Perspektiven der Metaphysik im »postmetaphysischen« Zeitalter [1 ed.] 9783428544226, 9783428144228

Die hier versammelten Beiträge versuchen einerseits, das Problem des vielfach postulierten »Endes« der Metaphysik von ve

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Perspektiven der Metaphysik im »postmetaphysischen« Zeitalter [1 ed.]
 9783428544226, 9783428144228

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M ETAPHYSIK UND O NTOLOGIE Band 1

Perspektiven der Metaphysik im „postmetaphysischen“ Zeitalter Herausgegeben von

Paola-Ludovika Coriando und Tina Röck

Duncker & Humblot · Berlin

PAOLA-LUDOVIKA CORIANDO/TINA RÖCK (Hrsg.)

Perspektiven der Metaphysik im „postmetaphysischen“ Zeitalter

Metaphysik und Ontologie Herausgegeben von Paola-Ludovika Coriando

Band 1

Perspektiven der Metaphysik im „postmetaphysischen“ Zeitalter

Herausgegeben von

Paola-Ludovika Coriando und Tina Röck

Duncker & Humblot · Berlin

Paola-Ludovika Coriando Institut für Philosophie, Universität Innsbruck Tina Röck Institut für Philosophie, Universität Innsbruck Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung, des Dekanats der Philosophisch-Historischen Fakultät und des Institutes für Philosophie der Leopold-Franzens Universität Innsbruck gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2363-6793 ISBN 978-3-428-14422-8 (Print) ISBN 978-3-428-54422-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84422-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Friedrich-Wilhelm v. Herrmann zum 80. Geburtstag am 8. Oktober 2014 in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet Die Herausgeberinnen

Vorwort Der hier erscheinende Band inauguriert eine im Verlag Duncker & Humblot von Paola-Ludovika Coriando herausgegebene Buchreihe, die der Metaphysik und Ontologie gewidmet ist. Dieser Eröffnungsband präsentiert eine breite Vielfalt herausragender Beiträge zur Geschichte und Gegenwart der Metaphysik, die auf eine an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck vom 5. bis 7. Dezember 2012 durchgeführte internationale Tagung zurückgehen. Seit Platon und Aristoteles galt die Metaphysik als prima philosophia, als die erste und grundlegende Disziplin der Philosophie – ein Primat, das sie bis in die frühe Neuzeit in einer großen Vielfalt von Fragestellungen und Systemen behaupten und ausbauen konnte. Erst in neuerer Zeit wandelte sich diese Vorzugsstellung dahingehend, dass die Metaphysik heute mehr und mehr als Randerscheinung im philosophischen Diskurs oder bestenfalls als Gegenstand der historischen Forschung rangiert. Diese Entwicklung betrifft vor allem die klassischen Grundthemen der Metaphysik, die einst in den Grundfragen nach Gott, Unsterblichkeit und Freiheit gipfelten. Während die ontologisch ausgerichtete metaphysica generalis in verwandelter Form immer noch präsent und lebendig ist, erscheint die metaphysica specialis weitgehend als eine unzeitgemäße Form des Denkens. Wenn bereits Kant die Möglichkeit einer theoretischen Beantwortung der „letzten Fragen“ destruiert hatte und seit Nietzsche selbst deren praktischer Gebrauch radikal in Frage gestellt wurde, so stehen wir heute vor einer Vielfalt von Philosophien, die auf der gemeinsamen Basis eines Verzichtes auf den metaphysischen Anspruch, und insbesondere auf einer Erörterung der für die Existenz des Menschen einst unverzichtbaren Grundfragen, erwachsen sind. Dabei entspricht dem vielerorts herrschenden Konsens über das „Ende“ des metaphysischen Zeitalters keineswegs ein vergleichbarer Einklang über Anspruch, Sinn und Ziele einer Philosophie „jenseits der Metaphysik“. Hegel vertrat bekanntlich die These, dass die Metaphysik der Versuch sei, jene Probleme und Schwierigkeiten, denen eine Generation sich gestellt sieht, in allgemeinster Form auszudrücken. Indes wird die Metaphysik in der heutigen Philosophie meist als totalitäre Metaerzählung abgetan. Welche Gründe und, vor allem, welche Bedeutung diese geschichtliche Entwicklung haben mag, ist eine offene Frage. Suggeriert dieser „Fortschritt“ des Denkens nur, dass die Philosophie es aufgegeben hat, nach letztgültigen Antworten zu suchen? Impliziert er die Erkenntnis, dass sich solche Probleme nicht in allgemeinster Form darstellen lassen? Oder drückt sich darin gar die Tatsache aus, dass sich uns die „letzten“ Fragen und Probleme nicht mehr stellen? Die hier versammelten Beiträge versuchen einerseits, das Problem des vielfach postulierten „Endes“ der Metaphysik aus verschiedenen denkerischen Standpunkten

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Vorwort

aus zu besprechen. Sie möchten andererseits aber auch Perspektiven eines Verständnisses von Metaphysik präsentieren, das die Metaphysik nicht länger nur als Gegenstand der Historie, sondern als lebendige Möglichkeit des Denkens auffasst – als eine unverzichtbare Möglichkeit des Denkens, die nicht „hinter uns“, sondern immer noch „vor uns“ steht. Beabsichtigt ist ein grundsätzliches Gespräch zwischen verschiedenen Positionen und „Selbstverständnissen“ der Philosophie und ihres Verhältnisses zu den metaphysischen Grundfragen; ein offenes und unabschließbares Gespräch, das nicht nach forcierten „Lösungen“ sucht, sondern die sich ergebenden Aporien des Denkens als Urtatsachen menschlichen Welterfassens berücksichtigt und erörtert. „Perspektiven der Metaphysik im ,postmetaphysischen‘ Zeitalter“ – der Titel, den die Herausgeberinnen für den in Innsbruck veranstalteten internationalen Kongress und für diesen Band gewählt haben, ist absichtlich weit gefasst. Die Anführungszeichen zeigen an, dass das Verständnis unserer Zeit als einer „postmetaphysischen“ Epoche von uns keineswegs als bloße Tatsache angesehen wird. Der Titel drückt aber auch die Erkenntnis aus, dass die Philosophie, heute mehr denn je, ihrer geschichtlichen Situiertheit Rechnung tragen muss und soll. Wenn es eine offene Frage ist, ob und wie wir von einem „Ende“ der Metaphysik sprechen können und sollten, so stehen wir heute vor verschiedenen Verständnissen von Metaphysik, die so vielfältig sind wie einst die metaphysischen Positionen selbst. Und obwohl die Metaphysik oft als eine unzeitgemäße Disziplin der Philosophie dargestellt wird, die keine konkrete Rolle mehr in der philosophischen Diskussion einnimmt, sind die metaphysischen Fragen nicht nur von der Philosophie, sondern – wie Kant selbst es in aller Deutlichkeit gezeigt hat – vom „Wesen des Menschen“ nicht wegzudenken. Der Titel dieses Bandes enthält somit die Herausforderung, das weit verbreitete Selbstverständnis unserer Epoche als einer „postmetaphysischen“ oder gar „a-metaphysischen“ Epoche zu prüfen und in Frage zu stellen. Die hier versammelten Beiträge versuchen alle, jeweils aus verschiedenen Standorten heraus, zu fragen, was die Metaphysik und ihre Grundprobleme heute noch sein können und warum sie unbedingt, gerade heute, noch ein zentrales Thema des philosophischen Denkens sein sollten. Je nach der Perspektive auf die Metaphysik, die die Autorinnen und Autoren dieses Bandes einnehmen, zeigt sich nicht nur, ob und inwiefern die Rede eines „postmetaphysischen“ Zeitalters geteilt werden kann oder nicht. In dieser jeweiligen Selbstpositionierung des Denkens vor die Metaphysik eröffnen sich vielmehr zugleich Perspektiven der Metaphysik, Perspektiven, die die Gegenwart und – vor allem – die Zukunft der Metaphysik erschließen. Die Herausgeberinnen danken der Stabstelle für Forschungsförderung des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck sowie dem Institut für Philosophie und dem Dekanat der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck für die gewährte finanzielle Unterstützung dieser Publikation.

Vorwort

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Sie danken ferner Herrn Jonathan Jancsary für die fachkundige Hilfe bei der Herstellung der Satzvorlage. Innsbruck, im Frühjahr 2014

Paola-L. Coriando, Tina Röck

Inhaltsverzeichnis Friedrich-Wilhelm v. Herrmann Von der Unverzichtbarkeit der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Edmund Runggaldier „Die Metaphysik“ und die vielen metaphysischen Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rainer Thurnher Metaphysik im Spiegel neuzeitlicher Kontingenzerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Giusi Strummiello Sich eine Vergangenheit aufbereiten. Das post-metaphysische Denken und die retrospektive Erfindung der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter Trawny Die Umkehrung des Platonismus bei Heidegger und Badiou . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Ingeborg Schüßler Zur Frage der Trinität im gegenwärtigen Zeitalter. Überlegungen im Ausgang von Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Francesco Cattaneo „Veritas est adaequatio rei et intellectus“. Zur Aktualität und zum problematischen Charakter eines metaphysischen Grundsatzes im Rahmen der Hermeneutik . . . . . .

83

Christian Kanzian Integration als Perspektive der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Gerold Prauss Die unbekannte Wurzel von Verstand und Sinnlichkeit bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . 103 Norbert Fischer Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Kant im Blick auf die Zukunft der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Günther Pöltner Metaphysik – Aufgabe von Unaufgebbarem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhaltsverzeichnis

Giuliana Gregorio Vor der Metaphysik? Heidegger, Heraklit und die Suche nach einer „ursprünglicheren Logik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Paola-Ludovika Coriando Metaphysik heute – Möglichkeiten der Selbstpositionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Tina Röck Metaphysik als Weg – eine Rück-besinnung auf die aristotelische pq¾tg vikosov¸a 165 Verwendete Bände der Heidegger Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Von der Unverzichtbarkeit der Metaphysik Friedrich-Wilhelm v. Herrmann Der Titel des Rahmenthemas Perspektiven der Metaphysik im ,postmetaphysischen‘, Zeitalter versetzt den Vortragenden in die Möglichkeit, seine eigene, individuelle Perspektive auf die Metaphysik im gegenwärtigen Zeitalter zu entfalten. Die hier darzulegende Perspektive sei auf die Formel Von der Unverzichtbarkeit der Metaphysik gebracht. Unsere Ausführungen gliedern wir in zwei Abschnitte, deren erster seinen Ausgang nimmt von Heideggers Wesenskennzeichnung der Metaphysik in ihrer Zugehörigkeit zur Geschichte des Seins als deren erster Anfang im Unterschied zum anderen Anfang, aufzufinden in den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“, die den gegliederten Aufriss des seinsgeschichtlichen Denkens geben. Im zweiten Abschnitt unserer Ausführungen handeln wir von der denkerischen Zuwendung zur Geschichte der Metaphysik außerhalb der seinsgeschichtlichen Blickbahn, jedoch im Festhalten an Heideggers grundsätzlicher Würdigung der Metaphysik aus den „Beiträgen zur Philosophie“. I. Aus Heideggers seinsgeschichtlicher Würdigung der Metaphysik und ihrer Geschichte 1. Die Geschichte der Metaphysik als der „Gebirgszug“ der „unbesteigbaren Berge“ Zur Kennzeichnung von Heideggers denkerischem Verhältnis zur Metaphysik wird gemeinhin auf das Wort von der ,Überwindung‘ der Metaphysik verwiesen, das Heidegger selbst vielfach und auch in den „Beiträgen zur Philosophie“ verwendet. Doch mit der bloßen Nennung des Titels ,Überwindung‘ wird, wie es scheint, das Überwundene als ein Vergangenes, Kraftlos-gewordenes, vielfach auch Irriges und Veraltetes ausgegeben, das demzufolge auf die Seite gestellt werden kann. Entgegen dieser Auffassung sagt Heidegger im 93. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“: „Die großen Philosophien sind ragende Berge, unbestiegen und und unbesteigbar. Aber sie gewähren dem Land sein Höchstes und weisen in sein Urgestein.[…] Wann sind solche Berge das, was sie sind? Dann gewiß nicht, wenn wir vermeintlich sie bestiegen und beklettert haben. Nur dann, wenn sie uns und dem Lande wahrhaft stehen.[…] Die Auseinandersetzung mit den großen Philosophien – als metaphysischen Grundstellungen innerhalb der Geschichte der Leitfrage – muß so angelegt werden, daß jede Philosophie als wesentliche als Berg zwischen Berge zu stehen

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kommt und so ihr Wesentlichstes zum Stand bringt.“1 Damit ist gesagt: Die großen Metaphysiken sind – im Bilde gesprochen – ragende Berge, die ,unbestiegen‘, d. h. unbesiegt,und ,unbesteigbar‘, also unbesiegbar sind – weder durch eine andere Metaphysik noch durch eine Metaphysikkritik. Die großen Metaphysiken von Platon bis Hegel sind dem Lande des Geistes sein Höchstes und stehen im Bezug zum Urgestein dieses Landes. Das Gemeinsame dieser großen Metaphysiken ist ihre sie leitende Frage: Was ist das Seiende, die Frage nach dem Seiendsein des Seienden. Die denkerische Aus-einander-setzung – Heidegger schreibt dieses Wort mit zwei Bindestrichen – mit den großen Metaphysiken muß jede von diesen als einen Berg zwischen den anderen Bergen und somit als zugehörig zum Gebirge der Metaphysik begreifen. Daher spricht der 44. Abschnitt aus den „Beiträgen zur Philosophie“ von der Geschichte der Metaphysik als dem „Gebirgszug der befremdlichen unbesteigbaren Berge“2. Aber befremdlich sind die Gestalten der Metaphysik nicht etwa deshalb, weil sie abgelebt und überholt erscheinen, sondern weil ihre gedankliche Größe und innere Wahrheit alles Geläufige von sich weist. 2. Die Geschichte der Metaphysik kein „Vergangenes“ und kein „Irrtum“ Im 34. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“ bedenkt Heidegger das Verhältnis der ,Grundfrage‘ des anderen Anfangs zur metaphysischen Leitfrage des ersten Anfangs der Geschichte des Seins. Lautet die Leitfrage: Was ist das Seiende, so fragt die Grundfrage: Wie west das Sein? Die fragende „Entfaltung der Grundfrage“ gibt „den Grund, das Ganze der Leitfragengeschichte in einen ursprünglicheren Besitz zurückzunehmen und nicht etwa als ein Vergangenes nur abzustoßen“3. In Heideggers eigener Grundfrage als der Frage nach der Wahrheit des Seins als Ereignis wird „das Ganze der Leitfragengeschichte“, das Ganze der Geschichte der Metaphysik, „in einen ursprünglicheren Besitz“ zurückgenommen, dergestalt, daß die metaphysische Leitfragengeschichte erfahren wird als die erstanfängliche Wesungsweise des Seins, in der die offene Wesung der Wahrheit des Seins als Ereignis verhüllt bleibt zugunsten der jeweiligen Gestalten der Metaphysik und ihrer Bestimmung des Seins des Seienden. Hier wird also die Metaphysik ursprünglicher aus der Wahrheit des Seins erfahren und nicht etwa „als ein Vergangenes“ abgestoßen. Deutlicher kann die denkerische Würdigung der Metaphysik innerhalb des andersanfänglichen Fragens nach der Wahrheit des Seins als Ereignis kaum ausfallen. Im 85. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“ wird betont, daß der Übergang des Denkens von der erstanfänglichen Frage ,Was ist das Seiende‘? zur andersanfänglichen Frage nach der dem Sein eigentümlichen Wesung als Ereignis keine 1 GA 65, Abschnitt 93. Die Siglen der Heidegger Gesamtausgabe werden auf den letzten Seiten dieses Bandes aufgelöst. 2 GA 65, Abschnitt 44. 3 GA 65, Abschnitt 34.

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„,Gegnerschaft‘ gegen die ,Metaphysik‘“ sei. Das „übergängliche Denken“, wie Heidegger es nennt, darf „nicht der Versuchung verfallen, das, was es als Ende und im Ende begriffen hat, nun einfach hinter sich zu lassen“4. Das ,Ende‘ der Metaphysik heißt, daß jetzt nicht nur nach dem Sein des Seienden, wie in der Metaphysik, sondern ursprünglicher noch nach dem Wesen, der Wesung des Seins selbst gefragt werden soll. Aber auch in diesem Fragen bleibt die Metaphysik der unverlierbare erste Anfang der Geschichte des Seins, der mit dem anderen Anfang als das Ganze der Geschichte des Seins bedacht wird. Im seinsgeschichtlichen Denken wird die Metaphysik nicht hinter sich gelassen, weil sie ja selbst zur Geschichte des Seins gehört. Wenn in dem jetzt erläuterten Sinne vom Ende des metaphysischen Fragens nach dem Seienden in seinem Sein umwillen des ursprünglicheren Fragens nach dem Sein selbst die Rede ist, dann darf das „nicht zur Meinung verleiten, die Philosophie sei mit der ,Metaphysik‘ fertig“5. So heißt es im 92. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“: die Aus-einandersetzung der andersanfänglichen Grundfrage mit der erstanfänglich-metaphysischen Leitfrage sei „keine Gegnerschaft, weder im Sinne der groben Ablehnung noch in der Weise einer Aufhebung des ersten im Anderen“6. Der letzte Teil dieses Satzes ist wichtig: Im andersanfänglichen Denken der Wahrheit des Seins in ihrer Wesung als Ereignis wird nicht etwa das erstanfänglich-metaphysische Denken des Seiendseins des Seienden ,aufgehoben‘, so, daß es nunmehr nur noch um das andersanfängliche Denken unter Nichtbeachtung des metaphysischen Seinsgedankens ginge. Im 87. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“ lesen wir: „[D]ie Geschichte des ersten Anfangs wird so völlig aus dem Anschein der Vergeblichkeit und bloßen Irre herausgenommen; jetzt erst kommt das große Leuchten über alles bisherige denkerische Werk.“7 Diesen bedeutsamen Gedankenzug fortsetzend sagt Heidegger im 94. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“: „Auseinandersetzung des anderen Anfangs mit dem ersten kann nie den Sinn haben, die bisherige Geschichte der Leitfrage und somit die ,Metaphysik‘ als einen ,Irrtum‘ nachzuweisen.“8 3. Die Geschichte der Metaphysik als „das Vorspiel des Er-eignisses selbst“ Schließlich heißt es im 86. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie“: es sei zu ermessen, „was sich in der Geschichte der Metaphysik ereignet hat: das Vorspiel des Er-eignisses selbst als der Wesung des Seyns“9. So nahe steht die metaphysische Seinsfrage der andersanfänglichen Seinsfrage, daß sie sogar das Vorspiel der Wesung 4

GA 65, Abschnitt 85. Ebd. 6 GA 65, Abschnitt 92. 7 GA 65, Abschnitt 87. 8 GA 65, Abschnitt 94. 9 GA 65, Abschnitt 86. 5

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des Seins als Ereignis ist. Weil die metaphysischen Bestimmungen des Seiendseins des Seienden ihren herkünftigen Grund in der Selbstverbergung der offenen Wesung der Wahrheit des Seins als Ereignis haben, können sie als das Vorspiel dieser offenen Wesung gekennzeichnet werden. Die Frage nach der Wesung des Seins selbst gehört als Frage nach dem Wesensgrund der Metaphysik zur Metaphysik. So gesehen stehen die andersanfängliche und die erstanfängliche Seinsfrage dicht beieinander, wenn sie auch dadurch geschieden sind, daß die eine nach dem Seiendsein des Seienden, die andere aber nach dem Sein selbst in seiner ihm eigenen Wesung fragt. Weil die seinsgeschichtliche Seinsfrage nicht gänzlich außerhalb der Metaphysik ihren Wesensort hat, sondern in dem von uns gekennzeichneten Wesensbezug zur Metaphysik steht, konnte Heidegger in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 sagen: „Wissenschaft als Ganze kann nie durch Wissenschaft und noch weniger durch Maßnahmen, die nur eine Änderung ihres Lehrbetriebs betreffen, gewandelt werden, sondern nur durch eine andere Metaphysik, d. h. eine neue Grunderfahrung des Seyns“.10 Hier wird die andersanfängliche Grunderfahrung des Seins in seiner Wesung als Ereignis ,eine andere Metaphysik‘ genannt. Der Freiburger und spätere Münchner Philosoph Max Müller wies uns Studenten in seinen Vorlesungen immer wieder darauf hin, daß Heideggers seinsgeschichtliche Seinsfrage nicht etwas sei, was mit der Metaphysik überhaupt nichts mehr zu tun habe, sondern daß sie so etwas wie eine ,andere Metaphysik‘ sei. II. Die denkerische Zuwendung zur Geschichte der Metaphysik außerhalb der seinsgeschichtlichen Blickbahn 1. Kein nur historisches oder rein intellektuelles Interesse an der Metaphysik Die vielfache Würdigung, die der Metaphysik und ihrer Geschichte in den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“ zuteil wurde, ist nun aber nicht nur an die seinsgeschichtliche Blickweise auf die Metaphysik gebunden. Nicht nur deshalb, weil die Metaphysik das Vorspiel des Ereignisses ist, ist sie unbesiegt und unbesiegbar. Auch in einer denkerischen Zuwendung zur Geschichte der Metaphysik außerhalb der seins-oder ereignisgeschichtlichen Blickbahn sind die großen Gestalten der Metaphysik unbesiegte und unbesiegbare ragende Berge, sind sie kein Vergangenes, nichts, was es hinter sich zu lassen gilt, nichts, womit die Philosophie fertig ist, nichts Vergebliches, keine bloße Irre und kein Irrtum. Solches zu meinen käme einer Bankrotterklärung der Philosophie gleich, die sich dann auch nicht mehr als Philosophie bezeichnen dürfte. Doch welches ist dann das Interesse der Philosophie an der Metaphysik, wenn diese für sie auch außerhalb der seinsgeschichtlichen Fragebahn kein Vergangenes ist, nichts, was sie hinter sich lassen sollte? Ist es lediglich das historische Interesse an der Metaphysik und ihrer Geschichte? Das rein historische Interesse an der Ge10

GA 39, S. 196.

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schichte der Metaphysik, an ihrer Entstehung und ihrem Verlauf, an den verschiedenen Denkmotiven der unterschiedlichen Gestalten der Metaphysik, kann in der Tat zu einer intensiven Beschäftigung mit ihr führen. Auch für das rein historische Interesse ist die Geschichte der Metaphysik kein bloß Vergangenes, nichts, was auf die Seite zu legen ist. Ist aber das Interesse ein nur historisches ohne eine darüber hinaus gehende Anteilnahme, dann unterscheidet sich das historische Interesse an der Metaphysik nicht vom historischen Interesse an der Geschichte der Ottonen im Mittelalter. So könnte es doch sein, dass ein bloß historisches Interesse an der Metaphysik und ihrer Geschichte zu kurz griffe und das Entscheidende der metaphysischen Fragestellung übersähe. Das nur und rein intellektuelle Interesse an der Metaphysik scheint dem Gegenstand der Metaphysik näher zu kommen. Hier richtet sich das Interesse auf die Denkfiguren und Argumentationsweisen der Metaphysik, auf Richtigkeit und Irrtum der metaphysischen Denkvollzüge. Kommt aber das rein intellektuelle Interesse dem Wesentlichen der metaphysischen Frageweise, so, wie diese im Denken von Platon und Aristoteles, von Augustinus und Thomas v. Aquin, von Descartes, Spinoza und Leibniz, von Kant, Fichte, Hegel und Schelling vorliegt, näher? Fehlt nicht auch im bloß intellektuellen Interesse eine tiefer greifende Anteilnahme an dem, was die Fragen und Antworten der großen Metaphysiken uns auch heute bedeuten können? Vermissen wir nicht sowohl im bloß historischen als auch im rein intellektuellen Interesse an der Metaphysik so etwas wie eine existenzielle Anteilnahme an den großen metaphysischen Gedanken? 2. Das existenzielle Interesse an der Metaphysik Die im bloß historischen Interesse und im nur intellektuellen Interesse an der Metaphysik vermisste tiefer greifende Anteilnahme an den Fragen und Antworten der Metaphysik ist das existenzielle Interesse. Wenn wir uns nicht von vornherein durch ein Vorurteil gegen den existenziellen Anspruch der metaphysischen Fragen abschirmen, dann können wir uns von diesen so ansprechen lassen, dass sie unsere Existenz berühren. Denn jede Metaphysik trägt in sich einen Wesensbezug zu meiner lebendigen Existenz. Zu Beginn seiner Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ von 1929 gibt Heidegger eine doppelte Charakteristik des metaphysischen Fragens: „Einmal umgreift jede metaphysische Frage immer das Ganze der Problematik der Metaphysik. Sie ist je das Ganze selbst. Sodann kann jede metaphysische Frage nur so gefragt werden, daß der Fragende – als ein solcher – in der Frage mit da, d. h. in die Frage gestellt ist“.11 Die zweite charakteristische Hinsicht auf ,jede metaphysische Frage‘ ist für uns jetzt von großer Bedeutung: In jeder metaphysischen Frage ist nicht nur das jeweils Gefragte, sondern auch der Fragende selbst mit in die Frage gestellt. Der Bezug des Gefragten zur fragenden Existenz ist mit in die Frage gestellt. Der Bezug des Gefragten zum Fragenden ist ebenso bedeutsam für 11

GA 9, S. 103.

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die Frage wie das Gefragte. Das Gefragte der metaphysischen Fragen ist nicht etwas für sich, sondern zu ihm gehört wesenhaft der Bezug zur fragenden Existenz. Damit ist aber gesagt: Das Gefragte der metaphysischen Frage ist für mich als den denkend Fragenden kein Gegenstand im Gegenüber wie ein mathematischer oder logischer Sachverhalt, sondern das metaphysisch Gefragte schließt den Bezug meiner Existenz zu ihm ein. Das erfordert nun, dass ich mich in das Gefragte und dessen Existenzbezug versetze und nur so mein Mitfragen und Mitdenken mit dem jeweils Gefragten und Gedachten vollziehe. Das metaphysisch Gefragte ist etwas, was mein Selbstverständnis, mein Weltverständnis und mein Verständnis dessen, was noch darüber hinausgeht, betrifft. Deshalb vollzieht sich jedes metaphysische Fragen als Selbstauslegung meines existenziellen weltbezogenen Selbstverständnisses und meines existenziellen selbsthaften Weltverständnisses. Aus dieser Grundhaltung heraus habe ich stets meine Lehrveranstaltungen durchgeführt, etwa meine Vorlesungen und Seminare über Augustinus, Descartes oder Kant. Auf die Einnahme dieser Grundhaltung habe ich jeweils meine Studenten hingewiesen. Auf diese Weise gelangten wir zu einem lebendigen Mitphilosophieren mit den großen Gestalten der Metaphysik. Dabei stellte sich nicht der Eindruck ein, dass wir uns mit etwas Vergangenem beschäftigen, das nicht mehr unser eigenes selbsthaftes In-der-Welt-sein betrifft und anspricht. Wir fragten die metaphysischen Fragen der Leibnizschen Monadologie als Fragen aus unserem Selbst- und Weltverständnis heraus und lernten auf diese Weise auf das zu achten, was aus unserem Selbst- und Weltverständnis fragbar ist und werden kann. Wir lernten, wie jede Metaphysik insgesamt eine perspektivische, eine endliche Antwort gibt auf die großen metaphysischen Fragen, die von keiner Metaphysik abschließend beantwortbar sind. In diesem Vorgehen, in diesem Umgang mit und Durchgang durch die großen Texte der Metaphysik lernten wir den Ernst des Denkens großer Gedanken und den Respekt vor den großen Gedankenwerken. Wenn auch jede Metaphysik sich selbst absolut formuliert, so gibt es außerhalb ihres Selbstverständnisses keine absolute Metaphysik. Denn jede Metaphysik fragt perspektivisch und gibt perspektivische, endliche Antworten. Aber jede perspektivische Metaphysik weist in ihren Fragen und Antworten in die Dimensionen der großen metaphysischen Fragen, die niemals endgültig, wohl aber in perspektivisch-endlichen Einsichten beantwortet werden. Jede dieser perspektivischen Metaphysiken trägt in sich ihre geschichtliche Wahrheit und ist somit ein unbesiegbarer ragender Berg. Literaturverzeichnis Heidegger, Martin (1975 ff): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittsangabe).

„Die Metaphysik“ und die vielen metaphysischen Thesen Edmund Runggaldier I. Hintergrund „In einer Zeit, in der nicht einmal mehr das Bedürfnis nach spekulativer Metaphysik durchgehend vorhanden ist, wirken alle Versuche ihrer Erneuerung eher aufgesetzt als überzeugend, zwar interessant, aber fragwürdig. Es wäre ein Narr, wer ein anderes Ergebnis erwartete!“1 So lautete die Reaktion von Prof. Franz Wetz auf einen Beitrag zur Substanzontologie auf der Tagung „Metaphysikkritik und Theologie“ im Jahr 1999 an der Universität in Bochum. Diese Bekundung ist symptomatisch für eine weitverbreitete Einstellung: Wir leben in postmetaphysischen Zeiten!2 Trotz dieser Einstellung hat es in den letzten Jahrzehnten eine unverkennbare Wiederbelebung metaphysischer und ontologischer Debatten gegeben. Behandelt wurden und werden nicht nur „meta-metaphysische“ Fragestellungen über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Metaphysik überhaupt, sondern durchwegs auch inhaltliche metaphysische Thesen.3 Verschiedene Animositäten in der Auseinandersetzung über die Möglichkeit von Metaphysik dürften sich aus der mehrdeutigen Verwendung des Ausdrucks „die Metaphysik“ ergeben. Wegen der unterschiedlichen Verständnisse werden der Metaphysik unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben bzw. von ihr verlangt. „Die Metaphysik“ ist aber kein monolithischer Block. Die metaphysischen Thesen wurden in der Scholastik und werden auch heute in den Debatten wegen ihrer Verschiedenheit unterschiedlich argumentativ verteidigt: Die Begründungsmethoden und die Versuche des Aufweises ihrer Gültigkeit variieren stark. Bereits Aristoteles hebt hervor, dass nicht alle metaphysischen Prinzipien ausdrücklich beweisbar sind. Wer es verlangte, bekunde, ungebildet zu sein.4 Aus der Unbeweisbarkeit folge allerdings nicht, dass es keine rational nachvollziehbare „elenchische“ Strategie gibt, um aufzuweisen, dass letzte Prinzipien wie beispiels-

1

Wetz, S. 166. Habermas. 3 s. beispielsweise Kim, Loux/Zimmermann, Lowe, Meixner, Wiggins. 4 Aristoteles, 1005b 4.

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Edmund Runggaldier

weise das Nicht-Widerspruchsprinzip gültig sind: Selbst der Leugner des Prinzips setzt es voraus, indem er es leugnet.5 Wenn heute nach wie vor Autoren gegen die Möglichkeit von Metaphysik im Allgemeinen vorgehen, verkennen sie diese Differenziertheit. Nicht alle Thesen der klassischen Metaphysik sind a priori. Viele sind zudem nur vor dem Hintergrund der Lebenswirklichkeit der Alltagswelt verständlich. Denken wir an die Thesen zur Akt-Potenz-Lehre. Wie sollten diese metaphysischen Ausfaltungen von der Lebenswirklichkeit abgelöst behandelt werden können? Die Grundlage und der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Thesen über Möglichkeit und Wirklichkeit ist und bleibt das menschliche Handeln, die Selbsterfahrung des Menschen, dass er mit verschiedenen Möglichkeiten konfrontiert wird. Das gilt insbesondere für den scholastischen Thomismus. Selbst die verpönten substanzontologischen Thesen sind ohne Rückbezug auf die „unmittelbare Lebenswirklichkeit“ nicht verstehbar. Sie ergeben sich aus der Analyse der Erfahrung der Menschen als handelnder Subjekte und der Veränderung und Veränderbarkeit.6 Das Problem des subjektiv erlebten Werdens bildete und bildet nach wie vor den Hintergrund für die substanzontologischen Debatten. II. Vielfalt unterschiedlicher metaphysischer Thesen Trotz der weit verbreiteten Auffassung, dass es im Rahmen der analytischen Philosophie wegen ihrer positivistischen und empiristischen Wurzeln keine Metaphysik geben könne, haben gerade analytische Philosophen in den letzten Jahren viele Theorien entwickelt und Thesen vorgebracht, die sie selber als metaphysisch charakterisieren. Die Lösungsvorschläge auf die behandelten Fragen und die daraus resultierenden metaphysischen Thesen sind allerdings sehr unterschiedlich. Es gibt analytische Fachmetaphysiker, die beispielsweise an den Fluss der Zeit glauben und die Unterscheidung zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ernst nehmen, und solche, die alle Zeitpunkte als objektiv gleich real bestimmen. Viele glauben ferner, dass jegliche Kausalität Ereigniskausalität sei, d. h. lediglich zwischen Ereignissen bestehe, andere hingegen verteidigen die Annahme, dass es auch Akteurskausalität gibt, d. h. dass auch handelnde Personen als Ursachen betrachtet werden können. Die von neuem aufgeflammte metaphysische Debatte über die Zeit entstand aus Engpässen im Denken über die Frage nach dem Werden bzw. der Veränderung. Denkt man bestimmte, zunächst ganz selbstverständlich scheinende Annahmen über das Werden zu Ende, gerät man in Paradoxien oder Aporien. Aber auch die klassische aristotelische Metaphysik verdankt ihre Anfänge verschiedenen Perplexitäten und Aporien wie jenen des Werdens oder der Veränderung. Diese hatten bereits Platon 5 6

Ebd. 1005b 35 – 1009a 5. Vgl. Lowe (2011).

„Die Metaphysik“ und die vielen metaphysischen Thesen

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in mehreren Dialogen beschäftigt: Wie sollen wir das Werden oder den Fluss der Zeit deuten, ohne in Aporien zu geraten? Die Annahme von aristotelischen Substanzen (heute Kontinuanten oder endurers genannt)7, die im Laufe ihrer Existenz Eigenschaften annehmen bzw. verlieren, gilt von alters her als Beitrag des Aristoteles zur Lösung der angeschnittenen Probleme.8 Tiefschneidende Unterschiede unter analytischen Fachmetaphysikern gehen aber auf unterschiedliche Hintergründe ihrer Forschungsarbeit zurück. Die einen gehen in ihren Überlegungen allein von den Erkenntnissen oder Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschungen aus, die anderen von der gemeinsamen Lebenswelt und wollen auf sie zurückverwiesen bleiben. Die gemeinsame Alltagswelt, in der wir handeln, sprechen und auch forschen, ist einerseits reicher als das, was uns die positive Wissenschaft darüber sagt, andererseits ärmer, weil wir ohne die Wissenschaft sehr wenig darüber wüssten. Die Abweichungen unter den zeitgenössischen Metaphysikern betreffen auch die Metaphysikverständnisse selbst, d. h. die Meta-Überlegungen zur Metaphysik bzw. zu den metaphysischen Überzeugungen. III. Klassisches aristotelisches Metaphysikverständnis Was ist und was soll der Kontext sein, Metaphysik zu betreiben? Für den klassischen Metaphysiker ist es – wie bereits zuvor erwähnt – die gemeinsame Lebenswelt. Der Metaphysiker will zwar die Ergebnisse der positiven Wissenschaften nicht ausklammern – ganz im Gegenteil, sie sind aber nicht die alleinige Ausgangsbasis für seine Überlegungen. Es wäre ein Missverständnis, würde man durch Betonung dieses Ausgangspunktes der gemeinsamen Lebenswelt meinen, die Grundannahmen, die wir in unserem Alltagsleben über die Wirklichkeit machen und die uns faktisch in unseren Lebensvollzügen leiten, bildeten die unrevidierbare Basis unserer metaphysischen Annahmen. Dass sie Ausgangspunkt sind, impliziert nicht, dass sie nicht revidierbar wären. Dass man die gemeinsame Lebenswelt als Ausgangs- und Bezugspunkt für die Metaphysik wählt, besagt nicht, dass man im Sinne der „ordinary language philosophy“ oder der „common sense philosophy“ den alltäglichen faktischen Konsens oder das faktische Verständnis zur normativen Richtschnur des Philosophierens erheben würde. Es heißt auch nicht, dass man im Sinne des in den letzten Jahren so oft in Anspruch genommenen „linguistic turn“ nicht die Sache untersuchen würde, sondern sich mit der Untersuchung der Art, wie man über die Sache spricht, begnügen würde. Der Ausgangspunkt und die Rückbindung an die Lebenswelt ermöglichen metaphysische Überzeugungen, die alle Lebensbereiche betreffen. Diese metaphysischen Überzeugungen ergeben sich aus dem Bemühen zu klären, welchen Status die ver7 8

s. Runggaldier (1998). s. Rapp.

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Edmund Runggaldier

schiedenen Arten von Erfahrung für unser Orientierungswissen und unsere Lebensgestaltung haben und welche Rolle den wissenschaftlichen Theorien dabei zukommt: Wie hängen die einzelnen Lebensbereiche miteinander zusammen? Was ist primär? Was ist grundlegend? Die gemeinsame Lebenswelt war in der aristotelischen Tradition erster Bezugspunkt für die Identifizierung der unterschiedlichen Lebensbereiche in ihrer Vielfalt und Differenziertheit. Sie war es auch für Gilbert Ryles Betonung der Vielfalt der Kategorien bzw. für Wittgensteins Sprachspiele. Der Metaphysiker will es allerdings nicht bei der Feststellung der Vielfalt bewenden lassen, wie es bei Wittgensteinanhängern gelegentlich der Fall ist, sondern will – gerade als Metaphysiker – verstehen, wie sie miteinander zusammenhängen und was die Ontologie ist, auf die diese Vielfalt gründet. Der klassische Metaphysiker erhebt nicht den Anspruch, das Ganze des Lebens und der Welt gleichsam überblicken zu können, wohl aber dessen Teilbereiche als Teilbereiche einzuordnen. Er bemüht sich um die Aufdeckung der Bedingtheit von Sichtweisen und somit um die Erkenntnis von eingeschränkten Sichtweisen als solchen. Im Rahmen einer Alltags- oder Lebenswelt-Metaphysik wird er grundsätzlich alles betrachten, was Gegenstand menschlicher Erfahrung und menschlichen Verhaltens sein kann, aber nicht auf die Weise einer rein einzelwissenschaftlichen Betrachtung. Es geht ihm vielmehr um eine Interpretation des Einzelnen im Rahmen der Gesamtheit dessen, womit es der Mensch zu tun hat. Es wäre ein großes Missverständnis zu meinen, der genannte Typ von Metaphysik würde mit dem Anspruch einer besonderen Weise der Erkenntnisgewinnung in Konkurrenz zu einzelnen Erkenntnisweisen treten, z. B. zu den wissenschaftlichen Betrachtungsweisen. Der Metaphysiker soll vielmehr wie der Weise sein, der in seiner Weisheit unberechtigte Verabsolutierungen und Verallgemeinerungen durchschaut. Der Weise versteht es nämlich, das Erlebte und Gewusste richtig einzuordnen, indem er sieht, was wesentlich ist. In der Stellungnahme wird er die Dinge in ihrer Bedeutung weder über- noch unterbewerten. So kommen dem Wissen, welches wir den Wissenschaften verdanken, grundlegende Funktionen und Aufgaben für die Bewältigung unseres Alltags und für die Befriedigung unserer intellektuellen Grundbedürfnisse zu. Der klassische Metaphysiker will aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse wegen der methodischen Einschränkungen und Abstraktionen, die ihnen zu Grunde liegen, in ihrer Bedingtheit erkennen und so richtig einordnen. Sein naturalistisch geprägter Kontrahent neigt dagegen dazu, naturwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse zu verallgemeinern. Ein Teil der neu entwickelten, rein naturalistischen metaphysischen Thesen entpuppt sich als Folge von Verallgemeinerungen wissenschaftlicher Daten. Die ontologische Fragestellung, was die allgemeinsten Kategorien und die letzten Bestandteile der Wirklichkeit seien, verleitet nämlich allzu leicht dazu zu meinen, nur die positiven Wissenschaften könnten uns sagen, was es heißt zu existieren, und worin die Wirklichkeit letztlich besteht.

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IV. Handlungen und Indexikalität Die Unterschiede zwischen den Typen von Metaphysik bzw. metaphysischen Überzeugungen wirken sich in der Erforschung des menschlichen Handelns ganz besonders aus: Wie sollen wir unsere Alltags-Erfahrung deuten, dass wir handelnd in den Verlauf der Dinge eingreifen, dass wir verantwortlich für unser bewusst gewolltes Tun sind? Handlungen werden von Handelnden hervorgebracht und ergeben sich aus einem komplexen Gefüge von Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten, zu denen auch die subjektive Perspektivität gehört: Handelnde erfahren sich als Zentrum ihrer Welt, in die sie handelnd eingreifen. Diese Erfahrungen werden aufgrund der unterschiedlichen Typen von Metaphysik wiederum unterschiedlich eingeordnet und gedeutet. Handelnde drücken ihre Perspektivität durch so genannte indexikalische Ausdrücke aus, das sind Ausdrücke wie „ich“, „hier“, „dort“, „jetzt“, „gestern“ usw. Durch derartige Ausdrücke verweisen sie auf den subjektiven Gesichtspunkt des jeweiligen „ego“. Dass ich über etwas indexikalisch spreche, denke und fühle, heißt, dass ich in Beziehung zu mir selbst darüber spreche, denke und fühle. Die indexikalische Rede wird somit nicht nur als egozentrisch, sondern auch als selbst-bezüglich (self-referential) charakterisiert. Wie soll man in einer Sprache der objektiven Wissenschaft unsere Erfahrung zum Ausdruck bringen, dass wir immer nur im Jetzt handeln? Dieser jetzige Augenblick ist nämlich ständig ein anderer, er fällt mit immer neuen Zeitpunkten aus der objektiven Zeit zusammen. Welcher Zeitpunkt als Jetzt von uns erlebt wird, kann daher nicht in der objektiven Sprache, die keine indexikalischen Ausdrücke kennt, festgehalten werden. Die Zeit ist für uns und unsere Erlebniswelt wie im Fluss. Der gegenwärtige Augenblick ist von ganz anderer Relevanz als ein gewesener oder ein noch zukünftiger. Die einen Zeitpunkte sind nicht mehr aktuell und die anderen sind es noch nicht. Oft wird verlangt, dass man sich in der eignen Metaphysik entweder für den ontologischen Vier-Dimensionalismus (die Dinge haben 3 räumliche und zusätzlich eine zeitliche Dimension)9, der keine Indexikalität zulässt, oder aber für eine Ontologie mit drei-dimensionalen Entitäten, mit Kontinuanten, denen indexikalische Einstellungen und Fähigkeiten zukommen, entscheidet. Es wird vorausgesetzt, dass man sich entweder für eine positiv wissenschaftliche Ontologie oder aber gegen sie zu entscheiden habe. Aufgrund des zum Typ der klassischen Metaphysik Gesagten dürfte es aber einleuchten, dass die positive Wissenschaft uns nicht zwingt, den Vier-Dimensionalismus als allgemeine Ontologie anzunehmen.10 Dass ich vom indexikalischen zeitlichen Fluss absehe oder abstrahiere, impliziert nicht, dass es ihn nicht gibt. Der naturalistisch gesinnte Metaphysiker wird allerdings schon allein aufgrund seiner Ausgangsoption für eine vier-dimensionale Ontologie plädieren. 9

s. Quine. s. Runggaldier (2005).

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Für den klassischen bzw. Alltagsmetaphysiker ist es zwar verständlich, dass die wissenschaftliche Arbeit mit dem vier-dimensionalen Raum-Zeit-System die naturalistische These nahelegt, dass alles vier-dimensional ist. Die wissenschaftliche Perspektive als solche ist aber auch mit der Annahme kompatibel, dass wir als Handelnde in der Zeit weiterexistieren. Der Wissenschaftler muss aber – um der Objektivität des Inhalts seiner Theorien willen – alle Art von zeitlicher Indexikalität ausklammern. Wissenschaftliche Theorien kennen keinen privilegierten „point of view“. Für wissenschaftliche Zwecke soll man den methodischen Vier-Dimensionalismus – sofern er wissenschaftlichen Zielsetzungen dient – gelten lassen; für eine zufrieden stellende Deutung der Handlungen und des Handlenden als Handelnden muss man aber drei-dimensionale Kontinuanten annehmen. Die Gründe für die Annahme von Kontinuanten sind nicht strikt wissenschaftlich, sondern resultieren aus unserem Handeln und unserem gängigen Zeitverständnis mit der für unser Leben wichtigen Dreiteilung in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Wenn es die Aufgabe der Metaphysik ist, methodisch eingeschränkte Sichtweisen als solche zu durchschauen und unberechtigte methodische Verallgemeinerungen aufzudecken, so ist es günstiger, wenn sie von unserer gemeinsamen Lebenswelt ausgeht und nicht von vornherein die Voraussetzungen praktischer Rationalität sowie den Handelnden mit seinen intentionalen und indexikalischen Vermögen ausklammert. In der Reaktion auf die von neuem erwachte naturalistische Herausforderung, dass das personale Selbst und die Willensfreiheit Illusion seien, wird sich der Metaphysiker davor hüten, die wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse in Frage zu stellen; er wird aber auf Fehlschlüsse hinweisen, wenn aus methodischen Ausklammerungen auf ontologische geschlossen wird, nach dem Motto: Das, wovon man für die Zwecke der Objektivität und Intersubjektivität der Wissenschaft absehen muss, könne es nicht geben. V. Personale Identität In vier-dimensionalistischen Ontologien kann es keine diachrone Identität und somit auch keine personale Identität durch die Zeit geben. Wenn nämlich alles auch zeitlich ausgedehnt ist und somit aus zeitlichen Phasen oder „Teilen“ zusammengesetzt ist, kann sich nichts durch die Zeit als es selbst bewegen. Wenn aber die oben genannten Voraussetzungen der Alltagspraxis und der praktischen Rationalität gültig sind, so sind wir mit uns selbst identisch bleibende drei-dimensionale Kontinuanten (oder endurers). In drei-dimensionalistischen Kontinuanten-Ontologien gibt es diachrone Identität. Ein Kontinuant bleibt vom ersten Moment seiner Existenz bis zu seinem Zerfall mit sich selbst identisch. Empirische Forschungen können beitragen, besser zu verstehen, worin die diachrone Identität besteht, sie muss aber nicht erst „konstituiert“ oder konstruiert werden – die diachrone Identität ist „basic“ oder vorgegeben.

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Im Kontext von vier-dimensionalistischen Ontologien hingegen muss die im Alltag angenommene diachrone Identität von Organismen weginterpretiert und durch schwächere Relationen wie Kontinuitäts- oder Ähnlichkeitsrelationen ersetzt werden. Dass wir im Laufe unseres Lebens mit uns selbst identisch bleiben, bedeute letztlich nichts anderes, als dass unsere zeitlichen Abschnitte oder Phasen in einer Art Kontinuitäts- oder Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen. Vier-dimensionalistische Ontologen bemühen sich daher, Kriterien zu entwickeln, um das, was wir im Alltag „personale Identität“ nennen, konventionalistisch zu konstituieren. Die einen neigen zu organischen Kriterien, die anderen zu psychologischen oder Erinnerungskriterien. Drei-dimensionalistische Ontologen nehmen stattdessen an, dass Kriterien zwar hilfreich sind, um die Identität festzustellen, dass aber personale Identität nicht von sprachlichen Festsetzungen oder kulturellen Konventionen abhängig ist. Drei-Dimensionalisten unterscheiden somit zwischen Kriterien und Bedingungen personaler Identität. VI. Teleologie und Dispositionen Können und sollen Aussagen über natürliche Gegebenheiten in Hinblick auf Ziele und Zwecke gedeutet werden? Der naturalistisch eingestellte Metaphysiker neigt dazu, die teleologische Rede auf den praktischen Bereich menschlicher Handlungen zu beschränken. Vermeintlich teleologische Erklärungen von Naturgegebenheiten hätten – wenn überhaupt – lediglich eine heuristische Rolle. Der klassische und Alltags-Metaphysiker fragt sich aber, ob teleologische Beschreibungen und Erklärungen nicht auch ontologisch verpflichten. Er will jedenfalls die Alltagsrede von Funktionen ernst nehmen, von Funktionen nämlich als Dispositionen verstanden, einen spezifischen Beitrag zur Erlangung eines bestimmten Ziels oder Ausgangs zu leisten: Nieren haben beispielsweise die Funktion, das Blut zu reinigen, das Herz hat die Funktion, Blut zu pumpen. Nieren und Herzen tun zwar viele andere Dinge, das sind aber nicht ihre eigentlichen Funktionen. Man versteht erst dann, warum ein Organ da ist oder wozu es dient, wenn man seine eigentliche Funktion (proper function) erfasst hat. Wie sollte man aber eine proper function von einem zufälligen kausalen Beitrag unterscheiden können, wenn man nicht auf Ziele oder Zwecke Bezug nehmen könnte?11 Schreibt der Metaphysiker Organismen zielgerichtetes Verhalten zu, so bedeutet dies nicht, dass er ihnen Intentionen zuschreiben würde. Um den Heliotropismus von Pflanzen teleologisch zu beschreiben, müssen wir den Pflanzen keine mentalen Haltungen zuweisen. Man setzt voraus, dass die Zielgerichtetheit im Verhalten von Lebewesen in einem nicht-mentalen Sinne analysierbar ist. Funktionsaussagen über natürliche Gegebenheiten haben nicht nur einen heuristischen Wert, sondern können

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s. Ariew.

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auch informative Aussagen über den gesollten Beitrag von Eigenschaften, Teilen oder Prozessen zum Erreichen eines Zieles sein. Im Kontext lebensweltlicher metaphysischer Betrachtungen drängt sich jedenfalls die Frage nach der Realität von Vermögen oder Dispositionen auf.12 Unsere Lebenspraxis ist nämlich von der Kenntnis der Dispositionen von Materialien, chemischen Substanzen, Tieren, menschlichen Personen und heute auch von Maschinen abhängig. Um uns orientieren und um unsere Zukunft planen zu können, richten wir uns vornehmlich nach den Dispositionen von menschlichen Personen. Kennt man jemanden gut, weiß man, was ihre oder seine Dispositionen sind, d. h. man weiß um die Haltungen, Neigungen, Charakterzüge, Einstellungen, welche das Verhalten bestimmen. Dispositionen werden in der Regel so genannten kategorischen Eigenschaften gegenübergestellt. Dispositionen sind im Unterschied zu diesen auf Manifestationen bezogen. Das Zerbrechen des Glases ist die Manifestation seiner Zerbrechlichkeit, die Explosion der Bombe die Manifestation ihrer Gefährlichkeit, Peters Widerspruch die Manifestation seines Mutes usw. Die Nicht-Dispositionen werden kategorisch genannt, insofern sie gerade nicht von Manifestationsbedingungen abhängig sind. In welcher Beziehung stehen diese zwei Arten von Eigenschaften, die dispositionalen einerseits und die kategorischen andererseits, zueinander? Sind sie völlig getrennt, oder gibt es ein gewisses Ausmaß an Interaktion zwischen beiden? Welche Eigenschaften sind die eigentlichen Ursachen für jene Ereignisse, die normalerweise als die Manifestationen von Dispositionen gelten? Dualisten neigen zur Annahme zweier grundsätzlich verschiedener ontologischer Kategorien von Eigenschaften: Die dispositionalen Eigenschaften unterscheiden sich fundamental ihrer Art nach von den kategorischen. Monisten hingegen führen die eine Kategorie auf die andere zurück: Letztlich gibt es nur eine grundlegende Kategorie von Eigenschaften. Versteht man Metaphysik klassisch aristotelisch als umfassend, so wird man die Frage nach der Realität der Dispositionen nicht auf eine rein physikalische Fragestellung einengen, sondern von der Lebenswelt ausgehen und auf sie zurückverwiesen bleiben. In dieser unserer Lebenswelt ist, wie wir gesehen haben, die Kenntnis von Dispositionen für unser alltägliches Handeln von größter Bedeutung. Unser Wissen um Dispositionen bestimmt unser Interagieren mit der Umwelt. VII. Schluss Metaphysik ist keineswegs obsolet. In den letzten Jahren hat es eine geradezu explosionsartige Wiederbelebung metaphysischer Forschungsarbeit gegeben. Die Metaphysik ist aber kein monolithischer Block. Wir werden heute mit einer Vielfalt metaphysischer Thesen und Theorien konfrontiert. 12

s. Mumford.

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Der Großteil der neueren metaphysischen Theorien im Rahmen der analytischen Philosophie ist zweifelsohne naturalistisch geprägt. Es gibt aber auch den klassischen Typ von Metaphysik oder die Alltagsmetaphysik, die von der gemeinsamen Lebenswelt ausgeht, in der wir untereinander interagieren. Sie muss das von der Naturwissenschaft methodisch Ausgeklammerte nicht negieren. Sie fragt nach den ontologischen Verpflichtungen unserer Alltags-Rede und berücksichtigt auch die umfassendere Lebenserfahrung, die Indexikalität sowie die Erfahrungen der Vergänglichkeit, des Zeitflusses. Literaturverzeichnis Ariew, André/Cummins, Robert/Perlman, Mark (eds.) (2002): Functions, Oxford. Aristoteles, Metaphysik. Habermas, Jürgen (1988): Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt. Kim, Jaegwon/Sosa, Ernest (eds.) (1999): Metaphysics. An Anthology, Oxford. Loux, Michael J./Zimmerman, Dean (eds.) (2003): The Oxford Handbook of Metaphysics, Oxford. Lowe, Jonathan (1998): The Possibility of Metaphysics, Oxford. – (2011) Experience of Change and Change of Experience, in: Kanzian, Christian/Löffler, Winfried/Quitterer, Josef (eds.) (2011): The Ways Things Are. Studies in Ontology, Frankfurt, S. 121 – 130. Meixner, Uwe (1997): Ereignis und Substanz, Paderborn. Mumford, Stephen (1988): Dispositions, Oxford. Quine, Willard Van Orman (1960): Word and Object, Cambridge Mass. Rapp, Christof (1995): Identität, Persistenz und Substantialität, Freiburg i. B. Runggaldier, Edmund (1998): Grundprobleme der Analytischen Ontologie (gem. m. Kanzian, Christian), Paderborn (UTB 2059). – (2005) Are There ‘Tensed’ Facts?, in: Stadler, Friedrich/Stöltzner, Michael (eds.), Time and History, Frankfurt, S. 77 – 84. Wetz, Franz J. (2001): Metaphysik nach dem Ende der Metaphysik?, in: Knapp, Markus/Kobusch, Theo (eds.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie, Berlin/New York, S. 160 – 166. Wiggins, David (1980): Sameness and Substance, Oxford.

Metaphysik im Spiegel neuzeitlicher Kontingenzerfahrung1 Rainer Thurnher Es scheint mir angebracht zu sein, meinen Ausführungen eine Entschuldigung vorangehen zu lassen: was ich Ihnen im folgenden bieten kann, hat nicht den Charakter einer theroetischen Abhandlung, einer Untersuchung, einer durch Begründungen untermauerten These. Es geht weniger darum, etwas über Metaphysik auszusagen, als darum, eine die Metaphysik betreffende Erfahrung zu veranlassen. Ich werde also nicht über Metaphysik sprechen, sondern versuchen, Metapysik (oder eine bestimmte Ausprägung von Metaphysik) wie in einem Spiegel erscheinen zu lassen. Dabei habe ich nicht die Absicht, selbst zu sprechen. Eher geht es darum, Texte aus Philosophie und Literatur für sich sprechen zu lassen; Texte, in welchen die Erschütterung manifest wird, die das Brüchigwerden und der Schwund der Überzeugungskraft zur Folge hatte; der Schwund der Verbindlichkeit, des gemeinschafts- und kulturbildenden Potentials dieser über Jahrhunderte hinweg geschichtsmächtigen Gestalt der Metapysik. Dies bedeutet auch, daß wir uns nicht so sehr auf der Ebene des Rationalen und der begrifflichen Analyse, sondern vorzugsweise auf der Ebene der Befindlichkeit bewegen, welche die Texte zum Ausdruck bringen. Freilich könnte und sollte das, was sie an Aufschluß enthalten, in einer nachfolgenden Analyse eingeholt und in einen rationalen Zusammenhang gebracht werden. Dem steht jedoch der knapp bemessene Zeitrahmen entgegen, der uns zur Verfügung steht und der uns zwingt, es bei Hinweisen bewenden zu lassen. Aus dem nämlichen Grund wird es auch nicht möglich sein, die Auswahl der zitierten Textpassagen zu rechtfertigen, sie geistesgeschichtlich in angemessener Weise einzuordnen und aufeinander zu beziehen. So möchte ich mich auch hinsichtlich des rhapsodisch und inkohärent Anmutenden meiner Ausführungen vorsorglich entschuldigen. Was die angesprochenen Texte miteinander verbindet, ist die emotionale Erschütterung, die aus ihnen spricht, hervorgerufen durch den Einbruch der Erfahrung von Kontingenz, einer jähen Konfrontation mit Beliebigkeit, Zufall, Abgründigkeit, Regellosigkeit, Vergeblichkeit und Unbehaustheit. So zielen die herangezogenen Texte von je her (und nicht erst durch die Verwendung, die sie hier finden) darauf ab, in denjenigen, auf die sie berechnet sind, eine Mitbefindlichkeit und einen Gleichklang der Erfahrung hervorzurufen oder einen solchen vorauszusetzen und ihm Ausdruck zu verleihen. Was die Texte ebenfalls miteinander verbindet, ist, daß 1

Auf Wunsch des Autors wurde die alte Rechtschreibung beibehalten.

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sie einen Übergang markieren: daß sie aus einer Reminiszenz heraus sprechen an die Metaphysik; daß sie der Erfahrung eines schmerzlichen Verlusts Ausdruck geben, ohne die Hoffnung zu nähren, jene Unbefangenheit wiederzugewinnen, welche die Akzeptanz dieser Metaphysik einstmals ermöglicht hat. Begreift man mit Heidegger2 die klassische Metaphysik, wie sie sich von Platon und Aristoteles ausgehend entwickeln und über Jahrhunderte hinweg unangefochten als sinnstiftende und Orientierung gebende Instanz behaupten konnte, als OntoTheologie, so wird deutlich, daß eben durch dieses onto-theologische Baugefüge das Kontingente, das dem Menschen als rätselhaft und inkohärent, mitunter aber auch als destruktiv und leidbringend begegnet, zwangsläufig in ein nur scheinbar Kontingentes transformiert wird. Wird alles Seiende in seinen Bezügen und alles zeitliche Geschehen in einem das Gute selbst und die Vernunft verkörpernden Prinzip verankert, dann gibt es in der Welt nichts, was außerhalb des dadurch konstituierten Sinnzusammenhangs zu liegen käme. Vielmehr kann es nur solches geben, dessen Sinnhaftigkeit der Einsicht des Menschen sich fürs erste entzieht. Zwangsläufig stellt sich im Rahmen einer solchen Metaphysik früher oder später die Theodizéefrage. Zudem hat sie sich, wie die Geschichte zeigt, als anschlußfähig erwiesen für die jüdisch-christliche, auf Offenbarung sich berufende monotheistische Religion. In deren Gefolge trat eine Sinndeutung der Geschichte (eine MetaHistorie, wenn man so will, als Heilsgeschichte, späterhin3 in säkularisierter Form als Entwicklungsgeschichte von Vernunft, Emanzipation, Freiheit, Geist, Gerechtigkeit etc.) der Meta-Physik ergänzend und stützend zur Seite. Anders als in der zyklischen Auffassung der Griechen stellt sich Geschichte nunmehr als ein ganzheitlicher, zielgerichteter, in Epochen gegliederter Ablauf dar – christlich gesehen als ein Spannungsbogen von Weltentstehung, Erschaffung des Menschen als Krone der Schöpfung und Ebenbild Gottes, Sündenfall der Engel und des Menschen, Erwählung des Bundesvolkes und Offenbarung Gottes durch Heilstaten wie die Befreiung aus dem ägyptischen Joch und das Geleit ins Gelobte Land, Züchtigung des Bundesvolkes wegen mangelnder Gesetzestreue durch Assyrer und Babylonier samt nachfolgender Erneuerung des Bundes und Verheißung eines Friedens- und Heilsbringers durch die Propheten, Erscheinung Christi als des verheißenen Messias’, Erlösungsopfer des Messias’ und Gottessohnes am Kreuz, Auferstehung, Himmelfahrt, dessen Wiederkunft in Herrlichkeit am Ende der Zeiten, Apokalypse und Jüngstes Gericht: das sind die Stationen der durch Gottes Vorsehung geleiteten Geschichte, in deren Rahmen dem (ebenfalls durch Gottes Vorsehung geleiteten) Leben jedes Einzelnen eine Aufgabe zugedacht ist, so daß der Mensch sein Dasein als Auftrag und Sinnerfüllung begreifen kann. War eingangs die Rede von einem Schwund von Verbindlicheit und Glaubwürdigkeit, von einem Ermatten der integrativen Kraft als Auslöser der hier ins Auge zu fassenden Kontingenzerfahrungen, so ist diese Rede, wie nunmehr deutlich wird, 2 3

Vgl. dazu Thurnher (2007). Vgl. dazu Thurnher (2012), hier insbes. 339 f.

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nicht allein auf die Metaphysik als ein Produkt philosophischer Dialektik zu beziehen. Sie betrifft vielmehr den gesamten, alsbald nicht mehr zu entflechtenden, sich wechselseig stützenden und bekräftigenden metaphysisch-offenbarungstheologischen Komplex in seiner Geschichtsmächtigkeit, in seiner epochalen und kulturprägenden Durchschlagskraft. Als Faktoren, die zu seiner Zersetzung beigetragen haben, lassen sich anführen: der Übergang vom Universalienrealismus zum Nominalismus, mit welchem den Begriffen ihr universal-veritativer Charakter abhanden kommt und sie mutierten zu Konventionen, die nur funktional sich zu bewähren haben in grundsätzlich variablen Konstitutionsweisen innerweltlicher Erfahrungszusammenhänge. Der darauf sich gründende „sichere Gang“, den einzelne Erfahrungswissenschaften nehmen konnten, und der die Metaphysik als „Spielgefecht“, als „Herumtappen … unter bloßen Begriffen“4 erscheinen lassen mußte. Das Unvermögen der Metaphysik, zu einer Einhelligkeit zu finden, nicht nur hinsichtlich der Resultate, sondern bereits der Methoden. Die historische Bibelkritik, welche die Offenbarungsschriften erscheinen läßt als eine Ansammlung von heterogenen Texten, die, in unterschiedlichen, präzise angebbaren Situationen entstanden, sichtlich darauf berechnet waren, auf die Rezipienten, d. h. in erster Linie auf die Zeitgenossen, in der einen oder anderen Weise Einfluß zu nehmen. Daraus resultierend die historisch-genetische Betrachtung der Offenbarungsreligionen, die deren Absolutheitscharakter untergraben mußte und sie selbst als Resultat kontingenter Prozesse erscheinen ließ. Die Revolutionierung des astronomischen Weltbildes durch Kopernikus, Galilei und Kepler, die Zweifel nähren mußte an der Sonderstellung unseres Planeten, an der Auszeichnung gerade unserere Erde als Ort eines allumfassenden Heilsgeschehens, an der Besonderheit und Gottebenbildlichkeit des Menschen, an der Partizipation des menschlichen Geistes an der göttlichen Logos-Natur. Verstärkt wurden diese Zweifel in der Folge durch die Evolutionstheorie Darwins. Und nicht zuletzt sei hingewiesen auf den performativen Widerspruch5 zwischen den in der Moderne sich herausbildenden diesseitsorientierten, auf Daseinssicherung und Daseinserleichterung bedachten Lebensformen und der religiös-metaphysischen Deutung des Lebens als peregrinatio, als Stadium des Durchgangs und der Prüfung im Hinblick auf Erfüllung und Erlösung im Jenseits. Spricht man über diese Dinge, so kommt man schwerlich umhin, auf Nietzsche Bezug zu nehmen. Nietzsche war es, der die Formeln in Umlauf brachte, mit welchen die genannten Vorgänge ungeachtet ihrer Komplexität als Einheit begriffen und abbreviativ benannt werden: die Rede etwa vom Tod Gottes und von der Heraufkunft des Nihilismus. Nicht daß Nietzsche sie aufgebracht hätte; bei Blaise Pascal bereits heißt es: „Le grand Pan est mort“ und „Die Leere dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“6 und auch bei Heinrich Heine ist von dem Toten4

KrV B XV. KSA 12, S. 129: „Es dämmert der Gegensatz der Welt, die wir verehren, und der Welt, die wir leben, die wir – sind“. 6 Pascal, Frgg. 206, 695. Vgl. weiters Frgg. 72, 194, 205, 208, 425 ff., 434, 693; 233, 242, 288. 5

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glöcklein zu lesen, das für den jüdisch-christlichen Gott geläutet wird.7 Vom Nihilismus ist die Rede bei Jacobi, bei Dostojewski und Turgenjew.8 Mit Nietzsche jedoch werden die Bezeichnungen zu Wegmarken der abendländischen Mentalitätsund Geistesgeschichte. Ebenso nimmt Nietzsche auf die zuvor genannten Faktoren Bezug; etwa wenn es bei ihm in einer Aufzeichnung aus dem Nachlaß heißt: „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt dieser unheimlichste aller Gäste?– […] Der Untergang des Christenthums – an seiner Moral […] welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. […] die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft […] Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x […] die nihilistischen Consequenzen der Historie …“9 Und in Zur Genealogie der Moral schreibt Nietzsche: „Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist Thier geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (,Kind Gottes‘, ,Gottmensch‘) war… Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts?“10 Nietzsche glaubt zudem eine Verbindung herstellen zu können zwischen unterschiedlichen psychischen Dispositionen und der Herausbildung der Metaphysik. An die Stelle des tragischen Pessimismus, den nur ein starker und instinktsicherer Menschenschlag, wie derjenige, welcher die Griechische Tragödie hervorbrachte, zu ertragen vermochte, trat nach Nietzsche mit dem Aufkommen der Metaphysik ein intellektueller Optimismus. Er ist das Erzeugnis eines Lebens, das nicht mehr fähig oder willens ist, der Welt, wie sie sich ungeschminkt zeigt, ins Auge zu sehen; der darauf angewiesen ist, sich in Illusionen zu flüchten und sie als unentbehrliches Narkotikum über Jahrhunderte hinweg zu hegen und zu pflegen. So hält Nietzsche fest: „[E]s giebt einen Willen zum Tragischen und zum Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist. Man fürchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare und Fragwürdige, das allem Dasein eignet; man sucht es

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Heine, Bd. 7, S. 56; Bd. 4, S. 246. Georg Jánoska, Zur Geschichte des Nihilismus, in: Studia Philosophica, Bd. 29 (1969), 1 – 18; Manfred Riedel: Nihilismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, 371 – 411; Franco Volpi, Il Nichilismo, Roma/Bari: Laterza 1996. 9 KSA 12, S. 125 – 127. 10 KSA 5, S. 404. 8

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selbst auf.“11 Demgegenüber ist es „die tiefe argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist…. Die Frömmigkeit, das ,Leben in Gott‘, mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht vor der Wahrheit, […] als der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis.“12 Es ist nach Nietzsche das Leben selbst, das in der Metaphysik mit seiner dichtenden, d. h. Perspektiven schaffenden Kraft am Werke ist; und es sind im wesentlichen drei Vernunftkategorien, drei Werte, mit welchen „wir bis jetzt die Welt […] uns schätzbar zu machen gesucht haben“13, d. h. mit welchen wir „die Realität des Werdens“14, der wir nicht gewachsen waren, in etwas umgedeutet haben, womit wir uns versöhnen konnten, ja mehr noch: das uns in gewisser Weise Halt und Geborgenheit zu geben vermochte und nicht zuletzt auch auch als Quelle der Kraft15 in Frage kam. Es sind „die Kategorien ,Zweck‘, ,Einheit‘, ,Sein‘, mit denen wir in die Welt einen Werth eingelegt haben“16. Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine List des Lebens selbst: „psychologisch nachgerechnet“ sind „alle diese Werthe … Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde“17. Das Verhängnis liegt nach Nietzsche darin, daß es sich dabei um die Perspektive eines schwachen, niedergehenden Lebens handelt, und daß die Menschen an diese Werte als an Wahrheiten geglaubt und sich ihnen unterworfen haben. Wahrheiten sind für Nietzsche „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“18. So wurden diese Kategorien „fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge“19. Belastet mit der Hypothek, daß ihnen die Welt im letzten doch nicht entspricht, wurden sie schließlich zweifelhaft und mußten „wieder von uns herausgezogen“ werden, was zur Folge hatte, daß „nun die Welt werthlos aus[sieht]“20 und der „Nihilism als psychologischer Zustand“21 sich einzustellen beginnt. Er ist „das Bewußtwerden der langen Vergeu11 KSA 2, S. 376 f.; vgl. KSA 6, S. 127 f.: „Was theilt der tragische Künstler von sich mit? Ist es nicht der Zustand ohne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt? – Dieser Zustand ist eine hohe Wünschbarkeit; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten Ehren“. 12 KSA 5, S. 78. 13 KSA 13, S. 49. 14 KSA 13, S. 48. 15 KSA 6, S. 60 f.: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie“. 16 KSA 13, S. 48. 17 KSA 13, S. 49. 18 KSA 1, S. 881. 19 KSA 13, S. 49. 20 KSA 13, S. 48. 21 KSA 13, S. 46.

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dung von Kraft, die Qual des ,Umsonst‘, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen“22. Daher gilt: „der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.“23 Lebensekel, Langeweile, Indolenz, Lethargie und Antriebslosigkeit sind die Ingredienzien des mit dem Zusammenbruch der Metaphysik einhergehenden Lebensgefühls. Was die meisten der Texte anbelangt, die ihm Ausdruck geben, und welchen wir, wie angekündigt, uns nunmehr zuwenden, so ist anzumerken, daß insbesondere in der Romantik eine intellektuelle Avantgarde sich darin gefällt, dieses Lebensgefühl bewußt zu kutivieren. Mag sein, daß es dadurch zu einer expressionistischen Überhöhung und Überzeichnung kommt. Gleichwohl ist die Erschütterung, die aus ihnen spricht, wohl in echter Weise empfunden. Text 1: stammt von Kierkegaard, aus seiner romanartigen Schrift Die Wiederholung, in der er den jugendlichen Protagonisten folgendes de profundis anstimmen läßt: Mein Leben ist zum Äußersten gebracht; mich ekelt das Dasein, es ist ohne Geschmack, ohne Saft und Kraft, ohne Sinn. Wäre ich gleich hungriger als Pierrot, ich möchte doch die Erklärung nicht fressen, welche die Menschen mir anbieten. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich in das Ganze hinein betrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt gekommen? Warum hat man mich nicht vorher gefragt, warum mich nicht erst bekanntgemacht mit Sitten und Gewohnheiten, sondern mich hineingesteckt in Reih und Glied als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden an dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Teilhaber sein? Ist das nicht Sache freien Entschlusses? Und falls ich genötigt sein soll es zu sein, wer ist denn da der Dirigent? Gibt es einen Dirigenten überhaupt? An wen soll ich mich mit meiner Klage wenden?24

Text 2: stammt von Nietzsche, aus Die Geburt der Tragödie: Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Ähnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder 22

Ebd. KSA 13, S. 49. 24 Kierkegaard, S. 70 f. 23

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schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntnis tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Überschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectieren, nein! – die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wirklichkeit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr… […] In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche und Absurde des Seins, […] jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.25

Die Texte 3 bis 5 sind ebenfalls von Nietzsche, und zwar aus Also sprach Zarathustra. Sie zeigen Zarathustra als den Leidenden, ehe ihm Genesung zuteil wird durch den Gedanken der Ewigen Wiederkunft, der als das „grösste Schwergewicht“26 ihn erlöst aus jenem Zustand von Orientierungsverlust und Orientierungsnot, von Indifferenz, Indolenz und Gleichgültigkeit, von Verlust des Lebensschwungs, innerer Lähmung und Leere, von Lebensüberdruß und Ekel – insgesamt Folgen des Verlusts der metaphysischen Illusion: Text 3: eine Passage aus Also sprach Zarathustra, die überschrieben ist mit „Lied der Schwermuth“; angespielt27 ist darin auf den Mittagsdämon, die Acedia, auf den mangelnden Eifer, die Teilnahmslosigkeit und innere Leere, den Überdruß: Kaum aber hatte Zarathustra seine Höhle verlassen, da erhob sich der alte Zauberer, sah listig umher und sprach: „Er ist hinaus! Und schon, ihr höheren Menschen – dass ich euch mit diesem Lob- und Schmeichelnamen kitzle, gleich ihm selber – schon fällt mich mein schlimmer Trug- und Zaubergeist an, mein schwermüthiger Teufel … Nun will er vor euch zaubern, er hat gerade seine Stunde; umsonst ringe ich mit diesem bösen Geiste. Euch Allen, welche Ehren ihr euch mit den Worten geben mögt, ob ihr euch ,die freien Geister‘ nennt oder ,die Wahrhaftigen‘ … – euch Allen, die ihr am großen Ekel leidet gleich mir, denen der alte Gott starb und noch kein neuer Gott in Wiegen und Windeln liegt, – euch Allen ist mein böser Geist und Zauber-Teufel hold.“28

Text 4: ist überschrieben mit „Der Schatten“; gemeint ist der Schatten, der Zarathustra gefolgt ist auf seinen kritisch-destruktiven Gedankengängen. Nun spricht der Schatten zu Zarathustra:

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KSA 1, S. 56 f. KSA 3, S. 570. 27 Vgl. dazu Michael Theunissen, Vorentwürfe der Moderne. Antike Melancholie und Acedia des Mittelalters. Berlin u. a.: De Gruyter 1996. Gabriel Bunge, Akedia. Die geistliche Lehre des Evagrios Pontikos vom Überdruß. Würzburg: Der geistliche Osten, 6. Neuausgabe 2009. 28 KSA 4, S. 370. 26

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Rainer Thurnher Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, […] Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen […] Zu viel klärte sich mir auf: nun geht es mich Nichts mehr an. Nichts lebt mehr, das ich liebe – was sollte ich noch mich selber lieben? ,Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben‘: so will ich’s … Aber wehe! wie habe ich noch – Lust. Habe ich – noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft? Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, wohin er fährt, weiss auch, welcher Wind gut und sein Fahrtwind ist. Was bleibt mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unstäter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochenes Rückgrat. […] Wo ist – mein Heim? Danach frage ich und suche und suche ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges – Umsonst!29

Text 5: aus dem Kapitel „Der Wahrsager“: – und ich sahe eine große Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer Werke müde. Eine Lehre ergieng, ein Glaube lief neben ihr: „Alles ist leer, alles ist gleich, alles ist wahr!“ Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden alle Früchte uns faul und braun? […] Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick sengte unsere Felder und Herzen gelb. Trocken wurden wir Alle […] Alle Brunnen versiegten uns, auch das Meer wich zurück. Aller Grund will reißen, aber die Tiefe will nicht schlingen! „Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte“: so klingt unsere Klage – hinweg über flache Sümpfe.30

Text 6: Der anonyme Autor der Nachtwachen des Bonaventura führt uns in der Vierzehnten Nachtwache einen Traum vor Augen. Unschwer ist er als der Traum Fichtes zu erkennen: als der Traum vom absoluten Ich, das sich in seiner Ewigkeitsbedeutung begreift. Dieser Traum ist jedoch in gewisser Weise zugleich der Traum der neuzeitlichen Subjektivität überhaupt – der Traum des Ich, das alles Sein in autonomer Setzung aus sich hervorbringt und das im hervorgebrachten Gegenüber wie in einem Spiegel noch einmal sich selbst und die Gesetze seiner Vernuft vorgeführt bekommt. Aber nicht das Allmachtsbewußtsein menschlicher Autonomie, nicht das Schmeichelhafte der Selbstachtung, die Fichte zufolge aus den Manifestationen der Freiheit und der menschlichen Gewalt über die Natur entspringen soll, beherrscht die Gestimmtheit dieses Traumes. Vielmehr gerät er zum Alptraum der Verzweiflung des von seinen Gemächten umstellten Ich: Da sah ich mich selbst mit mir allein im Nichts, nur in der weiten Ferne verglimmte noch die letzte Erde, wie ein auslöschender Funken – aber es war nur ein Gedanke von mir, der eben endete. … Ich hatte jetzt aufgehört, alles andere zu denken. Kein Gegenstand war ringsum aufzufinden, als das große schreckliche Ich, das an sich selbst zehrte, und im Verschlingen stets sich wiedergebar. […] …es herrschte eine fürchterliche ewig öde Lan-

29 30

KSA 4, S. 340 f. KSA 4, S. 172.

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geweile. Außer mir, versuchte ich mich selbst zu vernichten – aber ich blieb und fühlte mich unsterblich.31

Das Gefühl der Selbstachtung des autonomen, setzenden Ich verkehrt sich in die Langeweile, weil dem Ich nur mehr begegnet, was nach den Prinzipien seiner Vernunft geordnet ist und was es daher in gewisser Weise längst schon kennt. Analog dazu verkehrt sich der Triumph der Unsterblichkeit des Geistes in die Verzweiflung, zu dieser Langeweile auf ewig verdammt zu sein. Text 7: Seinem großen Roman Der Titan hat Jean Paul einen Text mit dem Titel Clavis Fichtiana beigefügt. Er endet mit dem folgenden de profundis (zu dessen besserem Verständnis daran erinnert sei, was Mephisto, der unüberbietbare Meister abgründiger Zweideutigkeit, in Goethes Faust dem Alumnen in’s Stammbuch schreibt: eritis sicut Deus): Was endlich kläglicher ist als alles, ist das müßige, zwecklose, vornehme, insularische Leben, das ein Gott führen muß; er hat nichts zum Umgang. Sitz ich nicht die ganze Zeit und Ewigkeit da …, habe aber, wie kleinere Fürsten, doch nichts um mich als meine nachsprechenden Kreaturen? […] Jede Gottheit, falls noch eine durch Postulieren zu gewinnen ist, sitzt wie ich in ihrem dicht verschlossenen Eis-Empyräum … und ist und hört ihr Ichs-Monochord, die einzige Saite der ewigen Sphärenmusik. […] Aller Enthusiasmus, der mir zugelassen ist, ist der logische – Alle meine Metaphysik, Chemie, Technologie, Nosologie, Botanik, Insektologie besteht bloß im alten Grundsatz: erkenne dich selber – Ich bin nicht bloß … mein eigener Erlöser, sondern auch mein eigener Teufel … und Knutenmeister … Lieb’ und Bewunderung sind leer, denn gleich dem heiligen Franziskus drück’ ich nichts an die (Vexier-)Brust als die von mir geballten Mädchen aus Schnee – Rund um mich eine weite versteinerte Menschheit – In der finstern unbewohnten Stille glüht keine Liebe, keine Bewunderung, kein Gebet, keine Hoffnung, kein Ziel – Ich so ganz allein, kein Pulsschlag, kein Leben, Nichts um mich und ohne mich Nichts als Nichts – mir nur bewußt meines höheren Nicht-Bewußtseins – In mir den stumm, blind, verhüllt fortarbeitenden Dämogorgon, und ich bin er selber – So komm ich aus der Ewigkeit, so geh’ ich in die Ewigkeit – 32

Text 8: „Le grand Pan est mort“ – „Gott ist tot“: diese Kurzformel, in der der der Nihilismus als psychologischer Zustand auf den Punkt gebracht ist, findet sich u. a. auch bei Jean Paul, und zwar in einer Passage seines Siebenkäs mit dem Titel Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. Sie wird dem toten Christus, der die Seelen der Abgeschiedenen anspricht, in den Mund gelegt. Hier heißt es: Oben am Kirchengewölbe stand das Ziffernblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien, und das sein eigener Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen. Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: „Christus, ist kein Gott?“ 31 32

Nachtwachen, S. 122. Paul, Abt.I, Bd. 9, S. 499 – 501.

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Rainer Thurnher Er antwortete: „Es ist keiner. [….] Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Sein seine Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: ,Vater, wo bist du?‘ Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Westen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“33

Welche Möglichkeiten bleiben dem Menschen, wenn tatsächlich dies der letzte, unhintergehbare Befund ist, daß er sich als Bewußstein einer Mannigfaltigkeit gegenübersieht, die keinen Sinn erkennen läßt, und deren Gesetze entweder als Projektionen des Ich oder als Bestimmtheiten der Natur an sich begriffen werden müssen, so daß alles dem blinden Zufall unterworfen bleibt? Jean Paul deutet in seinem aufwühlenden Text die beiden Möglichkeiten an, die allein sich zu bieten scheinen: Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackelzug der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, … so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! … Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? … Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigener Würgengel sein? Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder.“34

Es werden in dem Text, wie wir sehen, zwei Möglichkeiten erwogen: Entweder das Ich hält fest an der Ewigkeitsbedeutung des Geistes, was aber besagt, die Verzweiflung, nur von seinen Projektionen und Gebilden umstellt zu sein, auf ewig aushalten zu müssen – oder es begreift sich selbst als ein nichtiges Produkt des Zufalls und der blinden Gesetze der Natur. Text 9: Angesichts dieser auch bei Jean Paul angedeuteten Alternative, deren beide Möglichkeiten gleichermaßen trostlos sind, sehen wir den ,Helden‘ der Nachtwachen des Bonaventura mit Emphase die letztgenannte Möglichkeit ergreifen, insofern sie ihm als einziger Ausweg aus dem Alptraum der Fichteschen Vision erscheint. Unser Ich ist nicht mehr als die Rolle, die wir spielen. An deren Ende erscheint nicht das Selbst, das wir geworden sind, sondern das Nichts, zu dem wir werden.35 In ironischer Anspielung auf die Friedhofsszene aus Shakespeares Ham33

A.a.O., Abt. 1, Bd. 6, S. 249 f. Ebd., S. 250 f. 35 Vgl. Nachtwachen, a.a.O., S. 120: „Willst du aus der Rolle dich herauslesen, bis zum Ich? – Sieh, dort steht das Gerippe und wirft eine Hand voll Staub in die Luft und fällt jetzt 34

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let läßt der Autor das Werk in einer Rede gipfeln, die der Held an einen Wurm richtet, der aus einem Totenschädel ihn anstarrt: Du Satiriker sitzest allein in der leeren Knochenhöhle und schauest frech und boshaft um dich, und machst das Haupt zu deiner Wohnung, und zu etwas noch schlechterem, in dem sonst die Plane eines Caesar und Alexander geboren wurden. Was ist nun dieser Palast, der eine ganze Welt und einen Himmel in sich schließt … dieses Schwanzstück der Schöpfung – das Menschenhaupt! – die Behausung eines Wurmes. – O was ist die Welt, wenn dasjenige, was sie dachte, nichts ist und alles darin nur vorüberfliegende Phantasie! – Was sind die Phantasien der Erde, der Frühling und die Blumen, wenn die Phantasie in diesem kleinen Rund verweht, wenn hier im innern Pantheon alle Götter von ihren Fußgestellen stürzen, und Würmer und Verwesung einziehen. O rühmt mir nichts von der Selbständigkeit des Geistes – hier liegt seine zerschlagene Werkstatt, und die tausend Fäden, womit er das Gewebe der Welt webte, sind alle zerrissen und die Welt mit ihnen. […] Bei der Berührung zerfällt alles in Asche, und nur auf dem Boden liegt noch eine Handvoll Staub, und ein paar genährte Würmer schleichen sich heimlich weg, wie moralische Leichenredner, die sich beim Trauermahle übernommen haben. Ich streue diese Handvoll … Staub in die Lüfte und es bleibt – Nichts! Drüben auf dem Grabe steht noch der Geisterseher und umarmt Nichts! Und der Widerhall im Gebeinhause ruft zum letzten Male – Nichts! – 36

Text 10: Fehlen darf in diesem Zusammenhang natürlich nicht der Aphorismus 125 aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, der überschrieben ist mit „Der tolle Mensch“; wir geben ihn hier auszugsweise wieder: Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? […] Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? […]“ Hier schwieg der tolle selbst zusammen; – aber hinterdrein wird höhnisch gelacht. Das ist der Weltgeist, oder der Teufel – oder das Nichts im Widerhalle!“ 36 Nachtwachen, a.a.O,. S. 140 – 143.

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Rainer Thurnher Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. […]“37

Text 11: Ans Ende unsere Textauswahl und unserer Ausführungen sei mit Bedacht der nachfolgende Aphorismus Nietzsches aus Jenseits von Gut und Böse gestellt: Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen Sprossen; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man seinem Gotte Menschen, vielleicht gerade solche, welche man am besten liebte […] Dann, in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte die stärksten Instinkte, die man besass, seine ,Natur‘; diese Festfreude glänzt im grausamen Blicke der Asketen, der begeisterten ,Widernatürlichen‘. Endlich: was blieb noch übrig zu opfern? Mußte man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? mußte man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Für das Nichts Gott opfern – dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir alle kennen schon etwas davon. – 38

Literaturverzeichnis Heine, Heinrich (o. J.): Sämtliche Werke, ed. Ernst Elster, Leipzig/Wien. Kierkegaard, Sören (1955): Gesammelte Werke, hrsg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, 5. und 6. Abteilung, Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, Düsseldorf/Köln: Diederichs. Nachtwachen. Von Bonaventura (1974), hrsg. von Wolfgang Paulsen, Stuttgart: Reclam. Pascal, Blaise (1925): Pensées, ed. Leon Brunsvicg, Paris, 3. Aufl. Paul, Jean: Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausg. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Thurnher, Rainer (2007): Heideggers Auseinandersetzung mit dem Gottesverständnis der metaphysischen Tradition, in: Klaus Dethloff/Ludwig Nagl/Friedrich Wolfram (Hrsg.): „Die Grenze des Menschen ist göttlich“ – Beiträge zur Religionsphilosophie, Berlin: Parerga. – (2012) Nietzsche über Ursprung, Latenz, Manifestation und Maskierungen des Nihilismus, in: Sivia Stoller/Gernhhard Unterthurner (Hg.): Entgrenzungen der Phänomenologie und Hermeneutik. Festschrift für Helmuth Vetter zum 70. Geburtstag, Nordhausen: Bautz, S. 325 – 345.

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KSA 3, S. 480 f. KSA 5, S. 74.

Sich eine Vergangenheit aufbereiten Das post-metaphysische Denken und die retrospektive Erfindung der Metaphysik Giusi Strummiello 1. Sich danach fragen, in welchem Verhältnis die Metaphysik und ihr Nachleben zueinander stehen, heißt vielleicht zunächst einmal sich danach fragen, welcher Stellenwert dabei eigentlich dem post- zukommt. Anders gesagt: auf welche Weise modifiziert und qualifiziert das Präfix post- die Metaphysik selbst? Zeigt es die Zäsur zwischen zwei völlig verschiedenen Umgebungen oder Ordnungen an, deren letztere sich der ersteren entgegensetzt (post-Metaphysik als anti-Metaphysik), oder besser ausgedrückt, setzt es sich an die Stelle der ersten aufgrund von deren Erschöpfung, Auflösung, Verflüchtigung? Oder spielt das post- auf die Eröffnung eines anderen Horizontes an (post-Metaphysik als Möglichkeit eines neuen Anfangs von Denken), welcher dennoch nicht von sich aus neu ist, sondern das, was der andere in seinem gesamten Verlauf hervorgebracht hat, wieder aufnimmt und vertieft? In dieser letzteren Annahme verwiese das post- mithin in erster Linie auf die Anerkennung einer Unumgänglichkeit – d. h. auf die Tatsache, dass – wie sehr man auch die Notwendigkeit beschwören mag, aus dem Gefilde der Metaphysik herauszukommen – es niemals möglich sein wird, sich wirklich von ihr zu verabschieden. Die post-Metaphysik bestünde in diesem Sinne aus einer Art von Rückverweis an die Metaphysik, und demnach nicht so sehr in einer Überwindung und Abschaffung, sondern in einem Vorhaben, sich die Metaphysik auf anderer Ebene wieder anzueignen –, so als ob das post- nicht auf einen augenblicklichen Übergang sondern auf eine strukturelle Schwelle hinwiese, auf die Notwendigkeit, sich zugleich innerhalb und außerhalb der Metaphysik aufzuhalten, oder in ihr, aber auf andere Weise: ekzentrisch, versetzt. Schließlich könnte das post- nicht so sehr eine Folge oder Ablösung (ein ,nach‘) und auch nicht nur einen strukturellen und der Metaphysik selbst innewohnenden Hiatus (einen Einschub, ein ,zwischen‘) anzeigen, sondern eine rückwärts gewandte Bewegung, die vom ,danach‘ ausgehend ihr ,zuvor‘ konstituiert – die sich mithin nicht einfach nach dem, was gewesen ist, ansiedelt, wobei sie dies (Vorherige) abwehrt oder sich diesem übergibt; vielmehr erschafft, konstituiert sie es, und kommt also in gewisser Weise auch vor diesem, so wie Borges zufolge die nachfolgenden Autoren sich bisweilen ihre Vorgänger schaffen. 2. Was lässt sich nun aus diesen verschiedenen Weisen, die Bedeutung und die Funktion des Präfix ,post-‘ zu verstehen, herausholen in Bezug auf die Natur der Me-

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taphysik, die des post-metaphysischen Denkens und das Verhältnis zwischen den beiden? In der ersten der bislang unterschiedenen Bedeutungen stellt sich das post-metaphysische Denken offensichtlich selbst als eine völlig neue Phase dar, die sich eröffnet, nachdem die metaphysische Tradition auf ihre Auflösung zugelaufen ist. Dieses Programm einer Überwindung der Metaphysik, das seine Wurzeln augenscheinlich bei Nietzsche und allgemeiner in der Krisen-Kultur zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts hat, findet auch Niederschlag in einigen Heideggerschen Texten, wie z. B. im berühmten § 6 von Sein und Zeit, wo die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie umrissen wird. Die Dringlichkeit einer derartigen Aufgabe ist Heidegger zufolge von dem Umstand bestimmt, „dass die Frage nach dem Sinn des Seins nicht unerledigt, nicht nur nicht zureichend gestellt, sondern bei allem Interesse für ,Metaphysik‘ in Vergessenheit gekommen ist“1: wenn die Frage nach dem Sein in aller Klarheit und in seiner eigentlichen Gestalt zurückkehren soll, gilt es also, alle Schichten, unter denen die Tradition es verschüttet hat, abzutragen. Die Destruktion soll den „überlieferten Bestand[es] der antiken Ontologie“ betreffen, mit dem Ziel, zu jenen ursprünglichen Erfahrungen zurückzugelangen, die im Laufe der Geschichte jene Bestimmungen des Seins ermöglicht haben, die dann ausschlaggebend geworden sind. Es geht also offenkundig nicht darum – wie Heidegger zugibt –, zu einer Annullierung der metaphysischen Tradition zu schreiten, sondern eher darum, sie in ihren Möglichkeiten und vor allem in ihren Begrenzungen zu umschreiben2. Es trifft gewiss zu, dass die Destruktion, die in dem Werk von 1927 beschworen wird, in völlig anderem Licht erscheint, wenn sie ausgehend von dem interpretiert wird, was Heidegger in der Folge über die Überwindung und die Verwindung der Metaphysik geschrieben hat3. Bevor jedoch dieser Ansatz – der die zweite Möglichkeit, die Funktion des post- zu verstehen, betrifft, – kurz betrachtet wird, ist es angebracht, danach zu fragen, was dieser ersten (vielleicht unmittelbareren und gängigeren) Art, das post-metaphysische Denken zu verstehen, zugrunde liegt. Frédéric Nef zufolge – der dieser Frage einen einschlägigen Abschnitt seines Qu’est-ce que la métaphysique? gewidmet hat – antwortet dieser Ansatz auf ein ganz bestimmtes theoretisches Paradigma, nämlich das vom ,Ende der Metaphysik‘4. Die Metaphysik sei an ihr Ende gelangt nicht oder nicht nur, weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllt habe, sondern vor allem, weil sie alle ihre Möglichkeiten aufgebraucht oder ausgeschöpft habe. Somit wird die Metaphysik als ein geschlossener, kompakter Block oder als ein von streng einheitlich strukturierten Texten bestimmter Zusammenhang verstanden (wie es auch der Fall zu sein scheint, wenn Heidegger von der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik spricht) – ein Block, den es zu überschreiten gelte, um zu einem andersartigen und eigentlicheren Denken zu gelangen. Das Paradigma vom 1

GA 2, S. 29. Vgl. GA 2, S. 30 – 31. 3 Hierzu vgl. von Herrmann, S. 83 – 150. 4 Nef. 2

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Ende suggeriert also ein lineares Bild der Metaphysik-Geschichte, die einerseits zu ihrem unausweichlichen Ende führt, andererseits zu ihrer notwendigen Überschreitung antreibt5. Wie aber Nef selbst hervorhebt, ist es durchaus nicht gesagt, dass eine Geschichte einzig und allein linear ablaufen muss. Andere Optionen sind sehr wohl möglich: man könnte z. B. annehmen, dass die Geschichte der Metaphysik ganz und gar diskontinuierlich und fragmentarisch ist, oder dass die Metaphysik eine atemporale aus idealen Systemen zusammengesetzte Struktur hat, oder aber dass sie einen zyklischen Verlauf hat, dem vergleichbar, was in anderen menschlichen Unterfangen wie Wirtschaft, Krieg oder Mode vorkommt6. Die „historisierende Ordnung“ jener hingegen, vive! die die Vorstellung vom unumkehrbaren Ende der Metaphysik als ein Dogma akzeptieren, führt zu einer asphyktischen und gewissermaßen in sich selbst widersprüchlichen Vision: so fragt sich Nef provokativ: „Si la métaphysique est un obstacle, pourquoi s’attarder à son histoire? S’il s’agit d’en recenser les possibilités, pourquoi ne pas essayer d’en réaliser certaines? Est-on sûr que la métaphysique a réalisé toutes ses virtualités? Est-ce que faire la chronique minutieuse de son achévement mérite tant de peines? Le raisonnement qui consiste à penser que l’on dépasse quelque chose en en faisant l’histoire est-il foncièrement valide?“7. 3. Die zweite Art und Weise das post- zu verstehen – worauf wir anfangs Bezug genommen haben – ist jene, für welche das post-metaphysische Denken einerseits die Wahrheit der Metaphysik enthüllt, und andererseits – eben deswegen – die Metaphysik als einen substantiell unumgehbaren Horizont auffasst. Das Verhältnis des postmetaphysischen Denkens zur Metaphysik ist auf diese Weise vom Paradigma der ,Übergabe‘ an die Metaphysik gekennzeichnet, oder von der Verwindung der Metaphysik selbst – eine Anerkennung, die jedoch immerhin einen Abstand oder besser gesagt, eine parousia mitbringt, d. h. ein Moment, in dem das Wesen der Metaphysik sich in seinem zunächst verborgenen Wesen enthüllt. Das post-metaphysische Denken wäre so kein eigentlicher Austritt aus der Geschichte der Metaphysik, sondern versuchte, innerhalb eben dieser Geschichte die Möglichkeit eines anderen Anfangs zu verwurzeln – unter der Bedingung jedoch, dass die Metaphysik selbst am Ende enthüllt und in ihrem eigensten Wesen erkannt werde. Besonders bei Heidegger steht und fällt, wie bekannt und bereits angedeutet, die Vorbereitung eines „anderen Anfangs des Denkens“ mit der Möglichkeit einer postmetaphysischen Philosophie oder noch radikaler, eines post-philosophischen Denkens. Und dennoch stellt die Metaphysik bei Heidegger, weit entfernt von einem einfachen Zwischenfall, das Schicksal der Philosophie und den Schauplatz der gesamten Seinsgeschichte dar. Vor allem die Beiträge zur Philosophie zeigen diese in gewisser Weise strukturelle Ambivalenz auf: ein wirklich anderer Anfang kann sich nur im Verständnis und in der Beherrschung der Geschichte, die ihm vorangegangen ist, ver-

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Vgl. Nef, S. 217. Vgl. Nef, S. 217 – 218. 7 Nef, S. 45 – 46. 6

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wurzeln8. Die Geschichte der Metaphysik als Seynsgeschichte ist eben kein Irrtum (oder eine Verirrung), sondern eine strukturelle Gegebenheit, die dem Wesen des Seins entspricht, und dieses als ein Sich-Zurückziehen von dem, was es offenbart (das, was die Offenbarkeit erlaubt) zugunsten dessen, was sich offenbart, fasst. Der Übergang von der Fundamentalontologie zum sogenannten seinsgeschichtlichen Denken verlangt also eine Vertiefung eben dieser Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie, wie sie von Heidegger im § 6 von Sein und Zeit entworfen ist: die Überwindung der Metaphysik ist in erster Linie eine Verwindung. Daher also die Notwendigkeit, rückblickend die gesamte okzidentale philosophische Tradition bis hin zu ihren griechischen Ursprüngen aufs Neue zu betrachten. Dabei beginnt man ausgehend von den Eigenschaften und Merkmalen der gegenwärtigen Epoche, einer Epoche, in der der grundlegende Zug der Metaphysik – die Seinsvergessenheit zugunsten des Seienden – ihre äußerste Dimension erreicht zu haben scheint. Gerade weil das Sich-Entziehen (die Vergessenheit) den Grundzug des Seins ausmacht, kann der andere Anfang des Denkens nicht als ein endgültiger Abschied von der vorausgehenden Denk-Tradition betrachtet werden. Es geht hier darum, auf jegliche Gegenüberstellung in rein zeitlichen Termini zu verzichten – d. h. auf jegliche Entgegensetzung, in der eine Geschichte für immer abgeschlossen zu sein hat, damit eine andere auf sie folgen kann. Man hat es hingegen mit einer Struktur von wechselseitigem Verweis zu tun, in der der andere Anfang eng an den ersten gebunden bleibt: die Seinsgeschichte besteht in diesem Zuspiel, in dem der Wink in Richtung des anderen anklingt, ausgehend von einer ursprünglicheren Erfahrung als jener Entzug, der das Gewesene definiert9. Es geht also nicht darum, sich von einer bereits abgeschlossenen epochalen Phase zu einer anderen noch zu eröffnenden zu bewegen, sondern im Gegenteil darum, zu erkennen, dass die Dynamik des Denkens (sein Wesen) eben in dieser Bewegung besteht, im unvermeidbaren Gegensatz zwischen einer Geschichte, die immer wieder zurückgewonnen werden muss (eine Geschichte, die obwohl an ihrem Ende angelangt, eigentlich niemals aufhört, und die man sich darum notwendig anzueignen hat) und dem anderen Anfang, der so nicht sein kann, wenn er nicht in Bezug auf das schon Geschehene gesehen wird10. Im Heideggerschen Projekt gibt es nur eine Geschichte und mithin gibt es nur einen Anfang, einen Ursprung. Der Terminus Anfang wird jeder rein chronologischen Interpretation entkleidet. Zum ersten Anfang zurückkehren zu wollen, bedeutet nicht, sich an einen vorgeblichen Moment zu wenden, in dem das okzidentale Denken heraufdämmerte, an einen hypothetischen Beginn, dem gegenüber die darauf folgende Geschichte nichts anderes als ein fortschreitender Verfall wäre. Der Anfang ist keine historische Tatsache; er ist vielmehr seit je eine Möglichkeit, die als 8

Zum Thema des anderen Anfangs des Denkens in den Beiträgen, erlaube ich mir auf folgenden Text hinzuweisen: Giusi Strummiello: L’altro inizio del pensiero. I «Beiträge zur Philosophie» di Martin Heidegger, Levante, Bari 1995. 9 Vgl. GA 67, insbesondere S. 7, S. 9, S. 169. 10 Vgl. GA 67, S. 5 – 6.

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solche von Anbeginn an hätte ergriffen werden können, und die es eben als Möglichkeit zu erhalten und neu zu denken gilt. Das anfängliche Denken ist darum weder ein unrealistischer Versuch, einfach zu einem bestimmten Quell-Punkt zurückzukehren, noch der Wunsch, eine völlig neue Geschichte ins Leben zu rufen: es ist vielmehr der Versuch, den Ursprung als Möglichkeit für das Zukünftige zu denken11. Dies ist umso offensichtlicher, wenn man von näherem betrachtet, dass der erste Anfang in Wirklichkeit nur ein Ende ist, und nicht so sehr, weil man es mit dem dem Ende zustrebenden Verlauf einer metaphysischen Parabel zu tun hat, die von den Griechen bis zu Nietzsche reicht, sondern vor allem weil das Ende bzw. das Enden, das ist, was seit jeher das metaphysische Denken charakterisiert. Die Heideggersche Beschreibung der Geschichte vom ersten Anfang hat, im Gegensatz zu dem was Nef beobachtet, in Wirklichkeit überhaupt keine linearen Züge: es gibt keine Abfolge von einem Anfang zu einer Krise der Metaphysik, noch irgendeinen Versuch, hinter den augenscheinlichen Abstieg der Ontotheologie zu ihren Wurzeln zurückzugelangen. Der erste Anfang ist seit jeher ein Ende, in dem Maße als der Ursprung immer verfehlt worden ist12. In der Seinsgeschichte gibt es weder Fortschritt noch Rückschritt, weil es eben keinen Nullpunkt gibt: der Ursprung ist nicht genetisch am Anfang der Geschichte, sondern das, was in tieferem Sinn die Geschichte, eben insofern er ihr entgeht, in jedem Moment begründet. Der geschichtliche Raum der Metaphysik ist mithin der Raum, in dem, sei es auch als unausgeschöpfte Möglichkeit, die Schickung des Ursprungs herrscht. Unter diesem Gesichtspunkt kommt man um die Metaphysik offenkundig nicht herum. Die Aufgabe des anderen Anfangs besteht darin, sich auf die Metaphysik einzulassen, um die Grenzen von innen her aufzubrechen, um den Sinn des Entzugs, der in ihr herrscht, zu radikalisieren. Jede rein instrumentelle oder äußerliche Interpretation der Metaphysik ist deshalb als solche zum Scheitern verurteilt. Es gilt dagegen, ein anti-ökonomisches, verschwendendes Verhalten anzunehmen: es handelt sich, in anderen Worten, darum, die Metaphysik zum Überfluss zu bringen, ihre Grenzen zu verflüssigen, sie unablässig aufs Spiel zu setzen, um den Zauber der Vergegenwärtigung zu vermeiden. Was überwunden werden muss, ist nicht so sehr die Metaphysik selbst, sondern die metaphysische Konzeption der Metaphysik – ihre „Metaphysizität“13. Genau darin liegt der Sinn der Überwindung als Verwindung und nicht bloß (oder nicht mehr) als Destruktion. Trotz der vollkommen inhaltsbezogenen Selbstinterpretation, die Heidegger hier suggeriert, bleibt ein Abstand zwischen der in Sein und Zeit vertretenen Position und der in den Dreißiger Jahren ausgearbeiteten. In Sein und Zeit scheint nämlich ein genetisches Modell vorzuherrschen, d. h. der Versuch, innerhalb der Geschichte (und somit in Richtung auf einen noch chronologisch bestimmten Ursprung hin), eine gewisse Tendenz aufzufinden, derzufolge das Denken einige Richtungen zu Ungunsten anderer bevorzugt hat. Im seinsgeschicht11

Vgl. GA 67, S. 59. Vgl. desweiteren GA 6.2, S. 2 – 3. Vgl. GA 67, S. 173. Vgl. desweiteren GA 45, S. 199. 13 Vgl. GA 6.2, S. 335.

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lichen Horizont lässt sich eine derartige Perspektive nicht mehr einnehmen. Die Überwindung muss, wie z. B. in dem 1954 veröffentlichten, explizit diesem Thema gewidmeten Text bekräftigt wird, als eine Form der Verwindung der Seinsvergessenheit verstanden werden14, die seit je die Metaphysik auszeichnet. Die Überwindung ist mithin nichts anderes als „die Über-lieferung der Metaphysik in ihre Wahrheit“15. Da gibt es also weder Beiseitelegen noch eine simple Entgegensetzung. Beiseitelegen gibt es nicht, weil die Metaphysik das einzige Schicksal des Abendlandes (gewesen) ist, und darum ist es unmöglich, die geschichtliche Schickung des Seins in seiner Gesamtheit abzutun16; Entgegensetzung gibt es nicht, weil, wie es die Beiträge mehrfach bekräftigen, jede frontale Gegenüberstellung per se darauf hinausläuft, das Wesen der Metaphysik fortzuerhalten17. Die Auseinandersetzung mit dem ersten Anfang kann sich also nicht als eine gegenläufige Bewegung darstellen, beispielsweise in Form einer Ablehnung oder Aufhebung, da in diesem Fall das Denken notgedrungen dem Charakter dessen, gegen das es sich zu wenden beabsichtigte, konform bliebe. Es gäbe deshalb keine, nicht einmal die geringste Andersartigkeit und mithin keine Rettung, keine „wesentliche Wandlung der Geschichte“ als „Eröffnung der Wahrheit des Seyns in seiner […] Einzigkeit“18. Die Überwindung als Verwindung nimmt also explizit Abstand von jeglichem Versuch, die Metaphysik als bloß historiographisch, nicht geschichtlich bestimmtes Geflecht umzumodeln. Für das seinsgeschichtliche Denken geht es hingegen darum, die Metaphysik auf das eigene Wesen, auf den Ort ihrer eigenen Herkunft zurückzuführen: daher liegt die anstehende Aufgabe darin, den Ort – die Linie – festzulegen, wo die Metaphysik sich sammelt. Deshalb geht es nicht eigentlich darum, etwas zu überwinden, sondern sich im Wesen der Metaphysik (der Seinsvergessenheit) zu versammeln: und die Möglichkeit zu dieser Sammlung bietet sich eben, wie angedeutet, mit dem epochalen Moment, in welchem dieses Wesen dazu kommt, seine äußersten Möglichkeiten zu entfalten, oder auch mit seinem Ende. Es gibt also kein ,darüber hinaus‘ oder ,jenseits‘ der Metaphysik weder im räumlichen oder ausgedehnten Sinn (d. h. es existiert kein restlicher, unbetretener Raum, der außerhalb der Metaphysik besetzt werden könnte), noch im chronologischen Sinn (es geht nicht darum, einfach die Erfüllung, die Entleerung der metaphysischen Möglichkeiten abzuwarten, damit etwas radikal Neues sich auftun möchte). Das Ende der Metaphysik ist nicht das Hegelsche Ende der Geschichte [insofern es immer noch eine Art von parousia voraussetzt]. Wenn die Metaphysik ein konkretes Ende erreichte, würde die Dynamik eines Ursprungs wieder aufgeworfen, der aus sich heraustreten und sich in den fremden Raum der Metaphysik entäußern müsste, um sich 14

Vgl. GA 7, S. 77. GA 7, S. 77. 16 GA 7, S. 75 – 76. 17 GA 67, S. 172 – 173. 18 GA 67, § 92, S. 186 – 187. Vgl. auch GA 5, S. 216 – 217.

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endgültig jenseits derselben wiederzufinden. Damit aber würde die Bewegung des Denkens endgültig still gestellt. Die Bedeutung der Überwindung dagegen ist gemäß einer rein intensionalen Wertigkeit zu verstehen, insofern es darum geht, auf den Grund der Metaphysik selbst vorzudringen. Den Anfang thematisieren heißt eben, der Versuchung des Endes zu entkommen, die reine Bewegung des Denkens zu erhalten, die Geschichte als Möglichkeit offen zu halten. 4. Diese Unhintergehbarkeit der Metaphysik ist im Lichte der Frage nach dem Ende der Philosophie bekanntlich mehrfach auch von Jacques Derrida thematisiert worden. Die Philosophie ist für Derrida genau der Diskurs, der die Grenze bzw. auch die eigene Grenze betrifft: und die Frage nach der Grenze zu stellen, bedeutet für die Philosophie, sich die Herrschaft über diese zu sichern, indem man ihre Andersartigkeit und Fremdheit durch Übertretung reduziert: „Ample jusqu’à se croire interminable, un discours qui s’est appelé philosophie […] a toujours, y compris la sienne, voulu dire la limite. […] ce discours a toujours tenu à s’assurer la maîtrise de la limite (peras, limes, Grenze). Il l’a reconnue, conçue, posée, déclinée selon tous les modes possibles; et dès lors du même coup, pour mieux en disposer, transgressée. Il fallait que sa propre limite ne lui restât pas étrangère. Il s’en est donc approprié le concept, il a cru dominer le marge de son volume et penser son autre.“19 Dies ist schlussendlich das, was die Philosophie immer angestrebt hat: ihr eigenes anderes, d. h. das, was sie begrenzt, denken. Wenn das aber so ist, wenn die Philosophie sich immer in ein Verhältnis setzt zum nicht Philosophischen und zum Anti-Philosophischen, ist es dann möglich, einen Raum von völliger Äußerlichkeit und Andersartigkeit auszumachen, einen Ort, der wirklich über die Philosophie hinausreicht, und von dem aus sich ein Blick auf die Philosophie richten lässt? Ist nicht noch der Diskurs philosophisch, der vorgibt, einen Blick von außen auf das eigene Innere zu erheischen? Wenn man davon Abstand nehmen will, die Philosophie auf diese Weise zu verstehen und zu praktizieren, genügt es gerade nicht, sich in Richtung eines ihr vollkommen äußerlichen Ortes zu bewegen: Äußerlichkeit und Andersartigkeit sind Begriffe, die, wie Derrida schreibt, niemals den philosophischen Diskurs in Überraschung versetzt haben. Auf derartige Begriffs-Figuren zurückzugreifen, bewirkt keine Überwindung der Philosophie, insofern gerade die Überwindung ihren vorrangigen Gegenstand bildet – in dem Maße wie jede Grenze ihre eigene Grenze ist und jede Übertretung nichts anderes als die Bewahrung derselben bedeutet. Das, was den Bruch eines so kompakten und homogenen Raumes bestimmen könnte, wäre allein ein anderes, das nicht mehr als eigenes anderes gedacht würde, sondern gemäß einer schrägen und nicht symmetrischen Bewegung als anderes tout court. Für Derrida, der sich zumindest in diesem Punkt an Heidegger anlehnt, ist es geboten, die frontale und symmetrische Gegenüberstellung zu vermeiden, d. h. die Opposition, die sich in der Form eines anti- ausdrückt, zu vermeiden. Wie wäre dann die Grenze zu markieren, zu überwinden, so dass der philosophische Diskurs sich nicht weiterhin ihrer bemächtigt? Und ist es wirklich möglich, 19

Derrida (1972a), S. I.

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diese ganz besondere Grenze zu passieren, die nicht einzig ist, und die nicht nur das Innere vom Äußeren trennt, sondern zugleich auch deren Kontinuität und Durchlässigkeit garantiert? Und schließlich, welche Form müsste ein solches Spiel von Grenze/Übergang haben? Es scheint auf diese Fragen nicht die eine Antwort zu geben, da die Absicht von Derridas Überlegungen gerade darin liegt, „les présupposés de la question, l’institution de son protocole, les lois de sa procédure, les titres de sa prétendue homogénéité, de son apparente unicité“20 in Frage zu stellen: „peut-on traiter de la philosophie (la métaphysique, voire l’onto-théologie) sans se laisser déjà dicter, avec cette prétention à l’unité et à l’unicité, la totalité imprenable et impériale d’un ordre? S’il y des marges, y a-t-il encore une philosophie, la philosophie?“21 Der nicht allzu verhüllte Gegenstand von Derridas Ausführungen ist eben die Heideggersche Rekonstruktion der Geschichte des okzidentalen Denkens als Einheit einer einzigen Schickung: wie ist es möglich, dass sich etwas wie die Einheit einer Seinsgeschichte ergeben kann, wenn „la limite est structurellement oblique“, „il n’y a pas de limite en général, de forme droite et régulière de la limite“22 ? Heidegger bleibt für Derrida noch innerhalb jener Diskurs-Ordnung befangen, die er doch zu überschreiten vorgibt: der Heideggersche Gestus liefe noch einmal darauf hinaus, einen kompakten, homogenen Raum zu bilden, ohne Brüche und Übergänge, wobei es nur darum geht, sie auf ihr Wesen, auf ihr Eigenes, zurückzuführen. Man denke daran, was Derrida in Y a-t-il une langue philosophique erklärt hat: „J’ai souvent dit combien me paraît problématique l’idée de LA métaphysique et le schème heideggerien de l’épochalité de l’être, ou de l’unité rassemblée d’une histoire de l’être, même s’il faut prendre en compte cette ,auto‘-interprétation dans sa prétention, son désir, sa limite ou son échec.“23 Oder auch an die Selbst-Verteidigung in Le monolinguisme de l’autre, wo Derrida behauptet, („quoi qu’on en ait répété à satiété“) die okzidentale Metaphysik niemals identifiziert zu haben „comme une seule chose homogène et surveillée par son article défini au singulier“, sondern „j’ai si souvent dit le contraire et si explicitement“24! 20

Ebd., S. IX. Ebd., S. IX. 22 Ebd., S. X. 23 Derrida (1988), S. 35. 24 Derrida (1996), S. 131. Es mag angebracht sein, hier den ganzen Passus zu zitieren: „Certes, tout ce qui m’a, disons, intéressé depuis longtemps – au titre de l’écriture, de la trace, de la déconstruction du phallogocentrisme et de ,la‘ métaphysique occidentale (que je n’ai jamais, quoi qu’on en ait répété à satiété, identifié comme une seule chose homogène et surveillée par son article défini au singulier, j’ai si souvent dit le contraire et si explicitement!), tout cela n’a pas pu ne pas procéder de cette étrange référence à un ,ailleurs‘ dont le lieu et [132] la langue m’étaient à moi-même inconnus ou interdits, comme si j’essayais de traduire dans la seule langue et dans la seule culture franco-occidentale dont je dispose, dans laquelle j’ai été jeté à la naissance, une possibilité à moi-même inaccessible, comme si j’essayais de traduire dans ma ,monolangue‘ une parole que je ne connaissais pas encore, comme si je tissais encore quelque voile à l’envers (ce que font d’ailleurs bien des tisserands) et comme si les points de passage nécessaires de ce tissage à l’envers étaient des lieux de transcendance, donc d’un ,ailleurs‘ absolu, au regard de la philosophie occidentale gréco-latino-chrétienne, 21

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Die Aufgabe, der das Denken sich zu stellen hat, besteht mithin nicht nur darin, zu erkennen, dass der Rand innen und außen liegt, sondern besteht für Derrida vor allem darin, „Ecrire autrement“25, oder: „Délimiter la forme d’un clôture qui n’ait plus d’analogie avec ce que la philosophie peut se représenter sous ce nom, selon la ligne, droite ou circulaire, entourant un espace homogène.“26 Unter diesem Gesichtspunkt ist die Metaphysik, oder besser der Text der Metaphysik, durch eine Vielfalt von Rändern charakterisiert; er präsentiert sich als ein wenig homogener Raum, der innere Widersprüche und Falten aufweist, in denen sich sein Schweigen und seine Auslöschungen einnisten. Wenn in der Metaphysik das Drinnen und das Draußen nicht völlig getrennt sind, wenn das Draußen vom Drinnen bewohnt ist und das Drinnen vom Draußen zerklüftet, dann wird es schwierig wenn nicht unmöglich, aus der Metaphysik auszusteigen – dann wird es unmöglich, mit einem Satz über ihren Horizont hinaus zu springen. Unter diesem Gesichtspunkt und trotz der zuvor erinnerten Distanz bleibt es dabei, dass sich bei Derrida wie bei Heidegger die Überwindung der Metaphysik als eine schräge, zweideutige, zugleich notwendige und unmögliche Erfahrung darstellt: notwendig, weil die Metaphysik selbst zerklüftet ist; unmöglich, weil sich nie irgendetwas als ein einfaches Draußen darbietet. Was sich ändert, sind die Umstände dieser Erfahrung. Die Dekonstruktion der Metaphysik muss sich für Derrida innerhalb der Metaphysik vollziehen durch eine Form von Widerstand, was nicht Entgegensetzung bedeutet (jede Form von klarer und frontaler Entgegensetzung ist nichts anderes als die Wiederaufbereitung der metaphysischen Abschließung, die man ja im Gegenteil zur Diskussion stellen will): die anzuwendende Strategie wäre vielmehr ein vorsichtiges und minutiöses Vorgehen wie es in De la Grammatologie heißt – innerhalb der metaphysischen Sprache, über die Grenze und an der Grenze, während man sich zugleich innerhalb und außerhalb der Abschließung aufhält. Die Möglichkeit eines post-metaphysischen Denkens steht und fällt für Derrida mit dem ständigen Vergleich zur Metaphysik selbst, mit dem Eintauchen in ihre Begrenzungen, in ihr Inneres, um dessen unendliche und unvorhersehbare Öffnungen zu bewundern, um das Ungedachte darin zu erfassen, das nie aufgehört hat, sich abzuzeichnen, um es auf das mais encore en elle (epekeina tes ousias, et au-delà – khôra –, la théologie négative, maître Eckhart et au-delà, Freud et au-delà, un certain Heidegger, Artaud, Lévinas, Blanchot et quelques autres)“ (S. 131 – 132). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Jean-François Courtine: «L’ABC de la déconstruction», in: Derrida, la tradition de la philosophie. Textes rassemblés par M. Crepon et F. Worms, Galilée, Paris 2008, S. 11 – 26. Courtine arbeitet im Übrigen sehr deutlich heraus, wie Derrida mehrfach auf den lutherischen Wurzeln der Heideggerschen Destruktion und seiner eigenen (respektvollen) substantiellen Fremdheit gegenüber dieser Tradition insistiert. (vgl. z. B. Jacques Derrida: «Autrui est secret parce qu’il est autre», entretien avec Antoin Spire, in: Papier machine, Galilée, Paris 2001, S. 368 – 369 e Voyous. Deux essais sur la raison, Galilée, Paris 2003, S. 206 – 207, n. 2). In dem gleichen Band: Derrida, la tradition de la philosophie, vgl. auch Françoise Dastur: Heidegger, Derrida et la question de la différence, S. 87 – 107. 25 Derrida (1972a), S. XX. 26 Derrida (1972a), S. XX–XXI.

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hin zu öffnen, was in ihm anders bleibt: „le passage au-delà de la philosophie ne consiste pas à tourner la page de la philosophie (ce qui revient le plus souvent à mal philosopher), mais à continuer à lire d’une certaine manière les philosophes.“27 Nur so wird es möglich, die Vollkommenheit der Abschließung zu erschüttern und zu ändern: zwischen einem gewaltsamen Verharren in der metaphysischen Abschließung und einem illusorischen Versuch sie zu überschreiten, scheint Derrida einen Mittelweg anzuzeigen, der zum Teil die Bewegung der Heideggerschen Verwindung nachzeichnet, bzw. den er als „[se] tenir à la limite du discours philosophique“28 beschreibt, doch verzichtet er ausdrücklich auf die Idee einer einzigen ursprünglichen Schickung. 5. Diesen zwei Arten, das post- im Verhältnis von Metaphysik und post-metaphysischem Denken zu lesen, könnte man aber, wie eingangs gesagt, noch eine dritte zugesellen, eine, für die das post- selbst das ist, was eigentlich das schafft, was vor ihm liegt, nämlich die Metaphysik: das Auftreten eines post-metaphysischen Denkens käme überein mit der Erschaffung seiner eigenen metaphysischen Vergangenheit, mit der Ausbildung von etwas wie ,die Metaphysik‘. Jede post-metaphysische Perspektive hätte mithin nur Sinn, insofern sie selbst es ist, die sich ihre eigene Vergangenheit erschafft. Was in vielen Versuchen, ein post-metaphysisches Denken auszuarbeiten, verblüfft, ist, dass die Metaphysik selbst nur selten als eine wirklich historisch bestimmte Realität konzipiert wird (wie zum Beispiel die diskontinuierlichen und zahlreichen Wechselfälle der Ausbildung und Überlieferung eines Text-Corpus, dem eine solche Bezeichnung zugeschrieben wird): sie wird allenthalben als ein homogener Block aufgefasst, in welchem es stets grundsätzlich um dieselbe Sache geht, und in dem alle wirklichen Unterschiede immer schon (aber a posteriori!) metabolisiert und auf kleine interne Abweichungen reduziert sind. Die metaphysische Vergangenheit wird auf diese Weise niemals als Bedeutung für sich genommen, niemals als eine tatsächliche Geschichte, die nicht vorherbestimmt und nicht teleologisch wäre, und somit als eine Andersartigkeit für sich und nicht als etwas, demgegenüber es nötig ist, eine Andersartigkeit aufzufinden: das post-metaphysische Denken – zumal in der respektvollen Form der Derridaschen Dekonstruktion – verfolgt das andere zu dem, was schon gewesen ist, ohne zu bedenken, dass eben das schon Gewesene für sich radikal anders sein und bleiben könnte. Die Geschichte der Metaphysik im post-metaphysischen Denken (wobei Geschichte nicht historiographisch verstanden ist, wie Heidegger es prädizierte) ist in Wirklichkeit eine im Nachhinein konstruierte Geschichte, deren Sinn – ob negativ oder positiv macht hier keinen Unterschied – in gewisser Weise bereits vorbestimmt und vorgebildet ist: die Metaphysik als Identität oder Logik der Identität. Womit das post-metaphysische Denken sich zu kon27 Derrida (1967b), S. 421 – 422. Vgl. auch S. 416: „La sortie ,hors de la philosophie‘ est beaucoup plus difficile à penser que ne l’imaginent généralement ceux qui croient l’avoir opérée depuis longtemps avec une aisance cavalière, et qui en général sont enfoncés dans la métaphysique par tout le corps du discours qu’ils prétendent en avoir dégagé.“ 28 Derrida (1972b), S. 14.

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frontieren beabsichtigt, ist nicht so sehr eine Geschichte, deren möglichen, vielfältigen Ausgängen nachzuforschen wäre, vielmehr ein Ausgang, der sich seine Geschichte herstellt. Die teuflische Versuchung des post-metaphysischen Denkens liegt darin, sich als ein Ereignis zu präsentieren, das sich seinen eigenen Stammbaum erschafft, und sich aufgrund dieser Operation legitimiert. Dies scheint mir auch grundsätzlich vorzuliegen bei der Heideggerschen Idee eines seinsgeschichtlichen Denkens und der auf ihr aufgepfropften Derridaschen Dekonstruktion: über den offenkundigen Abstand hinaus, der zwischen beiden besteht (Heideggers Bezugnahme auf Ursprünglichkeit, Reinheit und Eigentlichkeit will Derrida ja gerade dekonstruieren), setzen beide Optionen den Bezug zu einer homogenen und homologisierten, von Identität her gedachten Totalität voraus – wobei die Geschichte der okzidentalen Philosophie aufgefasst wird als ein einziger Text, von einem einzigen Schicksal gezeichnet (wie sehr er auch noch, besonders bei Derrida, erfüllt sein mag von Möglichkeiten und unerkundeten Falten): im Falle von Heidegger ist es die Geschichte der fortschreitenden Seinsvergessenheit, die Geschichte vom Vergessen des Unterschiedes zwischen Sein und Seiendem; im Falle von Derrida (vor allem beim frühen Derrida) ist es die Geschichte, die sich durch den Vorrang der Gegenwärtigkeit und der Stimme vor der Schrift auszeichnet. Dabei soll gewiss nicht untergehen, dass die ganze Heideggersche Rekonstruktion der Geschichte der Metaphysik Züge einer gewaltsamen Homologisierung aufweist. Jede mögliche Erfahrung des okzidentalen Denkens wird – durch die Wahl eines einzigen Leitfadens – in die über die Maßen und künstlich ausgeweiteten Grenzen der Metaphysik zurückgeführt und zurückgepresst. Alles innerhalb der Geschichte des okzidentalen Denkens ist unterschiedslos „Metaphysik“, und alle Vorkommnisse der Metaphysik verweisen auf ein einziges Schicksal. Gesetzt auch, dass die Metaphysik kein Irrtum ist, sondern das, was die Wahrheit des Seins erschließt (und somit das Wesen der schicklichen Schickung des Seins als Rückzugs-Ereignis), was zwingt uns schlussendlich dazu, einzuräumen, dass solches Schicksal einzig sein müsse? Wenn man die Metaphysik in ihrer die Seins-Wahrheit offenbarenden und nicht verbergenden Wertigkeit auffasst, geschieht dies am Ende stets, weil man zunächst und außerhalb der Geschichte angenommen hat, dass die Seins-Wahrheit in ihrem Sich-Entziehen liegt und, dass dieses das einzige Schicksal des Denkens ist. Durch diese homologisierende Unternehmung werden alle wirklich geschichtlichen Unterschiede in den Dienst einer Orientierung gestellt, in der schon vorab sowohl über das Wesen und den Charakter der Metaphysik, als auch über die Beziehung, die das post-metaphysische Denken mit der Metaphysik zu pflegen hat, entschieden ist. Die Vielfalt der Traditionen wird rückstandslos in die einzige Geschichte der okzidentalen Überlieferung aufgelöst, und zwar durch den Filter einer Typologisierung, die darauf hinaus läuft, die Auseinandersetzungen zwischen lebendigen, realen und

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konkreten Stellungnahmen blutleer zu machen, indem sie auf wenige Grundzüge niedergebrochen werden29. Auch wenn er ausdrücklich gegen die Reduktion der Metaphysik auf eine einzige Tradition Stellung bezieht, gibt selbst Derrida bisweilen der Versuchung nach, die gesamte Geschichte des okzidentalen Denkens, von den Prä-Sokratikern bis zu Heidegger, mit dem Logophonozentrismus oder dem Vorrang der Stimme und dem daraus folgenden Niedergang der Schrift in eins zu setzen: „l’histoire de la métaphysique qui, malgré toutes les différences et non seulement de Platon à Hegel (en passant même par Leibniz) mais aussi, hors de ses limites apparentes, des présocratiques à Heidegger, a toujours assigné au logos l’origine de la vérité en général: l’histoire de la vérité, de la vérité de la vérité, a toujours été, […], l’abaissement de l’écriture et son refoulement hors de la parole ,pleine‘.“30 Wie dies für Heidegger kommt es auch für Derrida nicht zufällig zu diesem Privileg und dieser ist kein bloßer Irrtum: es handelt sich hingegen um eine strukturelle Bewegung, die die Vorkommnisse der gesamten Metaphysik durchdringt. Diese wird also am Ende noch einmal durchlaufen, um darin das wiederzufinden, was man schon zuvor zu finden erwartet hatte: den Vorrang des Identischen (derselbe Vorbehalt könnte auch Lévinas gegenüber erhoben werden). In allen beiden zunächst verhandelten Arten, das post- zu verstehen, – welche man der Bequemlichkeit halber jeweils Nietzsche und der selbstverständlich diskontinuierlichen Linie Heidegger-Derrida zurechnen könnte – wirkt somit unterschwellig die dritte, für die das post- selbst so etwas wie ,die Metaphysik‘ ausbildet: das Fortschreiten der Geschichte der Metaphysik ist also, im Nachhinein formuliert, der Anfang ihres Endes oder ihres Nachlebens. 6. Worauf kann nun die Verhandlung dieser besonderen und bisweilen unvermutet rückschreitenden Wertigkeit des post- hinweisen? In dieser retrospektiven Erfindung der ,Metaphysik‘ besteht die Gefahr, dass – wie leicht festzustellen ist – etwas verloren geht – und zwar ihre wirkliche Geschichte: ihre Text-Vorkommnisse, ihre unreduzierbare Vielfalt, ihre tiefgreifenden Aufspreizungen, die nicht als bloße Risse in der Oberfläche anzusehen sind. Das Bewusstsein dieser Gefahr sollte jedes post-metaphysische Denken, während die Hinterlassenschaft von Heidegger und Derrida fruchtbar macht, sich nicht nur zulegen, sondern es sich zur Aufgabe machen: wenn das post- das ist, das den Sinn nicht nur dessen konstituiert, was ,nachher‘ kommt, sondern auch dessen, was ,vorher‘ geht, ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Sphären unweigerlich – um einen Ausdruck von Derrida zu verwenden – ein double bind, eine Dop29 Über Heideggers Verhältnis zur Metaphysik gibt es eine ausladende Bibliographie, welche die Frage sowohl unter einem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet als auch in Hinsicht auf die Art und Weise, wie Heidegger einzelne Autoren (oder Perioden) innerhalb der metaphysischen Tradition ansiedelt. Es sei dennoch hier, wegen der weitreichenden methodologischen Reflexionen diesbezüglich, auf Costantino Esposito-Pasquale Porro (hrsg.): Heidegger e i medievali, Brepols, Turnhout/Pagina-Bari 2001 [= «Quaestio», 1/2001] verwiesen. 30 Derrida (1967a), S. 11 – 12.

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pelbindung. Diese Verknüpfung führt dazu, dass, wenn wir unseren aktuellen DenkHorizont – den wir als post-metaphysisch auffassen – als offen, plural, vielfältig, regional, im Innern unterschieden und nicht abstrakt identisch und universal umreißen wollen, auch die Metaphysik als offen, plural, vielfältig, regional, im Innern unterschieden und nicht abstrakt identisch und universal konzipiert sein muss. Nur ein Denken, in dem das post- nicht schlichtweg ein Revers ist, und sich nicht in der bloßen nachträglichen Suche nach etwas Verlorenem, Fehlendem, Verborgenem, erschöpft, sondern vielmehr auf die Andersartigkeiten verweist, die all das bilden, was ihm vorhergegangen ist, könnte es vielleicht im Stande sein, sich der Andersartigkeit als solcher zu öffnen und sie zu respektieren wissen. Sich der eigenen Vergangenheit bemächtigen, indem man ihr eine Identität aufzwingt, ist kein Zeichen von guter Disposition gegenüber allem, was anders ist: sich seine eigene Vergangenheit aufbereiten ist im Gegenteil gewöhnlich das Verhalten von Straf-Flüchtigen. Literaturverzeichnis Courtine, Jean-François (2008): L’ABC de la déconstruction, in: Derrida, Le tradition de la philosophie. Textes rassemblés par M. Crepon et F. Worms, Galilée, Paris, S. 11 – 26. Dastur, Françoise: Heidegger, Derrida et la question de la différence, in: Derrida, La tradition de la philosophie. Textes rassemblés par M. Crepon et F. Worms, Galilée, Paris 2008, S. 87 – 107. Esposito, Costantino/Porro, Pasquale (Hrsg.) (2001): Heidegger e i medievali Brepols, Turnhou/Pagina, Paris [„Questio“ 1/2001]. Derrida, Jacques (1967a): De la grammatologie, Les Éditions de Minuit, Paris. – (1967b) La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines, in: L’écriture et la difference, Éditions du Seuil. – (1972a) Marges: de la philosophie, Les Éditions de Minuit, Paris. – (1972b) Positions. Entretiens avec Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, Les Éditions de Minuit, Paris. – (1988) Y a-t-il une langue philosophique, in: «Autrement», 102. – (1996) Le monolinguisme de l’autre: ou la prothèse d’origine, Galilée. – (2001) Autrui est secret parce qu’il est autre, entretien avec Antoin Spire, in: Papier machine, Galilée, Paris. – (2003) Voyous. Deux Essais sur la raison, Galilée, Paris. Heidegger, Martin (1975 ff.): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittangabe) Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (2004): Die Metaphysik im Denken Heideggers, in: La metafisica nel pensiero di Heidegger, hrsg. v. A. Molinari, Urbaniana University Press, Roma, S. 83 – 150. Nef, Fréderic (2004): Qu’est-ce que la métaphysique, Gallimard, Paris.

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Giusi Strummiello

Strummiello, Giusi (1995): L’alto inizio del pensiero, in: Beiträge zur Philosophie di Martin Heidegger, Levante, Bari.

Die Umkehrung des Platonismus bei Heidegger und Badiou Peter Trawny Würde man von den vielen aktuellen Bestrebungen einer Renaissance der Metaphysik einen Namen herausheben, der sich immer mehr als zentrale Gestalt der kontemporären Philosophie herausstellt, so würde man gewiss auch oder sogar bevorzugt Alain Badiou nennen. Badiou hat in vielen Schriften erklärt, dass das Projekt einer Über- oder Verwindung der Metaphysik, eines Endes der Philosophie also, selbst beendet werden muss: „Eine Metaphysik zu errichten, bleibt das Ideal des Philosophen. Die Frage lautet nicht: ,Ist dies noch möglich?‘ Die Frage lautet: ,Sind wir dazu in der Lage?‘“1 Es besteht kein Zweifel, dass er glaubt, dazu „,in der Lage‘“ zu sein. Die letztlich rhetorische Frage basiert auf Voraussetzungen. Ich konzentriere mich auf eine. Der Gedanke, die Metaphysik sei an ein Ende gekommen, bezieht sich auf die Geschichte bzw. auf die Möglichkeiten der Philosophie in der Geschichte. Es ist nach Hegel vor allem Heidegger, der denkt, dass die Geschichte der Philosophie eine interne Drehung vollzieht, die von Platon zu Nietzsche führt und damit ihre Denkmöglichkeiten erschöpft. Das Argument, das diesem Gedanken zugrundeliegt, ist, dass das metaphysische Philosophieren sich zwischen den Extremen der Sinnlichkeit und der Übersinnlichkeit bewegt. Wird nun diese Bewegung bei Platon und Nietzsche in entgegengesetzter Richtung ausgeführt, enden die Möglichkeiten dieser Bewegung. Badiou wendet sich in vielfacher Hinsicht gegen diese Interpretation. Den Kern seiner Kritik bildet der Angriff auf den Gedanken, die Möglichkeiten des Denkens könnten „endliche“ sein. Die „Endlichkeit“ nennt er „jene Obsession der Zeit“2, verantwortet vor allem von Heidegger, fortgesetzt von der sogenannten „Postmoderne“. Dagegen müsse eine neue (durch Georg Cantors und Paul Cohens Mengenlehre vorbereitete) Idee der Unendlichkeit wieder ins Denken eingeführt werden. Vor der Unendlichkeit ist der Gedanke eines Endes der Metaphysik hinfällig. Badiou hat seine Absicht, „eine Metaphysik zu errichten“, in drei „Manifesten für die Philosophie“ programmatisch präsentiert. Im ersten Manifest von 1989, das sein erstes Hauptwerk „L‘être et l‘événement“ begleitet, aber auch in anderen Texten wie der intensiven Auseinandersetzung mit Gilles Deleuze in „La clameur de l‘Être“ von 1997, hat er zu zeigen versucht, dass der „,Platonismus‘ die große trügerische Kon1 2

Badiou (2003), S. 139. Badiou (2005), S. 12.

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struktion der Moderne und der Postmoderne“3 sei. Er sei ihre „negative Stütze“, er existiere nur, „um das ,neue‘ mit dem Sigel des Anti-Platonismus zu legitimieren“4. Badiou selbst dagegen möchte positiv an Platon anknüpfen mit einem Denken, das er selbst als einen „Platonismus des Mannigfaltigen“5 bezeichnet. Das „Denken des Seins als Sein“ vollende sich in der „Mathematik“, die für Badiou in der bereits erwähnten Mengenlehre besteht. Aber ich möchte mich nicht bloß philologisch mit Badious Denken beschäftigen. Vielmehr möchte ich den Gedanken, dass die Moderne und Postmoderne sich auf einen „Anti-Platonismus“ stütze, zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen nehmen, um an ihm die typische Denkfigur oder Denkbewegung der „Umdrehung des Platonismus“ zu erörtern. Denn selbst wenn konzediert wird, dass der Gedanke eines Endes der Metaphysik eine spezifische Endlichkeit der Denkmöglichkeiten voraussetzt, scheint wahr zu bleiben, dass sich jedes als Metaphysik begreifende Denken in der „Umdrehung des Platonismus“ vollziehen muss. Ich werde daher in einem ersten Schritt meiner Ausführungen diese Bewegung, wie sie Nietzsche gefasst hat, etwas genauer untersuchen. Der zweite Schritt wird an der dann explizierten „Umdrehung des Platonismus“ anknüpfen, um mit Heidegger eine andere Bewegungsweise des Denkens im Spielraum des Platonismus zu prüfen. Schließlich werde ich am Ende noch einmal auf Badiou zurückkommen. I. Nietzsches „umgedrehter Platonismus“ Die Formulierung von der Umdrehung des Platonismus stammt bekanntlich von Nietzsche. Er hatte schon früh, nämlich in der Zeit der „Geburt der Tragödie“, notiert: „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaften Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“6 Dieses Programm hat er in einer Feier des auf die griechische Tragödie zurückprojizierten Gesamtkunstwerks Richard Wagners verwirklicht. Genauer betrachtet hat er es sogar radikalisiert. Denn im vierten Abschnitt der „Geburt der Tragödie“ sehen wir, wie Nietzsche Platon bzw. seinen (Nietzsches) Platonismus auffasst, um sich sogleich seiner Ansicht nach so „weit“ wie möglich von ihm zu distanzieren. Dort spricht er von einem „Wahrhaft-Seienden und Ur-Seienden“7, das, „als das ewige Leidende und widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung“ brauche. Freilich ist das zunächst ein mit Schopenhauer durchsetzter Platonismus. Das „Ur-Eine“ ist der „Wille“, der „Schein“ seine Objektivation, und die Kunst, insbesondere die Musik, seine (für Schopenhauer letztlich unzurei3

Badiou (2003), S. 140 f. Ebd., S. 141. 5 Badiou (2/2010), S. 99. 6 Nietzsche, KSA 7 (= Nachgelassene Fragmente 1869 – 1874), S. 199. 7 Nietzsche, KSA 1 (= Die Geburt der Tragödie), S. 38. 4

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chende) „Erlösung“. Was aber für Nietzsche hier platonisch ist, ist die Differenzierung des „Wahrhaft-Seienden“ vom „Schein“. Der „Schein“ sei als das „WahrhaftNichtseiende“ „ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität“8. Der „Schein“ sei das, was wir als „empirische Realität“ „empfinden“. Wenn aber so das „empirische Dasein“ nur „eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des UrEinen“ sei – da sehen wir wieder Schopenhauers Einfluss –, dann sei der „Traum“, d. h. der apollinische Zustand, als der „Schein des Scheins“ (vgl. das Artefakt als Mimesis der Mimesis in Buch X der „Politeia“) zu betrachten. Damit sei er „eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde (d. h. des Willens) nach dem Schein“. Wenn Nietzsche in jener Nachlassnotiz davon spricht, dass das „Leben“ „je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser“ sei, dann ist die Bestimmung des „Traums“ als „Schein des Scheins“, d. h. die Bestimmung der Kunst, ein Echo des „umgedrehten Platonismus“. Nietzsche hat – jedenfalls in der Zeit am Anfang der 70er Jahre, eine Zeit, in der m. E. beinahe schon alle Gedanken seiner Philosophie in nuce erscheinen – einführende Vorlesungen über Platon gehalten. Diese Vorlesungen befinden sich auf dem Niveau der damaligen Platon-Forschung. Für Nietzsches Platon-Interpretationen scheint mir die Lektüre des „Timaios“ besonders relevant zu sein. In ihrem Rahmen ist Nietzsche fähig, Platons Metaphysik nicht auf die Unterscheidung des „WahrhaftSeienden“ vom „Wahrhaft-Nichtseienden“ (fmtyr em – lB em) zu reduzieren, sondern Platons Erweiterung dieser Zweiheit durch eine weitere Gattung zu berücksichtigen. Demnach kann Nietzsche eine „erste Gattung“ der „Ideen“ von einer „zweiten Gattung“ der „mathematischen Dinge“ und diese wiederum von einer „dritten Gattung“ der „sinnlichen Dinge“ differenzieren. Diese drei Gattungen werden dann jeweils noch einmal durch drei „Elemente“ weiter unterschieden. Das erste Element der ersten Gattung sei „t¹ 6m (d. h. die Idee des Guten)“9, das zweite Element t¹ %peiqom (d. h. das h\teqom in den Ideen, deren Verschiedenheit von einander“. Das dritte Element sei t¹ lijt|m als „die Reihe der einzelnen aus jener Mischung hervorgegangenen Ideen“. Die zweite Gattung als die „mathematischen Dinge“ wird als t± letan} bestimmt, wobei jeweils das 6m die „Zahl eins im Arithmetischen“, das %peiqom die „unbestimmte Zweiheit“ „im Geometrischen“ sowie das lijt|m die „Reihe von Zahlen, die Reihe bestimmter Figuren“ sei. Was die dritte Gattung betrifft, sei das 6m t¹ 5mukom eWdor, „die bestimmten Qualitäten, die Gattungscharaktere der Dinge“, das %peiqom sei die „vorweltliche Materie“ (d. h. die w~qa), das dritte Element sei die „Reihe der sinnlichen Dinge“. Diese Differenzierung wird dann weiter auf die „Weltseele“ bezogen. Wie immer wir diese Erörterung der Platonischen Ontologie beurteilen, sie zeigt, dass Nietzsche zu einer differenzierten Betrachtung dieser Philosophie in der Lage war. Besonders bemerkenswert scheint mir zu sein, dass Nietzsche die Hauptdifferenzen des Seienden im 6m, h\teqom/%peiqom, lijt|m, d. h. in der Einheit, Vielheit und 8 9

Ebd., S. 39. Nietzsche, KSA II-4 (= Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72-WS 1874/75)), S. 71 f.

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Mischung von Einheit und Vielheit fassen kann. Davon kommt in seinen philosophischen Werken im Grunde nichts mehr vor. In ihnen beschränkt er sich auf die auch in der „Geburt der Tragödie“ dargestellten Differenz des „Wahrhaft-Seienden“ als des Ewigen („Ur-Einen“) und des „Wahrhaft-Nichtseienden“ als des „Werdens“, d.h auf die Unterscheidung des Über- bzw. Nichtsinnlichen und Sinnlichen, des Ideellen und Materiellen. Die Frage ist, warum Nietzsche seine Erörterung des „Timaios“ nicht ernster genommen hat. Es ist dieselbe Frage, warum Nietzsche den Gedanken eines „umgedrehten Platonismus“ konstatiert. Die Gründe für diese Auslegung des Platonismus kündigen sich bereits im Vortrag von 1870 „Socrates und die Tragödie“ an. Sokrates habe gemeinsam mit Euripides den Untergang der Tragödie inszeniert. Er sei der Begründer der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit. Damit habe er schlechthin die Kunst als erste Weltdeutungsinstanz verdrängt. „Die absichtlich derbe und rücksichtslose Verurteilung der Kunst“ habe bei Platon „etwas Pathologisches: er, der sich zu jener Anschauung nur im Wüten gegen das eigene Fleisch erhoben“ habe, „er der seine tief künstlerische Natur zu Gunsten des Sokratismus mit Füßen getreten“ habe, offenbare „in der Herbigkeit jener Urtheile, daß die tiefste Wunde seines Wesens noch nicht vernarbt“10 sei. Den „,unverständigen‘ Künstlern“, d. h. den Dichtern, die enthusiastisch dichten, stelle Platon „das Bild des wahren Künstlers gegenüber, des philosophischen“ – ein Hinweis auf die „Nomoi“ (810e), in denen Platon in der Tat seine eigenen Schriften als die einzigen betrachtet, die die Jungen zu lesen bekommen dürften. Jener „Sokratismus“ übrigens, zu dem sich Platon entschieden habe, sei „älter als Sokrates“. Nietzsche markiert die „Superfötation des Logischen“, d. h. die Wissenschaft, bereits in der „sophokleischen Tragödie“11. So gesehen betont er die Differenz zwischen dem „Wahrhaft-Seienden“ und dem „Wahrhaft-Nichtseienden“ bei Platon so scharf, weil dieser sich in der Austreibung der Dichtung aus der Polis und der Einführung und Stärkung der Wissenschaft genau auf diese Differenz gestützt habe. Doch es gibt freilich noch einen anderen Grund, der Nietzsches „umgedrehten Platonismus“ veranlasst hat. Vertrauen wir einmal dem „Versuch einer Selbstkritik“, diesen Überlegungen, die Nietzsche 1886 der dritten Auflage der „Geburt der Tragödie“ vorangestellt hatte, dann wurde die Entdeckung des „Dionysischen“ ca. 15 Jahre früher bereits von einer „antichristlichen“ Haltung getragen. Zur „rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung“ gebe es „keinen grösseren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch“ sei und daher „jede Kunst in’s Reich der Lüge“12 verweise. Eine Aussage allerdings, die in der „Geburt der Tragödie“ durch eine durchaus „apollinische“ Bezugnahme auf Raffaels „Transfiguration“13 konterkariert wird – was Nietzsches Selbstinterpretation jedoch nicht widerlegt. 10

Nietzsche, KSA 1 (= Socrates und die Tragödie), S. 543. Ebd., S. 546. 12 Nietzsche, KSA 1 (= Die Geburt der Tragödie), S. 18. 13 Ebd., S. 39. 11

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Also ist es unvermeidlich, Nietzsches „umgedrehten Platonismus“ auch aus dieser Perspektive zu betrachten. „Christentum ist Platonismus für’s Volk“, schreibt er in der Vorrede zu „Jenseits von Gut und Böse“, eine gleichsam stenographische Mitteilung, die in einer historischen Ausführung über Philon oder die Abhängigkeit des Augustinus von Plotin erläutert werden könnte. Die Aussage würde aber auch dann noch ihren polemischen Charakter nicht verlieren. Nach Badiou sei die Moderne und Postmoderne dieser Interpretation der Umdrehung des Platonismus gefolgt. Platon habe die Dichtung und die Kunst durch die Philosophie entmachtet und durch die Wissenschaft ersetzt. Zudem habe er (was hier nicht weiter verfolgt werden kann), verbunden mit der Vertreibung oder Zensur der Dichter aus und in der Polis, einen Proto-Totalitarismus (Popper) postuliert. Ich werde abschließend auf die Ansicht, dass sich das Ende der Philosophie nur als Anti-Platonismus denken ließe, noch einmal eingehen. II. Heideggers Interpretation des „umgedrehten Platonismus“ Heidegger hat Nietzsches Umdrehung des Platonismus am ausführlichsten am Schluss der ersten Nietzsche-Vorlesung vom Wintersemester 1936/37 über den „Willen zur Macht als Kunst“ interpretiert. Die Referenz dieser Interpretation ist der späte Text aus der „Götzen-Dämmerung“ „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums“14. Hier wird in sechs knappen Schritten die Geschichte der Philosophie als eine solche des Platonismus erzählt. Der erste Abschnitt lautet: „Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. / (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ,ich, Plato, bin die Wahrheit‘).“ (Wir hören die Anspielung auf die Jesuanische Formel aus dem Johannes-Evangeliums, 14,6.) Es ist nicht schwierig, diese Erzählung vom Anfang der Philosophie bei Nietzsche bereits am Beginn der 70er Jahre zu finden (auch in der nachgelassenen Schrift „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“). In dieser Hinsicht hat sich dieses Denken im Verlauf von beinahe 20 Jahren nicht geändert. Doch Heidegger macht zurecht darauf aufmerksam, dass sich die Erzählung an ihrem Ende deutlich von einer einfachen Umdrehung des Platonismus unterscheidet. Die „Abschaffung“ der „wahren Welt“, die in der Umdrehung des Platonismus noch keineswegs vollzogen ist, führt notwendig zu einer „Abschaffung“ der „scheinbaren Welt“ – der entscheidende Gedanke des sechsten und letzten Abschnitts. In der Tat: erinnern wir uns noch einmal, wie Nietzsche den „umgedrehten Platonismus“ eingeführt hatte: „je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es.“ Die Bestimmung der räumlichen Differenz von Ferne und Nähe im Verhältnis zur Wahrheit sagt nichts über deren „Abschaffung“. Im Gegenteil ist sie selbst plato14

Nietzsche, KSA 6 (= Götzen-Dämmerung), S. 80.

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nisch. Ich verweise z. B. auf die wichtige Auseinandersetzung mit der sophistischen Mimesis im „Sophistes“ (254b). Der Sophist kann Schein erzeugen, weil er seine Bilder aus der Ferne zeigt. Je näher wir aber dem Seienden kommen, werden wir durch Widerfahrnisse gezwungen, uns ans wahrhaft Seiende zu halten. In dieser Hinsicht bleibt Nietzsches Umdrehung des Platonismus im Spielraum der Platonischen Auseinandersetzung mit den Sophisten. Ich werde darauf zurückkommen. Aber die „Abschaffung“ der „wahren Welt“ und mit ihr der „scheinbaren“ läuft auf etwas Anderes, nämlich überhaupt auf die „Abschaffung“ des Platonismus hinaus. Dieser Schritt in der Geschichte des Denkens habe ganz andere Folgen. Die „Umdrehung des Platonismus“ sei nun eine „Herausdrehung aus dem Platonismus“ und führe zu einer „Verwandlung des Menschen“15. Sie führe zu einer „Entscheidung“, die weiter und tiefer sei als die „Entscheidung“ zwischen dem Leben des Philosophen und dem Leben des Dichters bzw. des Sophisten. Heidegger erläutert das auf folgende Weise. Zur „Entscheidung“ stehe nicht nur die „Rangordnung“ zwischen dem „Über- oder Nichtsinnlichen“ und „Sinnlichen“; diese „Rangordnung“ hatte Nietzsche bereits in der „Umdrehung des Platonismus“ berührt. Worum es nun gehe, sei, dass das „Ordnungsschema selbst“ „verwandelt“16 werden müsse. Nietzsche war zuletzt nicht nur einer Modifikation des Platonischen „Ordnungsschemas“, sondern der Schaffung einer völlig neuen Art eines solchen Schemas auf der Spur. Diese „Verwandlung“ des „Ordnungsschemas“ ist dann der volle Begriff der „Herausdrehung aus dem Platonismus“. Sie wurde von Heidegger schließlich in Frage gestellt. Nietzsche schaffe „nicht die Wahrheit und den Unterschied ihrer zur Unwahrheit und zum Schein ab, sondern nur die Platonische Auslegung der Wahrheit, daß das Wahre das Übersinnliche“17 sei. Was „nach der Darstellung der Geschichte des Platonismus“ in der „Götzen-Dämmerung“ aussehe „wie ein völliges Herausdrehen“, falle in sein Gegenteil zurück. Nietzsche verstricke sich vielmehr „hier noch einmal und endgültig und am tiefsten in das, was er überwinden will, nicht in einen Platonismus im äußersten Sinne, aber in das, was Grunderfahrung der Platonischen Philosophie selbst“ sei. Mit anderen Worten: bei Nietzsche gibt es keine „Herausdrehung aus dem Platonismus“, sondern eine nochmalige Verstrickung in ihn. III. Badious „umgedrehter Platonismus“ Die Frage wäre nun, auf welche Weise Heidegger selbst eine solche „Herausdrehung aus dem Platonismus“ zu denken versucht hat. Dass es diesen Versuch gibt und dass er in seinem Denken eine zentrale Bedeutung hat, belegen die Ausführungen zum Problem der Über- oder Verwindung der Metaphysik. Doch ich möchte mich 15

GA 43 (= Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst), S. 258. Ebd., S. 260. 17 Ebd., S. 261.

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hier nicht auf diesen Bereich des Heidegger’schen Denkens einlassen. Ich möchte mich vielmehr indirekt auf ihn beziehen. Dazu nehme ich den Faden vom Beginn meiner Ausführungen wieder auf und berufe mich auf Alain Badiou und seine Ablehnung der Überwindung der Metaphysik. Das kann natürlich nur noch skizzenhaft entwickelt werden. Die Überwindung der Metaphysik hängt nach Badiou mit dem zusammen, was er das „Zeitalter der Dichter“ nennt. Dieses Zeitalter beginne „gleich nach Hegel“18 und sei dadurch charakterisiert, dass die „Dichtung bestimmte Aufgaben der Philosophie“ übernehme. Zu den dabei in Frage kommenden Dichtern zählen nach Badiou nicht schlechthin alle, sondern nur „diejenigen, deren Werk unmittelbar als ein Werk des Denkens erkennbar“ sei und „für die das Gedicht eben an der Stelle“, an der die Philosophie schwach sei, als „der sprachliche Ort“ erscheine, „an dem ein Urteil über Sein und Zeit gefällt“ werde. Mit diesen Dichtern habe sich die Philosophie in jenem Zeitalter „vernäht“ (ein Begriff Badious, der bedeutet, dass die Philosophie den Wahrheitsraum nicht „kompossibel“ halte, sondern das „Ganze des Denkens einem (spezifischen) generischen Verfahren“, d. h. hier der Dichtung, überlasse). Für Badiou ist die Zahl dieser Dichter genau angebbar (7)19. Am Beginn ihrer Reihe stehe Hölderlin, am Ende Paul Celan, so dass Badiou der Begegnung Heideggers mit Celan am Ende der 60er Jahre eine epochale Bedeutung zusprechen kann. In ihr zeige sich nämlich das Ende des Zeitalters der Dichter: „Das Werk von Paul Celan kündet am äußersten Rand und innerhalb der Dichtung vom Ende des Zeitalters der Dichter. Celan vollendet Hölderlin.“20 Anders gesagt: die Überwindung der Metaphysik als die Herausdrehung aus dem Platonismus, wie sie sich bei Nietzsche nur ankündigt, realisiert sich als eine spezifische Auffassung der Philosophie, die sich in der Auslegung der von Badiou sogenannten „sieben entscheidenden Dichter“ entfaltet. Zugespitzt formuliert: wenn es eine Überwindung der Metaphysik überhaupt jemals gegeben hat, wenn diese überhaupt möglich sein soll, dann nur in einer Delegation des Wahrheitszugangs von der Philosophie an die Dichtung. So habe sich die Philosophie der „Endlichkeit“ mit der Dichtung „vernäht“, um von dieser her eine poetische Weltdeutung empfangen zu können. (Frage an Badiou: Ist nicht gerade diese Behauptung vom Ende eines „Zeitalters der Dichter“ mindestens „kryptoheideggerianisch“? Anerkennt Badiou nicht unbemerkt überhaupt das Narrativ der Seinsgeschichte – erst recht wenn er eine Renaissance Platons empfiehlt?) Am nach Badiou behaupteten Ende der Metaphysik sei also der Versuch gemacht worden hinter den Platonismus zurückzugehen, die Platonische Entscheidung über die Dichter, ihre Vertreibung aus der Polis rückgängig zu machen. Dieser Versuch wird als der einzig mögliche einer Überwindung der Metaphysik betrachtet, weil 18

Badiou (2/2010), S. 57. Ebd., S. 60: Hölderlin, Mallarmé, Rimbaud, Trakl, Pessoa, Mandelstam, Celan. 20 Ebd., S. 68.

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er nicht mehr die Umdrehung des Platonismus zu vollziehen, sondern in ein Außerhalb dieser Umdrehung zu gelangen versucht. Das neue „Ordnungsschema“, das nach Heidegger Nietzsche nicht mehr zu finden vermochte, weil er in einer spezifischen Interpretation der „Umdrehung des Platonismus“ befangen blieb, wäre dann ein solches der Dichter. „Dichterisch wohnet der Mensch.“, lässt sich mit Hölderlin sagen. Doch diese Suche nach einem „dichterischen Wohnen“ ist nach Badiou unvermeidbar mit einer Selbstaufgabe der Philosophie verknüpft. Er dagegen möchte die Platonische Philosophie wieder bestätigen, allerdings einen Platonismus, der nicht mehr die Vertreibung der Dichter für seine Verwirklichung braucht, sondern der eine kompossible Integration der Dichtung als eine von vier generischen Wahrheitsprozeduren (Dichtung, Liebe, Wissenschaft, Politik) der Philosophie betont. Dieser Platonismus bewegt sich bewusst in der Differenz zwischen einer Logik der Ideen und einer Logik der Materie (Badiou ist, wie er bekennt, „Materialist“21). Die „Umdrehung des Platonismus“ wird also nicht bestritten. Im Gegenteil, sie wird als eine notwendige Figur des Denkens betont. Badiou stellt nämlich fest, dass der „Platonismus nie aufhören“ werde, „umgekehrt zu werden, weil er immer schon umgekehrt worden ist“22. Das dürfte so zu verstehen sein, dass Platon selbst bereits im „Sophistes“ zwei Möglichkeiten des Philosophierens bedenkt. Die einen „ziehen alles vom Himmel und aus dem Unsichtbaren zur Erde herab, wobei sie wahre Felsblöcke und Eichen mit ihren Händen umklammern“, die anderen „verteidigen sich sehr vorsichtig von oben her aus dem Unsichtbaren und versuchen zu erzwingen, daß gewisse gedankliche und unkörperliche Ideen das wahrhafte Sein sind“ (246a/b = die cicamtolaw_a peq· t/r oqs_ar). Platon selbst vollzieht also eine Drehung, in der das obere nach unten und das untere nach oben gekehrt wird. Er setzt eine Umdrehung des Denkens zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, zwischen den Ideen und der Materie schon voraus. Die Geschichte der Metaphysik, sie begänne und vollendete sich in Platons Denken. Doch sollte es möglich sein, so zu denken, müsste die Umdrehung des Platonismus enthistorisiert und als eine Bewegung des metaphysischen Denkens selbst begriffen werden. Metaphysik wäre das Verstehen des Zusammenhangs zwischen einer Logik der Ideen und einer Logik der Materie, eines Sichbewegens in diesem Zwischen – ganz gleich, ob dieses Zwischen mit Badiou als der Bereich der Mathematik, d. h. der Mengenlehre, oder, z. B. wie bei Hegel, als die Sphäre des „Begriffs“, erfasst wird. La Mettries Antwort auf Descartes, Kants Replik auf Hume, Marxens Transport des auf dem Kopf gehenden Hegel’schen Denkens zurück auf seine Füße, wären nur jeweils eine Weise der Umdrehung der Metaphysik. Darüber hinaus müsste das Denken Descartes’, La Mettries, Humes, Kants, Hegels und Marxens je in sich selbst als umdrehendes Denken gefasst werden; um so mehr natürlich Nietzsches Denken, das vielleicht als erstes diese Umdrehung als solche thematisiert. Das 21 22

Badiou (2010), S. 18. Badiou (2003), S. 140.

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sich in sich selbst drehende Denken der Metaphysik bewegt sich dann zwischen den Angeln von Idee und Materie, in denen seine Achse aufgehängt ist. Nun ist klar, dass Badiou nicht einfach die Platonische Struktur der Philosophie übernimmt. Das deutet sich bereits in der Bemerkung an, dass er sich als „Materialist“ versteht. Abschließend soll daher Badious Umdrehung des Platonismus an einem Beispiel erläutert werden. In den „Logiken der Welten“, Badious zweitem Hauptwerk, denkt der Philosoph die Überzeitlichkeit bestimmter Wahrheiten (und damit die Überzeitlichkeit der Wahrheit selbst). Eines der Beispiele, die diesen Gedanken stützen sollen, ist der Bezug zwischen einer Höhlenmalerei von Chauvet und Gemälden von Picasso. Was sie darstellen, sind Pferde. Unwichtig, wem Badious Sympathien gelten (er nennt Picasso einen „modernen Millionär“), beide, der Höhlenmensch und Picasso, malen dasselbe Pferd. Aber wie? So, dass sie die Idee des Pferdes immer schon gesehen haben, bevor sie es malen? Das wäre die Auffassung eines schlichten Platonismus. Badiou schreibt: „Aus alledem ergibt sich, dass ein Tier auf die Wand einer Grotte zu malen, eben heißt, der Grotte zu entkommen, um sich zum Licht der Idee zu erheben – wie im platonischen Mythos, aber umgekehrt. Das ist es, was Platon nicht zu sehen vorgibt: Das Bild ist hier das Gegenteil des Schattens. Es bezeugt die Idee in der variierten Invarianz ihres pikturalen Zeichens. Es ist keineswegs der Abstieg der Idee ins Sinnliche, sondern die sinnliche Schöpfung der Idee. ,Das ist ein Pferd‘, sagt der Meister der Grotte von Chauvet. Und weil er es in Abwesenheit jeder Sichtbarkeit eines lebendigen Pferdes sagt, bewahrheitet er das Pferd als das, was ewig für das Denken existiert.“23

Einerseits „schafft“ die materielle Erscheinung des Pferdes auf der Höhlenwand die Idee, andererseits kann diese Schöpfung keine prinzipielle sein. Die Idee des Pferdes wird demnach „bewahrheitet“ – und sie muss „bewahrheitet“ werden, wenn es sie gibt. Badiou bestimmt diesen Gedanken im Rahmen des „platonischen Mythos“, d. h. des Höhlengleichnisses, als „umgekehrt“. Die Umkehrung meint hier aber nicht einfach die einer Hierarchie zwischen Idee und Erscheinung, sondern der internen Bewegtheit dieser Hierarchie. Wenn im traditionellen Platonismus die Idee der Erscheinungen entgegenkommen muss, so bei Badiou die menschliche Schöpfung der Idee. Das Beispiel der Malerei deutet schon an, dass es für Badiou keine Schwierigkeit darstellt, in einen solchen Platonismus, in diese Metaphysik, auch die Dichtung zu integrieren. Sie geschieht als eine Rehabilitierung, denn sie besteht in dem, „was Platon nicht zu sehen vorgibt: Das Bild ist das Gegenteil des Schattens“, das Gedicht ist keine bloße mímesis, Platons hier und da vorgetragene Diskriminierung der Materie gilt nicht mehr. Es bleibt, was der späte Heidegger betonte: die Philosophie und die Metaphysik sind dasselbe. Philosophie geschieht zwischen den Polen der Materie und der Idee, 23

Badiou (2010), S. 35.

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sie vermag nicht, sich aus ihnen „herauszudrehen“. Nach Badiou muss sie sich noch einmal geradezu hineindrehen. Heidegger ein Missverstehen der Philosophie einzuschreiben, ist selbst ein Missverständnis. Die Stärke im späten Denken Heideggers ist es, die Konsequenz ganz auszuschreiten. Er hat die Philosophie verlassen, um zu denken. Was in diesem Denken geschieht, ist eine andere Frage. Literaturverzeichnis Badiou, Alain (2010): Logiken der Welten, Diaphanes: Berlin. – (2/2010) Manifest für die Philosophie, Verlag Turia-Kant: Wien/Berlin. – (2005) Das Sein und das Ereignis, Diaphanes: Berlin. – (2003) Deleuze. „Das Geschrei des Seins“, Diaphanes: Zürich/Berlin. Heidegger, Martin (1975 ff.): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittangabe). Nietzsche, Friedrich (1980): Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Walter de Gruyter: Berlin u. New York (zit.: KSA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittsangabe).

Zur Frage der Trinität im gegenwärtigen Zeitalter Überlegungen im Ausgang von Martin Heidegger Ingeborg Schüßler Die Dreieinigkeit Gottes ist, wie Kant sagt, das „große Symbol des Christentums“1. Ja, sie bildet, so Schelling, „… die Vollendung seiner ganzen Ansicht des Universums und der Geschichte desselben.“2. Woher stammt die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes? Gemäß Kant ist das Christentum zu einer Zeit aus dem Judaismus entsprungen, in der dieser schon von der griechischen Philosophie durchdrungen war.3 Das weist darauf hin, dass die Lehre von der Dreieinigkeit ihren Ursprung in der griechischen Philosophie hat. Das sei zunächst in Grundzügen erinnert. I. Die Herkunft der Lehre von der Trinität aus der griechischen Philosophie. Grundzüge ihrer Geschichte bis zu Kant, Hegel und Schelling Bekanntlich unterscheidet Platon den tºpor mogtºr und den tºpor aQshgtºr, den intelligiblen Bereich der immer gleichbleibenden Ideen und den sinnlichen Bereich

1 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, erste Auflage 1793; zweite vermehrte Auflage 1794. Preußische Akademie der Wissenschaften, Band VI, S. 3 – 201 [=Rel. AK VI], S. 3 – 201; hier S. 177. Zu Kants neuzeitlicher, praktisch-moralischer Auslegung der überlieferten Trinitätslehre, vgl. unseren Aufsatz „Religion rationnelle et religion révélée. L’interprétation pratico-morale de la Trinité chez Kant (avec un aperçu sur son dépassement chez Hegel et Schelling)“, in: Revue de Théologie et de Philosophie, Genève–Lausanne–Neuchâtel, vol. 144/2012a, I, S. 47 – 72. 2 Das vollständige Zitat lautet: „Versöhnung des von Gott abgefallenen Endlichen durch seine eigene Geburt in die Endlichkeit ist der erste Gedanke des Christentums und die Vollendung seiner ganzen Ansicht des Universums und der Geschichte desselben in der Idee der Dreieinigkeit. […] Der ewige, aus dem Wesen des Vaters aller Dinge geborene Sohn Gottes [ist] das Endliche selbst, wie es in der ewigen Anschauung Gottes ist, und welches als ein leidender und den Verhängnissen der Zeit untergeordneter Gott erscheint, der in dem Gipfel seiner Erscheinung, in Christo, die Welt des Endlichen schließt und die der Unendlichkeit oder der Herrschaft des Geistes eröffnet.“ Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. „Über die historische Konstruktion des Christentums“, in: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), VIII. Vorlesung, in: Schelling, Ausgewählte Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1990. Schriften von 1801 – 1804, S. 441 – 568, hier S. 528. 3 Rel. AK VI, S. 127 ff.

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des immer anderen Werdens4. Mit dieser Unterscheidung hat er die „Meta-physik“ im überlieferten Sinne auf die Bahn gebracht. Diese ist durch folgenden Grundzug gekennzeichnet. Da die Ideen ständig und immer sind, sind sie t¹ cm emtyr5, „das eigentlich Seiende“, während das im Werden und Wandel befindliche Sinnliche des eigentlichen Seins ermangelt und insofern nicht ist. Als das eigentliche, wahre Seiende aber bilden die Ideen den obersten Maßstab allen Seins, nach dem sich das sinnlich ,Seiende‘ zu richten hat. Demnach ergibt sich die Aufgabe, den sinnlichen Bereich des Werdens dem übersinnlichen Bereich der Ideen anzugleichen und adaequat zu machen. Die adaequatio, die Ideengemäßheit des Sinnlichen, ist das t´kor – wie Kant übersetzt: der „Endzweck“ – , den die Metaphysik erstrebt. Solche adaequatio ist aber gemäß Plato nur dadurch möglich, dass die intelligible Idee selbst in den sinnlichen Phänomenen erscheint und diese an der Idee teilhaben. Die Teilhabe, l´henir6, ist der vermittelnde Terminus, der den sinnlichen Bereich des Werdens und den übersinnlichen Bereich der Ideen vermittelt. Die adaequatio des Sinnlichen an das übersinnlich Intelligible vermittelst der l´henir ist eine onto-logische, ,rationale‘ Aufgabe der Metaphysik. Der Neuplatonismus verlegt die übersinnlichen Ideen in den moOr, den göttlichen „Geist“, und legt sie als seine von ihm selbst erzeugten Gedanken aus7. In dessen Gefolge werden die Ideen im christlichen Platonismus zu den schöpferischen Gedanken des christlich-jüdischen Schöpfergottes8. Mit dem christlich-jüdischen Schöpfergott aber kommt eine heilsgeschichtliche Dimension in die ontologische Metaphysik, so wie umgekehrt der Schöpfergott nunmehr ontologisch-metaphysisch begriffen wird. Die heilsgeschichtliche Dimension aber ergreift im christlichen Platonismus die Struktur der Metaphysik im Ganzen. War die vkg, die bloße gestalt-lose Materie, bereits im Neuplatonismus (nach Ansätzen bei Plato und Aristoteles) das %-peiqom, das – selbst un-gestalt und seinslos – seinsgierig alles gestalthaft Seiende anzehrt und zersetzt und in diesem Sinne das jajºm, das „Schlechte“, ist9, so wird im christlichen 4 Politeia VI, 509d 2 f. tºpor meint „Bereich“, „Gegend“, „Region“. Plato unterscheidet lediglich zwei Seins-„Bereiche“, nicht aber zwei getrennte, einander entgegengesetzte „Welten“. Die Unterscheidung zweier „Welten“ findet sich bei ihm erst im Ansatz (z. B. Timaios 27c-29d und Phaidros 247c-d). Sie wurde erst im christlichen Platonismus ausgebildet (vgl. infra, S. 65). 5 Phaidros, 249c4. 6 Zur l´henir, vgl. Parmenides, 130a-133 a. 7 Zur Verlagerung der Ideen in den göttlichen moOr, vgl. Plotin, Enneade V 9, 5: Peq· moO ja· t_m Qd´ym ja· toO emtor. Vom Geist, den Ideen und dem Seienden, insbes. Kap. 1 – 8. Hier z. B. sprechend: […] t¹ 1m¹m […] gg Qd´a aqt¶. […] oqw 6teqa toO moO eg j²stg Qd´a, !kk’ 6j²stg moOr. „Das [dem Geist] Innewohnende ist […] die Idee selbst. […] Nicht verschieden vom Geist ist eine jede Idee, sondern jede ist Geist.“ (Op. cit. 8; 2 ff.). Eine schlüssige Auslegung dieser Kapitel legt Karl-Heinz Volkmann-Schluck vor, in: Plotin als Interpret der Ontologie Platos, Klostermann, Frankfurt a. M., Dritte erweiterte Auflage, 1966, S. 37 – 45. 8 So heisst es bei Augustin: „Sunt ideae principales formae quae in divina intelligentia continentur“, in: De Diversis quaestionibus LXXXIII, § 46, 2. 9 Vgl. Plotin, Enneade I, 8: Peq· t¹ t¸ma ja· pºhem t± jaj²? Vom Wesen und Ursprung des Schlechten, insbes. Kap. 3, 35 – 40 und Kap. 4, 1 ff.

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Platonismus das sinnlich Materielle überhaupt zum Schlechten im Sinne des Verderblichen, Zerstörerischen, Heil-losen, ja dem Heilen sich Widersetzenden, gegen es Aufstehenden, d.i. zum Bösen10. Zugleich aber entzieht sich im christlichen Platonismus der übersinnliche Bereich des beständigen göttlichen Seins – wie Nietzsche bemerkt11 – in ein unfassliches Jenseits, während der sinnliche Bereich des Werdens und Wandels zum irdischen Diesseits des Leidens unter der Herrschaft des Bösen herabsinkt. Waren beide Bereiche bei Platon durch einen einfachen Unterschied, eine eg teqºtgr, eine bloße „Verschiedenheit“, von einander geschieden, so werden sie im christlichen Platonismus zu zwei Welten, die durch eine Kluft, den wyqislºr, getrennt sind12. Darin aber bekundet sich, dass im Sein dessen, was ist, irgendwie ein „Bruch“13 geschehen ist, der sich zwar schon in Platons Unterscheidung der beiden Seinsbereiche bekundet, aber doch erst jetzt voll zum Ausbruch 10 Wir orientieren uns hier vorgreifend an Schellings Begriff des Bösen, demgemäß dieses im Aufruhr bzw. Aufstand (st²sir) des „Grundes“ der „Existenz“ gegen das göttliche Band der Liebe (zwischen „Grund“ und „Existenz“) beruht. Der „Grund“ aber ist bei Schelling die an sich selbst seins-lose chaotische Materie (die freilich von ihm neuzeitlich-willentlich ausgelegt wird). Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: Schelling, Ausgewählte Werke, Schriften von 1806 – 1813, S. 275 – 360, hier S. 309 f. Zu Schellings Begriff des Bösen, vgl. Martin Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1936, hrsg. von Ingrid Schüßler, GA 42, 1988, insbes. S. 184 und S. 248 f. Vgl. auch unseren Artikel „Le mal chez Kant et Schelling“, in: L’année 1793. Kant. Sur la politique et la religion. Sous la direction de Jean Ferrari, J. Vrin, Paris 1995, S. 199 – 203, hier S. 201 – 203. 11 Friedrich Nietzsche: „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“, in: Götzendämmerung, in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [=KSA], hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, de Gruyter, Berlin, 1980, Band 6, S. 80. 12 Vgl. dazu Karl-Heinz Volkmann-Schluck: „Nietzsche und das Christentum“, in: Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches. Klostermann, Frankfurt a. M. 1968, S. 48 – 63, hier S. 52 f. (wo der Autor den Wandel der platonischen Metaphysik im christlichen Platonismus bündig darstellt). 13 Dieser „Bruch“, der seit langem (seit Plato) im abendländischen Denken geschehen ist und der im Verlauf der Geschichte desselben immer mehr aufbricht und sich verfestigt, erstreckt sich bis in unser gegenwärtiges, durch Wissenschaft und Technik bestimmtes Zeitalter. Gemäß Heidegger verbirgt er sich im gegenwärtigen Verhältnis von „Wissenschaft“ und „Ethik“, das durch und durch fragwürdig ist. Einerseits schreitet die Wissenschaft – durch eine ihr selbst unbekannte „Herausforderung“ getrieben – unaufhaltsam fort. Andererseits ergeht doch an sie auch immer wieder der Ruf nach „Verantwortung“, den sie indessen überhört und unberücksichtigt lässt. So bringt sich zwar die „Moral“ mit Recht zur Geltung, so jedoch, dass sie sich wirkungslos am Ende im bloßen Schein ihrer selbst Genüge tut. So sagt Heidegger: „,Physik und Verantwortung‘ – das ist gut und für die heutige Notlage wichtig. Aber es bleibt eine doppelte Buchführung, hinter der sich ein Bruch verbirgt, der weder von seiten der Wissenschaft noch von seiten der Moral heilbar ist – wenn er es überhaupt ist.“, in „Das Wesen der Sprache“ (1957/58), in: Unterwegs zur Sprache (1959), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 12 (1985), S. 147 – 204, hier S. 198. Um Verwirrung zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass der besagte „Bruch“ nicht identisch mit dem wyqisl|r ist, sondern dieser nur eine Folge von jenem ist. Vgl. dazu unsere Seite 73 f.

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kommt. Diesen Bruch – der selbst ein Heil-loses, ja das ursprünglich Heil-lose ist – gilt es zu heilen. Deshalb geht es auch und erst recht im christlichen Platonismus darum, die Welt des Diesseits der Welt des Jenseits anzugleichen, – gesellt sich doch in ihm zum onto-logischen das heilsgeschichtliche Motiv. Solche adaequatio ist aber nur dadurch möglich, dass – so wie bei Plato die Idee – nunmehr der Schöpfer-Gott selbst in der Sinnenwelt erscheint, d. h. Mensch wird und doch Gott bleibt, d. h. als Gottessohn inmitten der Welt des Bösen – mit Kant gesagt – nicht nur in allen Anfechtungen, allem Leiden bis hin zum sicheren Tode das Gute in göttlichem „Übermaß“ vollbringt, sondern auch durch sein stellvertretendes Leiden den Menschen vor Gott als Richter rechtfertigt14. Damit ist, grundsätzlich gesehen, bereits die adaequatio als der Endzweck erreicht. Das Böse ist vergolten, und die irdische Welt ist ins göttlich Gute aufgehoben. Die civitas Dei, die Gemeinschaft der Menschen unter dem göttlichen Gesetz, ist auf Erden errichtet. Noch aber müssen diejenigen gerichtet werden, die die Stellvertretung des Gottessohnes nicht annehmen wollen, ja willentlich gegen das göttliche Gesetz aufstehen. Solches Richtertum ist Sache Gottes als Geist15. Dieser scheidet die Böswilligen aus der civitas Dei aus und verstößt sie – mit Schelling gesagt – in den Abgrund des „Nichtseins“, aus dem sie sich erhoben haben16. Die Gutwilligen aber versammelt er im begeistenden pmeOla eigens in die Gemeinschaft der civitas Dei. Im Geiste als dem Versammelnden vollendet sich die Parusie Gottes auf Erden. So zeigt sich: Der trinitäre Gott des Christentums hat seinen Ursprung in der durch Platon begründeten Metaphysik. Die Lehre vom trinitären Gott kehrt in der Geschichte der Metaphysik in mannigfachen Abwandlungen wieder, so zwar, das sie – gemäß Kant – eine zunehmende Entleerung und scholastische Dogmatisierung im bloßen „Kirchenglauben“ erfährt17. Kants neuzeitlich kritische Begründung des trinitären Gotteswesens in der Selbstgewissheit der praktisch-moralischen Subjektivität des Menschen fängt solchen leeren Dogmatismus zunächst zwar auf, jedoch um den Preis einer bloß „formellen“ – und d. h. wiederum leeren – Selbstgewissheit und Subjektivierung des Glaubens. Um diese zu überwinden, beziehen die Systeme des absoluten Idealismus eines Hegel und Schelling erneut das Ganze der im religiösen Glauben als objektiv-real erfahre14

Kant, Rel. AK VI, S. 143 ff. Zum Richtertum Gottes als Geist, vgl. Kant, Rel. AK VI, S. 145 f., Fußnote. 16 Gemäß Schelling wird in der „Krisis“, dem Gericht, „das Böse von dem Guten geschieden, um auf ewig in das Nichtsein verstoßen zu werden“. Das Nichtsein aber ist die bloße Potentialität des dunklen „Grundes“, der aller lichten Existenz zugrundeliegt und der im Aufstand seiner selbst am Ende die sich über alles setzende selbstische Begierde, d. i. das Böse ist. Schelling, Philosophische Untersuchungen zur menschlichen Freiheit, in: Op. cit., S. 348 f. 17 Gemäß Kant ist die göttliche Trinität doxisch zum „anthropomorphistischen Symbol eines Kirchenglaubens“ bzw. zur „bloßen klassischen Formel eines Kirchenglauben“ geworden. Rel. AK VI, S. 141 f. und S. 147. Zur doxischen Entleerung des Christentums im bloßen „Kirchenglauben“, vgl. das ganze „Vierte Stück“ von Kants Religionsschrift, das den Titel trägt: „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips oder von Religion und Pfaffentum“. 15

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nen Heilsgeschichte (von Adam über Christus bis zum Jüngsten Gericht) mit ein. Der übersinnliche Schöpfergott „entlässt sich“, wie Hegel sagt18, in der subjektiven Selbstgewissheit seines Wesens in den objektiven realen Geschichtsgang der Welt, um diese durch den Sohn als Mittler zu sich aufzuheben – bzw. wie Schelling sagt: „um [durch den Mittler] den Rapport der Schöpfung mit Gott wiederherzustellen“19 – und sich selbst in der absoluten adaequatio von Wirklichkeit und Wesensgewissheit als versammelnden Geist zu vollenden. II. Der Untergang der traditionellen Lehre von der Trinität im gegenwärtigen Zeitalter der Reszendenz. Trinität und Wissenschaftspositivismus Wenn man die skizzierte Geschichte der Trinität genauer betrachtet, so zeigt sich, dass sich in ihr immer wieder in verschiedener Weise ein nihilistischer Zug gleich einem entleerenden abgründigen Sog geltend macht20, so zwar, dass dieser nicht nur durch das heilsgeschichtliche Interesse verhüllt, sondern auch immer wieder metaphysisch-denkerisch aufgefangen wird. Dieser soghafte Zug aber tritt als „Gegenbewegung“ gegen die Transzendenz der Metaphysik – wie Heidegger sagt – mit dem „Tode Hegels“21 (d. i. mit dem sog. ,Zusammenbruch‘ der Systeme des absoluten Idealismus) unverhüllt an den Tag. Jetzt kehrt sich – so Heidegger – „die Transzendenz in die entsprechende Reszendenz um und verschwindet in dieser“22. Die übersinnlichen Ideen eines Plato entleeren sich und sinken zu bloß immanenten Begriffen, Gesetzen und Regeln der Wissenschaften herab23. Die übersinnliche Welt des ewigen

18 „Das Übergehen [der Idee in Natur und Geschichte] ist … so zu fassen, dass die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher […]“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, hrsg. von Georg Lasson, Zweiter Teil Meiner, Hamburg. Unveränderter Nachdruck 1966 des Textes der zweiten […] Auflage von 1934, S. 505. 19 Freiheitsschrift, in: Op.cit., S. 324. 20 So macht er macht sich geltend 1. im neuplatonisch ausgelegten %peiqom als des seinsgierig das Seiende An- und Verzehrende, 2. im Sichentziehen der Idee in ein Jenseits, 3. im Wandel der beiden Seinsbereiche Platos zu den zwei Welten des christlichen Platonismus sowie in dem sie trennenden wyqisl|r, 4. in der Entleerung der Trinität im dogmatischen „Kirchenglauben“ und schließlich 5. im leeren Formalismus der neuzeitlichen selbstgewissen Subjektivität. 21 „… Seit Hegels Tod (1831) ist alles nur Gegenbewegung, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa.“, in: „Überwindung der Metaphysik“ (1936 – 1946), in: Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Martin Heidegger Gesamtausgabe [=GA], Band 7, 2000, S. 67 – 98, hier S. 74. 22 In: „Zur Seinsfrage“ (1955), in: Wegmarken (1967), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 9, 1976, S. 385 – 426, hier S. 398. 23 Die übersinnlichen Ideen eines Plato erscheinen dann rückläufig als „hypostasierte“ Begriffe und Gesetze der Wissenschaften (wie im Neukantianismus) oder als „hypostasierte“ Regeln des im Dienste des Lebens stehenden Verstandes (wie bei Nietzsche).

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Seins erlischt und geht reszendent in die sinnliche Welt des Werdens ein24. Aber damit erlischt nicht die onto-logische, ,rationale‘ Aufgabe der Metaphysik. Im Gegenteil! Sie wird im gegenwärtigen Zeitalter der Herrschaft von Wissenschaft und Technik nur desto fordernder. Denn jetzt geht es darum, – auf göttliche Beihilfe ungestützt – in reiner Immanenz die Sinnesdaten der empirischen Welt den Begriffen, Gesetzen und Regeln der Wissenschaften adaequat zu machen. Die positiven, ontisch empirischen Wissenschaften übernehmen verwandelt die ehemalige onto-logische Aufgabe der Metaphysik, dergestalt, dass sie danach trachten, die empirische Realität den – nunmehr von ihnen selbst erstellten – rationalen Gesetzen und Regeln adaequat zu machen. Da sich aber die empirische Realität dem Gesetzeswillen der Wissenschaften immer wieder entzieht und widersetzt, vermögen die Wissenschaften sie nur dadurch gesetzeskonform zu machen, dass sie sie in experimentellen Anlagen bearbeiten, durch Maschinen traktieren, ja durch ganze Installationen in die Bahnen der Gesetzeskonformität zwingen. Die ehemalige adaequatio der Sinnenwelt an die übersinnliche Welt des ewigen Sein vermittelst eines aus ihr stammenden Dritten löst sich reszendent in die adaequatio der Empirie an die Gesetze und Regeln der Wissenschaften mittels Maschinen und Installationen der modernen Technik auf und verschwindet in dieser25. In solcher Reszendenz geht der trinitäre Gott unter. Denn er hat Ursprung und Wesensgestalt in der Metaphysik. Zwar mögen wir immer noch an einer übersinnlichen Tranzendenz platonischen Stils orientiert sein. Aber diese Stelle bleibt leer. In ihr ist kein heilendes Wesen mehr. Indes ist damit der trinitäre Gott der Metaphysik nicht einfach vergangen, d. h. zunichte. Zwar entzieht er sich in die Reszendenz und verweigert sich uns in dieser. Aber gerade in solcher Verweigerung geht er uns an und hat in solchem Angang ein eigentümliches Wesen. Welchen Wesens ist er?

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Zu den verschiedenen Gestalten der Reszendenz der Metaphysik nach „Hegels Tod“, vgl. unsere Arbeit: Hegel et les rescendances de la métaphysique. Schopenhauer – Nietzsche – Marx – Kierkegaard – Le positivisme scientifique. Éditions PAYOT-Lausanne (Suisse), 2001. Da es in unserem Beitrag dem Titel gemäß um die Trinität im gegenwärtigen Zeitalter geht, dieses aber vor allem durch die Herrschaft von Wissenschaft und Technik bestimmt ist, heben wir in ihm insbesondere die Reszendenz in Gestalt des Wissenschaftspositivismus heraus (vgl. unsere Arbeit S. 300 – 340). 25 Damit ist aller Endzweck im vorhinein überholt. Denn der Prozess der adaequatio in raum-zeitlicher Immanenz ist unendlich, sind doch Raum und Zeit, gemäß Kant, „unendliche […] Größen“ (KrV B 39/40). Aus solcher Erfahrung kann Nietzsche sagen: „Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.“ (KSA 12. Nachgelassene Fragmente, Sommer 1886 – Herbst 1887, 5 [71], S. 213). Das ist bei Nietzsche der Ausdruck des Nihilismus, der ihm gemäß gerade im „Fehlen des Zieles“ beruht. „Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?‘ was bedeutet Nihilism? – dass die obersten Werte sich entwerten.“ (KSA 12, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887, 9 [35], S. 350). Die Teleologie der Metaphysik ist in der Reszendenz hinfällig.

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III. Die verwandelte Wiederkehr der Trinität im Durchgang durch die Reszendenz Wir versuchen zunächst, das Gotteswesen als solches aus der Reszendenz zu bestimmen, um sodann die mit ihm verbundenen trinitären Strukturen, also das verwandelte Wesen des Sohnes und des Geistes, aufzuzeigen. Dabei orientieren wir uns an Heideggers späterem und späten Denken (seit 1932)26, geht es ihm doch in diesem – ähnlich wie Hölderlin und Nietzsche, aber in anderer Weise – gerade darum, aus dem Untergang den Aufgang zu denken27. 26

Seit 1932 steht bei Heidegger der „Plan zum Entwurf“ seines Ereignisdenkens in „Grundzügen“ fest, in dem die Lichtung von Sein nicht mehr vom Da-sein her (wie in Sein und Zeit, 1927), sondern dieses aus jener als das von ihr „Er-eignete“ gedacht wird. Dieser Entwurf, der im sog. „zweiten Hauptwerk“: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936/38), seine „erste Gestalt“ gewinnt, enthält zugleich die Aufgabe, noch einmal „die Geschichte der abendländischen Philosophie“ in einer „Gesamtbesinnung“ zu klären. Und Heidegger fügt hinzu: „[…] auf [meinem] ganzen bisherigen Wege [ging] verschwiegen die Auseinandersetzung mit dem Christentum mit – eine Auseinandersetzung, die […] [die] Wahrung der eigensten Herkunft […] und schmerzliche Ablösung davon in einem [ist]. […] Alles [i. e. das katholische und das protestantische Christentum] [muss] überwunden, nicht aber zerstört werden […]. […] diese […] Auseinandersetzungen drehen sich […] nur um die Eine Frage, ob der Gott vor uns auf der Flucht ist oder nicht und ob wir dieses noch wahrhaft, d. h. als Schaffende erfahren.“ In „Ein Rückblick auf den Weg“ (1937/38), in: Besinnung (1938/39), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 66, 1997, Anhang, S. 424 und S. 415. 27 Das geht z. B. aus Heideggers Freiburger Vorlesung: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (Wintersemester 1934/35), hrsg. von Susanne Ziegler, GA 39, 1980, hervor. Hier zitiert er Stellen aus Hölderlins Schrift: Das Werden im Vergehen, und schließt seine Interpretation mit den Worten: „Die Stellen bekunden, wie leidenschaftlich der Dichter bemüht ist, das Vergehen als Entstehen, das Gehen als ein Kommen in eins zu denken […]“ (S. 123). So bemerkt Heidegger wiederholt, dass auch die einst gewesenen griechischen Götter verwandelt wiederkehren werden (zu den bibliogaphischen Referenzen, vgl. unsere Fußnote Nr. 29), – eine Bemerkung, die uns zur Frage nach der Wiederkehr des trinitären Gotteswesens veranlasst hat. Indes denken Nietzsche, Hölderlin und Heidegger, wie oben bemerkt, den Hervorgang des Entstehens aus dem Vergehen in verschiedener Weise. Nietzsche denkt ihn als apollinische, schöpferische Produktion im dionysischen Untergang der Subjektivität, Hölderlin als Primat des Möglichen im Vergehen, Heidegger (wohl am radikalsten) als Doppelsinn des „Nichtens“ im „nichtenden Nichts“. (Das „Nichten“ ist zumal ,verbietend‘-entziehend und ,bietend‘-gewährend: es ist im Entzug, gleichsam ,durch‘ ihn, gewährend). Zur schöpferisch-zerstörenden dionysischen Subjektivität bei Nietzsche, vgl. unseren Artikel „Zur Gottesfrage in Nietzsches reszendenter Metaphysik“, in: Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Band 3/ 2007, Tillich und Nietzsche, hrsg. von Christian Danz, Werner Schüßler und Erdmann Stumm, Lit Verlag, Wien/Berlin 2008, S. 9 – 24. Zu Hölderlin, vgl. die Bemerkungen Heideggers in: op. cit., S. 122 f. sowie die dort angeführten Hölderlin-Zitate. Zum „nichtenden Nichts“ als eine der Fassungen des Grundgedankens Heideggers, vgl. unseren Artikel „Le ,dernier dieu‘ et le délaissement de l’être“ (Première partie), in: Heidegger Studien, Duncker & Humblot, Berlin, Nr. 25, 2009, S. 49 – 78, insbes. S. 60 – 68 (hier auch die Referenzen zu Heideggers Schriften) sowie auch unseren Artikel „Machenschaft und Gestell. Heideggers zweifache Auslegung der Technik“, in: Ding und Verdinglichung, Technik- und Sozialphilosophie nach Heidegger und der kritischen Theorie, hrsg. von Hans Friesen, Christian Lotz, Jakob Meier

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1. Das verwandelte Gotteswesen Wenn der transzendente Gott der Metaphysik in die Reszendenz untergeht, so ist er – wie gesagt – nicht einfach vergangen und zunichte geworden, sondern er geht uns an und hat in solchem Angang ein eigentümliches Wesen. Zwar könnte man meinen, dass dies nur darin beruht, dass wir ihm aus alter Gewohnheit nachhängen, dass er uns also fehlt und sein Wesen im uns Fehlen, der privatio, beruht. Aber solche privative Präsenz bleibt doch immer noch an der transzendenten Idee der platonistischen Metaphysik als Maßstab orientiert. Das Wesen des Gottes im Untergang der Reszendenz ist kein bloßes Fehlen, sondern anderer Art. Wenn wir uns nämlich dem untergehenden Gotte selbst und d. h. als Untergehendem zu-wenden, so tritt heraus, dass er gerade im Untergang als solchem ein eigenes An-wesen hat: er west an, indem er sich entzieht, sich entfernt, ferne ist. Er west als der Ferne an. Ja, sofern er in der Transzendenz der Metaphysik das Höchste (nämlich reinste Präsenz, summum ens) war, geht er in der Reszendenz der Metaphysik in das Tiefste unter. Das Tiefste aber ist der Ab-grund. Aber auch als der zutiefst Abgründige west er an. Entzug, Ferne, Abgründigkeit sind gerade in das fragliche Gotteswesen mit aufzunehmen, ja als sein erster Grundzug zu denken. Wie also ist es zu denken? Der Gott west als der Ferne an und heran. Aus der Ferne her-an-wesen und sich in eine Nähe bringen, ist aber das Wesen des Winkens, wenn anders das Winken darin beruht – wie das abschiedliche Winken eines sich entfernenden Sich-Verabschiedenden zeigt –, sich gerade im Ab-schied, im Sich-Entfernen, zu nähern und nahe sein zu lassen. Das Sich-Entfernen nähert und gewährt Nähe, aber nicht etwa so, dass es diese aus sich entlässt, – dann wäre die Nähe zur platten Präsenz pervertiert und keine uns an-gehende Nähe mehr. Vielmehr durchzieht das Sich-Entfernen das von ihm gewährte Sich-Nähern und die Nähe, dergestalt, dass es sie zugleich bei sich einbehält, zurückhält und so hütet und als (sich nähernde) Nähe bewahrt. Umgekehrt aber durchzieht auch das gewährte Sich-Nähern das Sich-Entfernen und die Ferne, dergestalt, dass es diese nähernd als solche (als Ferne) her-an- und an-wesen lässt. Dies zeigt nicht nur das Winken des sich entfernenden Sich-Verabschiedenden, sofern es als ent-fernendes Weg-Winken immer auch ein näherndes Her-winken ist, sondern auch das erwidernde Winken des ihn Verabschiedenden, sofern es ihn zwar wegziehen, aber doch gerade als Wegziehenden nahe sein lässt28. So zeigt sich: Der

und Markus Wolf. Verlag: Wilhelm Fink, München, 2012b, S. 63 – 97, hier S. 67 f. und die Fußnote Nr. 10. 28 Formelhaft gesagt: Das Winken ist das Hin und Her, das sich wechselseitig durchgeht. So sagt Heidegger: „Im Wesen des Winkens liegt das Geheimnis der Einheit innigster Näherung in der äußersten Entfernung.“ (GA 65, Nr. 256, S. 408). Wir verdanken die klare Einsicht in das von Heidegger gedachte Winken dem von uns herausgegebenen Vorlesungsmanuskript: Der Spruch des Anaximander (1942), GA 78, 2010, in welchem Heidegger das Wechselverhältnis von Hin und Her phänomenologisch in Bezug auf c]mesir und vhoq², „Entstehen“ und „Vergehen“, im „Spruch des Anaximander“ (Anaximander, Fragment Nr. 1, Diels/Kranz I, S. 89) aufweist. Vgl. GA 78, insbes. S. 109 – 120 und S. 174 (sowie die Fußnote Nr. 113).

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aus der Reszendenz zu denkende Gott, der als der Ferne an-west, hat sein Wesen im Winken, – wie Heidegger bündig sagt: „Sein Wesen hat er im Wink.“29. 29 GA 65, Nr. 256, S. 409. Heidegger schließt an Hölderlins Wort an: „… und Winke sind von Alters her die Sprache der Götter“ (zitiert in „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ (1936), in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1951, 4. erweiterte Auflage 1971), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 4, 1981, S. 33 – 48, hier S. 46. Vgl. auch Heraklit, Fragment 93, Diels-Kranz I, S. 172: b %man ox t¹ lamte?ºm 1sti t¹ 1m Dekvo?r, oute k´cei oute jq¼ptei !kk± sgla¸mei. „Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt weder noch verbirgt er, sondern winkt.“ (Übersetzung von Vf.). Heidegger hat das winkende Wesen des fernen, ja fernsten Gottes bekanntlich im VII. Abschnitt der Beiträge zur Philosophie (GA 65) gedacht. Er hat diesem Abschnitt den Titel „Der letzte Gott“ gegeben und als Motto hinzugefügt: „Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen“. Der „fernste“ Gott ist der „Letzte“ nicht im flach chronologischen, sondern in einem tieferen, wesentlichen Sinne. Und dies in mehrfacher Weise: 1. Er ist der „Letzte“, sofern er aus dem „Letzten“ (5swatom), „Fernsten“, „Äußersten“ (extremum) der Lichtung von Sein, nämlich dem ek-statischen Ab-grund des Todes, west. (Heidegger nennt ihn auch den „äußersten Gott“. GA 65, S. 408 und S. 413). 2. Er ist der „Letzte“, sofern er – als der aus dem Ab-grund des Todes Wesende – das äußerste Ende der Geschichte des „ersten (griechischen) Anfangs“, d. i. der Geschichte er Metaphysik ist, in welchem sich diese vollendet. Denn er ist die tiefste Entsprechung der höchsten metaphysischen Transzendenz. 3. Er ist der „Letzte“ (jetzt auch in zeitlichem Sinne), sofern er – als diese tiefste Entsprechung – zuletzt zum Vorschein kommt, nicht nur in Bezug auf die Geschichte des ersten Anfangs, d. i. die Geschichte der Metaphysik und d. h. in Bezug auf den christlich-metaphysischen Gott, sondern auch in Bezug auf die diesem vorausgehenden griechischen Götter. Denn als Götter der v¼sir sind auch diese – wenngleich noch aus dem Abgrund wesend und als solche erfahren – primär durch Aufgang und insofern durch „Transzendenz“ bestimmt. 4. Er ist der „Letzte“, sofern er der- bzw. dasjenige ist, um das es in der Geschichte des Seins zuletzt oder im Letzten geht. Denn er ist nicht nur das äußerste Ende der Geschichte des ersten Anfangs, sondern – gerade als dieses – auch der „andere Anfang“ der möglichen anderen, zu-künftigen Geschichte des abendländischen Denkens (GA 65, Nr. 256, S. 411). In dieser wird der Ab-grund, nicht aber die (metaphysische) Transzendenz das Primäre und Wesentliche sein. Und aus ihm (dem Abgrund) wird gemäß Heidegger die gesamte von ihm und in ihn weg-gezogene bisherige Geschichte erneut ins Wesen kommen (wie ja auch schon bei Hegel und Nietzsche, wenngleich in anderem Sinne, die Geschichte wiederkehrt, und zwar bekanntlich bei Hegel als ewiges Kreisen im „Kreis der Kreise“ und bei Nietzsche als „ewige Wiederkehr des Gleichen“). Und auch die vor-metaphysischen, vor-christlichen, griechischen Götter, die in der wachsenden Transzendenz „geflohen“, d.i. vom soghaften Ab-grund und in ihn weg-gezogen sind, werden mit dem letzten Gott aus dem Ab-grund als „Ge-wesene“ neu ins (her-an-kommende) „An-Wesen“ kommen, d. h. – ebenso wie dieser – Winkende sein. (Zur Wiederkehr der griechischen Götter, vgl. Heideggers Andeutungen in GA 65, Nr. 256, insbes. S. 409, S. 410 und S. 411). Als Ende und Anfang aber ist der „letzte Gott“ in der Tat dasjenige, worum es ,zuletzt‘ oder ,im Letzten‘ geht. Wir haben versucht, das Wesen des „letzten“ „fernsten“ Gottes als des Winkenden aus der gegenwärtigen Seinsverlassenheit zu denken in „Le ,dernier dieu‘ et le délaissement de l’être“, in: Heidegger Studien, Nr. 25 (2009), S. 49 – 78 (Première partie) und Nr. 26 (2010), S. 125 – 164 (Seconde partie). Paola-Ludovika Coriando hat die Bedeutung des „letzten Gottes“ für den „anderen Anfang“ herausgestellt in: Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen ZeitRäumlichkeit des Übergangs in Heideggers „Beiträgen zur Philosophie“, Fink, München 1998. (Zum winkenden Wesen des „letzten Gottes“, vgl. unseren Artikel, in: op. cit., Nr. 26, insbes. S. 140 – 145. Zur Wiederkehr der Götter, vgl. ibid., S. 154 – 164).

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Als solcher steht er latent (i. e. verborgen) in die gegenwärtige wissenschaftlichtechnisch geprägte Welt herein, so zwar, dass er überdies durch deren Vormacht verhüllt ist. Aber er vermag sich aus solcher verhüllten Latenz auch zu erheben. Das geschieht dann, wenn das verfestigte Gefüge unserer wissenschaftlich-technischen Welt „erzittert“30 und wir uns im Schrecken vor die wesen-lose, ab-gründige Öde derselben sowie vor die Verwüstung der Erde im rechnerisch technisch-maschinellen Vorgehen gestellt finden31. In solcher Erzitterung werden die Wesensdimensionen der wissenschaftlich-technischen Welt jeweils für einen Augenblick in das winkende (fernend nähernde) Wesen des Gottes zurückgenommen, und der winkende Gott durchzittert – fremd und verborgen, kaum da und schon weg – unsere wissenschaftlich technische Welt. Aber der winkende Gott vermag am Ende auch eigens als solcher durchzubrechen und plötzlich als Blitz in die Weltnacht einzuschlagen, – ist doch der Blitz, der aus der Nacht aufzuckt und in sie niederfällt, der höchste, konzentrierteste Modus des Winkens. Dann wirft der Gott – mit Heraklit gesprochen – das Steuer

30 Wir entnehmen solches erste Sich-Erheben des winkenden Gottes in der „Erzitterung“ dem Stück Nr. 1 der Beiträge, wo die „Erzitterung“ freilich vor allem das „Gefüge des denkerischen Werkes“ durchstimmt und bestimmt. Aber sie ist doch die Erzitterung des „Wesens des Seyns“, also primär Erzitterung des Gefüges bzw. Un-gefüges der wissenschaftlich technischen Welt: „… das Wesen des Seyns [wird] [einstmals] in seiner Erzitterung das Gefüge des denkerischen Werkes selbst bestimmen. Diese Erzitterung erstarkt dann zur Macht der gelösten Milde einer Innigkeit jener Götterung des Gottes der Götter, aus der die Zuweisung des Da-seins an das Seyn, als der Wahrheitsgründung für diese sich ereignet.“ (GA 65, Nr. 1, S. 4). Die Winke des Gottes erzittern und lassen das Wesen des Seins im verfestigten Gefüge der wissenschaftlich-technischen Welt erzittern, wenngleich sie darin zunächst nur stimmungsmäßig geahnt sind: „Verhaltenheit […] stimmend auf das fernste Erzittern sich ereignender Winke aus der Ferne des Unentscheidbaren […]“ (GA 65, Nr. 13, S. 35). Solcher Verhaltenheit geht der Schrecken voraus, der in ihr bleibend nachklingt (GA 65, Nr. 7, S. 14 – 16). 31 „Das Erschrecken läßt den Menschen zurückfahren vor dem, dass das Seiende ist […] und dass dieses – das Seyn – alles „Seiende“ und was so schien verlassen, sich ihm entzogen hat.“ (GA 65, Nr. 5, S. 15). „Es gilt zu wissen, dass hier [i. e. im gegenwärtigen Zeitalter der völligen Fraglosigkeit] in aller Öde und Furchtbarkeit etwas vom Wesen des Seyns anklingt und die Verlassenheit des Seienden vom Seyn aufdämmert.“ (GA 65, Nr. 51, S. 110). „[Der Schrecken ist] der Schrecken des Abgrundes.“ (In: Das Ereignis (1941/42), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 71, Nr. 94, S. 68). „[Der Abgrund des Nichts stimmt den Menschen in] die Angst im Sinne des Schreckens.“ (In: „Nachwort zu ,Was ist Metaphysik?‘“ (1943), in: GA 9, S. 303 – 312, hier S. 312). Der wesenlosen Öde des Seienden im soghaft ab-gründigen Entzug des Seyns entspricht die Exzessivität der Näherung des Seienden als des jederzeit und überall bestellbaren Bereitstandes durch das rechnerisch-maschinelle Vorgehen der modernen Technik, welche [=die Exzessivität der Näherung] im vorhinein alles wurzelnde Wachstum unterbindet und so die Verwüstung der Erde betreibt (wenn anders die eigentliche Verwüstung in der Unterbindung des Wachstums besteht). Das Wesensverhältnis von Verödung und Verwüstung deutet Heidegger an, indem er beide nebeneinanderstellt: „Die Seinsverlassenheit und die Verwüstung. Verwüstung und Aushöhlung“ (in: GA 71, Nr. 104, S. 76). Zur „Verwüstung der Erde“ als dem bloßen „Planeten“ und „Irrstern“, vgl. auch Heideggers weitere Andeutungen in GA 71, z. B. Nr. 118, S. 85 und Nr. 125, S. 91.

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des Weltenlaufes herum32 und lässt in die wissenschaftlich-technische Welt Nähe und Ferne, Lichtung und Ab-grund, Himmel und Erde, und mit ihnen das Weltgeviert einkehren33. Der winkende Gott durchgottet im jaiqºr die Welt in der Wahrheit seines Wesens34. 2. Das verwandelte Wesen des Sohnes Mit dem übersinnlichen Gott der Metaphysik geht in der Reszendenz auch der metaphysisch bestimmte Mittler unter. Aber auch er kann nicht einfach vergangen sein, sondern muss mit dem fernen Gotte selbst verwandelt erneut ins Wesen kommen. Nun aber kam es dem Mittler immer auch zu, den „Bruch“ zu heilen, der sich im wyqislºr zwischen der sinnlichen Welt des Diesseits und der übersinnlichen Welt des Jenseits bekundet. Er war also immer auch Heiler und Versöhner und wird dieser auch bleiben, wenn er mit dem fernen Gott erneut ins Wesen kommt. Aber er wird dann ein solcher Heiler und Versöhner nicht mehr in der Weise sein können, dass er der übersinnliche Gott selbst ist, der in der sinnlichen Welt als menschlicher Gottessohn erscheint, um sie in die übersinnlich intelligible Welt, d. i. die civitas Dei auf Erden aufzuheben. Denn der übersinnliche Gott ist eben in der Reszendenz untergegangen. Auch hat der Mittler, sofern er der übersinnliche Gott (in der Sinnenwelt) war, den fraglichen Bruch – recht bedacht – so wenig durch Aufhebung, d. i. anglei32 Heraklit, Fragment 64, in: Diels/Kranz I, S. 165: t± d³ p²mta oig aj¸fei jeqaumºr. „Alles aber, was ist, steuert der Blitz.“. Vgl. dazu die Interpretation von Eugen Fink und Martin Heidegger in „Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit“ (Seminar Wintersemester 1966/67), in: Seminare, hrsg. von Curd Ochwadt, GA 15, 1986, S. 9 – 270, insbes. S. 13 – 29, sowie die bündige Interpretation von Karl-Heinz Volkmann-Schluck, in: Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der abendländischen Metaphysik, hrsg. von Paul Kremer, Königshausen & Neumann, Würzburg 1992, S. 124 – 125. 33 Zum Gott als Blitz, vgl. Heideggers Vortrag „Die Kehre“ (1949), in: „Einblick in das, was ist“, Bremer Vorträge 1949, in: Bremer und Freiburger Vorträge, hrsg. von Petra Jaeger, GA 79, 1994, S. 68 – 78, insbes. S. 72 – 75 (und unsere Interpretation in „Die Kehre des Ereignisses in den Technikaufsätzen Martin Heideggers“, in: Bir Arada – Das Zwischen – InBetween, Festschrift für Onay Sözer Armagani, hrsg. von Sanem Yazicioglu, Verlag: Türkiye is Bankasi Kültür Yayinlari, Istanbul, 2013. S. 181 – 196, hier S. 195), sowie auch Heideggers Andeutungen in GA 65, Nr. 256, S. 410. Vgl. auch Heidegges pointiertes Diktum: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“ In: „Spiegelgespräch mit Martin Heidegger (23. September 1966)“, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, 1910 – 1976, hrsg. von Hermann Heidegger, GA 16, 2000, S. 652 – 683, hier S. 671 (wo „retten“ meint: „in das Rechte Wesenhafte zurückstellen und darin wahren“), in: „Die Kehre“, S. 72. Was durch das Erscheinen des Gottes ins Rechte gerückt wird, das ist das Verhältnis der Wesensdimensionen der wissenschaftlich-technischen Welt. Vgl. infra). Zur Welt als Geviert von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen, vgl. Heideggers Münchner Vortrag „Das Ding“ (1950), in: GA 7, S. 165 – 187, hier S. 179 – 180, und seinen Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ (1951), in: GA 7, S. 145 – 164, hier S. 151 – 153 (sowie unsere Interpretation desselben in: La question de la vérité. Thomas d’Aquin – Nietzsche – Kant – Aristote – Heidegger. Éditions Payot-Lausanne, 2001b, S. 252 – 285). 34 „[Der] Wink [des letzten Gottes] als Ereignis stellt das Seiende in die äußerste Seinsverlassenheit und durchstrahlt zugleich die Wahrheit des Seins als ihr innigstes Leuchten.“ (GA 65, Nr. 256, S. 410).

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chende adaequatio an diesen übersinnlichen Gott heilen können, dass er ihn vielmehr umgekehrt dadurch gerade als Bruch verfestigt hat. Denn der übersinnliche Gott der reinen, von aller Absenz freien Präsenz verdankt sich ja selbst schon dem Bruch, so wahr dieser Bruch nicht etwa im bloßen wyqislºr zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt, sondern ursprünglich – als ein Bruch im Wesen des Seins selbst – im ,Auseinanderbrechen‘ der ursprünglich innig einigen, ineinander „gewundenen“ Wesenszüge und Wesensdimensionen desselben, d. i. im „sich entwindenden“ Auseinandergehen von Präsenz (An-wesen) und Absenz (Ab-wesen), von Nähe und Ferne, beruht (wovon der wyqislºr dann nur eine Folge ist)35. Wenn also mit dem fernen winkenden Gott ein Heiler und Versöhner ins Wesen kommt, so kann diesem nur die Rolle zukommen, die Wesensdimensionen unserer wissen35

Wie Heidegger im Vorlesungsmanuskript „Der Spruch des Anaximander“ (GA 78) durch Auslegung sowohl der griechischen Dichtung vor Plato (Homer, Sophokles und vor allem Pindar) als auch des „Spruches des Anaximander“ selbst zeigt (Anaximander, Fragment I, Diels/Kranz I, S. 89), bedeutet das Wort „Sein“ (eWmai) im griechischen Anfang seinem ursprünglichen Sinne nach: „Anwesen“. Solches An-wesen ist aber, genauer gedacht, ein Heran-wesen (c´mesir) aus einem Ab-wesen, von dem es her-kommt, ja von ihm eigens freigegeben wird, so zwar, dass es immer auch zugleich von ihm einbehalten wird und am Ende in es ent-geht (vhoq²). „Sein“, „An-wesen“ besagt also übergängiges Weilen zwischen Entstehen und Entgehen, Aufgang und Untergang, dergestalt, dass beide, ent-stehendes Heran-wesen und ent-gehendes Ab- bzw. Weg-wesen, sich durch das Weilen hindurch erstrecken und in ihm ineinander „verfugt“ bzw. ineinander „gewunden“ sind. Beide bilden im An-wesen qua übergängigem Weilen ein innig einiges „Gewinde“. Aber das An-wesen hat von Haus aus die Tendenz zu „verharren“ und auf solchem Verharren zu „beharren“, d. h. sich dem „Gewinde“ zu „entwinden“ und sich zur beharrlichen Beständigkeit aufzuspreizen. Solche „Entwindung“ geschieht bei Plato, bei dem sich das Sein in das „Immer“ (!e_) der beständig bleibenden Idee verlegt. Solcher Entwindung des sich in die Beständigkeit aufsteigernden Anwesens entspricht aber ein sich steigerndes Sich-Entziehen des Ab-wesens, so wahr dieses das ursprünglich Freigebende des Anwesens ist. Mit der Entwindung gehen also An- und Ab-wesen in ein Auseinander, in dem sie zwar zusammen bleiben, aber doch aufgrund der jeweiligen Steigerung ihrer selbst zunehmend in ein Übermaß gelangen, in welchem sie sich am Ende feindlich gegeneinander wenden. Mit der „Entwindung“ des Anwesens aus seinem Gewinde mit dem Abwesen (welcher „Entwindung“ der sich steigernde Entzug des Abwesens entspricht) ist also bereits das geschehen, was dann später als „Bruch“ erfahren wird. Denn im Lichte der beständig bleibenden, immer seienden Idee als dem fortan „eigentlichen Sein“ (t¹ cm emtyr) erscheint das übergängige Weilen als bloßes sich wandelndes Werden, so dass infolge der Entwindung der Unterschied zwischen dem sinnlichen Bereich des Werdens und dem intelligiblen Bereich des bleibenden Seins aufbricht, der sich im christlichen Platonismus zum wyqislºr zwischen der sinnlichen Welt des Diesseits und der übersinnlichen Welt des Jenseits aufsteigert. Im wyqislºr wird dann der Bruch in heilsgeschichtlicher Perspektive in vorrangiger Weise erfahren. Soll dieser Bruch geheilt werden, so muss er in seiner Wurzel, nämlich dem ursprünglichen Auseinandergehen der Wesensdimensionen des Seins selbst geheilt werden, d. h. die „Entwindung“ muss „verwunden“ und das Sein (qua Beständigkeit [der Idee] und ,Beständlichkeit‘ [der Bestände]) in das ursprüngliche Gewinde zurückgewunden werden. Zur ursprünglichen Bedeutung von „Sein“ als „An-wesen“, vgl. GA 78, S. 52 – 101 und S. 103 – 121, zur „Entwindung“ des Seins aus der „Fuge“ bzw. dem „Gewinde“ von An- und Ab-wesen, vgl. GA 78, S. 167 – 180 und S. 231 – 235, zur Genesis der Unterscheidung von Sein und Werden bzw. sinnlicher und übersinnlicher Welt als Folge der Entwindung, vgl. GA 78, S. 178 (wo sie zwar nur kurz, aber prägnant dargelegt wird).

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schaftlich technischen Welt selbst, den soghaften Ab-grund und die verwüstende, nur disponible nächste Nähe, jeweils eigens in ihr ursprüngliches Wesen umzuwenden und ins rechte Verhältnis zurückzubringen. Denn erst dann kann der Gott ins Winken kommen, wenn anders eine soghafte, nur entziehende Ferne kein näherndes Winken und eine bloß disponible nächste Nähe keine Ferne (kein ,fernendes‘ Winken) zulässt. Dem Heiler und Versöhner kann also nur zukommen, das – bereits mit Plato anhebende und heute klaffende – Auseinander und feindliche Gegeneinander des in ihrer Exzessivität beruhenden Unwesens der Wesensdimensionen unserer wissenschaftlich technischen Welt – d. i. die exzessiv nähernde Nähe, die alle Ferne beseitigt und verwüstend in die nächste Nähe zwingt, sowie die exzessiv ent-fernende Ferne, die soghaft alles Wesen verschlingt – aus solchem feindlichen Gegeneinander in das Verhältnis eines Zu- und Füreinander36 umzuwenden, in dem sie sich einander „zuträglich“ (s¼lveqa)37 und „zugetan“ (v¸ka)38 sind. Damit würde er sie in ihre ursprüngliche innige Einheit verwinden und so den Bruch in seiner Wurzel heilen. Soll also der ferne Gott überhaupt ins Winken kommen können, so muss er vorgängig schon einen solchen Umwender, Heiler und Versöhner innerhalb seiner eigenen göttlichen Wesensdimension – eben um der Möglichkeit seines eigenen winkenden, fernend-nähernden Wesens willen – als den ihn selbst vorbereitenden Sohn ,erzeugt‘, d. i. „ereignet“ haben. In solchem Sohne würden dann die besagten Wesensdimensionen unserer wissenschaftlich technischen Welt in einer ersten Erzitterung anheben, sich zu wenden39. Aber solange der Sohn nur in der Dimension des Gottes selbst ins Wesen kommt, vermag er die Umwendung nicht eigentlich zu vollbringen. Denn es geht eben darum, allem zuvor den Ab-grund aus dem soghaften Exzess seines „Ab“ und Weg eigens ins Her umzuwenden, – was nur dadurch zu geschehen vermag, dass er im Schrecken erfahren und so eigens ins Da gebracht wird. Ebenso wie dann auch die nächste disponible Nähe uns nicht mehr gefangen nimmt, sondern in eine Ferne zurückgenommen wird. Aber den Abgrund – der ja zuletzt der Abgrund des Todes ist – als solchen eigens ins Da zu bringen, vermag kein Gott, sondern nur der sterbliche Mensch. Wie Hölderlin sagt: „Nicht vermögen – die Himmlischen alles. Nämlich […] es reichen 36

Gemäß Heidegger geht es darum, dass die Lichtung nicht mehr gegen die Verbergung ist und sie (a-lethisch privativ) zu beseitigen trachtet, sondern am Ende (a-lethisch) „für“ die Verbergung, d. i. „Lichtung für die Verbergung“ ist. Vgl. GA 65, Nr. 214 – 233, S. 338 – 361 und unsere Arbeit La question de la vérité (vgl. unsere Fußnote Nr. 33), S. 244 – 252. 37 Vgl. Heraklit, Diels/Kranz I, Fragment Nr. 8, S. 152. 38 Vgl. Heraklit, Diels/Kranz I, Fragment Nr. 123: gg v¼sir jq¼pteshai vikei. „Der Aufgang ist dem Sich-Verbergen zugetan.“ (Übersetzung von Vf.). Vgl. auch den Bericht über die Lehren der Alten in Platons Sophistes, denen gemäß das All dessen, was ist, durch das Verhältnis der „Feindschaft“ (5whqa) und das der „Freundschaft“ (vik¸a) bestimmt ist (Sophistes, 242e-243a). 39 Gemäß unserem jetzigen Hinblick auf den mit dem mit dem winkenden Gotte ins Spiel kommenden Sohne differenzieren wir hier die „Erzitterung“ der Wesensdimensionen und die Parusie des winkenden Gottes selbst und legen die Erzitterung als das Geschehen einer ersten Umwendung derselben aus.

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die Sterblichen eh’ an den Abgrund.“40. Der Gott bedarf des Menschen als des sterblichen Da-seins. Der winkende Gott muss also den Sohn am Ende als sterbliches, dem Tode eigens ek-statisch geöffnetes Da-sein ereignen. Der Sohn ist dann nicht mehr der in der Sinnenwelt erscheinende übersinnliche Gott selbst, mit dem er wesensgleich ist, sondern er ist sterblicher Halbgott, der unaufhebbar dem Tode ausgesetzt ist und insofern grundverschieden vom winkenden Gotte selbst bleibt. Er ist zwar anfänglich durch denselben in dessen eigener Wesensdimension ereignet, aber er kommt doch am Ende als Wender und Heiler nur insofern ins Wesen, als der Gott ihn zugleich als sterbliches Da-sein in einem Menschen ereignet. Dann ist er selbst im Schrecken durch den erzitternden Abgrund betroffen und bleibend von ihm durchzittert und nimmt das Aus- und Gegeneinander der Wesensdimensionen des Seins in heilender Verwindung in die innige Einheit möglichen Winkens zurück, um so am Ende den Gott inmitten unserer wissenschaftlich-technischen Welt wesen zu lassen41. Aber so wenig wie jenes Un-Verhältnis bzw. „Un-gefüge“ der Wesensdimensionen des Seins mit einem Schlage da war, sondern sich seit dem griechischem Anfang durch die Geschichte der Metaphysik hindurch erst allmählich ausgebildet hat, so wenig geschieht auch solche verwindende Rücknahme mit einem Schlag. Vielmehr vermag auch sie sich nur dank langer geschichtlicher Vorbereitung am Ende selbst zu ereignen42. Insofern ist der Sohn – ähnlich wie bei Schelling43 – nur der stiftend-gründende Wegbereiter und Vorläufer der Parusie des Gottes selbst, als welcher er immer erneut wiederkehren muss. Wenn aber der winkende Gott am Ende die Welt durchgottet, dann gibt sich der Sohn – wiederum ähnlich wie bei Schelling44 – als bloßer 40 In „Mnemosyne“, Erster Entwurf, Vers 14 – 16, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Hrsg. von Jochen Schmidt. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1992. Band I, S. 1032. 41 Die „Eschatologie“ des „letzten Gottes“ tritt hier an die Stelle der „Teleologie“ der Metaphysik (vgl. zu dieser S. 64 und S. 68, Fußnote Nr. 25). Heidegger geht es offenbar darum, die platonisch-metaphysische Unterscheidung von übersinnlichem „ewigen“ Sein und sinnlichem Werden, die durch den Einbezug der Heilsgeschichte in die Metaphysik als Bruch erfahren wurde (vgl. supra, S. 2), durch ein „anderes“ – durch die ab-gründige Reszendenz hindurchgegangenes – Denken zu heilen. So vermag sich der eschatologische, heilsgeschichtliche Zug zu erklären, der im späteren und späten Denken Heideggers spürbar ist. Dabei sind und bleiben das 5swatom Heideggers und das t´kor der Metaphysik grundverschieden: Jenes ist der als Ab- bzw. Weg-wesen waltende Ab-grund, dieses die durch volle Präsenz bestimmte Seinsvollendung (in t´kor ist t´keiom, „vollendet“, zu hören). 42 „Das Letzte ist Jenes, was die längste Vorläuferschaft nicht nur braucht, sondern selbst ist, nicht das Aufhören sondern der tiefste Anfang, der am weitesten ausgreifend am schwersten sich einholen lässt.“ (GA 65, Nr. 253, S. 406). „Langer Vorbereitung bedarf es für den großen Augenblick [des] Vorbeigangs [des letzten Gottes]. Und zu seiner Bereitung sind die Völker und Staaten zu klein, d. h. zu sehr schon allem Wachstum [i. e. der Erfahrung des gewährend wachsen-lassenden Abgrundes] entrissen und nur noch der Machenschaft ausgeliefert. Nur die großen und verborgenen Einzelnen werden dem Vorbeigang des Gottes die Stille schaffen […].“ (GA 65, Nr. 265, S. 414). 43 Vgl. Freiheitsschrift, in: Op. cit., S. 347 f. und insbes. S. 349. 44 Freiheitsschrift, in: Op. cit., S. 349.

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Wegbereiter auf und findet sich als Erster in die innige Einheit mit dem Gotte versammelt. Damit aber kommt der versammelnde Geist ins Spiel. 45. 3. Das verwandelte Wesen des Geistes Auch der Geist ist reszendent umzudenken. Zwar wird er immer noch derjenige sein, der die Parusie des Gottes in der Welt vollendet, aber nicht, indem er richtend die Böswilligen in den Abgrund des „Nichtseins“ verstößt und pneumatisch die Gutwilligen in die civitas Dei versammelt. Vielmehr wird er in der Jq¸sir – der letzten, alles entscheidenden Entscheidung46 – am Ende als die versammelnde Mitte des winkenden Gottes selbst wesen. Hat schon der Sohn (als Mittler) das Aus- und Gegeneinander der Wesensdimensionen der wissenschaftlich-technischen Welt eigens ins Zueinander zurückgewendet – dergestalt, dass Nähe und Ferne im wechselseitigen Sich-Durchgehen sich jeweils in ihr eigenes Wesen bringen47 –, so ist der versammelnde Geist nunmehr die ursprüngliche Mitte, die beide durchgehen und in der sie sich durchkreuzen. Er ist also, anders gesagt, das beide zusammen-haltende und unter-haltende Verhältnis. Insofern ist der Geist das Ereignis der Parusie des winkenden Gottes selbst48. So ist er am Ende der Alles versammelnde Mittler im eigentlichen Sinne. Dabei ist er nicht nur die Mitte des Verhältnisses, das die Dimensionen des Weltgevierts versammelt, sondern auch der kºcor, das Wort, das die Menschen – mit Heraklit gesagt – in das og lokoce?m, das ihm entsprechende Sagen und Denken, versammelt49, – ist doch das wesentliche Wort gemäß Heidegger die „eigenste Weise

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„Der Anruf [des Gottes] auf den Zu-sprung in die Ereignung [des Da-seins] ist die große Stille des verborgenstens Sichkennens.“. (GA 65, Nr. 256, S. 407 f. Vgl. dazu unsere Interpretation in „Le dernier dieu et le délaissement de l’être“ (Seconde partie), in: Op. cit., Nr. 26, S. 148 – 150, insbes. S. 150). Zum Winken des Gottes als Ruf bzw. Wort, vgl. infra. 46 Die Jq¸sir ist hier nicht mehr das „Jüngste Gericht“, sondern die letzte – alles noch metaphysisch Geprägte abscheidende – Ent-scheidung des winkenden Gottes zur vollen Parusie seines eigenen Wesens. Zur nicht mehr metaphysisch gedachten „Ent-scheidung“, vgl. GA 65, Nr. 45 und Nr. 46, S. 96 – 101, hier insbes. S. 100. 47 Indem die Dimension der Ferne das Sich-Nähern und die Nähe im Ganzen durchzieht, behält sie sie hütend bei sich ein und lässt sie eigentlich Nähe sein. Und indem die Dimension der Nähe die ent-gehende Ferne im Ganzen durchzieht, lässt sie sie als ent-gehende Ferne herund her-an-wesen (vgl. supra, S. 70 und die Fußnote Nr. 28). In diesem Sinne gewähren Nähe und Ferne, eine Jede jeweils der Anderen, das eigene Wesen. 48 Wie Heidegger in seinem späten Aufsatz „Zeit und Sein“ gezeigt hat, beruht das Ereignis selbst und als solches im „Sach-Verhalt“, d. i. im Verhältnis, das die „Sachen“, um die es hier geht, nämlich „Zeit“ und „Sein“, „ver-hält“. In: „Zeit und Sein“ (1962), in: Zur Sache des Denkens (1969), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 14, S. 3 – 30, hier S. 24. Sofern nun das Wesen der ekstatisch gedachten Zeit eine Weise der ent-rückenden Dimension der Ferne ist und dementsprechend das Wesen des Seins (als An-, i. e. Her-an-wesen) in der Dimension der nähernden Nähe beruht, kann auch gesagt werden, dass das Ereignis selbst das Ver-hältnis von Ferne und Nähe ist. 49 Vgl. Heraklit, Fragment Nr. 50, Diels/Kranz I, S. 161.

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des Ereignisses“ als des alles versammelnden Verhältnisses50, und dies gerade so, dass es sich dabei zeigend-winkend selbst entzieht. In solcher Versammlung im winkenden Wort des Geistes durchgottet der Gott am Ende die Welt und alles menschliche Da-sein. Der klaffende Bruch der Dimensionen der Lichtung von Welt ist in der Verwindung geheilt. Das Heile kehrt in die Welt zurück. Das Sein dessen, was ist, west dann nicht mehr aus der Dimension exzessiver Nähe als beständiges Immersein bzw. bloß disponible „Beständlichkeit“, so wenig wie es aus der Dimension exzessiver Ferne in der Wesenlosigkeit verödet. Vielmehr west es in der gesammelt innigen Einheit von Nähe und Ferne als ein aus dem Ab-wesen her uns an-gehendes Anwesen, das dieses zu-lässt und von ihm behütet ist. IV. Schlussbemerkung Wenn wir hier versuchen, Wiederkehr und Wandel des trinitären Gotteswesens im Durchgang durch die Reszendenz in einem vorausnehmenden Entwurf zu denken, so bedeutet das nicht, dass wir dem gewandelten Gotteswesen gläubig anhängen. Ein denkender Versuch und gläubige Anhängerschaft bleiben verschieden, zumal im gegenwärtigen Zeitalter des „Überganges“51, in dem wir leben. Noch sind wir Erben des trinitären Gottes des Christentums, aber schon ergreift uns schmerzlich die Reszendenz, die die Verwindung verlangt und sich (als schmerzlich Erfahrene) auch schon anfänglich in sie kehrt. So sind wir aus aller Anhängerschaft heraus- und in das Zwischen einer auszuhaltenden Schwebe zwischen prägender Tradition und sich andeutender Zukunft versetzt.52

50 „Die im Ereignis beruhende Sage ist als das Zeigen die eigenste Weise des Ereignens. Das Ereignis ist sagend“. In: „Der Weg zur Sprache“ (1959), in: Unterwegs zur Sprache (1959), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 12, 1985, S. 251. Zum Wort als der „eigensten Weise des Ereignisses“ (als des alles verhaltenden Verhältnisses), vgl. auch unseren Aufsatz „Le langage comme ,fonds disponible‘ (Bestand) et comme ,événement-appropriement‘ (Ereignis)“, in: Heidegger Studien, Nr. 22, 2006, S. 71 – 92, hier S. 84. 51 Das gegenwärtige Zeitalter ist gemäß Heidegger das Zeitalter des Überganges von der Geschichte des „ersten (griechischen) Anfangs“ zum „anderen Anfang“ und dessen Geschichte (GA 65, Nr. 1, S. 4). 52 Das „Zwischen“ als Aufenthaltsort des Menschen im gegenwärtigen Zeitalter und dessen mannigfache Weisen ist Thema unseres Aufsatzes: „La u-topía en cuanto estancia del hombre en la época actual“, in: La lámpara de DIÓGENES, Revista semestral. Director y editor: Jesús Rodolfo Santander. Benemérita Universidad Autónoma de Puebla/Méjico, 2012, vol. 12, S. 23 – 42.

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Literaturverzeichnis Augustin, De diversis quaestionibus. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1966): Wissenschaft der Logik, hrsg. von Georg Lasson, Zweiter Teil, Hamburg, unveränderter Nachdruck des Textes der zweiten […] Auflage von 1934. Heidegger, Martin (1975 ff): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittsangabe). Heraklit: Fragmenta. In: Diels/Kranz I. Hölderlin, Friedrich (1992): Mnemosyne, Erster Entwurf, Vers 14 – 16, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. Band I. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, erste Auflage 1793; zweite vermehrte Auflage 1794, Preußische Akademie der Wissenschaften, Band VI, S. 3 – 201 [=Rel. AK VI], S. 3 – 201. Nietzsche, Friedrich (1980): Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin u. New York (zitiert nach KSA). Plato: Dialoge. Plotin, Enneaden. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1990): Über die historische Konstruktion des Christentums, in: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), VIII. Vorlesung, in: Schelling, Ausgewählte Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. Schriften von 1801 – 1804, S. 441 – 568. – (1990) Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: Schelling, Ausgewählte Werke, Schriften von 1806 – 1813, S. 275 – 360. Schüßler, Ingeborg (1995): Le mal chez Kant et Schelling, in: L’année 1793. Kant. Sur la politique et la religion. Sous la direction de Jean Ferrari, J. Vrin, Paris, S. 199 – 203. – (2001) Hegel et les rescendances de la métaphysique. Schopenhauer – Nietzsche – Marx – Kierkegaard – Le positivisme scientifique. Éditions PAYOT-Lausanne (Suisse). – (2001) La question de la vérité. Thomas d’Aquin – Nietzsche – Kant – Aristote – Heidegger. Éditions Payot-Lausanne, S. 252 – 285. – (2006) Le langage comme „fonds disponible“ (Bestand) et comme „événement-appropriement“ (Ereignis), in: Heidegger Studien, Nr. 22, S. 71 – 92. – (2008) Zur Gottesfrage in Nietzsches reszendenter Metaphysik, in: Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Band 3/2007, Tillich und Nietzsche, hrsg. von Christian Danz, Werner Schüßler und Erdmann Stumm, Lit Verlag, Wien/Berlin, S. 9 – 24. – (2010) Le „dernier dieu“ et le délaissement de l’être (Première partie), in: Heidegger Studien, Nr. 25, 2009, S. 49 – 78 ; Le „dernier dieu“ et le délaissement de l’être (Seconde partie), in: Heidegger Studien, Nr. 26, S. 125 – 164.

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– (2012a) La u-topía en cuanto estancia del hombre en la época actual, in: La lámpara de DIÓGENES, Revista semestral. Director y editor: Jesús Rodolfo Santander, Benemérita Universidad Autónoma de Puebla/Méjico, vol. 12, S. 23 – 42. – (2012b) Machenschaft und Gestell. Heideggers zweifache Auslegung der Technik, in: Ding und Verdinglichung, Technik- und Sozialphilosophie nach Heidegger und der kritischen Theorie, hrsg. von Hans Friesen, Christian Lotz, Jakob Meier und Markus Wolf. Verlag: Wilhelm Fink, München, S. 63 – 97. – (2012) Religion rationnelle et religion révélée. L’interprétation pratico-morale de la Trinité chez Kant (avec un aperçu sur son dépassement chez Hegel et Schelling), in: Revue de Théologie et de Philosophie, Genève/Lausanne/Neuchâtel, vol. 144/2012, I, S. 47 – 72. – (2013) Die Kehre des Ereignisses in den Technikaufsätzen Martin Heideggers, in: Bir Arada – Das Zwischen – In-Between, Festschrift für Onay Sözer Armagani, hrsg. von Sanem Yazicioglu, Verlag: Türkiye is Bankasi Kültür Yayinlari, Istanbul, S. 181 – 196. Volkmann-Schluck, Karl-Heinz (1966): Plotin als Interpret der Ontologie Platos, Klostermann, Frankfurt a. M., Dritte erweitere Auflage. – (1968) Nietzsche und das Christentum, in: Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Klostermann, Frankfurt a. M., S. 48 – 63. – (1992) Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der abendländischen Metaphysik, hrsg. von Paul Kremer, Königshausen & Neumann, Würzburg.

„Veritas est adaequatio rei et intellectus“ Zur Aktualität und zum problematischen Charakter eines metaphysischen Grundsatzes im Rahmen der Hermeneutik Francesco Cattaneo I. Darstellung des Problems In einem Beitrag von 2006, welcher den Titel Gadamers ungewisses Erbe1 trägt, hat Jean Grondin, der Biograph Gadamers, auf ein entscheidendes Problem der hermeneutischen Philosophie hingewiesen. Um es zu erklären, schlägt er eine Parallele zu der Grundalternative vor, vor der sich die Hegelsche Schule nach dem Tode des Meisters in 1831 wiederfand: Die entscheidende Spannung ist ja bekannt: Will denn Hegel eine neue Theologie aufstellen (wie die Rede von der Fleischwerdung des Geistes und vom absoluten Geist zu suggerieren schien) oder zielt sein Denken vielmehr auf ein radikal geschichtliches, ja anthropologisches Denken, das mit der Theologie aufräumen will? Die Junghegelianer haben hier eine Zweideutigkeit erkannt und gesehen, dass man sich zwischen zwei Lesarten des Hegelschen Denkens entscheiden musste: sollen wir Hegel als einen Theologen lesen, gemäß den Buchstaben seines Systems, oder sollen wir seinen historisierenden Zug radikalisieren und somit die Theologie und die Metaphysik liquidieren, anstatt sie zu vollenden? Über diese Frage entzweite sich bekanntlich die Hegelsche Schule in eine linke und eine rechte.2

Grondin hat selbstverständlich nicht den unvernünftigen Anspruch, Gadamers Situation mit Hegels gleichzustellen. Wie er selbst bemerkt, wäre das eine Verdrehung sowohl auf der geschichtlichen Ebene (die „politische“ Lage im Deutschland des 19. Jahrhunderts war ganz anders) als auch auf der theoretischen Ebene (in Anbetracht dessen, dass Gadamer nie in der „systematischen“ Weise Hegels gedacht hat). Auf jedem Fall stellt er mutatis mutandis fest, dass Gadamers Hermeneutik, wie Hegels Philosophie, von Spannungen, wenn nicht von Gegensätzen, durchdrungen ist, die ihr Erbe ungewiss machen und die, ihrem „konzilianten und versöhnlichen“ Zug zum Trotz, „uns zur Entscheidung aufrufen“.3 Die Hauptspannung, die Grondin in Betracht zieht, ist mit der geschichtlichen Dimension verbunden. Gadamer hat „die Geschichtlichkeit zum hermeneutischen Prin1

Grondin (2006). Ebd., S. 206. 3 Ebd. 2

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zip“4 erhoben. Darin – wie bekannt – geht er so weit, in Polemik mit der Aufklärung (aber ohne in autoritäre, traditionalistische oder schlimmer irrationale Auffassungen abzudriften) die Wichtigkeit der Vorurteile als Bedingungen des Verstehens zu behaupten. In diesem Sinne würde sich Gadamer „als der Fürsprecher eines radikalen und sogar glücklichen Historismus entpuppen, der die Idee einer ungeschichtlichen Wahrheit in Frage stellt“5. Die soeben genannte Stellungnahme Gadamers setzt sich einer potenziellen Interpretations-Schwingung aus, die dadurch gefördert wird, dass, nach Grondin, diesbezüglich Gadamer nie „von kristallinischer Klarheit“6 gewesen ist. Aber welche sind die zwei Enden dieser Schwingung? Durch die Wiederaufnahme der Analogie zu Hegel erklärt Grondin: Die Alternative ist hier nicht die zwischen einer rechten und einer linken bzw. zwischen einer Theologie und einer Anthropologie. Sie lautet vielmehr: Zielt denn das Gadamersche Denken auf einen radikalen Historismus, wie etliche Texte von Wahrheit und Methode und große Teile seiner Rezeption zu suggerieren scheinen, oder zielt es nicht vielmehr darauf, den Historismus zu überwinden? Und falls das letztere zutrifft: Wie möchte es diese Überwindung des Historismus zuwege bringen, und gelingt sie ihm?7

Darum findet man sich vor einer Art Gabelung der Wirkungsgeschichte der Gadamerschen Hermeneutik, die mit der Weise zu tun hat, in der die Beziehung zwischen Geschichtlichkeit und Wahrheit bestimmt wird. In der Tat, wo der geschichtliche Zug der Hermeneutik hervorgehoben wird, erweist sie sich dann als dem postmodernen Relativismus nahe, der, auch wenn mit verschiedenen Strategien (dem „schwachen Denken“ von Gianni Vattimo, der „Dekonstruktion“ von Jacques Derrida, dem „Neo-Pragmatismus“ von Richard Rorty), sich vornimmt, sich von der Wahrheit zu verabschieden,8 indem er sie in der geschichtlichen Wandelbarkeit auflöst oder entleert. Das Ergebnis davon ist, unter anderem, die heute verbreitete deflationistische Theorie. Wenn man die Hermeneutik so prägt, wird es fast unvermeidlich, Gadamer einen Mangel an Radikalität zuzuschreiben: Vattimo ist z. B. der Meinung, dass Gadamer die nihilistischen Folgen seines Denken nicht völlig entwickelt hat.9

4

Ebd. Ebd., S. 207. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Vgl. dazu Vattimo (2009). 9 In dem Vattimo apertis verbis von einer „Apologie des Nihilismus“ spricht, wo Nihilismus als größte Emanzipationsmöglichkeit verstanden ist, formuliert er vielleicht die klarste und radikalste nihilistische Version der Hermeneutik. Vgl. dazu Vattimo (2002), S. 18 ff. 5

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II. Wie kann man die Überlagerung von Hermeneutik und Postmoderne vermeiden? Eine „metaphysische“ Lösung Wenn Vattimos Kritik sinnvoll scheint, hat das gerade damit zu tun, dass sich Gadamer nicht vorgenommen hat, dem hermeneutischen Verstehen einen relativistischen Charakter stricto sensu zu verleihen. Das ist unter anderem durch die verschiedenartige Zentralität des Wahrheitsbegriffs in der ganzen Ausdehnung seines Denkweges bezeugt. In diesem Sinne, am entgegengesetzten Ende der oben genannten Schwingung kann Gadamers Denken zum Ausgangspunkt werden, um eine „Überwindung des Historismus“ vorzubereiten. Wenn Gadamer im ersten Teil von Wahrheit und Methode in Bezug auf die als vorrangige Erfahrung für die „Freilegung der Wahrheitsfrage“10 verstandene Kunst die Begriffe von „Bildung“, „sensus communis“, „Urteilskraft“ und „Geschmack“11 in Betracht zieht, zielt er darauf ab, den eigenen universalen Charakter der klassischen humanistischen Erziehung hervorzuheben. Z. B. schreibt er über den Bildungs-Begriff: „Bildung als Erhebung zur Allgemeinheit ist […] eine menschliche Aufgabe. Sie verlangt Aufopferung der Besonderheit für das Allgemeine.“12 Folglich besteht Gadamers Vorhaben keinesfalls darin, eine parteiliche und lokale Schließung zu fördern, die – wie es tatsächlich geschehen ist – als Traditionalismus oder Konservatismus gekennzeichnet werden könnte, sondern es besteht darin, die volle Rechtmäßigkeit einer Universalitätserfahrung zu verteidigen, die in unserer Überlieferung tief verwurzelt ist und die sich von der dem methodischen Ideal der positiven Wissenschaften eigenen Universalitätserfahrung unterscheidet, welche ein methodisches Ideal ist, das sein Paradigma im Naturgesetz hat. Daher kann Grondin diesbezüglich schließen, dass „wenn es also hier zwei Gadamer gibt, einen ,herderianischeren‘ Gadamer, der die geschichtliche Partikularität verherrlicht, und einen Gadamer, der eher eine Erweiterung unseres geschichtlichen Horizontes anmahnt, dann glaube ich, dass man sich für den letzteren zu entscheiden habe“13. Eine analoge Situation zeigt sich in Bezug auf die Vorurteilsfrage. Zwar bestimmt Gadamer die Vorurteile als „Bedingungen des Verstehens“14 und fordert eine „Rehabilitierung von Autorität und Tradition“15, aber zugleich betont er, dass das dialogische Hin und Her der Hermeneutik genau darauf abzielt, sich der Vorurteile bewusst zu werden und ein freieres und kritischeres Verhältnis mit ihnen zu unterhalten. Hier führt Gadamer ausdrücklich „die Sachen selbst“ als Prüfstand aller Vorurteile ein, als 10 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gesammelte Werke (im Folgenden: GGW). Bd. 1. Tübingen 1990, S. 7. 11 Ebd., S. 15 ff. 12 Ebd., S. 18. 13 Grondin (2006), S. 210. 14 GGW 1, S. 281. 15 Ebd.

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letzte Instanz, die über die Annehmbarkeit eines Vorurteils entscheidet. In Wahrheit und Methode liest man: Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich „an den Sachen“ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens. Es gibt hier keine andere „Objektivität“ als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre Ausarbeitung findet.16

Die Tatsache, dass die Vorurteile und die Vor-Meinungen in Bezug auf „die Sachen selbst“ überprüft werden müssen, um verstehen zu können, wenn sie „recht“ und „sachangemessen“ sind, bildet sozusagen einen Damm gegen die Radikalisierung der Hermeneutik in der Richtung von Nietzsches Spruch: „Gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.“17 Die Postmodernisten halten es für inkonsequent, in einer panhermeneutischen Philosophie noch von Übereinstimmung mit den Sachen selbst sprechen zu wollen. Deshalb, schreibt Grondin, „indem sie den Bezug auf die Sache selbst [preisgeben], [meinen] sie […], Gadamer besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“18. Auf diesem Weg legt Grondin zwei verschiedene und unvereinbare Möglichkeiten dar, Gadamer zu lesen: „Entweder eine Postmoderne Lesart, die auf die Idee der Adaequatio und der Sache selbst verzichtet, oder eine Lesart, die sie beibehält. Ich glaube meinerseits, dass eine Preisgabe der Adaequatio völlig fatal wäre. Einerseits würde sie einen Selbstwiderspruch begehen, denn man kann die Adaequatio nur verwerfen, weil man sie für inadäquat hält und eine adäquatere Konzeption an ihrer Stelle zu bieten hat. Andererseits lässt sich bei einer Verabschiedung der Adaequatio die von Gadamer stets betonte Möglichkeit einer Revision unserer Vorurteile und einer Überwindung der Borniertheit unserer Perspektiven nicht erklären.“19 Schließlich kann nach Grondin nur eine Wiedergewinnung der Wahrheit als adaequatio ein Gegenmittel für den Historismus und deshalb für die postmoderne Abdrift der Hermeneutik darstellen. Falls der Begriff von Übereinstimmung nicht bewahrt 16 GGW 1, S. 272. Vgl. GA 2, S. 203, wo Heidegger schreibt: „[Der] Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch nur zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern“. 17 Friedrich Nietzsche: Nachlass 1885 – 1887, in: Kritische Studienausgabe (im Folgenden: KSA). Bd. 12. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1999, S. 315. 18 Grondin (2006), S. 211. 19 Ebd. Von „Einerseits“ bis zum Ende gehört das Zitat einer späteren, leicht überarbeiteten Fassung des Textes. Vgl. Grondin (2009), S. 25 – 36.

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wird, bleibt nichts anderes übrig als eine Schwächung und Erschöpfung der Wahrheit bis zu ihrer Auflösung. Damit schlägt Grondin nicht nur einen Ausweg aus der die Gadamersche Hermeneutik durchdringenden Spannung vor, sondern er bezeugt auch eine mögliche Form der Aktualität der Metaphysik im „postmetaphysischen“ Zeitalter. In dieser Perspektive kann die Wahrheit nur durch eine zwar nicht flache, sondern philosophisch kluge Art von Rückgang zu ihrer traditionellen Bestimmung noch eine Zukunft haben.20 Eine solche Bestimmung bleibt übrigens das Bezugselement der Postmoderne selbst, angesichts der Tatsache, dass diese nichts anderes als eine Umkehrung der Wahrheitsauffassung im Sinne der adaequatio bewirkt. Jede Umkehrung, wie Heidegger hervorgehoben hat, bleibt davon abhängig, was umgekehrt wird: sie braucht das, um gegen es zu sein und um durch diese Entgegenstellung eine Selbstbestimmung als Gegner zu gewinnen.21 Die Komplementarität von Metaphysik und Postmoderne wird offenbar in Bezug auf die Wahrheitsfrage: Während die Metaphysik die Wahrheit im Sinne der Beständigkeit und Unveränderlichkeit auffasst, lösen sie die Postmodernisten in die Namen der Kontingenz und der geschichtlichen Wechselhaftigkeit auf. Dafür beziehen sie sich auf Nietzsches Spruch „Gott ist tot“, mit dem der Philosoph sich nicht nur vom christlichen Gott, sondern im Allgemeinen vom platonischen Dualismus22 verabschiedet. Dem nunc stans wird das nunc fluens in einem „Spiel der Gegenteile“ entgegengestellt, der das Spektrum des Möglichen zu erschöpfen scheint. Paradoxerweise tut die Postmoderne in ihrer Umkehrungsgeste nichts anderes, als die Wahrheit auf den Begriff der adaequatio festzunageln, ohne ihr zu ermöglichen, sich von ihm zu befreien. In demselben Horizont bewegt sich (auch) immer noch Grondins Gedankengang: Der von der Postmoderne bewirkten Umkehrung setzt er eine Umkehrung der Umkehrung entgegen, das heißt eine Rückkehr zu jenem Bild der Wahrheit, das die Postmoderne teilt und von dem ausgehend sie ihre Strategien geschichtlicher Schwächung in die Tat umsetzt. III. Ein „post-metaphysischer“ Weg Jenseits von der von Grondin dargelegten Gabelung verleiht Gadamers Denken einer anderen Erfahrung der Wahrheit Ausdruck – eine Erfahrung der Wahrheit, die genau durch eine Überlegung über die Wahrheit der Erfahrung auftaucht. Ich beziehe mich besonders auf den Abschnitt von Wahrheit und Methode, welcher den Titel „Der Begriff der Erfahrung und das Wesen der hermeneutischen Erfahrung“ trägt. Nachdem Gadamer darin betont hat, dass die Erfahrung, um echte Erfahrung

20

Zu Gadamers Auffassung der Wahrheit, vgl. Grondin (1994); Schmidt (1995); Dostal (1994); Carpenter (1994); Marino (2012). 21 Vgl. dazu GA 48, S. 85; GA 5, S. 217; GA 8, S. 107. 22 Wie bekannt, bestimmt Nietzsche in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse das Christenthum als „Platonismus für’s ,Volk‘“ (KSA 5, S. 12).

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zu sein, der „Arbeit des Negativen“23 ausgesetzt bleiben muss, bietet er im Gegensatz zu Hegel die folgende Bestimmung des Wesens der hermeneutischen Erfahrung: Nach Hegel ist es freilich notwendig, dass der Weg der Erfahrung des Bewusstseins zu einem Sichwissen führt, das überhaupt kein Anderes, Fremdes mehr außer sich hat. Für ihn ist die Vollendung der Erfahrung die „Wissenschaft“, die Gewissheit seiner selbst im Wissen. Der Maßstab, unter dem er Erfahrung denkt, ist also der des Sichwissens. Daher muss die Dialektik der Erfahrung mit der Überwindung aller Erfahrung enden, die im absoluten Wissen, d. h. in der vollständigen Identität von Bewusstsein und Gegenstand erreicht ist. Wir werden von da aus begreifen können, warum die Anwendung, die Hegel auf die Geschichte macht, indem er sie im absoluten Selbstbewusstsein der Philosophie begriffen sieht, dem hermeneutischen Bewusstsein nicht gerecht wird. Das Wesen der Erfahrung wird hier von vornherein von dem her gedacht, worin Erfahrung überschritten ist. Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen. Die Vollendung seiner Erfahrung, das vollendete Sein dessen, den wir „erfahren“ nennen, besteht nicht darin, dass einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen. Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird.24

Gadamer kann deshalb schließen, dass das „hermeneutische Bewusstsein […] seine Vollendung nicht in seiner methodischen Selbstgewissheit, sondern in der gleichen Erfahrungsbereitschaft“ hat, „die den Erfahrenen gegenüber dem dogmatisch Befangenen auszeichnet“.25 Jetzt scheint eine neue Möglichkeit in Aussicht zu stehen: die Möglichkeit, die Wahrheit nicht von der Logik der Übereinstimmung, sondern von der Logik der Offenheit aus zu verstehen.26 Es handelt sich um eine völlig andere Logik, die Grondins Widerspruch entrinnt, nach dem der Begriff der Wahrheit als adaequatio nur durch einen adäquateren Begriff ersetzt werden kann, also nur indem man dieselbe Auffassung der Wahrheit voraussetzt, die man zu überwinden gedenkt. Es ist wichtig zu bemerken, dass die Erfahrungsbereitschaft eine Demarkationslinie zwischen dem „Erfahrenen“ und dem „dogmatisch Befangenen“ zeichnet. Deshalb ist sie zweifelsohne ein kritisches Denken, aber eine Art kritischen Denkens, die 23 Hegel (1970), S. 24. „Die eigentliche Erfahrung […] ist immer eine negative“, schreibt Gadamer (GGW 1, S. 359). Die Negativität der Erfahrung hat also „einen eigentümlich produktiven Sinn“ (ebd.). 24 GGW 1, S. 361. 25 GGW 1, S. 367 – 368. 26 Gadamer spricht von der „logischen Struktur der Offenheit, die das hermeneutische Bewusstsein kennzeichnet“ (GGW 1, S. 368).

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nicht an die Übereinstimmung als ihre letzte Legitimationsquelle, als ihren Eckstein appelliert. Die Übereinstimmung macht die Erfahrung zu einer vorläufigen Phase entlang des Weges, der zu dem „abschließenden Wissen“ führt. Dagegen bringt die Logik der Offenheit mit sich, dass echte Erfahrung nichts anderes tut, als die Potenzierung und Schärfung der Erfahrungsfähigkeit zu fördern. Zwar ermöglicht die Rückkehr zur adaequatio, das Abgleiten in den postmodernen Historismus zu vermeiden, aber nur zu jenem Preis, dass man sich an die traditionelle Auffassung der Wahrheit hält und deshalb sich nicht völlig auf das Niveau jener Logik der Offenheit begeben kann, die sich in der Gadamerschen ErfahrungsAbhandlung ankündigt. Grondin ist sich selbstverständlich dessen bewusst, dass der Hintergrund Gadamers der Bezug auf die „Sachen selbst“ der Phänomenologie bleibt, die nicht im Sinne eines bloßen Realismus verstanden werden können. Jedoch muss die von Grondin als notwendig vermutete Verbindung zwischen dem Bezug auf die „Sachen selbst“ und der Idee der adaequatio dazu führen, die „Sachen selbst“ als „objektiv“ zu verstehen. Deswegen findet man sich, indem man versucht, die Spannung zwischen radikalem Historismus und Überwindung desselben zu lösen, vor einer neuen Spannung wieder, und zwar jener, die zwischen der Logik der adaequatio und der Logik der Offenheit herrscht. Diese Spannungen sind vielleicht integraler Bestandteil vom versöhnenden Geist der Hermeneutik Gadamers sowie von ihrem durch pietas gekennzeichneten Verhältnis mit der Überlieferung und ihren Sinnressourcen. Aber die darin enthaltene Gefahr ist, die Logik der Offenheit nicht völlig zu entwickeln. Um das zu erlauben, müssen wir eine dringende Frage stellen: Gibt es eine notwendige Verbindung zwischen den „Sachen selbst“ und der Idee der adaequatio? Anders gesagt: Muss man den Begriff von Übereinstimmung erhalten, um die „Sachen selbst“ noch denken zu können und ihre postmoderne Auflösung zu vermeiden? Verlieren wir nicht damit das, was der Bezug auf die „Sachen selbst“ eigentlich bedeuten könnte? Heideggers hermeneutische Phänomenologie des Daseins, mehr als Husserls reflexive Phänomenologie des Subjektes,27 hat uns gelehrt, die „Sachen selbst“ jenseits vom Übereinstimmungs-Begriff zu sehen und die Logik der Offenheit eigentlich zu entfalten. Eine volle Entwicklung der Logik der Offenheit erlaubt es, den Historismus zu überwinden, ohne zur Metaphysik zurückzukehren. Damit kann man auf das von Historismus und Metaphysik geteilte Wahrheitsbild verzichten und so eine andere Wahrheitskonfiguration denken. Diesbezüglich ist die hermeneutische Phänomenologie Heideggers besonders erleuchtend, vor allem wenn man darüber nachdenkt, wie sie die Subjekt-Objekt-Beziehung dank der ursprünglicheren Erfahrung der Erschlossenheit des daseinsmäßigen In-der-Welt-Seins überschreitet.

27

von Herrmann (2000); von Herrmann (2004).

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IV. Die Rolle Nietzsches Um die Tragweite des Problems besser zu verstehen, ist es vielleicht hilfreich, zurück zu einer für dieses Problem bedeutendsten geschichtlichen Wurzel zu gehen, also zurück zu Nietzsche. Wie schon erwähnt, ist Nietzsches Philosophie entscheidend für den heutigen Historismus, Relativismus und Nihilismus, die ihre Leitworte „Gott ist tot“ und „gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“ als zentral annehmen. Aber ist Nietzsches Perspektivismus nur im Sinne des postmodernen Relativismus zu verstehen? Oder gibt es darin andere Möglichkeiten? Jeder Relativismus braucht etwas, damit sich in Relation dazu eine bestimmte Perspektive entfalten kann. Dieser Bezugspunkt aller Perspektiven ist das vorstellende Subjekt. Nietzsche hat den Subjektbegriff durch eine Radikalisierung von Kants Kritizismus interpretiert. In einer Anmerkung von 1880 fragt er: „Eine Welt ohne Subjekt – kann man sie denken?“28 Was er damit meint, ist, dass unsere Welt nur als menschliche Vorstellung, also als Ergebnis unserer Wahrnehmungs- und Verstehens-Bedingungen existiert. Im Allgemeinen gibt es ohne vorstellendes Subjekt keine Welt. Und gegen die Kantische Teleologie – oder mindestens gegen seine Lesart derselben – behauptet Nietzsche im Aphorismus 43 von Jenseits von Gut und Böse: „Mein Urtheil ist mein Urtheil“29, wo der Nachdruck auf das Possessivpronomen gelegt wird. „Mein“ bedeutet: Das Urteil gehört mir als einzelnem Subjekt. Bietet Nietzsche mit dieser Theorie der subjektiven Vorstellung, die mit dem Thema des Willens eng verbunden ist, nicht den entscheidenden Ausgangspunkt der Postmoderne? Offensichtlich. Aber ist seine Theorie des Subjektes so einseitig auslegbar? Oder ist sie grundsätzlich zweideutig? In derselben Aufzeichnung, wo man „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“ liest, richtet Nietzsche dieses Prinzip gegen das Subjekt selbst, indem er schreibt: Wir können kein Factum „an sich“ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. „Es ist alles subjektiv“ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das „Subjekt“ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist er zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort „Erkenntniß“ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne „Perspektivismus“. Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.30

Hier entschwindet das Subjekt als Träger von Perspektiven. Und das ist kein Zufall, wenn wir beachten, dass der Begriff von „Wille zur Macht“ eine abgründige Rolle in Nietzsches Denken spielt.

28

KSA 9, S. 431. KSA 5, S. 60. Vgl. Gentili (2010). 30 KSA 12, S. 315.

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Aber wie sollen wir danach Nietzsches Perspektivismus konzipieren? Hier sind Günter Abels Überlegungen von Bedeutung. Abel stellt einen klaren Unterschied zwischen zwei Auffassungen des Perspektivismus fest: eine im Sinne des Relationismus und eine im Sinne des Relativismus.31 Der Relationismus hebt hervor, dass wir in unserem Leben an ein Netz von Relationen teilhaben, die unsere Welt ausmachen. Aber, da wir uns immer auf der Innerseite dieser relationalen Dimension finden, können wir nicht eine streng verstandene relativistische Position annehmen. Das würde verlangen, dass wir in der Lage wären, von außen jene Handlung von Relationen zu betrachten, in der wir, wie gesagt, eingefügt sind. Somit würde ein stricto sensu aufgefasster Relativismus mit sich bringen, dass wir herausgerissene Subjekten wären, die grundsätzlich nicht „In-Beziehung“ sind und für die alles arbiträr scheint (libertas indifferentiae). Aber die Lebenswelt bezeugt das Gegenteil. Nietzsche war dies bewusst. Im Aphorismus 374 der Fröhlichen Wissenschaft schreibt er, indem er versucht, sein Verständnis des perspektivistischen Charakters des Daseins zu erklären: „Wir können nicht um unsre Ecke sehn.“32 Dieser Sachverhalt ist sehr wichtig auch in Bezug auf eine skeptische Interpretation von Nietzsches Philosophie. Abel erkennt, dass der Skeptizismus den Eckstein jedes kritischen Denkens darstellt. Aber man muss zwei Arten Skeptizismus unterscheiden. In der Tat fördert und bringt der „relationistische“ Perspektivismus einen internen Skeptizismus mit sich, der ganz anders als ein externer (und extremer) Skeptizismus ist. Dieser zeigt sich unbegehbar, weil – nach dem traditionellen antiskeptischen Argument – seine Vernünftigkeit selbst einen logischen Bezugshorizont braucht, von dem an er vertreten werden kann. Darüber hinaus verlangt der extreme Skeptizismus eine nicht verfügbare absolute Gewissheit, in deren Namen er die konkreten Relationen zerstört, die unsere Welt bilden. Ein solcher Skeptizismus verursacht eine totale Auflösung, einen theoretischen Nihilismus, der das Subjekt ins Leere stürzt.33 Um Nietzsche zu paraphrasieren, kehrt sich der bis zum Äußersten gebrachte Wille zur Wahrheit in einen Willen zum Nichts um.34 Dieser Gedankengang kann uns helfen, Gadamers Kritik an Nietzsche etwas zu entgegnen. Gadamer betrachtet Nietzsche als einen zu radikalen Denker, der, wegen eines „geheimen Kartesianismus“35 und wegen des folgerichtigen Anspruches auf eine absolute Gewissheit, einen extremen Skeptizismus gegen die Wahrheit und die Wissenschaft übte, dem unmöglich zu folgen sei.36 Diese Kritik Gadamers zieht nicht die „relationistische“ Interpretation von Nietzsches Perspektivismus und den von ihr geförderten internen Skeptizismus in Rechnung. In der Tat erklärt Nietzsche 31

Vgl. darüber Abel (1995); Abel (1994); Abel (2000) 537 – 548; Abel (2010); Abel (2003). KSA 3, S. 626. 33 Vgl. darüber Abel (1996) 49 – 68. 34 In der Genealogie der Moral spricht Nietzsche von „Willen zum Nichts“ in Verbindung mit den „asketischen Idealen“ (Nietzsche, KSA 5, S. 339 ff.). 35 Grondin (2000), S. 157 ff. Vgl. darüber di Cesare (2007), S. 282 – 283. 36 Gadamer: Was ist Wahrheit?, in: GGW 2, S. 45. 32

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selbst seine Absicht mit den Worten, die man in dem in 1886 der Geburt der Tragödie vorausgeschickten „Versuch einer Selbstkritik“ lesen kann: „Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens…“37 Die unbestreitbare Nähe Nietzsches zur Postmoderne ist deshalb nicht eine totale Übereinstimmung. Die Gründe dieser dünnen, aber – meiner Meinung nach – entscheidenden Differenz sind sehr wichtig, um eine Alternative zur postmodernen Auflösung der Wahrheit in der Geschichte vorzubereiten. In diesem letzten Abschnitt habe ich versucht, eine andere Seite von Nietzsches Denken darzulegen. Es handelt sich sozusagen um eine proto-phänomenologische Dimension dieses Denkens, in der das „relationistisch“ verstandene Leben vielleicht nicht eigentlich in seiner Offenheit, aber mindestens in seiner inneren Dynamik und Unerschöpflichkeit aufbewahrt wird. In dieser Richtung taucht ein Wahrheitsentwurf auf, der sich – in Abels Worten – „jenseits von Essentialismus und Relativismus“ stellt. Literaturverzeichnis Abel, Günter (2010): La filosofia dei segni e dell’interpretazione, hrsg. von Astrid Wagner/Ulrich Dirks. Napoli. – (2003) Verità e interpretazione, in: Carlo Gentili/Volker Gerhardt/Aldo Venturelli (Hrsg.): Nietzsche, Illuminismo, Modernità, Firenze, S. 267 – 280. – (2000) Zeichen der Wirklichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 50, S. 537 – 548. – (1996) Interne Pluralität. Sprach- und zeichenphilosophische Grundlagen des theoretischen Pluralismus, in: Günter Abel/Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Pluralismus – Erkenntnistheorie, Ethik und Politik („Dialektik“ 3/1996). Hamburg, S. 49 – 68. – (1995) Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a.M. – (1994) Sprache, Zeichen und Interpretation, in: Hans Lenk/Hans Poser (Hrsg.): Neue Realitäten – Herausforderung der Philosophie, Berlin, S. 265 – 285. Carpenter, David (1994): Emanation, Incarnation, and the Truth-Event in Gadamer’s „Truth and Method“, in: Brice R. Wachterhauser (Hrsg.): Hermeneutics and Truth, Evanston, S. 98 – 122. di Cesare, Donatella (2007): Gadamer, Bologna. Dostal, Robert J. (1994): The Experience of Truth for Gadamer and Heidegger: Taking Time and Sudden Lightning, in: Brice R. Wachterhauser (Hrsg.): Hermeneutics and Truth, Evanston, S. 47 – 67. Gadamer, Hans-Georg (1990): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gesammelte Werke (im Folgenden: GGW), Bd. 1., Tübingen. – Was ist Wahrheit?, in: GGW 2. 37

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„Veritas est adaequatio rei et intellectus“

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Gentili, Carlo (2010): Kants „kindischer“ Anthropomorphismus. Nietzsches Kritik der „objektiven“ Teleologie, in: Nietzsche-Studien, Heft 39, S. 100 – 119. Grondin, Jean (19942 (1982)): Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Weinheim. – (2000) Hans-Georg Gadamer und die französische Welt, in: Günter Figal (Hrsg.): Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Stuttgart, S. 147 – 159. – (2006) Gadamers ungewisses Erbe, in: Günter Abel (Hrsg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie. Kolloquiumsbeiträge, Hamburg, S. 205 – 215. – (2009) L’eredità incerta di Gadamer, in: Trópos, Heft 2, S. 25 – 36 (Übersetzung von Pierfrancesco Stagi). Hegel, G.W.F. (1970): Phänomenologie des Geistes, in: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Bd. 3. Frankfurt a.M.. Heidegger, Martin (1977 ff): Sein und Zeit, in: Gesamtausgabe (GA), Bd. 2., Frankfurt a.M. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (2000): Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt a.M. – (20043 (1974)) Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von „Sein und Zeit“, Frankfurt a.M. Marino, Stefano (2012): „Un altro sapere“: la verità extrametodica dell’ermeneutica, Vorwort zu Hans-Georg Gadamer: Che cos’è la verità? I compiti di un’ermeneutica filosofica, hrsg. v. Stefano Marino, Soveria Mannelli, S. 5 – 43. Nietzsche, Friedrich (1999): Nachlass 1885 – 1887, in: Kritische Studienausgabe (im Folgenden: KSA). Bd. 12. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York. Schmidt, Lawrence K. (1995): Uncovering Hermeneutic Truth, in: ders. (Hrsg.): The Specter of Relativism: Truth, Dialogue, and “Phronesis” in: Philosophical Hermeneutics. Evanston, S. 72 – 83. Vattimo, Gianni (2009): Addio alla verità. Meltemi, Roma. Vattimo, Gianni (2002): Oltre l’interpretazione. Il significato dell’ermeneutica per la filosofia. Laterza, Roma/Bari, S. 18 ff.

Integration als Perspektive der Ontologie Christian Kanzian I. Einleitung Wenn man über die Perspektiven der Metaphysik im wissenschaftlichen Gegenwartsdiskurs nachdenkt, wird man nicht nur metaphysische Binnendebatten, sondern auch das Verhältnis der Metaphysik zu anderen Wissenschaften, etwa die empirischen Einzelwissenschaften, mit zu bedenken haben. Wenn ich von „Integration als Perspektive“ spreche, geht es mir tatsächlich um Letzteres. Ich spreche über das Verhältnis der Metaphysik zu anderen Wissenschaften. Anstatt von Metaphysik wird im Folgenden auch von Ontologie die Rede sein. Die hier zu vertretenden Thesen kommen aus Kontexten, die sich ausdrücklich als ontologische verstehen. Ob es nicht doch Gründe gibt, „Metaphysik“ und „Ontologie“ als nicht synonym zu erachten, berührt diese Thesen allerdings nicht. Aus methodischen Gründen wird hier also angenommen, es läge Synonymie vor. Etwaige Probleme einer solchen Annahme sollen nicht geleugnet, hier jedoch ausgeklammert werden. Zurück aber zu Integration. Ich werde versuchen diese integrative Sichtweise der Ontologie einem einfachen „Apriorismus“ bzw. einem noch einfacheren „Aposteriorismus“ gegenüberzustellen. Ersteres wäre die Auffassung, man könne einzelwissenschaftliche Theoreme aus ontologischen deduzieren, Letzteres die heute durchaus populäre Meinung, man könne die Ontologie aus Einzelwissenschaften, bevorzugt aus den Naturwissenschaften, ableiten. Diesen Deutungen des Verhältnisses Ontologie – andere Wissenschaften möchte ich eben die integrative Sichtweise der Ontologie gegenüberstellen. Dies mache ich anhand genereller Überlegungen bzgl. der Eigenart der hier gemeinten Integration, frei nach Otto Muck übrigens, und durch Erläuterung anhand konkreter ontologischer Termini. Dabei soll die Relevanz der Ontologie für nicht-philosophische Disziplinen, aber auch vice versa, verdeutlicht, eine zukunftsträchtige Perspektive der Ontologie zumindest aufgerissen werden. II. Apriorismus versus Aposteriorismus Wenn man nach Vorbildern für einen reinen Apriorismus in der Verhältnisbestimmung Ontologie – andere Wissenschaften, v. a. Naturwissenschaften, sucht, muss man seinen Blick schon einigermaßen weit zurück in die Philosophiegeschichte wenden. Paradigmatisch ist hier das Cartesianische Bild vom Baum alles Wissens bzw. aller Wissenschaften anzuführen. Die Wurzel des Baumes macht die Philosophie aus,

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Descartes spricht ausdrücklich von Metaphysik, den Stamm die Physik, die Äste bilden dann verschiedene Einzelwissenschaften, die „Oberwissenschaften“, etwa Medizin, Mechanik, aber auch die Moral1. Im Hintergrund steht das rationalistische Ideal der Einheit allen Wissens, das in letzten unhinterfragbaren Prinzipien oder Fundamenten gründet. Aus diesen Prinzipien, die genuin metaphysisch sind, kann man die Grundlagen oder den „reinen Teil“ anderer Disziplinen, auch der empirischen, gleichsam deduzieren. Diese erhalten dann durch die Deduktion jenen Grad der Gewissheit, der den Prinzipien selbst eigen ist. Ohne jetzt den Weg dieser Idee durch die Philosophiegeschichte auch nur andeuten zu können: Sollte jemand heute die Verhältnisbestimmung Ontologie – Einzelwissenschaften nach Descartes vornehmen wollen, müsste er behaupten, dass die Ontologie auch in dem Sinne Grundlagendisziplin sei, dass sich aus ihr, wohl nicht einzelne Thesen etwa der Physik, wohl aber die Basis deren Theorienbildung ableiten ließe, in einem engeren Sinne von „Ableitung“ verstanden. Sollte es in der aktuellen Debatte eine derartige Position geben, wäre sie wohl als Einzelmeinung, ohne größere Chancen auf Konsensfähigkeit, einzustufen. Das trifft auf die entgegengesetzte Position nicht zu: die Meinung, die man gut und gerne als Aposteriorismus in der Verhältnisbestimmung von empirischen Wissenschaften und Ontologie bezeichnen kann. Auch hier gibt es richtungweisende historische Vorbilder, v. a. aus der empiristischen Tradition. Diese ist, mit gewissen szientistischen Anreicherungen, in die heute maßgebliche physikalistische oder naturalistische Ontologie eingegangen. Die aktuelle Ausrichtung des Aposteriorismus lässt sich in ihrer Grundidee so umschreiben, dass es der Ontologie ja um alles gehe. „A metaphysics … is a general theory of everything, or it is nothing at all“, schreibt etwa Peter Simons.2 „Alles“ aber meint nicht nur die makroskopische alltägliche Lebenswelt, sondern auch, ja insbesondere deren mikrophysikalische Basis. Über die mikrophysikalische Basis aber geben uns die Naturwissenschaften, die Mikrophysik, Auskunft. Also gilt, ich zitiere Peter Simons: „Investigating the nature of the world and our relationship to it is not a task for a priori metaphysics but of a science revisable in the light of increasing knowledge about the world and ourselves, a posteriori but still with a metaphysical framework of maximal generality at any stage.“3 Nach Simons (und anderen) sind wir also als OntologInnen auf die Ergebnisse der Mikrophysik angewiesen, in einem speziellen Sinne; der so weit geht, dass Ontologie im Grunde eine Naturwissenschaft mit etwas allgemeinerer Begrifflichkeit ist. Noch pointierter ist hier Frank Hofmann, der explizit im Anschluss an Simons meint: „Wie gehen wir dann vor? [Nota bene als OntologInnen] – Wir müssen von dem ausgehen, was uns

1 Descartes, Principes, Vorrede, AT IX-2, 14; zitiert nach: Descartes nachgedacht, hrsg. v. Andreas Kemmerling u. Hans-Peter Schütt, Klostermann, Frankfurt a.M. 1996, Vorwort, S. 9. 2 Simons, S. 251. 3 Ebd.

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unsere Erfahrung und die gegenwärtigen empirischen Wissenschaften über die Welt sagen.“4 Schöner kann man Apriorismus in der Ontologie nicht umschreiben. Es wäre allzu billig, nun Kämpfe gegen die als Dummies aufzubauenden Extrempositionen zu führen. Ich möchte das nicht tun, mir allerdings den Hinweis darauf erlauben, dass vor allem OntologInnen, die sich wirklich mit Naturwissenschaften beschäftigen, sowohl gegenüber einem Aposteriorismus skeptisch eingestellt sind, als auch vor einer Rückkehr zu einem Apriorismus warnen. Beispielhaft kritisiert Meinhard Kuhlmann in seinem 2010 erschienenen Buch „The Ultimate Constituents of the Material World“, dass sich ein reiner Apriorismus ungerechtfertigt gegen sämtliche Resultate einzelwissenschaftlicher Forschung immunisiere.5 Während Peter Forrest in seinem 2012 publizierten Buch „The Necessary Structure of the All-pervading Aether“ darauf hinweist, dass naturwissenschaftliche Theorienbildung intrinsisch auch von apriorischen oder metaphysischen Leitintuitionen abhänge, und somit ein reiner Aposteriorismus eine methodisch zweifelhafte Sache wäre. Allzu pointiert meint er deshalb: „To all philosophers who are still ashamed to be called metaphysicians, I say, Come out of the closet!“6 Aber, wie gesagt, mein Anliegen hier ist nicht Polemik. Ich möchte mich nicht darauf kaprizieren darzulegen, was andere falsch machen, sondern mich positiv nach einem Mittelweg zwischen Apriorismus und Aposteriorismus fragen. Eine Möglichkeit eines solchen Mittelweges sehe ich im Anliegen eines integrativen Vorgehens in der Metaphysik. In den Arbeiten von Otto Muck finde ich wichtige Voraussetzungen für ein solches Vorgehen, das, so meine ich, auch in der aktuellen Ontologie Anwendung finden kann. Ich schildere kurz diese Voraussetzungen nach Muck und komme dann zu den Applikationen. III. Integrative Metaphysik nach Otto Muck Ich kann hier keinen Aspekt der Metaphysik Mucks erschöpfend darlegen. Ich fokussiere einige jener grundsätzlichen Punkte zur Charakterisierung von Metaphysik als integrativ, mit denen ich im Folgenden arbeite. Ein erstes Merkmal der Metaphysik ist, dass diese aufs Ganze geht. Ich zitiere Muck: „für metaphysische Fragen [ist] ein ganzheitlicher Gesichtspunkt entscheidend“.7 Dieses aufs Ganze gehen kann unter zwei Gesichtspunkten entfaltet werden. Der erste: „Es wird grundsätzlich alles betrachtet, was Gegenstand menschlichen Verhaltens werden kann.“8 Ich nenne das den universalen Charakter der Metaphysik. 4

Hofmann, S. 104. Vgl. Kuhlmann, S. 185: „defenders of the … a priori tradition of ontology imagine their results to be immune against any specific scientific results“. 6 Forrest, S. 23. 7 Muck, S. 225. 8 Ebd. 5

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Und, zweitens, „… nicht unter einer besonderen Rücksicht, sondern insofern es, alles, überhaupt ist.“9 Damit ist der Allgemeinheits-Aspekt metaphysischer Theorienbildung gemeint. Ein zweites Merkmal kann man darin sehen, dass die Metaphysik seit jeher als Grund- oder Basiswissenschaft konzipiert wird. Ihr Gehen aufs Ganze wird nicht von Vorhergehendem, schon gar nicht von Partikularem und Besonderem her ableitbar sein. Es gibt nämlich nichts der Metaphysik Vorhergehendes. „Sie kann nicht durch Methoden erreicht werden, die ihre Stärke gerade daraus beziehen, dass sie ihre Gegenstände nur unter einem besonderen, eingeschränkten Gesichtspunkt betrachten.“10 Ich sehe darin einen Haupteinwand gegen jedweden engen Aposteriorismus in der Metaphysik. Dennoch, drittens, wird das Partikulare und Besondere nicht ignoriert. „Sie [metaphysische Systeme] müssen sich auf Gegebenheiten bzw. Betrachtungsweisen von Gegebenem beziehen“.11 Wenn man beachtet, dass Gegebenes bzw. Betrachtungsweisen von Gegebenen durchaus auch Empirisches bzw. methodisch, sprich einzelwissenschaftlich Reflektiertes umfasst, kann man damit auch ein Abgleiten der Metaphysik in einen einfachen Apriorismus verhindern. Viertens, wird diese Beziehung auf das partikular Gegebene und nach Maßgabe der Methodik einer Einzelwissenschaft Reflektierte aber, von der Metaphysik her gesehen, so zu denken sein, dass sie diese deutet; durch Integration und Bezugsetzung zum Ganzen, und der Stellung des Einzelnen untereinander im Hinblick auf das Ganze. Zusammenfassung kann man sagen, dass es der Metaphysik um alles geht, unter allgemeinster Rücksicht, einer Rücksicht, die sie nicht der Reflexion auf Partikulares und Besonderes entnehmen kann. Sie berücksichtigt aber das Partikulare und Besondere, indem sie es integriert und in ihrer Stellung zum Ganzen und untereinander im Hinblick auf das Ganze interpretiert. Das ist ein Ansatz, die Metaphysik im Hinblick auf andere, empirische Wissenschaften zu verstehen, und zwar nicht apriorisch, nicht aposteriorisch, sondern eben integrativ. Wie aber kann man diese Grundlagen in konkreten Debatten der aktuellen Ontologie anwenden und fruchtbar machen? Wie kann man technische Termini der aktuellen Ontologie im Kontext einer so verstandenen integrativen Vorgangsweise verstehen? Wie kann man daraus eine zukunftsträchtige Perspektive für die Ontologie zumindest andeuten?

9

Ebd. Ebd., S. 226. 11 Ebd., S. 227. 10

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IV. Integration als Perspektive der aktuellen Ontologie Grundsätzlich gilt, dass technische Termini der Ontologie dann im Kontext integrativer Vorgangsweise verwendet werden können, wenn man diese Termini in ihrer „Logik“ und ihrer theoretischen Funktion einschlägig, d. h. entsprechend dieser Vorgangsweise versteht. Das aber heißt als allgemeine und universale Termini, die grundlegend, d. h. in ihrer Bedeutung nicht aus einzelwissenschaftlichen Kontexten ableitbar sind, jedoch auf einzelwissenschaftliche Kontexte anwendbar, und hilfreich dabei sein können, Einzelwissenschaftliches in umfassende Zusammenhänge zu integrieren. Es gibt einige Termini, die sich als Probanden anbieten. Ich denke etwa an Begriffe wie „Art“ oder „Spezies“, „Form“, „Ding“, „Kraft“. Gegenüber Formen und Dinge sind viele Ontologinnen skeptisch eingestellt. Es legt sich daher nahe, die intendierte Anwendung mit dem Erst- und dem Letztgenannten zu versuchen, ohne die mögliche integrative Funktion der vernachlässigten Begriffe zu negieren. Als ontologischer Begriff muss „Art“ universal sein, nicht auf bestimmte Arten beschränkt. Arten, (u. a.) sowohl von Lebewesen als auch von Artefakten, ja sogar von Ereignissen, Prozessen und Zuständen müssen darunter fallen können. Die Art der Schafe muss (u. a.) ebenso unter einen ontologischen Artbegriff subsumierbar sein wie die Art der Fußballspiele. „Art“ aber, als ontologischer Begriff, muss nicht nur universal, sondern auch allgemein sein, so dass es nicht um die Eigenart etwa biologischer Arten geht, sondern um die Arten als Arten, das, was Arten, insofern sie Arten sind, auszeichnet. Dass etwa Arten die unter sie fallenden Individuen in dem, was sie sind, bestimmen; dass Arten „ihre“ Individuen auch in ihrer Identität determinieren, wenn man annimmt, dass für ein Individuum, das, was es ist, auch für seine Identität maßgeblich ist. Dass Susi, in dem, was sie ist und (folglich) auch in ihrer Identität davon abhängt, der Art der Schafe anzugehören, ist damit ebenso gemeint, wie dass dieses Ereignis hier, in dem was es ist, durch die Art Fußballspiel bestimmt wird. Auch die Identität des besagten Ereignisses hängt davon ab; dass es etwa 90 Minuten dauert, nach bestimmten Regeln abläuft etc. „Art“ als ontologischer Begriff kann, zweites Merkmal, aber in seiner Bedeutung nicht aus einzelwissenschaftlichen Kontexten bzw. anderen eingeschränkten Perspektiven ableitbar sein. Was BiologInnen unter „Art“ oder „Spezies“ verstehen, bzw. wie Sportfunktionäre „Art“ im Kontext ihrer Beschreibung von Weisen, regelgeleitet mit Bällen umzugehen, verwenden, kann ebenso wenig als Ableitungsbasis für einen ontologischen Art-Begriff dienen wie (um uns mit den Beispielen nicht unnötig einzuschränken) eine kunst-theoretische Analyse zur Bestimmung von Genres. Drittens aber zeichnet den Art-Begriff als ontologischen Begriff aus, dass er auf Art-Begriffe der Einzelwissenschaften beziehbar ist. Und zwar, viertens, so, dass er, aufgrund seiner Allgemeinheit, weniger allgemeine begriffliche Bestimmungen in einen systematischen Rahmen bringt, der es u. a. erlaubt, diese weniger allgemeinen

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Bestimmungen zusätzlich bzw. grundsätzlich zu erläutern und mit anderen nicht-allgemeinen Bestimmungen in Zusammenhang zu bringen. Nehmen wir den Art- oder Spezies-Begriff der Biologie. Er ist vor dem Hintergrund spezieller einzelwissenschaftlicher Methoden, z. B. zur Einteilung von Lebewesen, entwickelt. Der ontologische Art-Begriff ist auf diesen biologischen zu beziehen, und zwar so, dass Ersterer den Letzteren erläutert durch Anführung allgemeiner Merkmale, etwa die oben genannten; und dann auch so, dass andere einzelwissenschaftliche Art-Begriffe, etwa aus der Kunsttheorie, mit dem biologischen in systematischen Zusammenhang gebracht werden.12 So kann man einzelwissenschaftliche Art-Begriffe, unter Zuhilfenahme des ontologischen Art-Begriffes, besser bzw. grundsätzlicher verstehen, ihre jeweilige Funktion durch Bezug auf den Universalbegriff zusätzlich interpretieren, und untereinander, sprich im Vergleich verschiedener einzelwissenschaftlicher Art-Begriffe, deuten. Was haben biologische Spezies mit kunsttheoretischen Genres gemeinsam, was aber unterscheidet sie? Wie kann man vermeintliche Gegensätze zwischen ihnen aufklären? Diese Integration kann, auf ihre Weise, durchaus auch für einzelwissenschaftliches Vorgehen seinen Nutzen haben. Und, darauf kommt es uns hier ja an, sie zeigt die Relevanz ontologischer Theorien. Analoges kann man m. E. auch von anderen ontologischen Termini sagen, etwa den einer Kraft. Als ontologischer Begriff muss „Kraft“ universal sein, nicht auf einen bestimmten Typ von Kräften beschränkt: nicht auf physische Kräfte, psychologische oder mentale, soziale etc. „Kraft“, als ontologischer Begriff, muss außerdem so allgemein sein, dass es nicht um die Eigenart einer der genannten Kräfte geht, sondern um die Kraft als Kraft, um das, was Kräfte als solche charakterisiert. Dass beispielsweise Kräfte stets etwas mit Eigenschaften zu tun haben; bzw. dass den Trägern der Eigenschaften durch die Kräfte bestimmte kausale Rollen zukommen. Dass Kräfte als solche konstitutiv sind für Kausalität, etc. „Kraft“ als ontologischer Begriff kann aber, zweites Merkmal, in seiner Bedeutung nicht aus einzelwissenschaftlichen Kontexten ableitbar sein. Was PhysikeriInnen unter „Kraft“ verstehen, bzw. wie SozialwissenschaftlerInnen, etwa PolitikwissenschaftlerInnen, „Kraft“ im Kontext ihrer Beschreibungen von gesellschaftlichen Vorgängen verwenden, kann ebenso wenig als Basis für einen ontologischen KraftBegriff dienen wie eine kunst-theoretische Analyse der Wirkung von Kunstwerken. 12

Das hier gemeinte „in Beziehung setzen“ ist keine Reduzierung von einzelwissenschaftlichen, im Beispielfall u. a. von biologischen Begriffen auf ontologische. Der biologische Art-Begriff ist, was er ist, nämlich einer, der nach Maßgabe der Methodik einer Einzelwissenschaft entwickelt wird. Der biologische Art-Begriff aber ist, insofern er ein Art-Begriff ist, eben ein Begriff für eine Art, welche die unter sie fallenden Individuen in dem, was sie sind bzw. eben in ihrer Identität determiniert. Dieser Aspekt macht dann seine „ontologische Dimension“ aus. Unter der Rücksicht dieser Dimension kann er nun, wie ausgeführt wird, mit anderen Art-Begriffen verglichen werden. Wie determiniert ein biologischer Begriff die Identität seiner Individuen, wie ein kunst-theoretischer? Welche Unterschiede gibt es, welche Gemeinsamkeiten sind feststellbar?

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Drittens aber zeichnet den Kraft-Begriff als ontologischen Begriff aus, dass er auf Kraft-Begriffe der Einzelwissenschaften beziehbar ist. Und zwar, viertens, so, dass er aufgrund seiner Allgemeinheit weniger allgemeine Bestimmungen in einen systematischen Rahmen bringt, der es u. a. erlaubt, diese weniger allgemeinen Kraft-Begriffe zusätzlich bzw. grundsätzlich zu erläutern und mit anderen nicht-allgemeinen Bestimmungen in Zusammenhang zu bringen. Sowohl in der Physik nimmt man, mit Bezug auf einschlägige Phänomene und ihre Zusammenhänge, Kräfte an, als auch in anderen Disziplinen, insofern es diesen um etwas geht, das man als den wirk-samen Ausgang dynamischer Abläufe verstehen kann. Die Ontologie erläutert diese einzelwissenschaftlichen Kraft-Begriffe durch Anführung allgemeiner Merkmale, etwa die oben genannten, und kann dazu beitragen, wechselseitige Bezugsverhältnisse zwischen diesen einzelwissenschaftlichen Perspektiven herzustellen. Was haben die Kräfte von Bewusstseinszentren, etwa bei der Hervorbringung spezifischer Vollzüge, mit physikalischen Kräften gemeinsam; was gesellschaftliche Kräfte mit den Kräften, mit denen beispielsweise Kunstwerke auf ihre BetrachterInnen wirken? Was aber trennt sie jeweils? Durch Integration von Termini aus Einzelkontexten in einen Universalbegriff kann sowohl das gemeinsame, als auch das differenzierende herausgearbeitet werden. Es kann auch gegen vorschnelle Reduktionismen etwa sozialwissenschaftlicher Kraft-Begriffe auf den physikalischen argumentiert werden. V. Zusammenfassung Damit können wir zusammenfassen, und dabei versuchen, das ein oder andere Missverständnis zu vermeiden. Dies ist ein Versuch, Ontologie überhaupt und ontologische Begriffe in ihrer Funktion zu interpretieren, v. a. im Hinblick auf andere, auf Einzel-Wissenschaften. Mit diesem Versuch löse ich keine binnen-ontologischen Konflikte. Ich wende mich gegen keine Weise, Ontologie zu betreiben; auch lässt sich aus dem Vorgebrachten keine konkrete ontologische Theorie, etwa über einen bestimmten kategorialen Rahmen ableiten.13 Wenn man sich allerdings darin einig wäre, dass Apriorismus und Aposteriorismus, aus Gründen, die ich hier nur angedeutet habe, Sackgassen sind, kann man die Möglichkeit, einen integrativen Mittelweg zu gehen, als ein Plausibilitätskriterium (unter anderen natürlich) für eine ontologische Theorie verstehen. Ist eine Theorie, um intelligibel zu sein, etwa auf einen Aposteriorismus angewiesen, wäre dies, nach diesen Überlegungen, ein Grund, dieser Theorie gegenüber zurückhaltend zu sein. Mit meinem Versuch löse ich also nicht die Frage nach der besten Zugangsweise. Im Prinzip ist damit offen, ob man analytisch, phänomenologisch oder anderswie einsteigt. Jedenfalls meine ich, dass es keiner OntologIn schadet, darüber nachzudenken, was sie/er tut, wenn sie Ontologie betreibt. 13

s. dazu: Kanzian.

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Ich plädiere für meta-ontologische Reflexion. Diese Reflexion betrifft auch die Außenbeziehung ontologischer Arbeit. Einzelwissenschaften sind nicht nur hinzunehmen, sondern, im Optimalfall, auch ansatzweise zu verstehen. Sollte das nicht möglich sein, bedingt das Postulat der Anwendbarkeit ontologischer Begriffe auf einzelwissenschaftliche Kontexte jedenfalls das Eingeständnis, dass man als OntologIn intrinsisch auf andere angewiesen ist, nämlich auf jene, welche einem die einzelwissenschaftlichen Ergebnisse nahebringen. Und zwar schon deshalb, weil diese Ergebnisse, im Extremfall!, zu einer Revision ontologischer Theorien führen sollten. Der Extremfall läge z. B. dann vor, wenn sich eine ontologische Theorie überhaupt nicht mehr auf einzelwissenschaftliche Perspektiven beziehen ließe. Die Falsifikation ontologischer Theorien durch einzelwissenschaftliche ist aber ein Thema, das die Zielsetzung dieses bescheidenen Beitrags bei weitem übersteigt. Hier geht es um Integration. Diese ist nur möglich, wenn man sich dem Dialog zu dem zu Integrierenden nicht verschließt. Das mag mühsam sein, hat aber die Chance einer, wie ich meine, echten Zukunftsperspektive von Metaphysik oder Ontologie. Literaturverzeichnis Forrest, Peter (2012): The Necessary Structure of the All-pervading Aether, Frankfurt am Main. Hofmann, Frank (2008): Die Metaphysik der Tatsachen, Paderborn. Kanzian, Christian (2009): Ding – Substanz – Person, Frankfurt am Main. Kuhlmann, Meinard (2010): The Ultimate Constituents of the Material World, Frankfurt am Main. Muck, Otto (1999): Rationalität und Weltanschauung, hrsg. v. W. Löffler, Innsbruck. Simons, Peter (1998): Farewell To Substance: A Differentiated Leave-Taking, in: Ratio (new series) 11, S. 235 – 252.

Die unbekannte Wurzel von Verstand und Sinnlichkeit bei Kant Gerold Prauss Ontologie oder Metaphysik als totgesagte scheint mir ein Gerücht.1 Selbst Kant, ihr großer Kritiker, hätte noch einen eigenen Zugang zu ihr finden können. Bloß vermutet hatte Kant, dem Subjekt als Verstand und Sinnlichkeit liege zugrunde die Gemeinsamkeit von einer Wurzel als dem Ursprung beider. Und dieser Vermutung einen ersten Schritt zu folgen, führt bereits zu ontologisch-metaphysisch Aufschlußreichem. Denn als Sinnlichkeit ist ein Subjekt nach Kant im Grunde das Prinzip von Ausdehnung, weil das Prinzip von Zeit und Raum als Arten solcher Ausdehnung. Daher gehören sie als „extensive Größen“ auch in die Geometrie als die „Mathematik der Ausdehnung“.2 Dagegen ist nach Kant ein Subjekt als Verstand gerade das Prinzip von absoluter Einheit oder Einfachheit.3 Denn was er daran kritisiert, ist nur, daß dessen absolute Einheit oder Einfachheit die von einer Substanz sei, wie vor ihm vertreten. Da er damit vielmehr kritisch bricht, hält er zurecht an dieser Art von Einheit des Verstandes fest, weil sie als solche sich begründen läßt. Wie sich Verstand und Sinnlichkeit vereinen lassen, wird jedoch für Kant dann zum Problem der „Synthesis“ von „Schemata“, das ungelöst bleibt. Eine Lösung aber könnte winken, wenn man festhält, was genau es dabei zu vereinen gilt: die Einfachheit, die dem Verstand entspringe, und die Ausdehnung, die aus der Sinnlichkeit herstamme. Denn nach der Geometrie kann das nur heißen, daß sich Ausdehnung dabei mit Punkt bzw. Punkt mit Ausdehnung vereinen müsse. Kann doch geometrisch nur ein Punkt als Einfachheit im Sinn von absoluter Einheit gelten. Deshalb läßt sich eine Ausdehnung wie etwa eine Linie nach Kant nur vorstellen, indem sie „erzeugt“ wird durch ein „Ziehen“ als das „von einem Punkt“.4 Nur läßt Kant unbestimmt, um was für einen Punkt es sich dabei dann handeln muß. Dem nachzugehen, ergibt: Dieses Problem hat nicht erst die Philosophie, sondern schon die Geometrie, das hier schon ungelöst ist.

1

Das Folgende sind erste Überlegungen zu einem Teil von einem Buch in Vorbereitung, das den Titel tragen soll: Die Suche nach der Einheit von Subjekt und Objekt. Kants Probleme mit den Sachen selbst. 2 A 163 B 204. 3 Vgl. z. B. A 399 ff. 4 Vgl. z. B. A 162 f. B 203.

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Unterscheidet jedes ihrer Lehrbücher doch strengstens zwischen der geraden Linie, die beidseitig ins Unbestimmt-Unendliche verläuft, der beidseitig begrenzten Strecke und dem einseitig begrenzten Strahl, der auch als Doppel-Strahl sich von der Linie durch seinen Grenzpunkt oder Schnittpunkt unterscheidet. Keines ihrer Lehrbücher jedoch stellt sich auch nur die Frage, in Bezug worauf denn eigentlich die Linie diese Zweiheit ihrer Seiten haben soll, die doch so offenkundig sind. Denn anders als der Doppel-Strahl mit seinem Punkt, der die zwei Strahlen unterscheidet, hat die Linie keinen solchen Punkt, der die zwei Seiten unterscheidet. Trotzdem ist die Zweiheit ihrer Seiten bei der Linie nicht minder offenkundig als beim DoppelStrahl die Zweiheit seiner Strahlen. Mit derselben Offenkundigkeit muß daher auch bei einer Linie ein Punkt im Spiel sein, in Bezug auf den die Zweiheit ihrer Seiten offenkundig ist, der aber nicht wie der des Doppel-Strahls ein Schnittpunkt sein kann. Als das Gegenteil zu ihm muß er vielmehr ein Punkt sein, der zur Linie ein Verhältnis hat, das die genaue Umkehrung zu dem Verhältnis ist, in dem ein Schnittpunkt zu ihr steht. Hängt doch ein Punkt als Schnittpunkt von der Linie ab, weil er nur nachträglich zu ihr sie schneiden kann, die dafür also schon erzeugt sein muß. Der andere Punkt dagegen müßte einer sein, von dem gerade umgekehrt die Linie abhängt, weil sie durch ein „Ziehen […] von einem Punkt“ erst zu erzeugen ist. Als das „von einem Punkt“ kann solches „Ziehen“ dann jedoch auch nur ein Ausdehnen von einem Punkt zu einer Linie sein, zu der sich dieser Punkt von vornherein schon zweiseitig ausdehnen muß, weil sonst sich keine Linie ergibt. Als Ausdehnung muß daher eine Linie so ein zweiseitig zu ihr sich ausdehnender Punkt sein. Denn bei einer Linie, die beidseitig ins Unbestimmt-Unendliche verläuft, bleibt es ja gleichgültig, wie groß oder wie klein sie vorgestellt wird, wenn es sich nur immer schon um eine ausgedehnte Linie handelt. Und so kann der Punkt, der ein zu ihr sich ausdehnender ist, dabei gerade nicht gleich einem Schnittpunkt in ihr auftreten. Denn umgekehrt kann so ein Schnittpunkt als ein Punkt, durch den die Linie geschnitten wird, auch nicht der Punkt sein, der zu dieser Linie sich ausdehnt, den er vielmehr mit und in ihr immer schon voraussetzt. Und nur letzterer als der zu ihr sich ausdehnende kann der Punkt sein, in Bezug auf den die Seiten einer Linie so offenkundig zwei sind, daß durch sie auch er mit ihnen offenkundig in ihr wird. Und als sich ausdehnender wäre dieser Punkt dann auch der Ursprung jeder Art von Ausdehnung, wenn anders jede von ihnen zurückgehen muß auf eine „Synthesis“ als die „Erzeugung“ von ihr: ontologisch vor der Ausdehnung von Linie als Raum bereits die Ausdehnung von Zeit, die ihm nach Kant bereits zugrunde liegt,5 und ontologisch nach der Ausdehnung von Linie als dem eindimensionalen Raum auch noch die Ausdehnung von Fläche und von Körper als dem zwei- und dreidimensionalen.

5 Das Modell vom „Ziehen einer Linie“ setzt Kant deshalb in speziellem Sinn auch als Modell für Zeit ein, so z. B. in B 154 ff.

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Nur bleibt Kant beim „Ziehen einer Linie“ als seinem ersten Ansatz dazu eben stehen. Den weiteren Schritt, daß es als Ziehen „von einem Punkt“ zu einer Linie dann auch nur ein Sich-Ausdehnen von diesem Punkt zu einer Linie sein kann, tut er nicht mehr. Doch schon dieser erste weitere Schritt hätte zur Klärung des Verhältnisses geführt, das der Verstand nach Kant zur Sinnlichkeit besitzen soll. Ist nämlich der Verstand als Punkt es, was zur Ausdehnung der Sinnlichkeit sich ausdehnt, so ist solche Selbstausdehnung eben Selbstversinnlichung dieses Verstandes oder Punktes und in diesem Sinn sonach Vereinigung von ihm mit ihr. Zwar sind Verstand und Sinnlichkeit als die Vermögen zu so Unterschiedlichem wie Punkt und Ausdehnung auch selbst zu unterscheiden. Doch bedürfen sie als die Vermögen dazu auch noch der Verwirklichung dazu, die durch Verstand als Spontaneität auf Grund von Sinnlichkeit als Rezeptivität erfolgt. Und so verwirklicht sich durch jeden Einzelschritt solcher Vereinigung von ihnen jeweils eben jedes von ihnen: die Sinnlichkeit zur Ausdehnung und der Verstand zum Punkt als dem zu ihr sich ausdehnenden, was beim Raum zunächst die Linie herbeiführt. Als Verstand ist er jedoch nicht nur ein Punkt, der einerseits zu dieser oder jener Ausdehnung sich ausdehnt, ontologisch, sondern der von jeder solchen Ausdehnung sich anderseits, bewußtseinstheoretisch, auch noch ein entsprechendes Bewußtsein bildet, das auf Grund der Sinnlichkeit das Anschauungsbewußtsein von ihr ist.6 Und damit hätte sich für Kant noch weiteres geklärt. Dann nämlich heißt, zu einer Ausdehnung sich auszudehnen, gar nichts anderes für diesen Punkt, als diese Ausdehnung sich einzubilden, nämlich sich als dem Bewußtsein, das dann Anschauungsbewußtsein von ihr ist. Und so ist eben das Vermögen dazu, das der „Einbildungskraft“, auch tatsächlich ein Vermögen des Verstandes: sein Vermögen zur Versinnlichung als seiner Selbstversinnlichung. Genau in diesem Sinn berichtigt Kant die erste durch die zweite Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft.7 Dort nämlich hatte Kant die Einbildungskraft zwischen den Vermögen von Verstand und Sinnlichkeit als eigenes, „drittes“ Vermögen angesetzt,8 und dieses nimmt er hier zurück in das Vermögen des Verstandes. Und der Grund für diese Selbstkritik liegt auf der Hand: Liefe das erstere doch auf ein Nebeneinander von zwei Spontaneitäten innerhalb derselben Subjektivität hinaus, was systematisch unhaltbar ist. Daher kommt auch nur die erste Auflage für den Versuch von Heidegger9 in Frage, die „gemeinsame […], uns unbekannte […] Wurzel“10 von Verstand und Sinnlichkeit in dieser Einbildungskraft zu erblicken, weil die zweite Auflage das ausschließt. Selbstkritisch ist sie im größeren Zusammenhang der Einsicht Kants, daß Ausdehnung von Zeit und Raum, wie die Ästhetik sie zunächst nur innerhalb 6 Vgl. z. B. A 21 B 35, B 66, B 70, B 149, A 359, A 360, A 371, A 384, A 469 B 497, A 491 B 519. 7 Vgl etwa die Berichtigung zu A 78 B 103. 8 Vgl. z. B. A 94, A 115. 9 Heidegger (1965). 10 A 15 B 29.

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der Sinnlichkeit behandelt, „eine Synthesis […] voraussetzt“, worin „der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt“, wodurch „der Raum oder die Zeit […] zuerst gegeben werden“.11 Darin aber ist Kant auch nur folgerichtig, weil ihm auch schon in der ersten Auflage längst klar war: „Selbst der Raum und die Zeit“ ist jeweils als „Vorstellung“ bereits „ein […] Schema“,12 also nicht erst die speziellen Fälle von ihnen, die in der Regel „Schema“ heißen. Doch was käme dann denn dieser zweiten Auflage gemäß als das Gemeinsame der Wurzel von Verstand und Sinnlichkeit in Frage? So zu fragen, führt zurück vor das Verhältnis, das sie zueinander als Prinzip von Punkt und als Prinzip von Ausdehnung besitzen und das nicht nur die Geometrie behandelt, sondern auch die Arithmetik. Geht doch das dynamisch zu erzeugende Kontinuum von Ausdehnung ins Unbestimmt-Unendliche, was jede von den Dimensionen des euklidisch-ungekrümmten Raumes deutlich macht. Die Linie als so ein Kontinuum benutzt nun die Arithmetik zur Darstellung der Zahlen zwischen +1 und –1, wo sie durch den Null-Punkt zwischen Zahlen als den positiven und den negativen unterscheidet. Mindest soviel galt zur Zeit von Kant bereits als selbstverständlich. Dahinter zurückzufragen hätte aber folgendes ergeben. Diese zwei Unendlichen sind in bestimmter Weise irreführend, weil sie nahelegen, dabei sei kein weiteres Unendliches im Spiel. Doch zu beachten gilt es, daß „Unendliches“ hier nur bedeuten kann „Nicht-Endliches“. Denn alles Endliche liegt ja gerade zwischen diesen zwei Unendlichen und ist sonach als positives oder negatives eben jeweils etwas Endlich-Großes. Im Verhältnis dazu aber ist dann das entsprechende Nicht-Endliche oder Unendliche als positives oder negatives jeweils ein Unendlich-Großes. Abgesehen vom Vorzeichen sind somit beide als Unendlich-Großes nicht einmal verschieden voneinander, ganz zu schweigen, daß sie Gegensätze zueinander wären, wie sie es als Arten von Unendlichem sein müßten, doch nicht sind. Vielmehr ist eigentlicher Gegensatz zu beiden miteinander das Unendlich-Kleine als Nicht-Endlich-Kleines, was jedoch verdeckt bleibt, weil Mathematik oder Geometrie von dem Unendlich-Großen stets bloß kurzerhand als dem Unendlichen zu sprechen pflegen. Gilt das doch sogar für die Unendlichkeiten, die von Cantor später als verschiedene Arten von Unendlichem ermittelt wurden. Denn obwohl sie sämtlich Arten von Unendlich-Großem sind,13 spricht man von ihnen immer wieder nur als Arten von Unendlichem. Doch auch zu ihnen allen ist der eigentliche Gegensatz dieses Unendlich-Kleine als Nicht-Endlich-Kleines, das noch nichts mit den „unendlich kleinen Größen“ oder mit den „Grenzprozessen“ der Analysis zu tun hat. Und von diesem gibt es eben nur ein einziges, den sogenannten „Zwilling der Unendlichkeit“,14 der arithmetisch als die Null und geometrisch als der Punkt auf11

B 160 f (Anm.). Vgl. auch B 151 f. A 156 B 195. 13 So schon bei Cantor selbst (vgl. Cantor, S. 171 ff und S. 407 ff mit S. 439). 14 So der Titel eines Buches über die Zahl Null von einem Mathematiker (vgl. Seife).

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Die unbekannte Wurzel von Verstand und Sinnlichkeit bei Kant

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tritt, der Null im Sinn der Nicht-Ausdehnung eines Schnittpunkts ist. Und doch muß diesem Schnittpunkt jener andere Punkt zugrunde liegen, der als ein zu Ausdehnung sich ausdehnender gelten muß, wenn anders jede Art von Ausdehnung nur als Ergebnis seiner Selbstausdehnung zu verstehen sein kann. Was also träte danach auf als nichtempirisches Subjekt, weil es als das Gemeinsame der Wurzel von Verstand und Sinnlichkeit der Ursprung beider wäre? – Das Unendliche, das aus sich selbst heraus zu dem Vermögen des UnendlichKleinen und Unendlich-Großen auseinandertritt, um von sich selbst als erstem her und zu sich selbst als zweitem hin die Möglichkeit für jedes Endliche, Empirische zu schaffen. Denn als etwas Endliches, Empirisches vermag nun einmal nur das aufzutreten, was in Form von Zeit und Raum und deren jeweiliger Dimension sich abgrenzt als ein Etwas gegenüber einem andern Etwas, wozu dann auch das empirische Subjekt gehört mit seinem Körper gegenüber andern Körpern, der dann jeweils Leib ist. Dazu aber müssen eben alle diese Formen selbst erst einmal auseinandertreten als Unendliches, wie es sich dann am Endlichen selbst niederschlägt. Und so bewahrheitet sich wieder einmal: Totgesagte leben länger, jedenfalls so lange, wie Subjekte da sind, die als Philosophen leben. Literaturverzeichnis Cantor, Georg (1980): Gesammelte Abhandlungen, Berlin. Heidegger, Martin (1965): Kant und das Problem der Metaphysik, 3.Aufl. Frankfurt a.M. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, zitiert nach erster (A) und zweiter (B) Auflage. Seife, Charles (2002): Zwilling der Unendlichkeit, München.

Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Kant im Blick auf die Zukunft der Metaphysik Norbert Fischer Der Mensch muß sein, damit der Gott offenbar werde. Was ist ein Gott ohne den Menschen? Die absolute Form der absoluten Langeweile. Was ist ein Mensch ohne den Gott? Der reine Wahnsinn in der Gestalt des Harmlosen.1

Der ,Metaphysik‘ kommt gegen deren Verächter eine Zukunft ohne absehbares Ende zu – auch nach Heidegger, obwohl er zuweilen von der Überwindung der Metaphysik gesprochen hat. Heidegger ist gewiß selbst ein ,Metaphysiker‘ – auch in seiner bedenkenswerten Metaphysikkritik. Dürre Zeiten mit abgeschwächtem Interesse für die wesentlichen Fragen hat es schon immer gegeben – ähnlich wie es in der Geschichte eher kriegerische und eher friedliche Zeiten gab. Vorläufig sei angenommen, daß die Fragen der Metaphysik aus der Reflexion der ,Endlichkeit‘ entspringen, in der die emotionalen, theoretischen und praktischen Momente unserer Situation uns als Wesen zeigen, die Ruhe nicht in sich finden und so auf ,Transzendenz‘ bezogen sind. Diese Ausrichtung drückt sich formal und unreflektiert im scheinbar allwirksamen Wahlspruch „citius, altius, fortius“ aus, der die Lebensziele, die im Immanenten bleiben, weithin bestimmt. Weil das Streben nach ,Erhaltung und Steigerung‘ der Lebensqualität die Sehnsucht endlicher Vernunftwesen aber nur perpetuieren und die ersehnte Ruhe der Vollendung nicht herbeiführen kann, muß eine wahre ,Metaphysik‘ am Ende auch das Steigerungsstreben außer Kraft setzen. Eine ,Metaphysik‘, die den Anspruch absolut gültiger Beantwortung der vom Leben gestellten Fragen und der Selbstberuhigung erhöbe, arbeitete an der Immanentisierung des Transzendenten, das unser Herz ruhelos macht und auf das wir Menschen durch unser Leben bezogen sind.2 Wenn immer die Aufgaben der ,Metaphysik‘, die uns durch die faktische Wirklichkeit des menschlichen Lebens gegeben und auferlegt sind, in den Fragen nach ,Gott‘, ,Freiheit‘ und ,Unsterblichkeit‘ kulminieren3 (mit denen Kant die doppelte 1 GA 42, S. 207. In diesen Sätzen spiegelt sich Augustins „deum et animam scire cupio“ (dazu unten). 2 Solche ,Metaphysik‘ wäre nichts als Wirkung des ,Willens zur Macht‘, auch wenn ihre Vertreter dies leugneten. Alles kommt darauf an, wie wir mit dem ,Hang‘ unserer Vernunft umgehen, „Ruhe zu finden“ (vgl. KrV B 825). 3 Vgl. dazu Fischer (2007), bes. S. 91 – 95 mit Hinweisen zu Heideggers Wort „amo: volo, ut sis“.

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Grundfrage Augustins weiterführt, die sich auch bei Descartes findet),4 unlösbar bleiben müssen (wenigstens theoretisch), dann gehört Heideggers Denken zweifellos in die Geschichte der Metaphysik, sofern die Fragen nach ,Gott‘ und dem innersten Sein des Menschen die Phänomenologie Heideggers bestimmen. Darum zu streiten, wäre unnütz (vkuaq¸a), lächerliches Gezänk um Worte: Kinderei (paidi²), das die Streitenden vom Ernst (spoud¶) echten philosophischen Fragens fernhält.5 Die ,zwei‘ oder ,drei‘ Grundfragen der Philosophie, die nach Augustinus und Kant (um nur diese beiden herausragenden Denker zu nennen) im Zentrum allen philosophischen Fragens stehen, liegen nicht ohne weiteres auf der Hand, sondern lassen Fragen nach ihrer Herkunft zu. Diese Fragen seien hier kurz und nebenbei auf die eine (unmittelbar vom faktischen Lebensvollzug ausgehende) Frage zurückgeführt, die mit dem ,Leben‘ selbst gegeben ist und eine Entfaltung in weitere Unterfragen ermöglicht, wie sie Augustinus und Kant sehr klar vorgenommen haben – zunächst also in die zwei oder drei Fragen, die schon erwähnt worden sind. Der einen Frage, die (gemäß der Annahme, die im Folgenden erläutert wird) allem menschlichen Bemühen und insbesondere dem philosophischen Fragen zugrunde liegt, haften keine inhaltlichen Vorstellungen an, wie sie mit ,Gott‘, ,Freiheit‘ und ,Unsterblichkeit‘ genannt sind. Diese Frage geht lediglich von der Annahme aus, daß Lebewesen gerne leben und das Leben an sich selbst sogar dann für etwas Gutes (für ein Geschenk) halten, wenn es ihnen Leiden aufbürdet und es ihnen in einer Weise begegnet, die sie zur Lebensverneinung anstacheln könnte. Diese Annahme hat indessen nicht als eine von den Lebewesen ausgehende ,Setzung‘ zu gelten. Denn so finden wir uns (als vernünftige Lebewesen) unversehens in der Welt vor – zudem mit dem Bestreben, dieses Leben trotz all seiner Unvollkommenheiten zu erhalten und zu bejahen. Da die faktische Lebenswirklichkeit unserem Willen zur Lebensbejahung, der mit dem Leben verbunden ist, aber allzu oft widerstreitet, sind wir der (unbestimmt auf Transzendenz weisenden) Frage ausgesetzt, wie wir das Leben dennoch als gute Gabe bejahen können. Weil wir das Leben, in das wir unversehens und ungefragt gelangt sind, ursprünglich als ,Geschenk‘ annehmen, obwohl es für uns schwierig ist und uns Schwierigkeiten aufbürdet, sind wir von vornherein in einem Zwiespalt und uns dadurch als Wesen gegeben, die fragen können. Solange es solche endlichen Wesen gibt, ,die fragen können‘ und durch die Natur ihrer Vernunft im Bezug zur Transzendenz stehen, werden auch die Fragen der Metaphysik nicht verstummen. Denn in der Metaphysik suchen wir fragend Orientierung nicht nur im naturhaft Gegebenen (um unser Leben zu sichern und dessen Umstände zu verbessern), sondern fragen nach der Wahrheit 4 Vgl. Augustinus z. B. sol. 1,7; ord. 2,47; bei Kant z. B. KrV1 B z.B. XXX, 7, 395 Fn, 778, 826, 831, 856, 882. Der Untertitel von Descartes’ Meditationes de prima philosophia lautet: „in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur“ (AT VII,XIX). 5 Zu vkuaq¸a vgl. Platon: Kriton 46d; zu spoud¶ und paidi² bes. Phaidros 276b-e und 265c. In § 3. von SuZ (Der ontologische Vorrang der Seinsfrage) wird deutlich, daß Heidegger mit der „Seinsfrage“ Fragen stellt, die über die Fragen der positiven Wissenschaften hinausweisen – und insofern ,metaphysisch‘ heißen können (vgl. SuZ S. 11).

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des Lebens, auch sofern es womöglich unseren Wünschen und Sehnsüchten nicht entspricht. Augustinus sagt in den Confessiones prägnant (10,10): „homines autem possunt interrogare“.6 Das Wahrnehmen der eigenen Endlichkeit und das Fragenkönnen führen zu notwendigen, wenngleich unlösbaren Aufgaben, also nicht zu einer ,dogmatischen Metaphysik‘, aber zum ,Problem‘ der Transzendenz, das den zentralen Fragen ,meta-physischen‘ Charakter verleiht.7 Zukunft hat die ,Metaphysik‘ als ,kritische Metaphysik‘ im Sinne Kants,8 wie schon Platon sie intendiert hat,9 der das ,Wissen des Nichtwissens um das Höchste‘ als das ,höchste Wissen‘ ausgelegt hat, das nicht dazu taugt, das gesuchte Wahre in seiner höchsten Form (als !kgh´statom) mit Macht in den Griff einer von Sorge getriebenen endlichen Vernunft zu bringen.10 Kant geht (im Unterschied zu Heidegger) vom ,Primat der reinen praktischen Vernunft‘ aus, was ihn schließlich zu einer praktischen Fundierung und Zuspitzung der Metaphysik führt.11

6 Im Hintergrund steht schon Platons Symposion mit Wortspielen zu ,Frage‘ (1q¾tgsir) ‚ und ,Liebe‘ (5qyr) (vgl. dort 199d und 204d-205a). Entscheidend ist die Frage, woher das Fragenkönnen und damit die ,metaphysische Naturanlage‘ der menschlichen Vernunft kommen (im Rahmen von Kants Denken auch vom ,einzigen Factum der reinen Vernunft‘) und was sie für uns Menschen bedeutet. Einerseits erwächst diese Anlage aus dem unableitbaren Faktum, daß wir als Vernunftwesen dem Anspruch der Heiligkeit ausgesetzt sind, auch wenn wir nicht ,wissen‘ können, ob es einen letzten Sinn des Lebens gibt und worin er besteht. Andererseits befähigt diese Naturanlage uns zur Leugnung der Wirklichkeit des göttlich Unbedingten (in einer negativen Allmacht, die uns endliche Vernunftwesen zur Verneinung ermächtigt). Positiv können wir in ,letzten Fragen‘ nur ,glauben‘ und ,hoffen‘ – uns also in Vertrauen auf die ,Liebe‘ Gottes richten, die wiederum ,Liebe‘ als Antwort bei uns wecken und verstärken kann. 7 In den zentralen Fragen, denen Menschen als solche ausgesetzt sind, geht es um die erwähnten zwei bzw. drei ,Cardinalsätze‘; z. B. KrV B 769, B 828, vgl. auch Metaphysik Volckmann (AA 28, 387) und Reflexion 5678 (AA 18, 325) aus den Jahren 1780 – 89. Reflexion 5678 lautet knapp: „Die zwey Cardinalsätze: Gott und eine künftige Welt.“ In KrV B 826 sagt Kant: „Die Endabsicht, worauf die Speculation der Vernunft im transscendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes.“ Diese ,drei Gegenstände‘ nennt er in B 827 f. die „drei Cardinalsätze“, fügt aber erläuternd hinzu, daß sie „uns zum Wissen gar nicht nöthig sind und uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden: so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen“. 8 Vgl. insgesamt Fischer (2010), bes. Vorwort (XIV) und Einleitung des Herausgebers, bes. 5 f. 9 Platon scheint wie Kant ein ,Primat der reinen praktischen Vernunft‘ anzunehmen: die den Menschen aufgegebene blo¸ysir he` jat± t¹ dumatºm bezieht sich nicht auf das Wissen und die Macht Gottes, sondern auf dessen Gerechtigkeit (vgl. Theaitetos 175b/c). 10 Gegen Heideggers These zum ,Fehlen‘ des Ausdrucks !kgh´statom im Höhlengleichnis (GA 9, S. 221). Dieses Fehlen darf nicht überspielt werden, sondern gehört zu der von Platon behaupteten Unaussagbarkeit des Höchsten im Höhlengleichnis; vgl. auch Politeia 509b: 1p´jeima t/r oqs¸ar. 11 Vgl. Fischer (2002).

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Erst Heidegger hat Kant systematisch (gegen den Zeitgeist) als Metaphysiker ins Auge gefaßt.12 Als Kants Philosophie noch weithin als (metaphysikkritische) Erkenntnistheorie gelesen wurde, hat er sie schon explizit auf das ,Problem der Metaphysik‘ bezogen und als Metaphysik erfaßt.13 Auch Heidegger selbst präsentiert sich in Sein und Zeit ganz deutlich als Metaphysiker, sofern die im Aufriß von Sein und Zeit angekündigten ,drei Abschnitte‘ des ,Ersten Teils‘ klar auf das Schema der ,scala mystica‘ zu beziehen sind, wie es sich bei Augustinus wie bei Kant findet. Bei Augustinus tritt es in den Stufen ,foris‘, ,intus‘ und ,interior intimo meo‘ auf, mit denen Augustinus zwar an Plotins Henologie anknüpft, diese aber zugleich auch kritisch zurückweist.14 Dieses Schema ist im Gesamtplan der Philosophie Kants wirksam: Kant fängt mit der Analytik der Möglichkeitsbedingungen der objektiven Erkenntnis in der ,Welt‘ an, fährt mit der Untersuchung der Vernunfterkenntnis fort, die zur Innerlichkeit des denkenden Ich (,Seele‘) gehört,15 und führt zuletzt durch die praktische Philosophie und die folgende Postulatenlehre zu ,Gott‘.16 Im Zentrum der ,vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins‘, des ersten Abschnitts im ersten Teil von Heideggers Sein und Zeit, steht (analog zu Augustinus und Kant) die ,Welt‘ mit den sich an sie knüpfenden Phänomenen.17 Der zweite Abschnitt unter dem Titel ,Dasein und Zeitlichkeit‘ betrifft das ,eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins‘ und hat die ,Seele‘ in ,Sorge und Selbstheit‘ zu ihrem Thema.18 Für die Aufgaben des dritten Abschnitts, der nach dem ,Aufriß der Abhandlung‘ unter dem Titel „Zeit und Sein“ hätte stehen sollen,

12 Vgl. immerhin Wundt. Dort wird Kants Philosophie auf die Geschichte der Metaphysik bezogen. Ihm folgte dann eine Reihe beachtlicher Forschungen zur metaphysischen Kantinterpretation. Was fehlte, war eine systematisch metaphysische Kantauslegung, an der Heidegger dann gearbeitet hat. 13 Vgl. Martin Heidegger: KPM (1929; jetzt GA 3); Kant zielt mit seiner Philosophie auf eine kritische Metaphysik; dazu vgl. Fischer (Hg.) (2010). 14 Vgl. conf. 3,11; dazu Fischer (2005a); vgl. Fischer (1987). 15 Das ,denkende Ich‘, das die Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis sucht, ist die Quelle der Vernunfterkenntnis, die am Ende auf die unbedingten Bedingungen geht, also auf die Ideen eines Subjekts (Seele), eines Objekts (Welt), eines Subjekt-Objekts (Gott) (vgl. KrV B 379): indirekt objektive Geltung haben entworfene Ideen, die sich auf Mathematik und Naturwissenschaften als ,wirkliche Wissenschaften‘ stützen, bei denen man mit Recht nach den Bedingungen der Möglichkeit fragen kann (KrV B 21 f.). Worin die ,metaphysica naturalis‘ ihre Basis hat (im Bewußtsein des moralischen Gesetzes), muß erst noch gefragt werden (was Heidegger aber übergeht). 16 Die Wandlungen, die der Platonauslegung widerfahren sind, gibt es nun auch in der Kantauslegung; vgl. z. B. Dörflinger (2004). Wer dies sieht, wird für die Erwägung offen sein, daß auch die Heideggerauslegung noch Wandlungen vor sich haben mag. 17 Im Zentrum des ,Ersten Abschnitts‘ des ,Ersten Teils‘ von SuZ steht die Analytik des „In-der-Welt-Seins“. 18 Die Selbstheit, die im Zentrum des ,Zweiten Abschnitts‘ von SuZ steht, ist Ausdruck der Innerlichkeit der Seele und Vorstufe zum höchsten Gottesnamen (zum „id ipsum“ vgl. z. B. conf. 12,7; 12,25; dazu SwL XXXIII, L).

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gibt es Hinweise, die in unterschiedliche Richtungen weisen. Einige von ihnen seien hier kurz angedeutet. Friedrich-Wilhelm von Herrmann berichtet im ,Nachwort des Herausgebers‘, die Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie bringe „die zentrale Thematik des 3. Abschnitts des I. Teils von ,Sein und Zeit‘ zur Ausführung“19. Zu beachten ist auch schon Heideggers eigener Hinweis zu seinem Vortrag Zeit und Sein, der am 31. Januar 1962 vorgetragen wurde und jetzt in Band 14 der Gesamtausgabe abgedruckt ist.20 Dort findet sich folgende Erklärung:21 „Der Titel ,Zeit und Sein‘ kennzeichnet im Aufriß der Abhandlung ,Sein und Zeit‘ (1927) S. 39 den dritten Abschnitt des ersten Teils der Abhandlung. Der Verfasser war damals einer zureichenden Ausarbeitung des im Titel ,Zeit und Sein‘ genannten Themas nicht gewachsen. Die Veröffentlichung von ,Sein und Zeit‘ wurde an dieser Stelle abgebrochen.“ Besonders zu beachten ist die folgende Erläuterung Heideggers (ebd.): „Was der jetzt nach dreieinhalb Jahrzehnten verfaßte Text des Vortrags enthält, kann nicht mehr an den Text von ,Sein und Zeit‘ anschließen. Zwar ist die leitende Frage dieselbe geblieben, was jedoch nur heißt: Die Frage ist noch fragwürdiger geworden und dem Zeitgeist noch fremder.“ Diese Bemerkung macht klar, daß die Marburger Vorlesung von 1927 (also: Die Grundprobleme der Phänomenologie) nicht als eine gültige Ausarbeitung des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit betrachtet werden kann, obwohl immerhin zu fragen sein wird, was diese Vorlesung mit der Aufgabe des fehlenden Abschnitts von Sein und Zeit zu tun hat. Deutlich ist in der Tat die Nähe einiger Passagen am Ende des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit zum Thema des Vortrags Zeit und Sein, von dem Heidegger gesagt hat, „die leitende Frage“ sei „die selbe geblieben“, wenn auch „noch fragwürdiger […] und dem Zeitgeist noch fremder.“ Im Zentrum des Vortrags von 1962 steht das Wort ,Ereignis‘, das im Anschluß an die Suche nach der ,eigentlichen Zeit‘ über den Gedanken des „nicht-mehr-Gegenwärtigen“ und des „noch nicht Gegenwärtigen“ zur Vierdimensionalität der ,eigentlichen Zeit‘ führt.22 Am Ende von Sein und Zeit hatte Heidegger nach „der ursprünglichen ekstatischen Einheit der Zeitigung der Zeitlichkeit“ gefragt und in einer Fußnote zu dieser Frage angemerkt:23 Daß der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der Bedeutung des „stehenden Jetzt“ (nunc stans) aus dem vulgären Zeitverständnis geschöpft und in der Orientierung an der Idee der „ständigen“ Vorhandenheit umgrenzt ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch ,konstruieren‘ ließe, dann dürfte sie nur als ursprünglichere und ,unendliche‘ Zeitlichkeit verstanden werden. Ob hierzu die via negationis et eminentiae einen möglichen Weg bieten könnte, bleibe dahingestellt. 19

GA 24, S. 472. Vgl. GA 14, S. 3 – 30. 21 GA 14, S. 103. 22 Vgl. GA 14, S. 17 – 29. 23 SuZ S. 427.

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Im weiteren soll hier nicht gefragt werden, ob Heideggers Vortrag Zeit und Sein nicht doch auch im Zusammenhang mit den Fragen nach ,Gott‘ und ,Ewigkeit‘ gesehen werden muß, obwohl die Überlegungen Heideggers zum ,Es‘ im ,Es gibt‘ dafür wesentliche Anhaltspunkte bieten.24 In diese Richtung weist überdies ein Brief Heideggers an Max Müller vom 4. November 1947. Heidegger spricht dort ausdrücklich „von der ersten Ausarbeitung des III. Abschnitts des I. Teils von Sein und Zeit, wo die Kehre zu ,Zeit und Sein‘ sich vollzieht“25. Obwohl Heidegger die „erste Ausarbeitung des Abschnitts ,Zeit und Sein‘.“, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann berichtet, „bald nach ihrer Niederschrift verbrannt“ hat,26 kann Heideggers Brief an Max Müller immerhin eindeutig entnommen werden, daß es in dieser Ausarbeitung um die „transzendenzhafte Differenz“ gegangen war, um das, was er dort ausdrücklich auch „die transzendente (theologische) Differenz“ nennt. Daß Heidegger mit seinem Entwurf des Gesamtplans von Sein und Zeit klar und bewußt am metaphysischen Grundmodell der abendländischen Philosophie orientiert war, unterliegt also keinem vernünftigen Zweifel.27 Ungeachtet der Frage, inwieweit die (metaphysische) Theologie im Fokus der Fragen des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit gestanden hat (was die oben vermutete Parallele zu den an der ,scala mystica‘ orientierten Fragen Augustins und Kants weiter stützen könnte), wird im folgenden nur Heideggers Kant-Interpretation in der genannten Marburger Vorlesung von 1927 untersucht, in deren affirmativem Teil Heidegger Kants Auffassung von Ich und Natur (Subjekt und Objekt) und seine Bestimmung der Subjektivität des Subjekts zum Thema macht, in deren negativem Teil er aber eine phänomenologische Kritik der Kantischen Lösung entfaltet. In ihr tritt Heideggers tiefe Vertrautheit mit Kants Philosophie hervor, aber auch die Ablehnung der Gedanken, die Kant zur ,praktisch fundierten Metaphysik‘ geführt haben,28 in deren höchstem Zweck die ,Religion‘ (mit „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“) die zentrale Rolle spielt. Da Kants Weg über die Moral zur Religion führt und so zur letzten Stufe der ,scala mystica‘ gelangt, was Heidegger eigent-

24 ZuS passim, S. 9: „(Die Sache ,Sein‘, sie eigens denken, dies verlangt, das unser Nachsinnen der im Anwesenlassen sich zeigenden Weisung folgt. Sie erweist im Anwesenlassen das Entbergen. Aus diesem aber spricht ein Geben, ein Es gibt.) / Indes bleibt für uns das jetzt genannte Geben noch ebenso dunkel wie das hier genannte Es, das gibt.“ 25 Briefe an Max Müller, S. 15 26 Vgl. GA 2, S. 582. 27 Nachdem Heidegger mit seinem ursprünglichen Plan nicht durchgekommen war, ging er auf die Suche nach den Gründen für dieses Scheitern, das womöglich seinen ganzen weiteren Denkweg bestimmt hat, der nicht positiv vom Atheismus Nietzsches bestimmt war, sondern vom Versuch, trotz Nietzsche einen denkerischen Weg zu Gott zu finden. Zu Heideggers Weg der Gottsuche vgl. auch die kritischen Überlegungen bei von Herrmann (2012), S. 175 – 181, bes. S. 179. 28 Vgl. Fischer (2004), S. 120 – 124.

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lich hätte willkommen sein müssen,29 mag die Tatsache, daß er Kant in diesem Punkt nicht folgte, zum entscheidenden Hindernis gehören, das sich der gültigen Abfassung des ,dritten Abschnitts‘ des ersten Teil von Sein und Zeit entgegengestellt hat.30 Heidegger berichtet im erwähnten Brief, daß er „mit der onto-theologischen Basis der Metaphysik“ nicht durchgekommen sei, was analog zu Kants Versuch im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft gesagt werden könnte, der ihm unberechtigt sogar den Ruf eines Alleszermalmers eingebracht hat.31 Womöglich zeigt sich das genannte Hindernis schon in der Gewissensanalyse von Sein und Zeit, sofern es dort nicht um den Ruf zur ,Heiligkeit‘, sondern zum „eigentlichen Seinkönnen“ geht.32 Nach Heidegger ruft sich das Gewissen selbst zu eigentlichem Selbstseinkönnen. Diese Analyse widerspricht Kants Überlegungen zur Genese des Bewußtseins des moralischen Gesetzes, das vom Subjekt auch Entsagung und zudem (aus eigener Kraft unerreichbare) Heiligkeit fordert.33 Nach Kant geht der Ruf von ,Anderem‘ aus: denn solange die Vernunft nur sich selbst im Auge hat, bleibt die Annahme des eigenen Selbstzweckcharakters ein bloß ,subjektives Prinzip‘. Die folgende Untersuchung richtet sich auf einen Hauptpunkt der Kant-Darstellung in Heideggers Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie: zunächst werden Heideggers Auslegungen zur ,personalitas transcendentalis‘ und zur ,personalitas psychologica‘ dargestellt (teils referierend, teils mit kritischen Erwägungen); danach folgt der Übergang zu Heideggers Interpretation der ,personalitas moralis‘; abschließend wird Heideggers ,kritische Betrachtung von Kants Interpretation der personalitas moralis‘ selbst kritisch diskutiert.

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Vgl. GA 1, bes. S. 406 – 410. Vgl. von Herrmann (2011a), bes. Hermeneutische Analytik des faktischen Lebens und die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie (1916 – 1921). In: GDMH, S. 31 – 37. 30 Heidegger zieht sich in „Sein und Zeit“ auf die formale Analyse des Gewissensphänomens zurück; vgl. SuZ S. 289 – 301; die von Emmanuel Levinas vorgetragene Kritik an Heidegger (z. B. TI 61) ist auch eine Rückkehr zu Kant; vgl. Emmanuel Levinas: Le primat de la raison pure pratique. Fischer (2013b). 31 Vgl. Mendelssohn, S. 3. Der Ruf als ,Alleszermalmer‘, der im Blick auf Kants Intentionen eine üble Nachrede war, hatte weitreichende Folgen für die Kant-Rezeption, einerseits in der Kant-Gegnerschaft des ,Deutschen Idealismus‘, andererseits im katholischen Bereich; vgl. Fischer (Hg.) (2005b). 32 Z.B. SuZ S. 267: „Gesucht ist ein eigentliches Seinkönnen des Daseins, das von diesem selbst in seiner existenziellen Möglichkeit bezeugt wird.“ 33 Kants Denken ist insofern offen für ,Gnade; vgl. z. B. KpV A 229 f. Fn; vgl. dazu Fischer (Hg.) (2012).

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I. Heideggers Auslegung der ,personalitas transcendentalis‘ und ,personalitas psychologica‘ Das dritte Kapitel des ersten Teils der ,Grundprobleme‘-Vorlesung von 1927 hat den Titel: Die These der neuzeitlichen Ontologie.34 Deren Ursprung findet Heidegger zwar bei Descartes und Leibniz, aber so, daß dabei zugleich deutlich werde, „wie unmittelbar Kant in der großen Tradition der antiken und scholastischen Ontologie steht“ (38). Nach Heidegger weist der „mehrdeutige Ausdruck ,Eingeborenheit‘“ (von Begriffen) nicht auf die Transzendenz Gottes,35 sondern deutet nur „das Früher, Vorausgehende, das Apriori an, das man seit Descartes bis zu Hegel mit dem Subjektiven identifiziert“ (105). Zu seiner Intention und zur Selbsteinschätzung des Sinns seiner Kritik erklärt Heidegger von vornherein (142): „Wir wollen weder Aristoteles noch die Ontologie des Mittelalters noch Kant oder Hegel erneuern, sondern nur uns selbst, d. h. uns freimachen von den Phraseologien und Bequemlichkeiten der Gegenwart, die von einer luftigen Mode in die andere taumelt.“ Doch behauptet er fest, „Kant sowohl wie Hegel“ stünden „noch grundsätzlich auf dem Boden der Antike“, im positiven wie im negativen Sinne (158).36 Charakteristisch für die Neuzeit sei die „Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt“, die er mit Husserl im Unterschied zwischen dem ,Bewußtsein‘ als ,res cogitans‘ und der ,res extensa‘ sieht, die als „sich im Bewußtsein ,bekundendes‘, ,transzendentes‘ Sein“ gefaßt wird (175).37 Heidegger begreift die „Kantische Auffassung des Problems“ (176) als die „entscheidende Zwischenstation zwischen Descartes und Hegel“ und diskutiert sie kritisch. Zunächst erfolgt die Betrachtung der „personalitas transcendentalis“ als Grundlage (177 – 182). Obwohl Kant „grundsätzlich an der Bestimmung Descartes’“ festhalte, fasse er sie „ontologisch prinzipieller“, indem er die ,Vorstellungen‘ als „Bestimmungen des Ich“ und als dessen „Prädikate“ verstehe (177 f.). Gewaltsam klingt die folgende Auslegung von Kants Grundgedanken. Heidegger sagt (178): „Denkend weiß Ich dieses Denken als mein Denken […]. Ich weiß mich.“ Damit deutet Heidegger Kants Aussage wohl in die Richtung der Selbstanschauung des Ich um: in Kants Denken sei „zum ersten Mal explizit […] das Ich das eigentliche subjectum“ (178 f.). Diese Auslegung von Kants Grundgedanken scheint indessen vereinfachend 34 GA 24, S. 172 – 251. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf GA 24. Vgl. GA 24, S. 35, wo Heidegger die „transzendentale Logik“ insgesamt als „Ontologie der Natur“ bezeichnet, wozu sich eigene Betrachtungen anstellen ließen: es wäre zu fragen, wovon ,Natur‘ zu unterscheiden wäre, z. B. von ,Freiheit‘ oder von ,Gott‘. 35 Vgl. dagegen Auslegung durch von Herrmann (2011b), bes. S. 220 – 230. 36 Heidegger sagt (S. 158): „daß auch bei ihnen nicht das Versäumnis nachgeholt ist, das in der ganzen Entwicklung der abendländischen Philosophie als eine Notwendigkeit verborgen blieb. Die These, daß zu jedem Seienden essentia und existentia gehören, bedarf nicht nur der Aufklärung des Ursprungs dieser Begriffe, sondern einer universalen Begründung überhaupt.“ Zu bedenken ist natürlich auch, inwiefern Heidegger in der Tiefendimension an der Gottesfrage arbeitet, auch wenn er an der Oberfläche Vorbehalte gegen ihre Bearbeitung äußert. 37 Im Sinne einer formalen Reduktion des möglichen Gehalts, der mit ,Transzendenz‘ gemeint sein kann.

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und schließlich auch irreführend zu sein. Denn Kant hatte zwar ausdrücklich festgehalten, daß ich „mir meiner selbst, in der transscendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt […] bewußt“ bin, aber „nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur, daß ich bin.“38 Heideggers Auslegung gerät, indem er die Einschränkung der Selbstgegebenheit des Ich außer acht läßt, auf eine schiefe Bahn, von der aus er (in einer Vorwegnahme Hegelscher Gedanken) den eigentlichen Sinn der Subjektivität in die Substanzialität verlegt.39 Er spricht dem Subjekt intellektuelle Selbstanschauung zu, die Kant bekanntlich stets bestritten hat, und sagt (179): „Vielmehr weiß sich das Ich als der Grund seiner Bestimmungen, d. h. seiner Verhaltungen, als der Grund seiner eigenen Einheit in der Mannigfaltigkeit dieser Verhaltungen, als Grund der Selbigkeit seiner selbst.“ Nach Kant aber ,weiß sich das Ich‘ auf dem Gebiet der spekulativen Vernunft gerade nicht als ,Grund seiner eigenen Bestimmungen‘, sondern findet sich ohne Selbsterkenntnis lediglich als verbindendes Vermögen vor. Verfehlt ist es also zu sagen (ebd.): „Alle Bestimmungen und Verhaltungen des Ich sind ich-gegründet.“ Da die Endlichkeit des Ich für Kants Auslegung entscheidend ist, bleibt es trotz seiner Spontaneität, die objektive Erkenntnis ermöglicht, auf die Rezeptivität mittels der Sinnlichkeit angewiesen, wodurch die Spontaneität der endlichen Subjekte unendlich weit von der Selbsterfassung des Geistes Gottes entfernt bleibt, wie Aristoteles sie gedacht hat.40 Das endliche Ich des Menschen ist nach Kant – trotz der staunenerregenden Spontaneität, mit der es Gegebenes unter die Einheit des Denkens zu bringen vermag – faktisch doch nur zufällig da und bleibt sich deshalb selbst ganz unerkennbar, wie Kant ausdrücklich erklärt41: „und ich habe also demnach keine Erkenntniß von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine.“ Auf diese Einsicht Kants, die Heidegger zunächst unbeachtet läßt, weist er allerdings nur wenig später selbst hin (184) und betont (wie zur Rechtfertigung seiner Kantdeutung – und nicht gänzlich ohne Plausibilität), daß das ,bestimmende Ich‘ sich nur deshalb als ,empirisches Ich‘ habe vorfinden können, weil „dieses Ich als dieses Ich selbst“ sei (184).42 38

Vgl. KrV B 157; diese vorsichtige Zurückhaltung des Urteils entspricht dem Verfahren Augustins, der danach sucht, was oder wer er in seinem Inneren ist, und bekennt, daß er sich ein Ackerland der Mühsal und des Schweißes geworden ist (conf. 10,25; „ego certe, domine, laboro hic et laboro in me ipso: factus sum mihi terra difficultatis et sudoris nimi“), daß er sich selbst eine Frage geblieben ist, als die er sich auch in der Begegnung mit dem Tod des Jugendfreundes bezeichnet hat (conf. 4,9: „factus eram ipse mihi magna quaestio“). 39 Vgl. GA 24, S. 179: „Die eigentliche Substanz ist das Subjekt, oder der eigentliche Sinn der Substanzialität ist die Subjektivität. Dieser Grundsatz der Hegelschen Philosophie liegt in der direkten Linie der Entwicklung der neuzeitlichen Fragestellung.“ 40 Aristoteles: Metaphysik XII, 1074b7 mºgsir mo¶seyr mºgsir. 41 KrV B 158. 42 Nach Kant wäre diese Aussage nicht möglich, weil damit das intelligible Ich in den Bereich objektiver Erkenntnis gerückt werden müßte. Das von Heidegger genannte ,Problem‘ bleibt aber bei Kant im Rahmen der praktischen Philosophie als Problem bestehen, also als notwendige, aber theoretisch unlösbare Aufgabe.

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Zwar betont Heidegger ganz mit Recht, die „Interpretation von Kants ,Kritik der reinen Vernunft‘ als Erkenntnistheorie“ verfehle „vollständig den eigentlichen Sinn“ dieses Werkes (181); allerdings verfehlt Heidegger selbst hier die für Kant wesentliche Endlichkeit der menschlichen Vernunft, die er an anderer Stelle seiner KantDeutung deutlich hervorgehoben hat.43 Zwar sei der „Begriff der Subjektivität bei Kant“ damit „nicht erschöpfend bestimmt, aber „das Schema für die weitere Interpretation der Ichheit“ bleibe „Personalität im weiteren Sinne“ (182). Diese Annahme wird im Blick auf Heideggers Auslegung der ,personalitas moralis‘ genauer zu prüfen sein. Zunächst schiebt Heidegger jedoch Bemerkungen zur ,personalitas psychologica‘ im Denken Kants ein, mit denen er auf den „Unterschied zwischen reinem und empirischem Selbstbewußtsein“ verweist (ebd.). Das „empirische Ich“ falle zusammen mit „dem Begriff der Seele, wobei Seele als Grund der Animalität“ gedacht werde; folglich sei das „Ich als personalitas psychologica […] immer nur Objekt, vorgefundenes Vorhandenes“ (ebd.).44 Angesichts seiner Identifikation von ,bestimmendem‘ und ,empirischem Ich‘ erstaunt es, daß Heidegger die ,personalitas psychologica‘ einfach als „vorgefundenes Vorhandenes“ benennt. Dieser Auslegung fügt er ohne Nachweis einer Belegstelle folgende These als Zitat an (183): „oder wie Kant sagt: ,dieses Ich-Objekt, das empirische Ich, ist eine Sache.‘“ Zwar muß Kant irgendwie einen Zusammenhang zwischen ,Erscheinungen‘ und ,Dingen an sich‘ annehmen. Erscheinung weist ja schon dem Wort nach auf etwas, das gleichsam hinter dem Erscheinenden steht und durch sie erscheint, aber dabei eben nicht preisgibt, was sie ,an sich selbst‘ sein mag. Kant selbst betont diese Verweisungsfunktion, indem er sagt45 : „Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.“ Zwar sind Erscheinungen nach Kant also nicht ohne Bezug auf Dinge an sich zu denken, so daß insofern irgendein Zusammenhang notwendig gegeben ist. Wer aber die Differenz von ,Erscheinung‘ und ,Ding an sich‘ übergehen und beide identifizieren wollte, geriete in die Antinomie der reinen Vernunft und könnte Kants Rede von ,Freiheit‘ und ,Gott‘ nicht verstehen. 43 Vgl. GA 3, S. 21: „Der Quellgrund für die Grundlegung der Metaphysik ist die menschliche reine Vernunft, so zwar, daß für den Kern dieser Grundlegungsproblematik gerade die Menschlichkeit der Vernunft, d. h. ihre Endlichkeit wesentlich wird. Es gilt daher, die Charakteristik des Ursprungsfeldes auf die Klärung des Wesens der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis zu konzentrieren. Diese Endlichkeit der Vernunft besteht aber keineswegs nur und in erster Linie darin, daß das menschliche Erkennen vielerlei Mangel der Unbeständigkeit und Ungenauigkeit und des Irrtums zeigt, sondern sie liegt im Wesensbau der Erkenntnis selbst. Die faktische Beschränktheit des Wissens ist erst eine Folge dieses Wesens.“ Weiterhin vgl. bes. S. 218 – 231. Zu Kants Bestimmung der Grenzen der theoretischen Erkenntnis vgl. z. B. KrV B 294 – 297. 44 Für die hierzu als Kantzitat ausgewiesene Stelle (183): „dieses Ich-Objekt, das empirische Ich, ist eine Sache“ fand sich kein Beleg– auch nicht in „Kant im Kontext“ (der digitalen Fassung der Akademie-Ausgabe). 45 KrV B XXVI f.

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Die in der Kritik der reinen Vernunft implizierte ,Ontologie‘ weist auf eine ,intelligible Welt‘, die sich kraft der transzendentalphilosophisch denkenden Vernunft aber nicht darstellen läßt. Die Kritik der reinen Vernunft ist keine ,Fundamentalontologie‘, sondern beantwortet zunächst die Fragen, wie ,reine Mathematik‘ und wie ,reine Naturwissenschaft‘ möglich sind.46 Weil das Ergebnis so ausfällt, daß aus ihm die Unterscheidung von erkennbaren ,Erscheinungen‘ und unerkennbaren ,Dingen an sich‘ resultiert, treten die Fragen der Metaphysik in einer Weise auf, daß Kant von der ,metaphysischen Naturanlage der menschlichen Vernunft‘ zu sprechen hat, daß er nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Naturanlage (metaphysica naturalis) fragen und eine ,kritische Metaphysik der Probleme‘ begründen muß.47 Zu ihr führt die Untersuchung der Möglichkeit und der Grenzen der theoretischen Vernunft, die am Ende der ,transzendentalen Analytik‘ vor Augen gestellt wird48 und in Kants praktischer Philosophie vorausgesetzt ist.49 Zu beachten ist nun Heideggers Auslegung der ,personalitas moralis‘, die im Zentrum von Kants Denken steht und mit dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes als dem ,einzigen Factum der reinen Vernunft‘ zusammenhängt.50 II. Vergegenwärtigung von Heideggers Interpretation der ,personalitas moralis‘ Heidegger legt die „personalitas moralis“ mit Recht als die „eigentliche Persönlichkeit“ aus. Der Zusatz aber, die „personalitas moralis“ sei als „eine bestimmte Modifikation des Selbstbewußtseins“ zu denken, könnte in die Irre führen, sofern die ,personalitas moralis‘ nach Kant keine Funktion des ,transzendentalen Subjekts‘ ist (vgl. 186): vielmehr hängt das transzendentale Subjekt von der Moralität ab und muß zuletzt von dieser als ,Endzweck‘ abgeleitet werden.51 Mit Recht betont 46 Vgl. KrV B 20; über diese Fragen hinaus stellt Kant noch die Frage, wie Metaphysik als Naturanlage möglich sei. 47 Dieser höchst bedeutsame, dreifache transzendentalphilosophische Hintergrund des Gesamtwerks der „Kritik der reinen Vernunft“ wird – was die Frage nach der Möglichkeit der ,Metaphysik als Naturanlage der menschlichen Vernunft‘ angeht, selten wahrgenommen und bedacht (vgl. KrV B 21 f.). 48 KrV B 294 – 315: „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena“. 49 Das „Land der Wahrheit“, das nach Kant „eine Insel“ ist, „umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem eigentlichen Sitze des Scheins“ (KrV B 294), will Kant nicht verlassen – im Unterschied zu Nietzsche, der hier auf Kant Bezug zu nehmen scheint (vgl. FW 124 in: KSA 3, S. 480: „Im Horizont des Unendlichen“). Wie Nietzsche findet auch Heidegger – im Unterschied zu Kant – keine Orientierung im Bewußtsein des moralischen Gesetzes und bewegt sich denkerisch also gleichsam ,jenseits von gut und böse‘. 50 KpV A 56. 51 Vgl. schon KrV B 829: danach ist „die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt“; es kommt also auf die Frage an, in welchem Sinne das Ich ausgelegt wird und der reinen praktischen Vernunft das Primat zukommt. Vgl. weiterhin Fischer (2013a). Ausgangspunk ist dort auch Kants These (KU B 396): „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung

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Heidegger, das „moralische Selbstbewußtsein“ werde „die eigentliche Geistigkeit des Menschen“ sein, die eben „nicht durch sinnliche Erfahrung vermittelt“ sei (187).52 Dennoch entfaltet er zunächst (imAnschluß an eine Phänomenologie der Lust und des Gefühls) eine These, in der er die Konstitution der Selbstheit des Ich im Genuß vorwegzunehmen scheint, die Emmanuel Levinas (unter Bezugnahme auf Heidegger) in Totalité et Infini vorgetragen hat.53 Im ,Sichfühlen des Ich‘ entdeckt er dabei einen „Modus des sich selbst Offenbarwerdens“ (187). Von solchem Offenbargewordensein des Ich im Gefühl überhaupt gelangt er zum ,moralischen Selbstbewußtsein‘, das vom besonderen ,moralischen Gefühl‘ der Achtung konstituiert werde.54 Dabei nennt er „Kants Interpretation des Phänomens der Achtung […] die glänzendste phänomenologische Analyse des Phänomens der Moralität, die wir von Kant besitzen“ (189). Heidegger paraphrasiert und erläutert hier Kants Gedanken treffend (189; vgl. dazu KpV A 129): „Folglich können wir apriori einsehen [d. h. aus dem Phänomen der Abweisung der sinnlichen Gefühle], daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen [den sinnlichen Gefühlen] Eintrag tut [selbst] ein Gefühl bewirken müsse.“ Das Ursprungsgefühl, in dem sich die ,personalitas moralis‘ ursprünglich konstituiere, deutet Heidegger als „Achtung fürs moralische Gesetz“ oder einfach als „Achtung für das Gesetz“.55 Mit Recht fügt Heidegger zur Erläuterung jedoch das Wort Kants an, nach dem „Achtung […] jederzeit nur auf Personen“ geht, „niemals auf Sachen“ (191; vgl. KpV, A 135). Heidegger fügt erläuternd hinzu (192): „Das spezifische Gefühlhaben für das Gesetz, das in der Achtung vorliegt, ist ein Sichunterseiner Möglichkeit bedarf.“ Charakteristisch für Kant ist die große Bedeutung, die er der Gestalt des biblischen Hiob zuspricht (vgl. Fischer 2013a, bes. S. 217, Fn 100). 52 Heidegger spricht – im Gegensatz zu Kant, aber vielleicht unter dem Einfluß Nietzsches – zurückhaltend zur Bedeutung von ,Ethik‘ und ,Moral‘; vgl. auch Heidegger: Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809): GA 42, S. 252 f.: „Damit ist mittelbar auch angezeigt, daß der Umkreis der Ethik nicht zureicht, um das Böse zu begreifen, daß vielmehr Ethik und Moral nur eine Gesetzgebung hinsichtlich eines Verhaltens zum Bösen im Sinne seiner Überwindung und Zurückweisung oder aber Verharmlosung betreffen.“ 53 Vgl. bes. TI 81 – 114. 54 Auf den Seiten 188 – 196 explodiert bei Heidegger gleichsam der Gebrauch des Wortes ,Achtung‘ (im Sinne der „Achtung für das Gesetz“ – nicht für den – oder die – ,Anderen‘) , das in fast jedem Satz – oft mehrfach – auftritt. 55 Der Ausdruck ,Achtung für das (fürs) moralische Gesetz‘ kommt bei Heidegger sechsmal vor (190 f.), in der „Kritik der praktischen Vernunft“ jedoch nur dreimal (an weit verstreuten Orten (KpV, A 130; A 231, A 239). Diese ein wenig beckmesserische Anmerkung behält im Blick auf den Ursprung des Gefühls der Achtung Bedeutung. Heidegger kommt damit in die Nähe des Vorwurfs eines ,Formalismus in der Ethik‘, den Scheler erhoben hatte. Heideggers Schelerkritik (vgl. S. 193) mag berechtigt sein; dennoch bietet seine Kantauslegung, sofern sie den Sinn des kategorischen Imperativs und den „Grund dieses Princips“ nicht ins Auge faßt (vgl. GMS BA 66; AA 4, 429), Anlaß, Schelers verfehlte Kantkritik doch neu zu bedenken: alle, die Kant formalistisch auslegen, müssen sich mit der Kritik Schelers auseinandersetzen (vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik).

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werfen.“ Damit zeige sich der Kern der Gegebenheit der ,personalitas moralis‘ (192): „In diesem Mich-Unterwerfen bin ich mir offenbar, d. h. bin ich als ich Selbst.“ Als ,Selbst‘ bin ich mir nach Heideggers Deutung in der Achtung offenbar, die „nichts anderes“ sei „als das Verantwortlichsein des Selbst sich selbst gegenüber und für sich selbst“ (192). Im Michunterwerfen, das sich im moralischen Gefühl der Achtung ereignet, erkläre ich mich selbst zum Verantwortlichen – was mich zugleich erhebe. Insofern liege in der Konstitution des Selbst eine ,Doppelrichtung‘, die Heidegger als „sichunterwerfendes Sicherheben“ interpretiert (ebd.). Die Genauigkeit und Brillanz von Heideggers Vergegenwärtigung der Kantischen Grundlegung der Moral leidet aber womöglich dadurch einen Mangel, daß sie gleichsam solipsistisch durchgeführt wird, daß also die Anderen als ,Zwecke an sich selbst‘ keine konstitutive Rolle spielen. Kennzeichnend könnte das folgende Wort Heideggers sein (ebd.): „Die Achtung ist die Weise des Bei-sich-selbst-seins des Ich, gemäß der es den Helden in seiner Seele nicht wegwirft.“ Die Selbstkonstitution der ,personalitas moralis‘ ist nach Kant demgegenüber auf moralisch relevante Situationen angewiesen, in der ich unerwartet aufgerufen werde, meine Verantwortung im Blick auf das Selbstsein Anderer anzuerkennen und diese in meinem Tun zu übernehmen. Zwar weist Heidegger mit Recht auch auf die Konsequenzen der Moralität für die Anderen, im Blick auf die ursprüngliche Konstitution der Moral blendet er die Anderen aber gleichsam aus. Zu Kants Deutung des Zwecks der Moral als „finis in consequentiam veniens“56 sagt Heidegger mit vollem Recht (197): „Das Reich der Zwecke ist das Miteinander-Sein, das Commerzium der Personen als solches, und deshalb das Reich der Freiheit.“ Nach Heidegger hat sich jede Person, die als verantwortliches Selbst existiert, zuvor in einem ,sich unterwerfenden Sicherheben‘ als Person konstituiert. Diese Konstitution ist nach Kant aber nicht ohne die nicht-konstituierbare Annahme der Anderen als Zwecken an sich selbst möglich. Mit vollem Recht greift Heidegger auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zurück, wo Kant den ,Grund‘ des unbedingt (nicht nur für subjektive Zwecke) geltenden Prinzips sucht, das als „oberstes praktisches Princip“ gilt, das „nothwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist“, und ein objectives Princip des Willens ausmacht“.57 Heidegger läßt Kants entscheidende Überlegungen zum „Grund dieses Princips“ aber achtlos beiseite, obwohl er immerhin die dort genannte Formel des kategorischen Imperativs zitiert. Diese lautet (196): „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Diese Formel, die sich scheinbar gleichwesentlich auf die eigene ,Person‘ und die „Person eines jeden andern‘ bezieht, erhält ihre unbedingte Bedeutung aber erst durch die Person der Anderen.58 56

RGV B VI=AA 6, S. 4 GMS BA 66=AA 4, S. 428 f. 58 Vgl. Langthaler, S. 109. Kant antizipiere der Sache nach Fichtes berühmten Satz, der Mensch werde Mensch nur unter Menschen. Mit Heidegger fragt Langthaler kritisch gegen 57

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Als ,Grund des Prinzips‘ nennt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine These, die mit Heideggers ontologisch orientiertem Ansatz übereinstimmt. Dieser grundlegende Satz besagt: „die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“.59 Ohne weiteres behauptet Kant dort (ebd.): „So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor“.60 Kant erläutert die ,Notwendigkeit‘ dieser Vorstellung nicht, sondern erklärt einfach, der Satz sei insofern „ein subjectives Princip menschlicher Handlungen“ (ebd.).61 Heidegger versucht anhand seiner phänomenologischen Analysen Licht auf die Frage zu werfen, wie sich die Notwendigkeit der Vorstellung seiner selbst als Zweckes an sich selbst denken läßt. Kant unterläßt solche Untersuchungen, da sich ihm eine andere Frage aufdrängt, die er sogleich ins Auge faßt, nämlich die Frage, wodurch das subjektive Prinzip ein objektives Prinzip wird. Zum Grund, der das subjektive Prinzip objektiv werden läßt, erklärt er (ebd.): „So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können.“ Ohne Bezug auf die Anderen, denen ich mich nicht – mich prostituierend – als ,Mittel‘ zu ihren Zwecken ausliefern darf und die ich nicht – sie verführend oder vergewaltigend – als ,Mittel‘ zu meinen Zwecken gebrauchen darf, wird nach Kant aus dem subjektiven kein objektives Prinzip. Die Unbedingtheit des moralischen Prinzips hängt also am nichtherstellbaren Sein von Personen als Zwecken an sich selbst, die sich nicht prostituieren und andere nicht vergewaltigen dürfen. Kant verweist in der Grundlegung der Moral auf die Selbstzweckhaftigkeit vernünftiger Wesen, aber Kant, wie es um „den transzendentalen Ermöglichungsgrund des moralischen Selbstbewußtseins des Subjekts als eines ,Dinges an sich selbst‘ und den diesem entsprechenden Erfahrungsbegriff“ stehe (vgl. S. 116 und Fn). 59 GMS BA 66=AA 4, S. 429. 60 Gerold Prauss hat den Vf. darauf hingewiesen, daß Kant sich in einer Vorlesung, die er zur Zeit der Abfassung der GMS gehalten hat, mit einer Begründung des Charakters des vernünftigen Wesens als Zweck an sich beschäftigt und vernünftige Wesen als ,ens a se‘ zu erweisen versucht habe (vgl. Naturrecht Feyerabend, hier: AA 27, 1321). Dem Vf. war schon länger die Nähe von Kants Auslegung der vernünftigen Wesen als ,Zwecken an sich‘ zur patristischen Genesis-Deutung aufgefallen, der Mensch sei auf das Bild Gottes hin geschaffen (vgl. z. B. die Auslegung von Genesis 1,1 bei Augustinus (Confessiones 1,1: ,“fecisti nos ad te“; dazu die Erläuterung des ,ad‘ bei Thomas von Aquin; S.th. I 93, 1c: „praepositio enim ad accessum quendam significat“). 61 Insofern kann man mit gutem Grund erstens darauf hinweisen, daß Kant zwar die Möglichkeit einer phänomenologischen Ausweisung des Selbstzweckcharakters vernünftiger Subjekte annimmt, aber nicht durchführt (diese findet sich indessen bei Heidegger); zweitens kann man festhalten, daß Kant auch keine Intersubjektivitätstheorie zum Erweis der Anderen als ,Zwecken an sich selbst‘ entfaltet, die Heidegger zum Thema macht (vgl. die Phänomenologie des Mitseins und des Miteinanderseins, das als alltägliches, aber auch als „eigentliche Verbundenheit“ in den Blick kommt; vgl. z. B. SuZ 121 f.); besonders zu beachten ist die Phänomenologie des Anderen bei Levinas, die der Intention Kants besonders kongenial entspricht, weil Levinas wie Kant (im Unterschied zu Heidegger) sieht, wie der unbedingte sittliche Anspruch aus der Begegnung mit dem Anderen erwächst.

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auch auf deren Beziehung zum Dasein anderer Personen als ebenso vernünftiger Wesen, die mit dem Anspruch begegnen, als Zwecke an sich selbst geachtet zu werden. Nur weil mir Andere begegnen, die ich als Zwecke an sich selbst achten soll, ist die Selbstkonstitution des Ich als Selbstzweck zu denken, kann es unbedingt geltende Handlungsregeln geben. Die Annahme der Freiheit endlicher Wesen setzt die Möglichkeit der Entscheidung angesichts des Selbstzweckcharakters anderer Wesen voraus, die ebenfalls zum Handeln gerufen sind.62 Geschichte ist nach Kant wesentlich eine Geschichte von Heil und Unheil, von Selbstachtung und wechselseitiger Achtung mit der Möglichkeit der Mißachtung des Selbstzweckcharakters. Das „einzige‘, was nach Kant „allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“ (was Heidegger so nicht ins Auge faßt) ist das Streben nach der „Heiligkeit des Willens“, in der alle vernünftigen Wesen „niemals bloß als Mittel“, sondern „jederzeit zugleich als Zweck“ geachtet werden.63 III. Zur Kritik von Heideggers kritischer Betrachtung von Kants Idee der ,personalitas moralis‘ Heidegger beginnt die ,phänomenologische Kritik der Kantischen Lösung‘ in der Absicht zu verdeutlichen, „was an der Kantischen Interpretation der Personalität problematisch ist“ (199). Auf diese Kritik wird sorgsam zu achten sein, aber zugleich mit Aufmerksamkeit für mögliche Besonderheiten und Probleme von Heideggers Vergegenwärtigung der Grundgedanken Kants. Im ersten, nicht unwesentlichen Punkt, der sogleich erwähnt sei, geht es um Heideggers Benennung der ,Person‘ als „Ding“, als „res, etwas, was als Zweck seiner selbst existiert“.64 Zwar ist es verfehlt, Heidegger deshalb Mißachtung der Anderen anzulasten, weil er sie nur im Kontext des ,Man‘ und der „Verfallenheit an die ,Welt‘„ beachte, als „Aufgehen im Miteinandersein“.65 Der Vorrang des ,Selbstseins‘ in Sein und Zeit springt jedoch in die Augen: das ,Mitsein mit Anderen‘ tritt dort nicht als moralisch relevantes Phänomen auf. Auf die Frage, wer im Gewissensruf ruft, antwortet Heidegger (SuZ 275): „Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.“ Aus der ,ontologischen‘ Fragerichtung seines Denkens66 fragt Heidegger kritisch, ob „Kant das Sein des Menschen durch die Interpretation der personalitas transcen62

Das Leben eines einsamen Ich mit Selbstzweckcharakter wäre beliebig wie das Leben eines Allmächtigen, der gegenüber niemandem verantwortlich ist. 63 Vgl. GMS BA 66 f.=AA 4, 429; weiterhin vgl. KpV A 57 f. Weil die ,Heiligkeit des Willens‘ das Vermögen endlicher Vernunftwesen nicht nur fordert, sondern überfordert, gesteht Kant unser Angewiesensein auf Gnade ein. 64 S. 199; vgl. dazu S. 11 f.: „Der Mensch ist ein Seiendes, das als Zweck seiner selbst existiert.“ Vgl. dazu Fischer (2005c), bes. S. 13 (Fn 19). 65 SuZ, S. 175: „Die Verfallenheit an die ,Welt‘ meint das Aufgehen im Miteinandersein“. 66 Hier wirkt sich die Maßgabe von Sein und Zeit aus; vgl. SuZ S. 38: „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die

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dentalis, personalitas psychologica und personalitas moralis hinreichend bestimmt“ hat (199). Er denkt auf einer anderen Basis als Kant, für den das Bewußtsein seiner selbst als ,Zweck an sich selbst‘ ohne Bezogenheit auf die Anderen ein bloß subjektives Prinzip ohne Verpflichtung geblieben wäre. In einer Nebenbemerkung sei erwähnt, daß Emmanuel Levinas in dieser Hinsicht unmittelbar an Kant anzuknüpfen scheint, indem er im Blick des Anderen gleichsam ,das erste Wort‘ findet.67 Auf Grund der fundamentalontologischen Intention der Analyse des Seins des Daseins verformt sich die Auslegung des Vernunftwesens, das Kant als ,Zweck an sich selbst‘ bezeichnet, zur Bestimmung der Person im Sinne von etwas, „was als Zweck seiner selbst“ existiere (199). Die Benennungen ,Zweck an sich selbst‘ und ,Zweck seiner selbst‘ unterscheiden sich, sofern ,Zweck an sich selbst‘ offen läßt, wer den Zweck gesetzt hat und für wen der Zweck Zweck ist. Sofern ein Wesen sich für sich allein als Zweck an sich selbst sieht, folgt daraus ein subjektives Prinzip, das selbstgenugsam (autosuffizient) wäre, aber kein unbedingt gebietender Imperativ. Wird aber ein ,Zweck an sich selbst‘ der Begegnung mit anderen ,Zwecken an sich selbst‘ ausgesetzt, führt die Begegnung mehrerer ,Zwecke an sich selbst‘ zu einer neuen Situation, da mit ihr die Herausforderung entsteht, sich selbst ebenso wie die anderen Personen als ,Zwecke an sich selbst‘ zu achten, folglich weder sich selbst als ,Mittel‘ für die Zwecke anderer Personen gebrauchen zu lassen noch andere Personen als ,Mittel‘ für die eigenen Zwecke zu gebrauchen. Nicht schon aus der Konstitution des Ich als Selbstzweck, sondern erst durch dessen Beziehung auf den Selbstzweckcharakter anderer Personen entsteht nach Kant die ,personalitas moralis‘. Zwar spricht auch Heidegger, allerdings eher beiläufig, von der „Würde des Menschen, die ihn erhebt, sofern er dient“ (195), wobei , erheben‘ und ,dienen‘ Beziehungsbegriffe sein könnten.68 Solches ,Erheben‘ und ,Dienen‘ aber setzt nach Kant die Annahme der Anderen als Zwecke an sich selbst und die daraus folgende Achtung der Anderen voraus.69 Heidegger fragt dagegen, ob Kant „nicht doch wieder dahin“ zurückfalle, „dieses handelnde Ich als seienden Zweck im Sinne eines Vorhandenen unter anderem Vorhandenen zu fassen“, und stellt resümierend fest (201): „Wir erhalten über die Seinsart des Ich aus der Interpretation des Ich als moralischer Person keinen eigentlichen Aufschluß.“ Heidegger behauptet gegen Kants Interpretation der ,personalitas moralis‘, daß Kant „faktisch nirgends den Versuch macht zu einer Interpretation der Seinsart des Ich als ,Ich denke‘, sondern […] gerade ausdrücklich zu zeigen versucht, daß und warum das Dasein, d. h. die Seinsart des Ich, nicht aufgeklärt werden kann.“70 als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“ 67 Vgl. TI 152: „Le visage, expression par excellence, formule la première parole“. 68 Sich ,erheben‘ meint: sich über etwas (z. B. einen früheren Zustand) oder jemanden (z. B. eine andere Person) erheben; ,dienen‘ meint: einer ,Sache‘ oder einer ,Person‘ dienen. 69 Derart läßt sich der Ursprung des Bewußtseins des moralischen Gesetzes als ,gegebenes Factum‘ und zugleich im Sinne der Autonomie des reinen Willens verstehen. 70 Kants Ablehnung der Anwendung der Kategorien auf die ,personalitas transcendentalis‘, stimmt Heidegger zu, indem er erklärt (206): „Kant ist völlig im Recht, wenn er die Kategorien als Grundbegriffe der Natur für ungeeignet erklärt, das Ich zu bestimmen.“ Heidegger

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Um Kants Charakterisierung des Menschen als ,Zweck an sich selbst‘ zu fassen, legt Heidegger die Wurzeln von Kants Denkens in der antiken und mittelalterlichen Metaphysik frei, nach der ,Gott‘ „die eigentliche Substanz“ ist, und behauptet, daß „die Person […] als ein Vorhandenes aufgefaßt wird“ und Kant „über die Ontologie des Vorhandenen nicht hinauskommt“ (210). Diese Ontologie führe zur Auslegung des Seins des Seienden als Hergestelltsein, wodurch der Weg „zum eigentlichen Sein des Seienden“ aber verlegt sei (213).71 Weil die „Endlichkeit der Sachen und Personen […] in der Hergestelltheit der Dinge überhaupt“ gründe, sei der „Schöpfer und Hersteller [als] Sich-selbst-Herstellender […] zugleich das eigentlich Seiende“ (215). Mit dieser Analyse deutet sich die Verschärfung der Problematik der Gottesfrage an, die wohl schon die gültige Ausarbeitung des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit verhindert hat. Ebenso deutet sich die Auslegung der hergebrachten Ontologie im Sinne von Nietzsches Auslegung Gottes als ,höchsten Werts‘ und des Seins des Seienden als ,Wille zur Macht‘ an.72 Heidegger sagt (217 f.), „daß das Sein des Subjekts nicht nur im Sichwissen besteht […] sondern daß das Sein des Daseins zugleich dadurch bestimmt ist, daß es in irgendeinem Sinne […] vorhanden ist, und zwar so, daß es nicht sich selbst aus eigener Macht ins Dasein gebracht hat.“ Sofern Heidegger aber das Sein überhaupt aus dieser Perspektive als Hergestelltsein betrachtet, gerät der Mensch zunehmend in eine Gegenstellung zu Gott mit der Gefahr des Atheismus.73 Was Kant mit dem ,Primat der reinen praktischen Vernunft‘ ins Auge gefaßt hat – und von Levinas aufgegriffen und verstärkt wurde – ist für Kant der Königsweg zur Theologie geworden. Schon in der Kritik der reinen Vernunft war jedoch klar geworden, daß der metaphysische Kontext ihrer Ausarbeitung auf ,das Primat der reinen praktischen Vernunft‘ hinausläuft, von dem Kant dann (allerdings auch dort nur nebenbei) in der Kribewegt sich hier auf schwankendem Boden, auf dem er auch vorläufige Überlegungen zur Sprache bringt (ebd.): „Vielleicht ist gerade die Zeit das Apriori des Ich, – Zeit allerdings in einem ursprünglicheren Sinne, als Kant sie zu fassen vermochte.“ 71 Vgl. weiter S. 213: „Nur der Urheber ist zu einer eigentlichen Seinserkenntnis imstande, wir endlichen Wesen erkennen nur das, was wir selbst machen und soweit wir es machen. Wir selbst aber sind als Wesen, die sich nicht selbst schlechthin aus sich herstellen, sondern wir sind selbst Hergestelltes und daher, wie Kant sagt, nur zum Teil Schöpfer. Die Unerkennbarkeit des Seins der Substanzen, d. h. der vorhandenen Dinge in ihrem eigentlichen Sein, gründet darin, daß sie hergestellte sind. Das Sein der endlichen Dinge, seien es Sachen oder Personen, ist im vorhinein als Hergestelltheit im Horizont des Herstellens begriffen.“ 72 Heideggers Versuch der Zurückweisung Nietzsches tritt oftmals hervor; z. B. Nietzsches Wort ,Gott ist tot (vgl. GA 5, S. 259 f.): „Der letzte Schlag gegen Gott und gegen die übersinnliche Welt besteht darin, daß Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt wird.“ Vgl. auch Nietzsche I (GA 6.1, S. 327), wo Heidegger, indem er gegen die Möglichkeit von ,Nietzsches Beweis der Wiederkunftslehre‘ spricht, erklärt, daß „ein Gott, der sich seine Existenz erst beweisen lassen muß, am Ende ein sehr ungöttlicher Gott“ sei. 73 Vgl. auch Teichner (1984). Heidegger folgt in seinen Arbeiten zu Nietzsche nicht Nietzsches ,Atheismus‘, sondern hinterfragt ihn in kritischer Absicht; vgl. „Nietzsche“ und NWGit.

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tik der praktischen Vernunft spricht. Der Mensch ist nach Kant gerade kein „Seiendes, das als Zweck seiner selbst existiert“ (11 f.). Er kann sich nicht selbst zum Zweck machen, sich nicht als Zweck seiner selbst ,herstellen‘. Dabei übergeht Heidegger die Funktion des Daseins Anderer Zwecke im Ursprung des moralischen Gesetzes, obwohl er das Ideal der Existenz ja im ,eigentlichen Miteinandersein‘ sucht. Und ob selbst Gott so vorgestellt werden kann, als ob er für sich allein „Zweck seiner selbst“ wäre, bleibt, auch wenn Kant ihn ,selbstgenugsam‘ nennt, eine schwierige Frage, weil dann unklar bliebe, wie Gott als (liebender) Schöpfer der Welt gedacht werden könnte.74 Das Ich erfährt sich zwar als „Zweck an sich selbst“, es existiert nach Kant aber gerade nicht, wie Heidegger diesen Gedanken mehrmals verfälschend umformt, als „Zweck seiner selbst“. Heidegger hat seinen Weg im Jubel der ,Gottinnigkeit‘ begonnen,75 sah sich danach zur Epoché gedrängt und ist am Ende in die Klage abgeglitten.76 Zum Schluß sei ein Sonett Rilkes zitiert, das Heideggers Beziehung zur Gottesfrage und zur Metaphysik andeuten mag (SO I 8): Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn, die Nymphe des geweinten Quells, wachend über unserm Niederschlage, daß er klar sei an demselben Fels, der die Tore trägt und die Altäre. – Sieh, um ihre stillen Schultern früht das Gefühl, daß sie die jüngste wäre unter den Geschwistern im Gemüt. Jubel weiß und Sehnsucht ist geständig, – nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt sie nächtelang das alte Schlimme. Aber plötzlich, schräg und ungeübt, hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.

74 Vgl. GA 42, S. 207 (mit dem als Motto vorangestellten Wort zur Beziehung von Mensch und Gott). Eigentlich hätte Heidegger auch Zugang zu diesem Aspekt haben können; vgl. „amo: volo, ut sis“. 75 Vgl. KBDS. Schluß (GA 1, S. 410): „Die Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit, deren allgemeinste Richtpunke nur angedeutet werden konnten […] steht vor der großen Aufgabe einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit dem an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffsbildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung […], mit Hegel.“. Dazu vgl. von Herrmann (2012). 76 In der Abwendung von der Metaphysik, die mit Sehnsucht verbunden bleibt. Auf diese Sehnsucht weist auch das oft zitierte Wort (GA 12, S. 91): „Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt. Herkunft aber bleibt stets Zukunft.“

Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Kant

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Heideggers nicht offen ausgesprochene Klage entspringt der Diagnose unserer immanentistischen und insofern trostlosen Zeit, die dennoch unbemerkt von unvordenklichem Jubel lebt.77 Literaturverzeichnis Augustinus, Aurelius: CAG: Corpus Augustinianum Gissense. – (2006) Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X/Bekenntnisse 10. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer. Lateinisch-deutsch. Philosophische Bibliothek 584. Hamburg: Meiner. Descartes, Rene: AT; PhB. AdamTannery: Œuvres de Descartes. Dörflinger, Bernd (2004): Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. von Norbert Fischer, Hamburg, S. 207 – 223. Fischer, Norbert (1987): Augustins Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der Chorismos-Problematik, Bonn. – (2002) Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. Zu ihrer Interpretation im Anschluß an Gedanken von Emmanuel Levinas, in: Religion, Moderne, Postmoderne. Philosophisch-theologische Erkundungen, hg. von Klaus Dethloff/Ludwig Nagl/Friedrich Wolfram. Berlin, S. 229 – 262. – (2004) Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. von Norbert Fischer, Hamburg, S. 111 – 130. – (2005a) foris-intus, in: Augustinus-Lexikon, Vol. 3, hg. von Cornelius Mayer, Basel/Stuttgart Fasc. 1/2., S. 37 – 45. – (Hg.) (2005b): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg/Basel/Wien. – (2005c) Müssen Katholiken weiterhin Furcht vor Kant haben? Kants Philosophie als ,ancilla theologiae‘, Eichstätter Universitätsreden, Band 114, Wolnzach. – (2007) Deum et animam scire cupio. Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen, in: Agostino e la tradizione agostiniana/Augustinus und die Augustinische Tradition, hg. von Costantino Esposito/Pasquale Porro, Quaestio/Annuario di storia della metafisica, Band 6/2006, Turnhout-Bari, S. 81 – 101. – (Hg.) (2010) Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ,Kritik der reinen Vernunft‘, Hamburg. – (2011) Das Gewagtsein des Menschen. Heideggers Rilke-Deutung als Spur des Denkens auf dem Weg der Gottesfrage, in: Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, hg. von Norbert Fischer und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hamburg, S. 149 – 173. – (Hg.): Die Gnadenlehre als ,salto mortale‘ der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant, Freiburg/München 2012. 77

Zum Beispiel Wozu Dichter? Vgl. dazu Fischer (2011).

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– (2013a) Endzweck Mensch. Zum Sinn der Schöpfung nach Immanuel Kant, in: Michael Hofer/Christopher Meiller/Hans Schelkshorn/Kurt Appel (Hg.): Der Endzweck der Schöpfung. Zu den Schlussparagraphen (§§ 84 – 91) in Kants ,Kritik der Urteilskraft‘, Freiburg, S. 193 – 218. – (2013b) Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas als kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant, in: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. von Norbert Fischer und Jakub Sirovátka, Hamburg, 49 – 85. Heidegger, Martin (1975ff): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittsangabe). von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (2011a): Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, in: Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, hg. von Norbert Fischer und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hamburg, S. 31 – 45. – (2011b) Descartes‘ Meditationen, Frankfurt am Main. – (2012) Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, in: Endlichkeit und Transzendenz. Perspektiven einer Grundbeziehung, hg. von Jakub Sirovátka, Hamburg, S. 153 – 184. Kant, Imannuel: Originalausgaben; AA: Akademie-Ausgabe. Langthaler, Rudolf (1991): Kants Ethik als ,System der Zwecke‘. Perspektiven einer modifizierten Idee der ,moralischen Teleologie‘ und Ethikotheologie, Berlin u. a. Levinas, Emmanuel (41984): Le primat de la raison pure pratique. In: Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité (1961). Den Haag: Nijhoff. Mendelssohn, Moses (1974): Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes. Berlin 1785. Jetzt in: Gesammelte Schriften III/2. Bearbeitet von Leo Strauss, Stuttgart: FrommannHolzboog, 1 – 175. Nietzsche, Friedrich (1980): Kritische Studienausgabe (KSA). Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Walter de Gruyter: Berlin u. New York (zitiert nach KSA). Platon (1970 – 1983): Werke in acht Bänden. Griech./dt., hg. v. G. Eigler. Darmstadt: WBG. Scheler, Max (61980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (1916), Bern. Teichner, Wilhelm (1984): Mensch und Gott in der Entfremdung, Freiburg/München. Thomas von Aquin (1961): Summa theologiae. Madrid: Biblioteca de Autores cristianos. Wundt, Max (1924): Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, Stuttgart.

Weitere Hinweise zu Werkausgaben CAG: Corpus Augustinianum Gissense. A Cornelio Mayer editum (CD-ROM). Würzburg 2 2003); derzeit beste und vollständigste Ausgabe der Werke Augustins. AA: Akademie-Ausgabe; Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Bde. 1 – 22); von der Deutschen Akademie der Wis-

Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Kant

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senschaften zu Berlin (Bd. 23); von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (ab Bd. 24); Berlin: de Gruyter 1900 ff. AT: OEuvres de Descartes. 11 Vol. Ed. Par Charles Adam et Paul Tannery. Paris: Cerf 1897 – 1913 (Neuauflage Paris 1964 – 1967).

Verwendete Siglen AA: Akademie-Ausgabe (Kant) AT: AdamTannery: OEuvres de Descartes CAG: Corpus Augustinianum Gissense conf.: Confessiones (Augustinus) FW: Die Fröhliche Wissenschaft (Nietzsche) GA: Martin Hiedegger Gesamtausgabe GMS: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant) KDBS: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (Heidegger) KGkM: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik (Norbert Fischer; Hg.) KPM: Kant und das Problem der Metaphysik (Heidegger) KpV: Kritik der praktischen Vernunft (Kant) KrV: Kritik der reinen Vernunft (Kant) KSA: Kritische Studienausgabe (Nietzsche) KU: Kritik der Urteilskraft (Kant) NWGit: Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ (Heidegger) RGV: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant) S.th.: Summa theologiae (Thomas von Aquin) SO: Die Sonette an Orpheus (Rilke) sol.: Soliloquia (Augustinus) SuZ: Sein und Zeit (Heidegger) SwL: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekenntnisse 10. TI: Totalité et Infini (Levinas) ZuS: Zeit und Sein (Heidegger).

Metaphysik – Aufgabe von Unaufgebbarem Günther Pöltner Der Titel der folgenden knappen Überlegungen ist zweideutig – entsprechend der Zweideutigkeit des Wortes ,Aufgabe‘. Einmal bedeutet ,Aufgabe‘ so viel wie ,Beendigung‘ (Beendigung von etwas Aussichtslosem, nicht mehr weiter Möglichem oder Durchzuhaltendem – z. B. einen Kampf aufgeben). Sodann meint ,Aufgabe‘ etwas Anvertrautes, einen an uns gerichteten Anspruch, dem entsprochen werden möchte (eine Aufgabe erfüllen, einer Aufgabe nachkommen). Metaphysik, so die These, ist beides. Sie ist einerseits aufzugeben, weil die Möglichkeiten einer Weise, Metaphysik zu treiben, erschöpft sind. Andererseits bleibt Metaphysik eine Aufgabe, weil es eine andere Weise metaphysischen Fragens gibt, die um unseres Menschseins willen unaufgebbar bleibt. Die metaphysikkritische These, Metaphysik sei mit Platonismus identisch, ist einseitig und so nicht aufrechtzuerhalten. I. Metaphysik in der Kritik – Metaphysik als Begründungsdenken 1. Metaphysik in der Kritik Postmoderne Kritik – für sie stehe exemplarisch Vattimos, sich an Nietzsche und Heidegger orientierende Kritik – erblickt in der Metaphysik eine im Zeichen von Gewalt stehende Grundstellung des Denkens, die alle Formen des Weltbezugs mehr oder minder durchherrscht – mit allen theoretischen und praktischen Konsequenzen. „Und die Kritik der Metaphysik (…) besteht darin, die Metaphysik als eine Manifestation von Gewalt zu entlarven“1. (Hinter dieser Formulierung steht Heideggers Rede von der Seinsvergessenheit der Metaphysik als einer Machenschaft des Denkens, vom Ge-stell als dem Wesen der modernen Technik, in der sich die mit Platonismus identische Metaphysik vollendet, d. h. ihre Möglichkeiten erschöpft). a) Metaphysisches Denken als gewaltsames Denken Vattimo erwähnt neben anderen Lyotard und Adorno. Nach Lyotard ist die Moderne von teleologischen Geschichtstheorien, sogenannten ,Meta-Erzählungen‘, beherrscht, deren Leitidee das theoretische und praktische Weltverhältnis des Menschen bestimmt. Die Geschichte ist nach diesen Meta-Erzählungen dadurch legiti1

Vattimo (2003), S. 80.

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miert, daß sie sich als Gang auf ein positives Endziel hin, als Befreiung zur Freiheit begreifen läßt. Für die Aufklärung z. B. liegt das Geschichtsziel in der Emanzipation der Menschheit, für den Idealismus im Bei-sich-Sein des Geistes, für den Marxismus in der befriedeten klassenlosen Gesellschaft. Diese Meta-Erzählungen sind unglaubwürdig geworden, ist doch deren Leitidee immer schon ideologischer, gewaltsamer Natur gewesen.2 Für die postmoderne Kritik ist metaphysisches Denken ein Denken der Gewalt. Denn es verschreibt sich einem totalitären Einheits- und Ganzheitsbegriff, der das Plurale unterdrückt und dadurch Zwang und Terror Vorschub leistet. Also kann es Freiheit umgekehrt erst nach einer Verabschiedung dieses metaphysischen Einheits- und Ganzheitsdenkens geben. Es ist die Geschichtslosigkeit der Metaphysik, die ihrem Denken einen gewaltsamen Charakter verleiht, der metaphysische Glaube an eine „beständige Seinsstruktur, die das Werden trägt und der Erkenntnis Sinn beziehungsweise dem Verhalten eine Norm verleiht“3. Nach Vattimo geht es um die „Entlarvung der Gewalt der metaphysischen Universalität“4. Was den gewaltsamen Charakter metaphysischen Denkens betrifft, weiß sich die postmoderne Kritik mit Adorno einig. Für Adorno besteht das Gewaltsame der Metaphysik in der Vorherrschaft des Allgemeinen, des Begriffs, wodurch das Individuelle zum bloßen Exemplar degradiert und „die Rechte des Sinnlichen und Vergänglichen mit der Behauptung von universalen und abstrakten Wesenheiten“ verdeckt und ausgelöscht werden.5 Nach Vattimo kommt bei Adorno das Wesentliche der gegenwärtigen Metaphysikkritik klar zum Ausdruck: „Es ist die geschichtliche Erfahrung der Gewalt, die an die Metaphysik gebunden scheint, in deren Namen sich das Denken gegen die Metaphysik auflehnt: nicht nur die Gewalt von Auschwitz, sondern auch die Gewalt der Gesellschaft der totalen Organisation, die durch den metaphysischen Essentialismus und all die Verdrängungen des Vergänglichen, welche die ,Kultur‘ ausmachen, vorbereitet und ermöglicht wurde“6. Das Beständige ist das Gewaltsame, weil es das Wandelbare zu etwas Uneigentlichem degradiert. In den Augen der Kritik ist Metaphysik identisch mit einer platonistischen Zweiweltenlehre, mit der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sein7, wobei das (eigentliche) Sein mit „Ewigkeit und Beständigkeit“ identifiziert wird.8 Mit der platonistischen Etablierung einer zeitenthoben-ungeschichtlichen Welt übersinnlicher Wesenheiten wird die dem zeitlichen Wandel und der Vergänglichkeit unterliegende Welt des Sinnlichen abgewertet und um ihr Ureigenstes gebracht. Mit dieser Welt ist es im Grunde nichts, 2

Zwar sind auch für Vattimo die Metaerzählungen an ihr Ende gekommen, aber deshalb nicht einfach vergangen. Denn – so die Kritik an Lyotard – man könne das Ende der Metaerzählungen wiederum nur erzählen. D.h. man müsse die Gründe aufzeigen, warum es zum Ende gekommen ist. Das Plädoyer für pure Pluralität sei zu wenig. 3 Vattimo (2003), S. 77. 4 Ebd., S. 85. 5 Ebd., S. 85. 6 Ebd., S. 86. 7 Vattimo (1986), S. 15. 8 Ebd., S. 17.

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muß sie doch angesichts der übersinnlichen, nur der Vernunft zugänglichen Ideen als das Unvollkommene und relativ Nicht-Seiende erscheinen. Allein diese übersinnliche, ,wahre‘ Welt ist eine „Mystifikation“9 oder mit Nietzsche gesprochen, eine „Fabel“.10 b) Metaphysisches Denken als begründendes Denken Diese Mystifikation ist einem Bedürfnis nach Sicherheit und Begründung erwachsen. Metaphysik befördert Gewalt, weil es in ihr um Begründung geht. Was „in ihrer ganzen Geschichte stets die Grundlage der metaphysischen Gewalt bildete, war der Verweis auf einen Grund“11, die Suche „nach den ersten Prinzipien, dem ontos on, dem Sein als Beständigkeit von Strukturen, welche die Erfahrungswelt begründen und legitimieren“12. Ein begründendes, um den Grund wissendes Denken ist ein Herrschaftswissen, weil es Wissen des Allgemeinen ist, genauer: weil das sich wissende Wissen, das sich selbst durchsichtige, seiner selbst mächtige Wissen das Grundsein des Grundes festlegt. Was Grund besagt, bestimmt sich von der Selbstgewißheit des Wissens her. Die Anfänge dieses Grunddenkens ortet Vattimo in der Stufung des Wissens, wie sie Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik vornimmt.13 Das Wissen um den Grund steht höher als das Wissen um das bloße Daß.14 Wer das bloße Daß-Wissen besitzt, verfügt noch nicht über das Gewußte. Erst mit dem Wissen um den Grund, d. h. mit dem Wissen darum, was etwas im Allgemeinen ist, kann man „über das gegründete Seiende verfügen“15. Wer um den Grund weiß, verfügt nicht nur über das Seiende, sondern steht auch höher als einer, der bloß um das Daß weiß. Die Metaphysik, so die Kritik, verstehe unter ,Grund‘ etwas Ungeschichtliches, dessen das Denken habhaft werden kann, etwas absolut Unerschütterliches: „Grund (absolutum et inconcussum)“16.17 9

Ebd., S. 17. „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ (Nietzsche, KSA 6 (= Götzen-Dämmerung), S. 80 f.). 11 Vattimo (2003), S. 90 f. 12 Ebd., S. 46. 13 Aristoteles, Met. I, 1, 980 ff. 14 „Dennoch aber glauben wir, daß Wissen und Verstehen mehr der Kunst zukomme als der Erfahrung und halten die Künstler für weiser als die Erfahrenen, da Weisheit einem jeden mehr nach dem Maßstab des Wissens zuzuschreiben sei. Und dies deshalb, weil die einen die Ursache (AITIA) kennen, die anderen nicht. Denn die Erfahrenen kennen nur das Daß (TO HOTI), aber nicht das Warum; jene aber kennen das Warum und die Ursache“ (Aristoteles, Met. I, 1, 981 a). 15 Vattimo (1986), S. 71. 16 Ebd., S. 89. 17 Den Gegensatz zum metaphysischen Grunddenken bildet das hermeneutische Begründungsdenken. Dieses – Vattimo nennt als Beispiel Heideggers Ereignisdenken – eröffne „den Zugang nicht zu einem Grund (absolutum et inconcussum), sondern zu einem Schwingungs10

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c) Metaphysik als Onto-Theologie Das Gewaltsame der Metaphysik hängt näherhin an ihrer onto-theologischen Verfassung. Metaphysik ist „nicht nur die Gewalt der Unterordnung von allem unter ein Universales“, sondern betreibt auch „die Gleichsetzung dieses Universalen mit einem Seienden – dem Grund, der arché, dem ersten Prinzip, der Autorität“18. Diese Kritik übernimmt Heideggers Gedanken, wonach die Metaphysik die ontologische Differenz von Seiendem und Sein in Form eines Kreisganges denkt. In einem ersten Schritt wird das Sein als Grund des Seienden gedacht, in einem zweiten Schritt wird jedoch das Sein in ein höchstes Seiendes verlegt. Da dieses die Fülle des Seins besitzt, kann es nun umgekehrt als Grund des Seins fungieren.19 Das höchste Seiende, das am meisten Seiende, das Seiendste – das THEION – gründet somit das Sein auf die Weise eines Seienden, nämlich durch Verursachung.20 Dieses höchste Seiende verkörpert in sich den Sinn von Sein – lautere Präsenz, lautere Entborgenheit ohne jegliche Verbergung – auf höchste, vollkommene Weise. Kurz: Die Metaphysik begründet das Seiende durch Rückführung auf das Seinsideal. Dieses höchste Seiende ist der Gott der Metaphysik, zu dem nach Heideggers bekanntem Wort der Mensch weder beten, noch opfern, weder aus Scheu ins Knie fallen, noch vor ihm musizieren und tanzen kann.21

bereich (…), in dem jede Eignung, jedes Sichgeben von etwas als etwas in einer Bewegung der Übereignung hängt“ (Vattimo 1986, S. 89). 18 Vattimo (2003), S. 98. 19 „Die Metaphysik anerkennt zwar: Seiendes ist nicht ohne Sein. Aber kaum gesagt, verlegt sie das Sein wiederum in ein Seiendes, sei dieses das höchste Seiende im Sinne der obersten Ursache, sei es das ausgezeichnete Seiende im Sinne des Subjektes der Subjektivität als der Bedingung der Möglichkeit aller Objektivität, sei es, in der Konsequenz der Zusammengehörigkeit beider Begründungen des Seins im Seienden, die Bestimmung des höchsten Seienden als des Absoluten im Sinne der unbedingten Subjektivität“ (GA 6.2, S. 312 f). Deshalb ist die Metaphysik in ihrem Wesen Nihilismus: mit dem Sein ist es nichts. Indem die Metaphysik das Sein in ein Seiendes verlegt, sieht sie „ihr Erstes und Letztes in der entsprechenden Erklärung des Seienden aus seinem seienden Grunde“ (GA 6.2, S. 326). Die Metaphysik stellt „das Seiende als solches im Ganzen, die Seiendheit des Seienden vor (die OUSIA des ON). Aber die Metaphysik stellt die Seiendheit in zweifacher Weise vor: einmal das Ganze des Seienden als solchen im Sinne seiner allgemeinsten Züge (ON KATHOLOU, KOINON); zugleich aber das Ganze des Seienden als solchen im Sinne des höchsten und darum göttlichen Seienden (ON KATHOLOU, AKROTATON, THEION)“ (GA 9, S. 378). 20 „Die Auseinandergetragenen sind dergestalt in den Austrag verspannt, daß nicht nur Sein als Grund das Seiende gründet, sondern das Seiende seinerseits auf seine Weise das Sein gründet, es verursacht. Solches vermag das Seiende nur, insofern es die Fülle des Seins ,ist‘: als das Seiendste“ (GA 11, S. 75). 21 GA 11, S. 77. Verursachung ist ein ontisches Verhältnis. Das Seiende als verursacht vorstellen bedeutet, das Sein des Seienden durch Rückführung auf Seiendes erklären. „Das Ursache-Wirkung-Verhältnis aber ist das Gemeinste und Gröbste und Nächste, was alle menschliche Berechnung und Verlorenheit an das Seiende sich zuhilfe nimmt, um etwas zu erklären, d. h. in die Klarheit des Gemeinen und Gewohnten zu rücken“. (GA 65, S. 110).

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d) Das Ende metaphysischen Begründungsdenkens Vom metaphysischen „begründenden Denken“ wird nun gesagt, mit ihm sei es nichts mehr.22 Philosophie könne nicht mehr als „Begründungsarbeit“ gedacht werden, „das Ideal des Denkens als Begründung (…), das an die Vorstellung des Seins als Grund/ Grundlage und Struktur gebunden ist“, hat sich „abgenutzt“23. Es ist auch die Rede von einem „Überflüssigwerden von letzten Erklärungen, von Prinzipien und auch vom verantwortlichen Subjekt“24. Mit anderen Worten: Gott ist tot. Wir gewahren das „Ende des Gründungsdenkens, der Autorität und des Grundes; daher auch das Ende jedes Gewaltmenschen, jener Gewalt, die mit dem ,Heiligen‘ einhergeht“25. Mit dem Gründungsdenken ist es aus zwei Gründen nichts mehr. Erstens besteht nach ihm kein Bedarf mehr. Im Zeitalter des Endes der Metaphysik gibt es nicht mehr das Bedürfnis nach Sicherheit und Gewißheit, dem die Vorstellung eines überzeitlichen und deshalb haltgebenden Grundes entspringt. Wir haben es mit einer Menschheit zu tun, „die im Zeitalter einer wenn auch nur relativen Sicherheit lebt und deshalb anders als das begründende Denken keiner letzten Lösungen und Vergewisserungen mehr bedarf“26. „Das spätmoderne Leben hofft nach Nietzsche – aber auch nach Heidegger, wie ich glaube – auf keine Versicherung durch die archai mehr, die sie als vorläufig, mystifizierend und als menschlich, allzumenschlich zu betrachten gelernt hat“27. Zweitens ist das Begründungsdenken zu Ende, weil es eine „Welt der totalen technisch-wissenschaftlichen Organisation“ heraufgeführt hat, in der das Menschsein des Menschen radikal bedroht ist. In einer solchen Welt läßt sich „das Dasein aufgrund der Vorherrschaft der Vorhandenheit nicht nur nicht ,denken‘“, sondern das Dasein kann „in einem radikalen Sinne nicht ,dasein‘“28. e) Das Motiv einer Überwindung der Metaphysik Die postmoderne Kritik an der Metaphysik erfolgt „nicht im Namen theoretischer Gründe“29. Denn das würde bedeuten, Metaphysik habe eine falsche oder inadäquate Weltsicht vermittelt, die durch eine richtige oder adäquatere ersetzt werden müßte, oder Sätze der Metaphysik seien falsch oder unsinnig. „Die Ablehnung der Metaphysik aus ,Erkenntnisgründen‘ (…) hat (…) keinerlei Bedeutung mehr“30. Es geht weder um eine Verbesserung noch um eine Ergänzung der Metaphysik. Solche Ver22

Vattimo (2003), S. 50. Ebd., S. 51. 24 Vattimo (1986), S. 43. 25 Vattimo (2003), S. 81. 26 Ebd., S. 54. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 81. 29 Ebd., S. 80. 30 Ebd. 23

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suche wären selbst noch metaphysischer Art und blieben der metaphysischen Grundstellung verhaftet. „Wenn dem so wäre, würden wir immer noch Gefangene einer anderen Metaphysik sein“31. Es geht um einen Wandel der Grundstellung des Denkens, um eine Überwindung der Metaphysik – für Vattimo in die Richtung eines ,schwachen Denkens‘, d.i. „von den starken Einheiten zu den schwachen Vielfältigkeiten, von der Herrschaft zur Freiheit, vom Autoritarismus zur Demokratie“32. Und das bedeutet für ihn: „keine Systeme mehr, keine allumfassenden Ideologien, keine Vernunft, die ,im Mittelpunkt steht‘“33. Für die Überwindung gibt es zwei Gründe: „Es ist freilich unbestreitbar, daß der Grund für die zeitgenössische Problematik einer Überwindung der Metaphysik ein ethischer, und mehr noch, ein religiöser ist“34. Diese Bemerkung wirft ein erhellendes Licht auf das tiefere Anliegen der Kritik. Es darf hier an Heideggers aus dem Jahr 1922 stammende Gegenüberstellung von ,spekulativ‘ und ,religiös‘ erinnert werden.35 Heidegger bemerkt hier, Aristoteles – der Name darf an dieser Stelle stellvertretend für die Onto-Theologie genommen werden – gelange zum Göttlichen auf spekulativem Weg über die Idee des Bewegtseins: „Die Idee des Göttlichen ist aber für Aristoteles nicht in der Explikation eines in religiöser Grunderfahrung zugänglich gewordenen Gegenständlichen erwachsen, das THEION ist vielmehr der Ausdruck für den höchsten Seinscharakter, der sich in der ontologischen Radikalisierung der Idee des Bewegtseienden ergibt“36.37 Das Göttliche ist dasjenige Seiende, welches „der Idee des Bewegtseins als solchen am reinsten genügt“38.39 ,Spekulativ‘ ist die Bezeichnung für eine Zugangsart und bildet den Gegensatz zu ,religiös‘. Eine spekulative Gotteserkenntnis entstammt nicht einer Erfahrung des Seins, sondern gelangt zu dem ,Gott‘ oder ,göttlich‘ Genannten auf dem Wege der Explikation einer Seinsidee. Gott ist dasjenige Seiende,

31

Ebd., S. 77. Vattimo (2002), S. 104. 33 Ebd. 34 Vattimo (2003), S. 104. 35 Sie findet sich in Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (GA 62). 36 GA 62, S. 389. 37 Was Gott genannt wird, ist „Titel für das höchste Seiende. An dessen Seinsart wird sichtbar, wie eine Ontologie, die so von Gott handelt, das Sein versteht“ (GA 23, S. 77). „Ontologische Konstruktion des eigentlich absolut Seienden (Gottes) für die Scholastik am Leitfaden der Dinge“ (GA 23, S. 79). 38 GA 62, S. 389. 39 In der Einleitung in die Phänomenologie der Religion heißt es: „Es ist ein Abfall vom eigentlichen Verstehen, wenn Gott primär als Gegenstand der Spekulation gefaßt wird. Das ist nur einzusehen, wenn man die Explikation der begrifflichen Zusammenhänge durchführt. Dies ist aber niemals versucht worden, weil die griechische Philosophie sich in das Christentum eingedrängt hat. Nur Luther hat einen Vorstoß in dieser Richtung gemacht, und von daher ist sein Haß auf Aristoteles erklärlich“ (GA 60, S. 97). 32

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welches dieser Idee auf vollkommene Weise entspricht. Gott ist deshalb das höchste Seiende, die seiende Seinsidee. f) Metaphysik als Wesensmetaphysik Aus den knappen Bemerkungen geht hervor, daß die Kritik unter ,Metaphysik‘ die Ausarbeitung des begriffslogischen, nominalen Seinsverständnisses einer Wesensmetaphysik versteht.40 Diese Metaphysik denkt zwar das Seiende als Seiendes, aber das Sein wird als das Allerallgemeinste, als die Seiendheit (entitas) des Seienden angesetzt (wie das ,Baumhafte‘ das Allgemeine der Bäume ausmacht). Als das Allerallgemeinste ist Sein das Abstrakteste, dasjenige, was unterschiedslos von allem und jedem gesagt werden kann – nämlich überhaupt etwas und nicht nichts zu sein. Als das Allgemeinste ist es das Leerste und Unbestimmteste. Sein wird nicht als Sein gedacht, sondern begriffslogisch vom Seienden her durch Verallgemeinerung gewonnen. Das Seiende wird nicht als das konkret Anwesende, sondern als ens possibile, als das widerspruchsfrei Denkbare begriffen. Dementsprechend wird das konkrete Anwesen des Seienden als Zustand faktischen Daseins (Existenz) einer Wesenheit (essentia) verstanden. Sein wird letztlich auf bedeutungsnackte Setzung, als positio extra causas et nihilum reduziert. Die Wesenheit (und in eins damit das begriffslogische Denken) hat den Vorrang vor dem auf einen Existenzzustand reduzierten Sein. Aller Sachgehalt (realitas) liegt in der essentia, die existentia bezeichnet bloß deren Aktualitätszustand. Ein solcherart begriffslogisch angesetztes bedeutungsloses Sein gibt nichts zu verstehen. Dieses begriffslogische Seinsverständnis, dessen mittelalterlichen Wurzeln bei Duns Scotus liegen, hat über Vermittlung der spanischen Scholastik (Suarez) über Jahrhunderte hinweg die Metaphysik bestimmt.41 Auch Heideggers Kritik setzt dieses Seinsverständnis voraus,42 wie auch seine Interpretation des mittelalterlichen Seinsverständnisses zeigt.43 40 Durch „den metaphysischen Essentialismus“ sei die „Gewalt von Auschwitz“ und die „Gewalt der Gesellschaft der totalen Organisation“ „vorbereitet und ermöglicht“ worden (Vattimo 2003, S. 86). 41 Kant: Sein ist „bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst“ (KdV, B 626). Und weil Sein „kein reales Prädikat“ ist, sondern bloß die Funktion einer Kopula besitzt, sind hundert wirkliche Taler nicht mehr als hundert mögliche. Wäre es anders, „würde nicht eben dasselbe, sondern mehr existieren, als ich im Begriffe gedacht hatte“ (KdV, B 628). Dieses Seinsverständnis bestimmt auch Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie. Die negative Philosophie, die reine Vernunftwissenschaft, begreift „das Wesen der Dinge (…), den Inhalt alles Seyns“ (WW XIII, S. 95), die Vernunft begreift demnach „das Wirkliche, aber darum nicht die Wirklichkeit“ (WW XIII, S. 61). 42 Nach Heidegger wird die Seinsfrage für überflüssig gehalten, weil Sein als der allgemeinste Begriff, als undefinierbar und als der selbstverständlichste Begriff gilt (GA 2, S. 4 f). „Wenn Heidegger sich nunmehr auf Grund seines zeitlichen Seinsverständnisses kritisch von der überkommenen Ontologie absetzt, so bildet das skotische und skotistische Seinsverständnis die bleibende, niemals revidierte Folie“ (Wucherer-Huldenfeld, S. 52). 43 Es kommen hier insbesondere GA 23 und GA 24 in Betracht. Vgl. dazu: Pöltner (2003), und Pöltner (2011).

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II. Der Denkanstoß In unserem Zusammenhang geht es nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit der postmodernen Kritik an der Metaphysik und der Form ihrer Überwindung, sondern darum, das Bedenkenswerte dieser Kritik fruchtbar zu machen – das allerdings im Lichte der Frage, ob die Kritik metaphysischem Denken insgesamt gerecht wird, wenn dieses auf das Seinsverständnis einer Wesensmetaphysik festgenagelt wird. Ein als Metaphysik sich verstehendes Denken ist ja keineswegs ein monolithischer Block, als welcher es im Lichte der postmodernen Kritik erscheint. Postmodernem Denken, das bekanntlich auf Pluralität setzt, darf wohl eine Sensibilität für die Vielgestaltigkeit metaphysischen Denkens zugetraut werden. Wie auch immer: Die Kritik ist fruchtbar, weil sie kraft ihrer (im besten Wortsinn) provokativen Art auf Nebenströme eines metaphysischen Denkens aufmerksam werden läßt, das keineswegs dem postmodernen Vorverständnis von Metaphysik entspricht. Metaphysik ist nicht gleichbedeutend mit der Ausarbeitung eines begriffslogischen Seinsverständnisses und eines Denkens, dem es um ein Verfügen über den Grund und damit um die Verfügbarkeit über das Seiende geht. Grund ist nicht identisch mit einer verfügbaren ratio sufficiens reddenda. 1. Der Ansatz eines seinsmetaphysischen Denkens Es sei hier auf das bei Thomas sich findende verbale Seinsverständnis verwiesen, das der Grunderfahrung des Seins als sich ereignenden Anwesens, Währens und Gewährens entstammt. Thomas geht nicht aus von einem begrifflich faßbaren Wesen, zu dem eine außerlogische Existenz hinzutreten kann. Das Seiende ist nicht eine in den Zustand der Existenz versetzte denkmögliche Wesenheit, sondern das, was ist44, d. h. das in und von seinem Anwesen her erfahrene konkrete Seiende45. Seiend (ens) wird etwas genannt herkommend vom Seinsvollzug („ab actu essendi“), vom sich ereignenden Sein. Sein wird nicht vom Seienden her als dessen Seiendheit, sondern umgekehrt wird Seiendes vom sich ereignenden Sein her verstanden. Beides gilt es zu unterscheiden46. Das diesbezügliche Beispiel des Thomas lautet: Das Sein ist das, wodurch etwas ist, so wie der Lauf das ist, wodurch einer läuft, d. h. ein Läufer ist47. Weil sich seine Anwesenheit in der Weise des Laufens ereignet, ist der Läufer der, der er ist.48 Das Anwesen, das Sein des Seienden ist aber selbst nichts Anwesen-

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„ens sive id quod est“, In Boethii De Hebd. n. 23. „ens sumitur ab actu essendi“, Ver. 1, 1. 46 „distinguitur actus essendi ab eo cui actus ille convenit. Ratio autem entis ab actu essendi sumitur, non ab eo cui convenit actus essendi“, Ver. 1, 1 ad 3 in contr. 47 „ipsum esse est quo aliquid est, sicut cursus est quo aliquis currit“, De an. 6. 48 Der Modus seines Sich-Zeigens (sein Laufen) ist der Grund dafür (id quo), daß er ein Läufer ist. 45

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des. Und wie man nicht sagen kann, daß das Laufen läuft, so auch nicht vom Sein, daß es ist49. Thomas erklärt ausdrücklich, das Wort ,sein‘ meine einen Vollzug50. ,Sein‘ ist nicht das allgemeinste Prädikat, sondern ist verbal zu verstehen. ,Actus‘, ,agere‘ hat eine primär ontologische (actus essendi!)) und nicht eine ontische Bedeutung. Agere meint in erster Linie nicht ein kategorial bestimmbares Tun oder Machen eines Seienden, nicht ein Bewirken einer ontischen Ursache, sondern besagt communicare, Mitteilen, Sich-erschließen, In-Erscheinung-Treten, Anwesen51. Seiendes gründet im Sein. Es ist, weil ihm Sein zukommt, ihm zu sein gegeben ist, weil es Sein empfängt, ihm Sein zu eigen gegeben ist52, so daß es den Grund seiner Eigenständigkeit in sich hat, d. h. subsistiert53. Das Seiende ist ein per se ens, als Seiendes ist es zu sich, in seine Selbständigkeit (Subsistenz) freigegeben. Zu sein besagt für das Seiende: sich gegeben sein. Sein ureigenstes Sein ereignet sich als Gabe54. Gründung wird als Seinsmitteilung55, Anteilgabe am Sein verstanden, nicht aber bestimmt irgendein ontisches Kausalverhältnis den Sinn von Gründung56. Sein gibt Grund, indem Seiendes Grund nimmt. Die Seinsgabe führt nicht zu repressiver Abhängigkeit, vielmehr waltet die Gründung als radikales Freigeben57, als Freigabe zu selbständigem Sein und Wirken58. Die Seinsgründung ist in einem zweifachen Sinn radikal: (1) Sie erfolgt einzig um des Seienden willen. Das Sein ereignet sich, damit Seiendes sei59. Seiendes unterliegt keinem Vorrang des Allgemeinen, es ist kein Exemplar und als solches etwas grundsätzlich Unvollkommenes, weil keines die Wesenheit voll verwirklichen kann, diese das unerreichbare Ideal bleibt. Es ist nicht das Unvollkommene, zu dessen Erklärung auf ein höchst Vollkommenes zurückgegriffen werden müßte. Vielmehr ist Seiendes, indem es am Sein – dem singulare schlechthin – teilnimmt60. Und weil es am singulare schlechthin teilnimmt, weist jedes Seiende ein irreduzibles Moment auf, ist jedes

49 „sicut non possumus dicere quod ipsum currere currat, ita non possumus dicere quod ipsum esse sit“, In Boethii De Hebd. n. 23. 50 „esse actum quendam nominat“, ScG I 22, n. 208. 51 „agere vero nihil aliud est quam communicare“, Pot. 1, 2. 52 „ens simpliciter est quod habet esse“, STh I-II, 26, 4. 53 „illi enim proprie convenit esse, quod habet esse; et hoc est subsistens in suo esse“, STh I, 45, 4. 54 „donum quod est per se esse“, De Div. Nom. Nr. 639. 55 „esse communicat“, STh I, 104 4. 56 „ex hoc, quod aliquid per participationem est ens sequitur quod est causatum ab alio“, STh I, 44, 1 ad 1. 57 „actio qua dat esse“ STh I, 104 1, ad 4. 58 „dans eis esse et virtutem et operationem“, STh I, 8, 2. 59 „ut essent omnia“, Pot. 5, 4. 60 „omnis res est (…) participatione alicuius, scilicet ipsius esse“, ScG I, 22, n. 210.

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Seiende auf seine Weise ein singulare. Es partizipiert, indem es die Seinsfülle repräsentiert61, d. h. die Seinsfülle teilweise (non totaliter) ist.62 Seiendes ist Seinssymbol. (2) Die Gründung ist radikal, weil der Seinsgabe keine empfangende Instanz gegenübersteht, vielmehr die Seinsmitteilung (das communicare als ein dare esse) das empfangende Seiende allererst er-gibt. Die Seinsmitteilung ereignet sich als die ontologische Differenz von Seiendem und Sein. Seiendes ist, indem es dem Geben (dare esse) eingeborgen bleibt, und dieses sich zugunsten der Gabe verbirgt. Deshalb ist das Sein das Innerste des Seienden63. Weil die Freigabe das Sein des Seienden betrifft, entzieht sich das Woher des Gebens einer kategorialen Bestimmung64. Es ist nichts Seiendes, auch nicht das höchste Seiende (kein summum ens oder ens realissimum oder ens necessarium). Das Seinsverständnis des Thomas verweist in die Grunderfahrung einer Gewähr, des abgründigen Sich-Gegebenseins, des Seinkönnens als eines Sein-dürfens. Ersichtlicherweise liefert die Rede von einem Gründen als Seinsgabe keine Erklärung, wenn Erklären heißt, Seiendes auf Seiendes zurückführen. Hier wird nicht das „Ursache-Wirkung-Verhältnis“ auf die ontologische Differenz übertragen und etwas „in die Klarheit des Gemeinen und Gewohnten“ gerückt65, sondern die Abgründigkeit des Seinsgeheimnisses bedacht. Das ändert freilich nichts daran, daß Thomas auf weite Strecken hin die Sprache der Onto-Theologie spricht. Denkwürdig aber ist es, daß sich bei ihm ein anderer Ansatz der Seinsfrage finden läßt – und das dank der Kritik an der Wesensmetaphysik. 2. Denken des Grundes aus der Erfahrung selbsteigenen Anwesens Der Hinweis auf diesen anderen Ansatz metaphysischen Denkens will sagen, daß eine Überwindung der onto-theologisch verfaßten Metaphysik nicht einfach eine Verabschiedung des Grunddenkens sein kann. Vielmehr ist nach der ursprünglichen Erfahrung von dergleichen wie ,Grund‘ zu fragen. Woher stammt das Vorverständnis von ,Grund‘ und ,Gründung‘? Es versteht sich keineswegs von selbst, daß Grund dasjenige ist, was beizubringen und vorzustellen ist, worüber verfügt werden kann, so daß die Verfügung über den Grund die Verfügbarkeit des Seienden sicherstellt. Die Folgerung aus der Nicht-Objektivierbarkeit von Sein – daß Sein keine beschreibbare Tatsache ist – kann sich allerdings nicht in einer „hermeneutischen Begrün-

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„repraesentant“, STh I, 13, 2. „quod (…) non totaliter est aliquid (…) proprie participare dicitur“ (In Met I, n. 154). Teilhaben heißt nicht, einen Teil haben (partem capere), sondern das Woran der Teilhabe teilweise sein, d.i. anwesen lassen, repräsentieren. 63 „esse autem est illud quod est magis intimum cuilibet, et quod profundius inest omnium“, STh I, 8, 1. 64 „non continetur in aliquo genere“, STh I, 3, 5. 65 GA 65, S. 110. 62

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dung“66 erschöpfen. Daß sich Sein in und als Interpretation der Vernunft erschließt – eines als das andere geschieht – kann nicht heißen, daß die Interpretation keinen Referenten hat, d. h. daß das Interpretierte (weil keine beschreibbare Tatsache) wiederum eine Interpretation ist, so daß sich Sein in den endlosen Regreß von Interpretationen auflöst.67 Das führt uns zurück auf die eingangs zitierte Bemerkung, die Überwindung habe neben einem ethischen auch ein religiöses Motiv, und eine der Wurzeln der heute zutage getretenen Gewaltsamkeit metaphysischen Denkens bilde die aristotelische Stufung des Wissens. Doch scheint uns damit das der Frage Würdige des aristotelischen Textes noch nicht ganz zur Sprache gebracht. Es handelt sich um die Auslegung des Staunens und das Vorverständnis von Grund. Der Anfang des Philosophierens – dasjenige, woher das Philosophieren entspringt und worin es eingeborgen und wovon es durchstimmt ist – so die bekannte Formel, sei das THAUMAZEIN, das Staunen.68 Wie aber wird das Staunen ausgelegt? Staunen, so die Auskunft des Aristoteles, heißt Nicht-Wissen des Grundes, der Gründe.69 Das Staunen ist eine Form des Nicht-Wissens. Das Staunen wird vom Wissen her ausgelegt. Wissen aber besagt: Wissen um den Grund. Das aber bedeutet dann konsequenterweise: Das Wissen um den Grund bringt das Staunen zum Verschwinden. Wer um den Grund weiß, hat aufgehört zu staunen. Nicht mehr wird gestaunt, wo sich der Grund als Grund zeigt, gestaunt hingegen, wo er noch verborgen ist. Indem das Staunen als Nicht-Wissen des Grundes ausgelegt wird, wird die Verborgenheit übersprungen und zu etwas Vorläufigem gemacht. Nicht bedacht wird, inwiefern die Verborgenheit die Weise ist, wie sich der Quellgrund, dem alles entspringt, als Grund zu vernehmen gibt. Im Staunen und als Staunen entbirgt sich der Grund in seiner bleibenden Verborgenheit. Damit ist auch schon gesagt, daß ein Erklären der Seinsgabe im Sinne einer Rückführung auf ein zuhöchst Seiendes ausgespielt hat. Das onto-theologische Denken verweilt nicht bei seiner Frage-Erfahrung, es bedenkt nicht seinen Anfang, sondern benützt die Erfahrung des Staunens als Absprungbasis und verschließt sich so dem Geheimnis des Seins. Es versucht nicht, tiefer ins Staunen hineinzukommen, sondern aus ihm herauszukommen. Wer behauptet, das Staunen habe sich überholt und sei im Zeitalter der Wissenschaft oder der Postmoderne keine ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit, 66

Vattimo (1986), S. 79 „Was sich mir zu interpretieren gibt, itst immer schon das Ergebnis voraufgegangener Gestaltungsprozesse, die immer auch interpretativ sind. Es gibt also nie die Interpretation einer Tatsache, es gibt immer nur Interpretationen anderer Interpretationen“ (Interview Vattimos in: Weiß, S. 173). 68 „Denn Verwunderung (TO THAUMAZEIN) war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens“ (Aristoteles, Met. I, 2, 982 b). 69 „Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der Verwunderung darüber, ob sich etwas wirklich so verhält, (…) wenn sie die Ursachen (AITIA) noch nicht erforscht haben (…) denn verwunderlich erscheint es allen (anfänglich, sofern sie die Ursache noch nicht eingesehen haben (…)“ (Aristoteles, Met. I, 2, 983 a). 67

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darf auf das Erstaunliche des je eigenen leibhaftigen Dasein-könnens in der Offenständigkeit für eine gemeinsame, mit Anderen geteilte Welt verwiesen werden. Der Anfang, von dem her dieses zeitlich-geschichtliche Existieren in Weltoffenheit eröffnet ist, der Anfang, von dem her ich mir selbst gegeben bin, verbirgt sich. Sich auf diese Grunderfahrung – daß wir Zeit haben und uns zu sein gegeben wird – einzulassen, ist eine immer wieder sich eröffnende Möglichkeit, die freilich ein Innehalten und Sammlung erfordert.70 Mit ihr wäre einem metaphysischen Grunddenken anderer Art, d.i. einer Hermeneutik der erfahrenen Anfänglichkeit leibhaftigen Existierens, selbsteigenen Anwesens, der Weg gewiesen. Es geht nicht um ein ,grundloses‘, sondern um ein ,abgründiges‘ Denken, d.i. um ein in den Abgrund des Seinsgeheimnisses hineinreichendes Denken. Literaturverzeichnis Aristoteles (1978): Metaphysik. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg. Heidegger, Martin (1975 ff): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt 1975 ff (zit.: GA mit Bandzahl und Seitenangabe). Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg (zit.: KrV). Pöltner, Günther (2003): Zu Heideggers Auslegung der Seinsthese der mittelalterlichen Ontologie, in: H. Vetter (Hg.) Nach Heidegger, Frankfurt a.M., S. 161 – 183. – (2011) Heideggers Umgang mit Thomas von Aquin, in: Heidegger Studies 27, S. 177 – 195. Schelling, F.W.J. (1856 ff.): Sämtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/ Augsburg. Thomas von Aquin (zit.: nach der Ausgabe der Werke bei Marietti, Turin/Rom 1948 ff). Vattimo, Gianni (1986): Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, Wien. – (1997) Glauben – Philosophieren, Stuttgart. – (1997) Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt/New York. – (2002) Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, Freiburg. – (2003) Abschied. Theologie, Metaphysik und die Philosophie heute, Wien. 70

Wir können erfahren, „daß uns zu sein gegeben ist, daß wir zeitlich unser Sein empfangen und diese Anwesenheit (die Gewesenes und Kommendes als Abwesend-Anwesendes einschließt) Gabe ist. Wir haben zwar Zeit und können uns Zeit nehmen, aber nur eine Zeit, für die wir nicht die Geber sind. Wir verdanken alle Zeit einem Geben, das sich zugunsten der Vernehmbarkeit der Gabe verbirgt. Wir erfahren zwar in diesem Sichverbergen den Ursprung und die Herkunft unseres Seins in der Zeit. Doch was wir erblicken, wenn wir nach Herkunft und Ursprung unseres Seins fragen, das zeigt sich uns phänomenal eben als Nichts: das Nichts des Anfangs unseres Daseins“ (Wucherer-Huldenfeld, S. 340).

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Weiß, Martin G. (2003): Gianni Vattimo. Einführung. Mit einem Interview mit Gianni Vattimo, Wien. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus K. (1999): Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus und im Skotismus sowie im Thomismus und bei Thomas von Aquin, in: Vetter, Helmuth, (Hg.), Heidegger und das Mittelalter, Frankfurt, S. 41 – 59.

Vor der Metaphysik? Heidegger, Heraklit und die Suche nach einer „ursprünglicheren Logik“ Giuliana Gregorio Jede Auslegung ist ein Gespräch mit dem Werk und dem Spruch. Jedes Gespräch kommt indessen sogleich ins Stocken und ins Fruchtlose, wenn es sich nur im unmittelbar Gesprochenen einrichtet und sich darin versteift, statt daß die Sprechenden durch das Gespräch sich wechselweise erst in den Aufenthaltsort einlassen und sich zu ihm hinbringen, von dem her sie jeweils sprechen. Dieses Sicheinlassen ist die Seele des Gespräches. Es führt die Sprechenden ins Ungesprochene. […] Jede Konversation ist eine Art von Gespräch. Aber das eigentliche Gespräch ist niemals Konversation. Diese besteht darin, daß man sich am jeweils Gesprochenen entlang schlägt und sich auf das Ungesprochene gerade nicht einläßt. M. Heidegger, Was heißt Denken? Im Fall der Übersetzung von Worten des Heraklits ist die Not groß. Hier wird das Übersetzen zu einem Übersetzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist und jenseits eines breiten Stromes liegt. Da gibt es leicht eine Irrfahrt und zumeist endet sie mit einem Schiffbruch. M. Heidegger, Der Anfang des abendländischen Denkens

Das Ende bzw. die Vollendung der Metaphysik im technischen Zeitalter bedeutet bekanntlich für Heidegger nicht das Ende des Denkens schlechthin. Eine andere, postmetaphysische Art von Denken, ein Vor-denken (une „pensée qui va de l’avant en un mouvement prospectif“1 – übersetzt Marlène Zarader), soll sich aber für ihn immer als ein An-denken (une „pensée qui se retourne vers l’arrière en un mouvement rétrospectif“2) gestalten. Ein möglicher Weg zur Verwindung der Metaphysik (denn ihre Über-windung ist, wie Nietzsches tragisches Scheitern ein für allemal bewiesen hat, unrealisierbar3) ist also das andenkende Zurückgehen ins Anfängliche. Da die Metaphysik, als begründendes Projekt des Seienden, die Züge einer Onto-theo-logik aufweist, versucht Heidegger durch eine aneignende und oft gewaltsame Auseinandersetzung mit Heraklit die fast verwischten Spuren einer vor-, d. h. unmetaphysischen Vorstellung des Kºcor aufzufinden. Eine solche Vor1

Zarader (1990), S. 27. Ebd. 3 Siehe GA 44, GA 50, GA 6.2. Vgl. dazu u. a. David Farrell Krell: Heidegger/Nietzsche, in: Cahiers de l’Herne, 1983, S. 200 – 210; Wolfgang Müller-Lauter: Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, in: Hans-Helmut Gander (Hrsg.): „Verwechselt mich vor allem nicht!“. Heidegger und Nietzsche, Klostermann, Frankfurt a. M. 1994, S. 43 – 71; Pascal David: Der Metaphysikbegriff bei Nietzsche und Heidegger, ebd., S. 109 – 126. 2

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stellung könnte zu einer „anderen“ Logik führen – einer „ursprünglicheren“ Logik, die sich nicht mehr als eine „Metaphysik des kºcor“, sondern als Denken „des“ Kºcor selbst kennzeichnet. Dieser Versuch steht aber vor folgendem Problem: wenn Heraklit seit dem Altertum als b Sjoteimºr, „der Dunkle“, bezeichnet wurde, dann ist das „Dunkelste im Dunkeln“ seines Denkens eben der Kºcor. In diesem Wort versteckt sich nämlich nach Heidegger ein Rätsel, das durch die ganze abendländische Geschichte hindurch ungedacht geblieben ist, und zwar der „erregende“ Umstand, dass die ursprüngliche (,eigentliche‘) Bedeutung der Worte kºcor und k´ceim immerfort verdeckt geblieben bzw. sehr früh verlorengegangen ist zugunsten eines anderen, sekundären und nur abgeleiteten Wortsinnes. Diesem Rätsel, also dem „dunklen Wesen“ des Kºcor – wie es sich in Heideggers Auslegung der Fragmente Heraklits zeichnet4 –, möchte ich hier einige Überlegungen widmen.

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Zu Heideggers Interpretation von Heraklit siehe Jean Beaufret: Dialogue avec Heidegger. I: Philosophie grecque, Editions de Minuit, Paris 1973; Alexandre Lovit: Heidegger et les Grecs, in: Revue de métaphysique et de morale, LXXXVII, 1982, S. 104 – 126; Dennis J. Schmidt: Hegel and Heidegger as Interpreters of Heraclitus. On the Obscurity of the Origins, in: Philosophy Today, 26, 1982, S. 322 – 331; Michael Zimmerman: Heidegger and Heraclitus on Spiritual Practice, in: Philosophy Today, 27, 1983, S. 87 – 103; Kenneth Maly-Parvis Emad (Hrsg.): Heidegger on Heraclitus. A New Reading, Mellen, Lewiston/Queenston 1986; Mario Ruggenini: Parole fondamentali. Heidegger in ascolto di Eraclito, in: Giampiero Moretti (Hrsg.), Heideggeriana. Saggi e poesie nel decennale della morte di Martin Heidegger (1976 – 1986), Ed. Itinerari, Lanciano 1986, S. 149 – 177; Manfred S. Frings: Heraclitus: Heidegger’s 1943 Lecture held at Freiburg University, in: Journal of the British Society for Phenomenology, Vol. 21, No. 3, 1990, S. 250 – 264; ders.: Heraclitus: Heidegger’s 1944 Lecture held at Freiburg University, in: Journal of the British Society for Phenomenology, Vol. 22, No. 2, 1991, S. 65 – 82; ders.: Heidegger’s Lectures on Parmenides and Heraclitus (1942 – 1944), in: Journal of the British Society for Phenomenology, Vol. 22, No. 3, 1991, S. 197 – 199; Carlo Bertol: Heidegger e il pensiero iniziale. Le ‘Vorlesungen’ su Eraclito del 1943 e 1944, in: Verifiche, XX, 1991, S. 179 – 193; Werner Beierwaltes: Heideggers Rückgang zu den Griechen, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte. Jahrgang 1995, Heft 1, S. 5 – 30; David Schur: A phenomenal hiding place: Homer, Heraclitus, Heidegger, in: Analecta Husserliana, XLIV, 1995, S. 213 – 220; HansDieter Gondek: Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Alfred Hirsch (Hrsg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997, S. 263 – 348; Ludger Heidbrink: Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, ebd., S. 349 – 372; Ernesto Leibovich: Logos, ‘keraunos’ et ‘semainen’. A propos du Séminaire ‘Héraclite’, in: Natalie Depraz-Marc Richir (Hrsg.): Eugen Fink. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle 23 – 30 juillet 1994, Rodopi, Amsterdam 1997, S. 303 – 315; Ivo De Gennaro: Heidegger und die Griechen, in: Heidegger Studien, Vol. 16, 2000, S. 87 – 113; ders.: Logos – Heidegger liest Heraklit, Duncker & Humblot, Berlin 2001; Francesco Aronadio: Un colloquio di Heidegger con Eraclito. Logos (Heraklit Fr. 50), Bibliopolis, Napoli 2004; Daniel O. Dahlstrom: Being at the beginning: Heidegger’s interpretation of Heraclitus, in: ders. (Hrsg.): Interpreting Heidegger. Critical Essays, Cambridge University Press, Cambridge/New York 2011, S. 135 – 155; Adriano Ardovino: Interpretazioni fenomenologiche di Eraclito, Quodlibet, Macerata 2012.

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I. K´ceim und Sagen Die Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1944 trägt den Titel Logik. Heraklits Lehre vom Logos. Der Titel verrät die Hauptsorge Heideggers: fort von der herkömmlichen Logik zu denken, die als „Metaphysik des kºcor“ diesen als Aussage, als Urteil, als ratio, usw. bestimmt hat, indem sie den Weg jener beherrschendkalkulierenden Auffassung des Seienden ebnete, die im Alter des vollendeten Nihilismus ihren äußersten Triumph feiert. Wenn die griechische Logik (als 1pist¶lg kocij¶) den kºcor als k´ceim t¸ jat² timor, als etwas über etwas (aus-)sagen definiert, soll sich die Aufgabe einer „ursprünglicheren Logik“, die in die Nähe des anfänglichen Kºcor gelangen will, zuerst auf die Suche nach einer ursprünglicheren Bedeutung des Wortes kºcor begeben. „Ursprünglicher“: das heißt, dass nach Heidegger die Grundbedeutung der Worte kºcor und k´ceim nicht im semantischen Bereich vom Sagen, Reden und Sprechen zu finden ist. Heidegger glaubt, diese „rätselhafte“ Lage in der anfänglichen Erfahrung des kºcor erkennen zu können. Wie er z. B. in Einführung in die Metaphysik schreibt: „Aber kºcor heißt ursprünglich nicht Rede, Sagen. Das Wort hat in dem, was es meint, keinen unmittelbaren Bezug zur Sprache“5 ; es hat zunächst mit Sprache, Wort und Rede „nichts zu tun“6. Etwas Ähnliches liest man auch in Was heißt Denken?: „Denn k´ceim bedeutet in keiner Weise ,sprechen‘.“7 In Wahrheit sind Heideggers Behauptungen darüber nicht immer so eindeutig und entschieden. Er neigt anderswo vielmehr dazu, eine gewisse Gleichursprünglichkeit, oder genauer eine Gleichzeitigkeit von zwei verschiedenen Bedeutungen des Wortes kºcor zuzulassen. Eben das stelle die Rätselhaftigkeit des kºcor dar: dass die frühgriechische Erfahrung des k´ceim einen zweifachen Sinn des Wortes kennt; k´ceim heißt am Anfang zugleich „sagen“ und „lesen“ (= „sammeln“ und „versammeln“). Im Aufsatz Logos (1951) schreibt er: „Wer möchte leugnen, daß in der Sprache der Griechen von früh an k´ceim reden, sagen, erzählen bedeutet? Allein, es bedeutet gleich früh und noch ursprünglicher […] das sich und anderes sammelnde Niederund Vorlegen. […] Gleichwohl bleibt unbestritten: k´ceim heißt andererseits auch und sogar vorwiegend, wenn nicht ausschließlich: ,sagen‘ und ,reden‘.“8 Auch in der Vorlesung vom Sommersemester 1944 sagt er, dass die Grundbedeutung des griechischen Wortes kºcor „in keiner Weise dergleichen wie ,Rede‘ und ,Sprache‘ meinen kann, ja überhaupt nicht auf Sprachliches und Sprachartiges hindeutet. Andererseits steht freilich ebenso gewiß fest, daß kºcor und das zugehörige Zeitwort k´ceim früh schon bei den Griechen soviel wie ,reden‘ und ,sagen‘ bedeutet. Das sind zwei unbestreitbare Tatbestände, denen wir ins Gesicht sehen müssen.“9 Wenn im Nebeneinander dieser Tatbestände sich „etwas Rätselhaftes“ verbirgt, und wenn Heideg5

GA 40, S. 132. GA 40, S. 133. 7 GA 8, S. 201. 8 GA 7, S. 214 (Hervor. v. Verf.). 9 GA 55, S. 239 (Hervor. v. Verf.). 6

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gers Schwanken aus diesen Zeilen ziemlich klar durchscheint, schließt das trotzdem nicht aus, dass für ihn die Grundbedeutung, die „ursprünglichere“ Bedeutung von kºcor (wenn auch in einem nicht strikt chronologischen Sinne) nicht „ sagen“, sondern „lesen“, „sammeln“ ist. II. Der Kºcor als ursprüngliche Ver-sammlung: erster Ansatz In den eben erwähnten Schriften, in welchen Heidegger Heraklits Konzeption des Kºcor ausführlich diskutiert (die Vorlesung vom Sommersemester 1944 und der Aufsatz Logos), folgt er zwei etwas verschiedenen Ansätzen, zwei nicht ganz parallel laufenden Wegen. Ich werde mich hier darauf beschränken, die Hauptlinien seiner Argumentationen zu zeigen. Dies wird im ersten Fall insbesondere durch eine Zusammenfassung der wichtigsten Stellen der Vorlesung und im zweiten Fall durch eine Hervorhebung der auffallendsten Variationen, die in dem Aufsatz auftreten, geschehen. In beiden Fällen geht Heidegger von einer Auslegung des Fragments 50 aus: oqj 1loO !kk± toO kºcou !jo¼samtar blokoce?m sovºm 1stim 4mp²mta eWmai. Vorausgesetzt, dass die ursprüngliche Bedeutung von kºcor und k´ceim nicht in Verbindung mit „sagen“ und „reden“ ist, welcher Sinn kann dann dem Zeitwort !jo¼eim zugeschrieben werden? Ist nicht das Hören immer auf ein Sagen bezogen? Heraklit spricht hier aber von zwei verschiedenen Arten von „Hören“: man soll nicht die menschliche Stimme (oqj 1loO), sondern (!kk±) die „lautlose Stimme“ des kºcor (des Kºcor) hören. In eigentlichem Sinne muss dann das Hören nach Heidegger als ein „gar nichts ,hörendes‘ Hinhören“, als ein Horchen, Aufhorchen und horchsames Achten verstanden werden, und zwar als ein „gerhorsam sein […] Solchem, was uns entgegenkommt und entgegenkommen kann“10. Das eigentliche Hören besagt also eine „ursprüngliche Hörigkeit, das Offensein für das Offene, die Freiheit selbst ist“11. Erst wenn der Mensch horchsam auf den Kºcor hört – d. h. erst wenn er ihm gehört –, dann „ist“ das Wissen (t¹ sovºm), das im blokoce?m mit dem Kºcor besteht. jlokoce?m: das wäre: das Gleiche (t¹ blºm) sagen (k´ceim), was der Kºcor selbst sagt. Aber nochmals: wie ist das möglich, wenn k´ceim nicht „sagen“ bedeutet? Und was sollte der Kºcor ,sagen‘? Heidegger schlägt hier drei Zugangswege zum „weggebliebenen“ Wesen des Kºcor vor: a) die Befragung des Kºcor als 4m p²mta; b) den Zugang durch den ursprünglichen Wortsinn des k´ceim; c) den Zugang durch den menschlichen kºcor (den kºcor der xuw¶). a) Was ,sagt‘ der Kºcor, das der Mensch hören und ,wiedersagen‘ sollte? Er ,sagt‘: 4m p²mta eWmai, er ,nennt‘ das einende und vereinende Eine. Aus dem Kºcor wird 4m p²mta eWmai „vernehmlich“, d. h.: „Daß Eins alles ist. Im Sein und als Sein eint das Eins das Alles, das ist. Das Alles ist das Seiende, das im 4m den Grundzug seines Seins 10 11

GA 55, S. 245. Ebd.

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hat.“12 Wie geschieht aber dieses ,Vernehmen‘? Zweifellos ist 4m p²mta eWmai ,Ausdruck‘ des Kºcor, aber nicht im Sinne einer Aussage, die er aussprechen würde. Der Kºcor drückt sich im 4m p²mta eWmai nicht aus, indem er diesen Ausdruck ausspricht, sondern insofern er in ihm sein Wesen selbst entfaltet. 4m p²mta eWmai ist nicht das, was der Kºcor sagt; 4m p²mta eWmai ,sagt‘, wie der Kºcor west: „4m p²mta eWmai – Eins ist Alles. Dies enthüllt der Kºcor. Er kann dies nur enthüllen, wenn er das, was sich da eröffnet, selbst ist.“13 Der Kºcor ist das sich kundgebende alles vereinende Eine. Das Einen und Vereinen (des Seienden im Ganzen) muss also auch der Grundzug des Kºcor sein, „wenn anders das 4m p²mta eWmai als das zu Vernehmende aus dem Kºcor und als der Kºcor vernehmlich wird“14. b) Der zweite Weg zum Kºcor ist jener, der von der ursprüngliche(re)n Bedeutung des Wortes k´ceim ausgeht. Nur anscheinend ist das aber der zweite Weg: wenn Heidegger den sprachgebundenen Sinn des Wortes als abgeleitet von vornherein ablehnt, ist diese Urbedeutung in Wahrheit die echte Voraussetzung seiner ganzen Rede. k´ceim heißt „lesen“, „legere“, im dreifachen Sinne von „aufnehmen“, „zusammenbringen“ und „aufbewahren“ (wo das Aufbewahren – das Bergen – den „vorwaltenden Grundzug“ darstellt). Diese drei Bedeutungen führt Heidegger im einzelnen Wort „sammeln“ zusammen. Insofern das k´ceim ein Lesen als Sammeln ist, ist dann der Kºcor als die Lese, die Sammlung, die Ver-sammlung zu denken, d. h. als die „ursprüngliche gesammelte Ver-sammlung auf das zu Bewahrende. Die so verstandene Ver-sammlung ist die ursprüngliche Gesammeltheit und ,Sammlung‘, die in jedem aufnehmenden Sammeln bereit west.“15 Die aus dem aufbewahrenden Verwahren gedachte Ver-sammlung ist „als die ursprünglich wahrende Gesammeltheit des Sammelns das Wesen des Sammelns. Von da her empfängt erst dasjenige, was das Aufnehmen und Beibringen zusammenhält und fügt, nämlich das Einholen, seine Bestimmung. Das Einholen selbst wieder gründet seiner Möglichkeit nach in einem Ausholen, das Bereich und Weite und Umkreis und mögliche Richtungen dem Einholen eröffnet und zuweist.“16 In diesem letzten Satz finden wir einen Bezug zu dem dritten Weg: den Zugang durch den kºcor der xuw¶, wo die Frage nach dem blokoce?m, d. h. nach der Beziehung des menschlichen kºcor mit dem Kºcor, in den Vordergrund tritt. c) Das blokoce?m, das aus dem horchsamen Hören auf den Kºcor entspringt, ist selbst ein k´ceim. Aber es kann deswegen nicht mehr bedeuten: das Gleiche sagen, was der Kºcor sagt, sondern: „Das Gleiche lesen, was ,der‘ Kºcor als ,die‘ Lese liest“17; blokoce?m heißt also: „Sich auf das Selbe sammeln, was der Kºcor als

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GA 55, S. 264. GA 55, S. 285. 14 GA 55, S. 266. 15 GA 55, S. 268. 16 GA 55, S. 289. 17 GA 55, S. 280.

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die Versammlung in sich und auf sich gesammelt hat.“18 Wie gestaltet sich nun das eigentümliche Sammeln des Menschen, wenn „die Weise, wie der Mensch sich sammelt auf die Versammlung, anders als die Weise ist, wie der Kºcor in sich die Versammlung ist“19? Im Fragment 45 sagt Heraklit, daß die xuw¶ … bah»m kºcom 5wei, einen ,tiefen‘ kºcor hat. Der Mensch, wie jedes andere Lebewesen, ist ,beseelt‘, hat eine ,Seele‘, eine als Hauch, als Atem verstandene xuw¶. Aber das Aus- und Einatmen, das den Atem Ein- und Ausholen, das das Lebendige überhaupt kennzeichnet, ist als ein aufgehendes Sichöffnen ins Offene zu denken, das „jeweils das Offene aufund in sich zurücknimmt und dergestalt nehmend im Offenen sich hält und aufhält“20. Wenn aber der Mensch der k´cym, der Lesende und Sammelnde ist, so hat er seinem Wesen nach nicht nur eine xuw¶, sondern auch einen kºcor. In seinem ausgezeichneten Fall erhält also das Ein- und Ausholen eine besondere Bedeutung, die eng mit dem Sammeln verbunden ist. Der kºcor der menschlichen xuw¶ ist bah¼r, tief. Diese Tiefe ist nach Heidegger im Sinne der „Weite“ zu verstehen, d. h. als das „gänzlich ins Verborgene hinein Weisende und so selbst irgendwie Sammelnde. […] Das Lesen, Sammeln holt aus. Ja, dies Ausholen bestimmt erst alles sammelnde Einholen und Einholbare. Das Ausholen ist das Weisen in die Weite, aus der das Lesen erst das Sammelnde zuweist.“21 Die Tiefe des kºcor der xuw¶ besteht also im ausholenden Weisen in die Weite, das ein Weisen in jene ursprüngliche Ver-sammlung ist, die erst das menschliche Sammeln – als ein Aufbewahren und Bergen vom schon aus sich selbst Gesammelten – erlaubt und bestimmt; es ist ein Weisen in den Kºcor als die Gegend, in der die menschliche xuw¶ ihren pe¸qata, ihren äußersten Grenzen und Ausgängen begegnet. III. Der Kºcor als lesende Lege: zweiter Ansatz Die Erörterung des Kºcor, die Heidegger im Aufsatz Logos darbietet – der eine viel kürzere, überarbeitete Fassung der Vorlesung Logik. Heraklits Lehre vom Logos darstellt –, erscheint unzweifelhaft als eindeutiger und folgerichtiger als die der Vorlesung und vor allem als mit den letzten Schlussfolgerungen, auf die Heideggers Besinnung auf das Wesen des anfänglichen Kºcor zielt, übereinstimmender. Der Aufsatz enthält außerdem ein neues, sehr wichtiges Element, das in der Vorlesung völlig abwesend ist: hier wird die Grundbedeutung der Worte kºcor und k´ceim von dem Zeitwort „legen“ her gedacht. Das ermöglicht, ein nicht sekundäres Hindernis zu überwinden: angenommen, dass kºcor und k´ceim (vom Anfang an) Sagen und Reden bedeuten, und dass ihre ursprüngliche Bedeutung doch nicht auf Sprachartiges bezogen ist, wie geschieht es dann, dass „Sagen“ zur endgültigen und einzigen Bedeutung dieser Worte wird? Wie halten beide Bedeutungen zusammen? 18

Ebd. Ebd. 20 GA 55, S. 281. 21 GA 55, S. 282. 19

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Der eigentliche Sinn von k´ceim, schreibt Heidegger, ist „legen“ im Sinne von „zum Liegen bringen“. Auch hier ist das k´ceim als Legen mit dem Lesen als Sammeln in Verbindung gebracht, denn Legen besagt beisammen-ins-Vorliegen-bringen („Alles Legen ist von sich her lesend“22). Das Legen bringt zum Liegen, „indem es beisammen-vor-liegen läßt“23. Dieses Legen/k´ceim (als menschlicher kºcor) legt aber nicht ursprünglich und von sich aus das, was vor-liegt; es verlangt keineswegs, selber das Vorliegende in seine Lage zu bringen. Es lässt nur das von-sich-her-beisammen-vor-Liegende in der „Hut, in die es nieder-gelegt bleibt“24. Diese Hut birgt das Vorliegende innerhalb der Unverborgenheit, in die es ein-, hin- und hinter-gelegt (und dadurch aufbewahrt) ist: „Dem k´ceim liegt bei seinem gesammelt-vor-liegenLassen an dieser Geborgenheit des Vorliegenden im Unverborgenen. Das je?shai, für-sich-Vor-liegen des so Hinterlegten, des rpoje¸lemom, ist nichts Geringeres und nichts Höheres als das Anwesen des Vorliegenden in die Unverborgenheit.“25 Vor dieser Gestaltung des k´ceim als Legen gewinnt das rätselhafte Nebeneinanderbestehen der zwei Bedeutungen von kºcor und k´ceim einen deutlicheren und weniger rätselhaften Sinn. Die scheinbar unüberwindbare Spaltung zwischen ihnen löst sich jetzt auf und zwar fast bis zum Verschwinden. Die ,abgeleitete‘ Bedeutung des k´ceim als Sagen und die ursprünglichere Bedeutung des k´ceim als Lesen und Sammeln schließen sich nicht mehr aus. Das wird dadurch möglich, dass jetzt das k´ceim als Sagen vom Horizont der Unverborgenheit her gedacht wird: „Das Sagen und Reden der Sterblichen ereignet sich von früh an als k´ceim, als Legen. Sagen und Reden wesen als das beisammen-vor-liegen-Lassen alles dessen, was, in der Unverborgenheit gelegen, anwest. Das ursprüngliche k´ceim, das Legen, entfaltet sich früh und in einer alles Unverborgene durchwaltenden Weise als das Sagen und Reden.“26 Und noch ausdrücklicher: „Denn als sammelndes vor-liegen-Lassen empfängt das Sagen seine Wesensart aus der Unverborgenheit des beisammen-vor-Liegenden. Die Entbergung aber des Verborgenen in das Unverborgene ist das Anwesen selbst des Anwesenden. Wir nennen es das Sein des Seienden.“27 Das Sprechen der Sprache west im k´ceim als Legen, und das Sagen als k´ceim/ Legen geschieht von der Unverborgenheit des Anwesenden her. Das k´ceim „bringt das Erscheinende, das ins Vorliegen hervor-Kommende, von ihm selbst her zum Scheinen, zum gelichteten Sichzeigen“28. Das Sagen als k´ceim, d. h. als das „gesammelt-sammelndes beisammen-vor-liegen-Lassen“, ist also ein !pova¸meshai. Wie erscheint nun doch der Bezug des menschlichen kºcor zum Kºcor, d. h. das blokoce?m (und wie erscheint der Kºcor selbst)? Wenn auch hier „hören“ im eigent22

GA 7, S. 216. Ebd. 24 Ebd. 25 GA 7, S. 217. 26 Ebd. 27 GA 7, S. 218. 28 GA 7, S. 218 ff. 23

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lichen Sinne „dem Zugesprochenen gehören“ bedeutet, so ist das Hören/Gehören, das das blokoce?m be-stimmt, auch ein k´ceim: es ist ein Vorliegen-lassen dessen, was schon beisammen vorliegt. Dieses k´ceim legt das blºm, jenes Selbe, das erst beisammen vorliegen kann, weil es durch ein „anderes“ Legen gelegt ist: durch das „ausgezeichnete Legen“, als welches der Kºcor selbst west. Der Kºcor west als „das reine versammelnde lesende Legen“, als „die ursprüngliche Versammlung der anfänglichen Lese aus der anfänglichen Lege. j Kºcor ist die lesende Lege und nur dieses“.29 Der Kºcor ist das 4m p²mta, das alles einende Eine, das insofern eint, indem es versammelt: „Es versammelt, indem es lesend vorliegen läßt das Vorliegende als solches und im Ganzen. Das Einzig-Eine eint als die lesende Lege“.30 Was ist dann der Kºcor? Heideggers ,tautologische‘ Antwort lautet: „j Kºcor k´cei“31. Der Kºcor als lesende Lege hat schon alles (p²mta), das Anwesende, in die Unverborgenheit niedergelegt. Der Kºcor legt das Anwesende ins Anwesen vor und nieder, er entbirgt das Anwesende in seiner Anwesenheit. Aber das besagt, dass er die Unverborgenheit selbst, die )k¶heia, ist und d. h. zugleich ein Entbergen und Verbergen. Im Beginn des Fragmentes 32 sagt Heraklit: FEm t¹ sov¹m loOmom. Heidegger übersetzt jetzt das Wort sovòm nicht mehr als „das Wissen“, sondern als „das Geschickliche“: „Das Einzig-Eine Alles Einende ist das Geschickliche allein“.32 Der Kºcor als FEm ist das Ge-schick selbst als die Versammlung des Schickens: „Die lesende Lege versammelt alles Schicken bei sich, insofern es zubringend vorliegen läßt, jegliches An- und Abwesende auf seinen Ort und seine Bahn zuhält und alles in All versammelnd birgt. So kann sich alles und jedes jeweils in das Eigene schicken und fügen.“33 Wenn also das menschliche k´ceim als blokoce?m auf den Kºcor „hört“, so liegt es „im Kºcor geborgen“34, indem es sich ins Geschick der )k¶heia fügt, d. h. insofern es selbst auf seine Weise Geschickliches ist. Heideggers Übersetzung des Fragmentes 50 von Heraklit ist dann die folgende: „Nicht mich, den sterblichen Sprecher, hört an; aber seid horchsam der lesenden Lege; gehört ihr erst dieser, dann hört ihr damit eigentlich; solches Hören ist, insofern ein beisammen-vor-liegen-Lassen geschieht, dem das Gesamt, das versammelnde liegen-Lassen, die lesende Lege vorliegt; wenn ein liegen-Lassen geschieht des vor-liegen-Lassens, ereignet sich Geschickliches; denn das eigentlich Geschickliche, das Geschick allein, ist: das Einzig-Eine einend Alles“35 ; oder auch, in einer kürzeren Fassung: „Nicht mir, aber der lesenden Lege gehörig: Selbes liegen lassen: Geschickliches west (die lesende Lege): Eines einend Alles.“36 Das menschliche k´ceim 29

GA 7, S. 221. GA 7, S. 225. 31 Ebd. 32 GA 7, S. 226. 33 GA 7, S. 227. 34 GA 7, S. 229. 35 GA 7, S. 230. 36 GA 7, S. 231. 30

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ist vom Geschick her „in das blokoce?m er-eignet. So bleibt es dem Kºcor vereignet. Auf solche Weise ist das sterbliche k´ceim geschicklich. Aber es ist nie das Geschick selbst“37. Und dennoch bleibt auch der Kºcor selbst dem menschlichen kºcor übereignet; er braucht das blokoce?m, „wenn Anwesendes im Anwesen scheinen und erscheinen soll“38. Das geschickliche kºcor des Menschen bewahrt den Kºcor, d. h. die )k¶heia, d. h. das Sein selbst auf. Der Mensch, indem er sich aufbewahrend in der Gegend des Kºcor aufhält, ist der Wärter des Seins. Aber das „Haus“ des Seins, wo der Mensch als Wärter wohnt, ist die Sprache. IV. Der Kºcor als das ungedachte Wesen der Sprache Die zwei Bedeutungen des Wortes kºcor werden also am Ende zusammengeführt; aber diese Zusammenführung kann nur unter der Bedingung bestehen, dass das Sagen nicht im Sinne der vym¶ sglamtij¶, sondern ursprünglicher in Richtung auf die Sage gedacht wird. Als solches ist doch das k´ceim mehr ein Schweigen als ein ,Sagen‘, und als Schweigen west auch die Sage als das verborgene Wesen des Kºcor selbst. Heidegger schreibt: „Daß das k´ceim von früh an ,sagen‘ […] bedeutet, zeigt darauf hin, daß das Wort und die Sage gleichursprünglichen Wesens mit dem Lesen ist. […] Das bergende Sammeln des Seienden […] ist ursprünglich schon jener Bezug, worin der Mensch schweigend erst und schweigend noch das Sein von Seiendem, Seiendes in seinem Sein […] ver-nimmt. Dieses Be-schweigen des Seins ist das ursprüngliche Sagen und Nennen von Seiendem, ist das ursprüngliche Wort, das entgegnet der Gegend des Seins, ist die erste Antwort, in der jegliches Wort schwingt, das sich in die Sage entfaltet und verlautet im Wort der Sprache. Das Beschweigen west als ursprüngliches Sichsammeln des Menschenwesens auf das Sein und umgekehrt.“39 Wenn das k´ceim „ursprünglich das Schweigen“ ist, so ist der Kºcor selbst „die ursprünglich bergende Verschweigung und als diese das Vorwort zu jeder Sage des Wortes in der Ant-wort“40. Der Kºcor ist also „nicht das Wort. Er ist ursprünglicher denn dieses, das Vorwort jeder Sprache.“41 Die Gewaltsamkeit dieser Interpretation ist offensichtlich42. Was uns aber in diesem Zusammenhang interessiert, ist das allgemeinere Problem der Beziehung zwi37

GA 7, S. 229. GA 7, S. 231. 39 GA 55, S. 382. 40 GA 55, S. 383. 41 Ebd. 42 Man stößt hier auf das immer wiederkehrende Problem, das in Bezug auf Heideggers Verhältnis zu seinen jeweiligen Gesprächspartnern entsteht, und das in seiner aneignenden Auseinandersetzung mit den anfänglichen Denkern als besonders verschärft erscheint. Wie ist Heideggers Gespräch mit Heraklit überhaupt zu lesen, wenn der Maßstab einer historischen Perspektive hier offenkundig ganz unanwendbar und daher außer Frage ist? Heidegger beansprucht für seinen Interpretationsansatz einen ,Sonderstatus‘; er kann und will nicht in der Reihe der Heraklit-Forschung geordnet werden: „Wir versuchen die Bestimmung der Sache 38

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schen An- und Vordenken. Bringt der Kºcor als die lesende Lege, von dem Heraklit – Heidegger zufolge – sprechen würde, das Wesen der Sprache selbst als die Sage zum Ausdruck? Nein. Nach Heidegger haben die Griechen (Heraklit inbegriffen) das Wesen der Sprache zwar irgendwie „erfahren“, aber nie wirklich „gedacht“. Auch in der anfänglichen Frühe ist das eigentliche Wesen der Sprache (d. h. seine rätselhafte Selbigkeit mit dem Wesen des Seins) ungedacht und verborgen geblieben. Dieses nie als solches vernommene Abwesen/Wegbleiben hat die ganze Geschichte des Abendlandes verhängnisvoll entschieden und bestimmt. Heidegger fragt sich: „Was hätte sich ereignet, wenn Heraklit – und seit ihm die Griechen – eigens das Wesen der Sprache als Kºcor, als die lesende Lege gedacht hätten! Nichts Geringeres hätte sich ereignet als dieses: die Griechen hätten das Wesen der Sprache aus dem Wesen des Seins, ja sogar als dieses selbst gedacht. Denn b Kºcor ist der Name für das Sein des Seienden.“43 In diesem Fall wäre der erste Anfang ein „anderer“ Anfang – der „andere Anfang“ – gewesen. Aber Heidegger setzt fort: „Doch all dieses ereignete sich nicht. Nirgends finden wir eine Spur davon, daß die Griechen das Wesen der Sprache unmittelbar aus dem Wesen des Seins dachten. […] Einmal jedoch, im Beginn des abendländischen Denkens, blitzte das Wesen der Sprache im Lichte des Seins auf. Einmal, da Heraklit den Kºcor als Leitwort dachte, um in diesem Wort das Sein des Seienden zu denken. Aber der Blitz verlosch jäh. Niemand faßte seinen Strahl und die Nähe dessen, was er erleuchtete.“44 Diesen Blitz und seinen erleuchtenden Strahl könnten wir heute vielleicht im „Gewitter des Seins“45 fassen. An jenen ersten Anfang andenkend, könnten wir den Weg eines „anderen“ Anfangs finden, aus dem sich eine ganz andere (postmetaphysische) Geschichte aufschließen könnte46. Wenn uns aber der erste Anfang der abendländides Denkens im Gespräch mit Heraklit. Dabei beabsichtigen wir keinen thematischen Beitrag zur Heraklit-Forschung. In dieser Richtung sind wir nicht interessiert“ (GA 15, S. 124). Was garantiert aber in diesem Fall, dass ein wirklicher Zugang zur Sache von Heraklits Denken (i. e. zum „fast stummen“ Denken des Anfangs) gewonnen ist, wenn jegliches historischphilologische Kriterium prinzipiell ausgeschlossen wird? Was garantiert nämlich, dass Heideggers Gespräch, Heideggers Dialog mit Heraklit (und mit dem abendländischen Denken schlechthin) etwas anderes als ein Monolog ist? Gadamer schreibt z. B. kategorisch: „Heideggers denkendem Umgang mit der Geschichte der Philosophie haftet die Gewaltsamkeit eines Denkers an, der von seinen eigenen Fragen getrieben wird und überall sich selbst wiederzuerkennen sucht“ (Gadamer (1987b), S. 307). 43 GA 7, S. 233. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Zur Beziehung vom ersten und anderen Anfang, insbesondere im Zusammenhang mit der Auslegung von Heraklit vgl. Keith Hoeller: The Role of the Early Greeks in Heidegger’s Turning. Repetition of First Beginning as Prelude to Another Beginning, in: Philosophy Today, 28, 1984, S. 44 – 51; Manfred Riedel: Heidegger: The Twofold Beginning of Thinking, in: Graduate Faculty Philosophy Journal, XVI, 1993, S. 436 – 465; Ugo Ugazio: Il ritorno del possibile. Studi su Heidegger e la storia della metafisica, Zamorani, Torino 1996; Gino Zaccaria: L’inizio greco del pensiero. Heidegger e l’essenza futura della filosofia, Marinotti, Milano 1999; Heinrich Hüni: Heraklit oder ,anderer Anfang‘, in: Michael Steinmann (Hrsg.):

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schen Geschichte ,unbefriedigend‘ scheint, warum brauchen wir ihn noch anzudenken? Könnten wir nicht vielmehr ex novo anfangen, indem wir den ersten Anfang hinter uns lassen, ihn ihm selbst überlassen? Wenn Heraklit das Wesen der Sprache als das Wesen des Seins nie eigentlich gedacht hat (oder nur augenblicklich und blitzhaft), warum ist es so wichtig, auf ihn zurückzugreifen, um dieses vom Anfang an verborgene Wesen endlich ans Licht zu bringen? Heidegger selbst stellt ausdrücklich diese Frage: „Gesetzt aber nun, Heraklit sei in Wahrheit ein vor-metaphysischer Denker, gesetzt, er denke den Kºcor anders, warum fragen wir dann so weit in die Geschichte des abendländischen Denkens zurück? Warum setzen wir der metaphysischen Auslegung des kºcor und des Denkens nicht geradewegs von uns aus eine andere Bestimmung entgegen?“47 Man sollte sich fragen, ob Heidegger nicht in der Tat – in seinem angeblichen ,Gespräch‘ mit Heraklit – dieser letzten Option folgt48, indem er eine von ihm selbst ,erHeidegger und die Griechen, Klostermann, Frankfurt a. M. 2007, S. 35 – 46. Seit einigen Jahren ist es in der Heidegger-Forschung üblich geworden, das ganze heideggersche Denken (oder zumindest die sogenannte ,zweite‘ Phase dieses Denkens) im Lichte der „Beiträge“ zu lesen (vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die „Beiträge zur Philosophie“ als hermeneutischer Schlüssel zum Spätwerk Heideggers, in: Markus Happel (Hrsg.), Heidegger – neu gelesen, Königshausen und Neumann, Würzburg 1997, S. 75 – 86). In seinem schon zitierten Buch liest z. B. Ivo De Gennaro die ganze Auseinandersetzung Heideggers mit Heraklit vom „Zuspiel des anderen Anfangs“ her, d. h. nach der zweiten Fügung der Fuge des Ereignisses (vgl. De Gennaro (2001), S. 24 ff.). Dass das Schema: erster Anfang-anderer Anfang ein angemessenes hermeneutisches Mittel überhaupt darstellen kann, ist andererseits von anderen Interpreten bestritten worden. Gegen Werner Marx polemisierend (s. Werner Marx: Heidegger und die Tradition. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins, Kohlhammer, Stuttgart 1961), behauptet z. B. Marlène Zarader in Bezug auf die zweifache Funktion des „Ursprungs“: „Werner Marx croit possible de distinguer, en chacun des thèmes abordés par Heidegger, et même en chacune des paroles grecques avec lesquelles il dialogue, la catégorie de l’appropriation de celle du dépassement; il croit possible de faire le partage entre la remémoration des expériences impensées constitutives de ce qu’il nomme der erste Anfang, et l’avancée prospective vers les expériences à penser, annonciatrices de l’andere Anfang“ (Zarader (1990), S. 28 ff.). Ein solcher „partage“, eine solche Aufteilung sei aber aufgrund des eigentümlichen Charakters des Andenkens und des Vordenkens völlig unhaltbar. Das Vordenken denkt immer zugleich sozusagen an und das Andenken denkt immer zugleich vor: „Le Vordenken n’est tourné vers l’avenir qu’en gardant mémoire du passé, et l’Andenken n’est tourné vers le passé que pour y déceler l’avenir encore inviolé, et toujours en attente, qui s’y trouve abrité. Dès lors, comment pourrait-on dissocier, de manière méthodique et sourtout thématique, ce qui est dévoilé par l’Andenken et ce qui est proposé par le Vordenken? Ces deux modalités de pensée s’avançant toutes deux dans le domaine inconnue du ,jamais-encore-pensé‘, le référent extérieur (c’est-à-dire le critère ancien/noveau, ou Grecs/ Heidegger) ne peut plus jouer, et le partage demeure impossible“ (ebd.). 47 GA 55, S. 277. 48 „Was Heidegger an Anaximander, an Heraklit, an Parmenides wiedererkannte, war gewiß er selbst. […] Was er da zu seinem eigenen Bau zu türmen trachtete, waren Fragmente, die er um und um wendete und nach seiner eigenen Konstruktionsidee zusammenfügte“ (Gadamer (1987a), S. 288 ff.). Etwas Ähnliches schreibt auch O. Pöggeler: „Es ist ohne Zweifel so, daß Heideggers Heraklitaufsätze und auch die Parmenidesdeutung am klarsten eigene späte Gedanken offenlegen“ (Pöggeler (1992), S. 182 ff.).

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sonnene‘ Bestimmung des Kºcor vorschlägt. Und trotzdem beharrt er immer auf der Notwendigkeit des Andenkens und auf dessen Untrennbarkeit vom Vordenken (man soll übrigens berücksichtigen, dass das Andenken eine paradoxe Art von Rückkehr ist, die auf eine bisher noch ungedachte „Sache“ zielt, die nie der Vergangenheit gehörte). An die ,ursprünglichen‘ Worte der anfänglichen Denker anzudenken, stellt deswegen die Not des Denkens dar, der wir uns nicht entziehen können. Um in den Bereich des „Nicht-mehr-metaphysischen“ zu gelangen, müssen wir das „Noch-nicht-metaphysische“ immer noch hören und auszulegen versuchen, weil es die Möglichkeit des „Nicht-mehr-metaphysischen“ schon irgendwie enthält49. An der eben zitierten Stelle scheint doch Heidegger, die Möglichkeit einer ganz verschiedenen Hypothese verlauten zu lassen: Was ist, wenn Heraklit in Wahrheit kein vor-metaphysischer Denker wäre? Was ist, wenn er den Kºcor nicht wirklich anders gedacht hätte? In Der Spruch des Anaximander heißt es: „Die Geschichte des Seins beginnt mit der Seinsvergessenheit.“50 Was ist, wenn es kein „Vor“ der Metaphysik überhaupt gäbe? Der Bannkreis der Metaphysik würde sich in diesem Fall nicht nur als unüberwindbar, sondern auch als unverwindbar erweisen. Literaturverzeichnis De Gennaro, Ivo (2001): Logos – Heidegger liest Heraklit, Duncker & Humblot, Berlin Gadamer, Hans-Georg (1987a): Die Griechen, in: Neuere Philosophie I. Hegel – Husserl – Heidegger, Gesammelte Werke, Band 3, Mohr (Siebeck), Tübingen – (1987b): Die Geschichte der Philosophie, in: Neuere Philosophie I. Hegel – Husserl – Heidegger, Gesammelte Werke, Band 3, Mohr (Siebeck), Tübingen Heidegger, Martin: (1975 ff.): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittangabe) Pöggeler, Otto (1992): Neue Wege mit Heidegger, Alber, München Zarader, Marlène (1990): Heidegger et les paroles de l’origine, 2. Auflage, Vrin, Paris

49 Vgl. dazu GA 15, S. 110 und 113. Nach Heidegger liegt aber diese Möglichkeit nicht in unseren Händen, sie hängt nicht von uns ab; unsere Auslegungsversuche und Denkanstrengungen können immer nur vorläufig sein. Die Aufgabe des Denkens ist und bleibt für ihn diejenige einer (gelassenen) Vorbereitung: „Allein, es könnte doch geschehen, daß im vormetaphysischen Wesen des Kºcor etwas ans Licht drängt und Gegenwart wird, was nicht nur uns, nicht nur irgendein anderes Geschlecht von Menschen angeht, was überhaupt nicht irgendeinen Bereich des Seienden […] angeht, was vielmehr, statt das Seiende anzugehen, das Sein selbst betrifft, aus dem jegliches Seiende seine Wahrheit und Unwahrheit empfängt“ (GA 55, S. 277). 50 GA 5, S. 364 (Hervor. v. Verf.).

Metaphysik heute – Möglichkeiten der Selbstpositionierung Paola-Ludovika Coriando I. Einführung Was Metaphysik „gewesen“ ist und was sie heute und in Zukunft „sein kann“, ist eine offene Frage. Sie ist die Frage, die jeder, der die Metaphysik nicht als eine vergangene Disziplin der Philosophie versteht, sich als Vorfrage jeglichen Zugangs zur Tradition stellen sollte. Im Folgenden verstehe ich unter Metaphysik weder ein absolutes Erkenntnissystem noch die Summe aller vergangenen Versuche, ein solches System zu konstruieren, sondern ein menschliches Phänomen, das eine eigene Geschichte hat und als solches mehrere unterschiedliche Zugangswege ermöglicht. „Metaphysik heute“ hat somit den Sinn einer formalen Anzeige; der Titel nimmt die Metaphysik so in den Blick, wie sie „für uns heute“ angeeignet und möglicherweise neu befruchtet werden kann, Metaphysik in der geschichtlichen Situation „unserer“ Zeit. Der Titel dieses Beitrags zeigt somit ein Vorverständnis von Metaphysik an, das sich vom Selbstverständnis der Metaphysik, wie diese sich selbst in ihrer langen Geschichte interpretiert hat, in wesentlichen Punkten unterscheidet. Es ist kein Metaphysik-immanentes Verständnis, sondern eine Perspektive auf die Metaphysik, eine Perspektive, die in sich zugleich Perspektiven der Metaphysik eröffnet. Mit dem Wort der „Selbstpositionierung“ sind somit Weisen angesprochen, wie „wir“, die „heute“ vor der Vielfalt der metaphysischen Entwürfe stehen, uns von den metaphysischen Grundfragen ergreifen lassen oder aber, umgekehrt, uns vor ihnen verschließen. Die Selbstpositionierung gegenüber der Metaphysik ist nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein vorphilosophisches, ein existenzielles Phänomen. Auch ohne die philosophische Beschäftigung mit der Metaphysik sind wir als Menschen mit den Grundfragen der Existenz konfrontiert. Es sind diese Grundfragen, die die Metaphysik, vor allem in ihrer Gestalt als metaphysica specialis, jahrhundertelang gestellt und jeweils unterschiedlich beantwortet hat. Im Folgenden möchte ich vier Möglichkeiten des „Zugangs“ zur Metaphysik besprechen. Es sind Möglichkeiten, die sich in Grundpositionen beziehungsweise Grundepochen der Philosophie kristallisiert haben; es sind zugleich aber auch existenzielle Möglichkeiten der Selbstpositionierung gegenüber den in der Metaphysik erörterten Grundfragen, die die Existenz des Menschen in ihren Wurzeln betreffen.

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II. Die Metaphysik und wir. Vier Möglichkeiten der Selbstpositionierung 1. Die schlechthin „metaphysische“ Möglichkeit Die erste Möglichkeit entspricht, grob formuliert, dem Selbstverständnis der Metaphysik als solchen; in ihrer verschärften Form deckt sie sich mit dem gedanklichen Horizont der rationalistischen Metaphysik der frühen Neuzeit, wie er zum ersten Mal von Descartes formuliert und entfaltet wurde. Dieses Verständnis von Metaphysik ist geleitet von der absoluten „Forderung“ nach einem „letzten Sinn“ des Seins und des menschlichen Lebens in seiner Mitte, einer Forderung, die grundsätzlich – auf rationale Art und Weise – erfüllt werden kann. Zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit überhaupt besteht eine prinzipielle Übereinstimmung. Mensch und Wirklichkeit sind zwar, neuzeitlich formuliert, durch die Kluft zwischen Subjektivität und Objektivität auseinandergehalten. Doch der Mensch als selbstbewusstes Subjekt versteht sich nicht als ein von der „objektiven“ Wirklichkeit überhaupt ontologisch derart getrennter Ichpol, dass sich ihm die Wirklichkeit im Ganzen entzieht und unzugänglich bleibt. Denn der Mensch kann die Wirklichkeit und ihre letzten metaphysischen Gründe erkennen und bestimmen. Garant dieser Möglichkeit ist ein apriori bestehender Einklang zwischen dem erkennenden Subjekt und dem universalen Sein, ein Einklang, der durch die gemeinsame Kreatürlichkeit alles Seins und dessen Bezug auf den Schöpfergott gewährleistet ist. Übereinstimmung und rationale Erfüllung des Anspruchs der Sinngebung sind nicht zu verwechseln, wie oft spekuliert, mit der Naivität eines noch nicht kritisch ausgebildeten Geistes. Sie sind vielmehr eine geschichtliche und zugleich biographisch-existenzielle Möglichkeit der Selbstpositionierung des Menschen vor sich selbst und der Wirklichkeit überhaupt. In dieser Selbstpositionierung erfährt sich der Mensch als Teil eines sinnvollen Ganzen, dessen „Sinn“ rational erschlossen und zugänglich gemacht werden kann. Die rational erschließbare Ordnung des Universums gibt dem Menschen die Gewähr, dass wir ein (ausgezeichneter) Teil dieser Ordnung sind, so, dass die menschliche Endlichkeit (unser Wissen um den Tod) keine absolute Einsamkeit im Ganzen des Seienden bedeutet. Aufgrund unserer geistigen Verfassung und der im christlichen Glauben verankerten Stellung in der Heilsgeschichte sind wir über die Hinfälligkeit und Vergänglichkeit der Dinge erhoben und darüber hinaus ein ausgezeichneter Teil der göttlichen Vorsehung. Der Einklang mit der letzten, metaphysischen Wirklichkeit (mit dem Sinn) besteht somit nicht darin, dass sich der Mensch als einen bloßen Teil der gesamten Wirklichkeit erfährt, was zur Folge hätte, dass er die (Kausal-)Gesetze der faktischen Wirklichkeit teilen müsste. Denn vielmehr sind – umgekehrt – der Einklang und die Erfüllung des Anspruchs nur dadurch möglich, dass sich der Mensch (das Subjekt) als etwas von der Natur (der objektiven, nicht-menschlichen Wirklichkeit) schlechthin Unterschiedenes erfährt; unterschieden von der Vergänglichkeit und Hinfällig-

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keit der Dinge und unterschieden durch den Besitz des Geistes, der ihm den Zugang zu den letzten Wahrheiten ermöglicht. Weil der Mensch aufgrund seiner Rationalität den Unterschied zur faktischen Wirklichkeit und ihrer Gesetze in sich erkennt und dieser Unterschied ist, erfährt er sich als Teil der metaphysischen, den Sinn und die Erfüllung gewährenden Wirklichkeit. Anders formuliert: Das Wahre und das Gute sind dasselbe. Die unmittelbar metaphysische Möglichkeit ist charakterisiert durch das Vorhandensein des Sinnes (des Sich-Unterscheidenden, „Metaphysischen“) und durch die sowohl ontologische wie auch ethische „Wirksamkeit“ dieses Sinnes. Diese durchgängige Wirksamkeit des Sinnes ist geprägt von einer eigenen Grundstimmung. Zwar versteht sich die rationalistische Metaphysik als eine rein verstandes- und vernunftmäßige Erschließung der Wirklichkeit und gründet sich, in ihrem eigenen Selbstverständnis, nicht auf Stimmungen (und nur beschränkt auf existenziellen Erfahrungen). Doch als menschliches Phänomen ist sie niemals stimmungsneutral. Vielmehr ist die „Grundstimmung“ der metaphysischen Selbstpositionierung die des Vertrauens und des Einklangs. In der Grundstimmung der Metaphysik erfährt sich der Mensch als „zuhause“ inmitten des geschaffenen und hierarchisch gegliederten Seins. Die „irdische Heimat“ des Menschen ist ontologisch getragen von einer metaphysischen Heimat, die über aller Vergänglichkeit erhoben ist und der wir uns zugehörig wissen. In dieser neuzeitlich-christlichen Übersetzung des Platonismus erreicht das metaphysische Selbstverständnis seinen Höhepunkt. 2. Die „kritisch-metaphysische“ Möglichkeit Die zweite Möglichkeit findet ihre philosophische Ausbildung in Kants kritischen Schriften und der von ihnen inaugurierten Epoche. Sie hält zwar am Anspruch eines letzten Sinnes fest – und dennoch erfährt der Mensch in ihr zugleich eine eigentümliche erste Dezentrierung. Das menschliche Sein steht nicht mehr unmittelbar im Einklang mit der Wirklichkeit im Ganzen. Das prinzipielle Sich-Unterscheiden des Menschen von den Naturgesetzen und ihren Kausalitäten, das den vollendeten Einklang des Menschen mit der Wirklichkeit garantierte, ist nur noch als ein Wesensanspruch da, der nicht mehr im absoluten, sprich: theoretisch bestimmenden Sinne erfüllt werden kann. Die Nicht-Erkennbarkeit des Dings an sich legt fest, dass der „Sinn“ nun fortgerückt ist jenseits einer Kluft, die die Vernunft nicht mehr, wie in der vorkritischen Möglichkeit, durch ihr bloßes Gegebensein im Menschen überbrücken kann. Während in der vorkritischen Metaphysik der menschliche Geist der Vollzug des SichUnterscheidens selbst ist, der sich selbst als den absoluten Unterschied zur nichtgeistigen Wirklichkeit setzt und somit erst den Raum stiftet für die absolute Versöhnung von Ich und Welt (von Mensch und Natur), erweist sich in der kritischen Möglichkeit der Bereich des Übersinnlichen (das Sich-Unterscheidende) als ein Bereich, der von allem theoretisch-erkennenden Zugang der Vernunft absolut abgetrennt bleiben muss. Der Mensch trägt zwar in sich selbst einen nicht auslöschbaren, weil zur

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menschlichen Natur als solchen gehörenden Hinweis auf die Dimension des Absoluten (für Kant sind es die Ideen der reinen Vernunft), doch die Vernunft vermag nicht, das Intendierte der Ideen (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) unmittelbar zu erreichen und erkennend zu vergegenwärtigen. Der Hinweis auf das Transzendente, der Anspruch des Sich-Unterscheidens, bedarf eines gewandelten, nicht mehr feststellenden, sondern aufrufenden (ethischen) Blicks auf die Wirklichkeit. Ontologie und Ethik fallen auseinander, und zwar dergestalt, dass der ethische Zugang sich nunmehr als vorrangig erweist. Die Auszeichnung der Ethik vor der Ontologie gründet darin, dass die praktische Vernunft allein und ihre Postulate den Menschen vor sein eigentliches Wesen – vor den „Unterschied“ – zu bringen vermögen. Die kritische Möglichkeit wurzelt in einer letztlich unlösbaren Dichotomie zwischen Anspruch und Erfüllung. Der „Sinn“ – das Sich-Unterscheidende – ist zwar da, aber von uns fortgerückt, abgetrennt, unerreichbar. Wir können nicht mehr dasselbe sein wie der Sinn. Vielmehr trägt der Mensch in sich den Hinweis auf den Sinn als Zeichen einer Spaltung, die die objektivierende ratio nicht mehr eigenständig zu überbrücken vermag. Die Möglichkeit, dass der Einklang und ein letzter Sinn der Wirklichkeit eine bloße Illusion sein könnten, beginnt sich zu melden, wenn auch in einer noch eingedämmten Form, die durch die Ansetzung eines gewandelten, ethisch-postulierenden Blicks auf die Wirklichkeit erfolgreich abgewehrt werden kann. Die kritisch-metaphysische Möglichkeit ist geprägt durch die Kluft zwischen dem geforderten Sinn und dem nicht Bestimmt-Werden-Können dieses Sinnes. Der „Sinn“ kann (soll!) ethisch „gelebt“ und verwirklicht werden, aber er entzieht sich der theoretischen Bestimmung. In der kritischen Selbstpositionierung findet sich der Mensch vor eine Kluft gestellt, vor die Kluft, die ihn, uns, vom letzten Sinn der Dinge trennt. In der kritischen Selbstpositionierung gegenüber der Metaphysik wissen wir uns auf der Suche nach einem Zuhause, welches uns aufgrund unseres Wesens versprochen und als Aufgabe auferlegt ist und sich dennoch zugleich jeglichem bestimmenden Wissen, jeglicher certitudo endgültig verweigert. 3. Die „antimetaphysische“ Möglichkeit Mit Nietzsche brechen der Zweifel und die (wesentlich verstandene) Verzweiflung an der Möglichkeit eines Zuhauseseins des Menschen im Seienden im Ganzen durch. Die im Wort vom „Tode Gottes“ zusammengefasste Erfahrung „entlarvt“ die metaphysischen Ideale als zu überwindende „Illusionen“. Die Frage nach einem letzten „Sinn“ erweist sich als eine unmögliche, „sinnwidrige“ Frage. Dies betrifft nicht nur die Tatsache, dass Grundpfeiler der Metaphysik wie die Frage der Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes bewusst aus dem Horizont des Fragens verbannt werden. Die Erschütterung ist weitaus radikaler, denn sie betrifft die schlechthinnige Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Positionierung des Menschen (des Individuums) in einer ihm voraufgehenden und ihn tragenden Wirklichkeit. Weil es im Sinne Nietzsches keine „Objektivität“ mehr „gibt“, weil alles erfahren wird als

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Perspektivität, Interpretation und (postsubjektive) Setzung, versagt die Möglichkeit einer wie auch immer vollzogenen, sei es theoretisch-spekulativen, sei es ethischpraktischen Angleichung. Die antimetaphysische Selbstpositionierung verbleibt beim Abgrund selbst, beim Ausbleiben jeglichen Grundes, und setzt dieses Verbleiben als angedachte Leistung des „zukünftig herrschenden“ Über-Menschen an. Zwar ist auch die antimetaphysische Möglichkeit der Selbstpositionierung letztlich von einem „ethischen“ Blick auf die Wirklichkeit getragen (im gedanklichen Horizont Nietzsches trägt dieser Blick den Namen der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ im Unterschied zum „Willen zur Macht“ als dem ontologischen, und das heißt irgendwie doch „feststellenden“ Blick auf die Wirklichkeit). Doch diese antimetaphysische Ethik erwächst aus der Grundstimmung der wesentlichen Verzweiflung, und es ist innerhalb dieser Selbstpositionierung eben diese Grundstimmung, die uns unversehens vor die Möglichkeit eines neuen Grundes stellen kann. Das Wort „unversehens“ ist hier zu betonen. Während die kritische Möglichkeit der Selbstpositionierung den fortgerückten Sinn (den sich versagenden Einklang) noch auf rationalem Wege wieder einholen und gegenwärtig machen kann (sich also selbst zu diesem Einklang zurückbringt), ist mit dem Ende der Metaphysik der Sinn kein ruhender letzter Punkt mehr, sondern ein Geschehen, das unverfügbar bleibt. Das Sich-Unterscheiden (der Sinn) ist weder vorhanden und erreichbar (1. Möglichkeit), noch zwar von uns entfernt, aber auf ethischem Wege wieder erreichbar (2. Möglichkeit), sondern das Geschenk eines Augenblicks der freien Sicht, dem keine „Wirklichkeit“ mehr entspricht. 4. Heidegger und die Wiederholung der Metaphysik Eine vierte Möglichkeit der Selbstpositionierung zeigt sich in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken. Mit Heidegger ist Metaphysik jene Epoche des Denkens, in der anfänglich zwar „noch“ die Seinsfrage gestellt wurde, in der aber auch, beginnend mit Platon und Aristoteles, das Sein zugunsten des Seienden sich verschließt und uns letztlich an die „Machenschaft“ als das Wesen der gegenwärtigen Epoche ausliefert. Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit sind dabei kein Produkt des Menschen und seines „Willens“, sondern ein epochales Ereignis, das der Mensch nicht durch eigenen Willen oder gar durch eine nietzscheanische „Umwertung aller Werte“ beseitigen kann. Gegen die viel verbreitete Interpretation, Metaphysik sei bei Heidegger das schlechthin zu Überwindende, zeigt eine fundierte Auseinandersetzung mit Heideggers Denken, dass der erste, metaphysisch gewordene Anfang für Heidegger keineswegs ein reines Negativum darstellt, das mit dem „anderen Anfang“ hinter uns gelassen werden soll. Vielmehr ist Heideggers Denken wesensmäßig getragen vom Gedanken einer „Wiederholung“ des metaphysischen Anfangs. Der andere Anfang ist ein gewandeltes Verweilen beim ersten Anfang, der als solcher wesend und wirksam bleibt. Dabei stellt sich nicht mehr die Frage, ob die metaphysischen Einsichten uns unmittelbar Erkenntnis liefern, oder ob wir sie, wie bei Kant, „kritisch überprüfen“ oder gar, im Sinne Nietzsches, als „Irrtum“ verwerfen sollen.

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Die Metaphysik ist und bleibt eine Epoche unseres Seins. Die einzelnen metaphysischen Positionen sind „unbestiegene und unbesteigbare Berge“1, die immer noch „vor uns“ stehen. Entscheiden wir uns dazu, diese Berge uns anzueignen, dann müssen wir immer wieder den Weg hinauf wagen, wenn auch so, dass wir deren Gipfel niemals erreichen und bezwingen werden, weil die metaphysischen Fragestellungen weiterhin, solange wir Menschen sind, unser eigenes Wesen, wie Kant es formulierte, „belästigen“ und beunruhigen werden. Gegen alle „postmodernen“ Tendenzen, die metaphysischen Fragen als Fragen aufzugeben, zeigt sich im seinsgeschichtlichen Denken Heideggers die unabdingbare Notwendigkeit, diese Fragen wach zu halten und sie immer wieder zu wiederholen. Die Grundstimmung, die Heidegger in diesem Zusammenhang benennt, ist die der Verhaltenheit als die Mitte für Erschrecken und Scheu.2 Wenn das „Erschrecken“ uns vor den Folgen einer bestimmten (neuzeitlichen) Ausrichtung der Metaphysik bringt, die das Seiende im Ganzen und darunter den Menschen uns begegnen lässt in der Perspektive der Machenschaft und des Ge-Stells,3 so öffnet sich in diesem Erschrecken als Gegenspiel die „Scheu“ vor dem möglichen „anderen Anfang“, der die verborgenen Wege der Metaphysik als vor uns stehende, gewandelt zu ergreifende Möglichkeiten zeigt. Die von Heidegger umrissene Grundstimmung der Verhaltenheit scheint mir – nicht nur im Rahmen des Heideggerschen Entwurfs – einen besonders ausgewogenen Zugangsweg zur Metaphysik zu eröffnen. Verhaltenheit vor der Metaphysik – das würde in diesem Zusammenhang eine „vorsichtige“, nicht setzende Haltung gegenüber der Metaphysik benennen, in der die metaphysischen Positionen weder als schlechthin gültig noch als Irrtümer begegnen. Die Verhaltenheit scheint mir in diesem Zusammenhang am nächsten der kantischen Haltung zu stehen, die die Metaphysik zwar in ihren konkreten Ergebnissen kritisiert, sie aber andererseits als Teil unseres Wesens bedenkt, mit dem Unterschied, dass die Verhaltenheit gegenüber der kritischen Selbstpositionierung einen Schritt zurück bleibt und damit den Freiraum für eine „andersanfängliche“ Neuaneignung der Metaphysik eröffnet. III. Perspektiven auf die Metaphysik – Perspektiven der Metaphysik Metaphysik ist der Anspruch eines absoluten Sich-Unterscheidens und ist Besinnung auf diesen Anspruch. In ihrem Selbstverständnis ist der Anspruch eingelöst; alle Metaphysiken ruhen in sich selbst.

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GA 65, S. 187. Vgl. dazu den Beitrag v. Herrmanns in diesem Band sowie v. Herrmann 1994, S. XXX. 2 GA 65, z. B. S. 15. 3 Vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik. In: Vorträge und Aufsätze, EA S. 9 ff., GA 7, S. 7 ff.

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„Wir“, die durch Nietzsche und die Postmoderne gegangen sind, haben diese Ruhe verloren. Wir sind immer noch auch diese Möglichkeit des Einklangs und der Zuversicht – aber wir sind diese Möglichkeit gleichsam unversehens, wir „sind“ diese Möglichkeit, ohne uns darüber Rechenschaft ablegen zu wollen, ohne dies zu können und – vor allem – ohne damit zu rechnen. Wer „sind“ „wir“? Sind wir „der heutige Mensch“? Die „Wenigen und Seltenen“, wie Heidegger sie seinsgeschichtlich entworfen hat? Die „Vielen“, die vieles aufgegeben haben, die Blinden, die Sehenden – wer ist der Mensch? Die vielen Antworten der Metaphysik und der Metaphysik-Kritik stehen vor uns und laden dazu ein, Stellung zu nehmen. Aber jegliche „Stellungnahme“ ist endlich, partiell, ist ein Entwurf, der weitergereicht wird und „uns“ nicht gehört. Vielleicht hat die klassische Metaphysik eine bestimmte Form der Wahrheit verloren und eine andere, nicht weniger verbindliche gewonnen. Vielleicht liegt die innere Wahrheit der Metaphysik nicht darin, dass sie durchgängig und immer gilt und „wahr“ oder gar „richtig“ ist – sondern darin, dass sie manchmal, unerwartet und plötzlich, geschieht. Dieses Geschehen wird uns nirgendwo deutlicher als in den „Stimmungen“. Metaphysik könnte in diesem Sinne als Er-eignis der „Hoffnung“ verstanden werden, als unverfügbares Ereignis, das sich uns nicht mehr durch die rechnende Reflexion des Intellektes erschließt, sondern in einer Haltung, in einer Stimmung, die „unversehens“ sich meldet, aber auch – als Ethos – gelernt und gepflegt werden kann. Es ist jener zuweilen sich einstellende Einklang mit der Welt, der uns mehr „wissen“ lässt, als der Verstand uns erschließt. Vielleicht ist dieses „Wissen“, das nicht zwingend der philosophischen Reflexion bedarf, selbst ein „anderer Anfang“, der der menschlichen Existenz einen neuen Grund geben könnte. Einen Grund, der niemals in einer bestimmenden Erkenntnis „gesetzt“ werden kann, sondern sich in der Hoffnung und, vielleicht, im Glauben erschließt. Kant nennt dieses Wissen, freilich unter anderen Voraussetzungen, die Postulate der reinen Vernunft. Mir scheint es, dass sowohl bei Kant als auch bei Heidegger, trotz der großen Unterschiede, sich eine gemeinsame Ebene erschließt, in der die Metaphysik uns verwandelt begegnen kann. Das kantische „als-ob“ und die seinsgeschichtlich entworfene „Verhaltenheit“ zeigen beide in einen Urgrund des menschlichen Wesens, den keine „Antimetaphysik“ besiegen kann. Denn dieser Urgrund „bleibt“, er bleibt auch inmitten der Selbstzerstörung, die das „Unwesen“ des menschlichen Verstandes uns seit Jahrhunderten unentwegt als „Fortschritt“ präsentiert. Es liegt aber an uns, diesen Urgrund wach zu halten, es liegt an uns, immer wieder Perspektiven nicht nur auf, sondern Perspektiven der Metaphysik zu erschließen, die den stets aufs Neue uns ansprechenden Urgrund des Menschseins bedenken.

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Literaturverzeichnis Heidegger, Martin (1975 ff): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittsangabe). von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (1994): Wege ins Ereignis. Klostermann Verlag, Frankfurt am Main.

Metaphysik als Weg – eine Rück-besinnung auf die aristotelische pq¾tg vikosov¸a Tina Röck Es gibt heute im Wesentlichen drei Haltungen zur Metaphysik, welche das metaphysische Denken noch ernst nehmen. Diese Haltungen lassen sich grob in ablehnende, annehmende oder verwindende Positionen einteilen. Denker, die der Metaphysik ablehnend gegenüber stehen, sind der Meinung, dass wir heute Metaphysik nicht mehr betreiben können, da wir erkannt haben, dass in metaphysischen Untersuchungen nur von Dingen gesprochen wird, von denen wir nichts wissen können. Die Metaphysik ist abzulehnen, da sie sich um eine (im Grunde unerkennbare) Hinterwelt bemüht, anstatt sich mit den Problemen der konkreten Wirklichkeit zu befassen. Jene Denker hingegen, die sich der traditionellen Metaphysik verpflichtet fühlen, sind der Meinung, dass Metaphysik heute auch noch notwendig ist. Metaphysik als Wissenschaft der Bestimmung metaphysischer Gegenstände dient, in diesem Verständnis, meist zur Klärung oder Grundlegung jener Gegenstände oder Gesetze, mit denen sich die anderen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, befassen. Diese Gegenstände müssen von den anderen Wissenschaften vorausgesetzt werden, und nur die Metaphysik kann hier eine Klärung ermöglichen. Denker, die von einer Verwindung der Metaphysik sprechen, sind der Meinung, dass das metaphysische Denken der Tradition heute nicht mehr tragfähig ist. Dennoch können wir diese Tradition, die unser Denken auch heute noch formt, nicht einfach ignorieren, sondern wir müssen einen neuen Umgang mit dieser Tradition erarbeiten. Eine Möglichkeit eines solchen neuen Umgangs mit der Metaphysik liegt darin, zu den Ursprüngen des metaphysischen Denkens zurückzukehren und zu fragen, ob sich hier weitere Möglichkeiten zeigen, wie Metaphysik verstanden und betrieben werden kann, die in der Tradition vernachlässigt wurden. In den genannten Haltungen zur Metaphysik wird die Metaphysik je unterschiedlich verstanden. Die beiden zuerst genannten Positionen setzen ein Metaphysikverständnis voraus, das als klassisch gelten kann und vor allem die systematische Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit charakterisiert. In diesem Verständnis ist Metaphysik eine theoretische und abstrakte Wissenschaft, die sich mit den allgemeinsten und meist auch transzendenten Gründen und Ursachen des Seienden als Seiendes beschäftigt. Die dritte, verwindende Haltung muss offen lassen, was genau Metaphysik ist und sein kann, da eine neue Möglichkeit der Metaphysik erst in Auseinandersetzung mit der Tradition erarbeitet werden muss. Dies ist der Weg, den ich an dieser Stelle gehen möchte.

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I. Eine verwindende Neubestimmung der Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a Ich möchte im Folgenden aus der Perspektive der dritten, verwindenden, Position heraus die Frage stellen, ob das klassische Verständnis von Metaphysik nicht um die konkrete Dimension der Metaphysik und somit um das Woher und das Wohin des metaphysischen Fragens vergisst. Aus der verwindenden Haltung heraus versuche ich die Metaphysik als eine Suche nach Erkenntnis und Wissen zu verstehen, welche ihren Ursprung in unserem konkreten Leben und Er-leben hat. Das Ziel einer solchen Metaphysik ist es, das konkrete Leben der Menschen zu berühren und wenn möglich zu verbessern: „Denn die wahren kºcoi sind nicht nur sehr hilfreich in Bezug auf Wissen, sondern auch für das Leben: Wenn diese mit den Taten übereinstimmen, so werden sie geglaubt, und sie treiben jene, die sie verstehen, dazu an, nach ihnen zu leben.“1 Ich versuche im Folgenden aufzuzeigen, dass das Verstandnis von Metaphysik als Weg der aristotelischen Konzeption der prima philosophia viel näher ist als das klassische Verständnis von Metaphysik der transzendenten und idealen Gegenstände. Im Rahmen der pq¾tg vikosov¸a (prote philosophia) befasst sich Aristoteles nämlich nicht nur mit den metaphysischen Gegenständen, sondern auch wesentlich mit den Fragen nach dem Woher und Wohin dieser Wissenschaft. Der Weg der Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a beginnt nach Aristoteles bei bestimmten Problemen, die eine grundlegende Fragwürdigkeit eröffnen, führt über abstrakte Antworten und über die Annahme abstrakter Entitäten hin zu einer verwandelten Haltung, welche einen neuen Umgang mit dem ursprünglichen Problem ermöglicht. Von der klassischen, selbstvergessenen und dogmatischen Metaphysik lässt sich also mit Aristoteles ein Verständnis von Metaphysik unterscheiden, das sich auf die Wurzeln der metaphysischen Gegenstände im konkreten Fragen besinnt und dessen Ziel eine Verwandlung der Haltung des Denkers ist – und nicht die gewisse Erkenntnis absoluter Entitäten. Die traditionelle dogmatische Metaphysik beschäftigt sich nur mit einem Aspekt dieses Weges der pq¾tg vikosov¸a, nämlich mit den abstraken Antworten und Entitäten – also mit den metaphysischen Gegenständen. Im Vergleich mit der pq¾tg vikosov¸a scheint es, als hätte die klassische Metaphysik um ihre eigene c´mesir und um ihr t´kor vergessen. Dieses Vergessen um den eigenen Weg, um das Woher und Wohin der pq¾tg vikosov¸a, führt zu jenem klassischen metaphysischen Denken, das wohl zurecht kritisiert wird. Ich werde dieses umfassendere Verständnis von Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a bei Aristoteles in zwei Skizzen darstellen. Zunächst frage ich mit Aristoteles nach dem Woher der Gegenstände, mit denen sich das metaphysische Denken befasst; 1 1o¸jasim owm oR !kghe?r tym kºcym oq lºmom pq¹r t¹ eQd´mai wqgsil¾tatoi eWmai, !kk± ja· pq¹r t¹m b¸om7 sumydo· c±q emter to?r 5qcoir piste¼omtai, di¹ pqotq´pomtai to»r sumi´mtar f/m jat‘aqto¼r. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1172b4).

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dies ist zugleich auch die Frage nach dem Woher der Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a. In der zweiten Skizze frage ich nach dem Ziel dieser Metaphysik und versuche zu zeigen, dass nach Aristoteles die pq¾tg vikosov¸a letztlich nicht nach absoluten und zeitlosen Gegenständen strebt, sondern nach dem, was Aristoteles sov¸a nannte und als Verwandlung der eigenen Haltung zu den Problemen gedeutet werden kann, die erst den Anstoß für das metaphysische Denken gaben. 1. Erste Skizze: Das ,Woher‘ der metaphysischen Gegenstände Die erste Frage nach dem Woher der metaphysischen Gegenstände und somit nach dem Woher der Metaphysik führt zu den Büchern der Metaphysik. Aristoteles bestimmt hier die erste Philosophie (pq¾tg vikosov¸a) als jene Wissenschaft, die sich mit den „Prinzipen und Ursachen des Seienden insofern es seiend ist“2 beschäftigt. Doch diese Bestimmung ist noch nicht hinreichend, um zu verstehen, womit sich die pq¾tg vikosov¸a genau befasst. Denn was sind denn die Prinzipien und Ursachen des Seienden insofern es seiend ist? Was ist das Seiende und inwiefern unterscheidet sich das Seiende als Seiendes vom bloß Seienden oder vom Seienden als Anwesendes? Der Gegenstandsbereich der Metaphysik ist also mit dieser Definition noch keineswegs geklärt und muss erst erschlossen werden. Denn es ist gar nicht so einfach die Gegenstände der Metaphysik aufzeigen, denn die metaphysischen Gegenstände erscheinen weder in der Wahrnehmung noch in der Erfahrung und auch dem Denken sind sie nicht unvermittelt zugänglich. Betrachtet man die Art und Weise, wie sich uns metaphysische Gegenstände zeigen, fällt auf, dass uns die metaphysischen Gegenstände zunächst nicht unvermittelt durch eine Wiedererinnerung, eine Schau oder durch Inspiration gegeben sind. Die metaphysischen Gegenstände zeigen sich vielmehr erst, sobald wir nach ihnen fragen. So kann sich mir ein ug poje¸lemom (ein Zugrundeliegendes) erst zeigen bzw. etwas kann erst dann als Zugrundeliegendes bestimmt werden, wenn ich nach der tragendenden Grundlage des Seienden frage. Erst wenn ich nach dem Grund frage, kann sich etwas als Begründendes zeigen. Erst wenn ich nach dem letzten Ziel des Seienden frage, kann die Vorstellung eines unbewegten Bewegers zur Antwort dieser Frage werden. Auch die Prinzipien oder die Kategorien zeigen sich erst vermittelt durch die Frage nach der Bestimmung des Seienden. Und das Seiende zeigt sich erst als Seiendes, wenn ich danach frage, was denn das Seiende als Seiendes ausmacht, im Unterschied zum Blumentopf oder der Rechenmaschine als Seiende. Die metaphysischen Gegenstände werden uns also erst im Fragen zugänglich. Fragwürdig wird etwas jedoch nur dann, wenn sich der problematische Charakter dessen auftut, wonach gefragt wird. Das Fragen ist also ein Kennzeichen dafür, 2

Aristoteles, Metaphysik, 1025b; zwar handelt eine jede Wissenschaft von Prinzipien und Ursachen, erläutert Aristoteles, jedoch handeln andere Wissenschaften immer nur von den Prinzipien und Ursachen eines Seinsbereiches oder einer Gattung. Vom Seienden schlechthin und insofern es Seiendes ist, geben die anderen Wissenschaften keine Auskunft. Sie setzen es unreflektiert voraus. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1025b7 ff.

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dass etwas sich als ungewiss, unbekannt oder eben einfach als problematisch gezeigt hat. Über die Fragen sind also die metaphysischen Gegenstände mit den konkreten menschlich-weltlichen Problemen des Fragenden verknüpft. Die metaphysischen Gegenstände sollten Antworten auf Probleme sein, die selbst erst im Fragen explizit werden. Aristoteles umreißt den Gegenstandsbereich, mit dem sich die pq¾tg vikosov¸a beschäftigen soll, als die Frage nach den ersten Prinzipien und beschreibt, wie wir uns diesen Prinzipien fragend nähern sollen: Für die gesuchte Wissenschaft ist es nötig, daß wir uns zuerst dem zuwenden, was zunächst fragwürdig (!poq/sai) scheint. […] Für diejenigen nämlich, die einen guten Erfolg der Lösung anstreben, ist eine gute Fragestellung förderlich; denn der spätere Erfolg liegt in der Lösung des vorher in Frage Gestellten, auflösen aber kann man nicht, wenn man den Knoten nicht kennt. Die Fragestellung (Aporie) aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an; […].3

Aristoteles verwendet an dieser Stelle immer wieder Varianten des Begriffes !poq¸a, der hier mit dem Begriff ,Frage‘ übersetzt wurde. Ursprünglich bedeutet der Begriff !poq¸a „die Not eines Reisenden, dem auf der Fahrt durch schwieriges Gelände plötzlich der Weg versperrt ist“4. In späterer Verwendung verweist dieser Begriff, neben anderen weitreichenden Bezügen, sowohl auf Ausweglosigkeit und Ratlosigkeit, als auch auf das forschende Fragen, das sich auf diese Ausweglosigkeit und Ratlosigkeit bezieht. Im Begriff der !poq¸a zeigt sich also der enge wechselseitige Zusammenhang zwischen erforschender Frage und Problem sehr deutlich. Die metaphysischen Gegenstände erschließen sich uns also erst durch das Fragen und das Fragen verweist auf ein konkretes Problem, das sich dem Fragenden aufdrängt, und das er vermittels der metaphysischen Gegenstände zu beantworten sucht. Metaphysische Gegenstände und metaphysische Systeme sind also Antworten auf bestimmte Fragen und nur als Antworten auf diese Fragen können diese Gegenstände und Systeme Gültigkeit haben. Jede metaphysische These, jeder behauptete, vorgestellte oder implizierte metaphysische Gegenstand ist eine Antwort, der ohne die spezielle Frage, auf die er antworten soll, unverständlich wird. Die metaphysischen Gegenstände und die metaphysischen Systeme haben demnach für uns Fragende einen durch und durch vermittelten Charakter. Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass diese Charakterisierung der metaphysischen Gegenstände dazu führt, dass die Metaphysik und ihre Gegenstände vollkommen willkürliche und daher bedeutungslose Setzungen zu sein scheinen. Obwohl, so kann diesem Einwand begegnet werden, die Gegenstände der Metaphysik erst durch die Fragen zugänglich oder sogar erst durch sie möglich werden, gibt es auch einen Aspekt, der unvermittelt ist. Was uns (zumindest in manchen Momenten) unvermittelt zugänglich ist, sind eben jene Probleme und die damit verbundenen Fra3 4

Aristoteles, Metaphysik, 995a24 ff. Riedel, S. 11.

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gen, welche die Metaphysik erst nötig machen. Auch wenn der Bereich, auf den sich diese Fragen beziehen, nicht unvermittelt gegeben ist, ist das kein Argument gegen die Bedeutung des metaphysischen Fragens, denn die Probleme und die entsprechenden Fragen selbst sind unvermittelt präsent. Sie drängen sich uns auf. Die Tatsache, dass die metaphysischen Gegenstände uns erst im Fragen zugänglich werden, bedeutet daher nicht notwendigerweise, dass die Gegenstände der Metaphysik erst mit dem metaphysischen Fragen „entstehen“. Es bedeutet nur, dass uns der Gegenstandsbereich der Metaphysik erst im Fragen aufgeht. 2. Zweite Skizze: Das Ziel der Metaphysik Nun zu der zweiten Skizze, in der nach dem Ziel der Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a gefragt werden soll. In dem eingangs geschilderten klassischen Verständnis von Metaphysik scheint es so, als wäre die möglichst präzise, objektive und endgültige Bestimmung der transzendenten und apriorischen Gegenstände der Metaphysik das einzige Ziel metaphysischer Forschung. Aristoteles schildert das Ziel seiner pq¾tg vikosov¸a jedoch folgendermaßen: „Da wir nun diese Wissenschaft (1pist¶lg) suchen, müssen wir danach fragen, von welcherlei Ursachen (aQt¸a) und Prinzipien (!qw¶) die Wissenschaft (1pist¶lg) handelt, welche Weisheit (sov¸a) ist.“5 Philosophie ist für Aristoteles also eine Wissenschaft, weil sie wie eine jede Wissenschaft nach Prinzipien und Ursachen fragt. Sie unterscheidet sich jedoch von den anderen Wissenschaften, wie Aristoteles in der Folge erläutert, weil sie nach den ersten Prinzipien, also nach den ersten Gründen fragt. Und das Fragen nach den ersten Gründen, so sagt Aristoteles, sehen „alle als Grundlage der sogenannten Weisheit (sov¸a)“6 an. Doch das obige Zitat zeigt uns, dass die pq¾tg vikosov¸a nicht nur Grundlage von Weisheit ist. Vielmehr sagt Aristoteles: 1pist¶lg sov¸a 1st¸m (diese Wissenschaft ist Weisheit). Die Metaphysik als Wissenschaft der ersten Prinzipien und Ursachen sucht zwar, wie eine jede Wissenschaft, auch nach Wissen (1pist¶lg) oder Erkenntnis, doch letztlich ist diese Wissenschaft sov¸a. Diese Identifikation der pq¾tg vikosov¸a mit der Weisheit ist nach Aristoteles die differentia specifica der Metaphysik, die sie von allen andern Wissenschaften unterscheidet. Der Weg der Metaphysik ist also für Aristoteles ein Weg, den wir beschreiten können, um Weisheit zu erlangen: dieser Weg ist der Weg der heyq¸a, der in einer Aporie beginnt, vermittels theoretischer Betrachtung Antworten auf diese Aporie sucht und damit endet, dass der Fragende ein Weiser geworden ist. Der Weisheitssuchende muss sich also den metaphysischen Fragen stellen. Das Ziel dieses Fragens ist jedoch nicht ein philosophisches System oder Erkenntnis der absoluten metaphysischen Gegenstände. Das letzte Ziel dieser theoretischen Tätigkeit ist, nach Aristoteles, die Fähigkeit, die angemessenen Gründe, also „das 5 6

Aristoteles, Metaphysik, 982a4. Ebd., 982a8.

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,weswegen‘ des Handelns, zu erkennen“7. Weisheit besteht für Aristoteles in einer Haltung, die es ermöglicht, ein angemessenes ,Weswegen‘ des Handelns zu erkennen, also angemessene Ziele zu verfolgen. Letztlich ist das Ziel der Metaphysik also ein praktisches und nicht die theoretische Erkenntnis transzendenter Gegenstände. Dieses Ziel, also die Haltung, die das ,Weswegen‘ des Handelns zum Leitfaden hat, führt letztlich zu dem Ergebnis, dass „das Gute für jeden Einzelnen und, in Hinblick auf das Ganze, das Beste für die gesamte Natur“8 angestrebt wird. Der Weg, der zu diesem Ziel führt, ist die heyq¸a der pq¾tg vikosov¸a. Diese Auslegung der heyq¸a widerspricht dem gängigen Verständnis davon, was Theorie leisten kann und soll. Uns steht die heyq¸a geradezu im Gegensatz zur Praxis und keineswegs im direkten Dienst der sov¸a oder im Dienst einer gelungen Haltung zum Leben. Ursprünglich bedeutet der Begriff ,heyq¸a‘ im Griechischen zunächst einfach nur ,Betrachtung‘. Der theoros ist „der Zuschauer, genauer: der Veterter griechischer Städte bei öffentlichen Festspielen und religiösen Kulthandlungen“9. Bei Aristoteles wird die Theorie zu einem Begriff, der ein Erkenntnisstreben bezeichnet, das frei ist von irgendwelchen Zwecken oder Nutzen. In der heyq¸a, als reines beobachtendes Schauen, strebt der Mensch nach Erkenntnis bloß um ihrer selbst willen. Dies ist für Aristoteles die vollkommenste Tätigkeit des menschlichen Lebens und der Weg zum höchsten Glück10 – außerdem ist es, wie wir gesehen haben, der Weg zur Weisheit. Die Theorie verstehen wir zwar auch heute noch als eine betrachtende Haltung, die jedoch nicht als Weg zum Glück verstanden wird, sondern als Weg zu objektiver Erkenntnis. Durch diese verobjektivierende Ausrichtung wurde das bloße Schauen der heyq¸a in eine abstrahierend-theoretische Einstellung zu den Gegenständen der Untersuchung verwandelt. Die moderne Haltung der Theorie zeichnet sich also idealerweise durch Interesselosigkeit und Objektivität gegenüber dem Untersuchungsgenstand aus. Diese Möglichkeit der Objektivität in der Erkenntnis des Untersuchungsgegenstandes wird erst durch die theoretische Position, wie wir sie heute verstehen, möglich: unsere heutige Theorie ist eine Methode, welche die Dinge aus ihrem weltlichen Zusammenhang löst – die sie von Umständen und Einflüssen ab-strahiert und so ab-solut macht –, um diese sich als singuläre Objekte vorstellen zu können und diese in weiterer Folge untersuchen zu können.11 Das zentrale Ziel dieser Form der Untersuchung ist zweckorientiertes Wissen – Weisheit oder die Vervollkommnung der eigenen Lebenspraxis spielt in unserem heutigen Verständnis von Theorie und theoretischer Untersuchung keine Rolle mehr. Es ist auch gerade diese verobjektivierende Art Theorie und die theoretische Haltung zu verstehen, die zu der Form von Metaphysik führt, die hier als klassische Metaphysik bezeichnet wurde. 7

Ebd., 982b5; „[…] gg cmyq¸fousa t¸mor 6mej´m 1sti pqajt´om 6jastom“. Ebd., 982b6; „toOto d‘ 1stiüX t!cah¹m 2j²stoir, o´g kyr d³ t¹ %qistom 1m t0 v¼sei p²s,“. 9 Angehrn 2000, S. 42. 10 Vgl. ebd., S. 42. 11 Für weitere und genauere Bestimmungen der Theorie vgl. ebd., S. 41 ff.

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Aristoteles kann also nicht von dieser Art der Theorie und der entsprechenden abstrahierenden und objektivierenden Haltung gesprochen haben, wenn er davon spricht, dass das Ziel der pq¾tg vikosov¸a die Weisheit ist. Wenn wir also der Untersuchung der aristotelischen Gedanken unser heutiges Verständnis von Theorie unterstellen, werden wir Aristoteles‘ eigentliche Bestimmung der Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a und als Weg zur Weisheit nicht verstehen können. Die zweite Skizze zusammenfassend kann gesagt werden, dass derjenige, der sich mit Metaphysik beschäftigt, vermittels dieser Beschäftigung ein Weiser werden soll. Der erste Schritt in Richtung Weisheit besteht darin, gewisse Fähigkeiten in Bezug auf Wissen, Wahrheit, Erkenntnis und Lehre zu entwickeln. Denn nach Aristoteles wird nur derjenige weise genannt, der alles versteht (1pist¶lg), ohne etwas vom sinnlich erfahrbaren Einzelnen wissen zu müssen. Dieser kann somit das Schwierigere und somit das Abstraktere erkennen (cicm¾sjeim) und ist fähig, die Ursachen zu lehren.12 Diese Fähigkeiten ermöglichen es dem Theoretiker auch das Weswegen des Handelns, also die Ursachen und Ziele des Handelns, zu erkennen, was es ihm wiederum ermöglicht, eine gewisse Haltung einzunehmen, die am Guten für einen selbst und am Besten für die gesamte Natur ausgerichtet ist.13 Das letzte Ergebnis der pq¾tg vikosov¸a ist also nicht die Erkenntnis von Tatsachen oder Sachverhalten, oder von transzendenten Entitäten, sondern ein Wissen um Wert und Bedeutung, welches eine habituelle Orientierung des konkreten Handelns an dem Besten sowohl für den Einzelnen als auch für das Ganze, ermöglichen soll. Das Ergebnis der Beschäftigung mit theoretischen Fragen und metaphysischen Gegenständen sollte also ein Habitus oder eine Haltung sein, die im konkreten Fall bei Aristoteles durch einen gewissen Bezug zu Erkenntnis, Wahrheit und Lehre, und damit zugleich durch ein Wissen der Gründe und Ziele des Handelns, gekennzeichnet ist. Auch in der Nikomachischen Ethik zeigt sich eine ähnliche Verwebung von Theorie und Lebenspraxis, die hier auch noch mit der Vorstellung von Erfüllung oder Glückseligkeit verbunden wird. Im zehnten Buch spricht Aristoteles von der Verbindung von heyq¸a, eqdailom¸a und sov¸a. Aristoteles erklärt, dass wahre Glückseligkeit sich nur dann selbst genügt, wenn sie etwas anderes zum Inhalt hat als den eigenen Vorteil: Bei diesem anderen, so wird in der Untersuchung klar, kann es sich nur um die heyq¸a handeln. Wir erlangen nach Aristoteles wahre eqdailom¸a nur dann, wenn wir die Welt verstehend betrachten, ohne dass dieses Betrachten auf einen persönlichen Vorteil oder einen Nutzen ausgerichtet ist.14 Die konkreten Folgen, welche die metaphysische Betrachtung für das Leben des Einzelnen haben soll, werden so auch in der Nikomachischen Ethik betont: theoretisch-betrachtendes Denken soll letzlich nicht nur zur sov¸a führen, sondern es führt zugleich auch zur wahren eqdai12

Aristoteles, Metaphysik, 982a8. Für eine genauere Untersuchung dieser Zusammenhänge von Weisheit und Metaphysik vgl. Bell, S. 34 ff. 14 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177a. 13

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lom¸a – das Ziel der Theorie ist zwar nicht zweckorientiert – in der Theorie streben wir weder nach Nutzen, Gewinn oder Anerkennung –, aber sie führt einen zu einem praktischen Ziel, nämlich zu einer weisen und glücklichen bzw. geglückten Haltung zum Leben. II. Ergebnis: Eine Möglichkeit der Neubestimmung von Metaphysik Die klassische Metaphysik als Onto-theologie befreite ihre Gegenstände von Zeitlichkeit – sie befreite sie von ihrem Woher und Wohin: „Der Grund ist nicht mehr das Frühere, das Begründete nicht mehr das Spätere; der Ausblick auf Ursprung und Ziel bildet nicht mehr den selbstverständlichen Rahmen der Seinstheorie. Theorie erzählt keine Geschichte, […].“15 Anstelle des Gründens durch das Frühere tritt das Gründen durch das allgemeinere Prinzip. An die Stelle eines bestimmten Ziels als Orientierung und Ausrichtung der Untersuchung tritt der objektive und messbare Nutzen. Bei Aristoteles lässt sich noch ein anderes Verständnis von Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a aufzeigen, dem es sehr wohl noch um das Woher und Wohin und somit um die Geschichte der Metaphysik und zugleich um das Leben des Denkers geht. Das Ziel einer solchen Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a ist eine Haltung des denkenden Menschen, welche einen angemessenen Umgang mit den Problemen dieses konkreten denkenden Menschen ermöglicht. Doch auch diese Charakterisierung der Aufgabe der Metaphysik bleibt unverständlich, solange der Begriff der ,Haltung‘ noch nicht näher betrachtet wurde. Bisher wurde der Begriff der ,Haltung‘ vor allem mit der Weisheit, der sov¸a, und einer gewissen Einstellung in Bezug auf Wissen, Erkenntnis und Lehre in Verbindung gebracht. Doch was benennt diese Verbindung eigentlich? Der entsprechende lateinische Begriff für Haltung (,habitus‘) bezeichnet das Erscheinungsbild einer Person in ihrer äußeren Erscheinung und in einer sich im Verhalten zeigenden inneren Verfassung. Mit Betonung des Aspektes der äußeren Erscheinung kann der Begriff ,habitus‘ auch Kleidung, Anstand, Aussehen und körperlicher Zustand bedeuten. Den Aspekt der inneren Verfassung, der sich äußerlich, also anschaulich, zeigt, übersetzt man im Deutschen mit dem Begriff der ,Haltung‘. Beide Begriffe, jener des ,habitus‘ als auch jener der ,Haltung‘, verweisen also auf einen Zusammenhang zwischen innerer Einstellung bzw. Beschaffenheit und äußerer Erscheinung bzw. dem Verhalten in der Außenwelt. Der deutsche Begriff der ,Haltung‘ bezieht sich noch stärker als das Lateinische ,habitus‘ auf die innere Grundeinstellung, die jemandes Denken und Handeln prägt. Es bezieht sich also auf das Verhalten des Menschen in seiner Welt, das durch eine bestimmte innere Einstellung oder Verfassung hervorgerufen wird. In der Haltung eines Menschen zeigen sich seine innere Verfassung, seine Überzeugungen und Einstellungen. Der Ausdruck ,Haltung‘ vermittelt also eine Verbindung zwischen den Einstellungen und Überzeugungen eines Menschen und seinem Umgang mit der 15

Angehrn 2000, S. 49.

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ihm begegnenden Welt. Denn welche Haltung ein Mensch hat, zeigt sich nur im Verhalten des Menschen zu seiner Welt. Diese Einstellungen und Überzeugungen der Haltung soll die pq¾tg vikosov¸a nach Aristoteles so verwandeln, dass man den Menschen als weise und seinen Umgang mit der ihm begegnenden Welt als glücklich und geglückt betrachten kann. Die aus der metaphysischen Beschäftigung resulteriende Haltung ist Ausdruck dessen, was der Mensch als denkendes und empfindendes Lebewesen ist, und sie wird auch zum Moment der Verbindung von Mensch und Welt. Denn eine Haltung wird erst im Handeln manifest. Sie findet ihren Ausdruck erst im Umgang des Menschen mit seiner Welt. Doch die Haltung bezeichnet nicht nur die rational-kognitiven Einstellungen des Menschen zu der Welt, sondern thematisiert auch die emotionale Ebene. Insofern kann und soll die Beschäftigung mit der Metaphysik auch eine Verwandlung der emotionalen Verfassung des Menschen erreichen: es gibt die Möglichkeit des Trostes der Philosphie. Die Metaphysik ist für Aristoteles ein Weg, eine Haltung zu verinnerlichen, die er mit dem Begriff ,sov¸a‘ kennzeichnet. Diese Haltung zeigt sich in den eigenen Entscheidungen, also daran, dass man im Zweifelsfalle das Beste für einen selbst und das Beste für die gesamte Natur wählen kann. Diese Verbindung impliziert natürlich auch, dass die Metaphysik ein möglicher Weg ist, um eine Erkenntnis des Guten zu ermöglichen und den Denkenden zu befähigen, dieses Gute auch in seinem Leben zu ergreifen und zu leben. Hinter dieser Verknüpfung von Metaphysik und Ideal steht seit Aristoteles die Idee, dass nur der Weise, also derjenige, der sich mit dem Seienden und seinen letzten Ursachen und Prinzipien beschäftigt hat, mit den Fragen nach dem Guten, mit den Fragen nach Wert und Bedeutung des Seienden angemessen umgehen kann. So sind bei Aristoteles Erkenntnis, Weisheit und Glück in der Metaphysik miteinander verwoben. Wie auch immer diese inhaltliche Verwebung von Erkenntnis, Weisheit und glücklichem Leben bewertet wird, was sie aufzeigen kann, ist die Überzeugung des Aristoteles, dass die Aufgabe der Metaphysik eine Verwandlung des Menschen ist. Die Aufgabe der Metaphysik ist letztlich eine Metamorphose des Denkens, deren Ergebnis eine Metamorphose des Denkenden, also eine verwandelte Haltung ist. Ziel der Metaphysik ist es dann, die eigene Wirklichkeit in ihren allgemeinsten Strukturen zu beschreiben und auf dieser Basis eine Haltung zu ermöglichen, die der jeweiligen Situation angemessene Werte als ein Gut erkennt und sie zu Zielen des Handelns macht. Die so verstandene Metaphysik als pq¾tg vikosov¸a beschreibt einen Weg, der von den konkreten Fragen über abstrakte Antworten zu einer verwandelten Haltung und somit zu einer Verwandlung der Einstellungen des Einzelnen und seiner daraus resultierenden Interaktion mit der Wirklichkeit führt. Eine solche Metaphysik kann, gerade wegen dieser Verwurzelung im Konkreten und wegen dieser Ausrichtung auf das Konkrete hin, nicht mehr als eine objektive Wissenschaft, welche die Erkenntnis apriorischer und transzendenter Gegenstände zur Aufgabe hat, verstanden werden. Auch die Frage, was unter dem Begriff der

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sov¸a zu verstehen ist, oder die Frage, was das Gute für einen selbst und das Beste für die gesamte Natur sein kann, müssen daher im konkreten Fall immer wieder neu gestellt und neu beantwortet werden. Letzte oder allgemeingültige Antworten lassen sich auf diese Fragen prinzipiell nicht finden, da diese Fragen im Konkreten wurzeln und auf das Konkrete ausgerichtet sind. Eine solche verwindende Metaphysik kann daher keinen direkten Fortschritt in der Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit oder unvermittelt einen allgemeinen Nutzen erbringen: Sie kann weder zur Festigung eines Weltbildes, noch zur Begründung einer Kultur, oder zur Klärung der Gegenstände anderer Wissenschaften dienen. Metaphysik kann also nichts Konkretes ,leisten‘; wenn Leistung zum einzigen Kriterium für Sinn und Bedeutung wird, kann Metaphysik heute nicht mehr sinnvoll betrieben werden. Sieht man jedoch die Metaphysik als einen Weg, ist sinnvolle Metaphysik sehr wohl möglich. Denn diese vermeintliche ,Nutzlosigkeit‘ ist kein Mangel der verwindenden Metaphysik, sondern liegt im Wesen der Philosophie selbst begründet: Es ist völlig richtig und in der besten Ordnung: „Man kann mit der Philosophie nichts anfangen“. Verkehrt ist nur, zu meinen, damit sei das Urteil u¨ ber die Philosophie beendet. Es kommt nämlich noch ein kleiner Nachtrag in der Gestalt einer Gegenfrage, ob, wenn schon wir mit ihr nichts anfangen können, die Philosophie am Ende nicht mit uns etwas anfängt, gesetzt, daß wir uns auf sie einlassen.16

Literaturverzeichnis Angehrn, Emil (2000): Der Weg zur Metaphysik, Vorsokratik-Platon-Aristoteles, Weilerswist. – (1999) Vom Sinn des Fragens. Wege nachmetaphysischen Philosophierens, in: K. Pestalozzi (Hrsg.), Der fragende Sokrates (Colloquium Rauricum 6) Stuttgart/Leipzig, S. 189 – 207. Aristoteles: Metaphysik. – Nikomachische Ethik. Bell, Ian (2004): Metaphysics as an aristotelian science, St. Augustin. Heidegger, Martin: (1975 ff.): Gesamtausgabe, hg. v. F.W. v. Herrmann, Frankfurt (zit.: GA mit Bandzahl und Seiten-/Abschnittangabe). Riedel, Manfred (1988): Philosophieren nach dem „Ende der Philosophie“. Zur Sache des Denkens im Zeitalter der Wissenschaft, in: Für eine zweite Philosophie, Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt. Senell, Bruno (1980): Die Entdeckung des Geistes, Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen (5. Auflage).

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GA 40, S. 14.

Verwendete Bände der Heidegger Gesamtausgabe Sämtliche Bände sind im Klostermann Verlag, Frankfurt a./M. erschienen GA 1 – Frühe Schriften, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1978 GA 2 – Sein und Zeit, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1977 GA 3 – Kant und das Problem der Metaphysik, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1991 GA 4 – Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1981 GA 5 – Holzwege, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1977 GA 6.1 – Nietzsche I, hrsg. v. B. Schillbach, 1996 GA 6.2 – Nietzsche II, hrsg. v. B. Schillbach, 1997 GA 7 – Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 2000 GA 8 – Was heißt Denken?, hrsg. v. P.-L. Coriando, 2002 GA 9 – Wegmarken, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1976 GA 11 – Identität und Differenz, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 2006 GA 12 – Unterwegs zur Sprache, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1985 GA 14 – Zur Sache des Denkens, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 2007 GA 15 – Seminare, hrsg. v. C. Ochwadt, 1986 GA 16 – Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. v. H. Heidegger, 2000 GA 23 – Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, hrsg. v. H. Vetter, 2006 GA 24 – Die Grundprobleme der Phänomenologie, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1975 GA 39 – Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, hrsg. v. S. Ziegler, 1980 GA 40 – Einführung in die Metaphysik, hrsg. v. P. Jaeger, 1983 GA 42 – Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hrsg. v. I. Schüssler, 1988 GA 43 – Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, hrsg. v. B. Heimbüchel, 1985 GA 44 – Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken: Die ewige Wiederkehr des Gleichen, hrsg. v. M. Heinz, 1986 GA 45 – Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte „Probleme der Logik“, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1984 GA 48 – Nietzsche: Der europäische Nihilismus, hrsg. v. P. Jaeger, 1986 GA 50 – Nietzsches Metaphysik / Einleitung in die Philosophie – Denken und Dichten, hrsg. v. P. Jaeger, 1990

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Verwendete Bände der Heidegger Gesamtausgabe

GA 55 – Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens / 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos, hrsg. v. M. S. Frings, 1979 GA 60 – Phänomenologie des religiösen Lebens. 1. Einleitung in die Phänomenologie der Religion hrsg. v. M. Jung et T. Regehly / 2. Augustinus und der Neuplatonismus / 3. Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik, hrsg. v. C. Strube, 1995 GA 62 – Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik, hrsg. v. G. Neumann, 2005 GA 65 – Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis), hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1989 GA 66 – Besinnung, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1997 GA 67 – Metaphysik und Nihilismus, hrsg. v. H.-J. Friedrich, 1999 GA 71 – Das Ereignis, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 2009 GA 78 – Der Spruch des Anaximander, hrsg. v. I. Schüssler, 2010 GA 79 – Bremer und Freiburger Vorträge, hrsg. v. F.-W. P. Jaeger, 1994

Autorenverzeichnis Francesco Cattaneo, Dr., Dipartimento di Filosofia e Comunicazione della Università degli Studi di Bologna Paola-Ludovika Coriando, Prof. Dr., Institut für Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Norbert Fischer, Prof. Dr., Philosophisch-Pädagogische Fakultät, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Giuliana Gregorio, Dr., Dipartimento di Filosofia, dell’ Università degli Studi di Messina Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Prof. Dr., Philosophische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Christian Kanzian, Prof. Dr., Institut für christliche Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Günther Pöltner, Prof. Dr., Institut für Philosophie, Universität Wien Gerold Prauss, Prof. Dr., Philosophische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Tina Röck, Univ.Ass. Dr., Institut für Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Edmund Runggaldier, Prof. Dr., Institut für christliche Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Ingeborg Schüssler, Prof. Dr., Section de philosophie, Université de Lausanne Giuseppina Strummiello, Prof. Dr., Dipartimento FLESS – Sezione di Filosofia dell’ Università degli Studi di Bari Aldo Moro Rainer Thurnher, Prof. Dr., Institut für Philosophie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Peter Trawny, Prof. Dr., Philosophisches Seminar – Fachbereich A, Bergische Universität Wuppertal