt 3.2.2.8). Die Daten für mhd. û ergeben bei vergleichender Betrachtung der einzelnen Lexeme folgendes Bild: Die Lexeme Haus und laut weisen einen geringeren Anteil an Diphthongen innerhalb von Simplizia als in komplexen Wortformen auf. Im Lexem sauber ist der Anteil an Diphthongen innerhalb der Simplizia hingegen höher. Eine Erklärung hierfür ist im Korpus komplexer Wortformen für das Lexem sauber zu finden: Das Korpus besteht ausschließlich aus dem frequenten Partikelverb saubermachen, das bereits seit langer Zeit fester Bestandteil des alemannischen Wortschatzes sein dürfte. Die hohe Gebrauchshäufigkeit spielt also in Verbindung mit der schon früh erfolgten Verankerung im Dialekt eine zentrale Rolle für die Stabilität der monophthongischen Lautung. Zusätzlich kann auf der Grundlage der vorliegenden Daten überprüft werden, ob die Differenzierung nach standardsprachlichen Diphthongen [aI] bzw [aU] einerseits und schwäbischem Diphthong [eI] bzw. [OU] andererseits einen weiteren 52

Den Tabellen 3.12 und 3.13 kann entnommen werden, dass nur für einige der Lexeme eine Analyse des Einflussfaktors Komplexität möglich ist. Dies liegt daran, dass nicht alle Lexeme wortbildungsmorphologisch produktiv sind (z. B. sein, gleich, eisern, lauter) oder zu wenige Tokens für einen aussagekräftigen Vergleich von Simplizia und komplexen Wortformen vorliegen (bleib[en], laut).

123

3.4 Gesamtanalysen zu mhd. î und û

Haus 143 710

lauter 49 77

sauber 49 89

laut 18 23

SUMME 151 899

22,0 % (156) 6,2 % (44) 28,2 % (200)

20,8 % (16) 9,1 % (7) 29,9 % (23)

34,9 % (31) 1,1 % (1) 36,0 % (32)

43,5 % (10) 0% (0) 43,5 % (10)

23,7 % (213) 5,8 % (52) 29,5 % (265)

18,4 % (68) Anteil [OU] 5,7 % (21) SUMME 24,1 % (89) NUR KOMPLEXE WORTFORMEN Anteil [aU] 25,8 % (88) Anteil [OU] 6,7 % (23) SUMME 32,5 % (111)

20,8 % (16) 9,1 % (7) 29,9 % (23)

40,0 % (24) 0% (0) 40,0 % (24)

27,8 % (5) 0% (0) 27,8 % (5)

20,4 % (113) 5,1 % (28) 25,5 % (141)

-

24,1 % (7) 3,5 % (1) 27,6 % (8)

-

26,7 % (100) 6,4 % (24) 33,1 % (124)

Anzahl der Ortspunkte Anzahl der Tokens ALLE WORTFORMEN Anteil [aU] Anteil [OU] SUMME NUR SIMPLIZIA Anteil [aU]

-

-

Tab. 3.13: Quantitative Angaben zum Anteil an Diphthongen innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes für mhd. û. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Tokens, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Zahlenwerte sind nur dann angegeben, wenn die entsprechende Grundmenge aus wenigstens zehn Tokens besteht und wenn das entsprechende Lexem komplexe Wortformen bildet.

124

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Hinweis darauf gibt, ob morphologische Komplexität mit Standardeinfluss zusammenhängt. Wie aus Tabelle 3.12 zu mhd. î zu entnehmen ist, liegt der Anteil an stark steigenden Diphthongen innerhalb des Monophthong-Gebietes bezogen auf das Gesamtkorpus bei 22,5 % (759), während er für die schwach steigenden Diphthonge bei 6,2 % (211) liegt. Aus den Kartenbildern der Apparent-Time-Vergleiche geht hervor, dass diese Differenz durch das seltenere Vorkommen des Diphthongs [eI] innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes bedingt ist, denn seine geografische Verbreitung beschränkt sich im Wesentlichen auf die Gebiete entlang der Diphthongierungsisoglosse. Um nun Aussagen dazu machen zu können, inwieweit morphologische Komplexität mit dem Einfluss des Standards zusammenhängt, muss das Verhältnis zwischen dem Anteil der Diphthonge [aI] und [eI] für das Vorkommen in Simplizia vs. komplexen Wortformen verglichen werden. Gemäß der Hypothese, wonach erhöhter Standardeinfluss in komplexen Wortformen zu erwarten ist, sollte der Verhältniswert, der sich auf das Korpus der Simplizia bezieht, kleiner sein als der für die komplexen Wortformen. Die vorliegenden Daten bestätigen dies: Das Verhältnis von [aI] zu [eI] beträgt bezogen auf das Korpus der Simplizia 3,3 (518:158), während das Verhältnis im Korpus der komplexen Wortformen mit 4,5 (241:53) einen höheren Wert aufweist. Berechnet man die Verhältniswerte für jedes einzelne Lexem, so bestätigt sich auch hier die aus dem Gesamtkorpus hervorgegangene Tendenz (mit Ausnahme der Lexeme Eis, weit und Eisen). Innerhalb des Korpus für mhd. û sind die Ergebnisse weniger klar, wenngleich sie nicht der Ausgangshypothese zuwiderlaufen. Der Verhältniswert beträgt bezogen auf das Korpus der Simplizia 4,0 (113 : 28), während er in Bezug auf die komplexen Wortformen bei 4,2 (100 : 24) liegt. Die geringe Differenz kommt wohl dadurch zustande, dass in den Lexemen sauber und laut generell fast keine schwach steigenden Diphthonge vorkommen und sich somit kaum Unterschiede hinsichtlich der Verhältniswerte beim Vergleich von Simplizia und komplexen Wortformen ergeben. Insgesamt lässt sich für den Zusammenhang von morphologischer Komplexität und Lautwandel festhalten, dass komplexe Wortformen sowohl eine standardnahe Realisierung induzieren (durch die Entlehnung von entsprechenden Wortformen aus dem Standard) oder aber einen bewahrenden Effekt herbeiführen können (durch alte, im Dialekt verankerte Wortformen). Das oben beschriebene Gesamtbild eines höheren Anteils an Diphthongen in morphologisch komplexen Wortformen ist demnach das Ergebnis zweier entgegengesetzt wirkender Tendenzen, wobei in der Summe die Tendenz zur diphthongischen Realisierungen in komplexen Wortformen stärker ist als in Simplizia. Ein weiteres Ergebnis der Analysen zeigt, dass der standardsprachliche Diphthong [aI] von den Sprechern vermehrt in morphologisch kompexen Wortformen realisiert wird – Ein zusätzlicher Hinweis für eine standardsprachlich induzierte Übernahme komplexer Wortformen.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

125

3.5 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. IU 3.5.1 Einleitung Der mittelhochdeutsche Monophthong ist aus dem in althochdeutscher Zeit ebenso geschriebenen, aber diphthongisch artikulierten Laut [iu] hervorgegangen. Der Entwicklungsprozess von der diphthongischen zur monophthongischen Realisierung verlief nach W IESINGER (1970b) über die Zwischenstufe eines zentralisierten Diphthongs, sodass der Entwicklungsweg folgendermaßen ausgesehen haben dürfte: [iu] > [yu] > [y:].53 Der so entstandene zentrale Langvokal wurde in der Folge (wie auch mhd. î und û) während der Entwicklung zum Neuhochdeutschen von der nhd. Diphthongierung erfasst, die sich im gesamten hochdeutschen Dialektraum, mit Ausnahme des Alemannischen, ausbreitete. Abbildung 3.33 verdeutlicht den Lautstand für mhd. iu im Untersuchungsgebiet, so wie ihn die SSAAbfragedaten zu den Lexemen heute, neun und Zeug wiedergeben. Der Karte ist zu entnehmen, dass im schwäbischen Dialektgebiet (in dem die Diphthongierung vollständig durchgeführt wurde) eine besonders große, u. a. sehr lexemspezifische Bandbreite lautlicher Varianten als Ergebnis dieses Lautwandelprozesses vorliegt. Es stellt sich die Frage, weswegen die aus mhd. iu entstandenen Diphthonge ausdifferenzierter sind als die aus mhd. î und û hervorgegangenen Diphthonge. AUER (1990) führt diesbezüglich an, dass der zentrale Langvokal [y:] gegenüber seinen labialen ([i:]) und palatalen ([u:]) Entsprechungen in den Sprachen der Welt aufgrund mangelnder perzeptorischer Deutlichkeit allgemein markierter sei (vgl. auch C ROTHERS 1978). Weiterhin stehen dem zentralen Langvokal [y:] gegenüber dem labialen [i:] und palatalen [u:] mehrere Entwicklungswege offen, wenn man die Diphthongierung als kontextfreien Fortisierungsprozess mit größtmöglicher Dissimilation der beiden Moren des Langvokals betrachtet. So könnte er sich u. a. durch Entrundung zum Langvokal [i:] entwickeln und analog mit mhd. î zu [eI] bzw. [aI] diphthongiert werden. Weitere Szenarien der Entwicklung mit unterschiedlichen Endpunkten sind denkbar (vgl. die Grafik in AUER 1990, 103). In der folgenden Untersuchung soll insbesondere das Vorkommen der diphthongischen Realisierung [OI] berücksichtigt werden. Dieser Diphthong taucht in den Basisdialekten des Untersuchungsgebietes nicht als Reflex von mhd. iu auf. In der Standardsprache ist er allerdings die einzig vorkommende Lautung (z. B. dialektal [laIt] vs. standardsprachlich [lOIt@]). Somit kann er in der folgenden Untersuchung als Maß für die vertikale Komponente des Lautwandels angesehen werden und deshalb veranschaulichen, inwiefern standardsprachlicher Einfluss hinsichtlich der Realisierung von mhd. iu im Untersuchungsgebiet wirksam ist.54

53 54

Wie insbesondere die Analyse des Lexems Zeug zeigen wird, setzte sich diese Lautentwicklung nicht immer flächendeckend durch. Die Entrundung von mhd. iu, die sich im gesamten Monophthong-Gebiet (mit Ausnahme des südwestlichsten hochalemannischen Teils) ausgebreitet hat, wird in der folgenden Analyse nicht behandelt. Für eine ausführliche Beschreibung dieses Wandelprozesses siehe Kapitel 10.

Abb. 3.33: Realisierung von mhd. iu in den Lexemen heute, neun und Zeug gemäß SSA-Abfragedaten.

126 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

127

3.5.2 Datenkorpus Als Grundlage der Untersuchung dienen die Lexeme neun, Leute, heute, Zeug, Häuser, Häuschen und Mäuse. Die Lexeme können aufgrund der unterschiedlichen historischen Entwicklung ihrer Stammvokale in drei Gruppen unterteilt werden. 1) Bei den Lexemen neun und Leute entwickelte sich der altoberdeutsche Diphthong iu (= [iu]) beim Übergang zum Mittelhochdeutschen zu [y:] und fiel (noch vor der Diphthongierung) mit dem Umlaut von û zusammen. 2) Die Lexeme heute und Zeug bilden Sonderformen, in denen beim Übergang zum Mittelhochdeutschen die diphthongische Lautung von ahd. iu im schwäbischen Dialektraum teilweise erhalten blieb und als deren Reflex [uI] in den rezenten Dialekten vorkommt. 3) Die Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse stellen Umlautformen dar, in denen mhd. iu als Umlaut von û die Kategorie Plural bzw. Diminutiv markiert (vgl. J UTZ 1931; PAUL 1989). Die Datenlage für die Realisierung von mhd. iu erlaubt nur für die Lexeme neun und heute einen vollständigen Datenvergleich. Mit den Lexemen Leute und Zeug sowie den drei Umlautformen Häuser, Häuschen und Mäuse ist ein Real-Time-Vergleich nicht möglich, da Wenker- oder SSA-Abfragedaten teilweise fehlen. In Tabelle 10.1 ist das Korpus der verfügbaren Wenker-Karten aufgeführt. Lexem neun heute

Wenker-Karte III-8/497 III-8/196

Leute

III-8/519

Häuser

III-8/465

Wenker-Fragesatz Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe ... Du hast heute am meisten gelernt und bist artig gewesen, ... Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen/hauen. Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen.

Tab. 3.14: Korpus der Wenker-Karten für die Realisierung von mhd. iu. Neben den Karten W ENKERS wird zudem eine Karte (Nr. 14) aus H ERMANN F I SCHERS „Geographie der schwäbischen Mundarten“ (1895) einbezogen, die für die Lexeme neun, heute und Zeug die Diphthongierungsisoglosse bzw. das Auftreten zweier kleinräumiger Varianten ([ia] und [ua]) im Südosten des Untersuchungsgebietes berücksichtigt. Das Korpus der jüngeren Erhebungsdaten des SSA ist in Tabelle 10.2 aufgeführt. Es handelt sich dabei ausschließlich um Einzelwortabfragen, wobei das Lexem Zeug anhand der beiden Komposita Lumpenzeug und Werkzeug abgefragt wurde. In Tabelle 3.16 sind die spontansprachlichen Daten nach einzelnen Lexemen aufgeführt. Insgesamt handelt es sich um 4851 Tokens, die sich auf 315 Ortspunkte verteilen. Die Tokendichte ist in den meisten Fällen sehr gut und lässt eine aussagekräftige Interpretation der Ergebnisse zu. Diese sollen im Folgenden im Vergleich mit den wissensbasierten Abfragedaten dargestellt werden.

128

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Lexem neun heute Zeug Mäuse

SSA-Karte/Frage 498/001 336/001 II/33.02 II/26.00

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage ([Lumpen-, Werk-] Zeug) Einzelwortabfrage

Tab. 3.15: Korpus der SSA-Karten für die Realisierung von mhd. iu. Lexem neun heute Leute Zeug Häuser Häuschen Mäuse GESAMT

Anzahl der Tokens 673 2308 1169 381 201 86 33 4851

Anzahl der Ortspunkte 171 278 236 146 110 51 16 315

Tab. 3.16: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. iu. 3.5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 3.5.3.1 Lexem neun Abbildung 3.34 zeigt den Vergleich der Diphthongierungsisoglossen nach W EN KER , F ISCHER (1895) und SSA-Abfragedaten für das Zahlwort neun. Der Vergleich der beiden etwa zeitgleich erhobenen Isoglossen W ENKERS und F ISCHERS weisen im nordwestlichen Bereich nur vereinzelt Unterschiede auf. Im südöstlichen Gebiet, v. a. nördlich des Bodensees, liefert die Kartierung F ISCHERS jedoch ein völlig anderes Bild: Nur in vier einzelnen, relativ kleinen Gebieten wird der Monophthong realisiert, während W ENKER den nördlichen Bodenseeraum als geschlossenes Monophthong-Gebiet kartiert.55 Selbst die etwa 90 Jahre jüngere Kartierung des SSA zeigt einen wesentlich konservativeren Lautstand als F ISCHER. Vergleicht man nur die Isoglossen W ENKERS und des SSA, so entsteht der Eindruck eines tendenziellen Abbaus der monophthongischen Realisierung nördlich des Bodensees. Darauf

55

Die Unterschiede zwischen den Kartierungen F ISCHERS und W ENKERS gehen womöglich auf deren verschiedene Erhebungsmethoden zurück. Hauptunterschied ist, dass F ISCHERS Informanten die lokalen Gemeindepfarrer waren, während W ENKER die Dorflehrer heranzog. Wer wiederum die Gewährspersonen von F ISCHERS Pfarrern darstellten, ist allerdings nicht bekannt. Bei W ENKERS Lehrern waren dies die ortsansässigen Schüler. Woher die Unterschiede der beiden Kartierungen herrühren, muss also der Spekulation überlassen bleiben und kann nicht sicher beantwortet werden.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

129

deuten auch die diphthongischen Einzelbelege (gemäß W ENKER und SSA) im Hinterland des geschlossenen Monophthong-Gebietes hin. Die Betrachtung der spontansprachlichen Daten (Abbildung 3.35) zeigt insgesamt einen Rückgang der monophthongischen Realisierung. Im traditionellen Monophthong-Gebiet werden 41,3 % (150) der Tokens diphthongisch realisiert. Dabei ist nicht nur der Raum nördlich des Bodensees betroffen, sondern fast das gesamte restliche Monophthong-Gebiet. Besonders das Gebiet, das sich nordwestlich des Bodensees bis in den nordwestlichen Schwarzwald-Baar-Kreis erstreckt, ist auffällig: Es weist nur noch zu einem geringen Anteil monophthongische Realisierungen auf und nimmt hiermit eine Sonderstellung innerhalb des monophthongischen Gesamtbereichs ein. Im übrigen Monophthong-Gebiet ist zwar ebenfalls Variation erkennbar, doch ist diese weit weniger stark ausgeprägt. Dies gilt insbesondere für den äußersten Südwesten des Untersuchungsgebietes, wo innerhalb eines etwa 20 Kilometer breiten Streifens zwischen Lörrach und Waldshut keinerlei Diphthonge auftreten. Neben der oben behandelten Frage, in welchen Bereichen des Untersuchungsgebietes Diphthongierung vorliegt, ist die genauere Betrachtung der in Abbildung 3.35 aufgeführten Diphthong-Realisierungen von weiterführender Relevanz. Die spontansprachlichen Daten zeigen diesbezüglich, dass es sich lohnt, die Ersatzdiphthonge etwas genauer zu betrachten. So haben wir als Ersatzlaute einerseits den standardnahen Diphthong [OI] (weiße Quadrate) und andererseits die schwäbischen Realisierungen [aI] (weiße Kreise) und [eI] (graue Kreise).56 Abbildung 3.35 zeigt, dass innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes der Ersatzlaut [OI] die dominante Form ist und sich relativ gleichmäßig verteilt. Er bildet im gesamten Monophthong-Gebiet die vorrangige Ersatzform, konkurriert aber offensichtlich nördlich des Bodensees sowie im nördlichsten Monophthong-Gebiet in stärkerem Maße mit der Form [aI]. Selbst innerhalb des schwäbischen Diphthong-Gebiets ist die Standardvariante [OI] verbreitet und wird vielerorts anstelle der traditionellen Form [aI] verwendet. Dennoch ist der Anteil der Standardform an den Diphthongen innerhalb des Diphthong-Gebietes geringer (29,0 % [89]) als innerhalb des MonophthongGebietes, wo er 63,3 % (95) bezogen auf alle Diphthonge in diesem Gebiet beträgt. Der Einfluss der Standardsprache wirkt also im gesamten Untersuchungsgebiet, hat aber im schwäbischen Dialektgebiet, wo die Diphthongierung zur dialektalen Form [aI] schon seit langem abgeschlossen ist, einen schwächeren Effekt. Da das Zahlwort neun in ca. 80 % der Fälle in Komposita auftritt (z. B. neunzehn, neunzehnhundertfünf, etc.) und diese morphologischen Kontexte unter Umständen Abweichungen von der dialektalen Realisierungsweise bewirken könnten (beispielsweise weil sie Übernahmen aus dem Standard darstellen), wurden zur Verifizierung dieser Hypothese auf der Karte in Abbildung 3.36 ausschließlich Simplizia, und keine morphologisch komplexen Wortformen aufgetragen.

56

Zur Kartierung der spontansprachlichen Daten: Das Kreissymbol beinhaltet den Anteil an Monophthongen sowie an Diphthongen [aI] und [eI]. Das direkt danebenstehende weiße Quadrat gehört zum gleichen Erhebungsort und symbolisiert das Vorkommen des Diphthongs [OI].

Abb. 3.34: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte III-8/497 und der SSA-Abfragedaten (Frage 498/001) für das Lexem neun.

130 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Abb. 3.35: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 498/001) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem neun.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

131

Abb. 3.36: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 498/001) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem neun (nur Simplizia).

132 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

133

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

Das Kartenbild zeigt hinsichtlich der geografischen Verteilung der Diphthongierung keine signifikanten Unterschiede zu Abbildung 3.35.57 Auch prozentual ist der Anteil diphthongischer Simplizia innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes mit 40,4 % (23) kaum geringer als innerhalb der komplexen Wortformen (41,5 % [127]). Einen klar hervortretenden Effekt scheint die morphologische Komplexität demnach nicht auf die Diphthongierung zu haben. Werden die Belege innerhalb der morphologisch komplexen Tokens jedoch differenziert betrachtet, so ergeben sich deutlichere Unterschiede: Komposita, die als Jahreszahlen gebraucht werden, kommen auf einen leicht über dem Durchschnitt liegenden Diphthong-Anteil von 43,0 % (74) und werden aufgrund dieses häufigen Auftretens noch einmal gesondert betrachtet. In Tabelle 3.17 ist die Verteilung des Lexems neun in den untersuchten morphologischen Kontexten dargestellt. Wie die Tabelle zeigt, sind innerhalb der Komposita die Jahreszahlen die prominenteste Kategorie. Tokens neun

Diphth.

Diphth.

[OI]

[OI]

(absolut)

(Prozent)

(absolut)

(Prozent)

363

150

41,3 %

95

26,1 %

57

23

40,4 %

13

22,8 %

306

127

41,5 %

82

26,8 %

172

74

43,0 %

51

29,7 %

160

64

40,0 %

43

26,9 %

12

10

83,3 %

8

-

134

53

39,6 %

31

23,1 %

(alle Tokens)

neun (nur Simplizia)

neun (nur komplexe Tokens)

Jahreszahlen (gesamt)

Jahreszahlen (nur neunzehnhundert-)

Jahreszahlen (außer neunzehnhundert-)

sonstige Zahlenkomposita

Tab. 3.17: Anteile an diphthongischen Realisierungen im Lexem neun innerhalb von Simplizia vs. morphologisch komplexen Wortformen. Alle Angaben beziehen sich auf das traditionelle Monophthong-Gebiet. Es sind nur dann Prozentwerte angegeben, wenn die zugrunde liegende Tokenanzahl mindestens zehn beträgt. Weitere Unterschiede können identifiziert werden, wenn innerhalb der als Jahreszahlen gebrauchten Komposita nochmals zwischen denen mit dem Erstglied neunzehnhundert- und den restlichen differenziert wird (z. B. achtzehnhundertneun). Erstere sind weit häufiger und weisen einen durchschnittlichen Anteil von 40,0 % (64) Diphthongen auf, während bei letzteren zehn von insgesamt zwölf Tokens diphthongisch realisiert werden (interessanterweise handelt es sich bei den meisten 57

Auffallend ist lediglich der Schwarzwald-Baar-Kreis, in dem der Anteil an [OI]-Diphthongen in der Kartierung ohne morphologisch komplexe Wortformen geringer erscheint.

134

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

dieser Diphthonge um die standardnahen Varianten [OI] [Tabelle 3.17]). Hier ist demnach die nicht zuletzt durch die hohe Gebrauchsfrequenz bedingte Lexikalisiertheit des Erstglieds neunzehnhundert- in Jahreszahlen von Bedeutung. Dieses Erstglied scheint keine neuere Entlehnung aus dem Standard darzustellen, sondern ist ein dialektales Kompositionsglied, das folglich eine dialektkonformere Realisierung entsprechender Komposita induziert. Die übrigen Zahlenkomposita, die keine Jahreszahlen darstellen (z. B. neunzehn, neunundsechzig, etc.), weichen mit 39,6 % (53) nur unwesentlich vom durchschnittlichen Diphthong-Anteil aller Komposita ab. Für den Einfluss morphologischer Komplexität auf die Diphthongierung kann insgesamt festgehalten werden, dass sich keine deutliche Tendenz zur standardsprachlichen Realisierung zeigt, d. h. bei komplexen Wortformen handelt es sich selten um Übernahmen aus dem Standard. Im Korpus der Jahreszahlen treten allerdings deutliche Unterschiede auf: Hier werden diejenigen Wortformen mit dem Erstglied neunzehnhundert- tendenziell dialektal realisiert. Für die übrigen Jahreszahlen zeigt sich, dass sie in den meisten Fällen die standardkonforme Realisierung aufweisen und demnach Entlehnungen aus dem Standard darstellen dürften.

3.5.3.2 Lexem heute Das Adverb heute weist eine überaus gute Datenlage auf, sodass ein vierstufiger Vergleich zwischen den Daten W ENKERS, F ISCHERS (1895), den Abfragedaten des SSA sowie den hochfrequenten spontansprachlichen Daten durchgeführt werden kann. In der Stammsilbe des Lexems heute kommen innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes sechs unterschiedliche Diphthong-Varianten vor: [OI], [aI], [eI], [uI], [ia] und [ua]. Die Diphthongierung ist in diesem Lexem bereits in den Erhebungsdaten W ENKERS auffallend weit fortgeschritten, wie in Abbildung 3.37 zu sehen ist. Auf dieser Karte ist der älteste greifbare Lautstand gemäß den Erhebungen W ENKERS kartiert. Daraus wird ersichtlich, dass der nördliche Bodenseeraum schon nicht mehr zum traditionellen Monophthong-Gebiet gehört. Das noch bestehende Monophthong-Gebiet ist bei Wenker relativ homogen dargestellt. Es tauchen aber, gleichmäßig verteilt, die Diphthonge [eI] und [OI] auf, die den weiter fortschreitenden Diphthongierungsprozess andeuten. Das Auftreten des Diphthongs [OI] kann hierbei als vertikaler Einfluss der Standardsprache angesehen werden, was auch durch das zahlreiche Auftreten von Einzelbelegen dieses Diphthongs im Diphthong-Gebiet bestätigt wird. Die nahezu synchron erhobenen Daten F ISCHERS unterscheiden sich von denen W ENKERS teilweise erheblich. So ist nach F ISCHER (Abbildung 3.38) die Diphthongierung im mittleren Bereich der Isoglosse bereits deutlich weiter vorangeschritten, während das Monophthong-Gebiet im südöstlichsten Teil ca. 20 Kilometer weiter nach Osten reicht. Der Vergleich der Daten W ENKERS mit den etwa 100 Jahre jüngeren Erhebungsdaten des SSA lässt keine eindeutige Wandeltendenz erkennen (Abbildung 3.39). Die Isoglossen gemäß W ENKER und SSA unterscheiden sich bis auf einige Dörfer kaum. Auffällig sind allerdings vier Ortspunkte außerhalb des geschlossenen

Abb. 3.37: Realisierung von mhd. iu im Lexem heute gemäß den Erhebungdaten W ENKERS (Karte III-8/196).

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

135

Abb. 3.38: Vergleich der Erhebungsdaten W ENKERS (Karte III-8/196) und F ISCHERS (1895, Karte 14) für die Realisierung von mhd. iu im Lexem heute.

136 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

137

Monophthong-Gebietes, in denen von den SSA-Exploratoren monophthongische Realisierungen elizitiert wurden. Im Vergleich zur Kartierung W ENKERS deuten die SSA-Abfragedaten demnach einen weniger weit fortgeschrittenen Rückgang der monophthongischen Realisierung an. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass sich eine klare Entwicklungsrichtung der nhd. Diphthongierung im Lexem heute anhand des Vergleichs der Abfragedaten nicht ausmachen lässt. Die spontansprachlichen Daten zeigen ein klareres Bild, wie auf Abbildung 3.40 zu sehen ist. Demnach breitet sich die Diphthongierung im traditionellen Monophthong-Gebiet aus: 24,5 % (265) aller Tokens werden hier diphthongisch realisiert. Besonders auffällig ist der Bereich um Villingen-Schwenningen, der einen ausgesprochen hohen Anteil an diphthongischen Belegen aufweist. Der Lautwandel kann hier stellenweise als nahezu abgeschlossen angesehen werden. Auch der Bereich westlich des Bodensees ist sehr stark von der Diphtongierung betroffen, während sich der restliche Teil des traditionellen Monophthong-Gebietes recht stabil verhält (vor allem der äußerste Südwesten). Besonders interessant ist die Verteilung der Ersatzlaute, die an die Stelle der Monophthonge treten. Gerade der Diphthong [aI] spielt hierbei eine dominante Rolle, da sein Anteil an allen Diphthongen im traditionellen Monophthong-Gebiet 57,7 % (153) beträgt. Erst danach folgen die standardnahen [OI]-Diphthonge mit einem Anteil von 37,4 % (100) und schließlich die [eI]-Diphthonge mit 4,9 % (12). Im Fall des Lexems heute handelt es sich also um einen Fall, bei dem der vertikale Einfluss der Standardsprache zwar flächendeckend zu wirken scheint, der Einfluss der schwäbischen Diphthong-Variante [aI] jedoch die weit häufigere Ersatzform für den alten Monophthong darstellt. Selbst im schwäbischen Diphthong-Gebiet setzt sich der Einfluss des [aI]-Diphthongs durch. Er ist hier mit einem Anteil von 79,7 % (678) nicht nur weit häufiger als die standardnahe Diphthong-Variante [OI] mit 11,3 % (96), sondern ersetzt außerdem den (gemäß SSA-Abfragedaten) traditionell im südschwäbischen Dialektraum auftretenden Diphthong [eI], der noch mit 9,0 % (77) vertreten ist.58 Nach der Analyse der Diphthongierung sollen nun die drei kleinräumigen Reliktgebiete mit den Realisierungen [huIt], [hiat] und [huat] betrachtet werden. Diese liegen gemäß W ENKER als auch F ISCHER und SSA-Abfragedaten im südöstlichen Teil des traditionellen Diphthong-Gebietes. 1) Das Ausbreitungsgebiet der Reliktform [huIt] umfasst nach W ENKER den gesamten Westen des Landkreises Sigmaringen sowie den Süden des Landkreises Balingen (Abbildungen 3.37, 3.38, 3.39). Ein zweites Verbreitungsgebiet findet sich im äußersten Südosten im Landkreis Ravensburg. Dieses sehr klein erscheinende [huit]-Gebiet ist jedoch Teil eines größeren, gemäß W ENKER etwa 30 Kilometer nach Osten weiterreichenden Gebietes, das durch den SSA nicht mehr erfasst ist. Vergleicht man nun die Ausbreitung der Reliktform [huit] nach W ENKER mit der Verbreitung gemäß SSA-Abfragedaten, so fällt eine deutliche Verkleinerung des Gebietes auf. An die Stelle der [uI]-Diphthonge treten die umliegenden dialek58

In der Kartierung W ENKERS (Abbildung 3.37) ist der [eI]-Diphthong sogar der primäre Diphthong im gesamten schwäbischen Dialektraum. Die Varianten [aI] und [OI] werden hier lediglich als Einzelbelege kartiert und wurden von den Kartenzeichnern offensichtlich als Ausnahmen von der Regel angesehen.

Abb. 3.39: Vergleich der Erhebungsdaten W ENKERS (Karte III-8/196) und des SSA (Frage 336/001) für die Realisierung von mhd. iu im Lexem heute.

138 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Abb. 3.40: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 336/001) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem heute.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

139

140

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

talen Varianten [eI] und [aI]. Zieht man im zweiten Analyseschritt noch die spontansprachlichen Daten hinzu, so wird diese Entwicklungstendenz weiter bestätigt: Innerhalb der ehemaligen [huIt]-Gebiete taucht die entsprechende Form nicht mehr auf. Sie wurde ersetzt durch [aI] und [eI] sowie den standardnahen Diphthong [OI]. 2) Betrachtet man das von W ENKER kartierte [hiat]-Gebiet, so weist die Entwicklung dieser Variable in dieselbe Richtung wie bei [huIt]. Der Kartenvergleich von W ENKER und F ISCHER zeigt deutliche Unterschiede in der Größe des Verbreitungsgebietes (Abbildung 3.38), der Vergleich dieser Daten mit den SSA-Abfragedaten aber eine klare Verkleinerung (Abbildung 3.39). Dieser Rückgang wird durch das spontansprachliche Material bestätigt. In den innerhalb des traditionellen [hiat]Gebietes liegenden Ortspunkten taucht keine einzige Äußerung des Diphthongs [ia] mehr auf (Abbildung 3.40). Sie wird ersetzt durch die Varianten [aI] und [eI]. 3) Das dritte Reliktgebiet [huat] ist lediglich bei W ENKER und F ISCHER belegt. Hier weist der Vergleich der beiden Isoglossen wiederum deutliche Unterschiede auf (Abbildung 3.38), während die Erhebungen des SSA keinerlei Nachweis für die Existenz dieser Form erbringen können. Selbst suggerierte Daten liegen für diese Reliktform nicht vor. Auch die spontansprachlichen Daten erbringen erwartungsgemäß keinen Nachweis für die Existenz dieser Variante im Dialektrepertoire der Sprecher. Zusammenfassend kann für die Entwicklung der drei Realisierungen [huIt], [hiat] und [huat] also ein vollständiger Rückgang festgestellt werden. Dies könnte auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass diese Realisierungen als Reflexe von mhd. iu nur in den Lexemen heute und Zeug vorkommen und damit als markierte, lexikalisch gebundene Erscheinungen anzusehen sind.59 Hinzu kommt, dass ihre Verbreitungsgebiete besonders kleinräumig sind – eine Gegebenheit, die den Lautersatz durch umliegende Dialektformen zusätzlich fördert (vgl. S CHWARZ / S PIE KERMANN / S TRECK 2011). Abschließend soll ein kurzer Blick auf das Vorkommen morphologisch komplexer Wortformen in den spontansprachlichen Daten geworfen werden. Dahingehend konnten lediglich zwei unterschiedliche Types identifiziert werden: das Derivat heutig- (5 Tokens) und die Zusammenbildung heutzutage (10 Tokens). Beide Wortformen werden in erster Linie monophthongisch realisiert und weisen jeweils nur ein diphthongisch realisiertes Token auf. Es wird sich bei diesen Wortformen also um fest im dialektalen Repertoire verankerte Einheiten handeln. Es kann somit festgehalten werden, dass morphologisch komplexe Wortformen im Fall des Lexems heute den Diphthongierungsprozess eher verhindern. Dieser „Verhinderungseffekt“ tritt aber, bedingt durch die geringe Anzahl dieser Ausdrücke im Gesamtkorpus, insgesamt nur sehr schwach in Erscheinung.

59

In der Terminologie S CHIRMUNSKIS wären sie also als primäre Dialektmerkmale aufzufassen (vgl. S CHIRMUNSKI 1928/29; 1930).

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

141

3.5.3.3 Lexem Leute Ein Kartenvergleich zwischen W ENKER und SSA-Abfragedaten ist für das Lexem Leute aufgrund des Fehlens einer SSA-Karte nicht möglich. Aufgrund der sehr guten spontansprachlichen Datenlage kann allerdings ein Real-Time-Vergleich zwischen der vorhandenen Wenker-Karte und den spontansprachlichen Daten durchgeführt werden. In Abbildung 3.41 ist zu erkennen, dass das Monophthong-Gebiet nach W ENKER nicht mehr zusammenhängend ist, sondern aus zwei Teilen besteht, die im Bereich des westlichen Bodensees voneinander getrennt sind. Die beiden Monophthong-Gebiete erscheinen in den Daten W ENKERS sehr homogen und weisen keine diphthongischen Einzelbelege auf, sodass der Eindruck hoher Stabilität entsteht. Die spontansprachlichen Daten zeigen im Gegensatz hierzu eine Ausbreitung der diphthongischen Realisierung im traditionellen Monophthong-Gebiet: Von den insgesamt 542 Tokens werden 26,9 % (146) diphthongisch realisiert. Wie bei den vorhergehenden Analysen zu den Lexemen neun und heute ist auch im vorliegenden Fall das Gebiet um Villingen-Schwenningen sowie der gesamte Bereich nördlich des Bodensees besonders von der Diphthongierung betroffen. Auch nördlich von Freiburg und im nördlichen Bereich des Monophthong-Gebietes treten diphthongische Realisierungen gehäuft auf. Das restliche Monophthong-Gebiet (besonders der äußerste Südwesten) ist hingegen relativ stabil. Die Analyse der Ersatzlaute zeigt eine gleichmäßige Verteilung standardnaher [OI]-Diphthonge im gesamten traditionellen Monophthong-Gebiet, was auf einen relativ flächendeckenden Einfluss der Standardsprache hinweist. Dennoch ist in diesem Gebiet der standardnahe Diphthong mit einem Anteil von 31,5 % (46) weniger stark vertreten als der stark steigende Diphthong [aI] mit 40,4 % (59). Der Diphthong [eI], der die traditionelle Variante des benachbarten schwäbischen Dialektgebietes darstellt, ist mit 28,1 % (41) vertreten. Es stellt sich nun die Frage, weswegen der [aI]-Diphthong die vorrangige Ersatzform bildet, ist er doch weder die standardkonforme Realisierung noch eine Form benachbarter Dialekte. Im benachbarten schwäbischen Dialektraum wird sowohl nach W ENKER als auch in den spontansprachlichen Daten größtenteils der leicht steigende Diphthong [eI] realisiert. Dies legt nahe, dass es sich bei der Ausbreitung von [aI] um einen analogen Prozess handelt, der durch jene Lexeme erzeugt wird, bei denen der [aI]-Diphthong ohnehin als traditionelle Form im Dialektrepertoire vorhanden ist. Besonders das Lexem heute kommt hier in Betracht (siehe Abschnitt 3.5.3.2), zumal die Lexeme Leute und heute mit Ausnahme des Onsets der ersten Silbe phonotaktisch identisch sind. Für das Substantiv Leute lohnt sich eine genauere Betrachtung morphologisch komplexer Wortformen, da diese in Form von 44 Komposita innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes auftreten. Die häufigsten der 19 Types, auf die sich die morphologisch komplexen Tokens innerhalb des traditionellen MonophthongGebietes verteilen, sind die Komposita Bauersleute (4x), Weibsleute (8x), Nachbarsleute (4x) und Geschäftsleute (7x). Es stellt sich heraus, dass der Anteil an diphthongischen Realisierungen in jenen komplexen Wortformen geringer ist, die offensichtlich stark in den Dialekt eingebettet sind und semantisch Entitäten des ländlichen Alltags darstellen. Es sind dies die Wortformen Bauersleute (0 Diphthonge),

Abb. 3.41: Real-Time-Vergleich der Daten W ENKERS (Karte III-8/519) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Leute.

142 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

143

Weibsleute (1 Diphthong) und Nachbarsleute (1 Diphthong). Ein höherer Anteil an Diphthongen besitzt erwartungsgemäß die Wortform Geschäftsleute (3 Diphthonge), da diese eine jüngere Übernahme aus dem Standard darstellt. Für das Lexem Leute zeigt sich also ein nur schwacher Einfluss des Standardsprache in Form von Übernahmen neuerer Bildungen in den Dialekt. Die meisten der vorgestellten komplexen Wortformen sind dialektale Bildungen, die die monophthongische Lautung tendenziell bewahren.

3.5.3.4 Lexem Zeug Im Lexem Zeug ist der Diphthongierungsprozess im nordwestlichen Bereich des Untersuchungsgebietes bereits abgeschlossen (Abbildung 3.42). Somit steht das Kartenbild im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Lexemen, bei denen der nordwestliche Bereich noch zum Monophthong-Gebiet zählt. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte die Sonderstellung des Lexems Zeug sein. Dieses Wort hat durchgehend eine aus althochdeutsch iu hervorgegangene diphthongische Realisierungsform bewahrt, die sich im schwäbischen Dialektraum zum Reflex [uI] weiterentwickelt hat. In fast allen anderen Lexemen (außer heute) wurde der althochdeutsche Diphthong iu beim Übergang zum Mittelhochdeutschen umgelautet und zu [y:] monophthongiert (vgl. J UTZ 1931). Damit fiel diese Realisierung mit den Umlautformen von û zusammen und wurde wie diese gegen Ende der mittelhochdeutschen Sprachperiode von der nhd. Diphthongierung erfasst. Möglicherweise hat also der bereits bestehende diphthongische Reflex von ahd. iu im Schwäbischen die einsetzende nhd. Diphthongierung beschleunigt, was die vergleichsweise weiter vorgedrungene Diphthongierung im Nordwesten des Untersuchungsgebietes erklären könnte.60 Wenig plausibel erscheint hingegen der methodische Erklärungsansatz, nach dem die weiter fortgeschritten erscheinende Diphthongierung im SSA durch die Abfrage des Lexems Zeug anhand der beiden Komposita Werkzeug und Lumpenzeug(s) zustande gekommen sein könnte. Zwar tendieren im standardsprachlichen Gesamtkorpus Komposita insgesamt stärker zur standardnahen Realisierung, da sie häufig Übernahmen aus dem Standard darstellen. Im Fall des Kompositums Werkzeug ist dies aber nicht zu erwarten, da diese Wortform bereits seit dem 12. Jahrhundert belegt ist (G RIMM / G RIMM 1854–1971). Auch die Wortform Lumpenzeug dürfte eine bereits ältere, im Dialekt verankerte Wortform sein, was auch die spontansprachlichen Daten bestätigen. Demnach wäre durch die Abfrage des Lexems Zeug anhand dieser beiden Komposita eher ein konservativ erscheinendes Kartenbild zu erwarten gewesen. 60

Solche „Synergieeffekte“ zwischen bereits vorhandenen und innovativen Variablen zeigen sich bei der Diphthongierung von mhd. iu (sowie bei î und û) auch in den Apparent-Time-Analysen der jüngsten Daten, wenn die vorhandenen (dialektalen) und innovativen (standardsprachlichen) Variablen phonologisch ähnlich (also diphthongisch) sind. Allerdings handelt es sich dabei um ein Zusammenspiel von vertikalen (standardsprachlichen) und horizontalen (dielaktalen) Elementen, während es in mittelhochdeutscher Zeit zwei horizontal wirkende gewesen sind.

144

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Kommen wir aber nun zurück zur Beschreibung der Variablenverteilung im Untersuchungsgebiet. Den gesamten östlichen Bereich des schwäbischen Diphthong-Gebietes nimmt gemäß SSA der Diphthong [uI] ein, während der westliche Teil durch den Diphthong [eI] bestimmt wird. Sowohl die Kartierungen F ISCHERS als auch des SSA weisen außerdem (analog zum Lexem heute) zwei kleinräumige Reliktgebiete mit den Formen [ia] und [ua] nördlich des Bodensees auf. Der Real-Time-Vergleich dieser beiden Datensätze lässt kaum einen Rückgang des [ia]- und [ua]-Gebietes erkennen, sondern lediglich leichte Veränderungen ihrer geografischen Lage. Die wenigen spontansprachlichen Tokens, die innerhalb der Verbreitungsgebiete von [ia] und [ua] auftreten, deuten auf eine Ersetzung dieser beiden Diphthong-Varianten durch die Formen [OI] und [aI] hin. Die lautlichen Verhältnisse innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes stellen sich folgendermaßen dar: Die Diphthongierung hat sich, wie in Abbildung 3.42 zu sehen ist, offenbar weiter von Norden nach Süden bis etwa auf Höhe von Freiburg fortgesetzt. Als Gebiet, in dem überhaupt noch Monophthonge auftreten, kann der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebietes angesehen werden (wo die Monophthonge sich aber um so besser zu behaupten scheinen). Somit verzeichnet das Lexem Zeug im Vergleich mit den anderen analysierten Lexemen sowohl im Kartenbild der SSA-Abfragedaten als auch in den spontansprachlichen Daten den geografisch stärksten Rückgang der monophthongischen Realisierung. Bezogen auf das gesamte alte Monophthong-Gebiet gemäß SSA-Abfragedaten ist der quantitative Rückgang monophthongischer Tokens jedoch vergleichbar mit den anderen Lexemen: Von den 120 Tokens in diesem Gebiet werden 29,2 % (35) diphthongisch realisiert. Als Ersatzlaut innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes wurde von den Sprechern hauptsächlich der standardnahe [OI]-Diphthong gewählt. Sein Anteil an allen Diphthongen in diesem Gebiet beträgt 57,1 % (20), gefolgt von [aI] mit 25,7 % (9). Die Diphthonge [eI] (5) und [uI] (1) werden nur selten als Ersatzlaute verwendet. Innerhalb des Diphthong-Gebietes ist der standardnahe [OI]-Diphthong mit einem Anteil von 36,4 % (95) an den hier auftretenden Diphthongen ebenfalls sehr frequent und ist gleichmäßig über das gesamte Gebiet verteilt. Die dialektalen Varianten [uI] (36,0 % [94]) und [eI] (13,4 % [35]) scheinen sich hingegen nicht zu behaupten. Interessant ist das Auftreten des Diphthongs [aI], der in den Abfragedaten zum Lexem Zeug nicht vorhanden ist, in den spontansprachlichen Daten aber im gesamten Untersuchungsgebiet vorkommt. Betrachten wir nun noch die morphologische Komplexität und deren Einfluss auf die phonologische Realisierung von mhd. iu innerhalb des Monophthong-Gebietes. Von den 41 morphologisch komplexen Tokens werden 39,0 % (16) diphthongisch realisiert. Somit haben morphologisch komplexe Wortformen im vorliegenden Korpus offenbar eine höhere Wandeltendenz als Simplizia, die nur einen Anteil von 24,1 % (19) diphthongischer Realisierungen enthalten. Ungefähr die Hälfte aller komplexer Tokens verteilt sich auf die Types Lumpenzeug(s), Zeugnis und Fahrzeug(e), die allesamt einen verhältnismäßig niedrigen bis durchschnittlichen Anteil an diphthongischen Realisierungen aufweisen.61 Bei den restlichen komplexen 61

Lumpenzeug(s): 1 von 7 Tokens diphthongisch, Zeugnis: 1 von 4 Tokens diphthongisch, Fahrzeug(e): 3 von 9 Tokens diphthongisch.

Abb. 3.42: Real- und Apparent-Time-Vergleich der Isoglossen F ISCHERS (1895, Karte 14) mit den SSA-Abfragedaten (Karte II/33.02) sowie den spontansprachlichen Daten für das Lexem Zeug.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

145

146

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Wortformen (21 Tokens) handelt es sich meist um Einmal-Äußerungen, die mit einem Diphthong-Anteil von insgesamt 47,6 % (10) relativ häufig diphthongisch realisiert werden. Beispiele für Bildungen aus dieser Gruppe sind erzeugen, bezeugen, überzeugen oder Reißzeug. Auffällige Unterschiede hinischtlich der Wandeltendenz ergeben sich weiterhin bei der Unterscheidung zwischen Derivationen und Komposita. Erstere weichen in etwa doppelt so häufig von der traditionellen Form ab als letztere. Dies verwundert nicht, handelt es sich bei den Derivationen doch fast ausschließlich um verbale Präfigierungen, deren Präfixe in der dialektalen Wortbildung nicht produktiv, wenn überhaupt existent sind (v.a. erzeugen, bezeugen). Es handelt sich bei diesen Wortformen also eindeutig um Entlehnungen aus dem Standard.

3.5.3.5 Umlautformen Häuser, Häuschen und Mäuse In diesem Abschnitt soll die Realisierung von mhd. iu anhand der drei Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse beschrieben werden. Bei allen drei Lexemen handelt es sich bei mhd. iu um den Umlaut von mhd. û zur Bildung des Plurals oder der Diminutivform. Das bedeutet, dass sie sich eher parallel zu û verhalten sollten als zu den übrigen behandelten Lexemen neun, heute, Leute und Zeug. Um diese Annahme zu überprüfen, sind in Abbildung 3.43 ergänzend zu den Isoglossen der Pluralformen Häuser und Mäuse (durchgezogene Linien) die entsprechenden Isoglossen der Singularformen aufgetragen (durchbrochene Linien). Es zeigt sich, dass die Isoglossen nahezu deckungsgleich sind und demzufolge eine hohe Übereinstimmung mit den Lautverhältnissen von mhd. û vorliegt. Für den Real-Time-Vergleich der Umlautformen standen lediglich eine WenkerKarte für das Lexem Häuser sowie eine SSA-Karte für das Lexem Mäuse zur Verfügung. Wie Abbildung 3.43 zu entnehmen ist, sind die Isoglossen fast deckungsgleich, obwohl sie zu zwei verschiedenen Lexemen gehören. Im nordwestlichsten Bereich des traditionellen Monophthong-Gebietes deuten diphthongische Einzelbelege W ENKERS eine Ausbreitung der Diphthongierung an, die sich in den SSAAbfragedaten allerdings nicht bestätigt. Im südöstlichen Teil sind es hingegen in erster Linie die SSA-Abfragedaten, die auf eine solche Entwicklung hinweisen. In Abbildung 3.44 sind die spontansprachlichen Realisierungen für die Lexeme Häuser und Mäuse in einer Kombinationskarte dargestellt. Zusätzlich wurden die Tokens der Diminutivform Häuschen in die Kartierung integriert, um die Belegdichte zu erhöhen.62 Bezogen auf das gesamte traditionelle Monophthong-Gebiet ist der Anteil diphthongischer Tokens mit 29,2 % (47) ähnlich derer in den übrigen Lexemen. Die Diphthongierung ist auch hier räumlich stark ausdifferenziert. Im Kartenbild zeigt sich eine besonders markante Ausbreitung der diphthongischen Realisierung im Gebiet um Villingen-Schwenningen und im Raum nördlich von Rastatt. Auch nördlich des Bodensees darf von einer starken Ausbreitung der Diphthongierung ausgegangen werden, allerdings ist diese aufgrund der ausgesprochen geringen 62

Die gemeinsame Kartierung der drei Lexeme ist neben der Erhöhung der Belegdichte dadurch zu rechtfertigen, dass für alle eine ähnliche dialektgeografische Verteilung der Variation vorliegt. Dies ergaben für jedes der drei Lexeme separat durchgeführte Voranalysen.

Abb. 3.43: Real-Time-Vergleich der Daten W ENKERS (Lexem Häuschen, Karte III-8/465) und den SSA-Abfragedaten (Lexem Mäuse, Karte II/26.00).

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

147

Abb. 3.44: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Lexem Mäuse, Karte II/26.00) mit den spontansprachlichen Daten für die Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse.

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3.5 Diphthongierung von mhd. iu

149

Belegdichte in diesem Gebiet nicht klar nachzuweisen. Als besonders stabil hingegen kann wieder der südwestlichste Raum südlich von Freiburg angesehen werden. Hier fehlen, bis auf zwei Ausnahmen in Staufen (Lkr. Freiburg) und Wollbach (Lkr. Lörrach), diphthongische Realisierungen völlig. Als Ersatzdiphthonge innerhalb des Monophthong-Gebietes bevorzugen die Sprecher zu 42,6 % (20) den schwach steigenden Diphthong [eI], der zugleich die traditionelle Form des benachbarten schwäbischen Dialektraumes darstellt. An zweiter Stelle steht mit 34,0 % (16) der standardnahe [OI]-Diphthong, der besonders im nördlichen SchwarzwaldBaar-Kreis auftritt, und zuletzt mit 23,4 % (11) der stark steigende Diphthong [aI]. Der prozentuale Anteil an abweichenden Tokens ist in allen drei in die Untersuchung einbezogenen Lexemen relativ ähnlich. Die beiden Lexeme Mäuse (20,0 % [2] Diphthonge) und Häuschen (22,5 % [9] Diphthonge) erscheinen jedoch eher stabil, während das Substantiv Häuser mit 32,4 % [36] einen höheren Anteil an Diphthongen besitzt. Da ca. ein Drittel aller Tokens in morphologisch komplexe Wortformen eingebettet ist, soll dieser potenzielle Einflussfaktor auf die phonologische Realisierung näher betrachtet werden. Die Analyse des spontansprachlichen Materials ergab innerhalb der komplexen Tokens einen Diphthong-Anteil von 31,9 % (15), der nur geringfügig höher ist als der Anteil in Simplizia (28,1 % [32]). Nach einzelnen Lexemen aufgegliedert ergibt sich ein heterogeneres Bild. So verhält sich das Lexem Häuschen innerhalb von Komposita besonders stabil (16,7 % [3] Diphthonge), während das Lexem Häuser in diesen Kontexten 38,5 % (10) der Tokens diphthongisch realisiert. Das Lexem Mäuse tritt in insgesamt drei komplexen Wortformen auf, von denen es in zwei diphthongisch realisiert wird. Gerade die tendenziell dialektaler erscheinende Realisierung von Komposita des Lexems Häuschen wird auf deren starke Verankerung im Grunddialekt zurückzuführen sein. Beispiele für solche Komposita sind Berghüsliwirt (0 von 3 Tokens diphthongisch) oder Pfeiferhüsli (0 von 4 Tokens diphthongisch). Es handelt sich um Eigennamen, die eine konkrete Entität exklusiv bezeichnen. Die Komposita des Lexems Häuser stellen hingegen Sammelbegriffe dar, die nicht an einen bestimmten Ort oder an eine bestimmte Person gebunden sind und somit für eine mögliche Beeinflussung durch den Standard zugänglicher sind (Hochhäuser [1 von 5 Tokens diphthongisch], Bauernhäuser [2 von 6 Tokens diphthongisch], Schulhäuser [4 von 7 Tokens diphthongisch]).

3.5.4 Gesamtanalysen In diesem Abschnitt soll die Diphthongierung von mhd. iu innerhalb der Lexeme mit festem Stammvokal (neun, heute, Leute, Zeug) in Form einer Aggregatanalyse zusammenfassend dargestellt werden.63 Dabei wird zunächst ein Real-Time-Vergleich aller verfügbaren Abfragedaten von W ENKER und SSA vorgenommen. Danach folgt eine Gesamtschau aller spontansprachlichen Daten (4531 Tokens), die 63

Die Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse wurden aus Gründen der Konsistenz nicht in die zusammenfassenden Kartierungen aufgenommen, da es sich bei ihren Stammvokalen um Umlautformen von mhd. û handelt.

150

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

in einem zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleich den zeitgleich erhobenen SSA-Abfragedaten gegenübergestellt werden. Im Anschluss wird die geografische Distribution der Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen [i(:)]/[y(:)], [aI], [eI] und [OI] im Untersuchungsgebiet anhand von Interpolations-Plots verdeutlicht. Zuletzt soll die Verteilung der Ersatzlaute für mhd. iu sowie der Einfluss morphologischer Komplexität und fester Phrasen veranschaulicht werden.

3.5.4.1 Real-Time-Vergleich In Abbildung 3.45 sind die Diphthongierungsisoglossen gemäß W ENKER und SSAAbfragedaten aufgetragen. Generell bietet sich ein recht heterogenes Bild der Isoglossenverläufe, sowohl im synchronen als auch im diachronen Vergleich. Es zeigt sich nahezu im gesamten Verlauf ein etwa 20 Kilometer breiter Variationsstreifen. Einzige Ausnahme ist ein kurzes Teilstück bei Freudenstadt mit nahezu völliger Deckungsgleichheit der Isoglossen.64 Da die Isoglossen genau in jenem Abschnitt deckungsgleich sind, der durch den Schwarzwald führt, kann die scharfe lexemübergreifende Abgrenzung von Diphthong- und Monophthong-Gebiet wohl auf den Schwarzwald zurückgeführt werden, der als klassischer geomorphologischer Einflussfaktor diatopischer Variation anzusehen ist. Das traditionelle MonophthongGebiet erscheint in den SSA-Abfragedaten homogener als in den Wenker-Kartierungen, in denen im Monophthong-Gebiet diphthongische Einzelbelege häufiger auftreten. In einem weiteren Vergleich sollen nun noch die Diphthongierungsverhältnisse derjenigen Lexeme, deren Stammvokal auf altoberdeutsches iu zurückgeht (also diejenigen aus dem vorhergehenden Kartenvergleich in Abbildung 3.45) mit denjenigen für mhd. û und deren iu-Umlaute verglichen werden. Die Gegenüberstellung der Isoglossenbündel in Abbildung 3.46 verdeutlicht die lexemübergreifende Einheitlichkeit der Diphthongierungsprozesse innerhalb der etymologischen Klasse mhd. û + Umlaut iu im Vergleich mit den sehr viel stärker variierenden Isoglossen der Lexeme mit aobd. iu im Stammvokal. Im nordwestlichen und südöstlichen Teil des Untersuchungsgebietes ist die Diphthongierung von mhd. û und Umlaut iu noch nicht so weit fortgeschritten wie für aobd. iu. Im mittleren Bereich ist sie hingegen schon weiter vorgedrungen als in den meisten der Lexeme mit etymologisch altoberdeutschem iu im Stammvokal. Generell deutet sich für aobd. iu also ein intensiverer Lautwandel an als für den auf mhd. iu zurückgehenden Umlaut. Auf der Grundlage des vorliegenden Befundes lässt sich weiterhin Folgendes ableiten: Offensichtlich ist die Zugehörigkeit zum gleichen Flexionsparadigma relevanter für die Regelmäßigkeit eines Lautwandels (Singular û + Plural iu) als die phonologische Ähnlichkeit zu den Stammvokalen einer anderen etymologischen Lautklasse.

64

Deckungsgleiche Isoglossenverläufe zeigen sich in diesem Gebiet auch im zusammenfassenden Vergleich für mhd. î (siehe Abschnitt 3.4.1.1).

Abb. 3.45: Vergleich aller Isoglossen nach W ENKER und SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. iu in den Lexemen neun, heute, Leute und Zeug.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

151

Abb. 3.46: Vergleich der Isoglossen gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten für die Realisierung von aobd. iu in den Lexemen neun, heute, Leute und Zeug mit den Isoglossen für die Realisierung von mhd. û in den Lexemen Haus und Maus sowie deren Umlautformen Häuser und Mäuse.

152 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

153

3.5.4.2 Apparent-Time-Vergleich Abbildung 3.47 zeigt zusammenfassend die Wandeltendenzen innerhalb der Spontansprache. Über alle Lexeme gerechnet werden innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes 28,4 % (596) aller Tokens diphthongisch realisiert. Zwei Areale mit besonders hohem Diphthong-Anteil treten dabei hervor: der nördliche Bodenseeraum, in dem nur noch ganz vereinzelt monophthongische Realisierungen auftreten, sowie der nordwestliche Schwarzwald-Baar-Kreis, in dem die Sprecher sehr häufig den standardnahen Diphthong [OI] wählen. Als besonders konservativ kann hingegen der äußerste Südwesten angesehen werden, wo nur geringe Variation (zumeist zwischen Monophthong und dem standardnahen Diphthong [OI]) vorherrscht. Der nordwestliche Bereich des Monophthong-Gebietes erscheint ebenfalls konservativ, doch in geringerem Maße als der Südwesten.

3.5.4.3 Interpolationen Abbildung A.3 zeigt die Gebrauchshäufigkeit der Reflexe [y(:)]/[i(:)], [OI], [aI] und [eI] im Untersuchungsgebiet in Form von vier Interpolations-Plots.65 Kommen wir zunächst zur Interpolation der monophthongischen Realisierungen, die links oben auf Abbildung A.3 zu sehen ist. Ganz allgemein fällt auf, dass sich das „Monophthong-Gebiet“, d. h. das Gebiet, in dem mehr als 50 % an monophthongischen Realisierungen vorliegen (gekennzeichnet durch den grünen Streifen), nach Westen verschoben bzw. verkleinert hat. Der Übergangsbereich zwischen dem DiphthongGebiet (blaue Färbung) und dem Gebiet mit 70–100 % an monpophthongischen Realisierungen (rote Färbung) ist relativ breit. Zwei Gebiete sind hierbei besonders hervorzuheben. Zum einen gehört das nördliche Bodenseegebiet gemäß der Interpolation nicht mehr zum Gebiet mit vorrangig monophthongischen Realisierungen. Der Anteil an Monophthongen beträgt hier maximal ca. 20 %. Auffällig ist weiterhin (wie auch schon im Apparent-Time-Vergleich) das Gebiet nordwestlich von Villingen-Schwenningen, das als etwas großflächigere Einbuchtung in das Monophthong-Gebiet erscheint. Der Anteil an Monophthongen beträgt hier maximal 40 %, was darauf hindeutet, dass der Wandel zur diphthongischen Realisierung den Scheitelpunkt bereits überschritten hat. Innerhalb des Gebietes mit mehr als 50 % monophthongischen Realisierungen treten zwei besonders konservative Gebiete hervor. Dies sind ein kleines Areal westlich von Offenburg sowie ein größeres im äußersten Südwesten. In beiden liegt die Gebrauchshäufigkeit monophthongischer Realisierungen bei etwa 90–100 %. Die übrigen Interpolations-Plots zeigen die Distribution der diphthongischen Realisierungen [OI], [aI] und [eI]. Aus der Interpolation zur Distribution der Variable 65

Wie bereits beim zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleich (vgl. Abbildung 3.47), wurden aus Gründen der Konsistenz auch in die vorliegenden Interpolationen nicht die Daten der Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse integriert, da es sich dabei um Umlautformen von mhd. û handelt. Außerdem wurden nur für diejenigen Reflexe von mhd. iu Interpolationen erstellt, die lexemübergreifend auftreten, d. h. die Realisierung [uI] wurde nicht berücksichtigt.

Abb. 3.47: Kombinationskarte der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. iu in den Lexemen neun, heute, Leute und Zeug.

154 Die neuhochdeutsche Diphthongierung

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

155

[OI] geht in erster Linie hervor, dass ihre Gebrauchshäufigkeit über das gesamte Untersuchungsgebiet hinweg gering ist und nur wenig schwankt. Der geringste Anteil findet sich im äußersten Südwesten, der höchste reicht gemäß der Interpolation bis maximal 20–25 % und tritt in einem Areal zwischen Konstanz und VillingenSchwenningen auf. Auffallend, gerade im Vergleich mit den übrigen Variablen, ist das nahezu flächendeckende Auftreten dieser Form im gesamten Untersuchungsgebiet. Die Gebrauchshäufigkeit der beiden Diphthonge [aI] und [eI] variiert innerhalb des Untersuchungsgebietes stärker. Der Diphthong [aI] bildet einige kleinräumige Zentren mit einer maximalen Gebrauchshäufigkeit von ca. 70 % und dient bei Ravensburg sowie in einem Gebiet zwischen Villingen-Schwenningen und Freudenstadt vornehmlich als Ersatzlaut für den Monophthong. Die Realisierung [eI] ist in erster Linie im traditionellen Diphthong-Gebiet zu finden und erreicht zwischen Freudenstadt und Sigmaringen eine maximale Gebrauchshäufigkeit von ca. 40–50 %. Zusammenfassend ist zu beobachten, dass der standardsprachliche Diphthong [OI] das traditionelle Monophthong-Gebiet am flächendeckendsten beeinflusst, während die Realisierung [aI] punktuell nördlich von Villingen-Schwenningen und im nördlichen Bodenseeraum auftritt. Der Diphthong [eI] erscheint schließlich als eine vorwiegend schwäbische Realisierungsform, die innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes kaum zu finden ist.

3.5.4.4 Quantitative Verteilung der Ersatzlaute Besonders differenziert stellt sich bei der Diphthongierung von mhd. iu die Verteilung der Ersatzlaute für die alten Monophtonge dar. Im spontansprachlichen Korpus treten vier unterschiedliche Diphthong-Varianten auf: 1) die Variante [OI], die gleichzeitig die Standardform darstellt und in den Abfragedaten nicht als dialektale Form auftritt (außer sporadisch für das Lexem Zeug), 2) die Varianten [aI], [eI] und [uI], die in den Abfragedaten als dialektale Formen der benachbarten schwäbischen und südfränkischen Dialekte auftreten. Die quantitative Verteilung der genannten Ersatzformen in den Lexemen neun, heute, Leute und Zeug ist in Abbildung 3.48 dargestellt, wobei das Tortendiagramm die jeweiligen Anteile für alle Lexeme zusammenfasst und das darunterstehende Säulendiagramm die Diphthong-Anteile nach Lexemen ausdifferenziert. Die linke Hälfte des Diagramms stellt die quantitativen Verhältnisse innerhalb des Monophthong-Gebietes dar, das rechtsstehende Diagramm diejenigen im Diphthong-Gebiet. Zwei wichtige Beobachtungen können den Diagrammen entnommen werden: 1) Zum einen zeigt die generelle Verteilung innerhalb des Monophthong-Gebietes, dass [aI] und [OI] gemeinsam zu etwa gleichen Teilen 90 % aller Ersatzlaute ausmachen. Auf den Diphthong [eI] entfallen nur 10 %, während [uI] nahezu bedeutungslos ist und ausschließlich innerhalb des Lexems Zeug realisiert wird. Diese Reihenfolge der quantitativen Anteile zeigt sich mehr oder weniger auch innerhalb der einzelnen Lexeme. Eine stark ausgeprägte lexemspezifische Profilierung

156

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Abb. 3.48: Quantitative Verteilung der Ersatzlaute innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes (links) und Verteilung der verschiedenen Diphthong-Varianten innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes (rechts). ist kaum erkennbar.66 Dies steht im Gegensatz zur Verteilung der genannten Diphthonge innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes, wo starke lexemspezifische Alternationen der Diphthong-Varianten (auch bedingt durch deren räumliche Bindung) auftreten. Zu nennen wäre hier der hohe Anteil des quantitativ markierten Diphthongs [eI] im Lexem Leute bzw. der ausgeprägte Anteil des markierten Diphthongs [uI] im Lexem Zeug. Offenbar orientieren sich die Sprecher innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes während der stattfindenen Diphthongierung also nicht an einzelnen Lexemen, da sie deren differenzierte lautliche Verhältnisse im Diphthong-Gebiet nicht kennen (können). Vielmehr scheinen die den Sprechern bekannten diphthongischen Varianten im Sinne eines Nivellierungsprozesses gleichmäßig über die einzelnen Lexeme verteilt zu werden. 2) Zum anderen sind die standardinduzierten [OI]-Diphthonge im Monophthong-Gebiet sehr frequent, während sie innerhalb des Diphthong-Gebietes mit einem Gesamtanteil von 15 % nur an dritter Stelle stehen. Da der Einfluss der Standardsprache innerhalb des Diphthong66

Schwach ausgeprägt ist die lexemspezifische Profilierung durch die Realisierungen [uI] für Zeug und [eI] für Leute.

3.5 Diphthongierung von mhd. iu

157

Gebietes nicht geringer sein kann als im Monophthong-Gebiet, kann dies nicht der Grund für die Häufigkeitsunterschiede des Diphthongs [OI] sein. Weit plausibler erscheint hingegen die Annahme, dass im schwäbischen Dialektraum der Druck zu einer „sekundären Diphthongierung“ nach historisch bereits durchgeführter Diphthongierung nur gering ist, während im Monophthong-Gebiet der Druck einer „primären Diphthongierung“ sehr groß ist. Im Monophthong-Gebiet verwenden die Sprecher neben dem standardnahen Diphthong etwa gleich häufig den Diphthong [aI], der ihnen aus dem benachbarten schwäbischen Dialektraum bekannt sein dürfte. Allerdings liegt nahe, dass hier nicht allein kontaktlinguistische Einflüsse eine Erklärung liefern, sondern auch die synchron im gleichen Gebiet stattfindende Diphthongierung von mhd. î zu [aI] beachtet werden muss. Da das traditionelle Monophthong-Gebiet von mhd. iu sich mit demjenigen von mhd. î annähernd deckt und die entrundete Variante von iu (= [i(:)]) den größten Teil dieses Gebietes einnimmt, dürfte hier eine Analogie und dadurch ein stärkerer Einfluss des Ersatzlautes [aI] bei der Diphthongierung von mhd. iu zum Tragen kommen.

3.5.4.5 Morphologische Komplexität Wie aus den Beschreibungen zu den einzelnen Lexemen hervorgegangen ist, konnte für alle untersuchten Lexeme der Einfluss morphologischer Komplexität auf die phonologische Realisierung festgestellt werden. Tabelle 3.18 soll einen zusammenfassenden Überblick über die Wandeltendenz innerhalb von Simplizia und morphologisch komplexer Wortformen im traditionellen Monophthong-Gebiet geben.67 Über alle Lexeme hinweg betrachtet ist die Wandeltendenz in morphologisch komplexen Wortformen weit höher als in Simplizia. Erst bei der differenzierten Betrachtung von einzelnen Lexemen wird deutlich, dass diese Tendenz nicht immer zutrifft. So wird sie zwar in den meisten Lexemen bestätigt (neun, Leute, Zeug). Im Fall des Lexems heute geht die Tendenz aber gerade in die entgegengesetzte Richtung, was auf den hohen Lexikalisiertheitsgrad der Types heutig- und heutzutage im Dialekt zurückgehen dürfte. Wie für das Zahlwort neun gezeigt werden konnte, lohnt es sich auch innerhalb eines Lexems zwischen einzelnen morphologisch komplexen Types zu differenzieren. So wies in diesem Fall das hochfrequente Wortbildungselement neunzehnhundert- eine geringere Wandeltendenz auf als die übrigen morphologisch komplexen Zahlwörter. Es ist also wichtig festzuhalten, dass morphologische Komplexität an sich noch keine höhere Wandeltendenz hervorruft. Dies geschieht offenbar nur dann, wenn es sich bei der betreffenden komplexen Wortform um eine jüngere Entlehnung aus dem Standard handelt. Ist dies nicht der Fall, d. h. handelt es sich bei der komplexen Wortform um ein altes, fest im Dialekt verankertes Element, so kann morphologische Komplexität ebenso zur Wandelresistenz beitragen.

67

Zur Menge der morphologisch komplexen Wortformen gehören sowohl Komposita als auch Derivationen.

158

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

neun 92 363

Anzahl der Ortspunkte Anzahl der Tokens

heute 148 1082

Leute 112 542

Zeug 57 120

Gesamt 179 2107

ALLE WORTFORMEN

Anteil Diphthonge

41,3 % 24,5 % 26,9 % 29,2 % 28,3 % (150)

(265)

(146)

(35)

(596)

NUR SIMPLIZIA

Anteil Diphthonge

40,4 % 24,7 % 26,9 % 24,1 % 25,8 % (23)

(263)

(134)

(19)

(178)

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

Anteil Diphthonge

41,5 % 13,3 % 27,3 % 39,0 % 39,1 % (127)

(2)

(12)

(16)

(418)

Tab. 3.18: Prozentuale Anteile an Diphthongen innerhalb des spontansprachlichen Korpus für die Lexeme neun, heute, Leute und Zeug. Alle Angaben beziehen sich auf das traditionelle Monophthong-Gebiet. Sie sind jeweils auf die Gesamtmenge aller Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie die Teilmenge der komplexen Wortformen bezogen. 3.6 ZUSAMMENFASSUNG Die Diphthongierung von mhd. î, û und iu konnte auf der Grundlage von 24 Lexemen und 12.618 spontansprachlichen Tokens untersucht werden. Im Gesamtergebnis zeichnet sich ein Rückgang der monophthongischen Realisierung in allen drei untersuchten etymologischen Klassen ab und betrifft sowohl die nieder-, bodenseeals auch hochalemannischen Dialekträume. Der Wandelprozess verläuft durchweg unidirektional und zeigt in den spontansprachlichen Daten keine Tendenzen von (Re-)monophthongierung. Der Abbau der Monophthonge geht innerhalb des traditionellen MonophthongGebietes regional unterschiedlich vonstatten. Für das nordwestlichste MonophthongGebiet, den nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis sowie den Raum nördlich des Bodensees wurde die stärkste Wandeltendenz festgestellt, wobei letzterer in dessen nordöstlichem Teil besonders durch das Schwäbische beeinflusst wird. Der südwestlichste Teil des Untersuchungsgebietes zwischen Oberrhein und Bodensee erscheint hingegen konservativ und weist kaum Abbauerscheinungen der monophthongischen Lautung auf. Als Ersatzlaute für die Monophthonge spielen für mhd. î die Diphthonge [aI] und [eI] die tragende Rolle, für mhd. û entsprechend die Diphthonge [aU] und [OU]. Für mhd. iu ist das Inventar an Ersatzlauten reichhaltiger und besteht aus den Diphthongen [OI], [aI], [eI] und (selten) [uI]. Auf der Grundlage der geografischen Verteilung der genannten Ersatzlaute ließen sich Aussagen zu einer zentralen Fragestellung dieser Arbeit machen: dem Verhältnis von horizontalem (dialektinduziertem) und vertikalem (standardinduziertem) Wandel. Horizontaler Wandel kann, wie bereits in den Gesamtanalysen zu den drei phonologischen Phänomenen beschrieben (vgl. Kapitel 3.4 und 3.5.4), im nördöstlichen

3.6 Zusammenfassung

159

Bodenseeraum nachgewiesen werden, da hier die typisch schwäbischen Diphthonge [eI] (für mhd. î) und [OU] (für mhd. û) den primären Ersatzlaut innerhalb des in diesem Gebiet traditionell gesprochenen bodenseealemannischen Dialekts bilden. Ein weiterer Hinweis für horizontal wirkenden Lautwandel in diesem Gebiet vermitteln die hier in Erscheinung tretenden schwäbischen Ersatzformen [aI] und [eI] (für mhd. iu).68 Der Einfluss des Schwäbischen fällt allerdings nicht nur nördöstlich des Bodensees auf, sondern macht sich gemäß der geografischen Distribution seiner Ersatzlaute auch weiter nordwestlich, besonders in Isoglossennähe, bemerkbar. Hinweise für vertikalen Wandel finden sich im übrigen Monophthong-Gebiet, meist weiter abseits der Diphthongierungsisoglosse. So werden in diesen Arealen von den Gewährspersonen vornehmlich die standardsprachlichen Diphthonge [aI] (für mhd. î) und [aU] (für mhd. û) als Ersatzlaute gewählt, weswegen hier auf einen primär vertikalen Einfluss des Standarddeutschen geschlossen werden kann. Der flächendeckende Einfluss der Standardsprache ließ sich außerdem anhand des großflächig im gesamten Untersuchungsgebiet auftretenden standardsprachlichen Reflexes [OI] (für mhd. iu) nachweisen. Allerdings dient diese Realisierung nicht nur als Ersatzlaut innerhalb des Monophthong-Gebietes, sondern wird auch innerhalb des schwäbischen Diphthong-Gebietes als Ersatzform für die dialektalen Diphthonge gewählt, allerdings in einem quantitativ weit geringeren Ausmaß als im Monophthong-Gebiet. Generell kann zum Verhältnis von horizontalem und vertikalem Wandel innerhalb des Untersuchungsgebietes festgestellt werden, dass eine Kombination beider Komponenten den Abbau der monophthongischen Lautung bewirkt. Auf der Grundlage der Apparent-Time-Vergleiche und der Interpolationen konnte gezeigt werden, dass die Kombination beider Komponenten besonders in Isoglossennähe (im Sinne eines Synergieeffektes) eine Verstärkung des Diphthongierungsprozesses hervorruft, während die Diphthongierung fernab der Isoglosse aufgrund des Wegfalls der horizontalen Komponente schwächer wird.69 Neben der geografisch uneinheitlichen Ausprägung der Diphthongierung konnte weiterhin eine lexemspezifische Differenzierung der Wandeltendenz nachgewiesen werden. Die lexikalischen Unterschiede des Lautwandels sind innerhalb der spontansprachlichen Daten stellenweise sehr deutlich und schwanken zwischen einem Diphthong-Anteil von 11,6 % im Lexem Weib und 43,5 % im Lexem laut. Keiner der Prozentwerte reicht demnach über 50 % hinaus, weswegen die nhd. Diphthongierung ein Lautwandel darstellt, der zwar deutlich vorangeschritten ist, den Scheitelpunkt maximaler Variation jedoch noch nicht erreicht hat. Interessant ist der Vergleich der durchschnittlichen Anteile an Diphthongen innerhalb der traditionellen Monophthong-Gebiete für die drei untersuchten etymologischen Klassen. Im Fall von mhd. î beträgt der Anteil 28,7 % , für mhd. û 29,5 % und für mhd. iu 28,4 %, d. h. die Anteile variieren um nur ca. ein Prozent. Erstaunlicherweise erreicht der Gesamtanteil an Diphthongen demnach, trotz der feststellbaren lexika68

69

Der besondere Einfluss schwäbischer Realisierungsformen im nördlichen Bodenseegebietes wird ebenfalls von AUER / S CHWARZ / S TRECK (2008), K LAUSMANN / K UNZE / S CHRAMB KE (1997) sowie von S EIDELMANN (1983) hervorgehoben. Zur quantitativen Verifizierung dieses Eindrucks sei auf die statistischen Analysen in Kapitel 12 dieser Arbeit sowie auf AUER / BAUMANN / S CHWARZ (2011) verwiesen.

160

Die neuhochdeutsche Diphthongierung

lischen Steuerung des Lautwandels, in allen drei lautlichen Kontexten einen einheitlichen Wert. Dieser Befund kann als Argument für das auf P FALZ (1918) zurückgehende Reihenschrittgesetz gewertet werden, wonach ein gleichartiger Lautwandel für die mittelhochdeutschen Langvokale î, û und iu zu erwarten ist (vgl. hierzu auch W IESINGER 1970b, 3–68).70 In den durchgeführten Analysen wurden zusätzlich zum lexikalischen Einfluss morphologische Kontexte und ihre Auswirkungen auf die Diphthongierung betrachtet. Es wurde gezeigt, dass morphologisch komplexe Wortformen tendenziell stärker zur Diphthongierung, d. h. zur Übernahme der innovativen Realisierung neigen. Dies geht darauf zurück, dass es sich bei komplexen Wortformen häufig um neuzeitliche Übernahmen aus dem Standard handelt, die einschließlich ihrer standardsprachlichen Lautung in den Dialekt integriert werden und somit den Abbau der standardfernen Lautung (Monophthong) fördern. Die Tendenz zu diphthongischen Realisierungen in komplexen Wortformen kann jedoch nicht durchweg beobachtet werden. In einigen lexikalischen Kontexten tritt sogar das Gegenteil ein. In solchen Fällen wurde argumentiert, dass die sich tendenziell konservativ verhaltenden komplexen Wortformen ältere Types darstellen, die bereits seit langem im Dialekt verankert sind und durch eine hohe Gebrauchsfrequenz zusätzlich stabilisiert werden (vgl. das Type saubermachen für mhd. û). Morphologische Komplexität spielt für die Diphthongierung demnach eine nicht unerhebliche Rolle, denn sie kann diese sowohl beschleunigen (durch Einfügen jüngerer standardsprachlicher Bildungen in den Dialekt) als auch bremsen (in Form bereits vorhandener alter Bildungen). In einigen Lexemen (weit, Zeit, laut, lauter) konnte neben der Analyse der Diphthongierung zudem der Wandel der Vokalquantität in der Position vor Verschlusslautfortis näher betrachtet werden. Daraus ging hervor, dass im kleinräumigen Gebiet alter Länge nur selten Kürzung erkennbar ist (häufiger allerdings Diphthongierung) und sich die Langvokale sogar häufig in den Südwesten des Untersuchungsgebietes ausbreiten. Schlussendlich kann für die Untersuchung von mhd. û noch eine wichtige methodische Beobachtung festgehalten werden: Die Daten W ENKERS sind aufgrund der identifizierbaren Variation im Monophthong-Gebiet den Ergebnissen der spontansprachlichen Analysen ähnlicher als den wissensbasierten Daten des SSA. So deutet sich zwar im Real-Time-Vergleich eine Verkleinerung des Monophthong-Gebietes an dessen Außengrenzen an (was durch die spontansprachlichen Daten auch bestätigt wird), innerhalb des Monophthong-Gebietes weisen die SSA-Kartierungen aber zumeist eine ausgesprochen hohe Homogenität auf, die weder bei W ENKER noch in den spontansprachlichen Daten erkennbar ist.

70

Es muss allerdings angemerkt werden, dass die Anzahl der in die Analyse eingeflossenen Lexeme in den drei etymologischen Klassen variiert (mhd. î: 13 Lexeme, mhd. û: 4 Lexeme, mhd. iu: 4 Lexeme). Um größere Gewissheit bezüglich der quantitativen Gleichartigkeit der drei Diphthongierungsprozesse zu erhalten, müsste in allen drei Kontexten die gleiche Anzahl an Lexemen untersucht werden.

4 DIE REALISIERUNG VON MHD. EI 4.1 EINLEITUNG Aus dem mittelhochdeutschen Diphthong ei haben sich im Untersuchungsgebiet im Wesentlichen drei großräumige Reflexe [aI], [O5] und [OI] entwickelt (z. B. [haIs] vs. [hO5s] vs. [hOIs]).71 In diesem Kapitel soll deren weitere Entwicklung während des 20. Jahrhunderts innerhalb acht verschiedener Lexeme analysiert werden. Abbildung 4.1 zeigt zunächst die geografische Verteilung der drei Hauptrealisierungsformen innerhalb des Untersuchungsgebietes gemäß der Abfragedaten des SSA. Der westliche Extremdiphthong [aI] entspricht einer standardnahen Lautung. Die beiden sich im östlichen Teil des Untersuchungsgebietes anschließenden Formen [O5] und [OI] waren ebenfalls Extremdiphthonge, sind dann aber in ihrem Onglide verdumpft und haben sich darauf hin im Offglide unterschiedlich entwickelt, nämlich im westlichen Teil zu eingleitendem [O5] und im östlichen Teil zu ausgleitendem [OI] (AUER 1990, 114–115). F ISCHER (1895, 46) nimmt hingegen an, dass sich eingleitendes [O5] aus eingleitendem [OI] entwickelt hat.72 Neben den großräumigen Reflexen sind im Untersuchungsgebiet lexemabhängig weitere, meist weniger frequente und kleinräumige Realisierungen belegt (z. B. [e(:)], [a(:)], [O(:)], etc.). Diese konzentrieren sich in den meisten Fällen auf kleinere Gebiete im nordwestlichen und südlichen Untersuchungsgebiet. In die Untersuchung wurden die Substantive Fleisch, Seife, Teig und Seil aufgenommen. Weiterhin konnten die frequenten Lexeme heim, heiß (Adjektiv + Verb) und zwei herangezogen werden. Das Zahlwort zwei verlangt dabei eine differenzierte Herangehensweise, da in den traditionellen Dialekten die Reflexe von mhd. ei grammatikalisiert sind und je nach Genus des Bezugsnomens verschiedene Lautwerte besitzen (z. B. an ein und demselben Ort zwua Frauen aber zwee Männer und zwoi Häuser). In der folgenden Analyse soll vor allem herausgefunden werden, welche Haupttendenzen des Lautwandels im Untersuchungsgebiet zu beobachten sind. Dabei wird sich zeigen, wie stark die Standardsprache den Lautwandel bestimmt (vertikaler Wandel) und in welchem Maß die Nachbardialekte daran beteiligt sind (horizontaler Wandel). Weiterhin soll aus der Untersuchung hervorgehen, inwieweit sich die wenig frequenten bzw. kleinräumigen Variablen halten können. Nach der Analyse der Lautentwicklungen in den einzelnen Lexemen soll eine Gesamtschau der 71

72

Die Lautwerte dieser drei Reflexe können natürlich im Detail variieren. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden aber nicht sämtliche phonetische Varianten gesondert aufgeführt, sondern zu den drei angegebenen Transkriptionsformen zusammengefasst. Für eingehende Beschreibungen der sprachhistorischen Entwicklung von mhd. ei und der geografischen Verbreitung der dialektalen Realisierungsformen sei weiterhin auf J UTZ (1931), B OHNENBERGER (1953) und W IESINGER (1970b) verwiesen.

Abb. 4.1: Die Realisierungsgebiete der Reflexe von mhd. ei gemäß SSA-Abfragedaten in den Lexemen Fleisch, Seife, Teig, Seil, heim, zwei (+ Bezugsnomen im Neutrum) und heiß (Adjektiv).

162 Die Realisierung von mhd. ei

4.2 Datenkorpus

163

Wandelprozesse in einem aggregierten Real-Time- sowie Apparent-Time-Vergleich erfolgen. Weiterhin wird besonderes Augenmerk auf morphologisch komplexe Wortformen und ihren möglichen Einfluss auf phonologischen Wandel gelegt. Schließlich sollen Interpolationen einen Eindruck von der geografischen Distribution der Lautvarianten und deren Gebrauchshäufigkeit vermitteln.

4.2 DATENKORPUS Das Datenkorpus für die Analyse von mhd. ei besteht aus den sieben im einleitenden Abschnitt erwähnten Lexemen. Ein vollständiger Vergleich auf Real-Time- und Apparent-Time-Ebene ist mit allen Lexemen außer Teig und Seil möglich. Für das Lexem heiß ist ein vollständiger Vergleich lediglich für die adjektivisch gebrauchte Form durchführbar, für das Zahlwort zwei nur für die Realisierung mit Bezugsnomen im Neutrum. Tabelle 4.1 gibt zunächst einen Überblick über die verfügbaren Daten Wenkers und deren Abfragekontexte. Lexem Fleisch

Wenker-Karte IV-1, 291

Seife

IV-1, 443

heim

IV-1, 204

heiß (Adjektiv) zwei (+ Neutrum)

IV-1, 80 IV-1, 460

Wenker-Fragesatz Wer hat mir meinen Korb mit Fleisch gestohlen? Habt ihr kein Stückchen weiße Seife für mich auf meinem Tische gefunden? ..., Du darfst früher nach Hause gehen als die Andern. Das Feuer war zu heiß,... Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen.

Tab. 4.1: Korpus der Wenker-Karten für die Realisierung von mhd. ei. Tabelle 4.2 zeigt das Korpus des SSA-Abfragematerials. Für alle sieben Lexeme waren bereits Karten verfügbar (Lexeme Fleisch, Teig, Seil, heiß) oder konnten mit Hilfe des Kartierprogramms „SSAKart“ selbst erstellt werden (Lexeme Seife, heim, zwei). Neben den Abfragedaten W ENKERS und des SSA wurde ergänzendes Kartenmaterial von F ISCHER (1895, Karte 10, Lexem zwei) und B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39, Karte 9, Lexem zwei) in die Analysen einbezogen.

164

Die Realisierung von mhd. ei

Lexem Fleisch Seife Teig Seil heim heiß (Adjektiv) zwei (+ Neutr.) zwei (+ Mask.) zwei (+ Fem.)

SSA-Karte/Frage II/30.01 364/006 II/30.50 II/30.50 294/007 II/30.50 502/004 502/002 502/003

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage (nein,) wir wollen (lieber) heim(gehen) Gegenteil von kalt zwei Häuser zwei Männer zwei Kühe

Tab. 4.2: Korpus der SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ei. Tabelle 4.3 gibt einen Überblick über das spontansprachliche Datenkorpus, das insgesamt 7134 Tokens umfasst. Die Tokenfrequenz unterscheidet sich für die einzelnen Lexeme teilweise beträchtlich. Das Korpus für das Zahlwort zwei wurde zur Analyse in vier Korpora aufgeteilt: Das erste enthält alle Tokens, die drei weiteren enthalten jeweils nur die Tokens für die syntaktischen Kontexte mit Bezugsnomen im Neutrum, im Maskulinum und im Femininum.73 Lexem Fleisch Seife Teig Seil heim heiß(en) (Adjektiv) heiß (Verb) zwei (gesamt) zwei (+ Neutrum) zwei (+ Maskulinum) zwei (+ Femininum) GESAMT

Anzahl der Tokens 210 37 581 137 1356 98 1918 2797 406 503 288 7134

Anzahl der Ortspunkte 81 13 97 51 248 58 267 286 169 186 140 334

Tab. 4.3: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei.

73

Die Verwendung des Zahlwortes zwei zur Angabe der Uhrzeit wurde in der vorliegenden Analyse nicht berücksichtigt, da hierfür die Tokenfrequenz in den spontansprachlichen Daten zu niedrig ist.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

165

4.3 WANDELPROZESSE IN DEN EINZELNEN LEXEMEN Auf der Gundlage des oben aufgeführten Datenkorpus wird im Folgenden eine Analyse der Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen erfolgen. Zunächst soll die Gruppe der Substantive behandelt werden, wobei das Substantiv Fleisch aufgrund seiner spezifischen Wandeltendenz getrennt von den Lexemen Seife, Teig und Seil betrachtet wird. Im Anschluss folgen die Analysen zu den frequenten Lexemen heim, heiß (Adjektiv), heiß(en) (Verb) und zwei.

4.3.1 Lexem Fleisch Wie oben bereits erwähnt, verhält sich das Substantiv Fleisch anders als die übrigen untersuchten Lexeme, besonders was die Entwicklung der ausgleitenden Lautung [O5] betrifft. Diese Realisierung wurde bereits viel stärker abgebaut als in den anderen Lexemen und wird auch von den Gewährspersonen selbst in ihren metasprachlichen Kommentaren häufig als veraltete Form kategorisiert (vgl. SSAKartenkommentar II/30.01). Betrachten wir aber zunächst die Datenlage gemäß W ENKER, in der die geografische Dreiteilung hervortritt, wie sie für dieses Phänomen typisch ist (siehe Abbildung 4.2). W ENKER nennt im westlichen Sektor die Realisierung als die Grundform. Allerdings tauchen in diesem Gebiet flächendeckend zahlreiche Belege des Extremdiphthongs [aI] auf, der wohl als die phonetisch realistischere Grundform gelten darf. Es ist anzunehmen, dass die Bezeichnung in der Karte W ENKERS auf methodische Gründe zurückgeht. Womöglich haben die Laientranskribenten sich bei der Niederschrift des Dialekts an der geltenden standardsprachlichen Orthografie orientiert, bei der die Schreibweise den Extremdiphthong [aI] symbolisiert. Unter der Annahme, dass die Schreibungen und für denselben phonetischen Lautwert [aI] stehen, erscheint das westliche Realisierungsgebiet gemäß W ENKER sehr homogen. Nur im östlichen Teil um Freudenstadt und westlich des Bodensees sind eine Reihe von [O5]-Belegen verzeichnet. Diese dürften Relikte des hier früher noch vorhanden geschlossenen [O5]-Gebietes sein. Diese Vermutung legt der Vergleich mit den Isoglossenverläufen der übrigen untersuchten Substantive nahe, deren [O5]-Gebiete gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten allesamt weiter nach Westen reichen. Weiterhin gibt es einige wenige Einzelbelege der Realisierung [flo:S], die im Südosten des ei-Gebietes auftauchen und sich auch in das östlich benachbarte [O5]-Gebiet hineinziehen. Dieses mittlere Gebiet ist relativ schmal und enthält gerade im nördlichen Bodenseeraum besonders zahlreiche [eI]- und [aI]Belege. Ein weiterer Rückgang der Lautung [O5] ist in der weiteren Analyse also zu erwarten. Das östliche [OI]-Gebiet erscheint recht homogen. Allerdings könnten auch hier die vorhandenen standardnahen Einzelbelege auf vertikalen Einfluss schließen lassen. Zuletzt soll noch auf zwei sehr kleinräumige Gebiete nördlich von Offenburg mit der Realisierung [E:] hingewiesen werden, die als westlichste

Abb. 4.2: Realisierung von mhd. ei im Lexem Fleisch gemäß der Erhebungsdaten W ENKERS.

166 Die Realisierung von mhd. ei

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

167

Fortsätze eines geschlossenen, sich im Elsaß anschließenden Realisierungsgebietes anzusehen sind. Der Vergleich der Wenker-Daten mit den SSA-Abfragedaten ist in Abbildung 4.3 dargestellt und lässt, wie bereits vermutet, den weiteren Rückgang des zentralen [O5]-Gebietes erkennen. Dieses ist bereits in fünf kleinräumige Teilgebiete zerfallen und wird in seinem Südteil zusätzlich durch ein Dutzend Einzelbelege ergänzt. Die traditionelle Lautung wurde durch die standardnahe Realisierung [aI] ersetzt. Auch innerhalb der noch verbliebenen [O5]-Teilgebiete sind bereits standardnahe Einzelbelege verzeichnet. Nur im äußersten Südosten um Ravensburg wurde die traditionelle Realisierung vornehmlich durch die nördlich angrenzende Dialektform [OI] ersetzt. Das traditionelle [OI]-Gebiet selbst erscheint in den Abfragedaten des SSA homogen und stabil. Es finden sich weder abweichende Einzelbelege noch hat sich die westliche Begrenzung des Gebietes verschoben. Der westlichste Sektor des Untersuchungsgebietes wird gemäß den SSA-Abfragedaten durch die Realisierung [aI] bestimmt und durch eine Reihe von [eI]-Einzelbelegen sowie drei kleinräumigen Realisierungsgebieten im äußersten Westen und Südwesten ergänzt. Die Datenlage des SSA kann aufgrund dieser Befunde als komplementär zu W ENKERS Ergebnissen beschrieben werden und suggeriert einen Übergang von [eI] zu [aI]. Aber handelt es sich hier tatsächlich um einen Lautwandel? Wahrscheinlicher ist, dass ein methodisches Problem vorliegt, das, wie bereits oben erläutert, in der Erhebungsweise W ENKERS begründet ist. Bereits zu Zeiten W ENKERS dürfte die Realisierung [aI] vorherrschend gewesen sein. Die an der Orthografie orientierte Laientranskription suggeriert jedoch die phonetische Realisierung [eI] als Grundform. Im nordwestlichsten Teil des Untersuchungsgebietes sind in den Erhebungsdaten des SSA ebenfalls einzelne [E:]-Realisierungen belegt, zeigen sich in den SSAAbfragedaten allerdings auch in Form der gespannten Variante [e:]. Das Variantenspektrum wird in diesem Gebiet weiterhin durch die kleinräumige Variante [eI] ergänzt.74 Die Realisierungsform [o:], die bei W ENKER insbesondere entlang des Bodensees auftrat, ist in den Abfragedaten des SSA nicht mehr vertreten. Verfolgen wir nun die weitere Entwicklung des bisher auffälligsten Wandelprozesses, nämlich den Rückgang der Realisierung [O5] im mittleren Teil des Untersuchungsgebietes. Die Entwicklung spiegelt sich in Abbildung 4.4 wieder, in der die Abfragedaten des SSA sowie die spontansprachlichen Daten kontrastiv dargestellt sind. In den spontansprachlichen Daten existieren faktisch nur noch die beiden Realisierungsformen [aI] und [OI] (neben einigen wenigen Realisierungen [e:] innerhalb der entsprechenden nordwestlichen Gebiete).75 Die Realisierung [O5] taucht gar nicht mehr auf. Das Kartenbild zeigt die Fortsetzung des bereits im Real-TimeVergleich ersichtlichen Wandelprozesses, nämlich die Ersetzung der traditionellen 74

75

Die Diphthonge [EI] und [eI] wurden in allen Analysen zusammengefasst und mit [eI] bezeichnet. Sollte die Bezeichnung [EI] auftreten, so handelt es sich bei den bezeichneten Realisierungen ausschließlich um diese Diphthong-Variante. Bei der Analyse der spontansprachlichen Daten wurden die beiden monophthongischen Varianten [e:] und [E:] zusammengefasst und durch [e:] bezeichnet. Tritt die Bezeichnung [E:] in den Kartierungen explizit auf, so handelt es sich bei den bezeichneten Monophthongen ausschließlich um diese Variante.

Abb. 4.3: Vergleich der Wenker-Daten mit den Abfragedaten des SSA für die Realisierung von mhd. ei im Lexem Fleisch.

168 Die Realisierung von mhd. ei

Abb. 4.4: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei im Lexem Fleisch.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

169

170

Die Realisierung von mhd. ei

[O5]-Realisierungen in deren verbliebenen Gebieten durch die standardnahe Form [aI]. Die östlich benachbarte Dialektform [OI] dient hierbei als weitere Ersatzform, jedoch in weit geringerem Maß. Das traditionelle Verbreitungsgebiet für [OI] ist ebenfalls dem Einfluss der standardnahen Realisierung [aI] unterworfen, die hier 17,9 % (12) der Tokens ausmacht. Interessant ist im Kartenvergleich, dass die sehr kleinräumigen Gebiete mit der traditionellen Realisierung [E:]/[e:] die monophthongische Realisierung gemäß den spontansprachlichen Daten offensichtlich bewahren. Die beiden entsprechenden spontansprachlichen Tokens befinden sich gemäß W EN KER innerhalb des [e:]-Gebietes. Knapp zwei Drittel aller spontansprachlicher Belege für das Lexem Fleisch sind in morphologisch komplexe Wortformen eingebettet.76 Es lässt sich also, zumindest für das variierende [OI]-Gebiet, der Einfluss der Morphologie auf die Wandeltendenz genauer betrachten. In diesem Gebiet zeigt sich, dass in Simplizia mit 18,2 % (8) der ohnehin geringe Anteil an standardnahen [aI]-Belegen nur leicht höher ist als in komplexen Wortformen mit 17,4 % (4). Der standardsprachliche Einfluss scheint sich hier also nicht durch Entlehnung komplexer Wortformen zu verstärken. Bei den komplexen Wortformen handelt es sich um 23 Tokens, die sich auf 14 Types verteilen. Die standardnahen Realisierungen tauchen in den Wortformen Rauchfleisch (42,9 % [3]) und Fleischbeschauer (100 % [1]) auf. Alle übrigen Wortformen besitzen die traditionelle Lautung [OI]. Beim Lexem Fleischbeschauer erscheint die standardnahe Realisierung plausibel, da es sich offensichtlich um eine jüngere Entlehnung aus dem Veterinärbereich handelt. Alle weiteren Types sind aber als dialektale Bildungen denkbar (z. B. Fleischknochen, Fleischbrühe, etc.), weswegen sie dialektales [OI] beinhalten. Innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes (gemäß W ENKER und SSA) sind nur noch die Ersatzlaute [aI] (29 Tokens) und [OI] (1 Token) vorzufinden, der Lautwandel ist hier also abgeschlossen. Über die Frage, welche Rolle dabei morphologisch komplexe Wortformen gespielt haben, kann nur noch spekuliert werden. Der absolute Anteil der Komposita beispielsweise ist ein potenzieller retrospektiver Verweis auf einen möglicherweise ehemals wirkenden Einfluss morphologischer Komplexität: Ist der Anteil an Komposita in diesem Gebiet hoch, könnte dies darauf hindeuten, dass der Wandel dadurch angestoßen wurde und jetzt abgeschlossen ist. Dies ist hier jedoch nicht der Fall: Der Anteil an Komposita liegt im [O5]-Gebiet bei ca. 50 % und ist nicht höher als der Durchschnitt an Komposita im Gesamtkorpus. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Wandelprozesse im Lexem Fleisch eine „ideale“ Verlaufsrichtung nehmen, d. h. was bereits in den WenkerDaten angedeutet wurde, bestätigte sich im Real-Time-Vergleich und weiter im Apparent-Time-Vergleich. Der Abbau der Realisierungsform [O5] tritt sehr deutlich zutage, denn im Spontankorpus ist diese Lautung nicht mehr vertreten.

76

Es handelt sich dabei ausschließlich um Komposita.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

171

4.3.2 Lexeme Seife, Teig und Seil Im Folgenden werden die Entwicklungen in den Lexemen Seife, Teig und Seil näher untersucht. Nur für das Lexem Seife kann dazu ein Real-Time-Vergleich durchgeführt werden, während ein Apparent-Time-Vergleich mit allen Lexemen möglich ist und aufgrund der ähnlichen Verbreitungsgebiete und der Annahme paralleler Entwicklungen in Form einer Kombinationskarte erfolgt. Betrachten wir in Abbildung 4.5 zunächst die Datenlage gemäß W ENKER im Lexem Seife. Im Vergleich zum bereits behandelten Lexem Fleisch deutet das Kartenbild auf ein weit intakteres Gebiet für die Realisierung von [O5] hin. Allerdings treten hier gerade im südlichen Bereich eine ganze Reihe weiterer Realisierungsformen auf. Besonders auffallend ist die Realisierung [o:] nördlich des Kantons Schaffhausen und entlang des Bodensees. Zwei weitere Belege mit der monophthongischen Realisierung [a:] sind ebenfalls im südlichen Bereich zu finden. Im nördlichen Bodenseeraum sowie weiter nördlich sind Einzelbelege der angrenzenden Realisierung [OI] verzeichnet. Auch einige Belege der Variante [ua] sind im traditionellen [O5]-Gebiet vertreten. Neben diesen phonetisch sehr ausdifferenzierten Einzelbelegen, taucht der standardnahe Diphthong [aI] gar nicht auf. Lediglich sechs einzelne Belege des standardnahen Diphthongs [eI] verzeichnet W ENKER innerhalb des [O5]Gebietes. Ein Wandel oder gar Abbau des [O5]-Gebietes ist also kaum zu erwarten. Gleiches gilt für das östlich benachbarte [OI]-Gebiet. Hier treten zwar vereinzelt Belege unterschiedlicher Realisierungsformen auf, doch ist keine in einem Maße vertreten, dass daraus klar auf einen Wandelprozess geschlossen werden könnte. Wie bereits für das Lexem Fleisch ist auch für das Lexem Seife das westliche Realisierungsgebiet in der Kartierung W ENKERS auffällig, dem er zwar die Grundform zuschreibt, in dem sich aber auch zahlreiche Einzelbelege für die Realisierung [aI] finden. Die bereits zum Lexem Fleisch diskutierten methodischen Überlegungen lassen darauf schließen, dass hier bereits zu Zeiten W ENKERS größtenteils die Realisierungsform [aI] galt. Neben den zahlreichen [aI]-Belegen sind bei W ENKER nördlich von Offenburg außerdem zwei Beleg-Cluster für die monophthongische Realisierung [e:] verzeichnet. Der Real-Time-Vergleich zwischen den Daten W ENKERS und der SSA-Abfragedaten ist in Abbildung 4.6 dargestellt. Darin sind hinsichtlich des [O5]-Gebietes kaum Veränderungen erkennbar. Die Isoglossen sind, mit Ausnahme einer punktuellen Verschiebung nach Süden bei Ravensburg, nahezu deckungsgleich und bestätigen die aus der Wenker-Karte bereits entnommene Stabilität dieses Gebiets. Im Detail zeigen die Daten des SSA jedoch einige wenige Unterschiede zur WenkerKartierung. In den SSA-Abfragedaten im nördlichen Bodenseeraum sind einige Belege der standardnahen Realisierung [aI] zu finden, die einen zunehmenden Einfluss dieser Realisierung vermuten lassen, wenngleich er insgesamt nur schwach ausgeprägt ist. Die monophthongische Realisierung [o:]/[O:], die in erster Linie nördlich des Kantons Schauffhausen auftritt, ist sowohl bei W ENKER als auch in den Abfragedaten des SSA durch Einzelbelege vertreten. Überaus homogen erscheint das sich östlich anschließende [OI]-Gebiet, das nur zwei einzelne Belege der Realisierung [aI] aufweist. Im westlichen [aI]-Gebiet sind in den SSA-Abfragedaten vor

Abb. 4.5: Realisierung von mhd. ei im Lexem Seife gemäß W ENKER.

172 Die Realisierung von mhd. ei

Abb. 4.6: Vergleich der Wenker-Daten mit den Abfragedaten des SSA für die Realisierung von mhd. ei im Lexem Seife.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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174

Die Realisierung von mhd. ei

allem im nordwestlichen Bereich Einzelbelege für die Realisierung [EI] belegt. Im Vergleich zu den bei W ENKER in diesem Bereich verzeichneten [e:]-Einzelbelegen kommt es demnach offensichtlich zu einer Diphthongierung. Insgesamt zeigt sich im Real-Time-Vergleich also nur recht wenig Dynamik, vor allem in den Wandelprozessen zwischen den drei großräumigen Variablen [aI], [O5] und [OI]. Wie sich der Lautwandel fortsetzt, lässt sich aus dem kombinierten Apparent-Time-Vergleich für die Lexeme Seife, Teig und Seil ersehen, der in Abbildung 4.7 dargestellt ist. Bei dessen Betrachtung fällt auf, dass standardnahe Realisierungen ([aI], [eI]) nicht nur in ihrem traditionellen, sondern auch im [O5]und [OI]-Gebiet auftreten. Weiterhin erscheint im nordwestlichen Gebiet die monophthongische Realisierung [e:], die ein Fortschreiten der Diphthongierung in diesem Bereich zwar nicht widerlegt, jedoch darauf schließen lässt, dass der Wandelprozess womöglich noch nicht abgeschlossen ist. [O5]- und [OI]-Gebiet erscheinen im Vergleich zum Substantiv Fleisch stabiler. Im Falle des Lexems Teig werden 20,8 % (35) aller Tokens im [O5]-Gebiet gemäß der standardnahen Lautung [aI] artikuliert, beim Lexem Seil sind es 42,2 % (19).77 Die neuen Realisierungen sind relativ gleichmäßig über das [O5]-Gebiet verstreut, wobei der südwestliche Teil besonders stabil erscheint und in mehreren dicht nebeneinander liegenden Ortspunkten im südlichen Schwarzwald-Baar-Kreis ausnahmslos der traditionelle Diphthong [O5] realisiert wird (die hier vorliegende Stabilität geht insbesondere auf das Lexem Teig zurück). Die Variation im traditionellen [OI]Gebiet ist weniger stark ausgeprägt als diejenige im [O5]-Gebiet und weist auf eine höhere Stabilität der traditionellen Lautung hin. Die standardnahen Tokens sind hier spärlicher und machen für das Lexem Teig 10,2 % (22), für das Lexem Seil sogar nur 6,5 % (2) aus. Offensichtlich ist der Diphthong [O5] also stärker von Lautwandel betroffen als der Diphthong [OI]. Dies könnte mit der phonetischen Ähnlichkeit des Diphthongs [OI] zum standardnahen Diphthong [aI] begründet sein – beide haben ausgleitende Offglides. Der Diphthong [O5] ist hingegen ingleitend. Dass noch weitere Analogieprozesse für die Unterschiede verantwortlich gemacht werden können, wird in den zusammenfassenden Analysen gezeigt (vgl. Kapitel 4.4.5). Die Substantive Teig und Seil tauchen in ungefähr einem Drittel der Fälle in komplexen Wortformen auf und verfügen über eine ausreichend hohe Tokenfrequenz, um den Einfluss morphologischer Komplexität auf die Wandelprozesse analysieren zu können.78 Die beiden Lexeme verhalten sich sehr unterschiedlich. Das Lexem Teig weist innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes in Simplizia mit 14,5 % (18) einen deutlich geringeren Anteil an standardnahen Realisierungen auf als in komplexen Wortformen mit 38,6 % (17). Innerhalb des traditionellen [OI]-Gebietes ist für das Lexem Teig der Anteil an standardnahen Realisierungen in Simplizia ebenfalls geringer (5,4 % [8]) als in komplexen Wortformen (20,6 % [14]). Beim Lexem Seil ist es gerade umgekehrt: der Anteil standardnaher Realisierungen im 77 78

Prozentwerte zur Variation innerhalb der spontansprachlichen Daten des Lexems Seife werden hier nicht angegeben, da die zugrunde liegende Tokenanzahl zu gering ist. Bei den morphologisch komplexen Wortformen handelt es sich fast ausschließlich um Komposita. Derivationen liegen im Wesentlichen in Form der Bildungen Seiler, (ab)seilen, teigig und teigen vor.

Abb. 4.7: Kombinierter Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei in den Lexemen Seife, Teig und Seil.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ei

[O5]-Gebiet ist in Simplizia mit 55,7 % (15) höher als in komplexen Wortformen mit 22,2 % (4).79 Ausgehend von diesem Befund stellt sich die Frage wie der geringere Anteil an standardnahen Realisierungen innerhalb morphologisch komplexer Wortformen für das Lexem Seil zu deuten ist, stellen solche Formen doch häufig Entlehnungen aus dem Standard dar. Eine semantische Analyse der einzelnen komplexen Types kann bezüglich dieser Frage mehr Klarheit verschaffen. So handelt es sich bei den häufigsten Types innerhalb des Seil-Korpus um Begriffe aus dem handwerklich-landwirtschaftlichen Bereich, die besonders stark an der alten Lautung festhalten. Ein besonders einschlägiges Beispiel ist die Berufsbezeichnung Seiler (traditionelle Realisierung [O5]: 7 von 7 Tokens). Daneben tragen aber auch weniger frequente Types zur Stabilität bei (z. B. Hängseil, Seilbahn, Drahtseil), die ebenfalls zur handwerklichen bzw. landwirtschaftlichen Terminologie zählen. Abschließend lässt sich bezüglich der Wandelprozesse in den bisher behandelten Lexemen also festhalten, dass eine klare lexikalische Steuerung des Lautwandels vorliegt, die vor allem durch das für Lautwandel anfällige Lexem Fleisch deutlich wird. Die übrigen Lexeme verhalten sich wesentlich stabiler, sind aber ebenfalls der vertikal als auch horizontal wirkenden Einflüsse der Realisierung [aI] ausgesetzt.

4.3.3 Lexem heim Das Lexem heim stellt zusammen mit heiß(en) und zwei die Gruppe der besonders frequenten Wörter im vorliegenden Korpus dar und soll im Folgenden zuerst besprochen werden. Es ist im Gegensatz zu den bereits besprochenen Lexemen Fleisch, Seife, Seil und Teig besonders durch seine größere Variantenvielfalt charakterisiert. Womöglich dokumentiert diese eine noch ältere Aufspaltung des etymologisch zugrunde liegenden Lautes mhd. ei. Einen ersten Eindruck der verschiedenen Reflexe von mhd. ei im Lexem heim vermittelt die Kartierung W ENKERS, die in Abbildung 4.8 zu sehen ist. Sie zeigt, dass das Untersuchungsgebiet nicht nur in die drei großräumigen Realisierungsgebiete [eI], [O5] und [OI] unterteilt ist, sondern durch zwei zusätzliche Gebiete nördlich des Bodensees ergänzt wird: [O] und und [ua]. Diese konstituieren sich als geschlossene Gebiete, die ansonsten zumeist zum [O5]-Gebiet gehören. Einzelbelege der beiden Variablen ziehen sich darüber hinaus in das nördlich angrenzende [O5]Gebiet.80 Weiterhin taucht in den Kartierungen W ENKERS ein knappes halbes Dutzend weiterer Realisierungen in Form von Einzelbelegen auf. So sind im westlichen [aI]-Gebiet wieder zahlreiche Belege der Realisierung [aI] vertreten. Im nordwestlichen Untersuchungsgebiet nördlich von Offenburg finden sich sehr kleinräumig verteilt die bekannten monophthongischen Realisierungen [e:] und [E:], ganz im 79 80

Im [OI]-Gebiet geht die Tendenz in die gleiche Richtung. Die Variation ist hier allerdings so gering, dass sich eine nähere Analyse der morphologischen Steuerung nicht lohnt. Die monophthongische Realisierung [O] hat sich im nordwestlichen Bodenseeraum aus dem Diphthong [O5] herausgebildet, im östlichen Bodenseeraum wurde dieser zur geschlossenen Variante [ua] (vgl. W IESINGER 1970b, 122).

Abb. 4.8: Realisierung von mhd. ei im Lexem heim gemäß W ENKER.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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178

Die Realisierung von mhd. ei

Nordwesten schließlich [a:], das auch im äußersten Süden bei Schaffhausen belegt ist. Außerdem erscheint der schwäbische Diphthong [OI] im Nordwesten in Form einer Reihe von Einzelbelegen in der Kartierung. Im südlichen [OI]-Gebiet schließlich ist der Diphthong [uI] durch eine Reihe von Einzelbelegen vertreten. Welche Wandeltendenzen sich aus diesem Status Quo ergeben, zeigt der RealTime-Vergleich in Abbildung 4.9. Das mittlere [O5]-Gebiet hat sich in seiner Ausdehnung offensichtlich kaum verändert. Bis auf kleinere Verschiebungen, die nur einzelne Dörfer betreffen, haben sich die Außengrenzen dieser Realisierungsform nur in geringem Maße bewegt. Das Gebiet erscheint gemäß der SSA-Abfragedaten zudem homogener als nach W ENKER. Das gleiche trifft für das östliche [OI]-Gebiet zu. Mit Ausnahme einiger weniger Einzelbelege (v.a. [uI]) im Süden erscheint auch dieses Gebiet recht stabil. Selbst die beiden kleinräumigeren Gebiete nördlich des Bodensees weisen im Kartenvergleich nur geringfügige Veränderungen auf. Lediglich das kleine [ua]-Gebiet hat sich zugunsten der Realisierung [OI] östlich von Friedrichshafen etwas verkleinert und beinhaltet zudem drei [OI]-Einzelbelege. Im westlichen [aI]-Gebiet ist der schwach steigende Diphthong [eI] nur noch durch sporadische Einzelbelege und ein kleines geschlossenes Gebiet zwischen Offenburg und Baden-Baden vertreten. Im Nordwesten taucht in den Abfragedaten des SSA nur noch der gespannte Monophthong [e(:)] auf, Belege für den bei W ENKER noch vertretenen offenen Monophthong [E(:)] sind nicht vorhanden. Weiterhin ist der nordwestliche Bereich im Vergleich zu W ENKER noch stärker durch Einzelbelege der schwäbischen Realisierungsform [OI] gekennzeichnet. Insgesamt fällt beim Kartenvergleich also auf, dass sich höchstens im Detail Wandeltendenzen erkennen lassen. Auch eine Erhöhung an Variation, die ja auch ein Indikator für Wandel darstellt, ist nicht festzustellen. Im Gegenteil: die Abfragedaten des SSA weisen sogar weniger Variation auf als die Daten W ENKERS. Stabilisieren sich die dialektgeografischen Verhältnisse also zunehmend oder ist dieser Eindruck durch die archaische Abfragemethode des SSA begründet? Eine Antwort auf die formulierte Frage geben die spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 4.10 aufgetragen sind. Der erste Eindruck, den die Analyseergebnisse der spontansprachlichen Daten vermitteln, ist die Ausbreitung der standardnahen Realisierung [aI] im gesamten Untersuchungsgebiet – eine Wandeltendenz, die sich in den Abfragedaten kaum (SSA) bis gar nicht (W ENKER) angedeutet hat. Im [O5]-Gebiet beträgt der Anteil an [aI]-Diphthongen 24,3 % (63) und ist gemäß Kartenbild im südlichen Teil etwas höher. Im [OI]-Gebiet ist hingegen der nördliche Teil stärker vom Einfluss des standardnahen Diphthongs betroffen, während der südliche Teil im Dreieck Ravensburg, Sigmaringen, Biberach stabil ist. Insgesamt beträgt der Anteil an [aI]-Diphthongen im [OI]-Gebiet 10,8 % (40), ist also wesentlich geringer als im westlich benachbarten [O5]-Gebiet. Das geschlossene [O]-Gebiet fällt durch den starken Einfluss der standardnahen Realisierung auf, die besonders nördlich von Konstanz zahlreich vertreten ist. Gleichzeitig sind aber trotz des offensichtlichen Rückgangs des [O]-Gebietes zahlreiche Einzelbelege dieser Realisierungsform im Untersuchungsgebiet verstreut, besonders im [O5]-Gebiet. Diese Realisierungen können als Allegroformen der Diphthonge [O5] und [OI] gedeutet werden. Für die entsprechenden Belege im [aI]-Gebiet erscheint diese Interpretation allerdings we-

Abb. 4.9: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ei im Lexem heim.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Abb. 4.10: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit der Spontansprache für die Realisierung von mhd. ei im Lexem heim.

180 Die Realisierung von mhd. ei

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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nig plausibel, da die Realisierung [O] als Allegroform des Ausgangsdiphthongs [aI] sehr unwahrscheinlich ist. Das [ua]-Gebiet ist in den spontansprachlichen Daten nicht mehr nachweisbar. Als Ersatzlaute dienen hierfür die Dialektrealisierungen [OI], [O] und [O5] sowie (zu einem geringen Teil) auch standardnahes [aI]. Kommen wir zur Betrachtung des [aI]-Gebietes. Dieses erscheint erwartungsgemäß recht homogen, weist aber vor allem Einzelbelege der Realisierungen [eI], [e(:)] und [OI] auf. Der schwach steigende Diphthong [eI] ist in seinem traditionellen nordwestlichen Verbreitungsgebiet weitestgehend durch die Realisierung [aI] ersetzt worden. Der Monophthong [e(:)] ist in seinem traditionellen Gebiet ebenfalls nur noch schwach vertreten, ein Eindruck der aber auch durch die hier nur sehr geringe Belegdichte entsteht. Interessant erscheint, dass das Auftreten des Monophthongs [e(:)] in der Karte stets mit [eI]-Realisierungen einhergeht, selbst im Südwesten, wo die Realisierung [e(:)] gemäß W ENKER oder SSA-Abfragedaten gar nicht erwartbar wäre. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass es sich beim Monophthong [e(:)] um eine Allegroform des schwach steigenden Diphthongs [eI] handelt und weniger um eine unabhängige, geografisch fest verankerte Dialektform. Die Realisierung [OI] zeigt schließlich starke Ausbreitungstendenzen im gesamten nordwestlichen Untersuchungsgebiet und ersetzt im Gebiet um Pforzheim und Calw zu einem beträchtlichen Teil die ansonsten sehr einflussreiche Realisierung [aI]. Ein weiterer Befund, der aus der Kartierung der spontansprachlichen Daten hervorgeht, sind die besonders im nordwestlichen Bereich zahlreich vertretenen [OI]Belege, die sowohl im traditionellen [O5]- als auch [AI]-Gebiet vorliegen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Realisierung [OI] Teil der regionalen Umgangssprache geworden ist und sich als regionaldialektale Form ausbreitet. Ein Blick in Beschreibungen zur Umgangssprache in diesem Raum bestätigt das Auftreten des Diphthongs [OI], beispielsweise im Stuttgarter Schwäbischen (F REY 1975), das als einflussreiches städtisches Repertoire mit regionaler Bedeutung anzusehen ist (Honoratiorenschwäbisch). In der Stuttgarter Stadtsprache tauchen gemäß den Untersuchungsergebnissen von F REY (1975) Varianten des Diphthongs [OI] für mhd. ei auf (z. B. im Lexem nein [nOe]). Damit besitzen diese Formen das Potential sich als prestigereiche, von ihrer dialektalen Verankerung losgelöste Realisierungen regional auszubreiten und sich in weiteren lexikalischen Kontexten einer etymologischen Klasse zu etablieren. Das Lexem heim kommt besonders oft in morphologisch komplexen Kontexten vor, während sein Auftreten in Simplizia eher die Ausnahme darstellt. Als Simplex taucht heim (als Adverb) nur in 18 % (250) aller Tokens auf.81 Die übrigen Wortformen verteilen sich über die verschiedensten Wortbildungstypen und beinhalten teilweise völlig lexikalisierte Wortformen (z. B. Geheimnis, heimlich, Einheimische, etc.). Insgesamt zeigt sich, dass sowohl im [O5]- als auch im [OI]-Gebiet der Anteil an standardnahen [aI]-Diphthongen innerhalb komplexer Wortformen höher ist als in Simplizia. Allerdings ist der Unterschied mit 4-6 % nicht besonders groß (siehe Tabellen 4.9 und 4.10), weswegen sich hier ein genauerer Blick in das Korpus 81

Es tritt daneben in vier Fällen das substantivische Simplex Heim auf, das aber als jüngere Entlehnung aus dem Standard angesehen werden darf: Drei der vier Tokens werden mit dem standardnahen Diphthong [aI] realisiert.

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Die Realisierung von mhd. ei

der komplexen Wortformen lohnt. Womöglich spielen bestimmte Wortbildungstypen eine entscheidende Rolle für das Maß der phonologischen Abweichung von der traditionellen Form. Vielleicht sind aber auch ganz bestimmte Types sowie ihre Semantik und ihr Lexikalisiertheitsgrad das entscheidende Kriterium. Im Folgenden soll dieser Frage nachgegangen werden.

Abb. 4.11: Realisierung [aI] und morphologischer Kontext im Lexem heim. Das Diagramm in Abbildung 4.11 gibt einen Überblick über die wichtigsten Wortbildungstypen, in die das Lexem heim eingebettet ist, und zeigt ihre jeweiligen Anteile an standardnahen [aI]-Diphthongen im [O5]- und im [OI]-Gebiet. Die Grafik verdeutlicht die starke morphologische Steuerung der phonologischen Variation, sowohl im [O5]- als auch im [OI]-Gebiet. Die vertretenen Wortbildungstypen lassen sich hinsichtlich ihrer phonologischen Stabilität in zwei Gruppen einteilen: 1) Die stabilsten Wortformen stellen diejenigen dar, die als besonders lexikalisiert angesehen werden können. Im gegebenen Korpus handelt es sich dabei ausschließlich um die beiden Types Heimat (26)82 und daheim (199). Nahezu ebenso stabil verhalten sich Wortformen, in denen heim- (203) die Verbpartikel zu einem Verbstamm bildet, sowie „reine“ Simplizia (112).

82

Die Zahlen in Klammern repräsentieren die Summe aller Tokens aus dem [O5]- und [OI]-Gebiet.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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2) Wesentlich zugänglicher für die standardnahe Realisierung zeigen sich hingegen Derivationen (24) und (transparente) Komposita (34).83 Offensichtlich handelt es sich also bei den Types dieser beiden Wortbildungstypen um Entlehnungen aus der Standardsprache, während die übrigen morphologischen Kontexte als traditionell dialektal gelten dürfen. Neben den unterschiedlichen Anteilen an standardnahen Realisierungen in den beiden Gruppen fällt auch die unterschiedliche Tokenfrequenz auf. In Gruppe 1 ist diese weit höher und stabilisiert somit die dialektale Realisierung zusätzlich.84 In Gruppe 2 ist die Tokenanzahl hingegen recht gering. Die Sprecher entlehnen offensichtlich nur sporadisch (ad hoc) komplexe Wortformen aus dem Standard, und zwar zumeist inklusive der standardsprachlichen Realisierung. Zur Illustration sind in Tabelle 4.4 einige Vertreter von Komposita und Derivationen beispielhaft aufgeführt. Wortform Heimweh heimwärts Einheimische heimlich unheimlich Heimarbeit Altersheim Heimatland! (Interjektion) Heimatpfleger Heimatlazarett Geheimnis

Anteil [aI]-Tokens [O5]-Gebiet [OI]-Gebiet 0 von 5 6 von 13 0 von 2 3 von 3 1 von 8 1 von 4 2 von 2 2 von 2 2 von 2 2 von 2 5 von 5 2 von 2 2 von 2 2 von 2 2 von 2 2 von 2 2 von 2 -

Tab. 4.4: Anteile an standardnahen Realisierungen [aI] in Komposita und Derivationen mit dem Lexem heim. Aufgeführt sind alle Types mit mindestens zwei Tokens. Fassen wir zusammen: Die Analyse des Lexems heim ergibt erst im ApparentTime-Vergleich deutliche Wandeltendenzen. Diese bestehen im Wesentlich aus einer großflächigen Ausbreitung des Extremdiphthongs [aI], die vermutlich durch horizontalen und insbesondere vertikalen Varietätenkontakt bedingt ist. Allerdings ist der Lautwandel noch nicht weit fortgeschritten, denn die Realisierungsgebiete [hO5m], und mehr noch [hOIm], sind im spontansprachlichen Kartenbild noch immer deutlich erkennbar. Neben der flächendeckenden Ausbreitung der standardnahen Form [aI] scheint weiterhin die schwäbische Realisierung [OI], womöglich als sich entwickelnde regionaldialektale Form, im nordwestlichen Untersuchungsgebiet zunehmend in Gebrauch zu kommen. Hinsichtlich morphologisch komple83

84

Die Zuordnung zu einem bestimmten Wortbildungstyp geschieht anhand der äußersten Klammerung, von der das Lexem heim betroffen ist. Die Wortform Heimatpfleger würde beispielsweise zur Gruppe der Komposita und nicht zu den voll lexikalisierten Formen gehören. Vgl. hierzu die statistische Aggregatanalyse in Kapitel 12.4.3

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Die Realisierung von mhd. ei

xer Wortformen und Ihrem Einfluss auf die lautliche Variation konnte festgestellt werden, dass sich lexikalisierte (opake) Wortformen und Simplizia besonders stabil verhalten, während in transparenten Derivationen und Komposita zu einem weit höheren Anteil die standardnahe Variante [haIm] auftritt.

4.3.4 Lexem heiß (Adjektiv) Das Lexem heiß kann in seiner Verwendung als Adjektiv einem vollständigen Vergleich von Wenker-, SSA-Abfrage- und Spontandaten unterzogen werden. Die Datenlage gemäß W ENKER ist in Abbildung 4.12 dargestellt. Das Kartenbild weist die vertraute Dreiteilung des Untersuchungsgebietes auf und entspricht hinsichtlich der auftretenden Einzelbelege im Wesentlichen den bereits diskutierten Wenker-Karten zu den Lexemen Fleisch, Seife und heim. Einzige Besonderheit ist die Realisierung [o:]. Diese erscheint, wie auch im Lexem heim, in Form eines geschlossenen Gebietes nordwestlich des Bodensees, das allerdings deutlich kleiner als dasjenige des Lexems heim ist. Andererseits ist die Realisierung [o:] in Form von Einzelbelegen häufiger als in den beiden Substantiven Fleisch und Seife vertreten. Aus diesem Befund ist vermutlich insgesamt eine Verkleinerung des [o:]-Gebietes zu erwarten. Wie sich die weitere Entwicklung der einzelnen Varianten gestaltet, ist in Abbildung 4.13 zu sehen, in der der Real-Time-Vergleich von Wenker- und SSAAbfragedaten dargestellt ist. Die drei großräumigen Realisierungsgebiete erscheinen in beiden Datensätzen nahezu deckungsgleich. Es zeigen sich keine erwähnenswerten Wandeltendenzen. Nur hinsichtlich der kleinräumigen und weniger frequenten Variablen lassen sich Veränderungen ausmachen. So ist die Realisierung [o:] in den Abfragedaten des SSA nicht mehr vorhanden. Nur westlich des Bodensees und bei Konstanz sind noch sechs Einzelbelege der geöffneten Realisierungsform [O:] vorzufinden.85 In den beiden kleinräumigen, bei W ENKER verzeichneten [hE:s]-Gebieten zeigt sich im Kartenvergleich in erster Linie ein Wandel des offenen Monophthongs zur geschlossenen Variante [e:], eine Tendenz, die auch der Kartenvergleich für das Lexem Fleisch ergab (vgl. Abbildung 4.3). Welche weiteren Wandelprozesse sich in den spontansprachlichen Daten zeigen, ist Abbildung 4.14 zu entnehmen. Das spontansprachliche Korpus für das Adjektiv heiß besteht nur aus 98 Tokens. Dennoch bestätigt das Kartenbild die relativ hohe Stabilität der drei großräumigen Realisierungsformen. Analog zu den weiteren untersuchten Lexemen zeigt sich aber auch hier eine Ausbreitung des Diphthongs [aI] innerhalb des [O5]- und des [OI]-Gebietes. Im [O5]-Gebiet beträgt sein Anteil 31,8 % (7), im [OI]-Gebiet 6,9 % (2). Die beiden einzigen standardnah realisierten Tokens im [OI]-Gebiet sind gleichzeitig die einzigen, die in einen morphologisch komplexen Kontext eingebettet sind. Beide gehören zur eindeutig standardsprachlichen Wortform Heißhunger. 85

Bei W ENKER dürfte bereits der offene Lautwert gegolten haben, den Transkribenten fehlte aber eine konventionalisierte Lautumschrift, weswegen sie das ihnen vertraute Graphem zur Transkription heranzogen.

Abb. 4.12: Realisierung von mhd. ei im Adjektiv heiß gemäß W ENKER.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Abb. 4.13: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ei im Adjektiv heiß.

186 Die Realisierung von mhd. ei

Abb. 4.14: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei im Adjektiv heiß.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ei

4.3.5 Lexem heiß(en) (Verb) Für das Verb heiß(en) kann ein Apparent-Time-Vergleich durchgeführt werden, wobei es mit 1918 Tokens zu den besonders frequenten Wörtern im Datenkorpus gehört. Der Vergleich von SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten ist in Abbildung 4.15 dargestellt. Wie bereits für das Adjektiv heiß zeichnet sich auch für das Verb heiß(en) in den spontansprachlichen Daten ein klares, dreigeteiltes Raumbild ab. Im Unterschied zum Adjektiv heiß machen sich, wohl aufgrund der hohen Tokenfrequenz, nun auch die weniger frequenten und kleinräumigen Realisierungsformen bemerkbar. Kommen wir aber zunächst zu den Hauptwandelprozessen. Die Ausbreitung der Realisierung [aI] ist im Kartenbild gut erkennbar. Das [O5]-Gebiet ist hiervon stärker betroffen ([aI]-Anteil 30,1 % [93]) als das [OI]-Gebiet ([aI]-Anteil 6,0 % [34]). Weit weniger stark ausgeprägt ist der Einfluss der beiden dialektalen Formen [O5] und [OI] in den jeweils anderen Realisierungsgebieten. Die Realisierung [O5] ist sporadisch innerhalb des [OI]-Gebietes zu finden, die Realisierung [OI] weist hingegen stärkere Ausbreitungstendenzen in den beiden anderen Gebieten auf. Innerhalb des [O5]-Gebietes ist hiervon vor allem der äußerste Südosten sowie der Norden betroffen. Im [aI]-Gebiet weist nur der Norden eine Reihe von [OI]-Belegen auf. Diese Realisierungsform reicht also über ihr traditionelles Verbreitungsgebiet hinaus und entwickelt sich womöglich zu einer Regionalform, die offenbar im nördlichen und nordöstlichen Teil des Untersuchungsgebietes zunehmend Verwendung findet. Als weniger frequente Realisierungen sind im spontansprachlichen Korpus die Varianten [O(:)], [e(:)] und [eI] zu nennen. Einzelbelege für die Realisierung [O(:)] treten erwartungsgemäß im nordwestlichen Bodenseeraum auf, sind aber auch außerhalb dieses Gebietes vertreten. Die Realisierungen [e(:)] konzentrieren sich (ebenfalls erwartungsgemäß) nördlich von Offenburg, und zwar innerhalb der beiden kleinräumigen Verbreitungsgebiete der Realisierung [E:] (gemäß W ENKER). Offensichtlich hat sich hier also im Laufe des 20. Jahrhunderts ein Lautwandel [E:] → [e:] vollzogen. Interessanterweise sind im gesamten spontansprachlichen Korpus des Verbs heiß(en) keine morphologisch komplexen Wortformen vorhanden. Dies erstaunt nicht nur aufgrund der großen Menge an Tokens, sondern auch angesichts der Tatsache, dass komplexe Wortformen mit der Basis heiß(en) im Deutschen durchaus existieren (z. B. verheißen, gutheißen, etc.). Offensichtlich bedienen sich die Dialektsprecher aber nicht der Wortbildung, um die entsprechenden Inhalte auszudrücken. Zusammenfassend lässt sich sowohl für das Adjektiv heiß als auch für das Verb heiß(en) festhalten, dass sich die großräumige Realisierung [aI] ausbreitet, besonders im [O5]-Gebiet. Schwäbisches [OI] verhält sich hingegen ausgesprochen stabil und breitet sich stellenweise sogar nach Nordwesten aus. Die wenig frequenten Variablen spielen für das Gesamtbild des Lautwandels nur eine untergeordnete Rolle und sind zumeist auf kleinräumige Gebiete beschränkt.

Abb. 4.15: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei im Verb heiß(en).

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ei

4.3.6 Lexem zwei Das Zahlwort zwei erfordert eine differenzierte Analyse, da es sich in Abhängigkeit vom syntaktischen Kontext teilweise anders verhält als die bisher untersuchten Lexeme. Die Andersartigkeit besteht darin, dass die Lautwerte des Lexems zwei im Mittelhochdeutschen grammatikalisiert waren und vom Genus des Bezugsnomens abhingen (G RIMM / G RIMM 1854–1971, Bd. 32, Sp. 972–974). So forderte das maskuline Bezugsnomen die Form zwên, die feminine Form lautete zwô und die neutrale zwei. In mittelhochdeutscher Zeit war die Unterscheidung nach Genus im deutschen Sprachgebiet noch weit verbreitet und hielt sich in der Schriftsprache teilweise bis in das 18. Jahrhundert. Im Gegenwartsdeutschen gilt die Einheitsform zwei.86 Die Dialekte, vor allem die oberdeutschen, haben die lautliche Unterscheidung nach Genus relativ gut bewahrt, was W ENKER, F ISCHER (1895) und die SSAAbfragedaten bestätigen. Für jedes Genus gelten verschiedene Realisierungen, die zudem geografisch unterschiedlich distribuiert sind. Genus mask. fem. neutr.

Hauptformen im Untersuchungsgebiet Mittelhochdeutsch rezente Dialekte zwên zwee, zwea zwô, zwuo zwoo, zwua zwei zwai, zwoa, zwoi

Tab. 4.5: Lautliche Hauptformen des Stammvokals im Lexem zwei und deren Zuordnung zum Genus des Bezugsnomens. Die Angaben beziehen sich auf die Verhältnisse in mittelhochdeutscher Zeit (gemäß G RIMM / G RIMM 1854–1971, Bd. 32, Sp. 972–974) sowie in den rezenten Dialekten (gemäß W ENKER; F ISCHER 1895 und SSA-Abfragedaten) im Untersuchungsgebiet. Kleinräumige Nebenformen sind nicht berücksichtigt. Tabelle 4.5 stellt die lautlichen Hauptformen des Mittelhochdeutschen und der rezenten südwestdeutschen Dialekte für das Lexem zwei gegenüber. Die Entsprechungen haben sich seit dem Mittelhochdeutschen nur wenig verändert. Die folgenden Real-Time- und Apparent-Time-Analysen werden zeigen, inwieweit sie auch noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Untersuchungsgebiet Geltung hatten. Hier wird vor allem das sehr ergiebige spontansprachliche Material nachweisen können, ob die Differenzierung nach Genus noch intakt ist, bzw. in welchem Ausmaß sich auf der Ebene der Basisdialekte die standardsprachliche Einheitsform zwei durchgesetzt hat. Für diese Analyse eignen sich freilich nur jene Tokens, die im spontansprachlichen Korpus eindeutig einem Bezugsnomen zugeordnet werden konnten (dies trifft für knapp die Hälfte aller Tokens zu). Die übrigen Belege tauchen u. a. in morphologisch komplexen Wortformen auf. Dieser Umstand ermöglicht eine genaue Analyse des Einflusses der morphologischen Komplexität auf die Entwicklung der Realisierungsformen im Lexem zwei. 86

Als Variante tritt auch die Realisierung [tsvo:] auf.

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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4.3.6.1 zwei + Bezugsnomen im Neutrum Betrachten wir zunächst die Entwicklung innerhalb des syntaktischen Kontextes „zwei + Bezugsnomen im Neutrum“. Das Raumbild nach W ENKER, wie es in Abbildung 4.16 zu sehen ist, entspricht demjenigen der bisher analysierten Lexeme. Allerdings ist in der Kartierung auch eine recht hohe Variantenvielfalt zu erkennen. So existieren nicht nur die drei Realisierungen [tsveI] (womit bei W ENKER eigentlich der phonetische Lautwert [tsvaI] gemeint sein dürfte), [tsvO5] und [tsvOI], sondern darüber hinaus die beiden als Einzelbelege vorliegenden Varianten [tsvE:] und [tsvo:], die im Folgenden kurz beschrieben werden. Beim Monophthong [E:] handelt es sich um eine Realisierung, die eigentlich dem syntaktischen Kontext „zwei + Bezugsnomen im Maskulinum“ zuzuordnen ist, und in dieser Verwendung (wie in der vorliegenden Karte auch) im nördlichen Bodenseegebiet vorkommt (vgl. F ISCHER 1895, Karte 10). Die Verwendung dieser Realisierung im Kontext mit neutralem Bezugsnomen ist ein Hinweis darauf, dass bei den Sprechern teilweise Unsicherheiten bezüglich der korrekten Zuweisung der Realisierung [E:] zum maskulinen Bezugsnomen bestehen. Die Vermutung der Zuweisungsunsicherheit zwischen lautlicher Realisierung und Genus zeigt sich auch im Auftreten der monophthongische Lautung [o:] im nördlichen Bodenseegebiet. Diese Realisierung tritt in diesem Areal eigentlich im Kontext „zwei + Bezugsnomen im Femininum“ auf. Dennoch ist sie gemäß W ENKER, wie in Abbildung 4.16 erkennbar, in Form einiger Einzelbelege und durch ein kleines geschlossenes Gebiet nordöstlich des Kantons Schaffhausen auch im syntaktischen Kontext „zwei + Bezugsnomen im Neutrum“ vertreten. Die beiden Varianten [tsvE:] und [tsvo:] sind also offenbar unabhängig von ihrem syntaktischen Kontext in diesem Areal vorzufinden. Ob sich die beiden Realisierungen kontextunabhängig im südlichen [O5]-Gebiet ausbreiten oder ob sie durch die großräumigere Realisierungen [O5] ersetzt werden, sollen die folgenden Analysen zeigen. Neben den Einzelbelegen für [tsvE:] und [tsvo:] sind auch Belege für die standardnahe Realisierung [tsvEI] ([tsvaI]) sowohl im traditionellen [O5]- als auch im [OI]-Gebiet verbreitet. Daneben zeigt der schwäbische Diphthong [OI] Ausbreitungstendenzen zwischen Ravensburg und Friedrichshafen sowie im mittleren und nordwestlichen Untersuchungsgebiet. Zur Verfolgung der weiteren Entwicklung vergleichen wir nun den Befund W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten in Abbildung 4.17. Das westliche Gebiet, in dem W ENKER die standardnahe Form [eI] notiert, ist gemäß SSA-Abfrage nur noch in einem geschlossenen Gebiet zwischen Offenburg und Baden-Baden vertreten. Dieses weist gemäß den Abfragedaten des SSA bereits Auflösungserscheinungen auf, die in Form einzelner [aI]-Belege zu erkennen sind. Im Südwesten des [aI]-Gebietes fallen als besondere Innovationen die Realisierungen [øI] und [OI] auf. Es gilt aufgrund der geografischen Distanz als wenig wahrscheinlich, dass es sich bei diesen Formen um Kontakterscheinungen handelt, die auf den entsprechenden schwäbischen Diphthong zurückgehen. Das [OI]-Gebiet im Osten ist in den Abfragedaten des SSA, anders als das traditionelle [O5]-Gebiet, annähernd homogen. Die umrandenden Isoglossen haben sich in dessen zentralem Teil kaum verschoben,

Abb. 4.16: Die Realisierung von mhd. ei im Lexem zwei (+ Neutrum) gemäß W ENKER.

192 Die Realisierung von mhd. ei

Abb. 4.17: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ei im Lexem zwei (+ Neutrum).

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ei

höchstens eine leichte Verkleinerung des Gebietes ist stellenweise zu erkennen.87 Im Bereich nördlich des Bodensees zeigt der Isoglossenvergleich jedoch einen klaren Rückgang der [O5]-Realisierung. Diese wurde hier zum größten Teil durch die nördlich angrenzende Lautung [OI] ersetzt und nicht etwa durch den standardnahen Diphthong [aI]. In diesem Bereich ist die horizontale Komponente des Lautwandels also offenbar die dominantere. Der Diphthong [aI] ist erst im nordwestlichen Bereich des Bodensees in Form einiger Einzelbelege nachgewiesen. Wie bereits in der Kartierung W ENKERS fallen nördlich und nordwestlich des Bodensees auch in den SSA-Abfragedaten die beiden Realisierungsformen [E:] und [o:] auf. Womöglich handelt es sich bei diesen Realisierungen ebenfalls um das Resultat von Unsicherheiten bei der korrekten Zuweisung des Lautwertes zu maskulinen bzw. femininen Bezugsnomina. Die Realisierung [o:] ist neben einigen Einzelbelegen durch ein kleines geschlossenes Gebiet nördlich und östlich des Kantons Schaffhausen vertreten, das sich im Vergleich zu den Daten W ENKERS sogar ein wenig ausgedehnt hat. In Abbildung 4.18 ist der Apparent-Time-Vergleich von Spontansprache und SSA-Abfragedaten aufgetragen. Der Karte ist zu entnehmen, dass sich die standardnahe Realisierungsform [aI] fast im gesamten Untersuchungsgebiet ausbreitet, besonders innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes und (weniger stark) im nördlichen [OI]-Gebiet. Die beiden sehr kleinräumigen [eI]- und [o:]-Gebiete sind in den Spontandaten nicht mehr als solche erkennbar und weisen als Ersatzlaut fast ausschließlich die Realisierung [aI] auf. Im Gegensatz zur standardnahen Form ist für den schwäbischen Diphthong [OI] nur wenig Evidenz für dessen Ausbreitung vorhanden. Doch ist im nördlichen Bodenseeraum auf Grundlage des Real-TimeVergleichs davon auszugehen, dass er hier den vorrangigen Ersatzlaut bildet. In seinem traditionellen Verbeitungsgebiet ist der Diphthong [OI] zu 82,6 % (76) vertreten und erscheint damit recht stabil. Die westlich benachbarte Realisierung [O5] tritt in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet hingegen nur noch zu 22,8 % (26) auf. Auffallend sind einige [e(:)]-Belege zwischen Offenburg und Ulm. Ihr Auftreten ist in diesem Raum unerwartet, kann aber damit erklärt werden, dass es sich wohl um Unsicherheiten in der Genus-Zuordnung handelt, denn das Auftreten der Monophthonge [e(:)] wäre bei Verwendung mit maskulinem Bezugsnomen durchaus in diesem Gebiet zu erwarten (vgl. Abschnitt 4.3.6.2). Wie bereits in den SSA-Abfragedaten treten auch in den spontansprachlichen Daten wieder die Realisierungen [OI] und [øI] im äußersten Südwesten auf. Allerdings sind sie nur noch in vier Ortspunkten belegt und variieren durchgehend mit dem Diphthong [aI]. Insgesamt zeigt sich in den spontansprachlichen Daten also eine deutliche Ausbreitung der standardnahen Form, besonders im traditionellen [O5]-Gebiet sowie in den kleinräumigen Gebieten mit den Realisierungen [o(:)] und [eI]. Als besonders stabiles Gebiet kann der südöstliche Teil des Untersuchungsgebietes gelten, da hier südlich einer Linie Sigmaringen – Ulm selbst in den spontansprachlichen Daten keine Variation auftritt und durchgehend die Realisierung [OI] gilt. Im Wesentlichen 87

Der nördlichste Teil des [O5]-Gebietes scheint gemäß SSA-Abfragedaten deutlich nach Süden zurückgegangen zu sein. Allerdings ist dieser Eindruck darauf zurückzuführen, dass nördlich der grauen Fläche keine SSA-Belege vorhanden sind.

Abb. 4.18: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei im Zahlwort zwei (+ Neutrum).

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ei

zeigt sich also ein ähnliches Wandelbild wie bei den bereits analysierten Lexemen der etymologischen Lautklasse mhd. ei. Ob die Sprecher eine Assoziation zwischen Lautform und neutralem Genus des Bezugsnomen herstellen, ist an dieser Stelle noch nicht zu beantworten, denn in den Spontandaten treten größtenteils die Lautungen [aI], [O5] und [OI] auf, die ohnehin als die typischen Reflexe fast aller Lexeme dieser Lautklasse gelten. Erst im Rahmen der nun folgenden Analysen zum Zahlwort zwei mit maskulinem und femininem Bezugsnomen wird sich zeigen, inwieweit die Laut-Genus-Assoziation noch intakt ist.

4.3.6.2 zwei + Bezugsnomen im Maskulinum Die lautlichen Realisierungen für das Zahlwort zwei mit Bezugsnomen im Maskulinum sind keine Reflexe von mhd. ei. Die auftretenden Reflexe gehen auf verschiedene mittelhochdeutsche Formen zurück, besonders aber auf die Hauptform ê. In Abbildung 4.19 ist die Verteilung der einzelnen Reflexe gemäß F ISCHER (1895, Karte 10) zu sehen. Die Realisierung [e(:)] nimmt demnach den Großteil des Untersuchungsgebietes ein und hat im nördlichen Bodenseeraum eine geöffnete Variante [E(:)] ausgebildet. Im Osten schließt sich die diphthongische Realisierung [ea] an, die Teil eines größeren, sich östlich fortsetzenden Gebietes ist. Nördlich des Kantons Schaffhausen ist gemäß F ISCHER in einem kleinen kompakten Gebiet die standardnahe Realisierung [aI] vertreten. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass sich ausgerechnet in diesem ländlichen Gebiet die standardnahe Form bereits im 19. Jahrhundert voll etabliert hat. Vielmehr liegt hier eine dialektale Realisierung vor, die sich unabhängig vom Standard entwickelt haben muss. Ein Bezug zur in Kapitel 6.3 behandelten Diphthongierung von mhd. ê im Auslaut lässt sich bezüglich der Herausbildung des [aI]-Gebietes nicht herstellen, zumal im mittelhochdeutschen Lexem zwên, bedingt durch die geschlossene Silbe, ohnehin andere phonotaktische Ausgangsbedingungen für einen Lautwandel vorlagen.88 Aus Abbildung 4.20 sind die weiteren lautgeografischen Entwicklungen ersichtlich, so wie sie sich in den SSA-Abfragedaten darstellen. Das Gebiet, in dem größtenteils die Realisierung [aI] vorherrscht, hat sich demnach gegenüber F ISCHER (1895) enorm vergrößert und bildet einen nach Süden breiter werdenden Korridor zwischen Rastatt und dem nordwestlichen Bodenseegebiet. Neben der Hauptform [aI] ist hier gemäß SSA-Abfragedaten im nördlichen Teil besonders die Realisierung [i(:)] vertreten. Inwiefern diese Realisierung ein Novum oder eine gehobene Variante der Realisierung [e(:)] darstellt, ist aus dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial nicht zu ermitteln. Das [e(:)]-Gebiet ist gemäß SSA-Abfragedaten durch die Ausbreitung der Realisierung [aI] in zwei Teilgebiete zerfallen. Innerhalb der noch verbleibenden [e(:)]-Gebiete (vor allem im westlichen) sind etliche [aI]Einzelbelege vertreten und weisen auf die weitere Ausbreitung dieser Realisierung hin. Weiterhin hat sich das [e(:)]-Gebiet offenbar in seinem östlichen Teil zurück88

Das Diphthong-Gebiet liegt für die Diphthongierung von mhd. ê im Auslaut weiter im Nordosten und besitzt eine größere Ausdehnung, wie beispielsweise im Fall von Schnee und weh (vgl. Kapitel 6.3.2).

Abb. 4.19: Phonologische Realisierungen im Lexem zwei (+ Maskulinum) gemäß F ISCHER (1895, Karte 10).

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gebildet. Hier macht nun die in F ISCHERS Kartierung gar nicht vertretene Form [OI] den Großteil der Realisierungen aus (Einzelbelege der bei F ISCHER verzeichneten Realisierungen [ea] und [E:] sind in diesem östlichen Gebiet aber immer noch zahlreich vertreten). Zuletzt seien noch die um Villingen-Schwenningen auftretenden [O5]-Diphthonge erwähnt. Das Gesamtbild des Kartenvergleichs vermittelt den Eindruck einer enorm gestiegenen Variation und die Auflösung ehemals geschlossener Realisierungsgebiete. Doch geschieht die Auflösung nicht ungeordnet. Die Sprecher orientieren sich vielmehr an den dreigeteilten lautlichen Verhältnissen, wie sie eigentlich für die Verwendung des Zahlwortes zwei mit Bezugsnomen im Neutrum (sowie für weitere Lexeme, die mittelhochdeutsches ei enthalten) gelten: Im Westen setzt sich zunehmend die Realisierung [aI] durch, im Osten werden die traditionellen Lautungen durch den Diphthong [OI] ersetzt und in der Region um Villingen-Schwenningen sind Belege für die Realisierung [O5] vorhanden. Allein in einem Gebiet zwischen Karlsruhe und Sigmaringen sowie im äußersten Südwesten scheint sich die traditionelle Lautung [e(:)] noch halten zu können. Die Kopplung von Lautwert und Genus ist gemäß SSA-Abfragedaten also nur noch in diesen Gebieten zu einem großen Teil intakt. Das restliche Untersuchungsgebiet hingegen ist in einem Maß von Lautwandel (vor allem hin zur standardnahen Realisierung [aI] und zur schwäbischen Form [OI]) betroffen, dass von einer hiermit einhergehenden Neutralisierung der Genuszuordnung ausgegangen werden darf. Die Wandelprozesse, die sich aus dem Vergleich von F ISCHER (1895) und SSA-Abfragedaten ergeben, erscheinen dramatisch und widersprechen den Ergebnissen, wie sie aus den bisherigen Real-Time-Vergleichen zwischen W ENKER und SSA-Abfragedaten üblicherweise hervorgegangen sind. Oft wurden durch die SSA-Abfragedaten die alten Verteilungen gemäß W ENKER bestätigt (vgl. u. a. die Real-Time-Vergleiche in den Abbildungen 4.6 und 4.9). Ob die Daten F ISCHERS zuverlässig sind, könnte durch einen direkten Vergleich mit den Daten W ENKERS überprüft werden. Allerdings liegen diese für den hier betrachteten Kontext nicht vor. Abweichungen zwischen den beiden Kartenwerken sind aber durchaus möglich, da F ISCHER andere Gewährspersonen heranzog (Dorfpfarrer) und sich seine Kartiertechnik insofern von derjenigen W ENKERS unterscheidet, als dass er seine Isoglossen stärker interpoliert und die einzelnen Realisierungsgebiete stets als in sich homogen wiedergibt. Es ist jedoch anzunehmen, dass diese methodischen Unterschiede nicht gravierend genug sind, als dass sie völlig andere Ergebnisse erzeugt haben könnten als die entsprechende Befragung mit den Methoden W ENKERS. Aus diesem Grund können die Daten F ISCHERS (1895) durchaus als valide gelten und folglich die deutlichen Unterschiede zu den SSA-Abfragedaten als tatsächliche Lautwandelprozesse interpretiert werden. Die Annahme einer massiven lautgeografischen Veränderung wird zudem durch den Apparent-Time-Vergleich untermauert, der in Abbildung 4.21 dargestellt ist. Aus dem Vergleich der Daten geht hervor, dass sich die Realisierung [aI] im gesamten Untersuchungsgebiet ausbreitet. Besonders betrifft diese Entwicklung das traditionelle [e(:)]-Gebiet (nach SSA-Abfragedaten), wo der Anteil an [aI]-Tokens bereits 54,6 % (143) beträgt. Die höchste Konzentration an [e(:)]-Tokens ist noch (wie bereits der Kartenvergleich vermuten ließ) in der Mitte des Untersuchungs-

Abb. 4.20: Phonologische Realisierungen im Lexem zwei (+ Maskulinum) gemäß SSA-Abfragedaten.

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Abb. 4.21: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die phonologischen Realisierungen im Zahlwort zwei (+ Maskulinum).

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4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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gebietes zwischen Balingen und Tübingen sowie im äußersten Südwesten belegt. Von geschlossenen Gebieten kann allerdings nicht mehr die Rede sein, zumal die [e(:)]-Realisierungen an fast jedem Ortspunkt ihres Auftretens mit dem Diphthong [aI] variieren. Der Diphthong [OI] hat sich in den spontansprachlichen Daten fest im Osten des Untersuchungsgebietes etabliert und breitet sich zudem in das westlich benachbarte [e(:)]-Gebiet aus. Er tritt aber noch häufig in Variation mit dem alten Monophthong [e(:)] auf. Der bei F ISCHER und in den SSA-Abfragedaten im Osten verzeichnete Diphthong [ea] ist in den Spontandaten nicht mehr existent. Auch die geöffnete Variante [E(:)], die nördlich des Bodensees verbreitet war, ist nicht mehr vertreten. Generell entsteht durch den Apparent-Time-Vergleich der Eindruck, dass die Variation im Untersuchungsgebiet abgenommen hat. Waren in den SSA-Abfragedaten noch neun verschiedene Realisierungsformen verzeichnet, haben diese sich in den spontansprachlichen Daten auf sechs reduziert. Zieht man die mit insgesamt 17 Tokens wenig frequenten Variablen [eI], [o(:)] und [O5] ab, so kommt man auf die drei verbleibenden Variablen [aI], [OI] und [e(:)], die zusammen 96 % des spontansprachlichen Korpus ausmachen. Davon ist die standardnahe Variante mit knapp über 50 % vertreten, während die beiden anderen Realisierungen auf je ca. 20 % kommen. Da also durchaus noch die traditionelle Form [e(:)] von den Sprechern verwendet wird, ist in diesen Fällen eine noch funktionierende Assoziation der lautlichen Form mit dem Genus des Bezugsnomen anzunehmen. Doch weist der Gesamtbefund eindeutig in Richtung des vollständigen Abbaus von [e(:)] (zugunsten von [aI] und [OI]), und damit hin zur allmählichen Nivellierung der Genus-Kongruenz.

4.3.6.3 zwei + Bezugsnomen im Femininum Die Reflexe für das Zahlwort zwei in Verwendung mit dem femininen Bezugsnomen gehen auf die mittelhochdeutschen Hauptformen zwô und zwuo zurück. Das Kartenbild in Abbildung 4.22 zeigt die geografische Verteilung der verschiedenen Reflexe dieser Lautungen in den rezenten Dialekten des Untersuchungsgebietes gemäß SSA-Abfragedaten. Zur Ergänzung des Kartenbildes steht eine weitere Isoglosse aus B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39, Karte 9) zur Verfügung, die in die Analyse mit aufgenommen wurde. Der Großteil des Untersuchungsgebietes wird durch die Realisierungen [o(:)] im Süden und Westen sowie [ua] im Norden und Osten eingenommen. Im äußersten Nordosten schließt sich ein Gebiet mit der Realisierung [OI] an, das aber zahlreiche Einzelbelege der westlich benachbarten Hauptform [ua] beinhaltet. Der südöstliche Teil ist gemäß SSA-Abfragedaten größtenteils durch die Realisierung [O5] geprägt, neben der aber etliche [o(:)]-Einzelbelege vorkommen. So zählen B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39, Karte 9) dieses Teilstück noch zum geschlossenen [o(:)]-Gebiet. Offenbar hat also im Laufe des 20. Jahrhunderts in diesem Gebiet, aber auch im nördlich angrenzenden [ua]-Gebiet, die Realisierungsform [O5] deutlich zugenommen. Vermutlich handelt es sich dabei um eine im Onglide weiter geöffnete Variante der Hauptform [ua]. Die Realisierung [OI] scheint sich vor allem im [ua]- und [O5]-Gebiet auszubreiten. Im geschlossenen

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Die Realisierung von mhd. ei

[o(:)]-Gebiet treten in erster Linie Belege des standardnahen Diphthongs [aI] auf. Aus dem Befund der Kartierung geht also hervor, dass im Westen der Diphthong [aI] und im Osten der Diphthong [OI] Ausbreitungstendenzen aufweisen. Im Südosten scheint sich der Diphthong [O5] zunehmend zu verfestigen. Insgesamt ist die Variation sehr ausgeprägt und lässt vermuten, dass zum Ende des 20. Jahrhunderts im Dialektwissen der Sprecher Unsicherheiten hinsichtlich der korrekten Laut-GenusZuweisung vorherrschten bzw. das Wissen hierzu bereits zu einem erheblichen Teil verloren gegangen war. Die spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 4.23 aufgetragen sind, bestätigen größtenteils die Tendenzen, die sich bereits in den Abfragedaten des SSA andeuteten. In den spontansprachlichen Daten ist die Realisierung [aI] besonders im westlichen Teil des Untersuchungsgebietes zahlreich vertreten und weist darüber hinaus im Osten etliche Belege auf. Dort ist der Diphthong [OI] die vorherrschende Form und deckt jene Region ab, in der bereits in den SSA-Abfragedaten [OI]-Einzelbelege auftraten. Die Form [o(:)] konzentriert sich besonders im Südwesten ihres traditionellen Verbreitungsgebietes und ist weiterhin im übrigen Untersuchungsgebiet vertreten. Von einer zunehmenden Ausbreitung dieser Realisierung kann aber nicht ausgegangen werden, da sie selbst in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet nicht mehr die dominante Form darstellt. Sie wird hier nur noch in 34,4 % (45) der Fälle verwendet, gegenüber der gebräuchlicheren Standardvariante [aI], die in diesem Gebiet eine Häufigkeit von 58 % (76) aufweist. Das Auftreten von [o(:)]-Einzelbelegen außerhalb ihres traditionellen Verbreitungsgebietes könnte möglicherweise auf deren sporadischen Gebrauch im gesprochenen Deutsch zurückzuführen sein. Besonders dramatisch stellt sich der Rückgang der Realisierung [ua] dar. In ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet ist diese nur noch an drei Ortspunkten mit insgesamt sechs Tokens vertreten. Ersetzt wird sie hauptsächlich durch den Diphthong [OI]. Dieser besitzt innerhalb des tradionellen [ua]-Gebietes eine Gebrauchshäufigkeit von 47,4 % (64) und ist damit einflussreicher als die Realisierung [aI] mit 29,6 % (40). Das südöstliche Gebiet, in dem gemäß SSA-Abfragedaten hauptsächlich die Realisierung [O5] auftritt, kann in den spontansprachlichen Daten nicht mehr nachgewiesen werden. Wie im [ua]-Gebiet, so ist auch hier der Diphthong [OI] zur vorherrschenden Realisierungsform geworden. [O5]-Belege finden sich nur sehr vereinzelt zwischen Rottweil und Böblingen, also im traditionellen [O5]-Gebiet für die Reflexe von mhd. ei. Insgesamt entsteht hinsichtlich der Lautwandelprozesse im Lexem „zwei + Femininum“ also ein ähnlicher Eindruck wie bei „zwei + Maskulinum“. Die Sprecher scheinen sich bei der Wahl der Realisierungsformen an den lautgeografischen Verhältnissen der Reflexe von mhd. ei zu orientieren, d. h. sie realisieren im westlichen Untersuchungsgebiet zunehmend die Form [aI] und im östlichen die Form [OI]. Die traditionelle Form [o(:)] weist hauptsächlich im südwestlichen Untersuchungsgebiet noch eine etwas höhere Gebrauchsfrequenz auf. Die restlichen Variablen spielen aufgrund ihrer geringen Tokenfrequenz kaum noch eine Rolle bei den stattfindenden Lautwandelprozessen. So zeigt der quantitative Befund, dass von den im Spontankorpus belegten neun Realisierungsformen allein 94,0 % auf [aI] (42,7 % [121]), [OI] (27,6 % [78]) und [o(:)] (23,7 % [67]) entfallen. Was die Koppelung von

Abb. 4.22: Phonologische Realisierungen im Lexem zwei (+ Femininum) gemäß SSA-Abfragedaten und B OHNENBERGER / S CHÖLLER (1938/39, Karte 9).

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

203

Abb. 4.23: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die phonologischen Realisierungen im Zahlwort zwei (+ Femininum).

204 Die Realisierung von mhd. ei

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

205

lautlicher Realisierung und Genus angeht, kann davon ausgegangen werden, dass diese im Südwesten des traditionellen [o(:)]-Gebietes noch einen gewissen Bestand hat. Durch die stark ausgeprägte Auflösung der traditionellen Lautverhältnisse im übrigen Gebiet, muss davon ausgegangen werden, dass die Sprecher die lautlichen Realisierungsformen [aI] und [OI] als Einheitsformen, ohne Assoziation mit dem Genus des Bezugsnomens verwenden.

4.3.6.4 Gesamtanalyse zum Lexem zwei Das Lexem zwei kommt nicht nur in den bisher genannten Kontexten vor (neutrales, maskulines und feminines Bezugsnomen). Diese machen am gesamten spontansprachlichen Korpus mit 43 % (1197) knapp die Hälfte aus. Die übrigen 57 % (1600) sollen in diesem Abschnitt in die Analysen mit einfließen. Um einen Gesamteindruck von der Entwicklung zu bekommen, sind in Abbildung 4.24 alle spontansprachlichen Daten für das Lexem zwei aufgetragen, allerdings ohne die Tokens mit maskulin und feminin markierten Kontexten. Auf diese Weise soll deutlich werden, inwieweit diese beiden Formen auch außerhalb ihrer traditionellen Kontexte gebraucht werden. Als Referenzgröße wurde zusätzlich die SSA-Isoglosse für den Kontext „zwei + Neutrum“ eingezeichnet. Aus der Kartierung geht hervor, dass sich die Distribution der spontansprachlichen Daten in etwa an der aufgetragenen Isoglosse ausrichtet, gemäß der für die Reflexe von mhd. ei generell geltenden westöstlichen Dreiteilung [aI] – [O5] – [OI]. Bezüglich der in Frage stehenden Lautungen [e(:)] und [o(:)], die für die Kontexte „zwei + Maskulinum“ und „zwei + Femininum“ gelten, kann dem Kartenbild entnommen werden, dass diese weiterhin vorhanden sind und ganz im Südwesten, im zentralschwäbischen Raum sowie im nordwestlichen Bereich zwischen Offenburg und Baden-Baden Cluster bilden. In quantitativer Hinsicht ergibt sich, dass im kartierten Datenkorpus der Anteil an [e(:)]-Tokens 4,6 % (93) beträgt. Der Anteil an [o(:)]-Tokens beläuft sich auf einen etwas niedrigeren Anteil von 3,1 % (62). Damit liegen die Anteile der beiden Lautwerte deutlich unter denjenigen, die in den Kontexten mit dazugehörigem Nomen im Maskulinum (Anteil [e(:)]: 22,5 % [113]) oder Femininum (Anteil [o(:)]: 23,3 % [67]) vorliegen. Offensichtlich werden diese Formen von den Sprechern also durchaus noch dem entsprechenden Genus zugeordnet, andererseits zeigt sich aber auch, dass die Realisierungen über die traditionell gültigen Kontexte hinaus willkürlich verwendet werden. Betrachten wir nun das spontansprachliche Gesamtkorpus für das Lexem zwei (inklusive aller Kontexte) in Hinblick auf die darin zu beobachtenden Wandelprozesse:89 Das traditionelle [O5]-Gebiet weist darin starke Variation auf. Nur noch 12,7 % (95) der Tokens werden gemäß der traditionellen Form realisiert. Als Ersatzform dient hauptsächlich der standardnahe Diphthong [aI], dessen Anteil in diesem 89

Das dazugehörige Kartenbild unterscheidet sich nur geringfügig von demjenigen in Abbildung 4.24, weswegen es hier nicht gesondert dargestellt wird. Der einzig auffällige Unterschied besteht in der Anzahl der [e(:)]- und [o(:)]-Tokens, die in der Gesamtkartierung höher ist, sich bezüglich der geografischen Distribution aber beinahe gleich verhält.

Abb. 4.24: Vergleich der SSA-Abfragedaten (zwei + Neutrum) mit dem Gesamtkorpus der spontansprachlichen Daten (ohne zwei + Maskulinum und zwei + Femininum) für die phonologischen Realisierungen im Zahlwort zwei.

206 Die Realisierung von mhd. ei

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Gebiet 66,7 % (498) beträgt. Der schwäbische Diphthong [OI] spielt mit 7,2 % (54) als Ersatzlaut eine eher untergeordnete Rolle und kommt hauptsächlich in unmittelbarer Isoglossennähe im nördlichen [O5]-Gebiet vor. Das traditionelle [OI]-Gebiet erscheint mit 66,0 % (496) [OI]-Tokens sehr viel stabiler als das [O5]-Gebiet. Als Ersatzlaut dient hier größtenteils der standardnahe Diphthong [aI], der zu 22,3 % (168) auftritt. Das traditionelle [aI]-Gebiet ist relativ homogen. Allerdings weist es im südlichsten Teil relativ starke Variation auf. Neben den hier frequenter auftretenden [e(:)]- und [o(:)]-Belegen sind weiterhin die Diphthonge [OI] und [øI] belegt. Für das Lexem zwei kann weiterhin der morphologische Kontext und sein Einfluss auf die phonologische Realisierung näher betrachtet werden. Das Gesamtkorpus zum Zahlwort zwei besteht aus ca. 15 % (412) morphologisch komplexen Wortformen, die sich im Wesentlichen aus Komposita (besonders komplexe Zahlwörter [= komplexe Kardinalzahlen] und Jahreszahlen) sowie Derivationen zusammensetzen. Neben diesen wortbildungsmorphologisch komplexen Wortformen sind im Korpus weiterhin Konversionen (z. B. die Zwei da), Ordinalzahlen (z. B. der zweite Mann) sowie syntaktisch verfestigte Phrasen vertreten (z. B. Zweiter Weltkrieg), die hinsichtlich ihres phonologischen Verhaltens ebenfalls analysiert werden.90 Kommen wir zunächst zu den Komposita und Derivationen (vgl. Abbildung 4.25).91 Die drei Gruppen der Komposita tendieren (mit Ausnahme der Jahreszahlen im [OI]Gebiet) stärker zur standardnahen Realisierung als Simplizia. Die Differenzen treten im traditionellen [O5]-Gebiet deutlicher in Erscheinung. Die Jahreszahlen (nach dem Muster XXX2) erscheinen gegenüber den komplexen Zahlwörtern und den sonstigen Komposita weniger anfällig gegenüber der standardnahen Realisierung. Dies widerspricht dem Befund für das Zahlwort neun, das bei der Einbettung in Jahreszahlen (nach demselben Muster XXX9) die höchste Abweichung gegenüber komplexen Zahlwörtern und sonstigen Zahlenkomposita aufweist (siehe Tabelle 3.17 in Kapitel 3.5.3.1.). Neben den Komposita werden auch Derivationen weit häufiger standardnah realisiert als Simplizia. Wie Komposita und Derivationen, so neigen auch (nicht komplexe) Ordinalzahlen stärker zur standardnahen Realisierung als Simplizia (= nicht komplexe Kardinalzahlen). Dies verwundert, da Ordinalzahlen, schon allein aufgrund ihrer hohen Tokenfrequenz nicht als okkasionelle Übernahmen aus dem Standard gelten, sondern als fest im Dialekt verankerte Formen. Zumindest für die sehr frequenten [aI]-Realisierungen im traditionellen [O5]-Gebiet könnte hierfür eine mögliche Erklärung der phonetische Kontext sein. So tritt als nachfolgender Konsonant bei den Ordinalzahlen regelhaft der alveolare Plosiv [t] auf. Die Realisierung des ausgleitenden Diphthongs [O5] vor [t] würde einen höheren artikulatorischen Aufwand erfordern als die Realisierung von eingleitendem [aI]. Bei [aI] wäre der Offglide 90

91

In dieser Arbeit werden Konversionen den Simplizia zugerechnet, da sie ohne formale Wortbildungsmittel entstehen und im engeren Sinne nicht als morphologisch komplex gelten. In Tabelle 4.25 werden sie aber von den Simplizia unterschieden, da sie recht häufig im Korpus auftreten und ihr Verhalten deswegen gesondert betrachtet werden soll. Komposita sind im Diagramm in drei Gruppen aufgeteilt: 1) Jahreszahlen, 2) komplexe Zahlwörter im Sinne von komplexen Kardinalzahlen (z. B. hundertzweiundfünfzig) sowie 3) sonstige Komposita, die zumeist transparente Wortbildungen darstellen (z. B. zweirädrig).

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Die Realisierung von mhd. ei

Abb. 4.25: Prozentuale Anteile der Realisierung [aI] in Abhängigkeit vom morphologischen Kontext im Lexem zwei. annähernd homorgan mit folgendem [t], wodurch die Selektion dieses Diphthongs bevorzugt werden würde. Für das [OI]-Gebiet greift diese Argumentation nicht, da hier bereits ein Diphthong mit eingleitendem Offglide im Dialekt verankert ist. Dies dürfte auch der Grund sein, weswegen hinsichtlich des [aI]-Anteils die Differenz zwischen Simplizia (Kardinalzahlen) und Ordinalzahlen im [O5]-Gebiet bei 31,5 % liegt, während diese im [OI]-Gebiet nur 10,1 % beträgt. Zuletzt seien noch die Konversionen erwähnt ([die] Zwei). Diese verhalten sich ähnlich wie Simplizia und führen innerhalb des [OI]-Gebietes sogar zu einer besonders hohen Stabilität des traditionellen Diphthongs. Insgesamt geht aus dem Diagramm also hervor, dass morphologisch komplexe Wortformen tendenziell standardnäher realisiert werden als nicht komplexe. Bei den komplexen Wortformen (sonstige Komposita und Derivationen) lohnt sich ein genauerer Blick in das Korpus der konkreten Types. In Tabelle 4.6 wurden diejenigen aufgenommen, die mindestens durch drei Tokens vertreten sind. Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass besonders die Types zweideutig, zweitens und Zweiradkarren zur Erhöhung des [aI]-Anteils beitragen. Alle Tokens werden durchgehend standardnah realisiert, was wohl auf deren Entlehnung aus dem Standard zurückzuführen ist. Der Anteil an [aI]-Tokens in den übrigen Types ist im Vergleich mit dem durchschnittlichen Anteil in morphologisch komplexen Kontexten eher durchschnittlich. Diejenigen komplexen Types, in die eine Ordinalzahl eingebettet ist, weisen durchgehend die Realisierung [aI] auf. Wie bereits oben gezeigt wurde, neigen Ordinalzahlen ohnehin sehr stark zur standardnahen Realisierung. Die Einbet-

4.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

Wortform zweirädrig zweitältest, - höchst, -letzt zweierlei zweieinhalb zweideutig zweitens Zweiradkarren

[O5]-Gebiet 4 von 4 3 von 4 3 von 4 3 von 3 3 von 3 3 von 3

209

Anteil [aI]-Tokens [OI]-Gebiet 2 von 11 0 von 1 3 von 8 1 von 1 1 von 1 1 von 1

Tab. 4.6: Anteile an standardnahen Realisierungen [aI] in Komposita und Derivationen mit dem Lexem zwei (außer komplexe Zahlwörter [= komplexe Kardinalzahlen] und Jahreszahlen). Aufgeführt sind Types mit mindestens drei Tokens. tung in ein ebenfalls stark zur Standardlautung neigendes Kompositum (zweitältest, -höchst, -letzt) scheint aber einen Synergieeffekt auszulösen, der die dialektale Lautung vollständig verdrängt. Letztendlich bleibt jedoch ungeklärt, ob es sich dabei nicht einfach um En-bloc-Entlehnungen aus dem Standard handelt, so wie dies bei der opaken Derivation zweitens anzunehmen ist.

Phrase Zweiter (Welt)krieg zu zweit

[O5]-Gebiet 100 % (9) 100 % (6)

Anteil [aI]-Tokens [OI]-Gebiet 57,1 % (4) 11,1 % (2)

Tab. 4.7: Anteile standardnaher [aI]-Tokens in festen Phrasen mit dem Lexem zwei. Neben den morphologisch komplexen Wortformen im spontansprachlichen Korpus, konnten weiterhin zwei feste syntaktische Phrasen identifiziert werden: Zweiter (Welt)-krieg und zu zweit (siehe Tabelle 4.7). Bei beiden handelt es sich um Entlehnungen aus dem Standarddeutschen. Innerhalb des [O5]-Gebietes wird dies bestätigt, da die Phrasen größtenteils samt der standardsprachlichen Lautung in den Dialekt übernommen wurden. Im [OI]-Gebiet greift dieses Argument allerdings nicht, besonders nicht im Fall der Phrase zu zweit, die hauptsächlich den Diphthong [OI] beinhaltet. Diese Tatsache weist darauf hin, dass Entlehnungen im entsprechenden zentralschwäbischen [OI]-Gebiet in geringerem Maße an die standardnahe Lautung [aI] gekoppelt sind. Für die Gesamtanalyse des Lexems zwei lässt sich nach obigen Befunden zusammenfassen, dass sich der Lautwandel im traditionellen [O5]-Gebiet in den spontansprachlichen Daten besonders deutlich bemerkbar macht. Von allen Lexemen (mit Ausnahme des Substantivs Fleisch) neigt das Lexem zwei sowohl im traditionellen [O5]- als auch [OI]-Gebiet am stärksten zur Übernahme der standardnahen Form

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Die Realisierung von mhd. ei

[aI]. Umgekehrt werden im Lexemvergleich die dialektalen Lautungen [O5] und [OI] am stärksten abgebaut. Die Wandeltendenz zur standardnahen Realisierung [aI] im [O5]-Gebiet ist um etwa das Dreifache stärker ausgeprägt als im [OI]-Gebiet. Als Ersatzlaut dient in beiden Gebieten in erster Linie der standardnahe Diphthong [aI], während von den dialektalen Varianten der Diphthong [OI] im nordwestlichen Untersuchungsgebiet sowie nordöstlich des Bodensees eine gewisse Rolle spielt. Auch die traditionellen Formen [e(:)] und [o(:)] sind zu erwähnen, da sie von den Sprechern zu einem großen Teil abgekoppelt von jeglicher Genuskongruenz gebraucht werden.

4.4 GESAMTDARSTELLUNG DER WANDELPROZESSE Nach ausführlicher Darstellung der Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen soll im Folgenden eine Gesamtschau der Ergebnisse vorgenommen werden. Dies wird zunächst in Form eines aggregierten Real-Time- sowie Apparent-Time-Vergleichs geschehen. Daraufhin wird die Gebrauchshäufigkeit der drei den Lautwandel bestimmenden Hauptformen [aI], [O5] und [OI] anhand von Interpolationen dargestellt. Anschließend wird die Variation der spontansprachlichen Daten in drei Tabellen quantitativ zusammengestellt, um daraus Aussagen zur lexikalischen bzw. morphologischen Steuerung der Lautwandelprozesse abzuleiten. Schließlich wird der kausale Zusammenhang der Lautwandelprozesse mit den Reflexen von mhd. î und iu diskutiert.

4.4.1 Real-Time-Vergleich In Abbildung 4.26 ist der Vergleich zwischen Wenker- und SSA-Abfragedaten aufgetragen.92 Von besonderer Auffälligkeit sind die annähernd deckungsgleich verlaufenden Isoglossenbündel W ENKERS und des SSA, die die nördliche Hälfte des [O5]-Gebietes umgeben und eine scharfe Dreiteilung des Untersuchungsgebietes schaffen. Einzig die innerhalb des [O5]-Gebietes verlaufenden Isoglossen des Lexems Fleisch stören das einheitliche Bild. Für den nördlichsten Teil bleibt unklar, ob Wenker- und SSA-Abfragedaten übereinstimmen, da dieser Bereich außerhalb des Erhebungsgebietes des SSA liegt. In seiner südlichen Hälfte verliert das [O5]Gebiet an Einheitlichkeit. Hier treten lexikalisch bedingt zur Lautung [O5] die Monophthonge [o(:)]/[O(:)] im westlichen Teil hinzu (Lexeme heim, heiß [Adjektiv], zwei [+ Neutrum]) sowie im östlichen Teil die Realisierung [ua] (Lexem heim). Die monophthongischen Realisierungsgebiete der Lexeme heim und zwei verhalten sich 92

Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden in die Kombinationskarte keine Einzelbelege (weder nach W ENKER noch nach SSA) einbezogen. Aufgetragen sind also nur diejenigen Realisierungen, die W ENKER klar durch Isoglossen abgrenzt, bzw. die in den Daten des SSA als relativ geschlossene Gebiete erscheinen und durch Isoglossen abtrennbar sind. Diese Vorgehensweise ist dadurch zu rechtfertigen, dass sich der Kombinationsvergleich auf die Hauptprozesse des phonologischen Wandels im Untersuchungsgebiet konzentriert.

Abb. 4.26: Vergleich der Isoglossen W ENKERS und der SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ei in den Lexemen Fleisch, Seife, heim, zwei (+ Neutrum) und heiß (Adjektiv). Zusätzlich sind die SSA-Isoglossen der Lexeme Teig und Seil aufgetragen. Einzelbelege wurden nicht berücksichtigt.

4.4 Gesamtdarstellung der Wandelprozesse

211

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Die Realisierung von mhd. ei

im Kartenvergleich recht stabil und breiten sich nördlich des Kantons Schaffhausen sogar geringfügig nach Westen aus. Das kleine, bei W ENKER noch verzeichnete Monophthong-Gebiet für das Lexem heiß (Adjektiv) südöstlich von Tuttlingen ist in den Daten des SSA hingegen verschwunden und wird hier nun (sowie im gesamten nördlichen Bodenseeraum) dem [O5]-Gebiet zugerechnet. Für die beiden Lexeme Teig und Seil gilt entsprechendes. Wie sich im Gesamtvergleich also zeigt, ist die monophthongische Realisierungform in ihrem Auftreten lexikalisch gesteuert und vor allem an das Lexem heim gebunden. Noch exklusiver als die monophthongische Realisierung ist die diphthongische Lautung [ua], die ebenfalls an das Lexem heim gekoppelt ist. Dieses Lexem stellt den einzigen lexikalischen Kontext dar, in dem die Lautung [ua] ein geschlossenes Gebiet konstituiert. Neben dem nördlichen Bodenseeraum findet sich lexemübergreifende Variation im nordwestlichen Untersuchungsgebiet, genauer: in der Region zwischen Offenburg und Baden-Baden. Hier ist bei W ENKER für die Lexeme Fleisch und heiß die sehr kleinräumige monophthongische Lautung [E:] verzeichnet. In den SSAAbfragedaten taucht diese in Form von Einzelbelegen noch auf, auch in den übrigen Lexemen (außer heim). Geschlossene Gebiete bildet nun aber in erster Linie der Diphthong [eI], und zwar in den Lexemen Fleisch, heim und zwei (+Neutrum). Daneben taucht die Realisierung [e:] in Form zahlreicher Einzelbelege und eines geschlossenen Gebietes für das Lexem heim auf. Es bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten zu diesem variationsreichen Bild auf kleinem Raum. Zum einen könnte es sich tatsächlich um einen Lautwandel von [E:] zu [e:] bzw. [eI] handeln. Zum Zweiten ist denkbar, dass die monophthongische Realisierung [E:]/[e:] in dieser Region eine sporadisch (im Lexem heim stellenweise regelhaft) auftretende Reliktform darstellt, die aber zunehmend durch den Extremdiphthong [aI] (der sowohl die benachbarte dialektale Form als auch die Standardvariante darstellt) beeinflusst wird. Der Diphthong [eI] könnte dabei als Kompromissform zwischen den beiden Polen Monophthong und Extremdiphthong fungieren. Es verwundert allerdings, dass diese Kompromissform auch außerhalb der kleinräumigen Monophthong-Gebiete realisiert wird. Wir werden auf diesen Befund im folgenden Abschnitt zurückkommen.

4.4.2 Apparent-Time-Vergleich Abbildung 4.27 zeigt den zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und den spontansprachlichen Daten. Die kombinierte Kartierung der spontansprachlichen Daten bietet keine Überraschungen, sondern bestätigt das in allen Einzellexemanalysen konsistent entstandene dreigliedrige Raumbild, das durch die großräumigen Variablen [aI], [O5] und [OI] bestimmt wird. Besonders innerhalb des [O5]-Gebietes herrscht deutliche Variation, in dessen nördlichem Teil vornehmlich mit den Diphthongen [aI] und [OI], im mittleren Teil fast ausschließlich mit [aI], und im südlichen Teil mit [aI] und der monophthongischen Realisie-

Abb. 4.27: Vergleich der SSA-Abfragedaten und der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ei in den Lexemen Fleisch, Seife, Teig, Seil, heim, zwei (+ Neutrum), heiß (Adjektiv) und heiß(en) (Verb).

4.4 Gesamtdarstellung der Wandelprozesse

213

214

Die Realisierung von mhd. ei

rung [o(:)]/[O(:)].93 Das im nordöstlichen Bodenseeraum für das Lexem heim gemäß SSA-Abfragedaten noch vertretene [ua]-Gebiet ist in den spontansprachlichen Daten nicht mehr nachweisbar. Quantitativ beträgt der Anteil an [O5]-Realisierungen innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes noch 53,3 % (507). Somit ist die Variation in diesem Gebiet maximal, was bedeutet, dass sich der Abbauprozess des traditionellen Diphthongs [O5] in seiner intensivsten Phase befindet. Das traditionelle [OI]-Gebiet erscheint hingegen sehr stabil, besonders in seinem südlichen und östlichen Teil. Als Ersatzlaut dient hauptsächlich der standardnahe Diphthong [aI]. Quantitativ ist der Anteil an [OI]-Diphthongen in seinem traditionellen Gebiet mit 87,8 % (1213) noch ausgesprochen hoch. Ein möglicher Lautwandel hin zur standardnahen Realisierung stünde somit also noch in seiner Anfangsphase. Wie in den Analysen zu den einzelnen Lexemen wird zudem das Auftreten des Diphthongs [OI] außerhalb seines traditionellen Verbreitungsgebietes im Nordwesten und Südosten des Untersuchungsgebietes deutlich. Die Ausbreitung ging besonders aus den Analysen zu den beiden Lexemen heim und heiß(en) hervor (siehe Abschnitte 4.3.3 und 4.3.5) und deutet auf die Herausbildung einer regionalsprachlichen Form hin. Die Entwicklung dieser regionalen Sprechweise steht womöglich unter dem Einfluss des sog. Honoratiorenschwäbisch, in dem ebenfalls der Reflex [OI] für mhd. ei verwendet wird (vgl. E NGEL 1962; F REY 1975). Für diese Interpretation sprechen auch die Forschungsergebnisse von RUOFF (1992, 109), aus denen der Einfluss eines an Stuttgart orientierten Regionalstandards im alemannisch-fränkischen Übergangsgebiet (= nordwestliches Untersuchungsgebiet) hervorgeht. Als weiteres Variationsgebiet fällt das Gebiet zwischen Offenburg und Baden-Baden auf. Aus dem zusammenfassenden Real-Time-Vergleich ging die Vermutung hervor, dass es sich bei den hier vorgefundenen [eI]-Belegen um Kompromissformen zwischen der monophthongischen Lautung [E:] bzw. [e:] und dem Exremdiphthong [aI] handeln könnte. Im Real-Time-Vergleich blieb eine Erklärung für das Auftreten dieser Kompromissformen auch außerhalb der sehr kleinräumigen Monophthong-Gebiete aus. Aus den spontansprachlichen Daten geht hervor, dass die monophthongischen Lautungen ebenfalls außerhalb der ihnen durch Wenker- und SSA-Abfragedaten zugesprochenen Gebiete vorkommen und hier (zum Teil an einem Ortspunkt) in Variation mit den Diphthongen [aI] und [eI] vertreten sind. Das gleiche Phänomen zeigt sich ansatzweise im äußersten Südwesten. Auch hier variieren die drei Diphthonge in einem recht kleinen Gebiet miteinander. Eine sichere Interpretation dieses Phänomens gestaltet sich schwierig; möglicherweise handelt es sich bei den spontansprachlichen [e(:)]-Monophthongen um Allegroformen des Diphthongs [eI].

93

Nicht alle spontansprachlichen Belege für das hochfrequente Lexem zwei wurden in das Korpus aufgenommen. Dies hätte die Problematik mit sich geführt, dass der lexemübergreifende Anteil an [O5]-Tokens in dessen traditionellem Gebiet relativ gering erschienen wäre. Um eine bessere lexemübergreifende Diskussion zu ermöglichen, wurden für das Lexem zwei nur diejenigen Tokens aufgenommen, die den syntaktischen Kontext „zwei + Neutrum“ besitzen. Somit erhält das Lexem zwei weniger Gewicht, was wiederum zu einer höheren quantitativen Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Lexemen sowie einem realistischeren Gesamteindruck hinsichtlich der Realisierung von mhd. ei führt.

4.4 Gesamtdarstellung der Wandelprozesse

215

4.4.3 Interpolationen Um die Gebrauchshäufigkeit der drei Hauptrealisierungen [aI], [O5] und [OI] im Untersuchungsgebiet sowie ihre geografische Distribution besser sichtbar zu machen, sind zu diesen in Abbildung A.4 Interpolationen dargestellt.94 Die interpolierten Daten der standardnahen Realisierungsform [aI] weisen in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet im Westen die höchste Gebrauchshäufigkeit auf, die stellenweise, besonders in der Region um Freiburg, nahezu 100 % beträgt. Nach Osten hin ist die Gebrauchshäufigkeit in drei nord-südlich verlaufenden Gebieten abgestuft. Der sich östlich anschließende, schmale grün-gelbliche Streifen signalisiert den recht abrupten Übergang zu einer Gebrauchshäufigkeit von 60 %. Weniger abrupt ist der Übergang in einem Gebiet zwischen Konstanz und VillingenSchwenningen. Hier ist die Gebrauchshäufigkeit von [aI] recht hoch und fällt erst weiter östlich deutlich ab. An den grün-gelblichen Streifen schließt sich eine durch ein hellblaues Band symbolisierte Zone mit einer Gebrauchshäufigkeit von ca. 30– 40 % an. Östlich einer Linie Ravensburg-Tübingen ist der Extremdiphthong [aI] nicht mehr dominierend und sinkt in seiner Gebrauchshäufigkeit auf unter 20 %, besonders im Raum Biberach. Die Interpolation für die Realisierungsform [OI] zeigt, dass besonders der Raum Biberach durch diesen Diphthong charakterisiert ist. Auch die übrigen Teile des östlichen Untersuchungsgebietes werden nahezu flächendeckend zu mindestens 70 % von der Realisierung [OI] geprägt. Der Übergang zu einer Gebrauchshäufigkeit von unter 10 % (dunkelblaue Färbung) ist abrupt. Auch hier zeigt sich also, dass die [O5]- und [OI]-Gebiete in der Spontansprache scharf voneinander getrennt sind. Die Variable [O5] fügt sich in das breite hellblaue Übergangsgebiet der Realisierung [aI] ein und kommt (bei Einbezug aller Tokens für das Lexem zwei) auf eine maximale Gebrauchshäufigkeit von ca. 50 % südöstlich von Freudenstadt. In einem türkisfarbenen Bereich um diese Kernzone herum beträgt die Gebrauchshäufigkeit noch ca. 40 %. Im nördlichen Bodenseeraum ist die Realisierung [O5] schließlich nur noch mit einer Tokenfrequenz von etwa 20 % vertreten. Da der Einbezug aller Belege des Lexems zwei in das Gesamtkorpus vor allem Auswirkungen auf den Grad der Variation innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes hat, wurde ein weiterer Plot erstellt, der in Abbildung A.4 rechts unten zu sehen ist. In diesem wurde von der Grundmenge aller Tokens der Großteil des frequenten Lexems zwei abgezogen und nur diejenigen Belege mit dem Kontext „zwei + Neutrum“ in das Gesamtkorpus integriert. Dadurch ist zu erkennen, dass die Gebrauchshäufigkeit innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes flächendeckend um ca. 20 % ansteigt. Halten wir fest: Die dargestellten Interpolationen konnten veranschaulichen, in welchen Gebieten die jeweiligen Hauptformen besonders stark vertreten sind. Für 94

Als Datengrundlage diente das Gesamtkorpus der spontansprachlichen Tokens, inklusive aller Belege für das Lexem zwei. Da hierdurch der Anteil an [O5]-Tokens im traditionellen [O5]Gebiet bedeutend sinkt, wurde zu dieser Realisierungsform ein zweiter Plot angefertigt, bei dem das Lexem zwei nur durch den Kontext „zwei + Neutrum“ im Gesamtdatenkorpus vertreten ist.

216

Die Realisierung von mhd. ei

[aI] ist dies tendenziell der Raum um Freiburg, für [OI] der östlichste Teil des Untersuchungsgebietes um Biberach, und für die rückläufige Realisierung [O5] ein kleines Gebiet zwischen Freudenstadt, Tübingen und dem Schwarzwald-Baar-Kreis. Weiterhin ließ sich erkennen, dass sich die Variable [OI] scharf nach außen abgrenzt, während sich die frequenteste Realisierung [aI] über ihr traditionelles Verbreitungsgebiet hinaus weit nach Osten erstreckt und dabei in erster Linie die traditionelle Realisierung [O5] ersetzt.

4.4.4 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität Nach der zusammenfassenden Darstellung der geografischen Distribution der drei Hauptformen sollen in den folgenden Tabellen die in der bisherigen Beschreibung erwähnten quantitativen Angaben zur Variation nochmals zusammengestellt werden. Dies ermöglicht einen Vergleich der Variationsverhältnisse in den unterschiedlichen lexikalischen sowie morphologischen Kontexten, in denen die Reflexe von mhd. ei auftreten, und erlaubt folglich Aussagen zur lexikalischen und morphologischen Beeinflussung des Lautwandels. Die Variation wird für die beiden dialektalen Realisierungsgebiete [O5] und [OI] beschrieben, da in diesen die Variation im Gegensatz zum traditionellen [aI]-Gebiet deutlich hervortritt. Das [aI]-Gebiet selbst wird aufgrund seiner Stabilität und dem Fehlen von Hinweisen auf einen zielgerichtet sowie flächendeckend stattfindenden Lautwandel nicht näher betrachtet. In Tabelle 4.8 sind die Anteile der Realisierungen [O5] und [OI] innerhalb ihrer jeweiligen traditionellen Verbreitungsgebiete zusammengestellt. Innerhalb des [O5]-Gebietes wird die starke lexikalische Steuerung des Lautwandels ersichtlich. Mit Abstand am stärksten abgebaut wurde die traditionelle Lautung demnach in den Lexemen Fleisch und zwei. Demgegenüber stehen alle weiteren Lexeme, in denen gut zur Hälfte die Realisierung [O5] verwendet wird. Wie lassen sich diese Unterschiede interpretieren? Eine semantische Deutung würde sich anbieten, da die konservativere Gruppe der Lexeme Konzepte bezeichnet, die im Alltagsleben der Gewährspersonen verankert sind. Somit darf eine besonders starke Einbettung dieser Lexeme in das Dialektrepertoire angenommen werden. Anders verhält es sich mit dem Zahlwort zwei: Dieses ist zwar auch fest in das Dialektrepertoire eingebunden, doch dürften aufgrund seiner äußerst hohen Tokenfrequenz und der abstrakteren Bedeutung, die zudem in die verschiedensten morphologischen Kontexte eingebettet werden kann, Übernahmen aus dem Standard wahrscheinlicher sein. Beim Lexem Fleisch versagt die semantische Interpretation. Wie allerdings aus der Analyse zu diesem Lexem bereits hervorging, handelt es sich hinsichtlich der Ausprägung der Realisierungsform [O5] ohnehin um einen lauthistorischen Sonderfall (vgl. Kapitel 4.3.1). Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Variation innerhalb des [O5]-Gebietes maximal (d. h. 50:50) beträgt, wenn nicht alle Tokens des Lexems zwei in die Analyse einbezogen werden. Ganz anders verhält es sich mit den quantitativen Verhältnissen im [OI]-Gebiet. Hier ist der Anteil der traditionellen Lautung mit gut 80 % weit höher als im [O5]-Gebiet. Eine starke lexikalische Steuerung der lautlichen Variation ist kaum erkennbar. Bestenfalls das Zahlwort zwei (wenn alle

217

4.4 Gesamtdarstellung der Wandelprozesse

Anzahl Ortspunkte [O5][OI]Gebiet Gebiet 11 25

Anteil traditioneller Realisierungen [O5][OI][O5][OI]Gebiet Gebiet Gebiet Gebiet 30 67 0% 80,6 %

zwei (alle Tokens) nur Kontext „zwei + Neutrum“ heiß (Verb) Seil

92

75

747

752

54

43

114

92

99

63

309

566

16

15

45

31

heim

54

67

259

371

Fleisch

Anzahl Tokens

(0) (95)

29

3

3

4

9

Teig

31

33

168

216

109

84

1584

2041

101

80

951

1381

(zwei: alle Tokens)

GESAMT (zwei: nur „zwei + Neutrum“)

(324)

59,1 % 89,7 % (13)

(26)

(3)

(7)

76,2 % 88,0 % (128)

GESAMT

(26)

55,2 % 87,3 % (143)

22

(510)

53,3 % 83,9 % (24)

18

(76)

55,0 % 90,1 % (170)

11

(496)

22,8 % 82,6 % (26)

heiß (Adjektiv) Seife

(54)

12,7 % 66,0 %

(190)

36,4 % 80,0 % (576)

(1633)

53,3 % 87,8 % (507)

(1213)

Tab. 4.8: Vorkommenshäufigkeit der traditionellen Formen innerhalb des [O5]- und des [OI]-Gebietes. Die Lexeme sind nach ihrem Anteil an traditionellen Realisierungen im [O5]-Gebiet angeordnet. Die Angaben beziehen sich auf Simplizia und komplexe Wortformen. Prozentangaben sind nur bei einer Grundmenge von mindestens 10 Tokens aufgeführt.

218

Die Realisierung von mhd. ei

Anteil [aI]-Tokens im [O5]-Gebiet Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

Fleisch

11

30

96,7 %

92,9 %

100 %

(29)

(13)

(16)

Seife

3

4

0%

0%

0%

Teig

31

168

20,8 %

14,5 %

38,6 %

(35)

(18)

(17)

42,2 %

55,7 %

22,2 %

(19)

(15)

(4)

24,3 %

22,6 %

26,2 %

(63)

(30)

(33)

31,8 %

31,8 %

-

(7)

(7)

30,1 %

30,1 %

(93)

(93)

66,7 %

64,1 %

76,1 %

(498)

(377)

(121)

60,5 %

60,5 %

-

(69)

(69)

47,0 %

45,3 %

52,5 %

(744)

(553)

(191)

33,1 %

32,8 %

34,1 %

(315)

(245)

(70)

Seil heim heiß (Adjektiv) heiß (Verb) zwei (alle Tokens) nur Kontext „zwei + Neutrum“ GESAMT

16 54 11 99 92 54 109

45 259 22 309 747 114 1584

(zwei: alle Tokens)

GESAMT (zwei: nur „zwei + Neutrum“)

101

951

-

Tab. 4.9: Angaben zum quantitativen Vorkommen der standardnahen Variable [aI] innerhalb des traditionellen [O5]-Gebietes. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen.

219

4.4 Gesamtdarstellung der Wandelprozesse

Anteil [aI]-Tokens im [OI]-Gebiet

Fleisch

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

25

67

17,9 %

18,2 %

17,4 %

(12)

(8)

(4)

Seife

3

9

-

-

-

Teig

33

216

10,2 %

5,4 %

20,6 %

(22)

(8)

(14)

6,5 %

-

0%

Seil

15

31

(2)

heim heiß (Adjektiv) heiß (Verb) zwei (alle Tokens) nur Kontext „zwei + Neutrum“ GESAMT

67 18 63 75 43 84

371 29 566 752 92 2041

(zwei: alle Tokens)

GESAMT (zwei: nur „zwei + Neutrum“)

80

1381

(0 von 29)

10,8 %

8,5 %

13,8 %

(40)

(18)

(22)

6,9 %

0%

-

(2)

(0 von 27)

6,0 %

6,0 %

(34)

(34)

22,3 %

21,3 %

27,4 %

(168)

(134)

(34)

15,2 %

15,2 %

-

(14)

(14)

13,8 %

12,8 %

17,3 %

(281)

(205)

(76)

9,2 %

7,7 %

15,4 %

(127)

(85)

(42)

-

Tab. 4.10: Angaben zum quantitativen Vorkommen der standardnahen Variable [aI] innerhalb des traditionellen [OI]-Gebietes. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Zahlenwerte sind nur bei einer zugrunde liegenden Menge von mindestens 10 Tokens aufgetragen.

220

Die Realisierung von mhd. ei

Tokens einbezogen werden) weist einen auffallend nach unten abweichenden Anteil an traditionellen Realisierungen auf. Die beiden Tabellen 4.9 und 4.10 geben einen Überblick über den Einfluss der morphologischen Komplexität auf den Anteil standardnaher [aI]-Realisierungen in den beiden Variationsgebieten. Das Gesamtergebnis, sowohl für das [O5]- als auch das [OI]-Gebiet, zeigt, dass der Anteil an [aI]-Realisierungen in morphologisch komplexen Wortformen durchschnittlich höher ist als in Simplizia. Der Unterschied fällt in der Gesamtschau nur gering aus. Doch auch die Differenzierung zwischen Lexemen bringt oft noch keine besonders großen Unterschiede. Diese können auch erst bei der Aufspaltung eines Lexems in seine genaueren morphologischen Kontexte zum Vorschein kommen. Dies wurde beispielsweise für das Lexem heim veranschaulicht, das eine deutliche Profilierung zwischen Simplizia einerseits (geringer Anteil an [aI]-Tokens) und Komposita sowie Derivationen andererseits (hoher Anteil an [aI]-Tokens) aufweist. Doch geht aus den beiden Tabellen 4.9 und 4.10 auch hervor, dass morphologische Komplexität nicht gezwungenermaßen eine Erhöhung der standardnahen Realisierungen herbeiführt. In einigen Fällen tendieren morphologisch komplexe Wortformen nämlich stärker zur dialektalen Lautung als Simplizia. Besonders auffällig ist dies im Falle des Lexems Seil im traditionellen [O5]Gebiet. Wie in der Beschreibung dieses Lexems deutlich wurde, wird diese Stabilität durch das Derivat Seiler hervorgerufen. Letztlich können also (auf der Mikroebene) ganz konkrete Types komplexer Wortformen eine besonders starke Tendenz zur dialektalen Lautung besitzen. Bei solchen Wortformen handelt es sich (wie bei der Wortform Seiler) häufig um stark lexikalisierte, fest im Dialekt verankerte Types, die vornehmlich aus den semantischen Feldern des ländlichen Alltagslebens, des Handwerks und der Landwirtschaft stammen.

4.4.5 Analogie mit mhd. î und iu Das traditionelle [OI]-Gebiet erscheint in vielen Fällen äußerst stabil. Der durchschnittliche Anteil an [aI]-Diphthongen beträgt maximal 13,8 %, während im [O5]Gebiet der Anteil etwa dreimal so hoch ist. Es stellt sich nun die Frage, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. Eine mögliche Erklärung hierfür liefert die Analogie, d. h. der (teilweise) Zusammenfall der Reflexe für mhd. ei (→ [OI], [aI], [O5]) mit denen für mhd. î (→ [eI], [aI]) und iu (→ [OI], [aI]). Die genannten Reflexe fallen auch geografisch zusammen, d. h. die Diphthong-Gebiete von mhd. î und iu sind in etwa deckungsgleich mit den Realisierungsgebieten [O5] und [OI] für mhd. ei (östliches Untersuchungsgebiet). Zum besseren Verständnis ist der Zusammenhang in Abbildung 4.28 schematisch dargestellt. Hier wird verdeutlicht, dass in den Diphthong-Gebieten für mhd. î die spontansprachlichen Realisierungen [eI] und [aI] vorherrschen (vgl. Kapitel 3.4), für mhd. iu sind es in erster Linie die Diphthonge [OI] und [aI] (vgl. Kapitel 3.5.4). Die Realisierung [aI] tritt also als Reflex in allen drei etymologischen Klassen auf und dürfte somit eine dominante Rolle als potenzieller Ersatzlaut spielen. Mit dem Argument der Analogie lässt sich für mhd. ei auch die höhere Stabilität

4.4 Gesamtdarstellung der Wandelprozesse

221

Abb. 4.28: Analogie zwischen den Reflexen von mhd. ei, î und iu innerhalb der traditionellen Realisierungsgebiete für [O5] und [OI]. Deutlich zu erkennen ist die externe Stellung der Realisierung [O5]. des [OI]-Gebietes im Vergleich zum [O5]-Gebiet erklären. So tritt im traditionellen [OI]-Gebiet (für mhd. ei) der gleichlautende Reflex auch für mhd. iu auf. Womöglich stützt der im Fall von mhd. iu geltende Diphthong [OI] den für mhd. ei in diesem Gebiet vertretenen Diphthong [OI] und sorgt somit für seine hohe Stabilität. Ein weiterer Faktor, der für die höhere Stabilität des [OI]-Gebietes (für mhd. ei) verantwortlich sein dürfte, ist die hier vorzufindende Übereinstimmung des Offglides in [OI] mit den Offglides in den Reflexen der beiden etymologischen Klassen î und iu ([OI], [eI], [aI]). Diese sind innerhalb des traditionellen [OI]-Gebietes durchgehend ausgleitend. Anders verhält es sich im traditionellen [O5]-Gebiet. Dort ist keine Übereinstimmung in den Offglides vorzufinden. Vielmehr nimmt der Diphthong [O5] aufgrund seines ingleitenden Offglides gegenüber den im gleichen Gebiet auftretenden Reflexen von mhd. î und iu ([OI], [eI], [aI]) eine absolute Sonderstellung ein und wird somit besonders anfällig für den analogen Druck der phänomenübergreifend frequenten Realisierung [aI]. Die unterschiedlichen Variationsverhältnisse im [O5]- bzw. [OI]-Gebiet dürften demnach neben exogenen Einflüssen auch auf endogene Analogieprozesse zurückzuführen sein.

222

Die Realisierung von mhd. ei

4.5 ZUSAMMENFASSUNG Als zentrales Ergebnis der Analyse von mhd. ei kann die Ausbreitung der Lautung [aI] im gesamten Untersuchungsgebiet gelten. Diese ersetzt in erster Linie die westschwäbische Realisierungsform [O5], besonders in dessen südlichem Teilgebiet. Die östlich benachbarte Realisierungsform [OI] ist in weit geringerem Umfang von Lautwandelprozessen betroffen und erscheint recht stabil. Es wurde argumentiert, dass die unterschiedlich stark ausgeprägte Variation im [O5]- und [OI]-Gebiet zumindest teilweise auf analogen Druck zurückzuführen sei. Der Lautwandel zur Realisierung [aI] hat eine vertikale und horizontale Komponente. Letztere kam besonders durch die Interpolationen zum Vorschein: Die höchste Stabilität weisen die jeweiligen Realisierungsgebiete in deren geografischer Mitte auf, während an der Peripherie stärkere Variation auftritt. Als innovatives Gebiet darf besonders der nördliche Bodenseeraum gelten. Hier gilt traditionell in fast allen Lexemen die Realisierung [O5], deren Rückgang sich aber bereits in den Real-Time-Vergleichen andeutet und in den Apparent-Time-Vergleichen bestätigt. Als Ersatzlaut dient im nordwestlichen Bodenseeraum hauptsächlich der standardnahe Diphthong [aI], im Nordosten [OI]. In diesem Teilgebiet zeigt sich also ein vornehmlich horizontal wirkender Wandelprozess, der analog zur neuhochdeutschen Diphthongierung gesehen werden kann. Auch dort wird im nördlichen Bodenseeraum die traditionell geltende Form [i(:)] nicht durch den ansonsten sehr einflussreichen standardnahen Diphthong [aI] ersetzt, sondern durch den schwäbischen Diphthong [eI]. Der Befund aus den Analysen zu mhd. ei unterfüttert also den Eindruck vom nördlichen Bodenseeraum als zunehmend „schwabisiertes“ Gebiet. Das Auftreten der Variable [OI] außerhalb ihrer traditionellen Dialektgrenzen kann zudem im nordwestlichen Untersuchungsgebiet beobachtet werden. Die Frage, ob dies Ausdruck einer sich ausbreitenden regionaldialektalen Form ist, kann anhand der verfügbaren Daten nicht sicher beantwortet werden, erscheint aber, auch vor dem Hintergrund der bereits vorliegenden Forschungsliteratur, durchaus plausibel (vgl. E NGEL 1962; F REY 1975; RUOFF 1992). Abschließend soll die Besonderheit des untersuchten Lexems zwei nochmals aufgegriffen werden. Die beiden Kontexte „zwei + Genus im Maskulinum“ und „zwei + Genus im Femininum“ sowie die mit ihnen verknüpften dialektalen Realisierungen [e(:)] (mask.) und [o(:)] (fem.) haben sich in den spontansprachlichen Daten stellenweise bewahrt, wurden aber zu einem großen Teil bereits abgebaut. Beide tauchen nur noch in wenigen Gebieten in erhöhter Konzentration auf (v. a. im äußersten Südwesten). Es darf davon ausgegangen werden, dass sich hier ein Systemabbau vollzieht und die wenigsten Sprecher die Genus-Assoziation noch sicher umsetzen, wofür auch der hohe Grad an offenbar willkürlicher, kontextunabhängiger Verwendung beider Realisierungsformen spricht.

5 DIE REALISIERUNG VON MHD. OU 5.1 EINLEITUNG Die mittelhochdeutschen Diphthonge ou und ei stehen in lautsystematischer Hinsicht im gleichen Verhältnis wie die mittelhochdeutschen Langvokale û und î (Hinterzungenlaute vs. Vorderzungenlaute). Wie aus Untersuchungen zu den beiden letztgenannten Vokalpaaren hervorging (vgl. Kapitel 3), wird der Langvokal [u:] zunehmend durch den standardnahen Diphthong [aU] und der Langvokal [i:] durch den ebenfalls standardnahen Diphthong [aI] ersetzt. Für mhd. ei ergab die Analyse, dass die dialektalen Reflexe [OI] und besonders [O5] tendenziell durch die standardnahe Form [aI] ersetzt werden. Für mhd. î und ei kommt es also zu einem allmählichen Phonemzusammenfall. Ob dies entsprechend auch für mhd. û und ou gilt, und ob sich, wie für mhd. û, auch für mhd. ou der standardnahe Diphthong [aU] als Ersatzlaut durchsetzt, soll die folgende Analyse zeigen. Innerhalb des Untersuchungsgebietes hat sich mhd. ou lauthistorisch in zwei Hauptreflexe aufgeteilt, nämlich in [oU] und [aU]. Der Reflex [oU] nimmt dabei das Gebiet nördlich des Bodensees ein und reicht nach Nordwesten teilweise bis auf Höhe von Freudenstadt. Außerdem treten gemäß SSA-Abfragedaten im nordwestlichen Untersuchungsgebiet kleinräumige [oU]-Realisierungsgebiete auf. Nach Süden reicht das [oU]-Hauptgebiet bis weiter in die Nordostschweiz (vgl. SDS, Karten I 120 [Frauen], I 121 [Augen], I 126 [glauben, Glaube]). Der größte Teil des Untersuchungsgebietes wird von dem Extremdiphthong [aU] eingenommen, der den südwestlichsten, Teile des westlichen sowie den schwäbischen Dialektraum einnimmt. Neben den genannten Hauptreflexen existieren zwei weitere, kleinräumige Lautvarianten, die (lexemabhängig) im westlichen und nordwestlichen Untersuchungsgebiet vorzufinden sind. Es handelt sich dabei zum einen um die Lautung [OI], die in etwa zwischen Emmendingen und Offenburg auftritt, und den östlichsten Fortsatz eines nahezu den gesamten Südteil des Elsaß einnehmenden Realisierungsgebietes darstellt. Die zweite Realisierung stellt die südfränkische Form [a:] dar, die ab Baden-Baden nordwärts vorzufinden ist und sich ebenfalls über den Rand des Untersuchungsgebietes hinaus in ein großräumiges Gebiet fortsetzt (vgl. zu den Fortsätzen der beiden Realisierungsgebiete Wenker-Karte IV-2, 125 [Frau] und IV-2, 515 [verkaufen]).95 Neben den genannten vier Realisierungen, die gemäß Wenker- und/oder SSAAbfrage als geschlossene Gebiete erscheinen, kommen im Untersuchungsgebiet weitere Reflexe in Form weniger Einzelbelege vor. Hierbei handelt es sich um den Diphthong [aI], der sich im vorliegenden Korpus auf die Lexeme Auge und ver95

Eine detaillierte Beschreibung zur Lautgeografie und Lautgeschichte von mhd. ou bietet v. a. W IESINGER (1970b). Weiterhin zu erwähnen sind die Darstellungen von J UTZ (1931), B OH NENBERGER (1953) und AUER (1990).

224

Die Realisierung von mhd. ou

kaufen beschränkt und bei W ENKER im westlichen Untersuchungsgebiet zwischen Emmendingen und Offenburg nachgewiesen ist (vgl. Abbildungen 5.3 und 5.5). Außerdem entstand aus mhd. ou der Monophthong [o:], der ebenfalls nur vereinzelt auftritt und besonders im Raum Konstanz realisiert wird (vgl. u. a. Abbildung 5.3 sowie AUER 1990, 114–115). Die folgende Analyse wird die Entwicklung der Reflexe von mhd. ou anhand der fünf Lexeme Frau, Auge, (ver)kaufen, laufen und rauchen untersuchen und, wie bereits erwähnt, besonders der Frage nachgehen, inwieweit sich der standardnahe Extremdiphthong [aU] als Ersatzform durchsetzt. Zunächst soll im Folgenden das Datenkorpus beschrieben und die üblichen Einzelanalysen durchgeführt werden. Die darauf folgende Gesamtanalyse beruht fast ausschließlich auf den spontansprachlichen Daten.

5.2 DATENKORPUS Das Kartenkorpus der Wenker- und SSA-Abfragedaten, das zur Untersuchung der Wandelprozesse in der etymologischen Klasse mhd. ou herangezogen werden konnte, ist in Tabelle 5.1 mit den jeweiligen Abfragekontexten dargestellt. Aus der Darstellung geht hervor, dass für drei der untersuchten Lexeme ein Real-Time-Vergleich durchführbar ist (Frau, Auge, [ver]kaufen), wobei für zwei der Lexeme einige Vorbemerkungen notwendig sind: Für das Lexem Auge ist zu berücksichtigen, dass es sich beim abgefragten Lemma nicht um das Simplex, sondern um eine morphologisch komplexe Wortform handelt (Augenblickchen). Für das Lexem (ver)kaufen ist zu erwähnen, dass bei W ENKER die präfigierte Form verkaufen abgefragt wurde, während die SSA-Exploratoren die Stammform kaufen erhoben. Beide Wörter haben neben ihrer unterschiedlichen morphologischen Form auch verschiedene Bedeutungen, die aber dem gleichen semantischen Wortfeld angehören. Außerdem befindet sich der Reflex von mhd. ou in beiden Wortformen im gleichen phonotaktischen Kontext und ist auch wortprosodisch in beiden Fällen Bestandteil der Akzentsilbe. Außerdem verhalten sich beide Lexeme hinsichtlich ihrer Wandeltendenzen in den spontansprachlichen Daten fast gleich, weswegen auch im Apparent-TimeVergleich die Wörter kaufen und verkaufen zusammen in die Analyse eingeflossen sind und nur dann separat diskutiert werden, wenn sich nennenswerte Unterschiede ergeben. Das Korpus der spontansprachlichen Daten ist in Tabelle 5.2 aufgeführt. Es besteht aus 2484 Tokens, die über sechs Lexeme und 296 Ortspunkte verteilt sind.

225

5.2 Datenkorpus

Lexem Frau

Wenker-Karte IV-2, 125

Auge

IV-2, 386

verkaufen

IV-2, 515

Lexem Frau Auge kaufen laufen rauchen

SSA-Karte/Frage 272/007 238/006 II/32.50 II/32.50 II/32.50

Wenker-Fragesatz Ich bin bei der Frau gewesen und habe es ihr gesagt, , ... Könnt ihr nicht noch ein Augenblickchen auf uns warten, ... Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen. SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Dürft ihr schon rauchen?

Tab. 5.1: Korpus der Wenker- und SSA-Karten für die Realisierung von mhd. ou.

Lexem Frau Auge (ver)kaufen laufen rauchen GESAMT

Anzahl der Tokens 1014 152 947 266 105 2484

Anzahl der Ortspunkte 224 65 203 132 86 296

Tab. 5.2: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ou.

226

Die Realisierung von mhd. ou

5.3 WANDELPROZESSE IN DEN EINZELNEN LEXEMEN 5.3.1 Lexem Frau Für das Lexem Frau ist ein vollständiger Vergleich auf der Real-Time- und ApparentTime-Ebene möglich. In Abbildung 5.1 ist zunächst die Variantenverteilung gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten im Real-Time-Vergleich dargestellt. Betrachtet man zunächst das [froU]-Gebiet, so geht aus der Kartierung hervor, dass die Realisierung [froU] gemäß W ENKER zwar kein geschlossenes Gebiet bildet, jedoch deutlich als Konglomerat aus zahlreichen Einzelbelegen erkennbar ist. Auf der Grundlage der SSA-Abfragedaten kann das Gebiet durch eine Isoglosse vom umgebenden [fraU]-Gebiet abgetrennt werden, beinhaltet aber ebenfalls eine ganze Reihe von [fraU]-Einzelbelegen. Im Westen des Untersuchungsgebietes ist gemäß SSAAbfragedaten ein weiteres, kleinräumiges [froU]-Gebiet abgrenzbar, in dem gemäß W ENKER jedoch nur ein einziger Beleg für [froU] vorliegt. Aus dem Datenvergleich gehen besonders zwei Beobachtungen hervor: (1) Zum einen entsteht der Eindruck, als ob W ENKER Probleme hatte eine Isoglosse um das [froU]-Gebiet zu ziehen. Womöglich ist dies auf den hohen Anteil an [fraU]-Varianten innerhalb dieses Gebietes zurückzuführen, wodurch eine eindeutige Festlegung der Lautung [froU] als Hauptform nicht möglich war. Daraus ist zu folgern, dass die alte [froU]-Form deutliche Abbauerscheinungen aufweist. Allerdings ist hier ein methodischer Aspekt zu berücksichtigen, der die Ergebnisse W ENKERS ebenfalls beeinflusst haben dürfte: Die Laientranskribenten konnten vermutlich in vielen Fällen nicht zwischen den phonetisch ähnlichen Varianten [froU] und [fraU] unterscheiden, weswegen sie in solchen Fällen die orthografische Form zur Transkription verwendeten. Hinzu kommt, dass womöglich phonetische Zwischenstufen realisiert wurden (wie z. B. [OU]), die eine klare Kategorisierung zusätzlich erschwerten.96 Angesichts dieser methodischen Problematik ist es möglich, dass zu Zeiten W ENKERS der Anteil an [froU]-Varianten im entsprechenden Gebiet höher war, als es die Kartierung auf den ersten Blick vermuten ließe. (2) Aus dem Vergleich der Datensätze von W ENKER und SSA-Abfrage kann bezüglich der Entwicklung der alten Realisierungsform [froU] in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet keine eindeutige Richtung erkannt werden. Durch die in beiden Kartierungen deutlich hervortretende Variation zwischen der traditionellen Lautung [froU] und der standardnahen Realisierung [fraU] kann aber davon ausgegangen werden, dass ein Lautwandel im Gange ist. Ob eine solche Entwicklung tatsächlich zu beobachten ist, soll der Apparent-Time-Vergleich zeigen. Bevor wir darauf näher eingehen, werden aber noch zwei weitere Realisierungen im Real-Time-Vergleich betrachtet, nämlich die im westlichen und nordwestlichen Untersuchungsgebiet auftretenden Realisierungen [frOI] und [fra:]. Die Realisierung [froI] ist in einem geschlossenen Gebiet zwischen Freiburg und Offenburg vorzufinden. Der Vergleich von W ENKER und SSA-Abfragedaten 96

Auch in den untersuchten Abfragedaten des SSA und besonders im spontansprachlichen Material sind phonetische Zwischenstufen zu beobachten, die eine auditive Zuordnung zu den beiden Realisierungen [aU] bzw. [oU] nicht immer zulassen.

Abb. 5.1: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ou im Lexem Frau.

5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

227

228

Die Realisierung von mhd. ou

erbringt geringfügige Entwicklungstendenzen. Das [froI]-Gebiet scheint sich gemäß SSA-Abfragedaten etwas nach Süden verlagert zu haben und erscheint in seiner Außenabgrenzung weniger zerklüftet als das [froI]-Gebiet gemäß W ENKER. Das Innere des Gebietes ist in keiner der beiden Kartierungen durch nennenswerte Variation geprägt. Es zeigt sich also eine stabile Situation, die kaum auf einen fortschreitenden Lautwandel schließen lässt. Die Realisierung [fra:] ist nur bei W ENKER nachgewiesen und erscheint hier als geschlossenes und homogenes Gebiet. In den SSA-Abfragedaten kann hingegen kein [fra:]-Gebiet erkannt werden. Die Realisierung [fra:] ist nur in Form von drei Einzelbelegen erkennbar, die westlich von Baden-Baden erhoben wurden. Der Real-Time-Vergleich deutet also darauf hin, dass die südfränkische von der standardnahen Realisierung [fraU] fast vollständig ersetzt wurde. Angesichts der Tatsache, dass die Realisierung [a:] durch den gesamten fränkischen Raum abgestützt ist, sollte dieser Befund allerdings kritisch betrachtet werden. Kommen wir nun zur Betrachtung der weiteren Entwicklung der [froU]-, [frOI]und [fra:]-Gebiete, wie sie sich im Apparent-Time-Vergleich darstellen, der in Abbildung 5.2 dargestellt ist. Zur Entwicklung der Realisierung [froU] kann aus der Abbildung entnommen werden, dass diese in ihrem südlichen Hauptverbreitungsgebiet in deutlicher Weise durch die standardnahe Realisierung [fraU] ersetzt wird. 62,1 % (100) der Tokens werden hier bereits entsprechend dieser Lautung realisiert. In geografischer Hinsicht vollzieht sich der Lautwandel im traditionellen [froU]Gebiet nicht gleichmäßig, sondern besitzt gemäß dem Kartenbild eine Ost-WestAusrichtung. Im westlichen Teil hat sich bereits bis etwa auf Höhe von Tuttlingen der Ersatzlaut [aU] zu einem großen Teil durchgesetzt. Im Osten hingegen, nördlich des Bodensees, liegen die meisten spontansprachlichen Tokens noch in Form der traditionellen Lautung [froU] vor. Im kleinräumigen [froU]-Gebiet bei Offenburg treten spontansprachliche Daten nur an einem einzigen Ortspunkt auf, die größtenteils der traditionellen Realisierung [froU] entsprechen. Hinsichtlich der [froU]Realisierungen fällt auf, dass diese nicht nur dort auftreten, wo sie gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten zu erwarten wären. So ist darüber hinaus ein Cluster dieser Belegformen im äußersten Südwesten bei Lörrach zu finden. Eine weitere Anhäufung befindet sich nördlich des traditionellen [froU]-Gebietes bei Offenburg. Dieses hat sich offenbar weiter nach Norden ausgebreitet. Das traditionelle [frOI]-Gebiet hat sich gemäß der spontansprachlichen Daten zu einem großen Teil aufgelöst und ist nur noch durch fünf Tokens nachgewiesen, die an zwei Ortspunkten auftreten. Dort variieren sie allerdings mit den Lautungen [froU] und [fraU]. Letztere stellt die primäre Ersatzform innerhalb des traditionellen [frOI]-Gebietes dar. Schließlich soll die Realisierung [fra:] betrachtet werden, die gemäß SSA-Abfragedaten im Nordwesten nicht als geschlossenes Gebiet vorkommt, bei W ENKER aber noch als solches erkennbar ist. Der durch den Real-Time-Vergleich nachweisbare, fast vollständige Abbau des [fra:]-Gebietes geht auch aus den spontansprachlichen Daten hervor. Die wenigen [fra:]-Realisierungen, die innerhalb ihres traditionellen Vebreitungsgebietes (gemäß W ENKER) noch vorzufinden sind, deuten auf einen weit fortgeschrittenen Abbau der Realisierung [fra:] hin. Allerdings wird

Abb. 5.2: Vergleich von SSA-Abfrage mit den spontansprachlichen Daten für mhd. ou im Lexem Frau.

5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

229

230

Die Realisierung von mhd. ou

die Interpretation einer offenbar unidirektionalen Entwicklungsrichtung durch einen weiteren Befund gestört: Außerhalb des traditionellen [fra:]-Gebietes sind an vier Ortspunkten zwischen Baden-Baden und Pforzheim insgesamt sechs [fra:]-Tokens verzeichnet. Wie können diese Einzelbelege gedeutet werden? Angesichts der stark rückläufigen Entwicklung der Realisierung [fra:] in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet ist die Interpretation einer neuerlichen Ausbreitung dieser südfränkischen Form wohl kaum plausibel. Womöglich handelt es sich bei den außerhalb des [fra:]-Gebietes auftretenden Realisierungen um Allegroformen der in diesem Raum traditionell geltenden Realisierung [fraU]. Der Effekt morphologischer Komplexität auf die Wandelprozesse lässt sich für das Lexem Frau auf der Grundlage der Daten innerhalb des südlichen [froU]Hauptgebietes betrachten. Dabei fällt auf, dass der Anteil an innovativen [fraU]Realisierungen innerhalb der Simplizia mit 62,0 % (93) etwa gleich hoch ist wie in morphologisch komplexen Wortformen mit 63,6 % (7). Es tritt also kein Komplexitätseffekt auf. Innerhalb des kleinen Korpus komplexer Wortformen kann nicht weiter auf einer semantischen Basis dahingehend argumentiert werden, dass manche Types deutliche Übernahmen aus dem Standard darstellen und mit ihnen deswegen die Lautung [fraU] einhergeht, und umgekehrt alte, dialektale Types tendenziell in der Form [froU] realisiert werden. Eine derartige Zuteilung ist besonders deswegen nicht möglich, da die komplexen Types nicht eindeutig der Gruppe neuer oder alter Wörter zugeordnet werden können (z. B. Klosterfrau, Jungfrau, Nachbarsfrau, Frauentrachten, etc.). Insgesamt kann für die Lautentwicklungen innerhalb des Lexems Frau festgehalten werden, dass sich der standardnahe Diphthong [aU] in den Realisierungsgebieten für [froU], [frOI] und [fra:] durchsetzt, während sich aber auch Nachweise für die Verwendung der beiden Formen [froU] und [fra:] außerhalb ihrer traditionellen Verbreitungsgebiete finden. Ob sich ein ähnliches Bild in anderen lexikalischen Kontexten findet, soll im Folgenden geklärt werden.

5.3.2 Lexem Auge Auch für das Lexem Auge ist sowohl eine Analyse in Real-Time als auch ApparentTime möglich. Gemäß der Datenlage W ENKERS bildet (wie auch im Falle des Lexems Frau) der standardnahe Diphthong [aU] die Grundform im Untersuchungsgebiet. Allerdings liegt keine der weiteren drei von W ENKER unterschiedenen Realisierungen [oUk], [aIk] und [a:k] als geschlossenes Gebiet vor, die durch eine Isoglosse von der umgebenden Realisierung [aUk] abgetrennt ist. Die unterschiedlichen Varianten liegen gemäß W ENKER als Cluster von Einzelbelegen vor, die in Abbildung 5.3 zu sehen sind. Die Realisierung [oUk] nimmt, wie bereits im Fall des Lexems Frau, das größte Gebiet ein und ist nördlich und nordwestlich des Bodensees verbreitet. Im Vergleich zu den SSA-Abfragedaten ist zu erkennen, dass die Verbreitung der Einzelbelege gemäß W ENKER besonders im mittleren Teil mit derjenigen nach SSAAbfrage übereinstimmt. Im nordwestlichen Zipfel des [oUk]-Gebietes gemäß SSA

Abb. 5.3: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ou im Lexem Auge.

5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ou

liegen hingegen keine Wenker-Belege vor. Auch im östlichen Teil zählt der SSA das Areal nördlich von Friedrichshafen zum geschlossenen [oUk]-Gebiet, während gemäß W ENKER hier keine Einzelbelege verzeichnet sind. Unmittelbar um Ravensburg zeichnet W ENKER allerdings ein konservativeres Bild in Form von vier [oUk]-Einzelbelegen, die gemäß SSA-Abfrage bereits im [aUk]-Gebiet liegen. Das [oUk]-Gebiet ist in den Abfragedaten des SSA nicht homogen, sondern weist nahezu flächendeckend zahlreiche Belege der standardnahen Form [aUk] auf. Auf welche Entwicklung während des 20. Jahrhunderts weist der Vergleich der beiden Datensätze in diesem Gebiet nun hin? Wie bereits für das Lexem Frau ist eine eindeutige Interpretation auf der Grundlage des Real-Time-Vergleichs schwierig. Einerseits entsteht der Eindruck einer Vergrößerung des [oUk]-Gebietes, besonders in dessen nordwestlichem Teil, andererseits verzeichnen sowohl die Daten W EN KERS auch die der SSA-Abfrage starke Variation zwischen traditionellem [oUk] und standardnahem [aUk], was wiederum für eine beginnende Auflösung des [oUk]Gebietes spricht. Die beiden kleinräumigen [oUk]-Gebiete westlich von Offenburg und südwestlich von Baden-Baden vermitteln den Eindruck einer Ausbreitung der Realisierung [oUk], denn beide Gebiete „entstehen“ erst in den Erhebungsdaten des SSA, während sie bei W ENKER nicht vertreten sind, nicht einmal in Form von Einzelbelegen. Im Nordwesten des Untersuchungsgebietes verzeichnet W ENKER eine Reihe von [a:k]-Belegen, die in den Abfragedaten des SSA jedoch nicht mehr nachgewiesen sind. Offensichtlich ist im Fall des Lexems Auge der Abbau dieser Realisierung also bereits abgeschlossen. Im westlichen Teil zwischen Freiburg und Offenburg ist schließlich die Realisierung [aIk] verzeichnet. Offensichtlich hat hier also während des 20. Jahrhunderts ein Lautwandel in Form einer Anhebung von [aIk] zu [oIk] stattgefunden. Der Wandel ist womöglich durch Angleichung an die Realisierungsform [OI] entstanden, die in diesem Gebiet beispielsweise für das Lexem Frau die einzige Lautung darstellt und sich möglicherweise durch lexikalische Diffusion auf weitere lexikalische Mitglieder der Lautklasse mhd. ou überträgt. Schließlich sind in den Kartierungen einige Belege für die Realisierung [o:k] vertreten, besonders um Konstanz. Es handelt sich dabei um Monophthongierungen des hier großräumig vorherrschenden Diphthongs [oU] (vgl. W IESINGER 1970b, 97). Betrachten wir nun den in Abbildung 5.4 dargestellten Apparent-Time-Vergleich und verfolgen die weitere Lautentwicklung im Lexem Auge. Bezüglich des südlichen [oUk]-Gebietes lässt sich erkennen, dass der alte Diphthong bereits zu einem Großteil durch die standardnahe Lautung [aUk] ersetzt wurde. Prozentual beträgt der Anteil an [aUk]-Realisierungen hier 81,8 % (18). Es ist allerdings anzumerken, dass fast alle Tokens aus dem westlichen Teil des [oUk]-Gebietes kommen und daher keine Aussagen über die genaue Variation in den übrigen Gebietsteilen möglich sind. Dennoch veranschaulicht das verfügbare Datenkorpus den Abbau der Realisierung [oUk] innerhalb seines traditionellen Verbreitungsgebietes, besonders im Vergleich zu den Abfragedaten des SSA. In diesen tritt zwar auch Variation auf, doch entspricht der Großteil der Belege immer noch der alten Lautung, während in den spontansprachlichen Daten der Anteil der innovativen Lautungen höher ist und die alten Diphthonge bereits als die markierten Formen gelten.

Abb. 5.4: Vergleich von SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten für mhd. ou im Lexem Auge.

5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ou

Die weitere Entwicklung der beiden kleinräumigen [oUk]-Gebiete im Nordwesten wird in den spontansprachlichen Daten nur teilweise ersichtlich. Das größere der beiden Gebiete westlich von Offenburg enthält keine Tokens, weswegen hierzu keine Aussagen gemacht werden können. Im südwestlich von Baden-Baden gelegenen Gebiet sind hingegen Belege an zwei Ortspunkten vertreten, die darauf hindeuten, dass die hier gemäß SSA-Abfrage geltende Lautung [oUk] auch in den spontansprachlichen Daten noch zu finden ist, wenngleich diese durch die umgebende standardnahe Realisierung [aUk] verdrängt wird. Das [oIk]-Gebiet zwischen Freiburg und Offenburg ist in den spontansprachlichen Daten nur noch an einem Ortspunkt in Form eines einzigen Belegs nachgewiesen, während die anderen drei Ortspunkte die standardnahe Form [aUk] verzeichnen. Auch hier ist also das sich generell abzeichnende Szenario des allmählichen Verschwindens standardferner Realisierungen deutlich zu erkennen. Die im äußersten Nordwesten bei W ENKER noch verzeichnete südfränkische Realisierung [a:k], die in den Abfragedaten des SSA nicht mehr vorkommt, ist auch in den spontansprachlichen Daten nicht vertreten. Die Entwicklung, die sich bereits im Real-Time-Vergleich angedeutet hat, wird also durch den Apparent-Time-Vergleich bestätigt. Zuletzt soll der mögliche Einfluss von morphologisch komplexen Wortformen auf den Lautwandel betrachtet werden. Diese Wortformen sind innerhalb des [oUk]Gebietes zu etwa der Hälfte bei insgesamt 22 Tokens im Korpus vertreten. Hier ergeben sich, wie bereits für das Lexem Frau, kaum nennenswerte Unterschiede hinsichtlich des Anteils an standardnahen Formen im Vergleich zu den Simplizia. In beiden Kontexten beträgt der Anteil an innovativen Lautungen ca. 80 %. Das häufigste Type innerhalb der morphologisch komplexen Wortformen stellt die Wortform Augenblick dar, die in vier von fünf Fällen als standardnahe Realisierung [aUk] vorkommt.

5.3.3 Lexem (ver)kaufen Einen großen Variantenreichtum weist auch das Lexem verkaufen auf, dessen Realisierungsformen in Abbildung 5.5 gemäß den Erhebungsdaten W ENKERS aufgetragen sind. Hierzu ist zu bemerken, dass einige der Wenker-Daten nur in Abbildung 5.5 aufgetragen sind, nicht jedoch im Real-Time-Vergleich in Abbildung 5.6. Die Aufteilung der Daten auf zwei Abbildungen soll eine höhere Übersichtlichkeit der beiden Kartenbilder gewährleisten. Kommen wir zunächst zur Beschreibung der Datenlage gemäß W ENKER. Das größte Realisierungsgebiet, das den Südwesten und die Mitte des Kartenbildes einnimmt, wird von der standardnahen Form [kaUf] bestimmt. Daneben existieren weitere Gebiete mit standardferneren Realisierungen, die in ihrer räumlichen Anordnung in etwa derjenigen der bereits besprochenen Lexeme entsprechen: Im Süden des Untersuchungsgebiets tritt wieder das [oU]-Gebiet in Erscheinung, das von W ENKER in Form von Einzelbelegen kartiert wird und in dessen Mitte, nordwestlich von Konstanz, die bereits für das Lexem Auge erwähnten monophthongischen

Abb. 5.5: Phonologische Varianten für mhd. ou im Lexem verkaufen gemäß W ENKER.

5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ou

Realisierungen [o:] auftreten.97 Neben der großflächigen Verbreitung der [koUf]Belege, sind diese weiterhin im nordwestlichen Bereich südlich von Rastatt als kleinräumiges Cluster zu erkennen. Im Westen des Untersuchungsgebietes zwischen Freiburg und Emmendingen ist gemäß W ENKER ein geschlossenes [kOIf]Gebiet belegt, das allerdings von zahlreichen [kaIf]-Belegen durchsetzt ist, die in diesem Gebiet bereits für das Lexem Auge vorlagen (allerdings als einzige Realisierungsform). Im Unterschied zu den Lexemen Frau und Auge verzeichnet W ENKER im Nordwesten ein geschlossenes Gebiet für die Realisierungsform [ka:f], das sich nach Süden bis etwa auf Höhe von Baden-Baden erstreckt. Innerhalb des Gebietes sind allerdings zudem eine Reihe von standardnahen [kaUf]-Belegen vertreten, was auf einen beginnenden Lautwandel hin zu dieser Realisierung hindeutet. Welche Wandelprozesse sich insgesamt im Untersuchungsgebiet ergeben, soll anhand von Abbildung 5.6 besprochen werden, in der der Real-Time-Vergleich zwischen Wenker- und SSA-Abfragedaten dargestellt ist. Vorweg soll an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Variantenverteilung W ENKERS auf der Abfrage des Lexems verkaufen beruht, diejenige des SSA dagegen auf dem Lexem kaufen. Trotz der lexikalischen Unterschiede zeigt sich im südlichen [koUf]Gebiet hohe Übereinstimmung bezüglich der geografischen Verbreitung dieser Variable in den beiden lexikalischen Kontexten. Nur im nordwestlichen Teil reichen die [koUf]-Realisierungen gemäß SSA-Abfragedaten weiter nach Norden als die entsprechenden Einzelbelege W ENKERS. Die Abfragedaten des SSA verzeichnen innerhalb des traditionellen [koUf]-Gebietes zahlreiche Belege der standardnahen Realisierung [kaUf]. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass, wie im Rahmen der bereits behandelten Lexeme, auch auf der Grundlage des Real-Time-Vergleichs für das Lexem (ver)kaufen keine klare Richtung des Lautwandels in diesem Gebiet erkennbar ist und sich in beiden Datensätzen mehr oder weniger stark ausgeprägte Variation zwischen der Dialektform [koUf] und der standardnahen Realisierung [kaUf] zeigt. Das westlich gelegene [kOIf]-Gebiet hat sich offensichtlich vergrößert und erscheint in der SSA-Abfrage homogener und kompakter. So sind die hier bei W ENKER noch vertretenen [kaIf]-Einzelbelege (vgl. Abbildung 5.5) in den SSAAbfragedaten nicht mehr verzeichnet. Womöglich hat also während des 20. Jahrhunderts eine Anhebung von [kaIf] zu [kOIf] stattgefunden, die sich, wie bereits für das Lexem Auge diskutiert, durch lexikalische Diffusion aus anderen lexikalischen Mitgliedern der Lautklasse mhd. ou übertragen hat. Eine Ausbreitung der Lautung [OI] dürfte weiterhin mit der Stützung durch das benachbarte Elsaß zusammenhängen, da der Diphthong hier weit verbreitet ist. Im nordwestlichen Teil des Untersuchungsgebietes ist die Variantenvielfalt recht hoch. In Form eines geschlossenen Gebiets fällt hier zunächst die Realisierung [ka:f] auf, die sowohl bei W ENKER als auch in den SSA-Abfragedaten verzeichnet ist. Wandel manifestiert sich hier im südlichen Teil zum einen in Form einer Ausdehnung des [ka:f]-Gebietes, zum anderen wird in einem kleinen Abschnitt westlich von Rastatt gemäß SSA-Abfrage nicht mehr [ka:f] realisiert, sondern die monophthongierte Form [ko:f], die zudem durch drei Belege im Bodenseeraum bei Konstanz vorzufinden ist. Die Herausbildung die97

Des Weiteren ist die Realisierung [ko:f] im Nordosten des Bodensees und nordwestlich von Pforzheim belegt.

Abb. 5.6: Real-Time-Vergleich von Wenker- und der SSA-Abfragedaten für mhd. ou im Lexem (ver)kaufen.

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ser Form ist kaum durch Dialektkontakt zu erklären, sondern stellt wahrscheinlich einen Fall von Verschmelzung der zuvor in diesem Gebietsabschnitt geltenden Realisierung [ka:f] und den südlich davon auftretenden diphthongischen Lautungen [koUf]/[kaUf] dar (fudged form, vgl. C HAMBERS / T RUDGILL 2005, 132). Die monophthongischen Realisierungen [ka:f]/[ko:f] sind in Form von einigen wenigen Einzelbelegen auch weiter südlich bei Offenburg sowohl in den Abfragedaten des SSA nachgewiesen als auch bei W ENKER (vgl. Abbildung 5.5). Insgesamt deuten sich im Real-Time-Vergleich also keine umfangreichen Wandeltendenzen an. Die Variantenverteilung der beiden Datensätze ähnelt sich sehr stark und lässt nur im Detail Veränderungen vermuten. In Abbildung 5.7 sind die Abfragedaten des SSA gegen die spontansprachlichen Daten aufgetragen.98 Das Kartenbild macht auf den ersten Blick deutlich, dass sich entgegen dem stabilen Bild des Real-Time-Vergleichs im Apparent-Time-Vergleich massive Wandeltendenzen zeigen. Im gesamten Untersuchungsgebiet ergibt sich ein weitestgehend einheitliches Bild, das durch die standardnahe Realisierung [kaUf] geprägt ist. Im traditionellen [koUf]-Gebiet beträgt ihr Anteil 94,8 % (183), der Lautwandel ist in diesem Gebiet also beinahe vollständig abgeschlossen.99 Auch außerhalb des [koUf]-Gebietes treten vereinzelt Einzelrealisierungen [koUf] auf, doch sind diese weit verstreut sowie niederfrequent und variieren stets mit den häufigeren [kaUf]-Tokens. Für den sich generell abzeichnenden Lautwandel sind sie demnach als bedeutungslos einzustufen. Ähnliches trifft für die beiden weiteren in den spontansprachlichen Daten nachgewiesenen, standardfernen Realisierungen [kOIf] und [ka:f] zu. Auch diese sind in ihren traditionellen Gebieten (gemäß SSA-Abfrage) zwar noch vertreten, doch variieren sie auch hier stets mit den standardnahen Diphthongen [kaUf]. Erwähnenswert ist aber auch die sich im Kartenbild andeutende gegenteilige Entwicklung, nämlich die Ausbreitung der südfränkischen Realisierung [ka:f] innerhalb des traditionellen [kaUf]-Gebietes. Der Anteil an morphologisch komplexen Wortformen im [koUf]-Gebiet beträgt nur etwa 10 %. Dadurch wird bereits ersichtlich, dass die komplexen Wortformen nur in geringem Maße für den Abbau der traditionellen Lautung verantwortlich sind. Der Vergleich zwischen Simplizia und komplexen Wortformen hinsichtlich ihrer Anfälligkeit für die standardnahe Form [kaUf] ergibt im Ergebnis einen [kaUf]Anteil in Simplizia von 94,9 % (167) und von 94,1 % (16) in komplexen Formen.100 Es bestehen also kaum Unterschiede zwischen den beiden morphologischen Kontexten – ein Befund, der auch aus den bisherigen Lexemanalysen hervorging.101

98

Der Anteil der Wortform verkaufen (inklusive Komposita und Derivationen) liegt im vorliegenden spontansprachlichen Korpus bei etwa einem Drittel (248). 99 Der Unterschied bezüglich der Anteile an [aU]-Realisierungen ist zwischen den Lexemen kaufen (95,0 % [115]) und verkaufen (94,4 % [68]) nur gering. 100 Das Wort verkaufen wird dabei nicht als morphologisch komplex klassifiziert. 101 Beispiele für im spontansprachlichen Korpus auftretende komplexe Wortformen sind u. a. Kaufhaus, Fahrkartenverkauf, Kaufmann, Kaufladen, einkaufen, etc.

Abb. 5.7: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für mhd. ou im Lexem (ver)kaufen.

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Die Realisierung von mhd. ou

5.3.4 Lexeme laufen und rauchen Als letzte lexikalische Kontexte für die Realisierung von mhd. ou sollen im Folgenden die beiden Lexeme laufen und rauchen analysiert werden. Für keines der beiden Lexeme liegt eine Wenker-Karte vor, weswegen die Untersuchung auf der Grundlage eines Apparent-Time-Vergleichs durchgeführt wird, der in Abbildung 5.8 dargestellt ist. Die spontansprachlichen Tokens der beiden Lexeme sind dabei gemeinsam aufgetragen, um die Tokendichte zu erhöhen.102 Aus der Kartierung ist ersichtlich, dass sich auch in den vorliegenden lexikalischen Kontexten die standardnahe Realisierung [laUf]/[raux] durchsetzt. Im traditionellen [oU]-Gebiet beträgt der Anteil der standardnahen Lautung für das Lexem laufen 80,0 % (48) und liegt für das Lexem rauchen nur etwas niedriger, bei 75,0 % (9). Im [oU]-Gebiet scheint der Wandel, wie bereits für das Lexem Frau beobachtet, ebenfalls eine gewisse ost-westliche Profilierung aufzuweisen. Im Ostteil werden in vier von insgesamt acht Ortspunkten standardnahe Formen gebraucht, während im westlichen Gebiet dies in weit mehr als der Hälfte der Ortspunkte der Fall ist. Vereinzelt sind auch außerhalb des traditionellen [oU] -Gebietes gemäß der vorliegenden spontansprachlichen Daten [oU]-Belege zu finden, besonders entlang des Rheintals – ein Befund, der aufgrund der allgemeinen Entwicklung des Lautwandels (→ [aU]) jedoch nicht als systematische Ausbreitung dieser Realisierung interpretiert werden kann. Auch in den beiden weiteren, gemäß SSA-Abfrage geschlossenen Realisierungsgebieten [OI] und [a:] ist der Abbau dieser Lautungen ersichtlich. Im [OI]-Gebiet ist die traditionelle Lautung nur an einem Ortspunkt nachgewiesen, im traditionellen [a:]-Gebiet liegt hingegen keine Evidenz für das Vorhandensein der dialektalen Form in diesem Gebiet vor. Außerhalb sind jedoch einige verstreute [a:]-Belege verzeichnet, die aber, wie auch für die Lautung [oU], nicht als Belege einer systematischen Ausbreitung interpretierbar sind. Bezüglich des Einflusses morphologischer Komplexität auf die Lautwandelprozesse zeigt sich für das Lexem laufen, dass Simplizia zu 76,9 % (40) gemäß der standardnahen Form realisiert werden, während es bei den komplexen Wortformen 100 % (8) sind. Betrachtet man die entsprechenden komplexen Wortformen in semantischer Hinsicht näher, können diese jedoch nicht als eindeutige Entlehnungen aus dem Standard interpretiert werden (z. B. rumlaufen, hineinlaufen, durchlaufen, fortlaufen, etc.). Bei den im Korpus für das Lexem rauchen auftretenden neun komplexen Wortformen handelt es sich um solche, die durchaus als alte dialektale Formen denkbar wären und dementsprechend an der alten Lautung stärker festhalten. Dennoch kann dies nicht beobachtet werden. Mit Ausnahme eines Tokens (Rauchkammer) tritt in allen komplexen Wortformen durchgehend die Realisierung [raUx] auf (z. B. in Rauchfleisch, Rauchkamin oder Rauchentwicklung).103 102 Die Einzelbelege der SSA-Abfragedaten sind in die vorliegende Karte aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht eingezeichnet worden. Siehe hierfür Abbildung 5.6 für das Lexem (ver)kaufen, der die gleiche (auch für die Lexeme laufen und rauchen geltende) SSA-Karte II/32.50 zugrunde liegt. 103 Ein Vergleich der Prozentanteile zwischen Simplizia und komplexen Wortformen ist für das Lexem rauchen aufgrund einer zu geringen Tokenfrequenz bei den Simplizia nicht möglich.

Abb. 5.8: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den Spontandaten für mhd. ou in den Lexemen laufen und rauchen.

5.3 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

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Die Realisierung von mhd. ou

5.4 GESAMTANALYSEN In der folgenden Darstellung werden die Ergebnisse aus den vorhergehenden Einzelanalysen zusammenfassend dargestellt. Dies geschieht in Form eines kombinierten Apparent-Time-Vergleichs zwischen allen verfügbaren SSA-Abfrage- und Spontandaten.104 Danach werden die vier Hauptrealisierungsformen [aU], [oU], [a:] und [OI] durch farbige Interpolationsplots dargestellt und diskutiert. Zuletzt folgt eine Besprechung der lexikalischen Steuerung des Lautwandels sowie der Bedeutung morphologisch komplexer Wortformen.

5.4.1 Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich Der in Abbildung 5.9 dargestellte aggregierte Apparent-Time-Vergleich zeigt alle spontansprachlichen Daten (2484 Tokens), die gegen die verfügbaren SSA-Isoglossen der fünf untersuchten Lexeme aufgetragen sind. Im Kartenbild bietet sich hinsichtlich der auftretenden phonologischen Varianten und ihrer geografischen Distribution weitestgehend dasselbe Bild wie in den Kartierungen zu den einzelnen Lexemen. In den spontansprachlichen Daten finden sich im Wesentlichen die vier Reflexe [aU], [oU], [OI] und [a:], die auch in den SSA-Abfragedaten geschlossene Realisierungsgebiete bilden. Besonders das südliche [oU]- sowie das westliche [OI]Gebiet sind in allen untersuchten lexikalischen Kontexten der SSA-Abfragedaten vertreten und auch in den spontansprachlichen Daten durchgehend nachweisbar. Allerdings ging aus dem Vergleich stets ein deutlicher Rückgang dieser Lautungen hervor, eine Tendenz, die sich nun auch in der aggregierten Darstellung in Abbildung 5.9 zeigt. Das traditionelle [oU]-Gebiet erscheint auf der Grundlage der SSAAbfragedaten besonders nach Norden hin über die verschiedenen Lexeme hinweg durch einen einheitlichen Isoglossenstrang abgegrenzt, während im westlichen und östlichen Bereich stärkere Variation der Isoglossenverläufe vorliegt. Dieser sich andeutende Prozess eines Abbaus des [oU]-Gebietes von dessen Ost- und Westrändern hin zum Kerngebiet kann den spontansprachlichen Daten nur bedingt entnommen werden. Zwar scheinen [oU]-Realisierungen im Zentrum des [oU]-Gebietes etwas häufiger vertreten zu sein, aufgrund der heterogenen Verteilung der Datenpunkte ist es allerdings schwierig zu beurteilen, ob dieses Gebiet tatsächlich stabiler ist. Nach Norden hin ist die klare Profilierung, wie sie die Abfragedaten des SSA zeigen, in den spontansprachlichen Daten jedenfalls nicht erkennbar. Der Kartierung ist weiterhin zu entnehmen, dass der Abbau der Lautung [oU] in dessen traditionellem Realisierungsgebiet bereits so weit fortgeschritten ist, dass kaum noch von konservativen Teilarealen innerhalb dieses Gebietes gesprochen werden kann. An nahezu allen Ortspunkten tritt Variation mit dem standardnahen Diphthong [aU] auf, sobald

104 Auf einen zusammenfassenden Real-Time-Vergleich wird an dieser Stelle verzichtet, da bei W ENKER Isoglossen für das besonders interessierende traditionelle [oU]-Gebiet nördlich des Bodensees nicht vorliegen und für die beiden Gebiete mit der Realisierung [OI] und [a:] nicht durchgehend vorhanden sind.

Abb. 5.9: Vergleich der SSA-Abfragedaten für die Lexeme Frau, Auge, (ver)kaufen, laufen und rauchen mit den spontansprachlichen Daten der Lexeme Frau, Auge, (ver)kaufen, laufen und rauchen.

5.4 Gesamtanalysen

243

244

Die Realisierung von mhd. ou

mehr als ein Lexem an einem Ort vertreten ist. Dieser Befund deutet auf ausgeprägte interlexikalische Variation hin, die in Abschnitt 5.4.3 näher betrachtet wird. Zur Realisierung [oU] ist weiterhin auf die kleineren, im nordwestlichen Untersuchungsgebiet auftretenden Gebiete hinzuweisen, die in den SSA-Abfragedaten für die Lexeme Frau und Auge belegt sind. Die Lautung [oU] ist hier auch noch in den spontansprachlichen Daten vorzufinden, jedoch auch außerhalb der Gebiete, in denen dies zu erwarten gewesen wäre. Hier gehen die [oU]-Realisierungen weitestgehend auf das Lexem Frau zurück, während sie in den anderen lexikalischen Kontexten zwar auftreten, doch in weit geringerer Dichte. Die im westlichen Untersuchungsgebiet auftretende Realisierung [OI] weist im lexemübergreifenden Vergleich ebenfalls starke Abbauerscheinungen auf. Im betreffenden Gebiet herrscht in den SSA-Abfragedaten über alle untersuchten lexikalischen Kontexte hinweg hohe Konsistenz, während in den spontansprachlichen Daten die Variation mit dem Ersatzdiphthong [aU] deutlich in Erscheinung tritt. An fünf Ortspunkten sind noch [OI]-Realisierungen nachgewiesen, die aber nahezu alle mit der standardnahen Lautung [aU] variieren. Die in diesem Gebiet gemäß W ENKER noch nachgewiesene Realisierung [aI] (nur für die Lexeme Auge und verkaufen) kann weder in den Abfragedaten des SSA noch in den spontansprachlichen Daten belegt werden und ist im Laufe des 20. Jahrhunderts offensichtlich den Ersatzlauten [OI] und [aU] gewichen. Das nordwestliche [a:]-Gebiet weist in den untersuchten Lexemen ein uneinheitliches Bild auf. Bei W ENKER ist die Realisierung, sofern eine Karte vorliegt, stets als geschlossenes Gebiet nachgewiesen (mit Ausnahme des Lexems Auge). In den SSA-Abfragedaten ist das Gebiet allerdings nur noch für die Lexeme kaufen, laufen und rauchen belegt, während die Lexeme Frau und Auge die Realisierung praktisch vollständig abgebaut haben. Im Gesamtvergleich zeigt sich in den spontansprachlichen Daten das Vorhandensein der Realisierung [a:] in allen lexikalischen Kontexten, mit Ausnahme des Lexems Auge. Wie auch die Realisierung [oU] tritt [a:] fast durchgehend in Variation mit der standardnahen Lautung [aU] auf und ist gleichzeitig außerhalb des traditionellen Verbreitungsgebietes vorzufinden. Bei den „externen“ [a:]-Realisierungen wurde vermutet, dass es sich dabei zum Teil um Allegroformen handelt. Weiterhin ist ein gewisser Einfluss aus den nördlich angrenzenden Gebieten denkbar, in denen die Variante [a:] großräumig realisiert wird.

5.4.2 Interpolationen Im vorhergehenden Abschnitt wurde auf der Grundlage der mit Punktsymbolen kartierten spontansprachlichen Daten angenommen, dass sich die Realisierung [oU] in ihrem traditionellem Hauptverbreitungsgebiet im Zentrum noch stärker behauptet als an der Peripherie. Allerdings war eine solche Beurteilung durch die Heterogenität der Datenverteilung nicht einfach vorzunehmen, weswegen in Abbildung A.5 interpolierte Darstellungen der spontansprachlichen Daten zu sehen sind, die diese Beurteilung erleichtern sollen.

5.4 Gesamtanalysen

245

Im Plot zur Gebrauchshäufigkeit der Realisierung [oU] ist eine deutliche horizontale Abstufung mit einer maximalen Gebrauchshäufigkeit von ca. 35 % nordwestlich des Bodensees zu erkennen. Selbst in diesem relativ konservativ erscheinenden Areal ist der Lautwandel also schon zu einem großen Teil abgeschlossen. Ausgehend von diesem Kerngebiet fällt der Anteil an [oU]-Tokens graduell ab, wobei vor allem der nordwestliche Bereich um Villingen-Schwenningen eine besonders breite Übergangszone darstellt, in der die Gebrauchshäufigkeit bei etwa 20 % liegt und weiter nach Nordwesten allmählich auf 0 % abfällt. Etwas abrupter vollzieht sich der Übergang besonders am nördlichen Rand des traditionellen [oU]-Gebietes. Neben dem Hauptrealisierungsgebiet ist [oU] im nordwestlichen Untersuchungsgebiet zwischen Offenburg und Baden-Baden verzeichnet, kommt hier aber nur auf eine Gebrauchshäufigkeit von etwa 15 %. Als Ersatzlaut für die Realisierung [oU] fungiert fast ausschließlich die standardnahe Lautung [aU], deren Gebrauchshäufigkeit im Vergleich mit allen anderen Realisierungen besonders hoch ist. In der Darstellung lässt sich erkennen, dass sie im gesamten Untersuchungsgebiet zu mindestens 60–70 % vorliegt und nirgends den Wert 0 erreicht. Dennoch geht aus der Interpolation das dialektale Raumbild noch deutlich hervor, auch wenn dies keinesfalls mehr in Form scharf abgetrennter und in sich weitestgehend homogener Gebiete vorliegt. Die Realisierung [a:] konzentriert sich gemäß der Darstellung auf den äußersten Nordwesten und weist auf eine besonders hohe Konzentration in einem sehr kleinen Zentrum hin, das den Erhebungsort Spessart-Ettlingen (Lkr. Karlsruhe) darstellt und von dem aus die Gebrauchshäufigkeit bis südlich von Baden-Baden auf den Wert Null absinkt. Der Plot zur Realisierung [OI] weist auf einen einzigen Ortspunkt hin, in dem eine hohe Konzentration von [OI]-Belegen vorliegt, während im übrigen traditionellen [OI]-Gebiet die Gebrauchshäufigkeit lediglich zwischen 20– 30 % schwankt. Bei dem rot erscheinenden Ortspunkt handelt es sich um Lörch (Lkr. Emmendingen), in dem zwar ausschließlich die Lautung [OI] nachgewiesen ist, diese sich allerdings auch nur auf einen einzigen Beleg beschränkt. Die Datendarstellung in Form von Farbinterpolationen konnte verdeutlichen, dass die horizontale (durch Dialektkontakt bedingte) Komponente des Lautwandels besonders beim Rückgang des [oU]-Realisierungsgebietes eine Rolle spielt. Weiterhin verdeutlicht die Darstellung, dass alle standardfernen Realisierungen stark rückläufig sind und (mit Ausnahme des Ortspunktes Lörch für die Realisierung [OI]) in keinem Teil des Untersuchungsgebietes eine Gebrauchshäufigkeit von mehr als 35 % erreichen.

5.4.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität Im Folgenden soll noch einmal zusammenfassend auf die lexikalische Steuerung des Lautwandels sowie die Rolle morphologischer Komplexität eingegangen werden. Wie bereits im Zusammenhang mit dem aggregierten Apparent-Time-Vergleich in Abschnitt 5.4.1 erwähnt wurde, ist eine starke interlexikalische Variation, gerade im Zusammenhang mit dem Abbau des traditionellen [oU]-Gebietes, erkennbar.

246

Die Realisierung von mhd. ou

Anteil [aU]-Realisierungen im [oU]-Gebiet Lexem

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

Frau

55

161

62,1 %

62,0 %

63,6 %

(100)

(93)

(7)

81,8 %

76,9 %

-

(18)

(10)

94,8 %

94,9 %

94,1 %

(183)

(167)

(16)

80,0 %

76,9 %

100 %

(48)

(40)

(8)

75,0 %

-

-

79,9 %

78,5 %

90,4 %

(358)

(311)

(47)

Auge (ver)kaufen laufen rauchen

16 60 31 8

22 193 60 12

(9)

GESAMT

62

448

Tab. 5.3: Angaben zum quantitativen Vorkommen von standardnahem [aU] innerhalb des traditionellen [oU]-Gebietes für mhd. ou. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Zahlenangaben werden nur bei einer Grundmenge von mindestens 10 Tokens gemacht. Wie aus Tabelle 5.3 hervorgeht sind bezüglich des Anteils an standardnahen Diphthongen [aU] innerhalb des [oU]-Gebietes deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Lexemen erkennbar. Den höchsten Anteil verzeichnet mit 94,8 % das Lexem (ver)kaufen, in dem der Lautwandel hin zur standardnahen Realisierung praktisch abgeschlossen ist. Der geringste Anteil findet sich hingegen im Lexem Frau, in dem der Anteil an [aU]-Tokens 62,1 % beträgt. Die lexikalischen Unterschiede sind zwar deutlich, lassen aber kaum eine Interpretation zu. Aus semantischer Sicht kann für keines der Lexeme nachgewiesen werden, dass es in besonderer Weise auf Entitäten des ländlich-bäuerlichen Alltags referiert und deswegen tendenziell zu einer dialektaleren Realisierung neigt. Auch die Tokenfrequenz scheint nicht mit dem Anteil an innovativen Tokens zusammenzuhängen, da die beiden frequentesten Wörter Frau und (ver)kaufen hinsichtlich ihres Anteils an [aU]-Tokens am weitesten auseinander liegen. Hinsichtlich der lexikalischen Unterschiede des Wandels, ist auf der Grundlage der vorliegenden Daten offenbar keine Interpretation möglich. Alle Lexeme kommen sowohl im Dialekt als auch in der Standardsprache vor, weswegen keines der Lexeme als autochthon dialektales (→ hohe Stabilität) oder aus dem Standard entlehntes Wort (→ geringe Stabilität) angesehen werden kann. Wie verhält es sich

5.5 Zusammenfassung

247

aber, wenn man die Ergebnisse zu den morphologisch komplexen Wörtern hinsichtlich dieser Fragestellung in Betracht zieht? Aus Tabelle 5.3 geht dazu hervor, dass komplexe Wortformen insgesamt einen höheren Anteil an [aU]-Realisierungen aufweisen, der mit einer Differenz von ca. 10 % zu den Simplizia allerdings nur gering ist. Aus dem Vergleich der Werte für Frau und (ver)kaufen gehen kaum Unterschiede hervor. Für die sich im Gesamtbild ergebenden Unterschiede müssen demnach einzelne Wortbildungen aus dem Korpus der Lexeme Auge, laufen und rauchen verantwortlich gemacht werden, die durch ihre Übernahme aus dem Standard die Realisierung [aU] in den Dialekt bringen.

5.5 ZUSAMMENFASSUNG Im Gesamtbild lässt sich für die Realisierung von mhd. ou in den südwestdeutschen Dialekten des 20. Jahrhunderts ein Abbau sämtlicher nicht standardkonformer Varianten ableiten (v. a. [oU], [OI] und [a:]), wobei der Wandel in seiner generellen Entwicklung hin zur Standardform [aU] weist. Die interpolierte Darstellung lässt aber auch die Interpretation zu, dass die Ausbreitung der Realisierung [aU] aus dem Schwäbischen kommt (und aus den anderen [aU]-Gebieten). Weiterhin konnte beobachtet werden, dass die Lautentwicklung von Realisierungen benachbarter Großgebiete beeinflusst wird, nämlich von elsäßischem [OI] und südfränkischem [a:]. Für die Entwicklung der letztgenannten Realisierung ergab sich besonders in den RealTime-Vergleichen eine lexikalische Steuerung der Variation, während die Variation zwischen der Realisierung [oU] und [aU] vermutlich kontinuierlich ist. Insgesamt beträgt der Anteil an [aU]-Tokens innerhalb des traditionellen ouGebietes für die etymologische Klasse mhd. ou 79,9 % (358). Somit weist mhd. ou von allen 15 untersuchten Klassen den höchsten Anteil innovativer Tokens auf. Diese deutliche Wandeltendenz kam in der vorliegenden Untersuchung erst im Rahmen der Apparent-Time-Vergleiche zum Vorschein, die Real-Time-Vergleiche ergaben hingegen häufig ein recht statisches Bild. Das Vorliegen zahlreicher Einzelbelege der standardnahen Realisierung [aU] in den traditionellen Realisierungsgebieten für [oU], [OI] und [a:] (sowohl gemäß W ENKER als auch SSA-Abfrage) ließ zwar oft auf eine Instabilität dieser Gebiete schließen, tatsächliche Wandelprozesse beim Vergleich der beiden Kartenwerke zeigten sich aber zumeist im Detail (z. B. der Wandel von [aI] zu [OI] im Gebiet zwischen Freiburg und Offenburg).

6 DIE SCHWÄBISCHE DIPHTHONGIERUNG 6.1 EINLEITUNG Mhd. ô wird in den meisten rezenten Dialekten des Deutschen sowie im Standarddeutschen monophthongisch und als Langvokal realisiert (z. B. in hoch, groß, schon). Im Untersuchungsgebiet des SSA findet sich jedoch ein geschlossenes Gebiet von etwa 100 Kilometern Durchmesser mit Zentrum in der Region Tübingen, in dem mhd. ô als Diphthong [aU] realisiert wird, wie z. B. in groß vs. grauß. Analog verhält sich die Diphthongierung von mhd. ê zu [aI], wie beispielsweise in Schnee vs. Schnai. Die diphthongischen Realisierungen von mhd. ô und ê galten im Schwäbischen gemäß den Schriftzeugnissen bereits im 15. Jahrhundert (vgl. J UTZ 1931, 57, 66). Einen ersten Eindruck von der Verbreitung dieses Phänomens gibt Abbildung 6.1, die die unterschiedlich großen Realisierungsgebiete für die Diphthonge in den Lexemen hoch, groß und schon nach den Daten W ENKERS und F ISCHERS (1895) zeigt.105 Die unterschiedlichen Verbreitungen in Abbildung 6.1 legen nahe, dass der traditionelle dialektale Lautstand nicht als unmittelbarer Reflex eines lautgesetzlichen Wandels verstanden werden kann, sondern von Lexem zu Lexem unterschiedlich verbreitet ist (in einem Kerngebiet wird allerdings der mhd. Monophthong immer diphthongisch realisiert). Für das Lexem groß fällt auf, dass sich die Isoglossenverläufe nach W ENKER und F ISCHER relativ stark gleichen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der westliche Teil des Diphthong-Gebietes nach F ISCHER ein etwas größeres Areal einschließt als bei W ENKER. Da die Untersuchungsmethoden von W ENKER und F ISCHER jedoch annähernd identisch sind und die Erhebungen fast synchron stattfanden, dürften mögliche Gründe für die nicht identischen Isoglossenverläufe in den wesentlichen methodischen Differenzen der beiden Erhebungen begründet sein: Pfarrer als Gewährspersonen und Einzelwortabfrage bei F ISCHER vs. Lehrer / Schüler und (in erster Linie) Fragesätze bei W ENKER. Im Folgenden soll die weitere Entwicklung der diphthongischen Realisierungen [aU] und [aI] betrachtet werden. Da die monophthongischen Lautungen [o:] bzw. [e:] sowohl die Standardform als auch die traditionell dialektale Realisierung der umgebenden Dialekte darstellen, wird der Untersuchung die Hypothese eines Rückgangs der diphthongischen Lautung vorangestellt. Die Analyse basiert auf der Grundlage von Real-Time- und Apparent-Time-Vergleichen zu insgesamt sieben Lexemen, die in Abschnitt 6.2 für mhd. ô und in Abschnitt 6.3 für mhd. ê diskutiert werden. Nach den Einzelanalysen werden die Ergebnisse jeweils in einer zusammenfassenden Analyse aggregiert, um einen Eindruck von der Gesamtentwicklung zu erhalten und Aussagen zur lexikalischen Steuerung des Lautwandels und zur Rolle der 105 Weitere Beschreibungen zur Diphthongierung von mhd. ô und ê sind u. a. in S CHIRMUNSKI (2010, 287–289) und W IESINGER (1970a, 213–215) zu finden.

Abb. 6.1: Vergleich der etwa auf die gleiche Erhebungszeit zurückgehenden Isoglossen W ENKERs und F ISCHERS (1895) für die Lexeme groß, hoch und schon.

250 Die schwäbische Diphthongierung

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

251

morphologischen Komplexität treffen zu können. Am Ende der Untersuchung wird der Abbau der Diphthongierung auf der Grundlage eines Interpolationsplots diskutiert, der gemeinsam für die Gebrauchshäufigkeiten der diphthongischen Reflexe von mhd. ô und ê erstellt wurde.

6.2 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Ô 6.2.1 Datenkorpus Die Diphthongierung von mhd. ô kann anhand der Lexeme groß, hoch, schon und Brot untersucht werden, wobei für alle Lexeme ein vollständiger Vergleich in Realund Apparent-Time möglich ist. In die Analyse von groß kann zudem Karte 10 aus F ISCHERS „Geographie der schwäbischen Mundarten“ (1895) einbezogen werden. In den folgenden Tabellen ist das Korpus der verfügbaren Wenker-Karten (Tabelle 6.1) sowie SSA-Abfragedaten (Tabelle 6.2) für die Realisierung von mhd. ô zusammengestellt. Lexem groß

Wenker-Karte III-5, 219

hoch

III-5, 411

schon

III-5, 351

Brot

III-5, 419

Wenker-Fragesatz Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein auszutrinken, ... Unsere Berge sind nicht sehr hoch, die euren sind viel höher. Als wir gestern Abend zurück kamen, da lagen die Andern schon zu Bett und waren fest am schlafen. Wieviel Pfund Wurst und wieviel Brot wollt ihr haben?

Tab. 6.1: Korpus der Wenker-Karten für die Realisierung von mhd. ô.

Lexem groß hoch schon Brot

SSA-Karte/Frage II/22.00 II/22.50 322/007 II/22.01

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage unbekannt Wisst ihr schon das Neueste? unbekannt

Tab. 6.2: Korpus der SSA-Karten für die Realisierung von mhd. ô. In Tabelle 6.3 sind die verfügbaren spontansprachlichen Daten zusammengestellt, die aus 2581 Tokens bestehen und sich auf 89 Ortspunkte verteilen. Es ist zu erkennen, dass die Tokendichte aller analysierten Lexeme ausgesprochen gut ist. Die Angaben zur Anzahl der Tokens beziehen sich nicht auf das gesamte Untersuchungsgebiet, sondern auf ein Teilgebiet, das etwas mehr als die maximale Ausdehnung der schwäbischen Diphthongierung gemäß Wenker-, Fischer- sowie SSA-Abfragedaten umfasst. Die Beschränkung auf das Gebiet der schwäbischen Diphthongierung ist

252

Die schwäbische Diphthongierung

deswegen gerechtfertigt, weil sich in Voruntersuchungen zum Lexem groß keinerlei Ausbreitungstendenzen der diphthongischen Form gezeigt haben. Aus den folgenden Analysen wird hervorgehen, dass dies auch für alle anderen untersuchten Lexeme gilt. Lexem groß hoch schon (Adverb) schon (Partikel) Brot GESAMT

Anzahl der Tokens 422 199 1114 637 209 2581

Anzahl der Ortspunkte 78 56 86 80 63 89

Tab. 6.3: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ô Zum Lexem schon ist anzumerken, dass dieses sowohl als Partikel als auch adverbial verwendet werden kann. Dementsprechend wurden die spontansprachlichen Daten in zwei Korpora aufgeteilt, um entsprechend in zwei separaten Karten dargestellt werden zu können.

6.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 6.2.2.1 Lexem groß Beim Vergleich der Wenker-Karte mit der Karte F ISCHERS und des SSA fällt kein nennenswerter Wandel auf (siehe Abbildung 6.2). Die Isoglossen variieren nur geringfügig und sind meist relativ deckungsgleich. Im Gesamtbild deutet sich eine schwache Abbautendenz der Diphthongierung von außen nach innen an. Das Diphthongierungsgebiet erscheint sowohl bei W ENKER als auch bei F ISCHER und in den SSA-Abfragedaten homogen und enthält keine monophthongischen Belege. In der SSA-Karte sind allerdings zehn Ortspunkte verzeichnet, in denen die diphthongischen Realisierungen vom Explorator suggeriert wurden. Der Befund des RealTime-Vergleichs lässt insgesamt eine sehr hohe Stabilität des Diphthongierungsgebietes erkennen. Bei Einbezug der spontansprachlichen Daten bietet sich uns ein völlig anderes Bild, wie aus Abbildung 6.3 hervorgeht. Die Tendenz zum Abbau der Diphthongierung ist deutlich zu erkennen, wobei der Wandelprozess tendenziell von außen nach innen gerichtet zu sein scheint und besonders in einem Areal im Zentrum des traditionellen Diphthong-Gebietes106 noch vermehrt diphthongische Realisie106 Unter „traditionellem Diphthong-Gebiet“ wird hier die maximale geografische Ausprägung der diphthongischen Realisierung gemäß W ENKER- , F ISCHER- und SSA-Isoglossen verstanden. Alle folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf diese Referenzgröße (deren Flächeninhalt natürlich für jedes der untersuchten Lexeme etwas anders ausgeprägt ist).

Abb. 6.2: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte III-5/219, der Karte 10 von F ISCHER (1895) und der SSA-Karte II/22.00 für das Lexem groß.

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

253

Abb. 6.3: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Karte II/22.00) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem groß.

254 Die schwäbische Diphthongierung

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

255

rungen vorkommen. Quantitativ stellt sich die Monophthongierung innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes folgendermaßen dar: 66,6 % (255) der Tokens werden monophthongisch realisiert, vor allem im Süden und Südosten. Ein besonders stabiles Diphthong-Gebiet ist nur ansatzweise im Zentrum zu erkennen. Doch ist auch dort die Variation hoch, weswegen auf einen allgemein starken Einfluss der Standardsprache bzw. regionaler Varietäten geschlossen werden kann. An der Peripherie scheint der Lautwandel durch die ebenfalls monophthongisch realisierenden Nachbardialekte verstärkt zu werden. Das Lexem groß kommt in den spontansprachlichen Daten nicht ausschließlich als Simplex vor, sondern dient auch als Kompositionsglied zur Bildung morphologisch komplexer Wortformen. Dabei werden in Simplizia 59,9 % (190) der Tokens monophthongisch realisiert, während es innerhalb der morphologisch komplexen Wortformen 98,5 % (65) sind. Aus der Analyse der komplexen Wortformen geht hervor, dass diphthongische Realisierungen nur noch in einem einzigen Lexem vorkommen: Großvater. Somit ist das Vorkommen diphthongischer Realisierungen nach der vorliegenden Datenlage fast ausschließlich auf Simplizia beschränkt und in morphologisch komplexen Wortformen blockiert, selbst wenn diese durchaus dialektale Bildungen darstellen und häufig im Korpus vertreten sind (z. B. Großvater [28x], Großmutter [14x], Großeltern [12x]). Ähnlich verhält es sich mit der festen Phrase im Großen und Ganzen, die zwölf mal im Korpus auftritt aber nie diphthongisch realisiert wird.

6.2.2.2 Lexem hoch Die Daten W ENKERS weisen für das Lexem hoch innerhalb des Diphthong-Gebietes eine Reihe von monophthongischen Einzelbelegen auf, was zunächst auf eine beginnende Auflösung der diphthongischen Lautung hindeutet. In den SSA-Abfragedaten wird diese Entwicklung allerdings nicht bestätigt. Der Real-Time-Vergleich zeigt vielmehr eine entgegengesetzte Entwicklung: Das Diphthong-Gebiet breitet sich offensichtlich deutlich in Richtung Südwesten aus (siehe Abbildung 6.4). In der Kartierung W ENKERs deuten bereits einige Einzelbelege außerhalb des geschlossenen Diphthonggebietes in diesem südwestlichen Gebiet eine Ausbreitung an. Dies wird durch die Abfragedaten des SSA bestätigt, die den gesamten Streifen zwischen Freudenstadt und Tuttlingen als geschlossenes Diphthong-Gebiet darstellen. Es ist zu erwarten, dass sich diese Wandeltendenz in den spontansprachlichen Daten bestätigt. In Abbildung 6.5 ist jedoch deutlich zu erkennen, dass davon keine Rede sein kann. Gerade im fraglichen Streifen, in dem gemäß den Abfragedaten eine Ausbreitung vermutet werden konnte, findet sich kein einziger spontansprachlicher Diphthong. Vielmehr zeigt sich in den spontansprachlichen Belegen nicht nur ein ähnliches Bild wie für das Lexem groß, der Rückgang des Diphthong-Gebietes ist im Falle des Lexems hoch sogar noch stärker ausgeprägt: 82,4 % (131) der spontansprachlichen Belege innerhalb des Diphthong-Gebietes werden monophthongisch realisiert. Das Kartenbild der spontansprachlichen Belege zeigt einen konzentrischen Abbau der Diphthongierung, ausgehend von den Rändern des Gebiets. Der

Abb. 6.4: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte III-5/411 mit der SSA-Karte II/22.50 für das Lexem hoch.

256 Die schwäbische Diphthongierung

Abb. 6.5: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Karte II/22.50) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem hoch.

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

257

258

Die schwäbische Diphthongierung

Großteil der diphthongischen Belege findet sich im Zentrum in der Region Tübingen und Reutlingen, wohingegen an der Peripherie keine Diphthong-Belege mehr zu finden sind. Diese große Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der Abfragedaten und der Spontansprache des SSA legt die Interpretation nahe, dass diese teils auf die archaisierende Erhebungspraxis zurückzuführen ist. Da im südwestlichen Streifen des Diphthongierungsgebietes gemäß SSA-Abfrage die Antworten nicht suggeriert wurden, lässt sich eine große Differenz zwischen Wissen und Praxis bei den Sprechern vermuten. Die Sprecher erinnern sich während der Erhebung an die Existenz der alten, diphthongischen Form, benutzen sie im alltäglichen Sprachgebrauch jedoch nicht. Ein wichtiger Katalysator für den Rückgang der Diphthonge könnte (wie bereits für das Lexems groß gezeigt wurde) der morphologische Kontext sein. 76,1 % (121) der Tokens im spontansprachlichen Korpus sind morphologisch komplexe Wortformen, die in erster Linie Komposita (115) sowie einige wenige Verbpartikel (6) darstellen. Die Wandeltendenz von Simplizia und komplexen Wortformen unterscheidet sich jedoch nur geringfügig: Der Anteil an Monophthongen in komplexen Wortformen beträgt 83,5 % (101), während er in Simplizia mit 78,9 % (30) etwas darunter liegt. Wie gestaltet sich nun aber die phonologische Realisierung innerhalb der konkreten Types morphologisch komplexer Wortformen? Fast alle Types, wie z. B. Hochdeutsch (57), hochinteressant (3), hochgegangen (2) oder hochkommen (1) werden monophthongisch realisiert. Wenn diphthongische Realisierungen in Komposita auftreten, so ist dies ausschließlich im (quasi voll lexikalisierten) Kompositum Hochzeit der Fall ([haUtsik]) oder in Komposita, in denen Hochzeit wiederum ein Wortbildungsglied darstellt (z. B. Hochzeitstisch). Von den insgesamt 33 Tokens des Types Hochzeit weisen 60,6 % die diphthongische Realisierung auf. Auch innerhalb dieses stark lexikalisierten und fest im dialektalen Repertoire eingebetteten Kompositums wirkt also der Einfluss der monophthongisch realisierenden Kontaktvarietäten.

6.2.2.3 Lexem schon In diesem Abschnitt wird das frequente Lexem schon in seinem Gebrauch als Adverb sowie als Partikel untersucht. Dem Real-Time-Vergleich liegt aufgrund der Abfragekontexte von W ENKER und SSA nur der adverbiale Gebrauch zugrunde (siehe Tabellen 6.1 und 6.2). Wie aus Abbildung 6.6 hervorgeht, ist für das Lexem schon bereits im RealTime-Vergleich ein deutlicher Rückgang des Diphthong-Gebietes zu erkennen. Die im Süden zerklüftete Isoglosse (gemäß W ENKER) scheint sich laut SSA-Abfragedaten nach Norden zurückgezogen zu haben. In einem kleinen Teilabschnitt um Freudenstadt verlaufen die Isoglossen W ENKERS und des SSA etwa deckungsgleich, um weiter im Nordosten wieder zuungunsten des Diphthong-Gebietes auseinanderzulaufen. Das Untersuchungsgebiet des SSA reicht nicht weit genug nach Norden,

Abb. 6.6: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte III-5/351 mit den SSA-Abfragedaten (Frage 322/007) für das Lexem schon.

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

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Abb. 6.7: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 322/007) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem schon (Adverb).

260 Die schwäbische Diphthongierung

Abb. 6.8: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 322/007) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem schon (Partikel).

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

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Die schwäbische Diphthongierung

um auch dort den andeutungsweise erkennbaren Rückgang der diphthongischen Realisierungen weiter zu verfolgen. Die weitere Entwicklungstendenz wird aus den spontansprachlichen Daten in Abbildung 6.7 ersichtlich. Dank der hohen Gebrauchsfrequenz ergibt sich für die spontansprachlichen Daten ein sehr aussagekräftiges Kartenbild. Innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes (gemäß SSA-Abfrage) werden 80,4 % (729) der Tokens als Monophthonge realisiert.107 Wie bei den anderen bisher untersuchten Lexemen sind auch für das Lexem schon innerhalb des traditionellen DiphthongGebietes keine stabilen, zusammenhängenden Reliktgebiete auszumachen. Es fällt aber auf, dass die Diphthong-Belege im Zentrum und in der östlichen Hälfte des ehemaligen Verbreitungsgebietes noch am zahlreichsten auftreten. Eine genauere Analyse des Einflusses morphologischer Komplexität erübrigt sich für das Lexem schon, da die adverbiale Wortbildung nur wenig produktiv ist. Abbildung 6.8 zeigt die Entwicklung für das Lexem schon in seiner Verwendung als Partikel. Die diphthongische Realisierung tritt beim Gebrauch von schon als Partikel seltener auf als beim Gebrauch als Adverb: Von den insgesamt 402 Tokens innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes werden 84,6 % (340) monophthongisch realisiert und verteilen sich in erster Linie in dessen zentralem und östlichem Teil. Damit weisen sowohl das Adverb als auch die Partikel schon den höchsten Anteil an Monophthongen aller untersuchten Lexeme auf. Dieses Ergebnis ist kaum interpretierbar, wäre doch aufgrund der sehr hohen Gebrauchsfrequenz zu erwarten, dass sich die traditionelle diphthongische Form stabiler verhält als in den Lexemen groß und hoch, die beide eine weit geringere Tokenfrequenz aufweisen.

6.2.2.4 Lexem Brot Die Analyse des Lexems Brot zeigt den mit Abstand deutlichsten Rückgang des Diphthong-Gebietes, wie in Abbildung 6.9 zu erkennen ist. Bereits die Wenker-Karte zeigt kein geschlossenes Diphthong-Gebiet mehr, sondern lediglich ein Konglomerat aus diphthongischen Einzelbelegen, die sich vor allem im Zollernalbkreis um Balingen konzentrieren. Auf der SSA-Karte ist die Diphthongierung in diesem Lexem fast völlig verschwunden. Lediglich fünf Einzelbelege sind vorhanden, von denen allerdings vier von den Exploratoren suggeriert wurden. Der einzig nicht suggerierte Beleg stammt aus dem Erhebungsort Schura (Lkr. Tuttlingen) im Süden des ursprünglichen Verbreitungsgebietes der Diphthongierung. Wie aufgrund des Real-Time-Vergleichs zu erwarten ist, zeigt sich in den spontansprachlichen Daten das völlige Verschwinden der diphthongischen Realisierungsform im Lexem Brot: Von den 209 kartierten Tokens im betreffenden Gebiet werden alle monophthongisch realisiert. Als Ursache für den besonders starken bzw. völligen Abbau der diphthongischen Lautung im Lexem Brot nimmt S CHIRMUNSKI (2010, 289) den Einfluss der Stadt sowie der Kirche bzw. des Vaterunsers (Unser täglich Brot...) an. 107 Da W ENKER und der SSA das Lexem schon in seiner Bedeutung als Adverb kartieren, wurden in Abbildung 6.7 nur spontansprachliche Daten mit adverbialer Bedeutung aufgetragen.

Abb. 6.9: Vergleich der Wenker-Karte III-5/419 mit der SSA-Karte II/22.01 und den spontansprachlichen Daten für das Lexem Brot.

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

263

264

Die schwäbische Diphthongierung

6.2.3 Zusammenfassende Analysen Im Folgenden soll ein zusammenfassender Real-Time- als auch Apparent-TimeVergleich durchgeführt werden, um daraus einen Gesamteindruck der Wandelprozesse zu erhalten. Hierzu sind zunächst die Isoglossen zu den Lexemen groß, hoch und schon (Adverb) nach W ENKER und SSA-Abfragedaten aufgetragen (Abbildung 6.10). Weiterhin wurden alle spontansprachlichen Tokens in einer Kombinationskarte aggregiert (Abbildung 6.11) und zudem die wichtigsten quantitativen Angaben zum Anteil monophthongischer Realisierungen im traditionellen DiphthongGebiet in Tabelle 6.4 zusammengefasst.108

6.2.3.1 Real-Time-Vergleich In Abbildung 6.10 ist der Real-Time-Vergleich der Isoglossen gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten für die Lexeme groß, hoch und schon (Adverb) dargestellt. Aus der Karte ist ersichtlich, dass sich das Gesamtgebiet der schwäbischen Diphthongierung verkleinert, das Kerngebiet jedoch in etwa gleichbleibend ist. Weiterhin fällt in der Karte die im Westen und Süden stärker ausgeprägte Variation der einzelnen Isoglossen nach W ENKER auf. Die Isoglossen gemäß SSA-Abfragedaten erscheinen hingegen gebündelter und deuten somit auf eine lexemübergreifend höhere Stabilität des Diphthong-Gebietes hin. Weiterhin zeigt Abbildung 6.10, dass sich die Wandeltendenz in den Real-Time-Untersuchungen der verschiedenen Lexeme äußerst heterogen darstellt. Ließ der Vergleich für das Lexem hoch eine Ausbreitung der diphthongischen Form vermuten, verhielt sich das Lexem groß statisch. Das Lexem schon zeigt hingegen einen deutlichen Rückgang der Diphthongierung. Dieser sehr heterogene Befund deutet bereits auf eine Auflösung der diphthongischen Realisierung und ihre vollständige Lexikalisierung hin, d. h. den Rückzug auf wenige, möglicherweise als Schibboleths verwendete Wörter.

6.2.3.2 Apparent-Time-Vergleich Die spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 6.11 gegen alle verfügbaren Isoglossen von W ENKER, F ISCHER (1895) und SSA-Abfrage aufgetragen sind, bestätigen einerseits den Rückgang des Diphthong-Gebietes, weisen jedoch nicht auf die Existenz eines noch stabilen und homogenen Kernbereichs hin. Im Zentrum des traditionellen Diphthong-Gebietes treten zwar weniger Monophthonge auf als in den Randbereichen, doch ist die Variation auch hier deutlich ausgeprägt, was auf den vertikalen Einfluss der Standardsprache zurückzuführen sein dürfte. Im gesamten Diphthong-Gebiet sind nur vier Erhebungsorte mit rein diphthongischer Realisierung vorhanden (diese verteilen sich hier allerdings auf nur maximal zwei verschiedene Lexeme). Alle Ortspunkte hingegen, in denen mehr als zwei Lexeme in der 108 Das Lexem Brot wurde nicht in die zusammenfassenden Analysen aufgenommen, da bei diesem der Lautwandelprozess bereits abgeschlossen ist.

Abb. 6.10: Vergleich der Isoglossen der Wenker- und SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ô in den Lexemen groß, hoch und schon (Adverb).

6.2 Diphthongierung von mhd. ô

265

Abb. 6.11: Vergleich aller spontansprachlichen Daten mit allen Isoglossen der Wenker-, Fischer- sowie SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ô.

266 Die schwäbische Diphthongierung

267

6.3 Diphthongierung von mhd. ê

Analyse auftreten, variieren oder sind vollständig zur monophthongischen Lautung übergegangen. Wie aus Tabelle 6.4 ersichtlich ist, variieren die spontansprachlichen Daten innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes mit 78,6 % (1455) monophthongisch realisierter Tokens sehr stark. In Tabelle 6.4 ist weiterhin die lexikalische Steuerung der Variation innerhalb der spontansprachlichen Daten erkennbar. Während das Lexem groß mit 66,6 % monophthongischer Realisierungen noch vergleichsweise konservativ erscheint, weisen die Lexeme hoch, schon (Adverb) und schon (Partikel) einen Monophthong-Anteil von ca. 80 % auf. schon (Partikel) 60 402

SUMME

50 159

schon (Adverb) 64 907

66,6 % (255)

82,4 % (131)

80,4 % (729)

84,6 % (340)

78,6 % (1455)

59,9 % (190) NUR KOMPLEXE WORTFORMEN Anteil [o:] 98,5 % (65)

78,9 % (30)

80,4 % (729)

84,6 % (340)

77,4 % (1289)

83,5 % (101)

-

-

89,2 % (166)

Anzahl Ortspunkte Anzahl Tokens ALLE WORTFORMEN Anteil [o:] NUR SIMPLIZIA Anteil [o:]

groß

hoch

76 383

85 1851

Tab. 6.4: Anteil an Monophthongen innerhalb des traditionellen DiphthongGebietes für mhd. ô. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Tokens, die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Hinsichtlich des Faktors morphologische Komplexität lässt sich aus den Daten ableiten, dass in den Lexemen groß und hoch die komplexen Wortformen einen höheren Anteil an monophthongischen Lautungen aufweisen, was auf einen höheren Einfluss des Standards in diesen Wortformen hindeutet. Wie die Analysen zu den Lexemen groß und hoch gezeigt haben, ist innerhalb der komplexen Wortformen das Auftreten von Diphthongen fast vollständig blockiert, mit Ausnahme des lexikalisierten Kompositums Hochzeit.

6.3 DIPHTHONGIERUNG VON MHD. Ê In diesem Abschnitt wird die Diphthongierung von mhd. ê untersucht, die sich lautgeografisch annähernd analog zur zuvor besprochenen Diphthongierung von mhd. ô verhält. Der Aufbau der Ausführungen gliedert sich in die Darstellung des Datenkorpus sowie die üblichen Real-Time- und Apparent-Time-Vergleiche zu den einzelnen Lexemen. Den Schluss bildet eine zusammenfassende Darstellung der Analyseergebnisse.

268

Die schwäbische Diphthongierung

6.3.1 Datenkorpus Die Diphthongierung von mhd. ê kann anhand der Lexeme Schnee, See und weh untersucht werden, wobei ein vollständiger dreistufiger Vergleich nur für das Lexem Schnee möglich ist. Für dieses Lexem kann zusätzlich auf eine Karte aus F ISCHERS „Geographie der schwäbischen Mundarten“ (1895) zurückgegriffen werden. In Tabelle 6.5 ist das Korpus der verfügbaren Karten zur Diphthongierung von mhd. ê zusammengestellt.

Wenker-Karte Wenker-Fragesatz

SSA-Karte SSA-Fragesatz Fischer-Karte

Schnee III-3/357 Der Schnee ist diese Nacht bei uns liegen geblieben, ... II/24.00 Einzelwortabfrage Nr. 10

See -

weh -

II/24.02 Einzelwortabfrage -

Tab. 6.5: Korpus der verfügbaren Abfragedaten zur Untersuchung der Diphthongierung von mhd. ê. Das spontansprachliche Korpus zur Untersuchung von mhd. ê setzt sich aus 56 Tokens für das Lexem Schnee, zwölf Tokens für das Lexem See und acht Tokens für das Lexem weh zusammen.

6.3.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 6.3.2.1 Lexeme Schnee und weh In Abbildung 6.12 ist der Vergleich der Kartierungen nach W ENKER, F ISCHER und SSA-Abfragedaten für das Lexem Schnee dargestellt. Aus dem Vergleich der Diphthong-Gebiete kann kaum auf eine Wandeltendenz geschlossen werden, da die Isoglossenverläufe nahezu identisch sind. Bei W ENKER finden sich jedoch sieben monophthongische Einzelbelege im nordwestlichen Teil des geschlossenen [SnaI]Gebietes, die einen Wandel hin zu monophthongischen Realisierungen vermuten lassen. Die SSA-Kartierung bestätigt diese Wandeltendenz nicht, da sie das gesamte Diphthong-Gebiet homogen darstellt. Der Einbezug der spontansprachlichen Daten zeigt einen deutlichen Rückgang der diphthongischen Realisierungen, wie aus Abbildung 6.13 hervorgeht. Vor allem die Belege im südlichen Teil des traditionellen Diphthong-Gebietes werden monophthongisch realisiert. Nur im Kerngebiet und im Südwesten des DiphthongGebietes sind noch in sieben Erhebungsorten diphthongische Realisierungen zu

Abb. 6.12: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte III-3/357, der Karte 10 von F ISCHER und der SSAKarte II/24.00 für das Lexem Schnee.

6.3 Diphthongierung von mhd. ê

269

Abb. 6.13: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Karte II/24.00) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Schnee.

270 Die schwäbische Diphthongierung

6.3 Diphthongierung von mhd. ê

271

finden. Innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes werden 51,8 % (29) der Tokens monophthongisch realisiert.109 Morphologisch komplexe Tokens verhalten sich im vorliegenden Korpus hinsichtlich ihrer Wandeltendenz ähnlich wie Simplizia: Von neun komplexen Tokens, die sich auf insgesamt sechs komplexe Wortformen verteilen, werden vier monophthongisch realisiert. Innerhalb der Simplizia beträgt der Anteil an Monophthongen 53,2 % (25). Aus den Zahlen lässt sich kein aus komplexen Wortformen resultierender Effekt auf die stärkere Verbreitung monophthongischer Realisierungen im Diphthong-Gebiet feststellen. Eine Interpretation des relativ hohen Anteils diphthongischer Lautungen innerhalb der morphologisch komplexen Wortformen lässt sich also nicht mit dem Argument angehen, es handle sich im Korpus um hauptsächlich autochthon dialektale Wortformen. Alle Wortformen sind sowohl im Standard als auch im Dialekt gebräuchlich, wie aus den Beispielen Schneehaufen, Schneeschaufel, Schneesturm oder schneeweiß hervorgeht. Kommen wir nun zum Lexem weh. Auf eine Kartierung dieses Lexems wurde verzichtet, da weder Wenker- noch SSA-Isoglossen zur Verfügung stehen und die Tokendichte der spontansprachlichen Daten sehr gering ist. Aus quantitativer Sicht besitzt das Lexem weh von allen drei untersuchten Wörtern den höchsten Anteil an diphthongisch realisierten Tokens. So werden von den neun Tokens (die sich auf sechs Ortspunkte verteilen) lediglich zwei monophthongisch realisiert (in Bolstern, Lkr. Sigmaringen und in Rommelsbach, Lkr. Reutlingen). Die Stabilität der diphthongischen Lautung kann nicht mit morphologisch komplexen Kontexten in Verbindung gebracht werden, da das Lexem weh im vorliegenden Korpus nicht in diesen Kontexten auftritt.

6.3.2.2 Lexem See Mit dem Lexem See konnte ein Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten durchgeführt werden. Wie Abbildung 6.14 zeigt, ist im Unterschied zum Lexem Schnee das traditionelle Diphthong-Gebiet gemäß den Abfragedaten des SSA bereits stark fragmentiert. Aufgrund des Fehlens von Karten in den Korpora W ENKERS oder F ISCHERS, kann keine Aussage darüber gemacht werden, ob das Diphthong-Gebiet im 19. Jahrhundert noch geschlossen erschien oder bereits ähnlich starke Auflösungserscheinungen aufwies wie in den SSA-Abfragedaten. Der Vergleich der SSA-Kartierung mit den spontansprachlichen Daten bestätigt den weiteren Abbau der diphthongischen Lautung. Nur zwei Ortspunkte befinden sich innerhalb der diphthongischen Gebietsfragmente (gemäß SSA-Abfragedaten). Von diesen wird nur noch an einem Ortspunkt (Dießen, Lkr. Freudenstadt) die diphthongische Realisierung gewählt, und zwar in allen drei verzeichneten Tokens. 109 Als „traditionelles Diphthong-Gebiet“ wird die maximale Ausdehnung der diphthongischen Realisierung im Lexem Schnee gemäß Wenker-, Fischer- und SSA-Kartierung verstanden. Alle Zahlenangaben, auch die zu den Lexemen weh und See, beziehen sich auf dieses Referenzgebiet, soweit nicht anders angegeben.

Abb. 6.14: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Karte II/24.02 mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem See.

272 Die schwäbische Diphthongierung

6.3 Diphthongierung von mhd. ê

273

Alle anderen kartierten Ortspunkte weisen die monophthongische Realisierung auf. Womöglich ist der hohe Anteil an Monophthongen jedoch nicht allein lexikalisch bedingt, sondern auch auf fünf im Korpus vorhandene morphologisch komplexe Wortformen zurückzuführen, die allesamt die monophthongische Realisierung aufweisen; es handelt sich dabei um die Wortformen Seegras, Seerosen, Seegegend und Übersee.

6.3.3 Zusammenfassende Analyse Im Folgenden sollen für das untersuchte Phänomen mhd. ê alle verfügbaren Isoglossen und spontansprachlichen Daten in einem zusammenfassenden Vergleich aggregiert werden, um daraus einen Gesamteindruck der Wandelprozesse zu erhalten. In Abbildung 6.15 sind alle Isoglossen zu den Lexemen Schnee und See nach W ENKER, F ISCHER und SSA-Abfragedaten aufgetragen. Aus der Karte ist ersichtlich, dass die Entwicklung der schwäbischen Diphthongierung im Falle von mhd. ê offensichtlich deutlich lexemspezifisch verläuft. Das Lexem Schnee verhält sich relativ statisch während die Monophthongierung im Lexem See bereits weit fortgeschritten ist. In beiden Fällen ist aber die Wandeltendenz gleichermaßen hin zum Abbau der diphthongischen Lautung gerichtet. Der Einbezug der spontansprachlichen Daten bestätigt die Wandeltendenz des Isoglossenvergleichs. Sie variieren innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes sehr stark und weisen zusammengenommen 51,9 % (40) monophthongisch realisierte Tokens auf. Aus diesem Befund kann geschlossen werden, dass der Abbau der diphthongischen Realisierung zwar seine höchste Intensität erreicht hat, jedoch noch nicht so weit fortgeschritten ist wie im Falle von mhd. ô (Hier beträgt der Anteil an Monophthongen bereits 78,6 % [1455]). Im Raum vollzieht sich der Diphthong-Abbau bei mhd. ê tendenziell von außen nach innen. So ist in Abbildung 6.15 erkennbar, dass sich die diphthongisch realisierten Tokens im Kerngebiet der schwäbischen Diphthongierung kumulieren, während entlang der Randgebiete (mit Ausnahme des südwestlichen Teils) die monophthongische Lautung vorherrscht. Von einem allein standardinduzierten und flächig wirkenden Lautwandel kann also höchstens im Zentrum der schwäbischen Diphthongierung die Rede sein. Entlang der Randbereiche kann hingegen von einem Zusammenspiel von horizontalem und vertikalem Lautwandel ausgegangen werden. Abschließend soll ein nach lexikalischen und morphologischen Kontexten differenzierter Überblick des Diphthong-Abbaus innerhalb der spontansprachlichen Daten gegeben werden. Dieser ist in Tabelle 6.6 dargestellt. Die Zahlenangaben beziehen sich auf das traditionelle Diphthong-Gebiet des Lexems Schnee. In den analysierten Daten verhält sich das Lexem weh am konservativsten, gefolgt von Schnee und dem fast vollständig zur monophthongischen Realisierung übergegangenen Lexem See. Morphologisch komplexe Wortformen werden mit den Lexemen Schnee und See gebildet, allerdings weisen die phonologischen Effekte der morphologischen Komplexität in verschiedene Richtungen: Bei dem Lexem Schnee verhalten sich komplexe Formen phonologisch konservativer als Simplizia, das Lexem See

Abb. 6.15: Vergleich aller Isoglossen nach W ENKER, F ISCHER und SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ê.

274 Die schwäbische Diphthongierung

275

6.4 Interpolation

Anzahl Ortspunkte Anzahl Tokens ALLE WORTFORMEN Anteil [e:] NUR SIMPLIZIA Anteil [e:] NUR KOMPLEXE WORTFORMEN Anteil [e:]

Schnee 18 56

See 8 12

weh 6 9

SUMME 28 77

51,8 % (29)

75,0 % (9)

(2 von 9)

51,9 % (40)

53,2 % (25)

(4 von 7)

(2 von 9)

50,8 % (31)

(4 von 9)

(5 von 5)

-

64,3 % (9)

Tab. 6.6: Anteil an Monophthongen innerhalb des traditionellen DiphthongGebietes für mhd. ê. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Tokens, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. zeigt die gegenteilige Tendenz. Wie auch in anderen phonologischen Phänomenen beobachtet wurde, dürften diese unterschiedlichen Effekte darauf zurückzuführen sein, dass manche morphologisch komplexen Wortformen einerseits bereits stark in den Dialekt eingebettet sind oder andererseits jüngere Übernahmen aus dem Standard darstellen.

6.4 INTERPOLATION In diesem Abschnitt soll abschließend die gemeinsame Entwicklung der diphthongischen Reflexe von mhd. ô und ê diskutiert werden. Diese ist in Form einer Interpolation in Abbildung A.6 dargestellt.110 Die Interpolation zeigt eine maximale Gebrauchshäufigkeit der diphthongischen Realisierung von 35–40 %. Sie tritt in drei Zentren auf, von denen das östliche nördlich von Ulm am Rand des Untersuchungsgebietes liegt, das mittlere südöstlich von Tübingen und das westlichste zwischen Freudenstadt und Tübingen. Am westlichen Rand des Diphthong-Gebietes fällt auf, dass der Übergang zum rein monophthongisch realisierenden Gebiet recht abrupt ist, während die Peripherie im Süden und vor allem im Südosten eine breite Übergangszone bildet, in der die Gebrauchshäufigkeit der diphthongischen Realisierung bei etwa 25 % liegt. Dabei fällt gerade im Südosten des alten Diphthong-Gebietes auf, dass der Lautwandel dort weiter fortgeschritten als in den übrigen Gebieten. Der Lautwandel hat gemäß der Interpolation neben der vertikalen Komponente also 110 Für die Darstellung gilt, dass die hierfür verwendete Software R immer nur denjenigen Ausschnitt eines Gebietes plottet, in dem Datenpunkte vorliegen. Da für die Untersuchung der schwäbischen Diphthongierung nur Tokens untersucht wurden, die im Bereich des traditionellen Diphthong-Gebietes auftreten, stellt der vorliegende Plot nur diesen Ausschnitt dar.

276

Die schwäbische Diphthongierung

auch eine horizontale Ausrichtung, worauf bereits die Analyse der zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleiche hindeuteten (vgl. Abbildungen 6.11 und 6.15).

6.5 ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassend kann für die Diphthongierung von mhd. ô und ê festgehalten werden, dass die diphthongischen Realisierungen der Stammvokale in allen untersuchten Lexemen den Wandel zu monophthongischen Realisierungen zum großen Teil bzw. komplett durchlaufen haben. In den Real-Time-Vergleichen wurde dies bereits angedeutet, in seinem ganzen Ausmaß trat die Wandeltendenz jedoch erst bei Berücksichtigung der spontansprachlichen Belege zutage. Der Wandel vollzieht sich dabei tendenziell von außen nach innen; diese Wandelrichtung konnte durch das häufigere Vorkommen der diphthongischen Belege im Zentrum des traditionellen Diphthong-Gebietes belegt werden. Von Reliktgebieten im Kernbereich des Diphthong-Gebietes kann dennoch nicht gesprochen werden. Auch hier herrscht fast durchgehend Variation zwischen alter und neuer Lautung. Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich der Lautwandel nicht gleichmäßig über alle lexikalischen Kontexte hinweg ausbreitet, sondern dass sehr deutliche Schwankungen auftreten. So hat das Lexem Brot den Abbau der diphthongischen Realisierung bereits komplett abgeschlossen, während das Wort Schnee mit einem Diphthong-Anteil von 51,8 % (29) das stabilste Lexem im untersuchten Korpus darstellt. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass der Lautwandel über alle Lexeme hinweg seinen Scheitelpunkt bereits überschritten hat, d. h. der Anteil innovativer (monophthongischer) Tokens beträgt in allen Fällen mehr als 50 %. Die Analyse morphologischer Komplexität ergab sowohl für mhd ô als auch für ê einen höheren Anteil an diphthongischen Realisierungen in komplexen Wortformen. Nur in einigen Fällen konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei den komplexen Types um Übernahmen aus dem Standard handelt (wie beispielsweise bei den Wortformen Hochhaus, hochinteressant oder Übersee). Im Fall des völlig lexikalisierten Kompositums Hochzeit ergab sich, dass dieses das einzige Wort darstellt, in dem die diphthongische Realisierung noch verhaftet ist. Dieser Befund veranschaulicht wie sich Lautwandel in seinem letzten Stadium vollziehen kann: Die alte Lautung zieht sich auf eines oder wenige, möglicherweise als Schibboleths verwendete Wörter zurück, die an der alten Realisierung noch festhalten.

7 DIE REALISIERUNG VON MHD. Ë 7.1 EINLEITUNG Die Reflexe des mittelhochdeutsch kurz und offen artikulierten Lautes ë ([E]) können in den rezenten Dialekten Südwestdeutschlands in Form unterschiedlicher Monophthonge ([E(:)], [e(:)], [a(:)]) oder als Diphthonge ([Ea]/[ea]) auftreten (z. B. schlecht vs. schlacht vs. schleacht). Dieser Unterschied stellt ein wichtiges phonologisches Unterscheidungsmerkmal zwischen dem westlichen (monophthongisch realisierenden) und dem östlichen (diphthongisch realisierenden) Teil des Untersuchungsgebietes dar. Abbildung 7.1 zeigt die Verbreitungsgebiete der verschiedenen Lautungen gemäß SSA-Abfragedaten. Aus der Karte ist ersichtlich, dass sich die verschiedenen Realisierungen zu drei Hauptgruppen zusammenfassen lassen: [Ea]/[ea] im Osten, [E(:)] im mittleren Segment und [a(:)] im äußersten Westen.111 Als weitere Variante kommt der gespannte Vokal [e(:)] hinzu, der beispielsweise im Lexem Besen auftritt und in seiner Lautqualität der standarddeutschen Realisierung entspricht.112 Die diphthongischen Realisierungen von mhd. ë sind im schwäbischen Dialektgebiet im 15. Jahrhundert nachgewiesen und gehen gemäß B OHNENBERGER (1892, 44–45) auf sog. „Brechungen“ zurück, die neben dem Schwäbischen auch in weiteren germanischen Sprachen auftreten (vgl. S CHRAMBKE / N ÜBLING 2006). Sie betreffen verschiedene Laute, von denen im vorliegenden Fall aber nur der Monophthong germ. e von Interesse ist. Der Brechungsprozess besteht darin, dass es zur Artikulation eines Gleitlautes j vor dem Monophthong kommt und somit ein Brechungslaut entsteht (z. B. je, ja). Im weiteren Verlauf kann sich dieser Brechungslaut allmählich zu einem Diphthong weiterentwickeln (wie z. B. bei der Entwicklung von germ. e im Lexem Geld → Gjeld → Geald). Es werden im Schwäbischen zwei (Entstehungs)arten von Diphthongen unterschieden: Dies sind einmal solche, die unter Dehnungsbedingungen entstanden sind (wie in Leben, lesen oder Leder) und andererseits Diphthonge, die aus Kurzvokalen hervorgegangen sind (wie in schlecht, recht oder Feld). Aus lautgeografischer Sicht nehmen die Dehnungsdiphthonge ein größeres Gebiet ein und reichen weiter

111 Die drei Realisierungen können phonetisch im Detail natürlich variieren. Diese auditiv wohl nur schwer zu erkennenden Unterschiede führten zusammen mit den individuellen Transkriptionsgewohnheiten auch bei den SSA-Exploratoren zu einer großen Bandbreite von Schreibweisen (vgl. SSA-Kartenkommentar II/3.50). 112 Die quantitativen Verhältnisse werden in diesem Kapitel nur dann berücksichtigt, wenn dies für die Interpretation der Lautwandelprozesse notwendig erscheint. Für eine ausführliche Behandlung der Vokalquantität siehe Kapitel 11, wo einige der hier behandelten Lexeme wieder aufgegriffen werden.

Abb. 7.1: Die Realisierungsgebiete der Reflexe von mhd. ë gemäß SSA-Abfragedaten (Lexeme: recht, Feld, Wetter, schlecht, Geld, Speck, Blech, Besen, lesen, Regen, Leder).

278 Die Realisierung von mhd. ë

279

7.1 Einleitung

nach Westen, während sich die dipthongierten Kurzvokale auf ein kleineres Areal im südöstlichen Untersuchungsgebiet konzentrieren (vgl. H AAG 1929/30, 5).113 In den folgenden Abschnitten wird zunächst ein Überblick über das verwendete Datenkorpus gegeben. Im Anschluss sollen die in die Untersuchung einbezogenen Lexeme besprochen werden, wobei hierbei eine Aufteilung in zwei Lexemgruppen vorgenommen wird. Diese Aufteilung ist durch das Verhältnis der Reflexe von mhd. ë in den Dialekten und der Standardsprache begründet. Tabelle 7.1 stellt das Vorkommen der unterschiedlichen Reflexe in den Dialekten des Untersuchungsgebietes und in der Standardsprache gegenüber. Folgende Gruppierung der Lexeme lässt sich daraus ableiten: 1) In der ersten Gruppe tritt der Reflex [E] sowohl in der Standardsprache als auch in den Dialekten des Untersuchungegebietes auf (Lexeme: Feld, recht, Wetter, Geld, schlecht, Speck, Blech). Falls sich diese Realisierung behauptet, könnte dies sowohl auf Dialekt- als auch Standardeinfluss zurückzuführen sein. Es darf angenommen werden, dass diese Realisierung die weiteren dialektalen Lautungen [Ea]/[ea] und [a] zunehmend ersetzt. 2) In der zweiten Gruppe tritt der Reflex [e:] in der Standardsprache und vereinzelt in den Dialekten des Untersuchungegebietes auf (Lexeme: Besen, Leben [Substantiv], leben [Verb], lesen, Regen, Leder).114 Sollte sich diese Realisierung durchsetzen, wäre dies in erster Linie auf den Standard zurückzuführen. Auch in diesem Fall ist die Hypothese naheliegend, dass sich die Standardlautung zunehmend behauptet und anstelle der dialektalen Realisierungen [E(:)], [Ea]/[ea] und [a:] verwendet wird. Die systematische Aufteilung in zwei Lexemgruppen soll also in erster Linie dazu dienen, den Einfluss des Standards auf die Wandelprozesse besser sichtbar zu machen. LEXEMGRUPPE I Standard Dialekt LEXEMGRUPPE II Standard Dialekt

[E] + + [E(:)] +

[e] [e(:)] + +

[Ea]/[ea] + [Ea]/[ea] +

[a] + [a:] +

Tab. 7.1: Auftreten der Reflexe von mhd. ë in der deutschen Standardsprache und in den Dialekten des Untersuchungsgebietes in Lexemgruppe I und II. Nach der Analyse der einzelnen Lexeme folgt eine zusammenfassende Darstellung der Real-Time- und Apparent-Time-Analysen sowie ein Überblick über die quantitativen Verhältnisse innerhalb der spontansprachlichen Daten. Desweiteren werden 113 Weitere Darstellungen zur Entstehung und Verbreitung der diphthongischen Realisierung von mhd. ë finden sich u. a. bei PAUL (1989), J UTZ (1931), H AAG (1946) und S EIDELMANN (1983). 114 Die Standardlautform, der die hier vorgenommene Klassifizierung folgt, ist immer gedehnt, da nur ein Langvokal im Standard gespannt sein kann. Im Dialekt können gespannte Vokale hingegen variabel kurz oder gedehnt auftreten.

280

Die Realisierung von mhd. ë

die Ergebnisse anhand von Interpolationen der spontansprachlichen Realisierungen diskutiert, um zu verdeutlichen, in welchem Maße sich die traditionellen Isoglossen in der Spontansprache widerspiegeln. Abschließend folgt ein Überblick über den Einfluss morphologischer Komplexität auf die Wandeltendenz und eine Zusammenfassung der Gesamtergebnisse.

7.2 DATENKORPUS Zur Untersuchung von mhd. ë konnte ein umfangreiches Korpus von 13 Lexemen zusammengestellt werden. Für fünf Lexeme ist ein vollständiger Real-TimeVergleich von Wenker-, SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten möglich (Lexeme recht, Feld, Wetter, schlecht, Besen). Mit sechs der Lexeme ist lediglich ein Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten möglich (Lexeme Geld, Speck, Blech, lesen, Regen, Leder). Zwei weitere Lexeme eignen sich für einen Real-Time-Vergleich zwischen den Abfragedaten F ISCHERS (1895) und den spontansprachlichen Daten: Leben (Substantiv) und leben (Verb). Tabelle 7.2 gibt einen Überblick über das Korpus der Wenker-Karten und deren Abfragekontexte. Lexem recht Feld

Wenker-Karte II-4, 479 II-4, 524

Wetter

II-4, 21

schlecht Besen

II-4, 171 II-4, 567

Wenker-Fragesatz Das war recht von ihnen! Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen / hauen. Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser. Es sind schlechte Zeiten. Einzelwortabfrage

Tab. 7.2: Korpus der Wenker-Karten für die Realisierung von mhd. ë. In Tabelle 7.3 ist das Korpus der verfügbaren SSA-Abfragedaten mit den entsprechenden Abfragekontexten aufgeführt. Tabelle 7.4 zeigt schließlich das Korpus an spontansprachlichem Material, das aus insgesamt 2987 Tokens besteht. Der Großteil der Tokens (ca. 82 %) ist dabei der Lexemgruppe I zugeordnet.

281

7.2 Datenkorpus

Lexem recht Feld Wetter schlecht Geld Speck Blech Besen lesen Regen Leder

SSA-Karte/Frage II/151.02 II/3.04 II/3.00 248/001 462/004 II/3.01 II/150.05 372/001 240/009 308/005 406/003

SSA-Fragesatz (das) geschieht dir recht Einzelwortabfrage (heute ist) schön(es) Wetter schlechte Zähne (ich habe) kein Geld Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage die Schuhe sind aus Leder

Tab. 7.3: Korpus der SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ë.

Lexem recht Feld Geld Wetter schlecht Speck Blech

Tokens 654 487 575 247 240 145 94

Ortspunkte Lexem Tokens 206 Leben (Subst.) 182 168 leben (Verb) 101 153 lesen 92 112 Besen 69 113 Leder 53 47 Regen 48 49 GESAMT: 2987 Tokens, 295 Ortspunkte

Ortspunkte 88 68 47 38 29 29

Tab. 7.4: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë.

282

Die Realisierung von mhd. ë

7.3 WANDELPROZESSE INNERHALB DER LEXEMGRUPPE I Im Folgenden soll auf der Grundlage der verfügbaren Daten die Entwicklung von mhd. ë in jedem Lexem der Gruppe I beschrieben werden. Innerhalb der Gruppen werden die Lexeme in der Reihenfolge ihrer Datenergiebigkeit behandelt.

7.3.1 Lexem recht Abbildung 7.2 zeigt die Realisierung von mhd. ë im Adjektiv recht gemäß den Abfragedaten W ENKERS, F ISCHERS (1895) und des SSA. Die westliche Grenze des Diphthongierungsgebietes verläuft nicht völlig einheitlich, lässt aber auch keine eindeutige Wandeltendenz erkennen – weder im Apparent-Time-Vergleich zwischen W ENKER und F ISCHER noch im Real-Time-Vergleich dieser Isoglossen mit der SSA-Isoglosse. Das kurze Isoglossenbündel im äußersten Nordosten variiert hingegen sehr stark und weist auf der Grundlage der verfügbaren Isoglossen auf eine Verschiebung der monophthongischen Realisierung nach Südwesten und somit auf eine Verkleinerung des Diphthong-Gebietes hin. Weitere Hinweise auf die Richtung des Wandels geben die Einzelbelege bei W ENKER und in den SSAAbfragedaten.115 Sowohl bei W ENKER als auch in den SSA-Abfragedaten treten innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes [E(:)]-Belege auf, die bei W ENKER sowohl frequenter als auch homogener verteilt sind als in den SSA-Abfragedaten. Dies deutet auf eine Ersetzung der diphthongischen Realisierung zugunsten der westlich benachbarten Variable [E(:)] hin. Andererseits tauchen innerhalb des [E(:)]Gebietes diphthongische Einzelbelege auf, die wiederum eine Ausbreitung dieser Variable vermuten lassen. Das kleinste der drei Realisierungsgebiete ([ra(:)xt]) im äußersten Westen existiert bei W ENKER gar nicht (auch nicht in Form von Einzelbelegen). Die SSA-Abfragedaten zeigen jedoch ein deutlich erkennbares Verbreitungsgebiet für diese Variante, das aber von zahlreichen Abweichungen in Form der östlich benachbarten Lautung [E(:)] durchsetzt ist. Zusammenfassend kann anhand des Real-Time-Vergleiches nur auf eine schwach ausgeprägte Wandeltendenz hin zu einer einheitlichen Realisierung [E(:)] im gesamten Untersuchungsgebiet geschlossen werden. Abbildung 7.3 zeigt den Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten. Der Vergleich bestätigt die Vermutung einer Ausbreitung der standardnahen Realisierung im gesamten Untersuchungsgebiet. Im traditionellen Diphthong-Gebiet werden bereits 41,9 % (134) der Tokens als [E(:)] und damit (hinsichtlich der Lautqualität) gemäß der standarddeutschen Lautung realisiert. Diese verteilt sich homogen über das gesamte Diphthong-Gebiet. Innerhalb des kleinen [a(:)]-Gebietes im Westen sind die standardnahen Realisierungen mit 44,8 % (47) ebenfalls sehr frequent. Die traditionelle Dialektlautung findet sich hier in erster Linie noch im äußersten Süden bei Lörrach, während in den weiter nördlich liegenden Ortspunkten häufiger standardnah realisiert wird. Das mittlere Gebiet, in dem 115 Die Kartierung F ISCHERS (1895) weist keine Einzelbelege auf.

Abb. 7.2: Real-Time-Vergleich von W ENKER, F ISCHER (1895) und SSA-Karte für das Lexem recht.

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

283

Abb. 7.3: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem recht.

284 Die Realisierung von mhd. ë

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

285

die Dialektlautung mit der Standardlautung zusammenfällt, weist nur sehr geringe Variation auf. So werden nur im südlichen Teil in ca. einem Dutzend der dortigen Ortschaften diphthongische Realisierungen [Ea]/[ea] realisiert. Da das Adjektiv recht als Basis für Wortbildungsprozesse sehr produktiv ist, erscheint es im Datenkorpus entsprechend häufig in morphologisch komplexen Wortformen, die erheblichen Einfluss auf die phonologisch dialektale Realisierung haben. So werden innerhalb des östlichen Diphthong-Gebietes 79,3 % (46) der komplexen Tokens standardnah realisiert; im westlichen [a(:)]-Gebiet sind es 72,2 % (13). Das mittlere [E(:)]-Gebiet weist in den morphologisch komplexen Wortformen keinerlei abweichende Realisierungen auf. Diese Verteilung der prozentualen Anteile in den unterschiedlichen Dialektgebieten weist darauf hin, dass es sich bei den morphologisch komplexen Wörtern häufig um Entlehnungen aus der Standardsprache handeln muss (Beispiele hierfür sind Wörter wie aufrecht, senkrecht, Rechtsanwalt, Jagdrecht oder Marktrecht). Generell ist zu beobachten, dass komplexe Wortformen, die das durch Konversion entstandene Substantiv Recht enthalten, besonders stark zur Standardrealisierung neigen. Bezogen auf das östliche DiphthongGebiet treten in solchen Formen 96,2 % der Lautung [E(:)] auf, während die übrigen komplexen Wortformen nur in 63,6 % der Fälle [E(:)] realisieren. Offensichtlich ist die Verwendung von Recht in Bezug auf das Gesetz hierbei entscheidend, denn Legislative, Judikative und Exekutive sind Bereiche, die sich außerhalb der dörflichen Alltagswelt befinden und mit der Verwendung der Standardsprache assoziiert werden. Wird im Gespräch auf diese Bereiche referiert, ist es folglich häufig notwendig Wortgut aus dem Standard zu entlehnen.

7.3.2 Lexem Feld Ähnlich wie für das Lexem recht ist auch die Datenlage für das Lexem Feld sehr gut. In Abbildung 7.4 ist der Real-Time-Vergleich zwischen Wenker- und SSAAbfragedaten aufgetragen. Im Vergleich zum Lexem recht fällt das wesentlich kleinere Diphthong-Gebiet auf, das gemäß den Wenker-Daten bereits aus drei voneinander getrennten Teilen besteht und offenbar durch die Realisierung [E] ersetzt wird (selbst innerhalb der noch bestehenden Diphthong-Gebiete verzeichnet W ENKER zahlreiche [E]-Einzelbelege). Andererseits sind in den Räumen zwischen den drei verbliebenen Diphthong-Gebieten noch häufig Einzelbelege der diphthongischen Realisierung belegt. Im Vergleich zu W ENKERS Befunden hat sich das DiphthongGebiet laut SSA-Abfrage nach Südwesten verschoben, sodass nun zwar der gesamte nördliche Bodenseeraum dazugehört, der Raum zwischen Biberach und Sigmaringen dafür nicht mehr. Innerhalb des SSA-Diphthong-Gebietes treten vor allem nördlich des Bodensees monophthongische [E]-Belege auf. Außerhalb der DiphthongGebiete verzeichnet der SSA hingegen keinerlei diphthongische Ausnahmen. Das kleine (mittlere) Diphthong-Gebiet, das W ENKER noch einzeichnet, ist in den SSAAbfragedaten ganz verschwunden. Der Kartenvergleich zeigt also eine Verlagerung des geschlossenen Diphthong-Gebietes nach Südwesten. Außerdem weisen die innerhalb dieses Gebietes auftretenden monophthongischen Einzelbelege sowohl bei

286

Die Realisierung von mhd. ë

W ENKER als auch im SSA auf eine zunehmende Destabilisierung hin. Das kleine Gebiet mit der Realisierung [falt] im Westen ist in den Daten W ENKERS nicht als klar umgrenzter Raum vertreten; hier finden sich lediglich etwas mehr als ein Dutzend Einzelbelege. Die SSA-Abfragedaten weisen hingegen ein relativ homogenes [a]-Gebiet auf, das von einigen wenigen Belegen der standardnahen Realisierung [E] durchsetzt ist. Das große mittlere Gebiet, das die standardnahe Realisierung [E] umfasst, zeigt bis auf den äußersten Osten, nur sehr geringe Beeinflussung durch benachbarte Realisierungen. Das Gesamtbild des Real-Time-Vergleichs deutet also vor allem auf Instabilität der diphthongischen und der [falt]-Lautung hin (oder auf problematische Abfrage in einem der beiden Atlaswerke). Das Kartenbild gibt Anlass zu der Vermutung, dass insbesondere W ENKER Schwierigkeiten hatte, eine Isoglosse zu bestimmen, da es recht große Gebiete mit starker Schwankung gibt. Diese Schwankungen sind im SSA erstaunlicherweise nicht mehr zu erkennen. Würde man annehmen, W ENKER hätte eine Isoglosse auch um das Gebiet gezogen, in dem viele [Ea]/[ea]-Realisierungen als Ausnahmen verzeichnet sind, so würde das Ergebnis des Real-Time-Vergleichs ein starker Rückgang des Diphthong-Gebietes sein. Neben dem Rückgang des [falt]- und des Diphthong-Gebietes geht aus dem Vergleich die Ausbreitung der standardnahen Realisierung [fElt] hervor. Wie sich der weitere Wandelprozess darstellt, zeigt der Blick in die spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 7.5 aufgetragen sind. Der im Real-TimeVergleich beobachtete Rückgang des Diphthong-Gebietes zugunsten der Realisierung [fElt] bestätigt sich. So tauchen im traditionellen Diphthong-Gebiet gemäß SSA-Abfrage gerade noch sechs diphthongisch realisierte Tokens auf, die sich auf vier Ortspunkte verteilen. Bezogen auf alle im betreffenden Gebiet vorkommenden Tokens entspricht dies einem Anteil von 8,2 %. Auch das kleine [falt]-Gebiet im äußersten Westen ist in hohem Maße durch die standardnahe Realisierung beeinflusst. Nur 9,8 % (12) aller Tokens in diesem Gebiet werden noch gemäß der traditionellen Form realisiert. Der Einfluss morphologischer Komplexität auf den Lautwandel innerhalb des östlichen und westlichen Teilgebietes kann quantitativ nicht untersucht werden, da der Wandel zur Lautung [fElt] in den entsprechenden Gebieten nahezu abgeschlossen ist. Möglicherweise hat die morphologische Komplexität aber eine gewisse Rolle bei der Beschleunigung des Lautwandels gespielt, da das Substantiv Feld als Kompositionsglied höchst produktiv ist und ca. ein Drittel aller Tokens im untersuchten Korpus in Komposita eingebettet sind. Weiterhin ist anzumerken, dass alle diphthongisch realisierten Tokens Simplizia darstellen und womöglich nur noch in diesem „einfachen“ Kontext auftreten. Zusammenfassend lässt sich zur Entwicklung von mhd. ë im Lexem Feld festhalten, dass der bereits im Real-Time-Vergleich ersichtliche Abbau der nicht standardnahen Lautungen [fEalt] und [falt] in den spontansprachlichen Daten klar bestätigt wird und der Lautwandel hin zur Realisierung [fElt] als nahezu abgeschlossen gelten darf.

Abb. 7.4: Real-Time-Vergleich von Wenker-Karte und SSA-Karte für das Lexem Feld.

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

287

Abb. 7.5: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Feld.

288 Die Realisierung von mhd. ë

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

289

7.3.3 Lexem Wetter Das Lexem Wetter verhält sich hinsichtlich seiner Wandeltendenz ähnlich wie das oben beschriebene Lexem Feld. Wie in Abbildung 7.6 zu sehen ist, zerfällt das traditionelle Diphthong-Gebiet gemäß W ENKER in drei geschlossene Teilgebiete, wobei das nordwestliche das größte darstellt. In diesem Teilgebiet sind bereits zahlreiche Einzelbelege der standardnahen Realisierung [vEt(:)5] verzeichnet. In den Übergangsbereichen der Teilgebiete sind hingegen noch zahlreiche diphthongische Einzelrealisierungen belegt, die aber weniger auf eine Ausbreitung der Diphthongierung als vielmehr auf Reste des ehemals geschlossenen Diphthong-Gebietes hinweisen dürften. Der Vergleich mit den Abfragedaten des SSA weist auf einen weiteren Rückgang der Diphthong-Realisierungen südwestlich von Ulm und westlich von Biberach hin. Das restliche Diphthong-Gebiet erscheint in den SSA-Abfragedaten im Gegensatz zu W ENKER jedoch als geschlossenes Gebiet, das den gesamten nördlichen Bodenseeraum umfasst und in seiner nordwestlichen Ausbreitung bis annähernd nach Tübingen reicht. Von der diphthongischen Lautung abweichende Einzelbelege sind in den Abfragedaten des SSA hier nicht belegt. Aus dem RealTime-Vergleich geht also offenbar eine uneinheitliche Wandeltendenz hervor. Doch wie bereits für das Lexem Feld beobachtet, würde sich im Real-Time-Vergleich eine deutliche Verkleinerung des Diphthong-Gebietes zeigen, wenn W ENKER auch diejenigen Gebiete mit einer Isoglosse umrandet hätte, in denen Diphthonge in Form von Einzelbelegen auftreten. Besonders im nordöstlichen Teil des DiphthongGebietes wäre in einem solchen Fall ein starker Rückgang zu beobachten gewesen, während das restliche Diphthong-Gebiet im Vergleich recht stabil hervorgetreten wäre. Das westliche [vat(:)5]-Gebiet ist in den Daten W ENKERS nicht als geschlossener Dialektraum kartiert, sondern lediglich durch etwa ein Dutzend Einzelbelege nachgewiesen. In den SSA-Abfragedaten erscheint diese Realisierung hingegen als geschlossener Raum, in dem nur drei abweichende [vEt(:)5]-Belege auftreten. Im Real-Time-Vergleich entsteht so der Eindruck, als würde sich das betroffene Gebiet im Laufe des 20. Jahrhunderts erst herausgebildet haben. Die spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 7.7 aufgetragen sind, bestätigen die im Real-Time-Vergleich beobachtete Entwicklung nur teilweise: Zwar finden sich zahlreiche Belege der Realisierung [vat(:)5] innerhalb des betroffenen Gebietes und machen 50,0 % (20) aller hier verzeichneten Tokens aus, doch kann nicht von einem geschlossenen Dialektgebiet gesprochen werden. Die traditionellen Realisierungen liegen in erster Linie im äußersten Süden bei Lörrach vor, während im nördlichen Bereich die standardnahe Realisierung [vEt(:)5] dominiert. Die Existenz des geschlossenen [vat(:)5]-Gebietes in den SSA-Abfragedaten dürfte demnach auf die archaisierende Erhebungsmethodik des SSA zurückgehen. Die diphthongische Realisierung bildet in den spontansprachlichen Daten kein zusammenhängendes Gebiet mehr, sondern ist lediglich in fünf verstreuten Ortspunkten belegt, die zusammen sieben diphthongische Belege verzeichnen. Innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes entsprechen bereits 87,8 % (43) der Tokens der monophthongisch Lautung [vEt(:)5].

Abb. 7.6: Real-Time-Vergleich von Wenker-Karte und SSA-Karte für das Lexem Wetter.

290 Die Realisierung von mhd. ë

Abb. 7.7: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Wetter.

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

291

292

Die Realisierung von mhd. ë

Als Substantiv ist das Lexem Wetter als Kompositionsglied sehr produktiv und taucht als solches in einem Fünftel der Tokens auf (z. B. Unwetter, Sauwetter, etc.). Da der Lautwandel hin zur Realisierung von standardnahem [vEt5] aber schon sehr weit fortgeschritten ist, reicht die absolute Anzahl an verbliebenen Tokens mit der traditionellen Realisierung [vEat5] bzw. [vat5] nicht aus, um zuverlässige quantitative Angaben zur Bedeutung morphologischer Komplexität machen zu können. Die häufige Einbettung in morphologisch komplexe Wortformen, die dem Standarddeutschen entlehnt wurden (z. B. Wetterleuchten, Wetterstation, Wetterbeobachtung, etc.) lässt an dieser Stelle jedoch den Schluss zu, dass hierdurch eine Beschleunigung des Lautwandels bewirkt wurde. Zusammenfassend kann auch für das Lexem Wetter konstatiert werden, dass die im Real-Time-Vergleich angedeutete Stabilisierung der Realisierungen [vEat5] und [vat(:)5] in den spontansprachlichen Daten nicht bestätigt wird. Nur im nordöstlichen Teil des Untersuchungsgebietes wiesen sowohl Real-Time- als auch ApparentTime-Vergleich gleichermaßen auf den Abbau der diphthongischen Lautung hin. In der sprachlichen Wirklichkeit ist demnach davon auszugehen, dass von den Sprechern zum größten Teil die standardnahe Lautung [vEt(:)5] verwendet wird.

7.3.4 Lexem schlecht Auch für das Adjektiv schlecht ist sowohl ein Real-Time-Vergleich von W ENKERund SSA-Abfragedaten als auch ein Apparent-Time-Vergleich von SSA-Abfragedaten und Spontansprache möglich. Das Diphthong-Gebiet erscheint gemäß W EN KER und SSA-Abfragedaten vergleichsweise groß (vgl. Abbildung 7.8) und der Vergleich der Isoglossen zeigt kaum einen Unterschied in deren Verläufen. Sowohl bei W ENKER als auch in den Abfragedaten des SSA sind jedoch zahlreiche standardnah realisierte Belege ([SlE(:)xt]) im gesamten Diphthong-Gebiet enthalten, die auf einen Wandel in Richtung einer standardnahen Form hindeuten. Im äußersten Nordosten, außerhalb des geschlossenen Diphthong-Gebietes, sind gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten zahlreiche diphthongische Einzelbelege verzeichnet. Womöglich gehörte dieser Bereich früher zum geschlossenen DiphthongGebiet, der nun aber von den standardnahen Realisierungen dominiert wird. Interessanterweise treten diphthongische Einzelbelege auch westlich des geschlossenen Diphthong-Gebietes auf. Ob es sich hier um eine jüngere Ausbreitung der diphthongischen Realisierungen oder um alte Reliktformen handelt, kann durch die vorliegenden Daten nicht geklärt werden. Das westliche Gebiet mit der Realisierung [Sla(:)xt] ist in den Daten W ENKERS weder als geschlossenes Gebiet eingezeichnet noch in Form von Einzelbelegen nachgewiesen. Die SSA-Abfragedaten zeigen hier hingegen ein klar abgegrenztes Gebiet, das allerdings von zahlreichen [SlE(:)xt]-Belegen durchsetzt ist und damit, wie auch das Diphthong-Gebiet, von der standardnahen Realisierung beeinflusst wird. Insgesamt kann auf der Grundlage des Real-Time-Vergleichs also gesagt werden, dass sich die Gebiete der beiden standardfernen Realisierungen [SlEaxt]/[Sleaxt] und [Sla(:)xt] zunehmend zugunsten der standardnahen Realisierung [SlE(:)xt] verändern.

Abb. 7.8: Real-Time-Vergleich der Wenker-Karte II-4/171 mit den SSA-Abfragedaten (Frage 248/001) für das Lexem schlecht.

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

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Abb. 7.9: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 248/001) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem schlecht.

294 Die Realisierung von mhd. ë

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

295

Dass sich der Trend aus dem Real-Time-Vergleich in den spontansprachlichen Daten fortsetzt, ist in Abbildung 7.9 zu sehen. Die in der SSA-Karte voneinander getrennten Gebiete erscheinen beim Vergleich mit den spontansprachlichen Daten wesentlich heterogener und zeigen insgesamt eine Ausbreitung der standardnahen Realisierung [SlE(:)xt] im Untersuchungsgebiet. So werden im Diphthong-Gebiet 64,6 % (62) der Tokens standardnah realisiert. Somit ist diese Lautung im Lexemvergleich noch vergleichsweise stark verbreitet, ohne dass jedoch ein auffälliges Reliktgebiet hierfür erkennbar wäre. Auffallend erscheint die diphthongische Realisierung westlich des Diphthong-Gebietes auf Höhe von Villingen-Schwenningen, die innerhalb von vier Ortspunkten auftritt. Das Vorkommen der diphthongischen Realisierung in diesem Gebiet ist schwer zu deuten, denn eine zunehmende Ausbreitung der diphthongischen Realisierungen nach Westen erscheint unwahrscheinlich, ist der Diphthong doch selbst in seinem traditionellen Verbreitungsgebiet bereits von massiven Auflösungserscheinungen betroffen. Im [Sla(:)xt]-Gebiet werden 50 % (8) der Tokens gemäß der standardnahen Form [SlE(:)xt] artikuliert. Auch im Lexem schlecht ist wieder zu erkennen, dass sich die spontansprachliche Realisierung [Sla(:)xt] hauptsächlich auf den südlichsten Teil bei Lörrach konzentriert. Hinsichtlich der morphologischen Komplexität ist eine genauere Analyse hinfällig, da das Lexem schlecht im spontansprachlichen Korpus nicht als Wortbildungselement auftritt. Da es als Adjektiv aber zu ca. 50 % attributiv und zu jeweils etwa 25 % adverbiell und prädikativ verwendet wird, können diese syntaktischen Umgebungen hinsichtlich einer möglichen Beeinflussung der phonologischen Realisierung betrachtet werden. Hierfür sind die Tokens innerhalb des großflächigen und variierenden Diphthong-Gebietes geeignet. Es fällt auf, dass adverbiell und attributiv gebrauchtes schlecht etwas seltener die traditionelle Realisierung aufweist (40,0 % und 39,3 %), während die prädikativ verwendeten Formen mit 58,3 % wesentlich dialektfester erscheinen. Aus der Analyse des Lexems schlecht ging hervor, dass der Stammvokal im gesamten Untersuchungsgebiet zunehmend standardnah realisiert wird. Im Vergleich zu den weiteren untersuchten Lexemen weist das Lexem schlecht aber noch relativ häufig die traditionelle Realisierung im Diphthong-Gebiet auf. Womöglich fördert das ausschließliche Vorkommen des Adjektivs als Simplex seine phonologische Stabilität, da Entlehnungen aus dem Standard nicht notwendig sind. Wie stabil die [Sla(:)xt]-Realisierung im Westen ist, kann nicht sicher gesagt werden, da hier die Tokendichte zu gering ist.

7.3.5 Lexem Geld Mit dem Substantiv Geld konnte lediglich eine Apparent-Time-Analyse durchgeführt werden. Die dazugehörigen Daten sind in Abbildung 7.10 aufgetragen. Die Untergliederung des Untersuchungsgebietes ähnelt sehr stark derjenigen der bereits analysierten Substantive Feld und Wetter. Insgesamt entsteht bei der ersten Sichtung des Datenbefundes auch für das Lexem Geld der Eindruck einer zunehmenden Ausbreitung der standardnahen Lautung [gElt]. Betrachten wir hierzu zunächst die

Abb. 7.10: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 262/004) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Geld.

296 Die Realisierung von mhd. ë

7.3 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe I

297

Entwicklung im Diphthong-Gebiet. Dieses nimmt gemäß der SSA-Abfragedaten den gesamten nördlichen Bodenseeraum ein und reicht in seinem nordwestlichen Teil bis kurz vor Tübingen. Ein weiteres geschlossenes Diphthong-Gebiet ist auf der Karte im äußersten Nordosten angedeutet. In den SSA-Abfragedaten sind innerhalb des Diphthong-Gebietes eine Reihe abweichender [gElt]-Realisierungen vertreten, die eine Wandeltendenz zur standardnahen Realisierung vermuten lassen. Diese Wandeltendenz wird in den spontansprachlichen Daten klar bestätigt, wo innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes 60,7 % (37) der Tokens gemäß der standardnahen Form [gElt] artikuliert werden. Das [galt]-Gebiet im Westen erscheint in den Abfragedaten des SSA recht heterogen. So tauchen innerhalb des umgrenzten Kernbereiches zahlreiche Abweichungen der Form [gElt] auf, außerhalb (v. a. nördlich und südöstlich) sind aber ebenfalls einzelne [galt]-Realisierungen vorhanden. Der Vergleich mit den spontansprachlichen Daten zeigt die allmähliche Ersetzung der traditionellen Form durch die standardnahe Realisierung. So werden innerhalb des traditionellen [galt]-Gebietes nur noch 39,3 % aller Tokens gemäß der erwartbaren Dialektform realisiert. Dies ist in erster Linie im südlichsten Teil um Lörrach der Fall. Das Substantiv Geld ist als Wortbildungselement produktiv und taucht im vorliegenden Korpus in ca. einem Zehntel der Tokens in einer morphologisch komplexen Wortform auf. Der Einfluss morphologischer Komplexität kann aber nicht näher untersucht werden, da im Korpus der komplexen Wortformen nur ein Token vertreten ist, das noch nicht zur standardnahen Realisierung [gElt] übergegangen ist (Geldbeutel). Weitere Vertreter komplexer Wortformen , die allesamt standardnah realisiert werden, sind beispielsweise Geldmacherei, Kindergeld, Trinkgeld, Krankengeld, etc.. Insgesamt zeigt sich für das Lexem Geld ein ähnliches Bild wie für die Substantive Feld und Wetter. Die standardnahe Realisierung [gElt] hat zum Zeitpunkt der Datenerhebung des SSA die Realisierungen [gEalt]/[gealt] bzw. [galt] in der alltagssprachlichen Wirklichkeit fast vollständig ersetzt.

7.3.6 Lexem Speck Für das Substantiv Speck konnte ebenfalls nur ein Apparent-Time-Vergleich durchgeführt werden, wobei die spontansprachliche Datenlage dünner ist als bei den zuvor behandelten Lexemen. Das Ergebnis des Vergleichs ist in Abbildung 7.11 zu sehen. Die geografische Verteilung der drei Realisierungsgebiete gemäß der SSAAbfragedaten ist ähnlich wie bei den bisher behandelten Substantiven Feld, Wetter und Geld. Sowohl innerhalb des Diphthong-Gebietes im Osten als auch im [Sbak]Gebiet im Westen sind dabei standardsprachliche Einzelbelege ([SbEk]) verzeichnet. Beim Vergleich der spontansprachlichen Daten ist innerhalb des DiphthongGebietes nur ein einziges diphthongisch realisiertes Token belegt (Schwandorf, Lkr. Tuttlingen). Hierzu muss angemerkt werden, dass die Tokendichte mit insgesamt elf Tokens in vier Ortspunkten innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes gering und deswegen kaum aussagekräftig ist. Innerhalb des [Sbak]-Gebietes sind nur

Abb. 7.11: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Karte II/3.01) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Speck.

298 Die Realisierung von mhd. ë

7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I

299

26 Tokens in acht Ortspunkten belegt. Von diesen werden 53,8 % (14) gemäß der standardnahen Form realisiert, die hauptsächlich im nördlichen Bereich auftritt; die traditionellen Lautungen konzentrieren sich hingegen ganz im Süden.

7.3.7 Lexem Blech In Abbildung 7.12 ist der Apparent-Time-Vergleich für das Substantiv Blech zu sehen. Das Diphthong-Gebiet reicht für dieses Lexem gemäß der Abfragedaten des SSA vom Bodensee bis ca. auf Höhe von Ulm, wobei sich in der Mitte bereits die standardnahe Realisierung [blEx]/[blEç] durchgesetzt hat. Auch innerhalb des geschlossenen Diphthong-Gebietes sind vor allem in Bodenseenähe bereits häufig Einzelbelege der innovativen Lautung zu finden. Auffallend ist, dass sich beim Vergleich mit den spontansprachlichen Daten eine relativ hohe Stabilität der diphthongischen Realisierung zeigt: In ca. der Hälfte der Ortschaften und 37,0 % (10) der Tokens innerhalb des Diphthong-Gebietes wird im spontanen Gespräch die standardnahe Realisierung [blEç] gewählt. Damit ist das Lexem Blech das stabilste aller untersuchten Lexeme in der Lexemgruppe I. Dennoch weist der Wandel in eine eindeutige Richtung hin zur standardnahen Realisierung. Die Entwicklung innerhalb des [blax]-Gebietes weist ebenfalls auf einen Übergang zur standardnahen Realisierung hin, der, wie auch bei den anderen Lexemen, vornehmlich den nördlichen Bereich betrifft. Als Substantiv ist das Lexem Blech als Kompositionselement produktiv und tritt in ca. der Hälfte aller Belege in Komposita auf. Die Tendenz zur standardnahen Realisierung ist in Komposita (4 von 9 standardnah) etwas höher als in Simplizia (33,3 % [6] standardnah). Die konkreten Komposita erwecken aber nicht den Eindruck neuere Entlehnungen aus dem Standard zu sein. Beispiele für morphologisch komplexe Wortformen im Korpus sind Eisenblech, Schutzblech, Wellblech oder Blechner. Generell lässt sich zum Lexem Blech festhalten, dass es sich um ein phonologisch relativ konservatives Lexem handelt, bei dem die spontansprachlichen Äußerungen der Gewährspersonen noch am ehesten den Abfragedaten entsprechen.

7.4 GESAMTANALYSEN ZU LEXEMGRUPPE I Im Folgenden soll anhand zusammenfassender Kartierungen ein Gesamtbild des Wandels von mhd. ë in der Lexemgruppe I vermittelt werden. Folgende Darstellungen werden hierfür verwendet: ein zusammenfassender Real-Time-Vergleich, ein zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich und drei Interpolationsplots zur Realisierung von mhd. ë in den spontansprachlichen Daten. Schließlich werden anhand einer zusammenfassenden Tabelle die quantitativen Verhältnisse zu den einzelnen Lexemen (besonders hinsichtlich lexikalischer Diffusion und morphologischer Komplexität) aufgegriffen und verglichen.

Abb. 7.12: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Karte II/150.05) mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Blech.

300 Die Realisierung von mhd. ë

7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I

301

7.4.1 Real-Time-Vergleich In Abbildung 7.13 sind alle verfügbaren Daten zur Realisierung von mhd. ë in den Lexemen recht, Feld, Wetter und schlecht gemäß den Kartierungen W ENKERS dargestellt. Zunächst soll auf das Diphthong-Gebiet eingegangen werden. Die Diphthong-Gebiete der einzelnen Lexeme sind grau hervorgehoben und als Overlay dargestellt. Dadurch ist die lexikalische Abstufung der diphthongischen Realisierung nach Norden, Westen und Süden zu erkennen. Die größte geografische Ausbreitung weist die Gruppe der beiden Adjektive recht und schlecht auf, die geringste die Gruppe der beiden Substantive Feld und Wetter. Im gesamten östlichen Bereich ist die Abstufung durch starke Variation in der Gruppe der Substantive nur noch schwer zu erkennen. Die diphthongische Realisierung scheint hier ehemals durchgehend gegolten zu haben, wie die zahlreichen diphthongischen Einzelbelege vermuten lassen. Doch ist sie im betroffenen Gebiet zum Zeitpunkt der Erhebungen W ENKERS offensichtlich in Auflösung begriffen, sodass das verbleibende Kerngebiet der Diphthonge nunmehr in einem kleinen Gebiet zwischen Sigmaringen und Balingen zu finden ist. Ein Hinweis für die fortschreitende Monophthongierung im gesamten traditionellen Diphthong-Gebiet geben die etlichen hier verteilten standardnahen Einzelbelege [E]. Eine gegenläufige Erscheinung, die allerdings weit weniger stark hervortritt, ist das Auftreten von diphthongischen Einzelbelegen im [E]- und [a]-Gebiet. Offensichtlich handelt es sich hierbei um eine lexemspezifische Ausbreitung des Diphthongs, da die betroffenen Einzelbelege fast ausschließlich zu den Lexemen recht und schlecht gehören. Desweiteren ist die Beobachtung interessant, dass sich besonders innerhalb des bei W ENKER durch Einzelbelege angedeuteten [a]-Gebietes die diphthongischen Einzelbelege konzentrieren. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Kompromissform, die durch die Auflösung des [a]-Gebietes zustande kommt. In Abbildung 7.14 ist der zusammenfassende Kartenvergleich der Abfragedaten W ENKERS und des SSA zu sehen.116 Die Diphthong-Gebiete sind beim Vergleich von Wenker- und SSA-Abfragedaten im Norden und Westen für die Adjektive recht und schlecht nahezu deckungsgleich. Unterschiede ergeben sich allerdings beim Vergleich der inneren Isoglossen, die die diphthongische Realisierung der Substantive Feld, Wetter, Geld, Speck und Blech umgrenzen. Im Süden fällt auf, dass gemäß SSA-Abfragedaten der gesamte nördliche Bodenseeraum für alle in die Analyse einbezogenen Lexeme zum geschlossenen Diphthong-Gebiet zählt. Somit hat sich hier im Real-Time-Vergleich die diphthongische Realisierung nach Süden ausgebreitet (bzw. wieder regeneriert) oder ist das Ergebnis der archaisierenden Erhebungsmethode des SSA. Im östlichen Bereich weist der Befund nämlich auf deutlichen Lautwandel zugunsten der monophthongischen Realisierung [E] hin, die sich über nahezu alle Lexeme hinweg bis zu einem recht stabilen Isoglossenbündel nach Süden ausgebreitet hat.117 Aber auch innerhalb des geschlossenen Diphthong116 Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind in Abbildung 7.14 die zahlreichen Einzelbelege W EN KERS (mit Ausnahme von [a]) nicht aufgetragen. Siehe hierzu die vorherige Abbildung 7.13. 117 Eine Ausnahme bildet das Lexem Blech, das im nordöstlichen Raum gemäß SSA-Abfrage nach wie vor diphthongisch realisiert wird (siehe Abbildung 7.12).

Abb. 7.13: Zusammenfassende Kartierung der Wenker-Daten zu mhd. ë in den Lexemen recht, Feld, Wetter und schlecht.

302 Die Realisierung von mhd. ë

Abb. 7.14: Zusammenfassender Kartenvergleich zwischen W ENKER (Lexeme recht, Feld, Wetter, schlecht) und den SSA-Abfragedaten (Lexeme recht, Feld, Wetter, schlecht, Geld, Speck, Blech für die Realisierung von mhd. ë.

7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I

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304

Die Realisierung von mhd. ë

Gebietes zeigen die Abfragedaten des SSA zahlreiche [E]-Einzelbelege, was eine zunehmende Ausbreitung dieser Lautung nahelegt. Zusammenfassend zeigt sich, dass sich das Diphthong-Gebiet auch in den SSA-Abfragedaten in einen äußeren (Adjektive) und einen inneren Bereich (Substantive) staffelt. Der innere Bereich umfasst nach den SSA-Abfragedaten, wie auch bei W ENKER, die Kernzone zwischen Sigmaringen und Balingen. Südöstlich davon reicht das Diphthong-Gebiet allerdings weiter und nimmt den gesamten nördlichen Bodenseeraum ein. Hinsichtlich der [a]-Realisierungen im Westen zeigen die SSA-Abfragedaten im Unterschied zu W ENKER ein klar abgrenzbares, schmales Gebiet, das von Lörrach bis etwa Baden-Baden reicht. Allerdings sind hier eine ganze Reihe von monophthongischen [E]-Realisierungen vertreten, die interessanterweise in jenen Bereichen geballt auftauchen, in denen die Einzelbelege W ENKERS tendenziell nicht vertreten sind. Auf der Grundlage des Real-Time-Vergleichs entsteht folglich der Eindruck eines in sich geschlossenen [a]-Gebietes. Die zahlreichen von der traditionellen Realisierung abweichenden Einzelbelege sprechen allerdings für eine starke Beeinflussung durch die Standardlautung. Die Entwicklungsrichtung der Realisierungsformen [a] bzw. [Ea]/[ea] lässt sich durch die Betrachtung der spontansprachlichen Daten weiter verfolgen.

7.4.2 Apparent-Time-Vergleich Abbildung 7.15 zeigt den Apparent-Time-Vergleich der wissensbasierten Daten des SSA mit den 2442 Tokens der spontansprachlichen Daten. Die Vermutung einer zunehmenden Ausbreitung der Standardlautung [E] in den Gebieten der Realisierungsformen [Ea]/[ea] und [a] wird darin bestätigt. So werden im traditionellen Diphthong-Gebiet über alle Lexeme hinweg 60,5 % (404) der Tokens gemäß der Lautung [E] realisiert. Auf dem Kartenbild muss der äußere Bereich (nur Lexeme recht, schlecht) allerdings getrennt vom Kernbereich (alle Lexeme) interpretiert werden. Im äußeren Bereich werden von den sieben kartierten Lexemen nur die beiden Adjektive recht und schlecht traditionellerweise diphthongisch realisiert, kartiert sind aber auch die spontansprachlichen Tokens der restlichen fünf Lexeme, die ohnehin monophthongisch realisiert werden. Eine Interpretation des Kartenbildes über alle Lexeme hinweg ist also nur in der diphthongischen Kernzone möglich. Es zeigt sich hier, dass nur noch in einem der untersuchten Ortspunkte (Burladingen, Zollernalbkreis) in allen Lexemen von der Gewährsperson die diphthongische Realisierung gewählt wurde. Alle anderen Ortspunkte weisen spätestens dann Variation auf, wenn zwei oder mehr Lexeme am Ortspunkt auftreten. Die geografische Verteilung der innovativen Formen über das traditionelle Diphthong-Gebiet ist recht gleichmäßig: abgrenzbare Reliktgebiete sind nicht auszumachen. Generell können aber zwei Beobachtungen zu häufigeren Diphthong-Vorkommen gemacht werden. Zum einen entsteht der Eindruck einer Häufung der diphthongischen Realisierungen nach Osten hin (die sich aber auf die hier traditionell diphthongisch realisierten Lexeme recht, schlecht und Blech beschränken). Zum anderen ist eine kleine Region im südlichen Schwarzwald-Baar-Kreist hinsichtlich ihrer relativ frequenten

Abb. 7.15: Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten (Lexeme recht, Feld, Wetter, schlecht, Geld, Speck, Blech) für mhd. ë.

7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I

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Die Realisierung von mhd. ë

diphthongischen Realisierung in den Lexemen recht und schlecht auffällig. 41 diphthongische Tokens tauchen sogar westlich des traditionellen Diphthong-Gebietes auf (und verteilen sich auch hier zum größten Teil auf die beiden Adjektive recht und schlecht). Das vereinzelte Auftreten des Diphthongs außerhalb seines geschlossenen Verbreitungsgebietes entspricht dem Befund W ENKERS, der ebenfalls eine Reihe von diphthongischen Einzelbelegen in diesem Gebiet kartiert (siehe Abbildung 7.13). Auch bei W ENKER beschränken sich diese Belege im Wesentlichen auf die Lexeme recht und schlecht. Von einer Ausbreitung der diphthongischen Realisierung nach Westen sollte aber nicht ausgegangen werden, tauchen die entsprechenden Belege in den Spontandaten doch nur in einem Teilgebiet südlich von Emmedingen auf, während sie bei W ENKER auch weiter nördlich vorzufinden sind. Außerdem weist die recht geringe Tokenanzahl der diphthongischen Realisierungen in diesem Gebiet, gerade im Vergleich zu [E] und [a], nicht auf eine Festigung dieser Lautung während des 20. Jahrhunderts hin. Die vorliegenden Diphthonge könnten, wie bereits bei der Interpretation der Daten W ENKERS angeführt wurde, als Kompromissformen zwischen den beiden Monophthongen [a] und [E] angesehen werden und die Folge der Auflösung des [a]-Gebietes sein. Die Realisierung [a] wird in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet zunehmend durch die benachbarte und gleichzeitig standardsprachliche Lautung [E] ersetzt. Über alle Lexeme hinweg sind hiervon im [a]-Gebiet bereits 63,7 % (240) aller Tokens betroffen. Bezüglich der geografischen Distribution der traditionellen Lautung zeigt sich insgesamt eine Ballung im südlichsten Teil des [a]-Gebietes. Wie bereits für die nhd. Diphthongierung (siehe Kapitel 3) stellt sich der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebietes also auch für die Realisierung von mhd. ë als Region heraus, die standardferne Realisierungen stärker bewahrt als andere Regionen.

7.4.3 Interpolationen Zur Verdeutlichung der geografischen Distribution der Realisierungen [E], [Ea]/[ea] und [a] sind in Abbildung A.7 die entsprechenden Interpolationen dargestellt. In den Plots zu den drei Realisierungsformen lässt sich erkennen, dass sich diese nicht in klar abgrenzbare Gebiete einordnen lassen. Vielmehr gibt es Gebiete höherer oder geringerer Gebrauchshäufigkeit, die (mit Ausnahme der Realisierung [a]) durch breite Übergangszonen gekennzeichnet sind. Die hohe Dominanz der Realisierung [E] fällt beim Vergleich der Interpolations-Plots besonders auf. Rote Gebiete sind gleichzusetzen mit fast durchgehender [E]-Realisierung, während in gelben Gebieten die Gebrauchshäufigkeit immer noch bei über 60 % liegt. Am höchsten ist die Gebrauchshäufigkeit in einem trichterförmigen Bereich im westlichen Untersuchungsgebiet, am geringsten ist sie hingegen im Südosten in einem Gebiet zwischen Ravensburg und Biberach. Komplementär dazu ist die Gebrauchshäufigkeit der Realisierung [Ea]/[ea] hier am höchsten. Die Lautung [a] ist einzig auf ein kleines Gebiet im äußersten Südwesten beschränkt und durch einen relativ schmalen Übergangsbereich nach außen hin abgegrenzt.

7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I

307

7.4.4 Lexikalische Diffusion und morphologische Komplexität Im Folgenden sollen die quantitativen Verhältnisse in den spontansprachlichen Daten zusammengestellt werden und besonders die unterschiedliche lexikalische Ausprägung der Wandelprozesse sowie der Einfluss morphologischer Komplexität auf den phonologischen Wandel diskutiert werden. Dabei sollen das [Ea]/[ea]-Gebiet sowie das [a]-Gebiet betrachtet werden. Tabelle 7.5 zeigt den Anteil an [E]-Tokens im traditionellen Diphthong-Gebiet für jedes der analysierten Lexeme. Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass die meisten der Lexeme vom durchschnittlichen Wert von 60,5 % erheblich abweichen. Besonders stabil erscheinen dabei die Lexeme recht und Blech, die deutlich unterhalb des Durchschnittswertes bleiben, während das Lexem schlecht einen durchschnittlichen [E]-Anteil aufweist. Von dieser eher stabilen Gruppe setzt sich die kaum noch diphthongierende Gruppe der Lexeme Feld, Wetter, Geld und Speck mit einem Anteil an [E]-Tokens von etwa 90 % ab. Ursache für die Stabilität der Lexeme recht, schlecht und Blech könnte deren gemeinsame Folgekonsonanz [-Eax-] sein. Innerhalb der Diphthong-Gebiete der Lexeme recht und schlecht ist nördlich und nordwestlich des Bodensees außerdem ein Gebiet nachgewiesen, in dem ch-Tilgung auftritt. Unter Umständen kann dies mit der höheren Stabilität der diphthongischen Realisierungen in den Lexemen recht und schlecht in Verbindung gebracht werden. Dagegen spricht allerdings, dass die beiden Gebiete nicht zusammenfallen: Das ch-Tilgungsgebiet ist im Vergleich zum Diphthong-Gebiet wesentlich kleiner.118 Weiterhin könnte die Größe des traditionellen Diphthong-Gebietes, das in diesen Lexemen größer ist als bei den restlichen, eine Rolle spielen und sich auf die diphthongische Lautung stabilisierend ausgewirkt haben. Hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss der morphologischen Komplexität der untersuchten Lexeme auf den Anteil standardnaher Realisierungen zeigen die Zahlenwerte, dass sich komplexe Wortformen insgesamt unterstützend auf die standardnahe Realisierung [E] auswirken. Innerhalb der einzelnen Lexeme trifft dies ebenfalls zu, wobei für viele der komplexen Wortformen die zugrunde liegende Tokenmenge für eine aussagekräftige Beurteilung zu gering ist. Tabelle 7.6 zeigt die entsprechenden prozentualen Anteile für das [a]-Gebiet. In der Gesamtbetrachtung ist der Wandel zur Lautung [E] in diesem Gebiet mit 78,3 % scheinbar noch weiter fortgeschritten als im Diphthong-Gebiet. Dieser hohe Durchschnittswert wird aber hauptsächlich durch das Lexem Feld erzeugt, das besonders häufig [E] realisiert und zudem eine hohe Tokenfrequenz besitzt. Alle weiteren Lexeme weisen einen niedrigeren Anteil an [E]-Tokens auf. Zwischen den einzelnen Lexemen gibt es außerdem Schwankungen bezüglich des morphologischen Kontexts, in dem sie auftreten. Innerhalb des [a]-Gebietes zeigt sich zwar im Gesamtbild eine höhere Tendenz zur Realisierung von standardnahem [E] bei morphologisch komplexen Formen. Betrachtet man aber beispielsweise das Lexem recht im Vergleich zu den anderen Lexemen, so ist diese Tendenz hier besonders stark ausgeprägt. 118 Zur ch-Tilgung in den Lexemen recht und schlecht siehe die Analysen von S TRECK (2012b, 51–56).

308

Die Realisierung von mhd. ë

recht Anzahl 107 Ortspunkte Anzahl 320 Tokens

Feld 31

Wetter 20

schlecht Geld

54

26

Speck 4

Blech 18

Gesamt 134

66

49

96

99

11

27

668

ALLE WORTFORMEN

Anteil 41,9 % 90,9 % 87,8 % 64,6 % 85,9 % 90,9 % 37,0 % 60,5 % [E]Tokens (134)

(60)

(43)

(62)

(85)

(10)

(10)

(404)

NUR SIMPLIZIA

Anteil 33,7 % 89,1 % 90,4 % 63,5 % 85,4 % [E]Tokens (88)

(49)

(37)

(61)

(82)

-

-

-

33,3 % 57,4 %

(6)

(329)

-

78,9 %

NUR KOMPLIZIA

Anteil 79,3 % 100 % [E]Tokens (46)

(11)

-

(75)

Tab. 7.5: Lexemgruppe I: Quantitative Angaben zum Anteil der standardnahen Form [E] innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes für mhd. ë. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen („Komplizia“). Zahlenwerte, die sich auf eine Grundmenge von weniger als zehn Tokens beziehen, werden nicht aufgeführt.

309

7.4 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe I

recht Anzahl 25 Ortspunkte Anzahl 105 Tokens

Feld 29

Wetter 19

schlecht Geld

9

14

Speck 8

Blech 5

Gesamt 38

122

40

16

61

26

7

377

ALLE WORTFORMEN

Anteil 44,8 % 90,2 % 50,0 % 50,0 % 60,7 % 53,8 % [E]Tokens (47)

(110)

(20)

(8)

(37)

(14)

63,7 %

(240)

NUR SIMPLIZIA

Anteil 39,1 % 89,6 % 45,5 % 50,0 % 59,6 % 56,0 % [E]Tokens (34)

(69)

(15)

(8)

(31)

(14)

-

-

-

58,9 %

(172)

NUR KOMPLIZIA

Anteil 72,2 % 91,1 % [E]Tokens (13)

(41)

-

80,0 %

(68)

Tab. 7.6: Lexemgruppe I: Quantitative Angaben zum Anteil der standardnahen Form [E] innerhalb des traditionellen [a]-Gebietes für mhd. ë. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen („Komplizia“). Zahlenwerte, die sich auf eine Grundmenge von weniger als zehn Tokens beziehen, werden nicht aufgeführt.

310

Die Realisierung von mhd. ë

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass innerhalb des Diphthong-Gebietes die lexikalische Steuerung des Lautwandels stärker ausgeprägt ist als im [a]-Gebiet. Weiterhin haben sich in den spontansprachlichen Daten beider Gebiete stärkere Wandeltendenzen bei morphologisch komplexen Wortformen ergeben. Dies dürfte darauf zurückgehen, dass es sich beim Großteil der komplexen Wortformen nicht um autochthon dialektale Bildungen handelt, sondern um solche, die vorwiegend (oder ausschließlich) im Standard existieren und aus diesem von den Sprechern zusammen mit der Standardlautung [E] entlehnt wurden.

7.5 WANDELPROZESSE INNERHALB DER LEXEMGRUPPE II In diesem Abschnitt sollen die Lexeme der Teilgruppe II (Besen, Leben [Substantiv], leben [Verb], lesen, Regen, Leder) betrachtet werden. Im Gegensatz zur Lexemgruppe I ist ein vollständiger, dreistufiger Datenvergleich in der Lexemgruppe II nur für das Lexem Besen möglich. Für die weiteren Lexeme können aber einerseits Vergleiche der Isoglossen von F ISCHER (1895) mit den Spontandaten (Lexeme Leben [Substantiv] und leben [Verb]) und andererseits der SSA-Abfragedaten mit den Spontandaten (Lexeme lesen, Regen, Leder) vorgenommen werden. Verglichen mit den Lexemen der Teilgruppe I treten nun im Untersuchungsgebiet nicht nur die drei Realisierungsformen [Ea]/[ea], [E(:)] und [a(:)] auf, sondern eine vierte Form mit der Lautung [e(:)]. Da die Lautqualität dieser Realisierung identisch mit der Standardform ist, lässt sich die Hypothese aufstellen, dass sie sich von allen Realisierungen am besten behauptet bzw. sich in den benachbarten Gebieten ausbreitet.

7.5.1 Lexem Besen Abbildung 7.16 zeigt den Real-Time-Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSAAbfragedaten für das Lexem Besen. Betrachtet man dabei das Diphthong-Gebiet nach W ENKER und SSA-Abfragedaten, so zeigen die umgrenzenden Isoglossen eine hohe Deckungsgleichheit. Allerdings sind innerhalb des Diphthong-Gebietes sowohl nach W ENKER als auch nach SSA-Abfragedaten zahlreiche, gleichmäßig verteilte [E:]-Belege zu finden. Es deutet sich hier also nicht etwa ein Wandel hin zur standardnahen Realisierung [e:] an (obwohl diese in einigen wenigen Einzelbelegen ebenfalls vorliegt), sondern zur standardferneren Form [E:]. Umgekehrt finden sich aber auch außerhalb des traditionellen Diphthong-Gebiets einige DiphthongBelege, die fast ausschließlich auf das [e:]-Gebiet zwischen Sigmaringen und Freudenstadt beschränkt sind. Im südlichen Vokalkürze-Areal um Villingen-Schwenningen, in dem die Realisierung [e] gilt, sind keine Diphthong-Belege vertreten. Das Auftreten diphthongischer Realisierungen außerhalb ihres traditionellen Verbreitungsgebietes scheint also nur dort möglich zu sein, wo ansonsten Vokallänge gilt. Bei den beschriebenen, außerhalb des Diphthong-Gebiets auftretenden Diphthongen kann davon ausgegangen werden, dass diese sich nicht weiter ausbreiten werden, da innerhalb des [e:]-Gebiets Einzelrealisierungen für [E:] viel häufi-

Abb. 7.16: Real-Time-Vergleich von W ENKER und SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem Besen.

7.5 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe II

311

312

Die Realisierung von mhd. ë

ger auftreten und somit ein Wandel hin zu dieser Form wahrscheinlicher ist. Auch die Isoglossen zwischen den Realisierungsformen [e:] und [E:] unterscheiden sich im Vergleich von W ENKER und SSA-Abfrage in ihrem südlichen Teil nur wenig und lassen keine eindeutige Wandeltendenz erkennen. Den Nordwesten des Untersuchungsgebietes zählt der SSA allerdings vollständig zum [E:]-Gebiet, während W ENKER diesen Raum dem geschlossenen [e:]-Gebiet zuweist. Diese Wandeltendenz wird bei W ENKER durch eine Reihe von [E:]-Einzelbelegen innerhalb des [e:]Gebietes bereits angedeutet. Innerhalb des traditionellen [e:]-Gebietes scheint sich also die dialektale Form [E:] stellenweise durchzusetzen. Das kleinräumige [a:]Gebiet im äußersten Westen ist bei W ENKER nicht verzeichnet, auch nicht in Form von Einzelbelegen. Der SSA hingegen zeigt ein abgrenzbares Gebiet, in dessen Norden allerdings zahlreiche Einzelbelege der benachbarten Realisierung [E:] auftreten. Im äußersten Südwesten sind bei W ENKER im [E:]-Gebiet außerdem etliche Einzelbelege der standardsprachlichen Realisierung [e:] verzeichnet. Diese sind gemäß SSA-Abfragedaten jedoch kaum noch vorhanden und sind größtenteils den Realisierungen [a:] und [E:] gewichen. Das Gesamtbild des Kartenvergleichs zeigt also eine generelle Tendenz zur Ausbreitung der dialektalen Realisierung [E:] innerhalb des Untersuchungsgebietes. Im Diphthong-Gebiet zeigt sich diese Tendenz sowohl in den Abfragedaten W ENKERS als auch in denen des SSA. Das traditionelle [e:]-Gebiet verkleinert sich von Norden her im Real-Time-Vergleich ebenfalls zugunsten der Realisierung [E:]. Südlich davon weist das verbliebene [e:]-Gebiet gemäß W ENKER [E:]-Einzelbelege auf, was auf eine Fortsetzung des Wandelprozesses hindeutet. Interessant ist hierbei, dass [E:]-Einzelbelege fast nur im [e:]-Gebiet auftreten und kaum im südlicher gelegenen [e]-Gebiet, in dem traditionell Vokalkürze gilt. Vokalkürze scheint demnach stabilisierend zu wirken und gegenüber der sich ausbreitenden Dialektform [E:] kaum anfällig zu sein. Auch gemäß der Abfragedaten des SSA ist das Kürzegebiet nicht von äußeren Einflüssen betroffen, was im Wesentlichen aber auch für das umgebende [e:]-Areal gilt. Schauen wir uns nun an, wie sich die beobachteten Wandelprozesse in den spontansprachlichen Daten darstellen. Hierfür sind diese in Abbildung 7.17 gegen die SSA-Abfragedaten aufgetragen. Das Lexem Besen ist in den spontansprachlichen Daten mit lediglich 69 Tokens vertreten, weswegen eine Interpretation der Daten nur bedingt aussagekräftig ist. Insgesamt bestätigt das Kartenbild aber die Entwicklung, die bereits durch den Real-Time-Vergleich angedeutet wurde. Die diphthongischen Formen im Osten werden in erster Linie durch die Realisierung [E:] ersetzt: Von den insgesamt 22 Belegen in diesem Gebiet werden 45,5 % (10) als [E:] realisiert. Im gesamten westlichen Teil des Untersuchungsgebietes ist die Lautung [E:] fast ausnahmslos vertreten. Das [e:]-Gebiet bleibt hingegen annähernd unbehelligt von jeglichem Einfluss und erscheint in den Spontandaten sehr stabil. Dies gilt ebenso für das Kürzegebiet mit der Realisierung [e], die in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet ausnahmslos vertreten ist und drüber hinaus in vier weiteren, außerhalb liegenden Belegorten auftritt. Knapp die Hälfte der Tokens ist in morphologisch komplexe Wortformen eingebettet (z. B. Besenreisig, Ofenbesen, Besenstiel, Hexenbesen, etc.). Allerdings kann

Abb. 7.17: Apparent-Time-Vergleich von SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem Besen.

7.5 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe II

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314

Die Realisierung von mhd. ë

der Effekt der Morphologie auf die phonologische Realisierungsform im vorliegenden Fall nicht näher untersucht werden, da die spontansprachlichen Daten innerhalb der einzelnen Realisierungsgebiete nur sehr wenig Variation aufweisen und darüber hinaus die Anzahl der Tokens zu gering ist. Einzig erwähnenswert sind wohl die Verhältnisse innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebiets. Nur 33,3 % (6) der Simplizia werden gemäß der Lautung [E:] realisiert, während es bei den morphologisch komplexen Tokens 100 % (4) sind (in allen vier Fällen handelt es sich um das Type Besenstiel).

7.5.2 Lexem Leben (Substantiv + Verb) Abbildung 7.18 zeigt den Real-Time-Vergleich der Fischer-Karte 3 (F ISCHER 1895) mit den spontansprachlichen Daten, die hier in Kombination von substantivisch und verbal verwendeten Formen aufgetragen sind.119 Da in der Kartierung F ISCHERS lediglich die Diphthong-Isoglosse verzeichnet ist, kann nur die Entwicklung dieses Gebietes in Real-Time betrachtet werden. Hier zeigt sich, dass die diphthongische Lautung bereits zu einem großen Teil durch die Formen [e:] und besonders [E(:)] ersetzt worden sind. Nur 15,4 % (11) der Tokens in diesem Gebiet werden noch diphthongisch realisiert. Die Diphthonge sind auf neun Ortspunkte verteilt, von denen die meisten im Nordwesten des traditionellen Diphthong-Gebietes liegen. Der Anteil an diphthongischen Tokens ist bei der Verbform im Vergleich zum Substantiv Leben mit 34,2 % (12) höher und in knapp der Hälfte aller Ortspunkte im Diphthong-Gebiet vertreten. Wie bereits im Rahmen der Analyse für das Lexem Besen beobachtet, dominiert prozentual bei den Ersatzlauten nicht die standardnahe Lautung [e:], sondern die standardfernere Realisierung [E(:)]. Mit 95,5 % (22) ist ihr Anteil beim Verb leben besonders hoch, wobei fast ausschließlich die gedehnte Variante [E:] eine Rolle spielt (die Kurzform [E] ist fast ausschließlich auf ein kleines Gebiet nördlich des Kantons Schaffhausen beschränkt120 ). Zumindest für das schwäbische Dialektgebiet erscheint der Ersatzlaut [E:] naheliegend, da das phonologische System des Schwäbischen diesen Laut ohnehin anstelle der gespannten Variante besitzt (vgl. schwäbisch sähen [sehen]). Auch im restlichen Untersuchungsgebiet (in dem Isoglossen zur Abgrenzung der Realisierungen [E(:)], [e:] und [a:] nicht vorhanden sind) fällt die Dominanz der Realisierungsform [E(:)] auf. Ihr Anteil beträgt für das Substantiv Leben hier 60,9 % (67) und für die verbal verwendete Form 80,0 % (80). Für das Substantiv Leben lässt sich der Einfluss morphologischer Komplexität auf die phonologische Realisierung gut betrachten, da 39,6 % (72) aller Tokens 119 Aus der Legende von F ISCHERS Karte 3 geht nicht hervor, ob es sich bei dem kartierten Lexem um das Substantiv Leben oder das Verb leben handelt. Weiterhin ist für die im spontansprachlichen Korpus enthaltene Verbform leben zu erwähnen, dass aus Gründen der Einheitlichkeit aus dem Flexionsparadigma nur die homophonen Wortformen des Infinitivs sowie die 1. und 3. Person Plural (wir/sie) leben in das Korpus aufgenommen wurden. 120 Zur Orientierung wurde hierzu die Vokalkürze-Isoglosse gemäß SSA-Abfrage für das phonotaktisch ähnliche Lexem lesen aufgetragen.

Abb. 7.18: Real-Time-Vergleich von Karte 3 (F ISCHER, 1895) mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem Leben (Substantiv + Verb).

7.5 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe II

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Die Realisierung von mhd. ë

in komplexe Wortformen eingebettet sind (z. B. Lebensjahr, Lebensmittel, Lebensunterhalt). Allerdings kann lediglich der Einfluss im Diphthong-Gebiet analysiert werden, da nur dieses Gebiet in seiner traditionellen Ausprägung durch die Isoglosse F ISCHERS (1895) abgrenzbar ist. Es zeigt sich für Simplizia mit 81,6 % (40) nicht-diphthongischer Realisierungen eine höhere Stabilität als für komplexe Wortformen mit 91,3 % (21). Für die verbale Form konnte beobachtet werden, dass das Auftreten der ohnehin schon seltenen Standardrealisierung [e:] zur Hälfte an morphologisch komplexe Wortformen (3) gekoppelt ist. Es handelt sich hierbei um die Präfigierungen verleben (‘erleben’) und zusammenleben. Zusammenfassend lässt sich aus der oben beschriebenen Datenanalyse schließen, dass sowohl die Realisierungsformen [E(:)] als auch [e:] im gesamten Untersuchungsgebiet zwar flächendeckend auftreten, dass die Realisierungsform [E(:)] jedoch in quantitativer Hinsicht häufiger als Ersatzform dient und sich gegen die Standardrealisierung [e:] behauptet, wenn nicht gar durchsetzt.

7.5.3 Lexem lesen Für das Verb lesen (im Sinne von ‘einen Text lesen’) konnte ein Apparent-Time-Vergleich von SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten vorgenommen werden (Abbildung 7.19). Außerdem konnte eine Isoglosse aus der Kartierung H AAGS (1929/30) in die Analyse aufgenommen werden. Diese erstreckt sich über ein kurzes Teilstück zwischen Balingen und Rottweil und deutet im Real-Time-Vergleich mit den Abfragedaten des SSA eine leichte Ausbreitung der diphthongischen Realisierung nach Südwesten an. In den Abfragedaten des SSA tauchen innerhalb des Diphthong-Gebietes aber einige Einzelbelege für die Realisierungen [E:] und ein einziger für [e:] auf, was die Annahme einer Ausbreitungstendenz der diphthongischen Lautung nicht bestätigt. Die Realisierung [a:] erscheint in den Abfragedaten des SSA wieder als geschlossenes Gebiet, in dem aber ebenfalls Einzelbelege der Realisierung [E:] vorhanden sind. Im mittleren Gebiet verzeichnen die Abfragedaten die Realisierung [E(:)], wobei sich Vokalkürze auf ein kleinräumiges Gebiet nördlich des Kantons Schaffhausen erstreckt. Interessanterweise verzeichnen die Abfragedaten innerhalb dieses Gebietes keinerlei Variation, während im Dehnungsgebiet eine Reihe von Einzelbelegen für die Realisierung [e:] auftreten. Die Datenlage der Spontansprache für das Verb lesen ähnelt derjenigen der bereits besprochenen Lexeme der Teilgruppe II: Im traditionellen Diphthong-Gebiet setzt sich die Lautung [E(:)] (63,2 % [24]) durch und bildet die einzige Ersatzform (dies gilt insbesondere für die gedehnte Realisierung). Die standardnahe Variante [e:] kommt hier gar nicht vor. Im traditionellen [a:]-Gebiet werden hingegen noch 81,8 % (9) der Tokens gemäß der traditionellen Form realisiert. Allerdings konzentrieren sich fast alle Tokens im äußersten Süden bei Lörrach, wo in den bisherigen Analysen die traditionelle Lautung ohnehin vermehrt auftrat. Es darf also davon ausgegangen werden, dass auch hier die Realisierung [a:] durch die Lautungen [E:] und [e:] ersetzt wird. Im mittleren Gebiet schließlich tritt in den SSA-Abfragedaten die Realisierung [e:] sporadisch auf, während sie in den spontansprachlichen Daten

Abb. 7.19: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 240/009) mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem lesen.

7.5 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe II

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318

Die Realisierung von mhd. ë

praktisch nicht vorzufinden ist. Dieser Befund ist erstaunlich, deutet er doch darauf hin, dass die gespannte Standard-Form [e:] eine ältere Ersatzform für dialektales [E:] darstellt, während in den spontansprachlichen Daten scheinbar wieder eine Homogenisierung zur Realisierung [E:] stattgefunden hat. Der Grund für diese sich andeutende Verschiebung im Gebrauch der Ersatzformen könnte damit zu tun haben, dass sich die Lautung [E:] zu einer überdachenden regiolektalen Form entwickelt hat, die nun anstelle der standardsprachliche Realisierung als Haupteinflussgröße fungiert. Hinsichtlich der morphologischen Komplexität kann für das Verb lesen festgestellt werden, dass in Simplizia innerhalb des Diphthong-Gebietes häufiger die traditionelle Form vorliegt (37,5 % [12]) als in komplexen Wortformen (1 von 5 Token). Bei den komplexen Wortformen handelt es sich um Präfigierungen wie ablesen, vorlesen oder rauslesen.

7.5.4 Lexem Regen Für das Substantiv Regen konnte ein weiterer Apparent-Time-Vergleich von SSAAbfragedaten mit spontansprachlichen Daten vorgenommen werden. Wie in Abbildung 7.20 zu sehen ist, zeigen die SSA-Abfragedaten einige abweichende [E:]Einzelbelege innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes, was auf einen tendenziellen Abbau der diphthongischen Realisierung hinweist. Das [a:]-Gebiet im äußersten Westen beinhaltet drei [E:]-Einzelbelege. Das mittlere Gebiet wird in den SSA-Abfragedaten im Wesentlichen durch die Realisierung [E:] geprägt, wobei hier einige Einzelbelege der Standard-Realisierung [e:] auftreten. Im Süden gilt, wie schon bei den zuvor behandelten Lexemen, Vokalkürze [E]. Insgesamt deutet der Befund gemäß SSA-Abfragedaten also auf eine Ausbreitung der Lautung [E:] hin, wohingegen das Verbreitungsgebiet dieser Realisierung selbst durch die standardsprachliche Lautung [e:] beeinflusst wird. Die spontansprachlichen Daten unterstützen im Wesentlichen die den SSA-Abfragedaten entnommene Entwicklungstendenz. Innerhalb des Diphthong-Gebietes werden noch 54,5 % (6) der Tokens diphthongisch realisiert. Im [a:]-Gebiet wird hingegen nur einer von insgesamt fünf Tokens noch gemäß der traditionellen Lautung realisiert. Im mittleren [E(:)]-Gebiet schließlich wird die dort traditionell vorliegende Realisierung in den spontansprachlichen Daten bestätigt. Nur ein Token wird innerhalb des Vokalkürze-Gebietes gemäß der standarnahen Form [e:] realisiert. Wie schon im Fall des Lexems lesen beobachtet werden konnte, ist auch für das Lexem Regen innerhalb des [E(:)]-Gebietes die standardsprachliche Realisierung [e:] offenbar nicht die primäre (vertikale) Einflussgröße, sondern regionaldialektales [E:]. Etwa zwei Drittel der Tokens ist in morphologisch komplexe Komposita eingebettet (v. a. Regenwetter, Regenschirm, Regenbogenforelle). Obwohl einige dieser Komposita offensichtlich Übernahmen aus dem Standarddeutschen darstellen, wird in keinem der Komposita die standardsprachliche Lautung [e:] gewählt, sondern fast ausschließlich die Realisierung [E(:)].

Abb. 7.20: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 308/005) mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem Regen.

7.5 Wandelprozesse innerhalb der Lexemgruppe II

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Die Realisierung von mhd. ë

7.5.5 Lexem Leder Abbildung 7.21 zeigt den Apparent-Time-Vergleich zwischen den SSA-Abfragedaten und den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem Leder. Auch hier sind im traditionellen Diphthong-Gebiet gemäß SSA-Abfrage zahlreiche [E:]-Tokens sowie zwei [e:]-Tokens verzeichnet, die einen Abbau der diphthongischen Lautung vermuten lassen. Im [a:]-Gebiet sind einige [E:]-Realisierungen zu erkennen, die hier den Abbau der traditionellen Lautung andeuten. Andererseits sind aber nördlich und südöstlich des traditionellen Verbreitungsgebietes einige [a:]-Einzelbelege zu finden, aus denen eine Ausbreitungstendenz geschlossen werden könnte. Im mittleren Gebiet gilt durchgehend die Realisierung [E(:)] (mit Vokalkürze im südlichen Areal), nebst einigen hier auftretenden [e:]-Einzelbelegen. Die spontansprachlichen Daten deuten im [Ea]/[ea]- sowie im [a:]-Gebiet ebenfalls auf einen klaren Abbau der traditionellen Realisierungen hin. Im ersten Gebiet werden noch 53,3 % (8) der Tokens gemäß der traditionellen Lautung realisiert, in letzterem sind es drei von sechs Tokens. Als Ersatzlaut dient in beiden Gebieten ausschließlich [E:]. Wie bereits die Tokens des Lexems Regen so sind auch diejenigen des Lexems Leder zu ca. zwei Dritteln in Komposita eingebettet (häufige Vertreter sind beispielsweise Lederranzen, Lederschuhe, Ledersohle oder Lederriemen). Auch hinsichtlich des Lexems Leder werden Komposita tendenziell standardnäher realisiert. So besitzen die im Diphthong-Gebiet auftretenden dreizehn Komposita in 46,2 % (6) der Fälle die traditionelle Lautung, während dies bei zwei von vier Simplizia zutrifft. Die phonologische Stabilität der Komposita hat vermutlich damit zu tun, dass es sich hierbei durchweg um dialektal verankerte Formen handelt, die nicht aus der Standardsprache entlehnt werden mussten und demzufolge auch keine standardnahe Lautung in den Dialekt überführten.

7.6 GESAMTANALYSEN ZU LEXEMGRUPPE II In diesem Abschnitt sollen für die Wandelprozesse in der Lexemgruppe II einige zusammenfassende Gesamtanalysen vorgestellt werden. Diese bestehen aus einem Apparent-Time-Vergleich sowie aus Interpolationen zu den prozentualen Anteilen der vier phonologischen Realisierungsformen im Untersuchungsgebiet.121 Schließlich wird die Variation in den spontansprachlichen Daten quantitativ dargestellt, um einen Überblick über die lexikalische Diffusion der Wandelprozesse sowie den Einfluss morphologischer Komplexität zu erhalten.

121 Auf einen zusammenfassenden Real-Time-Vergleich zwischen Wenker- und SSAAbfragedaten wird verzichtet, da bei W ENKER lediglich Daten für das Lexem Besen vorliegen.

Abb. 7.21: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 406/003) mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ë im Lexem Leder.

7.6 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe II

321

322

Die Realisierung von mhd. ë

7.6.1 Apparent-Time-Vergleich In Abbildung 7.22 ist ein aggregierter Apparent-Time-Vergleich zwischen allen verfügbaren SSA-Isoglossen (Lexeme Leben [Substantiv], leben [Verb], lesen, Regen, Leder) und den entsprechenden spontansprachlichen Daten zu sehen.122 Wie in den Analysen zu den einzelnen Lexemen bereits durchgehend zu erkennen war, breitet sich die Realisierung [E:] im Untersuchungsgebiet am stärksten aus. Das DiphthongGebiet zeigt gemäß Abbildung 7.22 einen klaren Rückgang der traditionellen Lautung zugunsten der Ersatzlautung [E:], wobei gerade im nordwestlichen Bodenseegebiet auch die Kurzform [E] ein kleines Cluster bildet. Die höchste Konzentration weist die traditionelle diphthongische Lautung nördlich einer Linie Rottweil-Ulm auf, während südlich davon der Monophthong [E:] häufiger vorzufinden ist. Das traditionelle [a:]-Gebiet weist im Gesamtbild ebenfalls einen deutlich Rückgang auf. Die Realisierung [a:] hält sich, wie auch schon für die Lexemgruppe I gezeigt wurde, am besten im äußersten Süden bei Lörrach. Das mittlere Gebiet ist sowohl in den SSA-Abfragedaten als auch in den spontansprachlichen Daten fast ausschließlich durch die Realisierung [E:] geprägt, während die standardnahe Realisierung [e:] nur selten auftritt und einen geringen Einfluss ausübt. Schließlich ist das südliche Vokalkürzegebiet zu erwähnen, in dem im Gesamtbild deutliche Variation auftritt. Gerade im nördlichen Bereich, in dem die Isoglossen zum angrenzenden Dehnungsgebiet gestaffelt erscheinen, ist auch in den spontansprachlichen Daten der Anteil des Langvokals [E:] höher als im Süden des Kürzegebietes.

7.6.2 Interpolationen In Abbildung A.8 sind die Interpolationen zur geografischen Distribution der Realisierungen [E(:)], [e:], [Ea]/[ea] und [a:] zu sehen. Generell ist in allen InterpolationsPlots zu erkennen, dass keine der Realisierungsformen hinsichtlich ihres spontansprachlichen Gebrauchsgebietes scharf eingrenzbar ist. Vielmehr entsteht ein unscharfes Bild mit zumeist breiten Übergangsbereichen und einer Abstufung der Gebrauchshäufigkeit. Die Lautung [E(:)] zeigt im Vergleich mit den anderen Realisierungsformen die höchste Gebrauchsfrequenz, die im Bereich zwischen Freiburg und Offenburg am höchsten ist. Im Gebiet zwischen Freudenstadt und Tübingen ist sie hingegen am geringsten (liegt aber immer noch bei 35–40 %). Sie konkurriert hier am stärksten mit den Realisierungen [Ea]/[ea] und [e:], wie aus den anderen Plots in Abbildung A.8 erkennbar ist. Die Gebrauchsfrequenz der Realisierung [e:] ist im südwestlichen und südöstlichen Raum sehr gering, während sie nördlich von Villingen-Schwenningen in Richtung Karlsruhe zunimmt. Das Hauptverbreitungsgebiet der diphthongischen Realisierung [Ea]/[ea] liegt nordöstlich von Tübingen. Nach Westen und Südwesten ist die Grenze zu anderen Realisierungen relativ scharf, während dies nach Süden hin nicht der Fall ist. Am deutlichsten grenzt sich der Gebrauch der Lautung [a:] nach außen hin ab. Diese Realisierungsform ist auf 122 Das Lexem Besen wurde in die vorliegende Kombinationskarte aufgrund seiner lautgeografischen Sonderstellung nicht aufgenommen.

Abb. 7.22: Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten (Lexeme Besen, Leben [Substantiv], leben [Verb], lesen, Regen, Leder) für die Realisierung von mhd. ë.

7.6 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe II

323

324

Die Realisierung von mhd. ë

den äußersten Südwesten beschränkt und taucht im restlichen Untersuchungsgebiet überhaupt nicht auf. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch in den interpolierten spontansprachlichen Daten die annähernd flächendeckende Dominanz der Realisierung [E:] hervortritt. Das einzige Gebiet, in dem sie eine relativ geringe Gebrauchshäufigkeit besitzt, ist der Nordosten des Untersuchungsgebietes, wo die diphthongische Lautung am häufigsten anzutreffen ist.

7.6.3 Lexikalische Diffusion und morphologische Komplexität In Tabelle 7.7 sind die quantitativen Verhältnisse (prozentuale Anteile innovativer Tokens) in den spontansprachlichen Daten zusammengestellt. Die Angaben sollen dazu dienen den Grad der lexikalischen Steuerung des Lautwandels sowie den Einfluss morphologischer Komplexität auf den phonologischen Wandel zu verdeutlichen. Hierfür werden das Diphthong-Gebiet sowie das [a:]-Gebiet hinsichtlich ihrer Variation näher betrachtet. Im Unterschied zu Lexemgruppe I wird neben dem Anteil der Lautung [E(:)] auch der Anteil der standardnahen Realisierung [e:]) angegeben. In Bezug auf das traditionelle Diphthong-Gebiet zeigt das Gesamtergebnis eine durchschnittliche Abweichung von 67,9 % von der traditionellen Lautung. Gerade die Lexeme Besen, Regen und Leder liegen mit ca. 50 % innovativer Tokens deutlich unter diesem Durchschnittswert, während das frequente Lexem Leben (Substantiv) mit 84,6 % einen überdurchschnittlich hohen Anteil aufweist. Der hohe Wert geht auf die besonders häufigen [e:]-Realisierungen in diesem Lexem zurück, die wiederum für einen erhöhten Einfluss der Standardsprache sprechen. Über die einzelnen Lexeme hinweg ist für den vorliegenden Lautwandel also eine ausgeprägte lexikalische Steuerung erkennbar, die sich bei den analysierten Lexemen durch prozentuale Anteile innovativer Realisierungen zwischen 45,5 % und 84,6 % bemerkbar macht. Neben der lexikalischen Steuerung des Lautwandels zeigen die Werte den Zusammenhang von morphologischer Komplexität und Lautwandel im DiphthongGebiet. Insgesamt weisen die morphologisch komplexen Tokens mit durchschnittlich 76,9 % nicht traditioneller Realisierungen auf einen weiter fortgeschrittenen Lautwandelprozess hin als die Simplizia mit durchschnittlich 64,6 %. Besonders auffallend tritt dieser Effekt beim Substantiv Leben hervor, das in morphologisch komplexen Kontexten häufiger die monophthongische Lautung besitzt als in Simplizia. Dieser Befund korreliert mit einem in morphologisch komplexen Kontexten ebenfalls höheren Anteil an standardnahen [e:]-Tokens, was auf einen starken Einfluss der Standardsprache in diesen morphologischen Kontexten spricht. Auch in den anderen Lexemen ist die Tendenz einer standardnäheren Realisierung bei morphologisch komplexen Wortformen erkennbar. Auf eine tabellarische Zusammenstellung der Anteile von [E(:)]- und [e(:)]Tokens im traditionellen [a:]-Gebiet wurde verzichtet, da die Tokenanzahl für Prozentvergleiche zwischen den meisten Lexemen zu gering ist. Dem spontansprachlichen Datenkorpus aus dem [a:]-Gebiet lässt sich allerdings entnehmen, dass der Gesamtanteil innovativer Tokens in Lexemgruppe II mit 45,8 % (11) deutlich geringer

325

7.6 Gesamtanalysen zu Lexemgruppe II

lesen

Regen

Leder

Gesamt

26

25

9

9

73

72

35

38

11

15

193

45,5 %

69,4 %

62,9 %

63,2 %

36,4 %

46,7 %

60,6 %

(10)

(50)

(22)

(24)

(4)

(7)

(117)

4,5 %

15,2 %

2,9 %

-

9,1 %

-

7,3 %

(1)

(11)

(1)

50,0 %

84,6 %

65,8 %

63,2 %

45,5 %

46,7 %

67,9 %

(11)

(61)

(23)

(24)

(5)

(7)

(131)

33,3 %

69,4 %

65,6 %

60,6 %

-

-

58,9 %

(6)

(34)

(21)

(20)

5,6 %

12,2 %

3,1 %

-

-

-

(1)

(6)

(1)

38,9 %

81,6 %

68,7 %

60,6 %

-

-

(7)

(40)

(22)

(20)

100 %

69,6 %

-

-

(4)

(16)

[e(:)]

-

21,7 %

Summe

100 %

91,3 %

(4)

(21)

Besen Anzahl Ortspunkte Anzahl Tokens

Leben

leben

(Substantiv)

(Verb)

9

32

22

ALLE WORTFORMEN

[E(:)] [e(:)] Summe

(1)

(14)

NUR SIMPLIZIA

[E(:)] [e(:)] Summe

(83)

5,7 % (8)

64,6 % (91)

NUR KOMPLIZIA

[E(:)]

-

53,8 %

65,4 %

(7)

(34)

11,5 %

-

-

-

-

-

-

-

53,8 %

76,9 %

(7)

(40)

(5)

(6)

Tab. 7.7: Lexemgruppe II: Quantitative Angaben zum Anteil der Realisierungen [E(:)] und [e(:)] für mhd. ë innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Tokens, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen („Komplizia“). Zahlenwerte sind bei einer Grundmenge von mindestens zehn Tokens aufgetragen.

326

Die Realisierung von mhd. ë

ist als in Lexemgruppe I, in der sie 63,7 % (240) beträgt (vgl. Tabelle 7.6). Aus der Betrachtung der lexemspezifischen Anteile innovativer Lautungen in Gruppe II geht hervor, dass die relativ groß erscheinende Stabilität in erster Linie auf das Lexem lesen zurückgeht, das unter den analysierten Lexemen sowohl den höchsten Anteil an [a:]-Realisierungen besitzt (81,8 % [9]) als auch die meisten Tokens (11) auf sich vereint.

7.7 ZUSAMMENFASSUNG Die Analysen zu den Lexemgruppen I und II haben ergeben, dass sich in beiden die Realisierung [E(:)] durchsetzt. Im Fall der Lexemgruppe I entspricht dieses Ergebnis der anfangs formulierten Hypothese, da [E] sowohl in den Dialekten als auch in der Standardsprache verankert ist und diese Konstellation die Ausbreitung offenbar beschleunigt. Die Analysen zu Lexemgruppe II konnten einen Wandel hin zur Standardrealisierung [e:] nicht nachweisen. Vielmehr setzt sich auch in dieser Gruppe die dialektale Variante [E:] in etwa gleicher Stärke wie in Lexemgruppe I durch, obwohl diese in Lexemgruppe II mit der Standardlautung konkurriert. Auch S PIEKER MANN (2008) hat auf der Ebene des gesprochenen Standards bereits die „Öffnung von e:“ und ihre Entwicklung hin zu einem relevanten regionalsprachlichen Merkmal in verschiedenen Städten Baden-Württembergs beschrieben. Diese Ergebnisse spiegeln sich in den Basisdialekten wieder, wo ebenfalls die Entwicklung einer regionalen Ausgleichsform [E(:)] erkennbar ist, während die Realisierungsformen [Ea]/[ea] und [a:] bereits zum größten Teil verschwunden sind. Gebiete, in denen diese sich noch als vorrangige Realisierungsform halten können, existieren kaum. Die höchste Gebrauchshäufigkeit findet sich für die diphthongische Realisierung aber noch im nordöstlichen Untersuchungsgebiet, für die Realisierung [a:] in einem kleinen Gebiet im äußersten Südwesten. Es stellt sich die Frage, warum sich offenes [E(:)] gegenüber den konkurrierenden dialektalen Formen und der Standardlautung durchsetzt. Hierzu kann gesagt werden, dass diese Realisierung in den traditionellen Dialekten bereits verankert ist, und zwar im Mittelstück des Untersuchungsgebietes. Somit hat sie also bereits das Potential sich durch Dialektkontakt auszubreiten. Weiterhin ist davon auszugehen, dass die Realisierung [E:] als schwäbische Standardform anzusehen ist, die sich im 20. Jahrhundert entwickelt hat und sich regional ausbreitet. Die Entstehung der Ersatzform [E:] im Schwäbischen könnte u. a. darauf zurückgeführt werden, dass sie als Kompromisslaut aus Diphthong und geschlossenem Standard-Vokal [e:] hervorgegangen ist. In den Interpolations-Plots ließ sich beobachten, dass in den spontansprachlichen Daten scharfe Dialektgrenzen nicht mehr erkennbar sind. Es ist fraglich, ob sich Begriffe wie Grenze bzw. Isoglosse überhaupt eignen, um diatopische Variation angemessen zu beschreiben. Die Interpolationen vermitteln vielmehr das Bild „fluider“ Gebiete mit höherer oder geringerer Gebrauchshäufigkeit und breiten Übergangszonen zwischen diesen.

7.7 Zusammenfassung

327

Schließlich konnte für die Realisierung von mhd. ë der Einfluss morphologischer Komplexität auf den Lautwandel gezeigt werden. Insgesamt weichen in morphologisch komplexe Wortformen eingebettete Tokens häufiger von der erwartbaren dialektalen Form ab als Simplizia, wobei in einzelnen Lexemen dieser Effekt besonders klar hervortritt (vgl. das Substantiv Leben). Vermutlich sind hierfür die Standardsprache oder standardnahe Sprechweisen verantwortlich, aus denen Wortbildungen, die nicht im Dialekt verankert sind, entlehnt werden. Offenbar fördert die Entlehnung von Komposita also den Abbau des Diphthongs zugunsten der monophthongischen Realisierung [E(:)]. Zu einer völligen Angleichung an die standardsprachliche Realisierung [e:] kommt es aber nicht.

8 DIE REALISIERUNG VON MHD. Â IM AUSLAUT 8.1 EINLEITUNG UND DATENKORPUS Der Langvokal mhd. â blieb, zumindest im Lichte der verfügbaren Schriftzeugnisse, bei seinem Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen unverändert (vgl. W IESINGER 1970a, 288). Das lautgeografische Bild der deutschen Dialekte zeigt allerdings, dass mhd. â im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte spezifischen Wandelprozessen unterlag, die zur Herausbildung unterschiedlicher phonologischer Reflexe führten. Charakteristisch sind beispielsweise Hebungs- bzw. Verdumpfungsprozesse, wie in Straß → Stroß, Schaf → Schof, etc., die in fast allen hochdeutschen Mundarten vorzufinden sind, oder Diphthongierungen wie im Falle von blasen → blausen im Nordbairischen (vgl. S CHIRMUNSKI 2010, 263). Die lautgeografische Ausprägung der verschiedenen Reflexe hängt u. a. vom Lautkontext ab, in dem sich mhd. â befindet. Der spezifische Lautkontext, der in der folgenden Analyse fokussiert wird, stellt nach W IESINGER (1970a, 291) eine Sonderentwicklung dar, die mhd. â besonders „im Auslaut vor folgendem w in flexivischen Formen in Wörtern wie ‚blau‘, ‚Klaue‘ mitgemacht“ hat. Das w beeinflusste „in verschiedener Weise die weiteren Entwicklungen“ (W IESINGER 1970a, 291). Hierzu erwähnt J UTZ (1931, 47), dass die mittelhochdeutsche Lautfolge âw stärker zur Diphthongierung neige, „da sich ja w im Inlaute mit dem vorangehenden Vokale leicht zu einem Diphthonge verbinden konnte.“ Die mittelhochdeutsche Lautfolge âw erscheint besonders in flektierten Formen (blâwe [‘blaue’]), weswegen mit einer höheren Tendenz zur Diphthongierung in solchen Wortformen zu rechnen sei. Wie Abbildung 8.1 entnommen werden kann, haben sich im Untersuchungsgebiet aber nicht nur die durch flektierte Formen geförderten diphthongierten Reflexe durchgesetzt, sondern auch die monophthongischen. J UTZ (1931, 47) begründet dies damit, „daß die einzelnen Maa. z. T. die flektierten, z. T. die unflektierten Formen verallgemeinert haben.“ Die geografische Verbreitung der Reflexe von mhd. â im Auslaut ist in Abbildung 8.1 für die Lexeme blau und grau gemäß SSA-Abfragedaten aufgetragen. Die monophthongische Lautung [blO:]/[grO:] nimmt das zentrale, östliche und nördlich-nordwestliche Untersuchungsgebiet ein. Sie setzt sich sowohl im Falle des Lexems grau als auch blau nach Norden fort, wobei bei letztgenanntem die monophthongische Realisierung den gesamten süddeutschen Dialektraum dominiert, während für das Lexem grau das lautgeografische Bild differenzierter ist. Bei letzterem ist nämlich zu beobachten, dass sich weitere Reflexe, wie beispielsweise [gra:(b)] oder [grOa(b)] im bairisch-österreichischen und ostfränkischen Dialektgebiet, herausgebildet haben (vgl. Wenker-Karten III-1/561 [grau], IV-2/560 [blau]). Die diphthongische Lautung [bla(:)U]/[gra(:)U] nimmt im Untersuchungsgebiet besonders das südlich-südwestliche sowie große Teile des westlichen Areals ein. Die

Abb. 8.1: Die Realisierungsgebiete der Reflexe von mhd. â gemäß SSA-Abfragedaten in den Lexemen blau und grau.

330 Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

8.1 Einleitung und Datenkorpus

331

Realisierung [a(:)U] reicht (in verschiedenen phonetischen Varianten) weiter bis in die Schweiz, wo sie im Norden und Westen die dominante Form darstellt (vgl. SDS-Karte II 157 [blau], II 159 [grau]). Auch östlich des Untersuchungsgebietes setzt sich das Diphthong-Gebiet fort und nimmt den Großteil Bayerisch-Schwabens ein (vgl. Wenker-Karten III-1/561 [grau], IV-2/560 [blau]; F ISCHER 1895, Karte 7 [blau]).123 Neben den im Untersuchungsgebiet vertretenen Hauptrealisierungen [O:] und [a(:)U] sind besonders entlang des Rheintals weitere Realisierungen vertreten: Zu nennen ist hierbei besonders die Lautung [O(:)I], die zwischen Freiburg und Offenburg zu finden ist und den westlichsten Fortsatz eines zusammenhängenden Gebietes bildet, das sich in das linksrheinische Gebiet erstreckt und den gesamten südlichen Teil des Elsaß einnimmt.124 In der folgenden Analyse kann sowohl für das Lexem blau als auch für grau ein vollständiger Vergleich in Real-Time und Apparent-Time durchgeführt werden. Für den Real-Time-Vergleich steht das Kartenkorpus in Tabelle 8.1 zur Verfügung. In der tabellarischen Korpusübersicht fällt auf, dass es sich bei dem abgefragten Lexem grau gemäß SSA um eine flektierte Form handelt, während alle anderen Formen im Kartenkorpus unflektiert sind. Aufgrund dieser Besonderheit soll beim Real-Time-Vergleich darauf geachtet werden, ob die Flektiertheit Auswirkungen auf die Entwicklung der diphthongischen Realisierung hat. Neben den Abfragedaten W ENKERS und des SSA kann der Vergleich außerdem durch Karte 7 aus F ISCHERS „Geographie der schwäbischen Mundart“ (1895) für das Lexem blau ergänzt werden. Lexem blau grau Lexem blau grau

Wenker-Karte IV-2/560 III-1/561 SSA-Karte/Frage 312/004 236/004

Wenker-Fragesatz Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage SSA-Fragesatz der Himmel ist blau graue Haare

Tab. 8.1: Korpus der Abfragedaten W ENKERS und des SSA für die Realisierung von mhd. â (Auslaut). Der Apparent-Time-Vergleich lässt sich unter Einbezug des in Tabelle 8.2 dargestellten spontansprachlichen Datenkorpus durchführen. Dieses enthält sowohl flektierte als auch unflektierte Formen der Farbadjektive blau und grau. Die beiden Gruppen werden jeweils zusammen kartiert, in einer quantitativen Analyse jedoch separat analysiert, um einen möglichen Effekt der Flexion auf das Diphthongierungsverhalten herauszuarbeiten.

123 Die beiden großräumigen Hauptrealisierungen im Untersuchungsgebiet weisen im Detail natürlich phonetische Varianten auf. Solche werden in der vorliegenden Analyse in die jeweilige Gruppe [bla(:)U] oder [blO:] kategorisiert (z. B. [blO(:)U] zu [bla(:)U], [blo:] zu [blO:]). 124 Der Reflex [OI] ist im gleichen Gebiet auch für mhd. ou nachgewiesen (vgl. Kapitel 5).

332

Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

Lexem blau grau

Anzahl der Tokens 113 40

Anzahl der Ortspunkte 54 27

Tab. 8.2: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. â (Auslaut). Im Folgenden sollen für die beiden Lexeme blau und grau die Lautwandelprozesse zunächst getrennt betrachtet werden. Anschließend werden die Ergebnisse in einer Kombinationskarte aggregiert und die quantitativen Angaben zu den spontansprachlichen Daten zusammengefasst.125

8.2 WANDELPROZESSE IN DEN EINZELNEN LEXEMEN 8.2.1 Lexem blau Wie in Abbildung 8.2 zu erkennen ist, hat sich gemäß W ENKER mhd. â innerhalb des Untersuchungsgebietes zu drei Realisierungsformen ausdifferenziert, nämlich zu monophthongisch [blO:] sowie diphthongisch [bla(:)U] und [blO(:)I]. Die flächenmäßig größten Varianten des Untersuchungsgebietes stellen die Realisierungen [blO:] im schwäbischen und südfränkischen sowie [bla(:)U] im nieder-, hoch-, und bodenseealemannischen, ganz im Osten auch im schwäbischen Dialektraum dar. Die kleinräumige diphthongische Realisierung [blO(:)I] beschränkt sich auf zwei Gebiete: ein größeres im äußersten Westen (mit Fortsetzung westlich des Rheins) sowie ein kleines Reliktgebiet im südlichen Landkreis Villingen-Schwenningen. Bereits der Wenker-Karte kann entnommen werden, dass sich die diphthongische [bla(:)U]-Variante gegenüber der monophthongischen [blO:]-Variante durchzusetzen beginnt. Vor allem um Baden-Baden herum finden sich außerhalb des geschlossenen [bla(:)U]-Gebietes zahlreiche Einzelbelege für diese Variante. Doch sind auch im südöstlichen Bereich einige [bla(:)U]-Belege im geschlossenen [blO:]-Gebiet zu finden. Umgekehrt sind monophthongische [blO:]-Belege innerhalb des geschlossenen [bla(:)U]-Gebietes weit weniger frequent und kaum auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert. Diese Datenlage bei W ENKER bestätigen die etwa zeitgleich erhobenen Daten F ISCHERS im nordwestlichen Untersuchungsgebiet. F ISCHER zählt das Gebiet zwischen Offenburg und Baden-Baden bereits zum geschlossenen [bla(:)U]Gebiet, während W ENKER die Ausbreitung dieser Realisierung hier nur durch Einzelbelege andeutet. Der gesamte restliche Isoglossenverlauf zwischen den Realisierungen [bla(:)U] und [blO:] ist bei W ENKER und F ISCHER nahezu identisch. Die Ausbreitungstendenz der Realisierung [bla(:)U] bestätigt der Vergleich zwischen den W ENKER- und SSA-Abfragedaten. Die Isoglosse verläuft sowohl im Nordwesten als auch im Süden des Untersuchungsgebietes deutlich weiter nördlich. Sehr klar erscheint der Rückgang der beiden kleinräumigen [blO(:)I]-Gebiete. Das 125 Ein Interpolationsplot wurde aufgrund der geringen Tokendichte nicht erstellt.

Abb. 8.2: Real-Time-Vergleich der Daten W ENKERS (Karte IV-2/560), der Karte 7 von F ISCHER (1895) und der SSA-Abfragedaten (Frage 312/004) für die Realisierung von mhd. â im Lexem blau.

8.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

333

334

Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

isolierte Reliktgebiet im Landkreis Villingen-Schwenningen ist völlig verschwunden und das größere Gebiet im äußersten Westen macht nur noch den nördlichen Teil des ehemaligen Verbreitungsgebietes nach W ENKER aus. Interessant ist, dass die Realisierung [blO(:)I] nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, ausschließlich durch das umgebende (und standardnahe) [bla(:)U] ersetzt wurde, sondern hauptsächlich durch monophthongisches [blO:]. Die weitere Entwicklungstendenz kann den spontansprachlichen Daten entnommen werden, die in Abbildung 8.3 aufgetragen sind. Es lässt sich erkennen, dass im gesamten Untersuchungsgebiet nur noch die beiden Realisierungen [bla(:)U] und [blO:] vorkommen. Weiterhin wird deutlich, dass von den beiden Realisierungen diphthongisches [bla(:)U] weit häufiger vertreten ist und die Entwicklungstendenz hin zur alleinigen Realisierung dieser Variante geht. Bezogen auf das traditionelle Monophthong-Gebiet (gemäß W ENKER und SSA) werden nur noch 28,3 % (15) aller spontansprachlicher Belege als [blO:] realisiert. Hinsichtlich der geografischen Distribution der [blO:]-Belege lässt sich eine gewisse Konzentration im Zentrum ihres traditionellen Verbreitungsgebietes erkennen. Der im Real-Time-Vergleich beobachtete Rückgang des [blO(:)I]-Gebietes wird in den spontansprachlichen Daten also bestätigt. Keines der Tokens, das in diesem Gebiet liegt, wird als [blO(:)I] realisiert (generell erscheint diese Lautung nicht im spontansprachlichen Korpus). Auch wenn die Datenlage der spontansprachlichen Daten dünn ist, so kann doch von einer völligen Auflösung bzw. Substitution der Realisierung [blO(:)I] durch [bla(:)U] gesprochen werden. Da ca. ein Drittel der Tokens für das Lexem blau in morphologisch komplexe Wortformen eingebettet ist, können diese hinsichtlich ihres Einflusses auf die phonologische Realisierung näher betrachtet werden.126 Hierfür kommt allerdings nur das traditionelle [blO:]-Gebiet in Frage, da nur hier Variation auftritt. Die Analyse für dieses Gebiet ergibt mit 81,8 % (18) [bla(:)U]-Tokens in Komposita einen höheren Wert als für Simplizia mit 64,5 % (20). Dieser Unterschied dürfte darauf zurückzuführen sein, dass im Korpus der Komposita aus dem Standard entlehnte Wortformen vertreten sind, wie z. B. stahlblau, Blaumänner, Blaukittel, etc. Die Entlehnung von Komposita aus der Standardsprache scheint also tendenziell zur Mitentlehnung einer standardnahen Lautung zu führen. Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern monophthongische Realisierungen in flektierten Worformen stärker zur Diphthongierung neigen als in nicht flektierten. Wie bereits in Abschnitt 8.1 erläutert wurde, spielt der Faktor der Flektiertheit angesichts der diachronen Entwicklung von diphthongischen Realisierungen eine wichtige Rolle. Auf der Grundlage des vorliegenden Korpus kann der Frage folgendermaßen nachgegangen werden: Das Adjektiv blau liegt sowohl in attributiver (der blaue Hut) als auch prädikativer Verwendung vor (der Hut ist blau), d. h. der attributive Gebrauch entspricht der flektierten, der prädikative der unflektierten Form.127 Von den attributiv und flektiert gebrauchten Adjektiven im 126 Bei allen morphologisch komplexen Wortformen handelt es sich um Komposita. 127 Hierbei ist zu beachten, dass in den untersuchten Dialekten die attributive Form nicht immer flektiert ist (vgl. Nominativ: de blau Huet vs. Dativ: uf em blaue Huet), weswegen nur diejenigen attributiven Formen untersucht wurden, die auch flektiert sind.

Abb. 8.3: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 312/004) mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. â im Lexem blau.

8.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

335

336

Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

Monophthong-Gebiet werden 59,1 % (13) diphthongisch realisiert. Damit bewahrt die Teilmenge der attributiv gebrauchten Formen die monophthongische Lautung sogar stärker als die Teilmenge der prädikativ verwendeten Formen, bei denen sieben von neun Tokens (77,8 %) diphthongisch realisiert werden. Flektierte Wortformen fördern angesichts der vorliegenden Ergebnisse also nicht den Übergang zur diphthongischen Realisierung im traditionellen Monophthong-Gebiet. Für den Lautwandel im Lexem blau kann festgehalten werden, dass sowohl Real-Time-Vergleich als auch Apparent-Time-Vergleich gleichermaßen den Abbau der monophthongischen Realisierung [blO:] bestätigen. Auch hinsichtlich des Rückgangs des kleinräumigen [blO(:)I]-Gebietes weisen beide Vergleiche in eine einheitliche Richtung. Als einzige Ersatzform dient die Realisierung [bla(:)U], die häufiger in morphologisch komplexen Types als in Simplizia vertreten ist. Das häufigere Auftreten in flektierten Wortformen konnte dagegen nicht nachgewiesen werden.

8.2.2 Lexem grau Abbildung 8.4 zeigt den Real-Time-Vergleich für die Realisierung von mhd. â im Lexem grau gemäß Wenker- und SSA-Abfragedaten. Der Isoglossenvergleich der beiden großräumigen Varianten [gra(:)U] und [grO:] zeigt eine leichte Tendenz hin zu einem Wandel von [grO:] zu [gra(:)U] der sich im Süden und Osten in Form eines Abbaus des [grO:]-Gebietes von außen nach innen andeutet. Dafür sprechen auch zahlreiche [gra(:)U]-Einzelbelege innerhalb des [grO:]-Gebietes, die sich sowohl in den Daten W ENKERS als auch des SSA entlang der Isoglosse finden, während sie im Zentrum seltener auftreten. Allerdings liegen auch im traditionellen [gra(:)U]Gebiet jenseits der Isoglosse Einzelbelege der Realisierungsform [grO:] vor. Diese konzentrieren sich vor allem im nördlichen Bodenseeraum und deuten womöglich auf eine Ausbreitung der Lautung [grO:] hin. Andererseits könnten diese Einzelbelege aber auch Reste eines ehemals geschlossenen [grO:]-Gebietes darstellen, das bis an den Bodensee reichte und nun nach Norden hin abgebaut wird. Kommen wir nun zur Betrachtung der kleinräumigen Realisierungsgebiete im äußersten Westen. Gemäß W ENKER existieren hier drei unterschiedliche diphthongische Varianten [grø(:)I], [grO(:)I] und [gra(:)I], deren Verbreitungsgebiete sich alle westlich des Rheins fortsetzen. Im südlichen Landkreis Villingen-Schwenningen findet sich in den Daten W ENKERS analog zur Variante [blO(:)I] wieder ein kleinräumiges Reliktgebiet für die Variante [grO(:)I]. Vergleicht man die Wenker-Karte mit der SSA-Karte, so fällt auf, dass die kleinräumigen Varianten [grO(:)I] und [gra(:)I] verschwunden sind, ebenso das isolierte [grO(:)I]-Gebiet südlich von Villingen-Schwenningen. Diese Realisierungsformen wurden in diesen Gebieten gemäß Real-Time-Vergleich alle durch die großräumige Realisierung [bla(:)U] ersetzt. Einzige Ausnahme ist die bei W ENKER kartierte kleinräumige Variante [grø(:)I], die noch in einem kleinen Gebiet nordwestlich von Offenburg auftaucht. Weiterhin finden sich südlich davon bei Emmendingen drei Einzelbelege dieser Realisierungsform.

Abb. 8.4: Real-Time-Vergleich der Abfragedaten W ENKERS (Karte III-1/561) und des SSA (Frage 236/004) für die Realisierung von mhd. â im Lexem grau.

8.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen

337

Abb. 8.5: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten (Frage 236/004) mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. â im Lexem grau.

338 Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

8.3 Zusammenfassende Gesamtanalyse

339

Wie in Abbildung 8.5 zu sehen ist, geht aus den spontansprachlichen Daten für das Lexem grau eine deutliche Tendenz hin zur Ausbreitung der standardnahen Form [gra(:)U] im gesamten Untersuchungsgebiet hervor. Im traditionellen [grO:]-Gebiet werden nur noch 18,2 % (4) der Tokens gemäß der traditionellen Lautung realisiert. Die wenigen Tokens verteilen sich auf zwei Ortspunkte (Au am Rhein, Lkr. Rastatt und Kusterdingen, Lkr. Tübingen). Im Korpus sind zwei morphologisch komplexe Wortformen belegt (weißgrau und Morgengrauen), die beide diphthongisch realisiert werden. Wie das Lexem blau wird auch grau sowohl attributiv als auch prädikativ verwendet. Die Analyseergebnisse zum Lexem blau werden durch diejenigen für das Lexem grau allerdings nicht unterstützt, für grau zeigt sich folgende Entwicklung: Von den zehn im Korpus vorhandenen attributiv gebrauchten Formen werden alle diphthongisch realisiert, während dies bei prädikativer Verwendung für fünf von sieben (71,4 %) gilt. Zusammenfassend lässt sich für die Analyse des Lexems grau also festhalten, dass sich bereits im Real-Time-Vergleich die Tendenz zum Abbau der großräumigen Form [grO:] und deren Ersatz durch die benachbarte und standardsprachliche Realisierung [gra(:)U] zeigt. Auch die kleinräumigen Realisierungsgebiete im Westen des Untersuchungsgebietes sind hiervon (mit Ausnahme des [ø(:)I]-Gebietes) betroffen. Der Apparent-Time-Vergleich bestätigt die Ergebnisse des Real-TimeVergleichs. Im gesamten Untersuchungsgebiet hat sich die Realisierung [gra(:)U] fast vollständig durchgesetzt.

8.3 ZUSAMMENFASSENDE GESAMTANALYSE Abbildung 8.6 zeigt einen zusammenfassenden Vergleich der Daten, die für die Analyse des phonologischen Phänomens â (Auslaut) herangezogen wurden.128 Der Wandel geht in den beiden untersuchten Lexemen blau und grau in dieselbe Richtung. Von den beiden großräumigen Formen [blO:]/[grO:] und [bla(:)U]/[gra(:)U] ersetzt laut Real-Time-Vergleich die standardnahe diphthongische Variante die monophthongische, wobei diese Wandeltendenz beim Lexem blau etwas deutlicher wird. Gemäß W ENKER reicht das geschlossene [gra(:)U]-Gebiet in seinem nordwestlichen Teil bereits weiter nach Norden als das entsprechende [bla(:)U]-Gebiet, bei dem dieser Ausbreitungsgrad erst in den SSA-Abfragedaten erreicht wird. Das volle Ausmaß des Rückgangs der monophthongischen Variante wird bei Einbezug der spontansprachlichen Daten ersichtlich: [blO:]/[grO:] wird nur noch an einigen wenigen Ortspunkten, zumeist im zentralen Bereich des traditionellen Monophthong-Gebietes sowie im nordwestlichen Untersuchungsgebiet, spontan von den Gewährspersonen realisiert. Bei den schwäbischen Restformen zeigt sich, dass der Lautwandel das Gebiet offensichtlich von außen nach innen erfasst und das 128 Aus Gründen der Übersichtlichkeit beschränken sich die aufgetragenen Abfragedaten auf die Isoglossen, die die traditionellen [bla(:)U]/[gra(:)U]-Gebiete umfassen. Die kleinräumigen Realisierungsgebiete sowie die Einzelbelege gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten sind nicht berücksichtigt.

Abb. 8.6: Zusammenfassender Vergleich der Abfragedaten gemäß W ENKER, F ISCHER (1895) und SSA mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. â in den Lexemen blau und grau.

340 Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

341

8.3 Zusammenfassende Gesamtanalyse

Zentrum die monophthongischen Formen stabilisiert, während bei den nordwestlichen [blO:]/[grO:]-Formen das ebenfalls monophthongisch realisierende Südfränkische stabilisierend wirken dürfte. In quantitativer Hinsicht werden auf das traditionelle [blO:]/[grO:]-Gebiet bezogen noch 25,3 % (19) der Tokens monophthongisch realisiert, wobei als Ersatzlaut ausschließlich die diphthongische Realisierung [bla(:)U]/ [gra(:)U] dient. Dies liegt nahe, da sie die einzige großräumige Lautung in direkter Nachbarschaft darstellt und zudem der standardsprachlichen Form (in ihrer nicht gedehnten Ausprägung) entspricht. Wie sich aus Tabelle 8.3 ergibt, verhält sich (hinsichtlich der lexikalischen Steuerung des Lautwandels) die traditionelle Lautung für das Lexem blau im Monophthong-Gebiet stabiler als für grau. Dies führt dazu, dass in Abbildung 8.6 nur die Ortspunkte in ihrer phonologischen Realisierung konsistent erscheinen, für die ausschließlich Tokens zu einem der beiden untersuchten Lexeme belegt sind (kleine Kreissymbole). Ortspunkte, die Tokens zu zwei Lexemen enthalten, variieren immer oder sind bereits vollständig zur Realisierung [bla(:)U]/[gra(:)U] übergegangen (große Kreissymbole). Anteil [a(:)U]-Tokens im [O:]-Gebiet

blau grau GESAMT

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

54

113

71,7 %

64,5 %

81,8 %

(38)

(20)

(18)

81,8 %

84,2 %

-

(18)

(16)

(2)

74,7 %

72,0 %

80,0 %

(56)

(36)

(20)

40 69

27 153

Tab. 8.3: Anteil an [a(:)U]-Lautungen im traditionellen [O:]-Gebiet für mhd. â (Auslaut). Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller Tokens, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Prozentwerte sind nur bei einer Grundmenge von mindestens zehn Tokens aufgetragen. Weiterhin fasst Tabelle 8.3 den Einfluss morphologischer Komplexität auf die phonologische Realisierung zusammen. Insgesamt tendieren komplexe Wortformen im traditionellen Monophthong-Gebiet stärker zur Realisierung von [bla(:)U]/[gra(:)U] als Simplizia, wobei dieser Effekt durch das Lexem blau zustande kommt. Die Tokenanzahl für das Lexem grau ist zu gering, um die scheinbar höhere Abweichung in Simplizia verallgemeinern zu können. Zusammenfassend lässt sich für die Realisierung von mhd. â festhalten, dass sich die Formen [bla(:)U] und [gra(:)U] im gesamten Untersuchungsgebiet durchsetzen, wobei sich sowohl im Real-Time- als auch im Apparent-Time-Vergleich eine gleichgerichtete Wandeltendenz zeigt. Die hohe Intensität des Lautwandels darf dabei auf den zusätzlichen vertikalen Einfluss der standardsprachlichen Lautung

342

Die Realisierung von mhd. â im Auslaut

[bla(:)U] zurückgeführt werden. Die Analysen zum endogen wirkenden Faktor der Flektiertheit, der zu einer Ausbreitung der diphthongischen Realisierung in attributiven Gebrauchskontexten beitragen könnte, führten zu widersprüchlichen Ergebnissen.

9 DIE NEUHOCHDEUTSCHE MONOPHTHONGIERUNG 9.1 EINLEITUNG Die sog. neuhochdeutsche Monophthongierung von mhd. uo und ie zu [u:] bzw. [i:] ist ein Lautwandelprozess, der in den mitteldeutschen Dialekten seit dem 11. Jahrhundert auftritt (vgl. H ERRLITZ 1970; W IESINGER 1983). Sie wurde aufgrund ihrer Auswirkungen auf die deutsche Standardsprache (in der sie ausnahmslos durchgeführt wurde) besonders gut dokumentiert und beschrieben.129 Bei der Entwicklung von mhd. uo und ie zum Neuhochdeutschen ist es zu keinem Zusammenfall der daraus entstandenen Monophthonge mit den alten Langvokalen î und û gekommen, da die neuen Monophthonge offener artikuliert wurden (vgl. M OULTON 1961; P ENZL 1975). Ein systematischer Zusammenhang von nhd. Diphthongierung und Monophthongierung ist demnach nicht anzunehmen. Darauf weisen weiterhin die geografisch völlig unterschiedlichen Ursprünge und Verläufe der beiden Lautwandelprozesse hin. So hatte die neuhochdeutsche Diphthongierung ihren Ursprung in Kärnten und wurde mit Ausnahme des Alemannischen im gesamten Ober- und mitteldeutschen Dialektraum durchgeführt, während die neuhochdeutsche Monophthongierung die oberdeutschen Dialekte überhaupt nicht erfasste. In den traditionellen Basisdialekten des Untersuchungsgebietes gilt fast durchgehend die diphthongische Realisierung, die größtenteils in Form der Reflexe [u@] bzw. [i@] auftritt. Nur im nordwestlichsten Teil, der zum südfränkischen Dialektgebiet zählt, stellt der Monophthong die basisdialektale Form dar.130 Im Folgenden soll die jüngste Entwicklung der Monophthongierung anhand von zwölf Lexemen betrachtet werden. Da bis auf den äußersten Nordwesten im gesamten Untersuchungsgebiet die diphthongische Lautung gilt, ist davon auszugehen, dass die horizontale (durch Dialektkontakt induzierte) Komponente des Lautwandels kaum Relevanz besitzt. Monophthongierungen dürften in diesem Gebiet deswegen fast ausschließlich vertikal (d. h. durch den Standard) induziert sein. Variableninterpolationen zur Gebrauchshäufigkeit diphthongischer sowie monophthongischer Realisierungen werden in Ergänzung zu den Kartenvergleichen das Verhältnis der beiden Komponenten verdeutlichen. Außerdem soll die Analyse zeigen, inwieweit der Faktor morphologische Komplexität die vertikale Komponente des Lautwandels verstärkt.

129 Für eine detaillierte Darstellung der nhd. Monophthongierung sei auf W IESINGER (1970b) verwiesen. 130 In der vorliegenden Untersuchung geht es primär um die Betrachtung der beiden Kategorien Monophthong und Diphthong. Weitere Varianten werden im Rahmen der Untersuchung nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Ein Beispiel ist die umgelautete Realisierung [bry@d5]/[bri@d5] in den Singularformen des Lexems Bruder, die im südlichen Untersuchungsgebiet auftritt.

344

Die neuhochdeutsche Monophthongierung

9.2 MONOPHTHONGIERUNG VON MHD. UO 9.2.1 Datenkorpus Die lautliche Entwicklung der Reflexe von mhd. uo kann anhand der sechs Lexeme Bruder, gut, Bube, Buch, Fuß und Schuh untersucht werden. Ein vollständiger Datenvergleich zwischen W ENKER, SSA-Abfragedaten und Spontansprache ist allerdings nur für das Substantiv Bruder möglich.131 Das Adjektiv gut erlaubt einen Real-Time-Vergleich zwischen den Erhebungsdaten W ENKERS und den spontansprachlichen Daten. Für die übrigen Lexeme muss sich die Untersuchung aufgrund des Fehlens von Wenker-Daten auf Apparent-Time-Vergleiche zwischen SSA-Abfragedaten und Spontansprache beschränken.132 In Tabelle 9.1 sind zunächst die zur Verfügung stehenden Daten W ENKERS und des SSA mit ihren Abfragekontexten aufgeführt. Das Korpus der spontansprachlichen Daten ist in Tabelle 9.2 dargestellt. Es besteht aus 2923 Tokens und verteilt sich über sechs Lexeme und 300 Ortspunkte. Lexem gut

Wenker-Karte IV-5, 243

Bruder

IV-5, 456

Lexem gut

SSA-Karte/Frage II/36.50

Bruder Buben Fuß

482/005 II/36.50 II/36.50

Wenker-Fragesatz Geh, sei so gut und sag Deiner Schwester, ... Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen. SSA-Fragesatz - Ich sehe noch gut ohne Brille. - sei so gut mein Bruder Welchen von den Buben hast du gefangen? Abfrage: „Was im Schuh ist“

Tab. 9.1: Korpus der Wenker- und SSA-Karten für die Realisierung von mhd. uo. Tabelle 9.2 ist zu entnehmen, dass das Lexem gut mit 61 % den Großteil aller Belege ausmacht. Für das spontansprachliche Korpus des Lexems Bube(n) ist zu erwähnen, dass dieses sowohl aus Singular- als auch Pluralformen besteht und beide Bedeutungen von Bube enthält, nämlich Bube im Sinne von ‘Sohn’ als auch ‘Junge’.

131 Für das Lexem Bruder konnte außerdem eine Isoglosse aus F ISCHER (1895, Karte 22) in die Analyse integriert werden. 132 Die Lautverhältnisse für die Lexeme Buch, Fuß und Schuh werden zur Verdichtung des Befundes in einer kombinierten Karte gemeinsam dargestellt. Sofern sich lexemspezifische Unterschiede für die drei letztgenannten Lexeme ergeben, wird dies in der Diskussion erwähnt.

9.2 Monophthongierung von mhd. uo

Lexem gut Bruder Bube(n) Buch Fuß Schuh GESAMT

Anzahl der Tokens 1793 291 434 169 130 106 2923

345

Anzahl der Ortspunkte 274 112 133 80 67 42 300

Tab. 9.2: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. uo. 9.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 9.2.2.1 Lexem gut In Abbildung 9.1 ist die Realisierung von mhd. uo im Adjektiv gut nach W EN KER und SSA-Abfragedaten zu sehen. Das geschlossene Monophthong-Gebiet im Nordwesten hat sich dem Real-Time-Vergleich zufolge nur wenig verändert. Die Kartierung des SSA zeigt eine leichte Ausbreitung der monophthongischen Form nach Süden, während innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes selbst keine diphthongischen Realisierungen nachgewiesen sind. Auffallend sind dagegen (wie auch für das Lexem Bruder) monophthongische Einzelbelege W ENKERS innerhalb des geschlossenen Diphthong-Gebietes. Diese sind relativ gleichmäßig über das gesamte Gebiet verteilt, mit einer leichten Konzentration im Freiburger Raum und östlich von Friedrichshafen. In den Erhebungsdaten des SSA taucht hingegen kein einziger monophthongischer Beleg außerhalb des geschlossenen Monophthong-Gebietes auf. Das somit sehr homogen erscheinende Diphthong-Gebiet ist wohl als Ergebnis der archaisierenden Erhebungsmethodik des SSA anzusehen. Bezieht man die spontansprachlichen Belege in die Analyse mit ein, so ergibt sich das Kartenbild in Abbildung 9.2. In den spontansprachlichen Daten bestätigt sich die bei W ENKER bereits ersichtliche Ausbreitung der monophthongischen Formen im traditionellen Diphthong-Gebiet (wenngleich hier auch im MonophthongGebiet an zwei Ortspunkten diphthongische Belege auftreten). Die Ausbreitung der monophthongischen Formen scheint entlang der Isoglosse etwas massiver zu sein als im übrigen Diphthong-Gebiet. Als Reliktgebiet mit fast ausschließlich diphthongischer Realisierung kann der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebietes angesehen werden. Dennoch findet sich selbst hier vielerorts Variation zwischen Diphthong und Monophthong, wenngleich diese schwächer ausgeprägt ist als in den weiter nördlich gelegenen Arealen. Auf das gesamte Diphthong-Gebiet bezogen beträgt der Anteil an monophthongischen Realisierungen 20,0 % (335). Des Weiteren soll nun betrachtet werden, wie sich morphologische Komplexität auf die Variation zwischen Monophthong und Diphthong auswirkt. Unterteilt man die spontansprachlichen Daten in Simplizia und morphologisch komplexe

Abb. 9.1: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. uo im Lexem gut.

346 Die neuhochdeutsche Monophthongierung

Abb. 9.2: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem gut.

9.2 Monophthongierung von mhd. uo

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Wortformen, so ergeben sich nur geringfügige Unterschiede: Simplizia werden zu 19,7 % (315) monophthongisch realisiert, während der Anteil an Monophthongen in komplexen Wortformen 25,0 % (20) beträgt. Dennoch zeigen die Prozentwerte, dass morphologische Komplexität tendenziell die standardsprachliche Realisierung unterstützt, was wiederum auf einen etwas höheren Anteil von standardsprachlichen Entlehnungen im Korpus komplexer Wortformen hindeutet. Zwei Vertreter solcher Entlehnungen stellen u. a. die beiden Types Expressgut (1 von 1 Tokens monophthongisch) und Gutachten (2 von 2 Tokens monophthongisch) dar. Beispiele, die vorwiegend diphthongisch realisiert werden, sind die Types Gutedel (5 von 5 Tokens diphthongisch), Hauptgut (4 von 5 Tokens diphthongisch) und Steingut (4 von 4 Tokens diphthongisch). Gemäß dem „Deutschen Wörterbuch“ (G RIMM / G RIMM 1854–1971) handelt es sich bei den vorwiegend diphthongisch realisierten Formen um Wörter, die bereits seit dem 15. bis 18. Jahrhundert belegt sind. Ein weiterer Hinweis für ihr traditionelles Vorkommen in den Dialekten sind entsprechende Lemma-Einträge im „Badischen Wörterbuch“ (O CHS et al. 1925 ff.) sowie im „Schwäbischen Wörterbuch“ (F ISCHER / P FLEIDERER 1904–1936). Es liegen hier also keine jüngeren Übernahmen aus der Standardsprache vor, sondern ältere Komposita, die die dialektale Lautung offenbar in hohem Maße konservieren. Schwerer zu interpretieren sind Wortformen, die klare Übernahmen aus dem Standard darstellen, und dennoch diphthongiert werden (z. B. begutachten, zugute kommen). Im Fall des Lexems gut scheint demnach eine Wortform aus dem Standard entlehnt werden zu können, ohne dass gleichzeitig die Standardlautung mit entlehnt wird.

9.2.2.2 Lexem Bruder In Abbildung 9.3 ist der Vergleich der Daten W ENKERS mit denen F ISCHERS (1895) und den spontansprachlichen Daten zu sehen. Demnach nimmt das geschlossene Monophthong-Gebiet nach W ENKER den nordwestlichsten Raum des Untersuchungsgebietes ab Baden-Baden nordwärts ein. Den Rest des Untersuchungsgebietes kartiert W ENKER als Diphthong-Gebiet (), wobei er im Süden zudem ein geschlossenes Gebiet für die umgelautete Realisierung angibt.133 Die Umlautform gilt dabei im gesamten Flexionsparadigma, besitzt also keine grammatische Funktion zur Bezeichnung des Plurals. Hierbei handelt es sich laut F ISCHER (1895, 75) historisch gesehen um eine Übertragung der pluralischen Umlautformen auf den Singular (= analogischer Ausgleich).134 Auffällig an W EN KERS Kartierung ist die große Anzahl an monophthongischen Belegen innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes (im [bry@d5]-Gebiet tauchen diese monophthongischen Einzelbelege größtenteils als umgelautete Form [bry:d5] auf). Der 133 W ENKER berücksichtigt innerhalb dieses Gebietes nicht die entrundete Form [bri@d5], sondert fasst diese mit den gerundeten Umlautformen zusammen. 134 Außer für das Lexem Bruder gilt Umlaut im Singular beispielsweise auch in den Lexemen Töchter (‘Tochter’) oder üns (‘uns’). Für die sich südlich des Rheins anschließenden UmlautVerhältnisse im Substantiv Bruder siehe H OTZENKÖCHERLE (1965).

Abb. 9.3: Vergleich der Daten W ENKERS mit der SSA-Abfrage für die Realisierung von mhd. uo im Lexem Bruder. Zusätzlich aufgetragen ist die Umlaut-Isoglosse gemäß F ISCHER (1895, Karte 22).

9.2 Monophthongierung von mhd. uo

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Die neuhochdeutsche Monophthongierung

Befund legt nahe, dass die monophthongische (= standardsprachliche) Realisierung bereits zu W ENKERS Zeiten im gesamten Diphthong-Gebiet verbreitet war. Beim Isoglossenvergleich zwischen W ENKER und SSA-Abfragedaten bestätigen sich die Ausbreitungstendenzen des standardsprachlichen Monophthongs nicht. Das traditionelle Monophthong-Gebiet entwickelt sich in keine eindeutige Richtung, sondern besteht weiterhin als geschlossenes und kleinräumiges Areal im äußersten Nordwesten. Auch das traditionelle Diphthong-Gebiet ist gemäß SSA-Abfragedaten im Gegensatz zu W ENKER ausgesprochen homogen. So sind in der Karte des SSA lediglich zwei monophthongische Einzelbelege innerhalb des geschlossenen Diphthong-Gebietes vertreten. Diese geografisch sehr konsistent erscheinende Verteilung von Monophthongen und Diphthongen in der SSA-Karte dürfte auf die archaisierende Erhebungsmethode des SSA zurückzuführen sein. Hinsichtlich der umgelauteten Formen im Süden des Untersuchungsgebietes zeigt der Vergleich der älteren Abfragedaten (W ENKER, F ISCHER) mit den jüngeren (SSA) eine relativ klare Wandeltendenz, insbesondere im Gebiet nördlich des Bodensees. Im östlichen Teil um Ravensburg wurde die Umlautform gemäß SSAAbfragedaten größtenteils abgebaut. Weiter westlich, zwischen Konstanz und Sigmaringen, werden gemäß SSA-Abfragedaten zwar hauptsächlich die umgelauteten Formen realisiert, doch finden sich hier zahlreiche Einzelbelege des nicht umgelauteten Diphthongs [u@], die auf einen weiteren Rückgang der Umlautformen hinweisen. Auffallend ist weiterhin der westlichste Teil des Umlaut-Gebietes nördlich von Waldshut: Während hier die Isoglossen W ENKERS und des SSA in etwa deckungsgleich verlaufen und das Areal gleichermaßen zum geschlossenen UmlautGebiet zählen, hat es sich gemäß F ISCHER (1895) nach Osten verschoben. Dieser scheinbare Lautwandel geht jedoch auf die methodische Tatsache zurück, dass sich gemäß F ISCHER westlich seiner Umlaut-Isoglosse keine Erhebungsorte mehr befinden, weswegen die Außengrenze kurzerhand mit der Umlaut-Isoglosse umrandet wurde. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle also festhalten, dass das Gesamtbild des Kartenvergleichs keine klare Wandeltendenz für die weitere Entwicklung der Monophthongierung ergibt, während hinsichtlich der Umlautform ein deutlicher Abbau zu verzeichnen ist. Wie sich die weitere Entwicklung in den spontansprachlichen Daten darstellt, zeigt Abbildung 9.4. Innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes treten keine Abweichungen auf.135 Das Kartenbild zeigt eine relativ schwach ausgeprägte Ausbreitung der monophthongischen Form Bruder. Sie macht einen prozentualen Anteil von 7,0 % (20) im Diphthong-Gebiet aus und ist an 13 Ortspunkten belegt. Das geschlossene Gebiet, in dem nach W ENKER die umgelautete Form [bry@d5] realisiert wird, ist den spontansprachlichen Daten zufolge stark zurückgegangen und hauptsächlich durch die diphthongische und nicht umgelautete Variante [bru@d5] ersetzt worden. So sind innerhalb des traditionellen [bry@d5]-Gebietes nur noch 38,3 % (18) aller Tokens umgelautete Formen, die noch an acht von 22 Ortspunkten in Erscheinung treten. 135 Allerdings ist die Belegdichte mit nur drei Tokens sehr gering, weswegen aus diesem Befund nicht generalisiert werden darf.

Abb. 9.4: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Bruder.

9.2 Monophthongierung von mhd. uo

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Die neuhochdeutsche Monophthongierung

9.2.2.3 Lexem Bube(n) Für das Lexem Bube(n) konnte aufgrund des Fehlens einer Wenker-Karte kein RealTime-Vergleich durchgeführt werden. Allerdings eignet sich das Lexem aufgrund seiner hohen Tokenfrequenz sehr gut für einen Apparent-Time-Vergleich. Abbildung 9.5 zeigt die spontansprachliche Realisierung des Lexems Bube(n) im Vergleich mit den SSA-Abfragedaten. Beim Vergleich von SSA-Kartierung und spontansprachlichen Daten sind kaum Wandeltendenzen erkennbar. Lediglich 2,4 % (10) der Tokens innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes werden monophthongisch realisiert. Diese Tokens tauchen an sechs von insgesamt 128 Ortspunkten auf. Die diphthongische Realisierung für das Lexem Bube(n) erscheint demnach im Vergleich mit den übrigen untersuchten Lexemen als das stabilste. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass das Substantiv Bube(n) vorrangig in den Dialekten gebraucht wird, wohingegen die Lexeme Bruder und gut gleichermaßen im Dialekt als auch in der Standardsprache verwendet werden. Dies hat wiederum zur Folge, dass die standarddeutsche Lautung leichter in die Dialekte übernommen werden kann. Ein weiterer Grund für die dialektale „Resistenz“ des Lexems Bube(n) könnte seine zweifache Referenzfunktion (und damit sein häufigerer Gebrauch) sein, mit der sowohl ein Junge als auch der Sohn bezeichnet werden kann. Überprüft man die Daten daraufhin, ob Frequenzunterschiede zwischen diesen beiden Verwendungsweisen bestehen, so ergibt sich bei der Bezeichnung des Sohnes eine geringere Tendenz zur Monophthongierung. Der Anteil an Monophthongen innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes beträgt dabei nur 0,8 % (1), während er im Kontext zur Bezeichnung eines Jungen bei 3,2 % (9) liegt. Dieser, wenngleich geringe, Unterschied korreliert mit dem Faktor der morphologischen Komplexität, da komplexe Wortformen fast ausschließlich in Verbindung mit der Bedeutung ‘Junge’ auftreten und fast alle Tokens mit der Bedeutung ‘Sohn’ Simplizia darstellen. Komplexe Wortformen weisen mit 5,6 % (3) einen nur unwesentlich höheren Anteil an monophthongischen Lautungen auf als Simplizia mit 1,9 % (7). Beispiele für morphologisch komplexe Wortformen sind Hirtenbuben, Lehrbuben und Lausbuben. Es verwundert nicht, dass im Fall des Lexems Bube(n) die morphologische Komplexität keinen Einfluss auf die phonologische Realisierung hat, da das Lexem Bube(n) ein dialektales Wort darstellt und folglich keine komplexen Neubildungen, die dieses Lexem enthalten, aus dem Standard in den Dialekt übernommen werden können. Für das Lexem Bube(n) kann abschließend festgehalten werden, dass es von allen untersuchten Lexemen die geringste Tendenz zur Übernahme der standardsprachlichen Lautung besitzt. Dieser Befund ist vermutlich auf seine exklusive Verwendung im dialektalen Repertoire zurückzuführen.

9.2.2.4 Lexeme Buch, Fuß und Schuh Für die Lexeme Buch, Fuß und Schuh existieren keine Wenker-Karten und nur für das Lexem Fuß eine SSA-Karte. Gleichzeitig ist ihre Tokenfrequenz verhältnismäßig gering. Aus diesem Grund wurden die spontansprachlichen Daten aller

Abb. 9.5: Vergleich von SSA-Abfrage mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Bube(n).

9.2 Monophthongierung von mhd. uo

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Die neuhochdeutsche Monophthongierung

Lexeme in Form eines kombinierten Apparent-Time-Vergleiches gegen die Isoglosse des Lexems Fuß (gemäß SSA-Abfragedaten) aufgetragen. Abbildung 9.6 zeigt das Ergebnis des Vergleichs. Die spontansprachlichen Daten weisen auf eine klare Ausbreitung der monophthongischen Realisierung innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes hin: Insgesamt werden 28,1 % (106) der Tokens monophthongisch realisiert. Der Lautwandel scheint flächendeckend zu wirken und eine vorwiegend vertikale Komponente zu besitzen. Wie bereits für das Adjektiv gut, fällt die Stabilität besonders des südlichsten Teils des Untersuchungsgebietes auf, in dem nur wenige monophthongische Belege vorliegen. Werden die spontansprachlichen Daten getrennt nach den einzelnen Lexemen betrachtet, so ergibt sich für jedes Lexem diese geografische Distribution der Variation im Untersuchungsgebiet. Deutlichere Unterschiede sind hingegen in Bezug auf den prozentualen Anteil an Monophthongen erkennbar. So weist das Lexem Buch mit 35,0 % (56) den höchsten Anteil an monophthongischen Belegen im Diphthong-Gebiet auf, gefolgt von Schuh mit 25,3 % (24) und Fuß mit 21,3 % (23). Im Fall des Lexems Buch tritt zudem der Faktor der morphologischen Komplexität sehr deutlich hervor. So werden 16,9 % (14) der Tokens in Simplizia monophthongisch realisiert, während es in komplexen Wortformen 56,0 % (42) sind. Besonders häufig zur monophthongischen Realisierung neigende Wortformen sind beispielsweise Buchdrucker (0 von 5 Tokens diphthongisch), Tagebuch (0 von 4 Tokens diphthongisch), Buchstabe (1 von 8 Tokens diphthongisch) sowie ge-, verbucht (2 von 7 Tokens diphthongisch). Diphthongische Lautungen sind über zahlreiche Types verteilt. Beispiele für mehrmaliges Auftreten innerhalb eines Types sind v. a. Betbuch (2 von 2 Tokens diphthongisch) und Buchbinder (4 von 4 Tokens diphthongisch). Eine Interpretation der unterschiedlichen phonologischen Realisierungen, die sich zwischen Simplizia und komplexen Wortformen ergeben, gestaltet sich schwierig, da nahezu alle genannten Wortformen ältere Bildungen darstellen. Das Auftreten der monophthongischen Lautung in diesen komplexen Wortformen kann somit nicht durch jüngere Entlehnung aus dem Standard begründet werden. Möglicherweise haben im Fall des Lexems Buch aber komplexe Wortformen, die bereits in älterer Zeit in den Dialekt übernommen wurden, die monophthongische Realisierung importiert. Schließlich handelt es sich bei allen Wortformen um Bezeichnungen aus dem Buchbereich, d. h. der geschriebenen Sprache, in der spätestens seit neuhochdeutscher Zeit die monophthongische Schreibung galt.

9.3 MONOPHTHONGIERUNG VON MHD. IE 9.3.1 Datenkorpus Die lautliche Entwicklung von mhd. ie kann auf der Grundlage der sechs Lexeme lieb, Brief, nie, bieten, Lied und schließen untersucht werden. Ein vollständiger Datenvergleich zwischen W ENKER, SSA-Abfragedaten und Spontansprache ist nur für das Adjektiv lieb möglich. Für das Substantiv Brief konnte ein Real-TimeVergleich zwischen den Erhebungsdaten W ENKERS und den spontansprachlichen

Abb. 9.6: Vergleich der SSA-Abfragedaten für das Lexem Fuß mit den spontansprachlichen Daten der Lexeme Buch, Fuß und Schuh.

9.3 Monophthongierung von mhd. ie

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Die neuhochdeutsche Monophthongierung

Daten durchgeführt werden. Die Wandeltendenzen der übrigen Lexeme können lediglich anhand von Apparent-Time-Vergleichen untersucht werden.136 Tabelle 9.3 zeigt das Korpus der Erhebungsdaten W ENKERS und des SSA mit den jeweiligen Abfragekontexten. In Tabelle 9.4 ist das Korpus der spontansprachlichen Daten aufgeführt. Es besteht aus 1045 Tokens, die sich auf sechs Lexeme und 239 Ortspunkte verteilen. Lexem lieb Brief Lexem lieb

Wenker-Karte IV-4, 177 IV-4, 571 SSA-Karte/Frage II/34.50

nie

II/34.00

bieten

II/34.50

Wenker-Fragesatz Mein liebes Kind, ... Einzelwortabfrage SSA-Fragesatz Nein, wir wollen lieber heimgehen. Nein, komm du lieber heraus. Er ist nie still gewesen. Das habe ich nie geglaubt. Ergänzungsfrage: Das lasse ich mir nicht ...

Tab. 9.3: Korpus der Wenker- und SSA-Karten für die Realisierung von mhd. ie.

Lexem lieb Brief nie bieten Lied schließen GESAMT

Anzahl der Tokens 194 59 554 26 95 117 1045

Anzahl der Ortspunkte 101 18 179 18 32 70 239

Tab. 9.4: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ie.

136 Für das frequente Adverb nie wird der Apparent-Time-Vergleich aufgrund der guten spontansprachlichen Datenlage separat durchgeführt, während die Lautverhältnisse für die Lexeme bieten, Lied und schließen wegen deren recht geringer Tokensfrequenz in einer kombinierten Karte gemeinsam dargestellt werden. Sollten lexemspezifische Besonderheiten bei den drei letztgenannten Lexemen hervortreten, wird dies erwähnt.

9.3 Monophthongierung von mhd. ie

357

9.3.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 9.3.2.1 Lexem lieb Der Real-Time-Vergleich, der in Abbildung 9.7 zu sehen ist, deutet gemäß W EN KER auf eine starke Ausbreitungstendenz der monophthongischen Realisierung hin, da außerhalb des geschlossenen Monophtong-Gebietes zahlreiche monophthongische Einzelbelege über das gesamte Diphthong-Gebiet verteilt sind. Eine etwas höhere Konzentration der Einzelbelege fällt direkt südlich des geschlossenen Monophthong-Gebietes auf, was hier auf einen verstärkten Einfluss des Monophthongs hindeuten könnte. Vergleicht man W ENKERS Daten mit den Erhebungsdaten des SSA, wird die eben beschriebene Wandeltendenz nicht bestätigt. Das geschlossene Monophthong-Gebiet verhält sich verhältnismäßig statisch, im Südosten scheint es sogar etwas nach Norden zurückgegangen zu sein. In der Kartierung des SSA taucht außerhalb des geschlossenen Monophthong-Gebietes nur ein einziger monophthongischer Beleg südlich von Offenburg auf. Der krasse Gegensatz von Wenkerund SSA-Kartierung zeigt für die Realisierung von mhd. ie, dass die archaisierende Erhebungsmethodik des SSA eine sehr homogene Sprachlandschaft konstruiert. Die bei W ENKER angedeutete Ausbreitung der monophthongischen Realisierung bestätigt sich in den spontansprachlichen Daten des SSA, wie auf Abbildung 9.8 zu sehen ist. Innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes werden 20 % (37) der Tokens monophthongisch realisiert und verteilen sich auf 24 von insgesamt 97 Ortspunkte. Das Lexem lieb weist mit 54,5 % (12) einen bedeutend höheren Anteil an monophthongischen Realisierungen in morphologisch komplexen Wortformen auf als in Simplizia (15,8 % [25]). Einige komplexe Types sind dabei für den hohen Anteil an standardsprachlichen Realisierungen in erster Linie verantwortlich: die beiden Derivationen Liebe (5 von 9 Tokens monophthongisch), Liebling (2 von 4 Tokens monophthongisch) sowie die Zusammenrückung Liebhaber (3 von 4 Tokens monophthongisch). Das Abstraktum Liebe ist gemäß G RIMM / G RIMM (1854–1971) zwar bereits im Alt- und Mittelhochdeutschen bezeugt und sollte deswegen im alemannischen Dialektrepertoire gut etabliert sein. Offensichtlich ist es im Laufe der Zeit aber eher ungebräuchlich geworden (O CHS et al. 1925 ff.) und wird wohl deswegen aus der Standardsprache entlehnt. Auch bei den beiden Wortformen Liebling und Liebhaber dürfte es sich um standardsprachliche Übernahmen handeln. Insgesamt zeigt sich für das Lexem lieb also eine unidirektionale Tendenz hin zum allmählichen Ersatz der diphthongischen Lautung durch einen standardnahen bzw. südfränkischen Monophthong, und zwar hauptsächlich in den komplexen Wortformen. Diese Tendenz fällt besonders in den Daten W ENKERS und in der Spontansprache auf, während die SSA-Erhebungsdaten nahezu homogene Dialektareale suggerieren.

Abb. 9.7: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Realisierung von mhd. ie im Lexem lieb.

358 Die neuhochdeutsche Monophthongierung

Abb. 9.8: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ie im Lexem lieb.

9.3 Monophthongierung von mhd. ie

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Die neuhochdeutsche Monophthongierung

9.3.2.2 Lexem Brief Die Wandelprozesse im Lexem Brief können auf der Grundlage eines Real-TimeVergleichs zwischen W ENKER und den spontansprachlichen Daten untersucht werden. In Abbildung 9.9 ist das Ergebnis des Vergleichs zu sehen. Das Kartenbild gemäß W ENKER erinnert an dasjenige des Lexems lieb. Das geschlossene Vorkommen von Monophthongen beschränkt sich auf ein kleines Gebiet im äußersten Nordwesten, während der Rest des Untersuchungsgebietes zum traditionellen Diphthong-Gebiet zählt. Hier finden sich allerdings eine Vielzahl monophthongischer Einzelbelege, die gleichmäßig über das gesamte Gebiet verteilt sind und auf eine Ausbreitung des Monophthongs hindeuten. Durch die gleichmäßige Verteilung ist davon auszugehen, dass die Ausbreitung besonders durch den vertikal wirkenden Einfluss der Standardsprache induziert wird. Der Vergleich mit den (wenig frequenten) spontansprachlichen Daten bestätigt das Vorkommen von Monophthongen innerhalb des traditionellen DiphthongGebietes. Sie sind mit einem Anteil von 12,1 % (7) jedoch nur in einem geringen Maß vertreten. Ob die Wandeltendenz in der Spontansprache eher horizontal oder vertikal ausgeprägt ist, lässt sich aufgrund der nur 18 Belegorte nicht klären. Allerdings sind Aussagen zum Faktor der morphologischen Komplexität möglich. So werden 4,2 % (1) der Simplizia monophthongisch realisiert, während es bei komplexen Wortformen 17,6 % (6) sind. Der höhere Anteil an monophthongischen Realisierungen in komplexen Wortformen ist besonders auf die Wortform Briefträger zurückzuführen, in der 36,4 % (4) der Tokens monophthongisch artikuliert werden.

9.3.2.3 Lexem nie Für die Analyse des frequenten Adverbs nie steht keine Wenker-Karte zur Verfügung, weswegen sich die Untersuchung auf einen Apparent-Time-Vergleich beschränkt. Dieser ist in Abbildung 9.10 dargestellt.137 Die Abfragedaten des SSA deuten auf eine außerordentlich hohe Stabilität des traditionellen Diphthong-Gebietes hin. So tritt nur südlich von Offenburg eine einzelne monophthongische Realisierung auf. Die spontansprachlichen Daten zeigen hingegen eine deutliche Ausbreitung von Monophthongen im gesamten Untersuchungsgebiet. So zählt der Anteil an Monophthongen im Lexem nie mit 26,2 % (143) zu den höchsten im spontansprachlichen Gesamtkorpus zur neuhochdeutschen Monophthongierung. Das Kartenbild zeigt weiterhin, dass aufgrund der homogenen Verteilung der monophthongischen Tokens kaum auf besonders konservative bzw. innovative Teilgebiete geschlossen werden kann. Generell entsteht aber der Eindruck, dass der westliche Teil des Untersuchungsgebietes (mit Ausnahme des äußersten Südens) etwas stärker von monophthongischen Realisierungen durchsetzt ist als der östliche.

137 Das Korpus der spontansprachlichen Daten besteht ausschließlich aus Simplizia. Wortformen, wie beispielsweise niemand oder niemals sind nicht im Korpus enthalten.

Abb. 9.9: Real-Time-Vergleich der Abfragedaten W ENKERS mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ie im Lexem Brief.

9.3 Monophthongierung von mhd. ie

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Abb. 9.10: Vergleich der Abfragedaten des SSA mit den spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ie im Lexem nie.

362 Die neuhochdeutsche Monophthongierung

9.3 Monophthongierung von mhd. ie

363

9.3.2.4 Lexeme bieten, Lied und schließen Für keines der Lexeme bieten, Lied und schließen ist ein Real-Time-Vergleich durchführbar, da entsprechende Wenker-Karten fehlen. Die Analyse beschränkt sich deswegen auf einen kombinierten Apparent-Time-Vergleich, in dem die SSA-Abfragedaten des Lexems bieten mit den spontansprachlichen Daten aller drei Lexeme verglichen werden.138 Das Ergebnis dieses kombinierten Vergleichs ist in Abbildung 9.11 zu sehen. Die SSA-Abfragedaten zeigen für das Lexem bieten eine sehr hohe Stabilität des traditionellen Diphthong-Gebietes. Anders hingegen die spontansprachlichen Daten, die eine Ausbreitung der monophthongischen Realisierungen in allen drei Lexemen aufweisen.139 Der Anteil an Monophthongen ist im Lexem bieten mit 16,0 % (4) am geringsten, während diejenigen der Lexeme Lied (24,2 % [22]) und schließen (27,7 % [28]) etwas höher sind. Variation ist nahezu im gesamten Diphthong-Gebiet vorzufinden, wobei der Bereich nahe der Monophthong-Isoglosse sowie das schwäbische Dialektgebiet etwas stärker betroffen zu sein scheinen. Ein Bereich nur geringer Variation stellt der südwestliche Teil des Untersuchungsgebietes dar, in dem der Diphthong offenbar besser bewahrt wird. Generell kann für die drei untersuchten Lexeme also festgehalten werden, dass das häufige Auftreten von Monophthongen fernab der Monophthong-Isoglosse für vertikalen Einfluss der Standardsprache spricht. Bei allen drei untersuchten Lexemen spielen außerdem die morphologischen Kontexte eine Rolle hinsichtlich der phonologischen Realisierung. Die komplexen Wortformen des Lexems bieten konzentrieren sich auf zwei verschiedene Types, die in allen Fällen diphthongisch realisiert werden. Es handelt sich um das Präfixverb verbieten (4 von 4 Tokens diphthongisch) sowie das Partikelverb anbieten (4 von 4 Tokens diphthongisch). Diese Wortformen bewahren offensichtlich als fester Bestandteil des Dialektrepertoires die diphthongische Lautung besonders gut. Das Partikelverb darbieten, das nur durch ein Token im spontansprachlichen Korpus repräsentiert ist, ist hingegen als Entlehnung aus dem Standard anzusehen und wird dementsprechend monophthongisch realisiert. Für das Lexem Lied sind die phonologischen Unterschiede zwischen Simplizia und komplexen Wortformen vernachlässigbar. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass keines der komplexen Types als neuere Entlehnung aus dem Standard anzusehen ist. Ein häufiger Vertreter komplexer und hauptsächlich dialektal realisierter Wortformen ist besonders die Diminutivform Liedli (11 von 12 Tokens diphthongisch). Die (seltenen) monophthongischen Realisierungen tauchen im Korpus der komplexen Wortformen fast ausschließlich in den dreigliedrigen Komposita Bergmannslied (2 von 2 Tokens monophthongisch) und Muttergotteslied (2 von 2 Tokens monophthongisch) auf.

138 Die gemeinsame Darstellung der spontansprachlichen Daten der drei Lexeme erscheint weiterhin durch deren geringe Tokenfrequenz sowie eine ähnliche geografische Verteilung der Variation gerechtfertigt. 139 Die Größe der Kreissymbole in der vorliegenden Kartierung steht nicht für die Anzahl an Tokens, sondern für die Anzahl an Lexemen, die an einem bestimmten Ortspunkt auftreten.

Abb. 9.11: Kombinierter Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten für das Lexem bieten mit den spontansprachlichen Daten der Lexeme bieten, Lied und schließen.

364 Die neuhochdeutsche Monophthongierung

9.4 Gesamtanalysen

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Das Lexem schließen ist fast ausschließlich innerhalb komplexer Wortformen vorzufinden. In diesen Kontexten wird es zu 30,4 % (28) monophthongisch realisiert. In den wenigen (6) Fällen, in denen es als Simplex vorliegt, tritt hingegen durchgehend der Diphthong auf. Das Korpus der komplexen Wortformen verteilt sich zu etwa 80 % auf vier Types, die sich hinsichtlich ihrer Tendenz zur standardsprachlichen Realisierung unterschiedlich verhalten. Das frequente Type schließlich verhält sich mit 12,1 % (7) monophthongisch realisierter Tokens recht dialektfest. Dem gegenüber stehen die Wortformen Erschließung (5 von 6 Tokens monophthongisch), erschließen (2 von 4 Tokens monophthongisch) sowie das Adverb anschließend (11 von 17 Tokens monophthongisch), die einen wesentlich höheren Anteil an Monophthongen aufweisen. Besonders das Verbalpräfix er- ist im Dialekt nicht gebräuchlich, was auf jüngere Entlehnungen der entsprechenden Types aus dem Standard schließen lässt. Erstaunlich ist jedoch, dass diese standardsprachlichen Formen überhaupt mit dialektalen Diphthongen realisiert werden. Offensichtlich können im Fall von mhd. ie die aus dem Standard in den Dialekt integrierten Wortformen also die dialektale Lautung annehmen.

9.4 GESAMTANALYSEN Nachdem in den vorhergehenden Abschnitten lexikalische Einzelanalysen zur nhd. Monophthongierung im Detail vorgestellt wurden, sollen im Folgenden einige Aggregatanalysen einen allgemeineren Eindruck der Wandeltendenzen vermitteln. Zunächst werden hierzu zusammenfassende Apparent-Time-Vergleiche sowie Interpolationen zur Gebrauchshäufigkeit der einzelnen Variablen die Variations- und Wandelverhältnisse im Raum verdeutlichen. Im Anschluss sollen die quantitativen Verhältnisse der Variation in zwei Tabellen (für mhd. uo und ie) zusammengefasst und auf dieser Grundlage Aspekte der lexikalischen Steuerung des Lautwandels sowie der morphologischen Komplexität diskutiert werden.

9.4.1 Zusammenfassende Apparent-Time-Vergleiche Für mhd. uo haben die Analysen der Lexeme Bruder, gut, Bube(n), Buch, Fuß und Schuh gezeigt, dass sich die standardnahe monophthongische Realisierung innerhalb der traditionellen Diphthong-Gebiete ausbreitet. Der in Abbildung 9.12 dargestellte zusammenfassende Apparent-Time-Vergleich soll einen Gesamteindruck der Wandeltendenzen vermitteln.140 Der Durchschnitt an monophthongischen Realisierungen beträgt im Gesamtkorpus der spontansprachlichen Daten 17,1 % (471). Die Monophthonge sind dabei weniger entlang der Isoglosse verbreitet, sondern verteilen sich gleichmäßig über das Diphthong-Gebiet. Es scheint sich hier demnach in erster Linie um einen Lautwandelprozess zu handeln, der durch den Einfluss der Standardsprache bedingt ist. Auf Grundlage des Kartenbildes lassen sich weiterhin 140 Ein zusammenfassender Real-Time-Vergleich wurde nicht durchgeführt, da nur für die beiden Lexeme Bruder und gut Wenker-Daten zur Verfügung stehen.

366

Die neuhochdeutsche Monophthongierung

einige Gebiete unterschiedlicher Variationsstärke unterscheiden. Besonders starke Variation ist entlang des Oberrheingebietes vorzufinden. Weiterhin heben sich der nördliche Schwarzwald-Baar-Kreis zwischen Brigach und Breg sowie das zentralschwäbische Gebiet durch erhöhte Variation vom Kartenbild ab. Diesen drei variationsreichen Gebieten steht ein vergleichsweise stabiles Areal gegenüber, das den südlichsten Teil des Untersuchungsgebietes von West nach Ost durchzieht. Interessanterweise ist das ansonsten häufig von Lautwandel betroffene nördliche Bodenseegebiet ausgesprochen konservativ und zeigt so gut wie keine Tendenzen zum Abbau der diphthongischen Lautung. Der Grund hierfür wird darin liegen, dass der Lautwandel in diesem Gebiet weniger durch den Einfluss des Standarddeutschen hervorgerufen wird als durch denjenigen des Schwäbischen (vgl. die Ergebnisse zur nhd. Diphthongierung). Im Fall von mhd. uo können jedoch vom schwäbischen Dialektgebiet keine horizontalen Wandelimpulse nach Süden ausgehen, da sowohl das Schwäbische als auch das Bodenseealemannische den Diphthong [u@] als traditionelle Form besitzen. Somit ist die Stabilität des nördlichen Bodenseeraums im Falle von mhd. uo ein weiterer, wenngleich indirekter, Beleg für die Dominanz des Schwäbischen in diesem Gebiet. Der zusammenfassende Apparent-Time-Vergleich in Abbildung 9.13 soll einen Eindruck von der Gesamtentwicklung von mhd. ie in allen untersuchten Lexemen vermitteln.141 Der Vergleich der SSA-Abfragedaten zeigt einen recht einheitlichen Isoglossenverlauf im nordwestlichen Untersuchungsgebiet, wobei das traditionelle Monophthong-Gebiet des Lexems nie etwas kleiner erscheint als dasjenige der Lexeme lieb und bieten. Wie aus den vorherigen Analysen bereits hervorging, verzeichnet der SSA außerdem kaum monophthongische Einzelbelege außerhalb ihres traditionellen Vorkommensgebietes. Ein Lautwandel wird gemäß diesem Befund also nicht angedeutet. Erst in den spontansprachlichen Daten wird das häufige Auftreten der monophthongischen Realisierung im gesamten Diphthong-Gebiet deutlich. Insgesamt zeigt sich eine recht gleichmäßige Distribution von Monophthongen. Reliktgebiete oder Gebiete mit besonders starker Variation sind dem Kartenbild kaum zu entnehmen. Die Variation erscheint jedoch im Dreieck Freiburg, Sigmaringen, Calw etwas höher zu sein als in den übrigen Gebieten. Ein gradueller Übergang von stärkerer Variation in Isoglossennähe (Nordwesten) zu schwächerer im übrigen Gebiet geht aus der Kartierung ebenfalls nicht deutlich hervor. Der Großteil der auftretenden Variation dürfte dementsprechend auf vertikalen Einfluss der Standardsprache zurückzuführen sein. Im Unterschied zu mhd. uo, wo der südlichste Bereich eher konservativ erscheint, ist im Kartenbild für mhd. ie die Variation großflächiger über das gesamte Gebiet verteilt. In quantitativer Hinsicht tritt der Unterschied zu mhd. uo ebenfalls hervor, denn im vorliegenden Fall beträgt der Gesamtanteil an monophthongischen Realisierungen im traditionellen Diphthong-Gebiet 24,0 % (241), während er für mhd. uo bei 17,1 % (471) liegt. Die Tendenz zu monophthongischen Realisierungen scheint also insgesamt für mhd. ie stärker ausgeprägt zu sein. 141 Auf einen zusammenfassenden Real-Time-Vergleich für die Realisierung von mhd. ie wird verzichtet, da im Kartenkorpus W ENKERS lediglich Daten für die Lexeme lieb und Brief vorliegen.

Abb. 9.12: Vergleich der SSA-Abfragedaten für die Lexeme gut, Buben, Fuß und Bruder mit den spontansprachlichen Daten der Lexeme Bruder, gut, Bube(n), Buch, Fuß und Schuh.

9.4 Gesamtanalysen

367

Abb. 9.13: Zusammenfassender Vergleich der SSA-Abfragedaten für die Lexeme lieb, bieten und nie mit den spontansprachlichen Daten der Lexeme lieb, Brief, nie, bieten, Lied und schließen.

368 Die neuhochdeutsche Monophthongierung

9.4 Gesamtanalysen

369

9.4.2 Interpolationen Anhand der interpolierten Darstellungen in Abbildung A.9 sollen die Gebrauchshäufigkeiten der diphthongischen Realisierungen [u@] und [i@] erläutert werden. Die beiden Plots verdeutlichen die bereits aus den Apparent-Time-Analysen hervorgegangenen Ergebnisse hinsichtlich der unterschiedlich ausgeprägten Wandeltendenzen der Variablen uo und ie. Die diphthongischen Reflexe von mhd. uo werden nahezu im gesamten Untersuchungsgebiet mit einer Häufigkeit von ca. 80 % realisiert. Einzige Ausnahmen mit geringerer Gebrauchshäufigkeit bilden das traditionelle Monophthong-Gebiet im äußersten Nordosten, wo die Gebrauchshäufigkeit von [u@] gegen Null strebt, sowie ein kleines Gebiet nordwestlich von Freiburg (Gebrauchshäufigkeit ca. 60 %). Die Übergänge von hohem Anteil an Diphthongen (rote Färbung) zu geringem (blaue Färbung) sind relativ abrupt. Der höchste Anteil diphthongischer Realisierungen (Gebrauchshäufigkeit ca. 100 %) ist generell im südlichsten Untersuchungsgebiet (im äußersten Südwesten sowie nördlich des Bodensees) vorzufinden. Der Plot für die Variable mhd. ie verdeutlicht im Unterschied zu mhd. uo einen weiter fortgeschrittenen Rückgang der diphthongischen Reflexe. Eine Gebrauchshäufigkeit von ca. 80 % ist nur südlich einer Linie Freiburg – Villingen-Schwenningen – Tübingen vorzufinden. Reliktgebiete mit fast durchgehend diphthongischer Realisierung können hier (mit Ausnahme des äußersten Südostens) nicht identifiziert werden. Auffallend ist die im westlichen Teil bereits weiter nach Süden reichende Zone mit einem Diphthong-Anteil von ca. 60–70 %, während im gesamten östlichen Untersuchungsgebiet die diphthongische Lautung etwas häufiger auftritt. Des Weiteren sind für mhd. ie die sehr breiten Übergänge zwischen Gebieten mit geringerer und höherer Gebrauchshäufigkeit zu erkennen. Diese lassen auf eine horizontale, nord-südlich ausgerichtete Struktur des Lautwandels schließen. Allerdings muss hierzu ergänzt werden, dass die Abstufung der Gebrauchshäufigkeit nicht zwischen den Extremen 0 % im Nordwesten und 100 % im Süden liegt. Vielmehr verläuft sie recht flach und bewegt sich in etwa zwischen 35 % und 80 %, während die Abstufung für mhd. uo sehr steil ist und sich zwischen 0 % und 80–90 % bewegt. Es verwundert nicht, dass der flache Übergang der Gebrauchshäufigkeit für mhd. ie in den oben diskutierten Symbolkarten kaum zu identifizieren war. Erst durch die Interpolation gelang es diese feinen Unterschiede hervorzuheben.

9.4.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität Im Falle von mhd. uo weisen die spontansprachlichen Daten hinsichtlich ihres lexikalischen Kontexts auf eine deutliche Abstufung der Wandeltendenz hin. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts sind die quantitativen Angaben in Tabelle 9.5 nochmals zusammengestellt. Aus der Tabelle geht hervor, dass sich die Lexeme Bruder und Bube(n) durch ihre nur wenig ausgeprägte Tendenz zur Monophthongierung deutlich von den übrigen Lexemen abheben. Neben der lexikalischen Steuerung ist aus Tabelle 9.5 weiterhin der Einfluss morphologischer Komplexität auf die Laut-

370

Die neuhochdeutsche Monophthongierung

wandelprozesse erkennbar. Morphologisch komplexe Wortformen beinhalten häufiger den standardsprachlichen Monophthong als Simplizia. Besonders deutlich tritt dieser Effekt bei den Lexemen Fuß und Buch zutage. Allerdings kann dies nicht mit dem Argument erklärt werden, wonach komplexe Wortformen tendenziell jüngere Entlehnungen aus dem Standard darstellen und samt der monophthongischen Lautung in den Dialekt importiert werden. Insbesondere der letztgenannte Aspekt, nämlich dass Lexem + Lautung en bloc in den Dialekt übernommen werden, scheint für die Monophthongierung von mhd. uo nicht grundsätzlich zuzutreffen. So erweckt die Analyse der Lexeme Bruder und gut den Anschein, als ob die diphthongische Lautung selbst auf eindeutig aus dem Standard entlehnte Wortformen übertragen werden kann – eine Beobachtung, die für weitere in dieser Arbeit untersuchte phonologische Phänomene (z. B. mhd. î, û) selten bis gar nicht zutrifft. Anteil Monophthonge im Diphthong-Gebiet Lexem

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

gut

260

1675

20,0 %

19,7 %

25,0 %

(335)

(315)

(20)

7,0 %

7,0 %

-

(20)

(20)

2,4 %

1,9 %

5,6 %

(10)

(7)

(3)

21,3 %

11,6 %

44,4 %

(26)

(10)

(16)

25,3 %

18,2 %

27,4 %

(24)

(4)

(20)

35,0 %

16,9 %

56,0 %

(56)

(14)

(42)

17,1 %

15,1 %

33,3 %

(471)

(370)

(101)

Bruder Bube(n) Fuß Schuh Buch GESAMT

110 128 63 38 73 284

285 415 122 95 160 2752

Tab. 9.5: Angaben zum quantitativen Vorkommen des standardsprachlichen Monophthongs [u:] innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes für mhd. uo. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Die lexikalische Steuerung des Lautwandels sowie der Beitrag morphologischer Komplexität für mhd. ie ist in Tabelle 9.6 zusammengestellt. Hinsichtlich der lexikalischen Steuerung des Lautwandels lassen sich der Tabelle lexemspezifische Alternationen entnehmen. Alle prozentualen Anteile an Monophthongen liegen um 20 %. Den geringsten Anteil weist mit 12,1 % (7) das Substantiv Brief auf, den

371

9.4 Gesamtanalysen

höchsten mit 27,7 % (28) das Verb schließen. Das Verhalten von mhd. ie unterscheidet sich in dieser Hinsicht von mhd. uo, wo die lexikalische Steuerung des Lautwandels stärker ausgeprägt ist und sich in einem breiteren Spektrum monophthongischer Prozentanteile bewegt (Bube(n): 2,4 % vs. Buch: 35,0 %). Anteil Monophthonge im Diphthong-Gebiet Lexem

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

lieb

97

185

20,0 %

15,8 %

54,5 %

(37)

(25)

(12)

12,1 %

4,2 %

17,6 %

(7)

(1)

(6)

26,2 %

26,2 %

-

(143)

(143)

16,0 %

18,8 %

(4)

(3)

24,2 %

24,6 %

23,3 %

(22)

(15)

(7)

27,7 %

-

30,4 %

Brief nie bieten Lied schließen

17 175 17 29 63

58 545 25 91 101

(28)

GESAMT

229

1005

-

(28)

24,0 %

23,3 %

28,1 %

(241)

(187)

(54)

Tab. 9.6: Angaben zum quantitativen Vorkommen des standardsprachlichen Monophthongs [i:] innerhalb des traditionellen Diphthong-Gebietes für mhd. ie. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Werte sind nur dort angegeben, wo die Grundmenge aus mindestens zehn Tokens besteht. Bezüglich der morphologischen Komplexität kann Tabelle 9.6 entnommen werden, dass monophthongische Realisierungen in komplexen Wortformen insgesamt nur geringfügig häufiger auftreten als in Simplizia. Diese Tendenz zeigt sich besonders deutlich in den beiden Lexemen lieb und Brief, während die entgegengesetzte Tendenz im Lexem Lied auftritt (allerdings kaum ausgeprägt). Interessant ist der Vergleich mit mhd. uo, wo die Tendenz zur standardsprachlichen Realisierung in komplexen Wortformen noch stärker ausgeprägt ist als für mhd. ie (siehe Tabelle 9.5). Offensichtlich ist a) sowohl die Wandeltendenz insgesamt, als auch b) die lexikalische Steuerung des Lautwandels und c) der Einfluss der morphologischen Komplexität im Falle von mhd. uo höher. Hinsichtlich der lexikalischen Steuerung bei mhd. uo zeigt sich aber, dass dieser geringer wird, wenn nur die prozentualen Anteile innerhalb der Simplizia betrachtet werden. Daraus kann

372

Die neuhochdeutsche Monophthongierung

geschlossen werden, dass die ausgeprägte lexikalische Steuerung, die sich bei undifferenzierter Betrachtung aller Tokens zeigt, nur eine scheinbare ist. Es sind die komplexen Wortformen (und der Grad ihrer Übernahme aus dem Standard), die wesentlich zu den lexikalischen Unterschieden beitragen. Schließlich kann hinsichtlich der morphologischen Komplexität festgehalten werden, dass trotz ihres die standardsprachliche Lautung fördernden Einflusses dennoch häufig die diphthongische Realisierung gewählt wird. Selbst bei eindeutigen Fällen jüngerer Entlehnungen aus dem Standard nehmen diese häufig die dialektale (= diphthongische) Lautung an.

9.5 ZUSAMMENFASSUNG Die Analysen zur Monophthongierung von mhd. uo und ie haben ergeben, dass die traditionellen Diphthong-Gebiete in jüngerer Zeit zunehmend unter den Einfluss der monophthongischen Realisierungsform geraten. Doch ist in beiden Fällen die Wandeltendenz im Vergleich zu anderen etymologischen Klassen nur schwach ausgeprägt. Dies könnte möglichweise mit der Großräumigkeit des traditionellen Diphthong-Gebietes zusammenhängen, das ja nicht nur den südwestdeutschen Raum einnimmt, sondern das gesamte oberdeutsche Dialektgebiet. Die Entwicklung der Monophthongierung konnte besonders gut auf der Grundlage der spontansprachlichen Daten untersucht werden. Die Analyse ergab, dass die Monophthongierung von mhd. uo in erster Linie durch vertikalen Einfluss induziert ist, worauf die relativ gleichmäßige Verteilung monophthongischer Tokens im traditionellen Diphthong-Gebiet hinweist. Allerdings erschien der südliche Bereich des Untersuchungsgebiets etwas konservativer. Besonders auffallend erscheint hierbei die Stabilität des ansonsten recht labilen Raumes nördlich des Bodensees. Offensichtlich verhält sich dieses Gebiet nur dann besonders labil, wenn es sich hinsichtlich der dort vorzufindenden traditionellen Dialektvariablen vom Schwäbischen unterscheidet (vgl. die Ergebnisse zur nhd. Diphthongierung). Das überaus stabil erscheinende nördliche Bodenseegebietes ist demnach ein indirekter Indikator dafür, dass hier in erster Linie die horizontale Komponente des Dialektwandels wirksam ist und sich das phonologische Verhalten dieses Gebietes am Schwäbischen ausrichtet. Für die Variable mhd. ie ergab die Interpolation eine nord-südliche Abstufung der Häufigkeit von monophthongischen Realisierungen im Untersuchungsgebiet, aus der eine horizontale Struktur des Lautwandels hervorzugehen scheint. So liegen die Gebiete mit der geringsten Häufigkeit im südlichsten Teil des Untersuchungsgebietes, wobei der Anteil an Monophthongen tendenziell nach Nordwesten hin ansteigt. Der Übergang ist allerdings so flach, dass eine horizontale Abstufung nur in den Interpolations-Plots erkannt werden konnte. Die lexikalische Steuerung des Lautwandels tritt im Fall von mhd. uo deutlicher in Erscheinung als für mhd. ie. Besonders die beiden Lexeme Bruder und Bube(n) fielen dabei durch ihre nur schwach ausgeprägte Neigung zur Monophthongierung auf. Der Einfluss morphologisch komplexer Wortformen auf den Lautwandel ist generell stark ausgeprägt und induziert tendenziell die monophthongische Realisierung.

10 ENTRUNDUNG 10.1 EINLEITUNG Bei der Entrundung der mittelhochdeutschen Labiopalatalvokale [y(:)] und [ø(:)] zu den entsprechenden Palatalvokalen [i(:)] und [e(:)] handelt es sich um einen Lautwandelprozess, für den bereits aus dem 12. / 13. Jh. Belege vorliegen (vgl. W EINHOLD 1863; S CHIRMUNSKI 2010; W IESINGER 1983c). Die Entrundung erfasste den Großteil des hochdeutschen Dialektgebietes, während im Niederdeutschen die gerundeten Formen gelten. Doch auch im hochdeutschen Dialektraum sind Teilgebiete vorzufinden, in denen sich die Entrundung nicht durchgesetzt hat. Hier sind in erster Linie ein geschlossenes Gebiet im ostfränkischen Raum zu nennen sowie das Verbreitungsgebiet des Hochalemannischen, dessen nördlicher Teil in den Südwesten des Untersuchungsgebietes reicht (vgl. die Karten 4 und 9 aus W IESINGER 1970a). Die nördliche Grenze des hochalemannischen Rundungsgebietes ist als Teil der ost-westlich verlaufenden Sundgau-Bodensee-Schranke anzusehen. Im Unterschied zu den übrigen in dieser Arbeit behandelten phonologischen Phänomene ist die Entrundung nicht an bestimmte lexikalische Klassen gekoppelt. Gemäß AUER (1990) betrifft sie potenziell sämtliche gerundete Vokale, unabhängig von ihrer lautgeschichtlichen Herkunft. Dementsprechend ist sie sowohl in Wörtern vorzufinden, die auf gerundete mittelhochdeutsche Vokale zurückgehen (z. B. mhd. iu: Lüt – Lit, mhd. ü: über – iber, mhd. oe: schön – schen), als auch in Lexemen mit gerundeten Vokalen ohne mittelhochdeutsche Etymologie (z. B. Möbel – Mebel, Physik – Phisik).142 Als Ursache für die Entrundung sieht AUER (1990) einen Fortisierungsprozess, der zu den perzeptorisch deutlicheren entrundeten Realisierungen führte. Diese Annahme wird auch von Schirmunski vertreten, der darauf hinweist, „daß sich diese Erscheinung in den hochdeutschen Mundarten spontan als eine allgemeine Tendenz zur Artikulationserleichterung entwickelt hat.“ (S CHIRMUNSKI 2010, 254). Doch kommt es gerade in Gebieten mit erhaltener Rundung umgekehrt auch zur Rundung etymologisch palataler (also nicht gerundeter) Vokale, wie beispielweise in Schwester → Schwöster (vgl. SSA-Karte sowie Kartenkommentar II/37.01). Begründet wird dies durch vorhergehende, mit Lippenbeteiligung bzw. -rundung gebildete Konsonanten, die durch Koartikulation Rundung im Folgevokal hervorrufen (vgl. H ENZEN 1924; W IESINGER 1983c). In diesem Kapitel soll die Entwicklung der Entrundung im 20. Jh. auf der Grundlage der Reflexe von mhd. iu, ü und oe untersucht werden. Sie bildet da142 H ENZEN (1924) betont ebenfalls die Unabhängigkeit von der Etymologie der Ausgangsvokale. Allerdings bezieht er sich auf den umgekehrten Prozess, nämlich die Rundung – ein Lautwandelprozess, der sich gemäß seinen Untersuchungen in den Entrundungsgebieten der Nordwestschweiz vollzieht.

374

Entrundung

durch eine Ergänzung zu der von K LEIBER (1993) vorgelegten Analyse zur „Rundung und Entrundung im Bereich der Sundgau-Bodenseeschranke“, in der der Autor Kartenvergleiche in Echtzeit auf der Grundlage des SSA, des „Deutschen Sprachatlas“ (W REDE 1926–1956), des „Deutschen Wortatlas“ (M ITZKA 1951-1980) sowie des „Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas“ (K LEIBER / K UNZE / L ÖFFLER 1979) durchgeführt hat. Aus dem Vergleich aller drei Zeitstufen konnte ein allmähliches Vordringen der Entrundung nach Süden festgestellt werden. Die vorliegende Untersuchung soll zeigen, inwiefern diese Wandeltendenz auf der Grundlage der verfügbaren Daten bestätigt werden kann. Außerdem wird der Frage nachgegangen, wie deutlich diese in Erscheinung tritt und welche Rolle dabei den Faktoren Dialektkontakt (horizontaler Wandel) bzw. Kontakt zu Regional- und Standardvarietäten (vertikaler Wandel) zukommt. Wie oben bereits erwähnt, handelt es sich bei der Entrundung um einen produktiven phonologischen Prozess, der unabhängig von der Etymologie der betroffenen Vokale wirksam ist. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die standardsprachliche Realisierung kaum oder gar keinen Einfluss ausübt, da bei der Übernahme von Lexemen aus der überdachenden Varietät gerundete Vokale entrundet werden. Bei der Frage nach der Wirksamkeit überdachender standardnaher Varietäten ist allerdings zwischen den untersuchten etymologischen Klassen mhd. iu einerseits und mhd. ü und oe andererseits zu unterscheiden: Mhd. iu: Weder die monophthongische Lautung [y(:)] noch [i(:)] (z. B. Lüt – Lit) entsprechen der Standardrealisierung (in dieser gilt die diphthongische Realsierung [OI]). Folglich wird keine der beiden monophthongischen Realisierungen durch die Standardlautung unterstützt; der weitere Entrundungsprozess spielt sich dementsprechend auf horizontaler Ebene in Form von Dialektkontakt ab. Eine weitere Ausbreitung der Entrundung zuungunsten der gerundeten Form ist demnach zu erwarten, und zwar aufgrund der perzeptorischen und artikulatorischen Markiertheit von gerundetem [y(:)]. Der Wandelprozess zwischen [y(:)] und [i(:)] wird durch die Diphthongierung überlagert, die besonders in Form der regional- und standardsprachlichen Realisierungsformen [aI] bzw. [OI] (wie in Lait, Loit) im Untersuchungsgebiet wirksam ist. Lautgesetzlich wäre dabei zu erwarten, dass sich im traditionellen Rundungsgebiet hauptsächlich der Diphthong [OI] (aus [y(:)]) durchsetzt und im Entrundungsgebiet der (entrundete) Diphthong [aI] (aus [i(:)]). Dieser Zusammenhang kann jedoch durch die Ergebnisse zur Diphthongierung von mhd. iu nicht bestätigt werden (siehe Kapitel 3.5.4.2). Mhd. ü + oe: Die mittelhochdeutsche, gerundete Realisierung entspricht der standardsprachlichen Lautung. Da es sich bei der Entrundung um einen produktiven phonologischen Prozess handelt, kann aber im Unterschied zu den meisten in dieser Arbeit untersuchten etymologischen Klassen nicht angenommen werden, dass die standardkonforme Realisierung dominant ist und sich im gesamten Untersuchungsgebiet gleichmäßig ausbreitet (vertikaler Wandel). Vielmehr ist mit einem stabilen Bild innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes zu rechnen.

10.2 Entrundung von mhd. iu

375

10.2 ENTRUNDUNG VON MHD. IU 10.2.1 Datenkorpus Das Datenkorpus zur Untersuchung der Entrundung von mhd. iu stimmt nahezu mit demjenigen zur Diphthongierung von mhd. iu überein und ist im Folgenden aufgeführt. Als Grundlage der Untersuchung dienen die Lexeme neun, Leute, heute, Zeug, Häuser, Häuschen und Mäuse. Die Datenlage für die Realisierung von mhd. iu erlaubt lediglich für die Lexeme neun und heute einen vollständigen Datenvergleich. Mit den Lexemen Leute und Zeug sowie den drei û-Umlautformen Häuser, Häuschen und Mäuse ist ein Real-Time-Vergleich zwischen W ENKER- und SSA-Abfragedaten nicht möglich. In Tabelle 10.1 ist das Korpus der verfügbaren Wenker-Karten aufgeführt. Lexem neun heute

Wenker-Karte III-8/497 III-8/196

Leute

III-8/519

Häuser

III-8/465

Wenker-Fragesatz Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe ... Du hast heute am meisten gelernt und bist artig gewesen, ... Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen/hauen. Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen.

Tab. 10.1: Korpus der Wenker-Karten für die Entrundung von mhd. iu. Das Korpus der jüngeren Erhebungsdaten des SSA geht aus Tabelle 10.2 hervor. Es handelt sich dabei ausschließlich um Einzelwortabfragen. Das Lexem Zeug wurde anhand der beiden Komposita Lumpenzeug und Werkzeug abgefragt. Lexem neun heute Zeug Mäuse

SSA-Karte/Frage 498/001 336/001 II/33.02 II/26.00

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage ([Lumpen-, Werk-] Zeug) Einzelwortabfrage

Tab. 10.2: Korpus der SSA-Karten für die Entrundung von mhd. iu. In Tabelle 10.3 sind die spontansprachlichen Daten nach einzelnen Lexemen aufgeführt. Insgesamt handelt es sich um 4851 Tokens, die sich auf 315 Ortspunkte verteilen.

376 Lexem neun heute Leute Zeug

Entrundung

Tokens 673 2308 1169 381

Ortspunkte Lexem Tokens 171 Häuser 201 278 Häuschen 86 236 Mäuse 33 146 GESAMT: 4851 Tokens, 315 Ortspunkte

Ortspunkte 110 51 16

Tab. 10.3: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. iu. 10.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen Die folgende Darstellung wird sich den Wandeltendenzen zur Entrundung in den einzelnen Lexemen widmen. Wie eingangs bereits erwähnt, stehen sich im Fall von mhd. iu nicht nur eine gerundete Variable [y(:)] und eine ungerundete [i(:)] gegenüber, sondern es tritt noch eine dritte Variable in Form von Diphthongen unterschiedlicher Lautqualität hinzu. Da Diphthonge traditionellerweise im schwäbischen Dialektgebiet auftreten, ist dieses Gebiet für die Betrachtung der Entrundung nicht von Interesse. Das Augenmerk richtet sich auf das traditionelle MonophthongGebiet im Westen und Süden des Untersuchungsgebietes.

10.2.2.1 Lexem neun In Abbildung 10.1 ist der Real-Time-Vergleich zwischen W ENKER und SSA-Abfragedaten im Zahlwort neun zu sehen. Innerhalb des traditionellen MonophthongGebietes ist der Stand der Entrundung anhand der durchbrochenen Isoglossen erkenntlich. Der Vergleich der Isoglossen W ENKERS und des SSA zeigt nur geringe Veränderungstendenzen. Lediglich im östlichen Teil verläuft die Isoglosse des SSA etwas weiter südlich und deutet somit auf eine leichte Ausbreitung der Entrundung nach Süden hin. Allerdings muss auch die Verteilung der Einzelbelege berücksichtigt werden. Diese gestaltet sich gerade innerhalb der Daten W ENKERS besonders auffällig und widerspricht zunächst der dem Isoglossenvergleich entnommenen Interpretation einer weiteren Ausbreitung entrundeter Formen. Gemäß W ENKER treten flächendeckend Rundungs-Einzelbelege innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes auf (schwarze Kreissymbole). Aus dieser Beobachtung ergeben sich drei mögliche Interpretationen: Zum einen besteht die Möglichkeit, dass die historisch von Norden nach Süden erfolgte Entrundung innerhalb des traditionellen Entrundungs-Gebietes noch nicht abgeschlossen ist. Als zweite Möglichkeit kann eine erneute Ausbreitung der gerundeten Formen nach Norden angesehen werden. Ein dritter Erklärungsansatz ist ein methodischer und würde den Transkribenten unterstellen, dass das häufige Auftreten gerundeter Realisierungen auf die Tendenz zu deren orthografischer Umsetzung als gerundeter Umlaut zurückgeht. Wie aus den noch folgenden Apparent-Time-Analysen hervorgehen wird, können die ersten beiden Optionen ausgeschlossen werden. Weshalb in methodischer Hinsicht

Abb. 10.1: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Entrundung von mhd. iu im Lexem neun.

10.2 Entrundung von mhd. iu

377

378

Entrundung

die orthografische Umsetzung so häufig auftritt, ist jedoch schwer zu interpretieren, bietet das Alphabet doch durchaus ein Graphem an, mit dem die entrundete Form wiedergegeben werden könnte. Mögliche Erklärungsansätze für den vorliegenden Befund bietet W IESINGER, der beklagt, dass sich „mangels adäquater phonetischer Perzeption und Deskription [...] in der deutschen Dialektologie vielfach [...] ungenügende Transkriptionen finden“ (W IESINGER 1983c, 1102). Weiterhin gibt er an, dass „frühneuhochdeutsche Schreibsprachen an Graphien für gerundete Umlaute festhielten“ (1105). Auch K LEIBER erwähnt, dass im „Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas“ (K LEIBER / K UNZE / L ÖFFLER 1979), dessen Daten aus dem Zeitraum 1280–1430 stammen, die Entrundung allgemein nur sehr selten schriftlich umgesetzt wird (K LEIBER 1993, 570). Dieses orthografische Festhalten an gerundeten Umlauten findet sich demnach auch Ende des 19. Jahrhunderts bei den transkribierenden Dorflehrern, obwohl im Falle von mhd. iu sowohl die gerundeten als auch die entrundeten Realisierungen keine standardsprachlichen, sondern dialektale Formen darstellen, ein Einfluss der standardsprachlichen Orthografie also gar nicht gegeben ist. Auch in der Gegenwart ist diese Tendenz zur orthografischen Umsetzung entrundeter Realisierungen weithin anzutreffen. So werden in der Mundartliteratur häufig gerundete Graphien für entrundete Formen verwandt, wie beispielsweise aus den Gedichten von G OTTFRIED S CHAFBUCH hervorgeht, einem aus Hüfingen (Entrundungsgebiet) stammenden Mundartdichter (vgl. S CHAFBUCH 1972).143 Fahren wir nun fort mit der Betrachtung der SSA-Abfragedaten für das Lexem neun. Anders als bei W ENKER, deuten die Einzelbelege des SSA auf keinerlei Ausbreitung der gerundeten Realisierung im Entrundungsgebiet hin. Vielmehr lassen die vier Einzelbelege entrundeter Formen im äußersten Südwesten bei Lörrach eine geringfügige Ausbreitung der Entrundung in diesem Bereich vermuten. Den Abfragedaten des SSA ist außerdem zu entnehmen, dass im gesamten Monophthong-Gebiet diphthongische Einzelbelege auftreten. Hinsichtlich der beobachtbaren Lautwandelprozesse kann für den Real-Time-Vergleich des Lexems neun also festgehalten werden, dass die Entrundung kaum nach Süden vorangeschritten ist und (einmal von den aus methodischer Sicht problematischen Daten W ENKERS abgesehen) nur geringfügige Variation innerhalb des Rundungs- und Entrundungsgebietes beobachtet werden kann. Welche weiteren Wandeltendenzen sich ergeben, kann den spontansprachlichen Daten in Abbildung 10.2 entnommen werden. In der Darstellung ist zu erkennen, dass sich die bei W ENKER angedeutete Ausbreitung der Rundung nicht bestätigt. Es kommt viel mehr zu einer weiteren Ausbreitung der entrundeten Formen innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes. Die entrundeten Tokens sind gleichmäßig im Rundungsgebiet verteilt und machen einen Anteil von 39,6 % (40) an der Ge143 Wie die folgenden Analysen noch zeigen werden, ist die Schreibung in Form gerundeter Graphien in den Fällen von mhd. ü und oe in den Daten W ENKERS noch deutlicher ausgeprägt als für mhd. iu. Diese Tendenz dürfte auf die im Standard geltenden gerundeten Grapheme und zurückgehen, die von den Transkribenten bei der orthografischen Umsetzung fast ausschließlich verwendet werden. Ein Erklärungsansatz hierfür liefert S CHMIDT (2011), der in Kapitel 10.3.1 der vorliegenden Arbeit erläutert wird.

Abb. 10.2: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung im Lexem neun.

10.2 Entrundung von mhd. iu

379

380

Entrundung

samtheit der hier auftretenden Tokens aus. Der Einfluss der Diphthongierung ist innerhalb des Rundungsgebietes nur schwach: 14,9 % (15) der Tokens werden diphthongisch realisiert. Anders hingegen im Entrundungsgebiet. Hier ist der Anteil an Diphthongen mit 51,1 % (134) um ein Vielfaches höher.144 Dieser interessante Befund wirft die Frage auf, ob die Anfälligkeit zur Diphthongierung mit der Ausgangsrundung bzw. -entrundung zusammenhängt. Die Frage lässt sich mit einem Blick auf die nhd. Diphthongierung von mhd. î beantworten (vgl. Kapitel 3.4), deren traditionelles Monophthong-Gebiet nahezu deckungsgleich mit demjenigen für mhd. iu ist (abgesehen vom nördlichen Bodenseeraum, in dem allgemein hohe Variation herrscht). Würden entrundete Vorderzungenvokale tatsächlich eine höhere Neigung zur Diphthongierung aufweisen, so müsste im Fall von mhd. î im gesamten traditionellen Monophthong-Gebiet in einem Maße Diphthongierung auftreten, wie sie für mhd. iu im Entrundungsgebiet belegt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn auch für mhd. î verhält sich das südlichste Teilgebiet besonders konservativ und tendiert nur in geringem Maße zur Diphthongierung, während die übrigen Teile des Monophthong-Gebietes stärker zur Diphthongierung neigen (vgl. Kapitel 3.4.2.1, Abbildung 3.31). Die Ursachen für die unterschiedlich starken Tendenzen zur Diphthongierung sind demnach nicht phonologisch, sondern geografisch bedingt und hängen mit dem konservativen Charakter des südwestlichsten Untersuchungsgebietes zusammen. Die weiteren Lexemanalysen werden zeigen, inwiefern sich dieser Eindruck bestätigt.

10.2.2.2 Lexem heute Für das Lexem heute kann ein Vergleich auf beiden Vergleichsebenen durchgeführt werden. Das Kartenbild des Real-Time-Vergleichs ist in Abbildung 10.3 dargestellt und entspricht im Wesentlichen demjenigen für das zuvor behandelte Lexem neun. Beim Vergleich der Entrundungsisoglossen gemäß W ENKER und SSAAbfrage sind im Fall des Lexems heute allerdings deutlichere Unterschiede zu erkennen: Die SSA-Entrundungsisoglosse verläuft im Vergleich zur Isoglosse W EN KERS besonders in ihrem westlichen Teil deutlich weiter südlich. Ein Cluster von Einzelbelegen für Entrundung tritt an dieser Stelle südlich von W ENKERS Entrundungsisoglosse auf. Auch im übrigen Rundungsgebiet verzeichnet W ENKER Belege für entrundete Formen, wenngleich diese nur vereinzelt auftreten. Der Vergleich der Isoglossenverläufe sowie die verzeichneten Einzelbelege für Entrundung im traditionellen Rundungsgebiet weisen also tendenziell auf eine Ausbreitung der Entrundung nach Süden hin. Die zahlreichen Einzelbelege für Rundung, die W ENKER nördlich der Entrundungsisoglosse verzeichnet, sind womöglich (wie bereits für das Lexem neun diskutiert) auf methodische Ursachen zurückzuführen und nicht auf einen tatsächlich stattfindenden Lautwandel. 144 Das lautgesetzlich erwartbare Auftreten des Diphthongs [OI] im Rundungsgebiet und [aI] im Entrundungsgebiet lässt sich im Kartenbild nicht erkennen (vgl. Kapitel 3.5.3.1, Abbildung 3.35).

Abb. 10.3: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für die Entrundung von mhd. iu im Lexem heute.

10.2 Entrundung von mhd. iu

381

Abb. 10.4: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung im Lexem heute.

382 Entrundung

10.2 Entrundung von mhd. iu

383

Die Interpretation der vorliegenden Daten als methodischen „Entrundungs-Bias“ wird auch durch den Apparent-Time-Vergleich bestätigt, der in Abbildung 10.4 zu sehen ist. Zwar sind Einzelbelege für Rundung auch innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes vorzufinden, doch sind diese nicht über das gesamte Gebiet verbreitet, sondern konzentrieren sich unmittelbar nördlich der Entrundungsisoglosse. Ob es sich hierbei um einen „echten“ Lautwandel handelt, ist auf Grundlage des Kartenbildes kaum zu entscheiden. Selbst wenn dies der Fall ist, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich dieser nicht entfalten wird, da der Einfluss der Diphthongierung innerhalb des Entrundungsgebietes weit stärker in Erscheinung tritt.145 Gegen eine Ausbreitung der gerundeten Formen spricht außerdem der Befund aus dem Real-Time-Vergleich, bei dem sich die Entrundung im Vergleich zu W ENKERS Isoglosse weiter nach Süden ausgebreitet hat. Die geografische Distribution der gerundeten Formen in den spontansprachlichen Daten stimmt größtenteils mit der Ausdehnung des Rundungsgebietes gemäß SSA-Abfragedaten überein. Innerhalb des Rundungsgebietes herrscht relativ starke Homogenität; entrundete oder diphthongierte Realisierungen sind hier nur vereinzelt nachgewiesen. Eine weitere Ausbreitung der Entrundung im Rundungsgebiet zeigt sich beim Vergleich von SSA-Abfragedaten und Spontansprache kaum. Für das Lexem heute lässt sich also festhalten, dass dem Real-Time-Vergleich eine Ausbreitung der Entrundung zu entnehmen ist, während der Apparent-TimeVergleich keine klare Entwicklungstendenz in eine bestimmte Richtung erkennen lässt. Damit verhält sich das Lexem heute gemäß dem Apparent-Time-Vergleich besonders stabil.

10.2.2.3 Lexem Leute Für das Lexem Leute sind keine SSA-Abfragedaten verfügbar, weswegen die Analyse auf einem Real-Time-Vergleich von Wenker-Daten und Spontansprache beruht. Betrachten wir zunächst das Kartenbild W ENKERS, das in Abbildung 10.5 dargestellt ist. Es fällt auf, dass das Rundungsgebiet vergleichsweise groß ist und im westlichen Teil bis auf Höhe von Freiburg nach Norden reicht. Südlich von Freiburg finden sich eine Reihe von entrundeten Einzelbelegen, was auf die Ausbreitung der Entrundung in diesem Bereich hindeutet. Im gesamten traditionellen Entrundungsgebiet treten, wie bereits bei den zuvor behandelten Lexemen neun und heute, zahlreiche Einzelbelege gerundeter Realisierungen auf, die aus bereits genannten Gründen nicht auf eine Ausbreitung der Rundung hinweisen dürften. Die spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 10.6 dargestellt sind, bestätigen diese Interpretation: Innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes finden sich, mit einer Ausnahme in Schutterwald (Lkr. Offenburg), keine gerundeten Belege. Umgekehrt sind innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes zahlreiche Belege entrundeter Formen zu finden, die im betreffenden Gebiet einen Anteil von 39,7 % (58) ausmachen und sich vor allem im nördlichen Rundungsgebiet konzen145 Auch für das Lexem heute lässt sich keine Konzentration des Diphthongs [OI] im Rundungsund [aI] im Entrundungsgebiet erkennen (vgl. Kapitel 3.5.3.2, Abbildung 3.40).

Abb. 10.5: Entrundung von mhd. iu im Lexem Leute gemäß W ENKER.

384 Entrundung

Abb. 10.6: Vergleich der Daten W ENKERS mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. iu im Lexem Leute.

10.2 Entrundung von mhd. iu

385

386

Entrundung

trieren. Besonders südlich von Freiburg sind fast alle auftretenden Realisierungen entrundet. Die zuvor erwähnte Wandeltendenz, die durch die entrundeten Einzelbelege W ENKERS in diesem Gebiet angezeigt wird, bestätigt sich demnach in den spontansprachlichen Daten. Auch weiter östlich (etwa bei Neustadt im Schwarzwald) sind innerhalb einer nach Norden ragenden Ausbuchtung des Rundungsgebietes ausschließlich entrundete Tokens zu finden. Die verbleibenden gerundeten Tokens bilden einen schmalen Streifen im äußersten Süden, der allerdings recht kompakt ist und nur geringe, durch Entrundung und Diphthongierung hervorgerufene, Variation aufweist. Für die Entrundung im Lexem Leute lässt sich also festhalten, dass sich das Rundungsgebiet im Vergleich zu den Daten W ENKERS nach Süden verschoben hat und sich gemäß spontansprachlicher Datenlage auf ein schmales Areal im südwestlichsten Teil des Untersuchungsgebietes beschränkt. Das Rundungsgebiet, wie es in den spontansprachlichen Daten erscheint, ist hinsichtlich seiner Ausdehnung mit den weiteren behandelten Lexemen nahezu identisch (vgl. u. a. Abbildung 10.4 [heute], 10.7 [Zeug]).

10.2.2.4 Lexem Zeug Für das Lexem Zeug steht keine Wenker-Karte zur Verfügung, weswegen sich die Analyse auf einen Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und Spontansprache beschränkt. Die Ergebnisse des Vergleichs sind in Abbildung 10.7 zu sehen. Der Befund weist auf eine Ausbreitung der entrundeten Formen innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes hin, wo ihr Anteil 20,0 % (9) der hier auftretenden Tokens ausmacht. Dieser ist höher als der Anteil an Diphthongen, der hier nur 6,7 % (3) beträgt. Das südwestlichste Untersuchungsgebiet verhält sich also (wie bereits für das Lexem neun beobachtet werden konnte) auch im Falle des Lexems Zeug gegenüber der Diphthongierung stabiler als gegenüber der Entrundung. Dieser Befund ist besonders deswegen erstaunlich, weil die Diphthongierung gemäß der spontansprachlichen Daten bereits sehr weit fortgeschritten ist und sich fast bis unmittelbar vor das Rundungsgebiet ausgebreitet hat. Hinzu kommt, dass trotz des bereits stark reduzierten Anteils an monophthongischen (entrundeten) Tokens innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes (56,6 % [43]) diese dennoch stärker auf das traditionelle Rundungsgebiet einwirken als die sehr frequenten Diphthonge.146 Weiterhin müsste die Diphthongierung auch deswegen einflussreicher sein, da sie sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Komponente besitzt, während die Entrundung ausschließlich horizontal wirkt. Für das Lexem Zeug zeigt sich anhand des Apparent-Time-Vergleichs also erneut der konservative Charakter des südwestlichen Untersuchungsgebietes gegenüber der Diphthongierung, nicht aber in Bezug auf die Entrundung. 146 Im Fall des Lexems Zeug ist sowohl im Rundungs- als auch im Entrundungsgebiet fast ausschließlich der Ersatzdiphthong [OI] vertreten. Im Rundungsgebiet stellt er die einzige Ersatzform dar (vgl. Kapitel 3.5.3.4, Abbildung 3.42).

Abb. 10.7: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit der Spontansprache für die Entrundung von mhd. iu im Lexem Zeug.

10.2 Entrundung von mhd. iu

387

388

Entrundung

10.2.2.5 Lexeme Häuser, Häuschen und Mäuse In diesem Abschnitt soll die Entrundung der Umlautformen von mhd. û in Form eines kombinierten Real- und Apparent-Time-Vergleichs betrachtet werden, der in Abbildung 10.8 dargestellt ist. Der Real-Time-Vergleich beruht auf Isoglossen, die zwei unterschiedlichen Lexemen entstammen. Für die ältere Zeitstufe W ENKERS steht die Entrundungsisoglosse der Pluralform Häuser zur Verfügung, für die jüngere Zeitstufe des SSA die Isoglosse der Pluralform Mäuse. Angenommen, dass hinsichtlich der geografischen Verbreitung der Entrundung für diese beiden Lexeme keine nennenswerten Unterschiede bestehen, kann gemäß des Kartenvergleichs von einer Ausbreitung der Entrundung nach Süden ausgegangen werden. Entlang des gesamten Isoglossenverlaufs ist eine Verlagerung des Entrundungsgebietes nach Süden zu erkennen, wobei besonders das Areal südlich von Freiburg betroffen ist. Die spontansprachlichen Daten bestätigen diesen Befund. Gerundete Formen sind (mit zwei Ausnahmen im Entrundungsgebiet) nur noch südlich der SSA-Isoglosse vorzufinden. Hier stellen die gerundeten Formen zudem die einzige Realisierung dar und variieren weder mit entrundeten noch mit diphthongischen Belegen. Für die Entrundung in den Umlautformen zeigt die Analyse, dass sich dieser Lautwandel im Laufe des 20. Jahrhunderts nach Süden ausgebreitet hat, gemäß den vorliegenden Daten jedoch in neuerer Zeit zum Erliegen gekommen ist. Sowohl wissensbasierte als auch spontansprachliche Daten stimmen größtenteils überein und lassen bei ihrem Vergleich keine Wandeltendenz erkennen.

10.2.3 Zusammenfassende Analyse Abschließend soll zur Entrundung von mhd. iu eine Gesamtschau der Ergebnisse in Form eines zusammenfassenden Real-Time-Vergleichs und eines Apparent-TimeVergleichs erfolgen. Der Real-Time-Vergleich aller in die Untersuchung eingeflossener Isoglossen weist insgesamt auf eine Ausbreitung der Entrundung hin, wie Abbildung 10.9 zu entnehmen ist. Die Variation zwischen den einzelnen Isoglossen W ENKERS wird nach Westen außerdem zunehmend stärker, während die Isoglossen gemäß SSA-Abfragedaten nahezu deckungsgleich verlaufen. Dieser Befund ist in erster Linie auf methodische Gründe zurückzuführen, wie in den Einzellexemanalysen bereits ausgeführt wurde. Hier ließ die Datenlage den Schluss zu, dass von den Dorflehrern W ENKERS innerhalb des Entrundungsgebietes häufig gerundete Graphien zur Transkription entrundeter Lautungen verwendet wurden. Es handelt sich hier also um ein methodisches Problem und nicht etwa um eine sich tatsächlich andeutende (Rück)rundung der entrundeten Formen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen erscheint die Annahme plausibel, dass die Tendenz zur Wiedergabe der phonetisch entrundeten Formen durch gerundete Graphien in Isoglossennähe durch die geografische Nähe zum südlich benachbarten Rundungsgebiet zunimmt. Diese Vermutung liefert eine Erklärung dafür, weswegen die Verwendung gerundeter Graphien für entrundete Formen in diesem Areal so frequent wurde, dass die Zeichner der Karten die Entrundungsisoglosse entsprechend weiter nördlich zogen.

Abb. 10.8: Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten und den spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. iu in den Umlautformen Häuser, Häuschen und Mäuse.

10.2 Entrundung von mhd. iu

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Abb. 10.9: Zusammenfassender Vergleich der Isoglossen W ENKERS und des SSA für die Entrundung von mhd. iu.

390 Entrundung

Abb. 10.10: Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten und der spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. iu.

10.2 Entrundung von mhd. iu

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392

Entrundung

Erst durch die exakteren Erhebungsmethoden des SSA konnte genau zwischen gerundeten und entrundeten Formen unterschieden werden. Das Ergebnis erbrachte nahezu deckungsgleiche Isoglossenverläufe über alle Lexeme hinweg, die auf eine besondere Regelmäßigkeit der vorliegenden Lautwandelprozesse hindeuten und nur äußerst geringe lexikalische Diffusion der Entrundung erkennen lassen. Deutliche Variation lässt sich auch in den spontansprachlichen Daten kaum erkennen, wie aus dem zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleich in Abbildung 10.10 hervorgeht. Das Gebiet, in dem innerhalb der spontansprachlichen Daten Entrundung von mhd. iu vorliegt, ist nach Norden relativ scharf abgegrenzt und richtet sich genau an den Isoglossen der SSA-Abfragedaten aus. Die stärkste Variation zwischen gerundeten und entrundeten Formen innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes findet sich in dessen westlichstem Teil. Insgesamt entsteht der Eindruck, als ob sich die Entrundung im Rundungsgebiet (gemäß SSA-Abfragedaten) nur geringfügig ausbreitet.147 Es muss allerdings angemerkt werden, dass für diesen Befund besonders das frequente Lexem heute verantwortlich ist, dessen Rundungsgebiet sehr stabil erscheint. Die aus den Einzellexemanalysen hervorgegangene höhere Entrundungstendenz der weniger frequenten Lexeme neun und Zeug kommt dadurch natürlich im kombinierten Apparent-Time-Vergleich in Abbildung 10.10 kaum zum Ausdruck. Nach verschiedenen lexikalischen Kontexten betrachtet, kann allerdings durchaus von einer Ausbreitung der Entrundung ausgegangen werden. Sie tritt innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes deutlicher in Erscheinung als die Diphthongierung.148 Umgekehrt weisen die innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes auftretenden gerundeten Tokens kaum auf eine sich durchsetzende (Rück)rundung hin, da ihr Anteil an allen Tokens nur 1,1 % (18) beträgt und hier die Diphthongierung den dominanten Lautwandelprozess darstellt.149

10.3 ENTRUNDUNG VON MHD. Ü Die Entrundung von mhd. ü konstituiert einen Wandelprozess, bei dem sich im Unterschied zu mhd. iu lediglich zwei Realisierungen gegenüberstehen. Es sind die gerundete Form [y], die traditionell im südwestlichen Rundungsgebiet auftritt, sowie die entrundete Lautung [i], die das übrige Gebiet einnimmt. Die beiden Realisierungen stellen zwar beide dialektale Lautungen dar, doch ist die gerundete Realisierung (im Unterschied zu mhd. iu) gleichlautend mit der standardsprachlichen Realisierung. 147 Bezogen auf die traditionellen Rundungsgebiete W ENKERS beträgt der Anteil entrundeter Tokens 27,7 % (182) und ist dementsprechend, bezogen auf die Rundungsgebiete gemäß SSAAbfragedaten, noch geringer. 148 Innerhalb der traditionellen Rundungsgebiete gemäß W ENKER beträgt der Anteil an Diphthongen 6,8 % (45). 149 Eine Analyse zum Einfluss der morphologischen Komplexität entfällt im Falle von mhd. iu, da sowohl die gerundete als auch die entrundete Realisierung nicht standardsprachlich sind und sie somit nicht als Marker vertikalen Einflusses bei der Verwendung komplexer Wortformen herangezogen werden können.

393

10.3 Entrundung von mhd. ü

10.3.1 Datenkorpus Als Datengrundlage der vorliegenden Untersuchung dienen die Lexeme über, Hütte, Schlüssel, Schüssel, schütteln, schütten und Stückchen. Real-Time-Vergleiche konnten mit keinem der Lexeme durchgeführt werden. Zwar existieren Wenker-Karten zu den Lexem über (II-9, 547) und Stückchen (II-9, 439), doch stellen diese das gesamte Untersuchungsgebiet als Rundungsgebiet dar. Entrundung ist lediglich durch gleichmäßig im Untersuchungsgebiet verstreute Einzelbelege dargestellt, die im äußersten Südwesten seltener auftreten. Dieser Befund bestätigt also die bereits im Abschnitt zur Entrundung von mhd. iu gemachte Beobachtung, wonach entrundete Realisierungen tendenziell durch gerundete Graphien wiedergegeben werden. Die Tendenz zur Verwendung gerundeter Graphien ist für mhd. ü noch weit deutlicher ausgeprägt als für mhd. iu. Diese in den Wenker-Karten auftretende methodische Problematik thematisiert auch S CHMIDT (2011, 397–399), der den Nachweis erbringt, dass die Karten W ENKERS im Fall der Entrundung von mhd. oe im Lexem böse nicht valide sind.150 Er argumentiert, dass der Unterschied zwischen gerundeter und ungerundeter Form nicht gehört wurde, da sich Ende des 19. Jahrhunderts die gerundete Standardlautung noch nicht durchgesetzt hatte, man also im Regionalstandard für heutiges [ø]/[¨u] noch [e]/[i] realisierte. Lexem über Hütte Schlüssel Schüssel schütteln schütten Stückchen GESAMT

Anzahl der Tokens 2037 66 24 38 15 19 116 2315

Anzahl Ortspunkte 293 32 15 15 8 10 91 295

Tab. 10.4: Korpus der spontansprachlichen Daten für die Realisierung von mhd. ü. Die folgenden Analysen bestehen aufgrund des Wegfalls der Wenker-Karten ausschließlich aus Apparent-Time-Vergleichen zwischen SSA-Abfragedaten und den spontansprachlichen Daten. Das verfügbare Korpus an SSA-Karten besteht aus den Karten II/8.00 (Lexeme Hütte und schütten; Abfragesätze: Er wohnt in einer alten Hütte., Wie sagt man, wenn es stark regnet?, Schüttstein) und II/8.01 (Lexem Schüssel; Einzelwortabfrage). Das Korpus der spontansprachlichen Daten ist in Tabelle 10.4 aufgeführt. Es besteht insgesamt aus 2315 Tokens und verteilt sich über sieben Lexeme sowie 295 Ortspunkte. Aufgrund der hohen Tokenfrequenz des Lexems über wird dieses in der folgenden Analyse separat betrachtet. Die Wandeltendenzen 150 Diese Beobachtung lässt sich auf die Entrundung von mhd. ü aufgrund des lautsystematisch gleichlaufenden Verhaltens der beiden etymologischen Klassen übertragen.

394

Entrundung

in den übrigen Lexemen, die eine nur geringe Tokenfrequenz aufweisen, werden in einer kombinierten Kartierung zusammengefasst.

10.3.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 10.3.2.1 Lexem über Der Apparent-Time-Vergleich für das hochfrequente Lexem über ist in Abbildung 10.11 dargestellt. Da für dieses Lexem keine SSA-Abfragedaten zur Verfügung stehen, wurde ersatzweise die Isoglosse aus Karte II/8.00 (Lexeme Hütte und schütten) gegen die spontansprachlichen Daten aufgetragen. Der Vergleich der beiden Datensätze zeigt, dass das Rundungsgebiet der spontansprachlichen Daten sehr genau demjenigen der SSA-Abfrage entspricht. Das Rundungsgebiet verhält sich sowohl in den Abfragedaten als auch in den spontansprachlichen Daten auffallend konservativ und weist nur einen Anteil von 6,5 % (17) entrundeter Belege auf. Die Datenlage beider Datensätze ist also sowohl hinsichtlich der Ausdehnung des Rundungsgebietes als auch bezüglich seiner Homogenität nahezu identisch. Eine hiervon stark abweichende Entwicklung ist dagegen im traditionellen Entrundungsgebiet zu beobachten. Dieses weist in den Abfragedaten des SSA keinerlei gerundete Realisierungen auf, während in den spontansprachlichen Daten ein Anteil von 29,7 % (528) gerundeter Tokens vorliegt. Die relativ gleichmäßige geografische Distribution der gerundeten Tokens deutet darauf hin, dass ihr hoher Anteil auf standardsprachlichen Einfluss zurückgeht. Etwas höhere Anteile an gerundeten Tokens fallen u. a. im Schwarzwald-Baar-Kreis auf, einem Gebiet also, in dem sich im Rahmen der Analysen dieser Arbeit der standardsprachliche Einfluss immer wieder besonders deutlich bemerkbar macht (vgl. Kapitel 3 zur nhd. Diphthongierung). Auch das nordwestliche Untersuchungsgebiet fällt durch einen relativ hohen Anteil an gerundeten Realisierungen auf. Da die Ausbreitung der Rundung in diesem Gebiet auf den vertikalen Einfluss der Standardsprache zurückgeführt werden kann, soll genauer betrachtet werden, inwieweit der vertikale Einfluss durch komplexe Wortformen verstärkt wird. Solche Formen machen im spontansprachlichen Korpus weit über die Hälfte aller Tokens aus.151 Hinsichtlich ihres quantitativen Anteils an gerundeten Formen weisen sie mit 29,3 % (302) aber nahezu einen identischen Wert auf wie die Simplizia mit 30,2 % (226). Auch beim Vergleich der verschiedenen komplexen Types stößt man nur selten auf deutliche Unterschiede, wie die folgenden frequenten Wortformen zeigen: darüber: 22,3 % (33), überhaupt: 33,3 % (62), überall: 18,5 % (48). Vertreter der wenigen Types, bei denen der Anteil an gerundeten Tokens überdurchschnittlich hoch ist, sind beispielsweise Überweisung (6 von 6 Tokens gerundet) und überwiegend (5 von 6 Tokens gerundet). Beide Wortformen dürfen als klare Fälle von Übernahmen aus dem Standard gelten. In häufigen Fällen treten standardsprachliche Entlehnungen durchgehend mit entrundeten Realisierungen auf, wie z. B. in Übersetzung (5 von 5 Tokens entrundet). Die Entrundung 151 Bei den komplexen Wortformen handelt es sich hauptsächlich um Komposita sowie Partikelund Präfixverben.

Abb. 10.11: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. ü im Lexem über.

10.3 Entrundung von mhd. ü

395

396

Entrundung

erweist sich demnach als ein lautliches Phänomen, dass sich dem standardsprachlichen Einfluss tendenziell entzieht. Wortgut, das dem Standard entlehnt ist, wird häufig der dialektalen Realisierung angepasst, ein Befund der auf den lautgesetzlichen Charakter der Entrundung hinweist. Hinsichtlich dieser Eigenschaft ist die Entrundung vergleichbar mit der nhd. Monophthongierung, bei der ebenfalls beobachtet werden konnte, dass standardsprachlichen Entlehnungen häufig die dialektale Lautung aufgeprägt wird (vgl. Kapitel 9). Die Analyse des Lexems über hat gezeigt, dass sich die Entrundung nicht weiter ausbreitet, sondern dass das Entrundungsgebiet einer standardinduzierten Rundung ausgesetzt ist. Der Lautwandel scheint allerdings nur zögernd zu verlaufen, was durch das tendenzielle Verharren der Sprecher bei der dialektalen Lautung, selbst bei standardsprachlichen Übernahmen, deutlich wurde.

10.3.2.2 Lexeme Hütte, Schlüssel, Schüssel, schütteln, schütten und Stückchen In Abbildung 10.12 ist der kombinierte Apparent-Time-Vergleich von sechs weiteren Lexemen zu sehen. Wie aus den Angaben zur Tokenanzahl zu erkennen ist, handelt es sich dabei durchgehend um Lexeme mit geringer Tokenfrequenz, wobei das Lexem Stückchen mit 116 Tokens in den Daten am häufigsten vertreten ist. Der Karte ist zu entnehmen, dass die Entrundungsisoglossen aus den SSA-Karten II/8.00 (Lexeme Hütte, schütten) und II/8.01 (Lexem Schüssel) nahezu deckungsgleich verlaufen und auf keine weitere Ausbreitung der Entrundung hinweisen. Die spontansprachlichen Daten bestätigen dies: Das traditionelle Rundungsgebietes verhält sich mit einem Anteil entrundeter Tokens von 14,5 % (8) ausgesprochen konservativ und ist, übereinstimmend mit den SSA-Abfragedaten, nach Norden hin recht deutlich abgegrenzt. Umgekehrt sind gerundete Realisierungen innerhalb des Entrundungsgebietes gleichmäßig verteilt; diese gehen vermutlich auf standardsprachlichen Einfluss zurück. Quantitativ beträgt ihr Anteil in diesem Gebiet 18,8 % (42) und ist damit nur geringfügig höher als der Anteil entrundeter Formen im Rundungsgebietes. Die Richtung des Lautwandels ist auf der Grundlage der quantitativen Werte also nicht klar zu beantworten. Das Kartenbild deutet tendenziell auf einen stärkeren Einfluss der gerundeten Lautung hin, da diese sich großflächig im gesamten Entrundungsgebiet ausbreitet. Zusätzlich soll überprüft werden, ob der vertikale Einflussfaktor durch die Entlehnung morphologisch komplexer Wortformen aus dem Standard gefördert wird. Der Vergleich von komplexen Wortformen und Simplizia zeigt jedoch, dass in beiden Kontexten ein fast identischer Anteil gerundeter Lautungen vorliegt: komplexe Wortformen: 18,9 % (10), Simplizia: 18,8 % (32).152 Berechnet man die jeweiligen Anteile für die einzelnen Lexeme separat, so ergeben sich nur geringe lexemspezifische Unterschiede. Ebenso weist keines der im Korpus vertretenen komplexen Types auf einen besonders hohen Anteil gerundeter Lautungen hin, wie die beiden Beispiele Glashütte (2 von 8 Tokens gerundet) und Suppenschüssel (3 von 3 Tokens 152 Bei den morphologisch komplexen Wortformen handelt es sich ausschließlich um Komposita.

Abb. 10.12: Apparent-Time-Vergleich von SSA-Abfrage mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. ü in den Lexemen Hütte, Schlüssel, Schüssel, schütteln, schütten und Stückchen.

10.3 Entrundung von mhd. ü

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Entrundung

entrundet) zeigen. Der fast gleiche Anteil gerundeter Tokens innerhalb von Simplizia und komplexen Wortformen könnte einerseits darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei keinem der komplexen Types um eine klare Übernahme aus dem Standard handelt. Andererseits ist anzunehmen, dass im Rahmen der (Rück)rundung innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes alle lexikalischen und morphologischen Kontexte gleichermaßen betroffen sind, unabhängig davon, ob es sich um alte Formen oder neu entlehnte Einheiten handelt. Die entrundete Lautung verhält sich also unabhängig vom lexikalischen und morphologischen Kontext recht einheitlich und konservativ. Wie bereits oben beschrieben wurde, gehen diese Ergebnisse auch aus den Analysen für das Lexem über hervor.

10.4 ENTRUNDUNG VON MHD. OE Im Falle der Entrundung von mhd. oe zu [e:] ist das Verhältnis von dialektaler und standardsprachlicher Realisierung das gleiche wie für die Entrundung von mhd. ü: Die gerundete Form fällt mit der standardsprachlichen zusammen, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass diese in ihrem traditionellen Vorkommensgebiet im Südwesten stabil ist, sich innerhalb des Entrundungsgebietes durch vertikalen Einfluss jedoch ausbreitet. Wie wir in den Analysen zu den beiden in die Analyse einbezogenen Lexeme sehen werden, sind weiterhin diphthongische Reflexe innerhalb des schwäbischen Dialektraumes bei der Untersuchung der stattfindenden Lautwandelprozesse zu berücksichtigen.

10.4.1 Datenkorpus Zur Analyse der Entrundung von mhd. oe konnten die beiden Lexeme schön und böse herangezogen werden. Die folgende Analyse beschränkt sich auf Apparent-TimeVergleiche von SSA-Abfrage- und spontansprachlichen Daten. Für das frequente Lexem schön bestehen diese aus einer SSA-Karte, die aus Frage 020/003 erstellt wurde (Abfragesatz: Das sind schöne Kühe) sowie aus 1120 spontansprachlichen Tokens, die sich auf 236 Ortspunkte verteilen. Zur Analyse des Lexems böse wurde die SSA-Karte II/23.50 herangezogen, die mit 75 spontansprachlichen Tokens aus 45 Ortschaften verglichen werden konnte. Das spontansprachliche Gesamtkorpus zur Entrundung von mhd. oe besteht dementsprechend aus 1195 Tokens, die auf 237 Ortspunkte verteilt sind.153

153 Für die beiden untersuchten Lexeme existieren auch Wenker-Karten (schön: Karte III-5, 461, böse: III-6, 184), in denen jedoch nicht zwischen Rundungs- und Entrundungsgebieten unterschieden wird. Dieser Befund geht auf die in den vorhergehenden Abschnitten bereits diskutierten methodischen Probleme bei W ENKER zurück (vgl. Abschnitt 10.2.2.1 und 10.3.1).

10.4 Entrundung von mhd. oe

399

10.4.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 10.4.2.1 Lexem schön Die geografische Verteilung der Reflexe für mhd. oe gemäß SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten ist in Abbildung 10.13 dargestellt. Das Rundungsgebiet befindet sich, wie bei allen anderen bislang untersuchten lexikalischen Kontexten, im äußersten Südwesten, während nahezu das gesamte Restgebiet zum traditionellen Entrundungsgebiet zählt. Eine Ausnahme bildet ein Areal im Nordosten des Untersuchungsgebietes, in dem der Diphthong [ea] die traditionelle Realisierung ist.154 Gemäß den SSA-Abfragedaten verhalten sich die drei Realisierungsgebiete außerordentlich homogen. Lediglich innerhalb des Entrundungsgebietes finden sich wenige Einzelbelege der beiden anderen Realisierungsformen. In den spontansprachlichen Daten herrscht hingegen Variation zwischen den einzelnen Realisierungen. Am geringsten ist diese innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes, wo der Anteil an entrundeten Tokens bei 11,0 % (13) liegt und sich das Rundungsgebiet recht genau an der SSA-Isoglosse ausrichtet. Umgekehrt weist das Entrundungsgebiet mit 12,0 % (108) gerundeter Tokens etwa gleich starke Variation auf. In welche Richtung der Lautwandel geht ist aus den prozentualen Anteilen nicht mit Sicherheit zu schließen. Den Ergebnissen kann entnommen werden, dass der vertikale Einfluss der Standardsprache die Ausbreitung der gerundeten Lautung offenbar im gesamten Entrundungsgebiet gleichermaßen fördert, während horizontal induzierter Lautwandel nördlich der Entrundungsisoglosse nicht erkennbar ist. Die entrundete Lautung scheint aber sehr robust zu sein, da die Auswirkungen der Rundung auf das Entrundungsgebiet geografisch zwar großflächig, quantitativ hingegen nur sehr schwach ausgeprägt sind. Wie dominant die Entrundung ist, lässt sich besonders innerhalb des traditionellen [ea]-Gebietes erkennen. Hier bildet fast ausschließlich die entrundete Form den Ersatzlaut zum bereits deutlich abgebauten dialektalen Diphthong, während die standardsprachliche (gerundete) Form nur marginal als Ersatzlaut in Erscheinung tritt. Das kleine Korpus der morphologisch komplexen Wortformen unterstützt eine standardnahe (= gerundete) Realisierung offenbar nicht, denn sowohl in Simplizia als auch in komplexen Wortformen ist der Anteil an gerundeten Tokens innerhalb des Entrundungsgebiets ungefähr gleich hoch (Simplizia: 12,0 % [106], komplexe Wortformen: 14,3 % [2]). Die häufigsten Vertreter komplexer Wortformen sind: wunderschön (9 von 9 Tokens entrundet) und allerschönste (2 von 2 Tokens entrundet). Zusammenfassend ergibt die Analyse des Lexems schön, dass sich die Rundung durch den Einfluss des Standards zwar bemerkbar macht, doch aufgrund der Robustheit der entrundeten Realisierung nur langsam fortschreitet. Die entrundete Lautung erwies sich als die vorzugsweise gewählte Ersatzform im [ea]-Gebiet und zeigt innerhalb morphologisch komplexer Wortformen (vertikaler Wandel) keine Tendenz zu einer standardnahen Realisierung. 154 Neben der Realisierung [e:] tritt innerhalb des Entrundungsgebietes auch die Variante [E:] auf. Beide Realisierungen werden im Folgenden zu [e:] zusammengefasst.

Abb. 10.13: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. oe im Lexem schön.

400 Entrundung

10.5 Gesamtanalysen zur Entrundung

401

10.4.2.2 Lexem böse Die Reflexe von mhd. oe im Lexem böse lassen sich in drei Hauptgruppen aufteilen: Eine gerundete Realisierung im Südwesten, eine diphthongische Realisierung [aI] im zentralen und nordöstlichen Untersuchungsgebiet sowie die Entrundung im westlichen und südöstlichen Raum. Der Vergleich von SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten ist in Abbildung 10.14 zu sehen. Der Vergleich lässt trotz der geringen Tokendichte im Wesentlichen dieselben Tendenzen erkennen, wie sie bereits die Analysen zum Lexem schön erbracht haben: Ein gewisser Einfluss der Rundung ist innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes vorzufinden, während umgekehrt auch Entrundung innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes auftritt. Der starke Einfluss der entrundeten Realisierung innerhalb stark rückläufiger Realisierungsgebiete ([aI]-Gebiet) wird durch die Analyse des Lexems böse bestätigt. Sie spielt als Ersatzform eine dominante Rolle, während der standardsprachliche Einfluss gering ist.

10.5 GESAMTANALYSEN ZUR ENTRUNDUNG In den vorhergehenden Abschnitten wurde die Entrundung anhand von detaillierten Analysen einzelner Lexeme bzw. kleiner Lexemgruppen beschrieben. Im Folgenden sollen die Daten zusammenfassend dargestellt werden, um einen allgemeinen Eindruck von der Entwicklung der Entrundung zu erhalten. Hierzu werden Interpolationen zur Gebrauchshäufigkeit gerundeter und entrundeter Variablen vorgestellt und miteinander verglichen. Des Weiteren werden die quantitativen Angaben zur Variation zusammengefasst und vor dem Hintergrund der Richtung des Lautwandels, seiner lexikalischen Steuerung und dem Einfluss der Standardsprache diskutiert.

10.5.1 Interpolationen Die in diesem Abschnitt beschriebenen Interpolationen wurden nicht über die Gesamtheit aller Daten zu mhd. iu, ü und oe gerechnet, da das Verhältnis von entrundeter und gerundeter Dialektform zur Standardform im Falle von mhd. iu (entrundete + gerundete Form = dialektal) ein anderes ist als bei mhd. ü und oe (entrundete Form = dialektal, gerundete Form = Standard). Aus diesem Grund wurden die Interpolationen auf der Grundlage der Daten dieser beiden Gruppen getrennt berechnet. In Abbildung A.10 sind zunächst die Interpolations-Plots zur Entrundung von mhd. iu dargestellt. Der links stehende Plot gibt die Gebrauchshäufigkeit der gerundeten Realisierung [y(:)] an. Das Rundungsgebiet erscheint darin als relativ kompaktes, kleinräumiges Gebiet, das einen etwa 20–25 Kilometer breiten Streifen im Südwesten des Untersuchungsgebietes einnimmt. Die Gebrauchshäufigkeit der gerundeten Realisierung beträgt darin durchgehend über 60 % und steigt im zentralen Bereich westlich von Waldshut auf etwa 90–100 % an. Nach Norden ist die

Abb. 10.14: Apparent-Time-Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Entrundung von mhd. oe im Lexem böse.

402 Entrundung

10.5 Gesamtanalysen zur Entrundung

403

Abgrenzung zum Entrundungsgebiet durch einen schmalen Übergangsbereich charakterisiert (grün-hellblaue Färbung), in dem die gerundeten Realisierungen eine Gebrauchshäufigkeit von ca. 40–50 % aufweisen. Nördlich dieses Streifens sinkt die Gebrauchshäufigkeit zügig auf den Wert Null ab. Insgesamt macht die Interpolation also deutlich, dass die Rundung zwar eine deutliche geografische Bindung aufweist, das Gebiet ihres Auftretens jedoch nicht homogen ist und sich nicht scharf nach Norden absetzt. Der rechts stehende Plot zeigt die interpolierte Gebrauchshäufigkeit der entrundeten Realisierung [i(:)] für mhd. iu. Die höchste Gebrauchshäufigkeit beträgt ca. 90 % und findet sich im Raum westlich von Freiburg sowie im nordwestlichen Entrundungsgebiet bei Offenburg. Im übrigen Entrundungsgebiet liegt die Gebrauchshäufigkeit fast durchgehend bei ca. 70 %. Im südöstlichsten Teil ist sie mit etwa 60 % noch geringer. Wie aus den einschlägigen Analysen hervorging, bildet der Diphthong größtenteils den Ersatzlaut für die entrundete Lautung. Spiegelbildlich zur Interpolation der gerundeten Tokens setzt sich die Gebrauchshäufigkeit der entrundeten Formen deutlich nach Süden hin ab. Die „Grenze“ zwischen Entrundungsgebiet und Rundungsgebiet ist nicht als Isoglosse zu verstehen, sondern bildet ein Übergangsgebiet mit nach Süden schnell abnehmender Gebrauchshäufigkeit. Der Interpolations-Plot in Abbildung A.11 gibt die Gebrauchshäufigkeit der gerundeten Formen für mhd. ü und oe an. Ihr höchster Anteil ist im zentralen Bereich des Rundungsgebietes zwischen Lörrach und Waldshut verzeichnet und erreicht hier annähernd 100 %. Nach Norden hin sinkt die Gebrauchshäufigkeit der gerundeten Form schnell ab, reduziert sich im Großteil des Untersuchungsgebietes aber nicht gänzlich auf den Wert Null. Sie beträgt besonders im westlichen Teil des traditionellen Entrundungsgebietes stellenweise 20–30 % und steigt im Nordwesten sogar auf Werte von bis zu 60 % an. Im nordöstlichen Teilgebiet lässt die dunkelblaue Färbung hingegen kaum noch auf das Vorhandensein gerundeter Realisierungen schließen. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass in diesem Areal nicht nur entrundete und gerundete Vokale miteinander konkurrieren, sondern im Falle der Lexeme schön und böse in diesem Gebiet auch die diphthongischen Realisierungen [ea] und [aI] vertreten sind. Der Vergleich der Interpolationen für mhd. iu einerseits und mhd. ü / oe andererseits verdeutlicht den Einfluss der vertikalen Komponente bei der Steuerung der Variation. Stimmt eine der möglichen Realisierungsformen mit der standardsprachlichen Lautung überein, so macht sich dies annähernd flächendeckend bemerkbar (lediglich im schwäbischen Dialektgebiet treten die vertikal wirkenden Rundungsprozesse weniger deutlich hervor). Eine horizontale Komponente ist gemäß der Interpolation für mhd. ü / oe nicht an der Ausbreitung der gerundeten Form beteiligt, da die Gebrauchshäufigkeit der gerundeten Realisierung an der nördlichen Peripherie des traditionellen Rundungsgebietes abrupt absinkt und nicht nach Norden hin abgestuft ist.

404

Entrundung

10.5.2 Quantitative Analysen Nachdem in den vorhergehenden Analysen besonders die geografischen Aspekte der Variation beschrieben wurden, sollen im Folgenden noch einmal die Lautwandelprozesse unter quantitativem Gesichtspunkt zusammengestellt werden. Zunächst wird Richtung und Intensität des Lautwandels für die drei untersuchten Phänomenbereiche vergleichend dargestellt. Auch der Einfluss lexikalischer Steuerung soll verdeutlicht werden. In Tabelle 10.5 sind hierzu die prozentualen Anteile an nicht traditionellen Lautungen innerhalb der jeweiligen Rundungs- und Entrundungsgebiete für alle untersuchten Lexeme aufgeführt.155 Anhand der Zahlenangaben in Tabelle 10.6 soll schließlich auf die Frage der morphologischen Komplexität und ihren Einfluss auf den Lautwandel eingegangen werden. Kommen wir zunächst zu Tabelle 10.5. Aus dieser geht hervor, dass sich die Richtung des Lautwandels insbesondere danach richtet, wie sich das Verhältnis von Dialekt- und Standardlautung für die drei untersuchten Phänomene gestaltet. Dabei ergibt sich (wie bereits die Interpolationen zeigten) ein unterschiedliches Verhalten von mhd. iu einerseits und mhd. ü und oe andererseits: Rundungsgebiet: Im Falle von mhd. iu breitet sich die Entrundung stärker aus als für mhd. ü und oe. Dieser Unterschied kommt durch die Übereinstimmung der dialektalen mit der standardsprachlichen Lautung für mhd. ü und oe zustande. Der „bewahrende“ Einfluss der vertikalen Komponente sorgt für die nur geringe Entrundungstendenz dieser beiden etymologischen Klassen. Eine solche Komponente fehlt für mhd. iu, da hier der Diphthong die standardsprachliche Form darstellt. Es verwundert also nicht, dass die Tendenz zur Entrundung für mhd. iu höher ist. Entrundungsgebiet: Die prozentualen Verhältnisse zwischen den beiden Gruppen verhalten sich hier komplementär. Der Anteil der gerundeten Lautung ist für mhd. iu verschwindend gering, während er bei mhd. ü und oe deutlich höher ist. Auch dieser Befund kann wieder durch das Dialekt-Standard-Verhältnis begründet werden: Die standardsprachlichen Reflexe der Phänomene mhd. ü und oe werden gerundet artikuliert und sorgen für einen flächendeckenden vertikalen Einfluss der gerundeten Form im gesamten Untersuchungsgebiet. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Richtung des Lautwandels über alle einbezogenen Phänomene hinweg nicht pauschal zu beantworten ist. Vielmehr muss hinsichtlich des Verhältnisses von Dialekt- und Standardlautung differenziert werden. Was die Intensität des Lautwandels der einzelnen Phänomene betrifft, sind Tabelle 10.5 deutliche Unterschiede zu entnehmen. Für mhd. iu geht der Lautwandel (einmal abgesehen von der interferierenden Diphthongierung) in besonders deutlichem Maße hin zur Entrundung. Die Wandeltendenzen für mhd. ü und oe gehen in die entgegengesetzte Richtung, erscheinen jedoch bezüglich ihrer Intensität bzw. der Stärke ihrer Gerichtetheit weniger eindeutig. Dies gilt insbesondere für das phonologische Phänomen mhd. oe, für das auf rein quantitativer Basis nicht entschieden werden kann, ob der Lautwandel zur Entrundung oder Rundung hin verläuft. Die 155 Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gebietsausdehnungen gemäß Wenker- oder SSAAbfragedaten. Standen sowohl Wenker- als auch SSA-Abfragedaten zur Verfügung, wurde das größtmögliche der jeweiligen Lautung zugeordnete Gebiet als Referenz herangezogen.

405

10.5 Gesamtanalysen zur Entrundung

Lexem neun heute Leute Zeug Häuser, Häuschen, Mäuse mhd. iu GESAMT über Hütte, Schlüssel, Schüssel, schütteln, schütten, Stückchen mhd. ü GESAMT schön böse mhd. oe GESAMT

Rundungsgebiet Entrundete Diphthonge Vokale 39,6 % (40) 14,9 % (15) 19,7 % (66) 5,1 % (17) 39,7 % (58) 5,5 % (8) 20,0 % (9) 6,7 % (3) 30,0 % (9) 6,7 % (2)

Entrundungsgebiet Gerundete Diphthonge Vokale 0,8 % (2) 51,1 % (134) 1,2 % (9) 33,5 % (261) 0,25 % (1) 34,8 % (138) 5,3 % (4) 43,4 % (33) 1,5 % (2) 34,4 % (45)

27,7 % (182) 6,5 % (17) 14,5 % (8)

6,8 % (45) — —

1,1 % (18) 29,7 % (528) 18,8 % (42)

37,2 % (611) — —

7,9 % (25) 11,0 % (13) 12,5 % (1)

— — —

28,5 % (570) 12,0 % (108) 7,5 % (4)

— — —

11,1 % (14)



11,8 % (112)



Tab. 10.5: Anteile an entrundeten Tokens innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes sowie Anteile an gerundeten Tokens innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes für alle untersuchten Lexeme der Phänomene mhd. iu, ü und oe. Zusätzlich sind die Anteile der Diphthonge angegeben. lexikalische Steuerung des Lautwandels ist in Tabelle 10.5 nur gering ausgeprägt. Sowohl Entrundungsprozesse innerhalb des Rundungsgebietes als auch Rundungsprozesse innerhalb des Entrundungsgebietes sind innerhalb der einzelnen Phänomene nur in geringem Maße nach einzelnen Lexemen profiliert (etwas deutlichere Unterschiede zeigen sich lediglich für mhd. iu bei der Entrundung innerhalb des Rundungsgebietes). Die vorliegenden quantitativen Befunde zeigen also, dass es sich bei der Entrundung bzw. Rundung um einen Lautwandelprozess handelt, der das Lautsystem unabhänig vom lexikalischen Kontext gleichmäßig erfasst. Zuletzt soll anhand von Tabelle 10.6 der Einfluss morphologischer Komplexität auf die untersuchten Lautwandelprozesse betrachtet werden. Dieser Faktor wurde lediglich für die beiden Phänomene mhd. ü und oe in Bezug auf das traditionelle Entrundungsgebiet analysiert, da nur in diesem Fall die Möglichkeit phonologischen Einflusses aus dem Standard durch gerundete Lautungen in komplexen

406

Entrundung

Anteil gerundeter Tokens im Entrundungsgebiet

über

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

250

1778

29,7 %

30,2 %

29,3 %

(528)

(226)

(302)

Hütte, Schlüssel, Schüssel, schütteln, schütten, Stückchen schön

98

223

18,8 % (42)

18,8 % (32)

18,9 % (10)

182

897

12,0 %

12,0 %

14,3 %

(108)

(106)

(2)

böse

27

53

7,5 %

8,2 %

0%

(4)

(4)

(0 von 4)

23,1 %

19,9 %

28,5 %

(682)

(368)

(314)

GESAMT

263

2951

Tab. 10.6: Quantitative Angaben zum Vorkommen von gerundeten Formen im traditionellen Entrundungsgebiet für mhd. ü und oe unter Berücksichtigung morphologischer Komplexität. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Es sind nur Zahlenwerte aufgeführt, wenn die jeweilige Grundmenge mindestens zehn Tokens beträgt. Wortformen vorliegen kann. Aus dem Vergleich zwischen Simplizia und komplexen Wortformen geht hervor, dass sich insgesamt ein Anstieg des Anteils gerundeter Wortformen innerhalb des Entrundungsgebietes für morphologisch komplexe Tokens zeigt, dieser jedoch relativ gering ist. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass der Anstieg in erster Linie durch die Verrechnung der beiden tokenstarken Lexeme über und schön zustande kommt. Der prozentuale Anteil gerundeter Tokens ist im Lexem über höher als im Lexem böse. Gleichzeitig ist die Grundmenge komplexer Tokens im Lexem über aber weit höher. Dies führt im Gesamtbild zu einem scheinbar höheren Anteil gerundeter Formen innerhalb von komplexen Tokens. Betrachtet man aber die einzelnen Lexeme getrennt voneinander, so sind hinsichtlich des Anteils gerundeter Lautungen keine relevanten Unterschiede zwischen Simplizia und morphologisch komplexen Wortformen zu erkennen. Dieser Befund legt also die Schlussfolgerung nahe, dass die Rundung bzw. Entrundung innerhalb eines Lexems unabhängig von dessen morphologischem Kontext realisiert wird. Da morphologisch komplexe Wortformen häufig neuere Entlehnungen aus dem Standard

10.5 Gesamtanalysen zur Entrundung

407

darstellen, kann weiterhin gefolgert werden, dass der Entlehnungsprozess nicht unterstützend auf die gerundete Lautung wirkt, d. h. die Tendenz zur Rundung unabhängig von der Herkunft eines Wortes ist. Insgesamt kann auf Grundlage der quantitativen Ergebnisse in den Tabellen 10.5 und 10.6 Folgendes festgehalten werden: Der Standard fördert die Realisierung der gerundeten Form, wenn diese den standardsprachlichen Reflex darstellt. Die Tendenz zur Rundung und Entrundung ist nur in geringem Maße lexikalisch gesteuert. Noch geringere Unterschiede finden sich hinsichtlich des morphologischen Kontextes und der damit verbunden Aufnahme neuen Lehngutes in den Dialekt.

10.5.3 Zusammenfassung Im Falle von mhd. iu stellen sowohl die gerundeten als auch entrundeten Realisierungen rein dialektale Formen dar. Die Lautwandelprozesse spielen sich demnach ausschließlich auf horizontaler Ebene ab. Auf der Grundlage des (methodisch problematischen) Real-Time-Vergleichs konnte eine Ausbreitung der Entrundung nach Süden festgestellt werden, die durch den Apparent-Time-Vergleich bestätigt wurde. Aus quantitativer Sicht stellte sich dabei heraus, dass die Entrundung innerhalb des traditionellen Rundungsgebietes den dominanten Lautwandelprozess darstellt und damit stärkeren Einfluss ausübt als der vertikal wirkende Prozess der Diphthongierung. Eine Ausbreitung der gerundeten Form innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes (wie sie die Kartierung W ENKERS vermuten ließ) konnte nicht nachgewiesen werden. Vereinzelte Realisierungen gerundeter Lautungen treten lediglich in Isoglossennähe auf, sind aber quantitativ den diphthongischen Lautungen untergeordnet. Die gerundeten Reflexe der beiden phonologischen Phänomene mhd. ü und oe stimmen mit der standardsprachlichen Realisierung überein. Daraus ergab sich eine Tendenz zur gleichmäßigen Ausbreitung der Standard-Form außerhalb des traditionellen Rundungsgebietes. Der Rundungsprozess ist dabei als rein vertikal wirkender Lautwandel zu verstehen, da eine Erhöhung des Anteils gerundeter Tokens mit abnehmendem Isoglossenabstand nicht nachgewiesen werden konnte. Hinsichtlich der Intensität des Rundungsprozesses innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes fiel eine ausgeprägte Resistenz gegenüber der sich vollziehenden Rundungsentwicklung auf. Der Anteil gerundeter Tokens beträgt (mit Ausnahme des frequenten Lexems über) nie über 20 %. Dieser Befund kann wohl auf den fehlenden horizontalen Einfluss der Nachbardialekte auf den Wandelprozess zurückgeführt werden. Der Lautwandel scheint nur in geringem Maße lexikalisch gesteuert zu sein und auch die Wandeltendenz morphologisch komplexer Wortformen ist im Vergleich zu den Simplizia sehr ähnlich. Damit verhält sich die Entrundung im Vergleich zu anderen phonologischen Phänomenen untypisch und zeigt lautgesetzlichen Charakter, denn in der Regel bestehen deutliche Unterschiede zwischen der Wandeltendenz verschiedener Lexeme und komplexe Wortformen neigen (in Form von standardsprachlichen Übernahmen) tendenziell stärker zur standardsprachlichen Lautung.

408

Entrundung

Aus methodischer Sicht erwies sich die Analyse der Entrundungs- bzw. Rundungsprozesse im Rahmen der Real-Time-Vergleiche als problematisch (mhd. iu), wenn nicht gar unmöglich (mhd. ü, oe), da innerhalb der Wenker-Kartierungen eine starke Ausbreitungstendenz der gerundeten Formen zu erkennen war, bzw. das gesamte Untersuchungsgebiet als Rundungsgebiet kartiert wurde. Insgesamt entstand der Eindruck, als wäre die Tendenz zur Umsetzung von entrundeten Umlauten als gerundete Graphien eine universelle Erscheinung, vermutlich weil zwischen gerundeter und entrundeter Realisierung nur ungenügend differenziert werden konnte und deshalb oft die orthografische Form zur Transkription verwendet wurde. Das Auftreten gerundeter Graphien schien für mhd. iu schwächer, für mhd. ü und oe stärker ausgeprägt zu sein.

11 VOKALDEHNUNG 11.1 EINLEITUNG Die in diesem Kapitel untersuchten Lautwandelprozesse betreffen die Quantitätsverhältnisse im Vokalismus. Die Analyse wird dabei die folgenden beiden Typen der Quantitätsveränderung zum Gegenstand haben: Dehnung in offener Silbe (z. B. [bodE] zu [bo:dE]) sowie Dehnung von Einsilblern (z. B [alt] zu [a:lt]).156 Erstere ist eine lauthistorische Entwicklung, die etwa im 12./13. Jahrhundert von Norden her das Alemannische erreichte und sich im weiteren Verlauf – mit Ausnahme eines südlichen Teilstücks – im gesamten Untersuchungsgebiet durchgesetzt hat. Bei der DOS handelt es sich um kein lautgeschichtliches Phänomen, das ausschließlich die deutsche Sprache betrifft; sie ist auch in weiteren germanischen Sprachen belegt (vgl. M URRAY / V ENNEMANN 1983 für das Isländische und Faröische). Als Movens für das sprachübergreifend auftretende Phänomen der DOS werden silbenphonologische Argumente vorgebracht. So führen M URRAY / V ENNEMANN (1983) sowie M URRAY (1988) die DOS letztendlich auf eine Resilbifizierung zurück, die bereits in proto-germanischer Zeit aufgetreten sein soll und aus der in der Folge eine Vokaldehnung hervorging. Der chronologische Ablauf der beteiligten Prozesse lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen: VC$CV → V$CCV → VV$CCV Aus der Entwicklungsreihe geht hervor, dass sich die Silbengrenze zunächst um ein Segment nach vorne verschoben hat. Diese Verschiebung (bzw. Resilbifizierung) hat ihre Ursache in der unterschiedlichen Sonorität der beiden Konsonantenphoneme, die sich als Offset der ersten und Onset der zweiten Silbe links und rechts der ursprünglichen Silbengrenze befinden. Der Konsonant, der den Offset der ersten Silbe bildet, muss gemäß dem sog. „syllable contact law“ (H OOPER 1976) sonorer sein als der zweite, damit die Silbenstruktur VC$CV präferiert wird. Ist dies nicht der Fall (wie bei der ersten Silbenstruktur angenommen), kommt es zur Versetzung der Silbengrenze nach vorne. Die hieraus resultierende zweite Silbenstruktur ist die Ausgangsbasis für die DOS. Mit Bezug auf P ROKOSCH (1939) formulieren M UR RAY / V ENNEMANN (1983) das „stressed syllable law“, nach dem die betonte Silbe im Germanischen exakt aus zwei Moren bestehen muss. Ist dies nicht der Fall, so erfolgt die Dehnung des betreffenden Vokals (dritte Silbenstruktur), um die Zweimorigkeit der ersten Silbe wieder herzustellen. Das „stressed syllable law“ dient somit auch als Erklärungsansatz für die DOS in der deutschen Sprachgeschichte. Ab frühneuhochdeutscher Zeit musste die betonte Silbe obligatorisch schwer sein, 156 Der Terminus „Dehnung in offener Silbe“ wird im Folgenden durch „DOS“ abgekürzt, „Einsilblerdehnung“ durch „ESD“.

410

Vokaldehnung

weswegen der Abbau offener Silben mit Kurzvokal erfolgte (vgl. N ÜBLING et al. 2013, 36). Sowohl die DOS als auch die ESD haben in der Dialektforschung seit dem späten 19. Jahrhundert vielfach Aufmerksamkeit erfahren (vgl. PAUL 1884; F ISCHER 1895; R ITZERT 1898) und sind hinsichtlich ihrer Verbreitung in den deutschen Dialekten gut dokumentiert. Sie können gemäß der Typologie von W IESINGER (1983a, 1091–1094) als zwei von insgesamt vier Arten von Quantitätsveränderungen in den deutschen Dialekten angesehen werden, die in vereinfachter Form in Tabelle 11.1 für die hochdeutschen Dialekte dargestellt sind.

1

Typ DOS

2

ESD vor Obstruent

2-1

vor einfacher Lenis

2-2

vor einfacher Fortis vor mehrfacher Fortis

3

ESD vor Sonorant

3-1

vor [l], [r]

3-2

vor [n], [m]

4

Kürzung

Beispiele Esel Ofen

Verbreitung - gesamter deutscher Sprachraum - nur teilweise im Alemannischen

Gras Rad Tisch Mist

- ober- und mitteldeutsche Dialekte - unterbleibt z. T. im Alemannischen - östliches und nördliches Oberdeutsch - z. T. im Ostmitteldeutschen

alt schwarz Kind Dampf Straße Docht

- häufig im Ober- und Mitteldeutschen - oft mit [r]-Vokalisierung einhergehend - häufig im Ober- und Mitteldeutschen - oft mit [n]-Tilgung einhergehend - häufig im Nordostoberdeutschen - im Ostmitteldeutschen

Tab. 11.1: Typologie von Quantitätsveränderungen in den hochdeutschen Dialekten nach W IESINGER (1983a). DOS = Dehnung von Kurzvokalen in offener Silbe, ESD = Dehnung von Kurzvokalen in Einsilblern. Wie bereits erwähnt, wird sich die vorliegende Untersuchung auf die DOS und die ESD beschränken. Von den unterschiedlichen Typen der ESD gemäß Wiesinger (1983a) werden dabei nur die Dehnungstypen 2-2 und 3 näher betrachtet. Der Dehnungstyp 2-1 wird nicht in die Untersuchung einbezogen, da Voranalysen hierzu keine nennenswerte Variation im Untersuchungsgebiet ergaben.157 Neben der DOS ist auch die ESD in der Dialektforschung des 20. Jahrhunderts immer wieder in das Zentrum des Interesses gerückt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Beschreibungen von J UTZ (1931) und B OHNENBERGER (1953) sowie die Arbeiten von G ABRIEL (1969), AUER (1989; 1990) und S EI LER (2009; 2010).158 Die ESD stellt im Gegensatz zur DOS noch viele, bislang 157 Die Voranalysen wurden auf der Grundlage der Lexeme Grab und Rad durchgeführt. 158 Für eine vergleichend-evaluierende Darstellung von junggrammatischen, strukturalistischen und generativen Ansätzen zur Erklärung von Dehnungsvorgängen in der deutschen Sprachgeschichte siehe R EIS (1974).

11.1 Einleitung

411

ungeklärte Fragen an die linguistische Forschung. So ist beispielsweise die Kausalität ihres Entstehens ein Diskussionspunkt, der sich durch annähernd alle wissenschaftlichen Arbeiten zieht. Oftmals wird ihre Entstehung als Analogie zur DOS im Sinne eines Systemzwangs angesehen, wie beispielsweise W IESINGER (1983a, 1092) konstatiert: „Die Dehnung kurzer Vokale in geschlossener Silbe wird allgemein als analogischer Ausgleich zwischen mehr- oder einsilbigen Formen desselben Lexems aufgefasst.“ Diese monokausale Erklärung wurde insbesondere von S EILER (2009; 2010) widerlegt. S EILER fasst die DOS und die ESD als zwei voneinander unabhängig existierende Dehnungsprozesse auf. Ihm zufolge sind beide Dehnungsmuster auf wortprosodischer Ebene agierende Prozesse, deren wesentlicher Steuerungsfaktor die minimale Schwere von Inhaltswörtern ist. Diese Annahme geht auf die Morentheorie von H AYES (1989; 1995) zurück, demzufolge eine Dehnung in einer Silbe oder einem Wort von deren Schwere abhängt, d. h. der Anzahl an Moren (Quantitätseinheiten), aus denen es besteht. Vereinfacht gesprochen bedeutet dies, dass Vokaldehnung in einer Silbe umso wahrscheinlicher ist, je leichter das Wort oder die Silbe ist. Ein Wort wie [rExt] (dreimorig) müsste demnach weniger zur Dehnung des Stammvokals neigen als das Wort [Stal] (zweimorig).159 Ebenfalls auf phonologischer Basis argumentiert AUER (1989), der in Anlehnung an W IESINGER (1983a) die Morenkonstanz im phonologischen Wort und ein phonologisch-rhythmisches Grundprinzip als Steuerungsfaktor der Vokaldehnung ansieht. Nur wenig Beachtung fand bislang der Einfluss der Standardsprache bzw. der überregionalen Umgangssprachen auf die Entwicklung der Quantitätsverhältnisse. Die einzige Ausnahme bildet AUER (1989), der diesen Faktor in seine Studie zum Konstanzer Stadtrepertoire einbezog, allerdings kaum Anzeichen von Advergenz zur Standardsprache bzw. von Sprachwandel identifizieren konnte. Beide Dehnungsphänomene werden in der folgenden Untersuchung getrennt behandelt, da sie sich dialektgeografisch deutlich voneinander unterscheiden. So umfasst die DOS ein recht kompaktes Hauptareal im Süden des Untersuchungsgebietes, das lexemübergreifend nur wenig variiert und Teil eines sich südlich des Rheins fortsetzenden Kürzegebietes ist (vgl. SDS, Karte II 33: Ofen). Hinzu kommt ein kleines Kürzegebiet im Nordwesten, das allerdings nur für eine Teilmenge der untersuchten Lexeme gilt. Dieses setzt sich in bestimmten lexikalischen Kontexten links des Rheins fort (vgl. ALA, Karte 199: geblieben, Karte 152: legen). Die Darstellung in Abbildung 11.1 soll die Verbreitung von erhaltener Kürze anhand der aufgetragenen SSA-Abfragedaten verdeutlichen. Die ESD verhält sich im Untersuchungsgebiet weit weniger einheitlich, wie Abbildung 11.2 zu entnehmen ist. Je nach Lexem unterscheiden sich die Verbreitungsgebiete der Vokaldehnung teilweise erheblich. Neben dem lexikalischen Kontext sind es vor allem die Qualität des Stammvokals und insbesondere dessen Folgekonsonanz, die die Verbreitung von Vokaldehnung bei ESD determinieren. Aus diesem Grund werden die Lexeme, die in die Untersuchung der ESD eingegangen sind, in der folgenden Diskussion in sich lautgeografisch ähnlich verhaltende Untergruppen eingeteilt. 159 Zur Bezeichnung einer leichten (einmorigen) Koda dienen oft die Bezeichnungen „Lenis“ bzw. „Leichtschluss“, etc. Zur Bezeichnung einer schweren (zweimorigen) Koda dienen u. a. die Bezeichnungen „Fortis“ bzw. „Schwerschluss“, etc.

Abb. 11.1: Die Verbreitung der Vokaldehnung in offener Silbe gemäß SSA-Abfragedaten.

412 Vokaldehnung

Abb. 11.2: Die Verbreitung der Einsilblerdehnung gemäß SSA-Abfragedaten.

11.1 Einleitung

413

414

Vokaldehnung

Die folgende Darstellung wird zunächst auf die DOS eingehen und sich im darauf folgenden Abschnitt der ESD widmen. Die Behandlung beider Dehnungstypen wird besonders der Frage nachgehen, inwiefern die Wandelprozesse auf Dialektkontakt zurückzuführen sind und / oder durch vertikalen Varietätenkontakt induziert wurden. Die Abschnitte zu beiden Dehnungstypen weisen in etwa folgende Grundstruktur auf: Zunächst wird jedes in die Untersuchung eingegangene Lexem separat in Form von Real- und Apparent-Time-Kartenvergleichen auf Wandeltendenzen untersucht. Darauf folgt eine Gesamtanalyse zu allen eingeflossenen Daten anhand aggregierter Real- und Apparent-Time-Vergleiche. Anschließend werden die spontansprachlichen Daten in Form von Interpolations-Plots dargestellt. Schließlich folgt eine quantitative Übersicht über die Variation, woraus vor allem Aussagen zur lexikalischen Steuerung und zum Einfluss morphologischer Komplexität gemacht werden können. Eine gemeinsame Zusammenfassung für beide Dehnungsprozesse bildet den Schluss.

11.2 DEHNUNG IN OFFENER SILBE 11.2.1 Datenkorpus Für die Analyse der DOS stehen nur für die Lexeme Ofen und geblieben WenkerKarten zur Verfügung. Weiterhin konnten Isoglossen aus den Kartierungen von F I SCHER (1895, Karte 1, Öfen), H AAG (1929/30, Ofen), H AAG (1932, Boden) entnommen werden. Für die Lexeme Ofen, geblieben und Boden sind demnach RealTime-Vergleiche möglich. Für alle weiteren Lexeme konnten lediglich ApparentTime-Analysen durchgeführt werden. In Tabelle 11.2 sind die Daten W ENKERS und ihre Abfragekontexte dargestellt. Lexem Ofen

Wenker-Karte II-6, 30

geblieben

II-5, 364

Wenker-Fragesatz Tu Kohlen in den Ofen, damit die Milch bald zu kochen anfängt Der Schnee ist diese Nacht liegen geblieben, ...

Tab. 11.2: Korpus der Wenker-Karten für die DOS. Die SSA-Abfragedaten sind in Tabelle 11.3 zu sehen. Mit Ausnahme der Lexeme leben (Verb) und Leben (Substantiv) waren Abfragedaten zur Analyse aller Lexeme verfügbar. Die in Tabelle 11.4 dargestellten spontansprachlichen Daten bestehen aus 1971 Tokens, die sich auf neun Lexeme verteilen. Das Lexem Ofen wurde nach Singular- und Pluralform aufgespalten, das Lexem leben nach seiner Verwendung als Substantiv bzw. Verb.160

160 Bei den Lexemen Laden (im Sinne von ‘Ladengeschäft’) und laden (im Sinne von ‘be-, aufladen’) handelt es sich um homonyme Formen.

11.2 Dehnung in offener Silbe

Lexem Ofen/Öfen geblieben Boden geschrieben Laden (Substantiv)

SSA-Karte/Frage II/170.01 294/006 II/170.01 II/170.01 436/005

laden (Verb) lesen Räder

082/006 240/009 122/001

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage (Ich habe) dem Vater geschrieben Einzelwortabfrage (Fensterladen) Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage

Tab. 11.3: Korpus der SSA-Abfragedaten für die DOS.

Lexem Ofen Öfen geblieben Boden geschrieben Laden (Substantiv) laden (Verb) Leben (Substantiv) leben (Verb) lesen Räder GESAMT

Anzahl der Tokens 287 52 226 491 300 61 62 182 101 92 117 1971

415

Anzahl der Ortspunkte 91 28 128 159 114 43 37 90 68 47 46 272

Tab. 11.4: Korpus der spontansprachlichen Daten für die DOS.

416

Vokaldehnung

Neben den aufgeführten Daten, die für konkrete Lexeme zur Verfügung stehen, konnte in die zusammenfassende Gesamtkartierung (siehe Abbildung 11.10) die Isoglosse von M OSER (1954/55) integriert werden, die er nicht einem speziellen Lexem zuweist, sondern dem Phänomen „Erhalt / Dehnung altkurzer Tonvokale“ im Allgemeinen.

11.2.2 Wandelprozesse in den einzelnen Lexemen 11.2.2.1 Lexem Ofen (+ Plural Öfen) Für das Lexem Ofen (einschließlich der Pluralform Öfen) steht das reichhaltigste Datenmaterial zur Verfügung. Allerdings sind in den Daten W ENKERS keine Isoglossen vorhanden, sondern nur Einzelbelege für Vokalkürze bzw. -länge. Ergänzend kann hierfür aber auf die Kartierungen F ISCHERS (1895) und H AAGS (1929/30) zurückgegriffen werden, die das Kürzegebiet durch Isoglossen nach Norden und Osten abgrenzen. Die Karte in Abbildung 11.3 zeigt den Vergleich der verschiedenen Daten. Im südlichen Kürzegebiet zeigen sich, abgesehen von wenigen Einzelbelegen, zwischen Wenker- und SSA-Abfragedaten kaum Unterschiede. Die Isoglosse H AAGS (1929/39), die den nördlichen Bereich des Kürzegebietes umgibt, geht ebenfalls konform mit der Datenlage W ENKERS und des SSA. Teilweise deutliche Abweichungen zeigt hingegen die Isoglosse F ISCHERS (1895), die in ihrem westlichen Teil weiter südlich verläuft, im Osten hingegen weiter nach Norden reicht und das Gebiet östlich von Friedrichshafen und Ravensburg nicht mehr dem Kürzegebiet zurechnet. Damit erscheinen die SSA-Abfragedaten konservativer als die etwa 100 Jahre älteren Kartierungen F ISCHERS, mit den Daten W ENKERS und H AAGS (1929/39) stimmen sie hingegen vorwiegend überein. Eine klare Wandeltendenz ist aus den vorliegenden Daten demnach nicht zu ermitteln. Anders verhält sich dies im nordwestlichen Kürzegebiet: Hier entsteht der Eindruck, als hätten sich die Kurzvokale im Laufe des 20. Jahrhunderts ausgebreitet. Abbildung 11.4 vermittelt einen Eindruck davon, wie sich die DOS in den spontansprachlichen Daten darstellt. Innerhalb des nordwestlichen Kürzegebietes (gemäß SSA) werden die hier auftretenden Vokale in offener Silbe konsistent kurz artikuliert. Ein Rückgang des Kürzegebietes ist also nicht nachweisbar. Im südlichen Hauptgebiet der Vokalkürze ist selten Variation zwischen Kurz- und Langvokal vorzufinden. Der Anteil an Langvokalen beträgt hier 13,4 % (11). Innerhalb des traditionellen Längegebietes variieren Vokallänge und Vokalkürze ebenfalls selten, wobei der Anteil an Vokalkürze jedoch weit geringer ist. Insgesamt lässt sich für die Entwicklung der Vokaldehnung im Lexem Ofen/Öfen also festhalten, dass sich diese im Kürzegebiet nur geringfügig auszubreiten scheint. Dies wird sowohl durch den Real-Time- als auch den Apparent-Time-Vergleich bestätigt.

Abb. 11.3: Real-Time-Vergleich der Daten W ENKERS mit den SSA-Abfragedaten für das Lexem Ofen/Öfen. Zusätzlich sind die Isoglossen F ISCHERS (1895) und H AAGS (1929/39) integriert.

11.2 Dehnung in offener Silbe

417

Abb. 11.4: Vergleich von SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten für das Lexem Ofen/Öfen.

418 Vokaldehnung

11.2 Dehnung in offener Silbe

419

11.2.2.2 Lexem geblieben Für die Vokaldehnung im Partizip geblieben ist sowohl ein Real-Time- als auch ein Apparent-Time-Vergleich möglich. Abbildung 11.5 zeigt zunächst den Vergleich zwischen Wenker- und SSA-Abfragedaten. Im gesamten Untersuchungsgebiet gilt gemäß W ENKER als Grundform die Vokallänge (). Vokalkürze ist nicht explizit durch Isoglossen abgetrennt, sondern wird durch Einzelbelege symbolisiert, die über das gesamte Untersuchungsgebiet verteilt auftreten. Das etwas dichtere Vorkommen von Vokalkürze im Nordwesten und Süden des Untersuchungsgebietes deutet die Kürzegebiete an, die in den SSA-Abfragedaten deutlich zum Vorschein kommen. Das unscharfe Kartenbild bei W ENKER einerseits und das klarere in den SSAAbfragedaten andererseits kann primär auf die unterschiedlichen Erhebungsmethoden zurückgeführt werden. Erst durch die exaktere Methode des SSA konnte eine Unterscheidung zwischen Kurz- und Langvokalen getroffen werden. Hinzu kommt, dass die SSA-Exploratoren zielorientiert transkribierten, während die Laientranskribenten der Wenker-Erhebung naiv hinsichtlich der relevanten phonologischen Kategorien vorgingen. Letztere dürften demnach im gesamten Untersuchungsgebiet häufig Vokalkürze wahrgenommen haben, in den Kürzegebieten (gemäß SSA) offenbar noch häufiger. Die großflächige Wahrnehmung von Vokalkürze im Lexem geblieben (gerade im Unterschied zum Lexem Ofen/Öfen) ist möglicherweise auf das sog. Eigendauergesetz (M EYER 1904) zurückzuführen, wonach ein Vokal um so kürzer artikuliert wird, je höher dieser im Mundraum produziert wird. Demzufolge dürfte die perzeptive Unterscheidung zwischen Kurz- und Langvokal im Lexem geblieben schwieriger sein als in Wörtern mit nicht-hohem Stammvokal. Das Kürzegebiet, wie es sich in den SSA-Abfragedaten darstellt, zeigt im Vergleich mit den spontansprachlichen Daten einen tendenziellen Rückgang (Abbildung 11.6). Innerhalb des südlichen Hauptgebietes der Vokalkürze werden 32,1 % (18) der Tokens lang artikuliert, wobei sich die Langvokale hauptsächlich in dessen nordwestlichem Teil kumulieren. Im östlichsten Stück bei Ravensburg und Friedrichshafen sind an zwei Ortspunkten ebenfalls Langvokale nachgewiesen, die auf einen Rückgang von Vokalkürze in diesem Gebiet hinweisen. Das nordwestliche Kürzegebiet zwischen Offenburg und Rastatt ist gemäß den spontansprachlichen Daten recht stabil. Nur innerhalb des nördlichsten Ortspunktes (Ötigheim, Lkr. Rastatt) tritt überwiegend Vokallänge auf. Neben Langvokalen innerhalb der traditionellen Kürzegebiete finden sich umgekehrt im Rheintal Belege für Vokalkürze im Längegebiet. Eine Interpretation als Allegroformen ist denkbar, doch verwundert es, dass diese nicht auch im östlichen Untersuchungsgebiet auftreten. Schließlich handelt es sich um unbewusst produzierte Schnellsprechformen, deren Auftretenswahrscheinlichkeit im gesamten Untersuchungsgebiet gleich hoch sein sollte.

Abb. 11.5: Real-Time-Vergleich von Wenker-Daten und SSA-Abfrage für das Lexem geblieben.

420 Vokaldehnung

Abb. 11.6: Vergleich von SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten für das Lexem geblieben.

11.2 Dehnung in offener Silbe

421

422

Vokaldehnung

11.2.2.3 Lexem Boden Für das Lexem Boden stehen keine Wenker-Karten zur Verfügung, weswegen sich die Analyse fast ausschließlich auf den Vergleich von SSA-Abfragedaten und spontansprachlichen Daten beschränken muss. Einzig aus der Kartierung von H AAG (1932) konnte eine Teilisoglosse im südöstlichen Teil des Untersuchungsgebietes herangezogen werden. Die verfügbaren Daten sind auf der Karte in Abbildung 11.7 aufgetragen. Der Vergleich von H AAGS Isoglosse mit den SSA-Abfragedaten lässt auf eine deutliche Rückbildung des Kürzegebietes im Raum Ravensburg schließen. Durch die spontansprachlichen Daten kann diese Entwicklung nicht bestätigt werden, da im betreffenden Gebiet keine Daten vorliegen. Das Vorkommen von Kurzvokalen in Langnau (Lkr. Friedrichshafen) östlich von Friedrichshafen deutet aber an, dass der Kurzvokal im Sprachgebrauch der Gewährspersonen in diesem Gebiet immer noch auftritt. Im gesamten traditionellen Gebiet (gemäß SSAAbfragedaten) scheint die Vokalkürze in den meisten Ortschaften noch recht gut erhalten zu sein. In Bezug auf die Gesamtzahl der Tokens beträgt der Anteil an Langvokalen aber 37,5 % (69), wobei sich die Langvokale besonders im nordwestlichen Bereich, westlich von Villingen-Schwenningen, häufen. Aus diesem Befund kann zunächst ein Rückgang der Kurzvokale in diesem Areal abgeleitet werden. Gegen eine solche Entwicklung sprechen allerdings die unmittelbar westlich des geschlossenen Kürzegebietes auftretenden Kurzvokale, die eine Ausbreitung des Kürzegebietes nach Westen andeuten. Eine einheitliche Richtung des Lautwandels ist dem Apparent-Time-Vergleich in diesem Teilgebiet demnach nicht zu entnehmen. Das nordwestliche Kürzegebiet zwischen Offenburg und Baden-Baden ist bereits in den Abfragedaten des SSA zweigeteilt und nimmt eine verhältnismäßig kleine Fläche ein. Die spontansprachlichen Daten deuten vor allem im nördlichen Teilgebiet einen Rückgang der Vokalkürze an, während sich der weitere Rückgang des südlichen Teilgebietes in den Spontandaten kaum zeigt. Zusammenfassend kann für das Lexem Boden also festhalten werden, dass die Kurzvokale in offener Silbe in ihren traditionellen Verbreitungsgebieten größtenteils gut erhalten sind. Das Lexem Boden ist zu ca. einem Drittel in morphologisch komplexe Wortformen eingebettet. In diesen Kontexten wird innerhalb des traditionellen Kürzegebietes in 50,0 % (24) der Fälle ein Langvokal realisiert, während es in Simplizia lediglich 33,1 % (45) sind. Ein genauerer Blick in die spontansprachlichen Daten zeigt, dass es sich bei allen Wortformen um Komposita handelt, die zum Teil aus der Standardsprache übernommen wurden (z. B. Bodenuntersuchung, Bodenverbesserung, Bodenverhältnisse, etc.). Somit dürfte die Tendenz zur Realisierung von Vokallänge in Komposita auf jüngere Entlehnung standardsprachlicher Ausdrücke zurückzuführen sein. Es sei aber erwähnt, das auch solche Komposita, die sowohl dialektal als auch standardsprachlich sind (z. B. Heuboden, Moorboden, Mutterboden), einen Anteil von ca. 50 % standardsprachlicher Realisierungen aufweisen. Autochthon dialektale Bildungen sind im Korpus der Komposita nicht nachgewiesen.

Abb. 11.7: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für das Lexem Boden. Zusätzlich ist die Isoglosse H AAGS (1932) aufgetragen.

11.2 Dehnung in offener Silbe

423

424

Vokaldehnung

11.2.2.4 Lexeme geschrieben, Laden (Substantiv), laden (Verb), Leben (Substantiv), leben (Verb), lesen und Räder Für die übrigen in die Untersuchung einbezogenen Lexeme existieren ausschließlich SSA-Abfragedaten und / oder spontansprachliche Daten. Da sich, wie in den bisherigen Analysen deutlich wurde, die DOS räumlich verhältnismäßig einheitlich verhält, kann die Analyse der noch verbleibenden Lexeme anhand von Kombinationskartierungen vorgenommen werden. In Abbildung 11.8 sind zunächst die verfügbaren SSA-Abfragedaten aufgetragen.161 Auf der Karte ist zu erkennen, dass die Vokalkürze im Partizip geschrieben geografisch den größten Raum einnimmt (durchgezogene Isoglosse). Als einziges der aufgetragenen Lexeme verfügt es über ein geschlossenes Kürzegebiet im Nordwesten des Untersuchungsgebietes, während für die übrigen Lexeme in diesem Bereich lediglich Einzelbelege für Vokalkürze vorliegen. Das Verb lesen (gepunktete Isoglosse) nimmt gemäß SSA-Abfragedaten den kleinsten Raum ein, der sich auf den Bereich nördlich des Kantons Schaffhausen beschränkt. Die übrigen Lexeme Laden (Substantiv), laden (Verb) und Räder nehmen hinsichtlich ihrer Ausbreitung eine Zwischenstellung zwischen dem großräumigen Partizip geschrieben und dem kleinräumigen Verb lesen ein. Die Kombinationskartierung der fünf Lexeme zeigt also die lexikalische Steuerung des Lautwandels. Die Kartierung zeigt weiterhin, dass der Abbau der Vokalkürze sich geografisch nicht willkürlich vollzieht. So sind die kleinräumigen, isolierten Gebiete offenbar stärker von Lautwandel betroffen (nordwestliches Kürzegebiet). Weiterhin ist zu erkennen, dass sich der Rückgang des südlichen Kürzegebietes von außen nach innen vollzieht (als konservativstes Kerngebiet erscheint der südliche Schwarzwald-Baar-Kreis). Außerdem variieren die Isoglossen im nördlichen Bodenseeraum besonders stark, was auf einen Rückgang der Vokalkürze in diesem Raum hindeutet. Die aus der Interpretation der SSA-Abfragedaten hervorgegangenen Wandeltendenzen bestätigen sich in den spontansprachlichen Daten, die in Abbildung 11.9 zu sehen sind.162 Im nordwestlichen Kürzegebiet herrscht starke Variation, wobei sich die in den spontansprachlichen Daten auftretenden Kurzvokale fast ausschließlich auf das Lexem geschrieben beschränken. Das südliche Kürzegebiet wird gemäß der spontansprachlichen Daten von Norden nach Süden abgebaut, wobei sich der Nordwesten des traditionellen Kürzegebietes besonders innovativ zeigt. Neben dem nordwestlichen Teil des südlichen Kürzegebietes weist auch dessen östlichster Bereich nördlich des Bodensees häufig Langvokale auf. Insgesamt werden 22,0 % (48) aller Tokens im Kürzegebiet als Langvokale realisiert. Neben geografisch unterschiedlich ausgeprägter Wandeltendenz bestehen zudem lexemspezifische Unterschiede, wie aus der Analyse der einzelnen Lexeme hervorging.163 Darüber hinaus sind bei den Lexemen Leben (Substantiv) und Räder deutliche Effekte morphologi161 Es fehlen SSA-Abfragedaten zu den Lexemen Leben (Substantiv) und leben (Verb). Für diese liegen lediglich spontansprachliche Daten vor. 162 Zur Verdichtung des spontansprachlichen Befundes wurden die Tokens der Lexeme Leben (Substantiv) und leben (Verb) in die Karte integriert. 163 Siehe hierzu Tabelle 11.5 sowie die Diskussion in Abschnitt 11.2.3.3.

Abb. 11.8: Vokaldehnung in offener Silbe gemäß SSA-Abfragedaten für die Lexeme geschrieben, Laden (Substantiv), laden (Verb), lesen und Räder.

11.2 Dehnung in offener Silbe

425

Abb. 11.9: Kombinierter Vergleich von SSA-Abfrage und spontansprachlichen Daten für die Lexeme geschrieben, Laden (Substantiv), laden (Verb), Leben (Substantiv), leben (Verb), lesen und Räder.

426 Vokaldehnung

11.2 Dehnung in offener Silbe

427

scher Komplexität vorhanden:164 So werden im Lexem Leben in Simplizia 33,3 % (4) aller Tokens als Langvokal realisiert, während es in Komposita 47,1 % (8) sind. Im Lexem Räder geht die Tendenz in die gleiche Richtung: Simplizia beinhalten 13,0 % (3) Langvokale, während es bei den Komposita 50,0 % (5) sind. Bei den Wortformen mit Langvokal handelt es sich um Komposita, die zum Teil klare Fälle von Übernahmen aus dem Standarddeutschen darstellen, wie z. B. lebensfähig, lebenslänglich oder Lebensmittelauslagerung. Andere Fälle sind hingegen weniger eindeutig. Besonders die mit dem Lexem Räder gebildeten Wortformen sind nicht als Übernahmen aus dem Standard zu interpretieren, da diese sowohl in der Standardsprache als auch im Dialekt auftreten können (z. B. Fahrräder, Vorderräder).

11.2.3 Gesamtanalysen 11.2.3.1 Real-Time- und Apparent-Time-Vergleich In diesem Abschnitt sollen alle analysierten Daten zusammenfassend dargestellt werden, um einen Gesamteindruck von den Wandelprozessen zu erhalten. Hierfür dient zunächst ein zusammenfassender Kartenvergleich sowie ein Apparent-TimeVergleich. Anschließend soll eine Interpolation die Gebrauchshäufigkeit von Kurzvokal in offener Silbe im Untersuchungsgebiet veranschaulichen. Es folgt schließlich eine zusammenfassende Darstellung, die den Gebrauch des Kurzvokals in offener Silbe unter Berücksichtigung des lexikalischen Kontextes ausführt und den Faktor der morphologischen Komplexität aufgreift. Kommen wir zunächst zum zusammenfassenden Kartenvergleich, der in Abbildung 11.10 zu sehen ist. Auf der Karte sind alle verfügbaren SSA-Isoglossen sowie die Isoglosse von M OSER (1954/55) aufgetragen.165 Die Isoglossen der SSAAbfragedaten entsprechen weitgehend dem Befund der Kombinationskarte des vorhergehenden Abschnitts (Abbildung 11.9), der in der vorliegenden Kartierung um die Isoglossen der Lexeme Ofen/Öfen, geblieben und Boden ergänzt ist. Aus der Karte ist ersichtlich, dass Vokalkürze gemäß SSA-Abfragedaten im Nordwesten nur für die beiden Partizipien geblieben und geschrieben sowie die Lexeme Ofen/Öfen und Boden gilt. Diese Lexeme sind gleichzeitig die gebrauchshäufigsten im spontansprachlichen Korpus. Das südliche Kürzegebiet erscheint in den SSA-Abfragedaten recht kompakt. Mit Ausnahme des Lexems lesen sind die Isoglossen aller Lexeme relativ deckungsgleich. Nur der Bereich nördlich des Bodensees zeichnet sich durch besonders stark variierende Isoglossenverläufe aus, die auf den Abbau von Vokalkürze in diesem Bereich hindeuten. Weit schwächer variieren die Isoglossen im nordwestlichen Teil des Kürzegebietes; ein Befund, der ebenfalls auf den Abbau von Vokalkürze in diesem Gebiet hindeutet. Der Verlauf des SSA-Isoglossenbündels ist mit der Isoglosse M OSERS (1954/55) größtenteils identisch. Diese umgrenzt 164 Für die übrigen Lexeme ist eine genauere Analyse dieses Faktors nicht sinnvoll, da die Tokenfrequenz zu gering ist. 165 Die Isoglosse M OSERS ist ihm zufolge eine lexemübergreifend gültige Isoglosse und gilt offensichtlich für sämtliche Lexeme, in denen sich Dehnung in offener Silbe vollzog.

Abb. 11.10: Vokaldehnung in offener Silbe gemäß M OSER (1954/55) und SSA-Abfragedaten. Die Isoglosse M OSERS bezieht sich auf den Erhalt altkurzer Tonvokale allgemein. Die Abfragedaten des SSA beziehen sich auf die Lexeme geschrieben, Laden (Substantiv), laden (Verb), lesen und Räder.

428 Vokaldehnung

11.2 Dehnung in offener Silbe

429

dort, wo die SSA-Lexemisoglossen variieren, die größtmögliche Ausdehnung des Kürzegebietes. Die hohe Übereinstimmung der Isoglosse M OSERS mit denjenigen des SSA verwundert nicht, basiert M OSERS Isoglosse doch auf einer wahrscheinlich nur geringfügig älteren Sprechergeneration als diejenigen des SSA.166 Abbildung 11.11 zeigt eine Kombinationskarte aller in die Analyse einbezogenen Spontandaten. Das Kartenbild bestätigt die Vermutungen der zusammenfassenden Kartierung der SSA-Abfragedaten: Die Variation zwischen Kurz- und Langvokal ist insbesondere im nordwestlichen Teil des südlichen Kürzegebietes auffallend stark ausgeprägt.167 Außerdem finden sich gedehnte Realisierungen nördlich des Bodensees, während der zentrale Bereich am konservativsten erscheint. Insgesamt beträgt der Anteil an Langvokalen im südlichen Kürzegebiet 27,0 % (146). Im Kürzegebiet nördlich von Offenburg herrscht noch stärkere Variation zwischen Kurzund Langvokal. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Kurzvokale in diesem Gebiet fast ausschließlich in den Lexemen Ofen/Öfen, geblieben, geschrieben und Boden auftreten. Zusammenfassend lässt sich für die DOS festhalten, dass die Kürzegebiete stellenweise zwar Abbauerscheinungen aufweisen, besonders das südliche aber recht stabil erscheint. Das Gebiet unmittelbar nördlich des Kantons Schaffhausen ist am konservativsten, während im nordwestlichen und östlichen Teil des südlichen Kürzegebiets häufig Langvokale realisiert werden. Die Tendenz zum Lautwandel scheint demnach durch eine stark horizontal ausgeprägte Komponente geprägt zu sein und nimmt von der Peripherie des traditionellen Kürzegebietes zum Zentrum hin ab.

11.2.3.2 Interpolation In Abbildung A.12 sind die spontansprachlichen Daten zur DOS in Form eines Interpolations-Plots dargestellt. Darin ist zu erkennen, dass sich der Gebrauch von Vokalkürze im Zentrum des südlichen Realisierungsgebietes konzentriert und hier ca. 80–90 % beträgt. Die geografische Außenabgrenzung des Kürzegebietes ist recht scharf (gelber und grüner Streifen). Diejenigen Gebiete, die gemäß SSA-Abfrage noch als Teil des Kürzegebietes galten, sind in dieser Darstellung nicht mehr als Teilgebiete desselben erkennbar. So fehlt beispielsweise der gesamte östliche Abschnitt nordöstlich des Bodensees. Auch das Gebiet nordwestlich von VillingenSchwenningen wird nicht mehr einem mehrheitlich durch Vokalkürze charakterisierten Gebiet zugeordnet. Das verbliebene Kürzegebiet im Nordwesten des Untersuchungsgebietes beschränkt sich gemäß der Interpolation im Wesentlichen auf einen kleinen Bereich zwischen Baden-Baden und Karlsruhe.

166 M OSERS Isoglosse geht auf Aufnahmen zurück, die er selbst in den Jahren 1952–53 durchgeführt hat. 167 Dieses Gebiet (nördlicher Schwarzwald-Baar-Kreis) fiel bereits in den Apparent-TimeAnalysen zur Diphthongierung von mhd. î, û und iu durch seine starke Variation auf. Siehe hierzu auch der spontansprachliche Befund zur Dehnung in Einsilblern.

Abb. 11.11: Zusammenfassender Apparent-Time-Vergleich zwischen SSA-Abfragedaten und allen spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung in offener Silbe.

430 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

431

11.2.3.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität Nachdem in der bisherigen Zusammenfassung zur DOS in erster Linie die Wandeltendenzen in geografischer Hinsicht betrachtet wurden, sollen im Folgenden die quantitativen Verhältnisse hervorgehoben werden. In Tabelle 11.5 sind die Werte zur Variation innerhalb der traditionellen Kürzegbiete für die DOS aufgetragen. Es zeigt sich dabei eine quantitativ deutliche Ausbreitung des Langvokals im traditionellen Kürzegebiet. Diese konzentriert sich jedoch, wie u. a. aus den Apparent-TimeVergleichen hervorging, besonders auf den Nordwesten des traditionellen Kürzegebiets im nördlichen Schwarzwald-Baar-Kreis. Hinsichtlich der lexikalischen Steuerung des Lautwandels lässt sich der Tabelle entnehmen, dass lexemübergreifend nur wenig Abweichung vom durchschnittlichen Gesamtanteil an Langvokalen auftritt. Auffallend sind lediglich die Lexeme Laden (Substantiv) und laden (Verb), die sich ausgesprochen konservativ verhalten. Demgegenüber steht mit dem höchsten Anteil an Langvokalen das Substantiv Leben. Deutlicher als die lexikalische Steuerung des Lautwandels zeigt sich der Gesamteinfluss morphologischer Komplexität auf die Wandeltendenz. So weisen Simplizia einen weit geringeren Anteil an Langvokalen auf als morphologisch komplexe Wortformen. Diese Tendenz ist in allen Lexemen gleichgerichtet. Besonders für die Lexeme Boden und Leben konnte gezeigt werden, dass der hohe Anteil an Langvokalen in komplexen Wortformen auf jüngere Entlehnungen aus dem Standard zurückzuführen ist.

11.3 EINSILBLERDEHNUNG Wie bereits erwähnt, ist die Vokaldehnung in einsilbigen Wörtern im Untersuchungsgebiet dialektgeografisch sehr ausdifferenziert. Sie ist in erster Linie vom phonologischen Kontext abhängig, insbesondere vom Folgekonsonanten des Stammvokals sowie vom Stammvokal selbst. Doch auch wenn diese beiden Variablen konstant gehalten werden, zeigen sich noch immer deutliche Unterschiede zwischen den Lexemen. Um etwas Ordnung in die areal komplexen Ausformungen der Vokaldehnung zu bringen, werden in der folgenden Darstellung die Lexeme in der Reihenfolge steigender Größe ihrer Dehnungsgebiete bearbeitet. Daraus resultiert die Gruppenordnung in Tabelle 11.6 für die zu untersuchenden Daten. Der Fokus der Analysen konzentriert sich dabei auf die Kontexte der Gruppe B, da hierfür das Datenmaterial besonders ergiebig ist.

11.3.1 Datenkorpus In Tabelle 11.7 sind die verfügbaren Wenker-Daten zur ESD mit ihren Abfragekontexten aufgeführt. Wie aus den Analysen der einzelnen Lexeme noch hervorgehen wird, sind mit Ausnahme des Lexems Salz die Dehnungsgebiete bei W ENKER nicht durch Isoglossen abgetrennt, sondern treten lediglich in Form von Beleg-Clustern in Erscheinung. Weit umfangreicher als das Korpus der Wenker-Karten sind hingegen

432

Vokaldehnung

Anteil Langvokale im Kürze-Gebiet

Ofen/Öfen geblieben Boden geschrieben Laden (Substantiv) laden (Verb) Leben (Substantiv) leben (Verb) lesen (Verb) Räder (Verb) GESAMT

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

28

82

13,4 %

13,4 %

-

(11)

(11)

32,1 %

32,1 %

(18)

(18)

37,5 %

33,1 %

50,0 %

(69)

(45)

(24)

20,9 %

20,9 %

-

(18)

(18)

4,2 %

4,2 %

(1)

(1)

5,0 %

5,0 %

(1)

(1)

41,4 %

33,3 %

47,1 %

(12)

(4)

(8)

27,3 %

27,3 %

-

(3)

(3)

33,3 %

-

-

24,2 %

13,0 %

50,0 %

(8)

(3)

(5)

27,0 %

23,4 %

46,0 %

(146)

(106)

(40)

31 56 42 13 13 14 10 9

56 184 86 24 20 29 11 15

-

-

(5)

11 74

33 540

Tab. 11.5: Angaben zum quantitativen Vorkommen der standardsprachlichen Vokallänge innerhalb des traditionellen Kürze-Gebietes für die DOS. Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Es sind nur Zahlenwerte aufgeführt, wenn die jeweilige Grundmenge mindestens zehn Tokens beträgt.

433

11.3 Einsilblerdehnung

Gruppe

Phonologischer Kontext

Beispiel

A

Vokal + [-S] Vokal + [-St] Vokal + [-pf] Vokal + [x] Vokal [a] + [l] Vokal [a] + [lt] Vokal [a] + [lts] Vokal [a] + [(r)ts]

Fisch Mist Kopf Dach Stall bald Salz schwarz

B

C

Dehnungsareale im Untersuchungsgebiet Nordosten (+ Südosten)

v. a. Süden

Süden und Mitte

Tab. 11.6: Phonologische Kontexte in der Stammsilbe und ihre Zuordnung zu bestimmten Dehnungsarealen innerhalb des Untersuchungsgebietes. Gruppe A

Lexem Tisch

Wenker-Karte II-5, 449

Wenker-Fragesatz Habt Ihr (...) Seife auf meinem Tisch gefunden?

B

bald alt kalt Salz schwarz

II-1, 35 II-1, 44 II-1, 58 II-1, 102 II-1, 90

..., daß die Milch bald an zu kochen fängt.

C

Der gute alte Mann ist mit dem Pferde... (Er ist) in das kalte Wasser gefallen. Er ißt die Eier immer ohne Salz und Pfeffer.

..., die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt.

Tab. 11.7: Korpus der Wenker-Karten für die Vokaldehnung in Einsilblern. die SSA-Abfragedaten, die in Tabelle 11.8 dargestellt sind. Das Korpus der spontansprachlichen Daten umfasst insgesamt 4046 Tokens in 305 Ortspunkten. Wie sich die Tokens auf die untersuchten Lexeme verteilen, ist Tabelle 11.9 zu entnehmen. Für die Lexeme der Gruppe A, deren Dehnungsareale recht kleinräumig sind und sich in erster Linie auf den Nordosten des Untersuchungsgebietes beschränken, wurden nur die in diesen Gebieten auftretenden Tokens untersucht. Es darf davon ausgegangen werden, dass sich die Dehnung aus diesen kleinräumigen Kontexten heraus nicht ausbreitet, weswegen die geografische Einschränkung der Tokenanalyse gerechtfertigt ist. Wie weiter oben bereits erwähnt, sind die Wörter in Gruppe B besonders ergiebig. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Dehnung (mit Ausnahme des Lexems schwarz) hier am weitesten verbreitet und die Datenlage über alle Datenkorpora hinweg (W ENKER, SSA-Abfrage, Spontansprache) sehr gut ist. Die vorhandenen Daten konnten durch Kartierungen F ISCHERS (1895) ergänzt werden. Es handelt sich hierbei um die Karten 1 (Lexeme Fisch, Kopf, Dach, Loch) und 18 (Lexem bald). Für das Lexem alt fand sich eine weitere Isoglosse in der Kartierung von H AAG (1929/30).

434

Gruppe A

B

C

Vokaldehnung

Lexem Fisch Tisch Mist Most Kopf Dach Loch bald Wald alt kalt Stall Salz schwarz

SSA-Karte/Frage II/150.04 II/150.04 II/150.03 II/150.03 II/6.03 II/150.04 II/150.04 370/007 162/001 290/002 416/007 226/005 454/001 II/153.01

SSA-Fragesatz Einzelwortabfrage Die Milch steht auf dem Tisch. Der feste Dünger ist der... Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage Einzelwortabfrage: Nasenloch Beginnt ihr bald? durch den Wald Der alte Pfarrer ist gestorben. Gegenteil von heiß Raum, worin das Vieh ist (Gib mir) ein bisschen Salz. schwarze Haare

Tab. 11.8: Korpus der SSA-Abfragedaten für die Vokaldehnung in Einsilblern.

Gruppe A

B

C

Lexem Fisch Tisch Most Mist Kopf Dach Loch bald Wald alt kalt Stall Salz schwarz GESAMT

Anzahl der Tokens 10 37 192 68 51 13 42 293 634 1659 153 460 166 268 4046

Anzahl Ortspunkte 7 20 23 15 24 12 24 146 145 278 89 141 73 106 305

Tab. 11.9: Spontansprachliches Korpus für die Vokaldehnung in Einsilblern.

11.3 Einsilblerdehnung

435

11.3.2 Wandelprozesse in der Lexemgruppe A 11.3.2.1 Lexeme Fisch, Tisch, Most, Mist und Kopf Die meisten Lexeme der Gruppe A weisen nur in einem kleinen Areal im äußersten Nordosten des Untersuchungsgebietes Vokaldehnung auf. Ihr Verbreitungsgebiet bildet den westlichsten Fortsatz eines größeren, sich östlich anschließenden Dehnungsgebietes, das den Großteil von Bayerisch-Schwaben, mit Ausnahme des Südwestens, einnimmt (vgl. SBS, Bd. 3, Karte 4). Die Verhältnisse im Untersuchungsgebiet stellt Abbildung 11.12 dar, in der ein kombinierter Kartenvergleich zwischen den Daten W ENKERS, F ISCHERS (1895) und den SSA-Abfragedaten für die Lexeme Fisch, Tisch, Most, Mist und Kopf zu sehen ist. Wenker-Belege für Vokaldehnung liegen nur für das Lexem Tisch vor; diese kumulieren sich im Nordosten des Untersuchungsgebietes. Der Vergleich mit der entsprechenden SSA-Isoglosse lässt nicht auf eine eindeutige Wandeltendenz schließen und auch die Gegenüberstellung der SSA-Abfragedaten mit den Isoglossen F ISCHERS ergibt für die Lexeme Fisch, Mist und Kopf kein klares Wandelbild. Hinsichtlich der räumlichen Verteilung fällt aber auf, dass das Zentrum der Dehnungsgebiete der äußerste Nordosten bildet, wobei die Isoglosse des Lexems Most das größte Gebiet einnimmt. Die traditionellen Dehnungsgebiete der übrigen Lexeme befinden sich im äußersten Nordosten und sind durch ein recht uneinheitlich verlaufendes Isoglossenbündel zum restlichen Untersuchungsgebiet abgegrenzt. Die uneinheitlichen Verläufe und die dadurch implizierte lexemübergreifende Variation könnte auf einen Wandelprozess hindeuten, allerdings ist nicht ableitbar, in welche Richtung dieser wirkt. Da allerdings der Langvokal in den betreffenden Lexemen sowohl gegenüber dem übrigen Untersuchungsgebiet als auch bezüglich des Standards eine stark markierte Form darstellt, darf davon ausgegangen werden, dass die Vokaldehnung sich tendenziell zurückbildet. Aufgrund der großflächigeren Ausbreitung der Vokaldehnung im Lexem Most wurden die spontansprachlichen Daten im Rahmen des Apparent-Time-Vergleichs für dieses Lexem getrennt von den übrigen Lexemen Fisch, Tisch, Mist und Kopf kartiert. Abbildung 11.13 zeigt zunächst den kombinierten Vergleich der letztgenannten Lexeme. Aus der Kartierung ist ersichtlich, dass die Vokaldehnung selbst im nördöstlichsten Teil des Untersuchungsgebietes stark mit dem Kurzvokal variiert und durch diesen zunehmend ersetzt wird. Im Kartenvergleich deuteten die sehr uneinheitlich verlaufenden Isoglossen bereits auf einen solchen Wandelprozess hin (Abbildung 11.12). Generell zeigen die spontansprachlichen Daten einen raschen Abfall des Anteils von Langvokalen, je weiter man sich von der nordöstlichen Ecke des Untersuchungsgebietes nach Südwesten entfernt. Die Kartierung der spontansprachlichen Daten für das traditionell großräumiger verbreitete Lexem Most ist in Abbildung 11.14 zu sehen. Im Gegensatz zu den übrigen Lexemen verhält sich die Vokallänge im Lexem Most innerhalb ihres traditionellen Verbreitungsgebietes mit 83,3 % (150) sehr stabil. Warum die Vokallänge gerade in diesem Wort sowohl in den Abfragedaten als auch in den spontansprachlichen Daten dominiert, kann auf der Grundlage semantischer Kriterien begründet

Abb. 11.12: Vergleich der Abfragedaten W ENKERS, F ISCHERS (1895) und des SSA für die Vokaldehnung in den Lexemen Fisch, Tisch, Most, Mist und Kopf.

436 Vokaldehnung

Abb. 11.13: Vergleich der Abfragedaten des SSA mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung in den Lexemen Fisch, Tisch, Mist und Kopf.

11.3 Einsilblerdehnung

437

Abb. 11.14: Vergleich der Abfragedaten des SSA mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem Most.

438 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

439

werden. So nimmt das Lexem Most gegenüber den Lexemen Fisch, Tisch, Mist und Kopf eine Sonderstellung ein, die darauf zurückzuführen ist, dass es sich bei der Bezeichnung Most um eine dialektspezifische Bezeichnung für vergorenen Apfelsaft handelt, die in der Standardsprache nicht verwendet wird. Alle weiteren Lexeme stellen hingegen keine autochthon dialektalen Ausdrücke dar, sondern sind auch im Standard zur Bezeichnung des entsprechenden Denotats gebräuchlich. Daraus folgt, dass der standardsprachliche Einfluss bei der phonologischen Umsetzung dieser Lexeme gegeben ist, während dies für das Lexem Most nicht zutrifft. Eine Beeinflussung der phonologischen Realisierung des Lexems Most ist also nur durch diejenigen Nachbar- bzw. Regionaldialekte denkbar, in denen Most ebenfalls Bestandteil des Lexikons ist. Ein weiterer Faktor, der den Anteil an Kurzvokalen beeinflusst, ist die morphologische Komplexität: In Simplizia werden nur 12,1 % (12) der Tokens mit Kurzvokal realisiert, während es bei komplexen Wortformen 22,2 % (18) sind. Innerhalb der komplexen Wortformen zeigen sich im Mittel keine nennenswerten Unterschiede zwischen Komposita (z. B. Mostflasche, Mostzuber, Neumost) und Derivationen (z. B. Moster, Mosterei, d’ Mostete (‘das Gemostete’). Neben den reinen Simplizia (Most) und den komplexen Wortformen ist die verbale Konversion mosten im Korpus besonders frequent. Diese weist, ähnlich wie die Simplizia, einen KurzvokalAnteil von 12,0 % (3) auf; sie scheint also eine dialektale Bildung zu sein, die bereits seit langem im Dialekt existiert. Der höhere Anteil an Kurzvokalen in komplexen Wortformen lässt hingegen darauf schließen, dass es sich bei diesen Bildungen, zumindest teilweise, um Übernahmen aus den Nachbar- bzw. Regionaldialekten handelt.

11.3.2.2 Lexeme Dach und Loch Die beiden Lexeme Dach und Loch zeichnen sich durch Vokaldehnung sowohl im nordöstlichen als auch im südöstlichen Untersuchungsgebiet aus, weswegen sie als eigene Gruppe behandelt werden. Aufgrund der relativ überschaubaren Datenlage kann sowohl der Real-Time- als auch der Apparent-Time-Vergleich für beide Lexeme auf einer Karte abgetragen werden (Abbildung 11.15). Für den Real-TimeVergleich steht keine Wenker-Karte zur Verfügung. Stattdessen konnten aber aus den Kartierungen F ISCHERS (1895, Karte 1) zwei Isoglossen zu den beiden untersuchten Lexemen entnommen werden. Der Vergleich der Isoglossen F ISCHERS mit denen des SSA weist für das Lexem Dach auf einen tendenziellen Rückgang der Dehnungsgebiete hin, besonders nördlich des Bodensees. Hier sind innerhalb des noch verbliebenen Dehnungsgebietes gemäß SSA vier Ortspunkte mit Vokalkürze belegt, die einen weiteren Rückgang der Vokaldehnung anzeigen. Der Rückgang ist für das Lexem Loch noch deutlicher: Im nordöstlichen Gebiet ist gemäß SSAAbfragedaten kein geschlossenes, durch eine Isoglosse abtrennbares Dehnungsgebiet mehr erkennbar. Es sind an einigen Ortspunkten allerdings noch LangvokalBelege vertreten. Im südöstlichen Dehnungsgebiet sind nur noch drei einzelne Ortspunkte mit Langvokal-Realisierung nachgewiesen, allerdings handelt es sich bei al-

Abb. 11.15: Vergleich der Abfragedaten des SSA mit denen F ISCHERS (1895) sowie mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung in den Lexemen Dach und Loch.

440 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

441

len Belegen um suggerierte Formen.168 Insgesamt weist der Kartenvergleich also auf den zunehmenden Abbau der Vokaldehnung im nordöstlichen Dehnungsgebiet hin, bzw. auf den völligen Abbau im südöstlichen Teil. Ein Grund für den stärkeren Abbau des südöstlichen Gebietes könnte dessen Kleinräumigkeit bzw. Isoliertheit sein, denn im Osten schließt sich gemäß den jüngeren Erhebungsdaten des SBS kein Dehnungsgebiet an, während dies weiter nördlich zutrifft (vgl. SBS, Bd. 3, Karte 4). Die spontansprachlichen Daten bestätigen die Wandeltendenz im Südosten. Keines der Tokens innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes wird lang realisiert. Zwar verteilen sich die Tokens nur auf zwei Ortspunkte, doch darf aufgrund des recht gleichgerichteten Befundes davon ausgegangen werden, dass sich die Vokaldehnung in diesem Gebiet aufgelöst hat. Weiterhin hat sich das nördliche Bodenseegebiet bei der Analyse anderer phonologischer Phänomene wiederholt als sehr anfällig für äußere Einflüsse gezeigt. Die Instabilität dieser Region fördert demnach wohl auch den Abbau der Vokaldehnung. Etwas stabiler als das nördliche Bodenseegebiet erweist sich in den spontansprachlichen Daten das nordöstliche Dehnungsareal. Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass es sich bei den insgesamt an fünf Ortspunkten auftretenden Langvokalen um jeweils nur ein Token handelt, von denen drei innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes, und zwei außerhalb liegen. Es lässt sich für das nordöstliche Gebiet also konstatieren, dass Vokaldehnung in den Lexemen Dach und Loch immer noch existiert, dieser Befund jedoch aufgrund der dünnen spontansprachlichen Datenlage vorsichtig interpretiert werden muss. Zusammenfassend lässt sich für die Vokaldehnung in den Lexemen der Gruppe A festhalten, dass sich diese tendenziell zurückbildet. Noch vorhandene Langvokale sind in den spontansprachlichen Daten im äußersten Nordosten des Untersuchungsgebietes sporadisch vertreten. Eine Ausnahme bildet das Lexem Most, das großflächiger verbreitet und in geringerem Maße von Vokalkürzung betroffen ist.

11.3.3 Wandelprozesse in der Lexemgruppe B In diesem Abschnitt werden die Lexeme mit Vokaldehnung im südlichen Untersuchungsgebiet analysiert. Gemeinsam ist allen die Abfolge von Nukleus [a] + Folgekonsonant [l].169 Als Koda-schließendes Element tritt bei den meisten Lexemen der alveolare Plosiv [t] hinzu, im Falle des Lexems Salz die Affrikata [ts]. Im Folgenden werden die Lexeme in der Reihenfolge der Größe ihrer Dehnungsgebiete behandelt und die Ergebnisse im Anschluss in Form eines zusammenfassenden Real- und

168 Bei der Übersetzung des Kompositums Nasenloch wurde von den Gewährspersonen Langvokal durchweg abgelehnt. Erst bei der Übersetzung des Simplex Loch konnte dieser elizitiert werden (SSA-Kartenkommentar II/150.04). 169 Vereinzelt unterliegt der Stammvokal der Verdumpfung zu [O]. Ein Zusammenhang zwischen Verdumpfung und Vokaldehnung konnte jedoch nicht festgestellt werden, weswegen die verdumpfte Realisierung [O] und die Realisierung [a] zusammengefasst werden.

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Vokaldehnung

Apparent-Time-Vergleichs dargestellt.170 Es sei erwähnt, dass die Dehnungsgebiete gemäß W ENKER (und teilweise gemäß F ISCHER 1895) in den meisten Fällen nicht als geschlossene Gebiete, sondern in Form von Beleg-Clustern auftreten. In den SSA-Abfragedaten erscheint das Dehnungsgebiet hingegen recht geschlossen und ist durch eine Isoglosse vom umgebenden Kürzegebiet abtrennbar. Die Unterschiede zwischen W ENKER und F ISCHER einerseits und SSA andererseits dürften allerdings auf die jeweils verschiedenen Erhebungsmethoden zurückzuführen sein: W ENKER und F ISCHER wandten indirekte Erhebungsverfahren an, während das Datenkorpus des SSA von linguistisch ausgebildeten Exploratoren vor Ort erhoben wurde.

11.3.3.1 Lexem bald Das Adverb bald weist gemäß der Abfragedaten W ENKERS, F ISCHERS (1895) und des SSA ein kleinräumiges Dehnungsgebiet auf, wie in Abbildung 11.16 zu sehen ist. Es nimmt den Raum nordwestlich des Bodensees ein und reicht bis auf Höhe von Villingen-Schwenningen. Eine Wandeltendenz ist aus dem Datenvergleich kaum abzuleiten: Die Dehnungscluster W ENKERS und F ISCHERS sind in etwa deckungsgleich mit der SSA-Isoglosse.171 Der SSA weist außerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes eine Reihe von Länge-Einzelbelegen auf, insbesondere im südlichen Teil des Untersuchungsgebietes. Möglicherweise geht dies auf eine Analogie mit den übrigen Lexemen der Gruppe B zurück, deren Dehnungsgebiete in der Regel deutlich größer sind. Der Blick in die spontansprachlichen Daten bestätigt diese Hypothese größtenteils (Abbildung 11.17). Besonders östlich und nordöstlich des traditionellen Dehnungsgebietes treten zahlreiche Langvokale auf. Allerdings sind auch weiter nördlich, außerhalb der Dehungsgebiete der Lexemgruppe B, Tokens mit Vokaldehnung verzeichnet. Auf das gesamte traditionelle Kürzegebiet gerechnet werden 22,1 % (58) der Belege mit Langvokal realisiert, wohingegen umgekehrt im traditionellen Dehnungsgebiet nur 13,3 % (4) der Tokens mit Kurzvokal auftreten. Die Ausbreitung von Vokallänge im Fall des Lexems bald erscheint in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich: Zum einen handelt es sich um eine standardferne Form, die in einem kleinen Gebiet nördlich von Schaffhausen vorkommt. Eine Ausbreitung ist aufgrund dieser Gegebenheiten nicht zu erwarten. Weiterhin breitet sich die Vokallänge besonders im schwäbischen Dialektgebiet aus, in einer Region also, die sich im Rahmen der Analysen dieser Arbeit tendenziell verschlossen gegenüber lautlichen Innovationen aus den westlich und südlich angrenzenden Dialekten zeigte.

170 Nach Südosten reichen die Dehnungsgebiete weiter bis in die nordöstliche Schweiz und das westliche Vorarlberg (vgl. SDS, Karte II 66 sowie VALTS, Bd. 1, Karte 6). 171 Die Einzelbelege F ISCHERS konzentrieren sich nur scheinbar im Norden des Dehnungsgebietes. Die geringe Dichte von Einzelbelegen im südlichen Teil geht darauf zurück, dass hier nur wenige Belegorte sind.

Abb. 11.16: Vergleich der Abfragedaten W ENKERS, F ISCHERS (1895) und des SSA für die Vokaldehnung im Lexem bald.

11.3 Einsilblerdehnung

443

Abb. 11.17: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem bald.

444 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

445

11.3.3.2 Lexem Wald Ein Real-Time-Vergleich ist für das Lexem Wald wegen des Fehlens von WenkerDaten nicht möglich. Der Apparent-Time-Vergleich ist in Abbildung 11.18 dargestellt. Die SSA-Isoglosse umfasst ein kleines Dehnungsgebiet nördlich des Kantons Schaffhausen. Darüber hinaus sind außerhalb dieses Gebietes gemäß SSAAbfragedaten zahlreiche Einzelbelege für Vokaldehnung zu finden, besonders östlich davon. Aufgrund dieses Befundes möchte man vermuten, dass sich in den spontansprachlichen Daten eine Ausbreitung der Vokaldehnung nach Osten bestätigt und diese zumindest teilweise auf Analogie mit weiteren Lexemen der Gruppe B zurückzuführen sein könnte. Der Blick in die Spontandaten zeigt tatsächlich Belege für Vokaldehnung im schwäbischen Teil des Untersuchungsgebietes, jedoch nicht in einem solchen Ausmaß wie für das Lexem bald. Eine Ausbreitungstendenz der Vokaldehnung ist in den spontansprachlichen Daten nordwestlich des traditionellen Dehnungsgebietes erkennbar. Auf das gesamte traditionelle Kürzegebiet gerechnet, werden 14,7 % (85) der Tokens mit Langvokal realisiert, im traditionellen Dehnungsgebiet sind hingegen 23,2 % (13) der Tokens kurz. Insgesamt kann also festgehalten werden, dass sich Vokallänge besonders nordwestlich des traditionellen Dehnungsgebietes auszubreiten scheint, während im übrigen Untersuchungsgebiet eine solche Tendenz kaum nachweisbar ist. Die prozentualen Angaben zeigen, dass die Vokallänge in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet ebenfalls von Vokalkürzung betroffen ist. Im Fall des Lexems Wald kann demnach weder von Abbau noch von Ausbreitung der Vokaldehnung ausgegangen werden.

11.3.3.3 Lexem alt Ein deutlich größeres Dehnungsgebiet als die bereits besprochenen Lexeme bald und Wald weist das Adjektiv alt auf (Abbildung 11.19). Es nimmt einen großen Teil des südlichen Untersuchungsgebietes ein und dehnt sich von Waldshut im Westen bis etwa nach Ravensburg im Osten aus. Nach Norden reicht das Gebiet bis auf Höhe von Villingen-Schwenningen und wird nach Süden durch die Schweiz bzw. den Bodensee abgegrenzt. Gemäß der Kartierung W ENKERS tauchen Belege für Vokallänge im gesamten Untersuchungsgebiet auf, sie konzentrieren sich aber besonders nördlich und westlich des Bodensees. Die etwas jüngere Isoglosse von H AAG (1929/30) umgrenzt das am weitesten nach Norden reichende Teilstück des Dehnungsgebietes bei Villingen-Schwenningen und stimmt mit dem Befund W ENKERS fast vollständig überein. Auch die SSA-Isoglosse weicht hiervon nicht ab. Die Abgrenzung des Dehnungsgebietes nach Norden scheint sich an dieser Stelle also kaum verändert zu haben. Vergleicht man die Abfragedaten W ENKERS mit denjenigen des SSA, so fallen besonders der westlichste und östlichste Teil des Dehnungsgebietes auf. In diesen Regionen ist die Konzentration der Wenker-Einzelbelege geringer, gemäß SSA können sie aber bereits zum geschlossenen Dehnungsgebiet gezählt werden,

Abb. 11.18: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem Wald.

446 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

447

was auf eine Ausbreitung von Vokallänge hindeutet. Auf eine solche Ausbreitung deuten weiterhin zahlreiche SSA-Belege für Vokallänge außerhalb des geschlossenen Dehnungsgebietes hin. Umgekehrt weisen die SSA-Abfragedaten im geschlossenen Dehnungs-Gebiet einzelne Vokalkürze-Belege auf, was der Hypothese einer tendenziellen Ausbreitung von Vokallänge wiederum widerspricht. Eine klare Aussage zur Richtung des Lautwandels ist demnach nur schwer zu treffen. Beim östlichen und westlichen Teil des Dehnungsgebietes (gemäß SSA-Abfragedaten) scheint es sich um Variationsgebiete zu handeln, die einen Übergangsbereich zwischen dem Dehnungszentrum (im südlichen Schwarzwald-Baar-Kreis) und den Kürzegebieten westlich und östlich davon bilden. Die weitere Entwicklung kann den spontansprachlichen Daten entnommen werden, die in Abbildung 11.20 dargestellt sind. Die Kartierung zeigt deutlich, dass von einer Ausbreitung der Vokaldehnung nicht die Rede sein kann. Zwar finden sich im gesamten Kürzegebiet vereinzelt Belege von Vokallänge (7,4 % [98]), doch belegen diese nicht einen systemhaften Lautwandel. Wahrscheinlich gehen die meisten Belege für Vokaldehnung im Kürzegebiet auf eine satzphonetisch bedingte, spontane Dehnung zurück, die beispielsweise durch den Zusammenfall von Satzakzent mit dem entsprechenden Einsilbler verursacht werden kann (vgl. hierzu G ABRIEL 1969, 23–24). Die Unwahrscheinlichkeit einer Ausbreitung der Vokaldehnung wird zudem durch die Quantitätsentwicklung innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes bestätigt. Hier werden 57,5 % (187) der Tokens mit Kurzvokal realisiert, was auf einen klaren Abbau der Vokaldehnung hinweist. Kurzvokale treten besonders im westlichen und östlichen Teil des Dehnungsgebietes auf. In den spontansprachlichen Daten bestätigt sich also die stärkere Variation bzw. der stärkere Abbau von Vokallänge im westlichen und östlichen Teil des traditionellen Dehnungsgebietes. Das Zentrum nördlich von Schaffhausen erscheint etwas stabiler, ist aber ebenfalls durch die fast durchgehende Variation zwischen Lang- und Kurzvokal geprägt. Es ist davon auszugehen, dass der Abbau von Vokallänge im Lexem alt sowohl auf den Einfluss der nördlich benachbarten Dialekte als auch auf den Einfluss der Standardsprache zurückzuführen ist. Der vertikale Einfluss lässt sich durch die Analyse morphologisch komplexer Wortformen veranschaulichen. Diese stellen innerhalb des Dehnungsgebietes zwar nur knapp 10 % der Tokens dar und haben somit einen nur geringen Effekt auf das Gesamtbild, die Unterschiede zwischen komplexen Wortformen und Simplizia sind aber recht deutlich. So beträgt der Anteil an Kurzvokalen bei Simplizia 56,1 % (166) während er bei komplexen Wortformen 69,0 % (20) erreicht.172 Der höhere Anteil an Kurzvokalen in komplexen Wortformen geht auf Entlehnung aus der Standardsprache zurück, wie die Beispiele Altennachmittag, Altentag, Altersrente oder Gleichaltrige verdeutlichen. Neben der Betrachtung von morphologischer Komplexität und ihrem Einfluss auf die Vokalquantität kann für das Adjektiv alt auch nach dem Gebrauch als Attribut (z. B. ein alter Mann) oder als Prädikativ (z. B. der Mann ist alt) unterschieden werden. Diese Betrachtung ist deswegen interessant, weil bei attributivem Gebrauch eine zweisilbige Wortform ([al-te]) entsteht, bei der die Stammsilbe auf den Lenis172 Im Korpus der morphologisch komplexen Wortformen treten sowohl Komposita als auch Derivationen auf.

Abb. 11.19: Vergleich der Abfragedaten W ENKERS, H AAGS (1929/30) und des SSA für die Vokaldehnung im Lexem alt.

448 Vokaldehnung

Abb. 11.20: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem alt.

11.3 Einsilblerdehnung

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450

Vokaldehnung

konsonanten [l] endet, während die Silbe bei prädikativem Gebrauch Mehrfachkonsonanz in der Koda aufweist ([alt]). Aus der Annahme, dass Dehnung bei Mehrfachkonsonanz ausbleibt, wie dies in den meisten Fällen für das Hochalemannische gilt (vgl. W INTELER 1876; S EILER 2010), kann abgeleitet werden, dass leichtere Silben eher zur Vokaldehnung neigen als schwere. Kontrastiert man nun die leichtere attributive Form des Lexems alt mit der schwereren prädikativen Form, wäre folglich Vokaldehnung bei attributiver Verwendung weniger markiert und sollte einen geringeren Anteil an Kurzvokalen ergeben. Die spontansprachlichen Daten bestätigen dies: In den prädikativ verwendeten Tokens beträgt der Anteil an Kurzvokalen 76,6 % (49), während er bei attributivem Gebrauch bei nur 46,4 % (78) liegt.173 Zusammenfassend lässt sich für die Analyse des Adjektivs alt festhalten, dass die Vokaldehnung abgebaut wird. Dies geschieht in erster Linie im westlichsten und östlichsten Teil des traditionellen Untersuchungsgebietes, während das zentrale Gebiet im südlichen Schwarzwald-Baar-Kreis etwas geringere Variation aufweist. Bei genauerer Betrachtung der spontansprachlichen Daten wurde deutlich, dass die Einbettung in morphologisch komplexe Wortformen tendenziell zur Realisierung von Vokalkürze führt, da die betreffenden Wortformen meist Übernahmen aus dem Standard darstellen. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die Silbenschwere eine Rolle hinsichtlich der phonologischen Realisierung spielt: Attributiv gebrauchte Wortformen (al-te) neigen weniger zum Abbau der Vokaldehnung als prädikativ gebrauchte (alt).

11.3.3.4 Lexem Stall Für das Substantiv Stall stehen keine Wenker-Daten zur Verfügung, weswegen sich die Analyse auf den Apparent-Time-Vergleich beschränken muss. Dieser ist in Abbildung 11.21 dargestellt. Das Dehnungsgebiet ist für das Substantiv Stall gemäß SSA-Abfragedaten etwas größer als für die bisher behandelten Lexeme. Die Abfragedaten des SSA weisen besonders im südlichsten und östlichsten Teil des Dehnungsgebietes Einzelbelege für Vokalkürze auf. Außerhalb der Dehnungsgebiete ist im nordöstlichsten Untersuchungsgebiet (nordöstlich von Ulm) ein Cluster von Vokallänge-Belegen erkennbar. Der Vergleich mit den spontansprachlichen Daten deutet unmittelbar nordwestlich des Dehnungsgebietes auf eine geografisch geringfügige Ausbreitung der Vokaldehnung hin. Im übrigen Kürzegebiet sind ebenfalls Langvokale vertreten, die jedoch zu sporadisch in Erscheinung treten, als dass man daraus auf eine Ausbreitung des Langvokals schließen kann. Im nordöstlichsten Untersuchungsgebiet wird die Existenz von Vokaldehnung durch die spontansprachlichen Daten nicht bestätigt. Der Anteil an Langvokalen im traditionellen Kürzegebiet liegt insgesamt bei 10,7 % (35), während umgekehrt der Anteil an Kurzvokalen im Dehnungsgebiet 37,9 % (50) beträgt. Es ist also davon auszugehen, 173 Die Berechnung erfolgte allein auf Grundlage der Unterscheidung „Attribut“ vs. „Prädikativ“. Allerdings können im Dialekt attributiv gebrauchte Wortformen im Gegensatz zum Standarddeutschen auch endungslos sein (z. B. e aalt Huus). Es ist anzunehmen, dass die Berücksichtigung dieser Tatsache den ohnehin schon sehr deutlichen Effekt noch weiter verstärken würde.

Abb. 11.21: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem Stall.

11.3 Einsilblerdehnung

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Vokaldehnung

dass tendenziell der Abbau von Vokaldehnung erfolgt und nicht etwa ihre Ausbreitung. Allerdings ist der Anteil an Kurzvokalen im traditionellen Dehnungsgebiet für das Lexem Stall unterdurchschnittlich, wenn man ihn mit dem Durchschnitt aller Lexeme der Gruppe B (47,8 %) vergleicht. Dies könnte, wie bereits erwähnt, mit der Silbenstruktur von Stall zusammenhängen, die keine Mehrfachkonsonanz in der Koda aufweist und somit die Vokaldehnung unterstützt. Die Vokaldehnung hat sich im Lexem Stall besonders nordwestlich des Kantons Schaffhausen erhalten, während nordöstlich davon fast ausschließlich Kurzvokale auftreten. Im äußersten Osten des traditionellen Dehnungsgebietes sind ebenfalls fast ausschließlich Kurzvokale vertreten. Der Rückgang der Vokaldehnung in diesem Gebiet wurde bereits durch einzelne Kürze-Belege des SSA angedeutet. Auch bei der Analyse der Daten zum Lexem Stall darf die morphologische Komplexität als potenzieller Einflussfaktor hinsichtlich der Vokalquantität nicht unberücksichtigt bleiben. Rund ein Viertel der Tokens innerhalb des Dehnungsgebiete besteht aus komplexen Wortformen, die einen Einfluss auf die phonologische Wandeltendenz haben könnten.174 Allerdings ist für das Lexem Stall der Anteil standardsprachlicher Kürze innerhalb von Simplizia mit 43,1 % (44) erheblich höher als in komplexen Wortformen mit 20,0 % (6). Dies ist ein Indikator dafür, dass es sich bei den komplexen Wortformen um keine jüngeren Entlehnungen aus dem Standard handelt, sondern um alte und fest im Dialekt verankerte Bildungen. Beispiele konkreter Wortformen, die durchgehend dialektal realisiert werden, sind Heustall (7x), Rossstall (3x) und Viehstall (4x). Realisierungen, die nur mit Kurzvokal auftreten, sind beispielsweise Schweinestall (1x) oder die Derivation Stallung (1x). Das Lexem Stall, das ohnehin fester Bestandteil des alltäglichen landwirtschaftlichen Vokabulars der Gewährspersonen ist, wurde hinsichtlich seiner traditionellen Realisierung offensichtlich in Komposita besser bewahrt als in Simplizia. Dies ist aber offenbar nur dann der Fall, wenn es sich beim entsprechenden Kompositum um ein schon früh in den Dialekt gelangtes Element handelt. Zusammenfassend lässt sich für das Lexem Stall festhalten, dass es hinsichtlich seiner Vokalquantität klare Kürzungstendenzen im traditionellen Dehnungsgebiet aufweist. Gleichzeitig scheint es aber zwei Faktoren zu geben, die diese Entwicklung entschleunigen. Dies ist zum einen die nur einfach besetzte Silbenkoda, die den Erhalt der Vokaldehnung erleichtert. Weiterhin ist das Lexem Stall ein fest im Dialektrepertoire verankerter Begriff, dessen Einbettung in spezifisch dialektale Bildungen die phonologische Stabilität zusätzlich zu stützen scheint.

11.3.3.5 Lexem Salz Für das Lexem Salz ist sowohl ein Apparent-Time- als auch ein Real-Time-Vergleich möglich. Wie in Abbildung 11.22 erkennbar ist, existiert gemäß W ENKER und SSAAbfragedaten neben dem südlichen Dehnungsgebiet noch ein zweites im Nordosten. Die Größe des südlichen Dehnungsgebietes ist bei W ENKER etwa gleich groß 174 Bei allen komplexen Wortformen handelt es sich mit einer Ausnahme (Stallung) ausschließlich um Komposita.

Abb. 11.22: Vergleich der Abfragedaten W ENKERS und des SSA für die Vokaldehnung im Lexem Salz.

11.3 Einsilblerdehnung

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Vokaldehnung

wie in den SSA-Abfragedaten. Innerhalb des SSA-Dehnungsgebietes ist die Dichte der Wenker-Einzelbelege für Vokallänge relativ hoch, mit Ausnahme des westlichsten und östlichsten Teils. Hier scheint sich also das geschlossene Dehnungsgebiet gemäß SSA-Abfragedaten etwas ausgedehnt zu haben. Gleichzeitig sind hier jedoch Einzelbelege für Vokalkürze vertreten. Nur im Gebiet nördlich des Kantons Schaffhausen sind keine Vokalkürze-Einzelbelege gemäß SSA vorzufinden. Außerhalb des Dehnungsgebietes sind Einzelbelege für Vokallänge sowohl nach W EN KER als auch SSA-Abfragedaten verbreitet. Eine deutliche Konzentration ist aber nur in den Daten W ENKERS südlich von Ulm erkennbar. Offenbar handelt es sich hierbei um Reste des Dehnungsgebietes, dessen geschlossenes Gebiet nun etwas weiter nördlich zu liegen kommt. Die Wenker- und SSA-Isoglossen dieses nordöstlichen Dehnungsgebietes verlaufen in etwa deckungsgleich, allerdings befinden sich innerhalb des Dehnungsgebietes etwa ein Dutzend Wenker-Belege für Vokalkürze. Gemäß der Daten W ENKERS deutet sich also ein weiterer Rückgang des geschlossenen Dehnungsgebietes an, ein Wandelprozess, der sich in den SSA-Abfragedaten allerdings nicht bestätigt. Laut SSA erscheint das nordöstliche Dehnungsgebiet völlig homogen. Die weitere Entwicklung der ESD im Lexem Salz zeigt Abbildung 11.23, in der die spontansprachlichen Daten gegen die SSA-Abfragedaten aufgetragen sind. Quantitativ beträgt der Anteil an Kurzvokalen innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes 26,1 % (6), umgekehrt liegt der Anteil an Langvokalen innerhalb des traditionellen Kürzegebietes bei 39,9 % (57). Es liegt hier also ein Fall vor, bei dem sich die Vokaldehnung tendenziell im gesamten traditionellen Kürzegebiet ausbreitet. Dieser Befund ist nur schwer zu interpretieren. Die Abfragedaten W ENKERS und des SSA weisen zwar auf eine Ausbreitungstendenz von Vokallänge außerhalb des geschlossenen Dehnungsgebietes hin, allerdings wäre durch den Einfluss der Standardsprache tendenziell der Abbau von Vokallänge zu erwarten gewesen und nicht deren weitere Ausbreitung. Auch eine phonologische Interpretation der Ausbreitungstendenz von Vokallänge gelingt nicht. Die Annahme, dass Mehrfachkonsonanz in der Silbenkoda Vokaldehnung eher verhindern sollte, widerspricht dem vorliegenden Befund völlig. Da das Lexem Salz von allen untersuchten Lexemen der Gruppe B auf Segmentebene die meisten Elemente in der Koda vereint, wäre eher der umgekehrte Effekt zu erwarten. Das Kartenbild zeigt also eine Variablenverteilung, die weder kontaktlinguistisch noch phonologisch zu deuten ist.

11.3.3.6 Lexem kalt Das größte Verbreitungsgebiet von Vokaldehnung weist in der Lexemgruppe B das Adjektiv kalt auf. Abbildung 11.24 ist zu entnehmen, dass Vokaldehnung nicht nur im südlichen Hauptgebiet vorkommt, sondern gemäß W ENKER und SSA-Abfragedaten auch im Nordwesten und Nordosten. Der Vergleich von Wenker- und SSAAbfragedaten lässt im südlichen Dehnungsgebiet auf eine Ausbreitung der Vokaldehnung nach Westen schließen, während die Dehnungsgebiete nördlich und nordwestlich des Bodensees eine vergleichbare Ausdehnung aufweisen. Der südwest-

Abb. 11.23: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem Salz.

11.3 Einsilblerdehnung

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Abb. 11.24: Vergleich der Abfragedaten W ENKERS und des SSA für die Vokaldehnung im Lexem kalt.

456 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

457

lichste Teil verzeichnet nach W ENKER fast keine Einzelbelege für Vokaldehnung, während er gemäß SSA-Abfragedaten zum Dehnungsgebiet gehört, allerdings mit zahlreichen Belegen für Vokalkürze. Sollte es sich hier also tatsächlich um eine Ausbreitung von Vokaldehnung handeln, ist diese noch nicht vollständig abgeschlossen. Das nordwestliche Dehnungsgebiet um Offenburg ist in den WenkerDaten noch nicht erkennbar und tritt erst in den SSA-Abfragedaten hervor (was u. a. auf die exaktere Erhebungsmethodik des SSA zurückzuführen ist). Doch auch im SSA finden sich noch einige Einzelbelege für Vokalkürze innerhalb des nordwestlichen Dehnungsgebietes. Das nordöstliche Dehnungsgebiet erscheint im Kartenvergleich unverändert. Innerhalb des traditionellen Kürzegebietes sind wenige Einzelbelege für Vokaldehnung zu erkennen, weswegen auf Grundlage des RealTime-Vergleichs nicht davon auszugehen ist, dass sich diese im Kürzegebiet zunehmend ausbreitet. Die spontansprachlichen Daten deuten allerdings eine Ausbreitung von Vokallänge an, wie Abbildung 11.25 zeigt. Das Kartenbild weist eine relativ großflächige Verbreitung von Vokaldehnung im traditionellen Kürzegebiet auf, vor allem in dessen östlichem Teil. Bezogen auf das gesamte Kürzegebiet beträgt der Anteil an Langvokalen 26,6 % (25). Innerhalb aller traditionellen Dehnungsgebiete beträgt umgekehrt der Anteil an Kurzvokalen 65,6 % (38), wobei sich diese besonders im westlichen Teil des südlichen Hauptgebietes häufen. Die im Kartenvergleich angedeutete Ausbreitung von Vokaldehnung in diesem Gebiet bestätigt sich in den spontansprachlichen Daten also nicht. In den beiden kleinräumigen Dehnungsgebieten gemäß SSA-Abfragedaten ist ebenfalls – soweit interpretierbar – kein nennenswerter Erhalt (Nordosten) oder gar eine Ausbreitung (Nordwesten) von Vokaldehnung zu beobachten. Die Vokaldehnung ist vielmehr über annähernd das gesamte Untersuchungsgebiet verteilt, wobei eine erhöhte Konzentration an Langvokal-Tokens im Zentrum des südlichen Dehnungsgebietes sowie im östlichen Teil des Kürzegebietes zu finden ist.

11.3.4 Lexem schwarz (Lexemgruppe C) In diesem Abschnitt sollen für die Lexemgruppe C exemplarisch die Lautverhältnisse im Adjektiv schwarz vorgestellt werden. In diesem wird gemäß „DUDENAussprachewörterbuch“ (M ANGOLD 2000, 742) der Stammvokal bei Erhalt von nachfolgendem [r] kurz artikuliert.175 Allerdings ist im gesprochenen Standard die Vokalisierung von nachfolgendem [r] die häufiger zu beobachtende Realisierungsform ([Sva:ts]). Offenbar existieren im gesprochenen Standard also mindestens diese beiden Varianten nebeneinander. In den Daten der untersuchten Basisdialekte Südwestdeutschlands sind die Lautverhältnisse noch ausdifferenzierter. Es tauchen einerseits Realisierungen mit Lang- und Kurzvokal auf, als auch solche, bei denen der Folgekonsonant [r] erhalten ist bzw. vokalisiert wurde. In der Analyse muss dem175 Weshalb das DUDEN-Aussprachewörterbuch alveolar artikuliertes [r] als standardsprachliche Realisierungsform vorgibt, erscheint schleierhaft. Als tatsächlich gebräuchliche Form darf wohl uvulares [ö] angenommen werden.

Abb. 11.25: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem kalt.

458 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

459

nach zwischen vier Realisierungsvarianten unterschieden werden: [Sva:rts], [Sva:ts], [Svarts] und [Svats]. In Abbildung 11.26 sind zunächst die Verhältnisse gemäß W ENKER dargestellt. Dieser nennt [Svarts] als Grundform im Untersuchungsgebiet. Wie das Kartenbild zeigt, ist die Menge an hiervon abweichenden Einzelbelegen aber ausgesprochen hoch. So gilt die Realisierung [Svarts] lediglich im westlichen Untersuchungsgebiet, während im mittleren und östlichen Teil die gedehnten Formen [Sva:rts] und [Sva:ts] im Großteil der Belegorte notiert wurden. Neben den gedehnten Realisierungen tritt hier auch die Kurzform [Svats] auf. Die drei letztgenannten Formen weisen eine interessante geografische Verteilung auf. So umgeben die gedehnten Formen ohne [r]-Vokalisierung die beiden anderen Realisierungen mit [r]-Realisierung. Folgende lautgeschichtliche Entstehung des vorliegenden Befundes wäre denkbar: Da die westliche Realisierung [Svarts] der mittelhochdeutschen Form swarz am ähnlichsten ist, liegt es nahe, diese als ursprünglichste der vier Formen anzunehmen. Im östlichen Untersuchungsgebiet entstanden daraus gedehnte Formen. Im Zentrum dieses Gebietes wurde der Folgekonsonant [r] vokalisiert, sodass die Form [Sva:ts] entstand, die weiter zu [Svats] reduziert wurde. Daneben blieb die Realisierung [Svarts] bestehen, die gemäß W ENKER auch im schwäbischen Dialektgebiet die Grundform darstellt. Inwieweit sich die beschriebene Lautentwicklung bestätigt, soll anhand von Abbildung 11.27 erläutert werden, die die Datenlage gemäß der SSA-Abfragedaten zeigt. Darin ist zunächst erkennbar, dass das Gebiet der Vokaldehnung nicht mehr nur in Form von Einzelbelegen belegt ist, sondern von den Kürzegbieten durch Isoglossen abtrennbar ist. Allerdings fällt auf, dass innerhalb der jeweiligen Gebiete deutliche Variation auftritt. So ist innerhalb des Vokallänge-Gebietes vor allem westlich und nördlich des Bodensees sowie im Umkreis von Villingen-Schwenningen und Rottweil Vokalkürze belegt. Umgekehrt finden sich im Süden des westlichen Dehnungsgebietes Belege für Vokallänge. Im Vergleich zur Kartierung W EN KERS hat sich hier die gedehnte Form [Sva:rts] offensichtlich stark ausgebreitet. Hinsichtlich der Vokalisierung von [r] lässt sich im Vergleich von Wenker- und SSA-Abfragedaten feststellen, dass sich die Gebiete mit [r]-Erhalt im Westen und [r]-Vokalisierung im Osten in keine eindeutige Richtung zu bewegen scheinen. Zwar erscheint das Gebiet nördlich des Bodensees gemäß SSA-Abfragedaten als [r]Tilgungs-Gebiet, gleichzeitig sind hier aber zahlreiche Belege für [r]-Erhalt verzeichnet. Umgekehrt gehört das Gebiet um Villingen-Schwenningen gemäß SSAAbfragedaten nun zum Gebiet für [r]-Erhalt. Doch finden sich hier gleichzeitig ca. ein Dutzend Belege für [r]-Vokalisierung. Hinsichtlich der Realisierungsform [Svats] zeigt sich in den SSA-Abfragedaten ebenfalls eine recht großflächige Verteilung einzelner Belege im Untersuchungsgebiet. Allerdings fällt in den SSA-Abfragedaten im Unterschied zu W ENKER die Existenz eines geschlossenen Gebietes für die Realisierung Svats] im äußersten Nordosten auf. Hierbei ist die Beobachtung interessant, dass die Verbreitung dieser Form gemäß W ENKER etwa deckungsgleich mit der Langform [Sva:ts] ist (wahrscheinlich weil sie aus dieser hervorgegangen ist), während sie sich gemäß SSA-Abfragedaten abgekoppelt hat und zu einer Variable mit „eigenem“ Raumbezug geworden ist.

Abb. 11.26: Realisierung von Vokaldehnung im Lexem schwarz gemäß W ENKER.

460 Vokaldehnung

Abb. 11.27: Realisierung von Vokaldehnung im Lexem schwarz gemäß SSA.

11.3 Einsilblerdehnung

461

462

Vokaldehnung

Wie sich der Befund aus dem Kartenvergleich (Ausdehnung von Vokaldehnung im Südwesten bzw. kaum veränderte Ausdehnung der [r]-Vokalisierung) in den spontansprachlichen Daten fortsetzt, zeigt Abbildung 11.28. Ein Raumbild, wie es in den Kartierungen W ENKERS und des SSA hervortritt, lässt sich in den spontansprachlichen Daten nur noch rudimentär erkennen. Im nahezu gesamten Untersuchungsgebiet herrscht starke Variation zwischen Vokalkürze und Vokallänge (jeweils mit [r]-Tilgung). Vokalkürze wird (wie zu erwarten) im westlichsten Teil des Untersuchungsgebiet in einem schmalen nord-südlich verlaufenden Streifen relativ durchgehend realisiert. Der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebietes weist zwischen Lörrach und Waldshut eine Reihe von Ortspunkten mit Vokaldehnung auf, was die Wandeltendenz aus dem Kartenvergleich (Abbildung 11.26, 11.27) bestätigt. Allgemein kann aber kaum noch von geschlossenen Realisierungsgebieten bestimmter Variablen gesprochen werden, da die gedehnten Formen großflächig abgebaut werden: Nur noch 36,9 % [99] der Tokens im Untersuchungsgebiet werden lang realisiert. Die Realisierungsform [Svats] bildet dabei in nahezu allen Fällen die Ersatzform. Sie ist also nicht mehr nur auf den Osten (gemäß W ENKER) bzw. auf den äußersten Nordosten (gemäß SSA-Abfragedaten) beschränkt, sondern findet sich im gesamten Untersuchungsgebiet. Eine nur noch periphere Rolle spielen die Formen mit [r]-Erhalt, die durch graue Quadrate symbolisiert sind und sich auf die links daneben stehenden Kreissymbole beziehen. Sie beschränken sich auf 14 Tokens, die sich auf sieben Ortspunkte verteilen und meist zusammen mit Kurzvokal auftreten. In den spontansprachlichen Daten zeigt sich also das nahezu völlige Verschwinden der Formen mit [r]-Erhalt sowie ein deutlicher Rückgang der Vokaldehnung mit [r]-Vokalisierung. Die Realisierungsform [Svats] breitet sich hingegen im gesamten Untersuchungsgebiet massiv aus. Es stellt sich die Frage, wie dieser Lautwandel zustande kommt. Eine allein auf Dialektkontakt zurückgreifende Argumentation erscheint nicht plausibel. Ein direkter Einfluss des Standards kann ebenfalls nicht als Erklärung dienen, da dieser die Realisierung [Sva:ts] bzw. [Svarts] erwarten ließe. Eine mögliche Erklärung könnte die Herausbildung einer überregionalen Form [Svats] sein, deren weit verbreitete Existenz im regionalen Standard Baden-Württembergs jüngst S PIEKERMANN (2008) nachgewiesen hat. So gehört seinen Untersuchungen zufolge in allen elf von ihm analysierten Städten die einmorige Realisierung von Vokal + r (= [Svats]) zu einem der am häufigsten gebrauchten regionalsprachlichen Merkmale.176 Die Gebrauchshäufigkeit ist dabei in den städtischen Zentren des westlichen Baden-Württemberg geringer als in den schwäbischen Städten. Dieses Ergebnis verhält sich spiegelbildlich zu den Verhältnissen in den vorliegenden Spontandaten: Diese zeigen im Westen eine höhere Dichte an [Svats]Belegen als im Osten. Allerdings ist im Westen der Kurzvokal ohnehin traditionell vertreten, was die Übernahme der ebenfalls kurz artikulierten Form [Svats] natürlich erleichtert. Zusammenfassend kann für die Vokaldehnung im Lexem schwarz festgehalten werden, dass sich die Lautverhältnisse in den Abfragedaten W ENKERS und des SSA einerseits und der spontansprachlichen Daten andererseits deutlich unterscheiden. 176 Die mittlere Gebrauchshäufigkeit variiert zwischen 12,45 % in Karlsruhe und 43,12 % in Tübingen.

Abb. 11.28: Vergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung im Lexem schwarz.

11.3 Einsilblerdehnung

463

464

Vokaldehnung

Besonders die fast durchgehende Vokalisierung von [r] sowie die großflächige Ausbreitung von Vokalkürze sind zentrale Ergebnisse des Apparent-Time-Vergleichs. Die Kombination beider Prozesse mündet in der Realisierung [Svats], die sich nicht nur im Dialektrepertoire zur vorherrschenden Form entwickelt, sondern sich im gesamten Diasystem des Untersuchungsgebietes zu etablieren scheint und somit Teil eines südwestdeutschen Regionaldialekts wird.

11.3.5 Gesamtanalysen Dieser Abschnitt enthält zusammenfassende Analysen zur Vokaldehnung in Einsilblern. Diese bestehen zunächst aus einem zusammenfassenden Apparent-TimeVergleich zu den Lexemen der Gruppe B.177 178 Darauf folgt eine Darstellung der spontansprachlichen Daten in Form von Interpolationen zur Gebrauchshäufigkeit von Vokallänge bzw. -kürze in den verschiedenen Lexemgruppen. Eine abschließende Übersicht zur Variation in den traditionellen Dehnungsgebieten der Lexemgruppe B soll dazu dienen, Aussagen zur lexikalischen Steuerung des Lautwandels sowie zum Faktor der morphologischen Komplexität zu machen.

11.3.5.1 Apparent-Time-Vergleich zur Lexemgruppe B Die in Abschnitt 11.3.4 vorgestellten Apparent-Time-Vergleiche zu den einzelnen Lexemen der Gruppe B sind in Abbildung 11.29 in aggregierter Form dargestellt. Aus den Isoglossenverläufen der SSA-Abfragedaten gehen starke lexikalische Unterschiede hinsichtlich der Größe der Dehnungsgebiete hervor. Gerade die westliche Begrenzung des südlichen Dehnungsgebietes weist starke Variation der Isoglossenverläufe auf, während die Abgrenzung nach Norden und Osten etwas einheitlicher erscheint. Die beiden Lexeme bald und Wald besitzen die kleinräumigsten Dehnungsgebiete, die die kleinste Schnittmenge mit den Dehnungsgebieten aller anderen Lexeme der Gruppe B bilden. Die Dehnungsareale der Lexeme alt und Stall sind deutlich großflächiger und nehmen annähernd das gesamte südliche Untersuchungsgebiet ein. Die Lexeme kalt und Salz verfügen über die großräumigsten Dehnungsgebiete. Diese bestehen nicht nur aus den südlichen Kerngebieten, sondern aus zwei zusätzlichen Gebieten im Nordwesten um Offenburg (kalt) und aus einem nordöstlichen Gebiet bei Ulm (Salz und kalt). Die Dehnungsisoglossen gemäß SSA-Abfragedaten sind also um ein Zentrum nördlich des Kantons Schaffhausen herum gestaffelt, was eine höhere Stabilität der Vokaldehnung in diesem Gebiet erwarten lässt. Weiterhin deutet die starke Variation der Isoglossenverläufe 177 Für die Lexemgruppe B wird kein zusammenfassender Real-Time-Isoglossenvergleich durchgeführt, da sich in den Wenker-Karten nur für das Lexem Salz Isoglossen finden. 178 Auf einen zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleich für die Lexeme der Gruppe A wird verzichtet, da die betreffenden Lexemanalysen bereits in Form aggregierter Vergleiche durchgeführt wurden (vgl. Abschnitte 11.3.2.1 und 11.3.2.2). Diese vermitteln einen ausreichenden Eindruck der lexemübergreifenden Entwicklungstendenzen.

11.3 Einsilblerdehnung

465

im westlichen Teil des südlichen Dehnungsgebietes auf ebenfalls starke Variation in den spontansprachlichen Daten bzw. einen besonders deutlichen Rückgang der Vokaldehnung in diesem Teilgebiet hin. Der Abbau der Vokaldehnung in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet wird durch die spontansprachlichen Daten bestätigt: Der durchschnittliche Anteil an Vokalkürze beträgt hier 47,8 % (298). Besonders im nördlichen Schwarzwald-BaarKreis weisen die spontansprachlichen Daten auf den Rückgang der Vokaldehnung hin, wie ja bereits durch die starke Variation der Isoglossenverläufe im westlichen Teil des südlichen Dehnungsgebietes zu erwarten war.179 Weiterhin ist in den spontansprachlichen Daten die Variation im gesamten östlichen Teil des traditionellen Dehnungsgebietes stark ausgeprägt. Nur in einem recht kleinen Gebiet um den Kanton Schaffhausen herum ist die Vokaldehnung zu einem größeren Teil erhalten geblieben. Offensichtlich vollzieht sich die Vokalkürzung also von den peripheren Bereichen der traditionellen Dehnungsgebiete hin zu einem im südlichen Schwarzwald-Baar-Kreis liegenden Zentrum. Neben der Vokalkürzung geht aus dem Kartenbild umgekehrt eine Ausbreitung der Vokaldehnung im traditionellen Kürzegebiet hervor, auch wenn diese im Gesamtbild weit geringer ausgeprägt ist (der Anteil an Langvokalen innerhalb des traditionellen Kürzegebietes beträgt lediglich 13,1 % [358]). Wie aus Tabelle 11.10 hervorgeht, ist diese quantitative Verteilung aber nicht bei allen Lexemen vorzufinden. So ist für die Lexeme bald und Salz der Anteil an Langvokalen im Kürzegebiet sogar höher als der Anteil an Kurzvokalen im Dehnungsgebiet. Es kann also nicht von einer unidirektionalen, für alle Lexeme gleichermaßen geltenden Tendenz zur Vokalkürzung die Rede sein. Lexem bald Wald Salz Stall alt kalt GESAMT

Kurzvokale im Dehnungsgebiet 13,3 % (4) 23,2 % (13) 26,1 % (6) 37,9 % (50) 57,5 % (187) 65,6 % (38) 47,8 % (298)

Langvokale im Kürzegebiet 22,1 % (58) 14,7 % (85) 39,9 % (57) 10,7 % (35) 7,4 % (98) 26,6 % (25) 13,1 % (358)

Tab. 11.10: Anteile an Kurzvokalen innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes sowie Anteile an Langvokalen innerhalb des traditionellen Kürzegebietes für die Lexeme bald, Wald, alt, Stall, Salz und kalt. Die Lexeme sind nach ihrem Anteil an Kurzvokalen im Dehnungsgebiet angeordnet. Neben der lexemabhängigen Ausbreitung von Vokaldehnung im Kürzegebiet kann eine gewisse geografische Bindung dieses Prozesses festgestellt werden. Langvo179 Dieses Gebiet fiel bereits im Rahmen der Analysen zur Diphthongierung von î, û und iu durch seine besonders stark ausgeprägte Variation zwischen Monophthong und Diphthong auf (vgl. die Abschnitte 3.4.2 und 3.5.4.2).

Abb. 11.29: Apparent-Time-Gesamtvergleich der SSA-Abfragedaten mit den spontansprachlichen Daten für die Vokaldehnung in der Lexemgruppe B (Lexeme: bald, Wald, alt, Stall, Salz, kalt).

466 Vokaldehnung

11.3 Einsilblerdehnung

467

kale sind gemäß Abbildung 11.29 nicht gleichmäßig über das Kürzegebiet verteilt, sondern konzentrieren sich besonders im zentralschwäbischen Raum. Wie aus den Analysen zu den einzelnen Lexemen hervorging, zeigt sich dieser Befund in fast allen untersuchten Lexemen.

11.3.5.2 Interpolation In diesem Abschnitt werden Interpolationen zur Gebrauchshäufigkeit von Vokaldehnung im Untersuchungsgebiet vorgestellt. Aufgrund der sehr uneinheitlichen Verbreitung von Vokaldehnung wurden für die Lexemgruppen A, B und C separate Plots erstellt, die in Abbildung A.13 dargestellt sind. Zur Lexemgruppe A (Fisch, Tisch, Most, Mist, Kopf, Dach, Loch) lässt sich aus der Darstellung Folgendes erkennen: Die Gebrauchshäufigkeit von Vokaldehnung weist im äußersten Nordosten punktuell einen Höchstwert von ca. 50 Prozent auf, geht nach Südwesten aber schnell in eine Übergangszone von ca. 40 Prozent Gebrauchshäufigkeit über. Diese Übergangszone dürfte hauptsächlich auf das Lexem Most zurückgehen, dessen Dehnungsgebiet deutlich großflächiger ist als diejenigen der übrigen Lexeme. Nach Westen und Süden geht die Gebrauchshäufigkeit von Vokaldehnung schnell auf einen Wert von ca. 20 % zurück und sinkt im weiteren Verlauf auf annähernd 0 %.180 Die Interpolation zur Lexemgruppe B (bald, Wald, alt, kalt, Stall, Salz) zeigt eine Konzentration der Vokaldehnung im südlichen Schwarzwald-Baar-Kreis; hier ist eine Gebrauchshäufigkeit von etwa 60 % vorzufinden. Der Übergang zur Realisierung von Vokalkürze ist vor allem nach Westen hin recht abrupt, während nach Nordwesten und Nordosten breitere Übergangszonen mit einer Gebrauchshäufigkeit von ca. 20–30 % bestehen. Das Lexem schwarz als einziger Vertreter der Lexemgruppe C zeigt eine sehr großflächige Verteilung von Vokaldehnung mit einer maximalen Gebrauchshäufigkeit von ca. 60–70 % zwischen Villingen-Schwenningen und Konstanz. Diese geht nach Nordwesten und Nordosten allmählich auf ungefähr 20 % zurück und sinkt im Nordwesten des Untersuchungsgebiets auf den Wert Null. Insgesamt kann Folgendes festgehalten werden: Die Vokaldehnung weist hinsichtlich ihrer Gebrauchshäufigkeit breite Übergangszonen auf, die für die Lexemgruppe B und das Lexem schwarz von einem Zentrum nordwestlich des Bodensees ausgehen und nach Norden und Nordosten hin ausdiffundieren. Es existieren also keine scharfen Übergänge zwischen Gebieten mit Vokaldehnung und solchen mit Vokalkürze. Die Gebrauchshäufigkeit von Vokallänge beträgt in keinem Gebiet 100 %, sondern reicht bis maximal 60 %. Umgekehrt gibt es (zumindest für die Lexemgruppe B und das Lexem schwarz) nur wenige Gebiete, in denen Vokaldehnung gar nicht auftritt, so wie beispielsweise im nordwestlichen Untersuchungsgebiet.

180 Sicher ist dies allerdings nicht, da sich die Tokenanalyse auf die Belegorte des nordöstlichen Untersuchungsgebietes beschränkte und dementsprechend für das übrige Untersuchungsgebiet keine analysierten Daten vorliegen.

468

Vokaldehnung

11.3.5.3 Lexikalische Steuerung und morphologische Komplexität In diesem Abschnitt werden die quantitativen Verhältnisse der Variation vergleichend dargestellt, wobei die beiden Faktoren Lexik und morphologische Komplexität hinsichtlich ihres Einflusses auf die phonologische Variation besonders hervorgehoben werden. In Tabelle 11.11 sind die Zahlenwerte zur Variation innerhalb der traditionellen Dehnungsgebiete für die Lexemgruppe B zusammengestellt. Darin wird eine deutliche lexikalische Steuerung der Lautwandelprozesse erkennbar. Eine Interpretation der lexikalischen Unterschiede hinsichtlich der Wandeltendenz kann allerdings nur bei gleichzeitiger Betrachtung der räumlichen Ausdehnung der jeweiligen Dehnungsgebiete erfolgen (siehe Abbildung 11.29), da diese sich für die einzelnen Lexeme oftmals deutlich unterscheiden kann. Dies trifft vor allem für die beiden Lexem bald und Wald zu, deren Dehnungsgebiete gemäß SSA-Abfragedaten nur noch das kleine Kerngebiet nördlich des Kantons Schaffhausen einnehmen, während alle anderen Lexeme eine weit größere Ausdehnung aufweisen. So verwundert es nicht, dass der Anteil an Kurzvokalen in den beiden Lexemen bald und Wald besonders gering ist. Das Lexem Salz weist hingegen eine hohe Stabilität auf. Auch das Lexem Stall gehört zu den Lexemen mit relativ geringem Anteil an Kurzvokalen. Besonders deutliche Wandeltendenzen sind hingegen bei den Lexemen kalt und alt vorzufinden, deren Anteil an Kurzvokalen innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes etwa 60 % beträgt. Eine Interpretation der lexikalischen Unterschiede erscheint nur zwischen den beiden Lexemen bald und Wald einerseits und den übrigen Lexemen andererseits möglich. Der geringe Anteil an Kurzvokalen bei den Lexemen bald und Wald ist darauf zurückzuführen, dass sich ihre traditionellen Dehnungsgebiete mit dem Zentrum der Vokaldehnung decken, einem Gebiet also, in dem sich die Vokaldehnung ohnehin (auch in den übrigen Lexemen) relativ stabil verhält. Zu den lexikalischen Unterschieden zwischen den übrigen Lexemen können keine Aussagen gemacht werden. Weder eine phonologische noch eine semantische Interpretation vermögen die Befunde zu erklären. Neben der lexikalischen Steuerung des Lautwandels gibt die Tabelle außerdem Aufschluss über den Einfluss morphologischer Komplexität. Dieser muss hinsichtlich seiner Relevanz für die Gesamtprozesse, gerade aufgrund des zumeist recht geringen Anteils an komplexen Wortformen, als untergeordneter Faktor angesehen werden. Beim Vergleich von Simplizia und morphologisch komplexen Wortformen lässt sich ein etwas höherer Anteil an Kurzvokalen in Simplizia erkennen.

11.4 ZUSAMMENFASSUNG Die beiden in diesem Kapitel beschriebenen Quantitätsveränderungen, nämlich die Dehnung in offener Silbe und die Einsilblerdehnung weisen unterschiedliche Wandeltendenzen auf. Generell schreitet bei der DOS innerhalb des traditionellen Kürzegbietes die Dehnung weiter fort, während bei der ESD innerhalb ihrer traditionellen Dehnungsgebiete eine deutliche Tendenz zur Kürzung festzustellen ist. Diese ist

469

11.4 Zusammenfassung

Anteil Kurzvokale im Dehnungsgebiet

bald Wald alt

Anzahl Ortspunkte

Anzahl Tokens

ALLE WORTFORMEN

NUR SIMPLIZIA

NUR KOMPLEXE WORTFORMEN

14

30

13,3 %

12,0 %

-

(4)

(3)

23,2 %

20,8 %

(13)

(10)

57,5 %

56,8 %

65,5 %

(187)

(168)

(19)

37,9 %

43,1 %

20,0 %

(50)

(44)

(6)

26,1 %

29,4 %

-

(6)

(6)

65,5 %

63,6 %

(38)

(35)

47,8 %

48,8 %

40,5 %

(298)

(266)

(32)

12 65

56 325

Stall

44

132

Salz

16

23

kalt GESAMT

32 101

58 624

-

-

Tab. 11.11: Angaben zum quantitativen Vorkommen von Vokalkürze innerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes für die Dehnung in Einsilblern (Lexemgruppe B). Die Angaben beziehen sich auf die Grundmenge aller in der Spontansprache auftretenden Wortformen, auf die Teilmenge der Simplizia sowie auf die Teilmenge der komplexen Wortformen. Es sind nur Zahlenwerte aufgeführt, wenn die jeweilige Grundmenge mindestens zehn Tokens beträgt. in nahezu allen untersuchten Dehnungstypen der ESD zu erkennen. Diese Befunde deuten auf eine horizontale Advergenz zu den Realisierungsformen der benachbarten Dialekte bzw. auf eine vertikale Advergenz zur überdachenden Standardsprache und den Regionalvarietäten hin. Die Realisierungsformen dieser Kontaktvarietäten scheinen also ein wesentlicher Steuerungsfaktor für den Abbau der dialektalen Kürze (DOS) bzw. von Vokallänge (ESD) darzustellen. Für die DOS ist dieser Prozess unidirektional, während bei der ESD (Lexemgruppe B) auch eine umgekehrte Entwicklung hin zur Vokaldehnung außerhalb des traditionellen Dehnungsgebietes festzustellen ist, besonders im zentralschwäbischen Raum. Ein weiteres Ergebnis (das der Hypothese der Standardadvergenz widerspricht) ist die zunehmende Ausbreitung der Realisierungsform [Svats] für das Lexem schwarz. Es scheint sich hierbei um ein sich regional zu etablierendes Schibboleth zu handeln, das sich von der standardsprachlichen Aussprache absetzt. Der Anteil an vertikal und horizontal induziertem Wandel wurde besonders in den Interpolationen zur Gebrauchshäufigkeit deutlich. Es zeigte sich, dass der Abbau der dialektalen Formen von außen nach innen erfolgt, wobei das Zentrum mit der höchsten Gebrauchshäufigkeit sowohl für die DOS als auch für die ESD (Le-

470

Vokaldehnung

xemgruppe B) ein kleinräumiges Gebiet um den Kanton Schaffhausen herum ist. Allerdings erreicht selbst hier die Gebrauchshäufigkeit der traditionellen Formen nicht 100 % und ist für die ESD deutlich geringer als für die DOS. Der Faktor der lexikalischen Steuerung des Lautwandels ist für die DOS schwächer ausgeprägt als für die ESD. Mit einigen Ausnahmen verhalten sich die einzelnen Lexeme hinsichtlich ihrer Wandeltendenz ähnlich und weisen in den spontansprachlichen Daten auf einen Rückgang des Kürzegebietes im nordwestlichen Kürzegebiet (nördlicher Schwarzwald-Baar-Kreis) hin. Ganz anders verhält es sich mit der lexikalischen Steuerung bei der ESD. Selbst bei Lexemen mit identischem Reim (z. B. [a:lt] – [ba:lt]) können sehr große lexikalische Unterschiede auftreten. Besonders stark von Lautwandel betroffen ist im Hinblick auf die ESD (Lexemgruppe B) der nördliche Schwarzwald-Baar-Kreis. Die Einflüsse von morphologischer Komplexität auf den Lautwandel sind für die ESD sehr uneinheitlich, während diese bei der DOS gleichgerichtet sind. Morphologische Komplexität führt hier, vermutlich durch Entlehnung aus dem Standard, tendenziell zur Artikulation von Vokallänge. Abschließend kann also konstatiert werden, dass es sich bei den beiden Quantitätsveränderungen, die Gegenstand dieser Untersuchung waren, um zwei sich sehr unterschiedlich verhaltende Lautwandelprozesse handelt. Die Gesamtanalyse lässt darauf schließen, dass sich die DOS stabiler und regelmäßiger verhält als die ESD. Zwar hat sich gezeigt, dass der horizontale und vertikale Varietätenkontakt die entscheidende Einflussgröße auf den Lautwandel darstellt. Zumindest bei der ESD scheinen aber zusätzliche wortprosodische bzw. satzphonetische Faktoren hinzuzutreten, die unabhängig von der dialektalen Verankerung von Vokallänge agieren und auf die Quantität des Stammvokals einwirken.

12 STATISTISCHE AGGREGATANALYSEN 12.1 EINLEITUNG In den vorhergehenden Kapiteln wurde Variation und Wandel innerhalb der untersuchten etymologischen Phänomenbereiche beschrieben und diskutiert. Dies geschah auf der Grundlage von Vergleichen zwischen älteren und jüngeren Abfragedaten (Real-Time) sowie zwischen jüngeren Abfrage- und Spontandaten (ApparentTime). Wie sich im Laufe der Analysen herausgestellt hat, wiesen besonders die spontansprachlichen Daten Variation auf, während die wissensbasierten Abfragedaten (gerade diejenigen des SSA) weit homogener erschienen. Wenn sich deutliche Unterschiede zwischen Wenker- und SSA-Abfragedaten ergaben, so waren diese zumeist methodisch bedingt bzw. auf die unterschiedlichen Erhebungsverfahren der beiden Kartenwerke zurückzuführen. Durch die deutlich hervortretende Variation in den spontansprachlichen Daten wurden besonders in den Apparent-Time-Vergleichen klare Wandelprozesse erkennbar. Die Interpretation erfolgte einerseits qualitativ in Form einer Beurteilung der Kartenbilder hinsichtlich der geografischen Distribution der spontansprachlichen phonologischen Varianten im Vergleich mit den Abfragedaten. Andererseits eigneten sich die spontansprachlichen Daten hervorragend zur quantitativen Analyse der phonologischen Variation, die im Rahmen der vorhergehenden Einzelanalysen größtenteils in Form einfacher prozentualer Vergleiche durchgeführt wurde. Die Prozentvergleiche ermöglichten vor allem Aussagen dazu, wie weit der Lautwandel bzw. Dialektabbau für ein bestimmtes phonologisches Phänomen bereits fortgeschritten ist. Weiterhin erbrachten quantitative Analysen Ergebnisse zur lexikalischen Steuerung des Lautwandels und konnten weiterhin genutzt werden, um den Faktor der morphologischen Komplexität und seine Auswirkungen auf den fortschreitenden Lautwandel zu untersuchen. So aussagekräftig die Ergebnisse der bisher durchgeführten Analysen hinsichtlich der oben genannten Faktoren (morphologische Komplexität etc.) sind, geht aus ihnen nicht hervor, inwieweit diese statistisch signifikant sind. Außerdem wurde bisher nicht systematisch untersucht, wie sich die Ergebnisse zu den einzelnen untersuchten phonologischen Phänomenen im Vergleich zueinander darstellen und ob sich aus ihnen allgemeinere Prinzipien des Lautwandels ableiten lassen. Außerdem wurden einige Faktoren phonologischer Variation im Rahmen der Einzelanalysen noch nicht behandelt, wie beispielsweise die Einflussgrößen Geschlecht oder Rezenz (= Clusterbildung gleichlautender Phoneme). Die folgenden Analysen haben zum Ziel, die noch offenen Fragen mit Hilfe geeigneter statistischer Verfahren auf der Basis des spontansprachlichen Gesamtkorpus zu beantworten. Dazu wurden alle spontansprachlichen Daten in eine Gesamtmatrix überführt und mit Informationen zu den analysierten Prädiktoren für

472

Statistische Aggregatanalysen

phonologische Variation annotiert. Diese Faktoren und der erwartete Einfluss auf phonologischen Wandel sind in Abbildung 12.1 in einem Überblick dargestellt.

Abb. 12.1: Analysierte Faktoren phonologischer Variation im spontansprachlichen Gesamtkorpus. Zu den innersprachlichen Faktoren zählt die morphologische Komplexität, die bereits innerhalb der vorhergehenden Einzelanalysen berücksichtigt wurde. Die Ergebnisse der statistischen Tests zu diesem Faktor werden in Kapitel 12.4 diskutiert. In diesem Zusammenhang wird auch die Gebrauchsfrequenz morphologisch komplexer Types hinsichtlich ihres Einflusses auf phonologische Wandelprozesse untersucht. Weiterhin wird der bislang noch nicht analysierte Faktor der phonologischen Rezenz in den statistischen Tests berücksichtigt (vgl. Kapitel 12.8). Hierbei soll der Frage nachgegangen werden, ob eine statistisch nachweisbare Tendenz zur Wiederholung einer bestimmten Lautung vorliegt, wenn dieser die identische lautliche Realisierung in der Redesequenz vorhergeht. Zu den außerlinguistischen Faktoren gehören die Variablen Geografie und Geschlecht. Der Faktor Geografie hat sich bereits in den Einzelanalysen als besonders wichtig für die Interpretation von Lautwandelprozessen herausgestellt. Im Folgenden soll dieser Einflussfaktor auf der Grundlage des spontansprachlichen Gesamtkorpus quantitativ erfasst werden. Dies wird einerseits durch die Analyse des Faktors Isoglossenabstand vorgenommen (vgl. Kapitel 12.3 sowie AUER / BAUMANN / S CHWARZ 2011). Hierbei soll untersucht werden, wie stark der geografische Ab-

12.2 Methodik

473

stand des Erhebungsortes zur traditionellen Außengrenze (Isoglosse) das quantitative Ausmaß der Variation beeinflusst. Des Weiteren wird hinsichtlich der Faktors Geografie untersucht, wie konservative und innovative Areale im Untersuchungsgebiet mit Hilfe einer Gesamtinterpolation voneinander unterschieden werden können (vgl. Kapitel 12.5). Der Effekt der soziolinguistischen Variable Geschlecht auf die phonologische Variation wird in Kapitel 12.6 untersucht. Schließlich werden in Abschnitt 12.7 einige situative Faktoren der Erhebung betrachtet. Es geht dabei vor allem um die Frage, ob die Personenkonstellation (z. B. die Anzahl der anwesenden Gewährspersonen) während einer Erhebung maßgeblichen Einfluss auf die spontansprachliche Variation hat. In der folgenden Darstellung soll zunächst auf die Methodik der Untersuchung eingegangen werden, wobei vor allem die Aufbereitung und Operationalisierung der Daten sowie die statistischen Testverfahren erläutert werden. Im Anschluss daran erfolgt die Beschreibung der Ergebnisse zu den oben erwähnten Faktoren phonologischer Variation. Schließlich werden in Abschnitt 12.9 die betrachteten Faktoren innerhalb eines Baumdiagramms hierarchisch angeordnet und ihre relative Bedeutung für die linguistische Variation diskutiert.

12.2 METHODIK 12.2.1 Datenaufbereitung Zur quantitativen Untersuchung der Variation wurden die gesamten spontansprachlichen Daten, bestehend aus 42.970 Tokens, zunächst in eine Tabellenmatrix eingefügt. Außerdem wurden die Tokens einiger zusätzlicher Lexeme in die Matrix aufgenommen, die im Rahmen der vorherigen Einzelanalysen nicht berücksichtigt wurden. Diese Ergänzung sollte gewährleisten, dass pro phonologischem Phänomen eine Lexemanzahl von möglichst sechs zustande kommt. Dieser Schritt war für die Durchführung statistischer Analysen mit Hilfe des in Kapitel 12.2.2 näher beschriebenen Gemischten Logistischen Regressionsmodells notwendig, um die statistische Aussagekraft des Verfahrens zu erhöhen.181 Neben der Ergänzung von Lexemen wurden umgekehrt einige der in den Einzelanalysen behandelten Lexeme nicht in die Matrix aufgenommen, da nicht alle Variationsgebiete in die statistische Analyse einbezogen wurden (vgl. hierzu Abschnitt 12.2.1.2). Dementsprechend wurden diejenigen Lexeme, die zur Beschreibung der Variation in den betreffenden Gebieten Verwendung fanden, nicht berücksichtigt.182 Bei der Erstellung der Datenmatrix wurde folgendermaßen vorgegangen: In einem ersten Schritt wurden alle Beleglisten aus der Datenbank moca, inklusive aller 181 Folgende zusätzliche Lexeme wurden in die Datenmatrix aufgenommen: Haut (62 Tokens) und Maus (19 Tokens) für mhd. û, Buche (44 Tokens) für mhd. uo, Tür (105 Tokens) für mhd. ü. 182 Hiervon betroffen ist die gesamte Lexemgruppe A und C für die Einsilblerdehnung (vgl. Kapitel 11.3): Fisch, Tisch, Most, Mist, Kopf, Loch, schwarz (Summe: 681 Tokens). Außerdem wurden auch die 209 Tokens des Lexems Brot (ô-Diphthongierung, Kapitel 6.2) nicht in die Matrix aufgenommen, da sie keinerlei Variation aufweisen.

474

Statistische Aggregatanalysen

während der Tokenanalyse annotierten Informationen, in die Matrix importiert. Zudem waren zwei weitere methodische Arbeitsschritte notwendig, um die spontansprachlichen Daten für statistische Analysen nutzbar zu machen: die Kodierung der abhängigen Variable Variation sowie die Extraktion geeigneter Teilgebiete aus dem Gesamtkorpus der spontansprachlichen Daten. Diese beiden methodischen Arbeitsschritte sollen im Folgenden erklärt werden.

12.2.1.1 Operationalisierung der Variable Variation Die abhängige Variable Variation muss über alle phonologischen Phänomene hinweg einheitlich operationalisiert werden, sodass statistische Tests zu den verschiedenen unabhängigen Variablen durchgeführt werden können und diese miteinander vergleichbar sind. So kann eine Realisierung [aI] im östlichen Untersuchungsgebiet beispielweise die traditionelle dialektale Form darstellen, wenn sie den Reflex von mhd. î bildet (z. B. [tsaIt] ‘Zeit’). Ist sie aber der Reflex von mhd. ei, so stellt der Diphthong [aI] im gleichen Gebiet nicht die dialektale Form dar, sondern die des westlichen Untersuchungsgebietes (z. B. [haIs] ‘heiß’). Die Annotationen in moca müssen also durch eine Annotation ersetzt werden, die über alle Phänomene hinweg vergleichbar ist und die Durchführung statistischer Analysen erlaubt. Hierfür wurde die binäre Kodierung „dialektnah“ und „dialektfern“ gewählt. Die oben erwähnte Realisierung [tsaIt] würde als Reflex von mhd. î im östlichen Dialektgebiet entsprechend die Kodierung „dialektnah“ erhalten, im westlichen Teil hingegen „dialektfern“. Die Annotation der Kodierungen folgt dem Kriterium, ob eine Realisierung der traditionellen Lautung des jeweiligen Ortspunktes entspricht (→ „dialektnah“) oder ob sie von dieser, in welcher Form auch immer, abweicht (→ „dialektfern“).

12.2.1.2 Extraktion geeigneter Variationsgebiete Zu jedem der untersuchten Phänomene liegen die spontansprachlichen Daten flächendeckend, d. h. über das gesamte Untersuchungsgebiet verteilt vor. Wie aus den Detailanalysen der einzelnen phonologischen Phänomene hervorging, tritt Variation in den Spontandaten nicht im gesamten Untersuchungsgebiet gleichermaßen auf. Oftmals sind nur bestimmte Teilgebiete von Variation betroffen, insbesondere, wenn sich die hier vorherrschende traditionelle Realisierung deutlich von der standardnahen Lautung unterscheidet (z. B. die Realisierung [i(:)] für mhd. î, [O5] für mhd. ei, [aU] für mhd. ô, etc.). Umgekehrt sind solche Dialektgebiete kaum von Variation betroffen, deren Realisierungsformen sich nur wenig oder gar nicht von der standardnahen Realisierung unterscheiden (z. B. die Realisierung [eI]/[aI] für mhd. î, [OI]/[aI] für mhd. ei, [o:] für mhd. ô, etc.). Daraus folgt, dass nur jener Teil der spontansprachlichen Daten für quantitative Analysen geeignet ist, der aus variierenden Realisierungsgebieten stammt. Für jedes der untersuchten phonologischen Phänomene wurden dementsprechend diejenigen spontansprachlichen Daten extrahiert, die zu einem entsprechenden Variationsgebiet gehören. Abbildung 12.2

12.2 Methodik

475

verdeutlicht dieses Vorgehen exemplarisch anhand der Diphthongierung von mhd. ô im Lexem groß. Die Festlegung derjenigen Dialektgebiete, die für die statistische Analyse berücksichtigt wurden, folgte neben dem Aspekt ausreichender Variation weiterhin dem Kriterium der geografischen Ausdehnung. Sehr kleine Dialektgebiete sind wenig geeignet, da sie in der statistischen Analyse, bedingt durch die geringe Datenmenge, keine statistische Signifikanz erreichen können. Für jedes Lexem wird das entsprechende Variationsgebiet separat extrahiert. Die in Tabelle 12.1 aufgeführten Gebiete wurden für die statistische Analyse in das Datenkorpus aufgenommen. „Traditionelle“ Realisierungsgebiete können sowohl durch die Isoglossen W EN KERS als auch durch die des SSA eingegrenzt werden. Liegt zu einem bestimmten Lexem sowohl eine Wenker- als auch eine SSA-Isoglosse vor, wird das größte jemals als Diphthong-Gebiet nachgewiesene Gebiet als zu extrahierendes Dialektgebiet gewählt. Steht nur eine Isoglosse zur Verfügung (W ENKER oder SSA), wurde das zu extrahierende Realisierungsgebiet entsprechend der verfügbaren Isoglosse definiert.183 Die spontansprachlichen Daten konnten durch die beschriebenen methodischen Arbeitsschritte für die statistische Analyse brauchbar gemacht werden. Es stellt sich nun die Frage, mit welchen statistischen Modellen der Einfluss verschiedener unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable Variation erfasst werden kann. Hier spielt neben weiteren Analyseverfahren besonders das statistische Verfahren der Gemischten Logistischen Regression eine zentrale Rolle. Dieses Modell soll im Folgenden kurz erläutert werden, bevor wir zur eigentlichen Analyse der verschiedenen Faktoren phonologischer Variation übergehen.

12.2.2 Das Gemischte Logistische Regressionsmodell Eine logistische Regression ist ein Verfahren, mit dem man den Einfluss verschiedener unabhängiger Variablen auf die diskrete abhängige Variable bestimmt. Eine diskrete Variable unterscheidet sich von einer kontinuierlichen Variable dadurch, dass es zumindest zwei kategorial unterscheidbare Ausprägungen gibt (wie hier: „dialektnah“ und „dialektfern“). Da die hier analysierte Kriteriumsvariable Variation mit den zwei Ausprägungen „dialektfern“ und „dialektnah“ belegt wurde, gilt sie als diskret.184 Bei der Berechnung einer Regression sind entsprechend dieses Skalenniveaus einer Variable spezifische Regressionsmodelle zu wählen; bei diskreten Variablen ist das sog. logistische Regressionsmodell das geeignete Verfahren. Das gemischte logistische Regressionsmodell unterscheidet sich insofern von der logis183 Die Datenextraktion konnte Dank eines von Uli Held entwickelten Algorithmus teilweise automatisiert werden. Für seine technische Hilfe sei ihm herzlich gedankt! 184 Man beachte, dass Variablen auf hohem Skalenniveau sowohl diskret als auch kontinuierlich operationalisiert werden können. Den Faktor Variation hätte man beim Vorliegen einer hohen Breite an Realisierungsmöglichkeiten beispielsweise mit den Ausprägungen „sehr dialektfern“, „dialektfern“, „eher dialektfern“, „eher dialektnah“, „dialektnah“, „sehr dialektnah“ operationalisieren können.

Abb. 12.2: Datenextraktion zur Korpuserstellung für die statistische Analyse am Beispiel der Diphthongierung von mhd. ô.

476 Statistische Aggregatanalysen

477

12.2 Methodik

Phonologisches Phänomen Diphthongierung von mhd. ô Diphthongierung von mhd. ê Dehnung in offener Silbe Einsilblerdehnung Realisierung von mhd. ë

Realisierung von mhd. ei

Diphthongierung von mhd. î Diphthongierung von mhd. û Diphthongierung von mhd. iu Monophthongierung von mhd. uo Monophthongierung von mhd. ie Entrundung/Rundung von mhd. ü Entrundung/Rundung von mhd. oe Realisierung von mhd. ou

Realisierung von mhd. â (Auslaut)

Traditionelle Realisierungsgebiete - [aU] - [o:] - [aI] - [e:] - Kurzvokal - Langvokal - Kurzvokal - Langvokal - [E(:)]/[e(:)] - [a(:)] - [ea]/[Ea] - [aI] - [O5] - [OI] - [i(:)] - [eI]/[aI] - [u(:)] - [oU]/[aU] - [y(:)]/[i(:)] - [aI]/[eI]/[uI] - [u@] - [u:] - [i@] - [i:] - [y(:)] - [i(:)] - [ø(:)] - [e(:)] - [oU] - [aU] - [OI] - [a(:)U] - [O(:)] - [O(:)I]/[ø(:)I]

Extrahiertes Realisierungsgebiet - [aU] - [aI] - Kurzvokal - Langvokal - [ea]/[Ea]

- [O5] - [OI] - [i(:)] - [u(:)] - [y(:)]/[i(:)] - [u@] - [i@] - [i(:)] - [e(:)] - [oU]

- [O(:)]

Tab. 12.1: Extrahierte Realisierungsgebiete aller untersuchten phonologischen Phänomene. Die extrahierten spontansprachlichen Daten dienen als Grundlage für die statistischen Aggregatanalysen (Gesamtanzahl extrahierter Tokens = 21.220).

478

Statistische Aggregatanalysen

tischen Regression, als dass sowohl „fixed factors“ als auch „random factors“ in das Modell inkorporiert und diese hinsichtlich ihrer Wirkung auf die abhängige Variable (hier: Variation) gewichtet werden können. Bei den fixed factors handelt es sich um unabhängige Variablen, bei denen sich oftmals nur eine geringe Anzahl möglicher Ausprägungen ergibt. In den vorliegenden Analysen handelt es sich bei den fixed factors um intervallskalierte oder auch nominale/kategoriale Variablen. Intervallskalierte Variablen sind solche, die zählbar und durch Zahlenwerte beschreibbar sind (z. B. geografische Entfernung). Faktoren wie beispielsweise Geschlecht oder morphologische Komplexität sind nominalskalierte Variablen, die einer „entweder-oder“-Logik folgen (kategorial) und keine Abstufungen zwischen zwei Polen erlauben. Im Fall des Faktors Geschlecht sind die beiden Ausprägungen natürlicherweise vorgegeben, während bei der morphologischen Komplexität die Ausprägungen systematisch konstruiert wurden (wortbildungsmorphologisch kompex vs. nicht-komplex). Bei den random factors handelt es sich in den vorliegenden Analysen um nominalskalierte Variablen, die sich qualitativ voneinander unterscheiden und nicht zählbar bzw. hinsichtlich ihrer Ausprägung nicht durch Zahlenwerte quantitativ beschreibbar sind. Dies bedeutet, dass jeder Level qualitativ einmalig ist und nur auf diese eine Ausprägung zutrifft (z. B. Sprecher, Lexem). Man spricht also von random factors, weil sie eine zufällige Auswahl (Stichprobe) aus der Grundgesamtheit aller in Frage kommenden Bestandteile darstellen (z. B. die Auswahl einer Stichprobe von Lexemen und Gewährspersonen aus einer Grundgesamtheit, die um ein Vielfaches höher ist und von der jedes einzelne Item eine eigene Ausprägung darstellt). Im Gegensatz zu den random factors zeichnen sich die fixed factors dadurch aus, dass ihre Ausprägungen keine Zufallsauswahl darstellen, sondern fest eingegrenzt sind (z. B. Geschlecht → zwei mögliche Ausprägungen: männlich oder weiblich). Das Prinzip der gemischten logistischen Regression entspricht demjenigen einer multivariaten Regression, wobei bei der gemischten logistischen Regression die Möglichkeit zur Inkorporation von random factors besteht. Sie dienen dazu, nicht wiederholbare Effekte, also Varianz zwischen nominalskalierten Items, in einem Modell in Form eines Model-Fits an den sog. Intercept anzupassen. Es besteht durch den Model-Fit die Möglichkeit, die Güte eines Modells mithilfe der einbezogenen Variablentypen zu erhöhen. Ziel bei einem Model-Fit ist es, das Ausmaß nicht aufgeklärter Varianz durch Herausnehmen bzw. Einfügen einzelner random factors oder fixed factors möglichst stark zu reduzieren. Faktoren, die bei ihrer Integration in das Regressionsmodell die Vorhersage des Kriteriums bedeutsam verbessern (bzw. die Vorhersage bei ihrer Exklusion signifikant verschlechtern), sind als besonders starke Prädiktoren anzusehen und besitzen hohe inkrementelle Validität. Um insgesamt eine möglichst stabile Validität des Verfahrens zu gewährleisten, wurde eine Mindestanzahl von sechs Ausprägungen der einzelnen random factors festgelegt.

12.3 Isoglossenabstand

479

12.3 ISOGLOSSENABSTAND 12.3.1 Einleitung Eine zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist das Verhältnis von horizontalem und vertikalem Wandel (einleitend hierzu Kapitel 2.2).185 Aus den Einzelanalysen zu den fünfzehn verschiedenen phonologischen Phänomenen konnten bereits Antworten auf das Verhältnis der beiden Komponenten gegeben werden. Die Analysen bestanden dabei größtenteils aus qualitativen Kartenanalysen, aus denen, je nach betrachtetem phonologischem Phänomen, bereits unterschiedliche Verhältnisse von horizontalem und vertikalem Wandel abgeleitet werden konnten. Weiterhin konnten auf der Grundlage der interpolierten Gebrauchshäufigkeit von traditionellen und innovativen Formen Aussagen zum Vorliegen einer horizontalen Ausbreitung von Lautwandel bzw. zu seinem flächendeckenden, von traditionellen Isoglossen unabhängigen Auftreten gemacht werden. Im Allgemeinen lassen sich drei unterschiedliche Ausbreitungstypen ableiten, die in Abbildung 12.3 dargestellt sind.

Abb. 12.3: Ausbreitungstypen von Lautwandel im Untersuchungsgebiet. Der Ausbreitungstyp I entspricht einer zweidimensionalen Argumentation, wonach zwei standardferne Variablen (a) und (b) durch eine Isoglosse getrennt sind und sich Variable (a) in das ehemalige Verbreitungsgebiet von Variable (b) „vorschiebt“. Im Nachfeld der verschobenen Isoglosse kommt es zunächst zu Variation zwischen (a) und (b), bevor sich Variable (a) schließlich durchsetzt. Dieser Typ der Ausbreitung konnte in den vorangegangenen Einzelanalysen im Rahmen der Real-TimeVergleiche beobachtet werden, bei denen sich Verschiebungen von Isoglossenverläufen ergaben. Die auf der Grundlage der spontansprachlichen Daten erstellten Apparent-Time-Vergleiche ließen einen solchen Ausbreitungstyp jedoch für keines der untersuchten phonologischen Phänomene erkennen. Ein Ausbreitungstyp, 185 Das Kapitel zum Faktor Isoglossenabstand ist eine modifizierte bzw. erweiterte Version des Aufsatzes von AUER / BAUMANN / S CHWARZ 2011 und entspricht diesem in vielen Teilen.

480

Statistische Aggregatanalysen

der ausschließlich auf Dialektkonvergenz basiert, ist somit im spontansprachlichen Korpus nicht nachweisbar. Zur adäquaten Beschreibung von Lautwandel im Untersuchungsgebiet ist folglich der vertikale Einfluss von standardnahen Varietäten zu berücksichtigen. Dieser Einfluss kann dann beobachtet werden, wenn in den Kartenbildern Variation zwischen dialektalen Formen einerseits (a und b) und standardnahen Realisierungen andererseits (c) auftritt. Ein klarer Fall eines solchen Ausbreitungstyps trat im Rahmen der Analysen zur Diphthongierung von mhd. iu auf (siehe Kapitel 3.5). Über das gesamte Diphthong-Gebiet hinweg war das Auftreten der standardnahen Realisierung [OI] erkennbar – ein Phänomen, das auf standardsprachlichen Einfluss zurückzuführen ist, da es im Untersuchungsgebiet kein nennenswertes [OI]-Gebiet gibt, von dem dieser Lautwandel durch Dialektkontakt hätte ausgehen können. Allerdings war auch dieser Ausbreitungstyp II in den vorhergegangenen Einzelanalysen nicht sehr häufig zu beobachten. Kommen wir nun zu Ausbreitungstyp III, der in den vorliegenden Analysen am häufigsten zu beobachten war. Dieser ist dadurch charakterisiert, dass die Ausbreitung einer bestimmten Variable nicht ausschließlich auf horizontalen oder vertikalen Einfluss zurückgeht, sondern eine Kombination aus beiden darstellt. Diese Kombination kommt dadurch zustande, dass eine dialektale Variable (a) der Realisierung im Standard ähnlich oder mit dieser identisch ist. Bei der Ausbreitung von Variable (a) ist also nur schwer zu entscheiden, welche Kontaktvarietät letztlich wie stark für deren Ausbreitung innerhalb des traditionellen Verbreitungsgebietes von Variable (b) verantwortlich ist. Auf der Grundlage der erstellten Kartierungen kann daher eine Einschätzung hierzu nur von ungefährer Natur sein und bleibt, bis auf sehr eindeutige Fälle, spekulativ. Aus diesem Grund sollen in den folgenden Analysen anhand einer quantitativen Herangehensweise konkretere Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von horizontalem und vertikalem Wandel in den verschiedenen untersuchten etymologischen Klassen gefunden werden.

12.3.2 Methode Die unabhängige Variable Geografie spielt in der vorliegenden Untersuchung die zentrale Rolle, denn nur über die räumliche Verteilung von Variation ist eine Einschätzung der vertikalen bzw. horizontalen Komponente bei einem bestimmten Lautwandel möglich. Die Variable Geografie ist durch die 380 Ortspunkte des Erhebungsgebietes operationalisiert.186 Hinsichtlich des Verhältnisses von horizontalem und vertikalem Wandel kann Folgendes postuliert werden: 1. Die geografische Verteilung stellt einen horizontalen Wandel in einem Gebiet dar, wenn die dialektferne Realisierung in der Nähe der Isoglosse häufiger auftritt als in anderen Teilen dieses Gebietes. 186 Die Anzahl der Ausprägungen der Variable Geografie, d. h. die Anzahl der Ortspunkte, variiert je nach untersuchtem phonologischem Phänomen sehr stark, da nicht in allen Ortspunkten Daten für die analysierten Lexeme vorliegen.

12.3 Isoglossenabstand

481

2. Die geografische Verteilung stellt einen vertikalen Wandel in einem Gebiet dar, wenn dialektferne und dialektnahe Realisierungen gleichmäßig über dieses Gebiet verteilt sind. Wie aus den Einzelanalysen hervorging, ist die Variation, die im Raum erkennbar ist, sehr hoch, kann aber nur schwer interpretiert werden. Es kommt hinzu, dass in einem Ortspunkt oftmals nur ein oder zwei Tokens vorliegen, was dazu führt, dass die Variation in diesem Ortspunkt nicht repräsentativ ist. Aus diesen Gründen wurde ein Netz von Quadranten mit einer Seitenlänge von 15 km über das Untersuchungsgebiet gelegt und die in einem Quadranten enthaltenen Ortspunkte den jeweiligen Quadranten zugeteilt. Durch diese Vorgehensweise erhält man also neue räumliche Konstellationen, die zwar ein gröberes geografisches Raster bilden als die einzelnen Ortspunkte, aus oben genannten Gründen können mit diesen jedoch auf einer solideren Datenbasis statistische Tests gerechnet werden. Ist in jedem der über ein extrahiertes Variationsgebiet verteilten Quadranten die Variation zwischen dialektnahen und dialektfernen Realisierungen identisch, so würde gemäß Postulat 2. ein vertikaler Wandel vorliegen. Sind jedoch Unterschiede hinsichtlich des Verhältnisses von dialektnahen und dialektfernen Tokens zwischen den einzelnen Quadranten zu finden, so ist die Interpretation schwieriger. Es muss entschieden werden, ob Quadranten mit einem hohen Anteil an dialektfernen Realisierungen Cluster bilden und ob diese näher an der Isoglosse liegen als Quadranten mit einem geringeren Anteil dialektferner Realisierungen.

Abb. 12.4: Schematische Darstellung der Operationalisierung des Faktors Isoglossenabstand als euklidische Distanz zur Isoglosse.

482

Statistische Aggregatanalysen

Unter dem Faktor Isoglossenabstand wird in der vorliegenden Untersuchung die kürzeste (euklidische) Distanz von einem Ortspunkt zur Isoglosse verstanden, die das in die Analysen einbezogene Variationsgebiet von dem nicht extrahierten Gebiet trennt (vgl. Abbildung 12.4). Als Distanz eines Quadranten von der Isoglosse wird das arithmetische Mittel der Entfernungen aller in diesem Quadranten auftretenden Tokens definiert. Gemäß Postulat 1. ist bei einem Vorliegen von horizontalem Wandel zu erwarten, dass der Faktor Distanz mit dem Anteil dialektaler Realisierungen korreliert. Hierbei soll auch der Frage nachgegangen werden, ob eine solche Korrelation vornehmlich linear oder nicht-linear ausgeprägt ist. In der folgenden Ergebnisdarstellung wird anhand von statistischen Berechnungen gezeigt, inwieweit der Lautwandel in den untersuchten phonologischen Phänomen horizontaler oder vertikaler Natur ist. Dies wird zunächst auf der Grundlage einiger „einfacher“ statistischer Analysen geschehen und soll in der Folge durch ihre Integration in ein gemischtes logistisches Regressionsmodell vertieft werden.

12.3.3 Ergebnisse Wie einleitend zu diesem Abschnitt bereits erwähnt, konnte auf der Grundlage der Kartenanalysen bereits das Verhältnis von horizontalem zu vertikalem Wandel auf der Basis einer visuellen Beurteilung der Kartenbilder ermittelt werden. Eine neuerliche Beschreibung soll deswegen an dieser Stelle nicht erfolgen. Dennoch wird als Ausgangspunkt eine kurze Zusammenstellung der Beurteilungen aus den einzelnen Kapiteln vorweggeschickt. Diese ist in Tabelle 12.2 aufgeführt und zeigt die Einteilungen, die auf der Grundlage der zusammenfassenden Apparent-Time-Vergleiche sowie der Interpolationen vorgenommen worden sind. Die Kategorisierung erfolgt nach den oben beschriebenen Ausbreitungstypen I-III.187 Aus der Zuordnung der Wandeltypen zu den phonologischen Phänomenen ist ersichtlich, dass Wandeltyp I bei keinem der analysierten Phänomene als vorrangiger Wandelprozess beobachtet werden konnte, d. h. es kam nicht zu Isoglossenverschiebungen zwischen zwei standardfern realisierenden Dialektgebieten mit Lautwandel im Nachfeld der verschobenen Isoglosse. Die Typen II bzw. III waren hingegen zu beobachten, wobei der Wandeltyp II als eine offenbar rein vertikal wirkende Wandeltendenz weniger häufig auftritt als Wandeltyp III, die Kombination aus vertikalem und horizontalem Wandel. Im Falle der drei Phänomene mhd. ei [O5], ie, ë und ou konnte auf der Grundlage der kartografischen Darstellungen nicht klar entschieden werden, ob Wandeltyp II oder III vorliegt. Grundsätzlich muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die aus den Kartenbildern gewonnenen Aussagen hinsichtlich der vorliegenden Lautwandeltypen nur grobe Kategorisierungen darstellen. Die Beurteilung ist nicht zuletzt deswegen schwierig, weil einige Variationsgebiete relativ kleinräumig sind und bei gleichzeitig geringer Tokenfrequenz eine Beurteilung des Vorliegens einer horizontalen oder vertikalen Wandeltendenz spekulativ bleiben muss. Nur in einigen Fällen war eine Beurteilung mit größerer 187 Die Beurteilungen in Tabelle 12.2 stellen eine grobe Verallgemeinerung dar. Für genauere Beschreibungen sei auf die jeweiligen Analysekapitel verwiesen.

483

12.3 Isoglossenabstand

Phonologisches Phänomen Entrundung/Rundung von mhd. oe Entrundung/Rundung von mhd. ü Monophthongierung von mhd. uo Realisierung von mhd. ei [OI] Realisierung von mhd. ei [O5] Monophthongierung von mhd. ie Realisierung von mhd. ë Realisierung von mhd. ou Realisierung von mhd. â (Auslaut) Diphthongierung von mhd. ô Diphthongierung von mhd. ê Dehnung in offener Silbe Einsilblerdehnung Diphthongierung von mhd. î Diphthongierung von mhd. û Diphthongierung von mhd. iu

Ausbreitungstyp II II II II II / III II / III II / III II / III III III III III III III III III

Tab. 12.2: Visuelle Beurteilung der Ausbreitungstypen von Lautwandel auf der Grundlage von kartografisch dargestellten Apparent-Time-Vergleichen und Interpolationen. Sicherheit möglich, z. B. bei der nhd. Diphthongierung von mhd. î, û und iu, wo Cluster von dialektfernen Realisierungen tendenziell in Isoglossennähe auftreten. Um ein klareres Bild zu erhalten, wird im Folgenden versucht mit quantitativen Methoden die Ergebnisse aus der qualitativen Beurteilung zu validieren.

12.3.3.1 Einige „einfache“ Analysen Ein direkter Parameter, mit dem der Zusammenhang von Variation und Isoglossenabstand ermittelt werden kann, ist die Distanz der Ortspunkte zur Isoglosse. Die innovativen (dialektfernen) Tokens sollten demnach in geringerer Entfernung von der Isoglosse auftauchen als die konservativen (dialektnahen). Eine einfache Möglichkeit diesen Zusammenhang zu messen ist die Gegenüberstellung aller innovativen und aller konservativen Tokens mit ihrer jeweils durchschnittlichen Entfernung von der Isoglosse. Diese Gegenüberstellung wurde für alle untersuchten Phänomene vorgenommen und ist in Abbildung 12.5 exemplarisch für mhd. î und ü dargestellt.188 Die Ergebnisse der Berechnungen vermitteln bereits einen ersten Eindruck des relativen Anteils der horizontalen bzw. vertikalen Komponente des Lautwandels bei 188 Die geplotteten Durchschnittsabstände für alle untersuchten phonologischen Phänomene sind in Anhang A.1.1 aufgeführt.

484

Statistische Aggregatanalysen

Abb. 12.5: Durchschnittlicher Abstand der dialektnahen und dialektfernen Realisierung von der Isoglosse (in Kilometern) für die beiden phonologischen Phänomene mhd. î und ü. den untersuchen Phänomenen. Für die Diphthongierung von mhd. î, aber auch für mhd. û, iu und ê, scheint der Abstand zur Isoglosse eine größere Rolle zu spielen als für die übrigen phonologischen Phänomene. Kaum bzw. kein Zusammenhang ist gemäß den Berechnungen für die Realisierungen von mhd. ü, oe und â (Auslaut) sowie mhd. ou und ë erkennbar: Horiz.

î, û, iu, ê > DOS, ESD, ei [O5], ei [OI], uo, ie, ô > ü, oe, â, ou, ë

Vert.

Der Befund der qualitativen Analyse der Kartenbilder (vgl. Tabelle 12.2) ist mit den Ergebnissen der quantitativen Herangehensweise nur teilweise deckungsgleich. Besonders bei der Realisierung von mhd. â im Auslaut und der Diphthongierung von mhd. ô scheint die horizontale Komponente des Lautwandels nicht in dem Maße vorhanden zu sein, wie dies im Rahmen der qualitativen Kartenanalyse vermutet wurde. Es muss hier allerdings darauf hingewiesen werden, dass die vorliegende quantitative Berechnung die Heterogenität der Verteilung der Tokens im Raum nicht berücksichtigt und somit das geografische Bild verzerrt. So liegen in einigen Ortspunkten nur ein oder zwei Tokens vor, während es in anderen um ein Vielfaches mehr sein können. Ortspunkte mit einer sehr hohen Anzahl an Tokens beeinflussen den durchschnittlichen Abstand von der Isoglosse dementsprechend stärker als solche mit wenigen Tokens. Es besteht also gewissermaßen ein Dilemma hinsichtlich der Operationalisierung des Abstandes zur Isoglosse: Einerseits ist es, wie oben beschrieben, nicht möglich den Faktor Raum in Form des Isoglossenabstandes eines jeden einzelnen Ortspunktes zu operationalisieren (aufgrund der oftmals geringen Tokenanzahl pro Ortspunkt), andererseits scheint der über alle Ortspunkte gerechnete durchschnittliche Abstand das Ergebnis zu sehr zu verzerren. Da zudem eine

12.3 Isoglossenabstand

485

Interpretation der absoluten Abstände zur Isoglosse ohnehin nicht relevant ist, wird folgende Herangehensweise gewählt: Um zwischen den Phänomenen das Verhältnis von Abstand zur Isoglosse und Variation vergleichen zu können, werden Korrelationen zwischen den beiden Parametern berechnet. Weiterhin wird hinsichtlich des erwähnten Dilemmas ein Kompromiss in Form der bereits beschriebenen Quadranten gewählt, d. h. das gesamte Untersuchungsgebiet wird mit Quadranten mit einer Seitenlänge von 15 km überspannt. Für jedes phonologische Phänomen werden nun die innerhalb eines Quadranten liegenden Ortspunkte samt ihren Tokens diesem Quadranten zugeordnet und der prozentuale Anteil an dialektnahen vs. dialektfernen Tokens für jeden Quadranten berechnet. Mit dieser Herangehensweise können Karten mit einem entsprechend groben Raster erstellt werden, in dem jeder Quadrant für eine räumliche Ausprägung steht und als unabhängige Variable für statistische Analysen herangezogen werden kann. In Abbildung 12.6 wird die Verteilung der Variation für die beiden Variablen mhd. î und ü beispielhaft im jeweiligen Variationsgebiet veranschaulicht. Wie bereits aus den vorhergehenden Analysen hervorgegangen ist, zeigt die Darstellung für die Diphthongierung von mhd. î eine horizontale Ausprägung des Lautwandels, während diese in der Karte für mhd. ü nicht erkennbar ist. Die in der dargestellten Weise aufbereiteten Daten sollen dazu dienen, Korrelationen zwischen dem Abstand der einzelnen Quadranten von der Isoglosse und der darin auftretenden Variation zu berechnen.189 Die Ergebnisse der Berechnungen sind in Abbildung 12.7 für die beiden phonologischen Phänomene mhd. î und ü exemplarisch als Plots dargestellt.190 Die Kurve für mhd. î zeigt einen deutlichen Anstieg dialektnaher Tokens mit zunehmendem Abstand von der Isoglosse, während der Plot zur Entrundung von mhd. ü einen solchen Zusammenhang kaum erkennen lässt. Es wird also bestätigt, dass es sich bei der Entrundung von mhd. ü um ein Phänomen mit vorrangig vertikal wirkendem Wandel handelt. Den beiden Darstellungen ist gleichermaßen zu entnehmen, dass die Kurvenverläufe nicht linear sind, sondern einer logarithmischen Funktion folgen. Das Bestimmtheitsmaß (R2 ) wird besser, wenn der Isoglossenabstand nicht linear, sondern logarithmiert dargestellt wird (vgl. N ERBONNE / K LEIWEG 2007; N ERBONNE 2010). Die höhere Güte einer logarithmischen Funktion zur Wiedergabe der Datenverteilung kann anhand eines Vergleichs zwischen den R2 -Werten einer Regression mit linearem und logarithmiertem Isoglossenabstand nachgewiesen werden. Ein solcher Vergleich ist in Tabelle 12.3 für alle untersuchten phonologischen Phänomene dargestellt und zeigt, dass in allen signifikant werdenden Korrelationen (mit Ausnahme der Diphthongierung von mhd. ê) der R2 -Wert in einem mit logarithmiertem Isoglossenabstand gerechneten Modell höher ist als in einem Modell mit linearem Abstand. Die Zahlenwerte des Korrelationskoeffizienten ρ ergeben einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Anteil an dialektnahen Tokens und dem Isoglossenabstand für die Phänomene mhd. î (p < .001), û (p < .001), iu (p < .001), ê (p < .05) und ô (p < .05). Auch für die Phänomene mhd. uo und ie ergeben sich 189 Der Abstand eines Quadranten von der Isoglosse ergibt sich aus dem durchschnittlichen Abstand aller darin enthaltenen Tokens. 190 Die Korrelationsplots aller untersuchten Variationsgebiete sind in Anhang A.1.2 dargestellt.

Abb. 12.6: Realisierung der diphthongischen (weiße Kreise) vs. monophthongischen Realisierung (schwarze Kreise) innerhalb der 15km-Quadranten im Variationsgebiet für mhd. î sowie der gerundeten (weiße Kreise) vs. ungerundeten Realisierung (schwarze Kreise) für mhd. ü.

486 Statistische Aggregatanalysen

12.3 Isoglossenabstand

487

in beiden Fällen hochsignifikante Korrelationen (für beide p < .001). Vergleicht man die Stärke der Korrelation, die sich im Wert des Korrelationskoeffizienten ausdrückt, so ergibt sich ein etwas anderes Bild: Die höchsten Werte erreichen die Variablen mhd. î, û und besonders iu, während der Koeffizient für mhd. ê und ei (sowohl [O5] als auch [OI]) kleiner ist.191 Die Korrelationsstärke für mhd. uo und ie ist bereits deutlich geringer, obwohl die Korrelation selbst hochsignifikant wird. Mhd. ô weist eine ähnlich geringe Korrelationsstärke auf, die aber signifikant wird. Die deutlich geringere Korrelationsstärke von mhd. ô im Vergleich zu lautgeografisch gleichlaufendem mhd. ê geht auf das im Korpus für mhd. ô enthaltene hochfrequente Adverb schon zurück, für das die Ausbreitung des Lautwandels keine klare, geografisch von außen nach innen gerichtete Struktur aufweist (vgl. Abschnitt 6.2.2.3) und somit die Korrelationsstärke negativ beeinflusst. Die Korrelationskoeffizienten der übrigen Phänomene werden aufgrund der durchgehend geringen Korrelationsstärke nicht signifikant. Für mhd. oe und ë werden die Werte gar negativ, d. h. mit zunehmendem Isoglossenabstand wird der prozentuale Anteil an dialektnahen Tokens tendenziell höher.

Abb. 12.7: Korrelation (logarithmisch) zwischen dem Abstand der einzelnen Quadranten von der Isoglosse und dem prozentualen Anteil der darin enthaltenen dialektnahen Tokens für mhd. î und ü.

191 Je näher der Korrelationskoeffizient am Wert 1 liegt, umso höher ist die Korrelation. Je mehr sich der Koeffizient dem Wert 0 nähert, umso schwächer ist die Korrelation. Ab einem Wert von .5 liegt eine hohe Korrelation vor, ab .7 eine sehr hohe (vgl. G RIES 2008, 144).

488

Statistische Aggregatanalysen

Phonologisches Phänomen mhd. î mhd. û mhd. iu mhd. ê DOS ESD mhd. ei [O5] mhd. ei [OI] mhd. uo mhd. ie mhd. ô mhd. ü mhd. oe mhd. â mhd. ou mhd. ë

Spearman’s ρ 0.5764 *** 0.6612 *** 0.7123 *** 0.4892 * 0.1911 0.1712 0.4967 ** 0.4188 * 0.3601 *** 0.3782 *** 0.3837 * 0.1427 -0.0382 0.3275 0.2265 -0.1031

R2 (linear) 0.3136 0.3368 0.4446 0.2371 0.1296 0.0153 0.1806 0.1582 0.1938 0.1710 0.0573 0.0108 0.0111 0.0701 0.0095 0.0226

R2 (logarithmisch) 0.4013 0.4954 0.5505 0.1592 0.1298 0.0689 0.2627 0.3496 0.3651 0.1929 0.1078 0.0189 0.0140 0.0721 0.0327 0.0039

Tab. 12.3: Spearman’s ρ und R2 -Werte (linear und logarithmisch) für die Korrelation zwischen prozentualem Anteil an dialektnahen Tokens pro Quadrant und Isoglossenabstand des Quadranten für alle untersuchten Variationsgebiete. 12.3.3.2 Analyse mit einem gemischten logistischen Regressionsmodell Nachdem im vorhergehenden Abschnitt der Zusammenhang zwischen Isoglossenabstand und Variation für alle phonologischen Phänomene dargestellt wurde und größtenteils eine Bestätigung der zuvor qualitativ gewonnenen Karteninterpretationen erbrachte, soll im Folgenden der Faktor Distanz anhand eines gemischten logistischen Regressionsmodell untersucht werden. Wie in Abschnitt 12.2.2 bereits erläutert wurde, bezieht ein gemischtes logistisches Regressionsmodell auch weitere unabhängige Variablen (in Form von random factors und fixed factors) in die Berechnungen mit ein und zeigt, wie groß der Beitrag der unabhängigen Variable Isoglossenabstand zur Aufklärung der binär operationalisierten abhängigen Variable Variation innerhalb des spontansprachlichen Datenkorpus ist. Konkret wurden im vorliegenden logistischen Regressionsmodell die folgenden unabhängigen Variablen berücksichtigt: • random factors: Sprecher, Lexem, 15km-Quadrant • fixed factors: Isoglossenabstand, Geschlecht, morphologische Komplexität der Wortformen, Gebrauchsfrequenz der Lexeme Von den unabhängigen Variablen, die in das Modell aufgenommen wurden, wird angenommen, dass sie relevante Prädikatoren für die Realisierung von dialektnahen bzw. dialektfernen Formen darstellen. Diese Hypothese wurde im Rahmen von

12.3 Isoglossenabstand

489

Model-Fits bestätigt, bei denen sich herausstellte, dass bei der Integration der angegebenen Faktoren die Güte der Modelle am besten wird. Dies gilt insbesondere für die random factors Lexem, Geografie (operationalisiert als 15km-Quadranten) und Sprecher. Alle drei random factors stellen starke Prädiktoren für die Aufklärung von Variation dar, allerdings ist es aufgrund ihres idiosynkratischen Charakters kaum möglich ihren Einfluss auf die phonologische Variation systematisch zu interpretieren. Anders verhält es sich mit den aufgeführten fixed factors: Besonders der Isoglossenabstand, das Geschlecht der Gewährspersonen sowie die morphologische Komplexität können mit der abhängigen Variable Variation in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Die Operationalisierung des letztgenannten Faktors erfolgte dabei binär in die beiden Kategorien „komplex“ vs. „nichtkomplex“.192 Die Gebrauchsfrequenz der Lexeme stellt einen nur sehr schwachen Prädiktor dar, wie sich besonders in Kapitel 12.9 herausstellen wird. Die Werte zur Gebrauchsfrequenz der einzelnen Lexeme konnten aus dem Häufigkeitswörterbuch von RUOFF (1981) entnommen werden. Eine Übertragung der Werte auf die Lexeme im vorliegenden spontansprachlichen Korpus ist gerechtfertigt, da die Angaben RUOFFS auf der Grundlage von Interviews mit größtenteils älteren Gewährspersonen aus dem schwäbischen Dialektgebiet berechnet wurden. Sie repräsentieren also eine ähnliche Sprechergruppe wie die des vorliegenden Datenkorpus. Ein Model-Fit wurde in der vorliegenden Analyse mit dem Faktor Geografie (operationalisiert als Quadrant) durchgeführt, da dieser für die hier geführte Diskussion entscheidend ist. Um dem Einfluss des Faktors Geografie näher zu kommen, wurden drei verschiedene Modelle gerechnet. In einer ersten Berechnung wurde der Faktor Geografie als random factor in das logistische Modell einbezogen, der fixed factor Isoglossenabstand jedoch nicht in das Modell eingefügt. In einem zweiten Modell wurde der Isoglossenabstand als linearer Prädiktor in das Modell einbezogen. In einem dritten Modell wurde Isoglossenabstand ebenfalls einbezogen, jedoch nicht als linearer Abstand, sondern als logarithmierter Abstand an das Modell gefittet. Wie aus den obigen Ergebnissen bereits hervorging, ist der Zusammenhang von Variation und geografischer Distanz am besten durch eine logarithmische Funktion zu beschreiben, weswegen dies auch in dieser Berechnung Auswirkungen auf die Güte des Modells haben dürfte. Im Ergebnis erhalten wir für alle drei Modelle sehr gute Fits, wie sich aus den errechneten Werten „Somer’s Dxy “ ergibt. Sie liegen im Bereich zwischen .81 und .95. Einzige Ausnahme bildet das phonologische Phänomen mhd. ei [OI], das mit einem Wert von .66 aber immer noch einen hohen Korrelationswert aufweist. „Somer’s Dxy “ ist als Rangkorrelationskoeffizient zwischen vorhergesagtem und beobachtetem binärem Ergebnis (hier „dialektnah“ vs. „dialektfern“) zu verstehen. Anders ausgedrückt gibt Somer’s Dxy Auskunft über das Verhältnis von konkordanten und diskonkordanten Paaren in Bezug zu allen vorkommenden Paaren innerhalb der in einem Modell vorkommenden Faktoren (vgl. B EHNKE / B EHNKE 2006, 176). 192 Unter morphologischer Komplexität ist auch in den vorliegenden statistischen Analysen wortbildungsmorphologische Komplexität zu verstehen. Als komplexe Wortformen gelten dementsprechend Komposita und Derivationen, während Simplizia und Wortformen ohne formale Wortbildungsaffixe (z. B. Konversionen) der Kategorie „nicht-komplex“ zugerechnet werden.

490

Statistische Aggregatanalysen

Somit drückt der Wert also aus, wie gut die in einem Modell berücksichtigten unabhängigen Variablen die nicht aufgeklärte Variation in der abhängigen Variable reduzieren können.193 Betrachtet man nun den Effekt, den der fixed factor Isoglossenabstand (linear) als Prädiktor für die abhängige Variable Variation hat, so erhalten wir für die meisten phonologischen Phänomene signifikante Werte. Abbildung 12.8 zeigt die Regressionskoeffizienten mit einem Konfidenzintervall von .95 für die untersuchten Variationsgebiete.194 Je weiter die Werte des Regressionskoeffizienten zum positiven Wert 1 reichen, desto stärker ist der Isoglossenabstand als Prädiktorvariable für eine dialektnahe Realisierung anzusehen (bei negativen Werten wäre der zunehmende Isoglossenabstand ein Prädiktor für eine dialektferne Realisierung). Wie aus Abbildung 12.8 jedoch ersichtlich ist, liegen für alle betrachteten Phänomene die Werte im positiven Bereich, wobei für mhd. ë, ei [O5] und ou keine Signifikanzen erreicht werden (dies ist an den Fehlerbalken zu erkennen, die die Nullinie überschreiten). Für mhd. ë widerspricht dies teilweise der qualitativen Kartenanalyse, da auf den Punktsymbolkarten kein klares Raumbild zu erkennen ist, der Interpolationsplot aber durchaus einen horizontal wirkenden Abbau der diphthongischen Realisierung vermuten ließ (vgl. Kapitel 7). Ähnlich verhält es sich bei den phonologischen Phänomenen mhd. ei [O5] und ou, bei denen aus der Interpretation der Punktsymbolkarte ebenfalls keine klare horizontale Struktur innerhalb der rückläufigen Variationsgebiete hervorging, die interpolierte Darstellung der Daten aber einen stärkeren Abbau der alten Realisierung in Isoglossennähe vermuten ließ (vgl. Kapitel 4 und 5). Die Ergebnisse aus der statistischen Analyse verhärten nunmehr den Eindruck, dass innerhalb der Variationsgebiete für mhd. ë, ei [O5] und ou der Lautwandel keine signifikante horizontale Komponente besitzt. Die signifikanten Phänomene in Abbildung 12.8 sind in der Überzahl, unterscheiden sich aber untereinander deutlich hinsichtlich ihrer Korrelationskoeffizienten und Konfidenzintervalle. Besonders auffällig ist die Diphthongierung von mhd. î, û und iu, bei der vergleichsweise hohe Regressionskoeffizienten bei geringem Konfidenzintervall erreicht werden. Dies zeigt, dass der Abstand von der Isoglosse für diese phonologischen Phänomene von besonders hoher Relevanz ist, wie auch bereits die qualitativen Analysen vermuten ließen. Das Gleiche gilt für die Dehnung in offener Silbe sowie die Einsilblerdehnung, wobei in diesen Fällen hinzugefügt werden muss, dass die Konfidenzintervalle außerordentlich groß sind. Auch in den im vorherigen Abschnitt 12.3.3.1 gerechneten Korrelationen konnte für diese beiden Phänomene ein nur geringer Zusammenhang erkannt werden, der zudem nicht signifikant wurde.

193 Hätte man beispielweise unabhängige Variablen in das Modell integriert, die insgesamt für die Variation keine Rolle spielen, z. B. die Haarfarbe der Informanten oder deren Leibspeise, so würde sich dies in einem besonders geringen Rangkorrelationskoeffizienten ausdrücken, der sich um den Wert 0 bewegen würde. 194 Für einige Variationsgebiete ist die zugrunde liegende Tokenanzahl für die Berechnung der Regressionskoeffizienten zu gering, weswegen die entsprechenden Werte in Abbildung 12.8 nicht aufgetragen sind.

12.3 Isoglossenabstand

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Abb. 12.8: Effektgrößen des Faktors Isoglossenabstand (linear) mit Standardabweichung. Je größer der Regressionskoeffizient, umso stärker ist der Faktor „Isoglossenabstand der Quadranten“ als Prädiktor für die Realisierung von dialektnahen Tokens.

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Statistische Aggregatanalysen

Bei den Phänomenen mhd. uo, ie und ü handelt es sich schließlich um Fälle, in denen die Variable Isoglossenabstand kaum eine Bedeutung als Prädiktor für die dialektnahe bzw. dialektferne Realisierung besitzt. Dies stimmt mit den Kartenanalysen sowie den „einfachen“ statistischen Analysen überein, in denen ebenfalls kein klares Bild einer horizontalen Wandelkomponente erkennbar war, jedoch zumindest in Isoglossennähe auch nicht völlig ausgeschlossen werden konnte (vgl. Kapitel 9 und 10.3). Für das Variationsgebiet im Fall des phonologischen Phänomens ô verhält es sich etwas anders. Hier war, wie bereits erwähnt, sowohl aus den qualitativen Analysen der Punktsymbolkarten als auch den Interpolationen zu entnehmen, dass eine klare horizontale Struktur des Lautwandels vorhanden ist. Dies ist jedoch auf das frequente Adverb schon zurückzuführen, das im Gegensatz zu den anderen im Datenkorpus vorhandenen Lexemen keine horizontale Tendenz des Lautwandels aufweist. Betrachtet man die Korrelationskoeffizienten für ein Modell mit logarithmierten Isoglossenabständen, so sind diese dem Modell mit linearen Isoglossenabständen ähnlich. Der Unterschied besteht darin, dass das phonologische Phänomen mhd. ô nun keine Signifikanz mehr erreicht. Für die Phänomene mhd. e, ei [O5] und ou bestätigt sich, dass der Faktor Isoglossenabstand hier als Prädiktor für Variation keine Rolle zu spielen scheint. Die bereits im Modell mit linearem Abstand besonders signifikanten Phänomene mhd. î, û und iu weisen im Modell mit logarithmiertem Isoglossenabstand noch höhere Regressionskoeffizienten auf. Dies trifft auch für mhd. uo, ie und ü zu, für die die Regressionskoeffizienten ebenfalls höher geworden sind. Eine weitere Methode, um die Bedeutung des Faktors Isoglossenabstand zu eruieren, kann indirekt über den random factor „Quadrant“ erfolgen (mit dem die Größe Geografie operationalisiert wurde). Dazu werden für den Faktor Quadrant die Standardabweichungen für jedes der untersuchten Variationsgebiete berechnet, und zwar in drei verschiedenen Modellen: Das erste enthält den fixed factor Isoglossenabstand gar nicht, im zweiten ist der lineare und im dritten der logarithmierte Isoglossenabstand enthalten. Gemäß der bisherigen Ergebnisse müsste das erste Modell die höchste Standardabweichung für den random factor Quadrant aufweisen. Bei Hinzunahme des Faktors Isoglossenabstand sollten die Werte hingegen geringer werden. Der Grund hierfür liegt darin, dass im gemischten logistischen Modell der fixed factor Isoglossenabstand dabei hilft, die geografisch bedingte Variation aufzuklären, die ja durch den random factor Quadrant operationalisiert ist. Sind also in verschiedenen gemischten Modellen die Standardabweichungen für einen Faktor unterschiedlich hoch, so weist dies auf ein Zusammenwirken mit den entsprechend integrierten oder nicht integrierten weiteren Faktoren bei der Varianzaufklärung hin. Im vorliegenden Fall geht es dementsprechend um das Zusammenwirken des random factors Quadrant mit dem fixed factor Isoglossenabstand. In Abbildung 12.9 ist der Vergleich zwischen den Standardabweichungen dargestellt.195 Darin ist deutlich zu erkennen, dass besonders für die Diphthongierung von mhd. î, û und iu klare Unterschiede zwischen dem ersten Modell einerseits und 195 Fehlende Balken weisen darauf hin, dass die Tokenanzahl zur Berechnung der Standardabweichung im jeweiligen Variationsgebiet nicht ausreichend hoch ist.

12.3 Isoglossenabstand

493

Abb. 12.9: Standardabweichungen des random factors Geografie, wenn der fixed factor Isoglossenabstand aus dem Modell herausgenommen wird bzw. linear sowie logarithmiert in das Modell integriert wird.

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Statistische Aggregatanalysen

dem zweiten und dritten andererseits bestehen. Auch die Dehnung in offener Silbe weist eine solche Tendenz auf, wobei aber die Berechnung für den mittleren Balken (mit linearem Isoglossenabstand) fehlt. Für weitere phonologische Phänomene ist dieselbe Tendenz ebenfalls zu erkennen, fällt jedoch weit weniger deutlich aus, wie die Vergleiche der Standardabweichungen für mhd. uo und ie sowie für mhd. ü und die Diphthongierung von mhd. ô zeigen. Für die übrigen Phänomene sind die Ergebnisse der unterschiedlichen Modellberechnungen uneinheitlich, was auf die vergleichsweise geringe Bedeutung des Isoglossenabstandes für die Reduktion der Standardabweichung des random factors Quadrant hinweist. Auch wenn für den Großteil der phonologischen Phänomene die Unterschiede der Standardabweichungen nur schwach ausgeprägt sind, so ist dem Vergleich doch zu entnehmen, dass (mit Ausnahme von mhd. ou) durch das Einfügen des Faktors Isoglossenabstand die Standardabweichungen für den random factor Quadrant geringer werden. Dies ist besonders bei denjenigen etymologischen Klassen der Fall, die auch schon in den bisherigen Analysen eine deutlich horizontal ausgerichtete Wandelkomponente erkennen ließen.

12.3.4 Zusammenfassung und Diskussion Der in diesem Abschnitt behandelte Faktor Isoglossenabstand konnte auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus spontansprachlicher Daten einige Antworten auf eine noch wenig geklärte Frage geben: In welchem Verhältnis stehen horizontaler und vertikaler Dialektwandel zueinander? In der traditionellen Dialektologie wurde häufig davon ausgegangen, dass sich Lautwandel zwischen Dialekten auf einer rein horizontalen Dimension abspielt (Wandeltyp I). In neueren Arbeiten wurde jedoch deutlich gemacht, dass eine vertikale, durch Standardsprache und regionale Varietäten induzierte Komponente den Lautwandel spätestens seit dem 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße beeinflusst (AUER 2005; AUER / H INSKENS / K ERSWILL 2005; B ERTINETTO 2010). Dies führt zu einer im Raum gleichmäßigen Wirkung der standardsprachlichen Formen auf die Dialekte (Wandeltyp II). In der sprachlichen Realität sind beide Wandeltypen I und II nur selten bzw. gar nicht in Reinform zu beobachten, sondern treten zumeist in Kombination auf (Lautwandeltyp III). Gerade die vertikale Komponente des Lautwandels ist auf der Grundlage von Dialektkarten nur schwer zu fassen, da er großflächig wirkt und nicht, wie in ihrer geografischen Ausbreitung begrenzte dialektale Formen, im Raum identifizierbar ist. Sowohl in den qualitativen Einzelanalysen als auch in den hier durchgeführten statistischen Tests konnte aber nachgewiesen werden, dass Lautwandel eine vertikale Komponente besitzt. Die Ergebnisse der statistischen Analysen bestätigen das häufige Vorliegen von Wandeltyp III, d. h. ein Miteinander von horizontalem und vertikalem Wandel. Sie erlauben zudem eine Gruppierung in phonologische Phänomene, bei denen die horizontale Komponente des Dialektkontakts noch klar erkennbar ist (mhd. î, û und iu) und in solche, die stärker dem standardsprachlichen Einfluss unterworfen sind (mhd. ë, ei [O5], ou und ü). Die Interpretationen der Ergebnisse, die auf der Grundlage der qualitativen Karteninterpretation zu den einzelnen pho-

12.3 Isoglossenabstand

495

nologischen Phänomenen gewonnen wurden, und die statistischen Ergebnisse sind nicht völlig deckungsgleich, doch ergeben beide Herangehensweisen eine ähnliche Gruppierung in tendenziell standard- bzw. dialektkonvergente Phänomene. Eine Frage, die in der bisherigen Diskussion offen blieb, ist, weshalb die Gruppierung der Phänomene so ausfällt und nicht anders. Warum neigen gerade mhd. î, û und iu deutlich zu einer horizonalen Wandelkomponente, während dies beipielsweise für mhd. ë oder oe nicht der Fall ist? Eine genaue Untersuchung dieses Befundes kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Dennoch sollen Hypothesen zu drei außerlinguistischen Faktoren formuliert werden, die womöglich die Stärke der Dialektkonvergenz beeinflussen: 1) Die geografische Größe eines Variationsgebietes dürfte Einfluss auf die Erkennbarkeit einer horizontalen Wandelkomponente haben. Ist das Gebiet sehr klein, so ist eine horizontale Abstufung des Lautwandels kaum erkennbar und wird auch statistisch schwerlich signifikant. In der vorliegenden Untersuchung können beispielweise die Variationsgebiete für mhd. ou sowie die Dehnung in offener Silbe als relativ kleinräumig angesehen werden, weswegen hier auch kaum eine statistisch signifikante horizontale Wandelkomponente erkennbar wurde. 2) Eng mit der Größe eines Variationsgebietes hängt auch dessen Form zusammen. Für Gebiete, die eine tendenziell kompakte Form mit einem klaren geografischen Zentrum haben, dürfte eine horizontale Abstufung des Lautwandels ebenfalls leichter zu ermitteln sein. Sehr schmal erscheinenden Gebieten fehlt hingegen die „geografische Tiefe“, um eine statistisch signifikante Korrelation zwischen Isoglossenabstand und Variation erkennen zu können. Ein Beispiel für ein solches Gebiet stellt in der vorliegenden Untersuchung das Variationsgebiet von mhd. ei [O5] dar, für das die Analyse kein klares Ergebnis hervorbrachte: Die Korrelationsanalyse ergab zwar signifikante Werte, nicht aber das logistische Regressionsmodell. 3) Schließlich sei noch ein dritter Faktor erwähnt, der womöglich eine Einflussgröße für horizontale Dialektkonvergenz darstellt: die Länge der Isoglosse zwischen dem Variationsgebiet und dem benachbarten Innovationsgebiet. Dieser Faktor kann beispielsweise für die vier phonologischen Phänomene mhd. uo, ie, ü und oe eine Erklärung liefern. Alle vier Phänomene haben eine nur sehr kurze Isoglosse, die sie vom benachbarten Innovationsgebiet abtrennt. Diese verläuft für mhd. uo und ie im Nordwesten entlang der Grenze zum Südfränkischen. Die Entrundungsisoglosse für die beiden Phänomene mhd. ü und oe verläuft hingegen ganz im Südwesten des Untersuchungsgebietes entlang der Grenze zum Hochalemannischen. Alle vier Phänomene wiesen in den qualitativen und statistischen Analysen relativ geringe horizontale Beeinflussung auf (besonders mhd. oe und ü), obwohl Größe und Form der Variationsgebiete durchaus eine erkennbare Abstufung erlauben würden. Hier könnte also die Länge der Isoglosse ein entscheidender Faktor sein, wie auch aus dem Vergleich mit den Phänomenen mhd. î, û und iu deutlich wird. Deren Diphthongierungsisoglosse ist besonders lang und verläuft diagonal durch das gesamte Untersuchungsgebiet. Hinzu kommt, dass die Variationsgebiete der drei Phänomene recht groß und auch kompakt sind, was die Rolle der horizontalen Wandelkomponente vermutlich noch verstärkt.

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Statistische Aggregatanalysen

Abschließend muss hinsichtlich der Untersuchung von geografischem Abstand und dessen Einfluss auf Lautwandel darauf hingewiesen werden, dass dieser Zusammenhang durch Faktoren gestört werden kann, die in den berechneten statistischen Analysen nicht berücksichtigt wurden. Besonders zu erwähnen ist hierbei die Bedeutung urbaner Konglomerate, die Einfluss auf die Ausbreitung phonologischen Wandels haben können (vgl. R ENN 1994; BAUER 2003). In der vorliegenden Studie wurden solche sozialen Strukturen ignoriert, was allerdings dadurch gerechtfertigt erscheint, dass im spontansprachlichen Material keine urbanen Sprecher vorhanden sind.

12.4 MORPHOLOGISCHE KOMPLEXITÄT Im vorhergehenden Abschnitt wurde der Einfluss der Standardsprache auf die Basisdialekte in Zusammenhang mit dem Faktor Raum untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass in manchen Fällen der Lautwandel in deutlichem Maße durch Dialektkonvergenz hervorgerufen wird. In anderen Fällen ist diese horizontale Komponente jedoch kaum oder gar nicht nachweisbar, weswegen der beobachtbare Lautwandel ex negativo auf Standardkonvergenz zurückgeführt werden kann. Im Folgenden soll weiterhin auf den Einfluss der Standardsprache eingegangen werden, jedoch über einen indirekten Ansatz, der den Faktor der morphologischen Komplexität als Ausgangspunkt nimmt.

12.4.1 Morphologisch komplexe Wortformen vs. Simplizia Der Einfluss morphologischer Komplexität wurde in den Einzelanalysen im Detail behandelt, wobei auf der Grundlage einfacher prozentualer Vergleiche häufig höhere Anteile von dialektfernen Realisierungen in morphologisch komplexen Wortformen beobachtet werden konnten als in Simplizia. Wie bereits erwähnt, wird morphologische Komplexität als wortbildungsmorphologische Komplexität verstanden, d. h. es werden Komposita und Derivationen dieser Gruppe von Wörtern zugeordnet, während Simplizia solche Wörter darstellen, die zwar flektiert sein können, aber keine Wortbildungsaffixe tragen oder Bestandteil eines Kompositums sind. In Abbildung 12.10 ist die höhere Tendenz zur standardsprachlichen Realisierung in komplexen Wortformen noch einmal zusammenfassend für alle untersuchten Phänomene dargestellt. Dem Diagramm ist zu entnehmen, dass in 13 von 16 untersuchten Variationsgebieten der Anteil dialektferner Tokens in morphologisch komplexen Wortformen höher ist als in Simplizia. Der Eindruck dieser Gegenüberstellung von Prozentanteilen innerhalb der einzelnen Phänomene bestätigt also insgesamt die Hypothese, wonach es sich bei morphologisch komplexen Wortformen zum Teil um Übernahmen aus dem Standard handelt, die von den Gewährspersonen ad hoc im Dialekt verwendet werden. Die Unterschiede sind jedoch nur gering. Für die Einsilblerdehnung sowie für die Realisierung von mhd. oe und ê ist der Anteil dialektferner Tokens in komplexen Wörtern sogar geringer als in Simplizia.

Abb. 12.10: Gegenüberstellung des Anteils an dialektfernen Tokens innerhalb von Simplizia und innerhalb morphologisch komplexer Wortformen für alle untersuchten phonologischen Phänomene.

12.4 Morphologische Komplexität

497

498

Statistische Aggregatanalysen

Standardeinfluss und der Faktor morphologische Komplexität stehen also nicht in einem 1:1-Verhältnis, d. h. morphologisch komplexe Wortformen sind nicht immer standardsprachliche Bildungen, sondern können ebenso alte dialektale Formen darstellen, die entsprechend die Dialektlautung aufweisen. Inwiefern morphologische Komplexität innerhalb der einzelnen untersuchten Phänomene Auswirkungen auf die Realisierungsform hat, soll im Folgenden durch weitere statistische Analysen untersucht werden. Der Faktor morphologische Komplexität wird hierfür zunächst als kategorialer fixed factor in ein gemischtes logistisches Modell integriert. Das Modell enthält als weitere fixed factors Geschlecht, Gebrauchsfrequenz sowie den Abstand zur Isoglosse (logarithmiert). Als random factors sind im Modell die Variablen Ort, Lexem und Sprecher enthalten. Die Güte des Modells ist gemäß dem Rangkorrelationskoeffizienten Somer’s Dxy für alle phonologischen Phänomene hoch und besitzt Werte zwischen .66 und .95. Model-Fits wurden durch Herausnahme einzelner Faktoren vorgenommen und zudem ein Modell berechnet, in dem allein der fixed factor morphologische Komplexität integriert ist. Die Güte des Modells veränderte sich dadurch nur wenig. In Abbildung 12.11 sind die Ergebnisse für das volle Modell zu sehen. Eine Berechnung ist für 13 der untersuchten Variationsgebiete möglich und ergibt für elf der untersuchten phonologischen Phänomene positive Regressionskoeffizienten, die in sieben Fällen signifikant werden (DOS: p < .05, mhd. ë: p < .001, mhd. î: p < .01, mhd. û: p < .001, mhd. uo: p < .001, mhd. ie: p < .01, mhd. ô: p < .001). Nur bei zwei phonologischen Phänomenen liegen negative Korrelationen vor (mhd. iu und ü), die jedoch beide nicht signifikant werden. Es kann somit festgehalten werden, dass in allen signifikanten Fällen eine positive Vorhersage von nicht-komplexer Realisierung zu dialektnaher Realisierung vorliegt. Daraus folgt entsprechend eine positive Vorhersage von komplexer Wortform zu dialektferner Realisierung.

12.4.2 Ein Modell des standardinduzierten Lautwandels Die statistische Auswertung des Faktors morphologische Komplexität innerhalb eines gemischten logistischen Regressionsmodells konnte den in den Einzelanalysen gewonnenen Befund erhärten, wonach komplexe Wortformen tendenziell häufiger dialektfern realisiert werden als Simplizia. Dies stellt eine wichtige Erkenntnis bezüglich des Verhältnisses von standard- und dialektinduziertem Lautwandel dar, deutet der Befund doch auf einen vertikalen Einfluss hin, der in erster Linie auf einer lexikalischen Ebene wirkt. Über die Lexik können demnach neue Formen in das Lautsystem des Dialekts eindringen und dort zu einer allmählichen standardkonvergenten Umstrukturierung beitragen. AUER (2010b) entwickelte ein Modell des standardinduzierten Lautwandels, in das sich die in dieser Arbeit vorliegenden Ergebnisse integrieren lassen. Sein Modell baut auf den Konzepten von K ARL H AAG auf, der bereits vor ca. einem Jahrhundert die Begriffe Wortverdrängung und Lautverdrängung prägte, die auf die beobachteten Ergebnisse übertragen werden können (vgl. H AAG 1901; 1929/30).

12.4 Morphologische Komplexität

499

Abb. 12.11: Effektgrößen des Faktors morphologische Komplexität mit Standardabweichung.

Abb. 12.12: Modell nach AUER (2010) zum standardinduzierten Lautwandel, das auf der Grundlage der Ergebnisse zum Faktor morphologische Komplexität entwickelt wurde. Das Modell ist inspiriert durch die Konzepte der Wortverdrängung und Lautverdrängung, die von K ARL H AAG (1901, 1929/30) eingeführt wurden.

500 Statistische Aggregatanalysen

12.4 Morphologische Komplexität

501

Das von Auer entwickelte dreistufige Modell ist in Abbildung 12.12 schematisch dargestellt. Es geht davon aus, dass standardinduzierter Lautwandel in erster Linie auf einer lexikalischen Ebene verläuft, d. h. eine Konsequenz lexikalischer Entlehnungen (ad-hoc-Entlehnungen, nonce borrowings) ist. H AAG charakterisiert diesen Prozess als „die Verdrängung der einzelnen Wörter durch neue Wörter, seien diese freigeschaffen oder entlehnt“ (H AAG 1929/30, 24). Im ersten Schritt gelangen neue Lexeme einer etymologischen Lautklasse von der Standardvarietät in die Dialekte und passen sich phonologisch nicht an die Lautung des Dialekts an. Für das Lexem sauber, dessen Stammvokal der Lautklasse mhd. û angehört, können solche ad-hoc-Entlehnungen z. B. aus den Wörtern unsauber oder Sauberkeit bestehen. Dadurch kommen neue Laute in das phonologische System des Dialekts bzw. die etymologischen Lautklassen erhalten neue Mitglieder. Bei den in den Dialekt gelangenden Wörtern handelt es sich, wie bereits gezeigt wurde, häufig um morphologisch komplexe Wortformen, die in der Standardvarietät aus den entsprechenden Simplizia gebildet wurden. Diese neu hinzugekommenen Wortformen bilden nun Netzwerke mit den bereits im Dialekt vorhandenen, semantisch ähnlichen Wörtern. Die Korrespondenzbildung zwischen der alten und neuen Lautung findet dabei innerhalb des Dialekts statt. Im zweiten Schritt gehen die semantisch ähnlichen, jedoch phonologisch unterschiedlichen alten Wörter des bestehenden Netzwerks unter bestimmten Voraussetzungen zur Lautung der neu hinzugekommenen Wörter über. Dieser Prozess wurde von H AAG als „Wortverdrängung“ beschrieben, den er auf recht bildhafte Art umschreibt: „Die Wirkung der Wortverdrängung ist die Zerstörung der alten Lautgruppen; am toten Leib nagt der Wörterfraß. Das tut er in den verschiedensten Graden, vom leichtesten Annagen bis zum völligen Auffressen“ (H AAG 1929/30, 26). H AAG versteht unter Wortverdrängung, im Gegensatz zum endogenen Lautwandel, also die wortweise Ersetzung der alten Lautung einer Lautklasse durch eine neue. Die Art und Weise wie dieser Übergang stattfindet, hängt gemäß Auer (2010) von unterschiedlichen Faktoren, wie beispielsweise einer ausreichend hohen Salienz der neuen Wörter ab. Außerdem spielt die Tokenfrequenz eine entscheidende Rolle, wie in Abschnitt 12.4.3 statistisch nachgewiesen werden wird. Weiterhin ist von Seiten der alten Wörter natürlich wichtig, wie stark diese in den Dialekt eingebettet sind, d. h. wie hoch ihr Lexikalisiertheitsgrad ist, und wie stark ihre Semantik mit den neu hinzukommenden Wörtern überhaupt noch zusammenhängt. In den Einzelanalysen konnte wiederholt gezeigt werden, dass bei morphologisch komplexen Wortformen diese Faktoren auch zu einem besonders stark ausgeprägten Erhalt der dialektnahen Lautung beitragen können. Sie bremsen also den phonologischen Übergang der alten zu den neuen Lautungen innerhalb des Netzwerks ab. Kommt es im dritten Schritt des Lautwandels bei einer großen Anzahl von Lexemen in einer Lautklasse zur Alternation zwischen den zwei korrespondierenden Lautformen, so kann die neue phonologische Form zur produktiven Regel werden und zum völligen Verschwinden der alten Lautklasse führen. Dieser terminale Schritt der Lautentwicklung wird von H AAG als „Lautverdrängung“ bezeichnet (H AAG 1901, Heft 6, 326). Ihm zufolge kommt es besonders schnell zu diesem Schritt, wenn es um Kontakt der Basisdialekte mit der „Bildungssprache“ geht. In

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Statistische Aggregatanalysen

diesem Fall „kommt die Wortverdrängung nicht Schritt für Schritt in einzelnen Modewörtern, sondern in erdrückender Masse“ (H AAG 1929/30, 26).

12.4.3 Die Rolle der Gebrauchsfrequenz Morphologisch komplexe Wortformen neigen tendenziell stärker zur standardnahen Realisierung, wofür vermutlich die Entlehnung entsprechender Bildungen aus dem Standard verantwortlich ist. Wie bereits erwähnt, ist diese Tendenz nicht pauschal vorzufinden, sondern hängt davon ab, ob es sich um eine alte dialektale Wortform oder um eine jüngere Übernahme aus dem Standard handelt. Um zwischen jungen und alten Wortformen zu unterscheiden, wurde in den bisherigen Analysen die Semantik näher betrachtet, wobei komplexe Wortformen, die Entitäten aus dem ländlichen Alltag bezeichnen, oftmals in höherem Maße die dialektale Lautung bewahren. Ein weiterer wichtiger Faktor, mit dem eine Unterscheidung zwischen alten und neuen Wortformen getroffen werden kann, ist die Gebrauchsfrequenz der einzelnen im Korpus vertretenen komplexen Types. Es wurde vermutet, dass alte, im Dialektrepertoire der Sprecher fest verankerte komplexe Wortformen die traditionelle Lautung tendenziell bewahren, und zwar besonders dann, wenn sie häufig auftreten. Im untersuchten Korpus sollte dementsprechend im Spektrum der höherfrequenten komplexen Wortformen ein höherer Anteil dialektaler Realisierungen zu erwarten sein. Diese Hypothese wird im Folgenden auf zweierlei Arten überprüft: Zunächst wird für jeden Frequenzwert der jeweiligen im Korpus auftretenden komplexen Types (Anzahl Types: 338, Gesamtanzahl Tokens: 2097) die Wahrscheinlichkeit für eine dialektnahe vs. dialektferne Realisierung in Form eines sog. „conditional density plots“ angegeben, wobei nicht existierende Frequenzwerte aus den nächstliegenden Werten interpoliert werden. Die Tokenfrequenz der Types ist entsprechend der Angaben im Häufigkeitswörterbuch von RUOFF (1981) annotiert. Auf diese Weise kann ein erster Eindruck von der phonologischen Realisierung in Abhängigkeit von der Gebrauchsfrequenz der komplexen Wortformen gewonnen werden. Der Zusammenhang zwischen den beiden Größen ist in Abbildung 12.13 dargestellt. Es ist deutlich zu erkennen, dass diejenigen komplexen Wortformen mit einem hohen Anteil dialektaler Realisierungen im höheren Frequenzbereich von > 100 liegen. Durch das Diagramm wird demnach die zuvor formulierte Hypothese bestätigt, wonach dialektale Wortformen besonders dann ihre phonologische Realisierung bewahren, wenn sie eine hohe Tokenfrequenz aufweisen. Um die statistische Signifikanz des in Abbildung 12.13 dargestellten Zusammenhangs zwischen Gebrauchsfrequenz und phonologischer Realisierung zu validieren, wurde in einem zweiten Schritt eine logistische Regression gerechnet, in der neben der Frequenz die Faktoren Isoglossenabstand, Geschlecht und Komplexität berücksichtigt wurden. In Abbildung 12.14 ist das Ergebnis der Berechnung grafisch dargestellt. Um die heterogene Verteilung der auf der x-Achse abgetragenen Frequenzen zu komprimieren, wurden diese logarithmiert. Auf der y-Achse sind dialektnahe Realisierungen aufgetragen, allerdings nicht als prozentuale Anteile, sondern, wie in logistischen Regressionen üblich, als „log odds“, d. h. als

12.4 Morphologische Komplexität

503

Abb. 12.13: Anteil dialektnaher Realisierungen innerhalb morphologisch komplexer Wortformen in Abhängigkeit von ihrer Tokenfrequenz im spontansprachlichen Korpus.

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logistische Transformation der Auftretenshäufigkeit. Bei einem Wert von Null liegt die Auftretenshäufigkeit von dialektnahen und dialektfernen Tokens bei je 50 %. Je weiter der Wert über Null liegt, umso höher ist die relative Auftretenshäufigkeit der dialektnahen Realisierung, je weiter er unter Null liegt, umso geringer ist die Auftretenshäufigkeit. Die gestrichelten Linien stellen die Konfidenzintervalle für die Frequenzen der untersuchten Types dar. Die Funktion in Abbildung 12.14 ist parabelförmig und hängt mit dem Verhalten der Daten in hochsignifkanter Weise zusammen (p < .001). Das Ergebnis aus der einfachen Gegenüberstellung von prozentualen Anteilen und Tokenfrequenzen in Abbildung 12.13 wird durch die logistische Regression also bestätigt: Sehr tokenfrequente Types neigen deutlich zur dialektalen Realisierung.196 Bei diesen Wortformen handelt es sich vermutlich um solche, die in den Basisdialekten bereits seit langem vorkommen und nicht in neuerer Zeit aus dem Standard entlehnt worden sind. Die Funktion zeigt ein weiteres, interessantes Phänomen: Die sehr niederfrequenten Types neigen ebenfalls stärker zur dialektalen Realisierung, wobei der Effekt hier weniger deutlich hervortritt als bei den hochfrequenten Wortformen. Auch bei dieser Gruppe scheint es sich also oft um alte Wortformen zu handeln, die nicht aus dem Standard entlehnt worden sind. Ihr seltener Gebrauch geht womöglich darauf zurück, dass es sich bei Ihnen um fossilierte Archaismen handelt, deren Bedeutung mittlerweile durch andere sprachliche Mittel ausgedrückt werden kann (z. B. die Wortform Weibervolk zum Ausdruck des Plurals von Weib). Das mittelfrequente Spektrum in Abbildung 12.14 zeichnet sich durch eine geringe Dialektalität der in diesen Bereich fallenden komplexen Wortformen aus. Daraus kann gefolgert werden, dass hier dementsprechend der Anteil an Entlehnungen aus dem Standard besonders hoch ist und dass dieses mittlere Frequenzspektrum das primäre „Einfallstor“ bildet, durch das auf einer lexikalischen Ebene neue Lautungen in die Basisdialekte gelangen. Zusammenfassend kann zum Einfluss morphologischer Komplexität auf den Lautwandel festgehalten werden, dass diese einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der vertikal wirkenden Komponente des Dialektwandels leistet. Standardsprachlicher Einfluss ist demnach eng mit dem formalen Kriterium morphologischer Komplexität verknüpft. Solche Wortformen werden oft im Standard gebildet und mitsamt ihrer phonologischen Realisierung in das Dialektrepertoire der Dialektsprecher entlehnt. Diese Tendenz konnte im untersuchten standardsprachlichen Korpus nachgewiesen werden, gilt aber nicht grundsätzlich. Weitere Faktoren müssen berücksichtigt werden, die die phonologische Realisierung komplexer Wortformen bedingen. So wurde in der Untersuchung argumentiert, dass der Grad des Lautwandels mit semantischen Kriterien und dem Lexikalisiertheitsgrad einer Wortform im Dialekt zusammenhängt und dass der Zeitpunkt der Aufnahme einer neuen Wortform in den Dialekt letztendlich darüber entscheidet, ob sich eine lautliche Innovation 196 Im vorliegenden Fall wurde kein gemischtes logistisches Modell gerechnet, weil für dieses eine geplottete Darstellung der Ergebnisse, wie sie in Abbildung 12.14 zu sehen sind, technisch nicht umsetzbar war. Wie die Berechnung in einem hier nicht dargestellten gemischten logistischen Modell mit den zusätzlichen, als random factors operationalisierten Variablen Ort, Sprecher und Lexem jedoch zeigte, sind die Ergebnisse von gemischter logistischer Regression und logistischer Regression qualitativ nahezu identisch.

12.4 Morphologische Komplexität

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Abb. 12.14: Tokenfrequenz als Prädiktorvariable für den Anteil an dialektnahen Realisierungen, berechnet in einem logistischen Regressionsmodell. durchsetzt. Schließlich ergab sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Gebrauchsfrequenz morphologisch komplexer Types mit deren phonologischer Realisierung. Besonders jene Types aus dem hochfrequenten und, in geringerem Maße, niederfrequenten Bereich weisen tendenziell die dialektale Lautung auf, während diejenigen aus dem mittelfrequenten Bereich häufig standardnah realisiert werden. Bei dieser Gruppe handelt es sich oftmals um Entlehnungen aus dem Standard. Die hoch- und niederfrequenten Types sind hingegen tendenziell als die alten, fest im Dialekt verankerten komplexen Wortformen anzusehen.

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12.5 INNOVATIVE VS. KONSERVATIVE DIALEKTGEBIETE 12.5.1 Einleitung Die Untersuchungen zum Faktor Isoglossenabstand in Kapitel 12.3 haben gezeigt, dass Geografie bei der Erklärung von dialektaler Variation neben dem vertikalen Einfluss der Standardsprache eine wichtige Rolle spielt. Unter der Annahme, dass sich Lautwandel nicht rein vertikal vollzieht, kann davon ausgegangen werden, dass sich im Untersuchungsgebiet konservative und innovative Teilareale ausbilden. Diese konnten im Rahmen der Einzelanalysen besonders durch das Verfahren der Dateninterpolation für einzelne phonologische Phänomene sichtbar gemacht werden. Außerdem konnte im Rahmen der Untersuchung zum Faktor Isoglossenabstand gezeigt werden, dass in den meisten Fällen die Ausbreitung einer innovativen Realisierung nicht ausschließlich auf horizontalen oder vertikalen Varietätenkontakt zurückzuführen ist, sondern eine Kombination aus beidem darstellt (vgl. auch AUER / BAUMANN / S CHWARZ 2011). Es bleibt aber die Frage, ob sich konservative und innovative Areale auch phänomenübergreifend ergeben, oder ob sich bei dieser aggregierten Betrachtungsweise die phänomenspezifischen Ausdifferenzierungen gegenseitig aufheben und im Gesamtbild zu einer gleichmäßig im Raum verteilten Variation führen. Dieser Frage werden die folgenden Ausführungen nachgehen.197 Gerade wegen des zunehmenden Abbaus von Basisdialekten, der nahezu eine gesamteuropäische Erscheinung darstellt (vgl. AUER 2005), stellt sich die Frage, wie sich dieser Abbau im Raum darstellt. Die folgende Untersuchung möchte einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten und auf der Grundlage spontansprachlicher Daten aus dem Erhebungsgebiet des „Südwestdeutschen Sprachatlas“ ermitteln, wo sich konservative bzw. innovative Areale innerhalb des untersuchten südwestdeutschen Dialektgebietes ergeben. Die Herangehensweise basiert auf interpolierten, mit der Statistik-Software „R“ geplotteten Karten. Das Ziel der Arbeit liegt nicht nur darin, hinsichtlich einzelner phonologischer Phänomenbereiche (wie z. B. der Diphthongierung von mhd. î) konservative und innovative Dialektareale innerhalb Südwestdeutschlands zu identifizieren. Vielmehr sollen insgesamt fünfzehn verschiedene phonologische Phänomene in Form einer aggregierten Analyse betrachtet werden, um einen möglichst objektiven, nicht auf vorheriger Selektion beruhenden Eindruck der Gesamtvariation im Vokalismus zu erhalten. Gegen eine spezifische Datenselektion, die als wichtig erachtete Unterschiede hervorheben soll, sprechen sich im Rahmen ihrer Untersuchung zum Verhältnis der englischen Varietäten Großbritanniens auch M AGUIRE / M C M AHON (2010) aus.198

197 Das vorliegende Kapitel zu innovativen vs. konservativen Dialektgebieten stellt eine leicht modifizierte Version des Aufsatzes von S CHWARZ (2012a) dar. 198 Die folgenden Analysen sind in engem Zusammenhang mit S TRECK (2012a; 2012b) sowie AUER / S TRECK (2012) zu sehen, deren Analysen teilweise auf denselben spontansprachlichen Daten beruhen. Sie nehmen eine dialektometrische Perspektive ein, die Dialektgebiete auf der Grundlage phonetischer Ähnlichkeiten definiert, während die hier vorgestellten Kartenbilder die Variation zwischen dialektnahen und dialektfernen Formen hervorhebt.

12.5 Innovative vs. konservative Dialektgebiete

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12.5.2 Methode Für die Herausarbeitung von innovativen und konservativen Dialektgebieten werden die spontansprachlichen Daten mit Hilfe des Statistik-Programms „R“ kartografisch als Farbinterpolationen dargestellt. Dies wird im Folgenden nicht mit einzelnen phonologischen Phänomenen vorgenommen, sondern es wird ein aggregierter Gesamtplot aller fünfzehn untersuchten Phänomene erstellt und diskutiert. Die interpolierte Darstellung der geografischen Distribution von Variablen hat den Vorteil, dass die prozentuale Gebrauchshäufigkeit einer bestimmten Variable in Bezug zu den übrigen auftretenden Variablen über das gesamte Untersuchungsgebiet hinweg besser beurteilt werden kann. Außerdem kann durch die feinkörnige Skalierung die Unterscheidung von konservativen und innovativen Gebieten besser vorgenommen werden. Die Gesamtinterpolation beruht auf dem geostatistischen Verfahren des Kriging, das im einleitenden Kapitel 2.3.5 beschrieben ist. Die Erstellung einer Gesamtinterpolation erfolgt auf der Grundlage der 16 in Tabelle 12.1 (Abschnitt 12.2.1.2) beschriebenen extrahierten Variationsgebiete, die sich auf 15 phonologische Phänomene beziehen und sich über das gesamte Untersuchungsgebiet verteilen.199 Natürlich ergibt ein Overlay der Variationsgebiete, bedingt durch ihre unterschiedliche Position und Größe, keine völlig homogene Datendichte innerhalb des Untersuchungsgebietes. Die Analyse der 16 übereinander geschichteten Variationsgebiete ergibt jedoch, dass im Untersuchungsgebiet eine Deckung von wenigstens sieben Schichten vorliegt. Die recht homogene Deckung geht ebenfalls aus der in Abbildung 12.15 durch Graustufen symbolisierten Deckungsgrad der Variationsgebiete hervor.200 Weiterhin ist aus dem Overlay ersichtlich, dass die als schwarze Linien eingezeichneten Außenränder (d. h. Isoglossen) der Variationsgebiete ein prägnantes Isoglossenbündel bilden, das das Schwäbische von den übrigen alemannischen Dialekten abtrennt.201 Hinsichtlich der Frage nach der Operationalisierung von „konservativ“ und „innovativ“ ist diese äquivalent zur bereits im Datenkorpus vorgenommenen Operationalisierung des Faktors Variation in Form der Ausprägungen „dialektnah“ vs. „dialektfern“. Wie in Abschnitt 12.2.1.1 bereits beschrieben, folgt die Annotation der Kodierungen dem Kriterium, ob eine Realisierung der traditionellen Lautung des jeweiligen Ortspunktes entspricht („dialektnah“) oder ob sie von dieser, in welcher Form auch immer, abweicht („dialektfern“). Die Annotation „dialektnah“ ist demnach mit „konservativ“ gleichzusetzen, das Attribut „dialektfern“ mit „innovativ“. Ob ein bestimmter Ortspunkt oder eine Region insgesamt konservativ oder innovativ erscheint, wird aus dem prozentualen Verhältnis von dialektnahen zu dialektfer199 Wie in Abschnitt 12.2.1.2 bereits erläutert, wurden die Variationsgebiete gemäß den Isoglossenverläufen in den Wenker- und SSA-Abfragedaten extrahiert. 200 Eine Ausnahme bildet der äußerste Nordwesten des Untersuchungsgebietes, wo die Deckung der Variationsgebiete geringer ist. Aus methodischer Sicht kommt für das nordwestlichste Teilstück erschwerend hinzu, dass hier die Grenze des SSA-Erhebungsgebietes verläuft und somit kaum bzw. keine Erhebungsorte vorhanden sind. 201 In der folgenden Diskussion wird auf die drei Dialekte Hoch-, Nieder- und Bodenseealemannisch zusammenfassend mit dem Terminus Alemannisch referiert.

Abb. 12.15: Overlay der 16 Variationsgebiete gemäß W ENKER und SSA-Abfrage. Deutlich erkennbar ist das von Nordwesten nach Südosten ausfasernde Isoglossenbündel, das den schwäbischen vom übrigen alemannischen Dialektraum abtrennt.

508 Statistische Aggregatanalysen

12.5 Innovative vs. konservative Dialektgebiete

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nen Tokens ersichtlich; dieses Verhältnis dient entsprechend als Maß für Konservativität. Weiterhin soll darauf hingewiesen werden, dass „dialektnah“ nicht invers zu „standardnah“ zu verstehen ist. Schließlich kann eine phonologische Realisierung zugleich dialektnah als auch standardnah sein, wie beispielsweise die Realisierung [aI] (in heiß, heim, Fleisch) als Reflex von mhd. ei im westlichen Untersuchungsgebiet zeigt (vgl. Kapitel 4).

12.5.3 Ergebnis und Diskussion In die Gesamtinterpolation sind insgesamt 21.220 innerhalb der Variationsgebiete enthaltene Tokens eingeflossen. Der entsprechende Plot ist in Abbildung A.14 zu sehen. Er zeigt die Gebrauchshäufigkeit der dialektnahen Tokens in Bezug zu den dialektfernen innovativen Realisierungen. Bei den dialektnahen Tokens innerhalb der Variationsgebiete handelt es sich um die rückläufigen, von Abbauerscheinungen betroffenen Realisierungen. Diejenigen Gebiete, die in der Gesamtinterpolation in roter Färbung erscheinen, dürfen demnach als konservativ gelten, während diejenigen, die in grün oder blau gefärbt sind, innovative Gebiete darstellen, die von starker Variation und damit Lautwandel betroffen sind. In der Gesamtinterpolation treten zwei konservative Gebiete deutlich hervor: Zum einen handelt es sich dabei um den südwestlichen Teil des Untersuchungsgebietes sowie um ein östliches Gebiet um Biberach. Betrachtet man das westliche Gebiet genauer, so beträgt die Gebrauchshäufigkeit von dialektnahen Tokens zwischen Offenburg und Freiburg ca. 70–80 %, die Region ist also bereits durch deutliche Variation gekennzeichnet, dialektnahe Realisierungen sind aber noch häufiger vertreten als dialektferne Tokens. Weiter nach Süden steigt die Konservativität an und erreicht südlich von Freiburg ca. 90 %. Im äußersten Süden liegt die Gebrauchshäufigkeit dialektnaher Tokens zwischen Lörrach und Waldshut gar bei annähernd 100 %. Dieses südlichste Gebiet fiel im Rahmen der Untersuchung einzelner phonologischer Phänomenbereiche wiederholt durch seine ausgeprägte Resistenz gegenüber lautlichen Neuerungen auf. Gründe für den konservativen Charakter dieser Region haben vermutlich mit der Nähe zur Schweiz zu tun, von der keine innovativen Impulse auf das südliche Untersuchungsgebiet zu erwarten sind. Vielmehr dürfte sich die deutschsprachige Schweiz bewahrend auf das südwestlichste Untersuchungsgebiet auswirken, da sie zum alemannischen Dialektkontinuum gehört und dialektal ausgesprochen konservativ ist. Der größte Bereich des Untersuchungsgebietes ist durch Areale geprägt, die durch besonders starke Variation zwischen dialektnahen und dialektfernen Tokens auffallen. Sie bilden einen breiten Streifen zwischen den beiden ost-westlich gegenüberliegenden konservativen Gebieten. Das im Osten liegende konservative Areal befindet sich in seiner nord-südlichen Ausbreitung in etwa zwischen Ravensburg und Ulm, nach Westen reicht es bis ca. auf Höhe von Sigmaringen und Tübingen. Auffällig im Vergleich zum westlich gelegenen konservativen Gebiet ist die geringere Konservativität. Im Zentrum des Ge-

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Statistische Aggregatanalysen

bietes um Biberach reicht der prozentuale Anteil an dialektalen Tokens bis ca. 80 % und fällt zu den Rändern hin auf einen Wert zwischen 60–70 % ab. Die geografische Lage der beiden konservativen Gebiete ist nicht zufällig. Es fällt auf, dass sie sich jeweils in den zentralen Bereichen der beiden das Untersuchungsgebiet prägenden Hauptdialekte Alemannisch und Schwäbisch befinden. Dialektabbau vollzieht sich demnach geografisch nicht willkürlich, sondern bewegt sich tendenziell von den Rändern (Isoglossen) eines Dialektgebietes hin zu dessen Zentrum bzw. den am weitesten von den Isoglossen gelegenen Räumen. Die horizontale Komponente von Lautwandel ist dabei nicht nur in der vorliegenden Gesamtanalyse erkennbar, sondern konnte auch für einzelne Phänomenbereiche nachgewiesen werden (vgl. Kapitel 12.3 sowie AUER / BAUMANN / S CHWARZ 2011). Wie aus Abbildung A.14 und den Versuchen der Dialektuntergliederung Baden-Württembergs hervorgeht (vgl. M AURER 1942; S TEGER / JAKOB 1983), wird das alemannische und das schwäbische Dialektgebiet durch ein ausgeprägtes Isoglossenbündel voneinander getrennt (siehe auch Abbildung 12.15). Horizontal wirkende Lautwandelprozesse, die entlang dieser Isoglossenverläufe wirken, dürften demnach für den in der Gesamtinterpolation erkennbaren breiten Variationsraum zwischen den beiden konservativen Arealen verantwortlich sein. Aus dem Befund des breiten Variationsraums und der horizontal wirkenden Wandelprozesse ergibt sich folgende Frage: Ist die Variation in diesem Zwischengebiet auf die Ausbreitung alemannischer Dialektmerkmale im Schwäbischen zurückzuführen oder umgekehrt auf die Ausbreitung schwäbischer Dialektformen im traditionell alemannischen Dialektgebiet? Um diese Frage zu beantworten, sind in Tabelle 12.4 diejenigen etymologischen Lautklassen aufgeführt, deren dialektale Reflexe sich im Schwäbischen und Alemannischen traditionell unterscheiden und somit Isoglossen zwischen den beiden Dialekten bilden.202 Weiterhin ist in der Tabelle aufgeführt, in welche Richtung der Lautwandel jeweils wirkt, ob also die schwäbische Lautung tendenziell die Alemannische ersetzt oder umgekehrt. Tabelle 12.4 ist weiterhin zu entnehmen, dass keine unidirektionale Richtung des Lautwandels zu identifizieren ist. Die Reflexe der elf relevanten phonologischen Phänomene breiten sich in sechs Fällen tendenziell vom Schwäbischen ins Alemannische aus, in fünf Fällen vom Alemannischen ins Schwäbische. Die Richtung des Lautwandels folgt offensichtlich einem einfachen Prinzip: Es breitet sich diejenige phonologische Realisierung aus, die identisch mit oder ähnlich der standardsprachlichen Realisierung ist. Die überdachende Standardsprache und ihr vertikaler Einfluss auf die Basisdialekte stellt also den entscheidenden Steuerungsfaktor bei der horizontalen Ausbreitung einer phonologischen Variable dar. Der Lautwandel innerhalb des Untersuchungsgebietes ist demnach (in den meisten Fällen) als eine Kombination aus horizontalem und vertikalem Wandel zu verstehen, wobei die standardsprachliche Form die Richtung des Lautwandels vorgibt und einer pho202 Natürlich bilden die wenigsten untersuchten Phänomene Isoglossen, die der Grenzziehung zwischen Alemannisch und Schwäbisch durch die Dialektuntergliederungsversuche Südwestdeutschlands genau entsprechen. Die Zuordnung einzelner dialektaler Reflexe zu einem der beiden Dialektgebiete ist entsprechend grob und richtet sich danach, welchen der beiden Dialekträume sie größtenteils einnehmen.

12.5 Innovative vs. konservative Dialektgebiete

Phonologisches Phänomen Diphthongierung mhd. î Diphthongierung mhd. û Diphthongierung mhd. iu Realisierung mhd. ou Dehnung offene Silbe Einsilblerdehnung Diphthongierung mhd. ô Diphthongierung mhd. ê Realisierung mhd. â (Ausl.) Realisierung mhd. ei Realisierung mhd. ë

Richtung des Lautwandels S→A S→A S→A S→A S→A S→A A→S A→S A→S A→S A→S

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Innovative Form [aI] (z. B. Ziit → Zait) [aU] (z. B. Huus → Haus) [aI] (z. B. Liit → Lait) [aU] (z. B. Frou → Frau) Langvokal (z. B. sagen → saagen) Kurzvokal (z. B. baald → bald) [o:] (z. B. grauß → groß) [e:] (z. B. Schnee → Schnai) [aU] (z. B. bloo → blau) [aI] (z. B. hoaß / hoiß → haiß) [E(:)] (z. B. schleacht → schlecht)

Tab. 12.4: Lautliche Unterscheidungsmerkmale zwischen dem alemannischen und schwäbischen Dialektraum sowie deren Ausbreitungsrichtungen. A = Alemannisch, S = Schwäbisch. nologisch identischen oder ähnlichen im Basisdialekt verankerten Form im Sinne eines Synergieeffektes Vorschub leistet. Dieser Effekt tritt besonders in Isoglossennähe ein und nimmt mit zunehmender Entfernung von der Isoglosse logarithmisch ab (vgl. Kapitel 12.3 sowie AUER / BAUMANN / S CHWARZ 2011).203 Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnis sind die Gesamtinterpolation und die darin erkennbaren konservativen und innovativen Gebiete besser interpretierbar. Das breite Variationsgebiet kommt dadurch zustande, dass entlang dieses Areals eine ganze Reihe von Isoglossen verlaufen, die das Schwäbische vom Alemannischen abtrennen. Besonders entlang der Isoglossen kommt es bedingt durch den kombinierten vertikalen und horizontalen Wandel zu starker Variation, die sich in der Gesamtinterpolation bemerkbar macht. Aufgrund der Steuerung des Lautwandels durch die Standardsprache fungieren in erster Linie deren Realisierungen als Ersatzlaute. Ihr prozentualer Anteil beträgt, wie der Gesamtinterpolation zu entnehmen ist, entsprechend ca. 50 %. Variation und somit auch Lautwandel haben demzufolge in diesem Gebietsstreifen ihren Höhepunkt erreicht und dürften die traditionellen Lautungen zunehmend ersetzen, sollte der Wandel den üblichen wellenförmigen 203 Der allgemeine Zusammenhang von linguistischer Variation und geografischer Distanz wurde in der quantitativen Linguistik bereits mehrfach nachgewiesen. Vgl. hierzu die nach S ÉGUY (1971) benannte Kurve, die linguistische Variation als logarithmische Funktion von geografischer Distanz beschreibt, sowie N ERBONNE (2010), dessen dialektometrische Untersuchungen zu verschiedenen Sprachen ebenfalls eine logarithmisch abnehmende linguistische Ähnlichkeit mit zunehmender geografischer Distanz ergeben. Die Messungen dieser Untersuchungen gehen zwar nicht von den Abständen zwischen den einzelnen Ortspunkten und den jeweiligen Isoglossen aus, sondern (noch allgemeiner) von den Abständen zwischen den einzelnen Ortspunkten zu allen anderen Ortspunkten. Dennoch stellt sich der Zusammenhang von geografischer Distanz und Variation / linguistischer Ähnlichkeit offenbar unabhängig vom angewandten Verfahren in Form einer logarithmischen Funktion dar.

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Statistische Aggregatanalysen

Verlauf nehmen (vgl. A ITCHISON 1994). Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass innerhalb des Variationsstreifens die übrigen 50 % der Tokens (also die traditionellen Formen des Dialekts) noch vorhanden sind und das alte Raumbild von Alemannisch im Westen und Schwäbisch im Osten weiter aufrechterhalten. Dies hat S TRECK (2012a; 2012b) auf der Grundlage von dialektometrischen Analysen nachgewiesen, denen neben den hier verwendeten Daten außerdem diejenigen aus dem Konsonantismus zugrunde liegen. In der Gesamtinterpolation wird das traditionelle Raumbild lediglich durch die beiden konservativen Restgebiete deutlich. Durch ihre größere Entfernung von den das Alemannische und Schwäbische trennenden Isoglossen können sie sich weiter behaupten, denn abseits dieser Trennlinien tritt der Synergieeffekt zwischen horizontalem und vertikalem Wandel nicht in Erscheinung.

12.5.4 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde auf der Grundlage des spontansprachlichen Gesamtkorpus ein methodischer Ansatz entwickelt, der die Unterscheidung von phonologisch konservativen und innovativen Gebieten innerhalb des Untersuchungsgebietes ermöglicht. Die Visualisierung erfolgte mit Hilfe von Interpolationen, die auf der Grundlage des sog. Kriging-Verfahrens als grid plots erstellt wurden. Als Maß für die Konservativität eines bestimmten Gebietes diente der prozentuale Anteil an dialektnahen (d. h. an einem bestimmten Ortspunkt traditionell auftretenden) Realisierungen. Im Ergebnis konnten zwei konservative Regionen im Untersuchungsgebiet identifiziert werden: Ein im Südwesten, im zentralen Bereich des Alemannischen gelegenes sowie ein östliches Gebiet, das sich im zentralen Bereich des Schwäbischen befindet. Zwischen den beiden Gebieten erscheint ein breiter Streifen, der durch eine maximale Variation (ca. 50 %) zwischen dialektnahen und dialektfernen Tokens gekennzeichnet ist. Die Analyse dieses Befundes ergab, dass die Variation weder durch die unidirektionale Ausbreitung des Schwäbischen noch des Alemannischen zustande kommt, sondern dass, je nach phonologischer Realisierung, entgegengesetzte Ausbreitungstendenzen beobachtet werden können. Als entscheidender Faktor für die Ausbreitungsrichtung einzelner phonologischer Variablen stellte sich dabei die phonologische Ähnlichkeit mit der standardsprachlichen Realisierung heraus. Demnach sind (zumindest auf der Grundlage der hier ausgewerteten Daten aus dem Vokalismus) weder das Schwäbische noch das Alemannische als „dominante“ Dialekte zu charakterisieren, von denen einer den anderen in unidirektionaler Weise abbauen würde. Vielmehr bedingt der vertikale Einfluss des Standards die zunehmende Übernahme standardsprachlicher Realisierungen, und zwar besonders in Kombination mit dem horizontalen Einfluss einer benachbarten dialektalen Realisierung, die der standardsprachlichen Form phonologisch ähnlich ist.

12.6 Der Faktor Geschlecht

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12.6 DER FAKTOR GESCHLECHT 12.6.1 Einleitung und theoretische Einbettung Bei den ca. 850 Gewährspersonen, die im spontansprachlichen Aufnahmekorpus enthalten sind, handelt es sich um NORMs und NORFs, d. h. um die typische, zur Erhebung des ältesten noch greifbaren Dialekts relevante Sprechergruppe. Soziolinguistische Variablen wurden bei diesen Gewährspersonen stabil gehalten. So handelt es sich durchweg um sesshafte, in ihrer jeweiligen dörflichen Umgebung fest verankerte Personen (non mobile, rural), die allesamt die älteste Sprecherschicht repräsentieren (old) und in einem landwirtschaftlichen beruflichen Umfeld arbeiten. Die einzige soziolinguistische Variable, die im vorliegenden Korpus variiert, ist das Geschlecht der Gewährspersonen. Im spontansprachlichen Korpus handelt es sich bei ca. einem Drittel der Gewährspersonen um Frauen. S CHRAMBKE (1993, 44–45) ging auf den Faktor Geschlecht ein, der ihr während der Erhebungen zum „Südwestdeutschen Sprachatlas“ als relevant aufgefallen war. Während der Dialektabfrage entstand der Eindruck, dass sich Frauen im Gegensatz zu Männern als die „kompetenteren“ Gewährspersonen erwiesen.204 Von S CHRAMBKE werden drei mögliche Gründe für diesen Eindruck genannt: Zum einen hat sich das Leben der Frauen ein Leben lang auf Hof und Haushalt konzentriert, weswegen sie über weniger Register der Ortsmundart verfügten (höhere Sprachlagenkonstanz). Weiterhin sei das Repertoire an Erinnerungsformen bei weiblichen Gewährspersonen größer, da diese sich durch die stärkere Einbindung in die Familie besser an die Sprechweise von Eltern und Großeltern erinnern könnten. Der dritte Punkt betrifft das bessere „Sprachgefühl“ der weiblichen Gewährspersonen. Gemäß S CHRAMBKE (1993, 45) sei es leichter gewesen, den Frauen „linguistische Fragestellungen, die eigene Mundart betreffend, bewusst zu machen und mit ihnen darüber zu diskutieren“, als dies bei männlichen Gewährspersonen der Fall war. Die erwähnten Erfahrungen der Exploratoren beziehen sich allesamt auf das Elizitieren von Dialekt. Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern beruhen also nicht auf spontansprachlichen Äußerungen, sondern auf der Fähigkeit der Gewährspersonen, auf ihr sprachliches Wissen bewusst zugreifen zu können. Reichhaltige Ergebnisse zum Zusammenhang von Variation und der Variable Geschlecht finden sich in soziolinguistischen Studien. Die Analysen weisen hierbei gerade den umgekehrten Effekt auf. So führen C HAMBERS / T RUDGILL (2005) eine Reihe von Befunden aus soziologischen Studien an (die meisten stammen aus Großbritannien) und konstatieren: „women tend on average to use more higher status variants than men do. Indeed, this is perhaps the most strikingly consistent finding of all to emerge from sociolinguistic dialect studies in the industrialised western world“ (C HAMBERS / T RUDGILL 2005, 61). Mit „higher status variants“ meinen die Autoren standardsprachliche Formen, die von Frauen gemäß der aufgeführten empirischen Belege häufiger gebraucht werden als von Männern. Der Effekt ist offenbar in allen Altersklassen belegt, selbst bei Kindern. L ABOV (2001) bestä204 Diese Erfahrung wurde auch schon im Rahmen früherer Dialekterhebungen gemacht, wie beispielsweise die Ausführungen von JABERG / J UD (1928, 189–190, 194) zeigen.

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tigt den häufigeren Gebrauch von standardsprachlichen (prestigereicheren) Formen durch Frauen und formuliert den Zusammenhang als Prinzip: “For stable sociolinguistic variables, women show a lower rate of stigmatized variants and a higher rate of prestige variants than men.“ (L ABOV 2001, 266). Er untermauert dieses Prinzip durch eine Vielzahl von Ergebnisdarstellungen aus den unterschiedlichsten Sprachgemeinschaften der Welt und erwähnt nur wenige Fälle, in denen gegenteilige Tendenzen vorzufinden sind. Als Erklärung für die häufigere Verwendung von Prestigevarianten durch Frauen vermutet Labov eine höhere Sensibilität in Bezug auf die soziale Bewertung von Sprache und sprachliche Variablen. Ihm zufolge reagieren Frauen weit empfindlicher auf Prestige oder Stigma als Männer und wählen, je nach Situation, die als sozial prestigereicher geltende Variable. Es geht hier also um eine Operationalisierung der unabhängigen Variable als soziale Größe „prestigereich“ vs. „prestigearm“, die durch ein sprachliches Zeichen symbolisiert wird. Entsprechend ist bei der unabhängigen Variable nicht von einer naturgegebenen biologischen Größe (sex) auszugehen, sondern von einer „complex social construction of sex“ (E CKERT 1989, 245), d. h. von einem sozialen Geschlecht (gender).205 Dieser Annahme steht der Ansatz C HAMBERS ’ (2003; 2008) entgegen, der die Größe Geschlecht nicht als soziales Konstrukt sieht, sondern als eine biologische Größe, die direkt mit dem linguistischen Verhalten zusammenhängt. Frauen verfügen demnach per se über einen höheren Grad an linguistischer Anpassungsfähigkeit, d. h. sie können ihren Sprachstil besser an die äußeren Erfordernisse „heranshiften“. Diesen Ansatz versucht Chambers durch verschiedene (neuro)psychologische Studien zu unterfüttern, in denen Männern beispielweise eine höhere Anfälligkeit für Sprachstörungen attestiert wird (vgl. K IMURA 1983). Die direkte Verknüpfung der biologischen Variable Geschlecht mit linguistischem Verhalten wird in der soziolinguistischen Literatur jedoch meist entschieden abgelehnt (vgl. E CKERT 1989, L A BOV 1990, ROMAINE 2005). Im Folgenden sollen die Ergebnisse zum Faktor Geschlecht vorgestellt und im Rahmen der oben erwähnten Erklärungsansätze diskutiert werden. Auf der Grundlage der erwähnten Forschungsergebnisse und Beobachtungen ist es schwierig sich für eine Hypothese zu entscheiden. Die Beobachtungen von S CHRAMBKE (1993) lassen ein tendenziell dialektaleres Verhalten der weiblichen Gewährspersonen vermuten. Diese Annahme erscheint plausibel, da es sich zum größten Teil um die gleichen Gewährspersonen wie in der vorliegenden Analyse handelt. Andererseits sind spontansprachliche Interviews die Grundlage der hier ausgewerteten Daten und nicht abgefragte, wissensbasierte Sprachbelege. Hinsichtlich des Formats der vorliegenden Daten sind diese denjenigen der erwähnten soziolinguistischen Studien ähnlicher und lassen dahingehend eine stärkere Neigung der weiblichen Gewährspersonen zu standardsprachlichen (prestigereicheren) Realisierungen vermuten.

205 In der vorliegenden Untersuchung kann sich der Terminus Geschlecht sowohl auf die biologische als auch soziale Ausprägung beziehen. Eine genauere Unterscheidung wird nur vorgenommen, wenn die Ergebnisdiskussion dies erfordert.

12.6 Der Faktor Geschlecht

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12.6.2 Ergebnisse und Diskussion Der Faktor Geschlecht und sein Zusammenhang mit der abhängigen Variable Variation (operationalisiert als „dialektnah“ vs. „dialektfern“) wird in einem gemischten logistischen Regressionsmodell analysiert. Es enthält die gleichen fixed factors und random factors, die in den Modellen zur Analyse der beiden Faktoren Isoglossenabstand (vgl. Kapitel 12.3) und morphologische Komplexität (vgl. Kapitel 12.4) enthalten sind. Die Effektgrößen, die der Faktor Geschlecht als Prädiktor aufweist, sind in Abbildung 12.16 zu sehen. Wie im Fall der morphologischen Komplexität handelt es sich auch beim Faktor Geschlecht um eine kategoriale Variable, die nur zwei Ausprägungen hat (weiblich vs. männlich). Aus diesem Grund wurde auch hier der Kontrast zwischen den beiden Ausprägungen geplottet. Der aufgetragene Regressionskoeffizient stellt dementsprechend dar, wie sehr die Differenz von weiblich vs. männlich mit dialektnahen Realisierungen zusammenhängt. Auf der y-Achse ist für die abhängige Variable nach oben (positive Werte) „dialektnah“ aufgetragen, nach unten (negative Werte) „dialektfern“. Ergibt sich für die unabhängige Variable Geschlecht ein positiver Wert, so heißt dies, dass „weiblich“ ein Prädiktor für „dialektnah“ darstellt. Eine Berechnung ist für dreizehn der untersuchten Variationsgebiete möglich und ergibt für alle der untersuchten phonologischen Phänomene Vorhersagekraft des weiblichen Geschlechts für das Kriterium „dialektnah“, die in neun Fällen signifikant wird. Somit stellt der Faktor Geschlecht den fixed factor mit dem höchsten Anteil signifkanter Ergebnisse dar. Die p-Werte für die einzelnen Phänomene lauten folgendermaßen: ESD: p < .05, DOS: p < .05, mhd. ë: p < .001, mhd. ei [O5]: p < .05, mhd. ei [OI]: p < .01, mhd. î: p < .05, mhd. iu: p < .01, mhd. ô: p < .05, mhd. uo: p < .001. Die phonologischen Phänomene mhd. ie, ou, ü und û erreichen keine signifkanten Werte. Die Ergebnisse entsprechen den Befunden, die die Exploratoren klassischer dialektologischer Erhebungen gewonnen haben (vgl. S CHRAMBKE 1993, 45). Es stellt sich nun die Frage, wie die stärkere Neigung der weiblichen Gewährspersonen zur Dialektalität zu deuten ist und zu welchem der oben beschriebenen Erklärungsansätze für geschlechtsspezifische Unterschiede phonologischer Variation die vorliegenden Befunde am besten passen. Ein Faktor, der sich hierzu überprüfen lässt, ist die Gesprächssituation (Setting), in dem das Interview stattfand. Im Korpus der spontansprachlichen Daten gibt es 19 Aufnahmen, bei denen es sich um Selbstaufnahmen der Gewährspersonen handelt, d. h. es sind keine Exploratoren anwesend. Die Gespräche bestehen dabei aus Dialogen sowie Erzählmonologen, in denen meist zwei miteinander vertraute Personen aus einer Ortschaft zusammen eine Aufnahme durchführen. Sollte sich bei der Betrachtung dieser Aufnahmen der gleiche Effekt zeigen, wie bei den Aufnahmen mit anwesendem Explorator, so kann daraus geschlossen werden, dass weibliche Gewährspersonen tatsächlich eine höhere Sprachlagenkonstanz aufweisen und durch die stärkere Bindung an Haus und Familie über ein umfangreicheres Repertoire an dialektalen Formen verfügen als Männer. Verschwindet der Effekt, so stellt die höhere linguistische Anpassungsfähigkeit der weiblichen Informanten an die Erfordernisse der Aufnahmesituation (Erhebung des

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Statistische Aggregatanalysen

Abb. 12.16: Effektgrößen des Faktors Geschlecht mit Standardabweichung. Je größer der Regressionskoeffizient, umso stärker ist der Kontrast von weiblich zu männlich bezüglich der Realisierung von dialektnahen Tokens.

12.7 Situative Faktoren

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örtlichen Dialekts) eine mögliche Interpretation dar. Ebenso kann ein solches Ergebnis aber auch darauf hinweisen, dass sich Frauen in beiden Settings linguistisch gleich verhalten, während Männer bei Abwesenheit des Explorators stärker zur Verwendung dialektaler Formen neigen und somit für das Verschwinden des Effekts sorgen. Methodisch wurde folgendermaßen vorgegangen: Für das Korpus der 19 Aufnahmen wurde ein gemischtes logistisches Modell gerechnet, in dem die bereits genannten fixed factors und random factors enthalten sind. Da die Tokenfrequenz innerhalb der 19 Aufnahmen zu gering war, um Berechnungen nach einzelnen phonologischen Phänomenen vorzunehmen, wurde über alle Daten hinweg gerechnet und das phonologische Phänomen als random factor in das Modell einbezogen. Das Modell wurde gefittet, indem einmal nur der fixed factor Geschlecht einbezogen wurde und einmal alle fixed factors. Beide Berechnungen ergaben gleichermaßen nicht-signifikante Ergebnisse für den Faktor Geschlecht. Es zeigt sich demnach, dass die geschlechtsspezifische Variablenwahl mit der Anwesenheit von Exploratoren auftritt und bei Abwesenheit von Exploratoren verschwindet. Das sprachliche Verhalten ist also ein soziales Konstrukt, dass sich aus dem Verhältnis zwischen den Anwesenden in einer Erhebungssituation ergibt. Ob es aber die weiblichen oder die männlichen Gewährspersonen sind, die bei Anwesenheit eines Explorators von ihrer ansonsten ähnlichen dialektalen Sprechweise abweichen, kann den Analyseergebnissen nicht entnommen werden. Es besteht einerseits die Möglichkeit, dass Frauen sich unabhängig von der Situation dialektal gleich verhalten und die Männer diejenigen sind, die bei Anwesenheit eines Explorators dialektferne (oftmals standardnahe) Variablen wählen. Andererseits können die Unterschiede darauf zurückzuführen sein, dass Männer sich unabhängig von der Kommunikationssituation dialektal gleich verhalten und die Frauen sich bei Anwesenheit eines Explorators dialektaler artikulieren.

12.7 SITUATIVE FAKTOREN Im vorhergehenden Kapitel wurde gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Faktor Geschlecht und der Anwesenheit eines Explorators während der Aufnahme besteht. Situative Faktoren scheinen also eine gewisse Rolle bei der Erhebung zu spielen und wurden aus diesem Grund im Rahmen der statistischen Analysen berücksichtigt. Generell lässt sich zu diesem Einflussfaktor sagen, dass sich nur marginal signifikante Ergebnisse ergaben. So wurde überprüft, ob die Anzahl der Exploratoren, die während einer Aufnahme anwesend sind, Einfluss auf das sprachliche Verhalten der Gewährspersonen haben. Diese Untersuchung erbrachte im Rahmen eines gemischten logistischen Regressionsmodells für nur zwei phonologische Phänomene signifikante Ergebnisse, die der Hypothese entsprechen, wonach der Anteil dialektnah realisierter Tokens umso geringer wird, je mehr Exploratoren anwesend sind.206 Entsprechendes wurde mit der Anzahl an Gewährspersonen berech206 Es wurde das volle Modell gerechnet, in das zusätzlich zu den in Abschnitt 12.3.3.2 genannten Faktoren die Anzahl der Exploratoren sowie die Anzahl der Gewährspersonen als fixed factors integriert sind.

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Statistische Aggregatanalysen

net, die während der Aufnahme anwesend sind. Hier ergab sich erwartungsgemäß der gegenteilge Effekt, d. h. der Anteil dialektnaher Tokens steigt mit zunehmender Anzahl an Gewährspersonen. Allerdings wurden auch für diese Analyse nur im Falle von drei phonologischen Phänomenen signifikante Ergebnisse erreicht. Weiterhin wurde der Faktor „Explorator“ als random factor im gemischten logistischen Modell untersucht, um etwaige individuelle Einflüsse zu untersuchen, die einzelne Exploratoren womöglich auf das Äußerungsverhalten der Informanten haben. Für diese Hypothese ergab sich kein signikanter Zusammenhang mit der abhängigen Variable Variation.

12.8 REZENZ-EFFEKTE 12.8.1 Einleitung Während der Analyse des spontansprachlichen Korpus fiel auf, dass die untersuchten Lexeme häufig in Clustern auftreten und sequenziell nicht gleichmäßig über eine Aufnahme verteilt sind. Ein Beispiel für ein solches Cluster stellt der folgende Transkriptausschnitt dar:

Abb. 12.17: Transkriptausschnitt aus der Tonaufnahme „gutmadingen_badwb“ (668.9 – 674.7). Die Gewährsperson äußert innerhalb eines Satzes drei mal das Wort über, das zur Analyse der Entrundung von mhd. ü dient. Dabei werden alle drei Tokens standardnah, d. h. gerundet artikuliert ([y-]) und weisen somit eine Lautung auf, die für die betreffende Ortschaft Gutmadingen (Lkr. Tuttlingen) nicht zu erwarten ist, da diese innerhalb des traditionellen Entrundungsgebietes liegt. Die Gewährsperson äußert während der gesamten Aufnahme insgesamt 14 mal das Wort über, wobei in sechs Fällen der gerundete Vokal gewählt wird. Es dürfte also kaum Zufall sein, dass die Hälfte aller gerundeter Tokens innerhalb von nur sechs Sekunden auftreten. Vielmehr scheinen die gerundeten Formen durch die jeweils vorangehenden gerundeten Realisierungen ausgelöst worden zu sein, ein Effekt, der im Folgenden mit dem Terminus „Rezenz“ bezeichnet wird. Es stellt sich die Frage, ob solche Effekte, sollten sie vermehrt auftreten, die Variation im spontansprachlichen Korpus (und damit auch den Sprachwandel) beeinflussen. Ob dies der Fall ist, soll die folgende Analyse zeigen.207 207 Das vorliegende Kapitel zu Rezenz-Effekten stellt eine leicht modifizierte Version von S CHWARZ (2012b) dar.

12.8 Rezenz-Effekte

519

12.8.2 Theoretische Einbettung Empirische Untersuchungen zu phonologischer Rezenz in der Spontansprache liegen m. E. noch nicht vor. Im Rahmen von variationslinguistischen Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch fanden Rezenz-Effekte bislang ebenfalls keine Beachtung. Rezenz wurde jedoch im Rahmen einer Vielzahl psychologischer und psycholinguistischer Experimente untersucht. Es ging dabei in erster Linie darum, zu bestehenden Sprachproduktions- bzw. Gedächtnisspeichermodellen beizutragen und diese durch einschlägige Experimente zu verifizieren. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den unterschiedlichen Ebenen der sprachlichen Enkodierung zu, wobei bei den beteiligten Teilprozessen u. a. nach lexikalischer, syntaktischer und phonologischer Ebene unterschieden wird. Durch Experimente wurde untersucht, welche Relevanz jeder Ebene bei der Sprachproduktion zukommt, in welcher Reihenfolge die Ebenen aktiviert werden und in welcher Hinsicht sie sich gegenseitig bedingen (vgl. S PADA 2006). Bezüglich der auftretenden Rezenz-Effekte haben besonders Untersuchungen der syntaktischen Ebene immer wieder eine gleichgerichtete Tendenz zur Wiederholung einer zuvor genannten Phrase ergeben (vgl. B OCK 1986; S ZMRECSANYI 2001/02; zusammenfassend N ICOL 1996).208 Interessante Erkenntnisse zu lexikalischer Rezenz haben Untersuchungen von H ARTSUIKER et al. (2008) erbracht. Aus ihren Experimenten geht hervor, dass ein syntaktischer PrimingEffekt durch identische Lexeme im primenden und dem geprimten Satz verstärkt wird. Allerdings ist die lexikalische Verstärkung (boost) des syntaktischen PrimingEffekts nur von kurzer Dauer, während der syntaktische Priming-Effekt länger andauert. Phonologische Rezenz und ihre Bedeutung für das Kurzzeitgedächtnis untersuchte vor allem BADDELEY (1966, 1993). Er fand heraus, dass die akustische Ähnlichkeit von Wörtern einen negativen Effekt auf die Speicherung im Kurzzeitgedächtnis hat. Dies lässt sich auf der Grundlage seines Modells der artikulatorischen Schleife (phonological loop) begründen, wonach jedes Wort zur Memorisierung durch wiederholtes innerliches „Auffrischen“ als Schleife im Kurzzeitgedächtnis gehalten werden muss. Dies gelingt seinen Ergebnissen zufolge umso besser, je geringer die phonologische Ähnlichkeit der Wörter ist (phonological similarity effect). Unterstützt werden die Ergebnisse von BADDELEY durch G RIFFIN (2002), die in ihrer Studie Rezenz-Effekte hinsichtlich phonologischer Form und der Bedeutung für die Wortwahl untersuchte. Es stellte sich heraus, dass die Testpersonen bei der Vervollständigung vorgegebener Sätze nicht in signifikant hohem Ausmaß auf Wortformen zurückgriffen, die homophon zu einem vorher genannten Wort sind. Die oben beschriebenen Experimente zur phonologischen Rezenz würden zunächst erwarten lassen, dass auch in der hier vorgestellten Untersuchung keine Rezenz-Effekte auftreten werden. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Ergebnisse von BADDELEY und G RIFFIN in einer kontrollierten Testumgebung entstanden sind, in der die Testpersonen bewusst auf ihre Sprachkompetenz zugreifen mussten. Die Experimente versuchten zu erklären, durch welche Faktoren der bewusste Zugriff auf im Kurzzeitgedächtnis gespeicherte phonologische Einhei208 In der einschlägigen Literatur wird auf dieses Phänomen zumeist mit dem Begriff „syntactic priming“ verwiesen.

520

Statistische Aggregatanalysen

ten determiniert ist. Die Fragestellung der hier vorgestellten Untersuchung ist hingegen eine andere. Es geht darum, ob und wie phonologische Rezenz in Erscheinung tritt, wenn diese auf einer spontansprachlichen Datengrundlage basiert.209

12.8.3 Methode Die Datengrundlage der Untersuchung bildet das Korpus aller Tokens, die innerhalb der Variationsgebiete der untersuchten etymologischen Klassen vorkommen (z. B. alle Tokens aus dem traditionellen Monophthong-Gebiet für mhd. î). Eine Eingrenzung auf die Tokens aus diesen Gebieten ist notwendig, da Rezenz-Effekte nur dann nachweisbar sind, wenn die Sprecher die Wahl zwischen zwei Realisierungen haben. Dies ist in den Gebieten ohne bzw. mit geringer Variation nicht gegeben, weswegen sich die Analyse auf die spontansprachlichen Daten aus den extrahierten Variationsgebieten beschränkt. Weiterhin muss erwähnt werden, dass nicht für alle etymologischen Klassen eine Untersuchung möglich ist, da die Tokenfrequenz in manchen Fällen für die Durchführung der statistischen Tests zu gering ist. Eine weitere methodische Entscheidung, die vor der statistischen Analyse getroffen werden muss, ist die der Operationalisierung der unabhängigen Variable Rezenz. Es gilt dabei folgende Aspekte zu beachten: 1) Es stellt sich die Frage, zwischen welchen Elementen Rezenz-Effekte untersucht werden sollen. Es dürfte trivial erscheinen, dass nur Elemente aus ein und derselben etymologischen Klasse betrachtet werden, denn nur hier ist sichergestellt, dass der Sprecher die Wahl zwischen den gleichen Lautformen hat (z. B. zwischen Monophthong [i:] und Diphthong [aI] bei der nhd. Diphthongierung von mhd. î). Es ist nicht auszuschließen, dass auch gleichlautende Formen, die nicht aus derselben etymologischen Klasse stammen, einen Rezenz-Effekt bei nachfolgenden Lautungen auslösen können. Ein ausgedachtes Beispiel ist: giisch es iis glii (‘gibst du es uns gleich’). Alle in dieser Sequenz auftretenden Vorderzungenvokale sind gleichlautend, gehören aber zu verschiedenen etymologischen Lautklassen. Die Berücksichtigung aller Formen mit demselben Phonem, so relevant diese für die Auslösung von Rezenz-Effekten auch sein mögen, kann in der vorliegenden Untersuchung aus Gründen des technischen Aufwandes nicht erfolgen. 2) Weitherin ist zu entscheiden, ob nur Rezenz zwischen ein und denselben Lexemen beachtet wird oder ob dies zwischen allen Lexemen geschieht, die zu einer etymologischen Lautklasse gehören (bei mhd. î würden also Rezenz-Effekte zwischen Lexemen wie beispielsweise Zeit, sein, weit, etc. untersucht).210 Im vorliegenden Fall werden alle Lexeme einer etymologischen Klasse zur Untersuchung von Rezenz miteinander verglichen. Diese Entscheidung ist vor allem aus prakti209 Siehe hierzu die korpuslinguistischen Untersuchungen zur morphosyntaktischen Rezenz, die von S ZMRECSANYI (2001/02; 2005; 2006) vorgelegt wurden. 210 Hinter der Frage, ob Laute als solche oder in ihrer lexikalischen Einbettung memorisiert werden, steckt eine seit langem andauernde theoretische Debatte. Die letztgenannte Position findet sich bei S CHUCHARDT (1885) oder H AAS (1978), während die lexemunabhängige Memorisierung der Auffassung der Junggrammatiker entspricht (vgl. PAUL 1886).

12.8 Rezenz-Effekte

521

schen Gründen notwendig, da bei ausschließlichem Vergleich zwischen identischen Lexemen die Tokenfrequenz in den meisten Fällen zu gering wäre. Als statistisches Verfahren wurde der Chi-Quadrat-Test gewählt. Die Herangehensweise lehnt sich an diejenige von S ZMRECSANYI (2001/02) an, der den ChiQuadrat-Test für den Nachweis syntaktischer Cluster-Effekte bei Futur-Markern im Englischen verwendet hat.211 Hierdurch sind Aussagen darüber möglich, inwieweit die im Korpus vorhandene tatsächliche Verteilung der phonologischen Ausprägungen „dialektnah“ und „dialektfern“ von der statistisch erwarteten, gleichmäßigen Verteilung der Ausprägungen abweicht. In Kreuztabellen lässt sich erkennen, ob dialektnahe bzw. dialektferne Realisierungen gerade dort mit statistisch signifikant höherer Wahrscheinlichkeit vorkommen, wo auch zuvor schon entsprechende Lautungen realisiert wurden. Ist dies der Fall, läge ein Rezenz-Effekt vor. Die zentrale Hypothese der vorliegenden Untersuchung lautet demnach: Die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung einer Realisierung steigt, wenn zuvor die phonologisch identische Form im selben etymologischen Kontext aufgetreten ist. d. h.: Phonologisch identische Formen sind nicht gleichmäßig über den Zeitstrahl einer Aufnahme verteilt, sondern treten, bedingt durch Rezenz, in Clustern auf. Entsprechend der NullHypothese ist hingegen zu erwarten, dass alle Tokens gleichmäßig über eine Aufnahme verteilt sind. Sollte die Null-Hypothese in der vorliegenden Untersuchung verworfen werden können, soll weiterhin der Frage nachgegangen werden, ob es eine unabhängige Variable gibt, die die Clusterung gleichlautender phonologischer Formen innerhalb einer etymologischen Klasse steuert. Die Operationalisierung der unabhängigen Variable Rezenz wird im vorliegenden Datenkorpus durch die Äußerungsabfolgen der Ausprägungen „dialektnah“ und „dialektfern“ vorgenommen. Folgende vier mögliche Realisierungsabfolgen ergeben sich daraus: 1. dialektnah → dialektnah 2. dialektfern → dialektfern 3. dialektnah → dialektfern 4. dialektfern → dialektnah Die Äußerungsabfolgen 1. und 2. stellen Fälle von Rezenz dar, während diese im Fall der Abfolgen 3. und 4. nicht vorhanden ist. Es wurden für die Untersuchung nur diejenigen Realisierungsabfolgen berücksichtigt, die innerhalb eines Zeitfensters von fünf Transkriptzeilen auftreten, da nur innerhalb einer Äußerungsabfolge mit relativ kurzer Zeitspanne mit einem Rezenz-Effekt zu rechnen ist. Als Input für die Chi-Quadrat-Tests dient demnach die Summe aller Realisierungsabfolgen, die a) innerhalb einer etymologischen Klasse, b) innerhalb der Summe aller Aufnahmen 211 Der methodische Ansatz von S ZMRECSANYI (2001/02) geht wiederum auf K LEMOLA (1996) zurück, der diesen auf die Verteilung von periphrastischem do in den englischen Dialekten und im Mittelenglischen anwandte.

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Statistische Aggregatanalysen

und c) innerhalb eines Zeitfensters von maximal fünf Zeilen nach der vorhergehenden Realisierung geäußert werden. Bezüglich des Punktes c) ist präzisierend hinzuzufügen, dass immer nur die direkt aufeinander folgenden Äußerungspaare als ein solches gezählt werden. Das Schema in Abbildung 12.18 soll dies anhand der etymologischen Klasse mhd. î verdeutlichen. Dargestellt ist eine zeitliche Sequenz innerhalb einer Aufnahme, die sich über zwölf Zeilen erstreckt (Z11–Z23). Innerhalb dieser Sequenz werden fünf relevante Tokens zur Ermittlung von Rezenz-Effekten innerhalb der etymologischen Klasse mhd. î geäußert. Das erste Äußerungspaar, das durch die Lexeme Zeit und wiit gebildet wird, befindet sich innerhalb des Zeitfensters und wird dementsprechend in die Kreuztabelle der beobachteten Häufigkeiten aufgenommen, und zwar in den Quadranten für die Realisierungsabfolgen „dialektfern-dialektnah“. Die zweite Äußerungsabfolge (wiit → wiit) erstreckt sich ebenfalls über nicht mehr als fünf Zeilen und wird dem Quadranten „dialektnahdialektnah“ zugeordnet. Die dritte Äußerungsabfolge (wiit → Seite) erstreckt sich über mehr als fünf Zeilen und scheidet entsprechend als Input aus. Die vierte Äußerungsabfolge (Seite → Zeit) ist wieder innerhalb des vorgegebenen Zeitfensters und zählt als Input für die Abfolge „dialektfern-dialektfern“.212 Dieses Prozedere wird nun über sämtliche Aufnahmen und etymologische Klassen hinweg durchgeführt und ergibt die im Folgenden dargestellten Ergebnisse.213

12.8.4 Ergebnisse Die Ergebnisse der Chi-Quadrat-Tests werden in Kreuztabellen dargestellt. In Tabelle 12.5 werden diese exemplarisch für das phonologische Phänomen mhd. î gezeigt. Um die Zahlen interpretieren zu können, sollte zunächst die erwartete Verteilung der Realisierungen betrachtet werden. Diese Werte, die mit der Bezeichnung „erwartet“ versehen sind, sind in der Kreuztabelle aufgeführt. Die Summe aller in die Berechnung eingeflossenen dialektal realisierten Tokens („dialekt-nah“) beträgt 627, während sich die Summe jener Tokens, die abweichend („dialekt-fern“) realisiert werden, auf 221 beläuft. Das Verhältnis zwischen den beiden Werten ist also 627 : 221. Damit liegt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer dialektalen Lautung bei vorhergehender dialektaler Realisierung bei 74,2 % und dementsprechend die Wahrscheinlichkeit der Nennung eines dialektfern realisierten Tokens bei 25,8 %. Komplementär hierzu verhalten sich die Wahrscheinlichkeitswerte für 212 Es muss hier darauf hingewiesen werden, dass im spontansprachlichen Korpus nur die Realisierungen der Gewährspersonen enthalten sind, nicht diejenigen der Exploratoren. Diese eingelagerten aber „unsichtbaren“ Daten können die Ergebnisse beeinflussen, was sich durch die relativ gering ausgeprägten Redeanteile der Exploratoren allerdings in Grenzen halten dürfte. 213 Die Wahl eines Zeitfensters von fünf Zeilen ergab sich als Kompromiss aus zwei Faktoren: Da die Zeilenlänge zeitlich stark schwanken kann, sollte ein möglichst kleine Zeilenanzahl gewählt werden, um zu gewährleisten, dass es sich beim Korpus der im Zeitfenster enthaltenen Äußerungsabfolgen um möglichst kurz aufeinanderfolgende handelt. Somit tritt der Rezenz-Effekt, sollte er existieren, am deutlichsten in Erscheinung. Andererseits konnte ein kleineres Zeitfenster als fünf Zeilen nicht gewählt werden, weil dadurch die Tokenmenge zu gering geworden wäre, um statistisch signifikante Ergebnisse zu erzielen.

12.8 Rezenz-Effekte

523

Abb. 12.18: Schematische Darstellung der Gewinnung des Dateninputs für die Ermittlung von Rezenz-Effekten mittels Chi-Quadrat-Tests. diejenigen Fälle, bei denen eine vorhergehende dialektferne Realisierung vorliegt: Mit einer erneut dialektfernen Realisierung ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 25,8 % zu rechnen, mit einer dialektnahen Nennung mit einer Wahrscheinlichkeit von 74,2 %. Die tatsächliche Verteilung von dialektnah und dialektfern realisierten Tokens ist aus der mit „beobachtet“ bezeichneten Kreuztabelle ersichtlich. Es ist zu erkennen, dass die tatsächlichen Werte deutlich von den erwarteten abweichen. Besonders in der Folge auf ein vorher dialektfern realisiertes Token erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Nennung im Vergleich zur erwarteten Wahrscheinlichkeit deutlich. Die Wahrscheinlichkeit der erneuten Nennung einer dialektnahen Nennung bei vorhergehender dialektnaher Realisierung steigt ebenfalls an. Komplementär zu der sich stark erhöhenden Wahrscheinlichkeit der Wiedernennung einer vorher genannten Lautung sinkt die Wahrscheinlichkeit der Nennung einer von der zuvor genannten Lautung abweichenden Form. So kann aus Tabelle 12.5 für die Nennung einer dialektfernen Lautung bei vorhergehender dialektnaher Realisierung eine Abnahme der Wahrscheinlichkeit dieser Abfolge entnommen werden. Bei vorhergehender dialektferner Realisierung sinkt die Wahrscheinlichkeit der Nennung einer dialektalen Form ebenfalls.

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Statistische Aggregatanalysen

erwartet dialektnah dialektfern GESAMT beobachtet dialektnah dialektfern GESAMT

dialektnah (vorher) dialektfern (vorher) 465,1 (74,2 %) 163,9 (74,2 %) 161,9 (25,8 %) 57,1 (25,8 %) 627 (100 %) 221 (100 %) dialektnah (vorher) dialektfern (vorher) 578 (92,2 %) 51 (23,1 %) 49 (7,8 %) 170 (76,9 %) 627 (100 %) 221 (100 %) df=1, χ 2 =403,798, p < .0001

Tab. 12.5: Ergebnisse des Chi-Quadrat-Tests für mhd. î, berechnet für ein Zeitfenster von maximal fünf Zeilen. Die Ergebnisse, wie sie in Tabelle 12.5 für mhd. î vorliegen, sind repräsentativ für alle weiteren etymologischen Klassen.214 Die formulierte Null-Hypothese, gemäß derer eine völlige Gleichverteilung von dialektnah und dialektfern realisierten Tokens innerhalb einer Aufnahme zu erwarten gewesen wäre, kann demnach verworfen werden. Es zeigt sich gemäß der Chi-Quadrat-Tests vielmehr ein systematischer Anstieg der Wahrscheinlichkeit zur Wiederholung zuvor artikulierter Lautungen und umgekehrt eine Verringerung der Wahrscheinlichkeit, dass sich die folgende Realisierung von der vorhergehenden unterscheidet. Im Folgenden werden die Ergebnisse für Rezenz in allen untersuchten phonologischen Phänomenen anhand der Werte aus den Feldern „dialektnah-dialektnah“ sowie „dialektfern-dialektfern“ dargestellt.215 Hierzu wird der Wahrscheinlichkeitszuwachs von Rezenz bei aufeinander folgenden identischen Lautungen durch die dazugehörigen z-Werte verdeutlicht. Diese Werte stellen die z-standardisierten Residuen (Abweichungen vom erwarteten Wert) des Chi-Quadrat-Tests dar. Die Darstellung der Wahrscheinlichkeitszuwächse als z-Werte hat gegenüber einer prozentualen Zuwachsangabe den Vorteil, dass diese die unterschiedlichen Grundmengen berücksichtigen, auf deren Grundlage die Wahrscheinlichkeitszuwächse berechnet werden. Ist also beispielsweise die Grundmenge der betrachteten Tokens bei gleichem prozentualem Zuwachs für eine bestimmte etymologische Klasse sehr gering, für eine weitere hingegen sehr hoch, so wird sich für erstere ein geringerer z-Wert ergeben als für die zweite. z-Werte sind somit ein direktes Maß für die Signifikanz der prozentualen Zuwächse der Wahrscheinlichkeiten und lassen sich über die verschiedenen etymologischen Klassen hinweg vergleichen. Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass bei einem z-Wert größer als 2 Signifikanz vorliegt. In Abbildung 12.19 sind die z-Werte für die Äußerungsabfolgen “dialektnahdialektnah“ aufgetragen. Die z-Werte der verschiedenen untersuchten Phänomene unterscheiden sich deutlich und lassen sich zu drei Gruppen zusammenfassen: Nicht 214 Die detaillierten Resultate aller drei Testdurchläufe für alle untersuchten etymologischen Klassen sind in Anhang A.2 zu finden. 215 Die Äußerungsfolgen „dialektfern-dialektnah“ sowie „dialektnah-dialektfern“ werden hier nicht gesondert aufgeführt. Siehe hierzu die Zahlenwerte in den Kreuztabellen in Anhang A.2.

12.8 Rezenz-Effekte

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Abb. 12.19: z-Werte für die Äußerungsabfolge „dialektnah-dialektnah“ in den untersuchten etymologischen Klassen.

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Statistische Aggregatanalysen

bzw. nur geringfügig signifikante Werte ergeben die Daten zur Dehnung in offener Silbe sowie zur Realisierung von mhd. ie, uo und oe (z-Werte: ca. 1–2). Besonders signifikant erscheinen die Werte zur Realisierung von mhd. e, ei, î, iu und die Diphthongierung von mhd. ô (z-Werte: ca. 4–10). Eine Zwischenstellung nehmen die Diphthongierung von mhd. û, die Entrundung von mhd. ü sowie die Realisierung von mhd. ou ein (z-Werte: ca. 3–6). Die Ergebnisse zur Äußerungsabfolge „dialektfern-dialektfern“ sind in Abbildung 12.20 dargestellt. Die Ergebnisse weisen (mit Ausnahme von mhd. ou) allesamt signifikante z-Werte auf. Besonders hoch sind diese für die nhd. Diphthongierung (mhd. î, û und iu) sowie für mhd. uo, ü und ei. Diese phonologischen Phänomene sind demnach besonders anfällig für Rezenz, wenn es zur Äußerung einer dialektfernen (= standardnahen) Realisierung kommt. Aus den bislang besprochenen Ergebnissen ergibt sich die Frage, weshalb bestimmte Phänomene besonders starke Rezenz-Effekte aufweisen, andere hingegen nicht. Weswegen zeigte sich also beispielsweise für die Äußerungsabfolge „dialektnah-dialektnah“ bei der Diphthongierung von mhd. ô, der Realisierung von mhd. ë und ou besonders starke Rezenz? Zur Interpretation ist es notwendig, gemeinsame Eigenschaften zu finden, die der Phänomengruppe mit starker Rezenz zugeordnet werden können, aber nicht der Gruppe mit schwacher Rezenz. Zu nennen ist hier der Grad an Variation im betreffenden Variationsgebiet, d. h. wie weit der Lautwandel bereits fortgeschritten ist. Wie aus Tabelle 12.6 hervorgeht, sind die RezenzEffekte (z-Werte) für die Äußerungsabfolge „dialektnah-dialektnah“ im Fall derjenigen Phänomene höher, bei denen der Lautwandel weit fortgeschritten ist (Anteil dialektferner Tokens > 50 %). Andererseits tritt starke Rezenz für die Äußerungsabfolge „dialektfern-dialektfern“ bei denjenigen Phänomenen auf, bei denen der Lautwandel noch nicht seinen Höhepunkt erreicht hat (Anteil dialektferner Tokens < 50 %).216 Die Hypothese lautet dementsprechend, dass diejenigen Realisierungen, die den geringeren Anteil an der Gesamtmenge der Tokens ausmachen, stark markierte Formen darstellen und in der Spontansprache Rezenz-Effekte erzeugen. Der Zusammenhang von Variation und Rezenz wurde anhand einer Korrelation zwischen den beiden Variablen statistisch überprüft. Hierfür wurde als Maß für die Variation der prozentuale Anteil dialektferner bzw. dialektnaher Tokens herangezogen, als Maß für die Rezenz dienen die z-Werte der Äußerungsabfolge „dialektnahdialektnah“ bzw. „dialektfern-dialektfern“. Im Ergebnis stellt sich die Korrelation zwischen dem Anteil dialektferner Tokens und den Sequenzen „dialektnah-dialektnah“ als hoch signifikant heraus (Spearmans ρ = 0.745055, p < .01). In Abbildung 12.21 ist die Korrelation zwischen dem Anteil innovativer Tokens und Rezenz als linearer Zusammenhang dargestellt. Im Falle der Äußerungsfolgen „dialektferndialektfern“ ist die Korrelation weniger deutlich (vgl. Abbildung 12.22). Spearmans ρ weist nur auf eine mittelmäßige Korrelation hin (ρ = 0.349451), die statistisch nicht signifikant wird (p < .1).

216 Der Prozentwert für mhd. ë bezieht sich auf das traditionelle Diphthong-Gebiet und stellt das arithmetische Mittel von Lexemgruppe I und II dar. Der Wert für mhd. ei bezieht sich auf das traditionelle [O5]-Gebiet.

12.8 Rezenz-Effekte

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Abb. 12.20: z-Werte für die Äußerungsabfolge „dialektfern-dialektfern“ in den untersuchten etymologischen Klassen.

528

Statistische Aggregatanalysen

Phänomen

Anteil an dialektfern artikulierten Tokens

mhd. ou mhd. ô mhd. ë mhd. ei mhd. î mhd. û mhd. iu mhd. ü DOS mhd. ie mhd. uo mhd. oe

79,9 % 78,6 % 63,5 % 47,0 % 28,7 % 29,5 % 28,3 % 28,5 % 27,0 % 24,0 % 17,1 % 11,8 %

z-Wert (dialektferndialektfern) 1,12 2,45 2,80 11,01 14,95 8,69 11,97 7,54 4,13 4,40 11,31 6,33

(dialektnahdialektnah) 5,58 9,44 6,80 6,16 5,24 2,76 4,18 3,14 1,75 1,60 1,75 0,97

Tab. 12.6: Gegenüberstellung von prozentualen Anteilen an dialektfern artikulierten Tokens und z-Werten für die untersuchten phonologischen Phänomene.



12

8

14





10 z−Wert

● ●



8

6



z−Wert











6

4



● ●

4





2

● ●

0











20



2







40

60

Anteil dialektferner Tokens

80

100

0

20

40

60

80

100

Anteil dialektnaher Tokens

Abb. 12.21: Korrelation der Abfolge Abb. 12.22: Korrelation der Abfolge „dialektnah-dialektnah“ mit dem Anteil „dialektfern-dialektfern“ mit dem Anteil dialektferner Tokens (p < .01). dialektnaher Tokens (p < .1).

12.8 Rezenz-Effekte

529

12.8.5 Zusammenfassung und Diskussion Die Ergebnisse bestätigen die eingangs formulierte Hypothese: Die Sprecher im untersuchten Datenkorpus neigen zur Wiederholung einer phonologischen Form, wenn dieser eine phonologisch identische, aus der gleichen etymologischen Lautklasse stammende Form vorausgeht. Die Tendenz geht dabei über alle phonologischen Phänomene hinweg in dieselbe Richtung. Weiterhin konnte die Untersuchung zeigen, dass dialektfern artikulierte Tokens in den meisten Fällen einen stärkeren Rezenz-Effekt erzeugen als dialektnahe Realisierungen. Die statistische Signifikanz (z-Werte) einer Wiedernennung ist bei den Äußerungssequenzen „dialektferndialektfern“ durchschnittlich stärker ausgeprägt als bei den Abfolgen „dialektnahdialektnah“. Statistisch signifikanter Zuwachs von Rezenz ist im Fall der Sequenzen „dialektfern-dialektfern“ über fast alle Phänomene hinweg feststellbar, während dies für die Äußerungsfolgen „dialektnah-dialektnah“ nur in etwa der Hälfte der Fälle vorliegt. Ein Zusammenhang zwischen Rezenz und dem Anteil innovativer Tokens im entsprechenden Variationsgebiet wurde für die Sequenz „dialektferndialektfern“ nachgewiesen, während der Zusammenhang für die Äußerungssequenz „dialektnah-dialektnah“ statistisch nicht signifikant wurde. Welche Bedeutung haben die vorliegenden Ergebnisse nun für die Erklärung von Lautwandel? Grundsätzlich lässt sich aus dem generell beobachtbaren Phänomen der phonologischen Rezenz ableiten, dass diese eine Beschleunigung von Lautwandel hervorruft. Dies ist besonders in den ersten Phasen eines Lautwandels der Fall, da hier eine dialektferne Variable zunehmend in Gebrauch kommt und, wie aus den Ergebnissen hervorgeht, fast durchgehend starke Rezenz-Effekten hervorruft. Umgekehrt trägt in der Endphase des Lautwandels Rezenz zum Festhalten an den verbliebenen alten Lautungen bei, da die dialektalen Formen umso stärkere Rezenz aufweisen, je geringer ihr Anteil wird. Rezenz-Effekte können also einen erklärenden Beitrag zu bestehenden Modellen des chronologischen Verlaufs von Lautwandel leisten (vgl. A ITCHISON 1994; C HAMBERS / T RUDGILL 2005; BAI LEY 1973). Diesen Modellen zufolge verläuft ein Lautwandel typischerweise nicht linear, sondern S-förmig / wellenförmig. Er breitet sich zunächst nur langsam aus, erfasst im weiteren Verlauf aber sehr schnell einen Großteil der lexikalischen Kontexte und verlangsamt sich gegen Ende wieder, wenn nur noch wenige Lexeme an der alten Lautung festhalten. Schließlich könnte Salienz (Auffälligkeit) einen Beitrag zur Erklärung von unterschiedlichen Rezenzeffekten leisten. So kann die deutlicher ausgeprägte Salienz derjenigen phonologischen Variablen, die nur noch eine geringe Gebrauchsfrequenz aufweisen, mit deren stärkerem Rezenzeffekt in Verbindung gebracht werden. Diese Interpretation harmoniert mit den Ergebnissen von R ÁCZ (2013), der anhand der Untersuchung der Artikelreduktion in den Dialekten Nordenglands einen positiven Zusammenhang zwischen geringer Gebrauchsfrequenz und hoher Salienz nachweisen konnte.

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Statistische Aggregatanalysen

12.9 SIGNIFIKANZHIERARCHIE DER FAKTOREN In den meisten der durchgeführten statistischen Aggregatanalysen wurden die Effekte einzelner Faktoren auf der Grundlage von gemischten logistischen Regressionsmodellen berechnet. Dabei wurden die Wirkungen der jeweiligen Einzelfaktoren auf die abhängige Variable Variation betrachtet. Im Folgenden sollen die random factors und fixed factors, die in die logistischen Regressionsmodelle integriert wurden, miteinander verglichen werden. Hierzu werden sie gemäß ihrer Signifikanz für die Aufklärung von Variation in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt. Methodisch erfolgt dieser hierarchische Vergleich in Form sogenannter Conditional Inference Trees, die mit Hilfe der Statistik-Software „R“ und des Pakets „party“ erstellt werden.217 Conditional Inference Trees schätzen das Verhältnis zwischen Variablen einer Regression in Form einer binären rekursiven Partitionierung, die grafisch als Baumstruktur dargestellt wird. Der Algorithmus bei der Erstellung solcher Baumstrukturen besteht im Prinzip aus drei Arbeitsschritten: 1) Zunächst wird die Null-Hypothese getestet, die besagt, dass kein Zusammenhang zwischen den unabhängigen Variablen im Modell und der abhängigen Variable besteht. Wird die NullHypothese bestätigt, stoppt der Algorithmus. Wird sie nicht bestätigt, wird diejenige unabhängige Variable benannt, die den höchsten Beitrag zur Aufklärung der Variation unter allen inkorporierten Variablen (random factors und fixed factors) leistet. Als Maß für diese Einschätzung dient ein p-Wert, der für den Zusammenhang der jeweiligen unabhängigen Variable mit der abhängigen Variable berechnet wird. 2) Im zweiten Schritt wird eine binäre Verzweigung vorgenommen, dessen Knotenpunkt die jeweilige Variable mit dem höchsten Beitrag zur Varianzaufklärung bildet. 3) Im dritten Schritt werden die Arbeitsschritte 1) und 2) von neuem (rekursiv) aufgenommen. Am Ende einer binären Verzweigung können erneut unabhängige Variablen stehen oder, falls die Nullhypothese erfüllt ist, terminale Knoten, in denen die binären Beiträge wiedergeben werden, die die unabhängige Variable des übergeordneten Knotens für die Varianzaufklärung leistet. Durch diese Vorgehensweise erhält man schließlich eine hierarchische Baumstruktur, aus der ersichtlich wird, welche unabhängigen Variablen besonders relevant für die Varianzaufklärung sind und welche eine geringere Rolle spielen. In Abbildung 12.23 ist ein Baumdiagramm dargestellt, das über die spontansprachlichen Daten sämtlicher extrahierter Variationsgebiete (n = 21.220 Tokens) gerechnet wurde. Das Modell enthält die fixed factors Geschlecht, morphologische Komplexität, die Gebrauchsfrequenz sowie den Abstand zur Isoglosse. Als random factors sind im Modell die Variablen Ort und Lexem enthalten. Zusätzlich wurde das phonologische Phänomen als Variable aufgenommen. Das Diagramm wird aus Platzgründen nicht in seiner Gesamtheit mit allen 94 terminalen Knoten dargestellt, sondern umfasst lediglich die sechs obersten Hierarchiestufen, aus denen sechzehn terminale Knoten hervorgehen. Aus der Baumstruktur geht hervor, dass es sich beim Großteil der aufgetragenen Knoten um random factors handelt (38), während die Anzahl der Knoten der 217 Für eine Beschreibung des Pakets „party“ siehe die Website (10.07.2014) sowie H OTHORN / H ORNIK / Z EILEIS 2006.

Abb. 12.23: Baumdiagramm (Conditional Inference Tree) mit 16 terminalen Knoten. Die Baumstruktur gibt auf der Grundlage von Signifikanzhierarchien an, wie hoch der Beitrag der inkorporierten random factors und fixed factors zur Aufklärung von Variation ist.

12.9 Signifikanzhierarchie der Faktoren

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Statistische Aggregatanalysen

fixed factors weit geringer ist (9). Letztere scheinen demnach für die Gesamtvariation von untergeordneter Relevanz zu sein, während besonders die random factors Ort (19) und Lexem (13) im gemischten logistischen Modell sehr signifkant erscheinen und in den obersten Hierarchiestufen des Baumdiagramms am häufigsten vorkommen. Der Befund bestätigt den Eindruck aus den Einzelanalysen und unterstreicht die durchweg festgestellte lexikalische Steuerung des Lautwandels. Von den fixed factors ist besonders der Faktor Isoglossenabstand häufig vertreten (6). Dieser intervallskalierte Faktor, der zusammen mit dem nominalen Faktor Ort zur Operationalisierung der übergeordneten Größe Geografie herangezogen wurde, hebt also die dominante Bedeutung der Geografie bezüglich der Ausprägung sprachlicher Variation zusätzich hervor. Die beiden Faktoren Geschlecht (1) und morphologische Komplexität (2) sind seltener vertreten, für den Faktor Geschlecht muss allerdings berücksichtigt werden, dass dieser bereits auf einer hohen Hierarchiestufe erscheint. Bezüglich der morphologischen Komplexität lässt sich festhalten, dass dieser auf lexikalischer Ebene operierende Steuerungsfaktor gegenüber der lexikalischen Steuerung des Lautwandels eine nur untergeordnete Rolle spielt. Besonders interessant ist schließlich das völlige Fehlen des fixed factors Gebrauchsfrequenz – nicht nur im hier dargestellten Ausschnitt, sondern im gesamten Baumdiagramm. Die Gebrauchsfrequenz eines lexikalischen Items scheint demnach für die Aufklärung von Variationsstrukturen und damit von Lautwandel keine statistisch relevante Rolle zu spielen. In den Einzelanalysen konnte zwar in einigen wenigen Fällen ein Zusammenhang erkannt werden, was aber nur im Falle von sehr hohen (oder niedrigen) Gebrauchsfrequenzen bei gleichzeitigem Auftreten weiterer Besonderheiten, wie z. B. einer sehr eingeschränkten grammatischen Funktion, der Fall war.218

12.10 ZUSAMMENFASSUNG In den vorgestellten statistischen Aggregatanalysen konnte für eine Reihe von Faktoren der quantitative Nachweis erbracht werden, dass diese die Variation innerhalb der spontansprachlichen Daten beeinflussen. Methodisch wurden dafür verschiedene statistische Verfahren verwendet, wobei die Analyse vorwiegend anhand gemischter logistischer Regressionsmodelle durchgeführt wurde. Diese Methode erlaubt die Inkorporation von Faktoren mit unterschiedlich gearteten Ausprägungen und kann Aussagen darüber treffen, wie hoch der Beitrag einzelner Faktoren für die Aufklärung der Varianz innerhalb der vorliegenden spontansprachlichen Daten ist. Besonders die random factors Ort und Lexem stellten sich dabei als maßgeblich für eine hohe Modellgüte heraus und verdeutlichen somit die Relevanz von Geografie und Lexikon als Steuerungsfaktoren für Variation und Lautwandel. Doch stellten sich auch die untersuchten fixed factors Isoglossenabstand, morphologische Komplexität und Geschlecht als bedeutende Steuerungsfaktoren heraus. Besonders die soziolinguistische Variable Geschlecht erwies sich als fast durchgehend signifkan218 Vgl. Kapitel 3.2.2.5 zur Analyse der Infinitivform sein.

12.10 Zusammenfassung

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ter Prädiktor und zeigte für die Ausprägung „weiblich“ eine tendenziell häufigere Verwendung dialektnaher Formen als für die Ausprägung „männlich“. Anhand der beiden fixed factors Isoglossenabstand und morphologische Komplexität konnte die Rolle des standardsprachlichen Einflusses auf den Lautwandel in den Basisdialekten gezeigt werden. Variationsgebiete werden in vielen Fällen durch Dialektkontakt von außen nach innen abgebaut, weisen aber auch bei einer nur sehr schwach vorhandenen horizontalen Komponente flächendeckende Wandeltendenzen auf, die auf Standardkonvergenz zurückzuführen sind. Die Untersuchungen zur morphologischen Komplexität ergaben eine höhere Neigung zur standardsprachlichen Realisierung für komplexe Wortformen mittelhoher Gebrauchsfrequenz, da es sich bei diesen häufig um neuzeitliche lexikalische Übernahmen aus dem Standard handelt. Die Bedeutung des vertikalen Standardeinflusses konnte weiterhin durch das geostatistische Verfahren der Dateninterpolation untermauert werden. Die Interpretation der Ergebnisse ergab, dass die geografische Ausbreitungsrichtung einer lautlichen Realisierung von der standardsprachlichen Realisierung vorgegeben wird. Es wird stets jene dialektale Realisierung unterstützt, die der standardsprachlichen Realisierung ähnlich oder mit dieser identisch ist. Außerdem konnten mit Hilfe der aggregierten Gesamtinterpolation konservative und innovativen Dialektareale innerhalb des Untersuchungsgebietes identifiziert werden. Ein weiterer, im kognitiven Bereich angesiedelter Steuerungsfaktor für Variation stellt die Rezenz lautlicher Realisierungen dar. Auf der methodischen Grundlage von Chi-QuadratTests konnte gezeigt werden, dass innerhalb einer etymologischen Klasse gleichlautende Realisierungen nicht homogen über den zeitlichen Strang der entsprechenden Aufnahmen verteilt sind, sondern dass diese tendenziell in Clustern auftreten. Weiterhin stellte sich bezüglich der Rezenz ein Zusammenhang mit dem Stadium eines Lautwandels heraus. Ist ein Lautwandel in seinem Anfangsstadium oder an seinem Ende angelangt, zeigen sich stärkere Rezenzeffekte als bei maximaler Variation zwischen zwei konkurrierenden Realisierungen, d. h. wenn der Lautwandel an seinem Höhepunkt angelangt ist. Zuletzt sei noch ein Faktor erwähnt, der sich statistisch als nicht signifikant erwies: der fixed factor „Gebrauchsfrequenz der Lexeme“. Weder die berechneten Effektgrößen für diesen Faktor in der logistischen Regression noch der Vergleich mit den übrigen im logistischen Regressionsmodell untersuchten Variablen ergaben einen Hinweis für eine statistische Relevanz.

13 RESÜMEE Das übergreifende Ziel dieser Arbeit bestand darin, die linguistischen Eigenschaften des phonologischen Lautwandels in den südwestdeutschen Dialekten im 20. Jahrhundert zu beschreiben. Die Untersuchung wurde auf der Grundlage von 15 phonologischen Phänomenen (etymologischen Lautklassen) aus dem Bereich des Vokalismus durchgeführt. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen dabei drei zentrale Fragestellungen: Wie ist das Verhältnis von (1) endogenem zu exogenem, (2) von regelmäßigem zu lexikalischem und von (3) horizontalem zu vertikalem Wandel zu bewerten? Darüber hinaus wurden einige weitere Fragen zur phonologischen Variation verfolgt, die im Rahmen der aggregierten statistischen Analyse in Kapitel 12 detailliert behandelt wurden. Hierzu zählte vor allen Dingen das Phänomen der phonologischen Rezenz sowie der Faktor Geschlecht. Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse zu den genannten Fragestellungen zusammenfassend erläutert und durch eine Auswahl von Ergebnissen ergänzt. Außerdem sollen die methodischen Probleme, die größtenteils auf die unterschiedlichen Erhebungsweisen der verglichenen Atlaswerke zurückgehen, thematisiert werden. Weiterhin wird versucht im Vergleich der Ergebnisse dieser Arbeit zusammen mit den Wandelprozessen im Konsonantismus (vgl. S TRECK 2012b) einen Gesamteindruck des phonologischen Wandels in Südwestdeutschland zu erhalten. Ein kurzer Ausblick auf noch weiter zu verfolgende Fragestellungen soll den Abschluss bilden.

ENDOGENER VS. EXOGENER WANDEL Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von endogenem und exogenem Wandel im Untersuchungsgebiet kann generell festgestellt werden, dass nur wenig Evidenz für endogenen Wandel vorliegt. Lautwandel in den Basisdialekten Südwestdeutschlands ist hauptsächlich exogener Natur und geht auf den Kontakt mit benachbarten oder überdachenden Varietäten zurück. Einige Ergebnisse der Untersuchung sprechen allerdings auch für das Wirken endogener Faktoren an spezifischen Lautwandelprozessen. Drei dieser Faktoren sollen im Folgenden kurz erläutert werden. (1) Im Rahmen der Untersuchung zur Realisierung von mhd. ei wurde in Abschnitt 4.4.5 auf das Wirken analoger Prozesse hingewiesen, die die etymologischen Klassen mhd. î, iu und ei betreffen und als Erklärung für den vergleichsweise starken Abbau der Realisierung [O5] (als Reflex von mhd. ei) herangezogen wurden. Es wurde argumentiert, dass die Reflexe der drei Lautklassen im östlichen Untersuchungsgebiet größtenteils aus phonetisch ähnlichen Diphthongen bestehen, die alle einen eingleitenden Offglide besitzen – mit Ausnahme von [O5]. Daraus wurde gefolgert, dass der analoge „Druck“ der weit häufigeren eingleitenden Diphthonge für

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den rapiden Abbau des ausgleitenden (und damit markierten) [O5]-Diphthongs verantwortlich ist. (2) Auch die Ergebnisse zur Einsilblerdehnung (vgl. Kapitel 11.3) weisen zumindest partiell auf eine Beteiligung endogener Faktoren bei den Variations- und Wandelmustern im Untersuchungsgebiet hin. Hier konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass ein klarer Abbau von Vokallänge durch Kontaktvarietäten vorliegt. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass auch wortprosodische und satzphonetische Faktoren wirksam sind, die auf die Vokalquantität einwirken. (3) Ein weiteres Phänomen, das endogen verankert ist und den Verlauf von Lautwandel beeinflussen kann, ist die phonologische Rezenz. Eine ausführliche Erläuterung erfolgt unten im Absatz „Weitere Faktoren phonologischen Wandels“.

REGELMÄSSIGER VS. LEXIKALISCHER WANDEL Die Untersuchungsergebnisse wiesen bezüglich des Verhältnisses von regelmäßigem (lautgesetzlichem) und lexikalischem Wandel bei der Mehrheit der untersuchten Lautwandelphänomene auf eine deutliche lexikalische Steuerung hin. Bereits in den Real-Time-Vergleichen wurde zumeist klar, dass Unterschiede im Verlauf der Isoglossen zwischen den Lexemen einer etymologischen Klasse bestehen, das Fortschreiten des Lautwandels also lexemspezifisch weit fortgeschritten ist. Die Unterschiede im Isoglossenverlauf verwiesen dabei auf einen sich im Gange befindlichen Lautwandel, wie z. B. die Untersuchung der neuhochdeutschen Diphthongierung im nördlichen Bodenseeraum zeigte. Neben den wissensbasierten Daten erbrachte auch die Analyse der spontansprachlichen Daten fast durchgehend Evidenz für die starke lexikalische Steuerung des Lautwandels in den traditionellen Realisierungsgebieten, die von Lautwandel betroffen sind. Eine systematische Interpretation der Unterschiede zwischen einzelnen Lexemen war in den meisten Fällen nicht möglich, weswegen man bei der lexikalischen Steuerung des Lautwandels von einem idiosynkratischen Prozess sprechen darf. Es gibt allerdings deutliche Hinweise auf einen Faktor, der lexikalische Unterschiede systematisch erklären kann: das Alter eines bestimmten Lexems im Repertoire der Dialektsprecher in Verbindung mit semantischen Eigenschaften. Zwei charakteristische Beispiele hierfür sind die Lexeme Weib (nhd. Diphthongierung) und Bube (nhd. Monophthongierung). In beiden Fällen haben wir es mit Lexemen zu tun, die seit langem im Dialekt verankert sind und zudem in ihrer Bedeutung von jener im Standard abweichen. Diese Faktoren haben dafür gesorgt, dass sich die beiden Lexeme ausgesprochen konservativ verhalten und kaum Anzeichen von Lautwandel aufweisen. In den meisten Fällen ist der Befund jedoch weniger klar, weswegen eine eindeutige Zuordnung dieser Faktoren nur selten möglich war. Einfacher erschien dies bei morphologisch komplexen Formen der Lexeme, die weiter unten näher besprochen werden. In einigen Fällen erwiesen sich die lexikalischen Unterschiede als auffallend gering. Ein Beispiel hierfür ist besonders die Entrundung von mhd. ü und oe. In diesen etymologischen Klassen ist zwar ebenfalls Lautwandel hin zur standardnahen Form zu beobachten (wenngleich schwach), doch vollzieht sich dieser offensicht-

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lich über alle untersuchten Lexeme hinweg weitgehend gleichmäßig. Hier kann, im Seidelmannschen Sinne, von einem entlehnten phonologischen Prozess ausgegangen werden, d. h. der Verknüpfung von exogenem und regelmäßigem Lautwandel (vgl. S EIDELMANN 1992). Für seine These spricht weiterhin die Art und Weise der Behandlung neuer lexikalischer Mitglieder, die Entlehnungen aus standardnahen Varietäten darstellen. In der Regel behalten diese während ihrer Übernahme die standardnahe Lautung bei, bei den genannten Lautklassen ist dies jedoch oftmals nicht zu beobachten. Vielmehr wird die dialektale Lautung den neuen Mitgliedern aufgeprägt, sodass der prozentuale Anteil von innovativen und dialektalen Lautungen in etwa im gleichen Verhältnis steht wie bei den bereits vorhandenen lexikalischen Mitgliedern der Lautklasse.

HORIZONTALER VS. VERTIKALER WANDEL Dem Verhältnis von horizontalem und vertikalem Wandel wurde in der vorliegenden Untersuchung besondere Aufmerksamkeit zuteil. Es ging dabei um die Frage, ob es sich bei den beobachteten Wandelprozessen um horizontalen, d. h. durch Dialektkontakt induzierten Lautwandel handelt oder ob dieser durch vertikale StandardAdvergenz charakterisiert ist. Die Untersuchungsergebnisse erbrachten hierzu eine Dominanz des Standardeinflusses, wobei der horizontale Einfluss der Nachbardialekte ebenfalls zu beobachten war. Generell kann den Ergebnissen entnommen werden, dass phonologischer Dialektwandel im deutschen Südwesten des 20. Jahrhunderts zumeist durch eine Kombination beider Komponenten geprägt ist. Es liegen drei mögliche Szenarien bzw. Typen von Lautwandel vor, nämlich rein horizontal, rein vertikal oder in Kombination wirkender Wandel.219 Rein horizontal verlaufender Lautwandel konnte ausschließlich im Rahmen der Real-Time-Vergleiche beobachtet werden. Er war insbesondere beim Abbau kleinräumiger Reliktgebiete beobachtbar, deren dialektale Realisierung durch eine benachbarte, meist großräumige Realisierung ersetzt wird. Beispiele für solche Prozesse sind u. a. der Ersatz der kleinräumigen Realisierungen [ia], [ua] und [uI] durch die Lautung [eI] für mhd. iu im Lexem heute (vgl. Kapitel 3.5.3.2). In der etymologischen Klasse mhd. â (Auslaut) finden sich ebenfalls Hinweise auf den horizontalen Abbau kleinräumiger Realisierungsgebiete durch umliegende Dialektformen (vgl. Kapitel 8). Rein vertikal wirkender Lautwandel konnte ebenfalls nicht sehr häufig beobachtet werden. Er trat fast ausschließlich in den Apparent-Time-Vergleichen hervor und war daran zu erkennen, dass sich standardnahe Realisierungen flächendeckend innerhalb von traditionell dialektalen Realisierungsgebieten finden. Ein sehr klares Beispiel stellt die Diphthongierung von mhd. iu dar (siehe Kapitel 3.5). Über das gesamte Diphthong-Gebiet hinweg war das Auftreten der standardsprachlichen Realisierung [OI] erkennbar – ein Phänomen, das nur auf standardsprachlichen Einfluss zurückgeführt werden kann, da es im Untersuchungsgebiet kein nennenswertes 219 Diese drei Ausbreitungstypen wurden in den Kapiteln 2.2.3 und 12.3.1 bereits ausführlich beschrieben, weswegen hier nur eine knappe Zusammenfassung mit einigen Beispielen erfolgt.

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[OI]-Gebiet gibt, von dem dieser Lautwandel durch Dialektkontakt hätte ausgehen können. Ein weiterer Fall von weitestgehend vertikalem Wandel stellt der Ersatz der entrundeten durch die gerundeten Formen im Fall von mhd. ü und oe dar (vgl. Kapitel 10.3 und 10.4). Auch hier konnte keine in nennenswerter Weise wirkende horizontale Komponente des Lautwandels nachgewiesen werden. In den meisten untersuchten Fällen ist die Ausbreitung lautlicher Neuerungen als ein Miteinander von horizontalem und vertikalem Wandel anzusehen. Besonders deutlich trat dies bei den Analysen zur nhd. Diphthongierung von mhd. î, û und iu hervor, wo diphthongische Realisierungen innerhalb des traditionellen Monophthong-Gebietes häufiger in Isoglossennähe auftraten als in weiter davon entfernten Gebieten. Außerdem waren in Isoglossennähe häufiger die schwäbischen Diphthong-Varianten auszumachen, während im monophthongischen Kerngebiet die standardnahen dominierten. In der vorliegenden Arbeit wurden verschiedene methodische Ansätze angewandt, mit denen das Verhältnis von horizontalem und vertikalem Wandel untersucht wurde. Allen gemeinsam ist, dass fast ausschließlich die spontansprachliche Datengrundlage als Argumentationsbasis diente. Der Grund hierfür liegt darin, dass in den kompetenzbezogenen Erhebungsdaten kaum Hinweise auf die vertikale Komponente des Lautwandels auszumachen sind und somit der Wandel von vornherein als ein ausschließlich horizontal wirkender erscheint. Die aus den spontansprachlichen Daten gewonnenen Ergebnisse sind folglich für die Bewertung von horizontalem und vertikalem Wandel besser geeignet. Im Wesentlichen wurden die folgenden vier methodischen Ansätze angewandt: (1) Der erste Ansatz besteht aus einer qualitativen Beurteilung der Kartenbilder, wie sie auf Grundlage der Apparent-Time-Vergleiche zwischen SSA-Erhebungsdaten und spontansprachlichen Daten angefertigt wurden. Hieraus konnte entnommen werden, wie die phonologischen Realisierungsformen in einem bestimmten Dialektgebiet verteilt sind und ob es sich entsprechend um einen vertikalen, horizontalen oder um einen kombinierten Ausbreitungstyp handelt. (2) Ein weiterer Ansatz ist die Kartierung einzelner lautlicher Realisierungen in Form von Interpolationen, die ebenfalls qualitativ beurteilt wurden. Die Erstellung der Interpolationen beruht auf dem geostatistischen Verfahren des Kriging (vgl. K RIGE 1951) und erfolgt mit der Statistik-Software „R“. Wie bereits in Kapitel 2.3.5 erwähnt, liegt der Vorteil dieser Darstellungsweise in der besseren Möglichkeit zur Beurteilung der geografischen Distribution einer bestimmten phonologischen Realisierung, besonders wenn ein phonologisches Phänomen über eine Vielzahl unterschiedlicher Reflexe verfügt. Durch fein abgestufte Farbgebung konnten aus diesen Darstellungen Aussagen zu horizontalem und vertikalem Wandel getroffen werden. Weist eine rückläufige, von Abbau betroffene Realisierung beispielsweise ein dunkelrotes Kerngebiet auf, das zu den Rändern hin graduell in das blaue Farbspektrum übergeht, so kann daraus auf eine deutlich horizontal geprägte Wandelkomponente geschlossen werden. Scheint das Gebiet der betreffenden Realisierung hingegen bis an seine Außenränder gleichmäßig in einem (nicht dunkelroten) Farbton auf, so deutet dies auf einen vertikalen Wandelprozess hin. Diese Darstellungsweise erbrachte ebenfalls wichtige Erkenntnisse zur Beschaffenheit von Dia-

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lektgebieten. So konnte in fast allen Fällen ermittelt werden, dass Realisierungsgebiete einer bestimmten Lautung nicht homogen sind, sondern sich durch mehr oder weniger hohe Gebrauchshäufigkeiten der betreffenden Variable im Raum charakterisieren lassen. Außerdem erbrachte diese Methode Erkenntnisse zum Konzept der Isoglosse: Sprachscheiden, die zwei Realisierungsgebiete scharf voneinander trennen, konnten in den Interpolationsplots kaum identifiziert werden. Es muss vielmehr von Übergangsgebieten die Rede sein, die je nach betrachteter Variable breiter oder schmaler ausfallen können. (3) Der dritte methodische Ansatz zur Beurteilung von horizontalem vs. vertikalem Wandel argumentiert auf einer rein quantitativ-statistischen Basis. Hierzu wurde die horizontale Komponente von Lautwandel durch die unabhängige Variable Isoglossenabstand operationalisiert und ihre Bedeutung als Prädiktor für den Anteil innovativer Realisierungen in einem rückläufigen Realisierungsgebiet untersucht. Somit konnte auf einer quantitativen Basis und unter Zuhilfenahme verschiedener statistischer Verfahren (insbesondere ist hierbei die sog. Gemischte Logistische Regression zu nennen) die qualitativ gewonnenen Eindrücke aus den Ansätzen (1) und (2) validiert werden.220 (4) Schließlich konnte in der vorliegenden Untersuchung die morphologische Komplexität als Hilfsmittel zur Klärung der Frage nach dem Anteil der vertikalen Komponente am Lautwandel herangezogen werden. Morphologisch komplexe Wortformen (Komposita und Derivationen) tendieren gemäß den Untersuchungsergebnissen stärker zu standardnahen Realisierungen als Simplizia. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei morphologisch komplexen Wortformen häufig um im Standard gebildete Wortbildungsprodukte handelt, die von Dialektsprechern als (Ad-Hoc-)Entlehnungen in den Dialekt überführt werden. Die Entlehnungen werden dabei nicht an die dialektale Lautung angepasst, sondern behalten die standardsprachliche Realisierung bei. Die in solchen Übernahmen wiederholt von den Dialektsprechern gebrauchten standardsprachlichen Realisierungen können in der Folge den Lautwandel einer ganzen etymologischen Klasse hin zu standardnahen Formen beschleunigen. Dies vollzieht sich vermutlich, indem sie sich allmählich auf weitere Wortformen übertragen, die das gleiche Basislexem enthalten („Wortverdrängung“). Am Ende des Lautwandels stünde schließlich die Verdrängung aller dialektalen Lautungen einer etymologischen Klasse und deren Ersetzung durch standardnahe Formen („Lautverdrängung“). Es ist jedoch zu erwähnen, dass morphologisch komplexe Wortformen nicht per se stärker zu einer standardnahen Realisierung neigen und stets aktuelle Entlehnungen aus dem Standard darstellen, die zu einer gerichteten Standardisierung der Basisdialekte führen. Vielmehr existieren in den Dialekten oft alte komplexe Wortformen, die besonders stark an der dialektalen Lautung festhalten und den Wandelprozess entschleunigen. Weiterhin spielt auch die Semantik der komplexen Wortformen eine wichtige Rolle für deren Verhalten. Bezeichnungen, die dem landwirtschaftlich-häuslichen Alltag zugeordnet werden können, weisen oftmals einen höheren Dialektalitätsgrad auf. Zuletzt sei auch die Bedeutung der Gebrauchsfrequenz von morphologisch komplexen Wortformen er220 Die ausführliche statistische Untersuchung des Faktors Isoglossenabstand ist in Kapitel 12.3 zu finden.

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wähnt. Statistische Untersuchungen konnten nachweisen, dass besonders hochfrequente Types stark an der dialektalen Lautung festhalten. Dies gilt – wenngleich weniger deutlich – auch für ausgesprochen niedrigfrequente Wortformen. Types im mittleren Frequenzbereich tragen hingegen überdurchschnittlich häufig standardnahe Realisierungen. Diese mittelfrequente Gruppe morphologisch komplexer Wortformen kann demnach als diejenige gelten, die den Standardeinfluss in die Dialekte bringt.221 Wie bereits oben erwähnt, ging als Hauptergebnis der Untersuchung zum Verhältnis von horizontalem und vertikalem Wandel hervor, dass zumeist eine Kombination beider Komponenten vorliegt. Darüber hinaus erbrachte die Untersuchung, dass die vertikale Komponente dominant gegenüber der horizontalen ist. Darunter ist weniger zu verstehen, dass die vertikaler Einflüsse in quantitativer Hinsicht die horizontalen überragen. Vielmehr ist vertikaler Einfluss in dem Sinne dominant, als dass er die Richtung eines Lautwandels vorgibt. Ist die traditionelle Realisierung eines Dialektgebiets identisch mit oder ähnlich zur standardsprachlichen Form, so breitet sich diese Realisierung in vielen Fällen auch horizontal aus. Die Ausbreitung ist besonders entlang der Isoglosse stärker, da hier ein Synergieeffekt von horizontalem und vertikalem Wandel eintritt, der hingegen im Hinterland eines von Abbau betroffenen Realisierungsgebietes nicht besteht.222

KONSERVATIVE VS. INNOVATIVE GEBIETE Aus den Analysen der einzelnen phonologischen Phänomene ging vielfach hervor, dass konservative von innovativen Gebieten abgrenzbar sind. Unter konservativen Gebieten sind dabei solche zu verstehen, die die dort verankerte dialektale Lautung in einem höheren Maße bewahren als dies in anderen Teilen des Untersuchungsgebietes der Fall ist. Innovative Gebiete sind hingegen solche, die in einem überdurchschnittlich hohen Ausmaß vom Abbau der traditionellen Lautung zugunsten einer oftmals standardnahen Realisierung betroffen sind. Wichtig ist dabei die Feststellung, dass in Dialektgebieten, in denen die traditionelle Realisierung der standardsprachlichen sehr ähnlich oder mit dieser gar identisch ist, in der Regel kaum Variation aufweist. Dies rührt offenbar von der bereits erwähnten Dominanz des vertikalen Einflusses: Besteht phonologische Identität oder Ähnlichkeit zwischen der traditionellen Dialektrealisierung und der Standardform, besteht kein Anlass zum Wandel / Ersatz der Dialektrealisierung. Dürfen nun solche, aufgrund der standardnahen Dialektform variationsarmen Gebiete als konservativ gelten? In der vorliegenden Arbeit wurde diese Frage verneint. Konservativer oder innovativer Charakter kann nur Arealen innerhalb solcher Gebiete zugesprochen werden, in denen deutliche Abbautendenzen der traditionellen Realisierung zu beobachten sind. Es sind dies stets jene Gebiete, in denen eine der Standardform phonologisch unähnli221 Die ausführliche Analyse und Diskussion zum Einfluss morphologisch komplexer Wortformen auf den Lautwandel ist in Kapitel 12.4 zu finden. 222 Vgl. Kapitel 12.5 für eine ausführliche Diskussion zur Dominanz der vertikalen Komponente.

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che(re) Realisierung vorliegt (für mhd. î beispielsweise das Gebiet, in dem traditionell der Monophthong [i:] gilt, wie in Ziit, Wiib, Iis, etc.). Die Analyse der einzelnen phonologischen Phänomene erbrachte für die jeweiligen, von Abbauerscheinungen betroffenen Realisierungsgebiete oftmals eine deutliche Innengliederung in konservativere und innovativere Teilareale. Eine qualitative Beurteilung erschien nur dann sinnvoll, wenn die entsprechenden Gebiete auch eine gewisse geografische Ausdehnung aufwiesen. Als konservative Teilareale konnten für die nhd. Diphthongierung von mhd. î, û und iu beispielsweise der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebiet identifiziert werden. Dieses Gebiet erschien weiterhin im Rahmen der Analyse von mhd. ë konservativer als die weiter nördlich gelegenen Areale. Hinsichtlich der Lage von konservativen Arealen innerhalb eines Realisierungsgebietes lässt sich sagen, dass diese häufig in dessen geografischem Zentrum liegen, d. h. nicht direkt an der Isoglosse zum benachbarten Realisierungsgebiet. Als besonders innovativ begegnete in den Einzelanalysen wiederholt der nördliche Bodenseeraum, wie beispielsweise die Ergebnisse zur nhd. Diphthongierung, zur Dehnung in offener Silbe sowie zur Einsilblerdehnung zeigten. Im Rahmen einer Aggregatanalyse (vgl. Kapitel 12.5) wurde untersucht, inwiefern sich konservative von innovativen Gebieten über alle untersuchten phonologischen Phänomene hinweg identifizieren ließen. Würden sich die phänomenspezifisch konservativen und innovativen Gebiete bei deren aggregierter Betrachtung gegenseitig neutralisieren, so dass keine Unterscheidung mehr möglich wäre, oder würden sich bestimmte Areale im Untersuchungsgebiet als phänomenübergreifend konservative und innovative Gebieten erweisen? Das Ergebnis dieser Untersuchung erbrachte klare Unterschiede. Im Untersuchungsgebiet erschienen zwei Gebiete besonders konservativ: zum einen der äußerste Südwesten des Untersuchungsgebietes und zum anderen ein im östlichsten Teil gelegenes Areal, dessen Zentrum die Stadt Biberach bildet. Die geografische Lage der beiden Gebiete ist dabei kein Zufall, denn beide liegen in den Zentren zweier großer Dialektgebiete. Dies sind das Schwäbische im Osten und das übrige alemannische Dialektgebiet (Oberrhein-, Hoch- und Bodenseealemannisch) im Westen. Zwischen den beiden konservativen Gebieten erscheint ein ausgesprochen breiter Streifen starker Variation. Die geografische Verteilung der phänomenübergreifend identifizierten konservativen und innovativen Gebiete richtet sich also nach den traditionellen Isoglossenbündeln, die das Schwäbische vom übrigen Alemannischen abtrennen. Entlang des Isoglossenbündels sind massive Lautwandelprozesse im Gange, während die fernab des Isoglossenstranges liegenden Kerngebiete in weit geringerem Umfang von Lautwandel betroffen sind. Hinsichtlich des breiten Variationsstreifens stellte sich weiterhin die Frage, ob dieser durch Lautwandelprozesse zustande kommt, die von Osten nach Westen wirken oder von Westen nach Osten. Im Ergebnis zeigte sich wieder die Dominanz des vertikalen Standardeinflusses. Die Wandelprozesse wirken sowohl in die eine als auch die andere Richtung, wobei die der Standardform phonologisch ähnliche Dialektform zur Ausbreitung neigt.

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WEITERE FAKTOREN PHONOLOGISCHEN WANDELS Neben den erwähnten Fragestellungen, deren Klärung das Hauptziel der vorgelegten Arbeit darstellen, wurde im Rahmen der statistischen Aggregatanalysen weiteren Fragen nachgegangen, die ebenfalls für die Erklärung von phonologischen Variationsmustern und Lautwandel verantwortlich sind. Dabei ging es besonders um den Faktor der phonologischen Rezenz sowie den Einfluss des Faktors Geschlecht. Außerdem wurden situative Faktoren einer statistischen Auswertung unterzogen, die im Folgenden ebenfalls kurz erläutert werden sollen. Bei der phonologischen Rezenz handelt es sich um eine kognitive Einflussgröße, die die Variation innerhalb eines Datensatzes mitbestimmt. So gesehen stellt sie ein endogenes Phänomen lautlichen Wandels dar, das aber erst wirksam werden kann, wenn bereits (durch exogenen Wandel) Variation entstanden ist und die Sprecher die Wahl zwischen zwei (oder mehr) unterschiedlichen phonologischen Realisierungen haben (dialektale Realisierung vs. nicht-dialektale Realisierung). Unter Rezenz wird in der vorliegenden Studie verstanden, dass Sprecher zur Wiederholung einer phonologischen Form neigen, wenn dieser eine phonologisch identische, aus der gleichen etymologischen Lautklasse stammende Form vorausgeht. Es stellte sich also die Frage, ob im untersuchten spontansprachlichen Korpus die Wahrscheinlichkeit der Abfolge von gleichlautenden Realisierungen höher ist, als dies statistisch zu erwarten wäre. Im Ergebnis der in Kapitel 12.8 vorgestellten Untersuchung stellte sich in sehr deutlicher Weise heraus, dass dies tatsächlich der Fall ist: Gleichlautende Realisierungen treten tendenziell in Clustern auf und sind nicht gleichmäßig über die Äußerungssequenz verteilt. Dieser Effekt ist besonders bei dialektfern artikulierten Tokens zu beobachten, während er bei dialektnahen Tokens schwächer ausgeprägt ist. Die Anhäufung gleichlautender Tokens ist bereits eine wichtige Erkenntnis bezüglich phonologischer Variation, doch konnte darüber hinaus auch ein Zusammenhang zwischen der Stärke des Rezenz-Effekts und dem Anteil an innovativen Tokens in einem bestimmten Dialektgebiet identifiziert werden. Der Zusammenhang besteht (stark generalisierend) darin, dass Rezenz-Effekte umso stärker ausfallen, je geringer der Anteil der betreffenden phonologischen Realisierung ist. Es darf also angenommen werden, dass Markiertheit oder Salienz einer Lautung direkt mit deren Neigung zu Rezenz zusammenhängt. Außerdem liefert dieser Zusammenhang einen Beitrag zur Erklärung des chronologischen Verlaufs von Lautwandel, der typischerweise S-förmig (wellenförmig) ist. Die starke Rezenz verankert zu Beginn eines Lautwandels eine neu hinzugetretene, markierte Lautung, umgekehrt bremst sie das völlige Verschwinden einer alten Lautung am Ende eines Lautwandels ab. Die einzige soziolinguistische Variable, die im vorliegenden spontansprachlichen Korpus untersucht werden konnte, ist das Geschlecht der Gewährspersonen. Dieser Faktor wurde in Kapitel 12.6 ausführlich untersucht und erbrachte unter allen untersuchten unabhängigen Variablen am häufigsten signifikante Ergebnisse, die alle auf eine tendenziell höhere Dialektalität der weiblichen Gewährspersonen hinweisen. Dies widerspricht den zahlreichen Ergebnissen soziolinguistischer Untersuchungen, in denen die männlichen Informanten stärker an den dialektalen

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(und weniger prestigereichen) Realisierungen festhalten, während Frauen tendenziell die prestigereicheren Formen gebrauchen. Andererseits geht aus Berichten dialektologischer Erhebungen wiederum hervor, dass Frauen sich in Dialekterhebungen dialektaler ausdrücken können und den kommunikativen Ansprüchen der Erhebungssituation besser gerecht werden bzw. über ein höheres linguistisches Geschick beim Wiedergeben der abgefragten Informationen verfügen. Die letztgenannten Eindrücke bestätigen die vorliegenden Ergebnisse zunächst, doch gingen die ausgewerteten Daten dieser Arbeit nicht aus Gesprächen hervor, in denen Dialekt abgefragt wurde, sondern aus spontansprachlichen Gesprächen. Die Ergebnisse können also offensichtlich keiner der beiden Thesen zugeordnet werden und scheinen nicht weiter interpretierbar zu sein. Da im Aufnahmekorpus jedoch eine Reihe von Aufnahmen vorhanden sind, in denen keine Exploratoren anwesend sind (die entsprechenden Aufnahmen bestehen aus Dialogen zwischen zwei Gewährspersonen oder Erzählmonologen), konnte der Hypothese nachgegangen werden, inwiefern die Geschlechtsunterschiede mit der Anwesenheit der Exploratoren zusammenhängen. Die Ergebnisse der Analysen ließen den Schluss zu, dass die geschlechtsspezifische Variablenwahl mit der Anwesenheit von Exploratoren zusammenhängt, denn bei der statistischen Analyse des Teilkorpus ohne Exploratoren verschwand der Geschlechtereffekt. Das sprachliche Verhalten der Gewährspersonen ist demnach ein soziales Konstrukt, wobei aber nicht nachzuweisen ist, ob es die weiblichen oder die männlichen Gewährspersonen sind, die bei Anwesenheit eines Explorators von ihrer ansonsten offenbar ähnlichen dialektalen Sprechweise abweichen. Es besteht einerseits die Möglichkeit, dass Frauen sich unabhängig von der Situation dialektal gleich verhalten und die Männer diejenigen sind, die bei Anwesenheit eines Explorators dialektferne (oftmals standardnahe) Variablen wählen. Andererseits können die Unterschiede darauf zurückzuführen sein, dass Männer sich unabhängig von der Kommunikationssituation dialektal gleich verhalten und die Frauen sich bei Anwesenheit eines Explorators dialektaler artikulieren. Aufgrund der Erfahrungen, die im Laufe der Datenanalysen gewonnen wurden, entsteht der Eindruck, dass die erste der beiden genannten Varianten häufiger im untersuchten Korpus zu finden ist. Situative Faktoren scheinen also eine Rolle für die phonologische Variation zu spielen, weswegen weitere solcher Faktoren in die Untersuchung aufgenommen wurden (vgl. Abschnitt 12.7). Es wurde beispielsweise überprüft, ob die Anzahl der Exploratoren, die während einer Aufnahme anwesend sind, einen Einfluss auf das sprachliche Verhalten der Gewährspersonen haben. Diese Untersuchung erbrachte jedoch kaum signifikante Ergebnisse. In den wenigen Fällen, in denen statistische Signifikanz erreicht wurde, konnte die Hypothese aber bestätigt werden, wonach der Anteil dialektnah realisierter Tokens umso geringer wird, je mehr Exploratoren anwesend sind. Entsprechendes wurde mit der Anzahl der Gewährspersonen gerechnet, wobei erwartungsgemäß der gegenteilige Effekt zum Vorschein kam, d. h. der Anteil dialektnaher Tokens stieg mit zunehmender Anzahl an Gewährspersonen. Auch hier erbrachte die Untersuchung aber nur in wenigen Fällen signifikante Ergebnisse. Schließlich wurde der Faktor „Explorator“ als random factor im gemischten logistischen Modell untersucht, um etwaige individuelle Einflüsse zu untersuchen, die einzelne Exploratoren auf das Äußerungsverhalten der Informanten

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haben könnten. Für diese Hypothese ergab sich kein signikanter Zusammenhang mit der abhängigen Variable Variation. Zum Ende der statistischen Aggregatanalysen wurden in Kapitel 12.9 die in den statistischen Modellen enthaltenen unabhängigen Variablen in eine hierarchische Baumstruktur (conditional inference tree) überführt. Auf diese Weise konnte beurteilt werden, welche Faktoren entscheidend für die Varianzaufklärung im Datenkorpus sind und welche dahingehend eine nur untergeordnete Rolle spielen. Im Ergebnis zeigte sich hierbei, dass der random factor Ort auf der Grundlage dieser Berechnung der stärkste Prädiktor für die vorgefundene Varianz darstellt, während Faktoren wie Isoglossenabstand, Geschlecht, etc. nachgeordnet erschienen. Die Gebrauchsfrequenz der einzelnen untersuchten Lexeme erlangte innerhalb des Baumdiagramms keinerlei statistische Bedeutung.

METHODISCHE ASPEKTE DES DATENVERGLEICHS Wie zu Beginn dieser Arbeit ausgeführt wurde, beruht die Beschreibung von Lautwandel auf einem doppelten Vergleich in Real-Time und Apparent-Time, um eine Validierung der jeweiligen Ergebnisse zu ermöglichen. Es wurden verschiedene theoretische Szenarien skizziert, die sich ergeben können, wenn sich zwei Realisierungen (a) und (b) gegenüberstehen (vgl. die Tabelle 2.1 im einleitenden Kapitel 2.3.1). In den vorliegenden Untersuchungen konnten im Wesentlichen zwei Entwicklungsszenarien beobachtet werden: (1) Beim ersten handelt es sich um den Idealfall eines Lautwandels, bei dem sich ein Wandelprozess im Real-Time-Vergleich andeutet und im Apparent-Time-Vergleich bestätigt wird. Dieses Szenario konnte in den analysierten Daten verhältnismäßig selten beobachtet werden. Oftmals handelte es sich dabei um kleinräumige Reliktgebiete, bei denen sich der Befund des Real-Time-Vergleichs im Apparent-TimeVergleich bestätigte. Auch im Fall der nhd. Diphthongierung war im nördlichen Bodenseeraum eine gleichgerichtete Entwicklung in den beiden Vergleichsebenen zu beobachten. (2) Im zweiten Fall bestätigen sich die Befunde der beiden Vergleichsebenen nicht. Im Real-Time-Vergleich scheint dabei eine dialektale Lautung (a) stabil zu sein, oder sich gar auszubreiten / zu festigen, während im Apparent-Time-Vergleich ihr Abbau deutlich hervortritt. Dieses Szenario konnte in den Analysen am häufigsten beobachtet werden. Dabei kommt es im Real-Time-Vergleich entweder zu einer scheinbaren Ausbreitung/Festigung einer dialektalen Lautung (a) in ihrem traditionellen Verbreitungsgebiet oder das entsprechende Gebiet erscheint sowohl bei W ENKER als auch in den SSA-Abfragedaten weitestgehend identisch und homogen. Erst im Apparent-Time-Vergleich zeigt sich aber auch hier der Abbau des traditionellen Realisierungsgebietes (a) durch die (ebenfalls meist standardnahe) Lautung (b). Beispiele für dieses Szenario finden sich in den meisten Analysen, so u. a. für mhd. ei (Entwicklung des [O5]-Gebietes), für mhd. uo und ie (Entwicklung des Entrundungsgebietes) oder für mhd. ô (Entwicklung des Diphthong-Gebietes).

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Szenario (2) kann als symptomatisch für die vorliegende Untersuchung gelten. In den Wenker-Karten tritt Variation häufig noch deutlicher hervor als in den SSAAbfragedaten. Die Befunde dieser Vergleichsebene widersprechen der zweiten Vergleichsebene, in der die spontansprachlichen Daten fast durchgehend einen klaren Abbau dialektaler Formen zugunsten von standardnahen Realisierungen aufweisen. Somit ähneln die spontansprachlichen Daten eher den etwa 100 Jahre älteren Daten W ENKERS als den zeitgleich (und von annähernd denselben Sprechern) stammenden Erhebungsdaten des SSA. Die Gründe für die widersprüchlichen Ergebnisse auf der ersten und zweiten Vergleichsebene sind als Artefakte der archaisierenden Erhebungsmethode des SSA zu werten.

VOKALISMUS UND KONSONANTISMUS Die vorliegende Arbeit beschränkte sich auf die Untersuchung von Wandelprozessen im Vokalismus. Sie stellt somit die Ergänzung der Arbeit von S TRECK (2012b) dar, in der die konsonantischen Wandelphänomene eingehend untersucht wurden. Stellt man die Hauptergebnisse der beiden Arbeiten gegenüber, so zeigen sich im Wesentlichen ähnliche Tendenzen des Lautwandels. So ist auch der Lautwandel im Konsonantismus größtenteils lexikalisch gesteuert und entspricht weniger dem Bild eines lautgesetzlichen Wandels. Weiterhin erbrachten die Analysen zum Konsonantismus, dass sowohl die horizontale als auch die vertikale Komponente fast immer an den Lautwandelprozessen beteiligt ist. Es treten sowohl Wandelprozesse auf, die einen deutlich horizontalen Verlauf aufweisen, während umgekehrt auch großflächig wirkender vertikaler Wandel beobachtet werden kann. Grundsätzlich ist in den spontansprachlichen Daten des Konsonantismus die Variation innerhalb traditioneller Realisierungsgebiete ebenfalls deutlich ausgeprägt und weist nicht selten auf einen andere Verlaufsrichtung des Lautwandels hin als der, der aus den Real-TimeVergleichen zu vermuten gewesen wäre. Weiterhin zeigte sich im Konsonantismus, dass das Ergebnis eines Lautwandels nicht zwingend die standardsprachliche Form sein muss, sondern dass sich auch regionale Formen ausbreiten können. Auch im Vokalismus konnte dies festgestellt werden, so beispielsweise bei der Realisierung von mhd. ë, wo sich dialektales Lääben gegen standardsprachliches Leeben durchsetzt. Weiterhin werden kleinräumige Reliktgebiete im Konsonantismus tendenziell abgebaut und durch die umliegende oder eine standardnahe Form ersetzt; ein Phänomen, das auch in den Analysen zum Vokalismus häufig beobachtet werden konnte.

AUSBLICK Die vorliegende Arbeit gab auf einer umfangreichen empirischen Basis Antworten auf zentrale Fragen zum phonologischen Dialektwandel in den Basisdialekten Südwestdeutschlands des 20. Jahhrunderts. Ein besonderer Schwerpunkt stellte dabei die Untersuchung des Verhältnisses von horizontalem zu vertikalem Dialektwandel

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dar. Darüber hinaus wurden, gerade im Rahmen der statistischen Aggregatanalysen, noch weitere Fragestellungen verfolgt, die jedoch aufgrund der erforderlichen Begrenzung dieser Arbeit nur angeschnitten werden konnten. Besonders die Untersuchung phonologischer Rezenz bedarf noch eingehender Vertiefung, um das Wirken dieses Phänomens und sein Zusammenwirken mit Lautwandel präziser fassen zu können. Weiterhin konnten soziolinguistische und attitudinale Faktoren nicht in diese Arbeit ausführlich einbezogen werden, obwohl dies die Interpretation der Befunde in vielen Fällen erleichtert hätte. Die beiden Arbeiten des „REDI-Projektes“ von S TOECKLE (2014) und H ANSEN (i. V.) untersuchen diese Aspekte gezielt und vervollständigen damit das Gesamtbild des Dialektwandels in einem Teilgebiet Südwestdeutschlands.

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ANHANG A.1 ISOGLOSSENABSTAND: ERGEBNISPLOTS A.1.1 Durchschnittlicher Isoglossenabstand dialektferner und dialektnaher Tokens

564

Anhang

A.1 Isoglossenabstand: Ergebnisplots

565

566

Anhang

A.1.2 Korrelation von Isoglossenabstand der Quadranten und Anteil dialektnaher Tokens

A.1 Isoglossenabstand: Ergebnisplots

567

568

Anhang

A.2 Rezenz: Ergebnisse der Chi-Quadrat-Tests

569

A.2 REZENZ: ERGEBNISSE DER CHI-QUADRAT-TESTS erwartet

erwartet

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 465,1 163,9 dialektfern 161,9 57,1 GESAMT 627 221 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 578 51 dialektfern 49 170 GESAMT 627 221 df=1, χ 2 =403,798, p < .0001

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 110,1 35,9 dialektfern 33,9 11,1 GESAMT 144 47 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 139 7 dialektfern 5 40 GESAMT 144 47 df=1, χ 2 =126,627, p < .0001

Tab. A.1: Mhd. î

Tab. A.2: Mhd. û

erwartet

erwartet

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 256,2 89,8 dialektfern 88,8 31,2 GESAMT 345 121 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 323 23 dialektfern 22 98 GESAMT 345 121 df=1, χ 2 =256,958, p < .0001

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 390,4 64,6 dialektfern 56,6 9,4 GESAMT 447 74 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 425 30 dialektfern 22 44 GESAMT 447 74 2 df=1, χ =165,799, p < .0001

Tab. A.3: Mhd. iu

Tab. A.4: Mhd. uo

570

Anhang

erwartet

erwartet

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 76,1 31,9 dialektfern 23,9 10,1 GESAMT 100 42 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 90 18 dialektfern 10 24 GESAMT 100 42 df=1, χ 2 =33,554, p < .0001

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 52,4 21,6 dialektfern 22,6 9,4 GESAMT 75 31 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 65 9 dialektfern 10 22 GESAMT 75 31 df=1, χ 2 =31,890, p < .0001

Tab. A.5: Mhd. ie

Tab. A.6: Dehnung in offener Silbe

erwartet

erwartet

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 13,3 33,7 dialektfern 30,7 78,3 GESAMT 44 112 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 38 9 dialektfern 6 103 GESAMT 44 112 df=1, χ 2 =88,384, p < .0001

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 388,6 213,4 dialektfern 221,4 121,6 GESAMT 610 335 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 510 92 dialektfern 100 243 GESAMT 610 335 df=1, χ 2 =292,37, p < .0001

Tab. A.7: Mhd. e

Tab. A.8: Mhd. ei ([O5] + [OI])

A.2 Rezenz: Ergebnisse der Chi-Quadrat-Tests

erwartet

571

erwartet

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 18,5 72,5 dialektfern 69,5 273,5 GESAMT 88 346 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 59 32 dialektfern 29 314 GESAMT 88 346 df=1, χ 2 =137,957, p < .0001

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 2,7 14,3 dialektfern 13,3 68,7 GESAMT 16 83 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 12 5 dialektfern 4 78 GESAMT 16 83 df=1, χ 2 =40,152, p < .0001

Tab. A.9: Mhd. ô

Tab. A.10: Mhd. ou

erwartet

erwartet

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 162,1 68,9 dialektfern 65,9 28,1 GESAMT 228 97 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 202 29 dialektfern 26 68 GESAMT 228 97 df=1, χ 2 =111,219, p < .0001

dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 112,7 17,3 dialektfern 17,3 2,7 GESAMT 130 20 beobachtet dialektnah dialektfern (vorher) (vorher) dialektnah 123 7 dialektfern 7 13 GESAMT 130 20 df=1, χ 2 =48,276, p < .0001

Tab. A.11: Mhd. ü

Tab. A.12: Mhd. oe

572

Anhang

A.3 INTERPOLATIONEN

Abb. A.1: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der monophthongischen Reflexe für mhd. î und û.

A.3 Interpolationen

573

Abb. A.2: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der diphthongischen Reflexe für mhd. î und û.

574

Anhang

Abb. A.3: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen für mhd. iu (Diphthongierung).

A.3 Interpolationen

575

Abb. A.4: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen für mhd. ei.

576

Anhang

Abb. A.5: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen für mhd. ou.

A.3 Interpolationen

577

Abb. A.6: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der diphthongischen Realisierungsformen für mhd. ô und ê.

578

Anhang

Abb. A.7: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen für mhd. ë (Lexemgruppe I).

A.3 Interpolationen

579

Abb. A.8: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen für mhd. ë (Lexemgruppe II).

580

Anhang

Abb. A.9: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der Realisierungsformen für mhd. uo und ie.

Abb. A.10: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der gerundeten und entrundeten Realisierungsformen für mhd. iu.

A.3 Interpolationen

581

Abb. A.11: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit der gerundeten Realisierungsformen für mhd. ü und oe.

582

Anhang

Abb. A.12: Dehnung in offener Silbe: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit erhaltener Kürze.

A.3 Interpolationen

583

Abb. A.13: Einsilblerdehnung: Interpolierte Gebrauchshäufigkeit von Vokallänge.

584

Anhang

Abb. A.14: Gesamtinterpolation: Gebrauchshäufigkeit aller dialektnah realisierter Tokens aller phonologischer Phänomene.

Ist Lautwandel regelmäßig oder lexikalisch gesteuert? Sind dabei exogene oder endogene Faktoren maßgeblich? Wie ist das Verhältnis von horizontalem zu vertikalem Wandel? In seiner Arbeit untersucht Christian Schwarz auf einer soliden empirischen Basis phonologischen Dialektwandel – methodisch nimmt er einen doppelten Kartenvergleich vor. So vergleicht er Dialektkarten aus Georg Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (1880er Jahre) mit den etwa 100 Jahre jüngeren Karten des Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA). Im zweiten Schritt erfolgt ein Vergleich der SSA-Karten mit den spontansprachli-

ISBN 978-3-515-10295-7

chen Daten (nahezu) derselben Sprecher. Ferner werden statistische Analysen mit dem aus über 40.000 Tokens bestehenden spontansprachlichen Korpus durchgeführt. Mithilfe gemischter logistischer Regressionen konnten so vertiefte Erkenntnisse zu Faktoren phonologischen Wandels gewonnen werden, so z. B. zur Rolle von Dialektkontakt, Geschlecht, phonologischer Rezenz oder zum lexikalischen Einfluss der Standardsprache auf den Lautwandel in den Basisdialekten. Die Arbeit wurde im Jahr 2012 mit dem Nachwuchspreis der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen ausgezeichnet.

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