Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung 9783863315580


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German Pages 402 Year 2021

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Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung
 9783863315580

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Michael Rothberg Multidirektionale Erinnerung

Michael Rothberg

Multidirektionale Erinnerung Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung Aus dem Englischen von Max Henninger

Die Übersetzung wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung von: 1939 Society Samuel Goetz Chair in Holocaust Studies at UCLA, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Goethe-Institut, Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Stiftung Zeitlehren.

STIFTUNG

Zentrum für Antisemitismusforschung

ZEITLEHREN

Erstausgabe: Michael Rothberg, Multidirectional Memory Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization Stanford University Press 2009

ISBN: 978-3-86331-558-0 © 2021 Metropol Verlag

Ansbacher Str. 70 | D-10777 Berlin www.metropol-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Druck: buchdruckerei.de, Berlin

Inhalt 7

Zur Einführung: Interview mit Michael Rothberg von Felix Axster und Jana König

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1. Einleitung: Die Theorie multidirektionaler Erinnerung in einem transnationalen Zeitalter

Teil I: Bumerang-Effekte: Nacktes Leben, Trauma und die koloniale Wende in der Holocaustforschung 59

2. An den Grenzen des Eurozentrismus: Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

97

3. »Un choc en retour«: Aimé Césaires Diskurse über Kolonialismus und Genozid

Teil II: Migrationen der Erinnerung: Ruinen, Ghettos, Diasporen 143

4. W. E. B. Du Bois in Warschau: Holocaustgedenken und die color line

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5. Anachronistische Ästhetik: André Schwarz-Bart und Caryl Phillips über die Ruinen der Erinnerung

Teil III: Wahrheit, Folter, Zeugnis: Holocaustgedenken während des Algerienkriegs 211

6. Das Werk der Zeugenschaft im Zeitalter der Dekolonisierung: Chronik eines Sommers und das Auftauchen der Holocaust-Überlebenden

237

7. Die gegenöffentliche Zeugin: Charlotte Delbos Les belles lettres

Teil IV: Der 17. Oktober 1961: Ein Ort des Holocaustgedenkens? 267

8. Eine Geschichte dreier Ghettos: Race, Gender und »Universalität« nach dem 17. Oktober 1961

309

9. Versteckte Kinder: Die Ethik multigenerationeller Erinnerung nach 1961

353

Epilog: Multidirektionale Erinnerung in einem Zeitalter der Besatzungen

359

Dank

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Felix Axster • Jana König Nachwort: Multidirektionalität in Deutschland

381 399

Literatur Personenregister

Zur Einführung: Interview mit Michael Rothberg von Felix Axster • Jana König

Michael Rothberg, als Literaturwissenschaftler und Holocaustforscher beschäftigen Sie sich intensiv mit Fragen der Erinnerung, die Sie als Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit verstehen. Können Sie kurz die Genese Ihrer erinnerungspolitischen Sozialisation skizzieren? Welche Debatten waren wichtig für Sie? Gab es bestimmte Zäsuren oder Wendepunkte? Ich würde sagen, meine intellektuelle Entwicklung wurde durch eine Menge Zufälle und durch einige sehr klare soziale und biografische Fakten gekennzeichnet. Ich bin in einer, wie ich es beschreiben möchte, ziemlich »typischen« jüdisch-amerikanischen Familie aufgewachsen – Mittelklasse, meist säkular, politisch liberal. Sowohl die Familie meiner Mutter als auch die meines Vaters sind Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, Jahrzehnte vor dem Holocaust, aus Osteuropa an die Ostküste der Vereinigten Staaten migriert. Die Familie meines Vaters war etwas religiöser; einige Verwandte auf mütterlicher Seite waren Kommunisten oder Sozialistinnen. Ich würde nicht sagen, dass ich mit einem intensiven Bewusstsein vom Holocaust aufgewachsen bin, aber sicherlich war er mir durch Kinderbücher und vielleicht durch ein paar Unterrichtsstunden in der hebräischen Nachmittagsschule peripher gewahr. Obwohl meine Familie nur wenige direkte Verbindungen zu Israel hatte, wurde ich definitiv dazu erzogen, Israel unkritisch zu unterstützen und seine »arabischen Nachbarn« zu fürchten. Ich glaube nicht, dass „palästinensisch“ ein Wort war, das ich je gehört habe, als ich in den 1970er und frühen 1980er Jahren aufwuchs. Ich habe wissentlich keine Palästinenser getroffen, bis ich in meinen frühen Zwanzigern während der ersten Intifada auf die Hochschule kam. Diese Begegnungen hatten gewaltigen Einfluss auf mein Denken über die Welt, denn sie zeigten mir, wie sehr ich mit einer sehr einseitigen – und, ehrlich gesagt, vorurteilsbehafteten – Weltsicht aufgewachsen war. Mein Interesse am Holocaust entstand etwa zur gleichen Zeit, als ich begann, mich mit der Politik Israels und Palästinas auseinanderzusetzen. Im ersten Semester meines Graduiertenkollegs an der Duke University belegte ich einen Kurs über »Krieg und Erinnerung«, der von Alice Kaplan und Linda Orr, zwei französischen Kulturwissenschaftlerinnen, geleitet wurde. Wir diskutierten über die Paul-de-ManAffäre und den »Historikerstreit«  – beide hatten erst kurz zuvor stattgefunden  –, sahen Claude Lanzmanns Shoah und lasen Texte wie Christa Wolfs Kindheitsmuster und Art Spiegelmans Maus, die ebenfalls gerade erst erschienen waren. Ich setzte ein paar Jahre mit der Uni aus und zog nach New York City, wo ich erst in einer Suppenküche und dann für einen wissenschaftlichen Verlag gearbeitet habe. Während dieser Zeit begann ich, Bücher wie Primo Levis Die Untergegangenen und

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die Geretteten, Gita Serenys Am Abgrund und Christopher Brownings Ganz normale Männer zu lesen. An dem Punkt war ich wirklich süchtig danach: Der Völkermord der Nazis schien so viel von der Selbstverständlichkeiten meiner Ausbildung als Literaturtheoretiker infrage zu stellen, insbesondere die poststrukturalistischen und marxistischen Theorien, die mich als Student begeistert hatten und die mir nach wie vor wichtig sind. Als ich an die City University of New York zurückkehrte, begann ich, die Ereignisse des Holocaust als eine intellektuelle und ethische Herausforderung zu sehen, die nach Engagement rief. Ich hatte das Glück, mit Nancy K. Miller zusammenzuarbeiten, die zwar keine Holocaustforscherin, aber Expertin für Autobiografien und Memoiren war und die mir half, über Zeugnis und Erinnerung nachzudenken (und die mich zwang, einen Teil des theoretischen Jargons, den ich über die Jahre angesammelt hatte, abzulegen!) Als ich Mitte und Ende der 1990er-Jahre an meiner Dissertation und meinem ersten Buch Traumatic Realism arbeitete, wurde mir klar, dass ein scheinbar sehr persönliches Interesse am Holocaust Teil eines viel größeren Phänomens war: Es war die Zeit nach dem Kalten Krieg, in der der Holocaust »amerikanisiert« und »globalisiert« wurde. In meinem Buch schrieb ich über das Jahr 1993 – das Jahr, das eine amerikanische Nachrichtensendung »Das Jahr des Holocaust« genannt hatte, weil da das Holocaust-Memorial-Museum der Vereinigten Staaten eröffnet wurde, der Film Schindlers Liste erschien, der Völkermord in Jugoslawien begann und neonazistische Aktivitäten in Europa stark zunahmen – im folgenden Jahr kam der ebenso beunruhigende Genozid in Ruanda dazu. Das war ein Moment – ähnlich wie heute –, in dem das Echo der Vergangenheit sehr stark war und in dem der Holocaust oft für sehr zweifelhafte Zwecke vereinnahmt wurde. Man hatte den Eindruck, dass die amerikanischen Juden ihre Identität zugleich auf einer Besessenheit vom Holocaust und einer Loyalität zu Israel aufbauten, dessen Besatzungsregime durch die Intifada dramatisch infrage gestellt wurde. Philip Roth untersucht in seinem Roman Operation Shylock, der ebenfalls 1993 erschien und über den ich in Traumatic Realism schrieb, sehr provokativ und produktiv diese Triangulation von Israel, Holocaust und jüdisch-amerikanischer Identität. Ich verstand meine damalige Arbeit als Versuch, in diese Triangulation einzugreifen, indem ich einige Glaubensdogmen rund um den Holocaust infrage stellte, die ihn für eine rührselige Popkultur ausbeutbar machten und zugleich als Schutzwall gegen eine Kritik der israelischen Politik dienten – eine Politik, die ich zunehmend als unrechtmäßige Besatzung und Enteignung der Palästinenser sah. Ab wann hat das Modell der multidirektionalen Erinnerung in Ihrem Denken Konturen angenommen? Während ich mich mit all diesem Material zum Holocaust befasste, entwickelte ich parallel ein Interesse an Literatur und Kultur der Afroamerikaner und der Schwarzen

INTERVIEW MIT MICHAEL ROTHBERG

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Diaspora sowie an postkolonialer Theorie, die in den USA etwa zeitgleich prominent wurde. Ursprünglich betrachtete ich dies als getrennt voneinander, aber dann erschien 1993 ein weiteres Buch, das mein Denken wesentlich beeinflusste: Paul Gilroys The Black Atlantic. Gilroys hauptsächliches Ziel war es, die Auseinandersetzung mit Schwarzen Kulturen nicht aus einer national geprägten Perspektive zu führen, sondern in einen diasporischen Kontext zu stellen – und den Schlüsselmoment der Moderne für Schwarze und alle anderen in der »Middle Passage« (der Passage über den Atlantik von West-Afrika zu den Westindischen Inseln oder nach Amerika – der Route des früheren Sklavenhandels) zu verorten. Im letzten Kapitel des Buches erörtert Gilroy anhand von Toni Morrison und Primo Levi, wie die Sklaverei und der Holocaust, wie ich es nennen würde, »multidirektional«, also nicht konkurrierend, zusammengebracht werden können. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität gab ich 1994 eine Sonderausgabe unserer kulturwissenschaftlichen Zeitschrift Found Object zu Gilroys Arbeit heraus, die wir »Across the Black Atlantic« nannten. Damit waren wir wirklich weit vorne, denn dieses Buch wurde zu einem der einflussreichsten (und zum Teil umstrittensten) akademischen Werke des Jahrzehnts. Für mich persönlich war es der Versuch, zwei Bereiche auf plausible Weise zusammenzuführen, die meist getrennt voneinander behandelt werden. Es zeigt ein Modell, wie man das bewerkstelligen kann, ohne die Unterschiede zu verwischen oder die Opfer und ihre Nachkommen gegeneinander auszuspielen. Ich bezog mich also in Traumatic Realism auf Black Atlantic und analysierte im Schlussteil zudem Drei Tage und eine Frage – einen kurzen Text der linken jüdischamerikanischen Schriftstellerin Grace Paley, in dem sie den Holocaust, die Besetzung Palästinas, die AIDS-Epidemie und die Notlage der haitianischen Flüchtlinge einander gegenüberstellt. Im Rückblick scheint mir klar, dass Gilroys und Paleys sorgfältige, ethisch anspruchsvolle vergleichende Perspektiven der Ursprung von Multidirektionaler Erinnerung waren, aber damals wusste ich das noch nicht. Inspiriert von Gilroy begann ich, über ein Buchprojekt nachzudenken, das die »schwarz-jüdische Frage« – so hieß es damals in den USA – aus einem eher transnationalen Blickwinkel betrachten sollte. Ich stieß auf The Negro and the Warsaw Ghetto, einen kurzen Text des afroamerikanischen Intellektuellen und Aktivisten W. E. B. Du Bois. Sein Text aus dem Jahr 1952, der, wie ich bald herausfand, in einer jüdischkommunistischen Zeitschrift veröffentlicht worden war, erzählt von Du Bois’ Besuch der Ruinen des Warschauer Ghettos im Jahr 1949 und beschreibt, wie der Anblick absoluter Zerstörung sein Denken über race veränderte. Du Bois erkannte sowohl die präzedenzlose Radikalität des Holocaust als auch seine Verbindungen zu der ganz anderen Form von Rassismus, die er als Schwarzer Amerikaner erlebt hatte. Du Bois’ Fähigkeit, Unterschiede und Ähnlichkeiten zugleich wahrzunehmen, war die konzeptionelle Inspiration für meinen Ansatz der multidirektionalen Erinnerung, auch wenn ich diesen Begriff zu der Zeit noch nicht geprägt hatte. Außer der Auseinandersetzung mit Du Bois war ein Schlüsselmoment der Entstehung von Multidirektionaler Erinnerung meine Entdeckung des überdeterminierten

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Kontextes des algerischen Unabhängigkeitskrieges und insbesondere, wie er sich bei den französischen Intellektuellen in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren umgesetzt hat. Diese Entdeckung war wirklich zufällig. Ich hörte einen Vortrag des afrikanischen Filmwissenschaftlers Manthia Diawara, in dem er seinen Film Rouch in Reverse vorstellte – einen »anti-ethnografischen« Film über den Ethnografen und Filmemacher Jean Rouch. In seinem Vortrag beschrieb Diawara eine Stelle in Rouch in Reverse und eine andere Szene im Cinéma-Vérité-Film Chronique d’un été (Chronik eines Sommers) von Edgar Morin und Jean Rouch aus dem Jahr 1961, in der eine Begegnung zwischen einem Holocaust-Überlebenden und einigen afrikanischen Studenten in Paris gezeigt wird. Ich rannte sofort in die Bibliothek und besorgte mir eine Kopie des Films. Ich schaute mir ihn am nächsten Tag mit einigen Freunden an, und er beeindruckte mich enorm. Es gab nicht nur die sehr unangenehme und verstörende Szene, die Diawara beschrieben hatte, es folgte auch ein Zeugnis der Überlebenden Marceline Loridan, die erzählte, dass sie mit ihrem Vater nach Auschwitz deportiert wurde und allein nach Frankreich zurückkehrte. Rouch und Morin filmten Marceline, wie sie durch die Straßen der Stadt lief, vorbei an der Place de la Concorde und in den alten Markt Les Halles, der so gefilmt wurde, dass er wie die Bahnhöfe aussah, die Marceline in ihrer kurzen Zeugenaussage beschreibt. Chronique d’un été enthält eine kurze Diskussion über die Dekolonialisierung, auch über die Ermordung Lumumbas im Kongo, und es ist der einzige französische Film dieser Zeit, der sich ausdrücklich, wenn auch indirekt, auf den Algerienkrieg bezieht. Als ich mich mit dem Kontext des Algerienkrieges auseinandersetzte, wurde mir klar, dass verschiedene Aktivistinnen und Aktivisten sowie Intellektuelle damals einige Aspekte des Krieges als Widerhall dessen verstanden, was unter der NaziBesatzung geschehen war: Folter, Lager und die Notwendigkeit, traumatische Gewalt zu bezeugen. Mit anderen Worten: Genau zu dem Zeitpunkt, als die Erinnerung an den Holocaust im öffentlichen Diskurs – vor allem durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem – mehr Aufmerksamkeit bekam, führte die Dekolonialisierung in Frankreich zu einer neuen, vergleichenden und sehr politischen Form von Erinnerung. Kurz darauf wurde mir klar, dass das Buch Les belles lettres von Charlotte Delbo – einer nichtjüdischen Auschwitz-Überlebenden, über die ich in Traumatic Realism geschrieben hatte –, das aus einer Sammlung offener Briefe aus dem Jahr 1961 besteht, in Opposition zum Algerienkrieg geschrieben wurde. An diesem Punkt wurde mir klar, dass ich etwas entdeckt hatte, was sich weitreichend darauf auswirkt, wie wir über die Erinnerung an den Holocaust und Erinnerung im Allgemeinen denken. Sie haben eben den Historikerstreit erwähnt. Gerade in Deutschland ist die Mitte der 1980er- Jahre geführte Debatte über die Frage, ob und inwiefern der Nationalsozialismus und der Stalinismus bzw. Auschwitz und der Gulag zusammenhängen, eine wesentliche Referenz hinsichtlich des Singularitätsparadigmas. Immerhin hat Dan Diner im Kontext des Historikerstreits den Begriff des Zivilisationsbruchs geprägt, der die Einzigartigkeit des Holocaust unterstreichen und somit die Relativierungsbe-

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mühungen von konservativen Historikern wie Ernst Nolte (dabei ging es auch um die Relativierung deutscher Schuld) aushebeln sollte. Der seit Mitte/Ende der 1990er-Jahre schwelende Streit über das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus, der erst kürzlich im Rahmen der Auseinandersetzung über Achille Mbembe und die gegen ihn erhobenen Antisemitismusvorwürfe wieder aufflammte, ist immer wieder als eine Art Historikerstreit 2.0 interpretiert worden. Was halten Sie von dieser Analogie? Inwiefern ist die Angst, die Spezifika des Holocaust könnten sich in einer allgemeinen und komparativen Geschichte globaler Massengewalt auflösen, gerade im Land der Täter berechtigt? Wie verhält sich Ihr Modell der multidirektionalen Erinnerung zu ethisch problematischen oder gar illegitimen Bezugnahmen auf den Holocaust, wie wir sie momentan im Rahmen der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen erleben? Erinnert sei an das berühmt gewordene Plakat, auf dem der deutsche Virologe Christian Drosten mit Josef Mengele, dem berüchtigten Arzt aus Auschwitz, verglichen wird? Diese Fragen des Vergleichs und der Analogie stehen im Mittelpunkt meines Denkens, seitdem ich mit der Arbeit an Multidirektionale Erinnerung begonnen habe. Um sie anzugehen, müssen wir die politische Dynamik öffentlicher Erinnerung verstehen und eine nuancierte Ethik des Vergleichs entwickeln. Und natürlich braucht man ein solides empirisches Wissen über die verschiedenen Geschichten. Ich beginne das Buch mit einem  – wie ich es nenne  – »negativen« Beispiel für multidirektionale Erinnerung: der Inszenierung einer Opferkonkurrenz zwischen »Schwarzer« und »jüdischer« Geschichte. Damit mache ich klar, dass der Begriff der multidirektionalen Erinnerung keine einfache Lösung für die Probleme des Vergleichs bietet. Vielmehr geht es mir mit diesem Beispiel um ein Verständnis der Dynamik von Erinnerung: darum, dass diese Dynamik eben nicht durch die Logik des Nullsummenspiels bestimmt ist. Öffentliche Erinnerung arbeitet vielmehr ertragreich und ist nicht einer Logik der Knappheit unterworfen. Mit anderen Worten: Der Konflikt um Erinnerung produziert mehr Erinnerungen, nicht weniger. Diesem Axiom entsprechend existieren Erinnerungen nie im Singular. Vergleich, Analogie, Aneignung und Nachhall sind unvermeidliche Bestandteile aller Artikulationen von Erinnerung  – ganz sicher der öffentlichen Erinnerung, aber ich vermute, das gilt auch für persönlichere, intimere Erinnerungen. In Multidirektionale Erinnerung konzentriere ich mich größtenteils auf »positivere« Beispiele der Multidirektionalität. Das mache ich, weil das Verständnis der vergleichenden Erinnerungen zu der Zeit, als ich mit dem Schreiben begann, nahezu ausschließlich von dem dominiert wurde, was ich »kompetitive Erinnerung« nenne, also der Annahme, dass die Erinnerung an den Holocaust die Erinnerung und Artikulierung anderer Geschichten verhindert; oder umgekehrt, dass die Erinnerung an Sklaverei oder Kolonialismus die Erinnerung an den Holocaust auf irgendeine Weise aus der öffentlichen Sphäre auslöschen würde. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass dies der falsche Weg ist, um Erinnerungsdynamiken zu verstehen. Ich würde auf solche Diskussionen verweisen, auf die Sie in Ihrer Frage anspielen – zum Beispiel über

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die Beziehung zwischen dem Holocaust und dem Kolonialismus –, um zu belegen, dass die kollektive Aufmerksamkeit durch Kontroversen auf vielfältigere Erinnerungen gelenkt wird. Neben einer Theorie der Dynamik des Gedenkens wollte ich mit dem Buch aber auch eine Gegengeschichte der Holocausterinnerung sichtbar machen: eine Geschichte, die bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückreicht und in der immer wieder unterschiedliche Erinnerungen an Gewalt im Interesse einer gruppenübergreifenden Solidarität zusammengeführt werden. Wie ich oben ausgeführt habe, war und ist es eines meiner Anliegen  – inspiriert von Gilroy, Du Bois, Paley und anderen –, Beispiele für solidarische Bezüge zwischen Holocaustüberlebenden und deren Nachkommen und den Nachkommen derjenigen, die in Amerika versklavt oder von europäischen Mächten kolonisiert wurden, zu finden. Was ich an einem solch multidirektionalen Zugang schätze, ist die Möglichkeit, Erfahrungen zusammenzudenken, die sich deutlich voneinander unterscheiden und die dennoch Berührungspunkte haben – und dadurch gegenseitiges Verständnis erwecken können. Und doch gibt es, das deutet Ihre Frage an, Schwierigkeiten, die mit solch multidirektionalen Zugängen einhergehen. Nachdem ich das Buch beendet hatte, wurde mir klar, dass ich einige dieser möglicherweise problematischen ethischen Fragen über vergleichende Erinnerungen noch nicht angemessen behandelt hatte. In Multidirektionale Erinnerung differenziere ich zwischen Vergleichen, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen Geschichten nivellieren, was ich für problematisch halte, und solchen, die die Unterschiede anerkennen und bewahren, was ich im Allgemeinen für ethisch vertretbarer halte. Diese Unterscheidung ist ein wichtiger erster Schritt, aber für sich nicht ausreichend. Für ein komplexeres Verständnis der ethischen Fragen solcher Vergleiche habe ich mir den Fall vorgenommen, den ich für den schwierigsten halte: den Vergleich zwischen dem Völkermord der Nazis und der israelischen Besatzung und Enteignung von Palästinenserinnen und Palästinensern. Indem ich diesen Fall behandle – speziell die häufige Beschwörung des Warschauer Ghettos in Bezug auf Gaza und die Besatzung allgemein –, gestalte ich eine neue »Landkarte« der multidirektionalen Erinnerung. In dem Aufsatz From Gaza to Warsaw: Mapping Multidirectional Memory (2011) – der auch in meinem neuen Buch The Implicated Subject (2019) enthalten ist – argumentiere ich, dass solche Erinnerungen auf zwei Achsen produktiv abgebildet werden können: einer Vergleichsachse, die sich von Gemeinsamkeiten bis zu Unterschieden erstreckt, und einer Achse des politischen Affekts, die sich von der Konkurrenz bis zu Solidarität erstreckt. Damit bleiben uns vier Quadranten, in denen wir verschiedene Formen der multidirektionalen Erinnerung lokalisieren können: eine für Konkurrenz basierend auf Unterschieden sowie auf Gleichsetzung; eine für Solidarität basierend auf Gemeinsamkeiten sowie auf Unterschieden. Obwohl diese Bestandsaufnahme in erster Linie als Analyseinstrument gedacht ist, hilft sie uns, Einblicke in wichtige ethische und politische Unterschiede zu gewinnen. Sie hat mir zum Beispiel geholfen zu verstehen, dass das, was ich als radikal demokratische Erinnerungspolitik schätze, auf »differenzierter Solidarität« beruhen muss  – ein Ansatz, den ich verfolgen muss, wenn ich z.  B. als weißer Jude meine

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Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung ausdrücken möchte, ohne zu beanspruchen, irgendeine gleichwertige persönliche Viktimisierungsgeschichte zu teilen. Solidarität erfordert keine Identifikationen, die die realen materiellen Unterschiede der Standorte und Erfahrungen auslöschen. Diese Karte ist zwar recht schematisch, aber ich denke, dass sie uns hilft, einige der in Rede stehenden Kontroversen zu verstehen. Zum Beispiel steht im Zentrum meines Textes From Gaza to Warsaw ein Fotoessay, der ganz ähnlich funktioniert wie das erwähnte Corona-Plakat. Nach der israelischen Bombardierung des Gazastreifens im Dezember 2008 und Januar 2009 zirkulierte im Internet ein Fotoessay, der bekannte Bilder des Holocaust zeigt und sie Fotografien gegenüberstellt, die die israelische Besatzung zeigen. Ich war zwar empört über die Zerstörung und den Verlust von Menschenleben im Gaza-Streifen, aber es gab zwei Dinge, die mich an diesem Fotoessay, der sich als Werk eines norwegischen Diplomaten entpuppte, störten. Erstens der visuelle Stil, der ähnlich wie das Corona-Plakat Geschichten andeutungsweise gleichsetzt, also offensichtlich verzerrt. Beispielsweise wird ein Bild aus dem »Auschwitz-Album«, das jüdische Deportierte auf der Rampe in Auschwitz zeigt, einem Foto von einem Kontrollpunkt in den besetzten Gebieten gegenübergestellt. Obwohl beide Bilder Ungerechtigkeiten zeigen, können diese Erfahrungen natürlich nicht gleichgesetzt werden. Daher wäre der Fotoessay, wie auch die Drosten-MengeleZusammenstellung in der »Gleichungs«-Hälfte der Karte angesiedelt. Aber zweitens, und das ist noch wichtiger, soll bei dem Fotoessay, wie auch bei dem Corona-Plakat gerade nicht ein Gefühl der Solidarität geweckt werden, sondern beide spielen die Opfer gegeneinander aus und veranschaulichen somit eher einen Konkurrenzkampf – daher sind diese beiden Beispiele für mich auf der Karte im Quadranten der Konkurrenz, basierend auf Gleichsetzung, angesiedelt. Zumindest im Fall Gaza-Warschau sind andere Ergebnisse ähnlicher Gegenüberstellungen vorstellbar. In meinem Text bespreche ich zum Beispiel eine Videoarbeit des britisch-jüdischen Künstlers Alan Schechner, der zwei Bilder verwendet, die auch im Fotoessay zu finden sind: das des »Jungen im Warschauer Ghetto« und das eines palästinensischen Jungen, der vom israelischen Militär verhaftet wird. Man könnte die Arbeit Schechners leicht als Gleichsetzung der beiden Erfahrungen sehen. Aber, so argumentiere ich in meinem Text, diese Arbeit hat eine differenziertere Sichtweise, denn die Gegenüberstellung erfolgt mit dem Ziel der Solidarität: Schechner bearbeitet die Bilder so, dass der Junge aus dem Warschauer Ghetto das Bild des palästinensischen Jungen in den Händen hält, und der palästinensische Junge das Bild des Jungen aus dem Warschauer Ghetto. Ihre Leben, so vermittelt diese Montage, sind miteinander verwoben. Auch viele Schriften des palästinensischen Intellektuellen Edward Said sind meiner Meinung nach Vorschläge einer differenzierten Solidarität zwischen Juden und Palästinensern: einer Solidarität, die die Traumata beider Gruppen anerkennt, ohne die Unterschiedlichkeiten der Erfahrung, Verantwortung oder Macht zu negieren. Hingegen ist der Corona-Holocaust-Vergleich auf empirischer Basis so abwegig, dass ich mir keinen Gebrauch davon vorstellen kann, der nicht paranoid,

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konspirativ und antisemitisch wäre. In der Schlussfolgerung, die ich in From Gaza to Warsaw gezogen habe, formuliere ich es so: »Eine differenzierte empirische Geschichte« ist ebenso notwendig wie die »moralische Solidarität mit den Opfern verschiedener Ungerechtigkeiten«, also »eine Ethik des Vergleichs, die die asymmetrischen Ansprüche dieser Opfer koordiniert«. Der Ansatz, den ich hier skizziert habe, gilt auch für die Mbembe-Debatte, die, wie Sie gesagt haben, zu einer Art Historikerstreit 2.0 geworden ist. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Deutschland und die Deutschen natürlich eine besondere Verantwortung haben, die moralischen Anforderungen des Holocaust anzuerkennen. Die Dynamik einer multidirektionalen Erinnerung ist in Deutschland natürlich eine andere als an den meisten anderen Orten. Mein Argument in Bezug auf historische Verantwortung beruht auf einer ähnlichen Einsicht wie meine Theorie der multidirektionalen Erinnerung: Die Anerkennung der Verantwortung bedeutet nicht, dass es unmöglich ist, auch andere Formen der Verantwortung anzuerkennen; und umgekehrt bedeutet die Anerkennung multipler Formen der Verantwortung nicht, dass die Ansprüche in einem bestimmten Fall weniger gültig sind oder dass alle Formen von Verantwortung gleich sind. In diesem Sinne ist es richtig, die aktuelle Mbembe-Debatte als eine Art Wiederholung des Historikerstreites zu betrachten: Einige Themen sind die gleichen. Aber die Kontroverse erfordert auch einen neuen – und ich glaube: multidirektionaleren – Rahmen. Das heißt, ich würde mich in der Diskussion um Nolte und die anderen Konservativen, die am Historikerstreit beteiligt waren, nach wie vor auf Habermas’ Seite stellen: Es ging nicht nur um die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus oder Auschwitz und Gulag, sondern auch um den mit dieser Gleichsetzung verbundenen politischen Affekt. Da wurde sicherlich versucht, sich die OpferSprache derjenigen anzueignen, die den Holocaust erlitten hatten, aber auch – und das erscheint mir entscheidender –, sich der Verantwortung für den Genozid zu entziehen oder sie zu relativieren. Heute hingegen lenkt die Forderung nach Verantwortungsübernahme für den deutschen Kolonialismus in keiner Weise von der Verantwortung für den Holocaust ab – ich kenne niemanden, der das behauptet. Die gegenwärtigen Kämpfe von Schwarzen Deutschen und anderen um Anerkennung des deutschen Kolonialismus bauen zwar auf dem Erbe des Holocaust auf, aber sie versuchen überhaupt nicht, die Verantwortung für diesen zu beseitigen. Deutschland trägt – wie die USA, wie Frankreich und Großbritannien und die meisten anderen mächtigen und wohlhabenden Nationen – eine beträchtliche Verantwortung für viele gegenwärtige Gewaltgeschichten und Herrschaftsstrukturen. Tatsächlich hat die multidirektionale Dynamik zahlreiche antirassistische Proteste der letzten Zeit angetrieben: von den George-Floyd-Protesten bis hin zu den Protesten gegen Kolonia lismus und Sklaverei in Europa. Ein anderer Unterschied zwischen der Mbembe-Debatte und dem Historikerstreit ist die zentrale Rolle Israels. Mbembe wurde – meiner Meinung nach zu Unrecht – zweier Todsünden im heutigen Deutschland beschuldigt: Außer Holocaustrelativie-

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rung wurde ihm auch die »Dämonisierung« Israels vorgeworfen. Wenn man sich jedoch Mbembes Werk genauer ansieht, kann man feststellen, dass das Thema Israel keineswegs sein zentrales Anliegen ist. Zudem stechen die wenigen Äußerungen, die er über Israel macht – auch wenn sie kritisch und zum Teil sogar übertrieben sind – nicht aus dem Mainstream der akademischen Debatten in den meisten Ländern der Welt heraus. Ich bin kein Experte für Mbembes umfangreiche Schriften, habe aber den Eindruck, dass sein Denken weit davon entfernt ist, Israel als Sonderfall herauszugreifen, sondern dass es im Großen und Ganzen kritisch gegenüber verschiedenen Formen der Herrschaft und seine Vision universalisierend und humanistisch ist. Mit anderen Worten: Die Vorwürfe gegen Mbembe sagen mehr aus über den provinziellen und ideologisch überdeterminierten Israel-Palästina-Diskurs in Deutschland als über Mbembe. Die Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen gegen Kritiker der israelischen Politik trägt nicht dazu bei, die deutsche Verantwortung für den Holocaust aufrechtzuerhalten, aber sie lenkt sehr wohl ab von der Verantwortung, die Deutsche für den Kolonialismus im Allgemeinen und die fortgesetzte Beherrschung der Palästinenser im Besonderen haben könnten. Dass diese Antisemitismus- und Holocaustrelativierungsvorwürfe auf einige jüdische Intellektuelle und Aktivisten sowie Wissenschaftlerinnen wie Aleida Assmann abzielen, zeigt mir deutlich, dass bei der deutschen Auseinandersetzung mit diesen Themen etwas falsch gelaufen ist. Ich möchte nun auf die Frage des Holocaust als Zivilisationsbruch zurückkommen. Schon immer war ich ein Bewunderer von Dan Diners Essay über die Judenräte und die Gegenrationalität. Diner argumentiert, wenn ich ihn richtig verstehe, dass der erkenntnistheoretische Blickwinkel des Judenrates uns hilft zu verstehen, dass die nationalsozialistische Politik für ihre Opfer buchstäblich undenkbar war, weil sie die Grenzen der konventionellen Rationalität so radikal überschritten hat. Aus dieser Perspektive halte ich es für sinnvoll, vom Holocaust als Zivilisationsbruch zu sprechen. Aber ich denke, es ist wichtig, einen Schritt weiter zu gehen und diese Frage aus postkolonialer Sicht zu betrachten. Wie verschiedene anti- und postkoloniale Denker seit dem Kolonialismus-Diskurs von Aimé Césaire (1950) – und vielleicht sogar schon vorher – vorgeschlagen haben, kann der Holocaust auch als choc en retour oder »Bumerang-Effekt« verstanden werden, d.  h. als die Rückkehr von Gewaltformen nach Europa, die es bereits bei der Kolonialisierung Afrikas, Asiens und Amerikas gab. Während Césaire, so zeige ich es in Multidirektionale Erinnerung, zur Gleichsetzung von kolonialer Gewalt und Holocaust tendiert, glaube ich nicht, dass dies der einzige Weg ist, den Bumerang-Effekt zu verstehen. Durch die Arbeiten einiger Historiker, die sich wie Jürgen Zimmerer mit den Vorläufern des Holocaust im Kolonialismus beschäftigen, können wir diese Linien und Genealogien ohne Gleichsetzung oder direkte Kausalität zwischen verschiedenen Gewaltformen oder gar Genoziden nachverfolgen. Neben dem Césaire-Kapitel in meinem Buch ist auch der Teil über Hannah Arendt für die Diskussion relevant. Meines Erachtens fällt Arendt in ihrer Darstellung Afrikas einer Art Eurozentrismus zum Opfer, selbst wenn sie entscheidende Zusammenhänge zwischen Kolonialismus

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und nationalsozialistischem Völkermord herstellt. Letztlich ist nach meiner Einschätzung jedes Verständnis von »Zivilisation«, das Sklaverei und Kolonialisierung nicht als Brüche thematisiert, völlig unzureichend, um die europäische Moderne zu verstehen. Auch hier ist Gilroys Arbeit The Black Atlantic, neben vielen anderen ähnlichen kritischen Schriften, entscheidend. So, wie ich über Erinnerung, aber auch über historische Verantwortung denke, glaube ich, dass wir uns der Idee widersetzen müssen, dass nur eine Form des Zivilisationsbruchs möglich ist. Im Gegenteil, unsere Welt besteht aus zahlreichen, zum Teil andauernden Brüchen, die gegenwärtig die Zukunft des menschlichen und nicht-menschlichen Lebens auf unserem Planeten bedrohen. Um uns diesen Problemen zu stellen, müssen wir meiner Meinung nach eine multidirektionale Perspektive entwickeln, die die zahlreichen Implikationen offenbart, in denen wir gefangen sind. Der Rückzug auf sakralisierte Diskurse der Einzigartigkeit wird uns wenig helfen, den Gefahren für unser aller Welt zu begegnen. In Relation zur Trias »Rasse«, Klasse und Geschlecht bezieht sich Multidirektionale Erinnerung stark auf die Kategorie »Rasse«. Die Sklaverei war – anders als der Holocaust – auf sehr grundsätzliche Weise auch an den Faktor Klasse gekoppelt. Wie prägt nach Ihrer Meinung Klasse die Erinnerung und das Gedenken? Wie könnte eine Reflexion über Klassenunterschiede in das Konzept der multidirektionalen Erinnerung eingehen? Als in Berlin Lebende fallen uns konkret die deportierten und ermordeten Juden und Jüdinnen aus dem Stadtteil Neukölln ein, an die nur sehr wenige Stolpersteine erinnern. Sie waren überwiegend Proletarier, haben kaum Texte hinterlassen und nur sehr selten entkommen können. Wie könnten ihre Geschichten Teil einer multidirektionalen Erinnerung werden? Um zurückzukommen auf die Trias: Könnte und sollte eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Frauenverfolgungen, mit Femiziden und patriarchaler Unterdrückung Teil einer multidirektionalen Erinnerung sein? Welche Auswirkungen hätte das auf das historische Archiv? Multidirektionale Erinnerung hat, so möchte ich es heute sagen, zwei Hauptanliegen. Erstens versuche ich, die Geschichte der Holocaust-Erinnerung als eine fortlaufende dialogische Interaktion mit Geschichten und Erinnerungen an Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und Dekolonialisierung neu zu erzählen. Zweitens schlage ich einen neuen Weg, kollektives Gedächtnis ganz allgemein zu konzeptualisieren, vor, indem ich grundlegende Annahmen des Feldes überdenke  – insbesondere die verbreitete Annahme einer linearen Beziehung zwischen Erinnerung und Identität und die Nullsummenlogik der Knappheit. Meine Entscheidung, das zweite Argument am Beispiel des ersten zu entwickeln, ist nicht willkürlich, da die Erinnerung an die Shoah seit einigen Jahrzehnten eine zentrale Rolle bei der Globalisierung von Erinnerungsdiskursen spielt. Aber ich glaube auch, dass mein Argument des multidirektionalen Charakters des Gedächtnisses in anderen Kontexten funktionieren kann, die weit vom Holocaust entfernt sind. In der Tat hat es im letzten Jahrzehnt viele Arbeiten gegeben, die sich für genau solche Projekte auf ein multidirektionales Rahmenwerk stützen.

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Ich glaube immer noch, dass mehr erinnert wird oder wiederherstellbar ist, als wir uns üblicherweise vorstellen. Zwei aktuelle Beispiele sind das Wiederaufleben der Erinnerung an Sklaverei, Lynchjustiz und Rassentrennung in den USA durch die Black-Lives-Matter-Bewegung und andere aktivistische Projekte wie die EqualJustice-Initiative. Dazu zählt auch die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus dank verschiedener Initiativen Schwarzer Deutscher und anderer. Ihre Frage veranlasst mich aber auch, auf eine Grundvoraussetzung der Studien des kulturellen Gedächtnisses zurückzukommen, die im Buch und in meinem Denken wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit verdient: die Vorherrschaft des Vergessens. In den Worten Aleida Assmanns: »Vergessen ist die Normalität des persönlichen und kulturellen Lebens« und »Erinnern ist die Ausnahme« (Kanon und Archiv, S. 98). Wie Assmann anschaulich illustriert, haben sowohl Erinnerung als auch Vergessen aktive und passive Formen. Die passive Form der Erinnerung ist das Archiv  – ein Speicher der Referenzerinnerung, die zur Quelle der arbeitenden Erinnerung werden kann, wenn es aktiviert wird und in Umlauf kommt. Aber natürlich schaffen es viele Geschichten nicht einmal ins Archiv – oder zumindest nicht in die offiziellen Archive einer Gesellschaft. Hier kommen wir zu Ihren konkreten Beispielen. Das Leben von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie von Frauen, die nicht zur Elite gehören, hat oft unter passiven und auch aktiven Formen des Vergessens gelitten, d. h., sie wurden »in vergessenen Depots verstreut« bzw. einer »materiellen Zerstörung« unterworfen, um Assmanns Begriffe aufzugreifen. Angesichts der Vorherrschaft des Vergessens und der Zerstörung versuchen Wissenschaftlerinnen, Aktivisten und diejenigen, die beides zugleich sind, neue Quellen zu entdecken, aber auch neue Methoden einzuführen: Denken wir zum Beispiel an den Aufstieg von Oral-History-Projekten, die bisher ignorierte Erfahrungen nichtelitärer sozialer Akteure freisetzen wollen – nicht zuletzt die von Frauen und Arbeiterinnen und Arbeitern. Mit anderen Worten: Eines der grundlegenden Mittel, um »neue« Erinnerungen zu schaffen, besteht darin, das Archiv neu zu konzipieren und neue Archive aufzubauen. Hier unterscheidet sich der Holocaust meiner Meinung nach nicht grundlegend von den anderen erwähnten Beispielen: Es war eine unglaubliche Arbeit, Spuren der Erfahrungen jüdischer Nazi-Opfer zu entdecken und zu bewahren, von denen die große Mehrheit »gewöhnliche« Menschen mit wenig Zugang zu den Kommunikationsmitteln waren. Und selbst wenn sich die europäisch-jüdische Kultur in der Tat durch einen hohen Bildungsgrad ausgezeichnet hat, haben die Umstände des Genozids dazu beigetragen, den Opfern diesen Zugang zu entziehen. Dass wir so viel über den Holocaust wissen, liegt nicht nur an den Aufzeichnungen der Nazis, sondern ist auch den unglaublichen Anstrengungen z. B. der Gefangenen des Sonderkommandos zu verdanken, die ihre Erfahrungen auf Papierfetzen festgehalten oder – in seltenen Fällen – das Lager fotografiert haben. Und es ist Emanuel Ringelblum und den Mitarbeitern des Oneg-Schabbat-Projekts im Warschauer Ghetto zu verdanken, dass sie eine ungeheuer reiche Archivquelle für Erinnerung und Geschichte geschaffen haben und einen Teil davon trotz der Zerstörung des

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Ghettos retten konnten. Nach dem Krieg waren es Menschen wie David Boder oder Jahrzehnte später die Mitglieder des Fortunoff-Videoarchivs von Yale, die die Zeugenaussagen von Überlebenden aufgezeichnet und neue Quellen für die Geschichte und Erinnerung erarbeitet haben. Diese Art von »heroischen« Bemühungen bleiben selten. Die meisten Menschen, die extreme Formen der Unterdrückung erleben – sei es aufgrund von race, Klasse, Geschlecht oder aus anderen Gründen –, sind nicht an der Archivierung ihres Lebens beteiligt: Sie sind zu sehr mit grundlegenden Fragen des Überlebens beschäftigt. Die meisten Opfer eines Genozids sterben, bevor sie die Chance haben, ihre Geschichte zu erzählen. Die meisten Lebenswege landen nicht einmal in informellen oder experimentellen Archiven und können deshalb später nicht wiederentdeckt werden. Selbst viele der Opfer, die uns durch Gedenkprojekte wie die Stolpersteine bekannt sind, bleiben jenseits bloßer Daten von Geburt, Deportation und Tod anonym. Erinnerungen an Gewalt und Trauma bergen per Definition Lücken und Fehlstellen, die nicht wieder gefüllt werden können. Manchmal ist das Beste, was wir tun können, uns daran zu erinnern, dass unsere kulturellen Erinnerungen von Lücken durchzogen sind. Die konstitutive Beziehung zum Verlust, die jede Erinnerung und Darstellung bedingt, ist Teil dessen, was ich in meinem ersten Buch als »traumatischen Realismus« bezeichne. Die Erwähnung des Berliner Viertels Neukölln ruft mir eine weitere Reihe von multidirektionalen Erinnerungsakten ins Gedächtnis, die mich in den Jahren seit der Fertigstellung von Multidirektionale Erinnerung interessiert haben. Zusammen mit Yasemin Yildiz, einer Wissenschaftlerin für zeitgenössische deutsche Literatur und Migration, habe ich über das geschrieben, was wir migrantisches Archiv der Holocaust-Erinnerung nennen. Bei diesem Projekt geht es um die Art und Weise, wie Migrantinnen und Postmigranten in Deutschland mit der nationalen Holocaust-Erinnerung umgehen und an ihr teilhaben. Inspiriert wurde unsere Arbeit von den Neuköllner Stadtteilmüttern, einer Gruppe von Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen, die meist aus der Arbeiterklasse stammen und die an einem Projekt der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste über Nationalsozialismus und Holocaust teilnahmen. Obwohl ihnen immer wieder gesagt wurde, dass der Holocaust »nicht ihre Geschichte« als Migrantinnen sei, bemühten sich diese Frauen aktiv, ihr Wissen über diese Zeit zu vertiefen und an ihre Familien und Gemeinden weiterzugeben, unter anderem durch öffentliche Treffen und die Erstellung eines Dokumentarfilms. Vielen der Frauen – Libanesinnen, Kurdinnen, Türkinnen, Sri Lankanerinnen – war die Erfahrung traumatischer politischer Gewalt selbst nicht fremd, sodass ihre Bemühungen grundsätzlich auch multidirektional waren. Dieses inspirierende Projekt veranlasste Yasemin Yildiz und mich, eine Reihe weiterer Beispiele für die Auseinandersetzung von Migrantinnen und Migranten mit der Erinnerung an den Holocaust und den Nationalsozialismus zusammenzustellen, die von bildender Kunst über Musik bis hin zu Literatur und Performances reichen. Eines meiner Lieblingsbeispiele aus diesem neuen »migrantischen Archiv«

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ist die großformatige Installation »Das Leben, das Universum und der ganze Rest« der in Frankfurt lebenden Künstlerinnen Anny und Sibel Öztürk, die für die Jubiläumsausstellung Heimatkunde zum zehnjährigen Bestehen des Jüdischen Museums Berlin 2011 entstanden ist. Auf einer riesigen Wand des Museums schufen die beiden Schwestern eine Art visuelle Zeitleiste, die von 1968 bis ins 21. Jahrhundert reichte und autobiografische Aufnahmen mit Bildern von welthistorischen, politischen und popkulturellen Artefakten und Ereignissen zusammenbrachte. In dieser Montage erhalten wir Einblick in das Leben einer ganz gewöhnlichen »Gastarbeiter«-Familie, die zwischen der Türkei und Deutschland hin- und herreist (und auch andere Reisen unternimmt), zusammen mit ikonischen Bildern der letzten Jahrzehnte, darunter auch einige Bilder zur Nazi-Vergangenheit: das berühmte Foto von Willy Brandt, der vor dem Ehrenmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto kniet, und ein seltsames Bild von Hitler, das sich als Gemälde einer Wachsfigur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett in London entpuppt. Ohne hier zu sehr ins Detail zu gehen – mehr darüber wird in unserem Buch Memory Citizenship zu lesen sein –, würde ich sagen, dass das Kunstwerk von Anny und Sibel Öztürk und das Projekt der Stadtteilmütter einige unerwartete, multidirektionale Erfahrungen illustriert – Erfahrungen, die von race, Klasse, Geschlecht und Migration geprägt sind und die die bekannten Formen der Holocaust-Erinnerung verändern können. In einer Fußnote der Einleitung schreiben Sie: »Die Frage wirtschaftlicher Umverteilung sprengt den Rahmen dieses Bandes (was in keiner Weise als Urteil über ihre Bedeutung verstanden werden sollte, die ich für zentral halte). Wo es um wirtschaftliche Umverteilung geht, mag durchaus eine Nullsummenlogik im Spiel sein, doch mit Fragen von Kultur und Politik verhält es sich anders. Zur Koordinierung der Ansprüche dieser unterschiedlichen Bereiche bedarf es weiterer Anstrengungen.« Uns würde interessieren, wie diese Anstrengungen ungefähr aussehen könnten. Was könnte Umverteilung im Bereich der Erinnerungskultur in etwa bedeuten? Das ist eine wichtige und schwierige Frage, die nicht losgelöst von der vorherigen Frage behandelt werden kann. Obwohl ich mich in meiner Arbeit als Literatur- und Kulturkritiker in erster Linie auf diskursive Bereiche konzentriere, bin ich auch Marxist genug, um zu wissen, dass Fragen der Umverteilung letztlich materiell angegangen werden müssen. Multidirektionale Erinnerung bietet verschiedene Beispiele dafür, wie Erinnerungsdiskurse von marginalisierten Aktivisten und radikalen Intellektuellen multidirektional mobilisiert werden können, um in drängende politische Konflikte wie den algerischen Unabhängigkeitskrieg oder immer wiederkehrende strukturelle Probleme wie das der »Rassentrennung«  – ich denke hier an Du Bois  – einzugreifen. Aber natürlich ist der Zugang zur öffentlichen Sphäre der Erinnerung mit Ressourcenfragen verbunden, und eine wirklich gerechte »Umverteilung im Bereich der Erinnerungskultur«, um Ihre Formulierung zu verwenden, kann erst dann stattfinden, wenn alle Ressourcen gerechter verteilt werden. Es gibt keinen magischen Weg,

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eine solche Umverteilung zu erreichen, aber wenn es dazu kommt, dann nur dank der Arbeit sozialer Bewegungen und radikaler Intellektueller und Künstlerinnen. Sie wird also nur durch Kampf zustande kommen – und dieser Kampf wird sich sowohl im materiellen als auch symbolischen Bereich abspielen. Kämpfe um die Erinnerung sind, wie andere Kämpfe um Anerkennung und Identität, sehr wichtig. Aber allzu oft haben sie keinen Einfluss auf die Umverteilung, weil sie nicht mit den Kämpfen um materielle Güter und politische Repräsentation verbunden sind. Wahrscheinlich ist aber auch das Gegenteil der Fall. Umverteilung ohne Berücksichtigung der kulturellen Identität und der Staatsbürgerschaft würde ungleiche Anerkennung und Repräsentation fortbestehen lassen. Vielleicht sollten wir sagen, dass das Verhältnis zwischen Erinnerung und Umverteilung grundsätzlich ambivalent ist. Unter bestimmten Umständen können Erinnerungsansprüche bei Forderungen nach materieller Umverteilung eine Rolle spielen. Ich denke hier daran, wie ein Wiederaufleben der Erinnerung an die Sklaverei mit Reparationsforderungen in den USA, der Karibik und anderswo einherging. Die multidirektionale Erinnerung ist in diesem Fall relevant, weil die Erinnerung an die deutschen Reparationszahlungen für den Holocaust eine legitimierende Rolle bei den heutigen materiellen Entschädigungsforderungen der Nachkommen versklavter Menschen spielt. Erinnerungsansprüche können aber auch Forderungen nach anderen Formen der Umverteilung verdrängen – oder zumindest von diesen getrennt bleiben. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission TRC (Truth and Reconciliation Commission) könnte ein gutes Beispiel für diese Gefahr sein. Ihr Fokus war auf »grobe Menschenrechtsverletzungen« gerichtet und sollte den Opfern einen Platz einzuräumen, um Zeugnis abzulegen, es fehlte aber ein ebenso wichtiger Fokus auf die massenhaften Enteignungen, die den Kern des Apartheidsystems bildeten. Eine Umverteilung ist im »neuen« Südafrika weitgehend ausgeblieben, was dazu geführt hat, dass trotz der zum Teil fortschrittlichen Erinnerungskultur, die sich um die TRC entwickelt hat  – manche Aspekte können als multidirektional betrachtet werden  –, die materiellen Ungleichheiten ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der weißen Herrschaft auf einem schockierend hohen Niveau verharren. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die Erinnerung an den Holocaust und die Erinnerung an andere Menschenrechtsverletzungen die damit einhergehenden moralischen Ansprüche völlig verfehlt haben, aber es stimmt, dass die Erinnerungskultur uns nicht vor dem Wiederaufleben der extremen Rechten und dem Fortbestand von strukturellem Rassismus und Ungleichheit bewahrt hat. Ich glaube nicht, dass wir die Erinnerung an traumatische Geschichten aufgeben sollten, was auch immer das bedeuten würde, denn Vergessen und Verdrängen sind keine gangbaren Alternativen. Dennoch müssen wir eindeutig noch mehr darüber nachdenken, wie das Gedenken strukturelle Ungerechtigkeiten ins Bewusstsein rufen und in den Dienst der materiellen Umverteilung gestellt werden kann.

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Sie haben die Black-Lives-Matter-Bewegung sowie die Neuköllner Stadtteilmütter erwähnt. Dies führt uns zu den letzten Fragen: Wenn Sie Ihr vor über zehn Jahren erschienenes Buch auf die gegenwärtigen erinnerungspolitischen Kämpfe oder allgemein auf die zunehmende gesellschaftliche Spaltung zwischen homogenisierend-reaktionären Kräften einerseits und pluralistisch-emanzipatorischen Kräften andererseits beziehen, wie würden Sie das Modell der multidirektionalen Erinnerung re-konzipieren? Die Arbeit an Multidirektionale Erinnerung hat lange gedauert, ebenso wie die an meinem dritten Buch The Implicated Subject, aber natürlich gibt es viel, was ich ausgelassen habe oder jetzt anders schreiben würde. Das meiste davon habe ich bereits erwähnt. Erstens würde ich wahrscheinlich deutlicher darauf hinweisen, dass ich den Begriff der multidirektionalen Erinnerung nicht als einfache »Lösung« eines Erinnerungskonflikts anbiete. Es gibt viele verstörende Ausdrucksformen von Erinnerung, die eine multidirektionale Form annehmen. Besonders beeindruckt hat mich in den letzten vier Jahren der multidirektionale Charakter des rechtsextremen Diskurses, über den ich auch geschrieben habe, allein und gemeinsam mit meinem Kollegen Neil Levi. Weiße Rassisten in den USA und anderswo berufen sich explizit auf eine Reihe von historischen Erinnerungen – ganz offensichtlich auf die des Nationalsozialismus mit all seinen Symbolen und Codes, aber auch auf die Geschichte des Kolonialismus, einschließlich des Genozids an den Native Americans. Die Theorie der multidirektionalen Erinnerung hilft uns, die Dynamik von Erinnerung zu verstehen – die Art und Weise, in der Akteure aus dem gesamten politischen Spektrum, ob gewollt oder ungewollt, viele historischen Erinnerungen mobilisieren. Zweitens muss, wie ich in meiner Arbeit über die Gaza-Warschau-Analogie beschrieben habe, eine solide Theorie der Multidirektionalität in der Lage sein, mehrere Erinnerungen durch Mapping entlang der Affekt- und Vergleichsachsen zu unterscheiden. Ich glaube, dass ich bei diesem Problem gute Fortschritte gemacht habe, aber da bleibt noch das dritte Problem: das der Macht, und damit verbunden die Notwendigkeit einer »politischen Ökonomie der Erinnerung«. Ich finde diesen Punkt deshalb schwierig, weil wir meiner Meinung nach verstehen müssen, wie hegemoniale Erinnerungen im Interesse von Staat und Kapital produziert und verbreitet werden, aber wir zugleich die »relative Autonomie« der Erinnerung als ein Feld anerkennen müssen, um Althussers Begriff zu übernehmen, den ich immer noch nützlich finde. Ich behaupte, dass das Feld der Erinnerung durch Multidirektionalität definiert ist und dass dieses Feld auch nicht-dominierenden Erinnerungen einen gewissen Handlungsspielraum bietet – auch wenn einige der Erinnerungen, die artikuliert werden, verstörend sind, wie die der Rechtsextremen. Die Machtfrage muss intensiver behandelt werden, und ebenso die Frage des Vergessens, die ich oben angesprochen habe. Kann das Modell der multidirektionalen Erinnerung gewissermaßen eins zu eins auf Deutschland übertragen werden, wo die Erinnerung an den Holocaust zum Beispiel kaum mit dem Begriff der Deckerinnerung in Zusammenhang gebracht werden kann?

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Deutschland bietet sicherlich einen ganz besonderen Anlass, über Multidirektionalität nachzudenken. Ich verstehe gut, warum sich in Deutschland eine Erinnerungskultur entwickelt hat, die stark an der Singularität des Holocaust und an der besonderen Verantwortung der Deutschen festhält. Dennoch glaube ich, dass eine stärker multidirektionale Sensibilität auch im deutschen Kontext aus mehreren Gründen wertvoll sein kann. Erstens könnte es helfen, die Entstehung der Holocaust-Erinnerung in Deutschland zu überdenken und in Analogie zu dem zu verstehen, was ich im Buch im französischen Kontext zeige. Wir könnten zu den ersten Jahrzehnten vor der Konsolidierung einer offiziellen Erinnerung zurückkehren und fragen, wie sich verschiedene Vektoren der Erinnerung überkreuzt und gegenseitig beeinflusst haben: Erinnerungen zum Beispiel an Flucht und Vertreibung, an Viktimisierung, an politische Verfolgung, an frühere Kriege und koloniale Eroberungen, an die Ost-West-Teilung. Ich glaube nicht, dass wir die Kultur der Holocaust-Erinnerung, die schließlich entstand, verstehen können, ohne die multidirektionale Dynamik zu begreifen, in der sie entstanden ist. Zweitens kann ein multidirektionaler Zugang neue Wege eröffnen, diese Vielzahl von Erinnerungen zu erkennen und gleichzeitig zwischen den verschiedenen Ansprüchen, die sie erheben, zu unterscheiden. Der Sinn meiner Vorstellung von Multidirektionalität besteht nicht darin, die Besonderheiten verschiedener Geschichten – und schon gar nicht die des nationalsozialistischen Genozids  – auszulöschen, sondern darauf hinzuweisen, dass wir als Individuen und Träger kultureller Erinnerungen in der Lage sind, uns an mehr als eine Geschichte gleichzeitig zu erinnern und zwischen den verschiedenen Erinnerungen unterscheiden können, sei es aus ethischer, politischer oder einfach historischer Perspektive. Es geht nicht darum, die deutsche Erinnerung und Verantwortung für den Holocaust auszulöschen, sondern sie mit der Erinnerung an andere einschneidende Episoden der nationalen und transnationalen Geschichte zu ergänzen – nicht zuletzt die des deutschen Kolonialismus. Drittens denke ich, dass ein Verständnis der Multidirektionalität von Erinnerung hilfreich sein kann, in Deutschland eine Pluralität legitimer Erinnerungsthemen anzuerkennen, was ein notwendiger Schritt für die Erweiterung der demokratischen Staatsbürgerschaft ist. Eine der wichtigsten Prämissen meines Projekts mit Yasemin Yildiz zur Erinnerung von Migranten an den Holocaust ist, dass Minderheiten, Migrantinnen und Postmigranten in Deutschland in eine lähmende Doppelbindung gebracht werden: Ihnen wird gesagt, dass sie den Holocaust erinnern müssen, um Deutsche zu sein, während ihre Zugehörigkeit zu Deutschland und ihr Anspruch an die Erinnerung in Deutschland immer wieder infrage gestellt werden. Ein multidirektionaler Ansatz, wie wir ihn in unserem Projekt entwickeln, erkennt sowohl an, dass rassifizierte Subjekte in Deutschland viel dazu beitragen können, eine oft übermäßig ritualisierte und erstarrte Erinnerungskultur zu erneuern, als auch, dass solche Subjekte neue und manchmal unerwartete Erinnerungen in die öffentliche Sphäre einbringen. Einige dieser Erinnerungen führen zu Kontroversen und Konflikten,

INTERVIEW MIT MICHAEL ROTHBERG

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wie zum Beispiel die Erinnerungen an den Völkermord an den Armeniern oder die Nakba, aber der Punkt ist, dass diese Erinnerungen nun auch Teil der multidirektionalen Erinnerungslandschaft in Deutschland sind. Sie müssen als unvermeidbare Bestandteile des Sprechens über die Erinnerung an den Holocaust (an)erkannt und in die Erinnerungskultur integriert werden. Um eine wirkliche »Integration« der Erinnerungskulturen zu erreichen, wird es sicherlich eine gewisse Lockerung der Verengungen geben müssen, die mit Holocaustvergleichen verbunden sind. Aber vergleichen muss nicht zu einer Relativierung oder zum Verzicht historischer Verantwortung führen. Das Interview wurde im September und Oktober 2020 per E-Mail geführt.

Yasemin’e—aujourd’hui et demain

1. Einleitung: Die Theorie multidirektionaler Erinnerung in einem transnationalen Zeitalter Jenseits der Erinnerungskonkurrenz In einem typisch provokanten Aufsatz über das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus in den heutigen USA setzt sich der Literaturkritiker Walter Benn Michaels mit den scheinbar unvereinbaren Hinterlassenschaften der Sklaverei und des nationalsozialistischen Genozids auseinander: »Warum gibt es ein mit Bundesmitteln gefördertes US Holocaust Museum in der Washingtoner National Mall? […] Das Problem einer angemessenen Antwort auf diese Frage hat unter Afro-Amerikanern eine gewisse Verärgerung hervorgerufen, die der berühmt-berüchtigte schwarze Rassist Khalid Muhammad auf denkwürdige Weise zum Ausdruck brachte, als er am 3. April 1994 – im Anschluss an einen Besuch des US Holocaust Memorial Museum  – seinem Publikum an der Howard University erklärte: ›Der schwarze Holocaust war hundertmal schlimmer als der sogenannte Juden-Holocaust. Ihr sagt, ihr hättet sechs Millionen verloren. Wir bezweifeln das, aber […] wir haben 600 Millionen verloren.‹ Schindlers Liste sei ›in Wirklichkeit eine Schwindlerliste‹. Die Wucht dieser Bemerkungen besteht nicht in der absurden Holocaustleugnung, sondern in dem – ausgerechnet nach dem Besuch des Holocaust Museum eingenommenen – Standpunkt, das Gedenken an die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten in der Washingtoner Mall sei tatsächlich eine andere Art der Holocaustleugnung. Warum sollte das, was die Deutschen den Juden angetan haben, als wesentliches Ereignis der amerikanischen Geschichte behandelt werden, nicht aber das, was Amerikaner den Schwarzen angetan haben? Wieso wird des amerikanischen Rassismus in der Mall überhaupt nicht gedacht?«1

Michaels greift hier eines der quälendsten Probleme heutiger multikultureller Gesellschaften auf: Wie ist das Verhältnis der Viktimisierungsgeschichten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu denken? Dieses Problem ist, wie Michaels erkennt, auch überaus bedeutsam für das kollektive Gedächtnis, also für den Zusammenhang, 1

Walter Benn Michaels, Plots Against America: Neoliberalism and Antiracism, in: American Literary History 18 (2006) 2, S. 288–302, hier S. 289 f. Siehe auch meine Replik: Against ZeroSum Logic: A Response to Walter Benn Michaels, in: ebenda, S. 303–311. Die Textpassage von Michaels findet sich in nahezu identischer Form auch in: Walter Benn Michaels, The Trouble with Diversity: How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality, New York 2006, S. 55 f. Einige verwandte Aussagen von Michaels über den Holocaust, Erinnerung und Identität finden sich in: ders., The Shape of the Signifier: 1967 to the End of History, Princeton 2004.

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

den gesellschaftliche Gruppen zwischen ihrer vergangenen und ihrer gegenwärtigen Situation herstellen. Dies impliziert Fragen, die für das vorliegende Buch zentral sind: Was geschieht, wenn unterschiedliche Geschichten in der Öffentlichkeit aufeinandertreffen? Führt das Gedenken an eine dieser Geschichten dazu, dass andere aus dem Blickfeld entfernt werden? Muss es zu einer Konkurrenz der Opfer kommen, wenn in modernen multikulturellen Gesellschaften die Erinnerung an Sklaverei und Kolonialismus auf die an den Holocaust trifft? Michaels nimmt in seinem Aufsatz über Antisemitismus und Rassismus eine vorsichtige Position ein: Er erkennt im angeführten Beispiel Muhammads Rassismus und die »Absurdität« der Holocaustleugnung, scheint sich aber dennoch dessen Argumentation in einem wesentlichen Punkt anzuschließen. Wie Muhammad suggeriert auch Michaels, die kollektive Erinnerung unterliege einer Logik der Knappheit: Wenn es in (oder, genau genommen: direkt neben) der Washingtoner Mall ein Holocaust Museum gibt, dann muss das Holocaustgedenken die Erinnerung an die afroamerikanische Geschichte aus dem öffentlichen Raum des amerikanischen kollektiven Bewusstseins buchstäblich verdrängen. Existenz und Funktion des US Holocaust Memorial Museum lassen sich differenziert und legitim kritisieren. Es ist auch sicherlich notwendig, sich mit der ständigen Realität des amerikanischen Rassismus zu befassen. Michaels’ Argumentation wirft dennoch einige Fragen auf: Funktioniert die kollektive Erinnerung tatsächlich wie der Immobilienmarkt? Muss der Anspruch auf Erinnerung immer entsprechend der Bedeutung für die Nationalgeschichte bestimmt werden? Ist das »Gedenken an die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten« wirklich eine Form der »Holocaustleugnung«? Wenige würden so umstrittene Formulierungen verwenden. Dennoch teilen viele akademische und nicht-akademische Kommentatoren Michaels’ Verständnis von Erinnerung und Identität. Die vorliegende Untersuchung beruht auf der Überzeugung, dass die von Michaels aufgeworfenen Fragen kompliziert und dringlich sind, überprüft aber auch die weitverbreiteten Vorstellungen vom Wesen der kollektiven Erinnerung und deren Verbindungen zur Gruppenidentität, auf denen Michaels’ Provokationen gründen. Viele gehen wie Michaels und auch wie Muhammad davon aus, dass es sich bei der Öffentlichkeit, in der kollektive Erinnerungen artikuliert werden, um eine knappe Ressource handelt und dass die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen kollektiven Erinnerungen in dieser Sphäre die Form eines Nullsummenspiels im Kampf um Vorherrschaft annehmen. Weil viele dieser Kommentatoren zudem glauben, zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit und der Identitätsbildung in der Gegenwart verlaufe eine gerade Linie, sehen sie die Artikulation der Vergangenheit in den kollektiven Erinnerungen als Kampf um Anerkennung, bei dem es nur Gewinner und Verlierer geben kann – weshalb dieser Kampf eng mit womöglich tödlicher Gewalt verknüpft sei. Zweifellos lassen sich viele aktuelle Gewalttaten, auch Kriege und Genozide, zum Teil auf ressentimentgeladene Erinnerungen und gegensätzliche Ansichten über die Vergangenheit zurückführen. Mein Einwand ist jedoch,

JENSEITS DER ERINNERUNGSKONKURRENZ

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dass der konzeptionelle Rahmen, innerhalb dessen sich Expertinnen und normale Bürger dem Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Gewalt genähert haben, fehlerhaft ist. Im Gegensatz zu einer Konzeption, die kollektive Erinnerung als einen Fall von Erinnerungskonkurrenz – als Nullsummenspiel und Kampf um knappe Ressourcen – begreift, schlage ich vor, dass wir Erinnerung als multidirektional verstehen: als Erinnerung, die ständigen Aushandlungen, Quervergleichen und Anleihen unterworfen und dabei produktiv und nicht ablehnend ist. Dieser Perspektivwechsel lässt uns erkennen, dass Muhammad und Michaels zwar beide über das Holocaustgedenken sprechen, als versperre es die Sicht auf Sklaverei und Kolonialismus (das Modell der Erinnerungskonkurrenz), sie aber in Wirklichkeit das präsente und weitverbreitete Bewusstsein vom Holocaust als Plattform für ihre Sicht auf den historischen und aktuellen Rassismus in den USA benutzen. Diese Wechselwirkung zwischen verschiedenen historischen Erinnerungen veranschaulicht die produktive interkulturelle Dynamik, die ich multidirektionale Erinnerung nenne. In Bezug auf Gedenkpolitik kritisiert Michaels sowohl die Rolle, die Erinnerung im öffentlichen Diskurs über die Vergangenheit spielt, als auch deren Einfluss auf die Gegenwart. Wie der Titel bereits verrät, stellt auch dieses Buch die Erinnerung in den Mittelpunkt der Analyse, wobei es allerdings eine im Verhältnis zu Michaels weniger skeptische Haltung zum Forschungsgegenstand einnimmt. Aber was ist Erinnerung? Und warum genießt sie in diesem Buch einen solchen Stellenwert? Auf diese entscheidenden Fragen werde ich weiter unten und im Verlauf dieser Untersuchung immer wieder zurückkommen. Die Literatur zu Erinnerung ist außerordentlich umfangreich und wächst in einem atemberaubenden Tempo  – ein Wachstum, das bereits als solches zum Forschungsgegenstand geworden ist.2 An dieser Stelle möchte ich lediglich auf Richard 2

Eine kritische Darstellung des Erinnerungs-Booms bietet Kerwin Lee Klein, On the Emergence of Memory in Historical Discourse, in: Representations 69 (2000), S. 127–150. Die frühere Fassung einer verwandten These findet sich in: Charles Maier, A Surfeit of Memory?, in: History and Memory 5 (1993) 2, S. 136–151. Für eine anspruchsvolle theoretische und kulturgeschichtliche Erörterung der Entstehung der Erinnerung auf globaler Ebene und in Bezug auf zeitlichen, technologischen und politischen Wandel siehe Andreas Huyssen, Present Pasts: Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003. Einen hervorragenden Überblick über jüngere Arbeiten zu Erinnerung, unter besonderer Berücksichtigung der Soziologie, gibt: Jeffrey K. Olick/Joyce Robbins, Social Memory Studies: From »Collective Memory« to the Historical Sociology of Mnemonic Practices, in: Annual Review of Sociology 24 (1998), S. 105– 140. Mit Ausnahme von Huyssen widmet sich keine dieser Schriften den sich überschneidenden, interethnischen und transnationalen Erinnerungen, um die es in meiner Untersuchung geht. Marita Sturken hat die Verflochtenheit und Aushandlung unterschiedlicher Erinnerungen untersucht, allerdings in einem nationalen Rahmen: Tangled Memories: The Vietnam War, the AIDS Epidemic, and the Politics of Remembering, Berkeley 1997. Erinnerung ist selbst eine historische Kategorie und bleibt über die Zeit hinweg nicht gleich. Dieser Band soll einen Beitrag zur theoretischen Aufarbeitung und Historisierung von Erinnerung im späten 20. und

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

Terdimans nützliche Minimaldefinition verweisen, an der sich diese Studie orientiert: Erinnerung ist vergegenwärtigte Vergangenheit. Aus der Vorstellung einer »Vergegenwärtigung« ergeben sich zwei wichtige Folgerungen: erstens, dass es sich bei Erinnerung um ein Gegenwartsphänomen handelt – um etwas, bei dem es zwar um die Vergangenheit geht, das aber in der Gegenwart stattfindet; und zweitens, dass Erinnerung eine Form von Anstrengung, Durcharbeitung, Arbeit oder Handeln ist.3 Um Alon Confino und Peter Fritzsche zu zitieren: »Erinnerung [ist] eine symbolische Darstellung der Vergangenheit, die in gesellschaftliches Handeln eingebettet ist«, eine »Zusammenstellung von Praktiken und Interventionen«.4 Multidirektionale Erinnerung untersucht Beiträge sozialer Akteure, die mannigfaltige traumatische Vergangenheiten in eine heterogene und sich wandelnde Gegenwart der Nachkriegszeit einbringen. Da es sich zugleich mit der individuellen und der kollektiven Erinnerung befasst, nimmt dieses Buch Akteurinnen und Stätten der Erinnerung in den Blick – vor allem aber deren Interaktionen in konkreten historischen und politischen Kämpfen und Auseinandersetzungen. Weil ich Erinnerung in den Mittelpunkt dieser Untersuchung stelle, kann ich die Belange der Geschichte, der Repräsentation, der Biografie, der Memorialisierung und der Politik zusammenführen.5 Erinnerung lässt sich weder eindeutig von Geschichte noch von Repräsentation abgrenzen; sie erfasst die individuelle, verkörperte, gelebte und die kollektive, soziale und konstruierte Seite unseres Verhältnisses zur Vergangenheit.

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frühen 21. Jahrhundert leisten und setzt sich insofern vor allem mit Arbeiten zu modernen Erinnerungspraxen auseinander. Zu den wichtigen Werken über frühere Epochen zählen Frances Yates, The Art of Memory, London 1966, und Mary Carruthers, The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture, New York 1990. Siehe Richard Terdiman, Present Past: Modernity and the Memory Crisis, Ithaca 1993. Mein Verständnis von Erinnerung als Form der Aufarbeitung steht insbesondere in der Schuld von Dominick LaCapras Schriften über Trauma und Holocaustgedenken. Siehe unter anderem sein Buch: History and Memory After Auschwitz, Ithaca 1998. Über Gedenken als soziale Praxis im ebenso relevanten Kontext der Judaistik und der Colonial bzw. Postcolonial Studies siehe jeweils Jonathan Boyarin, Storm from Paradise: The Politics of Jewish Memory, Minneapolis 1992, und Jennifer Cole, Forget Colonialism? Sacrifice and the Art of Memory in Madagascar, Berkeley 2001. Alon Confino/Peter Fritzsche, Introduction: Noises of the Past, in: dies. (Hrsg.), The Work of Memory: New Directions in the Study of German Society and Culture, Urbana 2002, S. 5. In einem vergleichbaren Zusammenhang stellen Olick und Robbins klar, dass kollektive Erinnerung kein »Ding« ist, sondern vielmehr »unterschiedliche Gruppen mnemotechnischer Praktiken an verschiedenen sozialen Orten« umfasst (Social Memory Studies, S. 112). Philippe Mesnard macht sich die semantischen Ressourcen der französischen Sprache zunutze und verweist in einem zu wenig bekannten Werk auf »consciences de la Shoah«. Er schlägt also vor, den Begriff der Erinnerung durch einen Ausdruck zu ersetzen, der die Begriffe »Bewusstsein« und »Gewissen« kombiniert. Siehe Philippe Mesnard, Consciences de la Shoah: Critique des discours et des représentations, Paris 2000. Eine exemplarische und nuancierte Untersuchung, die ebenfalls Geschichte, Biografie und Repräsentation verwebt, hat Susan Suleiman verfasst: Crises of Memory and the Second World War, Cambridge 2006.

JENSEITS DER ERINNERUNGSKONKURRENZ

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Sowohl in ihrer individuellen als auch in ihrer kollektiven Variante hängt Erinnerung eng mit Identität zusammen, einem der umstrittensten Begriffe zeitgenössischer Debatten. Wie verhalten sich Erinnerung und Identität zueinander? Leser und Leserinnen, die mit den Schriften von Walter Benn Michaels vertraut sind, wissen, dass es ihm bei seiner impliziten Theorie der Erinnerungskonkurrenz in keiner Weise darum geht, Erinnerung oder kollektive Identität aufzuwerten. Tatsächlich hat Michaels mit den meisten seiner Arbeiten eine gründliche Kritik an Erinnerung, Identität und dem vorgelegt, was er als die gerade Linie ansieht, die beide in einem Verhältnis wechselseitiger Bestätigung verbinde. Diese Haltung setzt ihn fraglos von Khalid Muhammad ab, der die Arena der Erinnerungskonkurrenz betritt, um die Ansprüche einer militanten schwarzen Identität anzumelden. Meine Perspektive unterscheidet sich von diesen polarisierten Standpunkten. Anders als Michaels begreife ich nicht alle Erinnerungs- und Identitätsansprüche als notwendigerweise problematisch; vielmehr scheinen mir solche Ansprüche unerlässlich und unvermeidbar zu sein. Anders als Muhammad lehne ich aber auch die Vorstellung ab, Identitäten und Erinnerungen seien rein und authentisch – dass es also ein »Wir« und ein »Ihr« gäbe, durch das sich sozusagen schwarze und jüdische Identität beziehungsweise ein schwarzes und jüdisches Verhältnis zur Vergangenheit definitiv unterscheiden würden. Ich weise beide Positionen zurück, weil ich zwei Annahmen ablehne, die der einen wie der anderen zugrunde liegen: dass es eine direkte Verbindung von Erinnerung und Identität gibt und nur solche Erinnerungen und Identitäten möglich sind, die Elemente von Alterität und Formen der Gemeinsamkeit mit anderen ausschließen. Unser Verhältnis zur Vergangenheit bestimmt teilweise, wer wir in der Gegenwart sind, allerdings nie eindeutig oder unmittelbar und nie ohne unerwartete oder sogar unerwünschte Konsequenzen, die uns mit jenen verbinden, die wir als Andere ansehen. Bezieht man sich ausdrücklich auf die produktive, interkulturelle Dynamik multidirektionaler Erinnerung, wie in vielen der in diesem Buch verhandelten Fälle, können neue Solidaritätsformen und neue Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen. Mein Verständnis von kollektivem Gedenken hinterfragt die wesentlichen Dogmen und Annahmen des zeitgenössischen Nachdenkens über kollektive Erinnerung und Gruppenidentität. Zentral für das Konzept der Erinnerungskonkurrenz ist ein Bild der Öffentlichkeit als vorab gegebener, begrenzter Raum, in dem bereits etablierte Gruppen einen Kampf auf Leben und Tod austragen. Die Multidirektionalität der Erinnerung lädt hingegen dazu ein, Öffentlichkeit als gestaltbaren Diskursraum zu denken, in dem Gruppen nicht nur feststehende Positionen artikulieren, sondern durch ihre dialogische Verbindung mit anderen überhaupt erst entstehen. Sowohl die Subjekte als auch die öffentlichen Räume sind offen für fortlaufende Neugestaltung. Ebenso zentral für das Konzept der Erinnerungskonkurrenz ist die Vorstellung, die Grenzen der Erinnerungen verliefen parallel zu denen der Gruppenidentität. Dieser Vorstellung sind wir bereits bei Michaels und Muhammad begegnet: Indem ich für die Anerkennung meiner Erinnerungen und meiner Identität kämpfe, schließe ich notwendigerweise die Erinnerungen und Identitäten anderer aus. Behält man die Multi-

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

direktionalität der Erinnerung im Sinn, erscheint auch diese Annahme fragwürdig. Erinnerungen sind kein Eigentum von Gruppen – und Gruppen »gehören« auch nicht ihren Erinnerungen. Vielmehr verlaufen die Grenzen von Erinnerung und Identität zickzackförmig: Was zunächst wie mein Eigentum aussieht, erweist sich oft als geborgt oder einer anderen, auf den ersten Blick fremden oder fernen Geschichte entnommen und den eigenen Zwecken angepasst. Der anachronistische Charakter der Erinnerung – dass sie heute und damals, hier und dort zusammenführt – ist tatsächlich die Quelle ihrer kraftvollen Kreativität, ihrer Fähigkeit, aus dem Material vergangener Welten neue Welten zu erschaffen. Letztlich sehen jene, die Erinnerung als Form der Konkurrenz begreifen, den Kampf um kollektive Artikulation und Anerkennung so, als könne es nur Gewinner und Verlierer geben. Aufmerksam zu sein für die Multidirektionalität der Erinnerung legt hingegen eine geschmeidigere gesellschaftliche Logik nahe. Der Kampf um Anerkennung ist von Grund auf instabil und unterliegt ständiger Umkehrung, wie Hegel in seiner berühmten Dialektik von »Herrschaft und Knechtschaft« erkannt hat: Die »Verlierer« von heute können sich als die »Gewinner« von morgen erweisen, und »Gewinnen« kann bedeuten, dass man von der Rhetorik und Bildsprache des Anderen lernt und diese aufgreift. Darüber hinaus sind die hier untersuchten Beispiele multidirektionaler Erinnerung im Allgemeinen viel zu mehrdeutig und heterogen, als dass sie sich allzu schnell auf eine Frage des Gewinnens oder Verlierens reduzieren ließen – was nicht bedeutet, dass bei der Artikulation kollektiver Erinnerung wenig auf dem Spiel stünde. Das Gegenteil ist der Fall. Um zu zeigen, wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart auf dem Spiel steht, macht Multidirektionale Erinnerung das Holocaustgedenken zu seinem paradigmatischen Untersuchungsgegenstand. Nicht zufällig setzen Michaels und Muhammad das Problem von Erinnerung und Identität in Beziehung zum Genozid, den die Nationalsozialisten an den Juden und Jüdinnen verübt haben. Es gibt wohl tatsächlich kein anderes Ereignis, das mit kollektiver Erinnerung einhergehende Kämpfe um Anerkennung derart dicht und allgemein zusammenfasst. Historiker und Historikerinnen haben anhand zahlreicher nationaler Kontexte gezeigt, dass das öffentliche Holocaustgedenken spät entstand; erst während des letzten halben Jahrhunderts ist es in vielen westeuropäischen, nordamerikanischen und nahöstlichen Gesellschaften in den Mittelpunkt des Bewusstseins gerückt  – und hat sich auch im Rest der Welt Geltung verschafft.6 Die weltweite Verbreitung von Holocaustgedenken und -bewusstsein veranschaulicht die multidirektionale Dynamik, auf die ich in diesem Buch durchgehend Bezug nehme.7 Ich behaupte, dass die Entstehung eines globalen 6

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Zur verspäteten Entwicklung des Holocaustgedenkens in verschiedenen nationalen Kontexten siehe Peter Novick, Nach dem Holocaust: Der Umgang mit dem Massenmord, München 2003; Tom Segev, Die siebte Million, Reinbek 1995; Annette Wieviorka, The Era of the Witness, Ithaca 2006. Zum Bewusstsein des Holocaust in der »Dritten Welt« siehe William Miles, Third World View of the Holocaust, in: Journal of Genocide Research 6 (2003) 3, S. 371–393. Zur Globalisierung des Holocaustgedenkens siehe Huyssen, Present Pasts, insbesondere die Bemerkungen zum »Globalisierungsparadox« (S. 13  f.); Daniel Levy/Natan Sznaider,

JENSEITS DER ERINNERUNGSKONKURRENZ

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Holocaustgedenkens zur Artikulation anderer Geschichten beigetragen und keineswegs die Sicht auf andere historische Erinnerungen versperrt hat, wie die Vorstellung eines von Konkurrenz geprägten Kampfes um Anerkennung unterstellt. Einige dieser Geschichten, etwa die der Sklaverei, sind dem Holocaust historisch vorgelagert; andere, wie die des algerischen Unabhängigkeitskriegs (1954–1962) oder des in den 1990er-Jahren in Bosnien verübten Genozids, sind jüngeren Datums. Weil der Holocaust so relevant ist für das Verhältnis von kollektiver Erinnerung, Gruppenidentität und Gewalt, steht die Untersuchung der in verschiedenen nationalen Kontexten anhaltenden Bezugnahme auf ihn im Mittelpunkt der in diesem Band vorgenommenen Analyse multidirektionaler Erinnerung. Dabei ist multidirektionale Erinnerung, wie der Begriff bereits sagt, keine Einbahnstraße; ihre Erkundung erfordert einen komparativen Ansatz, den ich hier verfolge. Meine These lautet nicht nur, dass der Holocaust die Artikulation anderer Opfergeschichten ermöglicht hat, und zwar zeitgleich zur Erklärung seiner »Einzigartigkeit« oder »Singularität« im Vergleich zu anderen von Menschen verübten Gräueltaten. Ich belege auch die überraschendere und selten zur Kenntnis genommene Tatsache, dass das öffentliche Holocaustgedenken in Zusammenhang mit Ereignissen der Nachkriegszeit entstanden ist, die auf den ersten Blick wenig mit dem Holocaust zu tun haben. Hier können wir anmerken, dass Michaels und Muhammad nicht zufällig eine Konkurrenz von Holocaustgedenken und Gedenken an Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus inszenieren. Anhand einer Reihe von Fallstudien zu Künstlerinnen und Intellektuellen, in denen ich mich mit Hannah Arendt und W. E. B. Du Bois, aber auch mit französischen Antikolonialismus-Aktivistinnen und experimentellen Dokumentarfilm-Regisseuren beschäftige, werde ich zeigen, dass sich das Holocaustgedenken im Dialog mit den dynamischen Veränderungen und facettenreichen Kämpfen entwickelte, die das Zeitalter der Dekolonialisierung prägten. Zwischen 1945 und 1962 entsteht zum einen das Bewusstsein vom Holocaust als eines präzedenzlosen Falls modernen Genozids, zum anderen fällt in diese Periode die Entstehung eines Nationalitätsbewusstseins und die politische Unabhängigkeit vieler ehemaliger Subjekte des europäischen Kolonialismus.8 In dieser Studie wird

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Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2007. Auf Levy und Sznaider sowie auf Jeffrey Alexanders wichtige Arbeit zum kulturellen Trauma – The Meanings of Social Life: A Cultural Sociology, New York 2003 – komme ich in Kapitel 8 zurück. Für die Untersuchung dieser Epoche und dieses Zusammentreffens verschiedener Geschichten sind die Arbeiten von Forschern und Forscherinnen aus dem Bereich der postkolonialen und der (afrikanischen) Diaspora Studien von wesentlicher Bedeutung. Zu beiden (in sich bereits recht heterogenen) Bereichen gibt es eine kaum überschaubare Literatur; ich erwähne hier nur einige Schlüsseltexte. Paul Gilroys Schriften sind für mich besonders inspirierend gewesen. Siehe insbesondere The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, Cambridge 1993, sowie Against Race: Imagining Political Culture Beyond the Color Line, Cambridge 2002. Brent Hayes Edwards hat die Forschung zur Diaspora fortgesetzt und verfeinert. Siehe The Practice of Diaspora: Literature, Translation, and the Rise of Black Internationalism, Cambridge 2003. Einen hervorragenden Überblick über koloniale und postkoloniale

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

die Position vertreten, dass dies keineswegs als ein zufälliges Zusammenfallen zweier voneinander unabhängiger Geschichten verstanden werden sollte. Die Betrachtung der frühen Nachkriegszeit gibt vielmehr einen wesentlichen Einblick in die Dynamik der kollektiven Erinnerung und der Kämpfe um Anerkennung und kollektive Identität, von denen unsere zeitgenössischen pluralistischen Gesellschaften bis heute heimgesucht werden. Der Holocaust wird heute oft in einem hässlichen Wettstreit komparativer Viktimisierung den Globalgeschichten von Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus entgegengestellt  – beispielsweise in Muhammads berüchtigter Rede und den Aussagen vieler »Verteidiger« der Einzigartigkeit des Holocaust. Darin drückt sich eine Weigerung aus, die frühere, von mir als Multidirektionale Erinnerung charakterisierte Verknüpfung dieser Geschichten anzuerkennen. Doch die meist nicht zur Kenntnis genommene Geschichte wechselseitiger Bezugnahmen, die die Epoche der Dekolonisierung auszeichnet, hält bis heute an und ist eine Vorbedingung zeitgenössischer Diskurse. Die – allseitige – Schärfe vieler Diskussionen über »Rasse«, Genozid und Erinnerung hat auch mit der rhetorischen und kulturellen Nähe scheinbar gegensätzlicher Gedenktraditionen zu tun.

Von der Einzigartigkeit zur Multidirektionalität Eine der größten Barrieren, die Menschen hindern, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen kollektiven Erinnerungen anzuerkennen, ist der Glaube, es handle sich bei der eigenen Geschichte, Kultur und Identität um etwas »Eigenständiges und Einzigartiges« – um eine von W. E. B. Du Bois kritisch gemeinte Formulierung aufzugreifen. Das gilt speziell für das Nachdenken über den von den Nationalsozialisten an den europäischen Jüdinnen und Juden verübten Genozid. Der Holocaust ist in den letzten Jahrzehnten in den »Mittelpunkt« des öffentlichen Bewusstseins gerückt, und parallel dazu hat man ihn gerade in Europa, Israel und Nordamerika als singulär verstanden, als Ereignis sui generis. Im Extremfall wird er sogar als nur marginal mit dem Verlauf der Menschheitsgeschichte verbunden definiert. Elie Wiesel war der Meinung: »Der Holocaust transzendiert die Geschichte«. Claude Lanzmann zufolge gibt es eine »unaufhebbare Diskrepanz« zwischen den möglichen historischen Ursachen des Holocaust und dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse.9 Sogar historisch begründete Argumentationen für die Einzigartigkeit des Holocaust neigen mitunter

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Diskurse bietet Ania Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 2. Aufl., New York 2005. Robert Young, Postcolonialism: An Historical Introduction, Oxford 2001, bietet eine nützliche historische Darstellung antikolonialer Schriften und Bewegungen. Elie, Against Silence: The Voice and Vision of Elie Wiesel, hrsg. von Irving Abrahamson, New York 1985, S. 158; Claude Lanzmann, The Obscenity of Understanding: An Evening with Claude Lanzmann, in: Cathy Caruth (Hrsg.), Trauma: Explorations in Memory, Baltimore 1995, S. 200–220, hier S. 206.

VON DER EINZIGARTIGKEIT ZUR MULTIDIREKTIONALITÄT

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zu ahistorischen Übertreibungen. In einem Aufsatz, der sich bemüht, den Genozid der Nazis vom »Fall der amerikanischen Ureinwohner«, der »Hungersnot in der Ukraine« unter Stalin und der »armenischen Tragödie« abzugrenzen, vertritt Steven Katz die These, gerade der »historisch und phänomenologisch einzigartige« Charakter des Holocaust sei der Beleg dafür, dass sich der Genozid der Nationalsozialisten von »jedem für vergleichbar erklärten Fall« unterscheide.10 Den Holocaust für einzigartig zu erklären diente zunächst dazu, dem in der frühen Nachkriegszeit verbreiteten Schweigen über die Besonderheiten des Genozids der Nazis an den Juden und Jüdinnen entgegenzuwirken, das viele Historiker beschrieben haben. Solche Aussagen spielten eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung eines besseren Verständnisses des Genozids sowie bei der Anerkennung und Analyse seiner furchtbaren Besonderheiten und traumatischen Hinterlassenschaften. Zwar besteht eines der Ziele von Multidirektionale Erinnerung darin, diese Sicht auf die frühen Jahre des Schweigens zu erschweren, indem ich auf Artikulationen des Holocaustgedenkens aufmerksam mache, die nicht in den üblichen Kanon eingegangen sind; dennoch bin ich der Meinung, dass es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten notwendig war, die Besonderheit des Holocaust zu betonen. Doch selbst wenn diese Besonderheit bis heute nicht allgemein anerkannt wird, wurde die Einzigartigkeit des Holocaust zu der Zeit, da Wiesel, Lanzmann und Katz die zitierten Sätze schrieben, weithin akzeptiert. Als Reaktion auf dieses sich entwickelnde Verständnis des Genozids der Nazis haben Intellektuelle, die sich für die Geschichten von Indigenen, Minderheiten und Kolonialismus interessierten, die Einzigartigkeit des Holocaust hinterfragt und Forschungen zu anderen Geschichten von extremer historischer Gewalt, ethnischen »Säuberungen« und Genoziden angeregt. Viele dieser Intellektuellen vertreten die These, dass es zwar wesentlich sei, die Besonderheiten des Nazi-Genozids zu verstehen – das gelte für alle historischen Ereignisse –, dass es aber intellektuell und politisch gefährlich sei, diesen Genozid von anderen Geschichten kollektiver Gewalt  – oder gar von Geschichte als solcher – zu trennen. Das Gefährliche am Diskurs über die Einzigartigkeit des Holocaust sei, dass er das Potenzial habe, eine Hierarchie des Leids zu schaffen (was moralisch verwerflich sei) und Leiden aus dem Feld historischen Handelns zu entfernen (was moralisch und intellektuell fragwürdig sei).11 Diese Kritik am Singularitätsdiskurs steckt auch hinter den Klagen von Michaels und Muhammad über den Ort des Holocaust in der US-amerikanischen Öffentlichkeit. 10 Steven T. Katz, The Uniqueness of the Holocaust: The Historical Dimension, in: Alan S. Rosenbaum (Hrsg.), Is the Holocaust Unique?: Perspectives on Comparative Genocide, 2.  Aufl., Boulder 2001, S. 49 f. 11 Aus der Debatte über die Einzigartigkeit des Holocaust ist eine enorme Menge wissenschaftlicher und polemischer Literatur hervorgegangen. Einige wichtige Vertreter der Singularitätsthese sind Yehuda Bauer, Katz und Wiesel. Infrage gestellt worden ist diese These von Ward Churchill, Ian Hancock und David Stannard. Einige repräsentative Beiträge zu dieser Debatte finden sich in Rosenbaum (Hrsg.), Is the Holocaust Unique?

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

Trotz ihrer offenkundigen intellektuellen und politischen Differenzen teilen viele Fürsprecher und Kritikerinnen der Singularitätsthese den Ansatz, den ich als Erinnerungskonkurrenz bezeichne. Das heißt, beide Gruppen neigen dazu, das Holocaustgedenken als Teil eines Nullsummenspiels zu verstehen, bei dem dieses Gedenken mit der Erinnerung anderer Geschichten konkurriert. Einerseits widerlegen Verteidigerinnen der Singularitätsthese beflissen sämtliche Versuche, den Holocaust zu vergleichen oder zu analogisieren, um eine Verwässerung oder Relativierung des Gedenkens an die Shoah zu verhindern. Deborah Lipstadt, die sich intensiv mit dem Thema der Holocaustleugnung befasst hat, spricht von einer Verbindung zwischen denen, die den Holocaust durch Vergleiche und Analogien relativieren, und denen, die ihn gänzlich leugnen; beide Gruppen würden die »Grenzen zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Verfolgten und Verfolgern« verwischen.12 Unschärfen beschäftigen auch den Literaturkritiker Richard Golsan. In einem Kommentar zum Prozess gegen Maurice Papon, einen unter anderem für die Polizei zuständigen französischen Generalsekretär der Präfektur in Vichy-Frankreich, der in diesem Buch eine Schlüsselrolle spielen wird, sorgt sich Golsan, Vergleiche zwischen der französischen Beteiligung an der Deportation der Jüdinnen und Juden und der französischen Verfolgung von Algeriern und Algerierinnen während der Dekolonisierung – einer Verfolgung, an der Papon ebenfalls beteiligt war – könnten »die Aufmerksamkeit von der Vichy-Vergangenheit ablenken und, was bedeutender ist, das Spezifische der Endlösung verwischen«.13 Kritikerinnen der Singularitätsthese oder der Holocaustgedenkpolitik behaupten dagegen oft – wie Michaels und Muhammad –, das wachsende Interesse am nationalsozialistischen Genozid lenke von der Auseinandersetzung mit anderen historischen Tragödien ab. Beispielsweise äußert Edward T. Linenthal in einer Studie zur Entstehung des US-amerikanischen Holocaust Museum die Sorge, das »offizielle Holocaustgedenken« könne als eine »›bequem grauenvolle‹ Erinnerung fungieren, die es Amerikanern erlaubt, sich selbst zu bestätigen, dass sie sich mit tief greifenden Ereignissen beschäftigen, während sie zugleich schwer erträgliche Ereignisse ignorieren, die ihre Selbstwahrnehmung mehr bedrohen als der Holocaust«.14 In einer extremeren Variante behauptet David Stannard, dass die Singularitätsthese »eine absichtlich geschaffene Kulisse ist, hinter der prinzipienlose Regierungen heute ihre eigene Vergangenheit und ihre andauernden genozidalen Handlungen zu verschleiern suchen«.15 12 Deborah Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zürich 1994, S. 260. 13 Richard Golsan, Vichy’s Afterlife: History and Counterhistory in Postwar France, Lincoln 2000, S. 20 f. 14 Edward T. Linenthal, Preserving Memory: The Struggle to Create America’s Holocaust Museum, New York 1995, S. 267. Linenthal, der die Besonderheit des Holocaust fraglos anerkennt, argumentiert nicht wie andere dahingehend, dass das Holocaustgedenken nur als »Deckerinnerung« fungiere, sondern bietet vielmehr eine nützliche Typologie verschiedener Formen der Erinnerung. 15 David E. Stannard, Uniqueness as Denial: The Politics of Genocide Scholarship, in: Rosenbaum (Hrsg.), Is the Holocaust Unique?, S. 250.

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Natürlich haben beide Ansichten einen gewissen Wahrheitsgehalt. Relativierung und Banalisierung des Holocaust gibt es tatsächlich, wenn auch vielleicht eher von einer Kulturindustrie betrieben, die ihn verwerten will, als von randständigen oder oppositionellen Intellektuellen und Aktivistinnen. Umgekehrt kann eine Überbetonung der Einzigartigkeit des Holocaust, die zulasten seiner Ähnlichkeit mit anderen Ereignissen geht, die Anerkennung vergangener und aktueller Genozide verhindern – selbst wenn dies nicht immer so vorsätzlich geschieht, wie Stannard unterstellt. Dass es solche Blockaden tatsächlich gibt, ist eine Lehre aus Samantha Powers überzeugender Studie A Problem from Hell. Ihre Darstellung des Verhaltens der USA zu den möglichen und tatsächlichen Genoziden des 20. Jahrhunderts zusammenfassend, schreibt Powers: »Die öffentliche Wahrnehmung des Holocaust in den USA scheint perverserweise die Messlatte für Betroffenheit oft so hoch gesetzt zu haben, dass wir uns sagen konnten, aktuelle Genozide würden diesem Maßstab nicht entsprechen.«16 Erinnerungskonkurrenz existiert und kann andere Möglichkeiten des Nachdenkens über die Beziehung unterschiedlicher Geschichten mitunter außer Kraft setzen. Dass es so widersprüchliche und festgefahrene Positionen über die Singularität des Holocaust gibt, lässt vermuten, dass die Kontroverse keine empirische oder historische ist. Vielmehr drehen sich solche Auseinandersetzungen, wie Fredric Jameson mit Bezug auf das verwandte, aber allgemeinere Problem historischer Periodisierung argumentiert hat, stets um den Einsatz von Narrativen und nicht um Tatsachen, über die sich objektiv urteilen ließe: »Die Entscheidung, ob man es mit einem Bruch oder mit einer Kontinuität zu tun hat – ob die Gegenwart als historische Originalität oder als Fortsetzung des Alten im neuen Schafspelz anzusehen sei –, lässt sich nicht empirisch rechtfertigen oder philosophisch begründen. Die Entscheidung selbst ist die Voraussetzung der Narration, auf der die Wahrnehmung und Deutung der zu erzählenden Ereignisse beruht.«17 Wenn, wie Jameson nahelegt, Ort und Status des Holocaust nicht ausschließlich durch einen Rückgriff auf das historische Archiv bestimmt werden können, dann muss zur Überwindung der typischen Sackgassen der Singularitätsdebatten über die Arbeit der Erinnerung und Repräsentation nachgedacht werden – über jene Schauplätze, wo Narrationen unser Bewusstsein prägen.18 16 Samantha Power, »A Problem from Hell«: America and the Age of Genocide, New York 2003, S. 503. Dirk Moses weist darauf hin, dass auch Powers Studie für das darin untersuchte Phänomen symptomatisch ist, insofern sie sich weigert, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, die USA könnten Urheber und nicht bloß Beobachter von Genoziden sein. Siehe A. Dirk Moses, Conceptual Blockages and Definitional Dilemmas in the »Racial Century«: Genocides of Indigenous Peoples and the Holocaust, in: Patterns of Prejudice 36 (2002) 4, S. 7–35. 17 Fredric Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991, S. xii–xiii. 18 Eine kurze Darlegung des Verhältnisses von Erinnerung, Narrativ und Repräsentation bietet Mieke Bals Einleitung zu Mieke Bal/Jonathan Crewe/Leo Spitzer (Hrsg.), Acts of Memory: Cultural Recall in the Present, Hanover 1998.

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

Das Modell der Erinnerungskonkurrenz funktioniert ein wenig so wie das, was Michel Foucault in der Einleitung zu Der Wille zum Wissen als »Repressionshypothese« bezeichnet. Foucault zufolge sollte die populäre Vorstellung sexueller Verbote im viktorianischen Zeitalter nicht zum »grundlegenden und konstitutiven Element« einer Geschichte der Sexualität gemacht werden, da die »negativen Elemente […] nur Stücke« seien, die bei der Verbreitung und generellen Aufforderung zu Sexualitätsdiskursen lediglich »eine lokale und taktische Rolle« gespielt hätten.19 Ähnlich würde ich behaupten, dass die negativen Elemente der Erinnerungskonkurrenzthese lediglich Bruchstücke umfangreicherer Gedenkdiskurse sind. Ein allzu starrer Fokus auf die Erinnerungskonkurrenz lenkt von anderen Formen des Nachdenkens über das Verhältnis von Geschichten zu ihren Erinnerungshinterlassenschaften ab. Letztlich ist Erinnerung, wie gesagt, kein Nullsummenspiel.20 Gegen die Vorstellung einer Erinnerungskonkurrenz schlage ich das Konzept der multidirektionalen Erinnerung vor, das die Aufmerksamkeit auf die dynamischen Transfers zwischen unterschiedlichen Orten und Zeiten lenkt, zu denen es beim Akt des Gedenkens kommt. Orientiert am Begriff der multidirektionalen Erinnerung können wir die Interaktionsspiralen verstehen, die die Erinnerungspolitik auszeichnen. Muhammads Hinweis auf einen »schwarzen Holocaust« belegt, dass der Holocaust gerade deswegen eine Metapher oder Analogie für andere Ereignisse und Geschichten geworden ist, weil er weitgehend als singuläre und einzigartig furchtbare Form politischer Gewalt angesehen wird.21 Die Singularitätsbehauptung führt zu metaphorischen und analogischen Aneignungen, die weitere Singularitätsbehauptungen auslösen. Außer solchen Szenarien gibt es aber auch vielschichtige Akte der Solidarität, bei denen historische Erinnerung als Medium für die Bildung neuer gemeinschaftlicher und politischer Identitäten fungiert. Oft ist es schwer zu sagen, ob ein konkreter Erinnerungsakt eher Konkurrenz oder eher gegenseitiges Verständnis erzeugen wird  – manchmal geschieht beides anscheinend gleichzeitig. Mit dem Ansatz der multidirektionalen Erinnerung lassen sich Machtgefälle wahrnehmen, die meist mit der Erinnerungskonkurrenz einhergehen. Diese Konkurrenz wird jedoch in der größeren Spirale des Erinnerungsdiskurses verortet, wo sogar feindselige Beschwörungen der Erinnerung Vehikel für weiteres, gegenläufiges Gedenken sein können. Das 19 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1995, S. 22. 20 Eine nützliche Auseinandersetzung mit dem Singularitätsdiskurs und Fragen des historischen Vergleichs bietet Moses, der den Schwerpunkt allerdings nicht auf Fragen der Erinnerung legt. Siehe Moses, Conceptual Blockages. Siehe auch Dan Stone, The Historiography of Genocide: Beyond »Uniqueness and Ethnic Competition«, in: ders., History, Memory, and Mass Atrocity: Essays on the Holocaust and Genocide, London 2006, S. 236–251. 21 James E. Young entwickelt diese Beobachtung über die metaphorische Aufladung des Holocaust in seinem noch immer überaus nützlichen Buch: Beschreiben des Holocaust: Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a.  M. 1997. Siehe auch seine hervorragende Studie der Memorialisierung des Holocaust: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997.

EIN NEUES VERSTÄNDNIS DER DECKERINNERUNG

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Konzept der multidirektionalen Erinnerung postuliert, dass kollektive Erinnerung von exkludierenden Versionen kultureller Identität teilweise getrennt ist, und erkennt an, dass Gedenken sich über verschiedene räumliche, zeitliche und kulturelle Punkte hinweg vollzieht, diese aber zugleich verbindet. Ich denke zwar, dass es besser ist, Erinnerung als multidirektional zu verstehen, anstatt sie auf Konkurrenz, Exklusivität und Ausnahmestatus zu gründen, setze mich hier aber auch mit Fällen auseinander, in denen die Multidirektionalität der Erinnerung nicht etwa Solidarität bewirkt, sondern den Interessen von Gewalt und Ausschluss dient.

Ein neues Verständnis der Deckerinnerung Einige Kritiker der vermeintlichen Vorherrschaft des Holocaust in der Sphäre der kollektiven Erinnerung greifen auf eine psychoanalytische Begrifflichkeit zurück und beschreiben das Holocaustgedenken als »Deckerinnerung«. Dieser von Sigmund Freud inspirierten These zufolge konkurriert das Holocaustgedenken nicht etwa nur mit dem Erinnern anderer Vergangenheiten; es biete auch – wie schon die erwähnten Argumentationslinien von Linenthal und Stannard nahelegen – einen höheren Grad an »Behaglichkeit«, als es die Auseinandersetzung mit »lokaleren« Problemen erlaube. Eine der raffinierteren Varianten dieser These stammt von der Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen, die sich fragt, ob »die populäre amerikanische Faszination mit dem Holocaust womöglich als ›Deckerinnerung‹ im Freudschen Sinn fungiert, also ein – weiteres – traumatisches Ereignis verdeckt, zu dem kein direkter Zugang möglich ist. […] Zu den verdrängten Bezügen […] können Ereignisse zählen, die so weit zurück liegen wie der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern oder die so zeitnah sind wie der Vietnamkrieg«.22 Hansens Argumentation erinnert zwar an die Position von Michaels, doch da sie von Verdrängung spricht (und nicht etwa von einem bloßen Zum-Schweigen-Bringen), ermöglicht sie einen potenziell produktiveren Zugang zu 22 Miriam Hansen, Schindler’s List Is Not Shoah: The Second Commandment, Popular Modernism, and Public Memory, in: Critical Inquiry 22 (1996) 2, S. 292–312, hier S. 311. Huyssen hat sich ähnlich geäußert: »Der universalisierte ›Nie-wieder‹-Imperativ, und mit ihm die Instrumentalisierung der Erinnerung für politische Zwecke, ist zu einem Schleier geworden, der die anhaltenden Gräueltaten in unserer heutigen Welt verdeckt. Der Holocaust ist eine Deckerinnerung.« Siehe Andreas Huyssen, Trauma and Memory: A New Imaginary of Temporality, in: Jill Bennett/Rosanne Kennedy (Hrsg.), World Memory: Personal Trajectories in Global Time, New York 2003, S. S. 16–29, hier S. 19. Mein Interesse am Zusammenhang von konkurrenzbasierter Erinnerung und Deckerinnerungen ist von Gary Weissman geweckt worden. Siehe sein grundlegendes Buch über die zeitgenössische amerikanische Faszination für den Holocaust: Fantasies of Witnessing: Postwar Efforts to Experience the Holocaust, Ithaca 2004. Eine hervorragende Erörterung der Gründe, weshalb Deckerinnerungen keinen zureichenden Rahmen für das Nachdenken über das Verhältnis des Holocaust zur Geschichte der Aborigines in Australien bieten, hat Neil Levi vorgelegt: »No Sensible Comparison«?: The Place of the Holocaust in Australia’s History Wars, in: History and Memory 19 (2007) 1, S. 124–156.

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traumatischen Ereignissen. Multidirektionale Erinnerung macht von solchen psychoanalytischen Einsichten Gebrauch; darüber hinaus zeigt meine Freud-Interpretation, dass sein Verständnis von Deckerinnerungen meinem multidirektionalen Ansatz näher ist als dem Konkurrenzmodell: Die Verschiebung, zu der es bei Deckerinnerungen – und tatsächlich bei allen Erinnerungen – kommt, dient ebenso sehr dem Etablieren von Verbindungslinien zur Vergangenheit wie deren Kappung.23 Erinnerung ist, wie Freud wusste, in erster Linie ein Assoziationsvorgang, der mit Verdrängung und Substitution einhergeht. Erinnerung ist grundsätzlich und strukturell multidirektional, auch wenn mächtige Kräfte stets darauf hinwirken, sie entsprechend mehr oder weniger rigiden psychischen oder ideologischen Parametern zu formen.24 In seinem 1899 veröffentlichten Aufsatz »Deckerinnerungen« versucht Freud, ebenso wie zehn Jahre später in der Psychopathologie des Alltagslebens, zu verstehen, warum einige Kindheitserinnerungen erhalten bleiben, andere hingegen nicht. Er fragt insbesondere, weshalb »bei manchen Personen die frühesten Kindheitserinnerungen alltägliche und gleichgültige Eindrücke zum Inhalt haben, die beim Erleben eine Affektwirkung auch auf das Kind nicht entfalten konnten, und die doch mit allen Details […] gemerkt worden sind, während etwa gleichzeitige Ereignisse nicht im Gedächtnis behalten wurden, selbst wenn sie nach dem Zeugnis der Eltern das Kind intensiv ergriffen hatten.«25 Bei seiner Nachverfolgung der assoziativen Verbindungen zwischen den Besonderheiten einer Erinnerung und anderen Ereignissen im Leben eines Individuums stellt Freud fest, dass die Alltagserinnerung tatsächlich eine Deckerinnerung ist: Der »Grund ihrer Gedächtniserhaltung« ist nicht »aus ihrem eigenen Inhalt« zu ersehen, sondern »[ruht] in der Beziehung dieses Inhalts zu einem anderen, unterdrückten Inhalt« (Über Deckerinnerungen, S. 536). Ihrer scheinbaren Unschuld zum Trotz ist die Deckerinnerung Statthalterin oder Substitut einer verstörenderen oder schmerzhafteren Erinnerung, die von ihr aus dem Bewusstsein verdrängt wird. (Man beachte, 23 Im ersten Kapitel von Das Unbehagen in der Kultur versucht Freud, eine Metapher für die konservierenden Fähigkeiten des Geistes zu finden. Er evoziert das berühmte Bild Roms mit seinen in Ruinen erhaltenen Schichten historischer Entwicklung, merkt dann aber an, dass »zerstörende Einwirkungen«, die sich analog zu Traumata verhalten, die Stadt ebenso sehr zu einem Ort des Vergessens wie zu einem Schauplatz der Erinnerung machen. Auch unabhängig von solchen individuellen oder kollektiven Traumata müssen wir nicht unbedingt Freuds optimistische Einschätzung teilen, dass im gesellschaftlichen wie im geistigen Leben »nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann.« Multidirektionale Erinnerung ist dennoch insofern von Freud inspiriert, als ich argumentiere, dass weitaus mehr ans Licht gebracht werden kann – und tatsächlich auch dauernd ans Licht gebracht wird –, als konkurrenzbasierte Erinnerungskonzepte annehmen. Siehe Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke (im Folgenden: GW), Bd. 14, London 1948, S. 419–506, hier S. 426–428. 24 Eine ausführliche Darstellung der Freudschen Gedächtnistheorie, die meine eigene Darstellung beeinflusst hat, bietet Terdiman, Present Past. 25 Sigmund Freud, Über Deckerinnerungen, in: GW, Bd. 1, S. 529–554, hier S. 534 f.

EIN NEUES VERSTÄNDNIS DER DECKERINNERUNG

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dass die Deckerinnerung Freud zufolge in einem gewissen Sinn authentisch ist; sie ist keine bloße Fantasie.) Der Mechanismus der Deckerinnerung veranschaulicht konkret, wie Erinnerungspraxen mit einem gewissen Vergessen einhergehen, das Vergessene jedoch wieder abgerufen werden kann.26 Wie Freud in dem Kapitel »Über Kindheits- und Deckerinnerungen« der Psychopathologie des Alltagslebens verdeutlicht, weist der Inhalt der Deckerinnerung eine Vielzahl von »zeitlichen Relation[en]« zu »dem durch sie gedeckten Inhalt« auf. Er unterscheidet zwischen »rückgreifenden«, »vorgreifenden« und »gleichzeitigen« Deckerinnerungen, um klarzustellen, dass der Inhalt von Deckerinnerungen durch Projektionen verdrängter Erinnerungen entstehen kann, die den erinnerten Ereignissen zeitlich folgten oder vorausgingen oder auch zeitgleich stattfanden.27 Hugh Haughton betont die zeitliche Komplexität der von Freud untersuchten Kindheitserinnerungen – und weist darauf hin, dass die in »Deckerinnerungen« verhandelten Erinnerungen wahrscheinlich Freuds eigene waren: »Die Vorstellung von etwas ›Deckendem‹ wird zunehmend vielschichtig und multidirektional.«28 Die englische Übersetzung von »Deckerinnerung«, screen memory, ist also zutreffend, wenn auch etwas frei. Denn das englische screen verweist sowohl auf eine Trennwand als auch auf einen Bildschirm oder eine Projektionsfläche. Der Begriff Deckerinnerung hat beide Bedeutungen: Deckerinnerungen fungieren sowohl als Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem als auch als Projektionsfläche für unbewusste Fantasien, Ängste und Wünsche, die entschlüsselt werden können. Daher sind Deckerinnerungen, in meiner Begrifflichkeit gesprochen, nicht nur deshalb multidirektional, weil sie im Mittelpunkt eines potenziell komplexen Zusammenhangs zeitlicher Bezüge stehen, sondern auch – und das ist vielleicht wichtiger –, weil sie das, was unterdrückt worden ist, sowohl verbergen als auch zeigen. Das Beispiel der Deckerinnerung  – das Beispiel eines Begriffs also, der sich, wie so oft bei Freud, zunächst nur auf einen Sonderfall, zuletzt aber auf fast alle Erinnerungsakte zu beziehen scheint  – deutet die Grenzen des Modells der Erinnerungskonkurrenz an. Deckerinnerungen können als Ausdruck eines Konflikts zwischen verschiedenen Erinnerungen verstanden 26 R. Clifton Spargo bringt dies eloquent zum Ausdruck, indem er die Herangehensweise an Geschichte beschreibt, die der gegenwärtigen, mit Cathy Caruth verbundenen und von Freud inspirierten Traumatheorie eignet: »Was die Traumatheorie als neuen Modus der Geschichtsschreibung vorschlägt, ist eine erinnerungsreiche Vergesslichkeit, die in unseren grundlegendsten Strukturen der Vermeidung von Wissen Reste der Geschichte als Trauma und in diesem Sinn auch die impliziten Imperative für spätere Erinnerungsakte entdeckt.« R. Clifton Spargo, Vigilant Memory: Emmanuel Levinas, the Holocaust, and the Unjust Death, Baltimore 2006, S. 257. Spargos an Einsichten reiches und forderndes Buch setzt sich auch kritisch, aber wohlwollend mit Walter Benn Michaels auseinander und entwickelt einen Begriff der »Erinnerung an Ungerechtigkeit« (memory of injustice), der meinen Begriff der multidirektionalen Erinnerung ergänzt. 27 Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW, Bd. 4, S. 52; Hervorhebung im Original. 28 Hugh Haughton, Introduction, in: Sigmund Freud, The Uncanny, New York 2003, S. xii–lx, hier S. xix.

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

werden. Eigentlich sind sie jedoch eher eine Neukartografierung der Erinnerung, im Zuge derer zwischen unterschiedlichen Erinnerungen Verbindungen gestiftet und diese Verbindungen dann auf Bewusstsein und Unbewusstes verteilt werden. Sicherlich gibt es oft eine gewisse Spannung zwischen historischen Wahrheiten und denen der Erinnerung. Wie bei vielen multidirektionalen Vermittlungen, die ich untersuche, liegt den »Motiven« von Deckerinnerungen oft »die Absicht historischer Treue fern« (Freud, Über Deckerinnerungen, S. 554). Dennoch bieten Deckerinnerungen wie auch multidirektionale Erinnerungen Zugänge zu Wahrheiten, die Einblick gewähren in individuelle und kollektive Sinnstiftungsprozesse. Deckerinnerungen und multidirektionale Erinnerung bei ihrer Ausdeutung nicht als etwas »Pathologisches«, sondern als etwas »Normales« zu reflektieren, erweist sich als vorteilhaft für die Interpretation.29 Trägt man der Tatsache Rechnung, dass es bei Erinnerungsakten unweigerlich zu Verschiebungen und Substitutionen kommt, wird deutlich, dass es sowohl die dem Erinnern zugrunde liegenden Konflikte anzuerkennen als auch auf eine neue, Singularitätsparadigmen hinter sich lassende Auffassung historischer Verstrickung hinzuarbeiten gilt. Wenn multidirektionale Erinnerung auf der kollektiven Ebene so funktioniert wie Deckerinnerungen auf der individuellen, gibt es offensichtlich Schwierigkeiten, den Übergang vom Freudschen Ansatz zur Erörterung der Überschneidungen von Holocaust und Kolonialismus darzustellen. Zunächst sind Deckerinnerungen individuell und biografisch, wohingegen multidirektionale Erinnerung, so wie ich sie verstehe, in erster Linie kollektiv und historisch ist – selbst wenn sie sich nie völlig von Individuen und deren Biografien trennen lässt. Hinzu kommt, dass Deckerinnerungen eine verstörende Erinnerung durch eine angenehmere Alltagsepisode ersetzen, wohingegen die von mir hier untersuchte multidirektionale Erinnerung häufig mindestens zwei verstörende Erinnerungen nebeneinander stellt und Alltagskontexte sprengt. Das sind gewichtige Unterschiede. Bei genauerem Nachdenken schwächt sich die scheinbar schroffe Differenz von Deckerinnerungen und multidirektionaler Erinnerung jedoch ein wenig ab. Nehmen wir uns diese Probleme nach und nach vor, beginnend mit der Frage, was eigentlich unter kollektiver Erinnerung zu verstehen ist. Die Arbeiten des fran29 In einer wichtigen Studie der westdeutschen Historiografie des Holocaust beschreibt Nicolas Berg, wie die Diskussion um den Holocaust in Deutschland (und anderswo) geschwankt hat zwischen der Sorge um ein »Zuviel« und der um ein »Zuwenig« an Erinnerung. Bergs Aufschlüsselung dieser Sorgen und seine These, dass es kein perfektes Gleichgewicht oder keine angemessene Menge an Holocaustgedenken geben kann, vertragen sich gut mit der vorliegenden Untersuchung multidirektionaler Erinnerung. Mir geht es hier eher um »Qualität« als um »Quantität« der Erinnerung. Dennoch entspricht mein Verständnis der Erinnerung als eines Assoziationsvorgangs, der sich nicht leicht durch Identitätspolitik, Instrumentalisierung oder die Logik von Nullsummenspielen einhegen lässt, durchaus Bergs Darstellung der fluktuierenden Entwicklung des Gedenkens, auch wenn ich ein durchaus anderes Terrain bearbeite als er. Siehe Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.

EIN NEUES VERSTÄNDNIS DER DECKERINNERUNG

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zösischen Soziologen Maurice Halbwachs sind hier besonders wichtig, heben sie doch die im Alltagsverstand gängige Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Erinnerung auf. Für Halbwachs und die auf ihn sich berufende Schule ist jedes Erinnern zugleich individuell und kollektiv: Erinnerungsakte sind zwar notwendig in individuellen Subjekten situiert, diese Individuen nutzen jedoch Interpretationsraster, die sie mit den Kollektiven, in denen sie leben, teilen.30 Diese Raster funktionieren ein wenig wie Sprache: Sie sind ein gemeinsames Medium, außerhalb dessen Individuen sich weder erinnern noch ausdrücken können. Die von dem Philosophen Avishai Margalit eingeführte Unterscheidung zwischen zwei Formen kollektiver Erinnerung, der gemeinsamen und der geteilten, verdeutlicht, wie Erinnerung jenseits des Individuums funktioniert: »Gemeinsame Erinnerung […] ist eine Sammlung. Sie bündelt die Erinnerungen all derer, die sich an eine Episode erinnern, die sie individuell erlebt haben. […] Eine geteilte Erinnerung ist hingegen keine bloße Sammlung individueller Erinnerungen. Sie erfordert Kommunikation. Eine geteilte Erinnerung integriert und kalibriert die Perspektiven derer, die sich an eine Episode erinnern […] zu einer einzigen Version. […] Geteilte Erinnerung beruht auf mnemonischer Arbeitsteilung.«31 Die Erinnerung, um die es bei der multidirektionalen Erinnerung und praktisch den meisten heutigen Formen kollektiver Erinnerung geht, ähnelt Margalits geteilter Erinnerung. Wenn wir uns auf kollektives Holocaustgedenken oder kollektives Erinnern von Kolonialismus und Dekolonisierung beziehen, dann sprechen wir in erster Linie über geteilte Erinnerung, das heißt über ein Erinnern, das zwar von Individuen angestoßen worden sein mag, anschließend aber über Kommunikationsnetzwerke, staatliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Gruppen vermittelt worden ist. In heutigen Gesellschaften spielen alle möglichen Medienlandschaften eine herausragende Rolle bei der Konstruktion der von Halbwachs beschriebenen Erinnerungsraster. Weltumspannende Medientechnologien ermöglichen zwar eine neue Art von gemeinsamer Erinnerung (durch die Herbeiführung globaler Medienereignisse, die von allen gleichzeitig erlebt werden können), doch das Fehlen eines archimedischen Referenzpunkts sorgt dafür, dass selbst die Erinnerung an solche Ereignisse (etwa die Angriffe vom 11. September 2001) eher der geteilten Erinnerung mit ihrer Arbeitsteilung und Austarierung unterschiedlicher Perspektiven gleicht. Allerdings scheinen sowohl Halbwachs und Margalit das Ausmaß zu überschätzen, in dem die kollektive Erinnerung in eine »einheitlichen Version« mündet. Multidirektionale Erinnerung ist insofern gemeinsame Erinnerung, als sie unter sozialen Rahmenbedingungen entsteht; geteilte Erinnerung ist sie insofern, als sie in Medienlandschaften entsteht, die eine »mnemonische Arbeitsteilung« implizieren. Der Begriff der multidirektionalen Erinnerung unterscheidet sich jedoch von diesen beiden Erinnerungsbegriffen, da er die unvermeidlichen Verschiebungen und 30 Siehe etwa Maurice Halbwachs, La mémoire collective, Paris 1950 (zuerst 1939). 31 Avishai Margalit, The Ethics of Memory, Cambridge 2002, S. 51 f.

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

Unwägbarkeiten betont, die jegliches Erinnern kennzeichnen. Die kollektive Erinnerung ist vielschichtig, weil hochgradig vermittelt, und weil Individuen und Gruppen bei der Neuartikulation von Erinnerung eine aktive Rolle spielen – wenngleich sie sich dieser nie völlig bewusst sind und nie mit unbeschränkter Handlungsmacht agieren. Aus diesen ständigen Reartikulationen können Szenarien der Konkurrenz hervorgehen, ebenso können aber auch Visionen entstehen, die anhand der Besonderheiten, Schnittmengen und Echos unterschiedlicher historischer Erfahrungen Solidarität stiften. Der andere Unterschied zwischen Deckerinnerungen und multidirektionaler Erinnerung betrifft die affektive Aufladung der jeweiligen Erinnerung. Für Freud sind Deckerinnerungen die Statthalter einer Verstörung, von der sie zugleich ablenken  – handle es sich um ein traumatisches Ereignis oder um einen verbotenen, uneingestandenen Wunsch. Wie wir bereits gesehen haben, meinen viele Kritikerinnen, Erinnerungen an den Holocaust würden auf diese Weise funktionieren, zumindest an Orten, die sich, wie die heutigen Vereinigten Staaten, zeitlich und räumlich fernab der Ereignisse der Nazizeit befinden. Merkwürdig am Holocaustgedenken ist allerdings, dass die entsprechenden Erinnerungen kaum unschuldig oder entlastend zu sein scheinen. Doch hat, wie der Begriff der Deckerinnerung zeigt, der Inhalt einer Erinnerung keinerlei intrinsische Bedeutung, sondern nimmt erst im Verhältnis zu anderen Erinnerungen und innerhalb eines Assoziationszusammenhangs Bedeutung an. Mein Interesse an multidirektionaler Erinnerung setzt an dieser Einsicht an, um allzu einfache Annahmen darüber zu hinterfragen, was am Erinnern »unschuldig« und was »verstörend« ist, was als notwendige Projektionsfläche für Erinnerungen und was als Erinnerungshemmnis fungiert. Aus der Betrachtung spezifischer Fälle schließe ich – im Geiste Freuds, aber manchmal mit gegenteiligen Befunden –, dass man nicht im Voraus wissen kann, wie die Artikulation einer Erinnerung verlaufen wird; man kann sich nicht einmal sicher sein, dass sie in nur einer bestimmten Weise stattfinden wird. Der Begriff der multidirektionalen Erinnerung lässt verschiedene Möglichkeiten offen, verschreibt sich jedoch keinem simplen Pluralismus. Zwar funktioniert eine bestimmte Erinnerung nur selten auf eine einzige Weise oder bedeutet nur eine Sache, doch sind nicht alle Artikulationen von Erinnerung gleich: Bei jedem Akt des Gedenkens sind mächtige gesellschaftliche, politische und psychische Kräfte am Werk.

ÜBER VERGLEICHE UND GERECHTIGKEIT

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Über Vergleiche und Gerechtigkeit Gemäß den von Freud erkannten komplexen psychischen Anforderungen taucht die individuelle Erinnerung stoßweise auf und zieht sich wieder zurück – insbesondere, wenn es um die Erinnerung an traumatische Ereignisse geht. Dasselbe gilt für die kollektive Erinnerung. Betrachten wir die kollektive Erinnerung aus historischer Perspektive, dann fällt auf, wie ungleichmäßig – und manchmal auch wie unerwartet – sie sich entwickelt. Erinnerungen an bestimmte Ereignisse kommen und gehen; sie werden mitunter lange, nachdem die Materialität der erinnerten Ereignisse aus dem Blickfeld verschwunden ist, überraschend bedeutsam. Ein wichtiger erkenntnistheoretischer Gewinn, den das Verständnis der multidirektionalen Erinnerung im Gegensatz zur Vorstellung einer Erinnerungskonkurrenz mit sich bringt, besteht in einer Einsicht, die in diesem Band anhand historischer Fallstudien entwickelt wird: dass in die Öffentlichkeit vordringende Erinnerungen oft Auslöser haben, die auf den ersten Blick irrelevant oder sogar unpassend wirken können. Um ein konkretes und in diesem Zusammenhang wichtiges Beispiel zu nennen: Die Anwendung von Folter erscheint nicht als besonders wahrscheinlicher Auslöser von Holocaustgedenken – denn wie könnte eine so weitverbreitete, wenn auch abstoßende Praxis etwas so Extremes wie einen Genozid heraufbeschwören? Viele französische Beobachter und Beobachterinnen verstanden jedoch den Einsatz extralegaler Gewalt im algerischen Unabhängigkeitskrieg als Wiedererwachen der Vergangenheit. Wie ich in den Kapiteln 6 und 7 erläutere, haben manche KZ-Überlebende, etwa der österreichischbelgische Schriftsteller Jean Améry, die Diskussion um die Folter sogar als einen der Anstöße benannt, der sie zur öffentlichen Artikulation ihrer Erinnerungen an den Holocaust veranlasst habe. Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte. Eine Praxis, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Erinnerungen an den Nationalsozialismus wachrief, diente in Frankreich später als Auslöser für Erinnerungen an den Algerienkrieg selbst  – an einen Krieg also, auf den der Blick fast vier Jahrzehnte lang versperrt gewesen zu sein schien, während das Bewusstsein vom Holocaust stark erweitert wurde. Zur Jahrtausendwende jedenfalls entstanden in Frankreich (und anderswo) neuerliche Debatten über Folter, ein wiederkehrendes Interesse an den Verbindungen zwischen Holocaust und Algerienkrieg sowie der unter anderem in Michael Hanekes Film Caché vermittelte Eindruck, die in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 ergriffenen politischen Maßnahmen seien ein Nachhall älterer Geschichten imperialer und faschistischer Gewalt.32 Es ist gerade dieses verwickelte, historisch zuweilen 32 Bereits seit Beginn der Nachkriegszeit ist ein Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem algerischen Unabhängigkeitskampf hergestellt worden. Am 8. Mai 1945 fand in der algerischen Stadt Sétif eine Demonstration statt, die sowohl das Kriegsende markieren als auch die Forderung nach Dekolonialisierung zum Ausdruck bringen sollte. In den daraufhin ausbrechenden gewaltsamen Auseinandersetzungen wurden mehrere Dutzend Piednoirs ermordet. Die französische Armee beteiligte sich anschließend an Repressalien, die zu

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

ungerechtfertigte Auftauchen und Verschwinden scheinbar abgelegener kollektiver Erinnerungen im öffentlichen Bewusstsein, das ich als Multidirektionalität der Erinnerung begreife. Die Beispiele deuten an, dass ein Nachdenken über Erinnerung, das diese als multidirektional und nicht als konkurrenzgetrieben versteht, nicht bedeutet, die Vorstellung von der Dringlichkeit der Erinnerung aufzugeben, also davon, dass es bei ihr um Leben und Tod geht. Diese Fälle verweisen uns vielmehr auf die Notwendigkeit einer Form komparativen Nachdenkens, die sich, wie die Erinnerung selbst, nicht davor scheut, vermeintlich unantastbare Grenzen der Ethnizität und der Epoche zu überschreiten. Der konzeptionelle Wechsel von der Konkurrenz zur Multidirektionalität der Erinnerung, für den dieses Buch plädiert, wirkt sich methodisch auf komparatives Denken und komparative Forschung aus. Ein zentrales methodisches Problem und zugleich eine Chance ist die Erstellung des bei der komparativen Arbeit benutzten Archivs. Weit davon entfernt, an einer einzelnen Institution oder an einem einzelnen Ort beherbergt zu sein – sei es materiell, sei es diskursiv –, ist das Archiv der multidirektionalen Erinnerung auf irreduzible Weise transversal: Es überschreitet die Grenzen verschiedener Gattungen, nationaler Kontexte, Epochen und kultureller Traditionen. Weil sich dominierende Denkweisen (etwa jene, die von einer Erinnerungskonkurrenz ausgehen) geweigert haben, die die kollektive Erinnerung aktivierenden multidirektionalen Einflüsse und Artikulationen zur Kenntnis zu nehmen, müssen komparativ arbeitende Kritiker zunächst das Archiv einrichten, indem sie Verbindungen zwischen verstreuten Dokumenten herstellen. Es fehlt nicht an Querverweisen zwischen den Erbschaften des Holocaust und des Kolonialismus, doch sind viele dieser Berührungspunkte nur in marginalisierten Texten oder marginalisierten Aspekten bekannter Texte zu finden. Das Beweismaterial ist vorhanden, doch das Archiv muss mithilfe jener veränderten Sichtweise aufgebaut werden, die eine neu Art komparativen Denkens gewährt. Die größte Bedrohung für die Sichtbarkeit dieses marginalisierten Archivs des Holocaustgedenkens im Zeitalter der Dekolonialisierung ist das Nullsummen-Denken, das der Logik der Erinnerungskonkurrenz zugrunde liegt. Die größte Hoffnung für eine neue Komparatistik liegt in der Öffnung jener separaten Behälter von Erinnerung und Identität, die ein an Konkurrenzvorstellungen ausgerichtetes Denken befördern, sowie darin, sich die wechselseitige einem Massaker an Tausenden (wenn nicht sogar Zehntausenden) Algeriern und Algerierinnen führten. Zumindest in der ehemals kolonisierten Welt hat dieses Massaker die Befreiung Europas vom Faschismus auf immer mit der Weigerung jenes befreiten Europas verbunden, seine eigene extreme Gewalt aufzugeben. Siehe zum Sétif-Massaker Yves Benot, Massacres coloniaux: 1944–1950: La IVe République et la mise au pas des colonies françaises, Paris 2001 (zuerst 1994). Von den jüngeren historischen Nachklängen, die das Interesse an Algerien und dem Algerienkrieg neuerlich geweckt haben, sind auch andere Autoren angeregt worden. Zwei unterschiedliche Ansätze, die der Bedeutung Algeriens für die heutige kritische Theorie nachgehen, insbesondere in Hinblick auf Gewalt, Gerechtigkeit und Folter, bieten David Carroll, Albert Camus the Algerian: Colonialism, Terrorism, Justice, New York 2007, und Ranjana Khanna, Algeria Cuts: Women and Representation, 1830 to the Present, Stanford 2008.

ÜBER VERGLEICHE UND GERECHTIGKEIT

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Konstituierung und anhaltende Transformation der Untersuchungsgegenstände bewusst zu machen.33 Allzu oft wird vergleichen als »gleichsetzen« verstanden: Der Holocaust könne mit keiner anderen Geschichte verglichen werden, heißt es, weil er sich von allen unterscheide. Mein Projekt setzt Unähnlichkeit als gegeben voraus, gleicht doch kein Ereignis ganz dem anderen, und die intellektuelle Energie wird auf die Beantwortung der Frage gerichtet, was es bedeutet, dennoch auf Verbindungen abzuheben.34 Die hier erkundete Vergleichslogik steht und fällt nicht mit Verbindungen, deren historisch zutreffender Charakter sich empirisch überprüfen lässt; wir können auch nicht garantieren, dass alle Verbindungen sämtlichen Betroffenen politisch zusagen werden. Vielmehr bedarf es einer gewissen Ausklammerung empirischer Geschichtsschreibung und einer Offenheit für die Möglichkeit merkwürdiger politischer Bettgesellen, damit die imaginären Verbindungen zwischen verschiedenen Geschichten und gesellschaftlichen Gruppen erkennbar werden; diese imaginären Verbindungen sind das Wesen der multidirektionalen Erinnerung. Vergleiche sollten, wie die Erinnerung, als produktiv aufgefasst werden – als neue Gegenstände und neue Perspektiven generierend –, und nicht als Reproduktion vorab gegebener Entitäten, die anderen vorab gegebenen Entitäten entweder »gleichen« oder nicht.

33 Vergleiche können natürlich die Form von Konkurrenz annehmen – und tun das auch oft. Das zeigt sich besonders häufig, wenn es um Kolonialismus und »Zivilisation« geht. Eine klassische Kritik kolonialer Vergleiche bietet Johannes Fabian, Time and the Other, New York 1983. Siehe auch Natalie Melas, All the Difference in the World: Postcoloniality and the Ends of Comparison, Stanford 2006. Harry Harootunian, der sich auf Fabian bezieht, schildert weitere Fallstricke des Vergleichens, insbesondere aus der Zeit des Kalten Kriegs und mit Bezug auf kapitalistischen Imperialismus: Some Thoughts on Comparability and the Space-Time Problem, in: boundary 32 (2005) 2, S. 23–52. Harootunian vertritt die These, viele zeitgenössische Herangehensweisen an Vergleiche würden die Zeit letztlich als Raum verdinglichen, und argumentiert, dass es wichtig sei, die Relationalität der Raum-Zeit entsprechend Bachtins Chronotop, Henri Lefebvres Kritik des Alltagslebens und Ernst Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit zu denken. Mein Begriff der Multidirektionalität soll die Aufmerksamkeit auf die Untrennbarkeit von Raum und Zeit innerhalb von Gedenkakten lenken – und sogar auf die Interaktion multipler, ungleichzeitiger Räume und Zeiten. Meine Darstellung der Multidirektionalität erkennt zwar das Potenzial für konkurrenzbasierte Vergleiche an, bemüht sich aber, solche Konkurrenzmomente aufzulösen, wo sie sich ergeben. 34 Eine ähnliche Sicht auf Vergleiche, die den Aspekt der Inkommensurabilität betont, bietet Melas, All the Difference in the World. Eine ebenfalls anregende Rekonzeptualisierung komparativer Methodologie gibt: Emily Apter, The Translation Zone: A New Comparative Literature, Princeton 2006. Mein Interesse an intraminoritärem Austausch deckt sich mit dem der Autoren in dem von Françoise Lionnet und Shu-mei Shih herausgegebenen Sammelband: Minor Transnationalism, Durham 2005. Die Methodologie des vorliegenden Textes sollte auch meine Sympathien für Wai Chee Dimocks These deutlich machen, dass nationale Literaturen »durch andere Kontinente hindurch« zu lesen und zu nicht-linearen Zeitlichkeiten in Bezug zu setzen sind, wobei ich noch weniger als sie geneigt bin, an Adjektiven wie »amerikanisch« festzuhalten. Siehe Through Other Continents: American Literature Across Deep Time, Princeton 2006.

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Die Betonung der in Gedenkakten enthaltenen Dimension der Imagination darf nicht zu der Annahme führen, Erinnerung sei substanzlos. Gedenken und Imagination sind materielle und fundamental menschliche Kräfte. Sie lassen sich nicht fortwünschen, und man sollte das auch nicht versuchen. Trotz der im Überfluss vorhandenen Belege dafür, dass hegemoniales und manchmal auch subalternes Gedenken mit Gewalt und absichtlichem Vergessen einhergehen kann, und trotz der überwiegend düsteren Thematik des Buches ist Multidirektionale Erinnerung im Geist des Optimismus verfasst worden. Weil die Strukturen der individuellen und kollektiven Erinnerung multidirektional sind, lassen sie sich schwerlich in die Gussformen exkludierender Identitäten einpassen. Erinnerung kann genauso missbraucht werden wie jede andere menschliche Fähigkeit  – wofür Muhammads Aussage ein simples Beispiel von vielen ist –, doch will ich in dieser Studie betonen, dass Erinnerung mindestens ebenso oft ein Ansporn für unerwartete Empathie und Solidarität war. Tatsächlich ist multidirektionale Erinnerung oft die Grundlage dafür, dass Menschen Gerechtigkeitsvorstellungen entwickeln und in die Tat umsetzen. Eine Theorie der multidirektionalen Erinnerung kann dabei helfen, einen »neuen Rahmen für Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt« zu entwickeln, um den Titel eines relevanten Aufsatzes der Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser zu zitieren.35 Frasers These lautet, dass die heutigen Debatten um Gerechtigkeit – die von ihr als »Gleichheit der Partizipation« definiert wird (S. 73) – über den »keynesianisch-sozialstaatlichen Rahmen« hinausgehen müssen, der sie in der Nachkriegsära lange Zeit geprägt habe. Gemeint ist, dass die beschleunigte Globalisierung Ungerechtigkeiten erzeugt, die im einst selbstverständlichen nationalstaatlichen Rahmen der Staatsbürgerschaft nicht mehr behoben werden können (wenn das überhaupt jemals möglich war). Fraser zufolge sprengen Kapitalismus, Migration und andere transnationale Kräfte den nationalstaatlichen Rahmen, weshalb jenseits ökonomischer Umverteilung und kultureller Anerkennung ein dritter Aspekt der Gerechtigkeit aufscheine, der von Theoretikerinnen einkalkuliert werden müsse. Diesen Aspekt verbindet sie mit Fragen der politischen Repräsentation: »Ob es um Verteilung oder Anerkennung geht, Dispute, die vormals ausschließlich darauf fokussierten, was Gemeinschaftsmitgliedern im Sinne der Gerechtigkeit geschuldet wird, wandeln sich nun rasch in Dispute darüber, wer als Mitglied zählt und welche Gemeinschaft die relevante ist. Nicht nur das ›Was‹, sondern auch das ›Wer‹ steht zur Disposition« (S. 72). Des Weiteren beinhaltet die Auseinandersetzung mit den Subjekten oder dem »Wer« der Gerechtigkeit Fraser zufolge ein Nachdenken über die Verfahren oder das »Wie« der Gerechtigkeit (S. 84). »Wer« und »Wie« verweisen auf das, was Fraser »metapolitische« Fragen nach der »Rahmung« von Gerechtigkeitsdisputen nennt. Jede Rahmung geht mit Entscheidungen darüber einher, wer Anspruch darauf erheben darf, über die Fragen der Ungerechtigkeit zu sprechen, von denen sie oder er betroffen ist. In einer sich globalisierenden Welt, in der transnationale Faktoren wie Kapital35 Nancy Fraser, Reframing Justice in a Globalizing World, in: New Left Review 36 (2005), S. 69–88.

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ströme und ökologische Schäden mit nationalen Faktoren koexistieren oder diese sogar dominieren, werden Debatten über Rahmung zu unvermeidbaren Bestandteilen des Strebens nach Gerechtigkeit. Fraser fasst die politische Stoßrichtung ihrer Argumentation so zusammen: »Kämpfe um Gerechtigkeit in einer sich globalisierenden Welt können nur erfolgreich sein, wenn sie mit Kämpfen um metapolitische Demokratie einhergehen. […] Keine Umverteilung oder Anerkennung ohne Repräsentation« (S. 85 f.). Wie das von mir einleitend angeführte Beispiel von Michaels und Muhammad veranschaulicht, sind Debatten über kollektive Erinnerung und Gruppenidentität in erster Linie Kämpfe, bei denen es um Ungerechtigkeiten im Bereich der Anerkennung geht, also darum, wessen Geschichte und Kultur gewürdigt werden soll. Solche Ungerechtigkeiten gibt es tatsächlich, doch eine erneute Reflexion über das Verhältnis von Erinnerung und Identität kann dazu beitragen, auch kulturelle Anerkennung jenseits der Logik von Nullsummenspielen neu zu denken.36 Fraser verhilft uns zu der Einsicht, dass ein Teil des Problems in der Annahme bestehen könnte, der Frage der Anerkennung liege der Nationalstaat zugrunde, obgleich sie, wie ich, auch davon ausgeht, dass die Nation in Hinblick auf Anerkennung, Umverteilung und politische Repräsentation ein bedeutender Akteur bleibt. Trotz des Wunsches von Michaels und Muhammad, die Erinnerungskämpfe an der Landschaft der Mall in Washington festzumachen, bleiben die von mir analysierten Artikulationen kultureller Anerkennung und kollektiver Erinnerungen nicht bei den fetischisierten staatlichen Schauplätzen stehen  – was nicht bedeutet, dass sie die Prominenz staatlicher Räume ignorieren. Diese Artikulationen ermöglichen es, Frasers Darstellung zu ergänzen.37 In Multidirektionale Erinnerung zeige ich, dass die Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid und die antikolonialen Kämpfe während der keynesianischsozialstaatlich dominierten Epoche den nationalstaatlichen Rahmen gesprengt hat. Fraser räumt ein, dass es in der Nachkriegszeit Ausnahmen von der Regel eines nationalstaatlichen Rahmens der Gerechtigkeit gegeben hat, doch sie fragt sich nicht ernsthaft, was solche Ausnahmen zu einer neuen Rahmung von Gerechtigkeit beitragen könnten: »Gelegentlich haben Hungersnöte und Genozide die öffentliche Meinung über Landesgrenzen hinweg aufgeschreckt. Außerdem wollten Kosmopoliten und Anti-Imperialisten internationalistische Ansichten verbreiten. Doch das waren Ausnahmen, die die Regel bestätigten« (S. 69 f.). Multidirektionale Erinnerung konzentriert sich auf genau solche außergewöhnlichen Ansichten. Ich rücke eine 36 Die Frage wirtschaftlicher Umverteilung sprengt den Rahmen dieses Bandes (was in keiner Weise als Urteil über ihre Bedeutung verstanden werden sollte, die ich für zentral halte). Wo es um wirtschaftliche Umverteilung geht, mag durchaus eine Nullsummenlogik im Spiel sein, doch mit Fragen von Kultur und Politik verhält es sich anders. Zur Koordinierung der Ansprüche dieser unterschiedlichen Bereiche bedarf es weiterer Anstrengungen. 37 Zu den weiteren Darstellungen der Gerechtigkeit, die ich nützlich gefunden habe, zählen Wai Chee Dimock, Residues of Justice: Literature, Law, Philosophy, Berkeley 1996, und Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990.

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Gegentradition ins Blickfeld, die eine unerwartete wechselseitige Resonanz von Holocaust und Kolonialismus in den Vordergrund stellt und zudem Ressourcen anbietet, Gerechtigkeit neu zu überdenken. Zusätzlich zur Verschiebung der Anerkennungslogik weg von identitätsfixierter Konkurrenz können die Theorie der multidirektionalen Erinnerung sowie die Gegentradition, die sie aufzuzeigen hilft, zu dem beitragen, was Fraser »Politik der Rahmung« nennt: »Die Politik der Rahmung fragt vor allem, wer als Subjekt der Gerechtigkeit zählt und wie der passende Rahmen aussieht. Sie umfasst Bemühungen, eine autoritative Aufteilung des politischen Raums zu erzwingen und zu zementieren, aber auch, sie infrage zu stellen und zu revidieren« (S. 80). Eine Forschungsarbeit interveniert nicht direkt in die Materialität des politischen Raums, auch wenn sich viele Intellektuelle, auf die ich zu sprechen komme, aktiv an politischen Kämpfen beteiligt haben. Ich betreibe eher einer Archäologie der komparativen Vorstellungskraft und hoffe, dass die Dokumentation früherer Versuche, Gerechtigkeitsfragen neu zu denken, unsere aktuellen und künftigen Pläne für eine Neugestaltung des politischen Raums inspirieren kann.

These und Gliederung In Multidirektionale Erinnerung formuliere ich Argumente, die theoretisch, historisch sowie  – angesichts einer Welt, die sich von Kolonialismus und Genozid erst noch befreien muss – unweigerlich politisch sind. Ich möchte sie hier noch einmal wiederholen und dabei zugleich die Reichweite und Stoßrichtung meiner Überlegungen skizzieren. Auf der theoretischen Ebene denke ich über die Konzeptualisierung der kollektiven Erinnerung in multikulturellen und transnationalen Kontexten nach. Der Zugangs- und Machtgefälle, von denen die Öffentlichkeit gekennzeichnet ist, bin ich mir vollkommen bewusst; dennoch entwerfe ich einen Rahmen, der die Aufmerksamkeit auf den unvermeidbaren dialogischen Austausch zwischen Gedenktraditionen lenkt und die Möglichkeit einer gerechteren Zukunft für die Erinnerung offenhält. Ich sehe in der Vorstellung, bei der kollektiven Erinnerung handle es sich um ein Nullsummenspiel – und nicht um ein Feld der Artikulation und des Kampfes, mit offenem Ausgang –, einen der Fallstricke auf dem Weg zu einer neuen, inklusiveren Schilderung der Geschichte der Erinnerung sowie zu einer Zügelung der Folgen von Gewalterbschaften im Interesse einer egalitäreren Zukunft. Mehrere Kapitel legen auch die Notwendigkeit nahe, in unserem Denken über jenen Gegensatz des Universellen und des Partikularen hinauszugehen, der einen Großteil der Diskussionen um Identitätspolitik und kulturelle Differenz kennzeichnet. Viele der hier vorgestellten Autoren, Intellektuellen und Aktivistinnen verweisen uns stattdessen auf eine multidirektionale Ethik, die die umfassende Offenheit des Universellen mit den konkreten, situativen Anforderungen des Partikularen verbindet. Eine Ethik der multidirektionalen Erinnerung beinhaltet die Herstellung von Wiedergabetreue (in dem Sinn, den dieser Begriff in Badious Ethik erhält) gegenüber den vielfachen Ereignis-

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sen und historischen Hinterlassenschaften, die eine jede Situation bestimmen.38 Eine auf dieser ethischen Grundlage aufbauende Politik erfordert die Vorstellung einer transnationalen, komparativen Gerechtigkeit, durch die konfligierende und zuweilen sich wechselseitig ausschließende Ansprüche verhandelt werden können, wie sie auf einem instabilen, beweglichen Terrain erhoben werden. Auf der historischen Ebene legt Multidirektionale Erinnerung eine marginalisierte Tradition frei, die Konsequenzen sowohl für die Holocaustforschung als auch für die Postcolonial Studies hat – und die jenes ethische und politische Denken anregen kann, für das ich hier eintrete. Indem ich auf diese Tradition jüdischer und nicht-jüdischer Schriftsteller, Künstlerinnen und politischer Akteure zurückgreife, reformuliere ich die Geschichte des Holocaustgedenkens. Ich zeige erstens, dass die frühe Nachkriegszeit reichhaltiger und komplexer war, als ältere Untersuchungen eingeräumt haben, die die bis etwa zum Zeitpunkt des Eichmann-Prozesses 1961 anhaltende Periode des Schweigens und der Verdrängung betonen. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf überraschende Texte wie die von W. E. B. Du Bois über den Holocaust oder auf wenig erforschte Kontexte wie André Schwarz-Barts Auseinandersetzung mit der karibischen Diaspora, zeigt sich, dass der Holocaust damals mehr thematisiert wurde, als man uns hat glauben machen wollen. Außerdem gab es wesentlich mehr Formen der komparativen Erinnerung als in späteren Jahrzehnten. Meine Neubetrachtung der frühen Nachkriegszeit zeigt zudem, dass die kollektive Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid während der 1950er- und 1960er-Jahre punktuell im Dialog mit Dekolonisierungsprozessen und dem Kampf um Bürgerrechte entstand  – einschließlich ihrer Formen der Bewältigung von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus. Anhand von Ereignissen zwischen den späten 1940er-Jahren und dem Beginn des 21. Jahrhunderts und der Lektüre von Texten aus diesem Zeitraum liefere ich Argumente für die Existenz einer langfristigen, minoritären Tradition »dekolonisierten« Holocaustgedenkens. Diese neue Herangehensweise an das Holocaustgedenken hat auch Konsequenzen für Forscher und Forscherinnen, die sich vor allem mit den Erfahrungen der Dekolonisierung und den Nachwirkungen des Kolonialismus befassen. Die Postcolonial Studies können auf verschiedene Weise von der Geschichte der Juden und Jüdinnen und des Antisemitismus in Europa lernen. Insbesondere die Erfahrung jüdischer Differenz im neuzeitlichen Europa  – und der oft gewaltsamen Reaktionen, mit denen Juden und Jüdinnen konfrontiert waren  – antizipiert viele der Debatten und Probleme, vor denen postkoloniale Gesellschaften und postkoloniale Migrantinnen im heutigen Europa stehen.39 Auch wenn die Geschichte der Juden und Jüdinnen und die 38 Ich komme in Kapitel 9 auf Badiou und die Ethik zurück. Siehe Alain Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien 2003. Siehe auch meine Besprechung in: Critique 43 (2001) 4, S. 478–484. 39 Eine faszinierende Erörterung der Art und Weise, wie die Debatten um das Judentum im Europa der Aufklärung in den Dilemmata postkolonialer Gesellschaften wie Indien nachhallen, bietet Aamir Mufti, Enlightenment in the Colony: The Jewish Question and the Crisis of Postcolonial Culture, Princeton 2007.

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der ehemals kolonisierten Völker sich signifikant unterscheiden, hat die ambivalente europäische Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid Spuren hinterlassen, die Politik und Diskussionen in Bezug auf »Rasse«, Religion, Nationalismus und Staatsbürgerschaft bis heute prägen. Aufmerksamkeit für die Geschichte der europäischen Juden und Jüdinnen kann dazu führen, dass die Gefahr, Europakonzeptionen auf ethnischer, »rassischer« oder religiöser Grundlage zu homogenisieren, rechtzeitig erkannt wird  – eine Tendenz, die verständlicherweise in der postkolonialen Kritik eine wichtige Rolle gespielt hat, heute jedoch häufiger mit konservativen (und zunehmend mit liberalen!) Perspektiven in Europa in Verbindung gebracht wird. Die von Minderheiten und postkolonialen Subjekten formulierte Kritik hat dazu geneigt, streng zwischen Juden und postkolonialen Subjekten zu unterscheiden, und zwar auf der Grundlage des vermeintlichen »Weißseins« der Juden und Jüdinnen – eine Tradition, die auf die grundlegenden Texte von Césaire und Fanon zurückgeht und auf recht unhistorischen Vorstellungen beruht. Dagegen macht die hier aufgedeckte Tradition darauf aufmerksam, dass nicht nur Abgrenzung möglich ist, sondern auch Solidarität. Gemeinsame Geschichten des Rassismus, der räumlichen Segregation, des Genozids, diasporischer Verdrängung, kultureller Vernichtung und – vielleicht am wichtigsten – des schlauen und kreativen Widerstands gegen hegemoniale Forderungen bieten die Grundlage für neue Formen der Kollektivität, die nicht die Augen verschließen vor der ebenso machtvollen Geschichte der Spaltung und Differenz. Die vier Teile von Multidirektionale Erinnerung befassen sich in jeweils zwei Kapiteln mit mehr als einem halben Jahrhundert europäischer, nordamerikanischer, karibischer und nordafrikanischer Kulturgeschichte. Am Beginn steht die Beobachtung, dass der nationalsozialistische Genozid in einigen der frühesten Reaktionen konzeptionell in das Kontinuum des Kolonialismus und des Rassismus gegen Schwarze eingeordnet wurde. Teil I, »Bumerang-Effekte: Nacktes Leben, Trauma und die koloniale Wende in der Holocaustforschung«, untersucht, mittels welcher Denkfiguren solche Verbindungen in zwei einflussreichen Werken der frühen 1950er-Jahre hergestellt wurden: Hannah Arendts in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft unternommener Versuch, die Geschichte des nationalsozialistischen Terrors bis zum Imperialismus zurückzuverfolgen (Kapitel 2), und Aimé Césaires in seiner Flugschrift Über den Kolonialismus artikuliertes Verständnis des Nationalsozialismus als Wiederkehr des verdrängten Kolonialen (Kapitel 3). Arendts Vorstellung eines »Bumerang-Effekts« und Césaires »choc en retour« (als »Bumerang-Effekt« übersetzt, obwohl der Wortsinn eher »Rückschlag« oder »Rückstoß« bedeutet) beschreiben beide das überraschende Phänomen eines in der Schuld des Kolonialismus stehenden Totalitarismus. Arendt und Césaire nähern sich den Verbindungen zwischen Kolonialismus und Totalitarismus aus unterschiedlichen Richtungen und mit völlig verschiedenen politischen Auffassungen. Obwohl Arendt hellsichtig Verbindungen zwischen zwei Geschichten herstellt, die heute voneinander unabhängig scheinen, erweist sie sich als unfähig, den Diskursen des Menschlichen, des Fortschritts und des Universellen auszuweichen,

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denen eine Mitschuld an jener Gewalt zukommt, die sie erklären möchte. Verbleibt Arendt an den Rändern des Eurozentrismus, so polemisiert Césaire gezielt gegen das europäische Selbstverständnis. Unter Rückgriff auf eine Vielzahl intellektueller und kultureller Traditionen verwendet er den choc en retour, um die multidirektionalen Welleneffekte extremer Gewalt zu zeigen. Sein Augenmerk richtet sich zwar insbesondere auf Europas Verleugnung kolonialer Gräuel, doch er zeigt auch, wie sich das Unvermögen, mit dem Nationalsozialismus zurande zu kommen, auf spätkoloniale Diskurse auswirkt. Césaires Über den Kolonialismus und das Buch seines Schülers Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, helfen uns bei der Entwicklung einer multidirektionalen Traumatheorie, die den Erfahrungen des Kolonialismus und des Genozids gerecht wird. Césaires Augenmerk für die Spezifik des nationalsozialistischen Genozids leidet allerdings zuweilen unter seiner Identifikation mit einer bestimmten Variante marxistischer Theorie und den Erfordernissen des antikolonialen Kampfes. Teil II, »Migrationen der Erinnerung: Ruinen, Ghettos, Diasporen«, setzt die Auseinandersetzung mit der frühen Nachkriegszeit fort und widmet sich verstärkt den Räumen und Orten der Erinnerungsverschiebungen. Zwei Autoren, denen es gelungen ist, die von Arendt und Césaire eröffnete multidirektionale Perspektive zu verhandeln, schließen diesen Teil ab: W. E. B. Du Bois und Caryl Phillips. Dazwischen erörtere ich noch das ambivalente Beispiel André Schwarz-Barts. In Kapitel 4 wird der Besuch Du Bois’ im Warschauer Ghetto im Jahr 1949, den er in einem 1952 erschienenen Artikel reflektiert hat, zum Anlass der Modellierung multidirektionaler Erinnerung. Indem ich The Negro and the Warsaw Ghetto in den größeren Kontext von Du Bois’ Überlegungen zu Juden und Jüdinnen, Nationalsozialismus, »Rasse« und Widerstand stelle, zeige ich, wie Du Bois seinen Begriff des »doppelten Bewusstseins« vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und der anhaltenden »Rassentrennung« in den USA überdacht hat, um die Erfahrungen anderer Minderheiten mit einzubeziehen. Insbesondere seine beeindruckende Reaktion auf die Ruinen des Ghettos und auf Nathan Rapoports viel geschmähtes Ghetto-Ehrenmal zeigt die Wirkungsweise einer multidirektionalen Erinnerung, die die ungleichen Geschichten von Schwarzen und Juden verbinden und eine neue Artikulation ihrer Besonderheiten ermöglichen kann. In Kapitel 5 setze ich mich weiter mit dem Verhältnis von Schwarzen und Juden auseinander, wobei ich auf zwei Schriftsteller abhebe, die ebenfalls Ghettos, Ruinen und andere Räume der Diaspora als Stätten eines multidirektionalen Austausches in den Vordergrund rücken. Hier untersuche ich die anachronistischen ästhetischen Projekte von Schwarz-Bart und Phillips, die das zusammenführen, was es angeblich auseinanderzuhalten gilt. Selbst wenn gewisse Anachronismen aus historischer Sicht »fehlerhaft« sind, können sie sehr subversiv sein und ideologische Prämissen geschichtswissenschaftlicher Kategorisierungen entmystifizieren. Das zeigen Romane wie Die Mulattin Solitude von Schwarz-Bart und Higher Ground sowie The Nature of Blood von Phillips. Schwarz-Bart ringt  – letztlich erfolglos, wie manche sagen

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

würden – um eine literarische Form, die dem anachronistischen Nebeneinander von schwarzer und jüdischer Geschichte entspricht, wohingegen Phillips Fragmentierung und Intertextualität für eine Ästhetik nutzt, die auf einer nicht-aneignenden Offenheit gegenüber den Geschichten anderer beruht. Beide setzen den von Du Bois begonnenen Versuch fort, die von Kolonialismus und Genozid verursachten raumzeitlichen Diskontinuitäten zu durchdenken, und sie reflektieren, wenn auch unterschiedlich, die Möglichkeiten, sich diesen Diskontinuitäten zu widersetzen. Der historische Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung und den europäischen Kolonialismus steht im Mittelpunkt von Teil III, »Wahrheit, Folter, Zeugnis: Holocaustgedenken während des Algerienkriegs«, und von Teil IV, »Der 17.  Oktober 1961: Ein Ort des Holocaustgedenkens?« Dort richte ich das Augenmerk auf den antikolonialen Widerstand in der Metropole während der Endphase des algerischen Unabhängigkeitskriegs. In Teil III wird erkundet, wie der Widerhall der Gewalt der Dekolonisierung und des nationalsozialistischen Genozids ein multidirektionales Netzwerk der Erinnerung schuf, das das Aufkommen von Überlebenszeugnissen als ein Genre der Skandalisierung beider Gewaltformen ermöglichte. Zu eben dem Zeitpunkt, als der israelische Staat den Zeitzeugenberichten Überlebender im Eichmann-Prozess eine Bühne bot, experimentierten Jean Rouch und Edgar Morin mit einem dokumentarischen Format, wobei das entstand, was sie als cinéma vérité bezeichneten. Ihr Dokumentarfilm Chronik eines Sommers ist Gegenstand von Kapitel 6. Im Mittelpunkt des Films steht der Zeitzeugenbericht einer HolocaustÜberlebenden. Ihre Erzählung wird flankiert von Diskussionen über »Rasse«, Dekolonisierung und Kolonialkrieg. Anschließend wende mich ich den damaligen Diskursen der antikolonialen Bewegung in Frankreich zu und zeige, dass die für das cinéma vérité so zentrale Vorstellung von »Wahrheit« in verschiedenen Versuchen zirkuliert, die Gewalt des spätkolonialen Staates zu enthüllen. Es sind insbesondere Kontroversen über Folter, Zensur und den Einsatz von Konzentrationslagern bei der Bekämpfung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, aus denen sich die Bedeutung der Zeugenschaft für die Artikulation der verdrängten Wahrheit des Kolonialismus ergibt. Im selben Jahr, in dem der Eichmann-Prozess und Chronik eines Sommers der Holocaust-Zeugenschaft eine öffentliche Bühne boten, veröffentlichte die Auschwitzüberlebende und Autobiografin Charlotte Delbo ihr erstes Buch: eine Sammlung offener, von Delbo mit editorischen Anmerkungen versehener Briefe über den Algerienkrieg. Kapitel 7 zeigt, wie derselbe Kontext von Folter, Zensur und Lager, auf den Rouch und Morin mit ihrem Film reagiert haben, auch Delbo veranlasste, Zeugenschaft und Öffentlichkeit zu reflektieren. Les belles lettres ist viel expliziter politisch als Chronik eines Sommers. Das Buch beteiligt sich, materiell und diskursiv, an einem Netzwerk antikolonialer Aktivitäten. Im Rückgriff auf ihre Erinnerungen an die nationalsozialistische Besatzung und den Genozid hält Delbos Text Möglichkeiten für eine kritische linke Politik des Holocaustgedenkens bereit, die auch für eine vom »Krieg gegen den Terror« geprägte Zeit Konsequenzen hat.

THESE UND GLIEDERUNG

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Als im Herbst 1961 Les belles lettres veröffentlicht wurde und Chronik eines Sommers in den Pariser Kinos anlief, sah sich Frankreich mit einer weiteren, mit dem Algerienkrieg zusammenhängenden Krise konfrontiert. Gerade als der Krieg mit der nahenden Unabhängigkeit Algeriens auf ein sicheres Ende zuzusteuern schien, nahm die Gewalt sowohl in der Metropole als auch in der Kolonie zu. Ständige gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen dem französischen Staat, den algerischen Unabhängigkeitskämpfern des Front de Libération Nationale (FLN) und der rechtsextremen Organisation Armée Secrète (OAS) gipfelten am Abend des 17. Oktober in den Straßen von Paris in einem polizeilichen Massaker an Dutzenden unbewaffneter, friedlich demonstrierender Algerier und Algerierinnen. Auch Teil IV thematisiert den weltweiten Nachhall des Algerienkriegs und legt ein multinationales Archiv von Texten frei, die auf das Massaker am 17. Oktober 1961 und die Festnahmen der Pariser Polizei unter Maurice Papon reagierten. Der 17. Oktober blieb lange aus dem kollektiven Gedächtnis Frankreichs ausgespart, wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten für antirassistische und migrantische Gruppen zu einem wichtigen Mobilisierungsanlass. In diesem Teil des Buches erforsche ich die damaligen Reaktionen der in früheren Kapiteln behandelten antikolonialen Aktivisten und Aktivistinnen, aber auch Werke, die erst lange nach den Ereignissen entstanden sind. Die These dieses Kapitels ist, dass die Ereignisse des Oktober 1961 einen bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte des französischen Holocaustgedenkens darstellen und ein nachhaltiges multidirektionales Netzwerk die nationalsozialistische Vergangenheit mit dieser Phase des Algerienkriegs verbindet. In Kapitel 8 widme ich mich vor allem zeitgenössischen Reaktionen, um einen auf »Rasse«, Geschlecht und Universalismus bezogenen Argumentationsgang zu entwickeln. Ich setze mich dort mit einem kaum bekannten journalistischen Text der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras und einem kürzlich wiederentdeckten Roman des afroamerikanischen Autors William Gardner Smith auseinander und zeige, dass die spätkoloniale Rassifizierung des Krieges durch den französischen Staat weitere Bezugnahmen auf die Erfahrungen der Juden und Jüdinnen unter der nationalsozialistischen Besatzung nach sich zog. Ich denke, dass diese Texte uns helfen können, Diskussionen über die Universalisierung des Holocaust in dem Sinne zu überdenken, dass wir Komplizenschaft in den Vordergrund rücken und eine multidirektionale Alternative jenseits des Gegensatzes von universell und partikular aufzeigen – eines Gegensatzes, der sich in Smith’ Roman wieder einschleicht, und zwar über eine unzulässig vereinfachende Vergeschlechtlichung der Erinnerung. Kapitel 9 zeichnet nach, wie der 17. Oktober seit den 1980er-Jahren erneut Aufmerksamkeit erfuhr. Hier wird einer Ethik multidirektionaler Erinnerung das Wort geredet, die der Praxis des historischen Vergleichs treu ist. Schlüsseltexte sind ein Roman des französischen Kriminalautors Didier Daeninckx, der 2005 erschienene Spielfilm Caché des österreichischen Regisseurs Michael Haneke und ein Jugendroman der französisch-algerischen Schriftstellerin Leïla Sebbar. Die beiden letztgenannten Werke hängen mit dem Prozess zusammen, den man Papon 1997/98 für

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

seine während des Holocaust begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht hat. Hier finden sich faszinierende Belege für die gegenwärtige Verfasstheit multidirektionaler Erinnerung und multidirektionaler Zeugenschaft, aber auch für die Veränderungen, die sich gegenwärtig aufgrund des Generationenwandels vollziehen. Das Gerichtsverfahren und die Werke von Sebbar und Haneke legen den Schluss nahe, dass nun die Figur des Kindes als Träger einer unbehaglichen multidirektionalen Erinnerung besonders wichtig wird. Das Kapitel reflektiert die mögliche ethische und politische Bedeutung des Kindes als Träger von Erinnerung und »Postmemory« in einer Zeit gewaltsamen globalen Wandels.40 Umfang und Format von Multidirektionale Erinnerung können unmöglich einen Überblick sämtlicher Texte, Filme oder politischen Bewegungen liefern, die sich mit dem Holocaust und dem europäischen Kolonialismus befassen. Das Buch bietet allerdings ausführliche Analysen vieler Schlüsseltexte aus dieser noch nicht anerkannten, sechs Jahrzehnte alten Tradition sowie sorgfältige Untersuchungen epochaler Veränderungen – etwa der Übergangszeit in den frühen Nachkriegsjahren und des Wendepunkts von 1961, als das Holocaustgedenken zunehmend in die Öffentlichkeit rückte und viele ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten. Ich hoffe, dass es anderen Forschern und Forscherinnen lohnend erscheint, den hier erprobten Ansatz anzuwenden, zu modifizieren oder zu korrigieren. Die Methode dieses Buches ließe sich ohne Weiteres auf andere offenkundig »multidirektionale« Werke anwenden, etwa Michelle Cliffs Abeng über Anne Frank und die Karibik (1984), Anita Desais Baumgartner’s Bombay über den Holocaust und die Kolonisierung Indiens (1989), Nancy Hustons Engelsmal über den Algerienkrieg und den Holocaust (1999) oder W. G. Sebalds Austerlitz über den Holocaust und den belgischen Kolonialismus (2001). Auch die Schriften französisch-jüdisch-nordafrikanischer Gelehrter wie Hélène Cixous, Jacques Derrida und Albert Memmi sind ein produktives Terrain. Wichtiger ist vielleicht, dass der Begriff der multidirektionalen Erinnerung Forscherinnen helfen könnte, die zu anderen historischen und kulturel40 Marianne Hirschs Begriff der »Postmemory«  – der Begriff einer Struktur generationeller Erinnerung, der in erster Linie auf die Erfahrungen von Kindern der Überlebenden traumatischer Ereignisse abzielt – spielt im letzten Kapitel eine wichtige Rolle. Siehe Hirschs Buch Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge 1997, sowie die zahlreichen Essays über Postmemory, die sie seitdem verfasst hat. Ich beschreibe die Figur des Kindes als unbehaglichen Erinnerungsträger, weil ich mir der Gefahren bewusst bin, die mit der Aufwertung einer solchen Figur einhergehen. Vertreterinnen und Vertreter der QueerTheorie, darunter insbesondere Lauren Berlant und Lee Edelman, haben auf überzeugende Weise auf das Potenzial der Figur des Kindes hingewiesen, die Normativität in Gefühlsangelegenheiten wiederherzustellen. Das bleibt zwar ein ernst zu nehmendes Risiko, doch würde ich argumentieren, dass die hier untersuchten Texte aus familiären und kulturellen Zerrüttungen hervorgehen, deren »Normativierung« mittels fetischistischer Verleugnung sie verweigern. Das Kind steht in diesen Texten für den Ort einer gescheiterten Übertragung sowie des Widerstands gegen die Normativität. Siehe Lauren Berlant, The Queen of America Goes to Washington City: Essays on Sex and Citizenship, Durham 1997, und Lee Edelman, No Future: Queer Theory and the Death Drive, Durham 2004.

THESE UND GLIEDERUNG

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len Traditionen arbeiten – Geschichten und Traditionen, die sich mit den hier behandelten überschneiden oder auch nicht. Multidirektionale Hinterlassenschaften der Gewalt suchen weltweit die Geschichten indigener Völker heim, sie ziehen sich durch das ehemalige Jugoslawien und Teile des früheren Ostblocks wie durch Afghanistan, Südafrika, Argentinien und andere ehemalige Kolonien. Derweil sehen sich Arbeitsmigrantinnen und ihre Kinder in Europa oft mit den Gespenstern der Vergangenheit konfrontiert, während sie zugleich die Vorurteile der Gegenwart erfahren.41 Schließlich gibt es noch die zu erwartenden multidirektionalen Erbschaften des US-Kriegs im Irak, einem erst von Kolonialismus, Diktatur und Genozid, dann von Neoimperialismus und Bürgerkrieg gezeichneten Land. Diese unglückliche Situation liegt wie ein Schatten über diesem Buch, das sich an verschiedenen wichtigen Punkten, aber auch unmittelbar diesem Schatten stellt. Der auf diesen Seiten so ausführlich behandelte Algerienkrieg ist um den Jahrtausendwechsel tatsächlich ein brisanter und hochgradig politisierter Bezugspunkt geworden, wie auch Hanekes Spielfilm Caché bezeugt. Die Bush-Regierung nahm häufig auf Algerien Bezug und analogisierte den dortigen Konflikt mit dem im Irak; das Pentagon hat sogar eine Vorführung von Gillo Pontecorvos Schlacht um Algier veranstaltet, offenbar in der Absicht, von den Erkenntnissen des Films über Aufstandsbekämpfung zu »profitieren«.42 Nachdem ich mich in der zweiten Hälfte des Bandes mit der Algerienfrage befasst habe, wende ich mich abschließend einem weiteren multidirektionalen politischen Brandherd zu. Neben dem Irakkrieg und dem »Krieg gegen den Terror«, die mit ihrer freimütigen Folterpraxis und unbefristeten Haft einen verstörenden Nachhall des Holocaust und vergangener kolonialer Abenteuer erzeugt haben, ist die permanente palästinensisch-israelische Krise der andere dominierende politische Schauplatz multidirektionaler Erinnerung. Im Epilog »Multidirektionale Erinnerung in einem Zeitalter der Besatzungen« befasse ich mich kurz mit der Frage, was aus meiner Theorie kollektiver Erinnerung in Bezug auf diesen hartnäckigen Konflikt, aber auch hinsichtlich der Forderungen 41 Zu den »berührenden Erzählungen«, die türkische Migranten und Migrantinnen in Deutschland mit jüdischer und anderer Geschichte verbinden, siehe Leslie A. Adelsons rigoros argumentierendes Buch: The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration, New York 2005. 42 Es wird häufig erwähnt, dass Bush und andere Persönlichkeiten aus Regierung und Militär Alistair Hornes Geschichte des Algerienkriegs lasen: A Savage War of Peace: Algeria, 1954–1962, New York 1977. Siehe beispielsweise die ausführliche Erörterung der Analogien zwischen Irak und Algerien in Thomas Ricks’ Rezension der Neuauflage von Hornes Buch: Aftershocks: A Classic on France’s Losing Fight with Arab Rebels Contains Troubling Echoes of Iraq Today, in: Washington Post Book World, 19. November 2006, S. T5. Siehe auch Ricks’ surreale Schilderung eines Seminars über den Algerienkrieg an der School of Advanced Warfighting des US-amerikanischen Marinekorps: SAW 7202–06: The French Army at War in Algeria, 1954–1962, in: Washington Post, 28. April 2006, S. A17.

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1. EINLEITUNG: DIE THEORIE MULTIDIREKTIONALER ERINNERUNG

indigener Völker folgt. Ich nutze den kurzen Epilog für ein paar abschließende Bemerkungen, die für meine Erkundung multidirektionaler Erinnerung an Genozid und Kolonialismus relevant sind. Die Ausführungen des israelischen Historikers Benny Morris dienen mir als Beleg für die These, dass Bezugnahmen auf den Holocaust im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts Teil eines größeren multidirektionalen Netzwerks sind, in dem es auch apokalyptische Kolonialfantasien von einem Verfall des »westlichen« Selbst gibt – Fantasien, die sich im Fall von Morris auf den »Verlust« Algeriens durch Frankreich beziehen und Joseph Conrads Bild der Wildheit evozieren, das in Arendts Darstellung des Imperialismus eine verstörende Rolle spielt und von Césaire scharfsinnig kritisiert wird. Ich vertrete die Position, dass Theorie und Geschichte multidirektionaler Erinnerung es nahelegen – trotz vieler offenkundig hässlicher Bezugnahmen auf den Holocaust, wie sie im Kontext aktueller Nahostpolitik (aber auch anderswo) auftauchen –, nicht der Versuchung nachzugeben, ein Moratorium für solche Bezugnahmen zu verhängen, sondern andere Optionen zu erwägen. Zwar befördert, wie ich am Beispiel Morris’ veranschauliche, interkulturelle Erinnerung nicht immer gegenseitiges kulturelles Verständnis, doch sind Vergleiche, Analogien und andere multidirektionale Bezugnahmen ein unverzichtbarer Bestandteil des Kampfes um Gerechtigkeit. Gegen ein Verbot des Vergleichs – dem zufolge man sich intensiv der Besonderheit eines jeden Falls widmen oder aber absolut neutrale und universelle Prinzipien verkünden soll – setze ich mit der multidirektionalen Option eine ethische Vision, die auf einer engagierten Bloßlegung historischer Zusammenhänge sowie auf der Erforschung jener partiellen Überschneidungen und widerstreitenden Ansprüche beruht, die die Archive der Erinnerung und das politische Terrain konstituieren.

Teil I Bumerang-Effekte: Nacktes Leben, Trauma und die koloniale Wende in der Holocaustforschung

Abbildung 1: André Fougeron, Atlantische Zivilisation (1953) © VG Bild

2. An den Grenzen des Eurozentrismus: Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Atlantische Zivilisation: Die Konzeptualisierung

der Multidirektionalität in der frühen Nachkriegszeit 1953 schuf der französische, kommunistische Maler André Fougeron ein großes Ölbild, das die Spannungen der Nachkriegszeit sichtbar werden lässt. Fougeron war zwar selbst nie deportiert worden, er war aber während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance aktiv gewesen und hatte Zeitschriften herausgegeben und Kunstwerke geschaffen, die die nationalsozialistischen Lager ebenso verurteilen wie die französische Kollaboration. Nach dem Krieg schuf er viele Gemälde, die sich mit antikolonialen Kämpfen sowie der Arbeiterbewegung befassen.1 Sein Bild Atlantische Zivilisation malte er zu einem Zeitpunkt, da Frankreichs Krieg in Indochina auf eine Niederlage zuging und die Entwicklung in Algerien eskalierte. Das Bild präsentiert ein Nebeneinander von Kolonialismus und Nationalsozialismus im französischen Raum (siehe Abb. 1). Atlantische Zivilisation stellt einen Bruch mit Fougerons früheren Versuchen dar, einen neuen sozialistischen Realismus zu entwickeln, und markiert eine Wende hin zum Gebrauch von Montagetechniken (eine Wende, die von der Kommunistischen Partei nicht begrüßt wurde). Im Mittelpunkt der Leinwand richtet ein uniformierter deutscher Soldat mit SS-Insignien auf dem Helm sein Gewehr auf ein unbestimmtes Ziel außerhalb des Bildrahmens und beugt sich dabei über die Kühlerhaube eines großen amerikanischen Autos. Um den Soldaten und das Auto herum ist, in einem überfrachteten, unperspektivischen Raum, eine Vielzahl von Gestalten und Symbolen des Kriegs, des Kolonialismus, der Todesstrafe (eine Anspielung auf die Rosenbergs) und der Übel einer Industriegesellschaft zu sehen, außerdem Bilder eines eher alltäglichen und heiteren Frankreichs, etwa Pullover tragende Pudel und ein Mann, der, mit den Füßen auf einem Cafétisch, ein Softpornoheft liest. Wie um den Kolonialkrieg in Algerien vorwegzunehmen, der im folgenden Jahr beginnen sollte, lugen im linken unteren Bildwinkel zwei in schwarze Roben gekleidete arabische Männer unter einem Stück Wellblech hervor, während die Plakate an einer Gebäudemauer die berüchtigten parachutistes coloniaux feiern: jene Fallschirmspringer, die auch in Algerien eine bedeutende und blutige Rolle spielen sollten. Die überwältigende Präsenz des blauen Cadillac im Mittelpunkt dieses eklektischen Bilds suggeriert, ebenso wie die im Hintergrund rauchenden Schornsteine, dass die Moderne selbst 1

Siehe den informativen Nachruf der englischen Kunsthistorikerin Sarah Wilson in: The Independent, 18. September 1998.

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

die zentrale Kategorie ist, gegen die sich Fougeron richtet – eine Moderne, die hier als joint venture aus französischem Kolonialismus, US-amerikanischem Kapitalismus und deutscher Kriegslust erscheint. Mit seinem Fokus auf die Moderne erinnert Atlantische Zivilisation an die Interpretation der französischen Kultur der 1950er-Jahre, die Kristin Ross in Fast Cars, Clean Bodies vorgelegt hat. Dort wird die französische Kultur als Produkt des Zusammenspiels von Amerikanisierung und Dekolonisierung begriffen.2 Doch Fougerons Gemälde unterscheidet sich  – gerade wegen seines explizit ideologischen Charakters – in zweierlei Hinsicht von den meisten Werken, die Ross untersucht. Zunächst einmal ersetzt Fougeron den antikolonialen Kampf nicht durch einen heimatlichen Diskurs moderner Hygiene und Technik, wie das bei den meisten von Ross analysierten Texten und Dokumenten der Fall ist, sondern er betont die Schnittmengen von Alltag und punktueller Gewalt. Mit seiner Montage verwendet Fougeron eine ästhetische Form, die in Werken aus der Zeit des Algerienkriegs wiederkehrt, etwa Chronik eines Sommers von Rouch und Morin oder Les belles lettres von Delbo. Zweitens zeigt Atlantische Zivilisation, dass die Erinnerung an die deutsche Besatzung, die Ross in ihrer Darstellung weitgehend ausspart, in den Diskursen sowie in den ästhetischen und politischen Vorhaben der Nachkriegszeit wirksam bleibt. Die koloniale Gewalt kehrt nach Hause zurück, allerdings im Zeichen des Nationalsozialismus. Ross sollte später, in May ’68 and Its Afterlives, die These vertreten, dass den studentischen und Arbeiterkämpfen der späten 1960er-Jahre die Erinnerung an den Algerienkrieg zugrunde liegt.3 Atlantische Zivilisation lässt allerdings auf einer multidirektionaleren Matrix des Dissenses schließen: Erinnerungen an Nationalsozialismus und Genozid spielen neben denen an Kolonialismus und Arbeiterkämpfe eine wesentliche Rolle. Doch der genaue Charakter der Verbindungen innerhalb dieser Matrize wird von Fougeron im Dunkeln belassen. Das Gemälde wirft eine Reihe von Fragen auf, die für eine Theorie multidirektionaler Erinnerung von Belang sind. Welche ästhetischen Formen sind angemessen, um die sich überschneidenden Formen historischer Gewalt darzustellen und in Erinnerung zu rufen? Verweist die Rückbesinnung auf vielfache Geschichten bereits auf das dynamische, produktive Wechselspiel, das ich als multidirektionale Erinnerung bezeichnet habe? Oder laufen Verbindungen wie die zwischen einem SS-Mann und einem US-amerikanischen Cadillac lediglich auf ein additives Modell hinaus, in dem Geschichten zusammengeführt werden, ohne dass es zu einem Austausch von Erinnerungen und Ideen kommt? Unsere Fähigkeit des Vergleichens auszuweiten erfordert einen Rahmen, der die eigensinnigen Strömungen der kollektiven Erinnerung ernst nimmt, es uns aber auch erlaubt, zwischen verschiedenen Artikulationen der Bezüge zu unterscheiden und zu urteilen. Ich glaube, dass sowohl die individuellen 2 3

Kristin Ross, Fast Cars, Clean Bodies: Decolonization and the Reordering of French Culture, Cambridge 1996. Kristin Ross, May ’68 and Its Afterlives, Chicago 2002.

ATLANTISCHE ZIVILISATION

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als auch die kollektiven Erinnerungen stets in einem gewissen Sinn multidirektional sind. Indem sie »die Vergangenheit gegenwärtig werden lassen«, vermischen Erinnerungen und Darstellungen persönlicher oder politischer Geschichten unweigerlich eine Vielzahl an Zeitpunkten und Erinnerungsorten. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit öffnet die Pforten der Erinnerung für einander überschneidende Vergangenheiten und unbestimmte Zukünfte. Insofern ist die Erinnerung strukturell multidirektional, doch jede Artikulation der Vergangenheit verarbeitet diese Multidirektionalität auf unterschiedliche Weise: Sobald die Erinnerung öffentlich artikuliert wird, ergeben sich Fragen der Darstellung, der Ethik und der Politik. Fougerons Gemälde evoziert zwar unterschiedliche historische Erbschaften, beantwortet für sich allein jedoch nicht die Fragen, die in diesem Kapitel interessieren: Wie soll Multidirektionalität konzeptualisiert und dargestellt werden, und wie sind die ethischen und politischen Auswirkungen zu bewerten? Das dialektische Verhältnis von Gewalt in den Kolonien und in der Metropole, das Fougerons Bild inszeniert, erinnert an zwei bekannte Texte, die im selben Moment der frühen Nachkriegszeit entstanden, dem ich hier nachgehe, um das Modell der Multidirektionalität weiterzuentwickeln: Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) und Aimé Césaires Über den Kolonialismus (1950/1955). Sowohl Arendt als auch Césaire erkennen eine Verwandtschaft der beiden Formen kolonialer Herrschaft, die Arendt als »kontinentalen« und »überseeischen« Imperialismus bezeichnet. Allerdings verstehen sie dieses Verhältnis völlig unterschiedlich. In einer provokanten Polemik beschreibt Césaire den Nationalsozialismus als »un choc en rétour«, was im Englischen als »boomerang effect« (Bumerang-Effekt) übersetzt wurde, jedoch präziser »Rückwärtsschock« oder »Rückstoß« genannt werden könnte, um den Gedanken eines »Schocks« zu bewahren. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft befasst sich auch Arendt mit der Möglichkeit von »BumerangEffekten«, doch hat die Kausalitätsthese, die sie in dieser unklassifizierbaren Studie vorlegt, einen anderen – komplexeren und zugleich verstörenderen – Charakter als die von Césaire, die er in seiner antikolonialen Flugschrift vertritt. Indem sie von »chocs en rétour« und »Bumerang-Effekten« sprechen, verwenden sowohl Arendt als auch Césaire Metaphern der Direktionalität. Wenn wir kartieren, was diese Metaphern reflektierbar gemacht hat und wo sie versagt haben, können wir beginnen, uns einen spezifisch multidirektionalen Ansatz vorzustellen. Was bei einem solchen Vergleich der unterschiedlichen, von Arendt und Césaire vorgenommenen Artikulationen historischer Bezogenheit auf dem Spiel steht, sind zusammenhängende Vorstellungen von Singularität, Universalismus und Menschlichkeit, mit denen Forscher, die sich mit den Hinterlassenschaften von Gewalt befassen, noch heute ringen. Diese Vorstellungen bleiben den Gewaltstrukturen, die sie entlarven sollen, immanent. Indem ich ihre Grenzen aufzeige, deute ich an, dass Multidirektionalität eine begriffliche Logik bietet, die über Singularität und Universalität hinausgeht und außerhalb des Problems des Menschlichen verortet ist.

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

In den weiteren Abschnitten dieses Kapitels konzentriere ich mich auf Arendts Schriften über Totalitarismus und Imperialismus, um dann in einem kurzen Schlussteil auf die damit zusammenhängenden und einflussreichen Arbeiten Giorgio Agambens über das »nackte Leben« einzugehen. Ich zeige, dass Arendt ihrer Zeit voraus ist, insofern sie die Besonderheit des Holocaust begreift und diesen mit dem europäischen Kolonialismus in Beziehung setzt. Gleichzeitig lässt sie sich jedoch von Tendenzen innerhalb des kolonialen Diskurses täuschen, die sie an anderer Stelle als fragwürdig entlarvt. Ich argumentiere, dass Arendts Darstellung der Kolonisierten Afrikas – teilweise abgeleitet von der in Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis codierten kulturellen Erinnerung – zwar die Grundlage für ihre bahnbrechende Analyse der nationalsozialistischen Lager liefert, dies jedoch auf eine Weise tut, in der die rassistischen Annahmen der kolonialen Logik bestätigt werden. Arendts dennoch richtungweisende Untersuchung der Ursprünge des nationalsozialistischen Genozids hinterlässt also eine schwierige Frage, die ins Herz des Gegensatzes von konkurrenzbasierten und multidirektionalen Herangehensweisen an die Vergangenheit trifft: Wie ist es möglich, die Besonderheiten einer Geschichte zu erinnern, ohne die einer anderen zum Verschwinden zu bringen? Ich gehe dieser Frage im folgenden Kapitel über Aimé Césaire weiter nach. Indem ich Arendts und Césaires Versuche, Kolonialismus und Nationalsozialismus zusammenzudenken, untersuche und dabei sowohl dem, was sie ermöglichen, als auch den Grenzen, an die sie stoßen, Aufmerksamkeit schenke, beginne ich, den Ansatz dieses Buches zu skizzieren: einen Ansatz, der die begrifflichen Fallstricke der Einzigartigkeit, des Universalismus und des Menschlichen vermeidet und die Konzeptualisierung von Gewalt, Trauma und Erinnerung gemäß einer multidirektionalen Logik neu ausrichtet.

Blindheit und Einsicht:

Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Fougerons Atlantische Zivilisation verortet die nationalsozialistische Gewalt in einer gedrängten Konstellation der Übel des modernen Kapitalismus: Kolonialkriege, ökologische Verwüstung, Hunger, Obdachlosigkeit, eine ungezügelte Konsumkultur und vermeintliche Sittenlosigkeit. Arendts fast gleichzeitig verfasste Arbeit zum Totalitarismus bedient sich ebenfalls der Konstellation als einer Form, um das Verhältnis der Brutalität des Imperialismus zur genozidalen Gewalt in Europa zu begreifen. Arendts Ansatz geht dieses Vorhaben mit deutlich mehr Subtilität und Komplexität an als Fougerons Gemälde, von ihrem wissenschaftlichen Kaliber ganz zu schweigen, doch auch ihre Arbeit verfängt sich in ideologischen Fesseln. Elemente und Ursprünge verlangt nach einer doppelten Lesart: Zum einen gilt es, die präzedenzlosen Einsichten anzuerkennen, die Arendt zu unserem Verständnis moderner Geschichte beisteuert – Einsichten, zu denen heutige Historiker und Historikerinnen jetzt erst aufschließen –, zum anderen sollte aber auch aufgezeigt werden, wie diese Einsichten mit einer Blind-

BLINDHEIT UND EINSICHT

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heit gegenüber »Rasse« und Kolonialismus einhergehen, die zwar für ihre Zeit typisch gewesen sein mag, deren verheerender Charakter dadurch jedoch nicht geschmälert wird. Letztlich geht es bei der Lektüre Arendts darum, diesen Knoten aus Erkenntnis und Verkennung zu lösen und eine Sicht auf die Geschichte zu rekonstruieren, die über die Grenzen von Arendts ursprünglicher Formulierung hinauszugehen vermag. Diese zugleich dekonstruierende und rekonstruierende Methode geht davon aus, dass Arendts Ideen teilweise historischen und sogar biografischen Grenzen unterliegen, aber auch, dass deren Tragweite beträchtlich bleibt in einer Welt, die noch immer die Folgen von Kolonialismus und Genozid aufzuarbeiten und sogar deren neue Formen zu durchleben hat. Arendts Bemühungen um das, was sie als »Verständnis« bezeichnet, sind sowohl ein historisch verortetes Beispiel multidirektionaler Erinnerung als auch eine theoretische Auseinandersetzung mit historischen Vergleichen, und insofern haben diese Bemühungen auch heute noch Bedeutung. Arendts Fähigkeit zu sehen, was andere nicht sehen konnten – wobei sie gleichzeitig blind blieb für das, was um sie herum geschah  –, ergibt sich zweifellos zum Teil aus den besonderen persönlichen Umständen, unter denen sie ihre Untersuchung durchführte. Als Arendt Elemente und Ursprünge 1951 veröffentlichte, hatte sie die vorangegangenen 18 Jahre als Staatenlose gelebt. 1906 in einer deutsch-jüdischen Familie geboren, studierte Arendt Philosophie, in Marburg bei Heidegger und in Heidelberg bei Jaspers. Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre beschäftigte sie sich zunehmend mit dem Zionismus, zu dem sie zeitlebens ein komplexes und kritisches Verhältnis hatte. Kurz nachdem sie durch die nationalsozialistische Machtübernahme zur Flucht aus Deutschland gezwungen war, arbeitete sie mehrere Jahre in Paris für jüdische Organisationen wie die Alija-Jugend, die jungen Juden und Jüdinnen bei der Emigration nach Palästina half. 1940, nach der deutschen Besetzung Frankreichs im französischen Lager Gurs als »feindliche Ausländerin« inhaftiert, floh sie nach Lissabon und machte sich 1941 auf den Weg nach New York (dieselbe Reise, an der Walter Benjamin im Vorjahr gescheitert war). Arendt erfuhr bereits früh, im Winter 1942/43, vom nationalsozialistischen Genozid und integrierte ihn in ihr Verständnis von Politik und Geschichte. In den 1940er-Jahren arbeitete sie an verschiedenen Fassungen von Elemente und Ursprünge und schrieb außerdem Essays für jüdische Zeitschriften wie Aufbau, Menorah Journal und Jewish Social Studies. Da ihre Werke, die Philosophie, politische Theorie und Geschichte verbinden, schwer zu klassifizieren sind, aber auch aufgrund des unorthodoxen und oft kontroversen Charakters ihrer politischen Ansichten, blieb Arendts Position in der intellektuellen Landschaft zeit ihres Lebens ambivalent: In den wichtigsten Debatten der Nachkriegszeit war sie marginal und zentral zugleich.4 Seit ihrem Tod 1975 hat ihr Werk jedoch in wissenschaftlichen Kreisen zunehmend 4

Siehe die ausgezeichnete Standardbiografie: Elizabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 2016. Siehe auch die nützliche Chronik in: Dana Villa (Hrsg.), The Cambridge Companion to Hannah Arendt, New York 2000.

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

an Bedeutung gewonnen, ohne deswegen als weniger kontrovers zu gelten.5 Aus heutiger Sicht wird erkennbar, wie Arendts ungewöhnliche Mischung aus persönlicher Erfahrung, kollektiver Geschichte und philosophischer Ausbildung ihre Arbeit und ihr Leben zwar nicht repräsentativ für die wichtigsten politischen und intellektuellen Strömungen des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht hat, aber durchaus Aufschluss über diese Strömungen bietet. Arendt wechselt in Elemente und Ursprünge fortwährend zwischen europäischen und außereuropäischen Welten, indem sie sich vom Antisemitismus über den Kolonialismus in Afrika und die europäische Flüchtlingskrise nach dem Ersten Weltkrieg zum totalitären Lagersystem vorarbeitet. Dabei gelingt ihr jedoch nie ganz die »planetarische« oder transnationale Darstellung »imperialer Spannungen« der Moderne, die jüngere Kritiker und Kritikerinnen der postkolonialen und globalen Kultur gefordert haben.6 Weil Afrika eine ahistorische Kulisse bleibt, vor der sich die europäische Geschichte abspielt, verpasst Arendt den Übergang, auf dessen Bedeutung Enrique Dussel besteht: von einer Vorstellung der europäischen Moderne als »einem unabhängigen, autopoietischen, selbstbezüglichen System« hin zu einem Verständnis dieser Moderne als »Teil eines Weltsystems«.7 Dussel beschreibt, wie der Eurozentrismus den modernen und postmodernen Kritiken der Vernunft unbeabsichtigt 5

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In den letzten Jahrzehnten hat es in der Rezeption von Hannah Arendt eine Reihe interessanter Wendungen gegeben, durch die ihr Werk für das Projekt einer Dekolonisierung des Holocaustgedenkens relevanter geworden ist denn je. Beginnend mit Ron H. Feldmans 1978 herausgegebener Sammlung der Aufsätze Arendts zu jüdischen Themen, The Jew as Pariah, und Elizabeth Young-Bruehls erstmals 1982 erschienener Biografie, Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, ist es in den Arendt-Studien zu einem neuen Bewusstsein der Bedeutung jüdischer Geschichte und Politik gekommen. Diese Entwicklung gipfelte in den 1990er-Jahren in den kritischen Arbeiten von Dagmar Barnouw, Seyla Benhabib und Richard J. Bernstein. Zeitgleich, aber von einer etwas anderen Warte aus, schuf Margaret Canovans erhellende Studie aus dem Jahr 1992, Hannah Arendt: A Reinterpretation of Her Political Thought, New York 1992, ein neues Bewusstsein der Zentralität der Elemente und Ursprünge für Arendts politische Vision und brachte unser Verständnis von Arendts Totalitarismusbegriff, der viel zu lange von den Missverständnissen des Kalten Kriegs verschüttet war, wesentlich voran. Siehe Hannah Arendt, The Jew as Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age, hrsg. v. Ron H. Feldman, New York 1978; Dagmar Barnouw, Visible Spaces: Hannah Arendt and the German-Jewish Experience, Baltimore 1990; Seyla Benhabib, The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks 1996; Richard J. Bernstein, Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge 1996; Steven Aschheim (Hrsg.), Hannah Arendt in Jerusalem, Berkeley 2001. Siehe Enrique Dussel, Beyond Eurocentrism: The World-System and the Limits of Modernity, in: Fredric Jameson/Masao Miyoshi (Hrsg.), The Cultures of Globalization, Durham 1998, S. 3–31, hier S. 4; Ann Laura Stoler/Frederick Cooper (Hrsg.), Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997. Aus Dussels Weltsystemperspektive ist Europa nicht einfach irgendein Teil des Systems, sondern »tatsächlich das Zentrum« (S. 4). Einige postkoloniale Kritiker mögen dieser neuerlichen Erklärung Europas zum Zentrum skeptisch begegnen, doch Dussel will auf den wichtigen Sachverhalt verweisen, dass das Weltsystem durch Wohlstands- und Machthierarchien strukturiert ist.

BLINDHEIT UND EINSICHT

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Grenzen gesetzt hat: »Im Allgemeinen überwindet keine Debatte zwischen Rationalisten und Postmodernen den eurozentrischen Horizont. Die Krise der Moderne […] bezieht sich auf die inneren Aspekte Europas. Die periphere Welt erscheint als passive Zuschauerin einer Thematik, die sie nicht betrifft, weil diese Welt ›barbarisch‹, ›vormodern‹ ist oder schlichtweg noch ihrer ›Modernisierung‹ harrt. Mit anderen Worten: Die eurozentrische Sicht reflektiert das Problem der Krise der Moderne nur in Bezug auf die europäischen und nordamerikanischen (und heute sogar die japanischen) Momente, doch sie minimiert die Rolle der Peripherie« (S. 17 f.). Gemessen an Dussels Maßstäben bewegt sich Arendt an den Rändern eurozentrischer Ansätze. Weil sie die Ereignisse in Afrika in den Mittelpunkt der Entstehung moderner Politik stellt, vermeidet sie die Gefahr, die periphere Welt in ihrer Darstellung »unberührt« zu lassen. Wie in Conrads Herz der Finsternis, einem Text, dem in Elemente und Ursprünge zentrale Bedeutung zukommt, wird die von Europäern und Europäerinnen im Kolonialismus ausgeübte Gewalt entblößt und aufs Schärfste verurteilt. Doch Arendt gleicht Conrad auch darin, dass sie die koloniale Begegnung nur aus einer Perspektive deutet. Auch wenn ihr Text anders gelesen werden muss als der von Conrad, bezieht sie sich stark auf das von ihm produzierte und zirkulierte Afrikabild. Trotz der Aufmerksamkeit, die Arendt im zweiten Teil von Elemente und Ursprünge auf den Imperialismus lenkt, erweckt sie auch das kolonialistische kulturelle Gedächtnis, das Conrads Roman eingeschrieben ist, zu neuem Leben und zeichnet Afrikaner und Afrikanerinnen als »passiv«.8 Ihre Kritik der Moderne bleibt Europa-immanent, denn sie kann zwar die imperiale Expansion nachvollziehen, vermag deren Opfer aber nicht als Subjekte darzustellen. Besonders widersprüchlich an dieser Unfähigkeit, den Anderen zu erkennen, ist, dass Arendts Buch zu einem Zeitpunkt entstand, als die antikoloniale Agitation auf dem Höhepunkt war. Während Arendt beispiellose Einsichten in die Einzigartigkeit des Totalitarismus und des nationalsozialistischen Genozids vermittelte, trugen antikoloniale Bewegungen in aller Welt und einzelne Intellektuelle wie Césaire und Du Bois dazu bei, die Möglichkeit der Dekolonisierung in den Vordergrund der Weltgeschichte zu rücken – und zwar auf eine Weise, die auch die jüngste nationalsozialistische Vergangenheit Europas berücksichtigte. Arendts versäumte Auseinandersetzung mit der Dekolonisierung ist der Grund für die Blindheit und die Gedanken von Elemente und Ursprünge. Tatsächlich ist Arendts Unfähigkeit, die Subjekte an der europäischen Peripherie als Träger von Geschichte, Erinnerung und Kultur zu begreifen, nicht nur zutiefst mit ihrer Fähigkeit verbunden, die Anderen zu erkennen, mit denen Europa sich innerhalb seiner selbst konfrontiert sieht, sondern sie bietet sogar die Voraussetzungen dafür. Der imaginierte kulturlose Wilde – der imaginierte 8

Die Vorstellung eines kulturellen Gedächtnisses entnehme ich Jan und Aleida Assmann, die damit die in den kanonischen Texten einer Kultur gespeicherten Erinnerungen meinen. Siehe etwa Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999.

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

Barbar – liefert den metaphorischen Hintergrund für zwei zentrale »Charaktere« von Arendts Analyse: den nackten, der Kultur beraubten Menschen, und den staatenlosen Lagerhäftling, der des Rechtes beraubt ist, über Rechte zu verfügen.

Verständnis und Konstellation In Elemente und Ursprünge nimmt Arendt sich vor, eines der Schlüsselphänomene des 20. Jahrhunderts »zu verstehen«, indem sie zu den Ursprüngen dieses Phänomens im 19. Jahrhundert zurückkehrt.9 Sie arbeitete von Mitte bis Ende der 1940erJahre an ihrem Buch, und es entstanden in dieser Zeit mehrere Versionen; die Endfassung zerfällt in drei in sich geschlossene Teile: »Antisemitismus«, »Imperialismus« und »Totalitäre Bewegung und totale Herrschaft«.10 Arendts Methodologie und die Gliederung ihres Buchs weisen einige rätselhafte Eigenschaften auf. Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass das Phänomen, das von dem Buch als Ganzem erklärt werden soll, zugleich Gegenstand eines Buchteils ist. Das wäre weniger überraschend, wenn es zwischen den Abschnitten eine klare narrative Entwicklung hin zum Höhepunkt Totalitarismus gäbe. Tatsächlich bestehen zwischen den Einzelteilen jedoch keine ausdrücklichen Verbindungen; das Buch zeichnet sich eher durch Brüche als durch Kontinuität aus. Hinzu kommt, dass Arendts Vorstellung von Totalitarismus von jenen vertrauteren Darstellungen abweicht, die diesen als geschlossenes, totalisierendes Kontrollsystem verstehen. Margaret Canovan, eine der besten Kommentatorinnen von Elemente und Ursprünge, hat die Besonderhei9

In jüngerer Zeit haben zahlreiche Forscher, darunter Isabel Hull, Dirk Moses, Dan Stone, Enzo Traverso und Jürgen Zimmerer, sich von Elemente und Ursprünge inspirieren lassen, um dem Zusammenhang von Kolonialismus und Genozid mit begrifflicher Schärfe und mehr empirischem Detail nachzugehen – eine Entwicklung, der ich mich am Schluss des nächsten Kapitels noch einmal zuwende. Meine Arendt-Interpretation stützt sich zwar auf die Erkenntnisse dieser Historiker und Historikerinnen, meidet aber die empirische Frage nach dem Verhältnis des Kolonialismus zum Holocaust, um sich vor allem den Stärken und Defiziten von Arendts Werk im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Multidirektionalität und Vergleich zu widmen. Diese Auseinandersetzung mit Arendts Werk setzt voraus, ihren recht eigenwilligen Gebrauch von Kategorien wie »Verstehen« und dem »Menschlichen« zu untersuchen. Einen Eindruck von der Verfasstheit jenes sich rapide wandelnden Feldes, auf welchem dem Zusammenhang von Kolonialismus und Genozid nachgegangen wird, bietet dieses interessante Forum führender Historiker und Kritiker: The German Colonial Imagination, in: German History 26 (2008) 2, S. 251–272; siehe außerdem A. Dirk Moses (Hrsg.), Empire, Colony, Genocide: Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York 2008, sowie die am Ende des nächsten Kapitels angeführte Literatur. 10 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1973 (zuerst 1951), dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1995 (zuerst 1955). Im Folgenden wird vorzugsweise aus der deutschen Ausgabe (Elemente und Ursprünge) zitiert; wird aus der englischen Ausgabe (Origins) zitiert, dann fehlt der entsprechende Passus in der deutschen Ausgabe oder ist dort von Arendt so überarbeitet worden, dass wesentliche Inhalte des englischen Textes verloren gehen (Anm. d. Übers).

VERSTÄNDNIS UND KONSTELLATION

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ten von Arendts Theorie prägnant zusammengefasst: »Anstatt sich auf ein bewusst strukturiertes politisches System zu beziehen, meint ›Totalitarismus‹ bei Arendt eine chaotische, nicht-utilitaristische, manisch dynamische Zerstörungsbewegung, die sämtliche Eigenschaften der menschlichen Natur und der menschlichen Welt angreift, die Politik ermöglichen.«11 Dieses Verständnis des Totalitarismus hat zwei Korrelate, die es für den vorliegenden Band besonders relevant machen. Erstens begreift es den nationalsozialistischen Genozid als den extremen, aber exemplarischen Fall eines umfassenderen Phänomens, nämlich des Totalitarismus: Es handle sich um eine »reine« Form des radikal zerstörerischen Angriffs auf das Menschliche. Zweitens führt dieses Verständnis Arendt auf scheinbar paradoxe Weise dahin, den Kern ihrer Argumentation nicht im ersten Buchteil über den Antisemitismus, sondern im zweiten über den Imperialismus zu formulieren. Arendt zufolge erklärt das Aufkommen des Antisemitismus im Europa des späten 19. Jahrhunderts zwar, warum Juden und Jüdinnen zu Opfern des nationalsozialistischen Totalitarismus wurden, doch nur die Geschichte des Imperialismus könne die globalen und nicht-utilitaristischen Aspekte der völkermörderischen Zerstörungsdynamik erklären (vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 24). Eingedenk der beiden Korrelate der Totalitarismustheorie Arendts bietet dieses Kapitel keine vollständige Interpretation der Elemente und Ursprünge (eine Aufgabe, die den Rahmen dieses Buches sprengen würde), sondern vielmehr eine fokussierte Deutung des Verhältnisses von Holocaust und Imperialismus, unter besonderer Betonung der Art und Weise, in der der Begriff eines Angriffs auf das Menschliche Arendts Analyse zugleich fundiert und aus dem Gleichgewicht bringt.12 11 Margaret Canovan, Arendt’s Theory of Totalitarianism: A Reassessment, in: Villa (Hrsg.), The Cambridge Companion to Hannah Arendt, S. 25–43, hier S. 26. 12 Arendt verwendet Begriffe wie »der Holocaust« oder selbst »der nationalsozialistische Genozid« nicht; dies wäre zu der Zeit, da sie schrieb, anachronistisch gewesen. Hinzu kommt, dass sich ihr Begriff dessen, was wir heute als Holocaust bezeichnen, notwendig von dem unterscheidet, der aus einem zusätzlichen halben Jahrhundert Forschung hervorgegangen ist. Dennoch war Arendt eine der Ersten, die die Besonderheit des nationalsozialistischen Genozids erkannt haben; ihr Gebrauch des Totalitarismusbegriffs reicht zwar selbst über den Genozid noch weit hinaus, doch bleibt es gerechtfertigt, auf jene Elemente ihrer Darstellung zu fokussieren, die zeitgenössischen Verständnissen des Holocaust entsprechen (das heißt insbesondere auf ihre Ausführungen zu den nationalsozialistischen Konzentrationsund Vernichtungslagern). Wie ebenfalls deutlich werden wird, unterscheidet sich Arendts Imperialismusverständnis von den heutigen, aus den Postcolonial Studies hervorgegangenen Interpretationen. Begrifflich und historisch ist ihr Werk in einem mittleren Bereich angesiedelt, der zwischen der älteren Vorstellung von Imperialismus als »Rivalität der verschiedenen imperialen und metropolitanen Nationalstaaten« und dem jüngeren Verständnis als »Verhältnis von Metropole und Kolonie« liegt. Ich entnehme diese Unterscheidung Fredric Jameson, Modernism and Imperialism, in: Terry Eagleton/Fredric Jameson/Edward Said, Nationalism, Colonialism, and Literature, Minneapolis 1990, S. 43–66, hier S. 47. Eine nützliche kritische Auseinandersetzung mit Arendts Darstellung des Kolonialismus bietet Pascal Grosse, From Colonialism to National Socialism to Postcolonialism: Hannah Arendt’s Origins of Totalitarianism, in: Postcolonial Studies 9 (2006) 1, S. 35–52.

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

Indem Arendt eine disjunktive Konstellation entwirft, die Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus verbindet, stellt sie sich in Elemente und Ursprünge eine paradoxe Aufgabe: Sie ringt mit dem präzedenzlosen Charakter des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden und Jüdinnen und versucht dabei zum einen, die vorangegangenen Elemente zu ermitteln, aus denen sich die Möglichkeit dieses Genozids erklären lässt; zum anderen will sie parallel Phänomene bestimmen, die sozusagen derselben Gattung angehören.13 Die Paradoxie, das Unbegreifliche zu begreifen, ist in der Diskussion um den Holocaust zu einem gängigen Topos geworden, doch das sollte nicht den Blick auf die spezifische Weise verstellen, in der sich Arendt der Frage nähert. Auch sollte es nicht die relevante Tatsache verschleiern, dass es oft die Unterscheidung zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen ist, mittels derer der Holocaust zu anderen Geschichten kollektiver Gewalt in Beziehung gesetzt, meistens jedoch von diesen abgegrenzt wird. Arendts Begriff des Verstehens soll die paradoxe Aufgabe auf den Punkt bringen, das Novum der totalitären Katastrophe zu bestimmen und diese gleichzeitig in einem irgendwie gearteten historischen Rahmen zu verorten: »Verstehen heißt nicht, das Unerhörte zu leugnen, aus Präzedenzfällen das Beispiellose abzuleiten oder Phänomene durch solche Analogien und Allgemeingültigkeiten zu erklären, dass die Auswirkungen der Realität und der Schock der Erfahrung nicht mehr spürbar sind. Es bedeutet vielmehr, die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, zu untersuchen und bewusst zu tragen  – ohne ihre Existenz zu leugnen oder sich ihrem Gewicht kleinmütig zu unterwerfen. Verstehen bedeutet kurz gesagt die unvorhergesehene, aufmerksame Konfrontation mit der Realität und den Widerstand gegen sie – worum auch immer es sich bei ihr handeln mag« (Origins, S. viii). Arendt setzt hier einen hohen Maßstab für komparative historische Ansätze. Sie beschränkt den Gebrauch einiger der offenkundigsten begrifflichen Werkzeuge der Komparatistik (Analogie, Verallgemeinerung, aus Präzedenzfällen gezogene Schlüsse), bekräftigt aber zugleich die Notwendigkeit, sich die »Last« der Geschichte und ihr Weiterwirken über das ursprüngliche Geschehen hinaus bewusst zu machen. Sie ruft dazu auf, sich der Wirkung und dem Schock der Geschichte zu stellen und gleichzeitig ihrer Wucht zu widerstehen, um die Geschichte, wie sie anderswo schreibt, »zu zerstören« (zit. nach Bernstein, S. 53). Eingedenk dieser quer zueinander verlaufenden Ansprüche bietet Arendts Versuch, den Totalitarismus in seinem Verhältnis zu Imperialismus und Antisemitismus zu »verstehen«, eine Gelegenheit, den 13 Wenn ich die Form, die Arendts historische Darstellung des Totalitarismus annimmt, als »disjunktive Konstellation« beschreibe, dann sollen damit Walter Benjamins »Geschichtsphilosophische Thesen« angespielt werden – ein Text, den Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher aus Frankreich schmuggelten und mit anderen Exilanten und Exilantinnen in Lissabon diskutierten, während sie auf die Ausreise in die USA warteten. Siehe die Darstellung dieser Zeit in Young-Bruehl, Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, S. 236. Arendts intellektuelles Verhältnis zu Benjamin erörtern Richard Bernstein, Seyla Benhabib und andere. Ich komme weiter unten auf Benjamins Resonanz von Arendts Werk zurück.

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historischen Hintergrund zu reflektieren, vor dem die in Elemente und Ursprünge versammelten Untersuchungen Gestalt angenommen haben, und dabei zugleich über die erkenntnistheoretischen und politischen Probleme nachzudenken, die mit dem Verfassen komparativer kultureller und historischer Analysen einhergehen. Sich der Realität stellen und sich ihr widersetzen: Das sind Aufgaben, die sich der Kritik nach dem Holocaust und nach dem Kolonialismus stellen, und insbesondere einer Kritik, die über die Separierungs- und Singularitätsdiskurse hinausgehen will, die sich im Anschluss an Arendts Schriften durchgesetzt haben. Wenn wir feststellen, dass Arendts Beispiel uns helfen kann, Separierungsdiskurse zu überwinden, dann muss dem allerdings mit Nachdruck hinzugefügt werden, dass Arendt es in keiner Weise gutheißt, unterschiedliche historische Phänomene auf Versionen ein und desselben Wesens zu reduzieren. Im Gegenteil: In »Eine Antwort«, einer Stellungnahme aus dem Jahr 1953, in der Arendt der Darlegung der Methodologie, die Elemente und Ursprünge zugrunde liegen, am nächsten kommt, verurteilt sie jene »wachsende Unfähigkeit, Unterscheidungen zu treffen«, von der die »historischen und politischen Wissenschaften auf ihrem gegenwärtigen Stand« betroffen seien.14 Warum aber schreibt sie einen Text, der durch die Gegenüberstellung und implizite Verknüpfung unterschiedlicher Phänomene wie Imperialismus, Nationalsozialismus und Stalinismus strukturiert ist, wenn sie sich zugleich auf die Besonderheit der totalitären Herrschaft konzentriert? Die Komplexität von Arendts Projekt hat schon immer zu Missverständnissen geführt. Der politische Philosoph Voegelin liest Elemente und Ursprünge als »eine schrittweise Enthüllung des Wesens des Totalitarismus von seinen anfänglichen Formen im achtzehnten Jahrhundert« bis zu den »voll entwickelten« (zit. nach Arendt, Eine Antwort, S. 57). Arendt lehnt diese Darstellung ihrer Methodik als narrativierende Offenbarung ab, scheint doch dadurch ein totalitäres Wesen in die Vergangenheit eingeführt zu werden. Stattdessen schlägt sie ein alternatives Modell vor: »Dieses Wesen [hat], meiner Auffassung nach, nicht [existiert], bevor es nicht dagewesen ist. Ich spreche deshalb nur von ›Elementen‹, die sich schließlich im Totalitarismus kristallisieren. Einige von ihnen lassen sich bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen, einige vielleicht sogar noch weiter« (ebenda). Es ist oft angemerkt worden, dass Arendts Metapher der sich kristallisierenden Elemente ein zutreffenderes Bild ihrer Herangehensweise an den Totalitarismus bietet als das im Titel gebrauchte Bild der »Ursprünge«. Dennoch weist Arendts Werk selbst noch die Spuren jenes linearen Fortschrittsnarrativs auf, von dem sie sich distanziert. Arendts Methode, die sie in ihrer Antwort auf Voegelin dargelegt und in Elemente und Ursprünge angewandt hat, bürstet traditionelle empirische Geschichtsschreibung gegen den Strich. Sie geht produktive Allianzen mit Erinnerung, Repräsentation und

14 Hannah Arendt, Eine Antwort, in: dies./Eric Voegelin, Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe, Göttingen 2015, S. 53–61, hier S. 59.

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Imagination ein.15 So ist es auch kein Zufall, dass ihre Sprache in ihrer Antwort auf Voegelin der von Benjamin in den geschichtsphilosophischen Thesen gleicht, in denen Benjamin das »konstruktive Prinzip« der »materialistischen Geschichtsschreibung« bejaht: »Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.«16 Benjamin geht es in seinen Thesen bekanntlich darum, das »Kontinuum der Geschichte« aufzusprengen. Die Thesen beziehen sich auf das Erinnerungsvermögen der Unterdrückten und liefern damit eine Methode, die in einem schroffen Gegensatz zu Voegelins Vorstellung einer »schrittweise[n] Enthüllung des Wesens« steht. Benjamins Einsicht lautet, dass der Fortschrittsideologie eine besondere Idee von Zeitlichkeit – einer »homogenen und leeren Zeit«, die der Vorstellung historischen Fortschritts gleichsam als Hintergrund dient – zugrunde liegt. Im Gegensatz zur homogenen Zeit des Fortschritts bieten Benjamins kristallisierte Konstellationen das Bild einer Begegnung, in der unterschiedliche Zeitlichkeiten aufeinandertreffen und in der Bewegung und Stillstand in einem Spannungsverhältnis stehen. So legt Arendts an Benjamin erinnernde Sprache den Schluss nahe, dass die Gliederung von Elemente und Ursprünge (Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus) nicht auf eine dreiteilige Erzählung verweist, sondern eine Konstellation entwirft, in der synchrone und diachrone Elemente in einem Spannungsverhältnis stehen und Mustern folgen, die zwar kontingent sind, sich im Laufe der Geschichte jedoch verfestigt haben. Zugleich allerdings führt Arendts methodologischer Anspruch der Konstellation dazu, dass wir jene narrativen Aspekte in Elemente und Ursprünge, die durchaus noch eine lineare Erzählweise aufweisen, verstärkt wahrnehmen. Wie Seyla Benhabib gezeigt hat, gibt es letztlich zwei Stränge in Arendts Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: »einen, der der Methode einer fragmentarischen Geschichtsschreibung entspricht und von Walter Benjamin inspiriert ist, und einen von der Phänomenologie Husserls und Heideggers inspirierten, dem zufolge Erinnerung die mimetische Rückbesinnung auf die verlorenen Ursprünge von Phänomenen ist, wie sie in einer irgendwie gearteten, grundlegenden menschlichen Erfahrung enthalten sind« (S. 95). Die beharrliche Suche nach verlorenen Ursprüngen, die Arendt in ihrer Darstellung des Totalitarismus unternimmt, ist das Korrelat eines Restes von Fortschrittsdenken, der durch ihren Text und ihren Begriff des Menschlichen spukt.

15 Arendt bestreitet auch ausdrücklich, dass sie Positivistin oder Pragmatistin sei. Siehe Arendt, Eine Antwort, S. 57. 16 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1990, S. 691–704, hier S. 702 f.

»EIN NEUER MENSCHENTYP«

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»Ein neuer Menschentyp« Lange vor der Fertigstellung von Elemente und Ursprünge – und zu einem Zeitpunkt, als wenige Menschen auf der Welt, von den Tätern abgesehen, das Ausmaß des Genozids überschauten – hatte Arendt bereits begonnen, die Konturen ihres umfassenderen Projekts zu umreißen, das darin bestand, die politischen und moralischen Fragen des 20. Jahrhunderts zu verstehen. In einem düsteren und beeindruckenden Aufsatz aus dem Jahr 1943, der zunächst im Menorah Journal erschien, Wir Flüchtlinge,17 fragt Arendt nach den Grenzen des Menschlichen und unternimmt damit einen wichtigen Schritt hin zu ihrer Kopplung von Kolonialismus und Genozid. Sie nimmt Bezug auf ihre eigenen Position als Flüchtling aus Hitlers Europa, um die Spezifik des Zeitgeschehens und dessen Implikationen für das Verständnis der Stellung der Juden und Jüdinnen zu reflektieren. Arendt lotet Themen aus, die sich durch ihre Schriften aus den 1940er-Jahren hindurchziehen, und betont dadurch die politische Bedeutung der Vertreibung. Am Ende des Essays denkt sie über die Bedeutung des um sie tobenden Kriegs nach und stellt die Erfahrung der Juden und Jüdinnen in den Mittelpunkt der Geschichte: »Jene wenigen Flüchtlinge, die darauf bestehen, die Wahrheit im Zweifelsfall bis zur ›Unanständigkeit‹ zu sagen, gewinnen im Austausch für ihre Unpopularität einen unbezahlbaren Vorteil: Geschichte ist für sie nicht länger ein versiegeltes Buch und Politik kein Privileg der Nicht-Juden mehr. Sie wissen, dass unmittelbar nach der Ächtung des jüdischen Volkes die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt wurden. Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren heute die Avantgarde ihrer Völker  – vorausgesetzt, daß sie ihre Identität behalten. Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr, sondern die jüdische Geschichte ist verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen. Die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Glieds duldete.« (Wir Flüchtlinge, S. 51 f.)

Indem sie ihr Denken in der »Avantgarde« der Geschichte ansiedelt, ist Arendt in der Lage, aus scheinbar marginalen Erfahrungen weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. In diesem Fall begreift sie die Erfahrung radikaler Marginalisierung – die »Ächtung« einer Gruppe von Menschen  – und die nachfolgende Schaffung neuer Kategorien von Flüchtlingen als Vorspiel jener umfassenderen europäischen Krise, die der Krieg war. Es geht nicht darum, das Wesen der Moderne aufzudecken oder die sich um Arendt herum abspielende Geschichte für unvermeidbar zu erklären. Vielmehr soll das bestimmt werden, was an der zeitgenössischen Krise neu ist, um dann 17 Hannah Arendt, Wir Flüchtlinge, in: dies., Wir Juden. Schriften 1932–1966, hrsg. v. Marie Luise Knott und Ursula Ludz, München 2019, S. 37–52.

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

mittels einer Methode, die sowohl aufsprengend im Sinne Benjamins als auch genealogisch im Sinne Nietzsches ist, jene Elemente zu begreifen, die die Möglichkeitsbedingungen der Krise darstellen. Arendt nimmt in Wir Flüchtlinge bereits einen der Abschnitte von Elemente und Ursprünge vorweg, der sich für heutige Denker als der anregendste erwiesen hat: ihre Überlegungen zum »Ende der Menschenrechte«. Bezogen auf das Gebot zu »vergessen«, mit dem Aufnahmeländer Flüchtlinge adressieren, bemerkt Arendt: »Um gründlicher zu vergessen, vermeiden wir alle Anspielungen auf Konzentrations- und Internierungsläger, die wir fast überall in Europa kennengelernt haben […]. Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte einen neuen Menschentyp hervorgebracht hat – Menschen, die von ihren Feinden in Konzentrationsläger und von ihren Freunden in Internierungsläger gesteckt werden« (Wir Flüchtlinge, S. 39). Arendts Schriften zum Lagerwesen werden zwar gewöhnlich nicht als Werke des Gedenkens betrachtet, doch sie begreift das hier umrissene, in Elemente und Ursprünge weiterentwickelte Vorhaben als Teil eines Anamnese-Projekts, durch das die Gegenwartsgeschichte dem sofortigen Vergessen entrissen werden soll. Die Erinnerung an die Lager bedeutet, das Neue des dort geschaffenen Menschentyps anzuerkennen. Diesen neuen Menschentyp sollte der von Arendt beeinflusste italienische Philosoph Giorgio Agamben später als »Homo sacer« und »nacktes Leben« bezeichnen.18 Das heilige oder nackte Leben ist radikal aus der Polis ausgeschlossen worden, gehört ihr aber zugleich noch hinreichend an, um ermordet werden zu können: »Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf« (Agamben, Homo sacer, S. 92). Diese Inklusion des Exkludierten kennzeichnet das Reich dessen, was Agamben, darin Foucault folgend, als Biopolitik bezeichnet: eine Politik, die auf das Leben selbst abzielt und die Agamben zufolge die Gesamtheit der zeitgenössischen Politik zu bestimmen beginnt.19 Wie für Agamben stellen die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager für Arendt das Paradigma der Biopolitik dar. Dabei begreifen sowohl Agamben als auch Arendt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die biopolitische Bedrohung als weit über jenen besonderen Ort hinausreichend.20 18 Zu Homo sacer und nacktem Leben siehe Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2012. Arendts Schriften zu den Themen Flüchtlinge und Staatenlosigkeit diskutiert Agamben auch in: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Berlin 2001. 19 Foucaults Begriff der Biopolitik ließe sich als zumindest teilweise von Arendt abgeleitet verstehen, insbesondere von ihrer Darstellung dessen, was sie (in Vita activa oder vom tätigen Leben) als den Triumph des Sozialen über das Politische beschreibt. Doch erwähnt Foucault, in für ihn typischer Manier, Arendts Einfluss an keiner Stelle. Eine relevante Formulierung seines Begriffs der Biopolitik bietet der Schlussteil von Foucault, Sexualität und Wahrheit 1. Zu Arendts Begriff des Sozialen siehe Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2020, sowie Hannah Pitkin, The Attack of the Blob: Hannah Arendt’s Concept of the Social, Chicago 1998. 20 Zu Agambens Ansichten über die Zentralität der nationalsozialistischen Lager und des Genozids für die moderne Politik siehe, neben Homo sacer, auch: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003.

»EIN NEUER MENSCHENTYP«

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Nach Arendts 1943 vorgelegter Formulierung des Problems der Biopolitik besteht die größte Gefahr für den in den Lagern geschaffenen »neuen Menschentyp« darin, dass er sämtlicher Kennzeichen von Kultur und Zivilisation beraubt worden ist, was ihn nackt und radikal verwundbar macht: Wenn wir »damit anfingen, […] uns dem Schicksal bloßen Menschseins [auszusetzen]«, dann wären »wir […] von keinem spezifischen Gesetz und keiner politischen Konvention geschützt, nichts weiter als menschliche Wesen. Eine gefährlichere Haltung kann ich mir kaum vorstellen; denn tatsächlich leben wir in einer Welt, in welcher es bloße menschliche Wesen schon seit geraumer Zeit nicht mehr gibt« (Wir Flüchtlinge, S. 50). Menschen als solche hören aufgrund der dichten »künstlichen« Netzwerke sozialer, kultureller und politischer Institutionen, die sie unter fast allen Umständen umgeben, auf zu existieren. Der Verlust eines solchen Kontextes ist deswegen so gefährlich, weil, wie Arendt später in Elemente und Ursprünge argumentieren sollte, Menschen nur durch konstruierte gemeinsame Kategorien – insbesondere durch die Staatsbürgerschaft in einem souveränen Staat – das grundlegende »Recht, Rechte zu haben«, erlangen können. Ohne solche Kategorien »hat die Welt keinerlei Ehrfurcht empfunden« vor der »abstrakten Nacktheit des Menschseins« (Elemente und Ursprünge, S. 462, 466). In dem mit »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte« überschriebenen Abschnitt von Elemente und Ursprünge weist Arendt darauf hin, dass im Gefolge des Ersten Weltkriegs das Phänomen der Staatenlosigkeit, das bis dahin als peripher gegolten hatte – als »Ausnahmesituation«, »gemessen an den Maßstäben der scheinbar stabilen Umgebung«, »bestimmten von der Norm abweichenden Gebieten eigentümlich« (Elemente und Ursprünge, S. 423; Origins, S. 276) –, endgültigen Charakter annahm und auf eine allgemeine Krise des Nationalstaats hinwies. Die Figur des abstrakten, nackten Menschen ist nicht einfach die zufällige Auswirkung einer kontingenten Krise, sondern in ihr zeigen sich Aporien der Struktur neuzeitlicher politischer Organisation. Elemente und Ursprünge bekräftigt und entwickelt also die Einsichten aus Wir Flüchtlinge und erlaubt uns damit, noch einmal zu beobachten, wie Arendt das Marginale zum Zentralen – und die jüdische »Avantgarde« zur »Gemeinschaft der europäischen Völker« – in Beziehung setzt, indem sie beide als Bestandteile eines strukturierten historischen Prozesses behandelt. So wirft der frühe Aufsatz Wir Flüchtlinge mehrere Fragen auf, die ausschlaggebend für das umfassendere Projekt Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft sind. Er legt die methodologische Notwendigkeit nahe, eine transnationale Sichtweise einzunehmen, um einerseits zu zeigen, dass viele durch und durch moderne Phänomene die Überschreitung nationaler Grenzen beinhalten, und um andererseits die Aufmerksamkeit auf das Ausmaß der Probleme zu lenken, die sich aus der Krise des Nationalstaats ergeben. Eine Neuausrichtung des methodologischen Rahmens, die die Zentralität vermeintlich »marginaler« transnationaler Phänomene sichtbar macht, lässt auch die Bedeutung der Kategorien des »Menschlichen« und des Biopolitischen für unser Verständnis von extremer Gewalt und Genozid verstehen. Wie Agambens Arbeiten bezeugen, sind die bestimmenden Probleme und Figuren der Moderne, etwa das

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2. AN DEN GRENZEN DES EUROZENTRISMUS

nackte Leben, die Souveränität, der Ausnahmezustand und der Homo sacer, an den Rändern der Polis zu finden. Und doch hinterlässt Arendts früher Aufsatz auch eine nagende Sorge: Zu welcher Zeit und an welchem Ort genau haben »bloße menschliche Wesen« existiert? Diese Frage wird später auch Elemente und Ursprünge tangieren und die Verstrickung des Textes in ein koloniales Geschichtsbild aufzeigen.

Jenseits des menschlichen Begriffsvermögens: Eurozentrismus und der Diskurs des Nutzens

Arendts Vorstellung von Verstehen steht in einer komplexen Beziehung zu jener Kategorie des Menschlichen, der in ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus zentrale Bedeutung zukommt. Sie grenzt ihre Variante des Verstehens gegen die gängige Bedeutung des Begriffs ab, die sie in einer Buchrezension aus dem Jahr 1946 als »menschliches Begriffsvermögen« bezeichnet: »Die abartige Schlechtigkeit jener, die eine solche Gleichheit [wie in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern] errichtet haben, übersteigt das menschliche Begriffsvermögen.«21 Unter »menschlichem Begriffsvermögen« scheint Arendt die Eingliederung von Ereignissen in jenen erkennbar utilitaristischen Verständnisrahmen zu meinen, der »die eigentliche Grundlage« sei, »auf der Geschichte hervorgebracht wird« (Das Bild der Hölle, S. 317). Menschliches Begriffsvermögen ist deswegen unzureichend, weil der Totalitarismus gerade »die Transformation der menschlichen Natur selbst« beinhaltet; einen Wandel, der unter keinen utilitaristischen Zweck subsumiert werden kann und somit über jede vertraute Vorstellung des Menschlichen hinausgeht (Elemente und Ursprünge, S. 701). Canovan fasst Arendts Argument zusammen, weshalb die Kategorie des Menschlichen angesichts des totalitären Terrors unzulänglich werde: »Der totalitäre Angriff auf die menschliche Natur ist ein Versuch, etwas zu schaffen, das näher an der Natur ist, als Menschen es sein sollten. Dabei werden jene spezifisch menschlichen Eigenschaften ausgelöscht, die Menschen von Tieren unterscheiden, nämlich ihre Individualität und ihre Fähigkeit zu eigenständigem Handeln und Denken« (Canovan, Hannah Arendt, S. 25). Arendt begreift zwar die Vernichtung der Individualität als etwas, das sich durch totalitäre Gesellschaften hindurchzieht, sieht jedoch in den Lagern und im dort vollzogenen Genozid eine extreme Zuspitzung des totalitären Angriffs. Trotz des extremen Charakters dieses Angriffs sind Arendts Begriffe des Verstehens, des Menschlichen und des Totalitarismus auch für ihr Bild nicht-totalitärer Geschichten prägend, sofern es um die Grenzen des Menschlichen geht – und tatsächlich prägen nicht-totalitäre Geschichten (insbesondere die Geschichte des Imperialismus) auch ihren Totalitarismusbegriff. 21 Hannah Arendt, Das Bild der Hölle, in; dies., Wir Juden. Schriften 1932–1966, hier S. 316, Hervorhebung im Original.

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Wie in ihrem weitsichtigen, 1950 veröffentlichten Aufsatz »Sozialwissenschaftliche Methoden und die Erforschung der Konzentrationslager« deutlich wird, sind Arendts Vorstellungen des Menschlichen und des Verstehens  – oder der Vernichtung des Menschlichen und des menschlichen Verstehens  – ausschlaggebend für ihre Konzeption der Verbindungen zwischen dem totalitären Genozid und seinen Vorläufern.22 Da sich das System der Konzentrationslager, in dem Arendt das bestimmende und präzedenzlose Moment des Totalitarismus sieht, durch seinen »nichtutilitaristische[n] Charakter«, das Fehlen eines »Nützlichkeitskriteriums« auszeichne, könne es nicht zurückgeführt werden auf den »erklärten Zweck«, der sich in anderen Formen des Terrors zu erkennen gebe. Arendt schreibt: »Der Weg zur totalen Beherrschung durchläuft viele Zwischenstationen, die vergleichsweise normal und noch verstehbar sind. Einen Angriffskrieg wird man wohl kaum als beispiellos bezeichnen; auch das Niedermetzeln feindlicher Zivilbevölkerungen oder gar eines vermeintlich feindlich gesonnenen Volkes ist, wenn man die blutigen Zeugnisse der Geschichte betrachtet, nichts Außergewöhnliches; überall in Amerika, Australien und Afrika wurden im Zuge der Kolonisierung und dem Vormarsch der Siedler Eingeborene ausgerottet; Sklaverei ist eine der ältesten Einrichtungen der Menschheit, und Staatssklaven, die zur Ausführung öffentlicher Arbeit eingesetzt wurden, stellen einen der Hauptpfeiler des Römischen Imperiums dar. Sogar das […] Streben nach Weltherrschaft ist kein Monopol totalitärer Regime, man kann diesen Wunsch immer noch aus einer maßlos übertriebenen Gier nach Macht erklären.« (Sozialwissenschaftliche Methoden, S. 328)

Im Gegensatz zu solchen Erscheinungen lägen »das Schicksal der europäischen Judenheit« und »die Errichtung von Tötungsfabriken […] jenseits antisemitischer Gedankengänge und jenseits der politischen, sozialen und ökonomischen Motive, wie sie die Propaganda antisemitischer Bewegungen prägen« (Sozialwissenschaftliche Methoden, S. 332). Der Versuch, das Neue einer historischen Erfahrung zu begreifen, erfordert unsentimentale Unterscheidungen, wie Arendt sie einführt. Des Weiteren kann die Einsicht, dass extreme und präzedenzlose Formen von Gewalt aus dem Normalen und Alltäglichen hervorgehen können, nicht nur erkenntnistheoretisch produktiv sein; sie geht auch mit dem entscheidenden Folgesatz einher, dass der Totalitarismus die historische Epoche seines Ausbruchs überdauern und in eine Art Schlummerzustand übergehen kann, seiner Wiederbelebung harrend. Wenn man anerkannt, dass einige Formen des Terrors aus der Geschichte vertraut sind, so muss das im Übrigen keine Relativierung dieses Terrors bedeuten. Am Ende ihres Aufsatzes schreibt Arendt: »Man muss […] begreifen, dass Hitler kein Dschingis Khan 22 Hannah Arendt, Sozialwissenschaftliche Methoden und die Erforschung der Konzentrationslager, in: dies., Wir Juden. Schriften 1932–1966, S. 326–345.

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und nicht schlimmer als irgendein anderer großer Verbrecher war, sondern absolut anders« (Sozialwissenschaftliche Methoden, S. 345). Indem Arendt darauf besteht, dass historische Differenz nicht unbedingt eine moralische Unterscheidung beinhalten muss, vermeidet sie das Abgleiten von einem Diskurs des Vergleichs in einen der Konkurrenz – was dann besonders wichtig ist, wenn die Diskussion von der Bewertung der Täter zur Anerkennung des Leidens der Opfer übergeht. Dennoch wirft die zitierte Passage auch Probleme auf, die unser Nachdenken über Viktimisierung betreffen und uns zur Frage des menschlichen Begriffsvermögens zurückführen. Was bedeutet es beispielsweise, die »Ausrottung von Eingeborenen« in die Kategorie des »vergleichsweise Normalen und noch Verstehbaren« zu verweisen? Einerseits ist klar, worauf Arendt hinauswill: Sie möchte, zu Recht oder zu Unrecht, die Vorstellung vermitteln, dass es sich bei der Kolonisierung um ein erklärbares, auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül beruhendes Unterfangen handelt, das Massaker und sogar Genozide zur Folge hat. Das ist nicht als Rechtfertigung der Kolonisierung und ihrer Folgeerscheinungen gedacht, sondern als faktenorientierte Aussage darüber, was das Streben nach Wohlstand und Macht beinhaltet. Andererseits gleitet die Feststellung, dass das Fehlens eines Kosten-Nutzen-Kalküls eines der Elemente darstellt, die den Holocaust von anderen Genoziden und »Vernichtungen« unterscheiden, leicht in weniger objektive Urteile ab, die einigen Formen des Mordens »Rationalität« zuzugestehen scheinen.23 Die Einschätzung des Kolonialismus als utilitaristisch verschließt auch die Augen vor einigen wesentlichen Befunden der Elemente und Ursprünge. Die Art und Weise, in der Arendt in diesen frühen Aufsätzen die Besonderheit des nationalsozialistischen Genozids bestimmt, ist zu einem gängigen Bestandteil zeitgenössischer Diskurse über die Einzigartigkeit des Holocaust geworden. Beispielsweise nennt Yehuda Bauer, einer der bedeutendsten Historiker der Shoah, die »unpragmatisch[e] und irrational[e]« Ideologie des nationalsozialistischen Antisemitismus als einen Faktor, der zu einer »präzedenzlosen Form des Völkermords« geführt habe.24 Bauers Formulierung scheint eine bedeutende Eigenschaft des Holocaust auf den Punkt zu bringen – niemals würde man diesen als »rational« bezeichnen wollen –, und doch fragt man sich, wer darüber entscheidet, was als pragmatisch und rational gilt. Diese begriffliche Unschärfe wird dann besonders wichtig, wenn die Frage des Vergleichs ins Spiel kommt. Die Ermordung der Juden und Jüdinnen wird als irrational angesehen, doch die Ermordung anderer Gruppen beschreibt Bauer durchweg als »pragmatisch«. Er betont zwar (zweifellos aufrichtig), dass solche Unterscheidungen keine »Hierarchie des Leids« suggerieren sollen (S. 74), doch es ist 23 Dan Diner prägt den Begriff der »Gegenrationalität« (counter-rationality) zur Bezeichnung einer Perspektive, die Genozid weder als rational »rechtfertigt« noch menschlicher Rechenschaft dadurch entzieht, dass sie ihn als irrational kennzeichnet. Siehe Dan Diner, Beyond the Conceivable: Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust, Berkeley 2000, S. 130–137. 24 Yehuda Bauer, Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt a. M. 2001, S. 66.

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schwierig, die Zuschreibung von Pragmatismus und Rationalität nicht als wertend zu verstehen. Das Problem ist, dass der Nutzen als Kriterium die Frage nach der Perspektive aufwirft. Aus welcher und aus wessen Perspektive ist etwas nützlich im Sinne eines Kosten-Nutzen-Kalküls? Bauer schreibt beispielsweise: »Dem Völkermord an den Armeniern, der möglicherweise die nächstliegende Parallele zur Shoah darstellt, lagen politische und chauvinistische Motive zugrunde, das heißt, er hatte eine sachliche Basis. […] Die Armenier, ein ›fremdes‹ Volk, besetzten einen Teil Anatoliens, des Kernlands der Türkei. Deswegen sollten sie beseitigt werden« (S. 69). Zwar gibt es offenkundige geografische, kulturelle und politische Unterschiede zwischen den europäischen Juden und den Armeniern im Osmanischen Reich, doch es fällt schwer nachzuvollziehen, weshalb die Eliminierung einer »fremden« Gruppe irrationaler als die einer anderen sein soll, oder weshalb die Motive für den Holocaust nicht als »politisch und chauvinistisch« beschrieben werden können. Die Definition eines Vernichtungsakts als pragmatisch, und damit als rational, wird immer ideologisch sein. Akzeptiert man die Behauptung, bestimmte Massaker seien pragmatisch, dann akzeptiert man oft auch die Begrifflichkeit und Weltsicht der Täter  – wie Bauer es tut, wenn er sich zum Sprachrohr der türkischen Täter macht (»Deswegen sollten sie beseitigt werden«). Bauer und andere sind bereit, diese Definition auf alle Genozide außer den Holocaust anzuwenden. Der Rückgriff auf Pragmatismus und Kosten-Nutzen-Kalküle als Maßstäbe historischer Unterscheidung setzt in diesem Fall europäische Bewertungsrahmen voraus: Der Holocaust ist einzigartig, wenn man von modernen europäischen Rationalitätskriterien ausgeht. Nimmt man eine andere Perspektive ein, etwa die der Opfer, dann ist es kaum relevant, ob der Holocaust auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül beruhte oder nicht. Die Zuschreibung von Motiven wirkt sich auf die Ergebnisse genozidaler Vorgänge nicht aus.25 Schlimmer noch: Der Pragmatismusdiskurs bestätigt und reproduziert orientalistische und kolonialistische Ideologien. So schreibt die Forscherin Jodi Byrd, die dem nordamerikanischen Stamm der Chickasaw angehört, in ihrer Antwort auf ähnliche Bemerkungen von Deborah Lipstadt, in der diese den Holocaust von Genoziden an indigenen Völkern abgrenzt: »Was bei einer solchen Konkurrenz um den ›wahren‹ Genozid mit den amerikanischen Ureinwohnern geschieht, ist, dass sie wieder einmal zu den ›logischen‹, wenngleich tragischen Opfern der Modernisierung werden, die dem Fortschritt im Weg stehen.«26 Für Arendt ist die Frage nach Kosten-Nutzen-Kalkülen weitaus komplizierter als für Bauer und andere zeitgenössische Vertreter der Singularitätsthese. Was den möglichen Nutzen der Lager angeht, scheint sie zu schwanken. In Elemente und 25 Eine ähnliche Beobachtung macht Shiraz Dossa, The Public Realm and the Public Self: The Political Theory of Hannah Arendt, Waterloo 1989, S. 34. 26 Jodi A. Byrd, »Living My Native Life Deadly«: Red Lake, Ward Churchill, and the Discourses of Competing Genocides, in: American Indian Quarterly 31 (2007) 2, S. 310–332, hier S. 329.

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Ursprünge schreibt sie: »Die Unzweckmäßigkeit der Lager, ihre zynisch zugestandene Zweckwidrigkeit, ist nur scheinbar. In Wahrheit dienen sie effektiver der Aufrechterhaltung der Macht des Regimes als jede andere seiner Institutionen« (S. 697). Weit davon entfernt, nutzlos zu sein, sind die Lager also ein notwendiger Bestandteil des Drangs totalitärer Regime zur intensiven, totalen Herrschaft. Arendt betont, dass die Frage nach dem Nutzen eine der Perspektiven ist, und übernimmt, um dies zu verdeutlichen, sogar die Sprache des Totalitarismus: »Den verzweifelten Hinweisen des gesunden Menschenverstandes auf die Überflüssigkeit der gigantischen Apparatur des Terrors gegen ganz und gar fügsame Menschenmassen könnten die totalen Machthaber, wenn sie die Wahrheit sagen wollten, antworten: Dieser Apparat erscheint euch nur überflüssig, weil er der Überflüssigmachung von Menschen dient« (S. 699). Weil Arendt betont, dass sie die Sprache der totalitären Herrscher gebraucht, bleibt ihr Ansatz kritisch, wohingegen Bauer in die Sichtweise der Täter abzugleiten droht. Entscheidend ist: Arendt besteht zwar darauf, dass sich die den Totalitarismus befördernden Werte nicht auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül zurückführen lassen, erkennt dabei aber zugleich an, dass die Frage nach dem Nutzen eine des »gesunden Menschenverstandes«, also des »menschlichen Begriffsvermögens« ist. Ein solcher Begriff von Sinn und Verstehen setzt jenes Bild des Menschlichen als gegeben voraus, das der Totalitarismus (und, wie wir gleich sehen werden, selbst der Imperialismus) irrelevant werden lässt. Nur wenn er über die Grenzen des gesunden Menschenverstands hinausgetrieben wird, kann ein Diskurs des Nutzens oder des Menschlichen relevant bleiben. Dies zu bestimmen ist jedoch eine schwierige Herausforderung, der selbst Arendt nicht immer gewachsen ist. Der frappierendste Unterschied zwischen Arendt und den meisten, die die Einzigartigkeit des Holocaust in dessen Irrationalität oder Zweckfreiheit zu erkennen meinen, besteht darin, dass Arendt die Ursprünge des nicht-utilitaristischen oder besser post-utilitaristischen Denkens im Imperialismus verortet, insbesondere im »Wettlauf um Afrika«. Arendts Darstellung der Geschichte der Buren im Kapitel »Rasse und Bürokratie« dient als Genealogie des Antagonismus zwischen utilitaristischen Rationalitätsvorstellungen und den Grundlagen des »Rassenstaates«. Dabei werden die wichtigsten Zusammenhänge zwischen dem Kolonialismus und dem nationalsozialistischen Genozid bestimmt. Die Buren waren die »ersten Kolonialmenschen, die sich nie wieder in normale europäische Verhältnisse hätten schicken können, weil ihnen das grundsätzliche Ethos des Europäers, der in einer von ihm selbst mitgeschaffenen und dauernd mitveränderten Welt lebt, nicht mehr begreiflich war« (Elemente und Ursprünge, S. 318). Bestimmt von »wirkliche[r] Bodenlosigkeit« und der »Verachtung aller Wertungen, die dem Erarbeiteten und Geleisteten entspringen und gegen welche die natürlich-physische, von Geburt vorbestimmte Gegebenheit als einzig Absolutes gesetzt wird«, haben die Buren ihre Bereitschaft bewiesen, »Produktivität und Profit der Phantomwelt weißer Götter« zu opfern, »die über schwarze Schatten herrschen«. Insofern unterscheiden sie sich von den Briten in Südafrika, die sich durch ihre »einfache utilitaristische Denkweise« auszeichnen

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(Origins, S. 197). Tatsächlich blieben in dieser Hinsicht »die Buren die unbestrittenen Herren des Landes […]. Wo immer rationale Berechnung von Arbeits- und Produktionskosten in Konflikt geriet mit rassischen Erwägungen, wurde die erstere den letzteren geopfert« (Elemente und Ursprünge, S. 333). Canovan fasst das von Arendt in diesem Abschnitt der Elemente und Ursprünge formulierte Argument folgendermaßen zusammen: »Südafrika hat gezeigt, dass es möglich ist, die moderne Gesellschaft nach durchaus unökonomischen, ›rassischen‹ Prinzipien zu organisieren. […] Der Imperialismus beginnt zwar nach Arendts Darstellung mit der Unterwerfung der Politik durch die bürgerliche Ökonomie, doch er gipfelt in der Aufgabe ökonomischer Imperative zugunsten der schieren Gewalt von Männern, die eine neue Form von Gemeinschaft, eine auserwählte ›Rasse‹ entdeckt haben« (Canovan, Hannah Arendt, S. 38 f.). Diese Dialektik von Nutzen und Nicht-Nutzen, die sich in der Begegnung Europas mit seinen Anderen entfaltet hat, verleiht dem Begriff des Nutzens in Arendts Arbeiten einen anderen Charakter, als er in den Arbeiten vieler späterer Forscher zum Vorschein kommt. Bei Bauer ist der Nicht-Nutzen des Holocaust eines der wichtigsten Indizien für dessen Singularität sowie einer der Faktoren, der die Ermordung der Juden und Jüdinnen von Massakern an überwiegend nicht-europäischen Gruppen absetzt: »Es wäre überflüssig, die Motive für die Vernichtung der Kariben durch die Spanier oder für den Völkermord an den mexikanischen und peruanischen Indios zu analysieren – hier war eindeutig die Suche nach Gold und natürlichen Reichtümern das zentrale Motiv, die Bekehrung zum Christentum dagegen lediglich der ideologische ›Überbau‹« (Bauer, Die dunkle Seite der Geschichte, S. 71). Bauers Beschwörung einer Logik der Selbstverständlichkeit (stets ein sicheres Zeichen, dass Ideologie am Werk ist) liegt fernab der Einsichten Arendts, für die bereits die Möglichkeit eines »nicht-utilitaristischen« Genozids aus europäischen Praktiken im außereuropäischen Raum erwächst. In Übereinstimmung mit Arendts in Elemente und Ursprünge unternommenem Versuch, nicht etwa eine deterministische Kausalität zu entwerfen, sondern die Kristallisierung jener Elemente aufzuzeigen, die zum Totalitarismus geführt haben, wird die Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Imperialismus als »indirekt« bezeichnet. Doch die ausschlaggebende Idee, »daß die Profitrechnung kein ehernes Gesetz der Wirtschaft ausmacht, sondern ohne katastrophale ökonomische Folgen außer acht gelassen [werden kann]«, war eine wichtige Lektion, die »Südafrika […] den Mob [lehrte]« (Elemente und Ursprünge, S.  335). Indem sie die Entwicklung einer nicht-utilitaristischen Vernichtungsdynamik auf die Expansion Europas über seine Grenzen hinaus zurückführt, schafft Arendt die Möglichkeit einer nicht-eurozentrischen Holocaustforschung, die europäische Kategorien des Nutzens und der Menschlichkeit nicht als gegeben voraussetzt. Ihr Beispiel legt vielmehr die Notwendigkeit nahe, solche Kategorien der doppelten historischen Prüfung des Imperialismus und des Genozids zu unterziehen. Diese Einsicht ist auch auf ihre eigenen Texte anzuwenden.

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Bevor ich Arendts Kategorien an den von ihr selbst gesetzten Maßstäben messe, möchte ich noch einmal zusammenfassen, was wir bisher über Arendts Begriffe des Verstehens und des Menschlichen im Kontext von Imperialismus und Genozid erfahren haben. Arendts Aufgabe besteht darin, eine politische Bewegung zu erklären, die sich dem menschlichen Begriffsvermögen dadurch entzieht, dass sie fortlaufend Vernichtung produziert. Was sie als menschliches Begriffsvermögen bezeichnet, entspricht Ereignissen und Handlungen, deren Motive sich unter Rückgriff auf utilitaristische oder auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül beruhende Überlegungen erklären lassen. Historische Ereignisse und politische Projekte wie der Holocaust, die keiner utilitaristischen Logik gehorchen, entziehen sich somit diesem Begriffsvermögen. Solche Ereignisse sind Arendt zufolge nicht mystischer oder heiliger Natur. Erscheinungen, die sich dem menschlichen Begriffsvermögen versagen, verlangen vielmehr nach jener Form paradoxen Verstehens, die Arendt als die Realität konfrontierend und zugleich sich ihr widersetzend beschreibt. Solch paradoxes Verstehen beinhaltet also das Zersetzen von Erscheinungen und die Neuzusammensetzung der Fragmente in Form von Konstellationen. Die fragmentarische Historiografie von Konstellationen ahmt nicht das lineare und kausale Denken jener utilitaristischen Logik nach, die menschlich begreifbaren Handlungen zugrunde liegt. Fragmentarische Historiografie versucht vielmehr, die Brüche mit der Normalität und innerhalb dieser zu begreifen, die extrem gewaltsame Handlungen auszeichnen. Arendt gebraucht diese Unterscheidung zwischen dem, was menschlichem Begriffsvermögen zugänglich ist, und dem, was sich ihm entzieht, um den Holocaust als Kern des Totalitarismus von allen früheren Formen extremer Gewalt und Unterdrückung abzugrenzen. Gleichzeitig verortet sie diesen nicht-utilitaristischen Genozid allerdings in einer Konstellation, zu der auch die Entwicklung einer hierarchischen »Rassengesellschaft« in Südafrika gehört. Der Imperialismus ist eine Vorbedingung des Holocaust, auch wenn Arendt grundsätzlich zwischen den beiden unterscheidet. Extreme Ereignisse entziehen sich zwar dem menschlichen (das heißt: dem gewöhnlichen) Begriffsvermögen, es geht bei ihnen aber dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) darum, die Grenzen des Menschlichen zu bestimmen. Extreme Ereignisse sind für Arendt solche, die uns mit dem Menschlichen in Reinform konfrontieren, mit »bloßen menschlichen Wesen«. Die Konturen des Menschlichen zu umreißen wird somit zu einem Schlüssel für das Verständnis des Totalitarismus und des Holocaust. Nach Arendts Auffassung haben »bloße menschliche Wesen« keinen Anteil an einer gemeinsamen, universellen Menschlichkeit, sondern sie stellen einen Extremfall der Isolation und Verwundbarkeit dar. Das bloße menschliche Wesen ist in der Zone jenseits des menschlichen Begriffsvermögens verortet. Der KZ-Häftling – insbesondere jene fast tote, zombiegleiche Gestalt, die in den Lagern als Muselmann bekannt war – und der staatenlose Flüchtling sind die Manifestationen eines neuen Menschentyps; sie sind das nackte Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden kann. Das Schicksal der »abstrakten, nackten« Menschheit zu begreifen erfordert eine Form des Verstehens, die sich der Brüche innerhalb des Menschlichen bewusst

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ist. Die Herausforderung, ein Verständnis jenes Menschlichen zu entwickeln, das sich menschlichem Begriffsvermögen entzieht, ist Ausgangspunkt des von Arendt in Elemente und Ursprünge verfolgten Vorhabens. Wenn aber das Holocaust-Opfer jene Herausforderung versinnbildlicht, was ist dann mit dem Opfer der kolonialen »Rassengesellschaft«? Wie kommt es, dass diese Figur weder Arendts noch Agambens Nachdenken über das nackte Leben inspiriert? Wenn nach dem Verhältnis dieser beiden Opferfiguren gefragt wird, dann geht es dabei weder darum, auf eine Gleichsetzung ihrer Erfahrungen oder Geschichten hinzuarbeiten, noch darum, sie im Sinne der Opferkonkurrenz gegeneinander auszuspielen. Es sollen vielmehr jene Kategorien auf den Prüfstand gestellt werden, anhand derer Arendt die beiden Gestalten zueinander in Beziehung setzt und voneinander unterscheidet. Ich denke, dass die Gestalt des Kolonisierten für die Untersuchung des nationalsozialistischen Genozids in Elemente und Ursprünge eine wesentliche Rolle spielt, allerdings scheint sich diese Rolle selbst Arendts radikaler Form des Verstehens zu entziehen.

Die koloniale Begegnung und das Trauma der »Rasse« Arendt begreift die Entstehung der »Rassen«-Gesellschaft (das heißt einer wesentlich durch rassistische Hierarchien strukturierten Gesellschaft) in den Kolonien als ausschlaggebende Etappe auf dem Weg zur Vernichtung innerhalb Europas. Die Frage der »Rasse« und des Rassismus, sowohl in den Elementen und Ursprüngen als auch in den von so bedeutenden Forschern und Forscherinnen wie Canovan dazu verfassten Kommentaren, wird durch die eigenartige Weise verkompliziert, in der Arendt die Entstehung der »Rassen«-Gesellschaft aus der Begegnung von Europäern und Afrikanern beschreibt.27 Ihre Darstellung der kolonialen Begegnung reproduziert jene grund27 Indem ich die Frage nach Arendts Darstellung von »Rasse« aufgreife, begebe ich mich auf ein hochgradig aufgeladenes Terrain. Es gibt in dieser Frage eine klare Spaltung unter Arendts Interpreten. Robert Bernasconi, Shiraz Dossa, Anne Norton und William Pietz zählen zu denen, die sich gegenüber Arendts »Rassen«-Begriff durchaus kritisch geäußert haben, wohingegen sie von Forschern wie Canovan, Benhabib und Young-Bruehl gegen die Vorwürfe des Rassismus und der Unsensibilität in »Rasse«-Fragen in Schutz genommen worden ist. Ich stütze mich zwar wesentlich auf diese zweite Gruppe, glaube aber dennoch, dass Bernasconi, Dossa, Norton und Pietz recht haben, wenn sie einige von Arendts Schriften als rassistisch beschreiben. Ich glaube nicht, dass dies Arendts Beiträge zu unserem Nachdenken über Imperialismus, Totalitarismus oder, in der Tat, »Rasse« disqualifiziert, glaube aber wohl, dass deren rassistische Aspekte weder ignoriert noch entschuldigt, sondern vielmehr in die Analyse integriert werden sollten. Siehe zusätzlich zu den bereits genannten Werken: William Pietz, The »Post-Colonialism« of Cold War Discourse, in: Social Text 19/20 (1988), S. 55–75; Anne Norton, Heart of Darkness: Africa and African Americans in the Writings of Hannah Arendt, in: Bonnie Honig (Hrsg.), Feminist Interpretations of Hannah Arendt, Pittsburgh 1995, S. 247–261. Der von Richard H. King und Dan Stone herausgegebene Sammelband: Hannah Arendt and the Uses of History: Imperialism, Nation, Race, and Genocide, Oxford/ New York 2007, der nach der Niederschrift dieses Kapitels erschienen ist, versammelt eine

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legenden Ambivalenzen, die auch einen der wichtigsten Quellentexte ihres Kapitels »Rasse und Bürokratie« kennzeichnen: Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis, von Arendt als »das aufschlussreichste Werk über die tatsächliche Rasseerfahrung in Afrika« beschrieben (Origins, S. 185, Fn.).28 Für Arendt wirft Conrads Text ein Licht auf das Bild der kolonialen als einer traumatischen Begegnung. In unserer postkolonialen Situation erscheint es uns zunächst wenig überraschend, dass der Kolonialismus ein Trauma produziert, doch Arendt hat etwas anderes im Sinn. Das Trauma liegt nicht auf der Seite der Kolonisierten, sondern auf der des Kolonisators: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Rassendenken zusammen mit anderen unverantwortlichen Meinungen des 19. Jahrhunderts zu gegebener Zeit verschwunden wäre, wenn der ›scramble for Africa‹ und die neue Ära des Imperialismus die westliche Menschheit nicht neuen und schockierenden Erfahrungen ausgesetzt hätten. […] ›Rasse‹ war der Notbehelf zur Erklärung jener Menschen, die kein europäischer oder zivilisierter Mensch verstehen konnte und deren Menschlichkeit die Einwanderer so erschreckte und erniedrigte, dass sie nicht mehr zur selben menschlichen Spezies gehören wollten. ›Rasse‹ war die Antwort der Buren auf die überwältigende Ungeheuerlichkeit Afrikas – ein ganzer Kontinent, der von Wilden bevölkert und überbevölkert war – eine Erklärung für den Wahnsinn, der sie erfasste und erleuchtete wie ›ein Blitz aus heiterem Himmel: Alle die Hunde ausrotten! [Exterminate all the brutes]‹.« (Origins, S. 183–185)29 Reihe relevanter Aufsätze, die meinen eigenen Ansatz ergänzen. Siehe insbesondere Kings und Stones nützliche Zusammenfassung der Positionen in der Debatte um Arendts Darstellung Afrikas: dies., Introduction, in: ebenda, S. 9–11; Robert Bernasconi, When the Real Crime Began: Hannah Arendt’s The Origins of Totalitarianism and the Dignity of the Western Philosophical Tradition, in: ebenda, S. 54–67; Kathryn T. Gines, Race Thinking and Racism in Hannah Arendt’s The Origins of Totalitarianism, in: ebenda, S. 38–53. 28 Die Fußnote fehlt zwar in der deutschen Ausgabe der Elemente und Ursprünge, allerdings findet sich dort auf S. 309 eine ähnliche Formulierung: »Joseph Conrads Erzählung ›Das Herz der Finsternis‹ ist jedenfalls geeigneter, diesen Erfahrungshintergrund [sc. den der europäischen Kolonisatoren in Afrika] zu erhellen, als die einschlägige geschichtliche oder politische oder ethnologische Literatur« (Anm. d. Übers.). 29 Dieser Passus aus der englischen Ausgabe von Elemente und Ursprünge ist hier neu übersetzt worden, da Arendts eigene, für die deutsche Ausgabe angefertigte Übersetzung stark vom englischen Ausgangstext abweicht. In der deutschen Ausgabe heißt es: »Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ohne den ›scramble for Africa‹ und die neuen erschütternden Erfahrungen, welche in ihm der europäischen Menschheit zugemutet wurden, die rassische Weltanschauung eines ebenso natürlichen Todes gestorben wäre wie andere Weltanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts. […] Der in Afrika beheimatete Rassebegriff war der Notbehelf, mit dem Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht nur nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren. Der Rassebegriff der Buren entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle faßbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten« (Ursprünge, S. 306–308). Das abschließende Conrad-Zitat fehlt (Anm. d. Übers.).

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Einerseits lädt Arendts eigenwillige Darstellung der kolonialen Begegnung dazu ein, bestimmte Theorien der Moderne, die den Schock in den Mittelpunkt der neuzeitlichen Erfahrung stellen, wie etwa Benjamin, neu zu überdenken.30 Bei Benjamin bezeichnet der Schock eine Erfahrung innerhalb der europäischen Moderne, wohingegen Arendt diese im emphatischen Sinn moderne Erfahrung in jener Begegnung mit der Peripherie zu erkennen meint, aus der, als »Notlösung«, die zentrale moderne Kategorie der »Rasse« hervorgeht, und die die Möglichkeitsbedingungen von Vernichtung und Holocaust schafft. Andererseits setzt Arendts Erzählweise ihre Theorie gerade nicht dem aus, was an der kolonialen Begegnung tatsächlich schockierend und traumatisch ist, sondern sie marginalisiert durchweg die (dennoch anerkannte) koloniale Gewalt, reproduziert scheinbar die Begriffe des kolonialen Diskurses (»menschliche Stämme«, »Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen«) und vermittelt eine homogenisierte Vorstellung des Europäischen. Ihrem methodologischen Interesse an Konstellationen, Kristallisationen und der Vermeidung linearer Narrative zum Trotz schwächen die einheitliche narrative Perspektive und die Tatsache, dass nur der europäischen Sicht narratives Sprechen zugestanden wird, die möglichen traumatischen Auswirkungen jenes »Niedermetzelns feindlicher Zivilbevölkerungen« und jener »Ausrottung von Eingeborenen« ab, die Arendt doch deutlich erkennt.31 Hier wendet sie Benjamins in den geschichtsphilosophischen Thesen formulierte Einsicht in die ko-konstitutive Begegnung von »Zivilisation« und »Barbarei« nicht konsequent an. Anstatt die Kategorien der Zivilisation und der Barbarei als Konstellation zu begreifen, verwandelt Arendt sie in ein Fortschrittsnarrativ, ihrem eigenen Misstrauen gegenüber solchen Erzählformen zum Trotz. Wie der am Ende der oben zitierten Passage angeführte Ausspruch aus Herz der Finsternis belegt, ist Arendts Darstellung der erschrockenen und gedemütigten Europäer durch und durch von Conrad geprägt. Arendts Beeinflussung durch Conrad hat besondere Folgen für den Zusammenhang von Verstehen und Menschlichem.32 In 30 Siehe Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 605–653. 31 Damit ist nicht gesagt, dass wir die Möglichkeit dessen ausschließen sollten, was LaCapra »Tätertrauma« (perpetrator trauma) nennt. LaCapra weist darauf hin, dass man die Traumatisierung von Tätern durch deren Taten anerkennen kann, ohne Täter deswegen als Opfer zu begreifen. Siehe LaCapra, History and Memory After Auschwitz, S. 41. 32 Das abschließende Conrad-Zitat entstammt: Joseph Conrad, Herz der Finsternis, in: ders., Geschichten vom Hörensagen, Frankfurt a.  M. 1959, S. 41–135, hier S. 101. Siehe auch die Erörterung, inwiefern Arendt Conrads – und Hegels – Ansicht übernimmt, Afrika entbehre einer Geschichte und Kultur, in Richard H. Kings gelungenem Buch Race, Culture, and the Intellectuals, 1940–1970, Baltimore 2004, S. 116 f. King »gesteht«, er sei »erstaunt, dass Arendt solche Ansichten äußern konnte« (S. 117), doch meiner Lesart zufolge sind Vorstellungen dieser Art struktureller Bestandteil ihrer Darstellung. Kings Analyse gleicht zwar darin meiner, dass sie den Verbindungen zwischen dem Mord an Afrikanern und Afrikanerinnen und dem Mord an nationalsozialistischen Häftlingen Aufmerksamkeit schenkt und darüber hinaus das »Paradox des westlichen Humanismus« hervorhebt, doch sie geht nicht der Begriffsbildung nach, die solche Verbindungen sowohl ermöglicht als auch zutiefst problematisch macht (S. 118 f.).

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einer berühmten Passage, die Arendt ausführlich zitiert, beschreibt Conrads Marlow, den man in der kolonialen Metropole angeheuert hat, um den wichtigsten Agenten eines Elfenbeinunternehmens aus den Kolonien zurückzuholen, seine Begegnung mit Afrikanern. Marlow bricht auf einem Dampfer in den Dschungel auf, um den verlorenen Agenten Kurtz zu suchen. Arendt leitet diese Passage ein, indem sie bemerkt: »Diese schemenhafte Welt [der ›Eingeborenen‹] erwies sich als eine unübertreffbare Kulisse für diejenigen, die der Zivilisation und damit der Wirklichkeit und Verantwortlichkeit ihrer eigenen Welt entronnen waren. […] [Die Europäer] waren […] auf Wesen gestoßen, die weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Ziele noch Leistungen kannten und ihnen daher genauso unverständlich blieben wie die Insassen eines Irrenhauses« (Elemente und Ursprünge, S. 315). »Der vorgeschichtliche Mann verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen  – wer mochte es sagen? Wir waren vom Verständnis unserer Umgebung abgeschnitten; wir glitten dahin wie Gespenster, erstaunt und heimlich entsetzt, wie es gesunde Menschen wohl vor einem Ausbruch der Begeisterung in einem Irrenhaus sind. Wir konnten nichts verstehen, weil wir zu weit weg waren, und konnten uns nicht erinnern, weil wir durch die Nacht der ersten Zeitalter dahinfuhren, der Zeitalter, die dahingegangen sind, kaum ein Merkmal hinterlassen haben – und keine Erinnerung. Die Erde wirkte unirdisch. Wir mögen es gewohnt sein, die hingestreckte Gestalt eines besiegten Ungeheuers zu betrachten  – hier aber sah man einem Ding ins Auge, das ungeheuerlich und frei war. Es war unirdisch, und die Menschen waren … Nein, sie waren nicht unmenschlich. Und seht ihr, das war das Schlimmste dabei – dieser Verdacht, daß sie eben nicht unmenschlich waren. Es überkam einen ganz langsam. Sie heulten und sprangen und drehten sich und schnitten furchtbare Gesichter; was einen aber peinigte, war der Gedanke an ihre Menschlichkeit, gleich der eigenen, der Gedanke, daß man mit diesem wilden und verzweifelten Aufruhr entfernt verwandt war.« (Conrad, Herz der Finsternis, S. 82)

Wie Arendts späterer Text bestätigt Herz der Finsternis die Menschlichkeit der Afrikaner und Afrikanerinnen und schließt diese Afrikaner und Afrikanerinnen zugleich von der heutigen Zivilisation, implizit aber auch von vergangenen Errungenschaften und zukünftiger Weltgestaltung aus. Die Darstellung dieser Begegnung stellt zwar für Europäer und Europäerinnen die Möglichkeit von Verstehen, Erinnerung, Narration und Selbstorientierung infrage, doch bleibt weiterhin ein am Fortschrittsbegriff ausgerichtetes Geschichtsverständnis am Werk, das Afrikanerinnen und Europäer in verschiedenen chronologischen Kontexten verortet. Die Europäer sind verblüfft über das, was sie auffinden, weil es sie vage an etwas erinnert, das sie vor langer Zeit hinter sich gelassen haben: »Wir konnten nichts verstehen, weil wir zu weit weg waren.« Handelt es sich beim ersten »Wir« um ein desorientiertes, an Amnesie leidendes Sub-

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jekt, dann kehrt im zweiten »Wir« ein modernes Subjekt zurück, dessen Ignoranz und Unfähigkeit zur Erinnerung es gerade als modern auszeichnen, als fähig, »gepeinigt« (im Original: »thrilled«) zu sein und nicht einfach nur überwältigt. Trotz der Gefahr des Unbehagens, die von der »entfernten Verwandtschaft« der Afrikaner suggeriert wird, fungieren Afrika und seine Einwohner letztlich als das erhabene Andere, das die Vernunft des europäischen Mannes bestätigt – vorausgesetzt, dass er nicht, wie Kurtz, »unter die Eingeborenen« geht und in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückfällt.33 Die Vorstellung des Menschlichen übernimmt hier eine besonders ärgerliche Funktion. Sowohl in Elemente und Ursprünge als auch in Herz der Finsternis spaltet sich die Vorstellung des Menschlichen im Zuge der Begegnung von Europa und Afrika: Die Anerkennung des Ungeheuers als menschlich setzt ein Narrativ der »entfernten Verwandtschaft« in Gang, das Afrikaner und Afrikanerinnen nur in den Text hereinholt, um sie hinter sich zu lassen. Tatsächlich gibt Arendt, kurz nachdem sie Conrad zitiert, dessen Position wieder, indem sie Afrikaner und Afrikanerinnen als Vertreter jener Vergangenheit zeichnet, die Europäer und Europäerinnen überwunden haben: »Was sie von anderen Menschen unterschied, war keineswegs ihre Hautfarbe, sondern die Tatsache, dass sie sich wie ein Teil der Natur verhielten, dass sie die Natur wie ihren unbestrittenen Herrn behandelten, dass sie keine menschliche Welt, keine menschliche Realität geschaffen hatten, und dass daher die Natur in ihrer ganzen Majestät die einzige überwältigende Realität geblieben war, im Vergleich zu der sie als Phantome, unwirklich und geisterhaft erschienen. Sie waren sozusagen ›natürliche‹ Menschen, denen der spezifisch menschliche Charakter, die spezifisch menschliche Realität fehlte, sodass die europäischen Männer, die sie massakrierten, dabei kein Bewusstsein davon hatten, Mord zu begehen.« (Origins, S. 192)34 33 Siehe Natalia Melas’ damit zusammenhängende Ausführungen zum »imperialen Vergleich«, in: dies., All the Difference in the World, insbesondere S. 52 f. 34 Auch diese Passage ist aufgrund der Abweichungen von deutscher und englischer Ausgabe anhand der englischen Ausgabe neu übersetzt worden. Vgl. Elemente und Ursprünge, S. 323: »Was sie von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten. Ihre Irrealität, ihr gespenstisch erscheinendes Treiben ist dieser Weltlosigkeit geschuldet. Da sie weltlos sind, erscheint die Natur als die einzige Realität ihres Daseins; und sie gibt sich selbst dem Beobachter als eine so überwältigende Realität  – mit weltlosen Menschen kann die Natur nach Belieben umspringen –, daß an ihr gemessen die Menschen etwas Imaginäres, Schattenhaftes, ganz und gar Unwirkliches annehmen. Das Unwirkliche liegt darin, daß sie Menschen sind und doch der dem Menschen eigenen Realität ganz und gar ermangeln. Es ist diese mit ihrer Weltlosigkeit gegebene Unwirklichkeit der Eingeborenenstämme, die zu den furchtbar mörderischen Vernichtungen und zu der völligen Gesetzlosigkeit in Afrika verführt hat« (Anm. d. Übers.).

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Das Hauptproblem an dieser Passage liegt nicht in Arendts abschließender Aussage bezüglich des fehlenden Bewusstseins der Europäer über ihr Morden – eine Aussage, die man als aus der Perspektive des Kolonisators formuliert lesen kann und die somit als etwas Wesentliches über die Möglichkeitsbedingungen von Genozid mitteilt. Das Problem liegt in jener Zweiteilung des Menschlichen, die aus Arendts Vorstellung resultiert, die Afrikaner und Afrikanerinnen hätten nie eine »menschliche Welt« konstruiert. Wie staatenlose Flüchtlinge und zum Tod verurteilte KZ-Häftlinge sind Afrikaner und Afrikanerinnen die inkludierte Exklusion, nacktes Leben. Oder, um es anders zu sagen: Ihre Inklusion im Reich des Menschlichen ist gerade die Quelle ihrer Exklusion. Doch die »Unbegreifbarkeit« Afrikas und der Afrikanerinnen ist anderer Art als die Europas mit seinen Flüchtlingen und Lageropfern. Arendt gesteht es zwar nicht ein, doch ihr Argument beruht auf der Annahme einer vorab gegebenen kulturellen Differenz, die den nötigen Abstand schafft, um das europäische Subjekt angesichts traumatischer Extreme zu schützen und zu erhalten. Unter Einsatz eines hegelianischen Verständnisses von Geschichte als geschriebener Praxis stellt Arendt Afrika durchweg als »vorhistorisch« und die Afrikaner und Afrikanerinnen als »vorhistorische Menschen« dar – als menschlich, aber nicht allzu menschlich. Die Kategorie des Imperialismus soll in Elemente und Ursprünge zwar nicht als Bestandteil eines Narrativs über die Entstehung des Totalitarismus dienen, sondern als ein der Kristallisierung harrendes Element, doch die Praxis des Imperialismus schreibt (Arendt zufolge) dennoch eine Geschichte des Fortschritts: Europa bringt dem natürlich menschlichen Afrika die Geschichte, in Form einer menschlichen Realität, die wiedererkennbar und unnatürlich, wenngleich auch brutal und genozidal ist.35 Eine der folgenreichsten Verbindungen, die Arendt zwischen Imperialismus und Holocaust herstellt, leitet sich von dieser Problematisierung des Menschlichen ab – eine Verbindung, die somit teilweise fragwürdig wird durch ihre Abhängigkeit von einer kolonialistischen Variante der Begegnung. Die am Fortschrittsbegriff ausgerichtete, narrative Dimension von Arendts Darstellung des Imperialismus und die dadurch produzierte Aufspaltung des Menschlichen liegen auch Arendts Vorstellungen von Totalitarismus sowie insbesondere von dem in den nationalsozialistischen Lagern hergestellten »neuen Menschentyp« zugrunde. Wenn der Imperialismus die tödliche Begegnung »natürlicher« Menschen mit der Zivilisation beinhaltet  – eine Begegnung, die das europäische Subjekt traumatisiert, letztlich aber stabilisiert  –, dann versucht der Totalitarismus, innerhalb des europäischen Raums eine Regression zu diesem natürlichen Zustand zu bewirken. Diese Codierung des Totalitarismus als Regression (spiegelbildlich zur narrativen Progression) wird noch bekräftigt durch Arendts Auseinandersetzung mit den pan-nationalistischen Bewegungen 35 In einer theoretischen Regression ihres fiktionalen Urtextes beschreibt Arendt Afrikaner und Afrikanerinnen als Phantome und Gespenster, obgleich diese Beschreibung bei Conrad durchgehend auf Europäer und Europäerinnen bezogen ist.

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Europas, deren Rassismus sie als vermittelnde Verbindung zwischen dem Imperialismus in Übersee und dem Nationalsozialismus begreift, als Ausdruck eines »völkischen Nationalismus« (Elemente und Ursprünge, S. 366–389).36 Diese Begrifflichkeit macht die metaphorischen Pfade erkennbar, die Arendts Theorie zurücklegt: Eine primitivistische Auffassung der Afrikaner und Afrikanerinnen wird erst auf die europäischen Kolonisatoren in Afrika, dann auf die kontinentalen Imperialisten in Europa und schließlich sowohl auf die Opfer als auch die Täter in den totalitären Lagern übertragen. In dem »Totalitarismus« überschriebenen Abschnitt der Elemente und Ursprünge bedient sich Arendt einer Sprache, die sowohl an Conrad als auch an ihre eigene Auseinandersetzung mit der kolonialen Begegnung erinnert; sie beschreibt das »eigentlich Grauenhafte der Lager […] nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte«: »Die Tötung der Individualität, der Einmaligkeit der menschlichen Person, die, zu gleichen Teilen von Natur, Willen und Schicksal gebildet, uns in ihrer unendlichen Verschiedenheit so selbstverständliche Voraussetzung aller menschlichen Beziehungen geworden ist, daß uns identische Zwillinge bereits ein gewisses Unbehagen verursachen, erzeugt ein Grauen, das über die Empörung der rechtlich-politischen und die Verzweiflung der moralischen Person weit hinausgeht. Hier setzen die nihilistischen Verallgemeinerungen des Konzentrationslagererlebnisses an, die, plausibel genug, behaupten, daß im Grunde alle Menschen die gleichen Bestien seien. In Wahrheit demonstrieren die Erfahrungen der Konzentrationslager, daß es in der Tat möglich ist, Menschen in Exemplare der menschlichen Tierart zu verwandeln, und daß die ›Natur‹ nur insofern ›menschlich‹ ist, als sie es dem Menschen freistellt, etwas höchst Unnatürliches, nämlich ein Mensch zu werden.« (Elemente und Ursprünge, S. 696)

Wenn Arendt die Lager als Ort der Auflösung und Umgestaltung des Menschlichen begreift, hat sie nicht nur die Opfer im Sinn. Wie in der kolonialen Begegnung – bei der sich der traumatische Schock der Konfrontation auf den Kolonisator auswirkt – schlägt das Grauen der Lager durch einen Bumerang-Effekt auf eben die Subjekte zurück, von denen die Lager eingerichtet worden sind. Der Unterschied zwischen den beiden Bumerang-Effekten bekräftigt allerdings die Aufspaltung des Mensch36 Canovan schreibt: »Diese Art von Nationalismus, die nicht auf die weltlichen Errungenschaften eines Volkes stolz war, sondern auf deren angeborene Seele, wird von Arendt als ›tribaler Nationalismus‹ bezeichnet und damit zu ihrer Gegenüberstellung der wurzellosen, ›natürlichen‹ Existenz von ›Wilden‹ und der von Menschen geschaffenen Welt der Zivilisation in Beziehung gesetzt.« Wie Canovan außerdem bemerkt, werden auch Juden und Jüdinnen auf analoge Weise als »wurzellos« and »weltlos« beschrieben (Canovan, Hannah Arendt, S. 39, 44). Obwohl sie gelegentlich Anführungszeichen verwendet, um sich von Arendts Begrifflichkeit abzugrenzen, hinterfragt Canovan die primitivistische Logik solcher Assoziationen im Allgemeinen nicht.

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lichen. In der kolonialen Situation wird das menschliche (das heißt: europäische) Potenzial durch das Spektakel der Wildheit auf verstörende Weise infrage gestellt, letztlich aber bestätigt, wohingegen hier das Unheimliche (das von Zwillingen verursachte Unbehagen) nicht in der erhabenen Rekonstitution des individualisierten modernen Subjekts mündet. Arendt verbindet die Tötung der Individualität des Häftlings mit der Eliminierung der Menschlichkeit der Mörder: mit der »absolut kalten, absolut berechneten und systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde […]. Die Lager […] wurden zu Exerzierplätzen, auf denen vollkommen normale Menschen zu vollgültigen Mitgliedern der SS erzogen wurden« (Elemente und Ursprünge, S. 695). Dieser Passus antizipiert nicht nur spätere Einsichten in die »ganz normalen Männer«, die sich am nationalsozialistischen Genozid beteiligt haben (siehe insbesondere Elemente und Ursprünge, S. 695–696, Fn.), sondern stellt auch die Weichen für eines von Arendts originellsten und erschreckendsten Argumenten zum Thema Totalitarismus: »Menschen, sofern sie mehr sind als reaktionsbegabte Erfüllungen von Funktionen, deren unterste und daher zentralste die rein tierischen Reaktionen bilden, sind für totalitäre Regime schlechterdings überflüssig. Worum es ihnen geht, ist nicht, ein despotisches Regime über Menschen zu errichten, sondern ein System, durch das Menschen überflüssig gemacht werden« (Elemente und Ursprünge, S. 698). Totalitärer Funktionalismus  – oder »Folgerichtigkeit«, wie Arendt sagt  – führt zum Versuch, eine überflüssiger Menschlichkeit bare Welt zu schaffen, die vollkommen dem »ideologischen Suprasinn« der Bewegung entspricht: »In der nur ideologischen Verachtung der Tatsächlichkeit einer gegebenen Welt, gegen die der gesunde Menschenverstand sich noch immer zu behaupten wußte, lag noch der menschliche Stolz, die gegebene Tatsächlichkeit meistern, für menschliche Zwecke einrichten und ändern zu können. Mit diesem Stolz gerade, der in der abendländischen Tradition zumindest mit zu der Würde des Menschen gehörte, ist es in der totalitären Welt vorbei; gerade diesen Stolz zerstört die zwangsläufige Stimmigkeit und Unentrinnbarkeit eines Suprasinns, der von menschlichem Trachten und Handeln ganz unabhängig bleibt« (Elemente und Ursprünge, S. 700). Für Arendt zeigt der Mikrokosmos der Lager das Narrativ des Eintritts des Menschen in die Menschlichkeit als zerbrechlichen Triumph über die Natur und das Tierische, der unter bestimmten (etwa totalitären) Umständen rückgängig gemacht werden kann. Diese Formulierung belegt die Aporie oder den unentscheidbaren, toten Punkt von Arendts Denken. Sie schwankt zwischen zwei Verständnissen des Menschlichen: einem, in dem das Tierische den Kern des Menschen ausmacht, und einem, in dem das Menschliche nur durch das Unnatürliche (das Nicht-Tierische) konstituiert werden konnte. Diese zwei Versionen des Menschlichen entsprechen jeweils den »Lektionen« der Abschnitte »Imperialismus« und »Totalitarismus« von Elemente und Ursprünge: In Afrika entdecken die Europäer »das menschliche Tier«, wohingegen sie in den Lagern des 20. Jahrhunderts entdecken, wie man den vertierten Menschen produziert. Wenn, wie Canovan behauptet, Arendts politische Vision aus der Erfah-

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rung des Totalitarismus heraus und als schroffer Gegensatz zu diesem entstanden ist, dann tangiert diese Aporie das Zentrum ihres Denkens. Der genuin menschliche Bereich, in dem Politik praktiziert werden kann, ist von zwei Seiten den Mächten der »Natur« ausgesetzt. Die Politik wird ebenso von der »natürlichen« Natur der nichteuropäischen Welt bedroht wie von der Schaffung eines zweiten Naturzustands durch die Krisen der modernen europäischen Welt. Diese Sichtweise ignoriert die konstituierende Rolle des Nicht-Europäischen bei der Schaffung des neuzeitlichen Europa und die Gelegenheiten für eine Neukonstituierung des Menschlichen, die aus diesem Raum erwachsen könnten. Zu eben dem Zeitpunkt, da die antikolonialen Kämpfe die Möglichkeit einer »dritten Natur« eröffnen, die die Welt neu gestalten könnte, jenseits des Kolonialismus und ohne das Phantasma einer Rückkehr zu vermeintlichen Vorzeit-Bedingungen, übersetzt Arendt die Eroberung der kolonialen Welt in die von dieser Welt ausgehende Bedrohung der Konstitution des Menschlichen als solcher.37 Das Verhältnis von Imperialismus und Totalitarismus ist in Elemente und Ursprünge noch enger, als Arendt anerkennt. Wie die obigen Arendt-Zitate verdeutlichen, nimmt die koloniale Differenz – das heißt die Unterscheidung zwischen dem natürlich und dem unnatürlich Menschlichen – die äußersten Grenzen der totalitären Barbarei der Lager vorweg: die »Tötung der Individualität« und die Weigerung, Mitmenschen und andere Nationen als »Miterrichter einer gemeinsamen Welt« (»cobuilders of a common world«: Origins, S. 458) anzuerkennen. Arendts Schilderung der Konzentrationslager beruht auf einer Unterscheidung, die sie der kolonialen Begegnung entnimmt. Doch sie ist nicht in der Lage, gänzlich anzuerkennen, dass jene Begegnung diese Unterscheidung überhaupt erst herstellt. Anstatt den traumatischen Charakter der physischen und epistemischen Gewalt des Kolonialismus als das zu begreifen, woraus der Gegensatz von natürlicher und unnatürlicher Menschlichkeit hervorgeht, scheint Arendt der Ansicht zu sein, dass die Afrikaner und Afrikanerinnen tatsächlich vom Projekt der Errichtung einer gemeinsamen Welt ausgeschlossen sind (vielleicht nicht ihrem Wesen nach, aber dennoch historisch und in absehbarer Zukunft). Die Logik ihres Arguments besagt, dass die Nationalsozialisten ihre Opfer (und selbst ihre eigenen Anhänger) zu jenen entindividualisierten Menschen machen, die die Afrikaner bereits sind. Diese Asymmetrie verleiht Arendts Darstellung eine verstörende Note, trotz der Überzeugungskraft und Originalität der Verbindung, die sie zwischen der von den Lagern und der vom Imperialismus verursachten Vernichtung herstellt. Arendt verwandelt die vermeintliche Abwesenheit bestimmter 37 Edward Said entwickelt in Culture and Imperialism, New York 1994, den Begriff einer »dritten Natur« als Ziel »antiimperialistischer Fantasie«. Said schreibt, in Anspielung auf die marxistische Vorstellung einer »zweiten Natur«, das heißt der kapitalistischen Produktion »einer bestimmten Art von Natur und Raum«: »In der antiimperialistischen Fantasie ist unser Heimatraum in den Peripherien von Außenstehenden usurpiert und für ihre Zwecke genutzt worden. Es ist daher notwendig, eine dritte Natur zu suchen, zu kartografieren, zu erfinden oder zu entdecken, die nicht ursprünglich und prähistorisch ist, […] sondern aus den Entbehrungen der Gegenwart hervorgeht« (S. 225 f.).

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Lebensformen (europäischer Kultur) in die Abwesenheit aller Kultur, und das, um zu bestimmen, was unter totalitären Bedingungen verloren geht (die Individualisierung der KZ-Häftlinge und der SS).38 Es ist natürlich an sich bereits enttäuschend, dass Arendt im Imperialismus nicht etwas erkennt, das aus Afrikanern und Afrikanerinnen auf eben die Weise nacktes Leben macht, in der dies der Nationalsozialismus mit den Juden und Jüdinnen getan hat. Womöglich reicht das Problem aber sogar noch weiter und tangiert Arendts Kategorie des Verstehens. Die Aufspaltung des Menschlichen in der kolonialen Begegnung ist von wesentlicher Bedeutung für Arendts Erklärung des Rassismus sowie der biopolitischen Welt der Lager, einer Welt, in der eine Zäsur innerhalb des Kontinuums des Lebens von der »Herrenrasse« zu einer Kategorie »lebensunwerten Lebens« geschaffen wird (oder, unter weniger extremen Umständen, zwischen dem mit Rechten ausgestatteten Bürger und dem aller Rechte beraubten Flüchtling). Die schwierige Frage, der es sich zu stellen gilt, lautet: Inwiefern beruht Arendts Kategorisierung des Holocaust (sowie anderer Aspekte des Totalitarismus), der sich menschlichem Begriffsvermögen entzieht, auf der Annahme, dass es einen Bereich des Menschlichen gibt, der jenseits menschlicher Kultur liegt? Um die Reduktion und Spaltung des Menschlichen zu erklären, zu der es im Totalitarismus kommt, muss Arendt eine solche Spaltung als Vorgang setzen, der sich bereits in der kolonialen Begegnung zeigt. Ihr Versuch zu erklären, wie diese Begegnung die besondere Bedeutung von »Rasse« und die Wucht des Rassismus produziert, beruht schlussendlich auf der Annahme, die »rassische« Differenz gehe der kolonialen Begegnung voraus. So trifft sie selbst innerhalb des Menschlichen jene Unterscheidung, die sie als eine von der kolonialen Begegnung und den Lagern produzierte vorzufinden glaubt. Wenn wir aber Arendts Genealogie des Nicht-Nützlichen in der Herausbildung der kolonialen »Rassen«-Gesellschaft ernst nehmen, dann wird die Ursache des NichtBegreifens näher bei uns selbst verortet, mit verstörenden Folgen. Es ist nicht die Konfrontation mit dem nackten Leben, die das Scheitern des Verstehens produziert, sondern es sind die Normen der europäischen Kultur sowie die in dieser Kultur wirkende Vorstellung des modernen Subjekts, aus denen die Paradoxien des Menschlichen hervorgehen. Am provokantesten an dieser Darstellung ist vielleicht die Möglichkeit, dass der von den Europäern in Afrika erfahrene »Schock« gerade auf den Universalismus und Humanismus aufklärerischen Denkens zurückzuführen sein könnte: eines Denkens also, das die Kolonisatoren eine Begegnung nicht mit dem Fremden, sondern mit dem Gleichen erwarten lässt. Gerade aus der Erwartung homogener Universalität heraus nimmt die Differenz traumatischen Charakter an.39 Die Kategorie der »Rasse« 38 Ich beziehe mich hier auf LaCapras nützliche Unterscheidung zwischen Abwesenheit und Verlust. Siehe Dominick LaCapra, Trauma, Absence, Loss, in: ders., Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2001. Die Unterscheidung spielt auch in meiner Analyse von Schwarz-Bart und Phillips (Kapitel 5) eine wichtige Rolle. 39 David Lloyds Ausführungen zum kolonialen Trauma setzen ebenfalls »Rasse«, Universalität und kulturelle Differenz zueinander in Beziehung, und das auf eine Weise, die Arendts Fall

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ist für Arendts Argumentation und historische Darstellung grundlegender, als sie zuzugeben bereit ist: Es handelt sich nicht lediglich um eine »Notlösung«, sondern um einen Ort, an dem sich die Not als Ausnahme mit der Norm vermischt.

Nacktes Leben und Bumerang-Effekt In einer Reihe in jüngerer Zeit erschienener Bücher, die sich mit der Biopolitik des »nackten Lebens« befassen, hat Giorgio Agamben dazu beigetragen, Arendts Darstellungen von Imperialismus und Genozid weiterzuentwickeln. Anders als die Auseinandersetzung mit Afrika in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft setzen Agambens Untersuchungen keinen vorab existierenden Bereich des nackten Lebens oder des Tierischen voraus. Beispielsweise stellt Agamben in seinem Buch Ausnahmezustand klar, dass es sich beim nackten Leben nicht um ein »natürlich biologisch Gegebenes«, sondern um »ein Produkt der [biopolitischen] Maschine« handelt.40 Weil er das nackte Leben nicht in einem vorab gegebenen Naturzustand verortet, kann Agamben Einsichten in die Nähe des nackten Lebens zu europäischen Normen der Souveränität und der Person entwickeln. Allerdings verbleibt seine genealogische Analyse der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Leben und Politik innerhalb Europas. Es ist bezeichnend, dass er sich an keiner Stelle mit den Abschnitten bei Arendt befasst, in denen es um jene koloniale Begegnung geht, die meiner Lesart zufolge ein Schlüsselmoment in der Entwicklung der Biopolitik darstellt (so ambivalent Arendts Darstellung auch sein mag). Agamben bietet nirgends eine Erklärung dafür, dass der Triumph der Biopolitik in der Neuzeit stattfindet – ein Triumph, der nach Arendt und jüngeren Arbeiten der Postcolonial Studies etwas mit »rassischer« Differenz sowie mit einer kolonialen Begegnung zu tun haben muss, die unsere Vorstellungen vom Menschlichen radikal verändert hat. Agamben zufolge wird »das Lager, dieser reine, absolute und unübertroffene biopolitische Raum (insofern er einzig im Ausnahmezustand gründet), als verborgenes Paradigma des politischen Raumes der Moderne erscheinen« (Homo sacer, S. 131). Diese Behauptung ist nicht nur provokant, sondern verstört auch dadurch, dass in ihr eine absolutistische/puristische Logik zu beobachten ist. Darüber hinaus tritt perfekt beschreibt: »Koloniale Gewalt ist überall eine rassifizierende Gewalt, die ihre Antagonisten als Gegenstände eines biologischen und kulturellen Minderwertigkeitsurteils produziert. Dieses Urteil beruht auf der unweigerlich universalisierenden Tendenz des Entwicklungsnarrativs, das zugleich kolonialen Zwang im Namen seines Menschenbildes legitimiert und, was für mein Argument hier noch wichtiger ist, in Bezug auf die Kolonisierten den Effekt einer Inkommensurabilität der Kulturen erzeugt. Diese Inkommensurabilität der Kulturen, die das Potenzial der kolonisierten Kultur bestreitet, sich autonom zu entwickeln, setzt dem Anspruch des Kolonisators, Vertreter einer universell gültigen Menschheitsgeschichte zu sein, eine absolute Grenze.« David Lloyd, Colonial Trauma/Postcolonial Recovery?, in: Interventions 2 (2000) 2, S. 212–228, hier S. 218 f. 40 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004, S. 103.

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in ihr eine Unfähigkeit zutage, die koloniale Begegnung als biopolitisches Ereignis zu denken. Wie Arendt und Conrad manchmal unbeabsichtigt zeigen, beruht die koloniale Begegnung auf einem als selbstverständlich verstandenen Ausnahmezustand, in dem keine »radikale Transformation der Politik in einen Raum des nackten Lebens« (Homo sacer, S. 128) erforderlich ist, weil der Kontakt mit Afrika für Europäer bereits eine solche Politik konstituiert. Agamben errichtet eine künstliche diskursive Mauer um »den Westen«, die ihn zum einen daran hindert, außereuropäische Kräfte als die Moderne konstituierend wahrzunehmen (ein Konstitutionsprozess, mit dem sich in den letzten Jahrzehnten ein ganzes Spektrum von Autoren und Autorinnen auseinandergesetzt hat, die zu Minderheiten und zur postkolonialen Situation arbeiten), zum anderen aber auch daran, einen Weg aus »der [biopolitischen] Maschine« zu finden, der nicht apokalyptisch ist. Agambens »Westen« ist ein »absoluter Ausnahmeraum«, der weder von innen noch von außen produktiv verwandelt werden kann, weil sein Aufstieg und Niedergang von einer heterogenen Globalgeschichte abgeschirmt bleiben. Sofern es sich Benjamins Methodologie der Konstellationen und Kristallisationen bedient, vermeidet Arendts Buch den absolutistischen Charakter von Agambens Argumentation sowie dessen extremen europäischen Exzeptionalismus – zwei Positionen, die miteinander zusammenzuhängen scheinen. Allerdings kann Arendt die Bedeutung der imperialen Begegnung in ihrer eigenen Deutung der Lager nicht vollends erklären. Dieses Desiderat zeigt sich erneut, wenn Arendt den potenziell weiterführenden Begriff kolonialer »Bumerang-Effekte« einführt.41 Als sie, im »Imperialismus« überschriebenen Abschnitt der Elemente und Ursprünge, den Zusammenhang von imperialer Politik und nationalsozialistischem Genozid explizit anspricht, reproduziert sie ungewollt gerade jene »rassische« Logik, die sie doch analysieren will. Zunächst deutet sie an, der Rassismus und Antisemitismus der Buren hätten, im Gegensatz zu ihrem anti-utilitaristischen Denken, »den Nazismus nur mittelbar [beeinflußt]«, habe es sich doch um »die gleichsam natürlichen Folgen ihrer eigenen unseligen Geschichte« gehandelt (Elemente und Ursprünge, S. 333). Dann gebraucht sie das Bild des Bumerangs, um jenem indirekten Einfluss Gestalt zu verleihen: »Es gab jedoch reale und unmittelbare Bumerang-Effekte der südafrikanischen Rassengesellschaft auf das Verhalten der europäischen Völker: Da man billige indische und chinesische Arbeitskräfte wie verrückt nach Südafrika importiert hatte, wann immer die einheimische Versorgung mit Arbeitskräften ins Stocken geraten war, kam es in Asien sofort zu einem Wandel in der Haltung gegenüber Nicht-Weißen. Die Menschen in Asien wurden erstmals fast genauso behandelt wie jene afrikanischen Wilden, die die Europäer buchstäblich zu Tode erschreckt 41 Für eine Erörterung der »Geschichte, Kritik und künftigen Tragbarkeit dessen, was als Arendts ›Bumerang‹-These bekannt geworden ist«, siehe King/Stone, Introduction, in: dies., Hannah Arendt and the Uses of History, S. 2–9.

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hatten. Der Unterschied bestand nur darin, dass es keine Entschuldigung und keinen menschlich nachvollziehbaren Grund dafür geben konnte, Inder und Chinesen so zu behandeln, als seien sie keine Menschen. In gewisser Weise begann erst hier das eigentliche Verbrechen, denn hier hätte jeder wissen müssen, was er tat. […] Seit das Rassenprinzip die älteren Vorstellungen von fremden und fremdartigen Völkern in Asien verdrängt hat, war es eine viel bewusster eingesetzte Waffe der Beherrschung und Ausbeutung als in Afrika.« (Origins, S. 206; vgl. Elemente und Ursprünge, S. 333–334)42

In diesem Passus verdichten sich Potenzial und Problematik der Versuche Arendts, Imperialismus und nationalsozialistischen Genozid zueinander in Beziehung zu setzen. Sie entdeckt im bewussten Aufgreifen von »Rasse« als Waffe den Ursprung jenes »eigentliche[n] Verbrechen[s]«, als das sie den Genozid bezeichnet, doch ihre Erklärung für die transnationale Migration des »Rasse«-Begriffs schreibt ihrerseits rassifizierte Bewertungen des Menschlichen fest. Bestimmte Verwendungen von »Rasse« sind »natürlich« und damit verständlich, wohingegen andere eine genealogische Erklärung erfordern. Trotz Arendts Bemühungen, ihren Begriff der »Ursprünge« von einem am Fortschrittsbegriff orientierten Narrativ abzugrenzen, dient Afrika ihrer Genealogie des Totalitarismus unhinterfragt als Entstehungsort. Der Passus zeigt die furchtbare Nähe der Kategorie »menschliches Begriffsvermögen« zu dem, was sich menschlichem Begriffsvermögen entzieht. Darüber hinaus wird erkennbar, dass Arendt hinter ihren eigenen Begriff von Verstehen als das, was sich alltagsverständlicher Begreifbarkeit entzieht, zurückfällt. Nur indem bestimmte Gruppen, etwa 42 Auch hier ist der entsprechende Passus aus der englischen Ausgabe neu übersetzt worden, da die deutsche Fassung vielfach von der englischen abweicht. In der von Arendt selbst besorgten deutschen Übersetzung heißt es: »Viel wesentlicher […] war vorerst, daß das ›Treibhaus des Imperialismus‹ seinen Einfluß überall da fühlbar machte, wo auf Grund der weitgespannten Expansionspolitik südafrikanische Verhältnisse maßgebend werden konnten. Dies galt vor allem für die Kolonialbesitzungen in Asien, wo imperialistische Verwaltungsbeamte und die weiße, geschäftemachende Oberschicht es sehr schnell außerordentlich vorteilhaft fanden, Asiaten ebenfalls wie Neger zu behandeln. Dem kam entgegen, daß Inder und Chinesen nach Südafrika in Massen importiert wurden, wann immer die einheimische billige Arbeitszufuhr zeitweilig ins Stocken geriet, und daß sie in der südafrikanischen Rassegesellschaft sofort den einheimischen Schwarzen gleichgestellt wurden. Entscheidend in dieser Assimilierung asiatischer Völker an afrikanische Standards war, daß nun wirklich nur noch nach Hautfarbe gerechnet wurde und daß der europäische Rassenhochmut gegen Asiaten noch nicht einmal den ursprünglichen Schrecken vor wilden, unverständlichen Stämmen als mildernden Umstand für sich geltend machen konnte. Gerade weil hier jegliche Erfahrungsbasis fehlte, begann das eigentliche Verbrechen der imperialistischen Rassekonzeption in der Behandlung der asiatischen, nicht der afrikanischen Völker; Chinesen und Inder waren von den europäischen Völkern immer als fremde Völker, aber nicht als Rassen empfunden worden. […] Der Rassebegriff [war] hier in Asien, wo er sich in einem historisch bestimmbaren Augenblick an die Stelle ganz anders gearteter und begriffener Beziehungen drängte, eine viel gefährlichere und politisch von vornherein viel belastetere Waffe als in Afrika« (Elemente und Ursprünge, S. 333 f.) (Anm. d. Übers.).

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Afrikaner und Afrikanerinnen, von der Anerkennung als menschlich ausgeschlossen werden, kommt das Verstehen den Ursprüngen der Unmenschlichkeit auf die Spur: Vermeintliche afrikanische Barbarei ist der notwendige Beginn jener Bumerang-Bewegung, die von einem Rassismus, der die »gleichsam natürliche Folge« der europäischen Anwesenheit in Afrika ist, über einen unnatürlichen und »menschlich [nicht] nachvollziehbaren« Rassismus in Asien bis hin zum »eigentlichen Verbrechen« des Genozids in Europa führt. Der Bumerang-Effekt ist in Arendts Text ein doppelter. In der bildhaften Verbindung von Kolonialismus und Genozid sind sowohl Sympathie als auch Distanzierung am Werk. Koloniale Gewalt lässt den Totalitarismus vorausahnen, während der Totalitarismus gleichzeitig einen Schatten auf das koloniale Archiv zurückwirft. Der Affekt fließt in mehrere Richtungen, von Afrika nach Europa und von Europa nach Afrika, mit Zwischenstopps in Asien, während Kolonialismus, Krieg und Völkermord sich gegenseitig erhellen. Die Beziehung zwischen diesen Knotenpunkten ist jedoch nicht symmetrisch: Das Afrikanische ist dem staatenlosen Europäer chronologisch und begrifflich vorgeschaltet, aber diese Priorität liegt näher an dem, was Johannes Fabian als »Verleugnung der Gleichzeitigkeit« bezeichnet, als an der Anerkennung der Gerechtigkeitsansprüche der Kolonisierten. Arendts Text wirft somit eine grundlegende Frage der vergleichenden Geschichte und der multidirektionalen Erinnerung auf: Besteht die Gefahr, dass der Versuch, über Europa hinauszugehen und einen globalen Rahmen für die europäische Geschichte zu schaffen, die europäische Verantwortung verdrängt? William Pietz gelangt zu einem strengen Urteil: »Es war Arendts herausragende Leistung, eine Reihe historisch fundierter politischer Begriffe zu entwickeln, die in der Lage sind, den Ursprung des ›Totalitarismus‹ im Allgemeinen und des modernen europäischen Antisemitismus im Besonderen – und damit implizit auch die Verantwortung für den nationalsozialistischen Holocaust – außerhalb Europas, im wilden ›Tribalismus‹ des ›dunklen Kontinents‹ zu verorten« (Pietz, The »Post-Colonialism«, S. 69). Ich halte Pietz’ Kritik an Arendt für zu einseitig, weil sie die produktiven Aspekte von Arendts Verknüpfung von Imperialismus und Nationalsozialismus ignoriert, die einen umfassenderen, europäischen und globalen Erklärungsrahmen für das bieten, was sonst oft auf eine Darstellung des deutschen »Sonderwegs« reduziert wird. Aber ich stimme Pietz zu, dass Arendts Text durch seine Annahmen über die Natur des Menschen, Afrikas und der kolonialen Begegnung kontaminiert wird. So gelangen wir zu der Frage, wie wir den Begriff des Bumerang-Effekts derart gebrauchen können, dass eine Gewaltgeschichte nicht um den Preis des Verschwindens einer anderen sichtbar gemacht wird. Die Geschichte des Wortes »Bumerang« legt nahe, dass einige der Spannungen, die das Verständnis von genozidaler Gewalt umgeben, diesem Wort bereits tief eingeschrieben sind. Dem Oxford English Dictionary (OED) zufolge entsteht das englische Wort boomerang im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert als »Übernahme oder Abwandlung der in der Sprache der Indigenen von New South Wales gängigen Bezeichnung einer australischen Wurfwaffe: eines

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gebogenen Stücks festen Holzes von zwei bis drei Fuß Länge, mit einer scharfen Kante an der konvexen Seite. Diese Waffe ist so beschaffen, dass sie in ihrem Flug komplexe Kurven beschreibt. Sie kann geworfen werden, um einen Gegenstand in einer anderen als der Wurfrichtung zu treffen, oder derart, dass sie zum Ausgangspunkt zurückzukehrt oder über diesen hinausschießt.« Eine der ersten Erwähnungen des Wortes findet sich laut OED »in einem kurzen Vokabelbuch der toten Sprache von George’s River, Botany Bay, gedruckt von Ridley«.43 Das englische Wort boomerang geht also nicht nur auf eine koloniale Begegnung zurück, sondern es indiziert auch eine genozidale Geschichte, in der Sprachen, Kulturen und Menschen an der Schwelle zur Vernichtung stehen oder zumindest als dort stehend verstanden werden. Das Aufgreifen des Bumerangs als Metapher für historische Übertragungen kodiert die Gefahren komparativer Fantasie: Worte werden übersetzt, und die übertragene Gewalt wird zugleich weitergeführt und zurückgelassen. In der kreisförmigen Flugbahn des Bumerangs drohen bestimmte Geschichten in Vergessenheit zu geraten. Wenn wir diese Geschichten jedoch auf der Flugbahn des Bumerangs verorten können, sichern wir uns damit die Mittel, um auf das Verschwiegene zurückzukommen und es wieder einzugliedern in ein multidirektionales Archiv der kollektiven Erinnerung. Dieselbe riskante Vorstellung einer Wiederkehr spielt auch in den Schriften Aimé Césaires eine vielseitige Rolle.

43 Dem Oxford English Dictionary zufolge wird das Wort »Bumerang« ab 1845 im bildlichen Sinn verwendet: »Dein verbaler Bumerang gibt dir einen Schlag auf die Nase.« Ein zweites Beispiel stammt aus dem Jahr 1870: »Der Bumerang des Arguments, den man in eine Richtung wirft, die der intendierten entgegengesetzt ist.« Die Bewegung von körperlicher Gewalt hin zu verbaler Aggression passt zu unseren Ausführungen über Diskurse von Genozid und Imperialismus.

Abbildung 2: Boris Taslitzky, Riposte (1951) © VG Bild

3. »Un choc en retour«: Aimé Césaires Diskurse über Kolonialismus und Genozid

Von Riposte zu Un choc en retour Im Sommer 1949, zwei Jahre nach Beginn des französischen Kolonialkriegs in Vietnam, rief die kommunistisch geführte, französische Hafen- und Dockarbeiter vertretende Gewerkschaft CGT ihre Mitglieder dazu auf, jegliche Arbeit für Schiffe mit indochinesischen Zielhäfen zu verweigern. Der Aufruf war Teil der Bemühungen der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), pazifistische Einstellungen aufzugreifen und in konkrete Aktionen umzusetzen. Er wurde zunächst, im Juni, von Dockarbeitern in Algerien beherzigt, dann von Arbeitern in Marseille und Dunkerque.1 Zusätzlich zu Demonstrationen, Streiks und anderen Formen direkter Aktion bedienten sich die Kommunisten in ihrem Kampf gegen den Krieg auch kultureller Mittel. Ein Dokument, das Zeugnis von den politischen Konflikten der Zeit ablegt, ist eine Arbeit von André Fougerons Künstlerkollegen und Genossen Boris Taslitzky: das Gemälde Riposte (1951). Taslitzkys Gemälde zeigt eine gewaltsame Begegnung von französischen Polizisten und Dockarbeitern während eines Streiks gegen den Krieg in Indochina und erinnert an zwei bekannte französische Gemälde des 19. Jahrhunderts, die ebenfalls ihr jeweiliges Zeitgeschehen auf dramatische Weise porträtieren (siehe Abb. 2). Die Masse der Arbeiter, Polizisten und Polizeihunde sind vor dem als Hintergrund dienenden Bug eines schwarzen Schiffs versammelt, und zwar in einer Pyramidenform, die an Géricaults Floß der Medusa (1819) erinnert, wobei Wellblech und Kopfsteinpflaster dem Floß entsprechen. Wie Riposte nimmt auch Géricaults Gemälde auf den Kolonialismus Bezug. Die Medusa war eine französische Fregatte, die vor der Küste Afrikas auf Grund lief, mit dem französischen Gouverneur von Senegal an Bord, der das Land von den Briten übernehmen sollte. Mehr als einhundert Menschen starben bei dieser Havarie, darunter sowohl französische als auch afrikanische Besatzungsmitglieder. An der Spitze der vom Floß inspirierten Körperpyramide hat Taslitzky eine weitere Anspielung auf ein klassisches französisches Gemälde vorgenommen. 1

Eine Darstellung der Hafenarbeiterstreiks findet sich in: Alain Ruscio, Les communistes français et la guerre d’Indochine, 1944–1954, Paris 1985, S. 240–265. Zur öffentlichen Meinung Frankreichs über den Krieg siehe auch Alain Ruscio, La décolonisation tragique: Une histoire de la décolonisation française, 1945–1962, Paris 1987, S. 52–60. In jüngerer Zeit hat Ruscio eine umfassende kommentierte Dokumentensammlung veröffentlicht, die einen Spiegel der langjährigen, aber oft ambivalenten Auseinandersetzung der Kommunistischen Partei Frankreichs mit der Kolonialfrage bietet. Siehe Alain Ruscio (Hrsg.), La question coloniale dans »l’Humanité«, 1904–2004, Paris 2005.

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

Die Trikolore oder Republikfahne, die von den muskulösen Dockarbeitern als Waffe gegen die Polizei zweckentfremdet wird, erinnert an Die Freiheit führt das Volk (1830) von Delacroix (wobei Delacroix’ weibliche Figur hier männlich ist), denn die Fahne wird bei Taslitzky und bei Delacroix im gleichen Winkel gehalten. (Wie Riposte und Géricaults Gemälde zeigt auch Delacroix’ Bild im Vordergrund eine Gruppe übereinander liegender Personen.) Riposte überarbeitet also Géricaults Darstellung einer kolonialen Katastrophe und Delacroix’ Darstellung der Juli-Revolution, um die antikolonialen und Arbeiterbewegungen in die longue durée der französischen Politikgeschichte einzuordnen. Doch in Taslitzkys Gemälde geschieht noch mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Die heroische riposte oder Replik der Arbeiter erhält durch eine Anspielung auf den Kampf gegen den Faschismus noch eine weitere, provokante Bedeutung. In der unteren Bildmitte wird ein Polizist von einem kräftigen blonden Arbeiter in den Würgegriff genommen. Der französische Polizist hat einen Schnurrbart, der sein Gesicht zu dem Hitlers macht. Der Vorwurf an politische Gegner, sie seien »Nazis«, ist zwar in den Jahrzehnten seit Taslitzkys Gemälde zu einem banalen Topos geworden, doch muss eine solche Anspielung in einem Land, dessen Besatzung durch Hitlers Streitkräfte nur wenige Jahre zurücklag, besondere Wucht entfaltet haben. Tatsächlich beschlagnahmte der Staat das Gemälde kurz nach seiner Ausstellung im Jahr 1951. Haben wir erst einmal bemerkt, wie Taslitzky die Gegenwart in Bezug auf die jüngste faschistische Vergangenheit rekodiert, dann sehen wir auch, wie sich andere Details verwandeln; zum Beispiel erinnert ein einfaches gestreiftes Matrosenhemd an die Kleidung nationalsozialistischer Häftlinge. Diese subtilen, aber wirkungsvollen Details signalisieren eine Lesart der im Bild dargestellten riposte sowohl als Rückkehr als auch als Form des Widerstands. Über den Hitler-Bezug kehrt der Faschismus als kolonialistischer Teilnehmer am Kampf um die Dekolonisierung nach Frankreich zurück. Wie sollen wir diese frappierende bildliche Anspielung auf den Nationalsozialismus deuten? Taslitzkys Biografie lässt seine Motivwahl weniger überraschend erscheinen. Als Sohn russisch-jüdischer Exilanten beteiligte er sich am Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung und wurde später nach Buchenwald deportiert, wo er eine berühmte Serie von Zeichnungen des Lagers anfertigte – auf Papier, das er von der SS gestohlen hatte. In der Zwischenzeit wurde seine Mutter in Auschwitz ermordet, nachdem man sie in der berüchtigten Vélodrome-d’Hiver-Razzia verhaftet hatte (ein Ereignis, an das auch in den letzten Phasen des Algerienkrieges erinnert wurde, was in Teil IV eine wichtige Rolle spielen wird).2 Zwar kann man nicht behaupten, dass Riposte sich auf die Besonderheiten des Holocaust einlässt, doch die Verweise 2

Siehe zu diesen und anderen relevanten biografischen Fakten den Nachruf in Le Monde vom 13. Dezember 2005. Kurz nachdem er Riposte gemalt hatte, wurde Taslitzky von der Kommunistischen Partei nach Algerien entsandt, um die dortige Lage zu dokumentieren. Der Kolonialismus blieb für ihn sein ganzes Leben lang ein zentrales Werksthema.

VON RIPOSTE ZU UN CHOC EN RETOUR

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auf den Nationalsozialismus sind vielleicht auch keine bloße Universalisierung oder Instrumentalisierung des Bösen. Sicherlich verfügt das Bild im französischen Kontext über eine komplexe Resonanz. Es suggeriert, dass der Erinnerung an die jüngste faschistische Vergangenheit eine doppelte Rolle zukommt: Der bildliche Bezug auf Hitler und die Lager verbindet nicht nur den Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus, sondern definiert auch die Dekolonisierung als eine Verlängerung und Fortsetzung des französischen Bürgerkriegs, das heißt der Geschichte der Kollaboration und des Widerstands. Riposte bringt damit eine Zeitlichkeit zum Ausdruck, die an Freuds Schriften zum Gedächtnis erinnert: Sie holt die Vergangenheit in die Gegenwart, während sie zugleich die Gegenwart als Fortsetzung einer bestimmten Version der Vergangenheit liest. Dennoch bleibt die Bedeutung dieser Zeitlichkeit sowie der bildlichen Analogie von Kolonialismus und Faschismus ambivalent. Im selben Jahr gemalt, in dem Arendt die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft veröffentlichte, bietet Taslitzkys Riposte auch eine bildliche Variation des von Arendt beschriebenen Bumerang-Effekts: In Arendts historisch-theoretischer Untersuchung kehren die in den Kolonien produzierten rassistischen Hierarchien als genozidaler Antisemitismus nach Europa zurück; in Taslitzkys Gemälde kehrt die Figur Hitlers im Kampf um Kolonialismus und Dekolonisierung zurück. Die gegenläufigen Vektoren historischen Einflusses in diesen zeitgleich geschaffenen Werken verweisen auf das Potenzial für ein multidirektionales Denken während dieses von Dekolonisierung geprägten Zeitpunkts nach dem Holocaust. Doch unsere Betrachtung von Arendts Schriften hat mögliche Fallstricke des Versuchs aufgezeigt, jenen »Bumerang«, der den Imperialismus mit dem nationalsozialistischen Genozid verbindet, begrifflich zu fassen. Was ich Arendts »Erwartung einer homogenen Universalität« genannt habe, lässt ihren Text an den Rändern des Eurozentrismus stehen bleiben, unfähig, sich »über das menschliche Begriffsvermögen hinaus« zu bewegen und die multidirektionale Konstellation von Kolonialismus und Totalitarismus herzustellen, die sie begrifflich anstrebt. Aufmerksamkeit für die Flugbahn des Bumerangs lässt vermuten, dass sich in Taslitzkys Gemälde auch die Grenzen der europäischen Vorstellungskraft zeigen. Der Arbeiterstreik war fraglos eine antikoloniale Aktion der PCF, doch Taslitzky stellt den Kampf als innereuropäische Angelegenheit dar. Im Kampf zwischen Dockarbeitern und Polizei übersetzt er den Kolonialismus bildlich in Klassenkampf und eine Frage der nationalen Geschichte (wie die Anspielungen auf Géricault und Delacroix bestätigen). Die Bewegung der antikolonialen riposte bleibt an die Entwicklung der französischen Geschichte gebunden und fest in den Händen der französischen Arbeiter. Ein Jahr bevor Taslitzky Riposte malte und Arendt die Elemente und Ursprünge veröffentlichte, erschien ein Werk, das das Interesse beider an Bumerang-Effekten teilt, aber aus einer explizit anti-eurozentrischen Position heraus verfasst wurde. Erstmals 1950 erschienen, bietet Aimé Césaires antikolonialer Traktat Discours sur le colonialisme (Über den Kolonialismus) eine der frühesten Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Genozid und setzt diesen zum Kampf um

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

Dekolonisierung in Beziehung.3 Césaire zeigt besser als Arendt oder Taslitzky, wie die Metropole von der Gewalt der kolonialen Peripherien bestimmt und durchdrungen ist; darüber hinaus unterstreicht bereits die Vehemenz seiner Rhetorik die Handlungsfähigkeit und Subjektivität der Kolonisierten innerhalb der französischen Diskurssphäre. In Über den Kolonialismus beschreibt Césaire die nationalsozialistische Brutalität als ein »Verbrechen gegen den weißen Menschen«, das »die Anwendung kolonisatorischer Praktiken auf Europa« beinhaltet, »denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren« (Über den Kolonialismus, S. 12). Césaire verwendet eine Formulierung, die stark an Arendts Vorstellung eines »Bumerang-Effekts« erinnert (und aus der Césaires englischer Übersetzer tatsächlich »boomerang effect« gemacht hat), um zu beschreiben, wie sich die Anwendung kolonialistischer Verfahren in Europa auf europäische Selbstverständnisse auswirkt: Er spricht von einem choc en retour (»Gegenschlag«: Über den Kolonialismus, S. 11).4 Dieser Begriff (Rückwärtsschock, Rückstoß/-schlag, Bumerang-Effekt) hat zu einer bedeutenden Tradition der »Provinzialisierung« europäischer Traumata beigetragen und dient Forschern und Forscherinnen aus den Postcolonial Studies bis heute als Inspiration. Obwohl nicht ohne eigene Spannungen und potenzielle Widersprüche, bietet Césaires vorausschauendes Verständnis des »Schocks« historischer Zusammenhänge der Theorie multidirektionaler Erinnerung Ressourcen für ein Überdenken von Trauma und zivilisatorischen Diskursen. Es hilft uns auch, die Konturen einer anderen zeitgenössischen Forschungstendenz abzubilden, vertreten von Wissenschaftlern, die in der Germanistik und der Holocaustforschung arbeiten und Césaires Erkenntnisse über den choc en retour weiterzuentwickeln versuchen, um ein neues Verständnis des Genozids zu ermöglichen. In Anlehnung an Césaires Rhetorik bezeichne ich diese jüngste Tendenz als »koloniale Wende in der Holocaustforschung«. Trotz seines Beitrags zur Konzeptualisierung der Multidirektionalität ordnet Césaires Über den Kolonialismus historische Besonderheiten zuweilen gerade jenen 3

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Césaires Text wurde zunächst 1950 von Réclame als Discours sur le colonialisme veröffentlicht und dann 1955 von Présence Africaine in einer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt. Die englische Übersetzung von Joan Pinkham folgt der Ausgabe von 1955 und erschien zuerst 1972; 2000 kam eine überarbeitete Fassung heraus. In meinen Ausführungen zu Césaire werde ich mich auf all diese Fassungen beziehen. Césaire trat 1956 auf dramatische Weise aus der Kommunistischen Partei aus; auf seinen offenen Brief an den Parteivorsitzenden Maurice Thorez gehe ich unten ein. Siehe Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Paris 1950 (im Folgenden: Discours 1950); ders., Discours sur le colonialisme, Paris 1955 (im Folgenden: Discours 1955); ders., Discourse on Colonialism, New York 2000 (im Folgenden: Discourse); ders., Über den Kolonialismus, Berlin 1968; ders., Lettre à Maurice Thorez, Paris 1956. Die französische Ausgabe von 1955 wird im Folgenden nur dann zitiert, wenn es um Passagen geht, die in der ursprünglichen Réclame-Ausgabe fehlen. Es ist zu beachten, dass Césaire die Wörter »coolies« und »nègres« im französischen Original (Discours 1950, S. 16) nicht in Anführungszeichen setzt (in der englischen Übersetzung stehen sie in Anführungszeichen (Anm. d. Übers.).

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linearen Fortschritts- und Regressionsnarrativen unter, die er, wie Arendt, eigentlich zu hinterfragen sucht. Wie ich zeigen werde, ist Césaires Rede von »Regression« oft ironisch. Die Unterordnung der Partikularität ist zum Teil aber auch auf die ambivalente Rolle des Marxismus innerhalb von Césaires Werk zurückzuführen. Der kommunistische Internationalismus kann zwar eine Quelle der Inspiration sein, wenn es darum geht, die zusammenhängenden, transnationalen und oft rassifizierten Dimensionen der Weltgeschichte zu erfassen. Die Gemälde von Taslitzky und Fougeron bezeugen dies ebenso wie die Schriften von Du Bois. Der kommunistische Internationalismus neigt aber auch häufig dazu, diese Multidirektionalität unter eurozentrische und ökonomische Bezugsrahmen zu subsumieren. Bei der Formulierung seiner eigenen Version des Bumerang-Effekts, des choc en retour, stößt Césaire auf dieses Paradox der kommunistischen Ideologie des 20. Jahrhunderts und strauchelt gelegentlich bei seinem Versuch, jenen multidirektionalen Kosmopolitismus zu entwickeln, auf den seine Arbeit abzielt. Des Weiteren bietet er zwar ein Gegenmittel zu Arendts Eurozentrismus, fällt aber gelegentlich auch hinter sie zurück, wenn es darum geht, die Besonderheit verschiedener historischer Erfahrungen zu erfassen  – ein Defizit, das sich bereits in seiner Unterordnung der zahlreichen Opfer des Nationalsozialismus unter die allgemeine Kategorie des »weißen Mannes« zu erkennen gibt. Wenn die Ideologie der Kommunistischen Partei ein Paradigma darstellt, das Césaires historische Vision sowohl stützt als auch letztlich verkümmern lässt, dann zeigt sein Brief an Maurice Thorez (1956), in dem er seinen Bruch mit dem PCF ankündigt, dass Césaire dennoch stets aufs Neue versucht hat, eine multidirektionale Vision des Kosmopolitismus zu entwickeln.

Kolonialismus und Genozid aus Sicht der Antillen Wie Arendt – aber auf ganz andere Weise – war Césaire das Produkt unterschiedlicher historischer und intellektueller Kräfte, und sein Werk ist eine Matrize aus Erkenntnis und Verkennung. Césaire, der 2008 im Alter von 94 Jahren verstarb, war ein kosmopolitischer Intellektueller, der in verschiedenen intellektuellen und politischen Bereichen arbeitete und aus seinem Status als Angehöriger einer Minderheit einen Vorposten für vernichtende Angriffe auf die mal genozidalen, mal assimilierenden Kräfte des Zentrums machte. Wie Arendt war auch er eine widersprüchliche und umstrittene Figur, zugleich Mitschöpfer der Negritude, einer der bekanntesten transnationalen, antikolonialen intellektuellen und künstlerischen Bewegungen, und Architekt jener »Departementalisierung« von Martinique, die unbeabsichtigt zum neokolonialen Status der Insel als marginalisiertes Departement Frankreichs beigetragen hat. Césaires ambivalentes Verhältnis zu Martinique sowie zu Frankreich, zur Karibik und zu Europa, zur kreolischen sowie zur europäischen Kultur hat viele Kritiker und Kritikerinnen veranlasst, sein Leben und Werk durch Paradoxien

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

zu beschreiben.5 Diese Paradoxien schaffen zum einen die Möglichkeit für die von Césaire inszenierten multidirektionalen Begegnungen, interferieren zum anderen aber gelegentlich auch mit deren Logik. Als Césaire 1950 Über den Kolonialismus schrieb, war er ein junger Schriftsteller und Politiker, der aus dem Zweiten Weltkrieg als führender Vertreter der aufkommenden Negritude-Bewegung, als Bürgermeister von Fort-de-France und als Abgeordneter der französischen Kommunistischen Partei hervorgegangen war. Césaire war 1939 nach Martinique zurückgekehrt, nachdem er den größten Teil der 1930erJahre in Paris verbracht hatte, wo er an zwei der renommiertesten französischen Bildungseinrichtungen, dem Lycée Louis-Le-Grand und der École Normale Supérieure studierte. Er nahm auch an der Kulturszene der afrikanischen Diaspora teil und veröffentlichte in diesem Kontext die erste Fassung seines bekanntesten Gedichtbands, Cahier d’un retour au pays natal (Zurück ins Land der Geburt). Obwohl es keinen Hinweis darauf gibt, dass sie sich jemals in Paris begegnet sind, ist es bemerkenswert, dass Arendt und Césaire sechs Jahre lang in derselben Stadt lebten. Für beide war die Stadt eine Zwischenstation auf einer komplexen Reise. Es erscheint sinnvoll, beim Vergleich ihrer Texte sowohl diesen Zufall als auch diese verpasste Begegnung zu beachten. Arendt lebte als staatenloser Flüchtling in Paris, Césaire als Subjekt des französischen Kolonialreichs (obwohl er bald französischer Staatsbürger werden sollte). Beide waren denselben politischen Kräften ausgesetzt. Das Schiff, auf dem Césaire nach Martinique zurückreiste, wurde auf dem Rückweg nach Europa von den Nationalsozialisten versenkt, und die Insel selbst fiel bald unter die Herrschaft des Vichy-Regimes, dessen Statthalter der berüchtigte Admiral Robert war. Zugleich wurden Tausende französische Seeleute auf der Insel festgesetzt. Obwohl Césaire, anders als sein Schüler Frantz Fanon, nie als Soldat gegen den Faschismus kämpfte, durchlebte er in den Kriegsjahren unter anderem Konflikte mit der Vichy-Regierung auf Martinique und beteiligte sich zusammen mit seiner Frau Suzanne Roussi Césaire und dem Philosophen René Ménil an der Herausgabe der surrealistisch geprägten Literaturzeitschrift Tropiques. Die zwischen 1941 und 1945 erschienene Zeitschrift diente unter anderem dem kulturellen Widerstand gegen die Vichy-Herrschaft auf Martinique. Trotz des indirekten Charakters ihres Angriffs auf das rassistische und nationalistische Pétain-Regime führte die provokante Rhetorik von Tropiques zu einer Konfrontation Césaires und seiner Genossen mit den lokalen Vichy-Mächten und damit zur faktischen Zensur der Zeitschrift.6 5

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Siehe insbesondere die leidenschaftliche Polemik eines martinikanischen Schriftstellers: Raphaël Confiant, Aimé Césaire: Une Traversée Paradoxale Du Siècle, Paris 1993. Siehe auch die Arbeit von Jeannie Suk, die Césaires Paradoxien in einem umfassenderen Feld textlicher und politischer Ambivalenzen verortet: Postcolonial Paradoxes in French Caribbean Writing: Césaire, Glissant, Condé, Oxford 2001. Siehe die Ausführungen in A. James Arnold, Modernism and Negritude: The Poetry and Poetics of Aimé Césaire, Cambridge 1981, S. 71–101.

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Wie Césaires Erfahrungen zeigen, erlebte Martinique während des Kriegs eine ganz besondere politische und kulturelle Verschmelzung. Der Status der Insel als Ort eines interkulturellen Austauschs, der unter extremen Bedingungen stattfand, erhielt auch dadurch erhöhte Bedeutung, dass Martinique als vorübergehende Zwischenstation für französische Flüchtlinge diente, die vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten flohen, darunter Claude Lévi-Strauss und vor allem André Breton (den man zunächst im Konzentrationslager Lazaret in Fort-de-France festhielt). Césaires damalige Begegnung mit Breton hatte großen Einfluss auf die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, da sie die Synthese von Surrealismus und karibischer Sensibilität förderte, der sich Tropiques verschrieben hatte. Wie diese kurze Skizze zeigt, war die kleine Insel Martinique keineswegs »marginal« für die Dramen der Weltgeschichte und die Kultur der Epoche. Martinique bot vielmehr das Potenzial einer privilegierten Perspektive auf die Ereignisse von Krieg und Kolonialismus, insbesondere für einen Intellektuellen mit einer doppelten, karibisch-französischen Perspektive.7 In diesem besonderen historischen und intellektuellen Kontext geschrieben, ist Césaires Über den Kolonialismus an der Schnittstelle von Diskursen angesiedelt, die sich nicht immer gut miteinander vertragen: Antikolonialismus, Negritude, Antifaschismus, Surrealismus und Marxismus. Césaire bedient sich dieser heterogenen historischen Erfahrungen und philosophischen Rahmen, um verschiedene Formen europäischer Gewalt zusammenzudenken, darunter Kolonialismus und nationalsozialistische Brutalität, und um auf die blinden Flecken des europäischen Selbstverständnisses aufmerksam zu machen.8 Wie Georges Ngal geschrieben hat, kommt Europäern in der polemischen Anklage von Über den Kolonialismus die Rolle »der Beschuldigten« zu, doch ist »Europa« in Césaires Text auch »komplex, plural [und] durchgehend geprägt von der ›Anwesenheit‹ des Hitlerismus«.9 Um es in Benjamins Sprache zu paraphrasieren, die Césaires Intention tatsächlich entspricht: Über den Kolonialismus zeigt die Nähe von Dokumenten der Zivilisation zu Praktiken der Barbarei. Césaire erzwingt eine Begegnung von Zentrum und Peripherie, Vergangenheit und Gegenwart, Kultur und Gewalt. Seine Vorlage für diese Begegnung ist eine doppelte. Für das hier behandelte Thema bedeutet dies, dass die von ihm inszenierte Begegnung von Genozid und Kolonialismus letztlich dazu dient, eine weitere Begegnung herbeizuführen: die Europas mit sich selbst. Der Schlüssel zum Verständnis dieser 7

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Zum biografischen Hintergrund und historischen Kontext siehe Arnold, Modernism, außerdem Clayton Eshelman/Annette Smith, Introduction, in: Aimé Césaire, The Collected Poetry of Aimé Césaire, Berkeley 1983, S. 1–31. Einen anregenden Bericht über das Martinique dieser Zeit bietet David Macey, Frantz Fanon: A Biography, New York 2001. Eine Darstellung der transnationalen Verbindungen zwischen schwarzen Intellektuellen im Paris der Zwischenkriegszeit findet sich in: Edwards, The Practice of Diaspora. Einen einführenden Essay, der Césaires Stellenwert für revolutionäres antikoloniales Denken klärt, hat Robin D. G. Kelley verfasst: A Poetics of Anticolonialism, in: Aimé Césaire, Discourse, S. 7–28. Georges Ngal, Lire le Discours sur le Colonialisme d’Aimé Césaire, Paris 1994, S. 38.

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

doppelten Bedeutung liegt in der ihr von Césaire zugeschriebenen Zeitlichkeit: der des choc en retour. Diese Zeitlichkeit erweist sich ebenfalls als doppelt: Sie kündigt eine Unterbrechung am Fortschrittsbegriff orientierter Kolonialdiskurse an und reproduziert dabei zugleich koloniale Vorstellungen von Regression und Primitivismus. Diese doppelte Zeitlichkeit findet sich, in unterschiedlichem Ausmaß und verschiedenen Ausformungen, auch bei Arendt und bei jenem Schriftsteller, der in diesen beiden Kapiteln als Prüfstein dient: Joseph Conrad. Bis zu einem gewissen Grad konvergiert Über den Kolonialismus also mit Elemente und Ursprünge sowie mit Herz der Finsternis. Doch gibt es auch erhebliche Abweichungen: Césaire weigert sich, Kolonialismus oder Genozid in der Figur des kulturlosen Menschen zu naturalisieren. Er erkennt die katalysierende Rolle Europas bei der Verleugnung kolonialer Gewalt an; und er stellt die Entwicklung vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus sowie zur Dekolonisierung als eine multidirektionale Konstellation dar, in der jeder Begriff den anderen modifiziert.

Césaire und Über den Kolonialismus, oder: Was bedeutet Wiederkehr?

Zu Beginn von Über den Kolonialismus bereitet Césaire seine Bestimmung des Nationalsozialismus als »choc en retour« mit einem langen Satz vor, der die brutalen Auswirkungen des Kolonialismus beschreibt: »Man müßte zunächst untersuchen, wie die Kolonisation daran arbeitet, den Kolonisator zu entzivilisieren, ihn im wahren Sinne des Wortes zu verrohen, ihn zu degradieren, verschüttete Instinkte, die Lüsternheit, die Gewalttätigkeit, den Rassenhaß, den moralischen Relativismus in ihm wachzurufen  – und zeigen, daß jedesmal, wenn in Vietnam ein Kopf abgeschlagen und ein Auge ausgestochen wird und in Frankreich nimmt man das hin, ein Kind vergewaltigt wird und in Frankreich nimmt man das hin, ein Madegasse hingerichtet wird und in Frankreich nimmt das hin, daß damit die Zivilisation eine Erfahrung macht, die wiegt, daß eine universale Regression stattfindet, ein Wundbrand sich einnistet, ein Infektionsherd sich ausbreitet, und daß am Ende all dieser Vertragsbrüche, all dieser Lügenpropaganda, all dieser geduldeten Strafexpeditionen, all dieser gefesselten und ›verhörten‹ Gefangenen, all dieser gefolterten Patrioten, daß am Ende dieses angefachten Rassenhochmuts, dieser zur Schau gestellten Prahlerei das Gift in die Adern Europas infiltriert ist und die langsame, doch sichere Verwilderung des Kontinents ihren Lauf nimmt.« (Über den Kolonialismus, S. 10 f.; Übers. geringfügig geändert)

In diesem Passus klagt Césaire eindringlich die Brutalität des Kolonialismus an und nimmt mit beunruhigenden Einzelheiten Aspekte jener Folterdiskussion vorweg,

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die Frankreich zu einem späteren Zeitpunkt in den 1950er-Jahren, während des Algerienkriegs, spalten sollte. Auch in dieser Diskussion sollte »Wundbrand« eine zentrale Metapher sein.10 Doch es ist nicht nur der Inhalt des Abschnitts, der eine deutliche Sprache spricht; Césaires Argumentationsgang ergibt sich auch aus seiner Syntax. Der meisterhafte Gebrauch des Parallelismus (»jedesmal […] jedesmal«; »all [diese] Lügenpropaganda […] all [diese] […] Gefangenen«), durch die Césaire seinen Satz bis zur Schmerzgrenze verlängert, dient dazu, die globale Reichweite imperialer Geschichte innerhalb eines multidirektionalen Diskurses zu markieren. Die Bewegung von Vietnam nach Frankreich, Madagaskar und zurück nach Europa hat, wie die Aufzählung einer Reihe von Kolonialverbrechen, eine doppelte performative Wirkung. Der Passus verbindet nicht nur die Metropole mit zahlreichen kolonialen Schauplätzen; indem er seine ultimative Aussage – »das Gift [ist] in die Adern Europas infiltriert« – dramatisch hinauszögert, ahmt er auch die Zeitlichkeit einer verspäteten Wiederkehr nach, die seiner Darstellung innereuropäischer Gewalt zugrunde liegt. Durch diese syntaktischen Effekte verbindet Césaire zwei sehr unterschiedliche Formen von Brutalität, und das sowohl räumlich als auch zeitlich: die repetitive und abstoßende Gewalt gegen den »Anderen« und die kumulative Selbstzerstörung des Täters. Indem er den Nationalsozialismus als Wiederkehr kolonialer Gewalt ausweist, stellt dieser Passus auch einen Nachhall zentraler Vorstellungen aus Conrads Herz der Finsternis dar, die wir auch in den Elementen und Ursprüngen vorgefunden haben. Wie Herz der Finsternis spürt Über den Kolonialismus der »Entzivilisierung« des Kolonisators nach und kodiert sie als von einer Rückkehr zu Barbarei und verschütteten Instinkten bestimmte »Regression«. Dieses Aufgreifen eines Conradschen Topos ist sowohl beeindruckend als auch riskant. Dominick LaCapra hat in seiner Auseinandersetzung mit Versuchen, Erklärungsmodelle für die nationalsozialistische Gewalt zu entwickeln, angemerkt, dass »der Begriff eines Rückfalls in die Barbarei auf einer undifferenzierten und eigennützigen Sicht auf andere Gesellschaften beruht, die mit den modernen, vermeintlich fortgeschrittenen Gesellschaften verglichen werden«.11 LaCapras Einsicht hilft, die Ambivalenz sowohl von Conrads Antikolonialismus als auch von Arendts Schilderung des europäischen Traumas der kolonialen Begegnung zu bestimmen. Conrad und Arendt argumentieren in erster Linie dadurch gegen den Imperialismus, dass sie dessen Wirkung auf Europäer betonen, und beide scheinen die Ursprünge von dessen Gewalt außerhalb Europas zu verorten. Warum sollte Césaire solche eindeutig kolonialen Diskurse aufgreifen? 10 Siehe B. Boumaza/M. Francis/B. Souami, La gangrène, Paris 1959. Césaires Text markiert einen Wandel in der Geschichte der Dekolonisierung: Bezugnahmen auf Algerien gibt es nur in der 1955 erschienenen Ausgabe. Eine Darstellung der Gewalt in Vietnam und Madagaskar sowie an anderen Kolonialschauplätzen, darunter auch Algerien, während der Zeit unmittelbar vor dem Erscheinen von Césaires Buch bietet Benot, Massacres coloniaux. 11 LaCapra, History and Memory After Auschwitz, S. 3, Fn.

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

Césaires Werk kokettiert zwar zu verschiedenen Zeitpunkten mit Varianten der »Wiederkehr«, die Vorstellungen primitivistischer Regression nahezukommen scheinen, worauf viele Kritiker hingewiesen haben. In Über den Kolonialismus zeigt Césaire jedoch, dass er sich der Ursprünge und Implikationen seiner Ausdrucksweise durchaus bewusst ist.12 Tatsächlich zeichnet sich ein Muster ab, nach dem Césaire den kolonialen Diskurs vorwegnimmt, indem er selbst Topoi gebraucht, die später in Zitaten von Verteidigern des Kolonialismus und der europäischen Vorherrschaft wiederkehren. Es ist zwar unmöglich, sich über Césaires Absichten sicher zu sein, doch legt der stark parodistische (und oft von schwarzem Humor geprägte) Stil des Textes eine ironische Lesart solcher Zitate kolonialer Klischees nahe. Der vorgreifende Charakter dieser Mimikry des Kolonialarchivs  – Césaire verwendet die Klischees selbst, bevor er sie zitiert – lässt eine zweite Ebene der Imitation mit performativer Wirkung vermuten: Césaires Gebrauch der Topoi der Wiederkehr und Regression arbeitet reflexiv mit einer Zeitlichkeit, die beim Leser ein Gefühl der Wiederholung erzeugt, wenn diese Topoi in ihrem »ursprünglichen« kolonialistischen Kontext wieder auftauchen. Césaires Zitate aus dem Kolonialarchiv stellen nicht nur einen quantitativ bedeutenden, sondern auch einen rhetorisch zentralen Teil seines Textes dar, da sie eine breite Schicht der europäischen (vor allem französischen) Intelligenz dahin führen, sich mit ihrem rassistischen und genozidalen »Diskurs über den Kolonialismus« 12 Die Rückkehr zu den Ursprüngen und zu einem schwarzen Wesenskern ist eines der Bilder, das besonders häufig mit der Négritude-Bewegung assoziiert wird; diese ist von Sartre in einer berühmten Charakterisierung seines Aufsatzes »Orphée noir« als Ausdruck eines »antirassistischen Rassismus« bezeichnet worden. Doch Césaire ist in Über den Kolonialismus bemüht, sich von den Vorstellungen einer Regression und einer »Rückkehr zur voreuropäischen Vergangenheit«, wie sie der Négritude-Bewegung zugeschrieben werden, zu distanzieren; er leugnet ausdrücklich, dass er jemals derartige Ansichten vertreten habe (S. 26). Allerdings sind »die Tatsachen nicht ganz so einfach«, wie James Arnold schreibt. Zwar hat sich der Autor von Zurück ins Land der Geburt »nicht für eine Zurück-nach-Afrika-Bewegung eingesetzt«, doch ist »ebenso deutlich, dass er Lyrik verfasst hat, die sich für eine pseudo-mythische Alternative zur Gegenwart einsetzt, und dass diese Alternative als Rückkehr zu uralten spirituellen Werten verstanden werden kann« (S. 178 f.). Mit Mara de Gennaro gesprochen, verbindet Césaires Werk zwei Formen des »Primitivismus«: »eine Bewunderung nicht alphabetisierter Kulturen« und »eine damit zusammenhängende Tendenz von Vertretern der klassischen Moderne aus der ersten Jahrhunderthälfte, ›die Tiefen auszuloten‹ […], einen unbekannten und weitgehend unerkennbaren Modus natürlichen oder ›primitiven‹ Seins aufzudecken« (S. 59 f.). Césaires Primitivismus ist, so argumentiert de Gennaro, eine Form von Humanismus: Er »appelliert an einen überkulturellen Zustand der Gemeinsamkeit und wechselseitigen Verbundenheit, der, seiner Ansicht nach, kulturelle Besonderheiten hinter sich lässt« (S. 61). Césaires Verbindung von Primitivismus und Humanismus, des Natürlichen und des Menschlichen, erinnert an die Begrifflichkeit von Arendts Genealogie des Totalitarismus und der beunruhigenden Position »›natürlicher‹ Menschen« darin. Letztlich würde ich jedoch argumentieren, dass der Primitivismus in Über den Kolonialismus oder in Césaires Artikulation von Genozid und Kolonialismus keine bedeutende Rolle spielt, bei Arendt dagegen sehr wohl. Siehe Mara de Gennaro, Fighting »Humanism« on its Own Terms, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 14 (2003) 1, S. 53–73.

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selbst zu verurteilen. Césaire arbeitet sich von klassischen humanistischen Texten über Wissenschaft und Literatur bis zum »Zeitungsjargon« des Kritikers Emile Faguet und der Wiederkehr einer Rhetorik der Regression vor. Er zitiert Faguet ausführlich: »Der Barbar ist immerhin von gleicher Rasse wie der Römer und der Grieche. Er ist ein Verwandter. Der Gelbe, der Schwarze ist ganz und gar nicht unser Verwandter. Hier besteht ein wirklicher Unterschied, ein wirklicher, sehr großer, ethnologischer Abstand. Schließlich wurde die Kultur bis zur Gegenwart allein durch die Weißen geschaffen. Würde Europa gelb, so gäbe es mit Gewißheit eine Regression, eine neue Periode der Verfinsterung und Verwirrung, ein zweites Mittelalter« (zit. nach Über den Kolonialismus, S. 34; Hervorhebung im Original).13 Césaire hat nicht nur in seinem Passus über die Entzivilisierung Europas den Diskurs der Regression antizipiert; er hat auch den zugegebenermaßen konventionellen Hinweis auf das Mittelalter vorweggenommen. Einige Seiten vorher schreibt er: »Denken Sie nur! Neunzigtausend Tote in Madagaskar! Indochina zertreten, zermalmt, ermordet, Foltern aus dem tiefsten Mittelalter heraufgeholt« (S. 30). Die Verbindung von »Rasse« und »Regression« wird einmal mehr hergestellt, wenn Césaire sein Zitieren kolonialer Diskurse fortsetzt und uns zum Nationalsozialismus zurückführt. Bei der Durchsicht des französischen Leitmediums Le Monde stößt Césaire auf Überlegungen des Schriftstellers und Kritikers Yves Florenne gegenüber einer Leserin der Zeitung. Florenne antwortet einer Lehrerin, die, »wenn sie zwei junge Halbblutmädchen, ihre Schülerinnen, betrachtet, ein Gefühl des Stolzes auf die sichtbar zunehmende Integration in unsere französische Familie [empfindet]«, und fragt: »Wäre ihr Gefühl das gleiche, wenn sie im Gegenteil [à l’inverse] Frankreich in die schwarze (oder gelbe oder rote, das bleibt sich gleich) Familie sich integrieren, das heißt, aufgehen, verschwinden sähe?« (zit. nach Über den Kolonialismus, S. 53  f.; Hervorhebung im Original). Césaires Kommentar zu dieser Passage betont ihren kruden biologischen Rassismus und fragt, wie solches Denken fortbestehen kann, obwohl der Nationalsozialismus doch besiegt worden ist: »Mit einem Wort, die Blutvermischung, das ist der Feind. Keine Sozialkrise mehr! Keine Wirtschaftskrise! Es gibt nur mehr Rassenkrisen. […] Dahin also ist es mit der französischen Bourgeoisie gekommen, fünf Jahre nach der Niederlage Hitlers! Und eben darin liegt ihre historische Strafe: Sie ist verurteilt zum Widerkäuen des von Hitler Erbrochenen, zu dem sie wie durch den Zwang des Lasters zurückkehrt« (S. 54 f.). In dieser Reihe zusammenhängender Textpassagen entlarvt Césaire die Häufigkeit von Fantasien der Umkehr, Regression und Auflösung in einem Frankreich, das zugleich von einem anhaltenden (wenn auch auf seine baldige Niederlage zusteuerndem) Kolonialprojekt und von einer Amnesie bezüglich seiner eigenen jüngsten 13 Césaire sagt zwar nicht ausdrücklich, dass er sich hier auf Émile Faguet bezieht, doch der Kontext legt nahe, dass er diesen traditionalistischen Literaturkritiker im Sinn hat, der von 1847 bis 1916 lebte. Ich habe keinen wahrscheinlicheren Adressaten ermitteln können.

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Besatzung durch ein genozidales, rassistisches Regime geprägt ist. (Um die Verbindung zwischen diesen beiden historischen Erfahrungen zu verdeutlichen, bezeichnet Césaire den Kolonialismus einmal als »die europäische Besatzung« Afrikas und Asiens, eine Formulierung, die insbesondere die frankophonen Leser der Zeit an die nationalsozialistische Besatzung Frankreichs erinnert haben dürfte: S. 28.) Unfähig, sich mit dem Blut an ihren eigenen kolonialen Händen zu konfrontieren oder die Lektionen aus ihrer jüngsten Viktimisierung durch den Faschismus zu ziehen, vertreten die Verfechter kolonialer Regressionsfantasien eine unidirektionale Sicht auf die Geschichte, die nur rückwärts gerichtet ist. Césaires Re-Zitieren solcher Fantasien und Rhetorik zielt dagegen auf die Erstellung einer multidirektionalen Karte französischer Verstricktheit in die Weltgeschichte ab. Während die Apologeten des Kolonialismus eine apokalyptische Rückkehr zur Vergangenheit beschreiben, zeigt Césaire, dass die apokalyptische Gewalt bereits stattgefunden hat: Die Vergangenheit kehrt in der Gegenwart zurück und spukt durch ein Europa, das erniedrigt über die Hitlersche Katastrophe grübelt. Die Begrifflichkeit der kolonialen Rhetorik vorwegnehmend, wiederholend und verzerrend, suggeriert Césaires multidirektionaler Diskurs über den Kolonialismus, dass die Ätiologie des innereuropäischen Traumas des Nationalsozialismus nicht nur in den empirischen kolonialen Begegnungen liegt, denen Arendt nachgeht, sondern ausschlaggebend auch in den europäischen Fantasien über Kolonialvölker. Auf allen Ebenen des Textes, vom Wort über den Satz bis zum Diskurs als Ganzem, verwebt Césaire Vergangenheit und Gegenwart, Fantasie und Tatsache sowie inner- und außereuropäische Gewalt. Er strebt danach, selektive Amnesie, Ignoranz und unbewusste Besetzungen in ein aktives Erinnern sowohl kolonialer Gräueltaten als auch des nationalsozialistischen Genozids zu überführen. Während Arendt die Wiederkehr des kolonialen Rassismus im nationalsozialistischen Genozid theoretisiert und Taslitzky der Wiederkehr Hitlers in den antikolonialen Kämpfen nachgeht, verbindet Césaire diese beiden Zeitlichkeiten in einer multidirektionalen rhetorischen Konstellation und extrahiert sie aus den eurozentrischen Rahmungen, die bei Arendt und Taslitzky trotz allem erhalten bleiben. Césaire zeigt sowohl die Wiederkehr des Kolonialismus im Nationalsozialismus als auch das Vergessen eines sehr jungen Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit, ein Vergessen, das den virulenten Rassismus des spätkolonialistischen Diskurses von Florenne und anderen begünstigt. Césaires partieller Fokus auf einen spezifisch postnazistischen Kolonialdiskurs legt nahe, dass der koloniale Diskurs nicht singulär ist, sondern historisch mutiert. Die imperialistische Gewalt hat nicht nur eine »Entzivilisierung« Europas bewirkt; der europäische Faschismus hat auch den Kolonialdiskurs im Zeitalter der Dekolonisierung beeinflusst und infiziert.

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Verleugnung der Gewalt: Der choc en retour Césaires Vorstellungen von Regression und Wiederkehr werden nicht lediglich zu Zwecken der Parodie eingesetzt, wie sich zeigt, wenn man von einer anthropologischen und kulturellen Lesart zu einer psychoanalytischen übergeht. Seinen antikolonialen Text psychoanalytisch zu deuten erscheint keineswegs anachronistisch; schließlich hatte Césaire ein starkes Interesse am Surrealismus, der ihm helfe, »unbewusste Kräfte […] [zu] beschwören«, wie er René Depestre gegenüber einmal geäußert hat.14 So betrachtet, leistet Césaire tatsächlich mehrere zusätzliche Beiträge zur Rekonzeptualisierung des multidirektionalen Verhältnisses außer- und innereuropäischer Gewalt. Freuds Begriff der »Regression« ist zwar insofern relevant, als er ein »Wiederaufleben der Vergangenheit in der Gegenwart« meint, doch bleibt dieser Begriff auch von der Problematik des Eurozentrismus betroffen, die LaCapra mit Bezug auf die Regression in die Barbarei betont.15 Der Regressionsbegriff spielt zwar in Über den Kolonialismus eine gewisse Rolle, doch gibt es noch eine andere Spur, der nachzugehen vielversprechender erscheint, nämlich den Zusammenhang, den Césaire zwischen der Entzivilisierung Europas und der Frage des Wissens herstellt. In Über den Kolonialismus signalisiert »Regression« durchweg die Verleugnung von Wissen, wie beispielsweise die beschwörende Wiederholung der Formulierung »jedesmal […] und in Frankreich nimmt man das hin« in der langen, oben zitierten Textpassage belegt. »Hinnahme« verweist hier auf die fehlende Bereitschaft, die evozierte Gewalt zur Kenntnis zu nehmen. So erzeugt der Text eine Konstellation von »Barbarei« und »zivilisierter« Leugnung, der stärker an Freuds Begriff der Verleugnung als an den psychoanalytischen Regressionsbegriff erinnert. Verleugnung besteht, wie Laplanche und Pontalis ausführen, »in einer Weigerung des Subjekts […], die Realität einer traumatisierenden Wahrnehmung anzuerkennen« (S. 595). Wie Freud in seinem Aufsatz »Fetischismus« verdeutlicht, kann Verleugnung in Verbindung sowohl mit Neurosen als auch mit Psychosen auftreten.16 Während die absolute Weigerung, eine traumatische Realität anzuerkennen, zur Psychose führen kann, ziehen andere Formen der Trauma-Abwehr oft auch »gewöhnlichere« Reaktionen nach sich. So beinhaltet beispielsweise der Fetischismus einen eigenartigen psychischen Zustand oder eine »Doppelhaltung«, bei der das Subjekt sowohl um die traumatische Wahrheit weiß als auch das Wissen um sie ablehnt: »Bei der Einsetzung des Fetisch scheint vielmehr ein Vorgang eingehalten zu werden, der an das Haltmachen der Erinnerung bei traumatischer Amnesie gemahnt. Auch hier bleibt das Interesse wie unterwegs stehen, wird etwa der letzte Eindruck vor dem unheimlichen, traumatischen, als Fetisch festgehalten« (GW, Bd. 14, S. 314). 14 René Depestre, An Interview with Aimé Césaire, in: Césaire, Discourse on Colonialism, S. 79–94, hier S. 84. 15 Das Zitat in diesem Satz entstammt Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1972, S. 438. 16 Sigmund Freud, Fetischismus, in: GW, Bd. 14, S. 311–317.

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Freuds Verleugnungsbegriff ist zwar mit Blick auf die individuelle Psyche formuliert, verbindet aber Trauma, Erinnerung und die Frage des Wissens auf eine Weise, die Anregungen bietet für die Analyse des Verhältnisses von kolonialer beziehungsweise metropolitaner Gewalt und jener Verleugnung, die Césaire mit der Entzivilisierung Europas in Verbindung bringt. Als noch anregender für Césaires Projekt erweisen sich Freuds Begriffe, wenn wir über die psychoanalytisch geprägte, traumatische Zeitlichkeit der Wiederkehr von Kolonialpolitik im nationalsozialistischen Genozid nachdenken. Césaires Ausführungen über den Abstieg Europas in die »Barbarei« (l’ensauvagement) gipfeln in seiner ersten Formulierung des choc en retour: »Und dann wird eines schönen Tages die Bourgeoisie durch einen gewaltigen Gegenschlag [un formidable choc en retour] geweckt: die Gestapo wird geschäftig, die Gefängnisse füllen sich, die Folterer werden erfindungsreich, verfeinern ihre Methoden und diskutieren rund um die Folterbänke. […] Ja, es wäre der Mühe wert, das Verhalten Hitlers und des Hitlerismus einer detaillierten klinischen Studie zu unterziehen und dem ach so distinguierten, ach so humanen, ach so christlichen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts mitzuteilen, daß er in sich einen Hitler trägt, von dem er nichts weiß, daß Hitler in ihm haust, daß Hitler sein Dämon ist« (Über den Kolonialismus, S. 11 f.; Hervorhebungen im Original). Durch die Evozierung dessen, was sein englischer Übersetzer als boomerang effect bezeichnet – wobei wir es vorziehen, den französischen Begriff (choc en retour) nicht zu übersetzen –, lässt Césaire Hitler unheimlich werden: Das Seltsame und Abartige (genozidale Gewalt) wird allzu vertraut, das Vertraute (die europäische Zivilisation) hingegen verfremdet und als zutiefst korrupt entlarvt. In dieser Textpassage nähert sich Über den Kolonialismus jener Zeitlichkeit an, die LaCapra der Regression entgegensetzt: der Wiederkehr des Verdrängten. Bei Freud sind die Abwehrmechanismen, darunter Verleugnung und Verdrängung, stets nur teilweise erfolgreich und ziehen unweigerlich verschiedene Formen der Wiederkehr nach sich, die verdrängte Versionen dessen darstellen, was man vermieden hat. Tatsächlich erinnert diese Passage bei Césaire an Freuds Beschreibung der Wiederkehr des Verdrängten in Jenseits des Lustprinzips. Freud schreibt: »Die Äußerungen eines Wiederholungszwanges […] zeigen im hohen Grade den triebhaften, und wo sie sich im Gegensatz zum Lustprinzip befinden, den dämonischen Charakter.«17 In LaCapras heterodoxer Erweiterung der Freudschen Theorie erweist sich die Vorstellung einer Wiederkehr des Verdrängten als nützlich, um die Fortdauer extremer Gewalt in vermeintlich zivilisierten Gesellschaften zu erklären. Sie vermeidet koloniale Regressionsfantasien und »ist mit einem ganz anderen Verständnis der Zeitlichkeit verbunden, in dem sämtliche Eigenschaften der Gesellschaft, die als wünschenswert eingeschätzt werden, stets aufs Neue erkämpft werden müssen, wohingegen weniger wünschenswerte eine ständige Bedrohung darstellen, die im Laufe der Zeit in wechselndem Gewand wiederkehrt« (History and Memory After Auschwitz,  S. 3, Fn.). 17 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: GW, Bd. 13, S. 36.

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Césaire verleiht LaCapras allgemeinem Modell historische Spezifik und ergänzt Versuche, den Nationalsozialismus und die Unfähigkeit Europas, diesen ohne präzedenzlose Vernichtung zu verhindern, zu verstehen, um eine wesentliche Komponente: Die »ständige Bedrohung«, die ein vermeintlich zivilisiertes Europa wiederholt und »in wechselndem Gewand« heimsucht, rührt nicht einfach von einem unbewussten psychischen Potenzial her, sondern vom Kolonialismus selbst: einem jahrhundertelangen Gewaltprojekt, zu dem sich Europäer durch die Doppelhaltung der Verleugnung verhalten haben. Indem er Hitler zum Kolonialismus in Beziehung setzt, wird es Césaire möglich, die Fetischfunktion Hitlers im europäischen Diskurs aufzuzeigen, also Hitlers Funktion als jene psychische Figur, die das Verstehen »unterbricht« und »das Haltmachen der Erinnerung bei traumatischer Amnesie« ermöglicht (Freud, GW, Bd. 14, S. 314). Des Weiteren vermeidet die Bezugnahme auf eine Zeitlichkeit der Wiederkehr, und nicht etwa der Regression, die Postulierung eines normativen, am Fortschrittsbegriff ausgerichteten Narrativs. Solche Narrative neigen dazu, Europas Status als zivilisatorisches Telos unhinterfragt zu lassen und genozidale Politiken, ob in den Kolonien oder »zu Hause«, als Abweichungen zu zeichnen, von denen die zugrunde gelegten Fortschrittsvorstellungen letztlich nicht tangiert werden. Es ist zwar unklar, ob Césaire 1950 mit Benjamins Schriften vertraut war, doch es ist frappierend, dass der Ausdruck choc en retour in Sur le concept d’histoire, der französischen Fassung von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, wiederkehrt, und zwar an eben jener Stelle, die für Arendts Methodologie in den Elementen und Ursprüngen so zentral ist. Der choc en retour (»Chock« in der deutschen und »shock« in der englischen Fassung) ist die Kraft, die die »Stillstellung« der Gedanken produziert und zur Kristallisierung der Konstellation in einer Monade führt.18 Dieser Schock ist, so Benjamin, von ausschlaggebender Bedeutung für die materialistische Methodologie, weil er es dem Kritiker erlaubt, die Zeit als dicht angefüllt mit sich überschneidenden Möglichkeiten und Gefahren zu begreifen, also die Gegenwart, im hier gebrauchten Vokabular gesprochen, als Ort multidirektionaler Erinnerung aufzufassen. Benjamin argumentiert, dass die historistische Methodologie sich als unfähig erwiesen hat, die Gefahr des Faschismus zu erklären, und er führt diese Unfähigkeit auf die historistische Konzeption einer »homogenen, leeren Zeit« zurück. Im Gegensatz dazu bietet Benjamins multidirektionale Zeitlichkeit der kristallisierten 18 Der deutsche Wortlaut findet sich in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 703, der englische in: ders., Illuminations, New York 1968, S. 262, der französische in: ders., Ecrits français, hrsg. v. Jean-Maurice Monnoyer, Paris 1991, S. 346. Es ist in der Tat möglich, dass Césaire mit diesem Text vertraut war. Monnoyer weist darauf hin, dass Pierre Missac in Ausgabe 25 (Oktober 1947) der Temps modernes, S. 623–634, eine französische Übersetzung von Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« veröffentlicht hat. Césaire selbst war zwei Ausgaben später in derselben Zeitschrift Gegenstand einer wenig schmeichelhaften Rezension. Siehe [René] Etiemble, Chronique littéraire: Le Requin et la Mouette, ou les Armes miraculeuses, in: Les temps modernes (Dezember 1947) 27, S. 1099–1113.

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Monade eine Möglichkeit, politischem Extremismus Rechnung zu tragen, da sie nicht die Annahme beinhaltet, die »Zivilisation« habe die »Barbarei« hinter sich gelassen. Wir haben bereits gesehen, wie Arendts Darstellung Afrikas Aspekte des fortschrittsgläubigen Narrativs reproduziert, und das trotz Arendts Bemühungen, sich einer Methodologie der Kristallisation und der Konstellation zu bedienen. Der choc en retour hat bei Césaire eine etwas andere Rolle. Anstatt Teil seines methodologischen Rüstzeugs zu sein, wie bei Benjamin, ist der choc en retour vielmehr Teil von Césaires Europadiagnose: Beim Schock handelt es sich um ein Anzeichen für die europäische Traumatisierung. Weil Europa die Gewalt verleugnet, die es in den Kolonien ausgeübt hat, bleibt es unvorbereitet auf die Konfrontation mit der Wiederkehr genozidaler Gewalt nach Europa. Es fehlt ihm an dem, was Freud »Angstbereitschaft« nennt; solche Angstbereitschaft hätte den traumatischen Schlag abwehren oder zumindest abfedern können.19 Ganz so, wie in Arendts Versuch, den Totalitarismus theoretisch zu fassen, zwei Zeitlichkeiten miteinander koexistieren – eine an Narrative und eine an »fragmentarische Geschichtsschreibung« gekoppelte  –, kommt zu dem bei Césaire ironisch zitierten Regressionsmodell ein disruptiverer, unheimlicherer Modus hinzu, der auf traumatischer Wiederkehr beruht. In LaCapras Begrifflichkeit gesprochen: Die Gewalt in den Kolonien kehrt »genau als das Verdrängte oder als das zurück, was völlig fehl am Platz und unheimlich erschien« (History and Memory After Auschwitz, S. 39). Innerhalb dieses unheimlichen Kontextes ist die Vorstellung, der christliche Bürger trage einen Hitler in sich, mehr als nur jene banale Universalisierung des Nationalsozialismus, die die tatsächlichen Täter von ihrer Schuld freizusprechen tendiert. Césaire bezieht sich vielmehr auf eine sehr spezifische historische Situation. Er betont das Ausmaß, in dem das europäische humanistische Subjekt unter Gewaltbedingungen konstituiert worden ist, zu denen es nicht unbedingt einen unmittelbaren und bewussten Zugang gehabt hat. Césaire war mehr Dichter als politischer Denker, und mehr Dichter und politischer Denker als Historiker. Er bietet keine detaillierte historische Erläuterung, wie der unheimliche Gewalttransfer vonstattengeht. Vielmehr ist seine Aufgabe in erster Linie kritisch. Sein Begriff des choc en retour soll eine Begegnung von europäischer Geschichte und Kolonialgeschichte erzwingen, und zwar derart, dass es für Europa unmöglich wird, gegenüber dem eigenen Handeln in der Welt blind zu bleiben. Der erste Schritt in diesem Prozess besteht in einer Anerkennung der Blockaden, die ein Verständnis der Verschlungenheit unterschiedlicher Geschichten verhindern.20 19 Siehe Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: GW, Bd. 13, S. 31. 20 Eine wichtige Auseinandersetzung mit solchen Erkenntnisblockaden bietet Moses, Conceptual Blockages. Die Vorstellung einer Blockade ist auch für den Benjaminschen Passus über den »Chock« zentral – wenngleich sie hier wieder eine andere Färbung annimmt. Benjamin versteht die Blockade (im Deutschen: Stillstellung, S. 702; im Französischen: bloquage, S. 346; im Englischen: arrest, S. 262) als einen wesentlichen Aspekt des Denkens, der zur Formierung der Konstellation führt, vermittelt über den choc en rétour.

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Césaires Darstellung des indirekten Zugangs Europas zu einer für seine Identität konstitutiven Gewalt erinnert an die von Fredric Jameson in Modernism and Imperialism beschriebene Situation, in der die Lebenswelt europäischer Subjekte während der Phase des Hochimperialismus durch Produktionsverhältnisse in den Kolonien ermöglicht wird, für die die europäischen Subjekte blind bleiben: »Ein wesentliches strukturelles Segment des gesamten Wirtschaftssystems ist nun anderswo verortet, jenseits der Metropole, außerhalb des Alltagslebens und der Existenzerfahrung im Heimatland.« Jameson zufolge führt dies zu einer Situation, in der die Subjekte sich auszeichnen durch eine »Unfähigkeit, die Art und Weise zu begreifen, in der das System als Ganzes funktioniert«, sodass sie nicht in der Lage sind, eine kognitive Kartografie ihrer sozialen Situation zu erstellen (Modernism and Imperialism, S. 50 f.). Césaire ergänzt diese Darstellung, indem er die Position vertritt, Ausbeutungsverhältnissen würden Gewaltverhältnisse zugrunde liegen und sogar über sie hinausweisen. Ganz so, wie das europäische Subjekt notwendigerweise blind ist für die gesellschaftliche Produktion seines Wohlergehens – eine Blindheit, die »keine Erweiterung der persönlichen Erfahrung […], keine noch so intensive Selbstprüfung« überwinden kann (Modernism and Imperialism, S. 51) –, erweist es sich auch als unfähig zu erkennen, dass die Gewalt, die zur Sicherung dieses Wohlergehens in der Peripherie ausgeübt werden muss, in die Metropole migrieren und das metropolitane Wohlergehen unterminieren wird. Auch hier befindet sich Césaire wieder teilweise im Einklang mit Arendt, die den Imperialismus als eine Praxis betrachtet, die zwar zunächst aus ökonomischen Motiven betrieben wird, aber letztlich die utilitaristische Vernunft den Forderungen der »Rassen«-Gemeinschaft unterordnet und damit zu den Voraussetzungen für genozidale Gewalt beiträgt. Im Zuge seiner Untersuchung der Blindheit des metropolitanen Subjekts hebt Césaire eine zeitliche Struktur hervor – den choc en retour –, die auch in Conrads Herz der Finsternis zu verzeichnen ist, wenn auch in etwas abgeschwächter Form. Conrads Novelle wurde zwar Jahrzehnte vor der nationalsozialistischen »Endlösung« verfasst, könnte aber selbst eine der Quellen jener Vorstellungen von »BumerangEffekten« und Rückwärtsschocks sein, durch die ein Zusammenhang von Imperialismus und nationalsozialistischem Genozid hergestellt wird. Tatsächlich endet Über den Kolonialismus mit einer besonders Conradschen Note. Herz der Finsternis, das viele Jahre vor Césaires Niederschrift von Über den Kolonialismus als Le coeur des ténèbres übersetzt worden war, schließt mit einem Bild, das Europa mit Finsternis in Verbindung bringt.21 Im letzten Absatz, nachdem Marlow die Geschichte seines afrikanischen Abenteuers und seiner Rückkehr nach Europa abgeschlossen hat, meldet sich der namenlose Erzähler selbst zu Wort und blickt auf die Themse: »Die Mündung war von einer schwarzen Wolkenbank umlagert, und die ruhige Wasserstraße, die zu 21 Die älteste französische Ausgabe, die ich im Katalog der Bibliothèque Nationale haben finden können, ist: Jeunesse: suivi du Coeur des ténèbres, Paris 1925. Es handelt sich um die dritte Auflage.

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den letzten Enden der Welt führte, strömte düster, unter bedecktem Himmel dahin, wie in das Herz einer ungeheueren Finsternis.«22 Indem es Unzugänglichkeit (die umlagerte Mündung) und Zugänglichkeit (die ruhige Wasserstraße) verbindet, versammelt dieses Bild jene Schlüsselelemente, die Conrads Erzählung zu unserem Nachdenken über den Bumerang-Effekt beiträgt. In Über den Kolonialismus schreibt Césaire, kurz bevor er im abschließenden envoi das Proletariat als Subjekt der Geschichte bestimmt: »Wenn Europa […] sich nicht zum Erneuerer der Vaterländer und Zivilisationen macht […], so beraubt es sich selbst seiner letzten Chance und breitet eigenhändig das Leichentuch über sich« (Über den Kolonialismus, S. 75; Discours [1950], S. 61). Césaire schließt, indem er die Elemente von Conrads Novelle durcheinanderbringt. Conrad geht von einer tödlichen Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie aus, verortet die Gewalt dieser Verbindung aber anderswo, in der Finsternis am Rand der Wasserstraße, irgendwo jenseits der Metropole. Im Gegensatz dazu sucht Césaire nach einer fehlenden, gewaltlosen Verbindung Europas und seiner Kolonien; er verortet das anhaltende Potenzial für Finsternis durch ein reflexives Verb und die Futur-Perfekt-Zeitform (»Europa […] breitet eigenhändig das Leichentuch über sich [se sera […] de ses propres mains tiré]«). Die Reflexivität und Zeitform des Verbs deuten stark darauf hin, dass sich Europa aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin selbst Gewalt zufügen wird, sie drücken aber zugleich auch Césaires Weigerung aus, Europa als einen Ort zu naturalisieren, der zwangsläufig (wie die Themse) einem bestimmten Entwicklungsweg folgen wird. Es bleibt ein gewisses Maß an Möglichkeiten, selbst für Europa. Trotz dieser bedeutenden Unterschiede bietet Conrads Text anregende Hinweise darauf, wie der Bumerang-Effekt funktioniert und was wir also über den choc en retour denken sollten. Am Schluss von Herz der Finsternis wird nicht nur erzählt, wie der Elfenbeinhändler Kurtz, der sich im afrikanischen Dschungel von der »Zivilisation« abgeschnitten sieht (eine wichtige, von Arendt übernommene Komponente), »zum Wilden wird«, sondern es wird auch der Übertragung dieser Wildheit in die imperiale Metropole nachgegangen (was wiederum eine wichtige Komponente der Argumentation von Césaire in Über den Kolonialismus ist). Auf den letzten Seiten der Erzählung wendet Marlow sich wieder der – als Brüssel erkennbaren – »Grabesstadt« (S. 127) zu, aus der er zu seinem Abenteuer aufgebrochen war, und begegnet dort Kurtz’ »Braut«. Als Marlow zur Tür geht, um Kurtz’ Testament zu überbringen, wird er von der Rückkehr eines »hervorragende[n] Mensch[en]«, eben Kurtz, heimgesucht (S. 132): »Ich denke, die Erinnerung an ihn war wie die anderen Erinnerungen an Tote, die sich in jedes Mannes Leben anhäufen – ein leichter Eindruck im Hirn von Schatten, die sich im raschen Vorbei abgeprägt haben; doch vor dem hohen, wuchtigen Tor, zwischen den mächtigen Häusern einer Straße, die still und ehrwürdig wirk22 Conrad, Herz der Finsternis, S. 135.

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ten wie eine gut gehaltene Allee in einem Friedhof, stand plötzlich sein Bild wieder vor mir, wie er auf der Bahre lag und gefräßig den Mund öffnete, als wollte er die ganze Erde mit all ihren Bewohnern verschlingen. Er stand geradezu lebendig vor mir – lebendig, wie er es je gewesen war – ein Schatten, der sich unersättlich nach prunkvoller Umgebung, nach furchtbarer Wirklichkeit sehnte. Ein Schatten, dunkler als der der Nacht, und edel in die Fluten einer übermenschlichen Beredsamkeit gehüllt. Das Bild schien mich in das Haus hineinzubegleiten – die Bahre mit ihren gespenstischen Trägern, die wilde Schar der ehrfürchtigen Anbeter, das Waldesdüster, das Glitzern des Stromes zwischen den dunklen Ufern, die Schläge der Trommel, regelmäßig und dumpf wie die eines Herzens  – des Herzens der siegreichen Finsternis. Es war ein Augenblick des Triumphes für die Wildnis, ein jähes, rachsüchtiges Vordringen, das ich, so schien es mir, ganz allein würde aufzuhalten haben, um des Heiles einer anderen Seele [sc. der Seele der Verlobten] willen.« (Herz der Finsternis, S. 130)

In dieser Textpassage zeichnet Conrad die wechselseitige Verschränkung von Kolonie und Metropole als ein raumzeitliches Phänomen. Die zeitliche Wiederkehr der Erinnerung und der repetitive Trommel- beziehungsweise Herzschlag suchen Marlow zu eben dem Zeitpunkt heim, da er von einer raumgreifenden, rachsüchtigen Erscheinung verfolgt wird. Die hier allegorisch angedeutete Kontaminierung eines feminisierten häuslichen Raums wird wenig später explizit gemacht, wenn die Wiederkehr von Kurtz’ gespenstischer Anwesenheit verdoppelt wird in der Verfolgung seiner Verlobten durch seine afrikanische Liebhaberin: »Ich sah ihn eben damals deutlich genug. Ich werde dieses beredte Gespenst sehen, solange ich lebe, werde auch sie [die Verlobte] sehen, einen tragischen, vertrauten Schatten, sie, die mich in dieser Gebärde [dem Ausstrecken der Arme] an eine andere tragische Gestalt [die afrikanische Liebhaberin] erinnerte; an die andere, die, mit unwirksamen Zaubermitteln bedeckt, nackte, braune Arme über das höllische Glitzern des Stromes, des Stromes der Finsternis, ausgestreckt hatte« (S. 134). In dieser Welt aus Schemen und Schatten finden sich Afrikanerinnen und Europäer als Teile einer geschichteten, mehrdimensionalen Welt der Erscheinungen wieder. Diese letzten Passagen des Romans weisen eine außergewöhnliche und zugleich ambivalente empathische Reichweite auf: Wie die beiden Frauen, von denen er erzählt und die er verbindet, streckt Marlow die Arme, um disparate Geografien zusammenzuführen. Der weibliche Körper dient zur Überbrückung zweier tragischer Geschichten, jener der Kolonie und jener der Metropole, oder auch jener der schwarzen und jener der weißen Frau; er dient jedoch zugleich auch als Vehikel für einen Diskurs schattenhafter »rassischer« Kontamination. Unabhängig davon, ob Marlow, der namenlose Erzähler oder selbst der Autor weiß, was auf dem Spiel steht, zeigt dieser Schluss die Logik des Bumerang-Effekts. Er zeigt nicht nur, wie die Metropole von kolonialer Gewalt überschattet wird (was auch Arendt behandelt), sondern auch die Blindheit oder das Schweigen, das die Übertragung der Gewalt von einem Kontext

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in den anderen ermöglicht. Marlow begreift seine Rolle als die eines Beschützers: Er rettet die feminisierte Heimat vor der Konfrontation mit der erobernden Gewalt der Unternehmungen Kurtz’ in Afrika, indem er die Heimat durch eine Lüge abschirmt. Anstatt Kurtz’ Verlobten tatsächliche letzte Worte zu eröffnen – »Das Grauen! Das Grauen!« –, sagt er ihr: »Das letzte Wort, das er aussprach, war – Ihr Name« (Herz der Finsternis, S. 135). Doch es ist gerade Marlows Lüge, seine Unfähigkeit, der Verlobten und den Einwohnern der Metropole das wahre »Grauen« der kolonialen Begegnung mitzuteilen, die diese Wahrheit auf indirekte Weise kommuniziert, wie Césaire später begreifen sollte. Die Lüge ermöglicht den Bumerang-Effekt oder choc en retour, indem sie eine Abschirmung schafft, hinter der die koloniale Gewalt fortgesetzt und damit auf neue Weisen, in neuen Räumen tödlich werden kann – bevor sie letztlich »nach Hause« zurückkehrt. Césaire teilt also mit Arendt und Conrad eine Vorstellung des Bumerang-Effekts oder der schockierenden Wiederkehr von Gewalt aus der Ferne. Innerhalb dieses raumzeitlichen Topos bleiben aber auch bedeutende Differenzen bestehen. Sowohl Arendt als auch Conrad gehen von der Prämisse aus, dass die Grausamkeit in Europa von der Grausamkeit in Afrika abhängt – doch die Art und der Ursprung der »afrikanischen« Grausamkeit bleiben unklar. Wollen Arendt und Conrad die Grausamkeit dessen, was die Europäer den Afrikanern angetan haben, als das entscheidende Element bestimmen? Oder ist die Grausamkeit der afrikanischen Opfer Europas Quelle und Inhalt dessen, was in die Metropole rückübertragen wird? Während sowohl Arendt als auch Conrad die Gewalt des Kolonialismus anerkennen – und tatsächlich zwei der überzeugendsten europäischen Darstellungen dieser Gewalt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgelegt haben  –, suggeriert die Logik ihrer Berichte auch, dass die Gewalt in gewisser Weise durch die »Welt-« oder »Kulturlosigkeit« der Opfer provoziert wurde. Wie Herz der Finsternis und Elemente und Ursprünge stellt Césaires Über den Kolonialismus europäische Vorstellungen des Menschlichen radikal infrage. Anders als in den anderen beiden Texte beruht diese Infragestellung bei Césaire jedoch nicht auf der vermeintlich schockierenden Erfahrung einer Entdeckung des »natürlichen Menschen«. In einem Passus der 1955 veröffentlichten Ausgabe von Über den Kolonialismus, der an Arendts Darstellung der »Tötung der Individualität« in den Lagern erinnert und mit dem »Grauen« von Herz der Finsternis in Einklang ist, setzt Césaire – eine weitere Artikulierung des choc en retour – die Vertierung der Afrikaner zu jener der Europäer in Beziehung: »Und wenn ich einige dieser scheußlichen Schlächtereien in Erinnerung bringe, so geschieht das keineswegs aus trüber Genugtuung, sondern weil ich denke, daß man sich dieser Menschenköpfe, dieser Ohrenernten, dieser verbrannten Häuser […] nicht so billig entledigt. Sie beweisen, daß die Kolonisation, ich wiederhole es, selbst den zivilisiertesten Menschen entmenscht; daß die koloniale Aktion, das koloniale Unternehmen, die koloniale Eroberung, gegründet auf die Verachtung des Eingeborenen und gerechtfertigt durch diese Verachtung, unvermeid-

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lich darauf hinausläuft, den, der sie betreibt, zu verändern; daß der Kolonisator, der sich, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, daran gewöhnt, im anderen das Tier [la bête] zu sehen, der sich darin übt, ihn als Tier zu behandeln, objektiv dahin gebracht wird, sich selbst in ein Tier zu verwandeln. Diese Veränderung ist es, dieser Gegenschlag der Kolonisation, die es zu verdeutlichen gilt.« (Über den Kolonialismus, S. 20 f.; Discours [1955], S. 16 f.)

Césaires Darstellung des kolonialen Rückwärtsschocks weicht insofern von Arendts Bumerang ab, als sie nicht die Vorstellung beinhaltet, genozidale Gewalt habe ihren Ursprung an einem natürlichen Ort. Césaire beschreibt vielmehr eine Routinisierung der Verachtung, die sowohl in der Außenwelt als auch innerhalb des kolonialen Subjekts am Werk ist. Dabei geht es nicht um die Animalität des Anderen, sondern um die gewohnheitsbildenden Verfahren der Kolonisierung, die in der Metropole zu einer unerwartet traumatischen Rückwirkung führen. Es stimmt, dass man in Césaires Schriften eine gewisse Idealisierung vorkolonialer Zustände findet. Beispielsweise spricht er selbst in Über den Kolonialismus von den »natürlichen Wirtschaftsstrukturen«, die durch den Kolonialismus »zerrüttet werden«, und von den »Gesellschaften, die nicht nur […] vorkapitalistisch, sondern die auch antikapitalistisch waren« (Über den Kolonialismus, S. 24 f.). Doch Césaires Kritik des Kolonialismus ist nicht auf die Postulierung einer solchen vorzeitlichen Vision angewiesen, wie es Arendts Vorstellung von der Entstehung der »Rassen«Gesellschaft in Afrika hingegen durchaus ist. Der Weg zur Vernichtung beginnt bei Césaire eindeutig auf europäischer Seite, unabhängig davon, wie der vorkoloniale Zustand Afrikas oder der Antillen charakterisiert wird. Arendt gebraucht die Vorstellung eines Schocks, um die Reaktion kultivierter Europäer auf ihre Begegnung mit den »wortlosen« Afrikanern zu beschreiben. Indem Césaire auf die bei den Europäern vorab gegebene verächtliche Haltung und auf ihre sich entwickelnden Wahrnehmungsgewohnheiten eingeht, verortet er die koloniale Bewegung hingegen in einem Raum, der von Fantasien und Ideologien der »Rasse« vorstrukturiert ist.23 Die 23 Arendts Verständnis der Entwicklung des Rassismus ignoriert vorimperialistische Vorstellungen von »Rasse« nicht. Sie unterscheidet »Rasse«-Denken« jedoch scharf vom modernen Rassismus und sieht zwischen den beiden keine Kausalverbindung. Sie schreibt, zwischen »den vulgär-brillanten Einfällen dieser Halbintellektuellen [sc. den Rassetheoretikern des 19. Jahrhunderts] und der aktiven Bestialität, die wir seit Ende des vorigen Jahrhunderts von allen Seiten, und vor allem durch die Rasseideologie, in die Politik eindringen sehen«, bestehe »ein Abgrund, den keine Untersuchung über geschichtliche Einflüsse, und sicherlich nicht geistesgeschichtliche, überbrücken kann. Das neunzehnte Jahrhundert ist voll von absurden Weltanschauungen, die wir nahezu vergessen haben; es ist mehr als wahrscheinlich, daß ohne den ›scramble for Africa‹ und die neuen erschütternden Erfahrungen, welche in ihm der europäischen Menschheit zugemutet wurden, die rassische Weltanschauung eines ebenso natürlichen Todes gestorben wäre wie andere Weltanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts.« Die Einsicht in den Wandel des Nachdenkens über »Rasse« ist zwar von entscheidender Bedeutung, doch die Weigerung, irgendwelche Kontinuitäten zu erkennen, ist simplifizierend, und die Behauptung der einzigartigen Bedeutung des »Wettlaufs um Afrika«

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Begegnung löst, wie bei Arendt, in den Kolonisatoren Veränderungen aus, die die Grenzen des Menschlichen infrage stellen. Anstatt die bestimmende, treibende Kraft zu mystifizieren, lenkt Césaire die Aufmerksamkeit auf die Grundlage der kolonialen Begegnung in Unternehmertum, Eroberung und »Rassen«-Verachtung. Um den von Césaire in der obigen langen Passage beschriebenen Prozess in den von Giorgio Agamben entwickelten Begriffen zu fassen: Der Kolonialismus verwischt die Unterscheidung zwischen Ausnahmezustand und Norm und lässt so die Gegensätze von »bloßem Leben« und politischer Existenz sowie von Tier und Mensch in sich zusammenfallen. Agamben teilt mit Césaire den Wunsch, das Natürliche nicht zu »naturalisieren«, also nicht einigen Menschen einen gegenüber der politischen Existenz fundamental äußerlichen Status zuzuschreiben, wie Arendt dies zu tun scheint. Obwohl Agamben an keiner Stelle auf den Kolonialismus eingeht, zeichnet auch er die Moderne als strukturell bestimmt von der »Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich«, eine Inklusion, die er als den »ursprünglichen – wenn auch verborgenen – Kern der souveränen Macht« charakterisiert.24 Indem er einen »ursprünglichen […] Kern« in der Struktur der Souveränität selbst ausmacht, schließt Agamben den Kolonialismus (und alle anderen historischen Abläufe) nicht nur zufällig, sondern notwendigerweise von der Betrachtung aus. Durch das Konzept des choc en retour stellt Césaire die Zeitlichkeit des Ereignisses – in diesem Fall der gewaltsamen kolonialen Begegnung – wieder her. Diese Zeitlichkeit ist nicht singulär, sondern breitet sich ausgehend von der Begegnung wellenförmig aus, um weitere Ereignisse zu produzieren und zu beeinflussen – Ereignisse wie den nationalsozialistischen Genozid, deren Erbschaften wiederum zurückkehren und den Todeskampf des Kolonialismus prägen.

Das Trauma mit Césaire und Fanon neu durchdenken Unsere Auseinandersetzung mit dem, was der choc en retour beinhaltet, hat uns zum Herzstück von Césaires Beitrag zur Konzeptualisierung der Multidirektionalität geführt. Die für dieses Projekt bedeutendste Hinterlassenschaft von Über den Kolonialismus besteht in einem neuen Verständnis der beiden Schlüsselbegriffe, die den choc en retour ausmachen, also in Césaires Einsatz von Diskursen des Schocks und der Wiederkehr, um binäre und lineare Konzeptionen von Kultur, Gewalt und Geschichte aufzubrechen. An die Stelle solcher Konzeptionen setzt Césaire ein Modell erscheint aus der US-amerikanischen Perspektive willkürlich. In den USA ist »Rasse« mindestens ebenso stark an die Sklaverei gekoppelt wie an den Expansionismus. Siehe Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 306. Eine ausführliche Kritik der Unterscheidung Arendts zwischen »Rasse«-Denken und Rassismus, unter Betonung der US-amerikanischen und kolonialen Kontexte, bietet Gines, Race Thinking and Racism in Hannah Arendt’s The Origins of Totalitarianism, S. 38–53. 24 Agamben, Homo Sacer, S. 16.

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der Relationalität und wellenförmiger Auswirkungen. Da die Kategorien »Schock« und »Wiederkehr« auch für die heutige Traumatheorie von zentraler Bedeutung sind, bietet Über den Kolonialismus einen Anlass, sich mit dem multidirektionalen Potenzial und den eurozentrischen Fallstricken der Traumaforschung auseinanderzusetzen. Die Bedeutung eines Überdenkens der Traumaforschung aus multidirektionaler Perspektive ergibt sich aus mehreren zusammenhängenden Problemen: aus der Zentralität traumatischer Geschichten für die zeitgenössischen Kämpfe um Erinnerung und Identität (wie das Beispiel von Walter Benn Michaels zeigt); aus den starken Ansprüchen der Traumatologen an die komparativen Dimensionen des Traumas und die empathischen Möglichkeiten ihrer eigenen Methodik; aus der engen Verbindung von Traumatologie und Holocaustforschung; und aus dem wachsenden Interesse an Trauma unter postkolonialen Kritikern und Kritikerinnen. Weil Trauma ein scheinbar allgegenwärtiges modernes Phänomen ist, das weder einer einzigen Disziplin noch einem einzigen Fachgebiet angehört, haben viele Forscher und Forscherinnen in ihm ein Verbindungsglied zwischen disparaten Geschichten und geokulturellen Orten zu finden gehofft. Gleichzeitig fungiert Trauma jedoch oft als Gegenstand eines Konkurrenzkampfes, als kulturelles Kapital, aus dem sich moralische Privilegien ableiten lassen. Césaires Text hilft uns, der Moralisierung zu entgehen, die diese Diskussionen oft begleitet. Er bietet eine unerwartete Sichtweise auf zwei Anschuldigungen, die den Kern einer Kritik an jener neueren Traumaforschung ausmachen, die seit den 1990erJahren in den Arbeiten von Cathy Caruth und ihrem Umfeld entwickelt worden ist: Die Traumaforschung ignoriere die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern und bleibe einem eurozentrischen Rahmen verhaftet. Wie Elemente und Ursprünge mit seinen anschaulichen Beschreibungen der »schockierenden« Begegnung von Europäern und Afrikanern oder Über den Kolonialismus mit seiner Vorstellung des choc en retour bezieht Caruths Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History (1996), ein grundlegender Text für das heutige Nachdenken über Trauma, einige seiner zentralen Begriffe ebenfalls aus einem Szenario, das die Traumatisierung von Tätern zum Gegenstand hat. In der Einleitung zu ihrem Buch, das ein ganzes Forschungsfeld geprägt hat, beginnt Caruth mit einer Analyse der Freudschen Interpretation des Epos Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso; ihr Hauptaugenmerk gilt der von Freud erörterten »Parabel« von Tankred und Clorinda.25 In dieser Episode aus Tassos Epos, die Freud in Jenseits des Lustprinzips nacherzählt, tötet »Held Tankred […] unwissentlich die von ihm geliebte Clorinda […], als sie in der Rüstung eines feindlichen Ritters mit ihm [kämpft]«, um dann nach Clorindas Beerdigung »einen hohen Baum mit seinem Schwerte [zu zerhauen]«, woraufhin »die Stimme Clorindas, deren Seele in diesen Baum gebannt war, […] ihn [anklagt], daß er wiederum die Geliebte geschädigt habe« 25 Cathy Caruth, Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996, S. 1–9.

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(Freud, GW, Bd. 13, S. 21; zit. bei Caruth, Unclaimed Experience, S. 2). Caruth begreift diese eigenartige Geschichte als sinnbildlich für Freuds Traumatheorie: »Tankreds Handlungen, dass er also seine Geliebte im Kampf verwundet und sie dann, ohne es zu wollen und scheinbar zufällig, aufs Neue verwundet, veranschaulichen auf sinnbildliche Weise, wie sich die Erfahrung des Traumas bei Freud durch die unwissentlichen Handlungen des Überlebenden und gegen seinen Willen wiederholt, und das aufs Genaueste und ohne Unterlass« (Unclaimed Experience, S. 2). Caruth zufolge sprengt das Beispiel von Tankred und Clorinda womöglich sogar »die Grenzen von Freuds begrifflicher oder bewusster Traumatheorie«, sofern es unsere Aufmerksamkeit auf »die bewegende und traurige Stimme, die schreit«, lenke, »eine Stimme, die paradoxerweise durch die Wunde freigesetzt wird«. Mit anderen Worten: »Tankred wiederholt nicht nur seine Handlung, sondern er hört bei der Wiederholung zum ersten Mal eine Stimme, die ihn auffordert zu sehen, was er getan hat« (Unclaimed Experience, S. 2 f.). Die Schlüsse, die Caruth aus dieser Geschichte zieht, haben in den Jahren seit der Veröffentlichung ihres Buches die Diskussion um Trauma stark geprägt: »So wie Tankred die Stimme von Clorinda erst bei der zweiten Verwundung hört, lässt sich das Trauma nicht einfach in einem vergangenen, ursprünglichen Gewaltereignis verorten, sondern äußert sich vielmehr derart, dass sein sehr unassimilierter Charakter – es ist ja als Trauma zunächst überhaupt nicht erkannt worden – später zurückkehrt, um den Überlebenden heimzusuchen« (S. 4). Seit Caruths Buch – und ihrem ebenso einflussreichen Sammelband Trauma: Explorations in Memory  – hat eine Vorstellung von Trauma als repetitive, spukhafte, »unbeanspruchte« (unclaimed) Erfahrung unerkennbarer Gewalt in die geisteswissenschaftliche Forschung Eingang gefunden. Doch haben Caruths Traumatheorie und insbesondere ihre Erörterung der Geschichte von Tankred und Clorinda auch auf Anhieb eine Kontroverse entfacht und heftigen Widerspruch provoziert. In Trauma: A Genealogy hat Ruth Leys eine ausführliche Kritik an Caruths Theorie vorgelegt, die in einer neuen Auslegung der Parabel von Tankred und Clorinda gipfelt.26 Leys wirft Caruth vor, sie stelle in ihren Ausführungen zu Tasso Täter als Trauma-Opfer dar. In Caruths Lesart ist Tankred das traumatisierte Subjekt, doch Leys argumentiert, dass »in der Geschichte nicht Tankred, sondern Clorinda unbestreitbar das Opfer einer Verwundung ist« (S. 294).27 26 Ruth Leys, Trauma: A Genealogy, Chicago 2000, S. 266–297. 27 Leys weist auch darauf hin, dass Freud Tankred nicht »als Beispiel für eine traumatische Neurose« anführt, sondern für die »allgemeine, auch an normalen Personen zu beobachtende Tendenz, unangenehme Erfahrungen zu wiederholen, also als Beispiel für den Wiederholungszwang oder Todestrieb« (S. 293). Freud hat, wie David Quint bemerkt, Tasso wahrscheinlich nicht gelesen; seine Nacherzählung der Geschichte von Tankred und Clorinda sei »Goethes Wilhelm Meister entnommen«. Siehe David Quint, Epic and Empire: Politics and Generic Form from Virgil to Milton, Princeton 1993, S. 404, Fn. Es geht hier, wie ich glaube, weniger um die »Genauigkeit« von Freuds oder Caruths Lesarten als darum, welchen Gebrauch sie von ihren Quellentexten machen.

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Das ist keineswegs der einzige Einwand, den Leys gegen Caruths Traumatheorie erhebt, doch er bereitet ihre dramatischte Pointe sowie das Argument vor, mit dem der Hauptteil ihres Buches schließt: »Wenn, nach [Caruths] Analyse, der Mörder Tankred ein Trauma-Opfer werden und die Stimme Clorindas Zeugnis von seiner Wunde ablegen kann, dann würde Caruths Logik auch aus anderen Tätern Opfer machen. Beispielsweise würde sie die Henker der Juden zu Opfern und die ›Schreie‹ der Juden zu Zeugnissen des von den Nationalsozialisten erlittenen Traumas machen« (Trauma: A Genealogy, S. 297). Postkoloniale Kritiker, die sich insbesondere für die Machtdynamiken interessieren, die zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten bestehen, haben Leys’ Kritik der scheinbaren Ununterscheidbarkeit von Tätern und Opfern nachdrücklich beigepflichtet. In einem faszinierenden Aufsatz über afrikanische Trauma-Romane hat Amy Novak sogar betont, dass die Parabel von Tankred und Clorinda einen verkannten kolonialen Aspekt aufweist: Sie handelt von der Ermordung einer äthiopischen Frau durch einen europäischen Kreuzritter.28 Ich komme weiter unten auf die Kolonialfrage in der Geschichte von Tankred und Clorinda zurück. Die Debatten um das postkoloniale Potenzial der Traumatheorie haben sich nicht in Bedenken über Täterschaft erschöpft. Zusätzlich zu Caruths angeblicher Verkennung der Spezifik von Subjektpositionen und Machtgefällen haben einige postkoloniale Kritiker noch andere Punkte bemängelt: Im Anschluss an die feministische Psychologin Laura Brown vertraten sie die Position, das mit Caruth assoziierte »ereignis-« oder »unfallbasierte« Traumamodell setze die Bedingungen weißer, westlicher Privilegiertheit voraus und lenke von den »heimtückischen« Traumaformen ab, die mit alltäglichen, wiederholten Formen traumatisierender Gewalt einhergehen, etwa Sexismus, Rassismus und Kolonialismus.29 Diese Kritiker ergänzen Browns einflussreichen Aufsatz (der freilich in Caruths Sammelband Trauma: Explorations in Memory erschienen ist) mit Ausführungen zum Werk des CésaireSchülers Frantz Fanon. Bei Fanon finden die Kritiker die Theorie eines kollektiven kolonialen Traumas, die eine Alternative zu dem von Caruth vertretenen, individualisierenden psychoanalytischen Ansatz biete.30 28 Amy Novak, Who Speaks? Who Listens? The Problem of Address in Two Nigerian Trauma Novels, in: Studies in the Novel 40 (2008) 1/2, S. 31–51. Quints faszinierende Erörterung zeigt, dass die Geschichte von Tankred und Clorinda noch komplexer und mehrdeutiger ist, als Freud, Caruth und Novak anerkennen; vgl. Quint, Epic and Empire, S. 234–247. 29 Laura Brown, Not Outside the Range: One Feminist Perspective on Psychic Trauma, in: Caruth (Hrsg.), Trauma: Explorations in Memory, S. 100–112. 30 Eine Kritik des »Unfallmodells« von Trauma bietet Nancy Van Styvendale, The Trans/historicity of Trauma in Jeannette Armstrong’s Slash and Sherman Alexie’s Indian Killer, in: Studies in the Novel 40 (2008) 1/2, S. 203–223. Viele der Beiträge zu Craps’ und Buelens’ wichtiger Aufsatzsammlung widmen sich dem Problem des »Unfallmodells« und beziehen sich auf Brown und Fanon, um Alternativen zu diesem Modell zu entwickeln. Die Möglichkeiten und Grenzen der postkolonialen Herangehensweise an Trauma bilanziere ich in meinem Nachwort zu dem von Craps und Buelens herausgegebenen Sonderheft: Decolonizing Trauma Studies: A Response, in: ebenda, S. 224–234.

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Die Kritiker und Kritikerinnen der Traumaforschung sprechen wichtige Probleme an und betonen das Desiderat einer kosmopolitischeren und politisch versierteren Traumaforschung. Befasst man sich jedoch im Kontext von Césaires Werk mit ihren Einwänden, dann ergibt sich eine überraschende Neuinterpretation sowohl der Traumaforschung als auch postkolonialer Ansätze. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sich Césaire, wie Arendt, für die Frage des Täter-Traumas interessiert. So merkwürdig Caruths Entscheidung, ihr Buch über Trauma mit Tassos Parabel zu eröffnen, auch erscheinen mag: Die Parabel hat Implikationen, die einige von Caruths Kritikerinnen noch nicht zur Kenntnis genommen haben. Die von Leys und anderen formulierten Einwände gehen zum Teil auf einen Kategorienfehler zurück. Ausschlaggebend ist dabei, dass Leys die Kategorie »Opfer« mit der des traumatisierten Subjekts gleichsetzt. Ähnlich schreibt Novak: »Nicht Tankred erlebt das Trauma, sondern Clorinda« (Who Speaks?, S. 32). Doch obwohl man alltagssprachlich, wie Leys, von »Trauma-Opfern« spricht, hat die damit gemeinte Viktimisierung einen anderen ontologischen Status als den, der für die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern relevant ist, und das eine wird oft mit dem anderen verwechselt. So können wir uns zum einen ein Opfer vorstellen, das nicht traumatisiert worden ist – sei es, weil die Viktimisierung nicht die Art von Störung produziert hat, auf die ein sinnvoller »Trauma«-Begriff verweisen sollte, sei es, weil das Opfer ermordet worden ist, wie im Fall von Clorinda. Die Toten sind nicht traumatisiert, sondern tot; Trauma impliziert, dass man »auf andere Weise« weiterlebt.31 Zum anderen verleiht Traumatisierung nicht zwingend den Status eines Opfers. LaCapra hat oft darauf hingewiesen, dass Täter, die extreme Gewalt ausgeübt haben, davon traumatisiert sein können – was ihre Schuld nicht mindert und woraus ihnen kein Anspruch auf den Status von Opfern oder gar auf unsere Sympathie erwächst.32 Tatsächlich haben sich in der Nachfolge Freuds viele Untersuchungen zum Trauma mit traumatisierten Subjekten befasst, die (auch) Täter sind und extreme Gewalt ausgeübt haben, darunter insbesondere Soldaten. Die Kategorien des Opfers und des Täters entstammen entweder juristischen oder moralischen Diskursen, der Traumabegriff gehört hingegen einem diagnostischen Bereich an, der Fragen nach Schuld oder Unschuld oder nach Gut und Böse hinter sich lässt. Zwar fehlt es unserem alltagssprachlichen Gebrauch dieser Begriffe verständlicherweise oft an Genauigkeit, doch wissenschaftliche Ansätze sollten sorgfältig zwischen unterschiedlichen diskursiven Bereichen unterscheiden. Gerade weil Traumata das Potenzial haben, unsere ethische und politische Urteilsfähigkeit zu beeinträchtigen, sollte die Traumakategorie keine moralischen Wertungen bestätigen. Auf eine solche Bestätigung scheinen Leys und Novak, anders als Caruth, aber gerade hinauszuwollen. 31 Zum Trauma als Modus des Weiterlebens siehe Lloyd, Colonial Trauma/Postcolonial Recovery?, S. 219 f.; Michael Rothberg, Traumatic Realism: The Demands of Holocaust Representation, Minneapolis 2000, S. 138. 32 Siehe LaCapras Ausführungen in History and Memory After Auschwitz, S. 41.

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Césaires Diskurs über Schock und Wiederkehr im europäischen Kontext baut auf dieser Einsicht in die Möglichkeit eines Täter-Traumas auf, um eurozentrische Erkenntnisansprüche zu hinterfragen. Die Verleugnung kolonialer Gewalt, der Césaire in Über den Kolonialismus nachgeht, produziert einen Rückwärtsschock, der dadurch, dass er sich innerhalb einer historischen Logik verorten lässt, nicht weniger traumatisch wird. Dagegen liegt das Fragwürdige an Arendts Formulierung des Problems weniger darin, dass sie seitens der Kolonisatoren ein Potenzial für Schock und Trauma ausmacht, als vielmehr darin, dass sie die »Ursache« des Traumas in den vermeintlichen Eigenschaften von Afrikanern und Afrikanerinnen zu finden meint, aber nicht in der Lage zu sein scheint, sich die gleichzeitige Traumatisierung (nicht: Ermordung) der Kolonisierten vorzustellen. Sie zeichnet zwar den Bumerang-Effekt des kolonialen Rassismus nach, entwickelt aber kein multidirektionales Verständnis von Gewalterbschaften. Das Problem liegt nicht so sehr in ihrer Vorstellung von den Opfern als traumatisierten Personen, sondern vielmehr in ihrer Unfähigkeit, die Opfer des Kolonialismus als Subjekte wahrzunehmen, die ihrerseits kulturfähig und traumagefährdet sind. Césaires Fokus auf den Schock der Wiederkehr des Kolonialismus in die Metropole soll unterschiedliche Gewalt- und Traumaschauplätze zusammenführen, ohne dabei Täter und Opfer zu verwechseln. Césaire hilft uns auch, den zweiten Einwand gegen Caruths Traumatheorie zu reflektieren: dass also Caruths Traumamodell an die Erwartungen gekoppelt bleibt, die mit einer privilegierten westlichen Weltsicht einhergehen, dabei die subtilen, alltäglichen Formen von Trauma ignorierend. In Über den Kolonialismus erscheint traumatische Gewalt sowohl im ereignishaften als auch im subtilen Modus, außerdem sowohl im Kontext von Täterschaft als auch in dem von Viktimisierung; das, was ich als die wellenförmigen Auswirkungen extremer Gewalt und des choc en retour bezeichnet habe, könnte also als eine Art Bindeglied zwischen diesen verschiedenen Traumaverständnissen dienen. Bei Césaire ist das Trauma, wie von Caruth erklärt, aber nie ausdrücklich nachgewiesen, »das eigentliche interkulturelle Band«.33 Aus dieser Funktion lässt sich allerdings kein moralisches Kapital ableiten, und auch keine universalistische oder humanistische Vision der Harmonie. Im Gegenteil: Das vom Trauma geschaffene »Band« überträgt rassifizierte Gewalt. Césaires Text bedient sich zwar psychoanalytischer Begriffe, ist aber nicht in erster Linie psychologisch ausgerichtet. Er versucht nicht, eine ausgereifte Traumatheorie zu entwickeln. Dennoch legt Über den Kolonialismus eine multidirektionale Weise nahe, über traumatische Störungen nachzudenken, die Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken aufzugreifen scheint – einem nur zwei Jahre später erschienenen Buch, dem ein Zitat aus Césaires Polemik als Motto vorangestellt ist. In »Der Neger und die Psychopathologie«, dem einflussreichen und viel zitierten Kapitel aus Schwarze Haut, weiße Masken, das dem kolonialen Trauma gewidmet ist, untersucht 33 Cathy Caruth, Trauma and Experience: Introduction, in: dies. (Hrsg.), Trauma: Explorations in Memory, S. 11.

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Fanon abwechselnd die Pathologien von Schwarzen und Weißen in einer rassistischen Gesellschaft.34 Einerseits beschreibt er im Detail die Traumata des schwarzen Kindes, die sich aus dessen Konfrontation mit und Verinnerlichung einer rassistischen Vorstellungswelt durch Bildungswesen, Populärkultur und Kontakt mit der herrschenden weißen Gesellschaft ergeben (vgl. S. 124–129). Andererseits bietet Fanon aber auch eine Darstellung der Traumata, die mit rassistischen Privilegien einhergehen. Der Schwarze (der »Neger«), schreibt Fanon, ist »ein Phobie und Angst verursachendes Objekt« (S. 130). Die rassistische Vorstellungswelt fügt Schwarzen nicht nur psychische Wunden zu; nach Fanon erzeugt der phobogene schwarze Mann (und Fanon meint tatsächlich ausdrücklich den schwarzen Mann) außerdem traumatische Phobien seitens weißer Männer und Frauen. Das lange Kapitel, in dem Fanon auf diese beiden rassifizierten Pole aufmerksam macht, beginnt mit der These, das psychische und soziale Umfeld des »Negers« sei das »Umgekehrte« des Umfelds, das man in Europa vorfinde, und es schließt mit einer Fallstudie zu einer weißen Französin, die vom »Mythos des Negers« derart verstört ist, dass sie in einer psychiatrischen Anstalt endet, unfähig, »ins soziale Leben [zurückzukehren]« (S. 123, 172, 176). Der Kapitelverlauf ist jedoch keineswegs linear: Wie so oft in Fanons Text wäre der Argumentationsgang besser als multidirektional zu bezeichnen. Die multidirektionale Bewegung, von den schwarzen zu den weißen und von den weißen zu den schwarzen Pathologien in einer rassistischen, kolonialen Gesellschaft verweist darauf, dass Trauma in Schwarze Haut, weiße Masken etwas grundlegend Relationales ist: Von Psychopathologien betroffen sind sowohl die Opfer des Rassismus als auch rassistische Täter (und Komplizen oder Nutznießer), wenngleich auf unterschiedliche Weise. Fanons Betonung der Relationalität relativiert nicht die moralische oder politische Bedeutung von Rassismus oder Kolonialismus. Seine – wie implizit auch Caruths – Ausführungen legen vielmehr den Schluss nahe, dass es keinen Eins-zueins-Zusammenhang von Fragen moralischer und politischer Verantwortung und psychischen Störungen gibt. Der politische Kontext stört die psychische Ordnung durch die Bank. Koloniale und rassistische Gesellschaften überwachen die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und erzeugen verschiedene Arten von Segregation. Fanons Analyse zeigt, wie die mit Rassismus assoziierten Traumata dennoch eine psychisch und sozial relationale Intimität schaffen, und zwar gruppenübergreifend. Dieser relationalen Darstellung verschiedener in rassifizierten Gesellschaften anzutreffender Traumata (die er ohne expliziten Kommentar miteinander verwebt) fügt Fanon eine weitere vergleichende Dimension hinzu. Abgesehen vom Wechsel von »weißen« zu »schwarzen« Traumata und zurück enthält das Kapitel »Der Neger 34 Frantz Fanon, Der Neger und die Psychopathologie, in: ders., Schwarze Haut, weiße Masken, Wien 2016, S. 122–176. Eine hellsichtige und anregende Auseinandersetzung mit Fanon, die ich mit Gewinn gelesen habe, ist: Pheng Cheah, Crises of Money, in: positions: east asia cultures critique 16 (2008) 1, S. 189–219. Cheah vertritt die These, dass Traumatheorien – selbst solche, die, wie Fanons, in kolonialen Kontexten entwickelt worden sind – den neokolonialen Verhältnissen der finanziellen Globalisierung nicht gerecht werden.

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und die Psychopathologie« auch eine ausführliche Erörterung des Antisemitismus sowie der von Juden erlittenen und mit ihnen assoziierten Traumata.35 Wenn Rassismus traumatogen ist, dann ist er es auf multidirektionale Weise. Als Fanon Schwarze Haut, weiße Masken 1952 veröffentlichte, waren der Zweite Weltkrieg (in dem Fanon gekämpft hatte) und der nationalsozialistische Genozid noch Ereignisse der jüngeren Vergangenheit. Unter häufigen Verweisen auf Sartres Réflexions sur la question juive (1948) geht Fanon sorgfältig dem Zusammenhang, aber auch der Differenz von Antisemitismus und gegen Schwarze gerichtetem Rassismus nach. Seine Unterscheidungen beruhen allerdings nicht auf dem Unterschied zwischen einem ereignis- und einem alltagsbasierten Traumamodell, wie man nach der Lektüre postkolonialer Kritiker und Kritikerinnen vermuten könnte. Fanons Unterscheidungen betreffen vielmehr die unterschiedlichen Positionen des Juden und des »Schwarzen« in der Vorstellungswelt der Rassisten. Wenn, wie Fanon schreibt, »wer eine Negrophobie hat«, auch an »Angst vor dem Biologischen [oder Sexuellen]« leidet, dann verweist die Angst vor Juden auf eine Phobie, deren Gegenstand jene »intellektuelle Gefahr« ist, die mit der »Zivilisation« einhergehe (Schwarze Haut, weiße Masken, S. 139). Das enge Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus – und damit auch von Schwarzen und Juden – kommt zu der im Kapitel gebotenen Darstellung weißer und schwarzer Traumata hinzu. Fanons Text erweist sich jedoch als ambivalent, wo es um die Frage geht, wie man sich zu schwarzen und jüdischen Traumata verhalten sollte. Fanon scheint einen der eigenartigen, aber häufig übersehenen Aspekte von Césaires berühmter Formulierung aufzugreifen, beim nationalsozialistischen Genozid handle es sich um den nach Hause zurückgekehrten Kolonialismus: Der vom Nationalsozialismus terrorisierte »weiße Mann« ist nicht derselbe wie der, dem die Verantwortung für den Kolonialismus zukommt. Der choc en retour fordert viele Opfer – etwa die Juden und Jüdinnen Osteuropas  –, die bei jenem kolonialen Projekt, das in der Metropole reproduziert wird, nicht die geringste Rolle gespielt haben. Schwarze Haut, weiße Masken funktioniert ähnlich. Fanon weist zwar gelegentlich auf das hin, was Juden und Jüdinnen mit Schwarzen gemeinsam haben, doch er »assimiliert« Juden auch oft an »den weißen Mann«. Einerseits bezeichnet er Schwarze und Juden als »Brüder im Unglück« (S. 105), aufgrund der Parallelen von europäischem Rassismus und Antisemitismus. Andererseits hat das Primat, das Fanon dem »epidermischen Rassenschema« (S. 95) in Bezug auf die Konstitution des kolonialen Subjekts zuschreibt, zur Folge, dass er die Erfahrungen von Schwarzen letztlich gegenüber denen von Juden und Jüdinnen abgrenzt, weil es Letzteren leichter falle, als weiß durchzugehen: 35 Siehe Bryan Cheyettes nuancierte Darstellung der Schriften Fanons über Schwarze und Juden. Cheyette bedient sich einer Methodologie, die mit der hier eingesetzten kongruent ist, um die »heterogenen Gegenüberstellungen« zu erkunden, die »das diasporische Judentum und die Geschichte des Antisemitismus mit dem Kolonialismus und dem gegen Schwarze gerichteten Rassismus verbinden«. Bryan Cheyette, Frantz Fanon and the Black-Jewish Imaginary, in: Max Silverman (Hrsg.), Frantz Fanon’s Black Skin, White Masks (New Interdisciplinary Essays), Manchester 2005, S. 74–99, Zitat S. 75.

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»Freilich kann der Jude in seinem Judentum verkannt werden. Er ist nicht voll und ganz, was er ist. […] Letztlich entscheiden seine Handlungen, sein Verhalten. Er ist ein Weißer, und abgesehen von einigen recht fraglichen Merkmalen kommt es vor, dass er unbemerkt bleibt. […] Natürlich werden die Juden gehänselt, was sage ich, sie werden verfolgt, ausgerottet, vergast, doch das sind kleine Familiengeschichten. Der Jude wird von dem Augenblick an nicht geliebt, da man ihn aufgespürt hat. Aber bei mir erhält alles ein neues Gesicht. Mir ist keine Chance erlaubt. Ich bin von außen überdeterminiert. Ich bin nicht der Sklave der ›Vorstellung‹, welche die anderen von mir haben, sondern meiner Erscheinung.« (Schwarze Haut, weiße Masken, S. 99)

Wie Césaire bedient sich auch Fanon eindeutig einer ironischen Rhetorik, in diesem Fall reich an Litotes, die nicht wörtlich genommen werden sollte. Nichtsdestotrotz, und selbst wenn man das bewusste Herunterspielen des nationalsozialistischen Genozids als »kleine Familiengeschichte« beiseite lässt: Die zitierte Textpassage übergeht jene Widersprüche und Erbschaften des Antisemitismus, die aus ihm eine sehr besondere Art von Familiengeschichte machen. Einerseits wirkt Fanons Unterscheidung zwischen der zentralen Rolle der Erscheinung im schwarzenfeindlichen Rassismus und der Zentralität von Ideen und Ideologien im Antisemitismus aus heutiger Sicht völlig vernünftig. Andererseits läuft diese scheinbar vernünftige Darstellung auf eine überraschend unhistorische Theorie jüdischer Sichtbarkeit hinaus. Sie ignoriert die relative Konstanz des Judenbildes über die Zeit hinweg, die häufige Assoziierung von Juden und Jüdinnen mit verschiedenen »abnormalen« körperlichen Eigenschaften, darunter auch eine dunkle Hautfarbe (vergleiche etwa die Arbeiten von Sander Gilman), sowie die – zu der Zeit, da Fanon und Césaire ihre Texte verfassten – noch neue Produktion und Mobilisierung einer sichtbaren, hochgradig biologisierten und selbst sexualisierten jüdischen Differenz im Kontext eines genozidalen Projekts.36 Hinzu kommt, dass diese simple Gegenüberstellung von Schwarzen einerseits und weißen Juden und Jüdinnen andererseits, ob sie nun in den frühen 1950er-Jahren von Césaire und Fanon oder heute von einigen postkolonialen Kritikern vorgenommen wird, Gefahr läuft, Europa zu homogenisieren und Schwarze endgültig aus dem europäischen Raum auszuschließen. Césaire und Fanon bieten beide kritische Ressourcen für eine Traumatheorie, die post-Holocaust und postkolonial zugleich ist. Indem sie den Kolonialismus zum Nationalsozialismus und den Rassismus zum Antisemitismus in Beziehung setzen, beweisen sie, dass sie ihrer Zeit weit voraus waren; sie sind Teil der Gegentradition, die Multidirektionale Erinnerung wiederherzustellen sucht. Ihre zweifelhafte Haltung zu jüdischer Differenz und ihre Beziehung zum Schwarzsein lässt jedoch Ambivalenzen erkennbar werden, von denen sowohl die Postcolonial Studies als auch die Traumatheorie bis heute heimgesucht werden. Ich verfüge zwar über keinerlei Belege dafür, 36 Sander Gilman, The Jew’s Body, New York 1991.

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dass Césaire und Fanon Tasso gelesen haben (obwohl das keineswegs undenkbar ist), doch das von Freud und Caruth angeführte Beispiel der Parabel von Tankred und Clorinda könnte unbeabsichtigt eine hilfreiche Darstellung der Möglichkeiten und Probleme bieten, die eine multidirektionale Konzeptualisierung von Trauma mit sich bringt. Denn Clorinda ist, wie David Quint in einer ausführlichen literaturtheoretischen und historischen Erkundung der von Tasso in Das befreite Jerusalem verwendeten Quellen erläutert, »eine Masse von sich überschneidenden und widersprechenden Identitäten: eine kämpfende Frau, eine weiße Äthiopierin, eine als Christin geborene und muslimisch erzogene Person« (Epic and Empire, S. 244). Clorinda ist die Tochter einer schwarzen, christlichen Äthioperin, deren Gebet an St. Georg mit der Geburt eines weißen Kindes erhört worden ist. Clorinda ist von einem muslimischen Eunuchen aufgezogen und erst als Christin getauft worden, nachdem sie, in der Schlacht um Jerusalem, durch Tankred ihre tödliche Verwundung erlitten hat. Tasso griff nicht nur literarische Quellen wie Der rasende Roland auf und wandelte diese ab, er schrieb sein Epos auch im Kontext der im 16. Jahrhundert erfolgten Wiederentdeckung des äthiopischen Christentums. Diese Wiederentdeckung rückte einen möglichen Verbündeten im Kampf gegen den muslimischen Unglauben ins europäische Bewusstsein, aber auch ein letztlich verstörendes Sinnbild der Häresie, denn die Taufpraktiken der Äthiopier wichen von denen der römischen Orthodoxie ab. Clorindas »lang aufgeschobene Taufe«, die nach der Schlacht erfolgt, »stellt […] nicht nur die Konvertierung einer Muslima zum christlichen Glauben dar, sondern auch die einer schismatischen Äthiopierin zur römischen Kirche. […] Die heidnische Gegnerin Clorinda entpuppt sich als christliche Häretikerin: Der äußere Feind ist tatsächlich ein innerer« (Epic and Empire, S. 245). Wir erinnern uns, dass Caruths Augenmerk insbesondere Tankreds Reaktion auf die Offenbarung von Clorindas Identität gilt, außerdem Clorindas doppelter Tötung durch ihn. Letztere wird von Caruth als Sinnbild der Heimsuchung durch ein Trauma verstanden. In Quints Interpretation deutet »Tankreds Reaktion das schlechte Gewissen von Tassos Epos an, einen Riss in seiner ideologischen Rüstung. Denn wie kann man seine Nachbarin zugleich lieben und töten, insbesondere wenn sich, wie in Clorindas Fall, herausstellt, dass diese Nachbarin christlichen Glaubens wie man selbst ist, handle es sich auch um ein schismatisches Christentum? Das befreite Jerusalem verherrlicht ein militantes Papsttum, dem Universalismus als Alibi für Imperialismus dient und hinter dessen spiritueller Macht sich weltliche Gewalt verbirgt« (Epic and Empire, S. 246). Quints Lesart bestätigt Novaks postkoloniale Interpretation Clorindas, fügt dem Puzzle aber auch einige weitere Stücke hinzu. Anstatt Caruths Bezugnahme auf Tasso zu widersprechen, würde ich eher die Position vertreten, dass der imperiale Subtext der Parabel Caruths Vorstellung von Trauma als interkulturelles Band ergänzen kann. Als Quellentext zeitgenössischer Traumatheorien, wie sie im Gefolge von Holocaust und Kolonialismus entwickelt worden sind, hat dieses komplizierte Szenario eine Reihe von Implikationen. Tassos Parabel versinnbildlicht die Multidirektiona-

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lität von Identität, Gewalt und kultureller Erinnerung. Sie inszeniert das offene, in kulturellen Texten ebenso wie in der Geschichte zu beobachtende Verhältnis von Feinden »innerhalb« und »außerhalb« des Imperiums, aber auch von »Tätern« und »Opfern« sowie »Feinden« und »Freunden«. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die fließenden Übergänge zwischen »schwarz« und »weiß«, verweist aber auch darauf, dass diese Kategorien rassifizierte, traumatische Geschichten prägen und selbst auslösen können. Sie verortet »Rasse« und kulturelle Differenz in ihrem Verhältnis zu Religionskriegen, die quer liegen zu den Unterscheidungen zwischen Christen, Musliminnen und Juden, und sie zeigt die Nähe solcher »Rassen«- und Religionskriege zur Gewalt eines imperialen Universalismus. Liest man sie mit Blick auf Debatten über Kolonialismus, Rassismus, Genozid und Trauma, dann wird die Geschichte von Tankred und Clorinda eine Parabel über die Notwendigkeit einer multidirektionalen Traumatheorie im Zeitalter von Holocaust und Dekolonisierung. Eine solche komparative Theorie würde den Verbindungen zwischen verschiedenen Tätern und Opfern in sich überschneidenden, aber dennoch unterscheidbaren Szenarien extremer Gewalt nachgehen. Mit seiner Vorstellung eines choc en retour bietet Césaires Über den Kolonialismus, neben den weiteren Überlegungen in Fanons Schwarze Haut, weiße Masken, einige Ressourcen für eine solche Theorie, bleibt aber auch in den Grenzen von Césaires eigenem universalistischen Diskurs gefangen – denen des Marxismus der Kommunistischen Partei Frankreichs.

Zwischen Marxismus und multidirektionaler Erinnerung Césaires Über den Kolonialismus kann als Spiegel mehrerer Begegnungen betrachtet werden: der traumatischen Begegnung Europas und Afrikas; der ebenfalls traumatischen, aber innereuropäischen Begegnung von Faschismus und Faschismusopfern; einer möglichen gewaltfreien Begegnung oder eines interkulturellen Kontakts, wie er in der Kritik der »Art und Weise« angedeutet wird, in der sich die tatsächlichen Begegnungen vollzogen haben (Über den Kolonialismus, S. 26); der ästhetischen und intellektuellen Begegnung, die in allen Schriften Césaires thematisiert wird. Seine Untersuchung dieser Begegnungen steht in der Schuld nicht nur einer surrealistischen Ästhetik und psychoanalytischer Begriffe, sondern auch, wie die Betonung von Unternehmertum und Eroberung deutlich macht, eines Marxismus, den er gleichzeitig bekämpft. Wie auch die Gemälde von Taslitzky und Fougeron zeigen, bietet der Marxismus einen begrifflichen Rahmen, durch den historische Zusammenhänge veranschaulicht werden können; er bietet ein allgemeines Narrativ, in das sich scheinbar disparate Geschichten eingliedern lassen. Césaires berühmte These, die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Genozids bestehe allein darin, dass in den Kolonien entwickelte Techniken in Europa zum Einsatz gekommen seien, könnte tatsächlich von früheren marxistischen Denkern beeinflusst worden sein: von Rosa Luxemburg und dem Linkshegelianer und Marxisten Karl Korsch. Lange vor dem Ersten Welt-

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krieg erkannte Luxemburg bereits, »daß der heimliche, im stillen arbeitende Krieg aller kapitalistischen Staaten gegen alle auf dem Rücken asiatischer und afrikanischer Völker früher oder später zu einer Generalabrechnung führen, daß der in Afrika und Asien gesäte Wind einmal nach Europa als fürchterlicher Sturm zurückschlagen mußte«.37 In einer entlegenen Veröffentlichung zum Totalitarismus, einem 1942 in der Chicagoer rätekommunistischen Zeitschrift New Essays veröffentlichten Aufsatz, aktualisiert Korsch Luxemburgs Ausführungen und äußert sich dabei in einer Sprache, die noch deutlicher an die von Césaire erinnert: »Die neuen Techniken des Imperialismus, die fast gleichzeitig im Osten und im Westen erfunden wurden, unterscheiden sich völlig von den Methoden, die der Imperialismus alten Stils im 19. Jahrhundert angewendet hat. […] Der Unterschied besteht jedoch nicht in einer Zunahme der Gewalt; rücksichtslose Gewalt war charakteristisch für jede historische Phase der kapitalistischen Kolonisierung. Das Novum der totalitären Politik besteht einfach darin, dass die Nazis die Methoden, die bisher den ›Eingeborenen‹ oder ›Wilden‹ vorbehalten waren, die außerhalb der so genannten Zivilisation leben, auf die ›zivilisierten‹ europäischen Völker ausgedehnt haben.«38 Dass sich die Texte von Korsch und Césaire so ähneln, dürfte kaum zufällig sein. Marxistische Theorie scheint in Über den Kolonialismus zwar meist nur eine unbedeutende und untergeordnete Rolle zu spielen, doch tritt sie an wesentlichen Stellen auf den Plan, insbesondere am Schluss. Césaire beschließt Über den Kolonialismus mit einer Verurteilung der »Mechanisierung […] des Menschen« und der kapitalistischen »Maschine zum Zerschmettern, Zermalmen, Verdummen der Völker«, um dann eine »Politik« einzufordern, »die sich auf die Achtung vor den Völkern und Kulturen gründet« (S. 74  f.). Dieses Programm wird als »letzte Chance« zur »Rettung Europas« empfohlen, sei aber einzig Sache der »Revolution: jener, die der engherzigen Tyrannei, einer entmenschten Bourgeoisie in Erwartung der klassenlosen Gesellschaft die Vorherrschaft der einzigen Klasse substituieren wird, die noch einen universalen Auftrag zu erfüllen hat, denn sie allein leidet unter allen Übeln der Geschichte, allen universalen Übeln: das Proletariat« (S. 75 f.). Wie diese Schlussworte zeigen, zieht sich eine für die damalige KP-Ideologie charakteristische Spannung durch Césaires Sichtweise auf Partikularität beziehungsweise kulturelle Differenz (hier: Nationalität) und die Möglichkeit von Universalität, wie sie sich im 37 Rosa Luxemburg, Zur Krise der Sozialdemokratie, Leipzig 1919, S. 22, zit. in: A. Dirk Moses, Empire, Colony, Genocide: Keywords and the Philosophy of History, in: ders. (Hrsg.), Empire, Colony, Genocide, S. 34. 38 Karl Korsch, Notes on History: The Ambiguities of Totalitarian Ideologies, in: New Essays 6 (1942) 3, S. 3. Ich habe keine Belege dafür, dass Césaire Luxemburg oder Korsch gelesen hat, und Moses ist der einzige mir bekannte Forscher, der Luxemburg als Vorläuferin Césaires bezeichnet hat; Hinweise auf Korsch als Vorläufer Césaires sind mir nicht bekannt. Auf die Argumentation von Korsch aufmerksam gemacht hat mich Enzo Traversos Buch Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, Köln 2003.

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Proletariat und in kolonialer und kapitalistischer Expansion verkörpere. Im Gegensatz zur Herangehensweise der Partei – Unterordnung der Nationalitätenfrage unter die Klassenfrage – sollten Césaires Arbeiten diese Spannung aufrechterhalten. Seine Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Kolonialismus beruht sowohl auf einer universalisierenden historischen Perspektive als auch auf einem Verständnis dafür, wie universalisierende Projekte versuchen, die Partikularität (der Juden und Jüdinnen, der kolonisierten und indigenen Völker) zu beseitigen. Die marxistische Dialektik kann eine Logik zur Überwindung dieser Spannung bieten, kann aber ebenso gut ihrer Unterdrückung beschuldigt werden. Im Oktober 1956, ein Jahr nach der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe von Über den Kolonialismus und nur einen Monat nach seinem Vortrag über »Kultur und Kolonisierung« auf dem Ersten Internationalen Kongress der schwarzen Schriftsteller und Künstler in Paris, brach Césaire in seinem berühmten Brief an Maurice Thorez endgültig mit der Kommunistischen Partei. James Arnold fasst die Fragen, um die es ging, prägnant zusammen: »Césaire brach letztlich aus denselben Gründen mit den Kommunisten, aus denen er ihnen einst beigetreten war: Nachdem er seine Hoffnungen auf die wirtschaftliche und politische Emanzipation der Schwarzen in die Partei gesetzt und nachdem er festgestellt hatte, dass die Partei nicht willens war, sich in diesen Fragen zu bewegen, hätte Césaire kaum anders handeln können« (Modernism and Negritude, S. 175). Das Problem bleibt weiterhin das des Besonderen und des Allgemeinen, doch hat Césaire den Schluss, zu dem er in Über den Kolonialismus gelangt war, umgekehrt. In seinem offenen Brief an den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Frankreichs schreibt er: »Wir sind davon überzeugt, dass unsere Fragen, oder, wenn Sie so wollen, die Kolonialfrage, nicht als Teil eines größeren Ensembles behandelt werden kann. […] Der Kampf der kolonisierten Völker gegen den Kolonialismus, der Kampf der Schwarzen gegen den Rassismus ist viel komplexer – was sage ich da? – als der Kampf des französischen Arbeiters gegen den französischen Kapitalismus und kann in keiner Weise als Teil, als Fragment dieses Kampfes betrachtet werden« (Lettre à Maurice Thorez, S. 8). Césaire besteht zwar auf der Differenz des Kolonialismus gegenüber dem marxistischen Metanarrativ, doch seine Betonung der »Singularität« der »Weltsituation« kolonisierter Völker ist kein engstirniger Partikularismus. Tatsächlich veranlasst Césaires Artikulation seines Bruchs mit der Partei ihn, der Frage des Antisemitismus mehr Bedeutung zuzugestehen, als er es in Über den Kolonialismus tut, wo zwar an zentralen Stellen auf nationalsozialistische Verbrechen Bezug genommen wird, die Spezifik jüdischen Leidens jedoch weitgehend außerhalb des Blickfelds bleibt. Nach einer Zusammenfassung der gängigen Vorwürfe gegen die Partei  – die Verbrechen des Stalinismus, die Chruschtschow gerade öffentlich gemacht hatte, und, schlimmer noch, die Weigerung der Kommunistischen Partei Frankreichs, sich mit diesen Verbrechen auseinanderzusetzen  – fügt Césaire »eine gewisse Anzahl von Überlegungen zu meiner Identität als schwarzer Mann [à ma qualité d’homme de couleur]« hinzu: »Mit einem Wort: Angesichts der Ereignisse

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(und der Überlegungen zu den schändlichen Praktiken des Antisemitismus, die in den Ländern, die behaupten, den Sozialismus zu vertreten, stattgefunden haben und, wie es scheint, weiterhin stattfinden) bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass unsere Wege und die des Kommunismus, wie er praktiziert wird, nicht schlicht und einfach ineinander übergehen; dass sie nicht schlicht und einfach ineinander übergehen können« (Lettre à Maurice Thorez, S. 7 f.). Auch wenn Césaire seine Absicht erklärt hat, als Schwarzer zu sprechen, ist es hier tatsächlich die Bezugnahme auf den Antisemitismus, die grammatikalisch als Bruch mit seinem bisherigen Bekenntnis zum real existierenden Sozialismus fungiert. Der Rest des Briefes wird sich zwar auf die Kolonialfrage konzentrieren, doch es ist der Antisemitismus, über den zuerst das Problem jener Partikularitäten benannt wird, die die Partei zu subsumieren nicht in der Lage ist. Im weiteren Verlauf verurteilt Césaire Stalins Gedanken »fortgeschrittener« und »zurückgebliebener« Völker, und er wettert gegen den »eingefleischten Assimiliationismus« der französischen Parteimitglieder, ihre »Überzeugung  – die sie mit der europäischen Bourgeoisie teilen – von der omnilateralen Überlegenheit des Westens; [und] ihren selten bekundeten, aber realen Glauben an eine Zivilisation mit einem großen Z, an Fortschritt mit einem großen F« (S. 11). Zuletzt ruft er nach einer »wirklichen kopernikanischen Revolution« (S. 12), die jenen tiefsitzenden europäischen Paternalismus überwinden werde, der die Kolonisierten in einer von Passivität oder, wie Arendt sagen würde, »Weltlosigkeit« gekennzeichneten Position hält. Die Entwicklung von Über den Kolonialismus zum Brief an Maurice Thorez ist keine vom Allgemeinen zum Besonderen. Sie kennzeichnet vielmehr den Übergang von einer Variante des Universalismus zu einer anderen – von einem auf der Subsumierung historischer Differenz unter ein Metanarrativ des Fortschritts beruhenden Universalismus zu einem eher multidirektionalen Standpunkt. Césaire bewegt sich von einem Universalismus (dem von Über den Kolonialismus), der es zwar erlaubt, Genozid und Kolonialismus zueinander in Beziehung zu setzen, dabei aber Gefahr läuft, beide der Meistererzählung von Kapitalakkumulation und proletarischer Revolution unterzuordnen, hin zu einem multidirektionalen Universalismus (dem des Briefes), der sich heutigen Vorstellungen von Kosmopolitismus nähert: »Provinzialismus? Ganz und gar nicht. Ich vergrabe mich nicht in einem engen Partikularismus. Aber ich will mich auch nicht in einem fleischlosen Universalismus [un universalisme décharné] verlieren. […] Das Universelle, das mir vorschwebt, ist reich an allem Partikularen, es ist eine Vertiefung und Koexistenz des Partikularen« (Lettre à Maurice Thorez, S. 15). Der Brief ist den Kämpfen »schwarzer Völker« um »Gerechtigkeit, […] Kultur, […] Würde und Freiheit« gewidmet (S. 16), doch Césaire findet darin an einer beiläufig scheinenden, aber entscheidenden Stelle Zeit, um auch das Leiden anderer zu evozieren. Obwohl dem Antisemitismus bei Césaires Austritt aus der Kommunistischen Partei Frankreichs diese wichtige rhetorische Rolle zukommt, spielt der nationalsozialistische Genozid in dem kurzen Text keine Rolle (und es gibt auch keinen Grund, warum er es tun sollte). In Über den Kolonialismus haben wir den

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umgekehrten Fall: Der nationalsozialistischen Gewalt kommt eine ausschlaggebende Rolle für die Kritik des Kolonialismus zu, doch die Spezifik der Shoah innerhalb der nationalsozialistischen Politik wird kaum zur Kenntnis genommen. Diese Spiegelbildlichkeit hängt mit der Differenz der beiden Universalismen zusammen, auf die in den Texten Bezug genommen wird. Über den Kolonialismus evoziert als Grundlage seiner universalistischen Perspektive einen historischen Prozess (kapitalistischer Imperialismus als totalisierender Motor der Geschichte, sowohl außerhalb als auch innerhalb Europas; das Proletariat als privilegierter Akteur des Wandels), der Brief evoziert einen kulturellen Universalismus (oder Kosmopolitismus), der die Besonderheiten der Forderungen und Kämpfe unterschiedlicher unterdrückter Gruppen anerkennt. Der Brief suggeriert zwar, dass es möglich sein könnte, den Kolonialismus und den Holocaust in einem sowohl historisch als auch kulturell universellen Rahmen zusammenzudenken  – einem Rahmen also, der sich sowohl der grundlegenden Einheitlichkeit der Weltgeschichte als auch den Besonderheiten der Kämpfe und Kulturen verpflichtet weiß –, doch dieses Vorhaben bleibt in Césaires Gesamtwerk unverwirklicht. Es gibt allerdings noch mindestens ein weiteres Anzeichen dafür, dass sich Césaire durch die Ereignisse der 1950er-Jahre zu einem solchen Vorhaben veranlasst gesehen hat. Als Beleg für die kontinuierliche Entwicklung seines Denkens in der Zeit zwischen der Erstausgabe von Über den Kolonialismus (1950) und dem Brief von 1956 können wir auch anführen, dass die Juden und Jüdinnen in Über den Kolonialismus nur in der Ausgabe von 1955 erwähnt werden, in der Césaire ironisch über Roger Caillois schreibt. Nachdem er verschiedene rassistische Bemerkungen des französischen Ethnografen zitiert hat, stellt Césaire fest: »Herr Caillois [liefert] auf der Stelle einen Beweis jener Überlegenheit [sc. des Westens], indem er beschließt, niemanden zu vernichten. Bei ihm dürfen die Neger sicher sein, nicht gelyncht zu werden, die Juden, nicht Material für neue Scheiterhaufen zu werden. Nur wohlgemerkt, daß man mich recht verstehe: diese Toleranz haben die Neger, Juden, Australier nicht etwa ihren jeweiligen Verdiensten zu verdanken, sondern allein der Großmut des Herrn Caillois« (Über den Kolonialismus, S. 67; Discours [1955], S. 57). Bezeichnenderweise treten die Juden und Jüdinnen hier in einem Zusammenhang auf, in dem ausdrücklicher von Genozid gesprochen wird als in der Erstausgabe von 1950, in dem aber zugleich von Anfang an vergleichend vorgegangen wird (»Neger, Juden, Australier« – mit Letzteren sind die Aborigines gemeint). Die Bezugnahme auf die Juden und Jüdinnen bleibt in Über den Kolonialismus zwar marginal, insbesondere im Vergleich mit der rhetorisch zentralen Bezugnahme auf die Nationalsozialisten, doch zeigt diese ergänzte Textpassage, dass ein multidirektionaler Rahmen Spezifik und Vergleich erlaubt, ohne deswegen zwingend in Konkurrenzdenken zu verfallen.

DIE KOLONIALE WENDE IN DER HOLOCAUSTFORSCHUNG

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Die koloniale Wende in der Holocaustforschung Welche Mängel ihre Arbeiten auch aufweisen mögen, Arendt und Césaire führen uns bis an die Schwelle einer multidirektionalen Dialektik, die das Allgemeine und das Besondere ebenso verbindet wie die objektiven und subjektiven Aspekte der Kolonial- und Genozidgeschichte. Die Forschung hat ein halbes Jahrhundert gebraucht, um zu diesen Einsichten aufzuschließen. Bis zur jüngsten Entwicklung, auf die ich im Folgenden eingehe, sind Holocaustforschung und Germanistik gegenüber der Einzigartigkeit der Shoah zu defensiv geblieben, um sich auf ein solches komparatives Gebiet zu wagen. Im Gegensatz dazu erkennen Forscher und Forscherinnen der Postcolonial Studies jene Fragen, die sich aus der Aufnahme des Holocaust und des nationalsozialistischen Imperialismus in ihren begrifflichen Rahmen ergeben, gelegentlich an, wenngleich sie diese Probleme häufig auch ausgrenzen. Ein typisches Beispiel ist Robert Youngs wichtige Arbeit über die Herausforderungen, die dem Kolonialismus für die europäischen Geschichtstheorien zukommen. Young stellt den französischen Poststrukturalisten die Theoretiker der Frankfurter Schule entgegen, die er als deren Konkurrenten beschreibt, und bemerkt dazu: »Die Franzosen betrachteten den Faschismus nie als eine Entgleisung und stimmten eher mit Césaire und Fanon darin überein, dass er ganz einfach daraus erklärt werden könne, dass der europäische Kolonialismus von einem Land nach Europa gebracht wurde, das man nach dem Ersten Weltkrieg seiner überseeischen Imperien beraubt hatte.«39 Den Faschismus auf etwas zu reduzieren, das sich »ganz einfach« erklären lässt, droht politischen Extremismus zu normalisieren und tut dem schwierigen Unterfangen, dem Zusammenhang von Kolonial- und Genozidgeschichte gerecht zu werden, einige Gewalt an. Obwohl sich Young eindeutig auf eine kleine Gruppe von Intellektuellen bezieht, die tatsächlich zu diesem Unterfangen beigetragen haben, steht die Beschreibung »der Franzosen« als Träger eines solchen vermeintlich unkomplizierten Wissens im Widerspruch zur jahrzehntelangen »französischen« Verleugnung sowohl der Verwicklung Frankreichs in den Holocaust als auch der blutigen Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonisierung. Darüber hinaus entgeht Young die Art und Weise, in der die multidirektionale Erinnerung das Denken derer beeinflusst, die den Humanismus und den »westlichen Rationalismus« kritisiert haben – eine Kritik, die sowohl aus der Erinnerung an den Nationalsozialismus als auch aus der laufenden Erfahrung der Dekolonisierung hervorgegangen ist. Trotz seiner etwas oberflächlichen Bezugnahmen auf Faschismus und Holocaust führt Youngs Befragung des kolonialen und postkolonialen Kontextes der poststrukturalistischen Theorie zu einer Frage, die für das Projekt dieses Abschnitts von Multidirektionale Erinnerung wesentlich ist, nämlich zur Frage des Humanismus und des 39 Robert Young, White Mythologies: Writing History and the West, New York 1991, S. 8. Young wiederholt diese Einschätzung auf S. 125 und bezieht sich dort ausdrücklich auf den Holocaust.

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Menschlichen. Angesichts der Ambivalenzen des Humanismus, seiner Verbindungen zu rassistischer Gewalt und seiner Aneignung durch antikoloniale Denker (aber auch, wie wir hinzufügen können, durch post-Holocaust-Denker wie Primo Levi) fragt Young, »ob wir zwischen einem Humanismus, der kritisch oder unkritisch auf die Hauptströmung der Aufklärungskultur zurückgreift, und Fanons ›neuem Humanismus‹, der versucht, ihn als konfliktfreies Konzept umzuformulieren, das nicht mehr gegen ein untermenschliches Anderes definiert ist, unterscheiden sollten – und ob wir es können« (White Mythologies, S. 125). Young liefert keine abschließende Antwort auf diese Frage; sie bleibt trotz seiner Hinwendung zu antihumanistischer Theorie ungeklärt. Dieses Dilemma zieht sich durch das Herz von Arendts Schriften über Imperialismus und Genozid. Darüber hinaus haben, wie das Werk von Giorgio Agamben zeigt, die Fragen des Menschlichen und des »Lebens an sich« heute das Zentrum der Politik erreicht. Doch während Young dazu neigt, die Folgen des Holocaust für diese Fragen herunterzuspielen, tendiert Agamben dazu, das Problem des Kolonialismus ganz auszusparen, auch wenn er das Konzentrationslager als »Nomos« der Moderne in den Mittelpunkt stellt. Die Arbeiten, um die es in diesem Abschnitt geht, fordern ein Denken des Menschen, das gleichzeitig post-Holocaust und postkolonial ist, das die Politik des nackten Lebens in der Komplexität seiner Genealogie erfasst. Auch wenn die Werke von Arendt und Césaire den Paradoxien des Humanismus, auf die Young anspielt, nicht entgehen, so tragen sie doch zu einer solchen Genealogie der Politik des Menschlichen bei. Der Historiker Dirk Moses hat geschrieben: »Arendt und Césaire brauchten nicht auf die Verbindung zwischen Nazismus und Imperialismus zu schließen. Hitler stellte seine Bewegung selbstbewusst in die Tradition des europäischen Imperialismus« (Empire, Colony, Genocide, S. 35). Doch wie gut halten Césaires choc en retour und Arendts Konstellationen und Bumerangeffekte dem Vergleich mit zeitgenössischen Versuchen, Imperialismus und Genozid zusammenzudenken, stand? Die theoretischen Einsichten von Arendt und Césaire sowie von Young und Agamben verdienen es, sowohl aufgrund ihrer Stärken als auch ihrer Schwächen, in ihren historischen Einzelheiten untersucht zu werden. Nun steht die Erforschung historischer Kausalität nicht im Mittelpunkt meiner Studie. Doch obwohl ich mich in erster Linie mit den Konzeptualisierungsmodi und Erinnerungskonfigurationen beschäftige, durch die Kolonialismus und Holocaust zusammengeführt oder auseinandergehalten worden sind, ist die Frage zeitgenössischer historischer Darstellung dennoch wichtig und aufschlussreich. Die vergleichende Genozidforschung und insbesondere die Forschung zu Genoziden in kolonialen Kontexten und deren Beziehung zum Holocaust ist noch im Entstehen begriffen, entwickelt sich jedoch rasch. Hier blicke ich kurz auf einige jüngere Untersuchungen, die das von Arendt, Césaire und anderen erschlossene Terrain erkunden. Mit geht es dabei nicht um Vollständigkeit, sondern um einen Lagebericht zur heutigen Forschung.40 40 Eine anregende Kritik einiger der wichtigsten neuen Arbeiten zum Zusammenhang von deutschem Kolonialismus und Holocaust bietet Matthew P. Fitzpatrick, The Pre-History of the

DIE KOLONIALE WENDE IN DER HOLOCAUSTFORSCHUNG

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In Absolute Destruction, einer der detailliertesten zeitgenössischen Studien zum Zusammenhang von Imperialismus und Genozid, führt die Historikerin Isabel V. Hull Belege an, die sowohl Arendts als auch Césaires Positionen ein Stück weit stützen, wobei Hull letztlich den Schwerpunkt auf Faktoren legt, die in den Texten Arendts und Césaires nicht im Mittelpunkt stehen. Ihre Studie konzentriert sich auf die Militärkultur. Genozidales Morden hat Hull zufolge aus der institutionellen Struktur des deutschen Militärs heraus entstehen können – und ist tatsächlich auch daraus entstanden. So sei der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika weniger das Produkt einer rassistischen oder imperialistischen Ideologie gewesen als vielmehr Ergebnis einer internen Dynamik des Militärs, dem man in einem Gebiet, von dem sich Europa »isoliert« fühlte, freie Hand ließ.41 Während diese Sichtweise dazu tendiert, Aspekte von Arendts Argumentation zu stützen – wie Arendt argumentiert auch Hull, Rassismus sei eher das Produkt des Imperialismus als dessen treibende Kraft gewesen (S. 330), – weicht sie darin von Arendt ab, dass sie die Ursprünge des »Bumerangs« nicht im kolonialen Raum, sondern in bereits existierenden europäischen Praktiken verortet: »Es geht […] nicht darum, dass Europäer in ihren imperialen Begegnungen gelernt haben, sich bestialisch zu verhalten, sondern darum, dass sie außerhalb Europas in der Lage waren, Techniken, Annahmen, Doktrinen und Abläufe zu erproben, über die sie bereits verfügten, in einem gesetzlich vergleichsweise unregulierten Umfeld, in dem es nahelag, mehr Gewalt anzuwenden, wenn sich die erste Gewaltanwendung nicht als zielführend erwies. Zumindest lernten die Deutschen aus der kolonialen Kriegführung nichts, was nicht ihre Vorurteile darüber bestätigte, wie Kriege zu führen seien. Der Imperialismus bestätigte die militärische Blaupause« (Absolute Destruction, S. 333). Indem sie militärischen Blaupausen gegenüber Ideologien der »Rasse« und des Imperialismus den Vorrang gibt, glaubt Hull den Faktor, der in Arendts Darstellung des Einfließens des Imperialismus in die nationalsozialistische »Endlösung« fehlt, nachzureichen.42 Abgesehen davon, dass sie den bisher wenig erforschten Aspekt militärischer Organisation in die Diskussion einbringt, hat ihre These auch den Vorzug, dass sie eines der Schlüsselelemente des Genozids tief in der umfassend verstandenen euroHolocaust? The Sonderweg and Historikerstreit Debates and the Abject Colonial Past, in: Central European History 41 (2008), S. 1–27. Siehe insbesondere Fitzpatricks Bemerkungen zu Zimmerer und Hull (S. 12–17). Fitzpatrick vertritt die These, dass die Genozide in den Kolonien und in Europa aus unterschiedlichen Epistemologien hervorgegangen sind: im Fall der Kolonien aus Vorstellungen einer »hartnäckigen Alterität« und in dem Europas aus Angst vor einer »verachtenswerten« Belastung. Trotz dieses skeptischen Blicks auf mögliche Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Holocaust räumt Fitzpatrick ein, dass dem Kolonialismus in der Genealogie des nationalsozialistischen Genozids eine wichtige Rolle zukommt. 41 Isabel V. Hull, Absolute Destruction: Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005, S. 332. 42 Isabel V. Hull, Military Culture and the Production of »Final Solutions« in the Colonies: The Example of Wilhelminian Germany, in: Robert Gellately/Ben Kiernan (Hrsg.), The Specter of Genocide: Mass Murder in Historical Perspective, Cambridge 2003, S. 141–162, hier S. 143.

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päischen Gesellschaft aufspürt. Wie Césaire verortet sie die Möglichkeit extremer Gewalt in den gewöhnlichen Praktiken der modernen Welt, in ihrem Fall in bürokratischen organisatorischen Strukturen. Die »Wiederkehr« der Gewalt nach Europa ermöglicht es Hull, die Fantasie einer europäischen Isolierung von der Welt als solche zu entlarven und das von Conrad abgeleitete Problem zu vermeiden, das uns an Arendts Elementen und Ursprüngen aufgefallen ist: jenes begriffliche Abgleiten, durch das Afrika vom Schauplatz rassifizierter Gewalt zum Ursprung von »Rasse«-Denken und extremer Gewalt wird. Doch durch diese Bewegung fort von den Kolonien läuft Hull auch Gefahr, Afrika und den Imperialismus wieder aus der Weltgeschichte herauszunehmen und insbesondere Afrikas entscheidende Rolle bei der Entfaltung der neuzeitlichen europäischen Geschichte zu übergehen. Vor allem scheint sie die ideologische Arbeit, die notwendig ist, um aus Afrika einen Ort der Ausnahme (»gesetzlich vergleichsweise unreguliert« und geeignet für radikale Experimente) zu machen, ebenso herunterzuspielen wie die Tragweite der europäischen Erfahrung in Afrika und deren Bedeutung für die Vorbereitung eines Genozids auf europäischem Boden. Es mag durchaus zutreffen, dass, wie Hull argumentiert, die ideologischen Faktoren beim nationalsozialistischen Genozid entscheidender waren als bei den »Endlösungen« des kaiserlichen Deutschland. Doch wie Césaires Schriften nahelegen (und wie auch Du Bois argumentiert), ging die rassistische Artikulation der globalen color line beiden voraus und half, dem Blutvergießen den Boden zu bereiten.43 Hulls Betonung der Übertragung von Militärtechniken von Europa nach Afrika sollte um die Arbeiten von Forschern wie Jürgen Zimmerer ergänzt werden, in denen es um die Folgen der in Afrika praktizierten Kolonialpolitik für Europa geht. In einer Reihe jüngerer Studien hat Zimmerer begonnen, die Zirkulation von Vorstellungen über »Rasse« und Raum zu kartieren, die genozidale Politiken innerhalb und außerhalb Europas geprägt haben. Wenn Hull die »Rationalität extremer Handlungen« betont, die der Militärkultur eigne, dann macht Zimmerer die Ursachen des Genozids in einem imperialen Erbe aus, das der Historiker des nationalsozialistischen Genozids Christian Gerlach als »Biologisierung des Sozialen« bezeichnet hat: »Diese biologische Deutung der Weltgeschichte – die Überzeugung, dass ein Volk sich Raum sichern muss, um zu überleben – ist eine der grundlegenden Parallelen von Kolonia-

43 Ich vertrete nicht die These, die koloniale Begegnung habe keine bedeutenden Auswirkungen auf den »Rasse«-Begriff gezeitigt, sondern gehe vielmehr davon aus, dass disparate und widersprüchliche »Rassen«-Diskurse (ebenso wie religiöse Diskurse, nationale Diskurse und so weiter) jener mitunter genozidalen Begegnung vorausgegangen sind und sie ermöglicht haben. Der moderne Imperialismus hat bestehende Formen von Rassismus und »Rasse«-Denken neu kombiniert. In jüngerer Zeit ist die Mittelalter- und Frühe Neuzeit-Forschung der Geschichte der »Rasse« in neuer Weise nachgegangen. Siehe zur Frühen Neuzeit die klare und zugängliche Darstellung in Ania Loomba, Shakespeare, Race, and Colonialism, New York 2002. Einen faszinierenden mediävistischen Essay zur langen Geschichte der »Rasse« hat Lisa Lampert verfasst: Race, Periodicity, and the (Neo-)Middle Ages, in: Modern Language Quarterly 65 (2004) 3, S. 391–421.

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lismus und nationalsozialistischer Expansionspolitik.«44 Indem er die Aufmerksamkeit auf solche Parallelen lenkt, beginnt Zimmerer eine historische Erklärung für das zu liefern, was Du Bois durch die Gegenüberstellung des Warschauer Ghettos und der USA der Jim-Crow-Gesetze oder Schwarz-Bart durch die Gegenüberstellung von Warschau und der Karibik als Orten unterschiedlich organisierter räumlicher Rassifizierung (beziehungsweise »rassischer« Verräumlichung) ansprechen. Zimmerer geht weiter, als nur auf die Parallelen von Kolonialismus und Nationalsozialismus zu verweisen. Er hat begonnen, die materiellen und diskursiven Übertragungswege zu kartieren, die das eine mit dem anderen verbinden. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung, die Erfahrungen aus erster Hand, institutioneller Erinnerung und kollektiver Fantasie für diesen Übertragungsvorgang zukommt, um zu folgendem Ergebnis zu gelangen: »Das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung für die Kolonialgeschichte […] war viel ausgeprägter, als allgemein angenommen. Zu den Orten der Verbreitung dieses Wissens gehörten koloniale Clubs, Geografie-Vereine, politische Parteien sowie populäre Romane, Zeitschriften und Universitätsvorlesungen. Folglich verfügten gewöhnliche Bürger über eine gewisse Vertrautheit mit Begriffen wie ›Rassengesellschaft‹, ›Mischehe‹, ›Vertreibung und Umsiedlung in Sonderreservate‹, ›eine untergehende und kränkelnde Rasse‹ oder ›ungebildete Eingeborene‹, auch wenn sie ihnen nur in Berichten der verschiedenen Missionsgesellschaften begegneten. Die Beschäftigung mit dem kolonialen Aspekt der deutschen Geschichte, in der Absicht, die NS-Politik besser zu verstehen, ermöglicht die Entdeckung verschiedener Vorläufer und Vorbilder. Praktiken, die aus einer bornierten eurozentrischen Perspektive beispiellos erscheinen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Radikalisierung dessen, was man zuvor im Kolonialismus praktiziert hatte.«45

Bei der Behauptung von Parallelen und der Bestimmung von Übertragungslinien geht es nicht nur um ein Hinterfragen der eurozentrischen Auffassung von der Einzigartigkeit des Holocaust, sondern auch um eine Erklärung dafür, dass sich »ganz normale Deutsche« genozidal verhalten haben. In einer Formulierung, die unsere Lesart der ausschlaggebenden Rolle bestätigt, die der in den Texten von Conrad und Césaire dokumentierten Verleugnung kolonialer Gewalt bei der Übertragung zukommt, stellt Zimmerer die These zur Diskussion, dass neben anderen Faktoren »die positive Deutung des europäischen Kolonialismus […] zur Verschleierung des 44 Jürgen Zimmerer, Colonialism and the Holocaust: Towards an Archaeology of Genocide, in: A. Dirk Moses (Hrsg.), Genocide and Settler Society: Frontier Violence and Stolen Indigenous Children in Australian History, Oxford 2004, S. 53–54. 45 Jürgen Zimmerer, The Birth of the Ostland Out of the Spirit of Colonialism: A Postcolonial Perspective on the Nazi Policy of Conquest and Extermination, in: Patterns of Prejudice 39 (2005) 2, S. 218.

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

kriminellen Charakters der deutschen Besatzung gegenüber Zeitgenossen beitrug« (Spirit of Colonialism, S. 219). Es bedarf noch weiterer Forschung, um die »Dichte« der Übertragungsweisen zu bestimmen, damit man es nicht mehr nur mit frappierenden Parallelen und individuellen Fällen von Beeinflussung zu tun hat.46 Zimmerer präzisiert bis zu einem gewissen Grad auch die Frage nach dem Verhältnis des Holocaust zum nationalsozialistischen Kolonialismus insgesamt. Ganz so, wie das genozidale Handeln der Nazis über die Opfergruppe der Juden und Jüdinnen hinausging, ging auch der Genozid an den Juden und Jüdinnen, wie Zimmerer feststellt, weit über die Kolonisierung des Ostens hinaus. Das koloniale Paradigma verfügt über geringere Überzeugungskraft, wenn es auf die Deportation der Juden und Jüdinnen aus West- oder Südeuropa angewandt wird und nicht auch auf die nationalsozialistische Politik in Polen und der Sowjetunion. Im Fall des Holocaust sind die Kategorien »Rasse« und Raum nicht völlig deckungsgleich, denn die erste zur Vernichtung vorgesehene »Rasse« war nicht allein in den für die extremste Form der Kolonisierung auserkorenen Gebieten anzutreffen. Wie wir noch bei Du Bois und Caryl Phillips sehen werden, müssen unsere Kartografien von »Rasse« und Raum die Aufmerksamkeit ebenso auf Asymmetrien lenken wie auf Parallelen. Die Schlussfolgerungen von Hull und Zimmerer werden im Zuge der weiteren Erforschung von Kolonialismus und Genozid womöglich revidiert werden müssen. Doch sie ergänzen sich und helfen uns, ein genaueres Verständnis der Logik des Bumerang-Effekts zu entwickeln, auf der Höhe der besten Einsichten von Arendt und Césaire. Die Suche nach den »Ursprüngen« des nationalsozialistischen Genozids (oder irgendeines anderen Falls extremer Gewalt) birgt mindestens zwei Gefahren: Sie kann dazu führen, dass die Spezifik des Ereignisses ausgelöscht wird, sodass dieses mit seinen Vorläufern zusammenfällt, sobald seine »wahren« Ursprünge bestimmt worden sind, und sie kann in begriffliche Sackgassen führen, wodurch die Kategorien rassistischer und primitivistischer Anthropologien wiedereingeführt werden, als müssten die Ursprünge so schockierend sein wie die aus ihnen zu erklärenden Taten. Wenn wir uns bemühen, eine eurozentrische Vorstellung von der Einzigartigkeit des Holocaust hinter uns zu lassen zugunsten eines entkolonialisierten »doppelten Bewusstseins« (Du Bois) des Verhältnisses des Holocaust zu anderen Gewaltgeschichten, dann müssen wir uns vor solchen Formen unidirektionalen Denkens in Acht nehmen. Der Fokus auf Kausalitätskonstellationen und den choc en retour legt nahe, dass es eine bessere Art gibt, über historische Kausalität – und die 46 Moses hat ebenfalls zu diesem Projekt beigetragen, indem er auf »vier unterschiedliche und sogar widersprüchliche imperiale und koloniale Logiken« aufmerksam macht, die im nationalsozialistischen Genozid kombiniert worden seien. Er unterscheidet Eroberungsmuster, die bis in die Antike zurückreichen, einen »subalternen Genozid«, der auf nationalsozialistischen Vorstellungen von den Juden und Jüdinnen als »Kolonisatoren« beruhte, Behauptungen von Juden und Jüdinnen als einer Bedrohung der inneren Sicherheit und Darstellungen von Juden und Jüdinnen als das traditionell koloniale Andere. Moses, Empire, Colony, Genocide, S. 37–40.

DIE KOLONIALE WENDE IN DER HOLOCAUSTFORSCHUNG

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Dynamik der Erinnerung  – nachzudenken, nämlich mit Blick auf die multidirektionale Übertragung von Vorstellungen und Praktiken. Wenn wir einer kolonialen »Wende« der Holocaustforschung das Wort reden, sollten wir Fragen von »Wende« und »Wiederkehr« sehr ernst nehmen. Die Auseinandersetzung mit der Wiederkehr extremer Gewalt sollte nicht nur die Aufmerksamkeit auf Verlaufslinien und Orte der Kausalität lenken sowie ein Umdenken über den Stellenwert des Holocaust in der Weltgeschichte anregen. Sie sollte sich auch gegen gängige Vorstellungen von Kolonialismus wenden. Ein Großteil der historischen Forschung zu Kolonialismus und Genozid bleibt einem chronologischen Ansatz und narrativen Erkenntnisstrukturen verhaftet. Arbeiten wie die von Hull und Zimmerer befassen sich aus gutem Grund mit Entwicklungsverläufen, die von Europa zu den Kolonien oder vom Kolonialismus zum nationalsozialistischen Genozid führen. Dabei fragen sie nach den Einfluss- und Übertragungslinien, die diese Orte und Geschichten miteinander verbinden. Wenn wir aber Benjamins Begriff der Konstellation sowie die des Bumerang-Effekts und des choc en retour ernst nehmen, dann müssen wir dafür offen bleiben, dass Einsichten in den nationalsozialistischen Genozid auch unser Verständnis seiner Vorgeschichte verändern können. Eine der grundlegenden Erkenntnisse der jüngeren Kolonialismusforschung und der Postcolonial Studies betrifft die Verstrickung von Kolonie und Metropole. Diese Erklärungsansätze haben im Allgemeinen jedoch nicht zu einem neuen Nachdenken darüber geführt, wie der Nationalsozialismus und der nationalsozialistische Genozid ein Licht auf die von Ann Laura Stoler und Frederick Cooper so genannten »imperialen Spannungen« werfen könnten. Die Rhetorik der Wende und der Wiederkehr, wie sie in Vorstellungen von Bumerang-Effekten und einem choc en retour dargelegt wird, verweist auf die Notwendigkeit, über lineare Modelle des Holocaust und des Kolonialismus hinauszugehen. Sie legt nahe, dass die Zeit des historischen Einflusses nicht nur aus mechanischer, transitiver Kausalität besteht, sondern auch aus Wiederholungen, Rückwärtsschocks und aus der Wiederkehr des Verdrängten. Aber »Wenden« finden auch im Raum statt, und das erfordert die Notwendigkeit, die Verschränkung von Kolonialismus, Rassismus und Genozid zu berücksichtigen. Die frühe Nachkriegszeit erweist sich als besonders interessant für die Kartierung der Entstehung und Entwicklung der multidirektionalen Erinnerung an Kolonialismus und Genozid, da sich in dieser Zeit die Schlüsselbegriffe, die wir heute zum Nachdenken über diese Ereignisse gebrauchen (Holocaust, Imperialismus, Dekolonisierung), noch nicht in ihren vertrauten Formen verfestigt hatten. Das erste Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint daher als Moment des Übergangs und als Laboratorium für das Nachdenken über das Verhältnis verschiedener Gewalterbschaften. Die Ergebnisse dieses Nachdenkens mögen überraschend und sogar beunruhigend sein, doch sie verdienen es, erarbeitet zu werden, weil sie bis heute, und auf mitunter nicht erkannte Weise, unser Denken prägen und weil sie uns auf Konzeptualisierungen aufmerksam machen, die in Vergessenheit geraten sind, aber wieder aufgegriffen werden sollten. Die Werke Arendts und Césaires sowie

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3. »UN CHOC EN RETOUR«: AIMÉ CÉSAIRES DISKURSE

der französischen kommunistischen Maler besitzen einen besonderen zeitlichen Status als »residuelle/emergente« Dokumente, die ihrer Zeit »voraus« sind und trotzdem »hinter« bestimmten späteren Entwicklungen liegen. Aufgrund ihrer komplexen zeitlichen Struktur lenken diese Werke unsere Aufmerksamkeit auf die Wenden und Wiederholungen des kolonialen Diskurses und der kolonialen Praxis. Die dialektische Konfrontation von Arendt und Césaire zeigt, wie die sich überschneidenden Erinnerungen an Kolonialismus, Sklaverei und Genozid zu präzedenzlosen Einsichten führen, manchmal aber auch die Sicht trüben können. Die multidirektionale Dialektik von Kolonialismus und Faschismus bleibt in den Texten Arendts und Césaires unvollständig, doch eine Archäologie der komparativen Vorstellungskraft zeigt, wie eine dialogische Sicht auf die Geschichte auch die Arbeit und das Handeln vieler weiterer bedeutender intellektueller und politischer Persönlichkeiten des 20.  und 21. Jahrhunderts geprägt hat. Im folgenden Abschnitt befasse ich mich mit drei Autoren – Du Bois, Schwarz-Bart und Phillips –, die sich auf unterschiedliche Weise mit den Erbschaften des Kolonialismus und des nationalsozialistischen Genozids auseinandersetzen. Die Gegenüberstellungen, denen sie nachgehen, sind zugleich räumlich – Ghettos, Ruinen und Diaspora – und zeitlich – Erinnerung, Fortdauer und die Wiederkehr rassistischer Gewalt über viele Jahrhunderte hinweg.

Teil II: Migrationen der Erinnerung: Ruinen, Ghettos, Diasporen

4. W. E. B. Du Bois in Warschau: Holocaustgedenken und die color line 1949 Im Jahr 1949 reiste der afroamerikanische Forscher und Aktivist W. E. B. Du Bois nach Polen, wo er die von der nationalsozialistischen Besatzung und dem Krieg hinterlassenen Schuttberge besichtigte. Angesichts der Ruinen des Warschauer Ghettos, dem Schauplatz einer heroischen und verzweifelten Revolte zum Tod im Lager Treblinka verurteilter Juden und Jüdinnen im Jahr 1943, stellte Du Bois Überlegungen zu Fragen von »Rasse«, Identität und Widerstand an. In The Negro and the Warsaw Ghetto (Der Schwarze und das Warschauer Ghetto), einem 1952 in der Zeitschrift Jewish Life veröffentlichten Artikel, schreibt Du Bois, diese Reise habe ihn veranlasst, seine Erklärung aus dem Jahr 1900, das »Problem des 20. Jahrhunderts« sei »das Problem der color line«, zu überdenken.1 Im Artikel für Jewish Life berichtet Du Bois über seine früheren Besuche in Polen während des späten 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, um dann zu erörtern, wie diese Besuche ihm geholfen hätten, sich »des jüdischen Problems in der modernen Welt« bewusst zu werden (S. 14). Anschließend wendet Du Bois sich seinem jüngsten Besuch in Warschau zu und äußert sich zum Novum der nationalsozialistischen Aggression, der von ihr hinterlassenen völligen Vernichtung und den Bemühungen der Polen und Polinnen, ihre Stadt wiederaufzubauen. Er geht insbesondere auf das Schicksal der Juden und Jüdinnen aus dem Ghetto ein und erwähnt einen Besuch des kurz zuvor eingeweihten Warschauer Ghetto-Ehrenmals. The Negro and the Warsaw Ghetto ist zwar ein vergleichsweise unbekannter und ziemlich kurzer Text, verdient hier aber aus mehreren Gründen besondere Aufmerksamkeit. Erstens ergänzt er, was wir bisher anhand von Arendt und Césaire über das Verhältnis des Holocaust zu den Diskursen über »Rasse« und Widerstand gesagt haben, die zur Zeit des Kalten Kriegs und der antikolonialen Bewegungen in Umlauf 1

Siehe To the Nations of the World, in: W. E. B. Du Bois, The Oxford W. E. B. Du Bois Reader, hrsg. v. Eric Sundquist, New York 1996, S. 625. Die berühmteste Formulierung des »Problems des 20. Jahrhunderts« ist die aus Die Seele der Schwarzen (1903 erschienen), die früheste jedoch die aus To the Nations of the World, einem Text, der zuerst als Teil des Berichts über den Panafrikanischen Kongress von 1900 veröffentlicht wurde. Im Folgenden wird die amerikanische Schreibweise des Wortes color verwendet. Der Artikel über Warschau, The Negro and the Warsaw Ghetto, erschien in Jewish Life (Mai 1952), S. 14 f. Verweise auf diesen Text erfolgen im Folgenden im Fließtext und in Klammern. Ein Nachdruck des Artikels findet sich in The Oxford W. E. B. Du Bois Reader, S. 469–473. Du Bois berichtet auch in einem auf den 27. September 1949 datierten, an seine Unterstützerin Anita McCormick Blaine adressierten Brief über seine Reise nach Warschau. Siehe W. E. B. Du Bois, The Correspondence of W. E. B. Du Bois, Bd. 3, hrsg. v. Herbert Aptheker, Amherst 1978.

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4. W. E. B. DU BOIS IN WARSCHAU

waren. Arendt und Césaire führen uns bis an die Schwelle eines tragfähigen Begriffs von Multidirektionalität, entgehen aber nicht immer den Fallstricken der Dichotomie von Allgemeinem und Besonderem. Arendt strandet an den Grenzen des Eurozentrismus, und das Gegengift, mit dem Césaire dem Eurozentrismus begegnet, bringt mit sich, dass er angesichts der Besonderheiten jüdischer Geschichte zögerlich ist. Dagegen dient Du Bois aufgrund der Art und Weise, in der er über Juden, »Rasse« und Genozid Gemeinsamkeiten und Differenzen in einer revidierten Form des doppelten Bewusstseins zusammendenkt, als Beispiel multidirektionaler Erinnerung. Hinzu kommt, dass die Einsichten über die Zusammenhänge von räumlicher Organisation und rassistischer Gewalt, die Du Bois aus der verwüsteten Geografie des Warschauer Ghettos bezieht, in der gesamten alternativen Tradition multidirektionaler Erinnerung einen Nachhall gefunden haben. Die Jahre, während derer Du Bois Warschau besuchte und darüber schrieb, bleiben in der Holocaustforschung wenig untersucht, doch sie haben sowohl das Holocaustgedenken als auch die interdisziplinären Kulturwissenschaften geprägt. Ich denke dabei nicht nur an Arendt und Césaire, sondern auch an den deutsch-jüdischen Philosophen Theodor W. Adorno, der in eben dem Jahr, da Du Bois nach Warschau reiste, eine der ersten Reflexionen über die kulturellen Auswirkungen des Holocaust vorlegte. Adornos 1949 verfasster und 1951 veröffentlichter Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft besteht zwar vor allem aus einer marxistischen Kritik des Kulturbegriffs, verdankt seine heutige Bekanntheit aber mindestens ebenso sehr einer Formulierung aus dem überraschenden letzten Absatz. Indem er seine Erörterung der Kulturkritik beschloss, eröffnete Adorno, was sich seitdem als langjähriger Diskurs über das Verhältnis von nationalsozialistischem Terror und ästhetischer Darstellung erwiesen hat. Adornos Aussage »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« wird auch lange nach seinem Tod im Jahr 1969 weiter zitiert (mitunter falsch).2 Im Laufe der Jahre hat man in Adornos Überlegungen zu Auschwitz weitaus mehr gesehen als nur ein Urteil über das Verfassen von Gedichten. Sie werden heute als Hinweis auf die Auswirkungen extremer, gesellschaftlich sanktionierter Gewalt auf die Kultur im umfassenden, anthropologischen Sinn verstanden. Sowohl Adornos 1949 formuliertes Diktum als auch Du Bois’ ebenso bekannte Aussage über die color line bezeugen die Folgen solcher durch und durch modernen Erfahrungen wie Genozid, Sklaverei und Kolonialismus für unsere Konzeptionen von Geschichte, Kultur und Gemeinschaft. Adorno und Du Bois setzen beide ein begriffliches Problem (wie über Ästhetik oder Geschichte nachzudenken sei) in Beziehung zu einer materiellen Realität, die bestimmt und gespalten wird von »Rasse«-Kategorien (Auschwitz, die color line). Durch ihre Rhetorik einer Zeit »nach Auschwitz« beziehungsweise der color line des 20. Jahrhunderts verknüpfen beide Autoren das Problem der »Rassen«-Trennung darüber hinaus mit dem räumlicher und zeitlicher Zäsuren. 2

Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 2003, S. 30.

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Mit Adornos Schriften habe ich mich an anderer Stelle beschäftigt.3 Hier möchte ich untersuchen, wie der weniger bekannte Besuch von Du Bois in Warschau eine dynamische Verflechtung von Geschichten und Erinnerungen erkennbar macht, die methodologische Implikationen für Holocaustforschung, Postcolonial Studies und Afroamerikanistik hat. Du Bois’ Begegnung mit den Überresten des Warschauer Ghettos im Jahr 1949 bestätigt, dass eine komparative Herangehensweise an die Multidirektionalität kollektiver Erinnerung notwendig ist, bei der Fragen von Politik, Ästhetik und Öffentlichkeit in einem nicht-reduktiven, transnationalen Rahmen betrachtet werden. Die Post-Holocaust-Evozierung der color line durch Du Bois – einer Linie, die als materiell und begrifflich zugleich verstanden werden kann – gewinnt im Lichte der Diskurse, die den Ort des Holocaust in der zeitgenössischen Forschung bestimmt haben, noch zusätzlich an Bedeutung. Alle fachlichen und interdisziplinären Formationen ziehen notwendigerweise Trennlinien, die ihren Untersuchungsbereich von anderen sowie Gebiete innerhalb des eigenen Bereichs voneinander abgrenzen, aber nicht alle Linien sind gleich. Gegenwärtig lassen sich die meisten Holocaustforscher und -forscherinnen einer von zwei vorherrschenden Positionen zuordnen. An anderer Stelle habe ich, im Zusammenhang mit Bemühungen, erkenntnistheoretische Fragen mit solchen der Darstellung zu verbinden, diese beiden Positionen als die realistische und die antirealistische bezeichnet. Auf der einen Seite gibt es den bekannten antirealistischen Diskurs, der zwischen dem Holocaust und allen anderen Ereignissen eine unantastbare Grenze einzieht. Der Regisseur und Autor Claude Lanzmann veranschaulicht diese Position in seiner Reaktion auf die 1978 ausgestrahlte Fernsehserie Holocaust: »Der Holocaust ist vor allem insofern einzigartig, als er um sich herum in einem Flammenkreis eine Grenze errichtet, die nicht überschritten werden kann, weil ein gewisses Absolutes unübertragbar ist: Dies zu behaupten, bedeutet, sich der schwersten Art von Übertretung schuldig zu machen.«4 Eine andere Forschungsrichtung besteht auf der Aufhebung sämtlicher Diskontinuitäten zwischen dem Genozid und anderen Geschichten. So hat Tzvetan Todorov beispielsweise eine Studie zum »moralischen Leben« in den Konzentrationslagern verfasst, in der er »die Kontinuität von Alltags- und Lagererfahrung behaupte[t]«.5 Letztlich verhalten sich diese völlig entgegengesetzten Sichtweisen spiegelbildlich zueinander, da sie beide auf dem beruhen, was sie ausschließen – seien es Belege für die Vergleichbarkeit des Holocaust 3 4

5

Eine ausführliche Erörterung der verschiedenen Artikulationen und Kontexte von Adornos Schriften über Auschwitz bietet mein Aufsatz: After Adorno: Culture in the Wake of Catastrophe, in: Rothberg, Traumatic Realism, S. 25–58. Claude Lanzmann, De l’Holocauste à Holocauste, in: ders., Au Sujet de Shoah, Paris 1990, S. 309. Dieser und weitere wichtige Essays von und über Lanzmann und seinen Film Shoah finden sich nun in: Stuart Liebman (Hrsg.), Claude Lanzmann’s Shoah: Key Essays, New York 2007. Tzvetan Todorov, Facing the Extreme: Moral Life in the Concentration Camps, New York 1996, S. 40.

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4. W. E. B. DU BOIS IN WARSCHAU

mit anderen Ereignissen oder Beweise seiner Spezifik. Weil Du Bois’ Artikel über das Warschauer Ghetto den binären Gegensatz von absoluter Diskontinuität und völliger Kontinuität vermeidet, der einen Großteil des Diskurses über den Holocaust und sein Verhältnis zu anderen Geschichten kennzeichnet, hilft er uns, neue, multidirektionale Herangehensweisen an Genozid, Rassismus und kollektive Erinnerung zu erkennen. Meine Analyse von The Negro and the Warsaw Ghetto legt den Schluss nahe, dass ein modifizierter Begriff von Du Bois’ »doppeltem Bewusstsein« eine ausschlaggebende methodologische Innovation darstellen könnte, die es der Holocaustforschung ermöglicht, aus der Sackgasse von Realismus und Antirealismus herauszufinden, und der Kulturwissenschaft hilft, konkurrenzbasierte Erinnerungsmodelle hinter sich zu lassen.6 Du Bois’ Reaktion auf die Katastrophe des nationalsozialistischen Genozids deutet auch die Möglichkeit an, dass andere interdisziplinäre Projekte, die zum Holocaust bisher nicht viel zu sagen gehabt haben, etwa die Postcolonial Studies und die Kulturwissenschaften, von einer Auseinandersetzung mit der Holocaustforschung profitieren könnten. Im Bild von Du Bois in Warschau verdichten sich Fragen nach der Politik des Erinnerung und der Produktion von Diskursen über die Vergangenheit; außerdem bietet es eine Schnittstelle, von der aus eine neue Kartierung der scheinbar divergenten Genealogien des Holocaustgedenkens und der globalen color line möglich wird. Zwar können sowohl das Holocaustgedenken als auch die color line heute als stabile, quasi-natürliche Gegenstände erscheinen. Unsere Untersuchung des Kontextes der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahre zeigt jedoch, dass ihre Bedeutung eine instabile, keineswegs selbstverständliche ist. Zur gleichen Zeit, da Du Bois angesichts der Ruinen Warschaus seinen Begriff des doppelten Bewusstseins revidierte, entwickelte Hannah Arendt eine Konstellation, die Imperialismus und Totalitarismus zueinander in Beziehung setzte; Aimé Césaire deutete den nationalsozialistischen Genozid im Lichte kolonialer Gewalt, und die französischen, kommunistischen Maler André Fougeron und Boris Taslitzky imaginierten ein von Gespenstern heimgesuchtes Frankreich, das von der Begegnung des Faschismus mit dem Kolonialismus gezeichnet war. Du Bois’ Schriften über den Holocaust, die Juden und Jüdinnen und den Nationalsozialismus bestätigen die allgemeine Stimmung der Zeit und liefern zugleich neue Einsichten.7 Die Fälle Césaires und Arendts haben ver6 7

Weitere Bemerkungen zum Verhältnis von Realismus und Antirealismus in der Holocaustforschung finden sich in meiner Einleitung zu Traumatic Realism. Einen hervorragenden Überblick über das gesamte Spektrum von Du Bois’ zahlreichen Schriften über Juden und Jüdinnen, Antisemitismus und Nationalsozialismus bietet Harold Brackman, »A Calamity Almost Beyond Comprehension«: Nazi Anti-Semitism and the Holocaust in the Thought of W. E. B. Du Bois, in: American Jewish History 88 (2000) 1, S. 53–93. Zu den besten literaturwissenschaftlichen Arbeiten über das Verhältnis von Afroamerikanern und amerikanischen Juden zählen Emily Miller Budick, Blacks and Jews in Literary Conversation, New York 1998, und Adam Zachary Newton, Facing Black and Jew: Literature as Public Space in Twentieth-Century America, New York 1998. Eric Sundquist hat die erschöpfendste und bedeutendste Arbeit über das Verhältnis schwarzer und jüdischer Amerikaner

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anschaulicht, wie schwierig es ist, ein Bewusstsein der Spezifik des Holocaust und des Kolonialismus zu bewahren, ohne deswegen auf eine Darstellung der allgemeineren Prozesse zu verzichten, die Europas rassifizierte Gewalt auszeichnen. Indem Du Bois, ausgehend von den Ruinen Warschaus, die color line neu überdenkt, bietet er sowohl ein Beispiel als auch eine Methode, wie sich Erinnerung jenseits der Konkurrenzlogik begrifflich fassen lässt. Letztlich ist die Lektion von Du Bois in Warschau gleichermaßen ausschlaggebend für Holocaustforschung, Postcolonial Studies und ethnische Forschung im Allgemeinen: Die verschiedenen Varianten rassistischen Terrors, die das 20. Jahrhundert – sowohl in ihren alltäglichen als auch in ihren extremen Formen – gekennzeichnet und entstellt haben, hinterlassen in allen Wissensgebieten ihre Spuren. Meine Erörterungen zu Arendt und Césaire haben dargelegt, wie bedeutend Zeitlichkeit für die Konzeptualisierung der kolonialen Begegnung und ihrer unheimlichen Wiederkehr nach Europa ist. Hier geht es mir darum, dass auch der Raum eine bestimmende Rolle spielt: Du Bois’ Artikel über Warschau zeigt, wie rassistisches Denken und rassistische Gewalt zeitgleich mit der Produktion eines »biopolitischen« Raums entstehen. Ganz so, wie meine vorangegangenen Ausführungen die Notwendigkeit (und Schwierigkeit) einer Rekonzeptualisierung von Narrativen verdeutlicht haben, die ansonsten in jener Zeitlichkeit des Fortschritts verhaftet bleiben, auf der der Kolonialismus gedeiht, legen von Du Bois inspirierte Analysen nahe, dass sowohl der wissenschaftliche als auch der gesellschaftliche Raum Orte des Widerstands gegen rassistische Diskurse und Praktiken sein müssen. Um das Ausmaß zu begreifen, in dem Rassismus für die fachliche und interdisziplinäre Wissensproduktion relevant ist, müssen wir als Kritiker und Kritikerinnen zunächst die begrifflichen und materiellen Demarkationslinien kartieren, die unterschiedliche Geschichten sowohl verbinden als auch trennen.8 Auf der Suche nach den Berührungspunkten scheinbar separater Geschichten betone ich den unregelmäßigen Charakter historischer Vorgänge und die Multidirektionalität der Erinnerung bei kulturellen Übertragungen, obwohl ich zugleich davon ausgehe, dass solche Vorgänge und solche Erinnerung – auf einer grundlegenden Ebene – tief miteinander verwoben sind. Um Du Bois’ transnationale Begegnung mit Warschau und seinen Artikel für Jewish Life verständlich zu machen, müssen multiple Geschichten aufgearbeitet werden; wenn beides für aktuelle Fragen relevant gemacht werden soll, müssen diese Geschichten auch gegen den Strich gebürstet werden.

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und Amerikanerinnen zum Holocaust verfasst: Strangers in the Land: Blacks, Jews, PostHolocaust America, Cambridge 2005. Eine verwandte Erörterung, deren Schwerpunkt auf »Rasse« und Interdisziplinarität in Die Seele der Schwarzen liegt, ist die von Russ Castronovo, Within the Veil of Interdisciplinary Knowledge? Jefferson, Du Bois, and the Negation of Politics, in: New Literary History 31 (2000), S. 781–804.

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4. W. E. B. DU BOIS IN WARSCHAU

Das Klima der Erinnerung Im Jahr 1949 sprach Du Bois auf internationalen Friedenskonferenzen in New York, Paris und Moskau. Dabei äußerte er seine Ablehnung des Kalten Kriegs.9 Im September 1949, auf dem Weg zurück aus Moskau, besuchte er außerdem zum dritten Mal in seinem Leben Polen. Das erste Mal hatte er das 1893, während seines Studiums im wilhelminischen Deutschland getan, das zweite Mal 1936, im Rahmen eines längeren Aufenthalts im nationalsozialistischen Deutschland. Wie Du Bois in The Negro and the Warsaw Ghetto, seinem 1952 in Jewish Life veröffentlichten Artikel, schreibt, wirkten sich diese Besuche tiefgreifend auf seine Überlegungen zum Problem der color line aus: »Das Ergebnis dieser drei Besuche und insbesondere meiner Besichtigung des Warschauer Ghettos war nicht so sehr ein klareres Verständnis des jüdischen Problems in der Welt, sondern ein reelles und umfassenderes des Problems der Schwarzen. Zunächst einmal war das Problem der Sklaverei, der Emanzipation und der Kastenzugehörigkeit in den Vereinigten Staaten in meiner Denkweise nicht mehr eine eigenständige und einzigartige Sache, wie ich es mir lange vorgestellt hatte. Es ging nicht einmal mehr ausschließlich um Hautfarbe oder körperliche und ›rassische‹ Merkmale, was mir besonders zu schaffen machte, da die color line ein Leben lang eine reelle und wirkmächtige Ursache von Elend gewesen war. […] [D]as Rassenproblem, an dem ich interessiert war, lag quer zu Fragen der Hautfarbe, des Körperbaus, der Religion und des Status; es ging darin um kulturelle Muster, pervertierte Lehren, menschlichen Hass und Vorurteile, die alle möglichen Menschen betrafen und endlose Übel verursachten.« (S. 15)

In dieser Textpassage stehen Probleme der Begriffsbildung in demselben engen Verhältnis zu den materiellen Bedingungen des Rassismus wie in der bekannteren Prognose zum Problem des 20. Jahrhunderts. Hier verschiebt Du Bois allerdings die klaren Unterscheidungen, anhand derer er zuvor das »Problem des 20. Jahrhunderts« auf die color line begrenzt hat; er verlegt sich auf einen Diskurs, der eine solche Begrenzung infrage stellt, sowohl auf der begrifflichen als auch auf der materiellen Ebene. Diese Verschiebung innerhalb des Problems der Schwarzen findet bei Du Bois auf zwei Ebe9

Siehe die kurze Darstellung jenes Jahrs in: Manning Marable, W. E. B. Du Bois: Black Radical Democrat, Boston 1986, S. 176  f. Die umfassendsten Untersuchungen zu Du Bois in dieser Zeit sind die von Gerald Horne, Black and Red: W. E. B. Du Bois and the Afro-American Response to the Cold War, 1944–1963, Albany 1986, und David Levering Lewis, W. E. B. Du Bois: The Fight for Equality and the American Century, 1919–1963, New York 2000. Jewish Life hat einen Auszug aus Du Bois’ Friedensrede aus dem Jahr 1949 veröffentlicht: W. E. B. Du Bois, No More War!, in: Jewish Life (Mai 1949), S. 23 f. Der vollständige Text liegt unter dem Titel Peace: Freedom’s Road for Oppressed Peoples vor in: W. E. B. Du Bois: A Reader, hrsg. v. David Levering Lewis, New York 1995, S. 751–754. In derselben Anthologie finden sich auch mehrere weitere Aufsätze, die mit dem Kalten Krieg zusammenhängen.

DAS KLIMA DER ERINNERUNG

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nen statt: als ein »in [seiner] Denkweise« verstandenes Phänomen und als Element des »Reellen«. Die Verschiebung der »Rassen«-Problematik und die Überschreitung der color line, die Du Bois nach seinem Besuch in Polen 1949 ins Auge fasst, bedeuten keineswegs, dass er seine Erkenntnis zum Problem des 20. Jahrhunderts preisgibt. Sie verweisen vielmehr auf die anhaltende Notwendigkeit, diese Erkenntnis neu zu betrachten, zu revidieren und in ihrer Historizität zu erkennen – eine Revisionsaufgabe, die sich bereits in Du Bois’ wiederholten Neuformulierungen des »Problems des 20. Jahrhunderts« zu erkennen gibt. Wenn die Lage der Schwarzen nun, für Du Bois, keine »eigenständige und einzigartige Sache« mehr ist, dann hört die color line deswegen nicht auf, ihre Wirkungen zu zeitigen; sie bleibt die »reelle und wirkmächtige Ursache« sowie die Bedingung afroamerikanischen Lebens. Gemäß dieser neuen Auffassung liegt das »Rassen«-Problem quer zu einer Vielzahl sozialer Trennlinien, doch ist es gerade diese transversale Begriffsbewegung, die zeigt, wie sehr diese Trennlinien lokale wirkungsmächtige Ursachen bleiben. Die color line wirkt fort, wie auch die Spezifik afroamerikanischen Lebens, doch die Verbindungs- und Trennlinien zwischen der afrikanischen Diaspora und dem euro-amerikanischen Leben stehen in einem neuen Verhältnis zu anderen Geschichten von Rassismus und Gewalt. Um die spezifischen Eigenschaften der Beziehungen zwischen schwarzen und jüdischen Geschichten sowie die Auswirkungen dieser Beziehungen auf die Konzeptualisierung von »Rasse« und Kultur zu verstehen, müssen wir uns die Frage vorlegen, warum der Anblick Warschaus in der Nachkriegszeit Du Bois so beeindruckt hat und was genau den beschriebenen Vorgang theoretischer Revision angestoßen haben könnte. Zunächst einmal müssen wir die historischen Dynamiken zur Kenntnis nehmen, die die Veröffentlichung von Du Bois’ Artikel geprägt haben. In dem Zeitraum zwischen Du Bois’ Warschau-Reise (1949) und der Veröffentlichung seines Artikels (1952) war die Hysterie des Kalten Krieges auf dem Höhepunkt, ebenso wie Du Bois’ Verfolgung durch die Regierung der Vereinigten Staaten – 1951 wurde er als »nicht registrierter ausländischer Agent« angeklagt. Du Bois war zwar noch kein Parteimitglied, doch er stand damals dem Kommunismus nahe, und Jewish Life war eine Zeitschrift der Kommunistischen Partei. Es ist zwar notwendig, den Stalinismus von Intellektuellen und Aktivisten wie Du Bois und den Herausgebern von Jewish Life kritisch zu beleuchten – insbesondere, wenn es um eine Zeit geht, da die antisemitische Repression in der Sowjetunion einen neuen Höhepunkt erreichte –, doch wenn wir unsere Post-Kalter-Krieg-Empfindungen vorübergehend ausklammern, kann dies auch zu neuen Einsichten hinsichtlich Geschichte und Erinnerung führen.10 Der Kalte Krieg schuf in den Vereinigten Staaten einen ganz besonderen 10 Du Bois hat eine bedrückend lobende Laudatio auf Stalin verfasst: On Stalin, in: W. E. B. Du Bois: A Reader, S. 796 f. Eine wichtige Darstellung des Stalinismus von Du Bois stammt von William E. Cain, From Liberalism to Communism: The Political Thought of W. E. B. Du Bois, in: Amy Kaplan/Donald Pease (Hrsg.), Cultures of United States Imperialism, Durham 1993, S. 456–473. Anders als Césaire fuhr Du Bois auch nach Chruschtschows Enthüllungen von 1956 fort, Stalin zu verteidigen; siehe Horne, Black and Red, S. 316–368.

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Kontext für Diskussionen über Rassismus und Holocaust. Mainstream-Organisationen sowohl der Afroamerikaner als auch der jüdischen Amerikaner bemühten sich, ihre Anliegen dem antikommunistischen Konsens anzupassen. Für Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen bedeutete dies die Preisgabe eines zuvor sehr ausgeprägten Internationalismus. In ihrer Studie über afroamerikanische Reaktionen auf die globalen Dimensionen der color line schreibt Penny M. Von Eschen: »Bis 1950 waren in der afroamerikanischen Presse eine grundlegende Veränderung des antikolonialen Diskurses und eine dramatische Verringerung der Berichterstattung über Afrika und die Karibik zu verzeichnen. Schlagzeilen zu antikolonialen Bewegungen, Streiks und der im Wandel begriffenen Rolle amerikanischer Konzerne gab es nicht mehr. Im erheblich reduzierten Volumen der Diskussionen über Kolonialismus und Afrika spiegelte sich die Sorge US-amerikanischer Sicherheitsstrategen, britische oder französische Kolonialexzesse könnten den noch gefährlicheren Kommunisten in Afrika Tür und Tor öffnen.«11

Während die schwarze Mainstream-Presse in dieser Zeit das internationale Ausmaß der Probleme von »Rasse«, Hautfarbe und Imperialismus im Allgemeinen dekontextualisierte und enthistorisierte, formulierten einige marginalisierte linke Intellektuelle, darunter Du Bois, weiterhin radikale Kritiken, die die globalen und lokalen Kontexte des Rassismus zueinander in Beziehung setzten. Gleichzeitig scheuten sich, anders als heute, die meisten jüdisch-amerikanischen Organisationen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten zu lenken. Diese hatte viele Gründe, doch war es damals vor allem der Wunsch der meisten amerikanischen Juden und Jüdinnen, sich in die amerikanische Mainstream-Gesellschaft zu integrieren, der sie still oder ausdrücklich eine Außenpolitik unterstützen ließ, die vergangene deutsche Verbrechen zugunsten eines Bündnisses gegen den sowjetischen »Totalitarismus« relativierte. Arendts Konzeptualisierung des Totalitarismus kam, entgegen ihrer Absicht, als Teil dieses Projekts zum Einsatz. Das Zusammenfallen des Assimilationswunsches der jüdischen Gemeinschaft mit einer umfassenderen landesweiten Verschiebung geopolitischer Bündnispräferenzen hatte zur Folge, dass die amerikanische Linke in den 1940er- und 1950er-Jahren die Hauptträgerin dessen wurde, was wir heute als Holocaustgedenken bezeichnen würden. Wir haben bei der Beschäftigung mit Fougeron, Taslitzky und Césaire bereits gesehen, wie die Kommunistische Partei Frankreichs im Kontext der von Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg geführten Kolonialkriege eine anhaltende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beförderte. Zumindest in den Vereinigten Staaten ging die Partei noch weiter und erkannte die Besonderheiten der nationalsozialistischen Unter11 Penny M. Von Eschen, Race Against Empire: Black Americans and Anticolonialism, 1937– 1957, Ithaca 1997, S. 146.

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drückung der Juden und Jüdinnen an. Peter Novick schreibt: »Eine der auffälligsten Charakteristika der kommunistischen und pro-kommunistischen Rhetorik – insbesondere der jüdischen Kommunisten und Sympathisanten, von denen sich die jüdischen Organisationen der politischen Mitte verzweifelt zu distanzieren versuchten – war in den später vierziger und fünfziger Jahren die Häufigkeit der Invokationen des Holocaust.«12 In Anbetracht dieser politischen Spaltungen innerhalb der im Kalten Krieg formulierten afroamerikanischen und jüdisch-amerikanischen Diskurse stellt Du Bois’ Artikel zum einen eine Anomalie dar, lässt sich zum anderen aber auch leicht verorten. Die Seiten der kommunistischen Zeitschrift Jewish Life strotzten in diesen Jahren vor Hinweisen auf den Holocaust sowie auf lokale und globale »Rassen«-Politiken. Die Zeitschrift unterstützte Du Bois in der schwierigen Situation, die der Kalte Krieg für ihn bedeutete, so wie sie auch schwarzen linken Initiativen, etwa der Kampagne We Charge Genocide, beistand.13 Es mag, trotz der hier angeführten Beispiele, heute schwierig sein, dies zu begreifen, doch der Kommunismus bot damals, sowohl in den USA als auch anderswo, einen der Diskursräume, in denen erstmals versucht werden konnte, Genozid und Kolonialismus zueinander in Beziehung zu setzen – und das lange bevor Holocaustforschung oder Postcolonial Studies unter Intellektuellen in Mode kamen. Anders ausgedrückt: Eine Vorstellung von der Spezifik des nationalsozialistischen Genozids entstand vor dem Hintergrund relativen Schweigens und einer verallgemeinernden Verurteilung von Gräueltaten, und zwar gerade vermittelt durch den Vergleich, der später als Relativierung der Einzigartigkeit des Holocaust stigmatisiert werden sollte. Dass sich dieses Verständnis von einer Spezifik des Jüdischen innerhalb einer universalistischen Bewegung herausbildete, die sich zeitgleich der Verfolgung sowjetischer Juden und Jüdinnen widmete, ist nicht nur eine grausame Ironie der Geschichte, sondern auch ein weiterer Hinweis auf die irreduzible Komplexität von kollektiver Erinnerung. Doch gilt es nicht nur, diesen umfassenderen historischen Kontext zur Kenntnis zu nehmen. Ebenso wichtig ist es, den Adressaten zu bedenken, an den sich Du Bois in The Negro and the Warsaw Ghetto wandte. Der Artikel ist zwar vom Kontext des Kalten Kriegs geprägt, kann darüber hinaus aber auch als strategische Intervention innerhalb der Linken gelesen werden, da er eindeutig an ein linkes jüdisches Publikum gerichtet ist. Tatsächlich ist der Artikel die schriftliche Fassung eines Vortrags, den Du Bois am 15. April 1942 auf der von Jewish Life ausgerichteten Veranstaltung Tribute to the Warsaw Ghetto Fighters (Ehrung der Kämpfer des Warschauer Ghettos) gehalten hat (Du Bois, Warsaw Ghetto, S. 14). Du Bois’ politische Solidarität mit jüdischem 12 Novick, Nach dem Holocaust, S. 127. Weitere Erörterungen zu dieser Zeit bietet Lawrence Baron, The Holocaust and American Public Memory, 1945–1960, in: Holocaust and Genocide Studies 17 (2003) 1, S. 62–88. 13 Zur Verteidigung von Du Bois durch Jewish Life siehe Dr. Harry F. Ward, The Case of Dr. Du Bois, in: Jewish Life (Juli 1951), S. 23–25. Zur We-Charge-Genocide-Kampagne siehe William L. Patterson, Genocide against the Negro People, in: Jewish Life (Januar 1952), S. 11–13.

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Leiden im Zweiten Weltkrieg verstand sich nicht immer von selbst. 1944 hatte Du Bois scharf auf ein Kampagne des American Jewish Committee (AJC) reagiert, das mit einer »Menschenrechtserklärung« auf das Schicksal der Juden und Jüdinnen und anderer in Europa Bezug nahm. Als der Vorsitzende des AJC, Joseph Proskauer, Du Bois um Unterstützung bat, schrieb dieser zurück: »Unter Absatz fünf appellieren Sie an die Sympathie für Personen, die aus ihrem Geburtsland vertrieben worden sind, aber wie steht es mit amerikanischen Negern, Afrikanern und Indern, die man nicht aus ihrem Geburtsland vertrieben, aber dennoch ihrer Rechte beraubt hat? Unter Absatz sechs fordern Sie Wiedergutmachung für diejenigen, die auf der Erde umherwandern, aber wie steht es mit denen, die nicht umherwandern und nicht reisen dürfen und denen dennoch ihre grundlegenden Menschenrechte vorenthalten werden? Mit anderen Worten: Dies ist eine sehr leicht verständliche Erklärung der jüdischen Rechte, aber es ist bei ihr offenbar nicht an die Rechte von Schwarzen, amerikanischen Ureinwohnern und Südsee-Insulanern gedacht worden. Warum wird sie also als Menschenrechtserklärung bezeichnet?«14

Du Bois’ Antwort ist insofern auch heute noch relevant, als sie aktuelle Bedenken über den Stellenwert eines entpolitisierten »Humanitarismus« vorwegnimmt.15 In seinem Brief betont Du Bois, ebenso wie später in seinem Artikel für Jewish Life, die Notwendigkeit, Politik gegenüber Schwarzen (und andere Politiken) von einem falschen universalistischen Menschenrechtsdiskurs sowie von der Geschichte der europäischen Juden und Jüdinnen abzugrenzen. In einem Paradebeispiel für Ideologiekritik deckt Du Bois die spezifischen Interessen hinter dem allgemeinen Anspruch auf und nimmt stattdessen auf ein differenziertes Feld potenzieller Rechte Bezug. Du Bois’ Entlarvung des Universellen und sein Beharren auf der Spezifik geschehen allerdings vor dem Hintergrund gemeinsamer Anliegen. Lange vor dem Holocaust und auch dem Nationalsozialismus berichtete Du Bois bereits, dass er auf bestimmte Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen von Afroamerikanern, Juden und anderen US-amerikanischen und jüdischen Minderheiten gestoßen sei. In Dusk of Dawn erwähnt er »das anhaltende und wiederkehrende Grauen« der Lynchmorde während seiner Collegezeit Ende des 19. Jahrhunderts und schreibt: 14 Du Bois an Proskauer, 14. November 1944, in: The Correspondence of W. E. B. Du Bois, S. 24 f. Damit ist nicht gesagt, dass Du Bois gegenüber jüdischem Leiden im nationalsozialistischen Deutschland unempfindlich war, sondern vielmehr, dass er stets für Fragen politischer Strategie aufmerksam blieb. Bereits 1936 urteilte Du Bois, es habe »in der heutigen Zeit keine Tragödie gegeben, die in ihren schrecklichen Auswirkungen dem Kampf um den Juden in Deutschland gleichkommt«. Siehe The Present Plight of the German Jew, in: W. E. B. Du Bois: A Reader, S. 81 f. 15 Siehe etwa Slavoj Žižeks provokanten Text: Gibt es einen fortschrittlichen Eurozentrismus?, in: ders., Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, S. 282–293.

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»Jeder Tote war eine Narbe an meiner Seele und machte mir das Leiden anderer Minderheiten bewusst.« Du Bois erwähnt Lynchmorde an Italienern in New Orleans und antichinesische Ausschreitungen im Westen, berichtet aber auch von der »Kunde jüdischer Segregation und russischer Pogrome in den Zeitschriften«.16 Ein solcher Nachhall jüdischer Geschichte findet sich auch in Die Seelen der Schwarzen, etwa dort, wo sich der Protagonist der Kurzgeschichte »Johns Heimkehr« mit Esther vergleicht, der jüdischen Königin, die ihr Leben riskiert, um ihr Volk zu retten: »Ich sehe meine Pflicht gegenüber Altamaha [seinem Heimatort] direkt vor mir, vielleicht lassen sie mich dort mithelfen, das Negerproblem zu lösen  – vielleicht aber auch nicht. Ich werde zum König reingehen, was dem Gesetz nach nicht gestattet ist, und wenn ich dabei umkomme, so komme ich dabei um.«17 Dass sich John als Jude identifiziert, um das Problem der Schwarzen zu thematisieren – ein nicht unbekannter Topos in der politischen Rhetorik der afrikanischen Diaspora –, hat eine Geschichte zum Gegenstück, die Du Bois unter anderem in seinem Artikel für Jewish Life erzählt und die sich als Allegorisierung seiner Sprechposition in The Negro and the Warsaw Ghetto verstehen lässt. Du Bois beschreibt seine erste, in den 1890er-Jahren unternommene Europareise: »Ich reiste von Budapest durch Ungarn in eine kleine Stadt in Galizien, wo ich die Nacht verbringen wollte. Der Fahrer sah mich an und fragte, ob ich ›unter den Juden‹ anhalten wolle. Ich war ein wenig verwirrt, antwortete ihm aber ja. Also gingen wir in ein kleines jüdisches Hotel auf einer schmalen, abgelegenen Straße. Dort begegnete mir ein anderes Problem der ›Rasse‹ oder Religion – ich kann es nicht genau bestimmen –, das mit der Behandlung und Segregation einer großen Zahl von Menschen zu tun hat. Ich fuhr weiter nach Krakau, wobei ich mir immer mehr der Probleme zweier Menschengruppen [Juden und Polen] bewusst wurde, und kam dann zurück an die Universität, ziemlich verwirrt über mein eigenes ›Rassen‹-Problem und seinen Ort in der Welt.« (Warsaw Ghetto, S. 14)

Sobald Du Bois sich in das jüdische Leben Zentral- und Osteuropas begibt und für Jewish Life schreibt, wird er zum »Juden«, und aus dieser geografischen und diskursiven Position heraus formuliert er seine Antwort auf den nationalsozialistischen Terror und das Warschauer Ghetto. Die Anekdote deutet aber auch an, dass eine solche Position nur das Ergebnis eines Missverständnisses sein kann. Die Textpassage 16 W. E. B. Du Bois, Dusk of Dawn, New York 1940, S. 29 f. 17 W. E. B. Du Bois, Die Seelen der Schwarzen, Freiburg 2003, S. 242. Das Buch ist kontrovers diskutiert worden, da es Bemerkungen über Juden und Jüdinnen enthält, die sich als antisemitisch auslegen lassen. Siehe die Notiz der Herausgeber zur englischen Ausgabe: Note on the Text, in: W. E. B. Du Bois, The Souls of Black Folk, New York 1999, S. xxxix–xli; dort wird auf Änderungen am Text eingegangen, die Du Bois 1953 in Reaktion auf die Wahrnehmung vorgenommen hat, sein Buch sei antisemitisch. Der Zeitpunkt erscheint angesichts der hier untersuchten Geschichte bedeutsam.

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inszeniert eine Reihe solcher Missverständnisse: Der Fahrer schätzt Du Bois’ ethnischen Hintergrund falsch ein; Du Bois erweist sich als unfähig, die Judenfrage auf seiner begrifflichen Kartografie menschlicher Gemeinschaften zu verorten; schließlich stören beide Fälle von Verwirrung Du Bois’ übliche Selbstwahrnehmung. In dieser Textpassage werden, wie im gesamten Artikel, »eigenständige und einzigartige« »rassische«, ethnische oder religiöse Gruppenidentitäten geradezu als Kategorienfehler entlarvt, dabei aber zugleich als »reelle und wirkmächtige Ursache von Elend« erkennbar gemacht (um weiter oben zitierte Formulierungen aufzugreifen). Du Bois geht hier allerdings noch weiter und deutet an, dass Verwirrung eine angemessene rhetorische und politische Strategie sein könne, um die zugleich globalen und lokalen Dimensionen sich überschneidender Geschichten zu erfassen. Die Anekdote warnt somit vor den Gefahren transkultureller und transnationaler Begegnungen und verteidigt zugleich die Vorstellung, dass Reisende sich solchen gefährlichen Begegnungen aussetzen müssen, so sie Einblicke in die Welt erhalten wollen. Besonders bedeutsam ist vielleicht, dass sich Du Bois in seinem Artikel als Reisender inszeniert, hatte man ihm doch erst wenige Monate zuvor, aufgrund seines Bekenntnisses zum Kommunismus, den Pass verweigert, den er benötigt hätte, um an einer Friedenskonferenz in Brasilien teilzunehmen.18 Es zeigt sich bereits, dass wir es bei The Negro and the Warsaw Ghetto mit einer multidimensionalen Performance und einer Gratwanderung zwischen mehreren sich überlagernden Räumen zu tun haben: dem der USA des Kalten Kriegs, dem der Linken, insbesondere der jüdischen, und dem der Erfahrungen der Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen sowie der afrikanischen Diaspora während eines im Inland von Segregation und im Ausland vom Dekolonisierung geprägten Zeitalters. Du Bois erkennt die Heterogenität dieser Räume an, warnt aber auch vor Diskursen der »Einzigartigkeit« und »Eigenständigkeit«. Wenn, wie David Levering schreibt, »das Kennzeichen von Du Bois’ Diskurs über ›Rasse‹« darin besteht, dass »scheinbar unzusammenhängende historische Wendepunkte didaktisch verbunden [werden]«, dann vermeidet dieser Artikel die beiden offenkundigsten Fallstricke einer solchen Methode: Gleichsetzung und Trennung.19 Indem Du Bois versucht, eine von Heterogenitätsverhältnissen konturierte Kartografie zu erstellen, entzieht er das Holocaustgedenken (und das afroamerikanische Leben) den Gefahren der Verdummung und Banalisierung, die überzogene Diskurse der Einzigartigkeit oder Ähnlichkeit mit sich bringen.

18 Eine Darstellung der Schwierigkeiten, die Du Bois mit seinem Reisepass hatte, sowie anderer Repressionserfahrungen im Kontext des Kalten Kriegs bietet Horne, Black and Red, S. 212– 218. 19 David Levering Lewis, W. E. B. Du Bois: Biography of a Race, 1868–1919, New York 1993, S. 129.

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Der Raum der Zerstörung und der Wiederaufbau der Erinnerung Die sich überlagernden Räume, von denen oben die Rede war, sind allerdings nur die eine Hälfte der Geschichte. Bevor wir nicht die Spezifik Warschaus im Jahr 1949 anerkennen, bleiben die Implikationen von Du Bois’ Artikel für unser Verständnis von Rassismus und Genozid sowie für die Erneuerung von Holocaustforschung und Postcolonial Studies ein Stück weit im Dunkeln. Der Kalte Krieg und Du Bois’ mögliche politische Strategien spielen zwar eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung des Diskurses von The Negro and the Warsaw Ghetto, doch der Text und die besondere Geschichte, von der er erzählt, lassen sich nicht auf den historischen Kontext des Artikels oder auf ein instrumentelles Verständnis von Du Bois’ Absichten reduzieren. Zwei grundlegende Eigenschaften von Du Bois’ Erfahrung, die jenseits des Höhepunkts des Kalten Kriegs geprägt wurden, müssen ebenfalls in Rechnung gestellt werden: die Stadtlandschaft, auf die er stieß, und die ästhetische Form von Rapoports Warschauer-Ghetto-Ehrenmal. Die Situation in Warschau 1949 machte Du Bois bewusst, dass die nationalsozialistische Gewalt und insbesondere der Genozid und der Vernichtungskrieg im Osten eine besonders radikale, möglicherweise neue Form globalen »Rassen«-Terrors darstellten: »Ich habe in dieser Welt einiges an menschlichen Umbrüchen gesehen: den Schrei und die Schüsse eines Rassenkrawalls in Atlanta; das Marschieren des Ku Klux Klan; die Bedrohung durch Gerichte und Polizei; die Vernachlässigung und Zerstörung menschlicher Behausungen. Doch nichts in meiner wildesten Fantasie kommt dem gleich, was ich 1949 in Warschau gesehen habe. Bevor ich es sah, hätte ich gesagt, dass es für eine zivilisierte Nation mit tiefen religiösen Überzeugungen und hervorragenden religiösen Institutionen, mit Literatur und Kunst unmöglich ist, Mitmenschen so zu behandeln, wie Warschau behandelt wurde. Es kam zur restlosen, geplanten, äußersten Zerstörung. Einige Straßen waren dermaßen vernichtet worden, dass man nur anhand von alten Fotos erkennen konnte, wo sie einmal verlaufen waren. Und niemand erwähnte die Summe der Toten, die Summe der Zerstörung, die Geschichte der Krüppel und Verrückten, der Witwen und Waisen.« (Warsaw Ghetto, S. 14 f.)

Als Du Bois Warschau besuchte, befand sich die Stadt inmitten eines umfangreichen Wiederaufbaus. Nach der Befreiung von den Nationalsozialisten am 17. Januar 1945 war »das Stadtgebiet von einer auf 20 Millionen Kubikmeter geschätzten Schuttmasse bedeckt« (siehe Abb. 3).20 Zwei Drittel der Bevölkerung waren getötet worden (darunter Hunderttausende Juden und Jüdinnen aus dem Ghetto), und die Stadt war zu 85 Prozent zerstört (Muszynski/Krajewska [Hrsg.], Warsaw, o. S.). Zur Zeit von Du Bois’ 20 Siehe Stefan Muszynski/Monika Krajewska (Hrsg.), Warsaw: A Portrait of the City, Warschau 1984. Dieser Text hat keine Paginierung.

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Abbildung 3: Die Ruinen des Warschauer Ghettos im Juli 1945. Foto: Israel Gutman © United States Holocaust Memorial Museum

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Besuch waren Teile der Stadt bereits wiederaufgebaut worden, doch riesige Flächen blieben weiterhin von Schutt bedeckt, insbesondere auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos (wie auf Fotos des neu eingeweihten Ghetto-Ehrenmals aus dem Jahr 1948 zu sehen ist). Du Bois reagierte auf unterschiedliche Weise verstört. Beispielsweise scheint er schockiert gewesen zu sein angesichts der Koinzidenz von Zivilisation und Barbarei, die nun als bestimmend für einen spezifischen Moment deutscher Geschichte erkennbar war. Wie mehrere Kommentatoren und Kommentatorinnen bemerkt haben, hatte Du Bois eine besondere Affinität zur deutschen Kultur. Nach Russell Bermans überzeugender Interpretation von Die Seelen der Schwarzen war Du Bois zu einer Zeit, da sich rassistische Gewalt und Segregation in den USA auf dem Höhepunkt befanden, in der Lage, den für seinen Rassismus berüchtigten Wagner und dessen Oper Lohengrin als »Repräsentanten eines Lebens ohne Vorurteile« anzusehen.21 Bei seiner Verurteilung der nationalsozialistischen Unterdrückung der Juden und Jüdinnen in der Zeit vor dem Holocaust erklärt Du Bois noch, er könne sich, wenn er auf seinen Besuch in Deutschland im Jahr 1936 zurückblicke, »nicht an einen einzigen Fall […] persönlicher Beleidigung oder Diskriminierung erinnern«, was »in einem beliebigen Teil der Vereinigten Staaten […] undenkbar gewesen wäre« (Du Bois, A Reader, S. 734). So dürfte das Zusammentreffen materieller Belege für spätere nationalsozialistische Gräueltaten mit seiner Wertschätzung für die deutsche Hochkultur auf Du Bois eine besonders starke Wirkung entfaltet haben. Dass er in diesem Kontext Literatur und Kunst erwähnt, rückt ihn auch in die Nähe von Adornos Diktum über Gedichte nach Auschwitz. Das Stadtbild selbst scheint Du Bois in der zitierten Textpassage jedoch am stärksten beeindruckt zu haben. Der Anblick Warschaus als post-apokalyptischer Nullpunkt verlangt vor allem nach einer neuerlichen Reflexion über die Sozialgeografie von »Rasse«. Du Bois machte selbst Erfahrung mit rassistischer Gewalt. Tatsächlich war Du Bois zu einem früheren Zeitpunkt nach dem Krieg, vor seinem Besuch in Warschau, eher geneigt, nationalsozialistische und koloniale Gewalt gleichzusetzen. Beispielsweise schreibt Du Bois in The World and Africa (1947): »Es gab keinen nationalsozialistischen Gräuel – Konzentrationslager, Verstümmelung und Mord im Massenmaßstab, Erniedrigung von Frauen und Schändung der Kindheit  –, dessen sich die christliche Zivilisation Europas nicht längst in ihrem Umgang mit Schwarzen in allen Erdteilen schuldig gemacht hätte, im Namen von und zur Verteidigung einer überlegenen Rasse, die zur Weltherrschaft geboren sei.«22 Die Analogien zum 21 Russell Berman, Du Bois and Wagner: Race, Nation, and Culture Between the United States and Germany, in: German Quarterly 70 (1997) 2, S. 128. 22 W. E. B. Du Bois, The World and Africa: An Inquiry into the Part Which Africa Has Played in World History, New York 1947, S. 23. Diese Passage wird häufig als Beleg für die These angeführt, der nationalsozialistische Genozid habe lediglich die koloniale Gewalt auf eine neue, europäische Opfergruppe übertragen (eine Variante der Bumerang-These), obwohl Du Bois später in The Negro and the Warsaw Ghetto eine nuanciertere Position entwickelt hat. Ein

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amerikanischen Rassismus, die Du Bois in der oben zitierten Passage aus The Negro and the Warsaw Ghetto herstellt, stehen im Gegensatz zu dieser früheren Ansicht über das Verhältnis von kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt, denn besagte Analogien sollen die Differenz des Warschaus der Nachkriegszeit gegenüber dem amerikanischen Rassismus offenbaren. Sie lassen, wo es um die USA geht, an eine von erzwungener und polizeilich überwachter Segregation gezeichnete Landschaft denken, wohingegen der Anblick, den Warschau bietet, nach einer anderen Analyse und Kartografie zu verlangen scheint. Einerseits hat Warschau die Ausradierung aller sozialen Differenzierungslinien erlebt. Am Ende des Kriegs ist die »Auslöschung« so vollständig, dass nur »Fotografien aus der Vergangenheit« beim Wiederaufbau als Orientierung dienen können. Andererseits konnte solche absolute Zerstörung nur aus einer rassistischen Vision absoluter Segregation hervorgehen, die sich von jener unterscheidet, die den USA zugrunde liegt, auch wenn beide Visionen miteinander verwandt sind. Diese Situation einer auf absoluter Trennung beruhenden absoluten Auslöschung kontextualisiert das »Problem der Schwarzen« – nicht in dem Sinn, dass Warschau den amerikanischen Rassismus durch den Hinweis auf eine »umfassenderen« Gewalt geringfügig erscheinen lassen oder übertrumpfen würde, sondern indem es das subtilere und verstohlenere Wirken der color line in der ganz anderen politischen Geografie der USA der Jim-Crow-Gesetze aufzeigt. Neben dem, was Du Bois in Die Seelen der Schwarzen und anderswo über die color line geschrieben hat, zeichnen seine Überlegungen zur Stadtlandschaft Warschaus ein komplexes Bild der Art und Weise, in der »Rasse« und Raum gleichzeitig produziert werden: Es geht dabei nicht nur um die Hautfarbe (color), wie der Artikel über Warschau deutlich macht, sondern auch und insbesondere um die »Linie« (line), die räumliche und »rassische« Differenzen produziert und kombiniert. In Du Bois’ sorgfältiger Artikulation von Bezogenheit und Differenz stellen sich Warschau und Jim Crow als unterschiedliche Punkte auf dem dar, was Giorgio Agamben, eine Überlegung Foucaults aufgreifend, als »biologisches Kontinuum« bezeichnet.23 In einer anregenden Erörterung der ethischen und philosophischen Implikationen von Auschwitz hilft uns Agamben, den Schlüssel zum Verständnis jener Art von Gewalt und Zerstörung zu finden, die Du Bois sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten erlebt hat. Agamben merkt an, dass die Nationalsozialisten zwei Machtformen – souveräne und biopolitische Macht – zu kombinieren schienen, die Foucault als voneinander unabhängig behandelt hatte: »In ihm [dem nationalsozialistischen Staat] kreuzen sich eine beispiellose Verabsolutierung der Bio-Macht des LebenMachens und eine ebenso absolute Verallgemeinerung der souveränen Macht des Sterben-Machens, so daß die Biopolitik unmittelbar mit der Thanatopolitik zusammenfällt.« (Ebenda; Hervorhebung im Original) In einer 1976 am Collège de France Beispiel für diese These bietet Bernasconi, When the Real Crime Began: Hannah Arendt’s The Origins of Totalitarianism and the Dignity of the Western Philosophical Tradition, S. 54–67. 23 Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 73.

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gehaltenen Vorlesungsreihe bestimmt Foucault den Rassismus als »genau das, was es der Bio-Macht erlauben wird, in das ›biologische Kontinuum der menschlichen Gattung‹ Zäsuren einzuzeichnen und auf diese Weise in das System des ›LebenMachens‹ wieder das Prinzip des Krieges einzuführen« (ebenda; Hervorhebung im Original). In dieser Darstellung stellt Rassismus die Fähigkeit dar, den politischen Bereich »des Volkes« als biologischen Bevölkerungsraum umzudeuten, um diesen Raum dann mit »Zäsuren« zu versehen, sodass unterschiedliche (und unterschiedlich bewertete) Bevölkerungen differenziert und isoliert werden können. Wie sowohl das Warschau der Nachkriegszeit als auch die USA der Jim-Crow-Gesetze zeigen, handelt es sich beim Begriff des biopolitischen Raums nicht um eine Metapher, sondern um den Fluchtpunkt eines politischen Projekts. In Warschau sieht sich Du Bois mit dem Ergebnis der nationalsozialistischen Pläne konfrontiert, in Zentraleuropa einen »›volklose[n] Raum‹«, einen »Raum ohne Bewohner« zu schaffen (Agamben, S. 75). Dieser leere Raum, den Agamben als »absoluten biopolitischen Raum« bezeichnet (ebenda), ist das extreme Ergebnis der Produktion einer »rassischen« Geografie. Die color line ausgehend von den Ruinen Warschaus neu zu überdenken bedeutet, die legalisierte Segregation als Teil einer gemeinsamen Logik der Biomacht zu begreifen (einer gemeinsamen Logik, der Agamben selbst nicht historisch nachgeht). Schwarze und Juden sind nicht lediglich in ihre jeweiligen »Ghettos« verbannt worden, sondern sie sind durch eben jene Zäsur verbunden, die sie entlang des biologischen Kontinuums voneinander absetzt. Du Bois’ Analyse der engen Verbindungen von »Rasse« und Raum erweist sich gegenüber den Überlegungen Césaires oder Arendts als besser geeignet, um innerhalb Europas und der USA Unterscheidungen zu treffen und dabei aber zugleich jene gemeinsame biopolitische Logik zu erkennen, die quer zu herrschenden und kolonisierten Gesellschaften liegt. Du Bois’ Diskurs erschöpft sich jedoch nicht in dieser Kartierung des biopolitischen Raums von Gewalt und Zerstörung, sondern er versucht auch, den Ort eines Gegendiskurses zu bestimmen. Ganz so, wie Du Bois’ Eintritt in die linke Öffentlichkeit von Jewish Life es ermöglicht, ein strategisches Verhältnis schwarzer und jüdischer Geschichten zu artikulieren, offenbart seine Auseinandersetzung mit den Folgen des nationalsozialistischen Genozids eine weitere Form der Verbundenheit in den Bemühungen, sich völliger Vernichtung zu widersetzen. Auch hier sind Begriffliches und Materielles eng verknüpft; die Rekonstruktionen des diskursiven und des städtischen Raums finden in einem Akt des Widerstands gegen Terror zueinander. Nachdem er auf die Zerstörung der Stadt aufmerksam gemacht hat, äußert sich Du Bois zum unmittelbar nach dem Krieg begonnenen Wiederaufbauprozess: »Das Erstaunliche war natürlich, wie die Menschen inmitten all dieser Erinnerungen an Krieg und Zerstörung die Stadt mit einer Begeisterung wiederaufbauten, die einfach unglaublich war. Eine Stadt und eine Nation standen buchstäblich von den Toten auf. Dann, eines Nachmittags, wurde ich in das ehemalige Ghetto gebracht. Ich wusste viel zu wenig von seiner Geschichte, obwohl ich Ghettos in

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Teilen Europas, insbesondere in Frankfort [sic], Deutschland, besucht hatte. Hier gab es nicht viel zu sehen. Es gab völlige, totale Verwüstung und ein Denkmal. Und das Denkmal beschwor wieder das Problem der ›Rasse‹ und der Religion, das so lange Zeit mein eigenes, besonderes und eigenständiges Problem gewesen war. Nach und nach, betrachtend und lesend, rekonstruierte ich die Geschichte dieses außergewöhnlichen Widerstands gegen Unterdrückung und Unrecht in einer Zeit völliger Frustration, mit Feinden auf allen Seiten: ein Widerstand, der Tod und Zerstörung für Hunderte und Aberhunderte von Menschen mit sich brachte; ein bewusstes Opfer im Leben, für ein großes Ideal und angesichts der Tatsache, dass das Opfer auch völlig vergeblich sein könnte.« (Warsaw Ghetto, S. 15)

Die Stadt vor Augen, eröffnet Du Bois diese Passage mit einem wenig versprechenden christlichen Auferstehungsdiskurs, in dem die Stadt »buchstäblich von den Toten [aufersteht]«, doch die darauf folgenden Zeilen weisen wieder in eine andere Richtung. Der zeitliche Marker »Dann« leitet zu einem neuen Diskursmoment über und führt einen etwas anderen Ansatz ein, sich der Zerstörung zu widersetzen: den des aussichtslosen, aber heroischen Aufstands im Warschauer Ghetto. Die Ambivalenzen und Verschiebungen dieses Diskurses lenken die Aufmerksamkeit auf das, was zwar nicht ganz ausgesprochen wird, aber dennoch durch die Textpassage spukt: Die Stadtlandschaft Warschaus ist, selbst in ihrem zerstörten Zustand, keine einheitliche. Das Gebiet des jüdischen Ghettos ist von der Auferstehung der übrigen Stadt ausgenommen. Tatsächlich gibt es dort »nicht viel zu sehen« – weil es keine »Menschen«, keine »Stadt und […] Nation« gibt, die das Ghetto wiederbeleben könnten. Die Zerstörung tendiert zwar buchstäblich zu einer Einebnung der Stadtlandschaft, doch Du Bois schreibt den Formen extremer Gewalt stillschweigend eine Differenz ein. Am Ort der politischen Begriffe, die für den Wiederaufbau der polnischen Polis nach dem Krieg relevant sind, am Schauplatz des Genozids bleiben nur die Ruinen der Erinnerung: »Verwüstung und ein Denkmal«. Tatsächlich ist es Nathan Rapoports Ehrenmal, dessen Handlungsmacht in dieser Textpassage betont wird und das den Schlüssel zu Du Bois’ »Rassen«-Problem »beschwört« – einem Problem, das hier mit dem der Religion in Verbindung gebracht wird, sowie mit der anhaltenden Hinterfragung der Vorstellungen von Eigenständigkeit und Einzigartigkeit. Rapoports berühmtes Ehrenmal war im Vorjahr, am 19. April 1948, dem fünften Jahrestag des Beginns des Ghetto-Aufstands, inmitten des von der nationalsozialistischen Zerstörung hinterlassenen Schutts enthüllt worden. Angesichts der Tatsache, dass die Nationalsozialisten 782 der 987 historischen Denkmäler der Stadt zerstört hatten (Muszynski/Krajewska [Hrsg.], Warsaw, o. S.), liegt die Bedeutung von Rapoports Ehrenmal nicht nur darin, dass es an das Schicksal der polnischen Juden und Jüdinnen erinnert, sondern auch darin, dass es als ein Symbol der Wiedergeburt Warschaus angesehen werden kann. Wenn das GhettoEhrenmal aber mit der Stadt als ganzer zusammenhängt, dann steht es auch abseits dieser und ist, wie Du Bois anerkennt, Träger seiner eigenen Geschichte. Während

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die polnische Nation »von den Toten [aufersteht]«, muss Du Bois das Narrativ des Ghettos selbst »rekonstruieren«, »betrachtend und lesend«. Warum macht sich Du Bois die Mühe, die Unmittelbarkeit der heroischen sozialistischen Wiederauferstehung Polens vom hochgradig vermittelten und ambivalenten Heroismus des Ghettos zu unterscheiden? Es mögen Fragen politischer Taktik im Spiel sein, die damit zu tun haben, dass sich Du Bois an die jüdische Linke wendet, doch auch das Ehrenmal selbst bietet vielleicht eine interessantere Erklärung. Mir scheint, dass sich Du Bois von Rapoports Ehrenmal deswegen so unmittelbar angesprochen gefühlt hat, weil dessen Gestalt eine Du Bois’sche ist: Es ist das Denkmal einer Art doppelten Bewusstseins  – und zugleich ein Denkmal für ein solches doppeltes Bewusstsein. Rapoport, ein polnisch-jüdischer Bildhauer, hatte auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Zeit in der Sowjetunion verbracht. Seine Arbeiten sind sowohl vom sozialistischen Realismus als auch von jüdischen Motiven geprägt, außerdem von anderen Strömungen klassischer und moderner Kunst, die er während seiner Studien- und Reisejahre in Frankreich und Italien mitbekommen hatte.24 Das Warschauer Ghetto-Ehrenmal stellt diese unterschiedlichen Strömungen in Form eines schroffen Gegensatzes von jüdischem Heroismus und jüdischem Leid aus. Das Ehrenmal ist zweiseitig: Es besteht aus einer Mauer aus blockartigem Granit, aus deren einer Seite sich eine Plastik mit bronzenen Figuren erhebt, während auf der anderen Seite ein steinernes Flachrelief zu sehen ist. Die bronzenen Figuren stellen die Ghetto-Kämpfer dar, deren Widerstand und Opfer Du Bois zur Kenntnis nimmt, während das Flachrelief einen Zug kauernder Gestalten zeigt, die von kaum sichtbaren Wehrmachtsoldaten in den Tod getrieben werden. Wie James Young in The Texture of Memory bemerkt, versammelt das Ehrenmal »die allgemeinsten kulturellen Archetypen – die staksenden, mytho-proletarischen Gestalten der Stalinzeit und das typologische Bild der Juden im Exil« (S. 155). Einerseits fixiert das Ehrenmal diese beiden Formen in einem doppelten Porträt des Judentums, das  – trotz solcher Details wie Gewehren, einer Granate sowie Wehrmachthelmen und -bayonetten – durch seine klassische Darstellungsweise zum Zeitlosen neigt. Andererseits weist es auch, worauf Young aufmerksam macht, eine »Bewegung zwischen den Seiten« auf, in der »der antike Typus in die schattige Mauer überzugehen scheint, um dann auf der anderen Seite triumphierend ins westliche Licht hinauszutreten: Ein Typus ist buchstäblich rezessiv, der andere emergent« (S. 174). Die Zweideutigkeiten und Widersprüche dieser doppelseitigen, mehrfach signifikanten Form erinnern an Du Bois’ eigene Theorie des doppelten Bewusstseins und sein Engagement für ein progressives, universalistisches historisches Narrativ, wie es dem polarisierten 24 Meine Bemerkungen zum Warschauer Ghetto-Ehrenmal stützen sich auf James E. Youngs hervorragende Darstellung in The Texture of Memory: Holocaust Memorials and Meaning, New Haven 1993, S. 155–184, auf David Roskies’ faszinierendes Buch Against the Apocalypse: Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture, Syracuse 1999, S. 297–302, auf meine Besichtigung des Ehrenmals 1997 und auf Richard Yaffe, Nathan Rapoport: Sculptures and Monuments, New York 1980.

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politischen Kontext des Kalten Krieges entspricht, in dem sich Du Bois in den späten 1940er-Jahren bewegte. Rapoports Ehrenmal ist innerhalb der Holocaustforschung Gegenstand von Kontroversen gewesen. So ist es insbesondere von denjenigen, die innerhalb des Holocaustgedenkens die Besonderheit der jüdischen Geschichte gewahrt sehen wollen, für seinen universalisierenden, sozialistischen Charakter kritisiert worden. In seiner richtungsweisenden Studie Against the Apocalypse: Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture hat David Roskies eine beeindruckend pessimistische Bewertung von Rapoports Werk vorgelegt. Er versteht das Ehrenmal als Kapitulation vor einer stalinistischen Ästhetik, die die jüdische Tradition des Reagierens auf Katastrophen kompromittiere. Roskies schreibt: »Wenn Trauer in einem öffentlichen Idiom an die Öffentlichkeit tritt, kann der Preis für die Zugänglichkeit in der Tat sehr hoch sein.« Roskies hält Rapoport vor, »das Wissen um die Apokalypse und die Behauptung des kollektiven Überlebens« zu »trennen« und zu »dichotomisieren« (S. 301 f.). Roskies erfasst eine bedeutende Gefahr der Darstellung des Holocaust im Allgemeinen und ein wichtiges Merkmal von Rapoports Denkmal im Besonderen. Doch Du Bois’ Bemerkungen über das Denkmal und die scheinbar aktive Rolle, die es und der Anblick von Warschau in seinem Denken gespielt haben, veranlassen mich, Roskies’ Pessimismus abzulehnen, wenn auch sicherlich aus einer anderen Perspektive als seiner. Roskies spricht sich gegen die »dichotomisierte« Form von Rapoports Ehrenmal und für eine »Synthese« aus, die »alte und neue künstlerische Formen zusammenführt, um einen neuen Archetyp der Vernichtung zu schaffen« (S. 302). Doch könnte es gerade die Gespaltenheit des Ehrenmals sein, die es für nicht-vereinnahmende Deutungen wie die von Du Bois öffnet. Die doppelseitige Form des Ehrenmals ist nicht einfach Ausdruck einer sklerotisierenden Dichotomie, sondern bietet auch die Möglichkeit, multidirektionale Erinnerung zu artikulieren. Die Reaktion von Du Bois zeigt, dass dem Holocaustgedenken jenseits des universalistischen, jüdische Besonderheiten negierenden Ansatzes und jener autonomen jüdischen Tradition, der Roskies so eloquent das Wort redet, eine weitere Rezeptionsmöglichkeit offensteht. Zumindest in der zeitgenössischen Lesart von Du Bois ist Rapoports Ehrenmal keinem dieser beiden Pole zuzuordnen. Vielmehr erkennt seine Lesart die Besonderheit der jüdischen Katastrophe an – signalisiert durch den Bruch im Diskurs über den Wiederaufbau der Stadt, den das Monument einführt –, verbindet dies aber mit einem weitreichenden Verständnis dafür, dass diese Geschichte Teil eines umfassenderen Zerstörungsprozesses ist, der auf einer ungewöhnlich virulenten biopolitischen Vision der »Rassen«-Trennung beruht. Bei allem stalinistischen Triumphalismus verkörpert das Denkmal auch die doppelte Sicht, die für das Verständnis des nationalsozialistischen Genozids notwendig ist, jenseits konkurrenzbasierter Modelle, die das Gedenken an den Genozid entweder zu verdrängen oder in einer geradezu heiligen Einzigartigkeit festzuschreiben versuchen. Die Doppelstruktur von Rapoports Ehrenmal ist durchaus vergleichbar mit der antiphonalen Struktur von Die Seelen der Schwarzen und der dort vorgenommenen Untersuchung des

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»Doppelcharakters« afroamerikanischer Kultur. In Die Seelen der Schwarzen meint der Begriff des doppelten Bewusstseins die Tatsache, dass Minderheiten sowohl über die »Gabe« des »zweiten Gesicht[s]« verfügen, dank ihrer zugleich internen und externen Position gegenüber der vorherrschenden Kultur, als auch von einem Mangel an »wahre[m] Selbstbewusstsein« geplagt sind, weil sie »sich selbst immer nur durch die Augen anderer [wahrnehmen]« (Seelen, S. 35). Das Zusammenfallen von Entfremdung und Einsicht, die Du Bois in der neuzeitlichen Erfahrung der Schwarzen ausmacht, hat in der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren Artikulation in Rapoports Ehrenmal zweifellos eine Analogie. Wenn ich andeute, dass sich die Form, in der sich Du Bois die schwarze Kultur vorstellt, parallel zu der verhält, in der Rapoport die jüdische Geschichte artikuliert, will ich damit nicht suggerieren, dass Du Bois die Erfahrungen der Sklaverei und des Kolonialismus mit jener des Genozids gleichsetzt. Es ist genau die Frage der Form, auf die ich aufmerksam machen will. Das Doppelte, das jener Umwandlung von Exil in Widerstand anhaftet, die das Warschauer Ehrenmal kennzeichnet, kennzeichnet auch den »Doppelcharakter« der afroamerikanischen Kultur in Die Seelen der Schwarzen: der Sorrow Songs (Klagelieder). Am Ende seines Buchs wendet sich Du Bois diesen »Songs« zu, die »die Botschaft des Sklaven an die Welt sind« (S. 255) und deren Aussage sich als parallel zu der des Ehrenmals erweist: »Hinter all der Klage der Sorrow Songs spürt man eine Hoffnung, den Glauben an eine letzte Gerechtigkeit. Die wehmütigen Kadenzen über Verzweiflung schlagen häufig um in Triumph und geduldige Zuversicht. Manchmal ist es der Glaube an das Leben, manchmal der Glaube an den Tod, manchmal das Versprechen grenzenloser Gerechtigkeit in einem besseren Jenseits. Aber was es auch ist, die Bedeutung ist immer klar: Irgendwann, irgendwo werden Menschen andere Menschen nach ihrer Seele beurteilen und nicht nach der Hautfarbe« (S. 262 f.). Tatsächlich ähnelt Rapoports Ehrenmal jedoch weniger den Sorrow Songs selbst als ihrer Interpretation durch Du Bois, denn sowohl Rapoport als auch Du Bois ringen um Formen, die einem post-emanzipatorischen Kontext Ausdruck verleihen können, in dem extremes Leiden mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft einhergeht. Wenn das Ehrenmal, wie Young und Roskies andeuten, ein Narrativ vermittelt, in dem die Besonderheit jüdischer Entfremdung und jüdischen Exils in der Universalität sozialistischen Widerstands und sozialistischer Einsicht transzendiert wird, dann widersetzt es sich diesem Narrativ aber zugleich auch, indem es die beiden Skulpturen in dem fixiert, was Walter Benjamin vielleicht als spannungsgeladene Konstellation dualer Ansprüche beschrieben hätte. Die kommunistische Ideologie war zwar offen für die Artikulation des Holocaustgedenkens in der unmittelbaren Nachkriegszeit, doch die besondere Form, die Rapoport gewählt hat, könnte auch als eine verstanden werden, die den stalinistischen Kontext aushöhlt, indem sie unter der Hand die Besonderheit des jüdischen Schicksals aufzeigt (wenn auch nur auf der Rückseite des Ehrenmals). Du Bois’ Begriff des doppelten Bewusstseins und die Reaktion auf das Ehrenmal, der er in seinem 1952 veröffentlichten Artikel Ausdruck verleiht,

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erinnern uns außerdem daran, dass beide Seiten der Gegensätze des Besonderen und des Allgemeinen, des Exils und des Widerstands als relationale Begriffe verstanden werden müssen. Nicht nur sind die beiden Seiten untrennbar miteinander verwoben, sondern Du Bois und Rapoport bringen darüber hinaus in ihren unterschiedlichen Medien zum Ausdruck, dass es einerseits möglich ist, besondere Leidenserfahrungen dialogisch zueinander in Beziehung zu setzen, und dass Bilder der Universalität andererseits aus ihren spezifischen historischen und politischen Kontexten heraus verstanden werden sollten.25 Als Rahmen, innerhalb dessen über den nationalsozialistischen Genozid nachgedacht werden kann, kontrastiert diese relationale Sicht mit den vorherrschenden Verständnissen des Holocaust, sowohl unter Akademikern und Akademikerinnen als auch in der Populärkultur. Weder opfert sie die Spezifik des Holocaust einer generischen Vorstellung von der Moderne als Katastrophe, noch isoliert sie den Genozid an den Juden und Jüdinnen als einen nicht wieder einholbaren »Exzess« jenseits von Geschichte und Darstellbarkeit. Im Kontext seiner zahlreichen Schriften über Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus lässt sich Du Bois’ kurzer Artikel als Text begreifen, der jenen leibhaftig gewordenen Kosmopolitismus ausformuliert, den Césaire einige Jahre später, in seinem Brief an Maurice Thorez, einfordern sollte. Mit dem Bezug auf Rapoports Ghetto-Ehrenmal vermittelt Du Bois die Vorstellung eines vom doppelten Bewusstsein ausgehenden Widerstands gegen »Rassen«Terror. Dabei bleibt das doppelte Bewusstsein jedoch nicht das, was es in seinen früheren Schriften war. Das »einzigartige« bifokale Verhältnis des doppelten Bewusstseins der afroamerikanischen Subjekte zur vorherrschenden Kultur, dem Du Bois in Die Seelen der Schwarzen nachgeht, wird in The Negro and the Warsaw Ghetto als eine allgemeinere Form rekonfiguriert, um die besonderen Verhältnisse minoritärer zu majoritärer Kultur sowie der Viktimisierung zum Überleben auszudrücken. Doppeltes Bewusstsein ist nicht mehr nur ein Aspekt afroamerikanischen Lebens, noch ist es nur ein Aspekt jüdischen Lebens in Europa. Es ist vielmehr eine begriffliche, diskursive und ästhetische Struktur, mittels derer den Lebensbedingungen einer Minderheit Gestalt verliehen wird, um eine Grundlage für Widerstandshandlungen gegen die biopolitische Ordnung zu schaffen. Die Verschiebung der color line sowie des »Rassen«-Problems erfordert sowohl Begriffsarbeit als auch politisches Engagement – bis heute.

25 Indem ich vom doppelten Bewusstsein als einer gemeinsamen Antwort schwarzer und jüdischer Intellektueller auf die extreme Gewalt der Moderne spreche, greife ich Anregungen aus zwei wichtigen Büchern von Paul Gilroy auf. Siehe Gilroy, The Black Atlantic, insbesondere S. 187–223, und ders., Against Race.

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Probleme des 21. Jahrhunderts W. E. B. Du Bois’ Begegnung mit den Ruinen des Warschauer Ghettos veranschaulicht exemplarisch die Multidirektionalität der Erinnerung. Du Bois’ Artikel ist sowohl eine Reflexion über jenen Prozess der Herausbildung einer Gedenkkultur, den er am verwüsteten Schauplatz einer der tragischen Ereignisketten des Holocaust beobachten konnte, als auch selbst ein großzügiger, über ethnische Grenzen hinweggehender Gedenkakt. Du Bois widersetzt sich jener Logik des Mangels, die so viel von unserem Nachdenken über Fragen der kollektiven Erinnerung und der Gruppenidentität bestimmt, insbesondere dann, wenn die Erinnerungen und Identitäten die von Schwarzen und Juden sind. Er zeigt, wie die Geschichte und die Erinnerungen des Anderen für einen selbst eine Quelle der Erneuerung und Umgestaltung sein können – sofern man bereit ist, ausschließliche Ansprüche auf die ultimative Viktimisierung oder den Besitzanspruch an Leiden aufzugeben. In Du Bois’ »zweiter Sicht« werden die Ruinen des Ghettos Gemeineigentum, eine öffentliche Ressource für das Nachdenken über jene Linien der »Rasse«, der Kultur und der Religion, die Gruppen voneinander trennen und dabei zugleich neue Bündnismöglichkeiten eröffnen. Das Problem des 21. Jahrhunderts mag vielleicht nicht das der color line sein.26 Dennoch würden alle, die sich für die Erbschaften von Gewalt interessieren, die das 20. Jahrhundert entstellt haben und die ins 21. hineinreichen, gut daran tun, über die vielen Trennlinien nachzudenken, die unsere heutigen Gesellschaften durchziehen. Die komparative Betrachtung von »Rasse« und Gewalt erlaubt es denen, die sich für den Holocaust interessieren, von einer Lockerung jener Grenzkontrollen zu profitieren, die in philosophisch-antirealistischen Diskursen allzu oft die Diskussionen über die Shoah umgeben und isolieren. Man muss den nationalsozialistischen Genozid nicht auf jene banale Litanei moderner Katastrophen reduzieren, die zuweilen unter Vertretern und Vertreterinnen des philosophisch-realistischen Ansatzes Gefallen findet, um zu sehen, dass eine modifizierte Form von Du Bois’ doppeltem Bewusstsein eine subtilere, multi26 Tatsächlich ist auch das »Rasse«-Problem selbst nicht mehr das, was es war, als Du Bois seine Aussage tätigte. Damit ist nicht gesagt, der Rassismus spiele in den zeitgenössischen Machtregimes keine entscheidende Rolle mehr. Vielmehr unterliegen Vorstellungen von »Rasse« einem dauerhaften Wandel, und in dem Ausmaß, in dem sie sich verändern, ändert sich auch die Rolle des Rassismus. Michael Hardt und Antonio Negri verstehen diese Veränderungen als Teil eines Wandels von der modernen Souveränität zu dem, was sie als imperiale oder postmoderne Souveränität bezeichnen: »Das zentrale Moment des modernen Rassismus spielt sich an dessen Grenze ab, in der globalen Antithese von Innen und Außen. Wie W. E. B. Du Bois vor gut einem Jahrhundert bemerkt hat, ist das Problem des 20. Jahrhunderts das Problem der ›color line‹. Im Gegensatz dazu beruht der imperiale Rassismus, der sich möglicherweise auf das 21. Jahrhundert freut, auf dem Spiel der Differenzen und der Regelung von Mikrokonflikten innerhalb seines sich beständig ausweitenden Herrschaftsgebiets.« Siehe Michael Hardt/ Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. 2017, S. 207.

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4. W. E. B. DU BOIS IN WARSCHAU

direktionale Herangehensweise an die Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen erlaubt. Eine solche Öffnung der Holocaustforschung kann auch zu einem produktiven Dialog mit denen führen, die sich für Fragen des Kolonialismus und des Postkolonialismus interessieren – insbesondere dann, wenn diese Personen bereit sind, sich ebenfalls selbstreflexiv mit den Annahmen über Erinnerung und Identität auseinanderzusetzen, die ihren Arbeiten oft zugrunde liegen. Wenn Entwicklungen innerhalb der Holocaustforschung zur Marginalisierung des Holocaust in anderen Forschungsbereichen beigetragen haben, dann ist das keineswegs eine zureichende Erklärung dafür, wie sehr eines der bedeutendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts bei der Ausarbeitung einer politisch und historisch sensiblen Kulturwissenschaft übergangen worden ist. Die Kulturwissenschaft im Allgemeinen und die Postcolonial Studies im Besonderen haben dazu tendiert, Fragen extremer Gewalt wie die, über die Du Bois nach seinem Besuch in Warschau nachgedacht hat, zu meiden, um sich stattdessen auf alltägliche Formen von Gewalt, Macht und Wissen zu konzentrieren. Derweil ist das Interesse an Traumaforschung innerhalb der Literaturwissenschaft nicht mit der Entwicklung eines Vokabulars einhergegangen, das es erlauben würde, psychische Extremzustände mit jenen alltäglichen politischen und materiellen Umständen in Verbindung zu bringen, deren unverzichtbare Bedeutung für die Einschätzung traumatischer Geschichten meine archäologische Untersuchung von Du Bois’ Besuch in Warschau aufgezeigt hat (wenngleich diese Fragen zurzeit durchaus an der Tagesordnung sind, wie aus meinen Ausführungen zur Traumaforschung in früheren Kapiteln hervorgeht). Dabei ist das Nebeneinander vieler unterschiedlicher Strömungen innerhalb eines Fachgebiets, oder auch innerhalb eines interdisziplinären Forschungsfelds, natürlich nicht nur unvermeidbar, sondern als Quelle weiterer Innovation auch begrüßenswert. Doch wie sollten wir jemals W. E. B. Du Bois in Warschau auffinden ohne eine durch die Auseinandersetzung mit gemeinsamen Problemen motivierte Überschreitung begrifflicher, geografischer und materieller Grenzen? Du Bois’ Warschau-Reise fand unter sehr präzisen, überdeterminierten Bedingungen statt, doch der Text, den er verfasst hat, um seine Erfahrung zu reflektieren und Schlüsse aus ihr zu ziehen, kann weiterhin als paradigmatisches Beispiel jener Art von transnationaler Begegnung dienen, nach der interdisziplinäre Forschung idealiter streben sollte. Weder gänzlich frei von Taktik und politischem Kalkül noch einfach nur dogmatische Propaganda, zeichnet The Negro and the Warsaw Ghetto eine Grenzerfahrung nach, das heißt der Artikel führt uns in Grenzgebiete des Denkens und der Geschichte. Die multidirektionale Erinnerungsarbeit, die der Text leistet, ist durch das Aufeinandertreffen und die Koexistenz vieler Kategorien und Erfahrungen gekennzeichnet: Geschichten der Sklaverei, des Kolonialismus und des Genozids; die Politik des Kalten Krieges; extreme und alltägliche Formen von Gewalt; die marginalen kulturellen Identitäten europäischer Juden und amerikanischer Schwarzer; die Ästhetiken des Exils und des Widerstands. Werden all diese Faktoren vor dem Hintergrund der Ruinen Warschaus in Bewegung gesetzt, dann wird Du Bois, wie Ben-

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jamins Engel der Geschichte, ein Beobachter der Katastrophe moderner Geschichte.27 Anders als Benjamins Engel blickt Du Bois allerdings auch nach vorn und versucht, sich einen Ort zu sichern, von dem aus er, ausgehend von den sedimentierten Schichten von Geschichte und Erinnerung, sprechen und handeln kann. Um die letzte Zwischenüberschrift des Artikels zu zitieren: Er sucht nach einem »Weg in die Zukunft«. Der Weg, den Du Bois in The Negro and the Warsaw Ghetto zu kartieren begonnen hat, sollte nicht allein der seine bleiben. Der jüdisch-französische Romanautor André Schwarz-Bart sollte in Die Mulattin Solitude, einem afrokaribischen Roman, von dem ausgehend auch eine Neulektüre von Schwarz-Barts Holocaust-Klassiker Der letzte der Gerechten möglich wird, die Ruinenlandschaft des Warschauer Ghettos zum Ausgangspunkt seiner eigenen multidirektionalen Schachzüge machen. Eine Generation später sollten der Raum des Ghettos und die unheimlichen Geografien der Diaspora auf ähnliche Weise den Schriften des karibischen Nachfolgers von Du Bois und Schwarz-Bart, Caryl Phillips, als Grundlage dienen. Im Anschluss an eine ausführliche Erörterung der Art und Weise, in der sich schwarze und jüdische Geschichten in der literarischen Gedenkarbeit von Schwarz-Bart und Phillips überschneiden, soll in den folgenden zwei Abschnitten veranschaulicht werden, wie die Lektionen aus Du Bois’ Warschaureise auch in einem ganz anderen Kontext – dem Frankreichs während und nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg – Resonanz finden konnten. Auch hier dienen Akte multidirektionaler Erinnerung als Grundlage für den Widerstand gegen eine zur Routine gewordene rassistische Gewalt. Metropolitane Gegner und Gegnerinnen des Kolonialkriegs – darunter einige HolocaustÜberlebende – und eine internationale Riege von Autoren, Aktivistinnen und Künstlern (darunter der afroamerikanische Romanautor William Gardner Smith) haben mit gleicher Sorgfalt auf die Materialien der Erinnerung zurückgegriffen, um die deutsche Besatzung und den Genozid des Zweiten Weltkriegs mit jenen Folter-, Zensur- und Rassifizierungspraktiken zu vergleichen, derer sich der französische Staat bediente, um den Erhalt und die Kontrolle seines kostbarsten Kolonialbesitzes zu sichern. So entstand eine Plattform für antikolonialen Widerstand, und diese trug zu einem umfassenderen Verständnis der Spezifik des Holocaust in der französischen Öffentlichkeit bei. Wie Du Bois zeigen auch diese Aktivisten und Aktivistinnen, dass sich die transnationale Zirkulation von Erinnerungen nicht in der Logik eines Nullsummenspiels einhegen lässt.

27 Siehe Benjamin, Über den Begriff der Geschichte.

5. Anachronistische Ästhetik: André Schwarz-Bart und Caryl Phillips über die Ruinen der Erinnerung

In den letzten Zeilen von André Schwarz-Barts Roman Die Mulattin Solitude (1972) erinnert sich der Erzähler an die »erniedrigten Ruinen des Warschauer Ghettos«, während er den Schauplatz eines gescheiterten karibischen Sklavenaufstands beschreibt.1 Schwarz-Bart, der am 30. September 2006 verstarb, war ein französischer Jude polnischen Hintergrunds, der seine Familie durch den nationalsozialistischen Genozid verlor. Heute ist er vor allem aufgrund seines Romans über den Holocaust und die jüdische Geschichte, Der Letzte der Gerechten (1959), bekannt. Nach dem überraschenden Erfolg dieses preisgekrönten Romans begann Schwarz-Bart in Zusammenarbeit mit seiner in Guadeloupe geborenen Ehefrau Simone das ehrgeizige, auf mehrere Bände angelegte Projekt einer vergleichenden, fiktiven Geschichte der Schwarzen und der Juden in der Diaspora. Bislang sind nur Teile dieses Projekts multidirektionaler Erinnerung veröffentlicht worden – neben Die Mulattin Solitude ist der von Schwarz-Bart gemeinsam mit seiner Frau verfasste Roman Un plat de porc aux bananes vertes (Ein Schweinefleischgericht mit grünen Bananen, 1967) erschienen, den sie Elie Wiesel und Aimé Césaire gewidmet hatten. Es liegt jedenfalls genug Material vor, um weiterhin jenen grundlegenden, der Literatur von Genozid, Sklaverei und Kolonialismus eigentümlichen Fragen nachzugehen, denen sich bereits frühere Kapiteln zugewendet haben: Was bedeutet es, unterschiedliche Geschichten an einem Schauplatz aus Ruinen miteinander zu konfrontieren? Was bedeutet es überhaupt, ausgehend von einem solchen Schauplatz zu schreiben und zu gedenken? Diesen Fragen, die nicht nur für die Untersuchung der multidirektionalen Erinnerung, sondern auch für die Literaturen des Holocaust und der postkolonialen Situation zentral sind, können wir nachgehen, indem wir Schwarz-Barts Schriften zusammen mit denen eines seiner Zeitgenossen, des britisch-karibischen Romanautors und Verfassers von Reiseberichten Caryl Phillips untersuchen.2 1 2

André Schwarz-Bart, La Mulâtresse Solitude, Paris 1972, S. 140; ders., A Woman Named Solitude, New York 1974, S. 150; ders., Die Mulattin Solitude, Berlin 1975, S. 140. (Im Folgenden wird, so nicht anders vermerkt, nach der deutschen Ausgabe zitiert; d. Übers.) Zwei gelungene Erörterungen von Schwarz-Barts Werk im Kontext sowohl des Holocaust als auch des Kolonialismus, die meine eigene Analyse inspiriert haben, sind: Bella Brodzki, Nomadism and the Textualization of Memory in André Schwarz-Bart’s La Mulâtresse Solitude, in: Yale French Studies 83 (1993), S. 213–230; Ronnie Scharfman, Exiled from the Shoah: André and Simone Schwarz-Bart’s Un plat de porc aux bananes vertes, in: Lawrence D. Kritzman (Hrsg.), Auschwitz and After: Race, Culture, and »the Jewish Question« in France, New York 1995, S. 250–263. Ein Großteil der kritischen Literatur über Schwarz-Bart befasst sich auch entweder mit dem Holocaust oder mit dem Kolonialismus/Postkolonialismus. Einen nützlichen Überblick über Phillips’ Verhältnis zum Holocaust und zur jüdischen Geschichte

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

André Schwarz-Bart war nicht der erste Schriftsteller, der schwarze und jüdische Geschichte anhand der Ruinengeografie des Warschauer Ghettos zueinander in Beziehung setzte.3 Die Ruinen Warschaus waren auch für W. E. B. Du Bois ein Anlass, um darüber nachzudenken, was Schwarzen und Juden gemeinsam ist, aber auch, was ihre historischen Erfahrungen in Europa und Amerika voneinander trennt. Wie Du Bois lenken auch Schwarz-Bart und Phillips in ihrem Schreiben über Ghettos und Ruinen die Aufmerksamkeit insbesondere auf die räumlichen Dynamiken und Ergebnisse der Rassifizierung. Der Wunsch, ästhetische und diskursive Strategien zu entwickeln, die der Verknüpfung unterschiedlicher Minderheitengeschichten angemessen sind, zeichnet die Arbeit dieser Schriftsteller ebenso aus wie die von Du Bois, allerdings entwerfen die beiden Romanautoren anstelle der von Du Bois verwendeten Figuren (doppeltes Bewusstsein, biologisches Kontinuum) neue Formen. Hinzu kommt, dass Du Bois in The Negro and the Warsaw Ghetto solche Verknüpfungen begrifflich fasst, indem er in einem relativ unvermittelten Modus schreibt, der die Gattungen des Reiseberichts und des politischen Journalismus vermischt, wohingegen es sich bei den von Schwarz-Bart und Phillips vorgenommenen Vergleichen von schwarzer und jüdischer Geschichte um bewusste Akte der Fantasie handelt, die sich gewollt Anachronismen bedienen. Zudem lenken die Arbeiten von Schwarz-Bart und Phillips unsere Aufmerksamkeit auf eine weitere Bedingung multidirektionaler Erinnerung während der Nachkriegszeit, nämlich auf die während und nach der Dekolonisierung stattfindende Migration ehemaliger Kolonialsubjekte in die frühere imperiale Metropole. Diese Migration hat Leben und Werk beider Schriftsteller geprägt. Die Erfahrung von und Konfrontation mit postkolonialen Migrationen wirft für Schwarz-Bart und Phillips die Frage nach der Diaspora auf, das heißt nach einem dauerhaften Schauplatz des geografischen und begrifflichen Kontakts zweier in permanenter Vertreibung lebender Völker. Indem ich Schwarz-Bart und Phillips zueinander in Beziehung setze, wende ich weiterhin die Methode dieses Buches an und stelle als selbstverständlich geltende Annahmen darüber infrage, welche Bereiche und Autoren zusammengehören und welche nicht. Entgegen restriktiven Auffassungen, nach denen die Geschichten und Folgen von Holocaust und europäischem Kolonialismus auseinanderzuhalten seien, gehe ich der Macht des Anachronismus nach, die das zusammenführt, was es angeblich zu trennen gilt. Anachronismen können sich, folgt man Vico, aus einer von min-

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bietet Wendy Zierler, Caryl Phillips, in: S. Lillian Kremer (Hrsg.), Holocaust Literature: An Encyclopedia of Writers and Their Work, Bd. 2, New York 2002, S. 934–937. Es gibt eine gewaltige Menge von Untersuchungen zu »Schwarzen und Juden«. Ein Großteil dieser Arbeiten konzentriert sich allerdings auf den US-amerikanischen Kontext (siehe die im vorigen Kapitel zitierte Literatur). Meine Forschung zu Schwarz-Bart, Phillips, Du Bois und anderen soll die Diskussion auf ein komparativeres und transnationaleres Terrain verlagern – ein Terrain, das ich auch dann für relevant halte, wenn es um die Beziehungen von Schwarzen und Juden in den USA geht. Eine Ausnahme vom US-Zentrismus der meisten Untersuchungen ist: Robert Philipson, The Identity Question: Blacks and Jews in Europe and America, Jackson 2000.

ANDRÉ SCHWARZ-BART UND CARYL PHILLIPS

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destens vier Quellen des Irrtums ergeben: »Die erste [Art von Anachronismus] betrifft ereignislose Zeiten, die ereignisreich gewesen sein müssen […]. Die zweite betrifft ereignisreiche Zeiten, die ereignislos gewesen sein müssen […]. Die dritte betrifft die Verschmelzung von Zeiten, die zu trennen sind […]. Die vierte und letzte betrifft die Trennung von Zeiten, die verschmolzen werden müssen.«4 Diese vier Formen von Anachronismus stellen zwar verschiedene Arten von »Irrtum« dar, so man sie aus historistischer Perspektive betrachtet. Sie können aber auch als überaus subversive und entmystifizierende Mittel angesehen werden, um die ideologischen Annahmen aufzudecken, die historischer Kategorisierung zugrunde liegen, wie die hier untersuchten Autoren zeigen. Verschiedene Formen von Anachronismus spielen in den literarischen Experimenten von Schwarz-Bart und Phillips ausschlaggebende Rollen. Schwarz-Bart ringt darum, eine literarische Form für die anachronistische Gegenüberstellung schwarzer und jüdischer Geschichte zu finden, um eine Ästhetik zu entwickeln, die auf Offenheit für die Geschichten anderer beruht. In Die Mulattin Solitude bemüht er sich ausdrücklich um die Ausarbeitung einer Ästhetik multidirektionaler Erinnerung, doch eine von Aufmerksamkeit für postkoloniale Thematiken wie Migration geprägte Lesart kann auch die Struktur seines kanonischen Holocaust-Romans Der Letzte der Gerechten erhellen. Wenn man von Schwarz-Bart sagen könnte, dass er letztlich an seinem Vorhaben scheitert, ein multidirektionales jüdisches Epos zu verfassen, dann ist das weniger auf seinen anachronistischen Wunsch zurückzuführen, sich zwischen verschiedenen Geschichten zu bewegen, als vielmehr auf die besondere Art und Weise, in der er über Trauma schreibt. Bei der Einschätzung, worin Schwarz-Bart erfolgreich ist und wo er sein Ziel verfehlt, wird sich Dominick LaCapras Unterscheidung zwischen strukturellem und historischem Trauma als wichtiges Mittel erweisen, um verschiedene Modi des Schreibens zu differenzieren, die sich in der Folge von Holocaust und Kolonialismus entwickelt haben.5 Phillips ist vielleicht Schwarz-Barts interessantester Nachfolger, wie seine Inszenierung schwarz-jüdischer Verwandtschaft in Werken wie dem Reisebericht The European Tribe (Der europäische Stamm, 1987) oder den Romanen Higher Ground (Hochlage, 1989) und The Nature of Blood (Die Natur des Blutes, 1997) zeigt. Wenn die Erinnerung entsprechend einer multidirektionalen Logik funktioniert, bleiben dennoch Fragen bezüglich der Erzählformen, die der Arbeit interkulturellen Gedenkens entsprechen und sie zum Ausdruck bringen, sowie nach der Wirkung, die solche Erzählformen entfalten. Phillips’ Texte bedienen sich der Intertextualität und der Fragmentierung des Narrativs, nicht um schwarze und jüdische Geschichte gleichzusetzen oder streng zu parallelisieren, wie das bei Schwarz-Bart mitunter geschieht, sondern um sowohl die vergleichbaren strukturellen Probleme der beiden 4 5

Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 2017, S. 420 f. Zit. in: Srinivas Aravamudan, The Return of Anachronism, in: Modern Language Quarterly 62 (2001) 4, S. 331–354, hier S. 331. Siehe das Kapitel »Trauma, Absence, Loss« in: Dominick LaCapra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2001.

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

Geschichten als auch die versäumten Begegnungen zwischen ihnen zu betonen. Durch seine besondere Gegenüberstellung von Schwarzen und Juden innerhalb eines transnationalen narrativen Rahmens greift Phillips das Œuvre von Schwarz-Bart auf, um es zu dekonstruieren. Dadurch schafft er eine gebrochene Form von Verbundenheit, die charakteristisch ist für die multidirektionalen Erbschaften des Holocaust in einem globalisierten, aber von ungleicher Entwicklung geprägten Zeitalter.

Die Erinnerung an die Sklaverei und Der Letzte der Gerechten Ein Eindruck von Schwarz-Barts anachronistischer Arbeitsweise lässt sich durch den Vergleich der ersten und letzten Seiten jener beiden Werke gewinnen, die er allein verfasst hat: Der Letzte der Gerechten und Die Mulattin Solitude. Ein solcher Vergleich wirft ein Licht auf die Schauplätze, an denen die Romane am stärksten ihr Verhältnis zur historischen Fantasie bestimmen wollen. Dieses Verhältnis hat Schwarz-Bart in zwei bedeutenden, aber wenig bekannten Texten aus dem Jahr 1967 explizit thematisiert: einem Interview über Jewishness and Negritude (Judentum und Negritude) und dem programmatischen Aufsatz Pourquoi j’ai écrit La Mulâtresse Solitude (Warum ich Die Mulattin Solitude geschrieben habe). Indem ich zwischen diesen unterschiedlichen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten wechsle, versuche ich jüdische Identität und Erfahrung, die vermeintlichen Grundlagen von Schwarz-Barts literarischem Projekt, zu destabilisieren. Ich argumentiere zwar dahingehend, dass Schwarz-Barts Projekt tatsächlich anders, nämlich auf einer Offenheit für kulturelle und historische Differenz begründet ist, verweise aber auch darauf, dass es letztlich eben jene mythische Struktur wiedereinsetzt, auf welcher der Singularitätsdiskurs beruht. In Der Letzte der Gerechten, Schwarz-Barts erstem Roman, folgt die Handlung dem Schicksal der fiktionalen Familie Levy über ein Jahrtausend jüdischer Geschichte hinweg, vom England des 12. Jahrhunderts bis zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Bei der Entfaltung seines epischen Narrativs nimmt Schwarz-Bart unter anderem auf die jüdische Legende von den 36 Gerechten Bezug und schreibt diese um. Diese Legende, von der Schwarz-Bart bedeutend abweicht, »spricht von den 36 Zaddikim oder Gerechten, auf denen, wenn sie auch unbekannt oder verborgen sind, das Schicksal der Welt ruht.«6 In der Legende existieren diese 36 Gerechten zu jeder Zeit; im Roman sind sie nicht unbekannt oder verborgen, und sie wechseln einander ab, als Vertreter von 36 Generationen derselben Familie. Wie D. Mesher in einem hilfreichen Überblick klarstellt, zeichnet sich Der Letzte der Gerechten durch ein kompliziertes Verhältnis zur Geschichte und kulturellen Tradition aus: »Der Roman ist eine Mischung aus einem Teil Geschichte (das Schicksal der Juden in Europa seit dem Mittelalter), einem Teil Folklore (die jüdische Legende von 6

Gershom Scholem, Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition, in: ders., Judaica 1, Frankfurt a. M. 1963, S. 216–225, hier S. 216.

DIE ERINNERUNG AN DIE SKLAVEREI UND DER LETZTE DER GERECHTEN

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den 36 geheimen Heiligen) und einem Teil Fiktion (die Verwicklung einer einzigen Familie in viele der wichtigsten Ereignisse der jüdischen Geschichte in Europa seit fast einem Jahrtausend).«7 Eine solche historische Montage zieht unweigerlich Probleme der Chronologie und des Anachronismus nach sich; aus diesen Problemen erklärt sich zumindest teilweise, was Francine Kaufmann »die Affäre Schwarz-Bart« genannt hat, also die nach dem Erscheinen von Der Letzte der Gerechten 1959 ausgebrochene Kontroverse. Im Zuge dieser Kontroverse wurde Schwarz-Bart, ein Autodidakt aus der Arbeiterklasse, nicht nur des Plagiats beschuldigt (die entsprechenden Fälle sollten sich als recht unbedeutend erweisen), sondern auch des Verrats an der jüdischen Geschichte und Kultur sowie der Fehldatierung und Falschbezeichnung bestimmter Ereignisse und Personen, auf die im Text Bezug genommen wird.8 Trotz dieser Anschuldigungen wurde Der Letzte der Gerechten ein enormer Publikums- und Kritikererfolg; kurz nach Erscheinen im Herbst 1959 wurde der Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem renommiertesten französischen Literaturpreis, und avancierte zum Bestseller. Nichtsdestotrotz hat die vielschichtige Darstellung jüdischer Geschichte und insbesondere ihres Verhältnisses zum Christentum leidenschaftliche Debatten ausgelöst; das Christentum scheint von Schwarz-Bart angeklagt zu werden, ihm aber zugleich als Quelle für eine Vorstellung erlösenden Leidens zu dienen. Die »Affäre Schwarz-Bart« wirft zwar ein Licht auf bedeutende Fragen, die das Verständnis des Holocaust und die Darstellung des Genozids betreffen (Fragen, deren Bedeutung sich in den vierzig Jahren seit Erscheinen des Romans natürlich verändert hat), doch möchte ich in meiner Interpretation über die Kontroverse und sogar über den Text selbst hinausgehen, um in einen para- und intertextuellen Bereich multidirektionaler Erinnerung vorzudringen. Eine solche Interpretation wird bestehende Auffassungen zu Der Letzte der Gerechten nicht vollends verändern; sie wird aber teilweise erklären, weshalb sich Schwarz-Bart der Geschichte und Kultur der afrikanischen Diaspora zuwendet. Ich verorte den Ursprung dieser Entwicklung anders als die meisten Kritiker und Kritikerinnen. So schreibt beispielsweise Kaufmann in einer ihrer wenigen Bezugnahmen auf Schwarz-Barts Interesse an der afrikanischen Diaspora: »Nur ein Jude ist in der Lage, die Absolutheit der jüdischen Verlassenheit vollständig zu spüren« (Pour relire, S. 120). Und weiter: »Durch seine Erfahrung ist der Jude in der Lage, das Leid anderer Menschen zu verstehen, nicht die Identität, sondern die Kontiguität von Grenzerfahrungen zu erkennen« (ebenda). Kaufmanns Vorstellung von Kontiguität ist bedeutsam – und hängt eng mit den zahlreichen Begegnungen zusammen, die auch den von mir angeführten Beispielen zugrunde liegen –, doch ihre Erklärung historischer Empathie ist zu einseitig, wie auch ihre Vorstellung jüdischer Erfahrung. Es geht nicht allein darum, dass Schwarz-Barts Erfahrung als Sohn 7 8

D. Mesher, André Schwarz-Bart, in: S. Lillian Kremer (Hrsg.), Holocaust Literature: An Encyclopedia of Writers and Their Work, Bd. 2, New York 2002, S. 1122–1126, hier S. 1123. Francine Kaufmann, Pour relire Le Dernier des Justes, Paris 1986, S. 10 f., 24–27.

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von Holocaust-Opfern ihn für das Leid anderer sensibilisiert – obwohl das sicherlich der Fall ist –, sondern auch darum, dass die Anerkennung des Leids anderer eine neue Möglichkeit eröffnet, über die eigene historische Position nachzudenken. Ein Großteil der Kontroverse um den Roman betrifft die ausgeprägt diachrone Struktur des Textes (seine Bewegung über ein Jahrtausend Geschichte und Legende hinweg), doch weniger bekannte Bemerkungen Schwarz-Barts legen nahe, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte teilweise Ergebnis eines impliziten räumlichen Verhältnisses ist: der Anwesenheit von Migranten aus der Karibik im Paris der 1950er-Jahre. Bereits die ersten Sätze von Der Letzte der Gerechten formulieren jene zentrale Figur, die bis heute kritische Reaktionen auslöst. Der Romanbeginn verdeutlicht, dass Schwarz-Barts Interesse einer Tiefengeschichte des Holocaust gilt: »Zu unseren Augen dringt das Licht erloschener Sterne. Eine Biographie meines Freundes Erni fände leicht im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts Platz; die wirkliche Geschichte Erni Levys jedoch beginnt weit früher, um das Jahr tausend unserer Zeitrechnung, in der alten anglikanischen Stadt York; genauer: am 11. März 1185.«9 Diese Zeilen bewegen sich in zwei Richtungen zugleich: Während sich der Erzähler der Vergangenheit zuwendet, um die »wirkliche Geschichte« zu erzählen, kehrt die Vergangenheit in der Gegenwart als eine Art himmlisches Nachleben zurück. Es mag sein, dass sich alle Akte der Historisierung durch eine solche Doppelbewegung auszeichnen; hier erzeugt die Doppelbewegung jedoch eine Ambiguität, deren Wesen schwer zu klären bleibt. Zunächst einmal und auf der offenkundigsten Ebene fungiert der Roman, wie von vielen zeitgenössischen Lesern und Leserinnen vermutet und von einigen heftig abgelehnt, als kompromisslose Verurteilung des Holocaust, die diesen in der longue durée des christlichen Antisemitismus verortet. So bietet der Roman eine Historisierung des Holocaust, die zwar formell wie eine historische Erklärung (»wirkliche Geschichte«) erscheint, die heute aber nur wenige Historiker und Historikerinnen akzeptieren würden; christlicher Antisemitismus wird zwar als eine der Möglichkeitsbedingungen nationalsozialistischer Politik angesehen, doch der nationalsozialistische Antisemitismus wird im Allgemeinen als eine Form von Rassismus betrachtet, die sich durchaus vom traditionellen Antijudaismus unterscheidet.10 Diese teleologische Geschichtsschreibung, die eine gerade Linie von 1185 bis 1945 zieht, koexistiert mit einer anderen, weniger linearen Zeitlichkeit. Unabhängig von seinem Status als historische Erklärung suggeriert der Romanbeginn auch ein Interesse an einer Art gespenstischem Anachronismus: Die Tatsache, dass zu »unseren Augen […] das Licht 9 Schwarz-Bart, Der Letzte der Gerechten, Berlin 1982, S. 9. 10 Welcher Stellenwert dem Historismus des Romans auch in Hinblick auf historische Erklärungen zukommen mag: Seitens der Literaturkritik hat dieser Historismus widersprüchliche Reaktionen hervorgerufen. Sidra Ezrahi spricht von einer Unterordnung der jüdischen unter die christliche Geschichte, wohingegen Alvin Rosenfeld im Roman die Bekräftigung eines Ansatzes spirituellen Widerstands erkennt. Siehe Sidra DeKoven Ezrahi, By Words Alone: The Holocaust in Literature, Chicago 1980, S. 133; Alvin H. Rosenfeld, A Double Dying: Reflections on Holocaust Literature, Bloomington 1980, S. 69.

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erloschener Sterne [dringt]«, verkompliziert die Suche nach den Ursprüngen, an der dem Erzähler so viel gelegen zu sein scheint, und macht die Ironie erkennbar, die jener Präzision anhaftet, mit der er die Anfänge von Ernie Levys Geschichte bestimmen zu können behauptet. Anders gesagt: Wenn bereits die Bedingungen des Wahrnehmens und Begreifens einer Form von Anachronismus unterliegen – der Nicht-Synchronizität von Lichtquelle und Lichtwahrnehmung –, dann scheint damit die Möglichkeit des Erfassens historischer Besonderheit infrage gestellt zu sein. Das Problem historischer Besonderheit ist eines jener Rätsel, die Kritikern und Kritikerinnen an diesem Roman stets aufgefallen sind. Die Schlüsselfrage hat in der Regel in etwa diese Form: Ist Auschwitz in Der Letzte der Gerechten Teil der Kontinuität jüdischer Geschichte oder ein diese Geschichte auslöschendes Novum? Wie Lawrence Langer bemerkt hat: »Der Disput, ob es sich [beim Holocaust] um einen einzigartigen Gräuel handelt, der mit keinem früheren Ereignis verglichen werden kann, oder aber ›nur‹ um einen extremeren und gründlicheren Fall jener periodischen Angriffe und Pogrome, unter denen Juden schon immer gelitten haben, wird wahrscheinlich niemals beigelegt werden.«11 Das Rätsel, das sich bereits auf der ersten Seite des Romans ankündigt, wird durch dessen Ende noch verstärkt. Nachdem wir rund achthundert Jahre durch die Zeit gereist sind und die Martyrien verschiedener jüdischer Individuen und Gemeinschaften erlebt haben, gelangen wir zu den Gaskammern des Holocaust, und sogar in sie hinein. Ernie Levy, in Schwarz-Barts Neuformulierung der jüdischen Legende der »Letzte der Gerechten«, erklärt sich bereit, in den Tod geschickt zu werden, damit er mit seiner Geliebten Golda sein kann: Zuerst betritt er das Transitlager Drancy, dann schließt er sich einem Konvoi nach Auschwitz an und schließlich bittet er darum, denen folgen zu dürfen, die in die Gaskammern geschickt werden. In dem Raum der Gaskammer, der selten dargestellt wird, vermischt Schwarz-Bart in einem viel kommentierten Finale das jüdische Totengebet, das Kaddisch der Trauernden, mit den Namen bekannter nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager: »Und gelobt. Auschwitz, Sei. Maidanek. Der Ewige. Treblinka. Und gelobt« (Der Letzte der Gerechten, S. 431). So stört der Beginn des Romans die Chronologie jüdischer Geschichte, während das Ende die Frage nach der Kontinuität jüdischer Kultur aufwirft: Es lässt sich nicht sicher sagen, ob in diesen vorletzten Zeilen »das Grauen des Konzentrationslagers in spirituelle Transzendenz gehüllt« wird oder aber im Gegenteil jenes Grauen dafür sorgt, dass »der von Terror geplagte Nachhall unaufhebbaren Leids die Lobpreisung Gottes übertönt«.12 Es hat zwar den Anschein, als habe der Roman gerade auf ein Bild unaufhebbaren Leidens zugesteuert, doch die allerletzten Zeilen, gleich nach dem unterbrochenen Gebet, deuten eine Art des Beharrens an, wenn auch nicht gerade der Transzendenz. Der namenlose Ich-Erzähler des ersten Absatzes meldet sich mit einer zweideutigen Ein11 Lawrence Langer, The Holocaust and the Literary Imagination, New Haven 1975, S. 252. Auch Rosenfeld erwähnt dieses Problem: ders., Double Dying, S. 68 f. 12 Ebenda, S. 263.

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schätzung zurück. Der Erzähler berichtet von seinem Bewusstsein, dass Ernie Levy irgendwo fortlebt: »Als ich gestern, am Boden festgewachsen, mitten auf der Straße vor Verzweiflung erbebte, fiel von oben ein Tropfen Mitleid auf mein Gesicht herab; aber da war kein Hauch in der Luft, keine Wolke am Himmel … da war nur eine Gegenwart« (Der Letzte der Gerechten, S. 431). Indem er angesichts der Vernichtung eine Gegenwart evoziert und einem Gebet Todesstätten an die Seite stellt, verweigert sich Schwarz-Barts erster Roman der Auflösung jener Dilemmata von Chronologie und Tradition, die ein Jahrtausend jüdischer Geschichte mit sich bringt. Die Mehrdeutigkeit des Romanbeginns, in dem ein starker Drang zur historischen Kontinuität mit gespenstischer Diskontinuität koexistiert, bleibt erhalten. Weil dieses Problem der Kontinuität in Der Letzte der Gerechten so eindeutig im Herzen jüdischer Geschichte und Kultur verortet wird, überrascht es, dass SchwarzBart in einem Interview, das er zur Zeit des Erscheinens 1967 der amerikanischen zionistischen Zeitschrift Un plat de porc gegeben hat, diese doppelte Form der Zeitlichkeit außerhalb eines streng jüdischen Kontextes verortet. Auf die Bemerkung des Interviewers Michel Salomon, Schwarz-Bart »verwirre« womöglich seine Leser, indem er auf seinen Holocaust-Roman eine Reihe von Werken folgen lasse, »die sich mit der Lage der Schwarzen befassen«, antwortet Schwarz-Bart: »Es gibt hier keine Trennung zwischen einer früheren und einer späteren Inspiration, denn die Idee und der grundlegende Entschluss, dieses Buch [Un plat de porc] zu schreiben, gehen lange vor die Fertigstellung von Der Letzte der Gerechten zurück: Den Entschluss fasste ich 1955, und Der Letzte der Gerechten schrieb ich 1959 zu Ende.«13 Folgt man Francine Kaufmanns Rekonstruktion der Entstehung von Der Letzte der Gerechten, dann war 1955 auch ein besonders wichtiger Zeitpunkt während der Niederschrift jenes Romans. Im Jahr 1955 beendete Schwarz-Bart eine erste Fassung, die im Frankreich des Zweiten Weltkriegs spielte. Der Autor war mit dieser Fassung allerdings nicht zufrieden, wie Kaufmann berichtet: »Den Figuren fehlt jegliche Dichte, weil sie frei flottieren, von ihren Wurzeln abgeschnitten. Ohne den offenbarenden Nachhall der Vergangenheit bleibt die Gegenwart undurchsichtig« (Pour relire, S. 19). In späteren Fassungen beginnt Schwarz-Bart, den zeitlichen Horizont des Romans bedeutend auszuweiten. Die zweite Fassung, von der Ende 1956 ein Auszug veröffentlicht wurde, geht bis ins frühe 19. Jahrhundert, und die endgültige, 1958 und 1959 abgeschlossene, noch einige Jahrhunderte weiter zurück (ebenda, S. 19–21). Worin besteht – abgesehen vom Jahr 1955 – die Verbindung zwischen der Konzeption eines Romanzyklus, der sich mit der Geschichte der afrikanischen Diaspora befasst, und der Neukonzipierung von Der Letzte der Gerechten? Weitere Bemerkungen Schwarz-Barts deuten an, dass seine Fähigkeit, Der Letzte der Gerechten die fehlende historische Dichte zu verleihen, auf eine überraschende Quelle zurückgeht. Zumindest im Rückblick verschleiert Schwarz-Bart die »Ursprünge« seiner beiden 13 Michel Salomon, Jewishness and Negritude: An Interview with André Schwarz-Bart, in: Midstream (März 1967), S. 3–12, hier S. 3.

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Romane: Der spätere Roman über »die Lage der Schwarzen« stellt keinen Bruch mit der jüdischen Geschichte des früheren Romans dar, bietet aber zugleich auch keine einfache Fortschreibung oder Entwicklung dieser Geschichte. Vielmehr scheinen sich die beiden Werke wechselseitig beeinflusst und gemeinsam Gestalt angenommen zu haben, wenn auch auf nicht-synchrone Weise (sie sind im Abstand von acht Jahren erschienen). Wie bei so vielen der Beispiele, die ich in diesem Buch untersuche, geht diese textuelle Begegnung mit einer biografischen einher, und die Querschläger zwischen Text, Leben und unterschiedlichen Geschichten deuten die Anwesenheit multidirektionaler Erinnerung an. Schwarz-Bart schreibt die wechselseitige Beeinflussung seiner Romane über schwarze und jüdische Geschichte einem besonderen Verhältnis zur Vergangenheit zu, auf das er bei Westindern und Westinderinnen gestoßen sei, die in den 1950er-Jahren in Paris lebten: »Man kann leicht verstehen, was für mich der bewegendste Aspekt dieser Welt war, der ich unter den Menschen in Paris, im Quartier Latin begegnen durfte – das Element der Sklaverei in ihrem Hintergrund. Sie sprachen über dieses Element ihrer Geschichte, sie erlebten es, könnte man sagen, auf die gleiche Weise, wie wir Juden mehr als zwanzig Jahre später immer noch den Holocaust neu durchleben und das sicher auch noch lange tun werden. Auf gewisse Weise spiegelt ihre Tragödie die Geschichte unserer eigenen wider. Wir Juden durchleben etwas, das noch immer der Gegenwart angehört; aber jetzt sah ich zum ersten Mal Menschen, die in einer anderen Epoche lebten, von der sie sich noch nicht befreit hatten, einer historischen Epoche, die für sie in der Gegenwart existierte und die ich zum ersten Mal mit der jüdischen Erfahrung vergleichen konnte.« (Salomon, Jewishness and Negritude, S. 4)

In dieser Textpassage liegen die Gründe für den Vergleich jüdischer und schwarzer Geschichte  – und, auf einer persönlicheren Ebene, die Mittel, mit denen SchwarzBart sich aus jener »Einsamkeit des jüdischen Schicksals« befreien konnte, in der er sich zuvor »eingeschlossen« gefühlt hatte – in dem gemeinsamen Gefühl, historische Tragödien »neu zu durchleben« (Salomon, Jewishness and Negritude, S. 4). So, wie die Begegnung 1967 nacherzählt wird, erscheint sie mit einer karibischen Zeitlichkeit nicht nur als Vorgriff auf Schwarz-Barts Romane über die afrikanische Diaspora, sondern auch als Rückblick auf die zeitliche Form von Der Letzte der Gerechten, denn in der zitierten Aussage sind es weniger die Juden als vielmehr die Nachfolger der Sklaven, die anachronistisch zu leben scheinen, wie im Licht erloschener Sterne.14 14 Interessanterweise beschreibt Schwarz-Barts Ehefrau im selben Interview, wie sie die Juden in ihrer Jugend selbst als anachronistisches Volk begriff: »Als ich auf den Westindischen Inseln lebte, wusste ich nicht, was ein Jude ist. Ich dachte, die Juden seien ein biblisches Volk aus einer sehr fernen Vergangenheit. Ich hatte keine Ahnung, dass es auch heute noch Juden gibt.« Sobald sie jedoch Juden in Paris begegnete, entdeckte sie »sofort viele Gemeinsamkeiten« (ebenda, S. 5).

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Das Paradox einer »historischen Epoche, die […] in der Gegenwart existierte«, bietet eine gute Beschreibung von Schwarz-Barts Gebrauch jüdischer Legenden und Chroniken als Mittel, genozidales Trauma zu erschließen. Vor seiner Begegnung mit einer anderen Diaspora hatte Schwarz-Bart den Eindruck, »unsere jüngere Tragödie« habe »uns [Juden] isoliert, nicht nur von der übrigen Menschheit, sondern auch von Vergangenheit und Zukunft« (ebenda). Die Kombination aus Distanz und Anwesenheit, die er in der schwarzen Geschichte erkennt, scheint jedoch einen Raum zu öffnen für die anachronistische Ästhetik von Der Letzte der Gerechten. Diese ermöglicht es, den Holocaust – ein Ereignis, »das noch immer der Gegenwart angehört« – zu anderen Geschichten in Beziehung zu setzen. Folgt man Schwarz-Barts Bemerkungen, aber auch den textuellen Belegen seines Werks, dann scheint die Erinnerung an die Sklaverei die jüdische Erinnerung (und die jüdische Zukunft) entsperrt und ein ästhetisches Projekt multidirektionaler Erinnerung ermöglicht zu haben. Die Multidirektionalität von Der Letzte der Gerechten mag sogar, wie SchwarzBarts Bemerkungen im Interview nahelegen, bereits in der Legende liegen, die den Roman inspiriert hat, obgleich es nicht eindeutig ist, dass Schwarz-Bart dies bewusst war. In einem kurz nach Erscheinen von Schwarz-Barts Buch verfassten Essay geht Gershom Sholem, der bekannte Historiker jüdischer Mystik, den verwickelten Ursprüngen der Legende der 36 Gerechten nach. Sholem gelingt es nicht, die verschiedenen Komponenten der Legende definitiv auf eine einzige Quelle zurückzuführen, was darauf hindeutet, dass Schwarz-Barts Roman unmittelbar aus dem Terrain multidirektionaler Erinnerung hervorgegangen ist. Sholem zufolge könnte die bedeutendste Quelle der Legende sogar ein Beispiel jüdisch-islamischen Synkretismus darstellen: »Wir können vorläufig nicht bestimmen, ob diese Vorstellung zuerst aus jüdischer Tradition stammte, die schon, als sie in islamische Kreise eindrang, eine neue Wendung genommen hatte, oder ob sie im Islam entstanden ist und dann in dieser neuen Metamorphose zu einer noch unbestimmten Zeit ins Judentum zurückgewandert ist«.15 Sholem trägt seine Archäologie der Legende zwar vorsichtig und zögernd vor, er veranschaulicht aber dennoch, wie schwierig es ist, kulturelle Traditionen gegen die Verschaltungen multidirektionaler Erinnerung abzuschirmen.

Ruinen schreiben: Die Mulattin Solitude In Der Letzte der Gerechten bleiben die Berührungspunkte schwarzer und jüdischer Geschichte virtuell und werden in erster Linie über genetische Kritik, paratextuelle Materialien wie Schwarz-Barts Interview mit Michel Salomon und die intertextuellen Quellen der Legende der Gerechten wahrnehmbar. In Die Mulattin Solitude werden diese Berührungspunkte hingegen explizit gemacht, und zwar in der abschließenden Gegenüberstellung von Polen und Guadeloupe. Schwarz-Bart bedient sich in seinem 15 Scholem, Die 36 verborgenen Gerechten, S. 222.

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dritten Roman von Anfang an des anachronistischen Stils seines Erstlings und vermischt historische Chronik und mythische Elemente. Der Romanbeginn kombiniert einen märchenhaften Rahmen mit säkular-christlicher europäischer Chronologie und Geografie. Dabei findet sich im Geschichtsdiskurs des Romans nichts, was einen auf die abschließende Gegenüberstellung vorbereiten könnte: »Es war einmal, auf einem seltsamen Planeten, eine kleine Negerin, die hieß Bayangumay. Sie war gegen 1750 auf der Erde erschienen, in einer ruhigen, unübersichtlichen Deltalandschaft, in einer Gegend, wo sich die klaren Wasser eines Stromes mit den grünen Wassern eines Ozeans und den schwarzen Wassern eines toten Flußarmes vermischten – und wo die Seele, wie es heißt, noch unsterblich war. Aber die Bewohner jenes Ortes hatten keinen Olymp, kein Walhalla und kein himmlisches Jerusalem; sie mochten sich nicht in den Wolken verlieren, hingen viel zu sehr an ihren Kühen, ihren salzigen Wiesen und vor allem an ihren Reisfeldern, die im gesamten afrikanischen Westen bekannt und geschätzt waren.« (Die Mulattin Solitude, S. 9)

Die Perspektive dieser Textpassage ist dialogisch; die Passage richtet sich an ein europäisches Publikum, für das Bayangumay sowohl auf »einem seltsamen Planeten« als auch in »Westafrika« lebt, nimmt aber zugleich auf Lokalwissen (z. B. über Reis und andere Aspekte des Alltagslebens) Bezug. Zwar mag hier, wie Bella Brodzki argumentiert, die Ankunft europäischer Sklavenhändler bereits antizipiert sein, doch lässt der sanftere Ton dieses Romanbeginns, verglichen mit dem Anfang von Der Letzte der Gerechten (wo eine jüdische Gemeinschaft bereits auf der ersten Seite Kiddush Hashem oder rituellen Selbstmord begeht), zunächst an ein anderes Verhältnis zur Geschichte denken. Anders als die Juden und Jüdinnen Europas sind die Einwohner und Einwohnerinnen dieser besonderen Flussmündung noch nicht in die Gewalt der europäischen Geschichte eingegliedert worden.16 Wir befinden uns fernab jener Conrad’schen Tradition europäischer Afrika-Darstellungen, die auf so folgenreiche und schädliche Weise in Arendts Schriften über den Imperialismus Eingang gefunden hat. Zwar wird angedeutet, dass ein Gefälle besteht zwischen europäischen Annahmen und afrikanischen Anliegen, doch der märchenhafte Ton und die idyllische Landschaft suggerieren eher eine friedliche Koexistenz kultureller Temporalitäten – vergleichbar den Gewässern im Delta, die sich »vermischen« – als einen Kampf der Kulturen. Hinzu kommt, dass diese fiktiven Dorfeinwohner und -einwohnerinnen, im Gegensatz zu den Angehörigen der afrikanischen Diaspora, denen Schwarz-Bart in den 1950er-Jahren 16 Siehe Brodzkis Erörterung dieser Passage (Nomadism, S. 228); Brodzki betont stärker als ich den Aspekt der Disjunktion und erkennt ein Gefühl banger Vorahnung im Hinweis auf »die westliche Zeitachse« und auf jenes Wasser, über das bald die Sklavenjäger anreisen werden. Siehe zu Schwarz-Barts Verhältnis zur Kiddusch-Haschem-Tradition Stanley Brodwin, History and Martyrological Tragedy: The Jewish Experience in Sholem Asch and André SchwarzBart, in: Twentieth Century Literature 40 (1990) 1, S. 72–91.

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begegnet ist, nicht »in einer anderen Zeit« leben. Aus ihrer bewusst idealisierten Perspektive ist kein Anachronismus möglich, da es noch keine historischen Epochen zu geben scheint, die verbunden oder einander entgegengestellt werden könnten. Aus der impliziten Perspektive der nicht-autochthonen Leserin erinnert die Kombination der »Ordinalfunktion« der Datierung (»gegen 1750«) mit der mythischen Zeit des Außerhistorischen (»Es war einmal«) an den Anfang des früheren Romans.17 Am Schluss von Die Mulattin Solitude ist diese Vermischung von Zeiten und Kulturen jedenfalls der Beschwörung von Gespenstern gewichen, und der Kontakt von Europäern und Nicht-Europäerinnen ist zu einer Frage von Katastrophe und Vertreibung geworden. Die Nachfahren der idealisierten afrikanischen Landschaft haben sich nun zu diasporischen Subjekten entwickelt: Sie bestellen noch immer das Land, allerdings unter stark veränderten Bedingungen. Gefangen, deportiert und auf der Mittelpassage vergewaltigt, gebiert Bayangumay eine Tochter, »die Mulattin Solitude«, eine legendäre Figur in der Geschichte Guadeloupes. Solitude wird später aufgrund ihrer Beteiligung an einem Sklavenaufstand hingerichtet, am Tag, nachdem sie wiederum ein Kind gebiert, dessen Schicksal es sein wird, als Eigentum eines anderen Menschen zu leben. Im knappen Epilog des Romans bricht der Erzähler mit der bisherigen historischen Rahmung und stellt sich vor, dass ein Tourist eines Tages die Plantage besuchen wird, auf der Solitude und andere Rebellen gegen ihre Versklavung gekämpft haben – ein Schauplatz, den der Anführer der Rebellion in einem Akt der Verzweiflung mit Dynamit gesprengt hat: »Wenn der Fremde darauf besteht, gestatten sie [die Wächter der Bananenplantagen] ihm, die Reste des ehemaligen Anwesens Danglemont zu besichtigen. Der Wächter winkt mit der Hand, und wie durch Zauberkraft taucht aus dem Schatten ein zerlumpter Feldneger auf, der den Liebhaber alter Steine aus großen unsicheren Augen anblickt. Sie gehen zusammen los […]. Sie gehen und kommen auf ihrer eigenen Spur zurück, sie gehen, und plötzlich ist da ein kniehoher Mauerrest, eine Erdaufschüttung, aus der Trümmersplitter ragen, scharfkantige Knochenstücke. […] Der Fremde nimmt leichten Aschegeruch wahr und macht aufs Geratewohl ein paar Schritte, zieht immer größer werdende Kreise um den ehemaligen Wohnsitz. Hier und da, unter großen welken Blättern, ruhen noch heute Steinbrocken, die durch die Explosionen weggeschleudert, in der Zwischenzeit ausgegraben, verschüttet und wieder freigelegt wurden von der unschuldigen Hacke derer, die das Land bebauen; an einen davon stößt er mit dem Fuß. Wenn er eine Erinnerung beschwören will, füllt er den Raum mit seiner Phantasie; und wenn ihm das Schicksal gewogen ist, erstehen alle möglichen Menschengestalten um ihn her, wie, so erzählt man, unter den Blicken anderer Reisender die Schattenbilder, die zwischen den erniedrigten Ruinen des Warschauer Ghettos umherirren.« (S. 139 f.) 17 Zu den verschiedenen Arten, auf die Kalenderdaten im Diskurs wirken können, siehe Aravamudan, Return, S. 334 f. Aravamudan bezieht sich auf das Werk von James Chandler.

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In diesen letzten Sätzen des Romans bedient sich Schwarz-Bart mehrerer Formen des Anachronismus und Anatopismus (der räumlichen Fehlplatzierung). Wie in den ersten Absätzen des Romans vermischen sich Mythisches und Alltägliches. Anstelle des märchenhaften »Es war einmal …« kommen aber neue, schauerlichere Temporalitäten zum Vorschein. Wie die Knochenfragmente ist auch die Zeit im Wortsinn zersplittert. Die Romanhandlung bewegt sich kontinuierlich von Afrika nach Guadeloupe und von der Mitte des 18. zum Anfang des 19. Jahrhunderts, doch der Epilog springt in die Gegenwart der Niederschrift des Romans und in einen hypothetischen, mehrschichtigen europäisch-karibischen Raum. Sowohl der mutmaßlich europäische Reisende als auch der westindische Führer erscheinen als sowohl räumlich als auch zeitlich verschoben – Ersterer aufgrund seiner verblüffenden Liebe zu »alten Steinen«, Letzterer aufgrund seines magischen Auftritts und seiner zerlumpten Erscheinung. Als Ruine ist auch der Schauplatz der Plantage von der Gegenwart abgetrennt: halb begraben unter fast zwei Jahrhunderten »unschuldiger« Tätigkeiten, aber noch immer Zeugnis ablegend von einer traumatischen Vergangenheit. In der letzten Zeile wird auf die Ruinen des Warschauer Ghettos Bezug genommen, was vielfache Assoziationen auslöst.18 Wie Brodzki gesagt hat, beinhaltet diese Bezugnahme aufgrund der bekannten Geschichte des Warschauer Aufstands eine »doppelte Erbschaft« aus »Vernichtung« und »heroischem Widerstand«19  – was ebenso auf Du Bois’ Artikel über Warschau zutrifft. Der doppelte Eindruck von Terror und Widerstand beschreibt den Tenor von Schwarz-Barts Roman gut, auch wenn diese letzte Textpassage mit ihrer Betonung der Demütigung und der Gespenster weniger affirmativ wirkt als Brodzki suggeriert. Warum aber evoziert Schwarz-Bart diese doppelte Erbschaft durch eine anachronistische und anatopische Analogie? Anders gefragt: Was fügt die Tatsache des Anachronismus der Geschichte von Sklaverei und Widerstand, die der Roman bereits erzählt hat, hinzu? Du Bois setzt das Warschauer Ghetto in Beziehung zur color line (in den Vereinigten Staaten und weltweit), um eine Aussage über das Verhältnis von »Rasse« und Raum sowie von Widerstand und Terror zu treffen, doch Schwarz-Barts Anachronismen stellen die Grundlagen der Historisierung infrage. Schwarz-Bart macht sich offenkundig des dritten von Vico unterschiedenen Irrtums schuldig: Er stellt eine Verbindung her zwischen zwei Epochen und Orten – der Karibik des frühen 19. und dem Zentraleuropa der Mitte des 20. Jahrhunderts  –, die gewöhnlich nicht zusammen betrachtet werden. Dieser »Irrtum« kann jedoch als Versuch verstanden werden, aufzuzeigen, wie die erste von Vico genannte Form des Anachronismus unser Verständnis der karibischen Geschichte verzerrt hat. Nathan Rapoports Ehrenmal wurde nur wenige Jahre nach 18 Obwohl die Ruinen des Warschauer Ghettos heute fast vollständig überbaut sind und nur das Denkmal übrig geblieben ist, das ich im vorigen Kapitel über Du Bois besprochen habe, könnte die Beschreibung des Besuchs der Plantage leicht die eines zeitgenössischen Besuchs an einem der Standorte nationalsozialistischer Vernichtungslager sein, wo oft noch Asche und Knochensplitter vorhanden sind. 19 Brodzki, Nomadism, S. 225.

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der Befreiung Polens von der nationalsozialistischen Herrschaft errichtet, doch des Sklavenaufstands, von dem Schwarz-Barts Roman erzählt, ist, wie Brodzki bemerkt, »niemals gedacht worden«.20 Das heißt: Der Hinweis auf das bekannte Ereignis des Warschauer Aufstands trägt dazu bei, etwas über die irrige Darstellung der Karibik als eines »ereignislosen« Ortes jenseits des vorherrschenden weltgeschichtlichen Narrativs auszusagen. Schwarz-Bart deckt archäologisch Ereignisse auf, die auf anachronistische Weise durch Schichten des Vergessens verborgen worden sind. Schwarz-Barts Vorgehen könnte sogar noch radikaler eben die Begriffe hinterfragen, mittels derer seine Analogie als anachronistisch bezeichnet werden kann; sie könnte also andeuten, dass die beiden zueinander in Beziehung gesetzten Epochen tatsächlich zusammengehören, im Rahmen eines neuen historischen Narrativs, das von den Gespenstern derer ausgeht, die zum Schweigen gebracht worden sind. Nicht nur wird die Erinnerung an den Holocaust zu einem »vergessenen« Kapitel der Weltgeschichte ins Verhältnis gesetzt, sondern das Fragment der karibischen Vergangenheit bewirkt darüber hinaus auch eine überraschende Rekontextualisierung des nationalsozialistischen Genozids. Indem er die beiden Geschichten einander Seite an Seite stellt, bewirkt der Roman keine Normalisierung oder Relativierung des Holocaust, sondern zeichnet diesen vielmehr als Bestandteil zweier paralleler Reihen singulärer Ereignisse. Das gleichzeitige Aufrufen von Ruinen und der in ihr spukenden Gespenster zeugt von einer Zeitlichkeit, die sich nicht ohne Weiteres von historistischen Lesarten zurückgewinnen lässt.

Das Formproblem: Zwischen Abwesenheit und Verlust Ein wenig bekannter und unübersetzt gebliebener Kommentar, in dem SchwarzBart sein literarisch-historisches Projekt beschreibt, skizziert die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen neuen, auf parallelen Geschichten beruhenden Narrativs.21 Pourquoi j’ai écrit La Mulâtresse Solitude (Warum ich Die Mulattin Solitude geschrieben habe), ein Text, der 1967 zeitgleich mit Schwarz-Barts früherem, gemeinsam mit seiner Frau Simone verfassten Roman Un plat de porc aux bananes verts (Ein 20 In den Jahrzehnten seit der Veröffentlichung von Schwarz-Barts Roman hat die Memorialisierung der Sklaverei im Allgemeinen und der in Die Mulattin Solitude beschriebenen Revolte im Besonderen in der Karibik an Bedeutung gewonnen. Für eine Betrachtung dieser Entwicklung mit Schwerpunkt auf Guadeloupe und Martinique siehe Catherine A. Reinhardt, Claims to Memory: Beyond Slavery and Emancipation in the French Caribbean, New York 2006. Reinhardts Bemerkungen zu Solitude und der Errichtung einer Statue zu ihren Ehren im Jahr 1999 finden sich auf S. 149–153. 21 André Schwarz-Bart, Pourquoi j’ai écrit La Mulâtresse Solitude, in: Le Figaro littéraire, 26. Januar 1967, S. 1, 8 f. Der Hinweis auf Solitude im Titel dieses Artikels meint nicht den Roman von 1972, sondern die gesamte Reihe, die sowohl den Roman von 1967 und den späteren Text sowie weitere Texte enthalten sollte. Siehe auch Scharfmans aufschlussreiche Diskussion dieses Artikels (den sie als Interview bezeichnet).

DAS FORMPROBLEM: ZWISCHEN ABWESENHEIT UND VERLUST

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Schweinefleischgericht mit grünen Bananen) erschienen ist, erläutert gequält den Versuch, eine Geschichte »im globalen Maßstab« (»la dimension planétaire«) zu schreiben (Pourquoi j’ai écrit, S. 8). Der Text ist vergleichsweise kurz und enthält einen der eindringlichsten Versuche, die Geschichten des Kolonialismus, des Holocaust und ihrer Folgen zu artikulieren, das heißt sie, wie Ronnie Scharfmann sagt, sowohl zu erzählen als auch zueinander in Beziehung zu setzen.22 Hier möchte ich mich auf zwei Aspekte dieses Textes konzentrieren, die für meine allgemeine These von Bedeutung sind: Schwarz-Barts Beschreibung seiner Identifikation mit den Westindern und Westinderinnen und das von ihm entworfene Programm einer literarischen Verbindung scheinbar disparater Geschichten. Nachdem er seine langjährige Bewunderung für die Westinder und Westinderinnen erwähnt hat, von denen er sagt, dass sie über jene sehr erstrebenswerten Eigenschaften verfügen, »die mir selbst fehlen«, bestimmt Schwarz-Bart das Wort »Sklaverei« als die ultimative Quelle seiner brüderlichen Gefühle. Indem Schwarz-Bart die Bedeutung dieses Wortes umreißt, das auch im oben erwähnten, etwa zeitgleich geführten Interview eine Rolle spielt, skizziert er ein komplexes Verständnis des Verhältnisses von Schwarzen und Juden: »Sicherlich hat mich dieses Wort als jüdischer Mann betroffen, als Mitglied einer Gemeinschaft, die gerade den Preis des menschlichen Lebens erfahren hatte. Und doch, so seltsam es Ihnen auch erscheinen mag, berührte mich das Wort vor allem als jüdisches Kind, als weit entfernter Nachfahre eines Volkes, das in der Sklaverei geboren wurde und vor dreitausend Jahren aus ihr hervorging. Ich erinnere mich, dass mir 1941, in der ersten Nacht des Pessachfestes, die Ehre zuteil wurde, die rituelle Frage an das Familienoberhaupt zu stellen: ›Ma nishtana halaila haze nicol ha lelot?‹ Was bedeutet: ›Wie unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?‹ Und ich erinnere mich an die Antwort, die mir mein Vater auf Hebräisch gab: ›Mein Kind, in einer Nacht wie dieser kamen unsere Vorfahren aus Ägypten, wo sie als Sklaven gehalten wurden.‹ Und ich glaube, dass es dieses jüdische Kind ist, dessen Väter unter dem Pharao versklavt waren, bevor ihnen dasselbe unter Hitler widerfuhr, das von einer endgültigen, brüderlichen Liebe zu den Westindern ergriffen wurde.« (Pourquoi j’ai écrit, S. 8)

Mit dem Versuch, das Verhältnis seiner Romane über die jüdischen und afrikanischen Diasporas zu erläutern, evoziert Schwarz-Bart die Bedeutung des nationalsozialistischen Genozids und verschiebt diese Bedeutung zugleich. Durch die Figur des erinnerten Sederabends kehrt diese Textpassage zu dem Jahr zurück, in dem die nationalsozialistische Politik in ihre genozidale Phase überging (obgleich die Opfer das damals nicht wissen konnten); allerdings geschieht dies, um eine viel ältere – in der Tat mythische – Geschichte aufzurufen. Die Textpassage treibt die Verflechtung 22 Siehe Scharfman, Exiled from the Shoah, S. 255.

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von Identitäten und Geschichten, die wir bereits anhand von Der Letzte der Gerechten und Die Mulattin Solitude untersucht haben, noch weiter. Sie impliziert, dass Schwarz-Barts Identifikation mit den Westindern  – die es ihm ermöglichte, der Isolation zu entkommen, die er durch den nationalsozialistischen Genozid erfuhr – selbst auf einer imaginären (nicht: unwirklichen) Eigenschaft jüdischer Identität beruht: der am Sederabend angesiedelten Begründung dieser Identität auf dem, was Michael Walzer »stellvertretende Erfahrung« (vicarious experience) genannt hat – die anachronistische Identifikation mit unbekannten und niemals anders als imaginär erfahrbaren Vorfahren.23 Die anachronistische Verbindung von »Sklaven unter dem Pharao« und »Sklaven unter Hitler« autorisiert die ebenso anachronistische Verbindung von ehemaligen schwarzen und ehemaligen jüdischen Sklaven in der Gegenwart. Paradoxerweise ist es gerade der unhistorische Charakter der Macht der Fantasie, den »Bruch« (déchirement, Pourquoi j’ai écrit, S. 8) innerhalb einer jeden Kultur zu überbrücken – handle es sich um Sklaverei oder Genozid –, der zu einer Ressource für multidirektionales Erzählen und Verbinden wird. Trotz der »endgültigen, brüderlichen Liebe« zu den Westindern und Westinderinnen, zu der sich Schwarz-Bart bekennt, lassen sich die von ihm beschriebenen identifikatorischen Verbindungen nicht ohne Weiteres in Literatur übersetzen; das Formproblem bleibt zentral. Die Schwierigkeit, eine angemessene literarische Form zu finden, um der Verbundenheit von Schwarzen und Juden Ausdruck zu verleihen, geht aus den Feinheiten des von Schwarz-Bart in Pourquoi j’ai écrit La Mulâtresse Solitude formulierten Programms hervor, aber auch daraus, dass er letztlich unfähig oder unwillens ist, dieses Programm umzusetzen. Verglichen mit Du Bois’ Text, der das Formproblem dadurch löst, dass er die Theorie des doppelten Bewusstseins so umarbeitet, dass sie den komparativen Aspekten des Lebens von Minderheiten gerecht wird, ist die von Schwarz-Barts Text suggerierte Form weniger symmetrisch und binär. Schwarz-Bart beschreibt sein Projekt scherzhaft als »Akkordeon«, da dessen geplanter Umfang sich fortlaufend vergrößere und verringere. Infrage stand dabei nicht nur die endgültige Form des Solitude-Zyklus, sondern auch die jener Abschnitte des Zyklus, die der jüdischen Geschichte gewidmet sein sollten. Zwar war Der Letzte der Gerechten acht Jahre zuvor veröffentlicht worden, doch die Fertigstellung eines weiteren, bereits in Arbeit befindlichen Romans, in dem die Welt der Konzentrationslager auf unmittelbare Weise behandelt werden sollte, blieb »mehr als unwahrscheinlich«. Und doch, so fährt Schwarz-Bart fort: 23 Walzer bedient sich der Vorstellung »stellvertretender Erfahrung« in seinen Ausführungen darüber, wie die Exodus-Geschichte über die Jahrhunderte hinweg als machtvolles Narrativ für revolutionäre politische Bewegungen fungiert hat. Bereits in der »Darstellung des Bundes im Deuteronomium« finde man den Imperativ, den »Augenblick der Befreiung« aus Ägypten als Grundlage jüdischer Identität »in [der] Phantasie nachzuvollziehen«. Siehe Michael Walzer, Exodus und Revolution, Frankfurt a.  M. 1995, S. 90  f., 94. Dieses Buch hat zu einem polemischen Austausch über Zionismus und Palästinenser zwischen Walzer und Edward Said geführt, der eine Kritik des Buches aus »kanaanitischer« Perspektive verfasst hat.

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»Das ideale Ensemble hätte die Form eines Triptychons. Die erste Tafel würde aus Der Letzte der Gerechten bestehen. Die mittlere Tafel würde aus dem SolitudeZyklus bestehen, von dem jeder Band als eigene Einheit, als originelles und eigenständiges Werk konzipiert ist – in dem Sinn, dass man das Ensemble mit einer Halskette aus sieben Steinen vergleichen kann, von denen jeder eine andere Form, Farbe und einen anderen Glanz hat. […] Das dritte Element des Triptychons schließlich, ein Pendant zu Der Letzte der Gerechten, wäre natürlich der Roman zu den Konzentrationslagern, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es sinnvoll ist, bereits davon zu sprechen.« (Pourquoi j’ai écrit, S. 8)

Faszinierend an dem von Schwarz-Bart skizzierten Programm ist nicht nur die Tatsache, dass er es niemals umgesetzt hat (nach Die Mulattin Solitude sollte er keinen weiteren Roman veröffentlichen), sondern auch der Überschuss an Bildern, durch die er es evoziert. Jedes dieser Bilder – Akkordeon, Triptychon, Halskette – stellt einen Versuch dar, dem literarisch-historischen Problem eine Form zu verleihen. Gerade aus dem umgekehrten Verhältnis des Überschusses an Bildern zur Spärlichkeit der Ergebnisse folgt eine ganz besondere »Lösung«. Anstatt Schwarz-Barts unverwirklichtes Programm als gescheitert zu begreifen, können wir in ihm die Defizite bestehender Rahmen und Möglichkeitsbedingungen für das Erzählen solcher Geschichten erkennen. Der Rückgriff auf Anachronismus, Fantasie und Bildsprache deutet an, dass die Geschichte schwarz-jüdischer Verbundenheit für Schwarz-Bart keine ist, die sich in einem realistischen, historistischen Modus schreiben lässt  – selbst dann nicht, wenn dabei das doppelte Bewusstsein von Minderheiten berücksichtigt wird. Schwarz-Bart ist es allerdings auch nicht gelungen, eine gangbare Alternative zu entwickeln. Was die Geschichten der afrikanischen Diaspora in der Karibik und der jüdischen Diaspora in Europa gemeinsam haben, ist keine »positive« Erfahrung, sondern eher die Negativität des Bruchs und das Bedürfnis nach einer Arbeit der Fantasie, die den Abgrund überbrückt: Wie der Epilog von Die Mulattin Solitude verdeutlicht, markieren die Gespenster, die auf der Plantage und im Ghetto spuken, einen nicht behebbaren Verlust, der nur durch die Fantasie der Nachgeborenen »[ge] füllt« (emplira) werden kann (S. 140). Damit die Fantasie aber angemessen auf die Herausforderungen des Verlusts reagieren kann, muss sie in der Lage sein, zwischen dem zu unterscheiden, was verloren gegangen ist, und dem, was überhaupt nie vorhanden war, weil hier die Abwesenheit konstitutiv ist. Die Unterscheidung zwischen Verlust und Abwesenheit, die LaCapra auf hilfreiche Weise in Beziehung zu der zwischen historischem und strukturellem Trauma gesetzt hat, hilft dabei zu klären, an welchem Punkt Schwarz-Barts Projekt Schiffbruch erleidet. Historisches Trauma »hängt mit spezifischen Ereignissen zusammen, die tatsächlich mit Verlusten einhergehen«, wohingegen strukturelles Trauma »mit transhistorischer Abwesenheit (ursprünglicher Abwesenheit bzw. Abwesenheit des Ursprungs) zusammenhängt (und sogar korreliert) und in jeder Gesellschaft sowie in jedem Leben auf andere Weise in Erscheinung tritt«. Zu den Beispielen

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historischen Traumas zählen Sklaverei, der Holocaust und Krieg. Beispiele strukturellen Traumas sind oft eher spekulativer Natur; zu ihnen zählen »Trennung von der Mutter bzw. vom Anderen, der Übergang von der Natur zur Kultur, […] der Eintritt in die Sprache«.24 Wie LaCapra anmerkt, überrascht es nicht, dass es in bestimmten Kontexten, insbesondere post-traumatischen, zu Überschneidungen zwischen diesen beiden Formen von Trauma kommt; die Unterscheidung zwischen Abwesenheit und Verlust zu verwischen kann allerdings schädliche intellektuelle und politische Folgen nach sich ziehen. Werden historische Verluste als strukturelle Abwesenheit gedeutet, kann das zu Melancholie führen und dazu, dass man an der Möglichkeit zweifelt, über die Vergangenheit hinauszuwachsen oder sich den Problemen der Gegenwart zu stellen. Wird umgekehrt strukturelles Trauma auf ein historisches Ereignis reduziert, dann nährt das Allmachtfantasien und führt zu gefährlichen Versuchen, totalisierende politische Lösungen anzustreben. Trotz seiner offenkundigen Sympathie für die Opfer der Geschichte scheint Schwarz-Bart historische Verluste in einen enthistorisierten Bereich zu überführen. Der tote Punkt, an den er in seinem Schaffen gerät, könnte auf das zurückzuführen sein, was Sidra Ezrahi seine Festlegung auf ein statisches Geschichtsbild nennt, das sich durch die »ewige Wiederkehr menschlichen Leidens« auszeichnet  – auf ein Geschichtsbild also, das historische Verluste zu transhistorischer Abwesenheit umdeutet. Trotz der zahlreichen Ebenen von Zeitlichkeit, die Schwarz-Bart in seinen Büchern untersucht, scheinen seine Protagonisten  – sowohl die jüdischen als auch die schwarzen – »von Geburt an zum Märtyrertum bestimmt zu sein, durch einen unerbittlichen historischen Prozess, der festlegt, das einige Lämmer und andere Schlächter zu sein haben«.25 Schwarz-Bart findet zwar stets neue Bilder, um das Verhältnis von schwarzer und jüdischer Geschichte zu beschreiben, kehrt aber immer zum selben grundlegenden Gewaltszenario zurück. In LaCapras Begrifflichkeit ausgedrückt: Er bleibt im Bann des Traumas und agiert die Viktimisierung aus, anstatt sie aufzuarbeiten. Indem er das Schwarzen und Juden gemeinsame Verhältnis zur Negativität des Bruchs von einem kontingenten historischen Verhältnis zu einer transzendenten, überhistorischen Notwendigkeit umdeutet und damit überhöht, verwischt Schwarz-Bart die Unterscheidung zwischen Verlust und Abwesenheit. Sein Geschichtsbild bleibt auf ein binäres Verständnis von Opfern und Tätern angewiesen und legt den Schluss nahe, dass es einer komplexeren Darstellung der Viktimisierung bedarf, um dem Bann der Unvermeidbarkeit zu entkommen. Ironischerweise bricht Schwarz-Barts Œuvre durch seinen vergleichenden Ansatz zwar mit der sakralisierten Singularität des Holocaust, tut dies aber durch den Einsatz eben jener mythischen Elemente, derer sich der Singularitätsdiskurs bedient, um das historische Ereignis als »begründendes Trauma«26 zu kanonisieren. 24 LaCapra, Writing History, S. 76 f., 80 f. 25 Ezrahi, By Words Alone, S. 136 f. 26 LaCapra, Writing History, S. 81.

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LaCapras Unterscheidungen zwischen Abwesenheit und Verlust sowie zwischen historischem und strukturellem Trauma erlauben es uns zu fragen, was es bedeutet, über Ruinen zu schreiben. Das Problem an Schwarz-Barts Werk ist nicht die Fixierung auf Ruinen als solche; schließlich sind die Geschichten der afrikanischen und jüdischen Diasporen tatsächlich von Vernichtung und Viktimisierung durchzogen. Es ist sowohl eine logische als auch eine soziale Tatsache, dass Angehörige dieser Diasporen sich oft durch das Prisma extremer Gewalt wahrnehmen  – eine Form wechselseitiger Anerkennung, die sowohl zu Phasen der Solidarität als auch zu Situationen des Antagonismus geführt hat, wie sie nur unter denen möglich sind, die sich als »fast gleich« wahrnehmen.27 Das Problem liegt vielmehr in der Auffassung von Ruinen, die in Schwarz-Barts Werk zum Ausdruck kommt. Anstatt Ruinen als Zeichen von Geschichte und Wandel zu begreifen, schreibt Schwarz-Bart sie als Demütigung und Abwesenheit fest – als die Abwesenheit von Macht, angezeigt durch eine gescheiterte und verzweifelte Revolte.28 Es gibt also zwei Formen von Anachronismus in Schwarz-Barts Arbeiten. Die erste ist eine rehistorisierende Kraft, die sklerotisierte Unterscheidungen von Epoche und Identität aufsprengt, um neue Sichtweisen auf Geschichte als dynamisches Kraftfeld sich überschneidender Geschichten zu ermöglichen. Die zweite ist eine enthistorisierende Kraft, die diesen sich überschneidenden Geschichten jedes Verhältnis zur Macht nimmt, und damit auch jede Möglichkeit der Veränderung. Bleibt Schwarz-Barts Werk im Kanon der Holocaust-Literatur auch auf vielerlei Weise eine Anomalie, so ist das Schwanken zwischen Re- und Enthistorisierung sowie zwischen strukturellem und historischem Trauma, auf das wir darin stoßen, dennoch nicht ohne Implikationen für andere Versuche, über Ruinen und multidirektionale Erinnerungen zu schreiben.

27 Paul Berman hat sich in einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Schwarzen und Juden der Vorstellung des »fast Gleichen« bedient, die er vom französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch übernommen hat (und die von Freud inspiriert ist). Berman beschreibt die Intensität des Verhältnisses von Schwarzen und Juden als ein Ergebnis der Nähe beider Gruppen zueinander und der geringen Unterschiede zwischen ihnen. Siehe Paul Berman, Introduction: The Other and the Almost the Same, in: ders. (Hrsg.), Blacks and Jews: Alliances and Arguments, New York 1994, S. 1–28. 28 Es ist interessant, Schwarz-Barts Ruinen mit denen zu vergleichen, die Walter Benjamin in seinem Buch über das Trauerspiel verhandelt. Für Benjamin sind »Allegorien […] im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge«; in der »Allegorie [liegt] die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz […] aus. […] [E]s spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus.« Allegorie und Ruine sind in Benjamins Verständnis zwar historisch, doch auch mit jener Art von Melancholie verbunden, für die SchwarzBart eintritt. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 203–430, hier S. 354, 343, zitiert in: Fredric Jameson, Marxism and Form: Twentieth-Century Dialectical Theories of Literature, Princeton 1972, S. 71, 73.

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Vermittelte Identifikationen: The European Tribe Auch Caryl Phillips versucht in seiner erzählenden Literatur, die Abgründe der Geschichte durch riskante Akte der Fantasie zu »bevölkern«, und auch er tut dies vermittels einer anachronistischen Ästhetik. Seine Biografie und sein literarisches Werk ergänzen auf vielerlei Weise die von Schwarz-Bart. Mir kommen keine zwei anderen Autoren in den Sinn, in deren Projekten es so eindeutig darum geht, den Verbindungen zwischen den Geschichten der europäischen Juden, Afrikas, der afrikanischen Diaspora und der Karibik nachzuspüren. Dennoch schreiben diese beiden Autoren von sehr unterschiedlichen historischen Orten aus. Schwarz-Bart schreibt während einer Übergangszeit (1959–1972), da die Kämpfe um Dekolonisierung zu den Problemen postkolonialer Politik werden und das Holocaustgedenken seine heute vertraute Form anzunehmen beginnt, unabhängig von der allgemeinen Kategorie »nationalsozialistischer Gräueltaten«. Seine Schriften zeichnen sich zum einen durch den Wunsch aus, eine komplexe multidimensionale Form für die Artikulation historischer Verhältnisse zu finden, zum anderen durch die starke Neigung, diese Form auf eine enthistorisierte, von bedrückender Gewalt und heroischem, aber tragischem Widerstand gekennzeichnete Opfer/Täter-Dichotomie zu reduzieren. Phillips schreibt aus einer Welt, die von postkolonialen Migrationen tiefgreifend verändert worden und vom Bewusstsein der genozidalen Vergangenheit, Gegenwart und möglicherweise auch Zukunft Europas (sowie der übrigen Welt) gesättigt ist.29 Auch seine Romane und nicht-fiktionale Prosa sind von der Erinnerung an das Warschauer Ghetto geprägt, das ihm ebenfalls als Ort dient, um den Überschneidungen schwarzer und jüdischer Geschichte nachzugehen, doch die Lektionen, die er aus der Vergangenheit zieht, sind mehrdeutiger als die von 29 Zu den literaturkritischen Arbeiten, die diesen und andere Aspekte von Phillips’ Werk auf hilfreiche Weise und mit Bezug auf die von mir verhandelten Texte erörtern, zählen: Bryan Cheyette, Venetian Spaces: Old-New Literatures and the Ambivalent Uses of Jewish History, in: Susheila Nasta (Hrsg.), Reading the »New« Literatures in a Postcolonial Era, Cambridge 2000; Stef Craps, Linking Legacies of Loss: Traumatic Histories and Cross-Cultural Empathy in Caryl Phillips’s Higher Ground and The Nature of Blood, in: Studies in the Novel 40 (2008) 1/2, S. 191–202; Ashley Dawson, »To Remember Too Much Is Indeed a Form of Madness«: Caryl Phillips’s The Nature of Blood and the Modalities of European Racism, in: Postcolonial Studies 7 (2004) 1, S. 83–101; Bénédicte Ledent, Caryl Phillips, Manchester 2002; Anne Whitehead, Trauma Fiction, Edinburgh 2004, S. 89–116; Zierler, Caryl Phillips; Wendy Zierler, »My Holocaust Is Not Your Holocaust«: »Facing« Black and Jewish Experience in The Pawnbroker, Higher Ground, and The Nature of Blood, in: Holocaust and Genocide Studies 18 (2004) 1, S. 46–67. Eine faszinierende Erörterung anderer Werke von Phillips als der hier verhandelten bietet Timothy Bewes, Shame, Ventriloquy, and the Problem of the Cliché in Caryl Phillips, in: Cultural Critique 63 (2006), S. 33–60. Rebecca Walkowitz verortet Phillips innerhalb der globalen Zirkulation von Weltliteraturen als Beispiel für das, was sie die »Literatur des Vergleichs« (comparison literature) nennt. Siehe dies., The Location of Literature: The Transnational Book and the Migrant Writer, in: Contemporary Literature 47 (2006) 4 (Sonderheft über »Immigrant Fictions«), S. 527–545.

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Schwarz-Bart. In Phillips’ Werk ist die Grenze zwischen Opfer und Täter nie so eindeutig wie bei Schwarz-Bart. Phillips’ Narrative würfeln die Formen historischen Vergleichs durcheinander, die er bei Schwarz-Bart findet, und verorten Schwarze und Juden nicht nur außerhalb beziehungsweise an den Grenzen Europas, sondern auch innerhalb, im Zentrum. Fünfzehn Jahre nachdem Schwarz-Bart die Ruinen des Ghettos von einem traumatischen Ort in der Karibik aus heraufbeschwor, und 35 Jahre nachdem Du Bois sich veranlasst sah, sein Verständnis der color line zu überdenken, hat auch Phillips über einen Besuch in Warschau geschrieben. In seinem Reisebericht aus dem Jahr 1987, The European Tribe (Der europäische Stamm), erzählt er von einer jahrlangen Reise durch das Europa der mittleren 1980er-Jahre, während der er auch in Polen Halt machte. Das Europa, von dem aus Phillips schreibt, ist ein anderes als das, dem Schwarz-Bart zugunsten von Guadeloupe den Rücken gekehrt hat, doch sowohl sein Bewusstsein der rassistischen Erbschaften der Vergangenheit als auch seine Ahnung der rassistischen und ethnisch begründeten Gewalt einer nahen Zukunft erinnern an die Einsichten des französischen Schriftstellers. Wie ist – abgesehen von dem weitsichtigen, in den 1980er-Jahren artikulierten Eindruck latenter Gewalt – das besondere Interesse am Holocaust zu erklären, das sich durch Phillips’ Werk zieht? The European Tribe bietet verschiedene Schlüssel zum Verständnis von Phillips’ Interesse am Holocaust. Auf der offenkundigsten Ebene verbindet das Kapitel über »Anne Franks Amsterdam« schwarze und jüdische Geschichte mittels eines Modells der Identifikation. In diesem Kapitel beschreibt Phillips, was sein erstes fiktionales Werk inspiriert hat: »Ich war etwa fünfzehn Jahre alt, als Amsterdam mich zu faszinieren begann. Es gab eine Sendung im Fernsehen, Teil der Serie ›Welt im Krieg‹, die sich mit der Besetzung Hollands durch die Nazis und der anschließenden Verhaftung der Juden befasste. […] Eine Sache, die ich an der Sendung nicht verstehen konnte, war, warum sich die Juden fügten, als sie angewiesen wurden, den gelben Davidstern auf ihrer Kleidung zu tragen. Für mich sahen sie genauso aus wie alle weißen Menschen. Wer hätte also gewusst, dass sie anders waren? Im Lauf der Sendung wich mein Gefühl verwirrter Faszination meinen ersten reifen Empörungs- und Angstgefühlen. Diese gelben Sterne markierten die Juden als für Bergen-Belsen und Auschwitz bestimmt. Ich schaute mir die Bibliotheksaufnahmen der Lager an und erkannte sowohl die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens, das man begangen hatte, als auch die Unsicherheit meiner eigenen Position in Europa. Die vielen jugendlichen Gedanken, die meinen Kopf beunruhigten, lassen sich auf eine Frage reduzieren: ›Wenn Weiße das anderen Weißen antun konnten, was zum Teufel würden sie dann mit mir machen?‹«30

30 Caryl Phillips, The European Tribe, Boston 1992 [zuerst 1987], S. 66 f.

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Diese Textpassage versammelt eine Dichte an vielfältigen Akten des Blickens, die auf verschiedene Erzähl- und Fokalisierungsebenen verweisen: Der Erzähler schaut auf sich selbst als Teenager zurück, während dieses jüngere Selbst eine Fernsehsendung sieht, die aus unterschiedlichen Archivmaterialien zusammengestellt ist. Diese Inszenierung von »Rasse« und Visualität geht über die Begegnung von Angesicht zu Angesicht hinaus, die Fanon in einem berühmten Abschnitt von Schwarze Haut, weiße Masken beschreibt  – »Sieh mal, ein Neger!«  – und eröffnet eine Welt, die sich durch zahlreiche Vermittlungsebenen auszeichnet: Das fünfzehnjährige migrantische Kind in England ist nicht unmittelbar dem rassistischen Blick ausgesetzt, sondern es sieht zu, wie in einer Fernsehsendung Archivmaterial mit einer in der Nachkriegszeit formulierten Narration verknüpft wird. Um die Komplexität dieser Szene und der Blickakte zu ermessen, ist es wichtig, sich der Quellen solchen Bildmaterials zu entsinnen: Die Bilder dürften zur Zeit der Befreiung von alliierten Soldaten aufgenommen worden sein, oder aber zu einem früheren Zeitpunkt von den Nationalsozialisten selbst. Während diese zweite Gruppe von Bildern mehr oder weniger unter die Kategorie des rassistischen Blicks fallen dürfte, von dem Fanon spricht, bringt das Bildmaterial der Alliierten ein anderes Problem mit sich: das der wohlwollenden Darstellung von Erniedrigung und Viktimisierung. In beiden Fällen verkennt die Perspektive der Kamera ihre Gegenstände und macht sogar überhaupt erst Objekte aus menschlichen Subjekten, wenngleich auf unterschiedliche Weisen. Am wichtigsten ist jedoch im Moment die Darstellung der Beziehung des Betrachters zu solchen Bildern extremer Rassifizierung: Diese Beziehung ist zugleich dezentriert und dekontextualisiert, nicht nur aufgrund der Überschneidungen zwischen nichtsynchronen Perspektiven, wie sie im Film inszeniert werden, sondern auch, und das ist bedeutend, aufgrund der Tatsache, dass der Zuschauer ein schwarzes Kind aus den ehemaligen Kolonien ist, das sich in einer post-imperialen Metropole aufhält. Wir erhalten in dieser Textpassage so etwas wie den »Gegenschuss« zu der Geschichte, die Schwarz-Bart über den Einfluss erzählt, den karibische Migranten auf sein Verständnis von Diaspora und jüdischer Geschichte ausgeübt haben. Wenn aber Schwarz-Barts Begegnung einen Erkenntnisschock hervorgerufen hat, dann ist es im Fall des jungen Phillips gerade der Eindruck eines Sinnmangels – die Darstellung einer Viktimisierung an den Grenzen des Begreifbaren und der Gebrauch widersprüchlicher Perspektiven –, der sich als produktiv erweist, indem er ein schreibendes Subjekt entstehen lässt. (Hierin hat Phillips vielleicht mehr mit Du Bois als mit Schwarz-Bart gemeinsam, denn auch Du Bois ist zunächst verblüfft von seiner Konfrontation mit den Ruinen Warschaus.) Das Nachdenken über den Film veranlasst den jungen Phillips, sein erstes fiktionales Werk zu schreiben: eine Kurzgeschichte über einen holländischen Jungen im besetzten Amsterdam, der sich weigert, den gelben Stern zu tragen. Während seiner »Umsiedlung« in den Osten entkommt der Junge aus dem Viehwaggon und wird gerettet, sobald »die auf seinen gelben Stern scheinende Sonne […] einen freundlichen Bauern auf ihn aufmerksam macht« (Phillips, The European Tribe, S. 67). Von dieser Geschichte sollte Phillips später

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schreiben: »Der holländische Junge war natürlich ich.«31 Nach Phillips’ Erzählung fand seine erste bedeutende Konfrontation mit dem Holocaust – eine Konfrontation, die durch Fernsehbilder vermittelt wurde – an der Schwelle zwischen »jugendlichen Gedanken« und seinen »ersten reifen [Gefühlen]« statt. Mittels eines Identifikationsprozesses hilft die Geschichte des Holocaust Phillips, sich als erwachsenes Subjekt und als Autor zu konstituieren. Zu diesem Zeitpunkt in seiner Jugend trägt Phillips’ Verhältnis zur jüdischen Geschichte die Kennzeichen dessen, was Diana Fuss, Freud folgend, die »Offenkundigkeit« der Identifikation nennt, die Kennzeichen des Sachverhalts also, dass die Identifikation »auf einer Logik metaphorischen Austausches« beruht:32 »Der holländische Junge war natürlich ich.« Eine solche Logik mag im Fall eines fünfzehnjährigen Jungen zwar nachvollziehbar sein, man könnte sie aber auch als Gefahr der Aneignung begreifen: der Gefahr einer vollständigen metaphorischen Substituierung einer Identität oder Geschichte durch eine andere. The European Tribe stellt allerdings, wie die Folgeromane Higher Ground und The Nature of Blood, eine komplexere Logik unter Beweis, die uns auch daran erinnert, dass Identifikation für Freud etwas viel Ambivalenteres und Vermittelteres darstellt als den einfachen Vorgang metaphorischer Substitution. Tatsächlich sind die identifikatorischen Vorgänge, die sowohl in Phillips’ Reisebericht als auch in seinen Romanen enthalten sind, eher metonymisch als metaphorisch. Diese komplexere Auffassung von Identifikation erfasst Eve Sedgwick, wenn sie sagt, dass die »Pfade der Allo-Identifikation aller Wahrscheinlichkeit nach merkwürdig und widerspenstig sein werden«: »Sich als … zu identifizieren muss immer auch vielfache Prozesse der Identifikation mit … beinhalten.«33 Die Pfade und vielfachen Prozesse, von denen Sedgwick spricht, entsprechen den metonymischen Verschiebungen, die Phillips’ Herangehensweise an die Alterität der jüdischen Geschichte und des Holocaust zugrunde liegen. Solche Pfade der Verschiebung nachzuzeichnen bedeutet das aufzeigen, um was es in diesen Texten bei der Identifikation geht. Metonymische Identifikation wird sowohl ermöglicht als auch notwendig durch den Mangel an Darstellungen schwarzen Leidens im England des jungen Phillips. Wie er ebenfalls in The European Tribe schreibt: »Die blutigen Auswüchse des Kolonialismus, die Plünderung und Vergewaltigung des modernen Afrikas, der Transport von 11 Millionen Schwarzen nach Amerika und deren anschließende Knechtschaft standen nicht auf dem Lehrplan und wurden schon gar nicht im Fernsehen gezeigt. Infolgedessen kanalisierte ich einen Teil meines Schmerzes und meiner Frustration stellvertretend durch die jüdische Erfahrung« (S. 54). Was, mit anderen Worten, auf dem Spiel steht ist weniger der Wunsch, den Platz des Anderen einzunehmen, als vielmehr, die unheimlichen Geografien des Lebens in der Diaspora zu kartieren; Phillips’ 31 Caryl Phillips, On »The Nature of Blood« and the Ghost of Anne Frank, in: Common Quest (Sommer 1998), S. 4–7, hier S. 6. 32 Diana Fuss, Identification Papers, New York 1995, S. 1, 5. 33 Eve Sedgwick, Epistemology of the Closet, Berkeley 1990, S. 59, 61.

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diasporisches Subjekt teilt Räume und Geschichten mit verschiedenen anderen Subjekten, ohne sich auf deren Terrain heimisch zu fühlen. In Phillips’ Werk trägt die metonymische Identifikation dazu bei, die kontingenten Berührungspunkte zwischen diasporischen Erfahrungen zu erfassen und deren notwendigerweise multiple Verortungen und synkretistische Kulturen.34 Phillips’ jugendliche Erfahrung der Stellvertretung – offenkundig mit der von Schwarz-Barts prototypischem Kind verwandt – stellt eine Alternative zu Vorstellungen der Erinnerungkonkurrenz dar: Die Geschichte des Anderen löscht die eigene Vergangenheit nicht aus, sondern dient vielmehr als Leinwand für multidirektionale Projektionen, in denen Solidarität und Selbsterfindung verschmelzen. The European Tribe offenbart nicht nur Phillips’ Interesse am nationalsozialistischen Genozid, sondern auch eine anhaltende Faszination mit der Figur des Othello und der Geschichte Venedigs. Folgen wir diesem Pfad, so führt er uns zurück zum Holocaust, wenngleich in gewundener Weise. Phillips’ Besuch in Venedig stellt gewissermaßen einen Wendepunkt in seinem Reisebericht dar: »Ich habe in Venedig nur einen anderen schwarzen Mann gesehen. Er sah nicht im geringsten aus wie Othello. […] Wie lebte Othello in dieser erstaunlichen Stadt? Die venezianische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts versklavte die Schwarzen und verspottete die Juden« (S. 45). Phillips interessiert sich zwar offenkundig für die europäischen Schwarzen und europäischen Juden gemeinsame Rassismuserfahrung, doch das entsprechende Kapitel ist mit A Black European Success (Ein schwarzer Erfolg in Europa) überschrieben. Trotz der offenkundigen Ironie verrät uns dieser Titel etwas darüber, woran Phillips gelegen ist: nicht nur an der Existenz eines Hasses, der genozidalen Charakter annehmen kann, sondern auch an der produktiven Anwesenheit »rassisch« Anderer inmitten Europas. Das Interesse an Venedig ist vielsagend, nicht nur aufgrund der beiden relevanten Shakespeare-Figuren, an die diese Stadt denken lässt – Othello und Shylock –, sondern auch aufgrund der Bedeutung Venedigs für die damalige Weltwirtschaft. Laut dem Soziologen Giovanni Arrighi ist der venezianische Stadtstaat sogar »der Prototyp des führenden kapitalistischen Staates jeder späteren Epoche«.35 So hält Othellos Anwesenheit in der frühneuzeitlichen italienischen Stadt Phillips’ eigener Lage als »schwarzer Erfolg in Europa«, der heute in zwei globalen Städten der Spätmoderne, New York und London, lebt, einen historischen Spiegel vor. 34 Ein Verständnis der Diaspora, das nicht auf der Möglichkeit der »Rückkehr« zu einer verlorenen Heimstatt, sondern auf einem Diskurs der Hybridität und Differenz beruht, bietet Stuart Hall, Cultural Identity and Diaspora, in: Jonathan Rutherford (Hrsg.), Identity: Community, Culture, Difference, London 1990. 35 Interessanterweise ist das Modell Venedigs nur eine von zwei »unterschiedlichen Genealogien des modernen Kapitalismus«, die Arrighi unterscheidet, nämlich jene, die der Tendenz des Kapitals entspricht, »eine Identifikation mit bestimmten Staaten zu entwickeln«. Das andere Modell ist das der »Genueser Diaspora-›Nation‹«, das »triumphierte, indem es sich nicht mit einem bestimmten Staat identifizierte, sondern weltumspannende, nicht-territoriale Wirtschaftsorganisationen aufbaute«. Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century: Money, Power, and the Origins of Our Times, New York 1994, S. 84.

VERMITTELTE IDENTIFIKATIONEN: THE EUROPEAN TRIBE

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Venedig hat aber auch noch eine weitere Bedeutung, denn es war der Standort des ersten jüdischen Ghettos; tatsächlich hat das Wort »Ghetto« in Venedig seinen Ursprung. Im 20. Jahrhundert hat der Begriff des Ghettos eines der hervorstechendsten Glieder jener identifikatorischen Kette dargestellt, die Schwarze und Juden miteinander verbindet, wie wir bereits an Schwarz-Bart und Du Bois gesehen haben. Die lexikalische Verbindung veranlasst Phillips auch, jene anderen Ghettos zu erkunden, die von den Nationalsozialisten im Zuge ihrer genozidalen Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen eingerichtet wurden. Die in The European Tribe angeregten Assoziationen sind nicht allein in einer metaphorischen Identifikation des judenfeindlichen mit dem schwarzenfeindlichen Rassismus begründet, obgleich diese Verbindung nicht ausgeschlossen wird. Auch sind viele historische Assoziationen nicht von der Art, die Historiker und Historikerinnen akzeptieren würden. Der Reisebericht veranlasst uns vielmehr dazu, eine metonymische Kette multipler Identifikationen, die über eher zufällige historische, geografische und literarische Assoziationen funktioniert, anzuerkennen; bei Phillips ist, wie bei Schwarz-Bart, der Anachronismus am Werk, allerdings auf gründlichere Weise. Der Wechsel von einer metaphorischen zu einer metonymischen Auffassung der Identifikation trägt dazu bei, den vermittelten Charakter von Phillips’ historischen Bezügen in den Vordergrund zu stellen: Die Konfrontation mit dem Holocaust erfolgt über eine Fernsehdokumentation; Venedig ist ebenso sehr ein literarischer Raum (das Venedig Shakespeares) wie ein geografischer Ort. Die Vorstellungen anomalen Erfolgs sowie der Singularität des schwarzen Mannes im Exil  – die dazu dienen, Othello und Phillips miteinander zu verbinden  –, scheinen das Risiko einer Beteiligung an jener »Verdrängung des kollektiven diasporischen Subjekts« zu beinhalten, die Khachig Tölölyan an einigen Strängen der gegenwärtigen Zelebrierung der Diaspora diagnostiziert.36 Zwar kennzeichnet eine Variante dieses Individualismus auch einen Großteil von Phillips’ – fiktionalen wie nicht-fiktionalen – Werken, doch der Diskurs des Exzeptionalismus koexistiert mit einer Anerkennung der Macht kollektiver Erfahrungen. Schließlich ist Othello nicht nur ein erfolgreicher Militärführer, der im Sold einer Weltmacht steht, sondern auch ein ehemaliger Sklave. Diese Gleichzeitigkeit von individuellem Erfolg, Angst vor der Kooptierung durch das imperiale Zentrum und einem unaufhebbarem Erbe kollektiven Leidens bietet eine Allegorie für Phillips’ eigene Reisen durch das Europa der Gegenwart und stellt eine Auseinandersetzung mit eben jenen Spannungen dar, die gegenwärtige Diaspora-Diskurse konstituieren. Phillips’ jüngere fiktionalen Werke setzen die Kartierung dieses neuen imaginären Terrains fort. Wie die Hinweise auf Lehrpläne, kanonische Literatur und Fernsehprogramme in The European Tribe bereits andeuten, beinhaltet das von Phillips 36 Siehe Khachig Tölölyan, Rethinking Diaspora(s): Stateless Power in the Transnational Moment, in: Diaspora 5 (1996) 1, S. 3–36, hier S. 29.

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

verfolgte Projekt diasporischer Kartierung eine Auseinandersetzung mit und Aneignung von multiplen Formen der Narration und der Textualität. Solche Akte der Auseinandersetzung und Aneignung sollen aus Geschichte und Identität allerdings nichts machen, was »besessen« werden kann, sei es von Individuen, sei es von Gruppen. Tatsächlich stellen Phillips’ Romane, wie Timothy Bewes argumentiert hat, radikale Akte der Enteignung dar; die Figuren »werden unfähig gemacht, ›authentisch‹, in eigener Sache oder mit eigener Stimme zu sprechen«.37 Wie Bewes mit Bezug auf die Romane Cambridge und Crossing the River (Über den Fluss) zeigt, verwendet Phillips durchgehend Klischees und »Bauchrednerei« anstelle von individualisierten, »realistischen« Stimmen, um eine »systematische Evakuierung jeder diskursiven Position« zu bewirken, »die Freiheit von der Verwicklung in den Kolonialismus beanspruchen könnte«.38 Bewes betont zwar zu Recht die Verstrickung in den Kolonialismus, die einen Großteil von Phillips’ Werk kennzeichnet, doch Phillips’ intertextuelle, anachronistische Ästhetik erzeugt auch eine umfassendere Auffassung von Mitschuld, setzt den Kolonialismus zu anderen Geschichten in Beziehung und bereitet damit den Boden für die Artikulation multidirektionaler Erinnerung. Der multidirektionale Austausch findet jenseits der Formen kulturellen Besitzes statt, durch die Konkurrenzkämpfe um die Vergangenheit motiviert sind.

Verpasste Begegnungen: Higher Ground In The European Tribe erzählt Phillips, wie er infolge seiner spiegelbildlichen Identifikation mit der jüdischen Geschichte und insbesondere dem jüdischen Leiden unter den Nationalsozialisten zum Schreiben gekommen ist; in Higher Ground (Hochlage, 1989), seinem ersten Roman nach der Veröffentlichung von The European Tribe, und in The Nature of Blood (Die Natur des Blutes, 1997) kehrt Phillips zu einem verwandten Terrain zurück, um solche Identifikationen weiter zu fragmentieren. Das kritische Urteil zu Phillips’ »jüdischen« Romanen ist durchmischt: Einige Kritiker und Kritikerinnen haben darauf bestanden, dass »schwarz nicht gleich jüdisch« ist (um den Titel einer Rezension zu paraphrasieren), andere loben Phillips’ »Versuch, unterschiedliche Kulturen und Traditionen zu einem vielfältigen Ganzen zusammenzufügen«.39 Entgegen diesen Positionen besteht Phillips’ Projekt nicht darin, schwarze und jüdische Geschichte gleichzusetzen; vielmehr möchte er sowohl auf ähnliche strukturelle Probleme innerhalb dieser Geschichten als auch auf verpasste Begegnungen zwischen ihnen aufmerksam machen. Trotz ihrer Entwicklung hin zu einer stärker fragmentierten Form der Verbundenheit bewahren die fiktionalen Texte das Gefühl 37 Bewes, Shame, S. 43. 38 Ebenda, S. 46. 39 Der Hinweis auf die Buchrezension entstammt Zierlers Darstellung der kritischen Rezeption von Phillips’ Werk, in: Zierler, Caryl Phillips, S. 936 f. Das zweite Zitat entstammt Cheyette, Venetian Spaces, S. 63.

VERPASSTE BEGEGNUNGEN: HIGHER GROUND

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der Dringlichkeit, das der Identifikation von Schwarzen und Juden in dem früheren Reisebericht zugrunde liegt. Higher Ground besteht aus drei unzusammenhängenden, an Novellen erinnernden Teilen. Der erste Teil ist aus der Perspektive eines afrikanischen Mannes erzählt, der in einem Sklaven-Fort als Mittelsmann und Dolmetscher arbeitet. Der zweite Teil besteht aus den Briefen des Rudi Williams, eines afroamerikanischen Mannes, der die Black-Power-Philosophie während eines Gefängnisaufenthalts kennenlernt, zu dem man ihn in den späten 1960er-Jahren wegen des Diebstahls von vierzig Dollar im Zuge eines bewaffneten Überfalls verurteilt hat. Der Roman schließt mit der Geschichte von Irene, einer polnisch-jüdischen Frau, die nach England geflohen ist, ihre Familie im Holocaust verloren hat und mit Wahnsinn und Depression zu kämpfen hat. Die drei in sich geschlossenen Geschichten, aus denen Higher Ground besteht, gehen ineinander über und verweisen auf den Wunsch nach Kontakt über unterschiedliche Identitäten und Geschichten hinweg. In diesem Zusammenhang ist besonders relevant, dass Rudi bei dem Versuch, seine Lage zu verstehen, von Denkfiguren Gebrauch macht, die auf den Nationalsozialismus und den Holocaust Bezug nehmen, während Irene sich nach einer engeren Verbindung zu Louis sehnt, einem ihr wohlgesonnenen, aber distanzierten karibischen Einwanderer. Obwohl diese Charaktere auf unterschiedliche Weisen den Wunsch nach Kontakt an den Tag legen, inszeniert der Roman letztlich eine Reihe von verpassten Begegnungen. Bénédicte Ledent hat zwar gezeigt, dass sich gemeinsame Themen und Probleme durch die drei Romanteile hindurchziehen,40 doch was der Roman an Einheitlichkeit aufweist, geht in erster Linie von dem aus, was fehlt, sowohl zwischen den drei Teilen als auch innerhalb dieser. Der erste Teil, Heartland (Kernland), spielt zur Zeit des Sklavenhandels und führt das Thema der verpassten Begegnung ein. Der Erzähler, ein Afrikaner, der mit den Briten kollaboriert, versucht, sich innerhalb einer Situation höchster Not und radikaler Gewalt eine Zone der Normalität zu sichern. Nachdem er sich in ein Dorfmädchen verliebt hat, das vom Stellvertreter des Gouverneurs missbraucht worden ist, schleust der Erzähler das Mädchen (wie er sie nennt) in das Fort und versucht, innerhalb dieses Schauplatzes der Unmenschlichkeit ein »häusliches« Leben zu führen. Seine Pläne werden zweimal durchkreuzt: Zuerst entdeckt einer der Soldaten das Mädchen und nutzt ihre Angreifbarkeit sowie die des Erzählers aus, dann verrät der Soldat beide, und sie werden auf ein Sklavenschiff verbracht. Nach Amerika verfrachtet, findet sich der Erzähler als einer der »erstklassigen Neger-Heiden« auf dem Versteigerungsblock wieder, wo er sich »in die Dauerhaftigkeit [seiner] Trennung« von dem Mädchen fügt. In den letzten Zeilen des Buchteils erkennt er, dass seine »Gegenwart endlich zerbrochen ist; die Vergangenheit ist über den Horizont und außer Sichtweite geflohen.«41 Wie die Figuren, die Schwarz-Barts Romane bevölkern, ist der Erzähler ein aus der Heimat vertriebener, von der Geschichte gebrochener Mensch. Anders als Schwarz40 Siehe Ledent, Caryl Phillips, S. 54–79. 41 Caryl Phillips, Higher Ground: A Novel in Three Parts, New York 1989, S. 60.

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

Barts Figuren ist Phillips’ Protagonist allerdings weder ein unschuldiges Opfer noch ein heroischer Widerstandskämpfer oder Märtyrer. Insofern kann ich nicht der Aussage zustimmen, die Bryan Cheyette in einem ansonsten hervorragenden Aufsatz über Phillips formuliert, dass sich nämlich Phillips’ Werk durch die »Konstruktion einer endlosen Viktimisierung sowohl der jüdischen als auch der schwarzen Minderheiten« auszeichne.42 Vielmehr neigen diese Minderheiten dazu, einen Zwischenraum zu bewohnen, der sich durch Komplizenschaft und moralische Ambivalenz auszeichnet. Die verpasste Begegnung des Erzählers mit seiner Geliebten  – unvermeidbar angesichts seiner Verkennung der eigenen historischen Lage  – hat in den anderen beiden Buchteilen ihre Entsprechungen. Rudi, der Briefe schreibende Protagonist des zweiten Teils, The Cargo Rap (Der Fracht-Rap), ist zwar kein Kollaborateur der Unterdrückung, verkennt aber auf vergleichbare Weise die eigene historische Lage. Gewiss ist er als afroamerikanischer Mann aus der Arbeiterklasse ein Opfer desselben Systems der Rassifizierung, das in einer früheren Epoche das Leben des Erzählers von Heartland gefordert hat. Doch seine Versuche, in der Geschichte einen Ort für sich zu finden – Versuche, die aus den wenig großzügig angelegten Räumlichkeiten einer Hochsicherheitszelle heraus unternommen werden –, steigern nur das Ausmaß seiner Gefangenschaft. In Briefen an seine Angehörigen und die wenigen Fremden, die sich seiner Sache annehmen, setzt sich Rudi häufig mit Holocaust-Opfern gleich. In einem Brief an den Leiter seines »Verteidigungskomitees« stellt Rudi sich vor als jemand, der »in einem von ihnen [dem Staat] gewählten Konzentrationslager ein Jahr bis lebenslänglich« festgehalten werde (S. 92). Im Gefängnis, das Rudi wiederholt als »Belsen« bezeichnet (S. 69, 84, 145), erleidet er Folterpraktiken, die, wie er mutmaßt, mit denen des nationalsozialistischen Deutschlands vergleichbar sind (S. 72). Rudis Bezugnahmen auf den Holocaust sind letztlich weder der Geschichtsschreibung noch seiner eigenen Befreiung dienlich. Rudi nutzt zwar die »Gelegenheit« seiner Haft, um bedeutende Werke schwarzen, antikolonialen und linken Widerstands zu lesen, die er sämtlich und in einem selbstgerechten und didaktischen Ton seinen Angehörigen empfiehlt, doch er verfällt letztlich dem Wahnsinn und der Verzweiflung. Sein letzter Brief, an seine Mutter adressiert, nachdem diese bereits gestorben ist, zeigt, dass die Überidentifikation mit den Opfern des Holocaust auf einer anachronistischen Lesart der afroamerikanischen Geschichte beruht. In diesem wie im ersten seiner Briefe stellt sich Rudi vor, er sei ein Sklave, doch während die Begrifflichkeit der Sklaverei im ersten Brief metaphorisch gebraucht wird, wird die Metapher in dem verwirrten Zustand, in dem er seinen letzten Brief schreibt, wörtlich aufgefasst: »Liebe Mudda, / Der Aufseher hat ein Pferd namens ›Ginger.‹ Die Plantage ist weitläufig und erstreckt sich bis über den Horizont hinaus. […] Der Herr ist grausam, doch niemand ›kennt‹ ihn besser als seine Sklaven. Darin liegt Stärke« (S. 172). Abgesehen von der geschickt eingeschleusten Hegel-Anspielung legt Rudi in seinem letzten Brief eine komplexe, aber letztlich kontraproduktive Logik der Identifikation an den 42 Cheyette, Venetian Spaces, S. 60.

VERPASSTE BEGEGNUNGEN: HIGHER GROUND

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Tag; seine Identifikation mit jüdischen Opfern hat eine präfigurative Identifikation mit Sklaven und Sklavinnen zur Prämisse, durch die seine Identität überhaupt erst begründet wird. Solche Identifikationen können sich zwar, wie Schwarz-Barts Werke zeigen, als Quellen des Selbstseins erweisen, die Überleben und Widerstand ermöglichen, doch sie können auch in polarisierte und statische Diskurse münden, wenn jegliche Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben wird. Diskurse dieser Art wiederholen Trauma-Narrative mit solchem Nachdruck, dass diese Narrative zu strukturellen Eigenschaften der Gegenwart werden, und nicht etwa zu historischen Erbschaften, die sich aufarbeiten ließen. Wenn also Rudis »wiederholte Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus […] seine Entmenschlichung verstärken, indem sie an die Schrecken des Holocaust erinnern, die die letzte Geschichte [des dreiteiligen Romans] durchziehen«, wie Ledent geschrieben hat,43 dann gilt das in einem anderen als dem beabsichtigten Sinn. Phillips will darauf hinaus, dass ein Teil des Schreckens gerade in den »wiederholte[n] Bezugnahmen« besteht – nicht, weil Rudi der jüdischen Geschichte Gewalt antut, indem er sich nicht scheut, sie auf seine eigene Lage zu beziehen, sondern weil er sich selbst Gewalt antut, indem er sich in eine Rhetorik absoluter Viktimisierung verstrickt, die letztlich jegliche Handlungsfähigkeit beseitigt. Auch die geflohene Jüdin, durch deren Augen wir die Geschichte von Higher Ground (Hochland), dem dritten Teil des Romans erleben, bleibt eine Gefangene der Vergangenheit, allerdings aus ganz anderen Gründen. Im Gegensatz zu Rudi, der durch seine Überidentifikation sowohl mit der afroamerikanischen als auch mit der jüdischeuropäischen Geschichte zu seiner eigenen Gefangenschaft beiträgt, sieht sich »Irene« von der Spaltung überwältigt, die ihr Leben kennzeichnet. Diese Spaltung wohnt bereits ihrem Namen inne, oder auch dem, was sie als das »Irene-Irina-Irene-IrinaIrene-Irina-Irene-Problem« bezeichnet (S. 183). Aus Polen auf einem Kindertransport nach England verbracht, wird aus der jungen Irina schnell Irene, »denn die Leute in England waren zu faul, um ihre Münder oder ihre Zungen zu ungewohnten Stellungen zu verbiegen« (S. 183). Phillips unterstreicht den sich daraus ergebenden Bruch, indem er seine Protagonistin in Rückblenden als Irina, aber immer dann, wenn es um die Zeit seit ihrer Flucht nach England geht, als Irene bezeichnet. Von ihrer Familie, die von den Nationalsozialisten ermordet wurde, getrennt, und einzig um den Preis eines teilweisen Identitätsverlusts in die englische Gesellschaft assimilierbar, findet sich Irene in einer unglücklichen Ehe wieder, in der sie sich gefangen fühlt. Sie erleidet schließlich einen Zusammenbruch und kommt für zehn Jahre in eine psychiatrische Klinik. In der Gegenwart des Romans lebt sie in einer Pension und arbeitet in einer Bibliothek, fällt aber in den Wahnsinn zurück und soll erneut in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Ihre anhaltende Fremdheit scheint sie Louis nahezubringen, einem neu zugereisten westindischen Einwanderer, der unter der ihm fremden englischen Umgebung leidet. Die Logik der Erzählung scheint sich auf Kontakt und Bindung über schwarze und jüdische Differenzen hinweg zuzubewegen – eine Erwartung, die 43 Ledent, Caryl Phillips, S. 65.

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dadurch noch verstärkt wird, dass Irenes Lage mittels einer kolonialen Begrifflichkeit beschrieben wird, wie Ledent gezeigt hat (S. 68).44 Doch der Roman wendet sich erneut von dieser Möglichkeit der Erlösung ab: Schwarze und jüdische Geschichte überschneiden sich tatsächlich nicht, sondern nähern sich einander an, um sich dann wieder asymptotisch voneinander zu entfernen. Louis fühlt sich zwar zu Irene hingezogen, hat aber bereits beschlossen, in die Karibik zurückzukehren: »Sie berührte ihn, doch er wusste, dass er sich stählen und in die klare, schweißlose, frische, kalte, weiße, verschneite Nacht hinaustreten musste. […] In der Morgendämmerung würde er dann in die Männerherberge zurückkehren, seine Tasche abholen und abreisen. Es schien wahrscheinlich, dass diese Frau eine strenge Loyalität an den Tag legen, aber auch von ihm eine ebensolche Loyalität verlangen würde. Er würde ihre Treue niemals erwidern können. Jetzt nicht. Tut mir leid« (S. 216). Louis lehnt Irenes Kontakt- und Solidaritätsangebot ab – oder vertagt seine Annahme zumindest auf unbestimmte Zeit – und lässt eine »ohne nährende Liebe für immer verlorene« Irene zurück, die auf die Krankenschwester wartet, von der sie wieder in die Gefangenschaft, das heißt in die Klinik zurückgebracht werden wird (S. 218). Higher Ground ist in seiner Erkundung von Formen der Gefangenschaft, Vertriebenheit und rassifizierten Gewalt zwar thematisch aus einem Guss, verweigert jedoch jegliche rettende Auflösung des Geschehens oder umstandslose Analogisierung unterschiedlicher Geschichten und Identitäten. Noch während der Roman seine Leser dazu anregt, nach Verbindungen zwischen den drei Geschichten zu suchen, grenzt er diese zugleich voneinander ab, wie in der verpassten Begegnung von Irene und Louis besonders deutlich wird. In der letzten Geschichte sind Differenzen des Geschlechts, des gesellschaftlichen Status (als Flüchtling oder Migrant), der Ethnizität und der Nationalität letztlich wirkmächtiger als die Gemeinsamkeiten, aufgrund derer sich die beiden Figuren zueinander hingezogen fühlen. Es zeigt sich, dass Viktimisierung nicht die beste Grundlage für Solidarität ist, da Viktimisierungsprozesse verschiedene, auch widersprüchliche Formen annehmen können und jene Grundlagen des Selbstseins erodieren, ohne die es keine Beziehungsfähigkeit geben kann (wie Rudis Abstieg in die Fantasie und Irenes in den Wahnsinn veranschaulichen). Hinzu kommt, was der Fall des Erzählers von Heartland zeigt: dass der Opferstatus keinerlei Schutz vor Mitschuld bietet und auch nicht verhindert, andere Subjektpositionen einzunehmen, etwa die des Kollaborateurs. Wird die Viktimisierung in Schwarz-Barts Romanen eine geradezu metaphysische Kategorie, die Menschen über Jahrhunderte und Kontinente zu einen vermag, so erweist sich die Position der Opfer in Higher Ground als instabil und wechselhaft, und damit als ungeeignet für die Schaffung wohlfeiler Verbindungen.45 44 Ebenda, S. 68. 45 Das Werk von William Gardner Smith, das ich in Kapitel 8 erörtere, erkundet ebenfalls die Frage der Mitschuld und den schwierigen Aufbau von Solidarität zwischen Schwarzen, Juden und, in William Gardner Smith’ Fall, Arabern.

INTERTEXTUALITÄT UND STRATIFIZIERTE MINORISIERUNG

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Intertextualität und stratifizierte Minorisierung: The Nature of Blood

Als Phillips einige Jahre später viele der in Higher Ground behandelten Fragen wieder aufgreift, erinnert die Art, wie er die Verflechtung unterschiedlicher Traumata erkundet, noch stärker an das Werk von Schwarz-Bart, setzt sich aber gleichzeitig auch deutlich davon ab. In The Nature of Blood (Die Natur des Blutes, 1997) gestaltet Phillips das Material von The European Tribe, Higher Ground und vielen anderen Texten neu, um ein fiktionales Narrativ zu schaffen, das sich über einen Zeitraum von vierhundert Jahren erstreckt und das nationalsozialistische Deutschland mit dem Italien des 15. und 16. Jahrhunderts sowie mit dem Israel der Gegenwart verbindet. Im Mittelpunkt des Romans steht Eva Stern, eine junge deutsch-jüdische Frau, die die Vernichtungslager überlebt, um dann, wie Irene, nach dem Krieg dem Wahnsinn und einem tragischen Ende in England zu verfallen. Wir lernen auch Evas Onkel Stephan kennen, einen Arzt, der Europa vor dem Krieg verlässt und Teil des jüdischen Untergrunds in Palästina wird; viele Jahre später taucht er in Israel auf. Eine solche Handlung wäre bereits recht überraschend für den Roman eines afrokaribisch-britischen Autoren, dessen erste Werke vor allem die Geschichte des schwarzen Atlantik behandeln. The Nature of Blood geht jedoch in seiner Beschäftigung mit Geschichte und Identität noch weiter. Die Geschichte der Sterns wird verflochten mit dem an eine Chronik erinnernden Bericht über einen Ritualmordfall im Venedig des 15. Jahrhunderts und der in der ersten Person formulierten Erzählung eines gewissen Othello. All dies wird in einem fragmentierten Text entfaltet, der sich durch rasche Perspektivwechsel, dichte Intertextualität und den Wechsel von sorgfältig konstruierten historischen Milieus zu gewollten Anachronismen auszeichnet. Ausgehend von derselben Assoziationskette, die auch den verflochtenen Geschichten von Schwarzen und Juden in The European Tribe zugrunde liegt, erweitert The Nature of Blood die Erkundung diasporischer Identität, die sich bereits im früheren Buch findet. Am frappierendsten an dem Roman ist die narrative Form, die diese Erkundung annimmt. Der Roman bedient sich mehr als eines Dutzends unterschiedlicher Erzählstimmen und wechselt mehrere dutzend Mal die Perspektive. Er bringt darüber hinaus eine ausgeprägt interdisziplinäre Reihe kognitiver Gattungen zum Einsatz, von der klinischen Diagnose, die Evas Arzt in England stellt, über eingeschobene Wörterbuchdefinitionen bis hin zu dem in einer verstörend blasierten, historischen Stimme erzählten Ritualmordfall. The Nature of Blood zeichnet sich durch die Diskontinuität zwischen verschiedenen Wissens- und Gewaltformen aus und zeigt neue Möglichkeiten, die Bezüge dessen zu denken, was vermeintlich nicht aufeinander bezogen werden kann. Wie ist die Nebeneinanderstellung der Geschichten in The Nature of Blood zu verstehen? Wie in The European Tribe mit seiner Inszenierung zweier ungleicher Identifikationsformen finden sich auch in The Nature of Blood zwei unterschiedliche Logiken des Vergleichs. Einerseits verweist der Titel auf eine Gemeinsamkeit, die die

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verschiedenen Geschichten insofern eint, als diese im Wesentlichen als unterschiedliche Varianten ein und derselben Geschichte erscheinen. Eine transhistorische, rassistische Vorstellungswelt, die besessen ist von der Reinheit des Blutes, scheint die diversen jüdischen und schwarzen Opfer über die Zeit hinweg zu verbinden. Dieser Eindruck der Gemeinsamkeit wird durch bestimmte textuelle Echo-Effekte verstärkt, die die Geschichten miteinander verbinden  – etwa wenn Juden und Jüdinnen aus dem Portobuffole des 15. Jahrhunderts dasselbe Gebet aufsagen, während sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, wie Juden und Jüdinnen, die in einem nationalsozialistischen Lager eintreffen (S. 155, 164), oder wenn Evas Selbstmord an den Othellos erinnert. Wäre diese Logik die vorherrschende, dann würde der Roman Gefahr laufen, eben jenen rassistischen Diskurs zu reproduzieren, den er offenkundig anfechten will. Letztlich erweisen sich jedoch – gewollt oder ungewollt – die Unterschiede zwischen den Geschichten gegenüber der vom Titel angedeuteten Ähnlichkeit als wirkmächtiger. Der Fokus liegt nicht in erster Linie auf der einfachen Dichotomie von Tätern und Opfern rassistischer Gewalt. Vielmehr erweist sich der Roman als Erkundung ambivalenter Modi der Zugehörigkeit und des Ausschlusses, bei denen zufällige Kontiguität eine bedeutendere Rolle spielt als die Korrespondenz historischer Wesenskerne. Das erste Wort in The Nature of Blood lautet »between« (»zwischen«) (dies ist übrigens auch das erste Wort im Haupttext von Du Bois’ Die Seelen der Schwarzen), und der Roman beginnt tatsächlich in den Zwischenräumen, in einem Grenzbereich zwischen Geografien und Geschichten. Die erste Episode spielt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn einer neuen Epoche, auf der Insel Zypern, die noch von verschiedenen Nationen beansprucht wird, zwischen Europa, Afrika und dem Nahen Osten, in Lagern, die die Briten für jene Flüchtlinge eingerichtet haben, denen die Einreise nach Palästina verweigert worden ist. Stephan, der Arzt, spricht zu einem jungen Überlebenden der nationalsozialistischen Lager namens Moshe: »Zwischen uns brannte ein kleines Feuer. […] Das neue Anzündholz zerbrach, und die Flammen stiegen höher und erhellten das Gesicht des Jungen. Er sprach leise. ›Sag mir, was wird der Name des Landes sein?‹ ›Unseres Landes,‹ sagte ich. ›Es wird auch dir gehören.‹ Der Junge blickte auf den Boden hinab und kratzte dann mit seinem großen Zeh eine kurze, nervöse Linie in den Sand. ›Sag mir, was wird der Name unseres Landes sein?‹ Ich hielt einen Augenblick inne, in der Hoffnung, dass er sich beruhigen würde. Dann flüsterte ich ihm zu, als handle es sich um ein Geständnis: ›Israel. Unser Land wird Israel heißen.‹«46 46 Caryl Phillips, The Nature of Blood, Boston 1997, S. 3.

INTERTEXTUALITÄT UND STRATIFIZIERTE MINORISIERUNG

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In dieser Episode beschreibt Phillips den Moment des Übergangs, an dem sich ein kollektives »Wir« formiert, an dem eine neue Nation imaginiert und aus einem nicht-nationalen Raum heraus benannt wird. Die Erzählung hebt an zwischen den letzten Tagen eines Kolonialregimes und der Gründung eines neuen Staates, der von einigen mit Unabhängigkeit und Heimkehr assoziiert, von anderen als Rekolonisierung, Katastrophe und Vertreibung erlebt werden wird. Der Roman verlässt zwar bald das Zypern des 20. Jahrhunderts, doch die von diesem Auftakt evozierten räumlichen und zeitlichen Spannungen bleiben erhalten. Tatsächlich führt die zweite Romanhälfte nach Zypern zurück, als Othello dorthin segelt, um sich der Bedrohung Venedigs durch das Osmanische Reich entgegenzustellen. Dabei wird deutlich, dass Othello, wie bereits in The European Tribe, eine doppelte Position innehat. Er ist zweifellos in Venedig als »Fremder« identifiziert worden und hat darunter gelitten, doch er wird auch als jemand gezeichnet, der einen Willen zur Assimilation zeigt und die Bereitschaft, sich ausbeuten zu lassen im Kampf gegen andere, »gefährlichere« Außenseiter. Nachdem er in Zypern angekommen ist, entdeckt Othello, dass die Osmanische Flotte in einem Sturm Schiffbruch erlitten hat, was ihm erlaubt, über seine dortige Situation nachzudenken: »Diese Insel Zypern, auf der mich das Schicksal in körperlicher und geistiger Sicherheit hinterlassen hatte, sollte mir als Schule dienen, in der ich die Sitten Venedigs weiter studieren konnte, bevor ich schließlich in die Stadt zurückkehrte, um mein neues Leben zu beginnen. Meine erste Handlung als General und Gouverneur bestand jedoch darin, anzuordnen, dass die Feierlichkeiten innerhalb einer Stunde beginnen sollten, um sowohl das Ertrinken des ketzerischen Türken als auch die glückliche und zufällige Heirat ihres Kommandanten mit der schönen Desdemona zu feiern« (S. 166). Das Zusammenfallen von Tod und Heirat scheint Othello nicht weiter zu stören oder ihn von seinen Schwelgereien abzulenken. Indem er andeutet, dass sich die Konsolidierung von Othellos Identität als »schwarze Erfolgsgeschichte in Europa« durch die Inbesitznahme eines »gerechten« Preises vollzieht, durch die Mimikry normativer Sitten und das tödliche Verschwinden einer anderen »fremden« Gruppe, eröffnet Phillips eine Kritik des minoritären Bewusstseins unter diasporischen Bedingungen.47 Phillips’ Werk ist keine einfache Zelebrierung des diasporischen Bewusstseins. Die kontingente Assoziierung der beiden Zypern erlaubt es Phillips vielmehr, den formalen Problemen jenes diasporischen Subjekts nachzugehen, das sich an einem ambivalenten Ort zwischen Heimat und Exil befindet. Das historische Palimpsest Zyperns bietet einen imaginären Raum, in dem neu durchdacht werden kann, wie sich binäre Beziehungen – etwa Selbst/Anderer oder Opfer/Täter – zu komplizierteren Konfigurationen entwickeln, sodass neue Figuren ins Blickfeld rücken: der Andere 47 Eine relevante und erhellende Untersuchung der Figur Othellos in Shakespeares Quellentext, unter Betonung der Überschneidungen von »Rasse«, Religion und Gender, bietet Ania Loomba, Othello and the Racial Question, in: dies., Shakespeare, Race, and Colonialism, New York 2002, S. 91–111.

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des Anderen, das Opfer des Opfers. Phillips teilt offenkundig Schwarz-Barts Wunsch, Formen des Vergleichs und der interkulturellen Bezogenheit zu erkunden, doch die von den beiden Autoren imaginierten Figuren unterscheiden sich erheblich voneinander. Aus der historisch späteren Perspektive der Texte von Phillips erweisen sich SchwarzBarts Versuche, die statischen Dichotomien zu vermeiden, die die Geschichten verschiedener ethnischer Gruppen trennen, als mangelhaft, da sie unwillentlich solche Dichotomien wie Widerstand/Unterdrückung oder Opfer/Viktimisierer reproduzieren. Die mythische Romanfigur Solitude repräsentiert, wie die Schwarzen und Juden in Schwarz-Barts Texten im Allgemeinen, eine reine Viktimisierung sowie den heroischen, aber auch suizidalen Widerstand gegen eine überragende Macht. Insofern Schwarz-Barts Werk auf solchen Dichotomien begründet ist, partizipiert es an dem, was Susan Koshy als »die Rassenpolitik der 1960er-Jahre« bezeichnet hat. Koshy befasst sich zwar vor allem mit Kämpfen innerhalb der Vereinigten Staaten und erwähnt an keiner Stelle Juden oder Jüdinnen. Ihre Analyse beschreibt dennoch allgemeine Verschiebungen in der Konzeptualisierung von »Rasse« und Ethnizität und kann dazu beitragen, den Gegensatz von Schwarz-Bart und Phillips zu erhellen. In den 1960er-Jahren war das Konstrukt einer »parallelen Minoritisierung« zu beobachten, das »die Vorherrschaft der Weißen infrage stellte, indem es den Gegensatz von weißer und nicht-weißer Positionalität postulierte und jede theoretische Aufarbeitung des Verhältnisses ethnischer Minderheiten, die sich außerhalb dieses Rahmens bewegte, strategisch vertagte«. In den 1980er-und 1990er-Jahren sollte die Betonung dann eher auf einer »stratifizierten Minoritisierung« liegen, und zwar infolge des Zusammenbruchs jener »koalitionären Rationalität, auf der die strategischen Bündnisse von people of color während der 1960er-Jahre beruht hatten«.48 In Die Mulattin Solitude und anderswo bemüht Schwarz-Bart parallele Minoritisierung als eine Form koalitionärer Rationalität, während sich die Schwierigkeit, diesen Parallelismus aufrechtzuerhalten, zugleich in der Vervielfachung anachronistischer, nicht-paralleler Figuren äußert, mittels derer er sein Vorhaben schildert. Dagegen schreibt Phillips aus einer Situation heraus, in der die Widersprüche zwischen und innerhalb minoritärer Gruppen eine auf offenkundigere Weise stratifizierte Kartografie der Minoritisierung hervorgebracht haben. In The Nature of Blood stören die Figuren Othellos und Stephans das Narrativ minoritären Widerstands, das den Texten und Dichotomien Schwarz-Barts zugrunde liegt, indem sie Solitude und die Märtyrer des Warschauer Aufstands in Erinnerung rufen. Wie Othellos Rede auf Zypern bereits angedeutet hat, bietet Othello bestenfalls ein zweideutiges Modell minoritärer Subjektivität. Anders als die erniedrigte und stumme Solitude, die, ihrem hybriden Status als »Mulattin« zum Trotz, als der Macht vollkommen äußerlich gezeichnet wird, wird Othello zum Musterbeispiel jenes minoritären Subjekts, das in die Räume der Macht migriert ist: »Ich hatte mich 48 Susan Koshy, Morphing Race into Ethnicity: Asian Americans and Critical Transformations of Whiteness, in: boundary 2 28 (2001) 1, S. 153–194, hier S. 155.

INTERTEXTUALITÄT UND STRATIFIZIERTE MINORISIERUNG

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vom Rand der Welt in ihr Zentrum bewegt. Von den dunklen Rändern an einen Ort, an dem selbst die schwächsten Strahlen der Abendsonne eingefangen und in Glanz und Gloria zurückgestrahlt wurden. Ich […] war aufgerufen worden […], in der Mitte des Reiches zu stehen« (S. 107). Diese Bewegung in das Zentrum des Imperiums könnte als Vorwegnahme jener Arten von postkolonialer Migration verstanden werden, durch die Westinder wie Phillips in die Metropole gelangt sind. Auf einer weniger wörtlichen Ebene wird damit eine allgemeinere Bewegung kartiert, durch die ehemals Kolonisierte und Versklavte einen stratifizierten Raum sich überschneidender Formen von Komplizenschaft und Widerstand betreten  – einen Raum, der sowohl die assimilierte »vorbildliche Minderheit« als auch die Elite der neuen postkolonialen Staaten beherbergt. Phillips’ Kritik der Diaspora impliziert jedoch nicht die Existenz einer akzeptablen Alternative. Wie für Stephan und die Holocaust-Flüchtlinge ist Zypern auch für Othello nur eine Zwischenstation, ein Punkt zwischen dem Zustand des Exils und einem ersehnten Zuhause. In beiden Fällen wird sich dieser Zwischenzustand jedoch als Endzustand erweisen. Nicht in dem Sinn, dass die Romanfiguren auf Zypern bleiben werden (Stephan reist wieder ab), sondern vielmehr indem sich der Endpunkt ihrer Reise als ebenso unbefriedigend erweisen wird wie die vorherigen Stationen. Stephan begegnen wir ganz am Schluss des Romans im heutigen Israel wieder, wo er einsam lebt und unter der Abwesenheit seiner ermordeten Nichten sowie der Familie leidet, der er zugunsten Palästinas den Rücken gekehrt hat. Die Gesellschaft, in der er lebt, wird als eine von »Rasse« heimgesuchte und gespaltene gezeichnet. Der Roman bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Notlage der Palästinenser und Palästinenserinnen, doch deren Anwesenheit liegt von der ersten Seite an wie ein Schatten über dem Text, und Phillips hat dieses Problem an anderer Stelle angesprochen. Der Roman endet allerdings damit, dass der gealterte Stephan die Bekanntschaft einer viel jüngeren äthiopischen Frau macht. Die völlige Verständnislosigkeit, mit der sich die beiden begegnen, evoziert ebenso wie die bittere Armut und Hoffnungslosigkeit der Äthiopierin eine vielfach stratifizierte Gesellschaft, die weit entfernt ist vom dem Gelobten Land, das Stephan auf Zypern beschworen hat. Die Rückkehr in die »Heimat« stellt keine Lösung dar in den Welten, die Phillips schafft und über die er berichtet (das wird in einem jüngeren, zwischen verschiedenen Gattungen sich bewegenden Werk, The Atlantic Sound, besonders deutlich). Dagegen ist das Ende Othellos derart bekannt, dass Phillips es nicht einmal erzählen muss. Othellos Selbstmord wird vielmehr auf Eva übertragen, die Überlebende der nationalsozialistischen Lager, die den Bezug zur Realität verliert, nachdem ihre näheren Angehörigen der Shoah zum Opfer gefallen sind. Abgesehen von ihrem Ende hat Evas Geschichte mit Othellos nicht viel gemeinsam, doch gleicht Eva Othello darin, dass beide eher Produkte der literarischen Fantasie als historische Persönlichkeiten sind. Obwohl der größte Teil des Romans aus Evas Perspektive erzählt ist, wird sie letztlich auf eher indirekte Weise dargestellt. Beispielsweise sind die Abschnitte

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

über den Holocaust von intertextuellen Anleihen aus den Berichten von HolocaustÜberlebenden wie Primo Levi und Elie Wiesel, aber auch aus den Schriften anderer jüdischer Autoren und Autorinnen, etwa Cynthia Ozick, durchzogen. Das Mäandernde der in diesem Roman gegebenen Darstellung des Genozids wird noch ausgeprägter, je mehr sich Phillips dem Zentrum der Katastrophe nähert. Als Eva den Viehwaggon betritt, mit dem sie in die Vernichtungslager verbracht wird, wechselt die Erzählung von der ersten zur dritten Person und dann wieder zurück (S. 155, 163). Während der Zug sich den Lagern nähert und sich dann in diese hineinbegibt, beginnt die Erzählung, in eine Ansammlung zerstreuter Stimmen zu zerfallen: »Der Güterwaggon befand sich in der Nähe der Lokomotive, sodass Eva zuhören konnte, wie die Lokomotive leiser wurde. Stille. Die Welt blieb still. Und dann, einige Stunden später, ein Dröhnen und Schaudern, und wieder einmal zerrte die Lokomotive gegen das Gewicht des Zuges. […] Ein langgezogener Pfiff. Dann ein lautes Krachen und ein Ruckeln. Gebellte Befehle hallten durch die Dunkelheit. Dann rollen die Türen der Güterwaggons auf. […] Schon schallen aus einem Lautsprecher Anweisungen zum Entfernen aller Kleidungsstücke. Prothesen und Brillen entfernen. Schuhe zusammenbinden. Nicht deklarierte Wertgegenstände abgeben und die Quittung entgegennehmen. Kinder gehen mit den Frauen. Wo sind wir? Die Dünnen und die Behinderten, hier entlang, bitte. Alle Goldringe, Füllfederhalter und Ketten. Aufrollen. Wo ist Gott? Wo ist dein Gott? […] Ein uniformierter Jugendlicher tritt einen alten Mann. Dann lacht er. Der alte Mann bleibt stehen und starrt. Ich bin dein Vater. Er lädt seine Waffe nach. Ich bin dein Vater. Jedes Mal, wenn er schießt, lacht der junge Mann lauter.« (S. 161 f.)

In dieser Textpassage erkennen wir das dunkle Gegenstück der Identifikationsepisode aus The European Tribe. Hier schaffen Vermittlung und Intertextualität keine Möglichkeiten der Identitätsbildung und Solidarität, sondern indizieren vielmehr eine Entmenschlichung. Beispielsweise stellen die Bezugnahmen auf den jiddischen Titel von Wiesels Memoiren (Un di Velt Hot Geshvign, »Und die Welt hat geschwiegen«) sowie auf die archetypische Infragestellung Gottes und den Vater/Sohn-Konflikt in diesen Memoiren weniger den Versuch dar, sich auf das maßgebliche Zeugnis eines Holocaust-Überlebenden zu beziehen. Vielmehr inszenieren sie den Zusammenbruch jeglicher (patriarchalen) Autorität angesichts einer unmenschlichen, genozidalen Maschine. Die zerstreuten Stimmen des Narrativs entsprechen der körperlosen Stimme aus dem Lautsprecher und ihrem Befehl, einen bereits künstlichen Körper zu zerlegen. Natürlich weist Phillips’ Ansatz eine implizite und vielleicht angemessene Bescheidenheit auf. Er versucht sich nicht an der realistischen Darstellung einer Szene, die er niemals wird kennen können; so wird der endgültige Schauplatz des Grauens, die Gaskammer, in einer distanzierten und asubjektiven, in der dritten Person sprechenden Stimme beschrieben (»Der Vorgang der Vergasung vollzieht sich auf

INTERTEXTUALITÄT UND STRATIFIZIERTE MINORISIERUNG

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folgende Weise« [S. 176]).49 Besonders bedeutsam ist, dass Phillips’ allgemeine intertextuelle Herangehensweise an die Geschichte auf der formalen Ebene zwei Dinge bewirkt: Sie evoziert eine Erzählform, die sich weigert, die von ihr porträtierten Brüche zu beschönigen, und sie öffnet sich für die globale Zirkulation der Erinnerungen, jenseits von Konkurrenz und identitärem Konflikt. Bei der indirekten, intertextuellen Technik des Romans geht es nicht nur um ein verspieltes postmodernes Potpourri. Vielmehr verweist dieser indirekte Modus auf eine weitere entscheidende Eigenschaft jenes diasporischen Zustands, den Schwarze und Juden gemeinsam haben: Im Grenzfall scheitern alle Formen metaphorischer Identifikation an der Diaspora, da diese in einer traumatischen Geschichte verwurzelt ist oder vielmehr von ihr entwurzelt wird.50 Zwar kann Trauma, wie Cathy Caruth schreibt, als das »eigentliche interkulturelle Band« fungieren, doch dieses Band hat eine vorangegangene Gewalt zur Prämisse, die den Verlust als Ursprung der Diaspora festschreibt.51 Verlust – von LaCapra auf hilfreiche Weise von Abwesenheit unterschieden – hängt mit den Besonderheiten des historischen Traumas zusammen. Jede metaphorische Identifikation mit spezifischen Verlusten wird stets eine Art von Gewalt vollziehen. Die Strategie von Phillips besteht nun aber darin, bestimmte Verluste einander durch indirekte Evozierung Seite an Seite zu stellen – etwa die von Eva und Othello oder die der Juden des 15. und des 20. Jahrhunderts. Diese indirekte, metonymische Form der Bezugnahme auf nicht darstellbare, extreme Gewalt ist nicht nur ein Merkmal der Kontingenzen diasporischer Geografien, sondern zeigt auch die Brüche traumatischer Geschichte an. In ihrer »Anwesenheit« ist diese Geschichte auf bedeutsame Weise eine »verlorene« und endgültig unwiederbringbar, doch ihre Wirkungen machen sich dennoch bemerkbar.52 Die von The Nature of Blood indizierten Brüche traumatischer Geschichte treten besonders deutlich hervor, so man sie mit dem vielleicht bedeutendsten unausgewiesenen intertextuellen Bezug des Romans vergleicht: Schwarz-Barts Der Letzte der Gerechten. Wie Phillips’ Werk verbindet auch 49 Evas eigener Tod ereignet sich allerdings nicht in den Lagern oder Gaskammern, sondern in England, wohin sie sich in einem wahnsinnigen und verblendeten Versuch begeben hat, einem britischen Soldaten wiederzubegegnen, den sie nach Kriegsende kennengelernt hat. Die unheimliche Anwesenheit der Überlebenden im England der unmittelbaren Nachkriegszeit stößt auf völliges Unverständnis. Wie wenig Eva verstanden wird, zeigt nicht nur das rüde Verhalten Gerrys, des Soldaten, sondern auch die kursiv gesetzte Erzählung von Evas wohlwollendem, aber verdutztem Arzt (S. 156 f., 172 f., 186). 50 Ich habe das Verhältnis von Intertextualität, Trauma und Erinnerung in einem Aufsatz über Toni Morrisons Roman Solomons Lied in einer Begrifflichkeit beschrieben, die auch auf The Nature of Blood anwendbar ist. Siehe Michael Rothberg, Dead Letter Office: Conspiracy, Trauma, and Song of Solomon’s Posthumous Communication, in: African American Review 37 (2003) 4, S. 501–516. 51 Cathy Caruth, Trauma and Experience: Introduction, in: dies. (Hrsg.), Trauma: Explorations in Memory, Baltimore 1995, S. 11. 52 Diese Art von indirekter Bezugnahme gleicht dem, was ich in einer Untersuchung der Memoiren von Holocaust-Überlebenden als »traumatischen Realismus« bezeichnet habe. Siehe Rothberg, Traumatic Realism, Kapitel 3 und 4.

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

das von Schwarz-Bart die mittelalterliche mit der neuzeitlichen Judenverfolgung. Trotz der multidirektionalen Quellen, die Schwarz-Barts Textkomposition angeregt haben, stellt Der Letzte der Gerechten diese Verbindung in Form der tausendjährigen »Familiengeschichte« der Levys dar, wie sie sich in einer kontinuierlichen Chronik von Pogromen, Verfolgungen und Autodafés entfaltet. Eine solche kontinuierliche Erzählform kann den traumatischen Verlusten, die solche Ereignisse hervorrufen, nicht gänzlich gerecht werden. Sie riskiert, eine Variante dessen zu werden, was Eric Santner als »narrativen Fetischismus« bezeichnet hat, wie das in der Tat auch die disjunktivere Erzählform von Die Mulattin Solitude nahelegt.53 Indem er die Kraft und Form der Diskontinuität anerkennt, dekonstruiert Phillips Schwarz-Barts ersten Roman: Er nimmt ihn auseinander und setzt ihn neu zusammen. Dabei wahrt er die Berührungspunkte zwischen unterschiedlichen Verfolgungsgeschichten, ohne sie als Elemente einer totalisierbaren kollektiven Biografie zu zeichnen. Diese Verweigerung gegenüber dem narrativen Fetischismus erklärt auch zumindest teilweise, weshalb verpasste Begegnungen in Higher Ground so sehr im Mittelpunkt stehen, handelt es sich bei ihnen doch – nach Darstellung von Lacans Psychoanalyse – um eine der Formen, in denen Trauma »sich zeigt«. In Der Letzte der Gerechten macht Schwarz-Bart von der in Entwicklung begriffenen Zeitlichkeit der Chronik Gebrauch (wenngleich er diese Zeitlichkeit an späterer Stelle, im Epilog von Die Mulattin Solitude, auch verkompliziert); Phillips lässt sich dagegen im multitemporalen Raum einer »anthologischen« Ästhetik verorten, um eine von Rebecca Walkowitz entwickelte Begrifflichkeit aufzugreifen. Walkowitz ordnet das Werk von Phillips einer im Entstehen begriffenen Kategorie bewusst globaler Werke zu, die sie als »Literatur des Vergleichs« bezeichnet. Wie sie schreibt, misstraut Phillips jedem Anspruch auf Einzigartigkeit, doch setze er sich bis heute mit »Debatten über historische Besonderheit auseinander, etwa mit der Debatte, ob man den Holocaust sinnvoll mit anderen Fällen von Rassismus und Genozid vergleichen kann«.54 In seiner Auseinandersetzung mit dieser Dialektik von Besonderheit und Vergleich wende sich Phillips insbesondere der Form der Anthologie zu: »Phillips’ Romane und nicht-fiktionale Werke sind insofern wie Anthologien, als sie Geschichten von Rassismus, Sklaverei, europäischem Antisemitismus und jüngerer Gewalt gegen Einwanderer aufgreifen und zusammentragen. Im Gegensatz zu anderen Anthologien, die eine einzige Serie schaffen, neigen Phillips’ Bücher dazu, verschiedene interne Mikroserien zu befördern. Seine Bücher tragen nicht nur die Lebensgeschichten unterschiedlicher Migranten zusammen, sondern stellen auch das Leben eines jeden einzelnen Migranten, einschließlich des Lebens des Autors, als eine weitere aus zusammengetragenen Elementen zusammengesetzte Erzählung dar.«55 53 Siehe Eric Santner, History Beyond the Pleasure Principle: Some Thoughts on the Representation of Trauma, in: Saul Friedlander (Hrsg.), Probing the Limits of Representation: Nazism and the »Final Solution«, Cambridge 1992, S. 143–154. 54 Walkowitz, The Location of Literature, S. 537. 55 Ebenda, S. 539.

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Der unendliche Regress der Mikroserien – also die Tatsache, dass jedes Element der Serie wiederum aus einer eigenen Serie besteht, und das ad infinitum – unterscheidet Phillips’ Ästhetik anthologischer Akkumulation von den parallelen Serien, auf die wir in den Beschwörungen des Warschauer Ghettos in Die Mulattin Solitude und selbst noch in Du Bois’ The Negro and the Warsaw Ghetto stoßen. Phillips’ Werk hält dem Vergleich mit den Überlegungen zur Lage von Minderheiten, die Du Bois und Schwarz-Bart in früheren Jahrzehnten angestellt haben, durchaus stand. Die von Phillips beschriebene Lage weist aber – ebenso wie die zu ihrer Beschreibung gebrauchten Mittel  – über die von Du Bois und Schwarz-Bart eingesetzten Tropen und Formen hinaus. In dem Ausmaß, in dem die Stabilität eines einzelnen normativen Kulturzentrums verloren geht, büßen auch Formen wie das doppelte Bewusstsein und die parallele Minorisierung an Klarheit ein. Phillips schreibt aus einem zeitgenössischen Moment heraus, in dem die Kommunikationsund Transportmittel weit mehr globalisiert worden sind, als man sich in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren, die Zeit Schwarz-Barts Schaffens, vorstellen konnte, ganz zu schweigen von der Jahrhundertwende, als Du Bois erstmals seinen Begriff des doppelten Bewusstseins prägte. Neue Formen kulturellen und wirtschaftlichen Austausches vervielfachen die Möglichkeiten der Identifikation mit den Geschichten anderer Menschen. Die Vielzahl der Kommunikationsmittel bedeutet aber auch, dass die Pfade der Identifikation nur schwer zu stabilisieren oder auf binäre Formen der Substitution zu begrenzen sind. Die verschiedenen Geschichten der Ruinen, die Du Bois, Schwarz-Bart und Phillips erzählen – Geschichten von Genozid, Sklaverei, Alltagsrassismus und staatlicher Macht –, sperren sich gegen jegliche Gleichsetzung. Selbst wenn solche Geschichten innerhalb eines Textes zusammengeführt werden, kann ihr Nebeneinander eher die Unterschiede zwischen ihnen hervortreten lassen als sie in banaler Gleichsetzung miteinander zu verschmelzen. Werden die Rhetorik der Einzigartigkeit sowie die getrennten Bereiche von post-Holocaust und postkolonialer Literaturwissenschaft im Namen multidirektionaler Erinnerung infrage gestellt, dann sollte das nicht zur Glättung von Widersprüchen führen, sondern zu einer deutlicheren Wahrnehmung des widerspruchsvollen Terrains, auf dem sich Erinnerungen überschneiden und aufeinanderstoßen. Jeder der hier untersuchten Autoren und Texte kämpft gegen die Grenzen seiner eigenen Zeit sowie der von dieser Zeit gebotenen Möglichkeiten, komparativ über historisches Trauma und dessen Erbschaften nachzudenken. Die begrifflichen und formalen Neuerungen von Du Bois, Schwarz-Bart und Phillips bezeugen die Schwierigkeit, aus den für selbstverständlich genommenen Rahmungen historischen und kulturellen Verstehens auszubrechen. Indem sie anachronistisch durch die Ruinen und Traumata der Moderne streifen, zwingen sie ihre Leser, sich jenen Gewalterbschaften zu stellen, die jenseits der Orte und Zeiten der Geschichtsbücher und Fernsehdokumentationen fortbestehen. ***

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5. ANACHRONISTISCHE ÄSTHETIK

Mit dem Übergang von Du Bois, Schwarz-Bart und Phillips zu den nächsten beiden Abschnitten vollzieht Multidirektionale Erinnerung eine bedeutende Wende. Ich gehe nun vom Fokus auf die frühe Nachkriegszeit, der meine bisherigen Erörterungen weitgehend bestimmt hat, über zu einer näheren Betrachtung des Zeitpunkts um 1961, als die antikolonialen Bewegungen auf dem Höhepunkt waren und das Holocaustgedenken dank des Eichmann-Prozesses in Jerusalem seine zeitgenössische Form anzunehmen begann. Ich erweitere auch den Fokus auf das schwarzjüdische Verhältnis – einen der bekanntesten Schauplätze multidirektionaler Erinnerung im 20. Jahrhundert  –, indem ich den algerischen Unabhängigkeitskrieg einbeziehe. Auch dieser wird sich als Schauplatz eines dichten interkulturellen Austausches erweisen und zuweilen auf den Tropen schwarz-jüdischer Gemeinsamkeit aufbauen. Für französische Intellektuelle und Aktivisten, aber auch für eine umfassendere Gruppe von Beteiligten und Beobachterinnen verbanden sich im Algerienkrieg Fragen extremer Gewalt und rassistischer Stigmatisierung mit politischen und ethischen Forderungen, die nahezu auf Anhieb begriffen wurden als aufbauend auf den noch jungen Erbschaften des Zweiten Weltkriegs, der nationalsozialistischen Besatzung und des Holocaust. Die Verbindung zwischen den beiden Kriegen – zwischen dem Leid, das sie verursacht, und dem Widerstand, den sie hervorgerufen haben – hat sich als nachhaltig erwiesen, wie ich im letzten Kapitel dieses Buches zeigen werde. Hinzu kommt, dass die Verbindung zwischen Algerien und dem Holocaust seit dem 11. September 2001 um eine Reihe von Assoziationen erweitert worden ist, die jene früheren Gewaltformen zu den im Entstehen begriffenen Praktiken eines »globalen Kriegs gegen den Terrorismus« sowie des Irakkriegs in Beziehung setzen. Die multidirektionalen Verbindungen zwischen Auschwitz und Algerien erweisen sich als perfekte Bühne für Diskussionen über Politik und Ethik der Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung.

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Teil III: Wahrheit, Folter, Zeugnis: Holocaustgedenken während des Algerienkriegs

6. Das Werk der Zeugenschaft im Zeitalter der Dekolonisierung: Chronik eines Sommers und das Auftauchen des Holocaust-Überlebenden 1961 Intellektuelle wie Césaire, Arendt, Du Bois und Schriftsteller wie Schwarz-Bart und Phillips haben lange mit der Frage gerungen, wie die nationalsozialistische Ideologie und Praxis in einen umfassenderen europäischen und globalen Rahmen zu stellen sei. Vor dem Hintergrund der globalen longue durée des europäischen Kolonialprojekts in Afrika, den Amerikas und anderswo haben sich die meisten dieser Intellektuellen mit den nicht in die historische Ferne gerückten Ereignissen des Holocaust zu einer Zeit auseinandergesetzt, als es noch keinen spezifischen Begriff zur Beschreibung der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen gab. Die Ergebnisse unterscheiden sich zwar erheblich, doch alle in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellten Beiträge dieser Autoren und Autorinnen haben versucht, sich durch die Fragen von »Rasse«, Raum, Narration und Gewalt hindurch einen multidirektionalen Weg zu bahnen. Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre kam es zu zwei bedeutenden Veränderungen: Zum einen wurde immer deutlicher, dass der Kolonialismus des späten 19. wie auch des frühen 20. Jahrhunderts aufgrund weltweiter antikolonialer Bewegungen und der Entstehung neuer, unabhängiger Nationen auf sein Ende zusteuerte; zum anderen bildete sich eine differenziertere Sicht auf den Zweiten Weltkrieg heraus, sodass dem bis dahin als marginal behandelten Massaker an den Juden und Jüdinnen eine wachsende, zentrale Rolle zukam, sowohl in den Narrativen über das Jahrhundert als auch im Bewusstsein breiter Teile der europäischen, US-amerikanischen und israelischen Öffentlichkeit. Die Kulturproduzenten und Aktivistinnen, deren Arbeit im Fokus der folgenden zwei Abschnitte steht, haben Filme, dokumentarische und journalistische Texte sowie literarische Werke geschaffen, und das in einem Kontext, der bestimmt war von einem der gewaltsamsten antikolonialen Kämpfe  – dem algerischen Unabhängigkeitskrieg  – und einer der leidvollsten Erfahrungen nationalsozialistischer Besatzung. Nicht alle hier diskutierten Personen sind französisch; dennoch werden wir erneut feststellen können, wie jene sehr besonderen, sich überschneidenden Geschichten des modernen Frankreich, die Maler wie Taslitzky und Fougeron auf die Leinwand gebracht haben, aus dieser Nation eine Art Laboratorium für die Aktivierung und Erkundung multidirektionaler Erinnerung gemacht haben. Im französischen Laboratorium des Gedenkens kommt einem Jahr herausragende Bedeutung zu: dem Jahr 1961.

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6. DIE ARBEIT DER ERINNERUNG IM ZEITALTER DER DEKOLONISIERUNG

1961 wird im Allgemeinen als Wendepunkt in der Geschichte des Holocaustgedenkens angesehen; es ist außerdem ein Schlüsselmoment in der Geschichte der Dekolonisierung. Im Frühjahr und Sommer 1961 fand in Jerusalem der EichmannProzess statt. Das auf den dramatischen Zeugnissen von 111 Überlebenden beruhende Verfahren rückte den nationalsozialistischen Genozid an den europäischen Juden und Jüdinnen erstmals als eigenständiges Ereignis in die weltweite Öffentlichkeit. Der Prozess war, in den Worten des israelischen Premierministers David Ben-Gurion, ausdrücklich darauf ausgerichtet, die »Katastrophe, die die Nazis über das jüdische Volk brachten, […] [als] ein besonderes und beispielloses Kapitel […] [und] als Verbrechen, das in der Geschichte beispiellos dasteht«, darzustellen.1 BenGurions Strategie war weitgehend erfolgreich. Laut dem israelischen Journalisten und Historiker Tom Segev war der Eichmann-Prozess »der Beginn einer dramatischen Wandlung im Verhältnis der Israelis zum Holocaust«.2 Die Auswirkungen des Prozesses waren jedoch keineswegs auf Israel beschränkt. In seiner Geschichte des Holocaustgedenkens in den Vereinigten Staaten hat Peter Novick zeigen können, dass »der Eichmann-Prozess und die Kontroversen über [Hannah] Arendts Buch [Eichmann in Jerusalem] und Hochhuths Stück [Der Stellvertreter] […] wirkungsvoll 15 Jahre eines Schweigens über den Holocaust im öffentlichen amerikanischen Diskurs [durchbrachen]. Als Teil dieses Prozesses tauchte in der amerikanischen Kultur eine klar umrissenes Ereignis auf, das man den ›Holocaust‹ nannte – ein Ereignis für sich, nicht einfach eine Unterabteilung der allgemeinen nationalsozialistischen Barbarei.«3 Arendt selbst meinte, es stehe zumindest kurzfristig »außer Zweifel, daß die Folgen des Eichmann-Prozesses nirgends so spürbar sind wie in Deutschland«, wo er erstmals eine Reihe von Verhaftungen und Gerichtsprozessen gegen Täter auslöste, die für die massenhafte Ermordung der Juden und Jüdinnen verantwortlich waren.4 Annette Wieviorka bezeichnet in ihrer Analyse des Gedenkens an die Shoah in Frankreich den Prozess als den Moment, an dem individuelle und familiäre Erinnerungen an den Genozid das »gesellschaftliche Feld« zu »penetrieren« begannen.5 Die 1 2 3 4 5

Zit. nach Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Hamburg 1995, S. 435. Ebenda, S. 476. Novick, Nach dem Holocaust, S. 194. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 42. Annette Wieviorka, L’ère du témoin, Paris 1998, S. 79. Siehe auch die englische Übersetzung: The Era of the Witness, Ithaca 2006. In einem faszinierenden Buch über die Kontroverse um Jean-François Steiner Mitte der 1960er-Jahre hat Samuel Moyn kürzlich gegen Wieviorka die These vertreten, der Eichmann-Prozess sei in Frankreich erst spät und in einem vergleichsweise unbedeutenden Ausmaß rezipiert worden. Moyns Befunde stützen mein ganz anders ausgerichtetes Vorhaben in diesem Buchteil, dem Prozess einen weniger zentralen Stellenwert zuzuschreiben, um die Aufmerksamkeit stattdessen wieder auf den Kontext der Entkolonisierung zu lenken. Siehe Samuel Moyn, A Holocaust Controversy: The Treblinka Affair in Postwar France, Waltham 2005.

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Auswirkungen des Jerusalemer Eichmann-Prozesses waren nahezu allen Berichten zufolge lang anhaltend und weitreichend. Das Spezifische des Eichmann-Prozesses und der durch ihn entfesselten ArendtKontroverse lag nicht in der Präzedenzlosigkeit der damit verbundenen Fragen  – viele waren bereits vorher formuliert worden –, sondern in der durch diese Fragen bewirkten Verknüpfung mehrerer unterschiedlicher Bereiche innerhalb eines einzelnen dramatischen Kontextes.6 Erstens dienen der Prozess und Arendts Bericht darüber bis heute als Prüfsteine für das Nachdenken über Fragen der Verantwortung, der Gerechtigkeit und des Wesens genozidaler Täterschaft. Seit Arendts Bericht über die »Banalität des Bösen« wurde Eichmann selbst zum Repräsentant des eigenartig bürokratischen Charakters der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Zweitens hat die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Dutzende von Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors als Augenzeugen zu laden – was weniger mit der Beweislage als mit den pädagogischen Absichten des Staates zu tun hatte –, auch zur Schaffung einer neuen öffentlichen Identität beigetragen: der des Holocaust-Überlebenden. Drittens hat der Eichmann-Prozess, wie der veränderte Status des Opfers bereits andeutet und Arendt pointiert beklagt hat, zu einem allgemeinen Verständnis von Gerichtsprozessen beigetragen, das diese als eine Form der Öffentlichkeit oder Performanz begreift, die über die begrenzten Forderungen der Gerechtigkeit hinausgeht. Viertens war die im Prozess vollzogene Inszenierung der Identität der Überlebenden an ein – von Arendt ebenfalls kontrovers hinterfragtes – Narrativ jüdischen Leidens gekoppelt, in dem der Holocaust als Teil einer langen Geschichte des Antisemitismus und zugleich als in der Neuzeit einzigartig erscheint. Schließlich wurde, in einem Schachzug, der sich langfristig auf die Politik im Nahen Osten sowie auf die globale Gedenkkultur auswirken sollte, dieses Narrativ jüdischen Leidens wiederum mit einer bestimmten israelischen Weltsicht verknüpft, die den zionistischen Widerstand sowie die arabische Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten betont. All diese Bedeutungen – Verantwortung und Täterschaft, Performanz und Narrativ, jüdischer Opferstatus und zionistischer Widerstand  – haben durch ihre Verschränkung den EichmannProzess und Eichmann in Jerusalem zu zentralen Punkten des kollektiven Gedenkens an den nationalsozialistischen Genozid gemacht. Der Prozess etablierte ein machtvolles Narrativ über die Einzigartigkeit des Holocaust, rahmte dieses Narrativ durch zionistische Ideologie und bot, durch die Verwendung der Zeugenaussagen von Überlebenden, einen zutiefst ergreifenden affektiven Kitt für besagte Ideologie. In anderen Erdteilen entstanden zu genau derselben Zeit Holocaustzeugnisse mit einer völlig anderen politischen Resonanz. In diesem 6

Neben der in anderen Fußnoten genannten Literatur sind aus der jüngeren Forschungsliteratur zu Eichmann und seinem Prozess unter anderem folgende Werke von besonderer Bedeutung: David Cesarani, Becoming Eichmann: Rethinking the Life, Crimes, and Trial of a »Desk Murderer«, Cambridge 2004; ders. (Hrsg.), After Eichmann: Collective Memory and the Holocaust Since 1961, New York 2005; Lawrence Douglas, The Memory of Judgment: Making Law and History in the Trials of the Holocaust, New Haven 2001.

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6. DIE ARBEIT DER ERINNERUNG IM ZEITALTER DER DEKOLONISIERUNG

und im folgenden Kapitel werde ich die Zentralität und den kanonischen Status des Eichmann-Prozesses infrage stellen und eine alternative Darstellung der Entstehung der Zeugenschaft bieten, in der das Holocaustgedenken nicht dazu dient, eine exklusive, auf singulärem Leid beruhende Nationalidentität zu festigen. Vielmehr erscheint die jüdische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs in dieser Neuerzählung des Wendepunkts von 1961 als Teil eines multidirektionalen Netzwerks, das sie mit Prozessen der Dekolonisierung verbindet. Die Videoaufzeichnung von Teilen des Eichmann-Prozesses und die Verbreitung der Filme in den Vereinigten Staaten und Europa hat Jeffrey Shandler, den führenden Forscher zur Darstellung des Holocaust im Fernsehen, veranlasst, den Prozess als Vorgriff auf jenes »cinéma vérité des ordentlichen Gerichtsverfahrens« anzusehen, für das dreißig Jahre später die Gründung des Kabelsenders Court TV stehen sollte.7 Shandler erwähnt es zwar nicht, doch 1961 war auch das Jahr, in dem ein Film erstmals ausdrücklich als ein Werk des cinéma vérité bezeichnet wurde. Im Mittelpunkt des Films stand nichts anderes als das Zeugnis einer Holocaust-Überlebenden. In eben dem Jahr, in dem der Eichmann-Prozess das Holocaustgedenken endgültig veränderte, kam in Frankreich der Film Chronik eines Sommers von Jean Rouch und Edgar Morin heraus. Die beinahe vergessene Szene des Holocaustgedenkens in Chronik eines Sommers wird zwar seit mehr als vierzig Jahren in der Forschungsliteratur zum Gedenken an den nationalsozialistischen Genozid übergangen, doch vermittelt sie einen Eindruck von der Notwendigkeit, über den Eichmann-Prozess hinauszugehen und andere Beispiele öffentlichen Holocaustgedenkens zu diesem ausschlaggebenden Zeitpunkt in der Transformation des Gedenkens ausfindig zu machen.8 Die in diesem Abschnitt unternommene Suche nach solchen Beispielen hat das Potenzial, uns verstehen zu lassen, wie stark sich die Entwicklung der Bedeutungen des Holocaust verändert hat. Das Aufdecken unerwarteter Momente multidirektionaler Erinnerung trägt zu einer Archäologie jener nicht-dominanten Kräfte bei, die ebenfalls am Werk waren, als die Bedeutung des Holocaust als die eines singulären Ereignisses festgeschrieben wurde. Selbst wenn letztlich keine Spuren dieser Kräfte Eingang in die etablierten Archive gefunden haben, so hat ihre Vergegenwärtigung doch erhebliche Folgen für die theoretische Erfassung des kollektiven Gedächtnisses jenseits einer konkurrenzbasierten Null-Summen-Logik. Die in Chronik eines Sommers zu verzeichnende Gegenüberstellung der Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid und der Geschichte der Dekolonisierung bietet eine Gelegenheit, neu über 7

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Jeffrey Shandler, While America Watches: Televising the Holocaust, New York 2000, insbesondere S. 127–132. Shandler übernimmt die Formulierung »cinéma vérité des ordnungsgemäßen Verfahrens« (cinema vérité of due process) aus einem Artikel der Zeitschrift The New Yorker. Der Rundfunk war damals ein noch bedeutenderes Medium als das Fernsehen; die meisten Israelis verfolgten den Prozess im Radio. Die erste kurze, aber aufschlussreiche Diskussion über den Film und sein Verhältnis zum Holocaust ist nach Abschluss dieses Kapitels erschienen. Siehe Joshua Hirsch, Afterimage: Film, Trauma, and the Holocaust, Philadelphia 2003.

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jenen »singulären« Ort nachzudenken, den der Holocaust in Diskursen über extreme Gewalt eingenommen hat. Die Untersuchung verschiedener Arten persönlicher und politischer Begegnung in einer Schlüsselsequenz aus der Mitte des neunzigminütigen Films zeigt, was bei der in Chronik eines Sommers angewandten Ästhetik der Gegenüberstellung auf dem Spiel steht: eine Erkundung der Begegnung zweier Traumata, des genozidalen und des kolonialen.9 Die im Film vorgenommene Gegenüberstellung von Shoah und Dekolonisierung legt den Schluss nahe, dass Narrative des Holocaustgedenkens, die sich in erster Linie auf die gedenkpolitische Wirkmächtigkeit des EichmannProzesses konzentrieren, unvollständig sein könnten. Europas zeitgleiche Erfahrung der Grenzen seines Kolonialprojekts – hier insbesondere durch die algerische Revolution und die Unabhängigkeit afrikanischer Nationen dargestellt  – hat auch dazu gedient, die Entwicklung des Holocaustgedenkens zu beschleunigen; dabei kam in diesem Gedenken bereits eine verschobene Anerkennung der Gewalt des spätkolonialen Staats zum Ausdruck. Zwar haftet der multidirektionalen Mobilisierung unterschiedlicher Geschichten im Film eine gewisse politische Ambivalenz an, doch die Vision sich überschneidender und wechselseitig verstärkender Erinnerungen traf den Nerv ihrer Zeit. Tatsächlich sind aus dem politisch aufgeladenen Kontext der fünften französischen Republik auch militantere Varianten der Erinnerungspolitik hervorgegangen, von denen einige auf der in Chronik vorgelegten Infragestellung der Grenzen der Öffentlichkeit sowie auf der in diesem Film erfolgten Schaffung alternativer Formen von Zeugenschaft und Öffentlichkeit aufbauen oder diese radikalisieren. Die Anerkennung der Multidirektionalität der Erinnerung ermutigt uns, genau auf die Zirkulation historischer Erinnerungen in Begegnungen zu achten, deren Bedeutungen komplex und überdeterminiert sind, anstatt von der Annahme auszugehen, die Anwesenheit einer Geschichte innerhalb eines kollektiven Gedächtnisses beinhalte die Löschung oder Abschwächung aller übrigen Geschichten. Zweck dieses Kapitels ist es, sowohl unser Nachdenken über den Holocaust jenseits des Singularitätsparadigmas fortzusetzen, als auch die Aufmerksamkeit auf die ganz besonderen, multidirektionalen Formen der Überschneidung von Erinnerung und Diskurs zwischen dem Holocaust und dem französisch-algerischen Krieg zu lenken, die im weiteren Verlauf unser Schwerpunkt bleiben werden. Wenn, wie ich hier argumentiere, der Eichmann-Prozess nicht der einzige bedeutende Faktor war, der den Holocaust in die Öffentlichkeit gerückt hat, und wenn er tatsächlich vor allem die Bühne für den Singularitätsdiskurs geschaffen hat, dann kann die Rückbesinnung auf einen Moment, bevor die Auswirkungen des Prozesses spürbar wurden, dazu beitragen, die verknöcherten Positionen in den Erinnerungskriegen aufzubrechen. 9

In einem informativen und aufschlussreichen Essay untersucht Steven Ungar eine ähnliche Szenenfolge, stellt aber keinen Zusammenhang zur Geschichte des Holocaustgedenkens oder den Besonderheiten des antikolonialen Diskurses her (obwohl er beides erwähnt). Siehe Steven Ungar, In the Thick of Things: Rouch and Morin’s Chronique d’un été Reconsidered«, in: French Cultural Studies 14 (2003) 1, S. 5–22.

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6. DIE ARBEIT DER ERINNERUNG IM ZEITALTER DER DEKOLONISIERUNG

Traumatische Begegnungen Chronik eines Sommers bietet die Gelegenheit, die Historisierung des Holocaustgedenkens wiederaufzunehmen, und zwar just zum Zeitpunkt des Eichmann-Prozesses. Der Film von Rouch und Morin ist zwar von der Holocaustforschung ignoriert worden, doch man hat ihn rasch als Meilenstein des nicht-fiktionalen Kinos anerkannt. Es handelt sich um ein Experiment, in dem Rouch, der vor allem für Dutzende ethnografische Afrikafilme bekannt ist, seinen Blick auf die Metropole richtet. Begleitet von dem Soziologen Morin und einem Team junger Mitarbeiter schickt Rouch im Sommer 1960 seine Interviewer auf die Straßen von Paris, um Passanten und Passantinnen zu fragen, ob sie mit ihrem Leben zufrieden seien. Diese Straßenszenen wechseln sich mit Interviews von Individuen und Paaren in häuslichen Räumen sowie mit inszenierten Begegnungen zwischen Gruppen und einer Dokumentation der Arbeitsbedingungen französischer Arbeiter und Arbeiterinnen ab. Der Film, der für seinen selbstreflexiven Charakter bekannt ist, enthält auch eine Szene, in der die Teilnehmerinnen und Interviewpartner aufgefordert werden, eine fast vollständige Version des Films zu kommentieren. Hinzu kommt, dass Rouch und Morin selbst oft im Bild zu sehen sind – beginnend mit der ersten Szene, in der die Filmemacher ihre Konzeption des Films diskutieren, bis hin zum letzten, retrospektiven Dialog, der in der afrikanischen Abteilung des Pariser Musée de l’Homme spielt. Im Zeitalter der Webcam, des »Reality«-Fernsehens und von Court TV ist es schwierig zu ermessen, welches Novum Chronik eines Sommers in den frühen 1960erJahren darstellte. Der Film von Rouch und Morin ist ein radikales ästhetisches und soziologisches Experiment, das einen tief greifenden Einfluss auf die französische Nouvelle Vague hatte und dessen wichtigste Elemente auch heute noch nachwirken. Der Film ist aus mindestens vier Gründen von Bedeutung: wegen seines Platzes in der Filmgeschichte, seines Verhältnisses zur politischen Geschichte Frankreichs, seines Beitrags zur französischen Geistesgeschichte und seines Status als Quelle für die Kartierung einer Geschichte der Erinnerung. Die filmhistorische Bedeutung von Chronik eines Sommers liegt in der Erfindung einer neuen Gattung: Der Film greift auf frühere dokumentarische Experimente wie die von Robert Flaherty und Dsiga Wertow zurück (der Begriff cinéma vérité leitet sich ab von Wertows Kino-prawda), geht jedoch durch seine Verwendung von neuer Kamera- und Tontechnik über diese Vorläufer hinaus. Politikgeschichtlich bedeutsam ist, dass der Film sowohl die während seiner Entstehung stattfindende Dekolonisierung des Kongo als auch den andauernden Algerienkrieg anspricht – Morin behauptet sogar, kein anderer Film habe sich damals kritisch mit dem Krieg befasst.10 Geistesgeschichtlich leitet sich der Film vom Nach10 Edgar Morin, Chronicle of a Film, in: Jean Rouch, Ciné-Ethnography, übers. und hrsg. v. Steven Feld, Minneapolis 2003, S. 261. Tatsächlich hat kein französischer Film vor dem Ende des Algerienkriegs direkt auf diesen Bezug genommen. Jene Filme, die eine indirekte Bezugnahme versucht haben, wie Muriel von Resnais, wurden mitunter zensiert. Siehe Benjamin Stora, La gangrène et l’oubli: La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1991, S. 38–45.

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denken über das Alltagsleben ab und trägt auch zu diesem Denken bei. Die Kategorie des Alltagslebens war zur Zeit seiner Entstehung Gegenstand theoretischer Arbeiten, verfasst von Henri Lefebvre sowie von Morin selbst. Schließlich enthält der Film von Rouch und Morin aber auch einen eigenartigen und meist übersehenen Beitrag zur Reflexion des Holocaustgedenkens. In Chronik eines Sommers überschneiden sich diese vier historischen Modi  – Film, Politik, Geistesgeschichte und Erinnerung – und treten miteinander mittels der neuen Gattung cinéma vérité in einen Dialog. Es sollte beachtet werden, dass Rouch und Morin selbst keine einheitliche Darstellung dessen vorgelegt haben, worum es sich beim cinéma vérité handelt oder was es leistet.11 Morin spricht davon, dass es den Zweck verfolge, »die Authentizität des Lebens in seinem Vollzug« zu dokumentieren (Chronicle of a Film, S. 229), zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort (beispielsweise Paris im Sommer 1960), wohingegen Rouch das formuliert, was wir heute vielleicht als ein »performatives« Verständnis der Gattung bezeichnen würden. Cinéma vérité bedeute, so bemerkt er, »nicht das Kino der Wahrheit, sondern die Wahrheit des Kinos« (Ciné-Ethnography, S. 167). Mit anderen Worten: Rouch erkennt in der Kamera ein »Stimulans« (S. 100), das »Realität […] inszeniert« (S. 185), indem es in die von ihm aufgezeichnete Umgebung interveniert und diese Umgebung gestaltet. Das bewusste und provokante Inszenieren von Situationen verhindert, so könnte man meinen, das authentische Einfangen des »Lebens in seinem Vollzug«, doch die Form des cinéma vérité reagiert durchaus, wenngleich nicht univok, auf die historischen Imperative ihrer Zeit. Dass Chronik eines Sommers dazu beitragen sollte, erneut über das Holocaustgedenken und sein Verhältnis zur Dekolonisierung nachzudenken, ist in den ersten Szenen des Films noch nicht ersichtlich. Der Film beginnt mit Außenaufnahmen von Paris und dessen Vorstädten, während Rouchs Stimme das Projekt des cinéma vérité vorstellt: »Dieser Film ist nicht von Schauspielern gespielt, sondern von Männern und Frauen gelebt worden, die einige Augenblicke ihres Lebens für ein neues Experiment des cinéma vérité zur Verfügung gestellt haben« (Ciné-Ethnography, S. 274).12 Darauf folgt eine Szene, in der Morin, Rouch und eine junge Frau namens Marceline nach dem Abendessen zusammensitzen und Morin Marceline das Wesen des Projekts erklärt: »Was Rouch und ich machen wollen, ist ein Film über folgenden Gedanken: Wie lebst du? Wie lebst du? Wir fangen mit dir an, und dann fragen wir andere Leute« (S. 275). In dieser Szene und während der folgenden vierzig 11 Eine brillante und detaillierte Erörterung der Spannungen, zu denen es bei der Konzeption und Produktion des Films kam, unter besonderer Berücksichtigung der Debatten um Bazins phänomenologische Filmtheorie, bietet Sam Dilorio, Total Cinema: Chronique d’un été and the End of Bazinian Film Theory, in: Screen 48 (Spring 2007) 1, S. 25–43. 12 Zitate aus dem Film entnehme ich Jean Rouch, Ciné-Ethnography, das eine Übersetzung des gesamten Drehbuchs enthält, die verlässlicher ist als die englischen Untertitel. Die französische Originalfassung des Drehbuchs findet sich, um wichtige Materialien ergänzt, in: Jean Rouch/Edgar Morin, Chronique d’un été, Paris 1962.

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Minuten, in denen Chronik die Konturen des Pariser Alltagslebens erkundet, scheint das Trauma des nationalsozialistischen Genozids sehr fern. Auf der Straße sprechen Marceline und Nadine Fremde an und fragen sie, ob sie glücklich seien. In einer Reihe beengter Wohnungen berichten verschiedene Paare ausführlich über ihre täglichen Freuden und Herausforderungen. Ein Arbeiter namens Angelo und ein junger afrikanischer Student namens Landry unterhalten sich im Treppenhaus eines Mietshauses über Rassismus, Klassenkonflikt und Konsumgesellschaft. Schließlich beschreibt Marcelines Freund, ein angstgeplagter Philosophiestudent, seine Gefühle der Erbitterung und Ohnmacht. Doch liegen die Traumata des Zweiten Weltkriegs in diesen Szenen gleich unterhalb der Oberfläche. Beispielsweise stellt sich bei einem der nach ihren Wohnverhältnissen befragten Paare heraus, dass der Ehemann im Krieg deportiert worden ist, obgleich dies nur aus der veröffentlichten Drehbuchfassung hervorgeht. Dramatischer ist die Szene, in der Jean-Pierre darüber klagt, persönlich und politisch »verarscht« worden und »machtlos« zu sein, woraufhin Marceline für seinen politischen Defätismus die Verantwortung übernimmt und zugibt: »Teilweise hast du […] sie durch mich kennengelernt, all diese Leute, denen nach ihren politischen Erfahrungen zum Weinen zumute war […]. Wie mir ja tatsächlich auch.« Während Marceline düster hinzufügt, sie habe »trotz allem« geglaubt, dass es möglich sei, Jean-Pierre glücklich zu machen, schwenkt die Kamera von ihrem Gesicht zu ihrem Arm herab und zeigt die Tätowierung, die sie als Auschwitz-Überlebende zu erkennen gibt (Ciné-Ethnography, S. 303–305). Morin behauptet in der folgenden Szene zwar, der Film sei »bis hierhin innerhalb eines vergleichsweise persönlichen und individuellen Universum verblieben« (S. 305), doch die verbal noch immer nicht thematisierte Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit und die Welt der Konzentrationslager zeigt sich in der Szene mit Jean-Pierre als quer liegend zur Unterscheidung von öffentlich und privat, politischen Krisen und alltäglichen Intimitäten.13 13 Paratextuelle Materialien deuten darauf hin, dass die Filmemacher die Präsenz des Holocaust im Film bis hierhin bewusst gering gehalten haben. Eine frühzeitig gedrehte Szene, in der Marceline ihre Erfahrungen schildert, fehlt in der Endfassung des Films, obwohl sie im Drehbuch enthalten ist. Diese bewusste Dämpfung der Thematik erzeugt den – von den Regisseuren offenbar intendierten – Eindruck, der Anfang des Films sei »rein persönlich« und Politik werde erst in der Mitte des Films zum Thema. Ich würde behaupten, dass die beiden Bereiche stärker miteinander verwoben sind. Bei Rothman findet sich eine eingehende Analyse der Szene mit Jean-Pierre, die insgesamt sehr gelungen ist, auch wenn ich Rothmans durch nichts gerechtfertigte Schlussfolgerung, dass Rouch Marceline, »wenn er sie filmt, symbolisch ein Todeslager baut, und sich selbst auch«, entschieden ablehne (S. 85). Siehe auch Dilorios gelungene Erörterung des Aufbaus dieser Szene aus Filmmaterial, das mit zwei unterschiedlichen Kameratechnologien produziert worden ist (Dilorio, Total Cinema, S. 34). Dilorio weist darauf hin, dass Rouch an dieser Stelle wichtige Hinweise auf Algerien gestrichen hat, die dazu beitragen, Jean-Pierres Verbitterung verständlich zu machen. Jean-Pierre war ein Mitglied des Jeanson-Netzwerks gewesen, und viele Mitglieder dieses Netzwerks waren einige Monate vor den Dreharbeiten verhaftet worden. Siehe William Rothman, Documentary Film Classics, New York 1997.

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Sobald der nationalsozialistische Genozid schließlich zum expliziten Thema wird, nach dem Gespräch mit Jean-Pierre, tut er es im Kontext von Diskussionen über den zeitgenössischen Rassismus und die Kämpfe um die Dekolonisierung in Algerien und im Kongo.14 Der Inhalt dieser Diskussionen und die Filmtechniken, durch die sie gezeigt werden, verweisen sowohl auf eine Bewegung vom Privaten zum Öffentlichen als auch auf den Eindruck, dass diese Bereiche untrennbar miteinander verwoben sind, und zwar aufgrund der traumatischen Auswirkungen politischer Gewalt. Einerseits bestätigt die Inszenierung der Sequenz die Aussage von Morin, der Film bewege sich vom Privaten zum Öffentlichen: Auf die Darstellung eines Paars in einer beengten Wohnung folgt eine Gruppenszene in einem Dachterrassen-Restaurant (zunächst mit Blick auf die Straße gefilmt), und auf diese wiederum eine Reihe von Fahraufnahmen der Straßen der Stadt. Andererseits bleibt die persönliche Dimension während des ganzen Films erhalten und scheint durchweg von der öffentlichen heimgesucht zu werden. Durch die Sequenz hindurch bedienen sich die Regisseure einer Reihe von Nahaufnahmen, in denen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu sehen sind, wie sie sprechen und einander zuhören; diese Nahaufnahmen wechseln sich mit gelegentlichen Aufnahmen aus mittlerer Entfernung ab, in denen die Teilnehmer als Gruppe gezeigt werden oder die Kamera über die Schulter einer Person blickt und dadurch eine subjektive Perspektive erzeugt. Die Wirkung dieser relativ nahen und oft subjektiven Einstellungen besteht darin, eine Intimität von Zuschauerinnenn und Teilnehmern herzustellen, die auf der Illusion basiert, das Alltagsleben auf unvermittelte Weise einfangen zu können. Und doch zeigt der Film durch die Art der Inszenierung, dass dieses Alltagsleben von Politik und Gewalt gesättigt ist. Zunächst einmal filmen Rouch und Morin ihre Freunde und Freundinnen in einer nach dem Abendessen geführten Diskussion über den Algerienkrieg. Diese Szene bezeugt sowohl die ambivalente Einstellung der Franzosen und Französinnen zum Krieg als auch deren vergleichsweise distanzierte Reaktion, so sie auf ihn hingewiesen werden (und das, obwohl es ein linksintellektuelles Milieu ist, das gezeigt wird). Ragt in der vorigen Szene mit Jean-Pierre und Marceline extreme Gewalt in eine Alltagssituation hinein, dann zeigt sich in der Diskussion um den Algerienkrieg, dass die Gewalt selbst alltäglich geworden ist, »eine Art gemeinsame Angewohnheit«, wie ein junger Régis Debray klagt. Nach Debrays Ermahnung, man müsse »darauf setzen, […] dass Menschen in der Lage sind, diesem Krieg endlich ein Ende zu bereiten«, ist das Geräusch 14 Kurz nach der Fertigstellung von Chronik eines Sommers haben Marceline Loridan und JeanPierre Sergent (so ihre vollständigen Namen) zusammen einen Film über die algerische Revolution gedreht: L’Algérie, L’Année Zéro. Loridan heiratete den holländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens und drehte mit ihm in verschiedenen Erdteilen zwanzig Filme, darunter Werke gegen den Vietnamkrieg und ein zwölfstündiger Film über China und die Kulturrevolution. 2003 drehte Marceline Loridan-Ivens ihren ersten Spielfilm, La petite prairie aux bouleaux, die Geschichte einer Holocaust-Überlebenden, die nach vielen Jahren nach Auschwitz zurückkehrt.

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von Maschinengewehren zu hören, und es wird eine Reihe von Schlagzeilen gezeigt, zunächst zum Algerienkrieg und dann zu den Ereignissen im seit Kurzem unabhängigen Kongo (Ciné-Ethnography, S. 306 f.).15 Die Montage der Schlagzeilen und Gewehrschüsse  – seltene nicht-diegetische Elemente, die an Techniken erinnern, mittels derer in Spielfilmen dramatische Spannung erzeugt wird – verstärkt den Eindruck, dass es sich beim Jahr 1960 um einen Zeitpunkt handelt, an dem sich Alltagsleben und die Punktualität politischer Ereignisse überschneiden, und das trotz der Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit. In der folgenden Szene beobachten wir, wie Marcelines Identität als AuschwitzÜberlebende durch eine Provokation der Filmregisseure expliziter Gegenstand des Films wird, und zwar während einer Diskussion über den zeitgenössischen Rassismus und die antikoloniale Solidarität unter Afrikanern und Afrikanerinnen. Der Schauplatz dieser Szene  – das Restaurant »Totem« im Musée de l’Homme  – erhält eine zusätzliche Bedeutung, sobald wir erkennen, dass das Museum nicht nur einer der ersten Orte war, an dem sich der Widerstand gegen die deutsche Besatzung organisierte, sondern auch die ethnografischen Artefakte beherbergt, die Marcel Griaule während seiner berühmten Dakar-Dschibuti-Expedition sammelte.16 Merkwürdigerweise beginnt die Szene jedoch mit einem milden Ausdruck von Rassismus seitens Marcelines: »Persönlich«, sagt sie, »würde ich nie einen Schwarzen heiraten« (S. 307). Es folgt eine kurze Diskussion über rassistische Stereotype, bevor Morin diese Diskussion mit einer Frage nach den Reaktionen auf die Ereignisse im Kongo unter15 Gestützt auf schriftliche Aufzeichnungen über verworfenes Filmmaterial argumentiert Dilorio überzeugend, dass Rouch und Morin einen Großteil des von ihnen gefilmten politischen Materials nicht verwendet haben: »Das engmaschige Verhältnis von Kolonialismus und Besatzung wurde in der Endfassung systematisch aufgelöst. Der politische Inhalt wurde auf eine spektrale Präsenz reduziert: Er wurde zum Gespenst, das diesen Film und seine Protagonisten heimsucht« (S. 36). Ich stimme Dilorio (Total Cinema) zwar zu, dass nur wenig radikales politisches Material in die Endfassung aufgenommen worden ist, denke aber dennoch, dass die im Film hergestellten Verbindungen zwischen Algerien und Auschwitz in Hinblick auf die damalige Situation in Frankreich politisch relevant sind, wie ich weiter unten darlegen werde. Siehe zu den Berührungspunkten zwischen dem Film und der Politik der Zeit auch Ivone Margulies, Chronicle of a Summer (1960) as Autocritique (1959): A Transition in the French Left, in: Quarterly Review of Film and Video 21 (2004) 3, S. 173–185. 16 Siehe James Clifford, The Predicament of Culture: Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge 1988, S. 139. Rouchs eigene Darstellung des Museums während des Kriegs findet sich in seinem Essay The Mad Fox and the Pale Master, in: ders., Ciné-Ethnography, S. 102–226. Die zeitweilige Leiterin des mit dem Musée de l’Homme assoziierten Widerstandsnetzwerks, die 2008 im Alter von 101 Jahren verstorbene Germaine Tillion, war eine weitere faszinierende Gestalt der multidirektionalen Erinnerung. Die Anthropologin, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Algerien gearbeitet hatte, wurde aufgrund ihrer Tätigkeit in der Résistance nach Ravensbrück deportiert. Sie sollte später in Büchern über die nationalsozialistischen Lager (Ravensbrück, Neuchâtel 1946, dt.: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Frankfurt a. M. 2001) sowie über den Algerienkrieg (Les ennemis complémentaires, Paris 1960) berichten. Eine ergreifende Würdigung des Gerechtigkeitssinns Tillions findet sich in Tzvetan Todorov, Hope and Memory: Lessons from the Twentieth Century, Princeton 2003.

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bricht, wo sich die Regierung Patrice Lumumbas im Kampf gegen belgische Streitkräfte befindet. Landry, ein Student von der Elfenbeinküste, bekräftigt die Solidarität der Afrikaner und Afrikanerinnen verschiedener Nationen mit allen antikolonialen Kämpfen, und Marceline äußert, womöglich um nach ihrer peinlichen Aussage das Gesicht zu wahren, sie könne Landrys Ansichten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen nachvollziehen: »Ich verstehe das sehr gut, denn das Beispiel ist zwar nicht richtig gut … aber wenn es in irgendeinem Land der Welt einen Ausdruck von Antisemitismus gibt … nun, dann betrifft mich das … Ich kann es nicht zulassen … [...] Das ist für mich dasselbe« (S. 310). Marcelines Bereitschaft, derart rasch zur Analogisierung von Antisemitismus und Kolonialismus überzugehen, verrät das Vorhandensein einer historischen Sensibilität, die sich konträr verhält zu jenem Singularitätsdiskurs, der später vorherrschen sollte, damals aber erst im Entstehen begriffen war. Die auf dem Dachgeschoss geführten Diskussionen um verschiedene Formen von Vorurteilen deuten auch die Entstehung eines »Rasse«-Diskurses in der Schlussphase des Algerienkriegs an (siehe Abb. 4). Möglicherweise in Reaktion auf Marcelines Analogisierung von jüdischer Solidarität angesichts des Antisemitismus und afrikanischer Solidarität angesichts des Kolonialismus fragt Rouch die afrikanischen Studenten Landry und Raymond, ob sie wissen, worum es sich bei Marcelines Tätowierung handelt. Sie wissen es nicht. Es folgen einige Augenblicke der Verlegenheit, außerdem Scherze über den möglichen Ursprung der Tätowierung – eine Affektiertheit? eine Telefonnummer? –, dann zoomt die Kamera auf den Arm und weicht wieder etwas zurück, bevor Marceline erklärt: »Nun, es ist nicht meine Telefonnummer … Äh … Ich wurde während des Kriegs in ein Konzentrationslager deportiert, weil ich jüdisch bin, und das hier ist eine Seriennummer, die sie mir im Lager gegeben haben« (S. 311). Ein kurzer Kameraschwenk zeigt, dass dies dem sonst wortreichen Landry die Sprache verschlagen hat. Raymond weiß etwas über die Lager, da er einen Film darüber gesehen hat, wahrscheinlich Alain Resnais’ Nacht und Nebel (1955). Diese Szene, exemplarisch für Rouchs Vorstellung des cinéma vérité als Provokation, löst sowohl seitens der Zuschauerinnen als auch der Teilnehmer Unbehagen aus (selbst Rouch war sein Verhalten in der Szene später peinlich). Im Zuge einer kurzen Szene ist es zu einer merkwürdigen Verschiebung gekommen, von der Aktualität – angezeigt durch die Schlagzeilen und die Diskussion aktueller Ereignisse – zum Gedächtnis – angezeigt durch eine Tätowierung und die Bezugnahme auf einen historischen Film. Darüber hinaus ist eine verstörende Hierarchisierung des Wissens etabliert worden, bei der die weißen französischen Figuren über das im Bilde sind, was Landry und Raymond entgeht, während Marceline zur Verkörperung der Geschichte wird. Angesichts des 1960 noch vergleichsweise begrenzten Wissens um die Einzelheiten des nationalsozialistischen Genozids erscheint die Etablierung einer solchen Hierarchie besonders bedenklich. Auf das Ende dieser Szene folgt eine Sequenz, bei der wir Marceline über die Place de la Concorde und in die leeren Markthallen von Les Halles folgen, während sie die

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Abbildung 4: Marceline, Rouch und Landry diskutieren im Dachrestaurant des Musée de l’Homme über Rassismus und Antisemitismus. Jean Rouch und Edgar Morin, Chronique d’un été (1961) Sammlung des Autors

Geschichte ihrer Deportation und Rückkehr erzählt: wie sie mit ihrem Vater deportiert wurde, vor ihm von einem SS-Mann geschlagen wurde, als sie sich im Lager das einzige Mal wiederbegegneten, und wie sie dann ohne ihren Vater zu ihren überlebenden Angehörigen zurückgekehrt ist (siehe Abb. 5). Auch hier ist die Inszenierung bedeutsam und trägt zu einer Schichtung von Vergangenheit und Gegenwart, Alltag und Extremsituation bei: Die jetzt ungefährlich wirkende Place de la Concorde weckt die Erinnerung an Marcelines Verhaftung, während die Architektur von Les Halles an die des Bahnhofs erinnert, zu dem Marceline zurückgekehrt sein dürfte, damit den Gegenstand ihres Zeugnisses ins Bewusstsein rückend. Der verwirrende Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart, hier und dort, wird durch Marcelines Redeweise noch verstärkt: »Und dann bin ich jetzt hier, auf der Place de la Concorde … Ich bin zurückgekehrt, du bist geblieben [seufzt]. Wir waren bereits sechs Monate dort, bevor ich dich gesehen habe« (S. 312). Indem Marceline direkt zu ihrem verstorbenen Vater spricht, schafft sie einen gespenstischen Raum, in dem sich Orte (die Lager, Paris) und Zeiten (der Krieg, die Nachkriegszeit) relativ unvermittelt überschneiden. Der Rest des Films ist alltäglicheren Themen (etwa Liebesbeziehungen und Urlauben)

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Abbildung 5: Marceline erzählt während eines Spaziergangs über die Place de la Concorde die Geschichte ihrer Deportation. Jean Rouch und Edgar Morin, Chronique d’un été (1961) Sammlung des Autors

gewidmet, und Marceline spielt darin eine weniger zentrale Rolle, doch ihr dramatisches Zeugnis prägt weiterhin die Erinnerungen des Publikums, wie die Kommentare von Kritikerinnen und Darstellern belegen. Marcelines Erzählung ist knapp und kryptisch, und doch ist sie, von der Warte der Gegenwart aus betrachtet, auch entschieden vertraut. Die Geschichte einer Deportation und einer Rückkehr zu einer zerstörten Familie erinnert an zahlreiche Lager-Memoiren, insbesondere den dritten Band von Charlotte Delbos Trilogie. Auschwitz und danach, in dem Delbo eine Sammlung kurzer Narrative von Überlebenden vorstellt. Der Schwerpunkt dieser Berichte liegt auf den Schwierigkeiten, die die Wiedereingliederung in die gesellschaftlichen und familiären Bedingungen der Nachkriegszeit mit sich bringt.17 Wenn aber die Elemente von Marcelines Geschichte heute vertraut erscheinen, dann liegt das an den vielen Texten, die seit den frühen 17 Charlotte Delbo, Trilogie. Auschwitz und danach, Frankfurt a.  M. 1993, S. 327–495. Siehe Rothberg, Traumatic Realism, S. 141–177. In Kapitel 7 werde ich Delbos Schriften über Auschwitz zu ihrem Widerstand gegen den Algerienkrieg in Beziehung setzen.

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1960er-Jahren veröffentlicht worden sind, wie die von Delbo, oder die man seitdem wiederentdeckt hat, wie die von Primo Levi. Damals wurde gerade erst damit begonnen, die Erlebnisse jüdischer Opfer des Nationalsozialismus zur Kenntnis zu nehmen. Elie Wiesels Nacht (La nuit) und André Schwarz-Barts Der Letzte der Gerechten (Le dernier des justes), zwei Schlüsseltexte dessen, was als Holocaust-Literatur bekannt werden sollte, wurden in den beiden Jahren vor den Dreharbeiten an Chronik eines Sommers veröffentlicht, doch geben sich diese Texte erst im Rückblick als Teile eines eigenständigen Diskurses zu erkennen. Tatsächlich betont Schwarz-Bart in seinen Berichten über seine Schreibpraxis, wie sehr die Dekolonisierung zu seinem Werk beigetragen hat. Die Szenenfolge, die von der Konfrontation Marcelines und Jean-Pierres über die beim Abendessen geführten Diskussionen um den Krieg und den Dialog auf der Dachterrasse bis hin zu Marcelines Zeugnis führt, versammelt eine Reihe von Begegnungen unterschiedlicher Art. Jede der ersten drei Szenen zeigt eine Begegnung von Individuen, bei der es um schwierige persönliche und politische Fragen geht, wohingegen wir es bei der vierten Szene mit einer Begegnung von Vergangenheit und Gegenwart zu tun haben, die die Form eines Wiederauftauchens traumatischer Erinnerungen annimmt. Hinzu kommt, dass die Regisseure sowohl innerhalb der einzelnen Szenen als auch zwischen ihnen die Begegnung unterschiedlicher Geschichten forcieren, aber auch von öffentlichen und privaten Räumen sowie von Alltagspraktiken und traumatischer Gewalt. Diese Technik produktiver Begegnung erinnert an das von Rouch angetretene Erbe des Surrealismus – eine Bewegung, mit der er sich, wie Aimé Césaire, während seiner Jugend im Paris der 1930er-Jahre befasste – und insbesondere an James Cliffords Begriff eines »ethnografischen Surrealismus«, der die kreative Energie und methodologischen Innovationen der Zeit zum Ausdruck bringen soll. Clifford zufolge »wendet sich die Praxis des ethnografischen Surrealismus […] gegen das Vertraute und provoziert den Einbruch des Anderen – des Unerwarteten« (The Predicament of Culture, S. 145).18 Bezug nehmend auf die Tendenz der Anthropologie, Begegnungen herbeizuführen, »in denen unterschiedliche kulturelle Realitäten von ihren Kontexten abgelöst und in eine aufrüttelnde Nähe gezwungen werden«, vertritt Clifford die Position, »das surrealistische Moment in der Ethnografie« sei jenes, »in dem die Möglichkeit des Vergleichs in unvermittelter Spannung zur schieren Inkongruenz steht« (S. 146).19 18 Cliffords Formulierung erinnert an einen Satz, in dem Rouch die Szenen mit Marceline beschrieben hat: »Plötzlich fand eine Begegnung [statt] zwischen zwei ungewöhnlichen Dingen, die normalerweise nicht miteinander verwandt sind, und durch diese Begegnung ist eine Struktur entstanden.« Zit. nach Ellen Freyer, Chronicle of a Summer  – Ten Years After, in: Lewis Jacobs (Hrsg.), The Documentary Tradition, 2. Aufl., New York 1979, S. 437–443, hier S. 441. 19 Eaton beschreibt den Surrealismus von Rouch als »durch das Thema der Begegnung vermittelt«. Siehe Mick Eaton, The Production of Cinematic Reality, in: ders. (Hrsg.), Anthropology, Reality, Cinema: The Films of Jean Rouch, London 1979, S. 40–53, hier S. 50. Siehe zu Rouch und dem Surrealismus auch Jeanette DeBouzek, The »Ethnographic Surrealism« of

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Surrealisten intendieren ihre Gegenüberstellungspraxis als Provokation, die Realitätsebenen jenseits des Alltäglichen und Bewussten freilegen soll. In Chronik eines Sommers offenbart die ethnografisch-surrealistische Begegnungsmethode die Existenz von zwei weiteren Begegnungsformen im Paris der 1960er-Jahre: die traumatische Begegnung mit der Erinnerung an einen Genozid und die verstörende Begegnung mit kolonialen Erbschaften. Beide Begegnungsformen wirken bis auf den heutigen Tag nach und prägen die französische Gegenwartskultur auf unerwartete Weisen. Die »aufrüttelnde Nähe« der beiden Begegnungsformen – die in den hier besprochenen Szenen aus Chronik eines Sommers über die Absichten der Regisseure hinauszugehen scheint – ruft Verunsicherung und Unbehagen hervor, offenbart aber auch das politische Unbewusste der Zeit: die Einschreibung einer erst noch anzuerkennenden Erinnerung in den städtischen Raum und die Hierarchien von »Rasse« und Nation, von denen selbst fortschrittliche metropolitane Milieus betroffen sind. Diese Nähe erzeugt zwar heute für viele Menschen den Effekt »schierer Inkongruität«, doch hat die Gegenüberstellung der Erbschaften des nationalsozialistischen Genozids einerseits und des Kolonialismus andererseits durchaus ihre historische Logik. Um die Bedeutung der Einbeziehung dieser Szenen in Chronik eines Sommers zu begreifen, muss zunächst der Kontext ihrer Entstehung rekonstruiert werden. Innerhalb dieses Kontextes erhält auch die merkwürdige Verschiebung von der antikolonialen Aktualität zur Erinnerung an den Genozid, die der Film vollzieht, neue Bedeutungsebenen.

Cinéma vérité und das Auftauchen des Überlebenden Die Szenen, in denen wir Marceline bei ihrem Gang durch die Straßen von Paris folgen, verbinden die Neuerfindung des cinéma vérité mit der Entstehung einer neuen öffentlichen Form des Holocaustgedenkens. Deutet die im Film vorgenommene Sequenzierung dieses Akts der Zeugenschaft auch an, dass er als eine Art Behebung des »Unwissens« von Landry und Raymond einbezogen worden ist, so sind seine Möglichkeitsbedingungen dennoch komplexer. Die neuen Formen des Films und des öffentlichen Gedächtnisses nehmen an der Schnittstelle von Technik, Ästhetik und der konjunkturellen Politik der Dekolonisierung Gestalt an. Anders als im Kino-prawda oder in Nacht und Nebel, dem in Chronik eines Sommers erwähnten Dokumentarfilm, wirken der Film und das Zeugnis aus erster Hand dramaturgisch zusammen.20 Jean Rouch, in: Visual Anthropology 2 (1989) 3/4, S. 301–315, insbesondere S. 311–312; sowie Rouchs eigene Bemerkungen in The Mad Fox and the Pale Master, S. 102–126. 20 Nacht und Nebel war von Resnais als verschlüsselter Kommentar zum Algerienkrieg intendiert; der im Film gesprochene Text wurde von einem Deportierten, Jean Cayrol, verfasst. Anders als die Szenen mit Marceline hat Cayrols Text jedoch weder die Form eines persönlichen Zeugnisses noch die eines Zeugenberichts über den Genozid an den Juden und Jüdinnen; es handelt sich vielmehr um eine poetische und politische Beschwörung der Schrecken des Lagers im Allgemeinen.

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Die Technik, die das cinéma vérité ermöglicht, scheint auch die Form des Zeugnisses hervorzurufen: die Form einer eigenständigen Gattung also, deren Bedeutung seit den frühen 1960er-Jahren nur zugenommen hat. Die leichte und bewegliche 16-mmFilmkamera der Firma Éclair, die während der Dreharbeiten und unter Berücksichtigung der Hinweise von Rouch entwickelt wurde, und das von Rouch und Morin verwendete tragbare Tonbandgerät der Firma Nagra erleichtern das Festhalten von synchronem Bild und Ton, ohne dass es eines großen Teams bedurfte.21 Die Technik erlaubt es den Regisseuren, zudringlich und fern zugleich zu sein; Intimität und Distanz verbinden sich und schaffen die Voraussetzungen, um persönliche Erfahrungen in einem öffentlichen Medium zu artikulieren. Wir erkennen diese Verbindung insbesondere in den Aufnahmen von Marceline, auf denen sie den öffentlichen Raum der Place de la Concorde durchschreitet und den Markt von Les Halles betritt, die ganze Zeit über in eine traumatisierte, tranceartige Reminiszenz versunken, die durch die tragbare Tontechnik festgehalten wird. Ihre Worte sind zwar letztlich für die Öffentlichkeit bestimmt, doch sie werden artikuliert, »als ob« sie privat seien; selbst das Filmteam kann ihr Sprechen nicht hören. Die Erfindung des Holocaust-Videozeugnisses vorwegnehmend, mit dessen Archivierung erst in den 1970er-Jahren begonnen werden sollte, setzt cinéma vérité die neueste Technik ein und dokumentiert das Auftauchen des Holocaust-Überlebenden. Wie das Video-Archiv zeigt das cinéma vérité von Rouch ein verkörpertes, sprechendes Subjekt.22 Michel Marie hat vorgeschlagen, cinéma vérité und die verwandte Bewegung für ein »Kino der Unmittelbarkeit« als Ausdruck einer »Ästhetik« zu verstehen, »die auf der uranfänglichen Funktion des gesprochenen Wortes beruht«.23 Ein Großteil der Wirksamkeit sowohl von Videozeugnissen als auch des cinéma vérité geht auf deren scheinbar phonozentrischen Einsatz eines sich selbst vergegenwärtigenden Körpers zurück. Der direkt synchronisierte Ton des cinéma vérité und die von der neuen Kameratechnik ermöglichten, extrem dichten Nahaufnahmen laden sicherlich dazu ein, das verkörperte Subjekt, in diesem Fall Marceline, als Träger von Authentizität zu begreifen. Doch obwohl die Szenen mit Marceline durchaus ergreifend – und ohne wirkliche Vorläufer  – sind, können sie nicht einfach als »authentisch« angesehen werden; vielmehr hinterfragen sie Vorstellungen von Authentizität, die seitdem der eindrucksvollen Gattung des audiovisuellen Zeugnisses anhaften. Eine unreflektierte Assoziation von Zeugenschaft und Authentizität macht sich selbst bei einem anspruchsvollen Forscher zur Darstellung des Holocaust wie Lawrence Langer bemerkbar, wenn er behauptet, solche Zeugnisse würden »die textuelle Vermittlung« umgehen und uns »in ihrer rohen Offenheit« ansprechen, durch »die Unmittelbarkeit 21 Steven Feld, Introduction, in: Rouch, Ciné-Ethnography, S. 14 f. 22 Zur Stimme und zum Holocaust Video-Archiv siehe Geoffrey Hartman, The Longest Shadow: In the Aftermath of the Holocaust, Bloomington 1996, S. 144. Hartman hat durchgehend einige der erkenntnisreichsten Kommentare zu dem Vorhaben, Videozeugnisse zu archivieren, verfasst. 23 Michel Marie, Direct, in: Eaton (Hrsg.), Anthropology, Reality, Cinema, S. 35.

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und Intimität von […] Interviews«.24 Solche Behauptungen, die bereits mit Bezug auf Videozeugnisse zweifelhaft sind, werden noch mystifizierender, wenn es um Chronik eines Sommers geht, und das trotz Morins Auffassung vom cinéma vérité. Weit davon entfernt, ein unvermitteltes Beispiel von Ton und Bild zu sein, entsteht Marcelines Zeugnis gerade durch seine filmische Vermittlung. Das Kino ist in dieser Szene nicht nur in Form raffinierter Entscheidungen zu Schnitt und Montage, der sichtbaren und unsichtbaren Ton- und Kameratechnik sowie des Filmteams präsent, das außerhalb des Bildes, erst neben und dann vor Marceline, in einem Auto fährt (vgl. Ciné-Ethnography, S. 153).25 Es zirkuliert hier auch als das, was Marceline selbst später als »kinematografische Fantasien« bezeichnen sollte. »Gewisse Zeilen aus Hiroshima, mon amour kamen mir [während der Dreharbeiten] in den Sinn«, schreibt sie (zit. nach Ciné-Ethnography, S. 341). Tatsächlich erinnern Marcelines Szenen auf der Place de le Concorde und in Les Halles bildlich an die nächtlichen Wanderungen von Emmanuelle Riva in dem 1959 veröffentlichten Film von Resnais und Duras. Bereits die Entscheidung, auf der Place de la Concorde zu filmen, war Morin zufolge von der Erwartung bestimmt, dass dort noch ein anderes Filmteam sein würde, das einen Film über die deutsche Besatzung drehte, und das – wäre dieses Filmteam tatsächlich noch vor Ort gewesen – in deutscher Sprache beschriftete Schilder und Komparsen in Wehrmacht-Uniform zur Verfügung gestellt hätte (Morin, Chronicle of a Film, S. 240). Marcelines tranceartiges Zeugnis ist tatsächlich eine Art »ciné-transe« in Rouchs Sinn: ein Fall wechselseitiger Besessenheit, vermittelt durch die Anwesenheit der Kameras (Ciné-Ethnography, S. 99 f.).26 So schreibt Marceline in ihrem Beitrag zur veröffentlichten Drehbuchfassung: »Ich habe mich in die Situation versetzt, ich habe mich selbst dramatisiert, habe eine Figur gewählt, die ich dann innerhalb der Grenzen des Films interpretiert habe, eine Figur, die sowohl ein Aspekt von Marcelines Realität als auch eine von Marceline geschaffene, dramatisierte Figur ist« (zit. nach Ciné-Ethnography, S. 341). Die Mischung aus Fantasie, Inszenierung und technisch vermitteltem Realitätszugang, die diese Szenen kennzeichnet, schafft einen ungewöhnlichen Kontext für das Nachdenken über das Aufkommen der Zeugenschaft, der aber bestimmter suggestiver Verbindungen zu kanonischeren Holocaustdarstellungen nicht entbehrt. Beispielsweise erscheint Chronik eines Sommers durch seine Kombination von Inszenierung und Zeugenschaft wie ein verkannter Vorläufer von Claude Lanzmanns Opus Shoah, einem vollständig auf Zeugnissen beruhenden Film, den Lanzmann jedoch weniger 24 Lawrence Langer, Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory, New Haven 1991, S. xii–xiii. 25 Eine Erörterung der Rolle des Filmschnitts in Chronik eines Sommers bietet Barry Dornfeld, Chronicle of a Summer and the Editing of Cinéma-Vérité, in: Visual Anthropology 2 (1989) 3/4, S. 317–331. 26 Ich übernehme hier in abgewandelter Form den Begriff von Rouch, der sich primär auf die Art von Trance bezieht, die der Filmemacher erlebt, wenn er Besessenheitszeremonien filmt. Diese Szene ist jedoch bereits vor mir mit »ciné-transe« in Verbindung gebracht worden; siehe DeBouzek, Ethnographic Surrealism, S. 305.

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als Dokumentation denn als Form performativer Nachstellung begreift.27 Marcelines Zeugnis wäre zwar ohne die Technik und ästhetische Ideologie des cinéma vérité nicht möglich gewesen, doch müssen sowohl der Zeugenschaftsakt einer HolocaustÜberlebenden als auch die Gattung des cinéma vérité historisiert werden.28 Zunächst einmal ist es auf gewisse Weise anachronistisch, Marceline als Holocaust-Überlebende zu bezeichnen – nicht nur, weil das Wort »Holocaust« im Französischen erst viel später verwendet werden sollte, sondern auch, weil der Begriff des »Überlebenden« damals erst im Entstehen begriffen war. Die Jahre, in denen Chronik eines Sommers gedreht und veröffentlicht wurde (1960/61), sind ausschlaggebend für die Geschichte des Holocaustgedenkens. Zu dieser Zeit bildete sich ein Verständnis des spezifischen Charakters der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen heraus. Eichmanns Entführung durch israelische Agenten im Jahr 1960 warf bereits zahlreiche rechtliche und moralische Fragen auf, die im Vorfeld des Prozesses heftig debattiert wurden, doch es war letztlich die Entscheidung des Staatsanwalts Gideon Hausner, im 1961 geführten Prozess 111 Zeugen heranzuziehen, deren Aussagen sich am nachhaltigsten auf die Gestalt des Holocaustgedenkens auswirken sollten (siehe Segev; Novick; Wieviorka; Shandler). Annette Wieviorka hat zu diesem Punkt festgestellt: »Der Eichmann-Prozess markiert einen Wendepunkt. […] Die Erinnerung an den Völkermord wird konstitutiv für eine bestimmte jüdische Identität, während sie gleichzeitig eine Präsenz in der öffentlichen Sphäre beansprucht« (L’ère du témoin, S. 81). Hinzu kommt, wie Wieviorka weiter argumentiert, dass es die Wirkmächtigkeit des Prozesses war, durch die der »Überlebende« eine bestimmte Kategorie sozialer Identität wurde: »Vor dem Eichmann-Prozess bewahrt der Überlebende seine Identität durch und in intimen Beziehungen, ein in sich geschlossenes, assoziatives Leben. […] Der Eichmann-Prozess verändert die Situation. Im Zentrum der Identität des Überlebenden [entsteht] eine neue Funktion, die des Trägers der Geschichte« (S. 117 f.).29 Wenn der öffentliche Diskurs über die Singularität des Holocaust auf die frühen 1960er-Jahre zurückgeht und eng zusammenhängt mit dem Überlebenden als Träger der Geschichte, wie Wieviorka und andere argumentieren, dann hat Chronik eines Sommers provokante Implikationen für diesen Diskurs. Die Technik, die Marcelines Zeugnis ermöglicht, ist ja gerade eine Technik der Reproduzierbarkeit, ein Zusammenhang miteinander synchronisierter Aufnahmegeräte, die den Übergang von der Intimität zur Öffentlichkeit erleichtern. Hinzu kommt, dass die »Theatralik« 27 Joshua Hirsch versteht Chronik eines Sommers ebenfalls als Vorläufer von Shoah und vertritt die These, der Film biete die erste »Darstellung des Zeugen als Träger traumatischer Erinnerungen«. Hirsch, Afterimage, S. 68. Da er sich aber nicht mit Diskursen der Dekolonisierung befasst, liefert er keine Erklärung der Gründe für diese Neuerung. 28 Zur ästhetischen Ideologie von Rouch siehe Eaton, Production of Cinematic Reality. 29 Wieviorka will nicht darauf hinaus, dass einzig der Eichmann-Prozess von Bedeutung sei. Sie verweist auch auf die Veröffentlichungen von Wiesel und Schwarz-Bart sowie auf deutsche Gerichtsverfahren (L’ère du témoin, S. 86 f.).

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der betreffenden Szenen, also die Schwierigkeit, den Grad ihrer Spontaneität oder Gespieltheit zu ermessen, an die Theatralik des Eichmann-Prozesses erinnert. Wie Marcelines Zeugnis (ihr zufolge) und Rouch und Morins Film insgesamt war der Prozess eine bewusste Inszenierung; er wurde nicht in einem Gerichtssaal geführt, sondern im Jerusalemer Beit Ha’am, »einem großen Theater und Gemeindezentrum«, das man »umgebaut hatte, um für Hunderte von Journalisten aus Presse und Rundfunk Arbeitsplätze und Telekommunikationsdienste bereitstellen zu können« (Shandler, While America Watches, S. 90). Da sich die israelische Regierung die Schaffung eines neuen Holocaust-Narrativs zum Ziel gesetzt hatte, und nicht etwa nur die Durchführung eines justiziellen Vorgangs, wurde der Prozess, in Shandlers Worten, »eine Art Hyper-Geschichte«, eine »bewusste Darstellung der Vergangenheit als einer ›historischen‹« (S. 104). Somit haben Prozess und Film gemeinsam, dass sie sowohl von einer selbstreflexiven ästhetischen Strategie als auch von der neuesten Technik Gebrauch machen, um ihre Wahrheiten zu verbreiten. Im Fall des Prozesses trägt diese Kombination letztlich zur weltweiten Verbreitung eines Diskurses über die Einzigartigkeit des Holocaust bei, wohingegen der Film auf andere Pfade verweist, die ebenfalls hätten beschritten werden können.

Wahrheit und Dekolonisierung Wie sind Chronik eines Sommers und Marcelines Zeugnis in Bezug auf den vom Prozess des Jahres 1961 eingeläuteten epochalen Wandel zu verorten? Nicht nur ihr Verhältnis, sondern auch ihre Verhältnislosigkeit erweist sich als lehrreich für unser Nachdenken über die Transformationen des Holocaustgedenkens. Es liegt auf der Hand, dass die Vorbereitungen auf den Prozess die Entscheidung von Rouch und Morin beeinflusst haben könnten, eine Überlebende in den Mittelpunkt ihres Films zu stellen. Die dramatischen Zeugnisse, die einen Großteil des Prozesses ausmachten und die Konturen des Holocaustgedenkens verändern sollten, können allerdings keinen Einfluss ausgeübt haben, denn die Szenen mit Marceline wurden im August 1960 gedreht und ein Großteil des Schnitts war zum Zeitpunkt des Prozessbeginns bereits abgeschlossen. Zudem lassen sich in den schriftlichen Äußerungen von Rouch und Morin keine Hinweise auf den Eichmann-Prozess finden. Zwar kann man anhand der Indizien in diesem Films nicht behaupten, dass sie das vorherrschende Narrativ des Holocaustgedenkens und die Rolle, die der Eichmann-Prozesses darin spielt, verändert haben, doch die präzedenzlose Szene, in der Marceline ihr Zeugnis ablegt, und andere, in späteren Kapiteln zu besprechende Belege deuten darauf hin, dass wir mehr über den gesellschaftlichen Kontext nachdenken sollten, innerhalb dessen die öffentliche Erinnerung an den Genozid und die Figur des Überlebenden gemeinsam entstanden sind. Der vom Film geschaffene Kontext legt nahe, dass man, insbesondere in Frankreich, der zeitgleich spielenden Geschichte der Dekolonisierung eine bedeutende

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Rolle zuschreiben kann. Die Dekolonisierung rückte Fragen alltäglicher und extremer staatlicher Gewalt sowie die Thematik des Rassismus in die Öffentlichkeit. Nationalsozialismus und Kolonialismus waren zwar bereits 1950 von Césaire zueinander in Beziehung gesetzt worden, doch Chronik eines Sommers nimmt in einer Art und Weise auf den Holocaust und dessen Besonderheit Bezug, die Césaire zunächst nicht beabsichtigt hatte. Rouch und Morin entscheiden sich im Kontext von Diskussionen über »Rasse« und Kolonialismus, Marceline als Überlebende hervorzuheben und sie zu filmen, während sie Zeugnis ablegt. Ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass bereits der – wie auch immer kontroverse – Begriff der vérité oder Wahrheit, auf dem die Gattung des cinéma vérité beruht, seine Kraft aus jenen antikolonialen Kämpfen bezieht, die auf dem Höhepunkt waren, als Rouch und Morin diese Gattung in den Jahren 1959–1962 erstmals umgesetzt haben. Die ausschlaggebenden Momente des Krieges und der antikolonialen Bewegung, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, betreffen Folter, Zensur und Zeugnisse. Durch den Krieg hindurch, und trotz dadurch ausgelöster Kontroversen, bediente sich Frankreich in seiner Bekämpfung der Algerier und Algerierinnen routinemäßig der Folter. Intellektuelle begriffen die Folter nahezu sofort als bestimmendes Kampfmittel im Zeitalter der Dekolonisierung. Morin schrieb am 9. Juli 1959 in einem Artikel für die Zeitschrift France-Observateur: »Das neue Cogito der Linken kann nur die bedingungslose und umfassende Ablehnung der Folter sein.«30 Die Folterpraxis weckte auch Erinnerungen an die deutsche Besatzung Frankreichs, sowohl unter Mitgliedern der linken Résistance als auch unter manchen Staatsbeamten. Als beispielsweise der Generalsekretär der algerischen Polizei Paul Teitgen, ein ehemaliger Deportierter, 1957 seinen Rücktritt bekanntgab, äußerte er, er erkenne in Algerien »tiefe Spuren […] der Folter, die ich vor vierzehn Jahren selbst in den Gestapo-Kellern von Nancy erlitten habe«.31 Als der österreichische Holocaust-Überlebende Jean Améry Mitte der 1960er-Jahre seinen bekannten Aufsatz Die Tortur schrieb, in dem er seine Folter durch die Nationalsozialisten beschreibt, nahm er auf zeitgenössische Praktiken in Vietnam sowie auf die »zahlreiche[n]« Bücher über Folter in Algerien Bezug, die »um 1960« in Frankreich erschienen.32 Zu solchen Analogien und Verknüpfungen von Vergangenheit und Zeitgeschehen kam es häufig; sie erhielten noch zusätzlichen Auftrieb durch die Festsetzung von mindestens einer Million Algeriern und Algerierinnen in Konzentrationslagern (en camp de concentration) im Algerien des Jahres 1959, zu einem Zeitpunkt, da sich in der Metropole Tausende weitere Algerier und Algerierinnen in Verwaltungshaft befanden (Stora, La gangrène et l’oubli, S. 34). Solche extremen Maßnahmen wurden von Überlebenden der nationalsozialis30 Zit. nach Pierre Vidal-Naquet, Mémoires, Bd. 2: Le trouble et la lumière (1955–1998), Paris 1998, S. 110. 31 Zit. nach Stora, La gangrène et l’oubli, S. 32, sowie Delbo, Les belles lettres, S. 81. 32 Jean Améry, Die Tortur, in: ders., Jenseits von Schuld und Sühne, München 1966, S. 41–70, hier S. 44.

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tischen Lager wie Charlotte Delbo sofort als unerträglicher Nachhall der Vergangenheit wahrgenommen.33 Es ist jedoch nicht nur die Tatsache des Rückgriffs auf Nazi-ähnliche Praktiken durch eine vor Kurzem erst vom Faschismus viktimisierte Nation, die den Kontext von Chronik eines Sommers ausmacht. Der Wahrheitsdiskurs und die Zeugenschaftspraxis, die im Film zum Einsatz kommen, könnten auch als Reaktionen auf die weitreichende, wenngleich nicht durchgehend angewandte Zensurpraxis des Staates angesehen werden. Nach 1958 und der Unterdrückung von Henri Allegs berühmtem Folter-Exposé La Question (dt. Die Folter) wurden 14 Prozent aller Bücher über den Krieg zensiert, außerdem Hunderte von Periodika. Die Zensur erreichte in den Jahren 1960 und 1961 ihren Höhepunkt, also just zur Zeit der Dreharbeiten (Stora, La gangrène et l’oubli, S. 25–28). Der undeklarierte Status des Kriegs und die daraus sich ergebende Unfähigkeit, den Feind zu benennen (war er Algerier, Franzose, Muslim?), verstärkten zusammen mit dem offenen Geheimnis der Folter die Wirkung der Zensur und schufen unter einigen französischen Staatsbürgern das Bedürfnis nach dem, was Benjamin Stora als »eine Wahrheitskur« bezeichnet hat (S. 53): die Forderung, so weit wie möglich aufzudecken, was unterdrückt worden war. Zwar war damals vieles bekannt – oder konnte zumindest von denen, die sich dafür interessierten, in Erfahrung gebracht werden –, doch das Klima der Unterdrückung sollte nach dem Ende des Kriegs noch jahrzehntelang bestehen bleiben. Tatsächlich entschied das französische Parlament erst im September 1999 in einer Abstimmung, dass die »Ereignisse« in Algerien offiziell als Krieg zu bezeichnen seien.34 Dieser Kontext von Geheimnis und Unterdrückung beinhaltete, dass zumindest in der Metropole ein eng an die antikolonialen Kämpfe gekoppelter Diskurs der »Wahrheit« in Umlauf war, als Rouch und Morin das neue cinéma vérité ins Leben riefen. Das offenkundigste Beispiel ist, dass sich mehrere Zeitschriften der französischen antikolonialen Bewegung insofern über den Begriff der »Wahrheit« definierten, als sie diesen in den eigenen Namen aufnahmen. Es gab Vérité-Liberté (WahrheitFreiheit), eine ab Mai 1960 erscheinende Zeitschrift, die unter anderem von dem Historiker Pierre Vidal-Naquet herausgegeben wurde, außerdem Vérités Anticolonialistes (Antikolonialistische Wahrheiten) und La Vérité des Travailleurs (Die Wahrheit der Arbeiter), eine kommunistische Zeitung, deren Schlagzeile vom Februar 1961 lautete: »All unsere Kräfte für die algerische Revolution«.35 Im Jahr 1958 hatte Sartres radikaler Genosse Francis Jeanson die Zeitschrift Vérités Pour (Wahrheiten Für) gegründet, um ein Forum für verschiedene klandestine Widerstandsgruppen zu schaffen. Die Verhaftung und der Prozess von mehreren Personen aus Jeansons Netzwerk zur 33 Vgl. Delbo, Les belles lettres, S. 65 f. Das erste Buch der für ihren Auschwitz-Bericht bekannten Delbo, Les belles lettres, Paris, 1961, ist Gegenstand von Kapitel 7. 34 Siehe Ross, May ’68 and Its Afterlives, S. 49; Maurice T. Maschino, L’histoire expurgée de la Guerre d’Algérie, in: Le Monde diplomatique, Februar 2001. 35 Siehe Hervé Hamon/Patrick Rotman, Les porteurs de valises: La résistance française à la guerre d’Algérie, Paris 1979, S. 398 f.

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Unterstützung der Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) in Algerien rahmten die ersten Dreharbeiten zu Chronik eines Sommers im Jahr 1960 und führten zur Abfassung des berühmten Manifests der 121 durch Maurice Blanchot und andere im September jenes Jahres: einer Schrift, in der ihre Unterzeichner für das Recht entraten, den Wehrdienst zu verweigern.36 Der Zusammenhang von cinéma vérité, Algerienkrieg und Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid kommt darüber hinaus auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass nicht nur die Wahrheit, sondern auch ihre Artikulation, insbesondere durch den Akt der Zeugenschaft für den Widerstand gegen den Algerienkrieg von zentraler Bedeutung war. Antikoloniale Aktivisten versuchten die staatliche Zensur zu umgehen, indem sie indizierte Artikel und Bücher in Zeitschriften wie Témoignages et Documents (Zeugnisse und Dokumente) veröffentlichten. Auch diese Zeitschrift wurde von Vidal-Naquet herausgegeben, bevor es 1961 zu einer Spaltung der Redaktion kam und Vidal-Naquet Vérité-Liberté gründete.37 Tatsächlich bildeten die Akte der Zeugenschaft und des Widerstands für Personen wie Vidal-Naquet und André Mandouze, einen Mitarbeiter Fanons in Nordafrika, so etwas wie die Brücke zwischen den beiden Kriegen.38 Während des Zweiten Weltkriegs war Mandouze einer der Gründer von Témoignage chrétien (Christliche Zeugenschaft) gewesen, einer Gruppe, die sich an der Rettung jüdischer Kinder beteiligt hatte und deren Zeitschrift sich nun auch aktiv in den Widerstand gegen den Algerienkrieg einbrachte. Jahre später sollte Mandouze den ersten Band seiner Memoiren D’une résistance à l’autre (Von einem Widerstand zum anderen) überschreiben und bezeugte damit die Dauerhaftigkeit des Zusammenhangs von faschistischer und kolonialer Gewalt zumindest in einem Teil des französischen kollektiven Gedächtnisses.39 Vidal-Naquet, 36 Siehe Paul Clay Sorum, Intellectuals and Decolonization in France, Chapel Hill 1977, S. 173. Weder Rouch noch Morin hatten das Manifest unterzeichnet, doch beide beteiligten sich, neben Merleau-Ponty, Ricœur, Barthes und anderen, an einem moderateren »Aufruf zur Stellungnahme für einen Verhandlungsfrieden in Algerien« (Sorum, Intellectuals, S. 175). Das Manifest wird auch in unserer Beschäftigung mit Delbo eine wichtige Rolle spielen. 37 Pierre Vidal-Naquet, Face à la raison d’état: Un historien dans la guerre d’Algérie, Paris 1989, S. 83. 38 Eine faszinierende Oral History, die belegt, was für eine bedeutende Rolle die Erinnerung an die nationalsozialistische Besatzung und den nationalsozialistischen Genozid im antikolonialen Widerstand spielte, stammt von Martin Evans, The Memory of Resistance: French Opposition to the Algerian War (1954–1962), Oxford 1997, S. 31–72. Ich danke Joan Tumblety für den Hinweis auf diese Veröffentlichung. 39 Siehe Macey, Frantz Fanon: A Biography, S. 260–262. Mandouze hat seinen Memoiren merkwürdigerweise denselben Titel gegeben wie Georges Bidault, Mitglied der Résistance, der später einer der berüchtigtsten Gegner der algerischen Unabhängigkeit und ein Verteidiger des »französischen Algerien« wurde. Bidaults Memoiren D’une résistance à l’autre erschienen 1965 und belegen die Tatsache, dass multidirektionale Resonanzen keineswegs nur in den Dienst des antikolonialen Kampfes gestellt wurden. Gillo Pontecorvos 1966 erschienener Film Die Schlacht um Algier weist vermittels der Figur des Oberst Mathieu ebenfalls darauf hin: Mathieu ist ein ehemaliger Résistance-Kämpfer, der nun die Aufstandsbekämpfung in Algier koordiniert und den Einsatz von Folter mit dem Hinweis rechtfertigt, auch er und

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ein französischer Jude, dessen Eltern von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden, beobachtet rückblickend: »Ich persönlich hatte, als ich mich in den Kampf gegen den Algerienkrieg und insbesondere gegen die Folter eingebracht habe […], einen konstanten Bezugspunkt: die obsessive Erinnerung an unsere nationalen Ungerechtigkeiten – insbesondere die Dreyfus-Affäre – und an die Nazi-Verbrechen von Folter und Vernichtung.«40 In seinen Memoiren gibt Vidal-Naquet an, dass die Motivation noch persönlicher war: »Mein Vater Lucien war im Mai 1944 in Marseille von der Gestapo gefoltert worden. Die Vorstellung, dass dieselben Techniken von der französischen Polizei und dem französischen Militär – nach Indochina, Madagaskar, Tunesien und Marokko – nun auch in Algerien eingesetzt wurden, entsetzte mich« (Mémoires, 2.32). Vidal-Naquet sollte später zwar einige seiner explizitesten Vergleiche zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Algerienkrieg bedauern, doch schrieb er im ersten Editorial von Vérité-Liberté im Mai 1960 auch, dass »niemand heute behaupten kann, wir hätten die Nazi-Jahre vollständig hinter uns gelassen« (VidalNaquet, Face, S. 83; vgl. Mémoires, 2.91, S. 107). Meine These lautet, dass Marcelines Zeugnis möglich und bedeutsam geworden ist in einem diskursiven Kontext, in dem die Assoziation von Folter, Wahrheit, Zeugenschaft und Widerstand den Gedanken eines Zusammenhangs von Algerienkrieg und nationalsozialistischen Gräueln stützte. Das Auftauchen des Überlebenden – sein Austritt aus der privaten Sphäre intimer Assoziationen und sein Eintritt in einen öffentlichen Bereich der Artikulation (ein Vorgang, der mit der Entstehung der Privatsphäre als solcher einhergeht) – stellt eine Parallele zur Entwicklung des Eichmann-Prozesses dar. Einen Teil seines Antriebs bezog dieses Auftauchen von den intensiven, anhaltenden antikolonialen Kämpfen, die eine neue Anerkennung rassifizierter staatlicher Gewalt erzwangen, zumindest in einem kleinen Kreis linker französischer Intellektueller und Aktivistinnen. Diese Kämpfe um die öffentliche Anerkennung kolonialer Gewalt waren allerdings mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert. Es überrascht nicht, dass sich die ideologischen und repressiven Staatsapparate im Sommer 1960, ebenso wie in den unmittelbar vorangegangenen und nachfolgenden Jahren, der Anerkennung staatlicher Gewalt widersetzten. Hinzu kam jedoch, und das war vielleicht bedeutsamer, dass sich die große Mehrheit der französischen seine Untergebenen seien von den Nazis gefoltert worden. Die Tatsache, dass dieser Klassiker des antikolonialen Films von einem jüdischen und kommunistischen ehemaligen RésistanceKämpfer gedreht wurde, dessen früherer Film Kapo (1959) von den nationalsozialistischen Lagern handelt und dessen späterer Film Queimada – Insel des Schreckens (1969) die haitianische Revolution thematisiert, zeigt erneut, dass multidirektionale Erinnerung die Matrize ist, aus der in der Nachkriegszeit unterschiedliche Kämpfe um die Aufarbeitung der Geschichte und die politische Gegenwart hervorgegangen sind. Da es in unserem Buch um den Aufbau eines multidirektionalen Archivs geht, sollte auch erwähnt werden, dass Pontecorvo seine Filmkarriere als Assistent von Joris Ivens begann, dem radikalen holländischen Dokumentarfilmer, der später Marceline Loridan aus Chronik eines Sommers heiraten sollte. 40 Pierre Vidal-Naquet, Assassins of Memory: Essays on the Denial of the Holocaust, New York 1992, S. 127.

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Öffentlichkeit gleichgültig zeigte gegenüber den Wahrheiten, die sich trotz Zensur in Erfahrung bringen ließen, wobei diese Zensur tatsächlich nicht durchgehend praktiziert wurde. In Storas Worten: »Die Gesellschaft weiß Bescheid, begnügt sich jedoch damit, in das Geheimnis eines nicht erklärten Krieges eingeweiht zu sein« (La gangrène et l’oubli, S. 73). Die Wahrung dieses Geheimnisses erfordert eine aktive Arbeit des Vergessens und des Ausschlusses, durch die staatliche Gewalt und die Gewalt des nationalistischen Aufstands »zum Verschwinden gebracht« werden. Just zu dem Zeitpunkt, da die Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid, Wieviorka zufolge, aus der Privatsphäre heraustritt, gibt das zeitgenössische Bewusstsein des Algerienkriegs, Stora zufolge, bereits die kollektive Geschichte dem Vergessen anheim. Ohne besondere Traueransprachen, Grabsteine oder Monumente, um die Rückkehr verstorbener französischer Soldaten aus dem Krieg zu markieren, »wird das Verhältnis zum Tod, als rein privates, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen« (La gangrène et l’oubli, S. 73). Angesichts einer Situation, in der die Erinnerung an eine der Ereignisfolgen ins Bewusstsein rückt, während eine andere Ereignisfolge dem Vergessen anheimfällt, ist die Versuchung groß, ein kausales Verhältnis von Gedenken und Vergessen zu postulieren. In dieser Lesart, die nicht ungewöhnlich ist, fungiert die zunehmende Beschäftigung mit dem Holocaust als eine Deckerinnerung, die den Zugang zur jüngeren und verstörenderen Beteiligung Frankreichs an kolonialer Gewalt versperrt.41 Dies mag durchaus einen Aspekt der Situation in Frankreich richtig wiedergeben – und auch auf andere Orte zutreffen, etwa auf die Vereinigten Staaten, wo unangenehme Erinnerungen an die Sklaverei und den Genozid an indigenen Völkern im Vergleich zur weitverbreiteten Faszination mit den Ereignissen der Shoah und des Zweiten Weltkriegs recht blass ausfallen. Eine kontextbezogene Lesart von Chronik eines Sommers lässt jedoch eine komplexere Erinnerungsdynamik vermuten. So sollte beispielsweise beachtet werden, dass selbst zu dem Zeitpunkt, da der Überlebende als Kategorie sozialer Identität in Frankreich Gestalt annahm, die allgemeine Haltung zu einer umfassenden Aufarbeitung der Vergangenheit weiterhin ablehnend blieb. Henry Rousso zufolge waren die frühen 1960er-Jahre die Hochzeit des »Vichy-Syndroms«: Auf die ursprüngliche Verdrängung folgte die Faszination über die Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg, bei der die französische Komplizenschaft mit Deutschland und Kollaboration an der »Endlösung« weitgehend zugunsten der Legende eines einheitlichen antinazistischen Widerstands ignoriert wurden. Doch selbst in jenen Jahren löste der Algerienkrieg eine politisierte Erinnerungsarbeit aus, insbesondere unter ehemaligen Mitgliedern der Résistance, die sich mit dem Erbe von Dreyfus identifizierten.42 Mit anderen Worten: Selbst wenn der Großteil der französischen Öffent41 Eine überzeugende Variante dieser These, die sich mit dem Zusammenhang des Holocaust, des Algerienkriegs und der Schriften von Camus befasst, bietet LaCapra, History and Memory, S. 73–94. Vgl. zu Camus, Kolonialismus und dem Holocaust auch: Debarati Sanyal, Memory and Complicity. Migrations of Holocaust Remembrance, New York 2015. 42 Henry Rousso, Le syndrome de Vichy: 1944–198…, Paris 1987, Kapitel 2.

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lichkeit kein Interesse daran zeigte, im Namen Frankreichs begangene Verbrechen zu erinnern oder zur Kenntnis zu nehmen, so war seitens derer, die sich zu Algerien äußerten, umso mehr mit einer Gedenkarbeit und Zeugenschaft zu rechnen, die sich aus der Erinnerung an den Genozid speiste und diese beförderte. Der von Übergängen und Konflikten geprägte Kontext im Frankreich der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre sorgte dafür, dass kollektive Erinnerungen an Genozid und Kolonialismus keine endgültige Ausdrucksform fanden, sondern sich eine dynamische Spannung bewahrten.43 Chronik eines Sommers bestätigt dies. Einerseits kommt es im Film durchaus zu einer Verschiebung, fort von der unmittelbaren und dringlichen Frage des Kolonialismus und der Dekolonisierung hin zur zeitlich ferneren des Holocaust. Andererseits findet diese Verschiebung in einem politischen Kontext statt, in dem der Diskurs über zeitgeschichtliche Ereignisse deutlichen Einschränkungen unterliegt. Anstatt hier nur einen Kampf unterschiedlicher Erinnerungen zu sehen, sollten wir dies als ein Beispiel multidirektionaler Erinnerung erkennen: als Vorgang, bei dem es zu Übertragungen kommt zwischen Ereignissen, die häufig als voneinander unabhängig betrachtet werden. So trägt die Aktualität der Kämpfe um die Dekolonisierung nicht nur zur Schaffung eines Kontextes bei, in dem die Erinnerung an die Shoah artikuliert werden kann. Darüber hinaus kann die Artikulation dieser Erinnerung als eine Allegorie für das dienen, worüber öffentlich nicht gesprochen werden darf oder wovon die Öffentlichkeit nichts hören will. Im Film wird die traumatische Erinnerung an den Genozid als Bewegung vom Impliziten zum Expliziten und vom Privaten zur Öffentlichkeit inszeniert. Angesichts der enormen staatlichen Zensur und Repression, denen sich der Widerstand gegen den Algerienkrieg ausgesetzt sah, könnte es sein, dass Marcelines Zeugnis eine zusätzliche symbolische Last zu tragen hat: Sie spricht als ein Opfer, dessen Erfahrungen endlich erzählt werden können, und wird damit zur allegorischen Stellvertreterin jener anderen Opfer, deren Erfahrungen noch nicht angesprochen und anerkannt werden können. Die Tatsache, dass Marcelines Erinnerung nicht auf »natürliche« Weise zum Vorschein kommt – dass sie also aus dem Zusammenwirken von Technik, Fantasie und Politik hervorgeht und in einem Kontext verortet ist, den eine große Distanz vom nationalsozialistischen Genozid zu trennen scheint –, sollte Anlass zu weiterem Nachdenken über die Geschichte des Holocaustgedenkens geben. Das wechselseitige Artikulieren von Holocaustgedenken und antikolonialer Geschichte lässt vermuten, dass Versuche, die Erbschaften des Holocaust von denen anderer Gewaltgeschichten zu trennen, nicht nur moralisch suspekt sind, sondern auch die produktive Dynamik übersehen, die in den Akten der Gegenüberstellung, des Vergleichs und der Analogisierung liegt. Chronik eines Sommers ist Träger einer Erinnerungsspur, die sich gegen das vorherrschende Verständnis des nationalsozialistischen Genozids als 43 Siehe zu dieser Zeit: Ross, Fast Cars, Clean Bodies. Ross spielt das Erbe der nationalsozialistischen Besatzung und des Genozids allerdings herunter.

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»einzigartige, mit nichts vergleichbare Episode« und als »jeglicher Parallele entbehrend« sperrt, um die Sprache Ben-Gurions aufzugreifen. Vielmehr bezeugt Chronik eines Sommers gerade zu dem Zeitpunkt, als sich eine solche Auffassung im Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit Bahn brach, dass es auch eine andere Sichtweise geben kann, in der die Besonderheit des nationalsozialistischen Genozids nicht durch dessen Gegensatz zur kolonialen Gewalt, sondern durch eine Konfrontation mit ihr gekennzeichnet ist. So sehr Chronik eines Sommers auch in den überaus eigentümlichen nationalen und transnationalen Gegebenheiten im Frankreich der frühen 1960er-Jahre verwurzelt sein mag: Die in diesem Film artikulierte Vision ist nicht singulär, wie das Beispiel von Du Bois und anderen zeigt. Es gibt weitere Werke, die aus dem Kontext des Algerienkriegs hervorgegangen sind oder sich diesem gestellt haben – Werke einer internationalen Gruppe von Schriftstellern, Forscherinnen und Filmregisseuren, die ebenfalls mit der Form des Zeugnisses und der Schaffung neuer Öffentlichkeiten experimentierten, mitunter offenbar direkt von Rouch und Morins Film inspiriert.

7. Die gegenöffentliche Zeugin: Charlotte Delbos Les belles lettres

1961, das Jahr der Erstaufführung von Chronik eines Sommers, war auch das Jahr, in dem Les Temps modernes in der Mai-Ausgabe Auszüge aus Büchern von Primo Levi und Frantz Fanon veröffentlichte und später einem Bericht über das am 17. Oktober in Paris begangene Massaker an Algeriern und Algerierinnen eine Reportage über den Eichmann-Prozess an die Seite stellte.1 1961 veröffentlichte schließlich Charlotte Delbo ihr erstes Buch. In den letzten Jahrzehnten ist Delbo zu Recht als eine der wortgewandtesten Verfasserinnen von Memoiren über die nationalsozialistischen Lager gefeiert worden, vor allem aufgrund ihrer Trilogie Auschwitz et après (dt. Trilogie. Auschwitz und danach) und ihres posthum erschienenen Buchs La mémoire et les jours (Die Erinnerung und die Tage, 1985). Delbos Ruf rührt von dem zugleich emotional aufrüttelnden und formal herausfordernden Charakter ihrer Schriften her. In dem Bemühen, die Extremität und die langfristigen traumatischen Auswirkungen der nationalsozialistischen Lager darzustellen, experimentiert sie mit dokumentarischen Formen.2 Die kritische Wertschätzung Delbos, einer nicht-jüdischen Überlebenden, die sich an der kommunistischen Résistance beteiligte und nach dem Krieg weiterhin Kontakte zu linken Intellektuellen in Frankreich unterhielt, hat allerdings bislang noch nicht zu einer Wiederentdeckung derjenigen ihrer Bücher geführt, in denen sie sich nicht mit Auschwitz befasst. Delbo verfasste zwar den ersten Band ihrer Auschwitz-Trilogie, Aucun de nous ne reviendra (dt. Keine von uns wird zurückkehren), bereits kurz nach ihrer Rückkehr aus den Lagern, doch vergingen Jahre, bis sie sich dazu entschloss, ihn zu veröffentlichen. Das Buch erschien schließlich 1965. Vier Jahre zuvor hatte Delbo bereits ihr erstes Experiment mit dokumentarischen Formen vorgelegt. Dabei handelte es sich nicht 1

2

Siehe Primo Levi, J’étais un homme, Les Temps modernes (Mai 1961) 181, S. 1533–1569; Frantz Fanon, De la violence, in: ebenda, S. 1453–1493; siehe zu Eichmann und dem Massaker Robert Misrahi, Le procès Eichmann et la seconde naissance d’Israël, in: Les Temps modernes (November 1961) 186, S. 552–562; Jacques Vergès, Lettre au Dr. Servatius sur la defense de Robert Lacoste, und La »Bataille de Paris«, in: Les Temps modernes, November 1961, S. 552– 562, 563–565, 618–620. Eine ausführliche Erörterung dieser Aspekte von Delbos Werk findet sich in: Rothberg, Traumatic Realism, S. 141–177. Siehe auch Thomas Trezise, The Question of Community in Charlotte Delbo’s Auschwitz and After«, in: Modern Language Notes 117 (2003) 4, S. 858–886; Lawrence L. Langer, The Age of Atrocity: Death in Modern Literature, Boston 1978; Brett Ashley Kaplan, Pleasure, Memory, and Time Suspension in Holocaust Literature: Celan and Delbo, in: Comparative Literature Studies 38 (2001) 4, S. 310–329; Nicole Thatcher, A Literary Analysis of Charlotte Delbo’s Concentration Camp Re-Presentation, Lewiston 2000; dies., Charlotte Delbo: Une voix singulière, Paris 2003.

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7. DIE GEGENÖFFENTLICHE ZEUGIN

um Erinnerungen an den Holocaust, sondern um eine Sammlung von Briefen zum Algerienkrieg.3 Diese Briefe, die Delbo meist bekannten französischen Zeitungen und Zeitschriften wie Le Monde, gelegentlich aber auch explizit politischen Medien wie Les Temps modernes, France-Observateur und Vérité-Liberté entnahm, bieten eine mehr oder weniger chronologisch geordnete historische Kurzdarstellung einiger der bedeutendsten mit dem Krieg verbundenen Kontroversen in der Zeit von Ende 1959 bis zum Frühjahr 1961. Zwischen die Briefe, die in herkömmlicher Schriftart gesetzt sind, hat Delbo ihre eigenen, knappen und oft schneidenden Kommentare im Fettsatz eingefügt. Ihre Anmerkungen und ihre Briefauswahl verorten sie in der heterogenen linken Widerstandsbewegung der Metropole, die sich sieben Jahre nach Kriegsbeginn zunehmend radikalisierte. Die formalen Neuerungen und der provokante Inhalt von Les belles lettres, eines Buchs, das in der jüngsten Welle der Delbo-Kritik (einschließlich meiner eigenen früheren Arbeiten) fast vollständig ignoriert worden ist, legen nahe, dass die Entstehung ihres beeindruckendem Œuvres im Lichte eines bislang unbemerkten politischen und historischen Kontexts neu zu bewerten ist. Es besteht zwar kein Grund, Delbos Aussage anzuzweifeln, sie habe ihren Auschwitz-Bericht zwanzig Jahre nicht veröffentlicht, um sicherzugehen, dass er »vor der Zeit besteht«, doch der gesellschaftliche und politische Kontext der Publikationsgeschichte lässt vermuten, dass es noch einen weiteren Grund gab, weshalb sie ihn schließlich zu veröffentlichen begann: die Dringlichkeit des aufgeladenen politischen Klimas der 1960er-Jahre mit ihren antikolonialen Kämpfen, die an den Grundfesten der europäischen Nachkriegszeit rüttelten.4 Liest man Delbo in diesem Kontext, ergeben sich bedeutende historische und theoretische Implikationen. Zunächst trägt eine solche Interpretation zu jenem neuen Verständnis der Entstehung des Holocaustgedenkens und der Entfaltung der Dekolonisierung als sich überschneidende und nicht etwa getrennte Prozesse bei. Obwohl die Forschung sowohl zum Holocaustgedenken als auch zur Dekolonisierung anerkennt, dass es sich bei den frühen 1960er-Jahren um einen historisch bedeutsamen Moment handelt, hat noch niemand versucht, den Status dieses Moments als Schnittstelle sich überschneidender Geschichten zu untersuchen oder darüber nachzudenken, wie sich solche Überschneidungen in den Narrativen der Zeit niedergeschlagen haben. Viele Historiker und Historikerinnen des nationalsozialistischen Genozids führen die Entstehung des Holocaustgedenkens in der Öffentlichkeit auf die affektive Macht des 1961 in Jerusalem geführten Eichmann-Prozesses zurück. Da Les belles lettres, ebenso wie Chronik eines Sommers, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Lager mit der Einsicht in die Gewalt des Kolonialismus verbindet und beide Gewaltgeschichten in den Dienst einer experimentellen Zeugnis- und Dokumenta3 4

Delbo, Les belles lettres. Delbos Aussage, sie habe ihr Manuskript ruhen lassen, um zu sehen, ob es »vor der Zeit bestehen« würde, wird von Lawrence L. Langer berichtet: ders., Introduction, in: Charlotte Delbo, Auschwitz and After, New Haven 1995, S. x.

CHARLOTTE DELBOS LES BELLES LETTRES

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tionsform stellt, bestätigt Delbos Text die Notwendigkeit, über Eichmann hinaus zu blicken, um die Entstehung öffentlichen Holocaustgedenkens und öffentlicher Holocaustzeugnisse zu erklären. Im Vergleich zu Chronik erinnern die Bezugnahmen auf den Holocaust in Les belles lettres weniger an das heutige Holocaustgedenken, das die Besonderheit des jüdischen Schicksals viel stärker betont als Delbo. Das Buch bietet jedoch Einblick in die Art und Weise, in der die Vorstellung von dieser Besonderheit entstand. Zusammen mit dem Film von Rouch und Morin legt Delbos Buch auch nahe, dass diese Entstehung durch einen Dialog – und nicht etwa einen Widerstreit – dicht miteinander verknüpfter Gewaltgeschichten verlief, einschließlich der Gewaltgeschichten des Kolonialismus und der Dekolonisierung. Aus denselben Gründen bietet Delbos Text auch neue Einblicke in die Geschichte des antikolonialen Widerstands in der Metropole. Zwar ist den Erbschaften von Vichy und dem nationalsozialistischen Genozid in Frankreich seit dem Ende der 1960erJahre deutlich mehr öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilgeworden als Frankreichs Kolonialkriegen, doch laufen jüngere Versuche, das auszugleichen, Gefahr, Ereignisse zu trennen, die viele Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, einschließlich Delbo, als zutiefst miteinander verbunden erfahren haben. Kristin Ross’ wertvolle Neuinterpretation der französischen Geschichte und Kultur seit dem Zweiten Weltkrieg ist ein vielsagendes Beispiel. In zwei scharf argumentierenden Büchern hat sich Ross bemüht, das Verständnis der französischen Nachkriegszeit zu revidieren, indem sie den Algerienkrieg in den Mittelpunkt der Epoche stellt: In Fast Cars, Clean Bodies zeigt Ross, wie die Weigerung des Mainstream, den Krieg anzuerkennen, solange er ausgefochten wurde, durch einen Verschiebungsvorgang zu einer Vielzahl von Modernisierungsdiskursen führte, in denen alles von der häuslichen Hygiene bis zum hohen Strukturalismus verhandelt wurde. In May ’68 and its Afterlives entdeckt sie die Ursprünge der Studenten- und Arbeiterrevolte der späten 1960er-Jahre in der Erinnerung an koloniale Gewalt und an den Widerstand, den Aktivisten und Aktivistinnen gegen diese Gewalt geleistet haben.5 Ross’ Arbeiten tragen wesentlich zur Aufhebung jener postkolonialen Amnesie bei, von der Frankreich auch mehr als vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens betroffen bleibt, sie reproduziert aber gleichzeitig andere Formen des Vergessens. Insbesondere hat sie wenig darüber zu sagen, wie sich die von ihr aufgedeckte phantomhafte Präsenz Algeriens zu den Erbschaften der nationalsozialistischen Besatzung, des nationalsozialistischen Genozids, der Kollaboration des Vichy-Regimes und des antifaschistischen Widerstands verhält, von denen die Nachkriegszeit ja ebenfalls geprägt war. Indem sie darüber schweigt, folgt sie den meisten Forschern und Forscherinnen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Nachwirkungen befasst haben. Im Allgemeinen ignorieren auch sie die sich überschneidenden Erbschaften des Genozids und des Kolonialismus. Les belles lettres zeigt die Grenzen sowohl des konventionellen Narrativs des Holocaustgedenkens als auch Ross’ revisionistische Darstellung der Nachkriegs5

Ross, Fast Cars, Clean Bodies; dies., May ’68 and Its Afterlives.

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zeit auf, indem es die Aufmerksamkeit auf die vielfachen Formen wechselseitiger Bezugnahmen zwischen Dekolonisierung und Aufarbeitung des nationalsozialistischen Genozids lenkt, die die 1950er- und 1960er-Jahre in Frankreich und anderswo geprägt haben. In diesem Kapitel konzentriere ich mich weiterhin auf die Politik der multidirektionalen Erinnerung, um zu zeigen, dass ein Überdenken der Kategorien von Öffentlichkeit und Zeugenschaft erforderlich ist. Ein wesentliches Problem, das dem Ansatz der »Erinnerungskonkurrenz« anhaftet, ist die These, dass sowohl der Schauplatz der Konkurrenz, die Öffentlichkeit, als auch die Subjekte der Konkurrenz von vornherein als gegeben anzusehen seien. Dagegen geht die multidirektionale Erinnerung davon aus, dass die Überschneidungen und Interferenzen unterschiedlicher Erinnerungen zur Konstituierung sowohl der Öffentlichkeit als auch der in ihr sich artikulierenden, verschiedenen individuellen und kollektiven Subjekte beitragen. Wenn weder der Raum noch das Subjekt des öffentlichen Diskurses von vornherein gegeben sind, dann wird die zeugnishafte Artikulation der Erinnerung zu einem Schauplatz möglichen politischen Engagements. Sie schafft Subjekte und trägt zur Gestaltung dessen bei, was als Terrain der Politik gilt. Die meisten Studien zur Holocaustzeugenschaft haben sich auf eine Vorstellung von Zeugenschaft gestützt, die auf dem psychoanalytischen Dialog beruht. Diese Rahmung, die von Shoshana Felman und Dori Laub auf besonders einflussreiche Weise artikuliert worden ist, hat sich als nützlich erwiesen, um den Schmerz von Überlebenden verschiedener traumatischer Geschichten zu verstehen und um die Rolle des Zuhörers als autorisierende Instanz zu betonen.6 Wenn die Zeugenschaft den Bereich der Intimität verlässt und öffentlich wird, indem sie in den Medien, dem Rechtssystem und anderen gesellschaftlichen Räume Eingang findet, stellt sich jedoch heraus, dass die psychoanalytische Dialogkonzeption nicht in der Lage ist, die Zirkulation und die potenziellen politischen Folgen des Zeugnisses zu erklären. Um die politische Arbeit zu beschreiben, die Zeuge und Gedenken in Les belles lettres leisten, entwickle ich, unter Bezugnahme auf Michael Warners Theorie von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, einen alternativen Begriff von »gegenöffentlicher Zeugenschaft«. Ich verorte diese Arbeit des Gedenkens nicht nur im Inhalt der Erinnerungen, um die es in Delbos Text geht – so beeindruckend er auch sein mag –, sondern insbesondere auch in der selbstreflexiven, brieflichen Form des Buches. Gerade die Form von Delbos Werk ist hier von Bedeutung, weil es formale Experimente sind, durch die Delbo Anspruch auf die Konstruktion einer neuen Öffentlichkeit erhebt. Delbos Werk hilft uns zu erkennen, dass sich Zeugenschaft und Gedenken nicht einfach zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vom privaten zum öffentlichen Bereich verlagern, wie in gängigen Darstellungen des Holocaust angenommen wird; vielmehr tragen ihre öffentliche Artikulation und Adressierung dazu bei, neu zu bestimmen, was als öffentlich gilt und was damit als Feld für politische Kämpfe 6

Shoshana Felman/Dori Laub, Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992.

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zur Verfügung steht. Dieses Terrain wird, wie Les belles lettres veranschaulicht, nicht nur durch die Institutionen des Staates und der Medien konturiert, sondern auch durch den Charakter des individuellen und kollektiven Gedächtnisses sowie durch die ästhetischen Neuerungen, die das Gedenken inspirieren kann. Neben anderen antikolonialen Intellektuellen und Aktivistinnen hat auch Delbo deutlich die Notwendigkeit erkannt, dem Frankreich der Nachkriegsjahre eine »Wahrheitskur« zu verabreichen – eine Kur, die, wie bei Rouch und Morin, die Form eines experimentell-dokumentarischen Werkes annimmt, das die Wahrheiten der Dekolonisierung und des nationalsozialistischen Genozids zusammenführt. Durch seine ungewöhnliche Form erhebt Les belles lettres Anspruch auf den öffentlichen Raum und vermittelt eine Lektion über die Politik von Zeugenschaft und Erinnerung. Das Buch zeigt nicht nur, dass Erinnerung, Wahrheit und Zeugenschaft für die politischen Bewegungen und Dekolonisierungsprozesse der Nachkriegszeit zentral sind, sondern auch, dass Gedenken in Form von Briefen oder anderen schriftlichen Zeugnissen an der Aufgabe mitwirken kann, neu zu bestimmen, was als öffentlich gilt und was also politisch möglich ist. Die von Les belles lettres aufgeworfenen Fragen sind nicht ohne Implikationen für die Gegenwart. Der Nachhall der nationalsozialistischen Vergangenheit, der französische Intellektuelle und Aktivistinnen während des Algerienkriegs motiviert hat, ist auch zu unserer Zeit vernehmbar, wie ich weiter ausführen werde. Wenn wir über zeitgenössische Politik nachdenken und in sie intervenieren wollen, dann ignorieren wir die Wahrheiten der Erinnerung auf eigene Gefahr.

Zwischen dem Alltäglichen und dem Extremen – noch einmal Das ästhetische Projekt, dem Delbo in Les belles lettres nachgeht, zeichnet sich mit seinem Fokus auf die Tages-, Wochen- und Monatspresse unter anderem durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen aus  – eine Auseinandersetzung, in der sich etwas vom intellektuellen und kulturellen Tenor der Zeit zeigt. In einem solchen Zusammenhang erscheint es keineswegs unbedeutend, dass Delbo ab 1960, nachdem sie dreizehn Jahre in Genf, Israel und Griechenland für die Vereinten Nationen gearbeitet hatte, eine Stelle am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) übernahm, und zwar als Assistentin des bedeutendsten marxistischen Theoretikers des Alltagslebens, Henri Lefebvre. Delbos Verbindung zu Lefebvre wird zwar oft erwähnt, doch hat noch niemand versucht, der Bedeutung dieser Verbindung nachzugehen; auch sind ihre nicht mit Auschwitz befassten Werke aus dieser Zeit nie umfassend untersucht worden.7 Die Untersuchung des Alltagslebens war nicht nur 7

Es gibt keine Biografie über Delbo. Thatchers oben zitierte Bücher enthalten kurze biografische Informationen. In der umfangreicheren Literatur zu Lefebvre wurde bislang nicht auf dessen Verbindung zu Delbo eingegangen. Lefebvres Biograf Remi Hess bemerkt, Delbo sei »die bedeutendste [administrative?] Mitarbeiterin Lefebvres in den 1960er- und 1970er-Jahren« gewesen, und erwähnt weiter, sie sei Anfang der 1930er-Jahre Lefebvres Schülerin am

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ein Thema, für das sich die Pariser Intelligenz interessierte, sondern sie war auch eine dringliche Frage für Überlebende der nationalsozialistischen Lager, die sich manchmal veranlasst sahen, ihre Erfahrungen im Lichte zeitgenössischer Entwicklungen in den sich dekolonisierenden Ländern zu deuten. Dieser Zusammenhang von Alltagsleben, Dekolonisierung und Holocaustgedenken zeigt sich insbesondere in Delbos Schriften. Im Mittelpunkt ihrer Auschwitz-Berichte steht das Problem, wie sich die Extremsituation des Lagers mit der Alltäglichkeit der Nachkriegswelt in Einklang bringen lässt. Denkt man ernsthaft über den gesellschaftlichen und politischen Kontext im Frankreich der 1960er-Jahre sowie über Delbos persönliche Verbindung zum führenden Theoretiker des Alltagslebens nach, dann liegt der Schluss nahe, dass ihre Post-Holocaust-Ästhetik im Schmelztiegel einer Nachkriegsgeschichte geschmiedet wurde, die nur peripher mit der historischen Tatsache des nationalsozialistischen Genozids zusammenhängt. Ihre eindrucksvollsten Werke berichten zwar über ihre Erfahrungen in den nationalsozialistischen Lagern, doch zögert sie nicht, den NaziVerbrechen die des Kolonialismus und des Neokolonialismus an die Seite zu stellen (ohne dass es dabei zu einer Gleichsetzung kommt). Tatsächlich rahmt diese Nebeneinanderstellung ihr Werk und findet sich sowohl in ihrer ersten Veröffentlichung, Les belles lettres, als auch am Ende ihrer letzten, La mémoire et les jours. Hinzu kommt, dass einer Geschichte über die Hinrichtung von vier Widerstandskämpfern während der deutschen Besatzung im zweiten, 1970 erschienenen Band ihrer Auschwitz-Trilogie, Une connaissance inutile (dt. Eine nutzlose Bekanntschaft),8 unmittelbar ein Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel folgt, der über die Hinrichtung eines Algeriers im Jahr 1960 berichtet.9 Lawrence Langer zufolge wurden zwar Teile von Une connaissance inutile bereits kurz nach dem Krieg geschrieben, in den Jahren 1946/47, doch geht aus dieser Passage deutlich hervor, dass der Band die Spuren von mehr als einer Geschichte trägt (Introduction, S. x). Algerien taucht auch in späteren Schriften Delbos immer wieder auf, selbst lange nach dem Ende des Krieges – was, wie Ross zu Recht betonen würde, den prägenden Einfluss des Krieges auf die intellektuelle und politische Kultur der 1960er-Jahre und späterer Jahrzehnte bezeugt. Im letzten, 1971 veröffentlichten Band ihrer Trilogie Auschwitz et après berichtet Delbo über zahlreiche Überlebende der nationalsozialistischen Lager, indem sie von unterschiedlichen Stimmen erzählte Geschichten aneinanderreiht. Mit wenig oder keinem editorischen Kommentar versehen, bieten diese Stimmen keinen einheitlichen oder leitenden Diskurs darüber, was es bedeutet, Auschwitz zu überleben (tatsächlich scheint es gerade um das Gegenteil zu gehen), sondern sie reflektieren mit wenigen Ausnahmen die Schwierigkeiten der Rückkehr aus den Lagern und die Probleme bei der Reintegration in das Alltagsleben der fran-

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Lycée de Montargis gewesen; dennoch widmet Hess Delbo im gesamten Buch nur eine Fußnote. Siehe Remi Hess, Henri Lefebvre et l’aventure du siècle, Paris 1988, S. 206 f., Fn. Es handelt sich um eine Fehlübersetzung. Die richtige Übersetzung wäre gewesen: »Ein nutzloses Wissen« (Anm. d. Übers.). Delbo, Trilogie. Auschwitz und danach, S. 188.

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zösischen Nachkriegsjahre. Eine Überlebende, Gaby, berichtet: »Einen Fernseher haben wir nicht. Da sieht man zu viel Grauen. Wir hatten einen, aber als der Apparat kaputtging, hat ihn Jean nicht zur Reparatur gebracht. Das war zur Zeit des Algerienkriegs. Uniformen, Soldaten, Maschinengewehre …« (Auschwitz et après, S. 463). In Delbos Wiedergabe von Gabys Zeugnis vermischt sich die Erinnerung an Auschwitz mit den Dekolonisierungskriegen, um das Gefüge des Alltags zu stören. Für Lagerüberlebende bechen die Mechanismen der Modernisierung und Amerikanisierung – von Ross als Agenten des Vergessens in der Zeit der französischen Dekolonisierung verstanden – unter einem Überschuss schmerzhafter Erinnerungen zusammen. Im Gegensatz zu Gaby entdeckt und definiert Delbo ihr Projekt in diesem durch die Überschneidung von Lagererinnerungen und Dekolonisierungskriegen beschleunigten Zusammenbruch des Alltäglichen. Eine Anmerkung am Ende eines der letzten Abschnitte von La mémoire et les jours, Delbos posthum veröffentlichten Buch, bestätigt, wie nachdrücklich die mit dem algerischen Unabhängigkeitskrieg zusammenhängenden Ereignisse der frühen 1960er-Jahre ihr Schreiben bestimmt und auch angeregt haben. Für Delbo tangiert der durch den Krieg dargestellte Bruch das Material des Schreibens – die Sprache selbst. Hier, am Schluss ihres letzten Werks, gibt Delbo einen Dialog zwischen ihrer Erzählerin und einer »halbjüdischen« deutschen Frau in Ravensbrück gegen Ende des Krieges wieder. Die Frau, Hannelore, erzählt von ihrem starken Wunsch, Deutschland zu verlassen, sobald der Krieg vorbei ist; das Land sei unbewohnbar geworden durch die »stinkenden Abszesse« der Massengräber und Lager, die »das ganze Gesicht Deutschlands« bedecken würden.10 Nach dem Krieg begegnet Delbo Hannelore in Paris wieder, und Hannelore bestätigt, dass sie Deutschland verlassen möchte, obwohl sich ihre jüdische Mutter und ihr nichtjüdischer Vater mittlerweile versöhnt haben. Für Hannelore lässt sich eine solche familiäre Versöhnung nicht ohne Weiteres in ein umfassenderes nationales Projekt übersetzen: »Man kann die Geschichte nicht auslöschen. Es wird der Tag kommen, an dem sie die Fragen ihrer Kinder beantworten müssen«. Hannelores abschließendes Urteil wird von Delbo weder bestätigt noch abgelehnt, vielmehr fügt sie eine kursiv gesetzte Reaktion an, in der sie retrospektiv das Problem der Aufarbeitung staatlich geförderter Verbrechen verallgemeinert (ohne es zu universalisieren): »Folter in Algerien. Männer haben aus meiner Sprache die Sprache von Folterern gemacht. Von Napalm verbrannte Dörfer in Indochina. Algerier, an einem Tag im Oktober 1961 von der Pariser Polizei durch die Straßen gejagt. Algerier, deren Körper man aus der Seine gefischt hat. Wie oft habe ich an dich gedacht, Hannelore.« (La mémoire et les jours, S. 133)

10 Charlotte Delbo, La mémoire et les jours, Paris 1985, S. 127.

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Anders als Hannelore, die sich zuletzt auf dem Weg in die Vereinigten Staaten befindet, wählt Delbo niemals das Exil als Reaktion auf das politische Schamgefühl, das sie eindeutig verspürt – vielleicht, weil sie skeptischer ist, ob die USA wirklich eine bessere Alternative darstellen. Stattdessen entscheidet sie sich für eine ästhetische Lösung  – die zugleich politisch ist: Sie beschließt, die Verbrechen des Staates zu dokumentieren, und zwar nicht als Historikerin und Journalistin, sondern als Schriftstellerin, die Wahrheit schafft, indem sie Zeugnisse erstellt. Dieses Projekt zieht sich durch ihre zahlreichen an Auschwitz erinnernden Bücher hindurch, doch es beginnt mit Algerien, im Jahr 1961.11

Briefe gegen die Republik Les belles lettres ist zugleich räumlich und zeitlich situiert – Delbo sammelte zwölf Monate lang Briefe aus Pariser Zeitungen – und interessiert sich genau für den durch Medien und Erinnerung ermöglichten Informationsfluss über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Der Text bildet ein Netzwerk von zeugenschaftlichen und dokumentarischen Schriften ab, die jenes Archiv der Wahrheitsproduktion konstituieren, das sich als Teil des antikolonialen Kampfes in der Metropole gegen den Staat einsetzen lässt. Das Buch erschien in der Reihe Collection Documents des Pariser Verlags Les Editions de Minuit, neben Werken, die den französisch-algerischen Krieg »nach Hause brachten«, etwa Henri Allegs La Question (1958), Pierre Vidal-Naquets L’affaire Audin (1958) und Francis Jeansons Notre Guerre (1960), ganz zu schweigen von Erfahrungsberichten über die nationalsozialistischen Lager wie Micheline Maurels Un camp très ordinaire (1957). Les Editions de Minuit selbst wurde, wie die Rückseite des Covers von Delbos Buch stolz verkündet, ursprünglich als ein Verlag der Résistance konzipiert und 1942 heimlich von Jean Bruller (Vercors) und Pierre de Lescure gegründet.12 Indem sich Les belles lettres in diesem hochgradig politisierten öffentlichen Raum verortet, ist es zugleich ein dokumentarisches Werk und eine selbstreflexive Erkundung des Aktes der Darstellung unter außergewöhnlichen Bedingungen. Les belles lettres fehlen zwar die poetische Form und die aufrüttelnden, traumatischen Bilder, die viele von Delbos Schriften über Auschwitz kennzeichnen. Dennoch beginnt mit diesem Buch die öffentliche Neubewertung des Wortes als dokumentarische Intervention und »Wahrheitskur«, die sich durch Delbos Werk hindurchzieht. In der Auseinandersetzung mit dem französisch-algerischen Krieg zeigt 11 Das Massaker Dutzender gegen eine Ausgangssperre protestierender Algerier im Oktober 1961 wird in La mémoire et les jours erwähnt, in dem einige Monate zuvor veröffentlichten Buch Les belles lettres jedoch nicht. Dieses Massaker und seine Folgen sind Gegenstand der folgenden Kapitel. 12 Informationen zum Verlagswesen während der nationalsozialistischen Besatzung finden sich in Pierre Assouline, Gaston Gallimard: A Half-Century of French Publishing, New York 1988. Assouline zufolge wurde der Minuit-Verlag im Jahr 1941 gegründet (S. 253).

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sich Delbos Text insofern als bewusst, als er von der Notwendigkeit zeugt, sich auch mit den Institutionen zu befassen, die den Diskurs und die Formen der Öffentlichkeit rahmen. Der Text beginnt mit einer kurzen, gegenüber der Copyright-Seite kursiv gesetzten Vorbemerkung: »Die Kunst des Briefeschreibens [L’art épistolaire], die im 17. und 18. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte und im 19. Jahrhundert der Dekadenz verfiel, ist im 20. Jahrhundert so gut wie ausgestorben. In unseren Tagen tun Adelige und portugiesische Nonnen, was alle tun: Sie telefonieren. Es hat genügt, dass die Macht die Geschichte rückwärts geführt hat, um die Gattung wieder in Mode kommen zu lassen. Über den Einfluss der Institutionen auf die Literaturgeschichte …« (S. 7)

In Delbos ironischer Literaturgeschichte blüht und verblasst die Gattung der Briefliteratur angesichts extrinsischer Entwicklungen, handle es sich bei diesen um technische Erfindungen oder um staatliche Handlungen. Nachdem sie im Laufe von anderthalb Jahrhunderten in Ungnade gefallen ist, kehrt die Briefliteratur zurück, um die regressiven, barbarischen Praktiken des aktuellen Regimes heimzusuchen. Natürlich bewegt sich die Geschichte nicht wirklich rückwärts, und es ist unwahrscheinlich, dass die literarischen Formen des 18. Jahrhunderts unverändert als die Moden von heute wiederkehren werden. Der Anstoß zum Briefeschreiben und die Form, die Briefe bei Delbo erhalten, sind durchaus anderer Art. Obwohl Les belles lettres überwiegend aus Briefen besteht, handelt es sich nicht einfach um einen Briefroman, sondern um den Versuch, die Reste der Öffentlichkeit zu verstärken und ihnen eine Form zu verleihen. »Es gibt kein politisches Leben« (»Il n‘y a pas de vie politique«), bemerkt Delbo: Wenn sich die Demokratie unter den Bedingungen von Krieg und Aufstandsbekämpfung zurückzieht und wenn Proteste, Streiks und Wahlen ihre Wirksamkeit verlieren, über die sie »in den Jahren vor dem Krieg von 1939« noch verfügt hätten, dann nimmt der Widerstand die Gestalt dessen an, was einmal als intimste der Künste erschien (S. 9). Unter den neuen Bedingungen der Zensur und der Einschüchterung von Dissidenten hat die exponierte Intimität das Potenzial, politische Wirkung zu entfalten. Indem Delbos Text, durch die Wiederveröffentlichung von Briefen aus Mainstream-Zeitschriften und Organen des Widerstands, die Aufmerksamkeit auf die Verbrechen des Staates lenkt, verleiht er der Vorstellung von den belles lettres neue Bedeutung: Folter, Mord, Zensur und Misshandlung, wie sie von französischen und algerischen Widerstandskämpfern, Intellektuellen und Lagerhäftlingen, aber auch von internationalen Beobachtern wie Graham Greene berichtet werden, sind alles andere als schön, doch der Gebrauch, den diese Menschen vom geschriebenen Wort machen, wird in Delbos Neuveröffentlichung der Briefe zu einer Neuerfindung der Literatur für ein Zeitalter der Extreme. Die unvertraute, vermischte Gattung von Les belles lettres – irgendwo zwischen einem nicht-fiktionalen Briefroman und einer Allerwelts-Zitatensammlung  – ist

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auch eine der am häufigsten kommentierten Eigenschaften von Delbos Schriften über Auschwitz. Diese Eigenschaft sollte in Beziehung gesetzt werden zu Delbos Infragestellung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Normen in der Folge des Genozids.13 Sie steht, was kaum überrascht, auch im Mittelpunkt von Les belles lettres, einem Buch, das vor allem Zeugnis ablegt über einen Konsensverlust, der Frankreich in einem virtuellen (oder auch tatsächlichen) Bürgerkriegszustand hinterließ. Delbos erster Text legt nahe, dass ihre Vermischung unterschiedlicher Gattungen nicht nur eine Infragestellung der Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, sondern sich auch aus der »Multidirektionalität« der Erinnerung ableitet – in diesem Fall der Art und Weise, in der das Frankreich der Nachkriegszeit gleichzeitig von den zwar nicht identischen, jedoch sich überschneidenden und gleichermaßen konflikthaften Erbschaften der nationalsozialistischen Besatzung und des in Auflösung begriffenen Projekts Kolonialismus hin- und hergeworfen wird. Tatsächlich veranschaulicht Les belles lettres, wie jede diese Erbschaften anhand der anderen verstanden wird und wie die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts Frankreichs den Anlass bietet für einen Transfer zwischen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Genozid einerseits und dem Prozess der Dekolonisierung andererseits. In seiner Überblicksdarstellung der Erbschaften der nationalsozialistischen Besatzung in Frankreich, Belgien und Holland gelangt der Historiker Pieter Lagrou zu dem Ergebnis, der Erste Weltkrieg habe »die europäischen Gesellschaften durch die Schrecken von mechanisierter Kriegführung und Massensterben homogenisiert«, wohingegen der Zweite Weltkrieg »diese Solidaritäten zerschlagen« habe, und zwar durch seine hochgradig differenzierte Auswirkung auf eine Reihe von religiösen, ethnischen, ideologischen und nationalen Gesellschaftsgruppen.14 Aus dieser zerschlagenen Solidarität ging wiederum während der Nachkriegszeit in Gesellschaften wie der französischen, die unter der nationalsozialistischen Besatzung gelitten, aber auch mit den Besatzern kollaboriert hatten, eine entsprechend fragmentierte Erinnerungspolitik hervor. Insbesondere während des französisch-algerischen Kriegs, der seine eigenen fragmentierenden Effekte auf die Gemeinschaft zeitigte, waren die Auswirkungen der Erinnerung an Vergangenes auf die Erfahrung der Gegenwart unvorhersehbar und multidirektional. In seiner Studie über die politischen Ansichten französischer Deportierter zeigt Olivier Lalieu, dass es zwischen den wichtigsten Verbänden und Vereinigungen der Überlebenden und der Widerstandsgruppen keinerlei Konsens gab, wie man sich zur Dekolonisierung Algeriens verhalten sollte. Einige Gruppen, etwa die Amicale de Dachau, hüllten sich überwiegend in Schweigen, was die von der französischen 13 Thomas Trezise hat in seinem subtilen Essay über den ersten Band von Auschwitz und danach die These vertreten, wenn Delbo in ihren Memoiren mit Gattungskonventionen breche, sei dies Teil einer umfassenderen Infragestellung des gesellschaftlichen Konsenses. Siehe Trezise, The Question of Community, S. 871. 14 Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation: Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945–1965, New York 2000, S. 304.

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Armee im Algerienkonflikt eingerichteten Lager und die Folter anging, obgleich sich manche ihrer Mitglieder individuell dazu äußerten. Andere Gruppen, wie die kommunistisch geprägte Amicale d’Auschwitz, zu der viele Mitglieder von Delbos eigenem Konvoi gehörten, vertraten eine militantere Linie des Widerstands gegen Krieg, Folter und inländische Repression.15 Die historischen Darstellungen von Lagrou und Lalieu legen den Schluss nahe, dass es keinen direkten Weg von Viktimisierung und Widerstand unter einer bestimmten Bedingung zu Solidarität und Widerstand unter einer anderen gibt. Durch die Bezeugung der vielschichtigen Erinnerungen und Ideologien, die den Kontext des Buches ausmachen, stellt Les belles lettres jedoch nicht nur vorherrschende Vorstellungen von Gemeinschaft und Zusammenhalt infrage, sondern deutet auch die Konturen dessen an, was ich später, im Anschluss an Michael Warner, als Gegenöffentlichkeit bezeichnen werde. Die Herausbildung dieser Gegenöffentlichkeit geschieht auf unterschiedlichen Wegen. Ich konzentriere mich insbesondere auf das, was der Text durch seine vielen Bezugnahmen auf Genozid, den Zweiten Weltkrieg und den Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung zeigt. Diese Bezugnahmen bilden kein homogenes Ganzes, sondern sie konstituieren zwei Achsen, von denen wiederum jede aus zwei sich abwechselnden Artikulationen besteht: Viktimisierung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg werden in Beziehung gesetzt zu Viktimisierung und Widerstand während des französisch-algerischen Kriegs, manchmal anhand der Kategorie der Ähnlichkeit und manchmal anhand der der Differenz. Die zwei Fragen, die Frankreich bewegten, als Delbo den öffentlichen Diskurs über den Algerienkonflikt dokumentierte, betrafen die Form des von einigen Gegnern des Kolonialkriegs praktizierten Widerstands – Wehrdienstverweigerung und aktive Unterstützung des FLN – sowie die staatliche Verfolgung solchen Widerstands mittels Kriminalisierung, Zensur und Folter. Diese beiden Fragen trafen im Fall des Netzwerks um Francis Jeanson zusammen. Ich komme im Zusammenhang mit meinen Ausführungen über das »Manifest der 121« darauf zurück. Hier genügt die Feststellung, dass die Frage des Widerstands eine Verbindung zwischen verschiedenen Epochen und verschiedenen Kriegen herstellte. Delbo zitiert einen katholischen Soldaten, Jean Le Meur, der sich weigerte, an »Befriedungs«-Aktionen in Algerien teilzunehmen und schließlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Le Meur bezeichnete sich selbst nicht als Pazifisten, sondern als jemand, der den Krieg aus prinzipiellen Gründen ablehnt: »Es würde mir nichts ausmachen, gegen die Nazis Krieg zu führen. Aber gegen sie [die Algerier], nein« (Belles lettres, S. 14). Le Meurs Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart beruht, wie Delbos Auswahl zeigt, auf Kontinuität, also auf der Erinnerung an die Lektionen der Nürnberger Prozesse. Er schreibt, selbst wenn man nur »in einem Büro« sitze, sei man dennoch »ein Organ der Repressionsmaschine, solidarisch mit dem ganzen 15 Siehe Olivier Lalieu, La déportation fragmentée: Les anciens déportés parlent de politique, 1945–1980, Paris 1994, S. 149–162.

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Organismus – und verantwortlich. Was ich entdeckt zu haben glaube, ist gerade der Fortbestand individueller Verantwortung in einem System, das diese zu Unrecht abgeschafft zu haben behauptet« (S. 12).16 Le Meurs Bild der bürokratischen Maschine sollte innerhalb weniger Jahre eine der am meisten verbreiteten Metaphern werden, durch die man das Wesen der Verantwortung während des Holocaust zu verstehen (sowie mitunter, in weniger ethischer Absicht, zu verschleiern) versuchen sollte; der »Schreibtischtäter« Adolf Eichmann war dabei ein häufiger Bezugspunkt. Le Meurs Versuch, die beiden Kriege zugleich zueinander in Beziehung zu setzen und voneinander zu unterscheiden, ist charakteristisch für viele der Bezugnahmen auf die nationalsozialistische Zeit in Les belles lettres. Francis Jeanson selbst verweist in einem offenen Brief an Jean-Paul Sartre, der in Les Temps modernes veröffentlicht und von Delbo wieder abgedruckt wurde, auf die zwei Millionen in französischen Lagern internierten Algerier und Algerierinnen und spielt rhetorisch auf die Abwesenheit von Gaskammern und Krematorien an: »Müssen wir uns damit trösten, dass es in diesen Lagern weder Gaskammern noch Krematorien gibt?« (S. 27) Auch wenn sie mit eigener Stimme spricht, macht Delbo von Ironie und rhetorischen Fragen Gebrauch, um Ähnlichkeiten zu evozieren, die auch angesichts von Unterschieden fortbestehen: »Dass die französischen Behörden in Algerien Lager einrichten konnten, zeigt bereits ihre Verachtung für die öffentliche Meinung. Aber Algerien, das ist weit weg. Dass sie selbst in Frankreich Lager eröffnen können, zeigt, dass ihre Verachtung begründet war. Die Deportierten können Ihnen erzählen, wie herzzerreißend die Gleichgültigkeit der deutschen Zivilisten war, wenn sie in ihren gestreiften Uniformen an ihnen vorbeikamen und in Reihen zum Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers gingen … Es gibt Algerier in französischen Lagern, in Lagern, die von Stacheldraht umgeben sind, von Wachtürmen überragt werden, auf denen mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten Wache halten … Natürlich ist das nicht Auschwitz. Doch genügt es nicht, dass sich Unschuldige (nicht verurteilte Menschen sind a priori unschuldig) in Lagern befinden, damit unser Gewissen sich auflehnt?« (S. 65 f.)

Les belles lettres enthält viele Briefe, in denen die Schrecken des Kolonialkriegs eindrucksvoll beschrieben werden – beispielsweise Djamila Boupachas in Le Monde veröffentlichter Brief, der einen Bericht darüber enthält, wie sich in der französischen Haft »die Folter durch Stromkabel abwechselte mit dem Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut, Schlägen und ›Waterboarding‹ [le supplice de la baignoire]« (S. 56). Das Hauptaugenmerk des Buches liegt jedoch  – wie der oben zitierte Abschnitt deutlich macht – eher auf den Bedingungen der Sichtbarkeit, unter denen der Staat seine schmutzige Arbeit verrichtet. Wie Delbo hier andeutet, war dies auch eine Eigenschaft 16 Weitere Hinweise der Berufung auf die Nürnberger Prozesse sowie eine Übersetzung der Passage aus Le Meur, auf die ich mich hier beziehe, bietet Sorum, Intellectuals, S. 153 f.

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ihrer Repressionserfahrung unter den Nationalsozialisten. Beispielsweise schreibt sie im Gedicht »Auschwitz« im ersten Band ihrer Memoiren: »Diese Stadt durch die wir kamen / war eine seltsame Stadt. / […] Kein Einwohner dieser Stadt / hatte ein Gesicht / und um das nicht einzugestehen / wandten sich bei unsrem Durchzug alle ab« (Trilogie. Auschwitz und danach, S. 127). Die Struktur dieser Sichtbarkeitsbedingungen – die Nähe des univers concentrationnaire zum Alltag, die Weigerung der Öffentlichkeit, durch den Stacheldrahtzaun hindurchzublicken – trägt nicht weniger als das sich jenseits des Zauns abspielende Grauen zu jenem Sprung der Erinnerung von den französischen Lagern nach Auschwitz bei, der historischen Distanz zum Trotz. Der Erinnerung wird oft und insbesondere von Historikern angelastet, sie homogenisiere, instrumentalisiere und mystifiziere. Diese Zitate von Le Meur, Jeanson und Delbo belegen – wie andere Stellen in Les belles lettres, in denen der Nationalsozialismus und der französische Kolonialstaat zueinander in Beziehung gesetzt werden – das Vorhandensein einer differenzierten kollektiven Erinnerung, die fähig ist, Ähnlichkeit und Differenz gleichermaßen wahrzunehmen und das Gedenken in den Dienst der politischen Verantwortung zu stellen, ohne historische Besonderheiten zu relativieren oder zu leugnen. Kristin Ross hat gezeigt, wie das französische Kolonialsystem die Folter während der letzten Kriegsjahre zu »modernisieren« versucht hat, indem es sie in eine Form »sauberer« Massenproduktion verwandelte, die an Fabrikarbeit und an den Alltag in der Metropole erinnert, von den metropolitanen Subjekten jedoch unbemerkt blieb: »Die Folter im Algerienkrieg sollte ›keine Spuren hinterlassen‹ – das heißt, sie sollte die Zeit still stellen oder als ahistorisches strukturelles System funktionieren.«17 Entgegen der staatlichen Absicht wurden die Spuren jedoch sehr wohl bemerkt, selbst unter Bedingungen massiver Zensur und Repression. Wie war das möglich? Die Erinnerungsarbeit von Les belles lettres lässt vermuten, dass die Aufmerksamkeit für den Nachhall der Vergangenheit in der Gegenwart diese Vergangenheit vor ihrer frühzeitigen Abschreibung und die Gegenwart vor dem sofortigen Vergessen bewahren kann. Delbo fördert die »tiefen Spuren« der Vergangenheit zutage, wie sie etwa vom Generalsekretär der Polizei Paul Teitgen erkannt wurden; Teitgen fühlte sich von den Lagern in Algerien an die »Grausamkeiten und die Folter« erinnert, »die ich vor vierzehn Jahren selbst in den Gestapo-Kellern von Nancy erlitten habe« (Stora, La gangrène et l’oubli S. 80  f.). Ist, wie Nietzsche einmal bemerkt hat, Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik, so ist es ebenfalls wahr, dass Erinnern eine nicht-fetischistische Form von Arbeit ist, die sich dem Schmerz zuwendet, dessen Ansprüche anerkennt und dann die sozialen und politischen Bedingungen, die ihn weiterhin erzeugen, zu verändern sucht. Der Widerstand gegen die französische Kriegführung in Algerien war bestrebt, die Grausamkeiten der Gegenwart durch die Auseinandersetzung mit denen der Vergangenheit, und durch deren Aufarbeitung, zu transformieren. 17 Ross, Fast Cars, S. 122.

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Von der Ethik der Zeugenschaft zur gegenöffentlichen Zeugin Delbos Text dokumentiert Infragestellungen staatlicher Hegemonieansprüche gegenüber Sinnsteuerung und tut das mitunter durch das Zusammentragen von Erinnerungsspuren, die historische Grenzen überschreiten. Der Inhalt des Textes verdeutlicht jedoch nicht unbedingt die Form, die Delbos Akt des Zusammentragens annimmt. Les belles lettres versammelt Dokumente, die überwiegend bekannten Quellen entnommen sind, und verrät keine Staatsgeheimnisse. Das unterscheidet Delbos Buch von heimlich publizierten Zeitschriften wie Témoignages et Documents, die ehemals zensierte Berichte veröffentlichten – wenn staatliche Zensur auch eines der offenkundigsten Themen von Les belles lettres ist. Anders als die klandestinen Zeitschriften trägt Delbos Text keine neuen Informationen zum antikolonialen Kampf bei, sondern reproduziert vielmehr Briefe, die bereits an die Öffentlichkeit gelangt sind. Warum reartikuliert Delbo Erinnerungen an Genozid und Kolonialismus gerade in dieser Form? Anstatt die Zensur zu durchbrechen, indem sie den Staat unmittelbar und auf seinem eigenen Terrain herausfordert, legt Delbo mit Les belles lettres eine Reflexion über die Gattungen des Dissenses vor, die letztlich das Terrain der Debatte verschieben soll. Durch seine literaturhistorische Rahmung und seine häufigen Verweise auf Schriftstellerinnen, Schauspieler, Akademikerinnen und andere Intellektuelle propagiert der Text implizit seine eigene Form als Antwort auf die alltäglichen Erfordernisse. Worum handelt es sich bei dieser Form? Weit davon entfernt, ihr Buch zu »belletristisch« und damit apolitisch zu gestalten, veranschaulicht der mit Zitaten arbeitende, intertextuelle Charakter von Delbos Arbeit  – die Angewiesenheit auf zuvor bereits veröffentlichte Dokumente anderer Autoren und Autorinnen, die ja den Kern des Inhalts stellen – gerade die Orientierung an einem Publikum, einer Öffentlichkeit. Wie Michael Warner überzeugend argumentiert hat, ist eine Öffentlichkeit ein »sozialer Raum, der durch die reflexive Zirkulation von Diskursen geschaffen wird«.18 Für Warner ist demnach »eine Öffentlichkeit als ein dauerhafter Begegnungsraum für Diskurse zu verstehen«; sie »existiert nur aufgrund der Adressierung« und »des Grads der Aufmerksamkeit, wie imaginär auch immer sie sein mag«, den die Adressaten eines Textes gewährleisten (S. 62, 61). Der Schlüsselbegriff lautet in diesem Zusammenhang »Zirkulation«, was zwei bedeutende Implikationen hat. Erstens unterscheidet Warner Zirkulation von Konversation: Die Zirkulation von Texten beinhaltet, dass die Bedeutung eines Textes oder diskursiven Ereignisses über das »dyadische Verhältnis von Sprecher und Zuhörer oder Autor und Leser« hinausgeht, das den privaten Diskurs kennzeichnet, und ein Publikum aus Zuschauerinnen, Fremden und passiven Gesprächspartnern erreicht. So ist der Raum der Öffentlichkeit beschaffen: »eine multigenerische Lebenswelt, die nicht nur entlang einer Beziehungsachse von Äußerung und Reaktion organisiert 18 Michael Warner, Publics and Counterpublics, in: Public Culture 14 (2002) 1, S. 49–90. Siehe auch Michael Warner, Publics and Counterpublics, New York 2002.

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ist, sondern potenziell auch entlang einer unendlichen Zahl von Achsen der Zitierung und Charakterisierung« (S. 63). Zusätzlich zu diesem multidimensionalen Adressierungsraum beinhaltet Zirkulation auch eine neue Form von Zeitlichkeit: Die Zeitlichkeit der Zirkulation ist »punktuell« und geht einher mit »unterschiedlichen Momenten und Rhythmen, von denen ausgehend zeitliche Distanz gemessen werden kann« (S. 66). Die von Delbo zitierten, in Tageszeitungen und wöchentlich erscheinenden Zeitschriften veröffentlichten Briefe sind perfekte Beispiele jener punktuellen und multigenerischen Diskurszirkulation, die Warner als für die Öffentlichkeit konstitutiv beschreibt.19 Indem sie diese Briefe neuerlich zirkulieren lässt, setzt Delbo die Arbeit der Schaffung von Öffentlichkeiten fort und legt zugleich reflexiv ein Bewusstsein dessen an den Tag, was bei öffentlicher Aufmerksamkeit auf dem Spiel steht. Der Brief in Reinform ist zwar keine öffentliche Gattung – er beinhaltet genau jenes dyadische Verhältnis von Autorin und Leser, das ihn privat macht  –, doch ein in einer Zeitung oder Zeitschrift veröffentlichter Brief setzt bereits eine duale, öffentliche Adressierung voraus. Mit wenigen Ausnahmen verstehen die Autoren und Autorinnen der von Delbo zusammengetragenen Briefe ihre Texte als »offene Briefe«, also als zugleich an einen bestimmten Adressaten (»Monsieur le président«, »Cher J.-J. S.-S.« [»Lieber J.-J. S.-S.«; gemeint ist Jean-Jacques Servan-Schreiber, der Herausgeber der Wochenzeitung L’Express]) und an eine besorgte Öffentlichkeit gerichtet. Selbst die ursprünglich an ein intimeres Publikum adressierten Briefe – etwa die beiden, die den Band beschließen – haben durch ihre neuerliche Zirkulation in Zeitschriften bereits öffentlichen Charakter angenommen. Indem sie diese Briefe zusammenträgt und zum zweiten Mal veröffentlicht, strebt Delbo reflexiv danach, eine neue Öffentlichkeit zu schaffen, die entlang der Achsen einer Vielzahl von Algeriendiskursen verortet ist. Dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit auf den »punktuellen Rhythmus der Zirkulation« lenkt, rettet Delbo die Briefe vor der Isolation und dem Vergessen, die der Meinungsseite der Zeitung anhaften und die ansonsten das Schicksal dieser Briefe gewesen wären, um sie stattdessen in eine »Sphäre der Aktivität« zu überführen: »Öffentlichkeiten haben ein kontinuierliches Leben: Man veröffentlicht nicht ein für alle Mal. […] Es ist die Art und Weise, wie die Texte zirkulieren und Grundlage weiterer Darstellungen werden, die uns davon überzeugt, dass Öffentlichkeiten die Eigenschaften Aktivität und Dauer aufweisen« (Warner, Publics and Counterpublics, S. 68). Indem sie die ansonsten toten Buchstaben des journalistischen Archivs wieder zum Leben erweckt, trägt Delbo zur Herausbildung einer damals noch in Entstehung begriffenen Gattung bei, die eng ans Handeln gekoppelt ist: der des Zeugnisses. 19 Ich würde diese punktuelle Zeitlichkeit, die elementar ist für Erinnerungspolitik, von einer an Dauer orientierten Zeitlichkeit unterscheiden; Letztere ist bestimmend für eine Ethik der Erinnerung, die auf dem beruht, was Badiou Treue nennt und Ian Baucom vielleicht als Akkumulation bezeichnen würde. Einer an Dauer orientierten Ethik der Erinnerung kommt in Kapitel 9 zentrale Bedeutung zu. Siehe Badiou, Ethik; Ian Baucom, Specters of the Atlantic: Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History, Durham 2005.

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Achtet man auf die besondere Form, die öffentliche Zeugenschaft in Delbos Werk annimmt, kann das Anlass zur Überprüfung zeitgenössischer Theorien der Zeugenschaft geben. Innerhalb akademischer Diskurse ist die Gattung des Zeugnisses in den letzten Jahren ein beliebter Gegenstand von Debatte und Theoriebildung gewesen, insbesondere im Bereich der Holocaustforschung. Der von Shoshana Felman und Dori Laub herausgegebene Band Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History hat zu einer Anhebung des theoretischen Niveaus beigetragen, indem er den performativen Aspekt von Zeugenschaft betont. Für Felman und Laub beinhaltet Zeugenschaft nicht einfach einen legalistischen Zeugen, der vorab existierenden Wahrheiten über ein Ereignis zur Geltung verhelfen soll. Literaturtheoretisch und psychoanalytisch interpretiert, wird Zeugenschaft vielmehr ein herausragendes Beispiel dafür, »wie Kunst das, was wir über unser gelebtes historisches Verhältnis zu den Ereignissen unserer Zeit noch nicht wissen, einschreibt (künstlerisch bezeugt)« (S. xx). Zeugenschaft ermöglicht und erzeugt also ein neues Verständnis dessen, was unbewusst und unartikulierbar geblieben ist, oder zumindest einen neuen Zugang dazu. Felman und Laub konzentrieren sich insbesondere auf die Verbindungen zwischen Zeugenschaft und Trauma. Ihre von Elie Wiesel übernommene These, »dass unsere Zeit als Zeitalter der Zeugenschaft definiert werden kann« (S. 5), stützt sich stark auf die Erfahrungen aus dem nationalsozialistischen Genozid, verschließt sich aber anderen Krisen nicht. Für Felman und Laub besteht der Kern der HolocaustErfahrung, und im weiteren Sinne des Traumas im Allgemeinen, im »Kollaps der Zeugenschaft«: »Die Nazis haben tatsächlich nicht nur versucht, die materiellen Zeugen ihres Verbrechens zu vernichten, sondern die inhärent undurchschaubare und täuschende psychologische Struktur des Ereignisses schloss seine eigene Bezeugung, selbst durch die Opfer, aus« (S. 80). Da dem »historischen Imperativ, Zeugnis abzulegen, während des tatsächlichen Ereignisses nicht entsprochen werden konnte«, aufgrund des Fehlens »eines Anderen, den man mit ›du‹ hätte adressieren können« (S. 82), wird es zum Ziel der Zeugenschaft, »zur nachträglichen Schaffung des fehlenden Holocaust-Zeugen beizutragen« (S. 85). Diese performative Dimension der Zeugenschaft beinhaltet zwei Figuren: das traumatisierte Opfer, das noch nicht im Besitz seiner eigenen Erfahrung ist, und den Zuhörer, an den das Zeugnis adressiert ist und der »zu einem Teilnehmer und Miteigner des traumatischen Ereignisses wird« (S. 57). Wie in der Psychoanalyse »bedarf es zweier Personen, um Unbewusstes zu bezeugen« (S. 15). Felman und Laubs Theorie der Zeugenschaft steht in einem interessanten Verhältnis zu Warners Darstellung der Entstehung von Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten. Beide Theorien anerkennen den performativen Aspekt des Diskurses und die Art und Weise, in der die Performativität teilweise auf die Macht des Adressierens zurückgeht: Der Diskurs hat die Fähigkeit, das zu erschaffen, wovon er scheinbar nur spricht, und ebenso diejenigen, zu denen er zu sprechen scheint. Doch Felman und Laubs Darstellung der Zeugenschaft schreibt sich, vermittelt über das psychoanalytische Therapiemodell, in eben jenes Konversationsszenario ein, das Warner als

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Gegenstück zum öffentlichen Diskurs dient. Indem sie die Aufmerksamkeit auf die Folgen des Traumas für die Möglichkeiten des Adressierens und Bezeugens lenkt, erinnert Felman und Laubs Theorie auf hilfreiche Weise an die verschiedenen Arten von Szenarien, die unsere Fähigkeit zur Teilnahme an performativer, welterzeugender Aktivität beeinträchtigen und begrenzen können. Die Schaffung eines intimen, adressierbaren Anderen könnte eine Vorbedingung für öffentliche Poetik im Sinne von Warner sein. Doch seine Theorie der Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten könnte sich als nützlicher erweisen, wenn der Tatsache Rechnung getragen wird, dass Zeugnisse auch jenseits des dyadischen Verhältnisses des psychoanalytischen Dialogs zirkulieren.20 Tatsächlich betrifft vieles von dem, was in der Forschung zur Zeugenschaft diskutiert wird, den öffentlichen Diskurs im Gegensatz zur Konversation. Das gilt auch für Felman und Laubs Buch, das zwar Anleihen bei der psychoanalytischen Theorie und Praxis macht (Laub ist eine praktizierende Analytikerin, die mit traumatisierten Menschen arbeitet), die meisten Beispiele jedoch aus der Welt des öffentlichen Diskurses bezieht, darunter literarische Werke, Filme und Videozeugnisse. Das Fortunoff Video-Archiv für Holocaustzeugnisse an der Universität Yale, das Felmans und Laubs Buch als Hintergrund und teilweise auch als Inspiration dient, richtet seine Praxis zwar an den intimen Begegnungen der therapeutischen Situation aus, doch der Einsatz einer Kamera, die die Zeugnisse aufnimmt, schafft jene Doppeladressierung, die auch den öffentlichen Aspekt von Delbos neuerlich in Umlauf gebrachten Briefen ausmacht. Durch das reflexive Zitieren von Briefen aus der Presse verschiebt Les belles lettres die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen von den dyadischen Aspekten des Briefeschreibens hin zur offenen Adressierung öffentlicher Zirkulationsformen. Diese Transformation macht aus dem Text nicht nur einen Beitrag zum Aufbau einer Öffentlichkeit oder Gegenöffentlichkeit, sondern sie lehrt uns auch etwas über Zeugenschaft, was sich anhand der kontrastierenden Herangehensweisen von Felman und Laub einerseits und Warner andererseits bestimmen lässt. Wie auch immer es sich verhalten mag mit der – von Felman und Laub hervorgehobenen – nicht transzendierbaren Notwendigkeit des Verhältnisses von Zeuge und Adressat: Die öffentliche Zeugenschaft weist (im Gegensatz zur Therapie) einen umfassenderen, weniger deutlich definierten Adressatenkreis auf, zu dem auch Fremde und unbestimmte potenzielle Adressaten zählen. Indem sie »an die Öffentlichkeit geht«, wie es die Holocaustzeugnisse und die Berichte von Kolonialverbrechen um 1961 getan haben, wird die Zeugenschaft letztlich Teil des Archivs historischer Aufzeichnungen und allgemeinerer demokratischer Debatten und findet auch potenziell in den Bereich der Justiz Eingang. Doch waren, das deutet Delbos Text an, Fragen nach Geschichte und 20 Eine verwandte Kritik der Vorherrschaft des psychoanalytischen Ansatzes in Theorien der Zeugenschaft findet sich in: Rosanne Kennedy/Tikka Jan Wilson, Constructing Shared Histories: Stolen Generations Testimony, Narrative Therapy and Address, in: Bennett/Kennedy (Hrsg.), World Memory, S. 119–139.

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Legalität angesichts des begrenzten Charakters der offiziellen Öffentlichkeit während des französisch-algerischen Kriegs von nur zweitrangiger Bedeutung im Vergleich zum Kampf um die Konturen des öffentlichen Raums selbst. Delbos Wunsch, die Zeugenschaft neu zu artikulieren, rührt von der Einsicht her, dass die Politik der Zeugenschaft die Schaffung einer Öffentlichkeit beinhaltet. Die Bedeutung des öffentlichen Erscheinungsbildes der Zeugenschaft liegt in den Handlungsmöglichkeiten, die durch die Zirkulation entstehen.21 Der französische Staat war sich durchaus der Macht öffentlicher Zirkulation bewusst und nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um die »Adressierungsformen, die Zeitlichkeit, die mise-en-scène [und] das Zitationsfeld« des widerständigen Diskurses zu begrenzen (Warner, Publics and Counterpublics, S. 82). Die berühmte Déclaration sur le droit à l’insoummission (Erklärung zum Recht auf Ungehorsam), eine der Hauptbezugspunkte der in Les belles lettres versammelten Briefe, veranschaulicht, worum es genau geht. Das »Manifest der 121«, als das diese Erklärung auch bekannt ist, hatte die Verhaftung und das Gerichtsverfahren mehrerer Mitglieder des FLN-Unterstützungsnetzwerks um Francis Jeanson zum Anlass. Das Netzwerk unterstützte auch französische Wehrdienstverweigerer. Zunächst von 121 Intellektuellen und Künstlerinnen unterzeichnet, zu denen später noch weitere hinzukamen, erkennt das Manifest die »Weigerung, gegen das algerische Volk die Waffen aufzunehmen, als gerechtfertigt an«, ebenso den Wunsch, einen materiellen Beitrag zu leisten »zur Unterstützung und zum Schutz von Algeriern, die im Namen des französischen Volks unterdrückt werden«. Das »Anliegen des algerischen Volkes, das auf entscheidende Weise zur Zerschlagung des Kolonialsystems beiträgt«, wird zum »Anliegen aller freien Menschen« erklärt. Der Schwerpunkt liegt zwar eindeutig auf zeitgenössischen Ereignissen, doch das Manifest versieht diese Ereignisse mit einem relevanten historischen Hintergrund und verwendet dieselbe Struktur der rhetorischen Frage, die uns bereits an anderen solchen Äußerungen aufgefallen ist: »Muss man daran erinnern, dass es dem französischen Militarismus fünfzehn Jahre nach der Zerstörung der Hitler-Ordnung durch die Anforderungen eines solchen Krieges gelungen ist, die Praxis der Folter wiederherzustellen und sie wieder zu einer europäischen Institution zu machen?«22 Das Gewicht der durch das Manifest bewirkten Herausforderung staatlicher Legitimität lässt sich an den extremen Maßnahmen ersehen, die vom Staat ergriffen wurden, um 21 In ihrer Untersuchung über Kunst, Affekt und Trauma fordert Jill Bennett ebenfalls eine »öffentlichere« Herangehensweise an Zeugenschaft. Bennetts Bemerkungen zu den ethischen Aspekten der Zeugenschaft betonen die dialogische, von Angesicht zu Angesicht stattfindende Begegnung, die Zeugenschaft auszeichnet. Damit gleicht ihr Ansatz eher dem von Felman und Laub als dem von Warner, denn ihr Begriff der Öffentlichkeit beruht auf Konversation, nicht Zirkulation (obwohl sie sich durchaus auch für Letztere interessiert). Siehe Jill Bennett, Empathic Vision: Affect, Trauma, and Contemporary Art, Stanford 2005, S. 104 f. 22 Eigene Übersetzung der »Déclaration«, deren Originaltext dokumentiert ist in: Hamon/Rotman, Les porteurs de valises, S. 391–394.

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dessen Zirkulation zu unterbinden – und um selbst noch die öffentliche Präsenz derer zu begrenzen, die man mit ihm in Verbindung brachte. Nicht nur verbot der Staat die Veröffentlichung des Manifests, sondern er untersagte auch allen Unterzeichnern, in Funk und Fernsehen aufzutreten. Akademiker wie Pierre Vidal-Naquet wurden von ihren Stellen suspendiert.23 Solche von absurdem Eifer zeugenden staatlichen Maßnahmen beförderten die Einheit der Dissidenten und Dissidentinnen letztlich noch stärker als die Handlungen von Jeansons Netzwerk. Indem Delbo Texte, die den staatlich gestützten Terror herausfordern, neu in Umlauf bringt, positioniert sie sich unmittelbar (aber mit einer gewissen Ironie) gegen einen Moment, der von einer begrenzten Öffentlichkeit bestimmt ist, in der »die Zusammenstellung von Radio- und Fernsehprogrammen eine heikle Aufgabe geworden ist. Liedermacher werden ihre Texte zehn Tage vor dem Sendetermin abliefern müssen. Es wird notwendig sein, sich vor der Erwähnung der Namen oder Werke von Autoren, Musikern und Komponisten zu hüten, die ›unterzeichnet‹ haben, so wie es auch notwendig sein wird, Filme vor der Ausstrahlung noch einmal anzusehen, um sicherzustellen, dass darin nicht auch nur die Silhouette eines nicht zugelassenen Schauspielers zu sehen ist« (Les belles lettres, S. 127). Der Gedanke des »Darstellungsverbots« – der aus dem Diskurs über Auschwitz vertraut ist, von Adornos Schriften bis hin zu Delbos eigenen selbstreflexiven Memoiren  – geht hier auf den Staat zurück und setzt eine Dialektik von Repression und Widerstand in Gang, durch die selbst eine diskursive »Silhouette« zu einer Bedrohung staatlicher Legitimität werden kann.24 Delbo dokumentiert die vielen Personen innerhalb und außerhalb Frankreichs, die ihren Widerstand gegen diese Zensur zum Ausdruck bringen (unabhängig von ihrer Position zur Frage der Wehrdienstverweigerung) und hebt dabei insbesondere Komponisten, Schauspielerinnen, Studenten und Schriftstellerinnen hervor – darunter Aldous Huxley, Pulitzer-Preisträger sowie dänische und finnische Intellektuelle (S. 128–131). Delbos »Zitationsfeld« konturiert eine globale, lesende Öffentlichkeit und macht auf die facettenreiche Adressierungsform aufmerksam, die auch den unkompliziertesten Formen von Dokumentation und Zeugenschaft eignet. Delbos Öffentlichkeit wird am Ort jener Erinnerungen ins Leben gerufen, die gegenwärtige und vergangene Kämpfe und Leiderfahrungen verbinden. Gleichzeitig überschreitet Delbo bewusst den nationalen Raum der Öffentlichkeit. Ein Großteil des französischen Diskurses über den Krieg orientiert sich an innenpolitischen Konflikten unter Franzosen und Französinnen, was auf gewisse Weise eine Neuauflage der für die Besatzungsjahre charakteristischen Dichotomie von Widerstand und Kollaboration darstellt. Im Gegensatz dazu bezieht Delbo eine Reihe von algerischen Stimmen mit ein und stellt jenen Widerstandskräften eine diskursive Plattform zur Verfügung, 23 Sorum, Intellectuals, S. 173–175; Hamon/Rotman, Les porteurs de valises, S. 303–318. 24 Delbos Evokation eines solchen Verbots in Auschwitz und danach verortet dessen Ursprung ebenfalls im Staat. Siehe meine Analyse in: Rothberg, Traumatic Realism, S. 147.

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die nicht nur für friedliche Verhandlungen, sondern für die aktive Unterstützung des FLN eintreten. Hinzu kommt, dass sie ihren Text mit einem subtilen, aber bedeutenden Übergang zu einer transkulturellen und mehrsprachigen Adressierungsform beschließt. Die meisten der zusammengetragenen Briefe sind von Intellektuellen verfasste und für die öffentliche Verbreitung intendierte Texte, auch wenn es sich bei ihren primären Adressaten um Einzelpersonen handelt. Und doch beschließt sie ihr Buch mit dem Hinweis, dessen Gegenstand sei nicht einfach »ein Disput unter Intellektuellen und Ministern [une querelle d’ intellectuels et de ministres]. Sein Gegenstand ist vielmehr die Freiheit. Mehr als 14 000 Menschen werden in Frankreich gegenwärtig als politische Gefangene festgehalten. Auch sie erhalten Briefe« (S. 148). Darauf folgt der auf den Juni 1960 datierte Brief einer algerischen Frau in Paris an ihren Ehemann, der im Gefangenenlager von Fresnes interniert wurde. »Mon Ahmed chéri«, beginnt Yaminas Brief. »Heute ist es zwei Jahre her, seit sie dich geholt haben. Und seit zwei Jahren bin ich wie tot« (S. 148 f.). In einem informellen und manchmal grammatikalisch fehlerhaften Stil verfasst, vermischt Yaminas Brief Anekdoten über alltägliche Vorfälle, Sorgen um die Gesundheit ihres Ehemanns (»Nimm dich vor dem Zahnarzt in Acht«, warnt sie, »der ist ein Metzger!«), Berichte über weitere Verhaftungen und Ängste vor dem Rassismus auf den Straßen. Er schließt in einem widerständigen und sehnsuchtsvollen Ton: »Wir haben uns auf Ms Radio die ›Voix des Arabes‹ angehört; du kannst dir vorstellen, was das für uns bedeutet hat. Mein armer Ahmed, wenn du nur hören könntest, wie sie über den Widerstand [maquis] und das alles gesprochen haben. Dein Bruder, die Kinder und ich umarmen dich fest und hoffen, dass du bald wieder draußen sein wirst. Inschallah« (S. 150). Mehreres an Yaminas Brief erinnert an die Zeit des Nationalsozialismus. Ihre (oder des Übersetzers?) Verwendung des Begriffs maquis verweist auf den französischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung, und ihre Angst vor dem Zahnarzt des Lagers erinnert, gewollt oder ungewollt, an die bekannten Berichte über den Raub von Zahnfüllungen jüdischer Häftlinge und andere barbarische ärztliche Praktiken in den nationalsozialistischen Lagern. Am frappierendsten ist, dass der Brief, mit seiner intimen Anrede und seinen Bezugnahmen auf alltägliche und außergewöhnliche Vorfälle, auch Delbos eigene Schriften über die Erinnerung an Auschwitz vorwegnimmt. Insbesondere die ersten Sätze – »Heute ist es zwei Jahre her, seit sie dich geholt haben. Und seit zwei Jahren bin ich wie tot« – müssen Delbos Leser sofort an die eindrücklichen Sätze des »Mado« zugeschriebenen Zeugnisses in Maß unserer Tage (dem dritten, 1971 veröffentlichten Band der Auschwitz-Trilogie) erinnern: »Für mich, für uns vergeht die Zeit nicht. Sie nutzt nichts ab, sie verwischt nichts. Ich bin nicht lebendig. Ich bin in Auschwitz gestorben, und niemand sieht das« (Trilogie. Auschwitz und danach, S. 373). Zwischen Yaminas Brief und Mados Monolog bestehen offenkundige, bedeutende historische und diskursive Unterschiede – etwa hinsichtlich der Sprecherposition, dem Medium des Textes und dem Charakter des Konflikts, über den berichtet wird. Was in diesem Zusammenhang jedoch vor allem

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relevant ist, ist die Verbindung von Stimme, Zeugenschaft und öffentlicher Intimität, die eine Brücke von Les belles lettres zur Auschwitz-Trilogie schlägt. Die letzten beiden Briefe in Delbos erster Veröffentlichung führen »fremde« Stimmen in den französischen Raum ein – Stimmen, die sich, wie die der Überlebenden in Maß unserer Tage, als bereits im Raum der Nation verortet und mit ihm vertraut erweisen, obgleich sie gegenüber den herrschenden Diskursen dissonant bleiben. Diese Stimmen können verstörend sein, auch für andere Opfer. Man erinnere sich beispielsweise an das Zeugnis jener Gaby, die die Medien aus ihrem Leben verbannt, um die Verbindungen zu vermeiden, die das Fernsehen, in ihren Augen, unweigerlich zwischen dem Algerienkonflikt und ihrer eigenen Lagererfahrung herstellt (Trilogie. Auschwitz und danach, S. 463). Yamina entdeckt jedoch in der Fähigkeit der Stimmen, den Schutzmantel der Öffentlichkeit zu durchdringen, eine Quelle von Widerstand: Sie erwähnt, dass sie La Voix des Arabes gehört hat, einen unter Nasser in Kairo gegründeten Radiosender, der täglich über die algerische Revolution berichtete. Und ihr Zeugnis schließt auf Arabisch, mit der zarten Äußerung einer Hoffnung, die im nachfolgenden, letzten Brief von Bousetta Hamou sofort aufgegriffen und weiter ironisch gewendet wird. Bevor er im Dezember 1960 im Santé-Gefängnis guillotiniert wurde, schrieb Hamou seiner Frau folgenden (kurz darauf in Afrique-Action abgedruckten) Brief: »Meine liebe Frau, ich werde bald tot sein, weil es die Unabhängigkeit nicht umsonst gibt. General de Gaulle lässt mich hinrichten wie einen Kriminellen, und so sterbe ich Chahid [je meurs Chahid]. Du kannst stolz auf mich sein und den Leuten um dich herum sagen: Lang lebe die ALN! Lang lebe Algerien!« (Belles lettres, S. 151). Delbo unterstreicht erneut die Verbindungen zwischen zeitgenössischen Ereignissen und den Vorgängen während der Besatzung. Sie leitet Hamous Brief mit diesen Worten ein: »Wie viele haben das Schafott bestiegen, im Hof des Santé-Gefängnisses, in dem von Montluc, wie viele Franzosen während der 1940er-Jahre, wie viele Algerier seit 1954« (S. 151). Delbo wird später auf diesen Zusammenhang zurückkommen, wenn sie die erwähnte Bezugnahme auf eine ähnliche Hinrichtung im Jahr 1960 in Eine nutzlose Bekanntschaft aufnimmt (Trilogie. Auschwitz und danach, S.188). Am frappierendsten an diesem letzten Brief ist jedoch die Differenz, die er durch die Einbeziehung eines arabischen Wortes andeutet: »je meurs Chahid«. Chahid bedeutet »Märtyrer« und geht auf dieselbe Wurzel zurück wie das Wort für Zeuge; die Übersetzung könnte also lauten: »Ich sterbe als Märtyrer, aber auch als Zeuge.«25 Delbos erster Text arbeitet auf die Schaffung des Zeugen hin, nimmt dabei aber Einsichten vorweg, die sowohl für ihre eigenen Texte als auch für die Forschung zur Zeugenschaft typisch sind. Der Zeuge extremer politischer Gewalt ist ein Stück weit stets ein Fremder: jemand, der den Status quo stört, eine andere Sprache spricht. In Maß unserer Tage wird Mado dieses Problem der Fremdheit des Zeugnisses in ein unauflösbares Paradox übersetzen: »Daß wir da sind, um zu berichten, dementiert 25 Ich danke Wail Hassan für seine Hinweise zum Arabischen.

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das, was wir berichten« (Trilogie. Auschwitz und danach, S. 359). Doch dient die Bezeugung der eigenen Fremdheit durch den Zeugen, sowohl in Delbos AuschwitzTrilogie als auch in Les belles lettres, als eine Form öffentlicher Pädagogik im Kampf gegen das Vergessen und zeigt dabei zugleich nie zu überwindende psychische und materielle Verluste an. Felman schreibt in einem Kommentar zum pädagogischen Gebrauch von Zeugenberichten: »Im Zeitalter der Zeugenschaft, und angesichts der Zeitgeschichte, möchte ich, dass meine Studenten Informationen erhalten können, die sich zu allem, was sie bis dahin gelernt haben, nicht kongruent, sondern dissonant verhalten« (Felman/Laub, Testimony: Crises, S. 53). Die Wirksamkeit dissonanter Pädagogik baut auf der ethischen, persönlichen Begegnung auf, anhand derer die Holocaustforschung die Zeugenschaft bisher charakterisiert hat, doch die Rezeption dissonanter Information beruht letztlich auf Formen der öffentlichen Verbreitung, die mehrfache, offene Formen der Adressierung voraussetzen und schaffen. Indem er den homogenisierten nationalen Raum der Öffentlichkeit im Interesse einer dissonanten Pädagogik überschreitet, macht sich Delbos Text zum Träger dessen, was Warner als eine »gegenöffentliche« Adressierung bezeichnen würde. Gegenöffentlichkeiten konstituieren sich wie andere Öffentlichkeiten auch – »indem sie den Raum diskursiver Zirkulation als gesellschaftliche Entität unter Fremden projizieren« (Warner, Publics and Counterpublics, S. 87)  –, doch sie erkennen darüber hinaus an, dass dieser Raum der Zirkulation, mit seinen Regeln und Konventionen, ein Ausschluss- und Herrschaftsinstrument sein kann. Beispielsweise können die Höflichkeitsregeln, die den öffentlichen Raum prägen, manche Arten des rationalen Austausches erleichtern, sie schränken aber auch ein, was als rational gilt, und kommen bestimmten verkörperten Formen des Diskurses zuvor, etwa Äußerungen abweichender Sexualität, oder auch, in diesem Zusammenhang unmittelbarer relevant, der Aufdeckung von Folter und staatlich geförderten Verbrechen. Die vorherrschende Öffentlichkeit, jene des »rational-kritischen Dialogs«, setzt eine gemeinsame, transparente Diskussionssprache voraus, während der gegenöffentliche Diskurs, wie Les belles lettres, auf fremde Idiome – und Idiome der Fremdheit – zurückgreift, um seine Distanz gegenüber dem herrschenden zu markieren. Eine Gegenöffentlichkeit muss nicht als subalterne Gruppe beginnen; sie stellt sich vielmehr dadurch gegen die herrschende Öffentlichkeit, dass sie eine stigmatisierte Identität in Formen produziert und verbreitet, die die vermeintliche Neutralität und Transparenz der »allgemeinen Öffentlichkeit« infrage stellen. Der gegenöffentliche Diskurs beinhaltet »das Risiko der Entfremdung«, den Eintritt in »Zirkulationsräume, in denen gehofft wird, dass die Poesis des Schaffens einer Szene transformativ sein wird« (Publics and Counterpublics, S. 88). In der Artikulierung des gegenöffentlichen Diskurses durchlaufen sowohl der vorherrschende öffentliche Raum als auch stigmatisierte Identitäten eine Transformation. Indem es Kontakt und Konflikt zwischen verkörperter Wahrheit und einer gewissen Formierung der bürgerlichen Öffentlichkeit herbeiführt, nimmt Les belles lettres die Macht der Gattung des Zeugnisses vorweg, wie sie zeitgleich im Eichmann-Prozess erkannt wurde, und strebt darüber hinaus danach, Formen der Adressierung

ZWISCHEN ALGERIEN UND ABU GHURAIB

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zu gestalten, die Alternativen zu den vom Staat bevorzugten Kanälen darstellen. In seiner experimentellen Gestaltung geht es sogar weiter als Rouch und Morins Experiment des cinéma vérité, das ebenfalls die Macht der Zeugenschaft anerkennt, aber gegenüber der Staatsmacht eine weniger antagonistische Haltung einnimmt. Les belles lettres ruft zu jener Gegenöffentlichkeit auf, die den Raum der Öffentlichkeit neu gestalten soll im Licht des Widerstands, der Traumata und der staatlichen Gewalt, die die Gegenwart des Buches ebenso bestimmen wie die in ihm erinnerte Vergangenheit. Gemeinsam mit anderen Werken aus der Reihe »Collections Documents« des Verlags Les Editions de Minuit erweitert Delbos Text die Grenzen des öffentlichen Widerstands. Das Buch will nicht im Untergrund wirken, wie Jeansons Netzwerk oder die Verleger zensierter Dokumente, sondern auf der Ebene, auf der Vorstellungen von Öffentlichkeit konstruiert und angefochten werden. Anstatt sich unterhalb der Oberfläche der Öffentlichkeit zu begeben, fördert Delbos gegenöffentliches Zeugnis multidirektionale Erinnerungen an genozidale und koloniale Gewalt zutage und zeigt, dass diese bereits vorhanden, aber auch Gegenstand fortwährenden Vergessens sind. Im multidirektionalen Prozess dieser Freilegung transformiert Delbo (ebenso wie die anderen Personen, deren Texte sie zitiert) den Kern dessen, was es bedeutet, sowohl die Überlebende einer traumatischen Geschichte als auch eine engagierte Bürgerin in der Gegenwart zu sein.

Zwischen Algerien und Abu Ghuraib Wie soll man leben in einer Gesellschaft, die Folter schamlos und systematisch anwendet? Delbos Texte helfen, uns dieser aktuellen und dringenden ethischen Frage zu stellen.26 Es liegt zwar auf der Hand, dass es verschiedener Formen von Widerstand gegen Folter und staatlich geförderte Unterdrückung bedarf, doch ich habe mich hier darauf konzentriert, wie das Gedächtnis die Vergangenheit in Umlauf bringt und dadurch die Möglichkeit unerwarteter Akte der Solidarität eröffnet. Indem es zirkuliert, kann das Gedächtnis, in Form der Zeugenschaft, zum Aufbau von Gegenöffentlichkeiten beitragen, die sich nicht nur der Aufdeckung der schmutzigen Geheimnisse des Staates widmen, sondern auch neu bestimmen, was als Kollektiv gilt – ein maßgeblicher Aspekt der Erinnerungspolitik.27 26 Zum aktuellen Kontext siehe Naomi Klein, »Never Before!«: Our Amnesiac Torture Debate, in: The Nation, 26. Dezember 2005, S. 12. 27 Lauren Berlant übt in einer überzeugenden Betrachtung der »nationalen Sentimentalität« USamerikanischer Liberaler eine eindringliche Kritik an der Verbreitung von Zeugnissen und Rhetoriken des Schmerzes und des Traumas durch subalterne Gruppen und deren Unterstützer. Berlant argumentiert, »der Schmerz und das Leid untergeordneter Subjekte« seien »etwas Gewöhnliches und Geläufiges, dem die traumatische Identitätsform und deren Zirkulation in Staat und Recht nicht gerecht wird«. Berlant zeigt unter Bezugnahme auf Wendy Browns verwandte Kritik an »verwundeten Bindungen«, dass der Trauma/Zeugenschaft-Ansatz Subjekte neuerlich dem Staat unterordnet und der Kritik der Unterdrückung künstliche Grenzen setzt,

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7. DIE GEGENÖFFENTLICHE ZEUGIN

Das multidirektionale Echo von Erinnerungen, das Les belles lettres verkörpert, ist in den Jahrzehnten, seit Algerien die Unabhängigkeit erlangt hat, nicht verhallt. Heute ist es erneut notwendig, mit Delbo zu fragen: »Doch genügt es nicht, dass sich Unschuldige (nicht verurteilte Menschen sind a priori unschuldig) in Lagern befinden, damit unser Gewissen sich auflehnt?« Um dann Zeugnisse wie das von Djamila Boupacha zu vernehmen: »Nach vier oder fünf Tagen wurde ich nach Hussein-Dey verlegt. So, sagten sie mir, würde ich den ›zweiten Grad‹ kennenlernen. Ich habe gelernt, was das bedeutet: Folter mit Stromkabeln, zunächst; da die an meinen Brüsten angebrachten Elektroden nicht hielten, haben sie sie mit Klebeband an meiner Haut befestigt; auf die gleiche Weise haben sie mich an den Beinen, an der Leiste, am Geschlecht, auf dem Gesicht verbrannt« (zit. nach Les belles lettres, S. 56). Sich an und mit Delbo erinnern bedeutet, die Echos zu hören, die Delbo aufzeichnet, und auf die »tiefen Spuren« der Vergangenheit zu reagieren, die einige Mitglieder ihrer Generation erfahren haben. Es sind auch unsere Echos, unsere Spuren: »Als ich in Raum #1 war, haben sie mir gesagt, ich solle mich auf den Bauch legen, und sie sind vom Bett auf meinen Rücken und meine Beine gesprungen. Und die anderen beiden haben mich bespuckt und beschimpft, und sie haben meine Hände und Füße festgehalten. […] Einer von der Polizei hat auf mich gepisst und mich ausgelacht. […] Und dann haben sie den Lautsprecher in den Raum gestellt und sie haben die Tür geschlossen und er hat in das Mikrofon geschrien. Dann haben sie den glühenden Finger zerbrochen und auf mir ausgebreitet, bis ich geglüht habe, und sie haben gelacht. Sie haben mich in den Raum gebracht und mir bedeutet, mich auf den Boden zu legen. Und einer von der Polizei hat seinen Stock, den er immer bei sich trug, ein Stück weit in meinen Arsch gesteckt, und ich habe gespürt, wie der Stock ungefähr zwei Zentimeter in mich eingedrungen ist, in etwa.«28 weil er »davon ausgeht, dass das Gesetz beschreibt, was eine Person ist, und dass soziale Gewalt auf dieselbe Weise verortet werden kann, auf die sich körperliche Verletzungen ursächlich zuordnen lassen« (S. 42). Schließlich suggeriert dieser Ansatz auch eine vereinfachende Vorstellung vom Zugang zur Wahrheit mittels Zeugenschaft, die sich begrifflich niederschlage als »prälapsarisches Wissen oder eine verdichtete umfassende Sozialtheorie« (S. 43). Ich halte Berlants Bemerkungen für überzeugend, sofern sie nur auf die von ihr diskutierte Thematik – den Einsatz von Zeugenschaft im liberalen Staat – bezogen bleiben, bin aber zuversichtlicher, was die Rolle der Zeugenschaft in anderen Kontexten angeht, etwa in dem des »Ausnahmezustands«, der die Schlussphase des Algerienkriegs bestimmte, und vielleicht auch in dem unserer eigenen Situation eines »globalen Kriegs gegen den Terrorismus« nach dem 11. September 2001. Dennoch hat der Zeugenschaftsansatz offenkundige Grenzen und bleibt zu politischer Transformation unfähig, sobald er von umfassenderen, auf Treue und Solidarität gegründeten kollektiven Formationen abgetrennt ist. Siehe Lauren Berlant, The Subject of True Feeling: Pain, Privacy, and Politics, in: Sara Ahmed/Jane Kilby/Celia Lury/Maureen McNeil/Beverley Skeggs (Hrsg.), Transformations: Thinking through Feminism, New York 2000, S. 42–62, hier S. 33, 42 f. 28 Zit. nach Mark Danner, Torture and Truth: America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York 2004, S. 248.

ZWISCHEN ALGERIEN UND ABU GHURAIB

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Dieses Zeugnis stammt von einem anonymen Gefangenen, den das US Militär 2003 im Gefängnis von Abu Ghuraib im Irak festgehalten hat. Ich zitiere ihn hier aus Mark Danners Zusammenstellung seiner journalistischen Texte über Krieg und Folter im Irak. Er hat seine Texte zusammen mit relevanten Dokumenten, Bildern und offiziellen Berichten veröffentlicht. Ist Danners Sammlung eine neuere Version von Les belles lettres? Trotz der Parallelen zwischen einigen in den beiden Texten enthaltenen Darstellungen – zum Beispiel der invasiven, weltvernichtenden sexualisierten Gewalt – gibt es natürlich bedeutende textliche und historische Unterschiede. Doch es ist davon auszugehen, dass Torture und Truth ebenso wie Les belles lettres den Krieg nicht aufhalten kann und bald schon dem Vergessen anheimfallen wird, ganz so, wie es mehrere Jahrzehnte lang mit Delbos erstem Buch – und, in einem geringeren, aber immer noch bedeutenden Umfang, mit den darin dokumentierten Gräueln – der Fall war. Was Danner dokumentiert, ist allgemein bekannt und kann im Internet sowie in anderen Büchern und in Zeitschriften nachgelesen werden. Dasselbe galt auch, mehr oder weniger, zu Delbos Zeit, trotz der aktiven Zensur durch den Staat und der vergleichsweise bescheidenen Mittel der Medien. Danner schreibt: »Wie bei anderen Skandalen, zu denen es während des Irakkriegs und des Kriegs gegen den Terrorismus gekommen ist, geht es [bei Abu Ghuraib] nicht um Aufdeckung oder Enthüllung, sondern um das Versäumnis der Politiker und Amtsträger, der Presse und letztlich der Bürger, nach der Enthüllung des Unrechts zu handeln. Beim Skandal geht es nicht darum, Verborgenes aufzudecken, sondern darum, das zu sehen, was bereits sichtbar ist – und dann zu handeln. Es geht nicht um Information; es geht um Politik.«29 Die Differenz der Kontexte von Les belles lettres und Torture and Truth – also die Differenz der Kriege in Algerien und im Irak – ist politischer Natur. Nicht an Information fehlt es, sondern an kollektiver Organisation – an der Art von Organisation, die Les belles lettres zitiert, neuerlich in Umlauf bringt und durch seine kollektive, briefliche Form sein gegenöffentliches Zeugnis zu gestalten strebt. Wenn Zeugenschaft und Dokumentation politisch sein sollen, dann müssen sie an der Schaffung neuer Öffentlichkeiten ausgerichtet werden, an der Zirkulation und nicht nur der Enthüllung. Am schwersten ist heute vielleicht die Aufmerksamkeit zu finden, von der Warner meint, sie sei für die Schaffung einer Öffentlichkeit notwendig: Die Begegnung mit der Folter ist flüchtig geblieben, ein flackerndes Bild auf dem Bildschirm der öffentlichen Aufmerksamkeit.30 Wie marginal die französische 29 Danner, Torture and Truth, S. xiv. 30 Dieses flackernde Bild ist, so muss eingestanden werden, wiederholt zu sehen gewesen, seit die Verwüstungen von Abu Ghuraib offenbart wurden. Statistiken zeigen einen starken Anstieg der Folterdarstellungen in (fiktionalen) amerikanischen Fernsehserien. Zur Bedeutung dessen muss zwar noch geforscht werden, doch ist bereits jetzt klar, dass solche Darstellungen wenig zur Förderung der öffentlichen Debatte oder des öffentlichen Bewusstseins über die Geschichte und Politik der Folter beitragen; sie scheinen vielmehr als Teil einer kollektiven Normalisierung und Legitimierung von Folter zu fungieren. So sind sie trotz ihrer

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7. DIE GEGENÖFFENTLICHE ZEUGIN

Linke in ihrem Kampf gegen den spätkolonialen Staat auch gewesen sein mag: Was sie dennoch an Kraft aufwies, ging auf die kollektiven Erinnerungen zurück, von denen sie heimgesucht wurde. Diese Erinnerungen an Krieg und Genozid halfen der Linken bei der Gestaltung einer Gegenöffentlichkeit, die zumindest der Politik der Zukunft eine Erbschaft hinterlassen hat. Sicherlich ist die kollektive Erinnerung nicht einfach ein Archiv, das seiner politischen Instrumentalisierung harrt; die Heimsuchung durch die Vergangenheit kann in der Gegenwart nicht ohne unvorhersehbare Folgen nutzbar gemacht werden. Und doch lehrt uns Les belles lettres, dass Erinnerungsarbeit nicht nur die Vergangenheit konservieren, sondern auch das Verschwinden der politischen Gegenwart hinauszögern kann. Delbo und andere französische Linke der 1960er-Jahre nutzten die Ressourcen ihrer Erinnerung und ihre Erfahrungen mit extremer, politischer Gewalt, um eine radikale Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Es muss jedoch auch festgestellt werden, dass es dieser Gegenöffentlichkeit nicht gelang, die Bedingungen nationaler Publizität radikal zu transformieren, auch wenn es ihr sehr wohl gelang, dem Staat solche Angst zu machen, dass er zu immer extremeren Repressionsformen griff. Tatsächlich hat es fast vierzig Jahre gedauert, bis sich Frankreich der Folter, dem Krieg und dem umfassenderen Kontext des Kolonialismus gestellt hat. Noch 1979 ging aus Meinungsumfragen hervor, dass nur 59 Prozent der französischen Staatsbürger glaubten, im Algerienkrieg sei von Folter Gebrauch gemacht worden. Bis 1992 hatten bereits 94 Prozent der Befragten zumindest jene Wahrheit über die damalige Zeit anerkannt, doch erst Ende der 1990er-Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam es zu einer bedeutenden öffentlichen Debatte und wurde der umfassendere Mythos der »zivilisierenden Mission« Frankreichs in seinen Überseegebieten infrage gestellt – wenngleich es verstörende Anzeichen dafür gibt, dass dieser Mythos auch heute noch durchaus verbreitet ist.31 Im folgenden Abschnitt setze ich mich mit der Bedeutung des manchmal schwerfälligen Charakters des vorherrschenden kollektiven Gedächtnisses auseinander und argumentiere, dass eine auf der punktuellen Zeitlichkeit öffentlicher Zirkulation beruhende Erinnerungspolitik durch eine Ethik der Erinnerung ergänzt werden muss, die am Problem der Dauer und an dem, was in der Vergangenheit verborgen bleibt, ausgerichtet ist. Allgegenwart nicht in der Lage, ein Gegenbild zu produzieren, wie es die französischen Aktivisten zu tun bestrebt waren. Eine Darstellung der Allgegenwart von Folter im amerikanischen Fernsehen bietet folgender Artikel der Associated Press: Group: TV Torture Influencing Real Life, in: New York Times, 11. Februar 2007, http://www.nytimes.com/aponline/arts/APTV-American-Torture.html [11. 2. 2007]. 31 Ein Beleg für den Backlash gegen die Kritik des Kolonialismus ist das am 23. Februar 2005 verabschiedete Gesetz, das von Lehrern Aufmerksamkeit für die »positiven« Aspekte der französischen Anwesenheit in Übersee verlangt. Dieses Gesetz hat, zusammen mit den sozialen Unruhen in den Pariser Vorstädten, eine neue Debatte über die koloniale Vergangenheit Frankreichs angestoßen. Dabei wird ständig die Erinnerung an Vichy und an die nationalsozialistische Besatzung beschworen. Siehe das Dossier: La vérité sur la colonisation, in: Le Nouvel Observateur, 8.–14. Dezember 2005, S. 12–32.

ZWISCHEN ALGERIEN UND ABU GHURAIB

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Die neue, kritische Erinnerungsarbeit in Frankreich wurde unter anderem durch den 1997/98 geführten Prozess gegen Maurice Papon angeregt, jenen Polizeipräfekten, der (was beinahe unglaublich ist) nicht nur für Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs verantwortlich war, sondern außerdem während des französisch-algerischen Kriegs in Algerien als Präfekt arbeitete und anlässlich der Demonstrationen gegen die französische Repression von Algeriern und Algerierinnen am 17. Oktober 1961 in Paris tödliche Aktionen anordnete.32 Wie ungewöhnlich seine Karriere auch gewesen sein mag: Papon war keine Ausnahme. Jim House und Neil MacMaster haben treffend bemerkt, dass »Papons Karriere und der Kern seiner ideologischen Ansichten repräsentativ für eine gesamte Generation von Regierungsministern, hochrangigen Beamten, Militärkommandeuren, Präfekten und Politikern [waren], die den Algerienkrieg durch verstärkte Repression zu beenden suchten, und nicht etwa durch politische Verhandlungen.« House und MacMaster betonen es zwar nicht, doch ihre Beschreibung dieser Gruppe erinnert auf verstörende Weise an die zeitgenössische US-amerikanische Politik. Dient heute der islamische Extremismus als Anlass und Angriffsziel eines erneuerten amerikanischen Imperialismus, so waren Papon und seine Generation vom Antikommunismus des Kalten Kriegs und der Bedrohung durch »revolutionäre Kriege« in der Dritten Welt motiviert: »Der als tödlich und final wahrgenommene Charakter dieser [aus der Dritten Welt herrührenden, revolutionären] Herausforderung an den Westen […] legitimierte einen Verzicht auf die gewöhnlichen Regeln inländischen und internationalen Rechts: Höhere Werte konnten, in der Verzweiflung der letzten Stunde, nur durch den Rückgriff auf außergewöhnliche Formen der Gegengewalt gerettet werden.« Ähnlich der heutigen Herangehensweisen an den Islamismus ging »ein zentrales Element in der Entwicklung des staatlichen Terrors, sowohl in Algerien als auch im metropolitanen Frankreich, auf die Weigerung der französischen Regierung zurück, die nationalistischen algerischen Militanten als legitime Kombattanten anzuerkennen«.33 Papons erhellende Karriere bietet einen produktiven Boden für multidirektionale Verbindungen, die, ausgehend vom Jahr 1961, nicht nur zurück zum Zweiten Weltkrieg führen, sondern auch, in umgekehrter Richtung, zum heutigen »Krieg gegen den Terror«. Wie der Fall Papon verdeutlicht, ist die Geschichte eine Echokammer; eine Ethik der Erinnerung stellt die Treue zu den Echos her. 32 Belege für diese Behauptungen über die französische öffentliche Meinung und eine kurze Erörterung des Papon-Prozesses bietet William Cohens Essay über die sich wandelnden Konturen der französischen Erinnerung an die Folter in Algerien sowie des französischen Verständnisses der eigenen Kolonialvorhaben: William B. Cohen, The Algerian War and the Revision of France’s Overseas Mission, in: French Colonial History 4 (2003), S. 27–39. Siehe auch den Essay von David Prochaska, That Was Then, This Is Now: The Battle of Algiers and After, in: Radical History Review (2003) 85, S. 133–149. 33 Jim House/Neil MacMaster, Paris 1961: Algerians, State Terror, and Memory, Oxford 2006, S. 26 f., 30.

Teil IV:

Der 17. Oktober 1961:

Ein Ort des Holocaustgedenkens?

8. Eine Geschichte dreier Ghettos: Race, Gender und »Universalität« nach dem 17. Oktober 1961

Am Abend des 17. Oktober 1961 kamen Zehntausende algerische Demonstranten und Demonstrantinnen in der Pariser Innenstadt zusammen und sahen sich kurz darauf mit dem »blutigsten Akt staatlicher Repression eines Straßenprotests im modernen Westeuropa«1 konfrontiert. Algeriens Nationale Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) hatte zur Demonstration aufgerufen, um ihre Stärke zur Schau zu stellen und gegen eine Ausgangssperre zu protestieren, die der Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon verhängt hatte, dessen Rolle als Kollaborateur des nationalsozialistischen Genozids Jahre später aufgedeckt werden sollte. Obwohl sich die Demonstrierenden friedlich verhielten und trotz der anwesenden Frauen und Kinder, fiel die polizeiliche Reaktion brutal aus. Bis zum Ende des Abends sollten mehr als 11 000 Demonstranten und Demonstrantinnen verhaftet und bis zu 200 ermordet werden; die Körper vieler Opfer wurden in die Seine geworfen. Trotz der Größe der Demonstration und der extremen Antwort der Polizei wichen die Ereignisse des Oktobers 1961 bald wieder aus dem öffentlichen Gedächtnis, wie zahlreiche Forscher und Forscherinnen nachgewiesen haben. Von der französischen Linken marginalisiert, von der entstehenden algerischen Nation ignoriert (und später instrumentalisiert) und von den unmittelbar betroffenen Familien beschwiegen, ging das Massaker vom 17. Oktober 1961 zwei Jahrzehnte »in den Untergrund«, bevor es in den 1980er-Jahren wieder ins öffentliche Bewusstsein rückte, um dann in den 1990er-Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts allmählich die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu erfahren. In Paris 1961: Algerians, State Terror, and Memory (Paris 1961: Algerier, Staatsterror und Erinnerung) begründen Jim House und Neil MacMaster detailliert und überzeugend, weshalb das Massaker vom 17. Oktober dem kollektiven Vergessen anheimfiel. Bestrebt, »die Reaktionen auf den 17. Oktober […] ›lesbarer‹, ihr Ausmaß und ihren Charakter relativ durchschaubar zu machen«, setzen House und MacMaster die Ereignisse zur vorangegangenen Kolonialgeschichte, zu den Spannungen, die die Frage des Kolonialismus in der französischen Linken verursachte, und zu den postkolonialen Dynamiken Frankreichs und Algeriens in Beziehung (S. 184). Sie betonen ausdrücklich, wie die französische Linke unmittelbar nach dem Ereignis die Spezifik kolonialer und rassistischer Machtverhältnisse zugunsten eines breiten antifaschistischen Bündnisses »verdrängt« und die Anerkennung dieser Spezifik »vertagt« hat.2 1 2

House/MacMaster, Paris 1961, S. 1. Das wichtige Buch von House/MacMaster ist die maßgebliche Darstellung von Vorgeschichte und Nachspiel des Massakers vom Oktober 1961. House und MacMaster schreiben: »Während der [in Bezug auf die Erinnerung an die Ereignisse] entscheidenden Übergangsperiode zwischen dem Oktober 1961 und dem Februar 1962 wurde die Frage der anti-algerischen Gewalt verdrängt und die politische Wirkung

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8. EINE GESCHICHTE DREIER GHETTOS

Anstatt die von House und MacMaster nachvollzogenen Verschiebungen und Verzögerungen als Zeichen für ein Zum-Schweigen-Bringen oder einer Konkurrenz zu verstehen, ließen sich solche Verschiebungen und Verzögerungen auch als Grundlagen einer Arbeit an der Erinnerung sehen; unter bestimmten Umständen könnten es sogar ethische Handlungen sein, die es Erinnerungen erlauben, sich zu entfalten, wenn auch zeitlich ungleich und asynchron. Ohne die vielen Kräfte zu verleugnen, die zur Marginalisierung des 17. Oktober beigetragen haben, möchte ich den Fokus auf die Erkundung der multidirektionalen Verbindungen legen, die dennoch einen Kontext für die Artikulation kollektiven Gedenkens geschaffen haben – für dessen Ausdruck und Rolle als Bindeglied scheinbar disparater Geschichten. Achtet man besonders auf die Verbindungen des Massakers zum nationalsozialistischen Genozid sowie zur jüngeren Wiederkehr extremer, rassistisch aufgeladener Gewalt, dann zeigt sich, dass der Holocaust bei der Reaktion auf die Ereignisse von 1961 von Anfang an eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Die Folter und der Einsatz von Lagern durch Frankreich im Krieg gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung weckten Erinnerungen an die nationalsozialistische Besatzung und den nationalsozialistischen Genozid, die wiederum neue Formen des Zeugnisses und der Zeugenschaft inspirierten. Die Ereignisse des 17. Oktober 1961 erweitern die Problemstellung der multidirektionalen Netzwerke, die Vergangenheit und Gegenwart verbinden, um verzwickte Angelegenheiten: speziell die der »Rasse« und die Probleme der Anerkennung, die mit ihr einhergehen. Wie eine Lektüre des zeitgenössischen antikolonialen Diskurses in Frankreich zeigt, gaben das Massaker und die Massenverhaftung von Algeriern und Algerierinnen in Paris – ebenso wie die repressive Ausgangssperre, aufgrund derer es überhaupt erst zu der FLN-Demonstration kam – Anlass zu Einsichten in neue, mit der Dekolonisierung einhergehende Prozesse der Rassifizierung. Das geschah allerdings vermittelt durch die Erinnerung an die antisemitische Verfolgung während der nationalsozialistischen Besatzung. Die inhärente Instabilität der Kategorie »Rasse« wird besonders deutlich erkennbar, wenn man die Rolle dieser Kategorie in den sich wandelnden Kontexten der französischen Nachkriegszeit betrachtet. Nach meiner selektiven Erkundung des bald ein halbes Jahrhundert alten Archivs der Erinnerung an den 17. Oktober und seiner Darstellung haben die Ereignisse von 1961 lange Zeit wie ein Relais funktioniert, das antisemitische Rassifizierung während des Zweiten Weltkriegs, kolonialen und postkolonialen Rassismus, die Gewalt der Dekolonisierung und die Probleme multikultureller, mit neuen Formen der Globalisierung und des Imperialismus konfrontierter Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts artikulierte. Wechselt man vom Ansatz der Erinnerungskonkurrenz zu einem multidirektionalen Ansatz, dann zeigt sich, dass das, was sich um 1961 abspielte, weder als bloßes Vergessen noch als Auslöschung einer Reihe von Erinnerungen zugunsten einer anderen der Ereignisse vom 17. Oktober vertagt – ein Ausdruck der sehr diffusen Auswirkungen der Repression auf die Linke« (ebenda, S. 242).

RACE, GENDER UND »UNIVERSALITÄT« NACH DEM 17. OKTOBER 1961

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verstanden werden kann. Wir sehen vielmehr, wie ein neues Gedenken an den Holocaust entsteht und eine Verknüpfung von Holocaust mit anti-algerischer Gewalt etabliert wird, die später zur Produktion eines neuen Gedenkens an den 17. Oktober beiträgt. Die Theorie der multidirektionalen Erinnerung erlaubt uns zu erkennen, dass Aufschub und Verschiebung zu den Mitteln gehören, mit denen Öffentlichkeiten verstörende Geschichten aufarbeiten und in ihr kollektives Gedächtnis integrieren. Der Holocaust und der 17. Oktober haben einander als Vehikel des Gedenkens gedient: Die Auseinandersetzung mit der rassistischen Repression der frühen 1960er-Jahre ist ein Mittel gewesen, um die sehr unvollständige, damals in Frankreich und anderswo gerade erst begonnene Aufarbeitung des nationalsozialistischen Genozids voranzubringen, wohingegen in den 1980er- und 1990er-Jahren sowie in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ein mittlerweile etablierteres Archiv des Holocaustgedenkens anfing, als Quelle für die Artikulation (den Ausdruck und die transkulturelle Verknüpfung) der Erinnerung an die Ereignisse des Oktober zu dienen. Diese beiden Ereignisse interagieren nicht punktuell: Die kollektive Erinnerung ist genuin multidirektional (nicht bloß bidirektional). Zu den weiteren Erfahrungen und Ereignissen, die den nachfolgenden Erörterungen zusätzliches Gewicht verleihen, gehören der Rassismus gegen Schwarze in den USA und der aktuelle »Krieg gegen den Terror«. Solche Verbindungen zwischen dem Holocaust und anderen Formen von Rassismus und Gewalt haben viele Forscher und Forscherinnen veranlasst, von einer »Universalisierung« des Holocaust zu sprechen – von einem Vorgang also, den manche verurteilen, andere hingegen preisen. In diesem Kontext bedeutet Universalisierung, dass der Holocaust von seiner historischen Spezifik abgelöst wird und nun als abstraktes Codewort für das Böse zirkuliert – damit auch als Ansatz für eine mögliche Politik des Antirassismus und der Menschenrechte. Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den 17. Oktober 1961 hat das Potenzial, eine alternative Darstellung anzuregen, die die multidirektionale Zirkulation des Holocaustgedenkens hervorhebt, und nicht dessen abstrakte Universalisierung. Durch die Betonung der Multidirektionalität entstehen auch eine alternative Ethik und Politik der Erinnerung. Unmittelbar nach den Ereignissen veröffentlichte Artikel eines politischen Journalismus, verfasst von Intellektuellen wie Marguerite Duras, Claude Bourdet und Henri Kréa, lenken den Fokus auf Fragen der »Rasse« und erhellen, wie die Verknüpfung von Holocaust und Dekolonisierung Formen des Vergleichs schaffen kann, die nicht zwingend eine universalisierende Adäquatheit unterschiedlicher Geschichten zur Folge haben muss; die Texte benennen vielmehr die Besonderheiten dieser Geschichten, weil sie in Bezug auf Zeitlichkeit und affektive Wirkung Unterscheidungen treffen. Der Roman des in Europa lebenden afroamerikanischen Schriftstellers William Gardner Smith, The Stone Face (Das steinerne Gesicht, 1963) erweitert die Frage der »Rasse« um die Aspekte von Komplizenschaft und Gender. Smith thematisiert Rassismus, um die Analogisierung unterschiedlicher Geschichten zu erweitern, wie Du Bois in den frühen 1950er-Jahren und politische Journalist und Journalistinnen zu Smith’ Zeit. Indem er die Analogie erweitert, wird sich Smith bewusst, dass Komplizenschaft

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8. EINE GESCHICHTE DREIER GHETTOS

als unvermeidbare Komplikation auf den Plan tritt, die den Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen infrage stellt. Smith’ Erkenntnisse über Komplizenschaft helfen uns zwar, über moralische Verantwortung nachzudenken, doch er bedient sich zugleich einer vergeschlechtlichten Logik der Erinnerung und des Aktivismus, die die anamnestischen Verbindungen der Solidarität der atemlosen Zeitlichkeit der Politik opfert. Smith’ Roman deutet  – wie Caché, der Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke – darauf hin, dass die Erinnerung an den 17. Oktober frappierend transnational ist.3 Der gleichzeitige, prägende Einfluss französischer und algerischer Kräfte auf die Erinnerung an die Ereignisse ist zwar in jüngeren Debatten um den 17.  Oktober ein häufiger und wichtiger Untersuchungsgegenstand, doch haben Kritiker und Kritikerinnen den in einem allgemeineren Sinn internationalen und multidirektionalen Aspekten der Erinnerung weniger Aufmerksamkeit geschenkt.4 Auch wenn die Forschung zum 17. Oktober noch nicht über die nationalen Kontexte Frankreichs und Algeriens hinausgeblickt hat, ist doch in den letzten Jahren zunehmend die Globalisierung des Holocaustgedenkens in den Fokus gerückt – ein Phänomen also, das die um den 17. Oktober 1961 zirkulierenden transnationalen Ströme sichtbar werden lässt. Das bedeutendste Werk zur globalen Reichweite des Holocaustgedenkens deutet an, dass gerade die dem nationalsozialistischen Genozid zugeschriebene Singularität auch zur Universalisierung seiner Bedeutung beigetragen hat – ein Argument, das ich am Ende dieses Kapitels durch eine verständnisvolle Auseinandersetzung mit zwei wichtigen soziologischen Darstellungen der Globalisierung des Holocaustgedenkens anfechten werde. Sowohl die unmittelbare als auch die aufgeschobene Reaktion auf das polizeiliche Massaker vom 17. Oktober 1961 liefern Belege für eine ethische Vision, die nicht auf Universalisierung, sondern auf multidirektionalen Interaktionen von Holocaust, Dekolonisierung und anderer staatlich geförderter Gewalt beruht. Weit davon entfernt von einer Betonung dessen, was die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider als »den abstrakten Charakter von ›Gut und Böse‹« bezeichnen, für den der Holocaust als Symbol stehe, akzentuieren die transnationalen und multidirektionalen Reaktionen auf das Massaker vielmehr eine historische Asymmetrie, eine verstörende Verkörperung und uneingestandene Komplizenschaft.5 3

4

5

Die Verortung des Oktober 1961 in einem transnationalen Rahmen, der von »Rasse«, Geschlecht und Generation geprägt ist, trägt dazu bei aufzuzeigen, warum sich die Erinnerung an die Ereignisse für die französische Öffentlichkeit als derart provokant erwiesen hat: Die anhaltende Bedeutung solcher sozialer Kategorien verweist auf eine Krise der immer noch mächtigen republikanischen Ideologien des Universalismus und der Staatsbürgerschaft. Trotz ihrer beträchtlichen thematischen Reichweite und ihrer beispielhaften interdisziplinären Methodik erwähnt die Untersuchung von House und MacMaster, Paris 1961, den Roman von Smith nicht. Auch Hanekes Film bleibt unerwähnt; dieser liegt allerdings außerhalb des primären chronologischen Rahmens der Untersuchung, die 2001 mit dem vierzigsten Jahrestag der Ereignisse endet. Möglicherweise war das Buch vor der Aufführung von Caché bereits im Druck. Siehe Daniel Levy/Natan Sznaider, Memory Unbound: The Holocaust and the Formation of Cosmopolitan Memory, in: European Journal of Social Theory 5 (2001) 1, S. 87–106, hier S. 102.

ZWISCHEN GESCHICHTE UND GEDENKEN: DER 17. OKTOBER 1961

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Zwischen Geschichte und Gedenken: der 17. Oktober 1961 Will man verstehen, wie und weshalb der 17. Oktober ein Schauplatz multidirektionaler Erinnerung wurde, ist es wichtig, den Kontext des Ereignisses und dessen Folgen zu kennen. Ende 1961 war klar, dass Algerien auf die Unabhängigkeit zusteuerte, doch in den letzten Monaten des Jahres versuchten sowohl der FLN als auch der französische Staat, sich die bestmögliche Verhandlungsposition zu sichern, und eskalierten die Gewalt in Algerien ebenso wie in Kontinentalfrankreich. Derweil gründeten einige rechtsextreme französische Generäle eine terroristische Gruppe, die Organisation Armée Secrète (OAS), die beim Kampf um den Erhalt der Algérie française (des französischen Algerien) Tausende Menschen tötete. Hinzu kam, dass die Franzosen in Zusammenhang mit ihrer anhaltenden Folter- und Internierungspraxis algerische Kollaborateure einsetzten, die sogenannten Harki, die ob ihrer Brutalität besonders gefürchtet wurden. Als Reaktion auf solche Taktiken ermordete der FLN Dutzende französischer Polizisten – obgleich er vor dem 17. Oktober angekündigt hatte, derartige Anschläge einzustellen. Anfang Oktober verhängte der Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon eine Ausgangssperre für algerische Arbeiter und Arbeiterinnen – ein Versuch, die Organisationsprozesse des FLN in Frankreich außer Kraft zu setzen. Weil es gegen die universalistischen Prinzipien des französischen Gesetzes verstieß, eine Ausgangssperre nur für eine bestimmte Gruppe zu verhängen, veröffentlichte Papon stattdessen »ein Kommuniqué, dass Algeriern ›dringendst [riet] […], von nächtlichen Bewegungen abzusehen‹. Die Polizei behandelte dies als verbindliches Verbot und nutzte es als Mittel weiterer Schikanen.«6 Die Ausgangssperre machte individuellen Arbeitern und Arbeiterinnen Schwierigkeiten und störte die Aktivitäten des FLN und dessen Spendensammlungen. In der Hoffnung, dass die Ausgangssperre aufgehoben wird, und um die Größe seines Unterstützerumfelds in Frankreich zu zeigen, rief der FLN zu einer Großdemonstration von Männern, Frauen und Kindern in der Pariser Innenstadt am 17. Oktober 1961 auf. Die Anweisungen des FLN legten ausdrücklich fest, dass es sich um eine friedliche Versammlung handeln solle, obwohl die Führung wusste, dass frühere Demonstrationen mit Polizeigewalt geendet hatten (so war es am 14. Juli 1953 zu einem kleineren Massaker gekommen). Tatsächlich war angesichts willkürlicher Massenverhaftungen und gewaltsamer Repression durch Polizei und Harkis für algerische Arbeiter und Arbeiterinnen bereits der Alltag in der Metropole gefährlich. Am 17. Oktober griff die Polizei die Demonstrierenden, die sich an mehreren Orten in der Stadt versammelten, sofort an, ohne dass irgendwelche Provokationen vorausgegangen waren. Bis zum Folgetag waren mehr als 11 000 Demonstranten und Demonstrantinnen verhaftet und in Internierungszentren an den Stadtgrenzen von Paris verbracht worden (von wo aus viele nach Algerien deportiert und dort in Lagern inhaftiert werden sollten). Unzählige waren erschossen, zu Tode geprügelt oder in der 6

House/MacMaster, Paris 1961, S. 100.

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8. EINE GESCHICHTE DREIER GHETTOS

Seine ertränkt worden. Die französischen Beamten logen zunächst und behaupteten, nur zwei Algerier seien gestorben, doch in späteren Untersuchungen ist dargelegt worden, dass es zwischen 39 und mehr als 200 waren; es ist unwahrscheinlich, dass es hier noch zu einem Konsens der Historiker und Historikerinnen kommen wird.7 In den ersten Tagen und Wochen nach dem Massaker berichtete sowohl die Mainstream- als auch die radikale Presse über die Ereignisse und ihre Folgen; wir werden auf diese Berichte zurückkommen.8 Doch eine Vertuschungsaktion der Polizei und der Regierung – die auch die Weigerung beinhaltete, die Morde ernsthaft untersuchen zu lassen –, das rasante Tempo der Ereignisse am Ende des Kriegs und die allgemeine Abneigung der französischen Öffentlichkeit, sich mit dem Schicksal ihrer algerischmuslimischen Nachbarn und Nachbarinnen zu befassen, hatten zur Folge, dass der 17. Oktober bereits nach Monaten dem Vergessen anheimfiel, zumindest auf der Ebene des öffentlichen Diskurses. Trotz der anfänglichen Aufmerksamkeit der Presse und einer Reihe kleiner Demonstrationen algerischer und französischer Gruppen gelten die Ereignisse des 17. Oktober im Allgemeinen als ungefähr zwei Jahrzehnte lang aus dem kollektiven Gedächtnis »verschwunden«. Als neun linke französische Demonstranten und Demonstrantinnen am 8. Februar 1962 während einer von der Kommunistischen Partei unterstützten antifaschistischen Kundgebung in der Metro-Station Charonne von der Polizei ermordet wurden, schien das Massaker an den Algeriern und Algerierinnen endgültig aus dem Bewusstsein der Franzosen und Französinnen getilgt. Nach der Darstellung von House und MacMaster »sollte eine in der Linken ›vorherrschende‹ Erinnerung den 17. Oktober 1961 von nun an weitgehend verdecken. Charonne, und nicht etwa der 17. Oktober, wurde zum Symbol für Polizeigewalt während des Algerienkriegs, woran dann die radikale Linke die KPF während und nach dem Mai ’68 erinnerte. Bei Charonne und dem 17. Oktober hat es sich oft um nebeneinander und konkurrierende Erinnerungen gehandelt, was einen Strang der Erinnerungspolitik des 17. Oktober ausmacht« (Paris 1961, S. 256). Trotz dieser »Konkurrenz« gab es in den letzten Jahren viele öffentlich ausgesprochene Erinnerungen an das Massaker und entsprechende Darstellungen. Die »Wiederkehr« des 17. Oktober nach seiner zwanzigjährigen Existenz im »Untergrund« vollzog sich im Kontext ethnischer und rassistischer Spannungen sowie lebhafter Debatten über den Status von Geschichte und Erinnerung in demokratischen Gesellschaften – in einem Kontext, der direkt mit der Zeit des algerischen Unabhängigkeitskriegs zusammenhängt und ihr zugleich sehr fern ist.9 7 8

9

Bei der Rekonstruktion der Geschichte der Ereignisse vom Oktober 1961 – einschließlich der Vor- und Nachgeschichte – habe ich mich auf zahlreiche Untersuchungen und Primärquellen gestützt, auf die ich im Laufe des Abschnitts und des Kapitels verweise. Im November erschien auch Paulette Péjus Rattonades à Paris, Paris 1961, ein Buch, das ähnlich wie Delbos Les belles lettres zahlreiche wichtige journalistische Berichte versammelt. Es wurde sofort von der Polizei beschlagnahmt, jedoch nun neu aufgelegt worden: Rattonades à Paris précédé de Les harkis à Paris, Paris 2000. In einigen ihrer Kapitelüberschriften periodisieren House und MacMaster die Erinnerung an die Ereignisse wie folgt: »Die Marginalisierung des 17. Oktober 1961 (1961–1968)«; »Erinnerungen im ›Untergrund‹, 1962–1979«; »Auftauchende Erinnerungen, 1980–1997?«;

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Der 17. Oktober ist zwar in den letzten Jahren zu einem seriösen Gegenstand historischer Forschung geworden, doch verdankt sich diese Legitimität Kräften außerhalb der Historikerzunft. Die beiden frühesten Ursachen der Wiederkehr dieses Ereignisses waren soziale Bewegungen und künstlerische Werke. Beginnend in den späten 1970er-, vor allem aber in den 1980er-Jahren haben migrantische Gruppen – insbesondere Jugendgruppen  – sich die Erinnerung an das Massaker wieder angeeignet. Dies war Teil ihrer Bemühungen, der eigenen Stimme im Mainstream Gehör zu verschaffen. Organisationen wie Sans Frontières und SOS Racisme griffen auf den antikolonialen Unabhängigkeitskampf zurück, um im postkolonialen Kontext gegen den Rassismus in der Metropole zu kämpfen. Interessant ist, dass – wie House und MacMaster zeigen – »diese Nachfahren von Algeriern oft über die resilienten Gegenerinnerungen ehemaliger französischer antikolonialer Aktivisten auf den 17. Oktober stießen, und nicht durch weitergegebene Erinnerungen in ihren algerischen Familien« (Paris 1961, S. 19).10 So verdankt sich die Wiederkehr des 17. Oktober zum Teil eben jener multidirektionalen Dynamik, die bereits die frühen Reaktionen dieser antikolonialen Aktivisten und Aktivistinnen bestimmte. Derweil veröffentlichte Didier Daeninckx 1984 seinen ersten Kriminalroman, Meurtres pour mémoire (dt. Bei Erinnerung Mord), ein Werk, das die Erinnerung an Vichy mit der an den 17. Oktober verbindet und zu einem wesentlichen Ansporn für die historische Erinnerung werden sollte. Ein Jahr später erschien Nacer Kettanes Roman Le sourire de Brahim (Brahims Lächeln), dessen Widmung die Pflicht betont, sich zu erinnern – »A mes parents pour que jamais la mémoire ne devienne souvenir« (»Für meine Eltern, auf dass die Erinnerung niemals bloße Reminiszenz werde«) –, und dessen erstes Kapitel Octobre à Paris (Oktober in Paris) auf den unmittelbar nach dem Massaker entstandenen militanten Film von Jacques Panijel und dem Comité Audin anspielt.11 Erst im Gefolge dieser »populären« sozialen und literarischen Ereig»Allgegenwärtige Erinnerungen« (an der Jahrtausendwende und darüber hinaus). Der Hinweis auf »Erinnerungen im Untergrund« bezieht sich auf Benjamin Stora. 10 House und MacMaster schreiben weiter: »Soziologen und Anthropologen, die sich mit den Beziehungen zwischen den Generationen und der Erinnerungstradierung algerischer Migrantengemeinschaften in Frankreich beschäftigen, sind auf ein umfassenderes Muster der ›Umkehrung‹ des üblichen Modells gestoßen. Die Erinnerungsarbeit war per Definition ein wechselseitiger, generationenübergreifender Prozess, der durch die unternehmerischen Gedenkaktivitäten der Kinder und später der Enkel algerischer Migranten entstanden ist, oft in Verbindung mit antirassistischen Vereinen, ehemaligen antikolonialen Aktivisten, der radikalen Linken, Journalisten und später auch Lehrern und Forschern. Die Erinnerungen der Menschen, die die Ereignisse nicht erlebt haben, sind eine Mischung aus zwischenmenschlich übermittelten Erinnerungen und Erinnerungen, die über ein externes Medium (Lesen, Radio, Fernsehen) erworben worden sind« (S. 324 f.). Hier zeigt sich, dass die aufkommenden Erinnerungen an den Oktober 1961 insofern multidirektional waren, als sie von multiethnischen Netzwerken von Erinnerungsträgern mit unterschiedlichen Ideologien produziert wurden, und weil die Zeitlichkeit der Erinnerungsübertragung nicht in den erwarteten Richtungen verlief. 11 Nacer Kettane, Le sourire de Brahim, Paris 1985, S. 5, 9. Im darauffolgenden Jahr erschien Mehdi Lallaouis Les Beurs de Seine, Paris 1986, in der von T. Sbouaï herausgegebenen Reihe

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nisse begann die historische Bergungsarbeit. Michel Levines Les rattonades d’octobre: Un meurtre collectif à Paris en 1961 (Die Hetzjagden des Oktober: ein Kollektivmord, 1961 in Paris«) erschien zwar bereits 1985, wurde jedoch kaum beachtet; weitergehende historische Forschung und Debatten begannen erst 1991 mit der Veröffentlichung von Jean-Luc Einaudis La bataille de Paris (Die Schlacht um Paris).12 Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Einaudi kein ausgebildeter Historiker ist  – eine Tatsache, die abermals betont, wie sehr der 17. Oktober bis vor recht kurzer Zeit außerhalb der Mainstream-Geschichtsschreibung verortet war. Der dreißigste Jahrestag des Massakers 1991 war ein weiterer Wendepunkt in dieser Gedenkgeschichte; damals drang der 17. Oktober endgültig, wenn auch nicht überall gleich schnell, in die französische Öffentlichkeit vor – allerdings fast ausschließlich aufgrund zivilgesellschaftlichen Drucks und der darstellerischen Macht von Literatur und Film. Bis zur ersten minimalen offiziellen Anerkennung sollten noch einige weitere Jahre vergehen; vorangetrieben wurde diese Entwicklung wesentlich durch den Prozess gegen Maurice Papon 1997/98. Als Präfekt war Papon für die polizeiliche Repression in den letzten Phasen des Algerienkriegs und in der Nacht des 17. Oktober verantwortlich gewesen, angeklagt wurde er jedoch wegen anderer Verbrechen: Als Präfekt der Vichy-Regierung war er auch für die Deportation von Juden und Jüdinnen verantwortlich gewesen, was bei den ersten Reaktionen auf das Massaker von 1961 nicht bekannt war. Nachdem 1981 die Rolle, die Papon im Zweiten Weltkrieg gespielt hatte, enthüllt worden war, sollten noch sechzehn weitere Jahre vergehen, bis er vor Gericht gestellt wurde – und dieser Zeitraum entspricht genau dem des Bedeutungszuwachses der Erinnerung an den 17. Oktober. Obwohl es in der Gerichtsverhandlung in erster Linie um Vichy und den Holocaust ging, kam es zu einem »Prozess innerhalb des Prozesses«, nachdem Einaudi in jener Verhandlungsphase, bei der es um Papons Karriere ging, über das Massaker an den Algeriern und Algerierinnen aussagte. Papon sorgte dann selbst dafür, dass den Oktober-Ereignissen weitere Aufmerksamkeit zuteilwurde, als er Einaudi wegen Verleumdung verklagte. Papon verlor nicht nur diese Klage (zusätzlich zu seiner Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Vichy-Zeit); das Gericht bestätigte in der Urteilsbegründung auch erstmals offiziell, dass die polizeiliche Reaktion auf die algerische Demonstration ein »Massaker« gewesen war. Der Prozess trug außerdem zur allmählichen Öffnung bis dahin unzugänglicher Regierungs- und Polizeiarchive bei. »Mémoires et Identités«. Panijels Film Octobre à Paris (1962) wurde sofort zensiert und ist seitdem nur selten öffentlich aufgeführt (und nie im Fernsehen ausgestrahlt) worden; es gibt jedoch auch eine den Film vorstellende Flugschrift: Le Comité Maurice Audin, Vérité-Liberté (Hrsg.), Octobre à Paris, Paris 1962. Einzelne Szenen aus dem Film sind außerdem in spätere Dokumentarfilme eingeflossen, etwa in Drowning by Bullets, auch bekannt als Une journée portée disparue, von Alan Hayling und Philip Brooks (1992). Obwohl er kaum gesehen worden ist, hat Panijels Film, vermittelt über solche Formen der Zitation, den Stellenwert eines lieu de mémoire erlangt. 12 Michel Levine, Les rattonades d’octobre: Un meurtre collectif à Paris en 1961, Paris 1985; Jean-Luc Einaudi, La bataille de Paris: 17 octobre 1961, Paris 1991.

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Dieses juristische Urteil wirkte sich wiederum auf das Feld der Erinnerung aus, als der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë 2001 eine Gedenktafel am Pont SaintMichel einweihte, nicht unweit der Stelle, an der man am 17. Oktober zahlreiche Algerier und Algerierinnen ertränkt hatte – nur wenige Meter von der Polizeipräfektur entfernt.13 Einzelheiten von Papons »verborgener« Vergangenheit wurden in den frühen 1980er-Jahren bekannt und beendeten seine bis dahin – trotz vieler bekannter blutiger Episoden wie dem 17. Oktober und Charonne – glänzend verlaufene Karriere. Durch diese Enthüllungen verkörperte er die Verbindungen zwischen Holocaust, Gewalt des Kolonialismus und Dekolonisierung. Joshua Cole schreibt: »Zwanzig Jahre lang, von 1981 bis zum vierzigsten Jahrestag der Ereignisse im Oktober 2001, war diese Verbindung [von Vichy und Algerien] der Motor, der die breite öffentliche Diskussion über den 17. Oktober 1961 in Frankreich antrieb.«14 Seit dem PaponProzess ist diese Verbindung bekannt und tatsächlich unvermeidlicher Teil der Diskussion um den 17. Oktober, doch ist bislang nicht viel unternommen worden, um ihre Bedeutung zu ermessen. Hinzu kommt, dass viele Kommentatoren und Kommentatorinnen diese Verbindung als nebensächlich bagatellisieren; oft behaupten sie, die Geschichten Vichys und der Dekolonisierung hätten wenig miteinander zu tun. Bezugnehmend auf die aktuelle Anerkennung von Papons Mitschuld an den Verbrechen des Vichy-Regimes und die gleichzeitige Leugnung der Verbrechen des Kolonialismus, aber auch des prägenden Einflusses der algerischen Politik der 1980er- und 1990er-Jahre auf die Erinnerung an den 17. Oktober, bemerkt Cole: »Die beiden Kontroversen scheinen durch ihre gemeinsamen Themen in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden zu sein: verdrängte Erinnerung, offizielle Mitschuld an der Gräueltat und der – wie auch immer geartete – Eindruck, dass ein öffentliches Tabu gebrochen wird. Dennoch können die Verbindung zwischen den beiden Angelegenheiten und die vermuteten Parallelen ebenso sehr in die Irre führen, wie sie zur Aufklärung beitragen können.«15 Cole und andere Kommentatoren und Kommentatorinnen haben insofern recht, als sich die Ereignisse und Kontexte von Vichy und der Dekolonisierung sowie die Erinnerung daran nicht gänzlich entsprechen, obgleich House und MacMaster mittlerweile deutliche Kontinuitäten bei Vorgehensweisen und Personen nachgewiesen haben (vgl. insbesondere Paris 1961, S. 34–45). Trotz Coles Einwänden bleibt es eine Tatsache, dass derartige Parallelen seit dem Moment der Ereignisse gesehen 13 Siehe zu den verschiedenen Prozessen den außerordentlich nützlichen Sammelband von Richard Golsan (Hrsg.), The Papon Affair: Memory and Justice on Trial, New York 2000. Siehe auch das Prozessprotokoll: Catherine Erhel/Mathieu Aucher/Renaud de La Baume (Hrsg.), Le Procès de Maurice Papon, 2 Bde., Paris 1998. Weiteres zur Gedenktafel bei House/MacMaster, Paris 1961, S. 317–319. 14 Joshua Cole, Remembering the Battle of Paris: 17 October 1961 in French and Algerian Memory, in: French Politics, Culture, and Society 21 (2003) 3, S. 21–50, hier S. 32. 15 Ebenda, S. 32.

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worden sind – und das muss als Multidirektionalität der Erinnerung berücksichtigt werden, und ihr gilt es gerecht zu werden.16 Andere Historiker und Historikerinnen teilen und verallgemeinern Coles Argwohn gegenüber dem historiografischen Wert der Erinnerung. In einem 2006 geführten Interview versucht der vor allem für seine Beiträge zum umfangreichen Lieux-de-mémoire-Projekt bekannte Pierre Nora, die Erinnerung unter die »Aussöhnungsautorität« der Geschichte zu subsumieren. Die Geschichtswissenschaft kann Nora zufolge der Gesellschaft am besten helfen, die unerträgliche, »konflikthafte Inkompatibilität von Erinnerungen« in einer multikulturellen Öffentlichkeit zu überwinden.17 Doch die Geschichte und die Folgen des 17. Oktober 1961 zeigen, dass Konflikt und Versöhnung nicht unbedingt gegensätzliche Begriffe sein müssen. Die Dynamiken der kollektiven Erinnerung unterscheiden sich von der historiografischen Vernunft, wobei die Erinnerung durchaus ihre eigenen Varianten von Anerkennung und Versöhnung zu bieten hat. Wie das Beispiel von Delbos Les belles lettres zeigt, hat die Überschneidung von Holocaustgedenken und antikolonialer Politik ein besonderes Milieu erzeugt, in dem eine aktuelle Krise zeitgleich mit einer dunklen Vergangenheit erkannt wurde. Die Reaktion auf den 17. Oktober veranschaulicht diesen Anerkennungsprozess ebenfalls, weist aber auch darauf hin, dass Erinnerung einen besonderen ethischen Gehalt bekommen kann, wenn sie auf unerledigte Aufgaben aufmerksam macht und die Versöhnung bewusst vertagt. In manchen realen Konflikten, gerade bei der Bestimmung von nationalen und Gruppenidentitäten, mag Anerkennung sogar nur möglich sein, wenn die Versöhnung aufgeschoben wird. Dass der 17. Oktober so spät ins Bewusstsein zurückgekehrt ist, verweist – wie die späte Anerkennung des rassistischen Antisemitismus, die mit den ersten Reaktionen auf den 17. Oktober einherging, und die ebenfalls späte, Ende der 1990er-Jahre an Papon exerzierte Verurteilung französischer Kollaboration  – nicht nur auf ein Versagen der Erinnerung, sondern auch auf die konstitutive Rolle der Verschiebung bei der Formierung kollektiver Erinnerungen. Der Verzug verrät uns, dass eine Ethik der Erinnerung am Werk ist, und nicht etwa nur die Macht der 16 Meine Position ist vielleicht der von Jim House am nächsten, der in seinem lesenswerten Essay Antiracist Memories zeigt, wie solche Verbindungen seit über einem halben Jahrhundert von Gruppen aufgegriffen worden sind, die gegen verschiedene Formen des Rassismus kämpfen. House, dem es vor allem um eine historisierende Analyse der Erinnerung an den 17. Oktober geht, bietet keine vergleichbare Historisierung der Erinnerung an den Holocaust. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die multidirektionalen Dynamiken, dann ermöglicht das eine doppelte Historisierung, die den gestaltenden Einfluss der Interaktion von Erinnerungen belegt. Siehe Jim House, Antiracist Memories: The Case of 17 October 1961 in Historical Perspective, in: Modern and Contemporary France 9 (2001) 3, S. 355–368. In seinem mit MacMaster verfassten Buch erwähnt House ebenfalls einige dieser Erinnerungen, allerdings ohne sie allzu sehr zu betonen. Nichtsdestotrotz beschließen House und MacMaster ihr Buch mit dem Ruf nach mehr komparativer Forschung. Ich bin bemüht, dieser Aufforderung durch meine Untersuchung nachzukommen. 17 Jacques Buob/Alain Frachon, »La France est malade de sa mémoire«: Pierre Nora et le métier d’historien, in: Le Monde 2 (Mai/Juni 2006): Colonies: Un débat français, S. 6–9.

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Unterdrückung. Aufgrund endemischer Krisen der französischen Identitätsbestimmung – Krisen, die »damals« und »heute« nicht identisch sind – bleibt der 17. Oktober ein Schauplatz des Konflikts um Anerkennung, aber auch eine Quelle möglicher zukünftiger Versöhnung.

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Rassifizierung und die Reaktion auf den 17. Oktober Am 9. November 1961 veröffentlichte die Schriftstellerin Marguerite Duras in der Wochenzeitschrift France-Observateur einen Les deux ghettos (Die beiden Ghettos) überschriebenen Artikel.18 Die in Indochina geborene und aufgewachsene Duras war damals sehr bekannt, da sie das Drehbuch zu Hiroshima, Mon Amour, dem 1959 erschienenen Film von Alain Resnais geschrieben hatte. Der Film bedient sich einer Liebesgeschichte, um die Erinnerung an das Leben im nationalsozialistisch besetzten Frankreich mit der Erinnerung an die Bombardierung Hiroshimas zu verbinden. Auch Les deux ghettos nutzt die Form der Gegenüberstellung: Der Artikel besteht aus zwei zusammenhängenden Interviews und verbindet die Erinnerung an den Holocaust mit jüngeren Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und dem FLN. In ihrer Zusammenfassung des Inhalts auf der Titelseite von France-Observateur stellen die Herausgeber ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen Duras’ Artikel und den Ereignissen des 17. Oktober 1961 her. Sie beschreiben Duras’ Methode, indem sie sie mit den eigenen Versuchen der Zeitschrift vergleichen, dem Polizeimassaker auf den Grund zu gehen: »Auch Marguerite Duras hat Fragen gestellt: erst zwei algerischen Arbeitern und dann einem Überlebenden des Warschauer Ghettos. Die Fragen sind identisch, die Antworten vielsagend. Ist die Zeit der Ghettos, die wir für beendet gehalten hatten, zurückgekehrt?« Dieser Kommentar wird von zwei Fotos flankiert. Auf einem ist ein algerischer Mann in einem Wintermantel zu sehen, der sich ob der Kälte die Hände reibt, auf dem anderen eine jüdische Ghetto-Insassin, deren Gesicht im Schatten verschwindet und deren Schicksal ein gelber Stern ankündigt (siehe Abb. 6). Den Artikel selbst begleitet ein weiteres Foto, das die elenden Verhältnisse in der bidonville (Barackensiedlung) von Nanterre zeigt – ohne das dunkelhäutige Mädchen rechts im Vordergrund könnte die bidonville leicht für ein nationalsozialistisches Ghetto gehalten werden. Wie Du Bois, doch mit anderer Wirkung greift Duras’ Artikel anhand der Figur des segregierten sozialen Raums des Ghettos auf eine hartnäckige Analogie zurück, die Juden und Jüdinnen zu anderen rassifizierten Gruppen in Beziehung setzt. Für das in diesem Buch zu erstellende Archiv ist es ebenso frappierend, dass Duras’ Interviewformat zumindest teilweise von Chronik eines Sommers inspiriert wirkt. Der Film von Jean Rouch und Edgar Morin war soeben in Paris angelaufen und 18 Marguerite Duras, Les deux ghettos, in: France-Observateur, 9. November 1961, S. 8–10.

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Abbildung 6: France-Observateur vom 9. November 1961, Titelseite; darauf Marguerite Duras’ Les deux ghettos Sammlung des Autors

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zwei Wochen zuvor in France-Observateur besprochen worden. Das Urteil des Rezensenten fiel zwar verhalten aus  – der Film sei »demi-réussite« (also nur halb gelungen) –, doch die Begrifflichkeit der Besprechung hallt in Duras’ Artikel ebenso nach wie in anderen zu dieser Zeit erschienenen Beiträgen. Chronik sei ein »Film der Zeugnisse [film à témoignages], das heißt ein Film, in dem Menschen, die keine Schauspieler sind, sondern real existierende Individuen, eingeladen werden, über sich selbst zu sprechen oder sich in ihrem Alltag filmen zu lassen«.19 Duras stellt unter Verwendung persönlicher Zeugnisse und mittels einer komparativen Herangehensweise an den Alltag wie der Film die Auswirkungen kolonialer und genozidaler Politik gegenüber. Sie nutzt zudem die Art Frage, die auch Rouchs und Morins Film charakterisiert. Duras’ »Haben Sie eine einfache, unkomplizierte Vorstellung von Glück?« erinnert an die im Film formulierte Frage: »Sind Sie glücklich, mein Herr?« Duras’ Interviews folgen auch dem vergeschlechtlichten Schema von Chronik eines Sommers: Erneut sind die Kolonisierten durch Männer (»X.« und »Z.«) vertreten, die Holocaust-Überlebenden durch eine Frau (noch dazu durch eine, deren Bezeichnung als »M.« an den Namen Marceline erinnert). Titel und formale Struktur des Artikels scheinen zwar eine Gleichwertigkeit der Erfahrungen von Algeriern und Juden zu behaupten, doch hebt diese Struktur auch Unterschiede hervor. Die Herausgeber schreiben, Duras’ Fragen seien »identisch«, doch das ist nicht ganz richtig. Natürlich variieren die Fragen geringfügig, und Duras bezieht sich u. a. auf historische Besonderheiten – beispielsweise, wenn sie die Algerier nach »Les Grandes-Carrières, La Seine?« fragt und auf das Polizeikommissariat anspielt, in dem zahlreiche Algerier gefoltert wurden, sowie auf den Fluss, in den viele Leichen geworfen wurden. Subtiler ist der Wechsel der Zeitform zwischen den beiden Interviews. Dieser Wechsel lenkt die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Zeiten, die die beiden Erfahrungen voneinander unterscheiden – jenseits der wichtigen Differenzen in der Art von Viktimisierung, die die Juden und Jüdinnen unter den Nationalsozialisten und die Algerier und Algerierinnen unter den Franzosen erlitten haben. Duras’ Fragen an die Algerier stehen stets in der Gegenwarts-, die an die Warschauer Überlebende in der Vergangenheitsform. So fragt sie die Algerier »Haben Sie eine einfache, unkomplizierte Vorstellung von Glück?«, die Warschauer Überlebende hingegen: »Hatten Sie noch eine einfache, unkomplizierte Vorstellung von Glück?« Diese zeitliche Asymmetrie, exemplarisch für die niemals strikt parallele Überschneidung von Holocaustgedenken und aktueller Dekolonisierung bei sämtlichen in diesem Buch behandelten Beispielen, ergänzt eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Fragen des Vergleichs. An die Algerier gerichtet, formuliert Duras: »Glauben Sie, dass Ihre Lage der irgendeines anderen gleicht?« M. fragt sie: »Haben Sie geglaubt, dass Ihre Lage der irgendeines anderen gleicht?« (Les deux ghettos, S. 9 f.) Hier wirkt der Wechsel der Zeitform ein wenig holprig, und es bleibt 19 Jean-François Revel, Rezension von Chronique d’un été, in: France-Observateur, 26. Oktober 1961, S. 26 f.

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unklar, ob Duras die Überlebende nach der Ansicht fragt, die sie während ihrer Zeit im Ghetto hegte, oder um ihre heutige, im Rückblick entstandene. Die Zeitform suggeriert zwar, dass es um eine damalige Ansicht geht, doch beantwortet wird die Frage auf die Gegenwart bezogen: »Nein«, antwortet die Überlebende: »Doch wenn man mich fragen würde, ob das Ghetto noch möglich ist: Ich glaube, es ist immer noch möglich. Ich glaube, dass es nach wie vor ›objektive‹ Bedingungen gibt, die diese Gestalt annehmen können. Die algerische Geschichte ist grauenvoll, doch sie hat nicht jene besondere Form angenommen. Ich glaube, wenn die französische Polizei in Bezug auf die Algerier übertreibt, dann sind diese Übertreibungen den Polizeien aller Länder gemeinsam, denen der Verlust ihrer Kolonien droht oder die diesen Verlust gerade erfahren. Ich habe gestern erfahren, dass eine Menge Algerier in der Seine ertränkt worden sind. Das ist für mich nichts Überraschendes. Ich fasse das praktisch als normale Tatsache auf. Politisch kann mich nichts begeistern, und nichts kann mich noch überraschen« (ebenda, S. 10).

Diese komplexe Antwort ist wie ein Widerhall und zugleich wie eine Umkehrung der Antwort des Algeriers X.: »Also ich denke an die Hindus vor der nationalen Unabhängigkeit, noch vor Gandhi. Einige Genossen sagen, wir seien wie die Juden unter der deutschen Besatzung. Sie sagen: ›Das erinnert an Eichmanns Schlag [le coup de Eichmann]. Es fehlen nur das Krematorium und die Gaskammer‹« (ebenda, S. 9). X. macht zwar eine historische Analogie von Algeriern und Juden geltend, doch nur indirekt, denn er schreibt die Analogiebehauptung anderen zu. M. verneint hingegen jegliche Parallele zwischen dem Holocaust und irgendeiner anderen Geschichte, fügt aber hinzu, dass die Bedingungen für eine Wiederholung des Holocaust gegeben seien. Ihr politischer Zynismus gleicht dem von Marceline und Jean-Pierre in Chronik eines Sommers und dem vieler der Auschwitz-Überlebenden in Charlotte Delbos einige Jahre später veröffentlichtem Buch Maß unserer Tage. Ihr Hinweis, dass sogar oder gerade ein präzedenzloses Ereignis die Vorlage für weitere Verwüstungen werden kann, erodiert zudem die Singularität des Holocaust. Les deux ghettos zeigt verdichtet die Ambivalenzen historischer Vergleiche am Beispiel interkultureller Erinnerung: Die Struktur des Artikels scheint zwar auf eine Gleichsetzung vergangener und gegenwärtiger Ereignisse hinauszulaufen, doch die Parallelen sind die Grundlage für Differenzierungen und Zweifel und können historische Unterschiede verdeutlichen. Selbst wenn diese Zweifel und Differenzierungen politisch zynisch sind, wie bei M., bezeugen sie eine historische Sensibilität für zeitliche Unterschiede und Verwerfungen. Die zeitliche Struktur einer »Wiederkehr« (so die Herausgeber) oder einer potenziellen Wiederkehr (so M. und X.) vergangener Gräuel deutet auf politisches Versagen bei der Bekämpfung der »›objektiven‹ Bedingungen« des Ghettos hin, doch die Wahrnehmung der Ungleichzeitigkeit läuft auf eine ethische Intervention mit Konsequenzen für eine zukünftige Politik hinaus. Keinesfalls lassen sich diese komplexen und ambivalenten Formulierungen unter

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eine abstrakte Vorstellung von Universalismus subsumieren. Vielmehr hebt bereits der bloße Akt des Vergleichens Ungleichmäßigkeiten und Differenzen hervor, denn Vergleichen ist keine schlichte Behauptung von Gleichheit oder Ähnlichkeit. Nicht Universalisierung ist hier am Werk, sondern multidirektionale Logik. Um Duras’ Essay in seinem historischen Kontext zu begreifen, müssen wir auch den Erscheinungsort berücksichtigen. Herausgegeben von dem antikolonialen Autor und städtischen Abgeordneten Claude Bourdet, einem Sprecher der nicht-kommunistischen Neuen Linken, war France-Observateur bereits seit Jahren eine Quelle für mit der algerischen Revolution sympathisierende Berichte und hatte erst kürzlich viele Seiten den Demonstrationen des 17. Oktober gewidmet.20 Bourdet selbst war einer von wenigen linken, aus der Résistance hervorgegangenen Ratsherren und Abgeordneten gewesen, die öffentlich eine Untersuchung des Massakers gefordert hatten. Schlagzeilen der vorausgegangenen Wochen hatten sich vieler Gemeinplätze der antikolonialen Bewegung bedient (etwa Wahrheit kontra Schweigen und Vergessen), was die Zeitschrift auch mit dem entstehenden Holocaustgedenken verband: »La vérité sur les manifestations F.L.N« (»Die Wahrheit über die Demonstrationen des FLN«, 19. Oktober 1961); »Vous ne pouvez plus ignorer ça …« (»Das können Sie nicht länger ignorieren«, 26. Oktober 1961, mit dem von dem linken jüdischen Reporter Elie Kagan aufgenommenen Foto eines verwundeten algerischen Mannes); »Les silences de M. Papon« (»Das Schweigen des Herrn Papon«, 2. November 1961). Bereits vor dem Algerienkrieg hatte Bourdet auf einige der hervorstechenden Verbindungen zwischen Antifaschismus und Antikolonialismus aufmerksam gemacht, die in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren aktiviert werden sollten. In einem Artikel vom 6. Dezember 1951, in dem er gegen willkürliche Festnahmen, nicht-öffentliche Gerichtsprozesse und die eindeutig belegte Folterpraxis der französischen Polizei in Algerien protestierte, hatte Bourdet gefragt: »Y a-t-il une Gestapo algérienne?« (»Gibt es eine algerische Gestapo?«) Etwas mehr als drei Jahre später, in einer Ausgabe mit der Überschrift »LA VERITÉ sur les tortures en Algérie …« (»DIE WAHRHEIT über die Folter in Algerien …«), hatte Bourdet in »Votre Gestapo d’Algérie« (»Ihre Gestapo in Algerien«) die Wiederkehr der Folter in Algerien konstatiert und war zu seiner früheren Rhetorik zurückgekehrt.21 In diesen frühen Beispielen geht es vor allem um die Erinnerung an die Besatzung und die brutale Repression der Résistance – nichts in diesen Artikeln von Bourdet deutet darauf hin, 20 Heute erscheint die Zeitschrift in einem stärker am Mainstream orientierten Format als Le Nouvel observateur. Die meisten der in diesem Abschnitt von mir angeführten Beispiele für die Berichterstattung über den 17. Oktober entstammen France-Observateur, doch war dies keineswegs das einzige Organ, in dem zeitgenössische Ereignisse wiederholt zur jüngeren, nationalsozialistischen Vergangenheit in Beziehung gesetzt wurden. Eine ausführliche Berichterstattung und ähnliche Analogien finden sich auch in Vérité-Liberté, außerdem in Les Temps modernes und anderen linken Organen. 21 Claude Bourdet, Y a-t-il une Gestapo algérienne?, in: France-Observateur, 6. Dezember 1951, S. 6–8; Votre Gestapo d’Algérie, in: France-Observateur, 13. Januar 1955, S. 6 f.

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dass die Besonderheit der nationalsozialistischen Repression der Juden und Jüdinnen im Fokus gestanden hätte. Beispielsweise vergleicht er den Ort, an dem die Gestapo Angehörige der Résistance folterte, mit dem, an dem die Polizei in Algerien ihre schmutzige Arbeit erledigte, um dann zu fragen, ob es denn nicht Abgeordnete gebe, die »sich wünschen, dass die künftige Weltgeschichte das Dritte Reich nicht mit dem aus der Résistance hervorgegangenen System verwechselt und beiden mit derselben Verachtung begegnet« (Y a-t-il, S. 6 f.). Diese durch und durch antifaschistische Rhetorik, die mit Gefühlen französischer Nationalschande und des Patriotismus arbeitet, findet sich auch in den späten Phasen des Krieges (wie u. a. Les belles lettres belegt). Hinzu kam nun neu eine Rhetorik, die die Besonderheit des nationalsozialistischen Genozids mehr an die Oberfläche brachte: die Rhetorik des Antirassismus.22 Duras’ Artikel und andere Beiträge aus France-Observateur erinnern zwar an Du Bois’ Aufsatz über das Warschauer Ghetto und an die in Chronik eines Sommers eingesetzten Techniken, doch wurden »Rasse« und die Rassismuserfahrungen in Frankreich in den letzten Phasen des Krieges immer wichtiger, speziell bei den Ereignissen, die zum 17. Oktober führten, sowie am 17. Oktober selbst. Dieser neue Schwerpunkt der antikolonialen Bewegung in der Metropole überschneidet sich mit den Mobilisierungen gegen Folter, unterscheidet sich aber auch wesentlich von ihnen hinsichtlich des Zusammenhangs mit dem nationalsozialistischen Genozid. Die Folter weckte zwar Erinnerungen an die nationalsozialistische Besatzung, sagte aber nicht unbedingt irgendetwas Spezifisches über die Opfer der Nationalsozialisten aus (obgleich viele dieser Opfer die Wiederkehr der Folter als Auslöser dessen erlebten, was Primo Levi »die Erinnerung an das Verbrechen« genannt hat: eine schmerzhafte Erinnerung an ein vergangenes Trauma). Die zunehmende Rassifizierung des öffentlichen Raums 22 Antirassistische Rhetorik und Mobilisierungen, die sich auf Analogien zwischen der antijüdischen und der anti-algerischen Viktimisierung stützten, waren keineswegs eine Neuerung dieser Zeit, wie House und MacMaster belegen. Sie verweisen insbesondere auf das Mouvement contre le racisme et pour la paix (MRAP), eine der Kommunistischen Partei Frankreichs nahestehende Organisation mit zahlreichen jüdischen Mitgliedern, die bereits in den frühen 1950er-Jahren »eine direkte Parallele von französischen Staatspraktiken der VichyZeit und den vom französischen Staat gegen die Algerier eingesetzten Praktiken herzustellen suchte« (Paris 1961, S. 197). Dennoch scheint sich das Herstellen solcher Parallelen um den 17. Oktober herum zugespitzt zu haben; auch scheint sich damals ein stärkeres Bewusstsein von der Spezifik der Judenverfolgung herausgebildet zu haben. Todd Shepards weiter unten diskutierte, in The Invention of Decolonization formulierte These kann uns helfen zu verstehen, weshalb gegen Ende des Krieges möglicherweise vermehrt auf »Rasse« und Rassismus Bezug genommen wurde. Die Gesamtschau dieser beiden historischen Darstellungen legt den Schluss nahe, dass es zwischen der Zeit vor dem Algerienkrieg und der Schlussphase des Krieges sowohl Kontinuitäten als auch Brüche gegeben hat. Meine These lautet, dass die in diesen wertvollen Arbeiten geleistete historische Kontextualisierung die genaue, komparative Form der Bezugnahmen auf »Rasse« und Rassismus nicht vollständig verständlich werden lässt. Die Mobilisierung von Solidaritäten über rassifizierte Identitäten hinweg bleibt in stetem Wandel begriffen und nimmt erst in dynamischen, multidirektionalen Bewegungen Gestalt an. Siehe Todd Shepard, The Invention of Decolonization: The Algerian War and the Remaking of France, Ithaca 2006.

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in Frankreich während des Krieges lenkte die Aufmerksamkeit auf die Opfer von Rassismus und führte häufig zur Analogisierung von Algeriern und Juden. Mit anderen Worten: Ein neues Bewusstsein von der Spezifik des Holocaust entstand gemeinsam mit einem neuen Verständnis dessen, was im Krieg und bei der Dekolonisierung auf dem Spiel stand. Sicherlich belegt auch schon Chronik eines Sommers die neue Aufmerksamkeit für Fragen der »Rasse«, gerade die Diskussion, die zu Marcelines präzedenzloser Aussage führt. Ende 1961 nahm aufgrund der damaligen Verhältnisse diese Aufmerksamkeit zu. Ein Artikel des algerisch-französischen Schriftsteller Henri Kréa in France-Observateur vom 26. Oktober, Le racisme est collectif, la solidarité individuelle (Der Rassismus ist kollektiv, die Solidarität individuell), verbindet jüngere Ereignisse mit der zwei Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit.23 Wie Duras’ Artikel scheint auch Kréas kurzer Text, der auf Interviews mit Renault-Arbeitern beruht, die die Einstellung der autochthonen französischen Arbeiterklasse gegenüber Algeriern und Algerierinnen ermitteln sollten, zumindest ein wenig vom Format des gerade angelaufenen Films Chronik eines Sommers inspiriert worden zu sein; Chronik wird in derselben Ausgabe nur einige Seiten später besprochen. Den Artikel begleitet ein Foto, das Algerier im Palais des Sports zeigt, einem der Orte, an dem Tausende der am 17. Oktober Verhafteten festgehalten wurden. Die Bildunterschrift lautet: »Cela ne vous rappelle rien?« (»Erinnert Sie das nicht an etwas?«) Bild und Bildunterschrift sind ein deutlicher Hinweis auf die antijüdischen Razzien während der Besatzung und speziell die berüchtigte rafle du Vel’ d’Hiv’ vom Juli 1942, bei der Tausende »fremde« Juden und Jüdinnen von der französischen Polizei verhaftet und im Radrennstadion festgehalten wurden, bevor man sie nach Auschwitz deportierte. Mittels des bildlichen Ausdrucks einer nagenden und nicht artikulierten Erinnerung werden Holocaust und die Repression der Algerier und Algerierinnen in Beziehung gesetzt – durch ein Bild, dass die multidirektionale Überschneidung zweier zwischen etwas erneut auftauchendem und kollektivem Vergessen gefangener Ereignisse ausdrückt. Wie Duras’ Text erweitert auch Kréas Artikel das Verhältnis verschiedener Rassifizierungsgeschichten um neue Aspekte und warnt vor allzu wohlfeilem Parallelisieren. Aufgefordert, das Projekt einer Befragung autochthoner französischer Arbeiter nach deren Einstellung zu ihren algerischen Kollegen zu reflektieren, bemerkt einer der Interviewten: »Viele französische Arbeiter begreifen immer noch nicht, dass sich zwischen Frankreich und Algerien eine Tragödie abspielt. Die Anführer sind dafür verantwortlich; sie schweigen. Und wenn sie doch sprechen oder etwas schreiben, dann sagen sie in der Regel nichts. Und niemand hört zu. Was den Rassismus angeht, es wird Ihnen nicht schwerfallen, ihn zu finden; er ist überall, auch bei denen, die weinen, wenn sie den Film Exodus sehen.«24 Indem er Otto Premingers 1960 erschienene 23 Henri Kréa, Le racisme est collectif, la solidarité individuelle, in: France-Observateur, 26. Oktober 1961, S. 14 f. 24 Kréa, Le racisme est collectif, S. 15.

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Verfilmung von Leon Uris Roman über die vor dem Hintergrund von Holocaust und Antisemitismus erfolgte Gründung des Staates Israel anspricht, entlarvt der algerische Arbeiter den Irrtum, es gebe parallel verlaufende Geschichten, und assoziiert zugleich die Situation von Juden und Jüdinnen im 20. Jahrhundert mit der von Algeriern und Algerierinnen. Das ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Logik der Erinnerungsarbeit nicht die eines Nullsummenspiels ist. Bereits die Aufdeckung von Ungerechtigkeiten bei der Anerkennung unterschiedlicher Geschichten trägt zu einer Neuausrichtung des öffentlichen Diskurses bei: Die starke emotionale Reaktion auf Exodus wird zum Anlass, das Fehlen einer vergleichbaren Reaktion auf die Notlage der Algerier und Algerierinnen zu konstatieren, und bereitet dadurch den Boden für eine solche Reaktion in der Zukunft. France-Observateur »erinnert« an die Razzien gegen Juden und Jüdinnen, um die Bürger und Bürgerinnen Frankreichs aufzuwecken, damit sie den Nachhall der Vergangenheit in der Gegenwart erkennen, und will sie so gegen die Regierungspolitik mobilisieren. Hinter dieser lobenswerten politischen Absicht verbirgt sich eine andere wesentliche ethische Frage, beziehungsweise macht sie sie retrospektiv erkennbar: die nach der Leerstelle in der Auseinandersetzung der französischen Öffentlichkeit mit der jüngeren Geschichte. Der implizite Hinweis auf die antijüdische Razzia in Paris verweist zwar auf ein entstehendes Bewusstsein von der Spezifik des Holocaust (wie sie durch den Vergleich mit der Dekolonisierung erkannt wird). Dass die Nationalsozialisten bei der Razzia französische Komplizen hatten, wird aber offenbar nicht erkannt. Diese Leerstelle ist gar nicht ungewöhnlich, in zahlreichen Erwähnungen und Andeutungen der Razzia des Vel’ d’Hiv’, die ich für das Jahr 1961 gefunden habe, liegt der Augenmerk immer auf der nationalsozialistischen Politik und nicht etwa auf der französischen Kollaboration. Anstatt diese Auslassung als ein weiteres Beispiel für die Unfähigkeit Frankreichs zu deuten, seine eigene Geschichte aufzuarbeiten, möchte ich eher vorschlagen, den Verweis auf das Vel’ d’Hiv’ produktiv zu interpretieren: als einen Schritt im Kontext eines längeren Aufarbeitungsprozesses. Die französische Komplizenschaft wird zwar nur im politischen Unbewussten des Textes registriert, doch dies dient als Platzhalter für eine künftige explizite Aufarbeitung. Als Geschichtsschreibung unzureichend, aber Ausdruck einer Frühphase des öffentlichen Bewusstseins vom Holocaust und der Verantwortung des Vichy-Regimes, lässt diese selektive Erinnerung vermuten, dass Zeitgenossen die wichtigste Verbindung zwischen den Ereignissen in der beiden zugrunde liegenden rassistischen Ideologie sahen. Die Wahrnehmung, dass es eine rassistische Logik im dekolonisierenden Frankreich gibt, registriert nicht nur einen Prozess, den Historiker und Historikerinnen erst in letzter Zeit eingehender untersucht haben, sie löst auch eine mögliche ethische Auseinandersetzung mit der Frage einer früheren französischen Komplizenschaft aus. Die häufigen »Mahnungen« des Holocaust von France-Observateur und anderen antikolonialen Organen wie der Untergrundzeitschrift Vérité-Liberté in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus belegen weniger eine Universalisierung der Bedeutung des

»ERINNERT SIE DAS NICHT AN ETWAS?«

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Holocaust als vielmehr eine aufkommende Vorstellung von dessen Spezifik, die sich aus der Konfrontation mit dem andauernden Kampf um Algerien ergibt. Der Holocaust wird demnach nicht einfach zu einem universellen moralischen Maßstab, der sich auf andere Geschichten anwenden lässt, sondern einige andere Geschichten tragen dazu bei, einen Eindruck von der Besonderheit des Holocaust zu geben. Gleichzeitig beziehen sich von der Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonisierung betroffene Menschen auf dieses entstehende Verständnis des Holocaust als Teil eines gemeinsamen, aber nicht unbedingt universellen moralischen und politischen Projekts. Weit davon entfernt, ein frei schwebender, universeller Bedeutungsträger zu sein, tritt der Holocaust in seiner Besonderheit als Teil eines multidirektionalen Netzwerks unterschiedlicher Geschichten extremer Gewalt, Folter und rassistischer Politik hervor. Arabische und jüdische Geschichte im Frankreich des Algerienkriegs möglicherweise zusammenzubringen wird nicht durch zeitlose oder abstrakte Vorstellungen diasporischer Solidarität bedingt. Ebenso, wie sich Du Bois und den kommunistischen Herausgebern von Jewish Life Analogien anboten, um auf die spezifische Geschichte des Kalten Kriegs zu reagieren, belegen auch die mit den Ereignissen des 17. Oktober zutage tretenden Analogien einen besonderen Kontext – auch wenn dieser deren Form nie ganz bestimmen kann. In The Invention of Decolonization (Die Erfindung der Entkolonisierung), einer akribisch dokumentierten Darstellung der juristischen und politischen Diskurse in Frankreich während der Schlussphase des Algerienkriegs, zeigt Todd Shepard, dass der Kolonialismus nicht nur die Paradoxien des französischen Ideologiekonsenses eines republikanischen Universalismus verschärfte; bereits die Vorstellung einer Dekolonisierung gab Anlass, die französische Identität entlang immer stärker rassifizierter Grundlagen neu zu bestimmen. Bemüht, sich aus einer ausweglosen Situation zu befreien, nahm Frankreich Abstand von einem grundlegenden republikanischen ideologischen Dogma, wonach »rassische« und ethnische Differenzen bedeutungslos seien. In den ersten Jahren des Krieges hatte der französische Staat seine universalistische Ideologie radikaler Gleichheit angepasst, um neue Formen der Integration zu erfinden und seine Kolonialsubjekte völlig französisch zu machen (Invention of Decolonization, S. 50). Doch selbst revidierte Universalismusformeln, die im Namen der Herstellung von Gleichheit bestimmte Differenzen anerkennen konnten – dazu zählen, besonders überraschend, auch Varianten einer affirmative action oder positiven Diskriminierung, von den Franzosen »promotion exceptionnelle« (»außergewöhnliche Förderung«) genannt  –, entsprachen nicht den Forderungen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Anstatt sich dem Paradox zu stellen, dass ein Staat zugleich kolonialistisch und universalistisch sein kann, stützte sich Frankreich, wie Shepard argumentiert, auf eine dem »gesunden Menschenverstand« entnommene Vorstellung rassifizierter Identität: »Die Franzosen erkannten, dass sich die Algerier als Gruppe so sehr von anderen französischen Bürgern unterschieden, dass sie in der Französischen Republik nicht untergebracht werden konnten. Dies war es, was der FLN immer gesagt hatte. […] Doch bis zu den letzten Jahren des Algerienkriegs lehnten die französischen Führer

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diese Behauptung energisch ab« (ebenda, S. 6). Die Akzeptanz der Differenz begann wie eine Art Fetisch zu funktionieren, der die traumatische Einsicht verdeckte, dass die republikanische Ideologie als solche im Kern paradox war: »Rasse und Ethnizität erschienen als aussagekräftige Marker, um zu erklären, wer als französisch gelten konnte, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich Definitionen, die sich auf Gesetzesvorschriften oder Traditionen stützten, als schwach erwiesen« (ebenda, S. 2 f.). Diese veränderte, laut Shepard von der »Erfindung der Dekolonisierung« geprägte Perspektive und Politik half die unangenehme Tatsache zu beschönigen, dass ein Regime, das sich Gleichheit und Universalität verschrieben hatte, fremde Länder annektieren und beherrschen konnte. Dieser Wandel wirkte sich nachhaltig auf die Politik und Identitätsvorstellungen Frankreichs aus. Das Spannungsverhältnis, in dem Shepard zufolge die republikanische Ideologie und die reale »rassische« Diskriminierung standen (»rassische« Diskriminierung meint hier, die Bedeutung »rassischer«/ethnischer Differenz ebenso wie offenen Rassismus anzuerkennen), hat direkte Folgen für unser Nachdenken über die zeitgenössische Bedeutung des Oktobers 1961  – Ereignisse, auf die Shepard nicht direkt zu sprechen kommt, die sich aber in jener entscheidenden Übergangszeit ereigneten, in der sich die französische Politik und die Einstellungen der Franzosen allmählich veränderten. Die von Shepard beschriebenen ideologischen und politischen Verschiebungen wirkten sich auf rassifizierte Minderheiten kurz- und langfristig verheerend aus, doch schuf die von diesen Verschiebungen bewirkte ideologische Inkohärenz auch einen Raum, in dem Intellektuelle und Aktivistinnen wie Duras, Bourdet und Kréa die zeitgenössische Krise mit vergangenen Ereignissen verbinden konnten, denen man noch nicht gebührend Rechnung getragen hatte.

Von zwei zu drei Ghettos: The Stone Face Die Artikel von Duras und anderen 1961 publizistisch aktiven antikolonialen Intellektuellen halten die von Shepard dokumentierten Verschiebungen der französischen Politik und Ideologie fest und sind ein Musterbeispiel für das, was ich multidirektionale Erinnerung genannt habe: Sie antworten auf die spätkoloniale Herstellung rassifizierter Identitäten durch den französischen Staat, indem sie zwischen unterschiedlichen, auch unterschiedlich unterdrückten Gruppen anamnestisch Solidarität herstellen. Anstatt aber die simple Identität analoger Formen von Rassismus zu behaupten – was eben jenen antirassistischen Universalismus reproduzieren würde, der damals eine Krise durchlief  –, lenken diese Arbeiten die Aufmerksamkeit auf Erfahrungsasymmetrien. Wenn Duras die Zeitform ihrer Fragen ändert, je nachdem, ob sie es mit algerisch-muslimischen oder polnisch-jüdischen Gesprächspartnern und -partnerinnen zu tun hat, oder wenn Kréa Belege für ungleiche affektive Reaktionen auf die jüdische und die algerisch-muslimische Geschichte anführt, dann machen sie sich damit ebenso wenig zum Spiegelbild des traditionellen republikanischen Univer-

VON ZWEI ZU DREI GHETTOS: THE STONE FACE

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salismus wie zu Vertreterinnen der neuen, rassifizierten Besonderheit des den Kolonialismus hinter sich lassenden Frankreich. Vielmehr geben sie eine facettenreiche, multidirektionale Antwort, die nach einem ethischen und politischen Raum jenseits des vorherrschenden Gegensatzes zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sucht. Eine ähnliche Differenzierungsarbeit, ebenfalls vor dem Hintergrund der Solidarität, finden wir in William Gardner Smith’ Roman The Stone Face (Das steinerne Gesicht, 1963). Hier verwandeln sich Duras’ zwei Ghettos in ein komplexeres Nebeneinander dreier Ghettos. Zugleich tritt die Genderfrage – nur implizit thematisiert in Duras’ kurzem Artikel – in Smith’ Roman in den Vordergrund, um das Verhältnis von Erinnerung und Politik zu stören. Wenngleich es ein außergewöhnliches Werk multidirektionaler Großzügigkeit ist, letztlich wendet sich The Stone Face von manchen wesentlichen Erkenntnisse über Komplizenschaft, Solidarität und die Verstrickung kollektiver Erinnerungen ab und riskiert, diese Einsichten zu »vergessen«. Viele Jahre ignoriert, hat The Stone Face jüngst von bedeutenden Forschern und Forscherinnen wie dem Soziologen Paul Gilroy, der Literaturkritikerin Kristin Ross und dem Historiker Tyler Stovall die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren.25 Doch obwohl es sich um den ersten Roman handelt, der die Ereignisse des 17. Oktober 1961 thematisiert, und auch um das einzige fiktionale Werk, das unmittelbar nach den Ereignissen publiziert wurde, bleibt The Stone Face in den meisten Debatten über die Erinnerung an das Massaker unerwähnt; diese Diskussionen konzentrieren sich auf die nationalen Gedächtnisse Frankreichs und Algeriens. In The Stone Face erzählt Smith, ein afroamerikanischer Romanautor und Journalist, der seit 1951 in Paris lebt, die Geschichte von Simeon Brown, einem Journalisten und Hobbymaler, der die Vereinigten Staaten verlassen hat, um dem dort herrschenden endemischen Rassismus, aber auch den gewaltsamen Reaktionen, die dieser Rassismus in ihm auslöst, zu entkommen. Simeon hat als Jugendlicher bei einem rassistischen Angriffs ein Auge verloren; die Augenklappe, die er seitdem trägt, belegt die anhaltende rassistische Gewalt, die er als Erwachsener erleidet – und die stets von Individuen ausgeht, die ein gefühlloses, unmenschliches, »steinernes« Gesicht haben. In Paris angekommen, fühlt sich Simeon sogleich von der Last des amerikanischen Rassismus befreit. Er findet sich rasch mit dem Leben im Ausland zurecht, mit den Begegnungen nicht nur mit einer Vielzahl afroamerikanischer Künstlerinnen, Musiker und Intellektueller, sondern auch mit weißen Amerikanern und Europäerinnen. Bald beginnt Simeon eine Romanze mit Maria, einer schönen jungen Frau, die zunächst als polnische Exilantin 25 William Gardner Smith, The Stone Face, New York 1963. Siehe zu Smith’ Roman: Gilroy, Against Race; Ross, May ’68 and Its Afterlives; Tyler Stovall, Preface to The Stone Face, in: Contemporary French and Francophone Studies 8 (2004) 3, S. 305–327; Stovall, The Fire This Time: Black American Expatriates and the Algerian War, in: Yale French Studies 98 (2000), S. 182–200. Smith schrieb vor The Stone Face einen Roman über afroamerikanische Soldaten im Deutschland der frühen Nachkriegszeit, der sich auf faszinierende Weise mit Fragen von »Rasse«, Nation und Gender befasst: William Gardner Smith, The Last of the Conquerors, New York 1948. Siehe Gilroys Bemerkungen zu diesem Roman in Against Race.

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beschrieben wird. Durch eine Reihe zufälliger Begegnungen knüpft Simeon Kontakt zu Angehörigen der algerischen Community. Dank seiner Freundschaften mit Algeriern und Algerierinnen erfährt er mehr über die Kolonialgeschichte und die gewaltsame Dekolonisierung um ihn herum. So beginnt er seinen ersten Eindruck von Frankreich als einem rassismusfreien Paradies zu revidieren. Im Mittelpunkt des zweiten Romanteils steht das wachsende Unbehagen Simeons, der sich der Leere seiner neuen, privilegierten Lage in Paris und des schlimmen Schicksals seiner algerischen Freunde und Freundinnen bewusst wird. Schließlich durchlebt Simeon den Zerfall seiner Beziehung zu Maria, die ihren Traum verfolgt, ein Hollywood-Star zu werden, und schlägt sich auf die Seite seiner algerischen Freunde und Freundinnen: Er wird Zeuge und Teilnehmer der Demonstration vom 17. Oktober. Simeon wird verhaftet, weil er im Zuge der Demonstration einen Polizisten angreift, dann aber rasch aus der Haft entlassen, nachdem die Polizei ermittelt hat, dass er kein Algerier ist. Am Ende des Romans beschließt Simeon, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, um sich an dem afroamerikanischen Kampf für Bürgerrechte zu beteiligen. Smith hat mit The Stone Face eine aussagekräftige Darstellung des Lebens afroamerikanischer Auswanderer in Paris vorgelegt. Die afroamerikanische Community von Paris hatte Richard Wright zum Mittelpunkt, dessen Einstellung gegenüber Frankreich in seiner kolportierten Behauptung zum Ausdruck kommt, in einem Pariser Wohnblock gebe es »mehr Freiheit als in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika«.26 Doch hatte, argumentiert Stovall, die durch einen neuen gesellschaftlichen Kontext gewonnene Freiheit ihren Preis: Die Privilegien der Ausgewanderten standen im Widerspruch zur Lage der französischen Kolonialbevölkerungen und insbesondere der algerischen Arbeiterschaft in der Metropole. Der französisch-algerische Konflikt löste bei den Ausgewanderten eine Krise aus und machte die Widersprüche ihrer ungewöhnlichen Situation als »privilegierte« people of color in Paris erkennbar; letztlich zerbrach die Community Stovall zufolge zumindest teilweise aufgrund der Spannungen, die auf den Kollaps von Frankreichs nordafrikanischem Kolonialreich folgten. Wright und andere sahen sich trotz ihrer antikolonialen Überzeugungen nicht in der Lage, sich zum Krieg zu äußern, weil sie ihre französischen Gastgeber nicht beleidigen wollten; einige, darunter James Baldwin, verließen Paris noch während des Krieges. Smith war einer der wenigen, der explizit und zustimmend über die algerische Revolution sprach.27 Noch erstaunlicher, dass Smith weiter ging: Er sprach die »Rassen«-Frage an, die Afroamerikaner und Algerier ebenso verband wie auch trennte, indem er daran erinnerte, dass sich solche Konflikte auch vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids und der noch nicht lange zurückliegenden nationalsozialistischen Besatzung abspielten. 26 Zit. n. Stovall, Fire, S. 186. 27 Siehe Stovall, Fire, für eine Darstellung der Wirkung des algerischen Unabhängigkeitskriegs auf afroamerikanische Auswanderer und Auswanderinnen. Weiteres dazu bei: Stovall, Paris Noir: African Americans in the City of Light, New York 1996; Michel Fabre, From Harlem to Paris: Black American Writers in France, 1840–1980, Urbana 1991.

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Komplizenschaften, oder: Lumumbas Tod The Stone Face bewegt sich auf den Höhepunkt der Demonstrationen vom 17. Oktober zu und beschreibt detailliert die Repression an jenem Abend, wobei die Einzelheiten denen vieler anderer zeitgenössischer Berichte entsprechen. Smith erzählt die Ereignisse vor dem Hintergrund einer allgemeinen Gleichgültigkeit, wie sie sowohl Simeons amerikanische Auswandererfreunde, die schwarzen wie die weißen, als auch die Pariser Öffentlichkeit an den Tag legen: »Derweil schlief der Großteil der Stadt und ging seinen sorglosen Weg. […] Ältere Leute, von denen viele den Albtraum der deutschen Besatzung oder gar die Konzentrationslager überlebt hatten, spielten in den alten Cafés Karten, Domino oder quatre-cents vingt-et-un« (S. 202). Die historischen Assoziationen in Simeons fokussiertem Bewusstsein nehmen seine wachsende Erkenntnis der offenkundigen Nahtlosigkeit des Rassismus vorweg. Am Abend des 17. Oktober wird Simeon Zeuge zahlreicher Szenen anti-algerischer Brutalität, wobei eine besonders hervorsticht: »Ein Polizist schwang seinen Schlagstock über einer Frau, die ein Kind hielt« (S. 203). Nachdem er zugunsten der Frau und ihrem Kind eingeschritten ist, findet sich Simeon mit Tausenden anderen verhafteten Demonstranten in einem »riesigen Sportstadion« wieder (dem Palais des Sports). Ein Algerier spricht ihn als »frère« (Bruder) an, während über Lautsprecher angesagt wird, dass »die Algerier in dem Stadion bleiben würden, bis man in französischen Gefängnissen, Krankenhäusern oder Lagern für sie Platz gefunden hätte; des Weiteren, dass man die Agitatoren unter ihnen in ihre ›Ursprungs-douars‹ zurückschicken werde: in die algerischen Konzentrationslager, in denen sie geboren wurden« (S. 205).28 Auf dem Boden des Stadions liegend, gelangt Simeon zu der Einsicht, auf die sich der Roman zubewegt hat: »Der Schmerz in seinem Auge hatte etwas nachgelassen, und bevor er einschlummerte, dachte er noch: Das Gesicht des französischen Bullen, die Gesichter von Chris, Mike, dem Seemann, das Gesicht des Nazi-Folterers in Buchenwald und Dachau, das Gesicht des hysterischen Mobs in Little Rock, das Gesicht des intoleranten Kapholländers und des portugiesischen Schlächters in Angola, und ja, die schwarzen Gesichter von Lumumbas Mördern – es war das gleiche Gesicht. Wo auch immer sich dieses Gesicht wiederfand, es war sein Feind; und wer auch immer dieses Gesicht fürchtete oder unter ihm zu leiden hatte oder es bekämpfte, war sein Bruder.« (S. 205 f.)

Durch die Verknüpfung von Gewaltepisoden aus multiplen persönlichen und historischen Kontexten erinnert diese Passage durchaus an das von Paul Gilroy konstatierte 28 Mir ist kein anderer Bericht bekannt, der davon erzählt, dass an den Orten, an denen Algerier inhaftiert waren, offen die französischen Pläne verkündet wurden, doch ansonsten ist Smith’ Darstellung zutreffend. Mehrere Hundert friedliche Demonstranten wurde in Lager in ihren douars d’origine verschickt – Lager, die Gegner und Gegnerinnen der Regierungspolitik tatsächlich als Konzentrationslager bezeichneten.

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»verallgemeinernde Argument«,29 so wie es der Titel einer in der New York Times veröffentlichten Rezension von The Stone Face ausdrückt: The Unvarying Visage of Hatred (Das gleichbleibende Gesicht des Hasses).30 Doch was genau ist das verallgemeinernde (oder universalisierende) Argument in diesem Passus und dem Roman insgesamt? Der zitierte Abschnitt zählt verschiedene Beispiele des »Gesichts« auf, das Simeon heimsucht. Die ersten erinnern an Urheber rassistischer oder kolonialer Gewalt, doch findet in der Mitte des Abschnitts eine Verschiebung statt, fort von Gesichtern, denen im Roman charakterisierende Bedeutung zukommt (der Polizist, Chris, Mike und andere) und hin zu Gesichtern, die als Typen gekennzeichnet werden (der Nazi-Folterer, der intolerante Kapholländer und so weiter). Eine weitere Verschiebung verstärkt diesen Prozess der Verallgemeinerung und Abstraktion: die Evozierung der »schwarzen Gesichter von Lumumbas Mördern«. Hier stellen sich jedoch Fragen. Was geschieht, wenn schwarze Gesichter jenem abstrakten »Gesicht« zugerechnet werden, in dem Simeon seinen Feind erkennt? Signalisiert die Einbeziehung der »schwarzen« Mörder des kongolesischen antikolonialen Anführers und Premierministers eine Transzendierung von »Rasse« und Kolonialismus, oder werden diese Mörder in die Reihe rassistischer Täter aufgenommen (wie sich das »ja« deuten ließe)? So oder so, die starke Bewegung in Richtung Universalismus, die diesen Passus auszeichnet, bekommt an eben jenem Punkt eine innere Gabelung, an dem man versucht, dem feindlichen »Gesicht« eine endgültige Bedeutung zuzuschreiben. Wenn das Gesicht kein rassistisches ist, was ist es dann? Wenn aber doch, was bedeutet es dann, kolonisierte Schwarze in ihm zu erkennen? Ob dieser Abschnitt darauf hinweist, dass Rassismus in Richtung des »gleichbleibenden Gesichts des Hasses« transzendiert worden ist, oder ob das Gesicht des Rassismus nunmehr jeglicher besonderen »rassischen« Kennzeichen entbehrt – Vorstellungen von Brüderlichkeit werden dadurch problematisiert. Die Freund/Feind-(oder Bruder/Feind-)Unterscheidung, die Simeon erfasst, hält der Kraft dieser Erkenntnis nicht stand: Wie der Roman durch seine Kontrastierung selbstzufriedener afroamerikanischer Auswanderer und vor Ort viktimisierter Algerier durchweg betont hat, und wie er nun mit dem Beispiel der Ermordung Lumumbas erneut herausstreicht, sind Kategorien der Zugehörigkeit, die auf rassistischer Viktimisierung oder deren Überwindung beruhen, gleichermaßen unzureichend, da letztlich selbst gespalten. Alternativ zu Interpretationen, die auf Transzendenz oder Abstraktion abheben, möchte ich eine dritte Lesart dieses Passus vorschlagen: Die Wende, die er durch die Einbeziehung der Ereignisse im Kongo nimmt (»ja, die schwarzen Gesichter von Lumumbas Mördern«), zeigt, dass die Realität von Komplizenschaft die wichtigste Entdeckung Simeons während seines Paris-Aufenthalts ist. Der Begriff der Komplizenschaft ermöglicht es, über die verschiedenen Gestalten des Gesichts nach29 Gilroy, Against Race, S. 324. 30 The Unvarying Visage of Hatred, in: New York Times vom 17. November 1963, S. BR27.

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zudenken, ohne »Rasse« und Rassismus zu transzendieren oder alle diese Gestalten unter identischen Subjektpositionen rassistischer Täter zu subsumieren. Von Komplizenschaft zu sprechen verweist auf eine gewisse Verbindung, aber auch auf eine gewisse Distanz: Komplizenschaft bedeutet, verantwortlich (verbunden mit bestimmten Ereignissen, Vorgängen oder Personen) zu sein, doch sie ist nicht identisch mit schuldig zu sein. Komplizenschaft verweist auf eine ethische Verbindung, die sich von juristischer Schuld unterscheidet, wenngleich beides sicher (wie hier) zusammenfallen kann. In dieser Passage sind Lumumbas Mörder sowohl schuldig als auch Komplizen: Sie sind zweifellos des Mordes schuldig, doch ihre Position in der Aufzählung feindlicher Gesichter hebt insbesondere ihre Komplizenschaft mit den rassistischen und kolonialen Regimes hervor, mit denen sich Simeon beschäftigt hat.31 Damit erinnern sie an die Komplizenschaft, die Simeon bei den Angehörigen der »Kolonie« (so eine im Roman in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Bezeichnung) afroamerikanischer Auswanderer und Auswanderinnen bemerkt hat – oder die zu bemerken er von seinen algerischen Freunden und Freundinnen angehalten worden ist.32 Zu einem frühen Zeitpunkt in der Romanhandlung spaziert Simeon am linken Seine-Ufer und hört, wie jemand »in einem Englisch mit starkem Akzent ruft: ›He! Wie fühlt es sich an, ein weißer Mann zu sein?‹ Simeon wusste irgendwie, dass die Worte ihm galten, und als er sich umdrehte, sah er vier Algerier an einem Tisch im Café Odéon sitzen« (S. 55 f.). Wie diese klassische Szene Althusser’scher Anrufung avant la lettre veranschaulichen soll, werden Afroamerikaner durch das ihnen unvertraute Privileg, »Ehrenmitglieder« des weißen Paris zu sein, in Frankreichs spätkoloniales Projekt verwickelt  – ein Projekt, das gegen Dritte gerichtet ist. Komplizenschaft beinhaltet, anders als Schuld, zumindest eine minimale Distanz zum Zentrum der Ereignisse; dem Roman zufolge sind Afroamerikaner in Paris keine Täter im spätkolonialen Krieg, sie können aber durchaus dessen komplizenhafte Nutznießer sein. Da die Anrufung in diesem Fall nicht vom Staatsapparat ausgeht, sondern von einem jener »schlechten Subjekte«, das die universalisierende Ansprache des französischen Staates zurückgewiesen hat, suggeriert Simeons scheinbar intuitive Erkenntnis, »dass die Worte ihm galten« auch, dass die Anerkennung von Komplizenschaft mit einer Differenzen überschreitenden Solidarität verbunden sein kann, womöglich sogar die Möglichkeitsbedingung einer solchen Solidarität ist. 31 Da Lumumbas Mord auf seine Absetzung von der Regierung durch einen vom CIA unterstützten Putsch folgte, könnte sein Tod auch zu einer Reflexion über amerikanische Mitschuld Anlass geben, doch Smith legt den Schwerpunkt stattdessen auf eine »rassische« Mitschuld. Die Unruhen im Kongo sind auch Teil des Kontexts der Dekolonisierung, auf den in Chronik eines Sommers angespielt wird; ein Großteil des Films wurde vor dem Putsch gedreht. 32 Smith’ Verwendung des Begriffs »Kolonie« zur Bezeichnung der Expatriate-Gemeinschaft ist keine Idiosynkrasie, nimmt aber im Kontext des Krieges zwischen Frankreich und Algerien mehr Bedeutung an. Ein anderes Beispiel für die Verwendung des Begriffs Kolonie, außerhalb des Kontexts des Krieges, findet sich in: James Baldwin, A Question of Identity: Collected Essays, New York 1998, S. 91–100.

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So verstanden, bestätigt The Stone Face das Argument des Kritikers Mark Sanders, dem zufolge Komplizenschaft ein Schlüsselbegriff für das Nachdenken über die Verantwortung oppositioneller Intellektueller ist. Laut Sanders’ Darstellung südafrikanischer Intellektueller und ihres Verhältnisses zur Apartheid tritt Komplizenschaft in zwei Formen auf: eine »im engeren Sinn«, die an bestimmte Ereignisse gebunden ist, als auch eine im »allgemeinen Sinn«: »eine Komplizenschaft, die im Mensch-Sein als solchem liegt«.33 Doch handelt es sich dabei nicht um Optionen, von denen man sich eine aussuchen könne, es geht laut Sanders um die eigentliche »Aporie der Verantwortung«, da die Spezifik eines besonderen Anliegens stets in einem Spannungsverhältnis zu den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit steht: »Wann immer die Gerechtigkeit, wie es stets der Fall ist, im Namen eines spezifischen Anliegens beschworen wird, wird das Risiko bestehen, eine Ungerechtigkeit zu begehen. […] Jeder konkrete ›Fall‹ erzeugt seine eigenen Öffnungen und Grenzen der Universalisierung« (Complicities, S. 6). Die Erkenntnis der Komplizenschaft warnt vor einem abstrakten Universalismus, da dieser  – zumindest für den Intellektuellen, der sich mit Gerechtigkeit beschäftigt, wie das bei Simeon zweifellos der Fall ist – unweigerlich partikularisierende und universalisierende Ansprüche gegeneinanderstellt. Ich stimme Sanders zwar zu, dass zwischen den Eindrücken besonderer und allgemeiner Komplizenschaft häufig eine Lücke klafft; zumindest in Smith’ Roman fungiert diese Lücke oder Aporie allerdings als produktiver Raum multidirektionaler Erinnerung. Der Roman zeichnet sich zwar durch einen starken Drang zu einem abstrakten Universalismus aus  – gekennzeichnet durch die Erkenntnis, dass alle Täter »das gleiche Gesicht« haben  –, seine Hervorhebung der Komplizenschaft widersteht jedoch dieser Abstraktion und führt stattdessen zu nicht-universalistischen Analogien, in denen sich verschiedene Besonderheiten und Allgemeinheiten multidirektional modifizieren. In den hier besprochenen Episoden führt die Anerkennung der Komplizenschaft beispielsweise zu einer Bedeutungsverschiebung sowohl der Besonderheit von »Schwarzsein« als auch der allgemeineren Kategorien »Rasse« und Gerechtigkeit. Zugleich erzeugt die Spannung zwischen dem Universalismus, zu dem sich der Roman bekennt, und der Einsicht in die Komplizenschaft Widersprüche, die mit Fragen des Geschlechts und des Jüdischseins zusammenhängen. Simeon versucht zwar, mit der Komplizenschaft, die er um sich herum wahrnimmt, zu brechen, doch kann er dies nur durch konkrete Akte der Solidarität erreichen, nicht indem er sich in einem abstrakten Reich der Gerechtigkeit einrichtet. In der Episode, in der Simeon vom Tod Lumumbas erfährt, heißt es beispielsweise: »Jeder schwarze Mann in Paris hatte sich persönlich betroffen und empört gefühlt vom Sturz des kongolesischen Premierministers. Und sie hatten sich von seiner anschließenden 33 Mark Sanders, Complicities: The Intellectual and Apartheid, Durham 2002, S. 8. Weiteres zu Mitschuld im Kontext von Rassismus und Holocaust in der provokanten Untersuchung: Naomi Mandel, Against the Unspeakable: Complicity, the Holocaust, and Slavery in America, Charlottesville 2006.

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Verhaftung ebenso betroffen gefühlt« (S. 171). Doch dieses Gefühl verallgemeinerter Solidarität verblasst sofort angesichts der Fotografien aus der Zeitung, die Lumumbas triumphierende Feinde zeigen: »Außer ein paar belgischen Beratern waren alle Personen auf den Fotos schwarz. Als er das Foto betrachtete, fuhr Simeon plötzlich überrascht hoch. Er starrte das Bild verwundert an. Diese Gesichter! Diese schwarzen Gesichter!« (S. 171 f.)

Bei den Hinweisen auf Lumumbas Tod konkurriert die Erkenntnis der Komplizenschaft mit dem Wunsch nach Solidarität. Komplizenschaft und Solidarität sind jedoch zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen gefangen: Es sind Formen der Verbindung, die auf Unterscheidung beruhen. Ohne eine zumindest minimale Differenz (zwischen Afrikanern und der Diaspora, Afrikanern und Kolonialisten oder Afrikanern und Neokolonialisten) könnte weder »Solidarität« noch »Komplizenschaft« das Gefühl bezeichnen, das Lumumbas Tod hervorruft. Diese minimale Distanz wird zum Anlass für Akte multidirektionaler Erinnerung. Tatsächlich deutet der Roman an, dass multidirektionale Erinnerung ein Ergebnis der Anerkennung allgemeiner Komplizenschaft sowie der Notwendigkeit sein könnte, spezifischer Komplizenschaft zu widerstehen. Unmittelbar nach Lumumbas Tod Anfang 1961 beginnt Simeon, rings um ihn herum Mitschuld zu erkennen: »Ein Zerfall setzte ein. […] Das Gift drang weiter in die Menschen ein. Eine seiner Ausdrucksformen war ein Ausbruch von Chauvinismus: ultrarechte Organisationen mit antisemitischen Tendenzen und einer weiß-suprematistischen Ideologie vervielfachten sich. […] Am bedrückendsten war für Simeon die scheinbare Gleichgültigkeit der Bevölkerung angesichts der Geschehnisse in Algerien – mit Ausnahme einer mutigen Minderheit. Jeder wusste über die Konzentrationslager und die Folter Bescheid. Jeder wusste von den dreckigen Slums, den bidonvilles, in denen Hunderttausende Algerier in Frankreich leben mussten. Aber nur wenigen war es wichtig, zu handeln oder gar zu protestieren. ›Wir sind die kleinen Leute‹: Das war der Ausdruck, mit dem die Deutschen erklärt hatten, warum sie nichts unternommen hatten, um der Verfolgung der Juden ein Ende zu setzen. Das war auch die Haltung der meisten Franzosen.« (S. 173 f.)

Dieser Passus zeichnet nicht nur ein historisch und soziologisch lehrreiches Bild von Paris im Vorfeld des Massakers vom Oktober 1961 (registriert werden u. a. der Aufstieg der OAS und neue Polizeimethoden in der Metropole). Er analogisiert auch Formen der Komplizenschaft, wobei der nationalsozialistische Genozid erneut, wie schon in der Passage über das »gleichbleibende Gesicht des Hasses«, eine prominente Rolle spielt. Simeons Fähigkeit, sich gegenüber Algeriern und Algerierinnen solidarisch zu verhalten, rührt her von seiner multidirektionalen Anerkennung der allgemeinen

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Verbreitung des Gifts der Komplizenschaft über soziale Gruppen und historische Epochen hinweg. Wie Sanders bemerkt, ergibt sich die Fähigkeit, rassistischen Regimes entgegenzutreten aus der Tendenz, »Verantwortung-in-Komplizenschaft anzuerkennen, zu bejahen und zu verallgemeinern«, und zugleich danach zu streben, »Handeln-in-Komplizenschaft zu minimieren«.34 Als Afroamerikaner, der in Frankreich unmittelbar mit kolonialer Gewalt und ungewohnten Privilegien konfrontiert ist, sieht sich Simeon erstmals gezwungen, seine eigene Komplizenschaft mit Rassismus anzuerkennen – das, was Sanders »die Intimität psychischer Kolonisierung« nennt; diese Anerkennung erlaubt es Simeon, andere Fälle von Komplizenschaft kritisch sehen zu können und zugleich seinen Sinn für Solidarität oder »Komplizenschaft mit dem Menschsein als solchem« zu erweitern. Trotz dieses erweiterten Sinns für Komplizenschaft, Solidarität und Verantwortung bleibt als endgültiges Ergebnis dieser Anerkennung, in narrativer Hinsicht, Simeons Entschluss, in die Vereinigten Staaten zurückzugehen, um für eine besondere Sache zu kämpfen: die Bürgerrechte von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen (eine Rückkehr, die Smith selbst nicht unternommen hat).35 So bieten zwar die Überschriften der drei Teile von The Stone Face ein verdichtetes Narrativ der Etappen von Simeons Entwicklung von der Viktimisierung zur Komplizenschaft und dann zur Solidarität – The Fugitive (Der Flüchtling), The White Man (Der weiße Mann) und The Brother (Der Bruder) –, doch der Drang zum Universalismus kann die Reste des Partikularen nicht tilgen. Die Lehren aus diesem komplizierten Szenario sind keine einfachen, was unterschiedliche Bewertungen des Schlusses zeigen. Ross beispielsweise begreift den Roman als Beschreibung eines »politischen Erwachens, einer neuen politischen Subjektivität, die durch kulturelle Kontamination Gestalt annimmt« (May ’68, S. 45). Gilroy hingegen ist der Auffassung, der Roman wende sich von seiner fundamental diasporischen Ethik und seinem kosmopolitischen Bewusstsein ab, sobald Simeon beschließt, »nach Hause« zurückzukehren. Gilroy zufolge gibt der Roman also das Potenzial der von Ross beschriebenen politischen Subjektivität preis und ist gezeichnet von einer »Kapitulation vor den Forderungen jener engen Version kultureller Verwandtschaft, die Smith’ universalisierendes Argument transzendiert zu haben schien« (Against Race, S. 323 f.). Stovalls Lesart ist zwischen diesen beiden Positionen angesiedelt. Ihm zufolge bietet »Simeons Reaktion auf das PaponMassaker […] eine internationale, diasporische Perspektive auf den Rassismus, impliziert aber auch, dass der Kampf gegen den Rassismus die Grenzen des Exils als einer politischen Strategie aufzeigt« (Fire, S. 197). Die Unterschiedlichkeit dieser Kritiken belegt die Widersprüche, die Smith’ Roman festhält, aber nicht auflöst. Der Roman bleibt im unlösbaren Problem der Verantwortung gefangen, zwischen der engeren 34 Sanders, Complicities, S. 12. 35 Später in den 1960er-Jahren zog Smith auf Einladung Kwame Nkrumahs nach Ghana. Nach dem Putsch 1966, durch den Nkrumah abgesetzt wurde, ging Smith jedoch zurück nach Paris, wo er 1974 starb.

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und der allgemeinen Bedeutung von Komplizenschaft. Meine Interpretation von The Stone Face wirft ein Licht auf diese Aporie und bestätigt letztlich die (von Fanon und der südafrikanischen Black-Consciousness-Bewegung abgeleitete) Einsicht Sanders’, dass Komplizenschaft im allgemeinen Sinn unbewusste Komplizenschaft beinhaltet und mit dem kognitiven Problem der Verkörperung zusammenhängt (Complicities, S. 178 f.). Sinnvoller zu versuchen, die unvermeidbare Aporie der Verantwortung zu beseitigen, ist es herauszufinden, was es bedeutet, mit dieser Aporie zu leben. In meiner Begrifflichkeit gesprochen: eine auf Multidirektionalität ausgerichtete Herangehensweise zu wählen, anstatt eine Seite des Gegensatzes von abstrakter Universalität und konkreter Partikularität zu privilegieren.

»Dreckiger Jude«: Gender und Judentum Möglicherweise mit Blick auf die dem Universalismuskonzept immanenten Spannungen  – gerade im französisch-kolonialen beziehungsweise -postkolonialen Kontext mit seinem krisenhaften Republikanismus  – betrachtet Stovall die Bedeutung von Smith’ Roman und der in ihm dargestellten Ereignisse aus einer globalen und nicht etwa universellen Perspektive. Wie Stovall in einem kurzen, The Stone Face einleitenden Aufsatz nützlicherweise bemerkt, erlaubt uns die transnationale Perspektive von Smith’ Roman, die Geografie der Kolonialgeschichte neu zu durchdenken: »Der Algerienkrieg ist, wie die Kolonialgeschichte im Allgemeinen, nicht einfach ein bipolares Verhältnis von Metropole und Kolonie, sondern Teil einer Globalgeschichte, die Menschen außerhalb der formellen Grenzen des Imperiums beeinflusst hat und von ihnen wiederum beeinflusst worden ist. […] [D]er Algerienkrieg war ein globales Ereignis, dessen Auswirkungen über die Grenzen Frankreichs und Algeriens hinausreichten: ein Ereignis, das Individuen entsprechend ihrem Verständnis des imperialen Frankreich und im Licht ihrer eigenen nationalen und lokalen Geschichten interpretiert haben.«36 Wie Stovall an anderer Stelle schreibt, bereitete der Krieg auch »den Boden für ein neues, komplexeres Verständnis von ›Rasse‹ und ›rassischem‹ Konflikt als globalem Phänomen«, zumindest unter einigen Exilanten wie Smith (Fire, S. 189  f.). Der globale Bezugsrahmen ermöglicht ein multipolares Verständnis von Geschichte und der Zirkulation von Erinnerung und entgeht damit einigen Problemen, die offenkundiger mit der ideologischen Begrifflichkeit des Universellen einhergehen. Doch selbst bei seinem Übergang vom Universellen zum Globalen lässt Stovall einige Besonderheiten ununtersucht; die Frage nach den Grenzen der Interpretation drängt sich neuerlich auf. 36 Stovall, Preface, S. 309. Stovalls Preface enthält eine knappe Einleitung zum Nachdruck eines kurzen Auszugs aus dem Roman (in dem das Massaker vom 17. Oktober dargestellt wird) und dessen erste französische Übersetzung. In The Fire This Time hat Stovall eine etwas ausführlichere Erörterung des Romans im Kontext einer umfassenderen Darstellung des afroamerikanischen Lebens in Paris während des Algerienkriegs vorgelegt.

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In seiner kurzen Erörterung des Romans und dessen Infragestellung tradierter »Rasse«- und Kolonialismusvorstellungen der Postcolonial Studies sowie der afroamerikanischen Literatur übergeht Stovall (wie Ross, aber anders als Gilroy) eine weitere Art und Weise, wie The Stone Face verfestigte Unterscheidungen in Bewegung bringt: die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte.37 Durch seine Thematisierung sowohl des Holocaust als auch des Antisemitismus hebt Smith die begriffliche Symmetrie auf, die The Stone Face strukturiert: Frankreich/Algerien, Frankreich/Amerika, das afroamerikanische Amerika/das algerische Frankreich. Das geschieht durch die Figur Marias, jener Liebhaberin Simeons, die zunächst wiederholt als Polin beschrieben wird, sich aber als polnische Jüdin erweisen wird. Maria, so erfahren wir, ist als Kind von einem nationalsozialistischen Offizier sexuell missbraucht worden und hat ihre Familie in einem Vernichtungslager verloren. Der Roman thematisiert ausdrücklich die diversen Unterscheidungen und Solidaritäten, die mit »Rasse« und Ethnizität einhergehen; bedenkt man jedoch die in der Literaturkritik wenig beachtete Darstellung Marias, dann zeigt sich, dass Gender und Sexualität die Erinnerungsarbeit des Romans nicht weniger vermitteln als »Rasse« und Ethnizität. Die jugendliche Maria entspricht noch weniger als die Marceline aus Chronik eines Sommers den Stereotypen über Holocaust-Überlebende, die sich seither im kollektiven Bewusstsein gefestigt haben (und das nicht nur wegen ihres betont christlichen Namens!). Möglicherweise ist das Unbehagen, dass ihre Unvereinbarkeit mit den etablierten Kategorien des öffentlichen Gedächtnisses hervorruft, der Grund, weshalb die meisten mit dem Holocaust, dem Algerienkrieg und afroamerikanischer Literatur befassten Forscher und Forscherinnen ihre Anwesenheit übersehen oder ihre Figur unerforscht ließen. Wie es sich mit Marias Unangepasstheit an zeitgenössische Vorstellungen von Holocaust-Überlebenden auch verhalten mag: Die sich überschneidenden Darstellungen Marias, Marcelines und M.s (der Frau aus Duras’ Artikel) – Frauen, die sämtlich in ihrem Verhältnis zu kolonisierten Männern und schwarzen Männern inszeniert werden – legen nahe, dass Gender bei der Aushandlung des Verhältnisses zwischen dem entstehenden öffentlichen Holocaustgedenken und der Übergangsphase der Dekolonisierung zumindest implizit eine wichtige Rolle gespielt hat. Simeons erster Anblick von Maria betont alles an ihrem Körper, was nicht auf das KZ-Universum verweist oder sie als rassifiziertes Subjekt kennzeichnet. Kurz nach seiner Ankunft in Paris sitzt Simeon mit Babe, einem besser etablierten Mitglied der afroamerikanischen »Kolonie«, in einem Café, als eine auffallend schöne Frau vorbeigeht: 37 Dass Stovall sich über die mit jüdischer Geschichte und dem Holocaust zusammenhängenden Aspekte des Romans ausschweigt, ist insofern merkwürdig, als er in seinem lesenswerten Essay über afroamerikanische Auswanderer und den Algerienkrieg durchaus auf die Verbindungen zwischen dem Massaker vom 17. Oktober und dem nationalsozialistischen Genozid eingeht, etwa wenn er die historische Figur Papon und Didier Daeninckx’ Roman Bei Erinnerung Mord, um den es im nächsten Kapitel gehen wird, behandelt. Siehe Stovall, Fire, S. 196 f.

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»Simeon zog an seiner Zigarette und wurde durch den Anblick einer großen, langbeinigen jungen Frau mit dunkler Sonnenbrille, kurzgeschnittenem schwarzen Haar und einem frechen Gang aufgeschreckt, die über die Straße ging und auf sie zu kam. Was ihn aufrüttelte, war das strahlende an dieser gut aussehenden Frau, die Anfang zwanzig sein musste; sie war von einer Aura schwelender Energie, einer Art elektrischem Feld umgeben, ihr Gesicht und ihre nackten Beine glühten vor Gesundheit. Sie war sich ihres schönen Körpers bewusst und übertrieb dessen Bewegungen wie ein Kind, das sich mit einem neuen Spielzeug amüsiert.« (S. 11)

Rückblickend ließen sich zwar das »elektrische Feld« und sogar Simeons Zigarette als versetze Bilder für die Welt der Lager deuten, doch unsere erste, von Simeon fokussierte Wahrnehmung Marias betont ihre Schönheit und Gesundheit.38 Auch wird ihre Vergangenheit in keiner Weise angedeutet, als Babe sie für den bezauberten Simeon identifiziert: »Maria heißt die, eine Polin. Ist aus Polen angereist, um zum Film zu gehen und die nächste Brigitte Bardot zu werden« (S. 11). Smith gibt zwar im ersten Drittel des Romans keinerlei Informationen über Marias Vergangenheit, doch Simeon erkennt bald, dass sich hinter Marias scheinbar strahlender und verspielter Art eine finstere Erfahrung verbirgt: »Sie war mehr als ein Kind, dachte Simeon. Sie war ein Prisma wechselhafter Launen. Im Schlaf stöhnte sie sehr oft und sprach Polnisch. Manchmal schrie sie und wachte dann auf« (S. 68). Schließlich enthüllt Maria Simeon ihre traumatische Vergangenheit, allerdings zu einem unerwarteten Zeitpunkt – nachdem Simeon sie gefragt hat, mit wie vielen Männern sie geschlafen habe. Sie nennt zunächst zwei, fügt dann aber hinzu: »Vor dir und dem anderen Mann waren da der Krieg und das Arbeitslager, in dem ich während der Besatzung mit meinen Eltern war, und dort gab es einen deutschen Offizier … Der deutsche Offizier, der Lagerkommandant, mochte mich. Ich tat, was er wollte, um mich und meine Eltern am Leben zu erhalten« (S. 76). In ihrer ursprünglichen Darstellung der Lager identifiziert sich Maria zu keinem Zeitpunkt als jüdisch; selbst als der Lagerkommandant sich gegen sie wendet, nachdem er schlechte Nachrichten von der Heimatfront erhalten hat, klagt er in der Beschreibung nur: »Ihr glaubt, ihr wüsstet, was Leid ist! Was könnt ihr Polen schon wissen!« Zugleich verweist allerdings die Beschreibung der Selektion im Lager (oder, wie es im Roman heißt, des »Anstellens«) und der Gaskammern, in die Marias Eltern geschickt werden, deutlich auf ihre jüdische Identität (S. 77). Erst im Kontext antisemitischer Äußerungen durch Simeons algerische Freunde enthüllt der Roman ausdrücklich, dass Maria jüdisch ist. Eines Tages sitzt Simeon (erneut) in einem Café und diskutiert mit Lou, einem sympathisierenden weißen Auswanderer, über Rassismus in den Vereinigten Staaten, während mehrere Algerier 38 Zigarettenasche und -rauch sind beispielsweise im Werk Art Spiegelmans eine andauernde Erinnerung an den Holocaust, und das elektrische Feld erinnert an die elektrischen Stacheldrahtzäune, die die nationalsozialistischen Lager umgaben.

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zuhören. Als Marie mit einem schönen, aber teuren Armband von einer Einkaufstour zurückkehrt, sorgt sie sich, der Verkäufer könne sie betrogen haben. Diese Spekulation führt zu einer ersten unbefangenen antisemitischen Bemerkung: »Ben Youssef lächelte. […] [E]r machte einen ganz unschuldigen Eindruck, als er beiläufig und unwissentlich den Knaller brachte: ›Klar,‹ sagte er, ›wahrscheinlich hat dir das so ein dreckiger Jude verkauft.‹ Die Worte explodierten unter ihren Augen. Maria riss den Kopf hoch, als habe man sie geschlagen. […] Simeon war erschüttert. Solche Worte, von einem der Algerier? Eine ganze mentale und psychologische Struktur, die er seit dem Tag seines ersten Gesprächs mit Hossein aufgebaut hatte, brach abrupt zusammen. Maria war blass vor Wut; jegliche Leichtfertigkeit war verschwunden. ›Ich bin dreckige Jüdin‹, sagte sie.« (S. 121 f.)

Trotz Marias prononcierter Erklärung, die viele Leser und Leserinnen wahrscheinlich ebenso überrascht wie die Algerier, distanziert sich Simeons militantester Freund Hossein nicht von Ben Youssefs Worten, sondern radikalisiert sie sogar noch: Er erklärt, »mit plötzlicher Leidenschaft«, dass er Juden noch mehr hasse »›als die Franzosen! Ich hasse sie noch mehr als die Kolonialisten!‹« (S. 123). In der Diskussion, die nach diesem unverblümten Vorurteil entbrennt, debattieren und historisieren die Angehörigen der multinationalen Café-Gesellschaft den Antisemitismus. Die Verurteilung dieser Form von Rassismus durch den Autor ist zwar deutlich, doch Smith »verweigert«, wie Gilroy in einem der wenigen Kommentare zu dieser Episode bemerkt, auch »jegliche Auflösung« (Against Race, S. 321). Die Handlung verortet Hosseins Vorurteil innerhalb der Widersprüche des antikolonialen Kampfes in Algerien, eines Kampfes, in dem die Juden und Jüdinnen überwiegend Neutralität beanspruchten oder zu den Franzosen und Französinnen hielten, trotz ihrer langen Jahrhunderte in Nordafrika. Ein paar bemerkenswerte Merkmale der Darstellung Marias in dem Roman könnten zu den Auslassungen und Missverständnissen beigetragen haben, mit denen die Rezensenten und Rezensentinnen diese Darstellung wahrnahmen. Aufgrund ihres eindeutig nichtjüdischen Namens und ihrer durchgehenden Bezeichnung als Polin in der ersten Hälfte des Romans erscheint Maria nicht als Jüdin. Sobald jedoch Einzelheiten ihrer Lagerhaft bekannt werden und sie auf Ben Youssefs ahnungslosen antisemitischen Einspruch reagiert  – mit einer Formulierung, die an Fanons berühmte Erörterung der Erfahrung erinnert, ein »dreckiger Neger« genannt zu werden –,39 muss die ursprünglich fehlende Information ihrer jüdischen Identität analysiert werden. Der Roman zeichnet fiktional nach, wie ein differenziertes Verständnis des nationalsozialistischen Genozids entstanden ist; Ben Youssefs Fauxpas macht den Holocaust als Teil der längeren Geschichte des Antisemitismus bewusst, der auf 39 Siehe Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Wien 2015, S. 93.

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Menschen zielte, die als jüdisch, und nicht schlicht als »Polen« definiert wurden  – wenngleich Millionen nichtjüdischer Polen und Polinnen ebenfalls ermordet wurden. Wie in Chronik eines Sommers entsteht dieses differenzierte Verständnis inmitten multidirektionaler Veränderungen und Spannungen, die die Kategorie »Rasse« in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten betreffen. Der Konflikt wird zwar als Opferkonkurrenz inszeniert (Juden und Jüdinnen werden mehr oder weniger unterdrückt als Algerier und Algerierinnen; Juden und Jüdinnen werden mehr oder weniger gehasst als Kolonialisten), doch die zugrunde liegende Logik und letztliche Wirkung seiner Darstellung im Roman zeichnen eine offene Kartografie sich überschneidender Rassifizierungsregime. Die multidirektionale Logik der Episode stört die ausgesprochen universalistische Botschaft des Romans und enthüllt dessen interne Spannungen. Auch diese Komplikation ergibt sich daraus, wie Smith die Frage der Komplizenschaft betont. Die Episode, in der Marias jüdische Identität endgültig offenbar wird, inszeniert dialogisch die Komplizenschaft der Algerier und Algerierinnen mit einem Antisemitismus, der in der Metropole lebendig bleibt, und die Komplizenschaft von Juden und Jüdinnen mit der Unterdrückung und Ausbeutung von Arabern und Araberinnen in Palästina und Nordafrika. Lou, »die einzige anwesende ›rein‹ weiße Person«, versucht, die Spannungen vermittelnd zu lösen, indem er erklärt, »jede unterdrückte Gruppe« werde »auf besondere Weise unterdrückt« und habe »eine besondere Geschichte« (S. 124), doch sein Versuch ist nur bedingt erfolgreich. Lous Bemerkung suggeriert, dass es zwischen Besonderem und Allgemeinem eine unvermeidbare Vertrautheit gibt (es ist eine allgemeine Eigenschaft aller Gruppen, dass sie eine besondere Geschichte haben!), doch der Versuch, Unterschiede zu analogisieren, bleibt zu symmetrisch und letztlich zu abstrakt. Der Roman selbst bietet keine so einfache Lösung an, er betont die aus unterschiedlichen Geschichten resultierenden schmerzlichen Asymmetrien und unerwarteten Komplizenschaften. Lous vernünftige Erklärungen können Hossein nicht besänftigen, und Maria beendet das Kapitel trotz der Entschuldigung eines peinlich berührten Ben Youssef mit Schweigen.

»Noch näher«: Gender und Gedächtnis Der Roman zeigt die Spannungen und Bruchlinien des Universalismus, nicht nur in Bezug auf jüdische Identität, sondern besonders hinsichtlich Gender.40 Während das Judentum explizit, wenngleich ambivalent, im Roman präsent ist, entpuppt sich Gender als dessen nicht ganz anerkanntes Unbewusstes. Geschlechterdifferenz hat bei vielen Schlüsselmomenten der Romanhandlung, bei denen es um die Solidarität 40 Eine nützliche Sammlung von Aufsätzen zu Gender und kulturellem Gedächtnis bietet das von Marianne Hirsch und Valerie Smith herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift Signs 28 (2002) 1: Gender and Cultural Memory.

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über »Rassen«-Grenzen hinweg und um Konflikte zwischen Minderheiten geht, eine hervorragende Bedeutung. So ist beispielsweise die Handlung, bei der sich Simeons ungewöhnlich brüderliches Verhältnis zu den Algeriern und Algerierinnen konkretisiert, in einen traditionell codierten Versuch eingebettet, am 17. Oktober eine Frau und ein Kind zu schützen. Die Ambivalenzen von Gender und »Rasse« häufen sich geradezu um die Figur Marias. Einerseits scheint sich Simeons Verhältnis zu Maria da zu festigen, als zentrale Bestandteile ihrer Leidensgeschichte bekannt werden. Nachdem sie ihm das erste Mal von den Lagern erzählt, ist Simeon natürlich berührt: »Simeon war still. Er hielt sie fest und fühlte sich ihr noch näher als je zuvor. Vielleicht konnten sie sich trotz allem doch verstehen« (S. 78). Später, nach der hässlichen antisemitischen Episode, wiederholen sich ähnliche Formulierungen: »Sie sprachen nicht, doch Simeon fühlte sich Maria sehr nah und wusste, dass sie sich ihm nahe fühlte« (S. 126). In diesen Passagen wird heterosexuelle Intimität zu einer Figur, die interethnische Solidarität ausdrückt. Und doch herrscht andererseits auch hier Unbehagen, wie es möglicherweise von der umständlichen Formulierung »more close« (»noch näher«) angezeigt wird; sie lässt an die Schwierigkeit des Versuchs denken, überdeterminierte »Rasse«- und Genderdifferenzen zu überwinden. Simeons und Marias Beziehung ist aufgrund der Spannungen, die sich aus Simeons Einsatz für die Algerier und Algerierinnen ergeben, eindeutig zum Scheitern verurteilt, und Maria verschwindet nach und nach aus der Handlung, während sie ihrem entschieden unpolitischen Traum nachgeht, ein Filmstar zu werden. Obwohl sie den Bezug zu den zentralen Fragen des Romans verliert, enthält der Text weiter eine gewisse Sympathie für sie. Gilroy schreibt: »Simeon akzeptiert ihre Leidensgeschichte als eine, die mit der Unterdrückungstradition, die seine Flucht [aus den USA] veranlasst hat, kompatibel, aber nicht äquivalent ist« (S. 318). Dennoch verbleibt Maria als ein verstörendes Emblem vergeschlechtlichter und rassifizierter Differenz, und der Roman ordnet ihre Geschichte unter denen anderer unterdrückter Gruppen (insbesondere denen der Afroamerikaner und Algerier) ein. Dass Maria schlecht in die im Roman erzählte Entwicklung länderübergreifender Solidarität passt, wird besonders deutlich, als sie – unmittelbar nachdem sie und Simeon Trennungsbriefe ausgetauscht haben –, im Text durch zwei algerische Frauen ersetzt wird, die Simeon in Ben Youssefs Wohnung kennenlernt (S. 190 f.). Djamilas und Latifas Leidensgeschichte ist bedingt mit Marias vergleichbar: Maria hat unter den Deutschen gelitten, Djamila und Latifa sind von den Franzosen gefoltert und vergewaltigt worden.41 Ihr Auftreten im Roman erlaubt es Smith, lebensnahe Zeugen41 Smith hat den Namen Djamila nicht willkürlich gewählt. Zwei der berüchtigtsten Folterfälle der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre betrafen Frauen mit diesem Vornamen: Djamila Boujhered und Djamila Boupacha. Zu Boupacha siehe das vorige Kapitel sowie Ranjana Khannas faszinierende Auseinandersetzung mit Sprache, Recht und transnationalem Feminismus im Fall Boupacha, in dem sich Simone de Beauvoir und die Juristin Gisèle Halimi engagierten. Ganz im Sinne des in diesem Buch verfolgten Anliegens ist Khanna aufmerksam für die Art und Weise, in der »Gespenster des Zweiten Weltkriegs« im Fall Algeriens Teil der

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aussagen wiederzugeben, wie sie in der letzten Phase des Algerienkriegs klandestin zirkulierten – und die sicherlich mehr als ausgereicht hätten, sein Buch in Frankreich auf den Index zu setzen. Doch Djamila und Latifa scheint noch eine andere Funktion zuzukommen. Der Roman kontrastiert sie insofern mit Maria, als sich das Leiden der Algerierinnen aus einem Kontext des Kampfes  – ihres Widerstandes aufseiten des FLN – ergeben hat. Wie Simeon beobachtet, zählen die beiden trotz ihrer Bescheidenheit »zu den emanzipiertesten aller muslimischen Frauen. Sie hatten sich aktiv an einem Krieg beteiligt. Sie würden nie wieder den Schleier tragen« (S. 193). Während die algerischen Frauen auf ihre Unterdrückung reagieren, indem sie den Schleier und gesellschaftliche Gender-Konventionen ablegen, strebt Maria (bildlich gesprochen) danach, einen Schleier anzulegen, indem sie Schauspielerin wird und solche Konventionen begrüßt: »Ruhm, Wohlstand, ihr Name in Leuchtbuchstaben – ja, doch am wichtigsten war, dass sie damit jemand anderes werden würde: jene Person, jene Legende auf der Leinwand. Schauspielen wäre eine Metamorphose, es würde die Vergangenheit auslöschen, Erinnerungen vernichten. Es würde kein kleines Mädchen namens Maria mehr geben, dessen Körper von einem Monster in einem Konzentrationslager geschändet wurde, keine Maria, die ihre Augen abwandte, als ihre Eltern in einen furchtbaren Tod gingen. Es würde nur diese Person geben, die über die Leinwand ging, die dort lebte, liebte und hasste.« (S. 184)

Der Gegensatz, den der Roman zwischen den algerischen Frauen und Maria implizit aufmacht, lässt an traditionelle vergeschlechtlichte Gegensatzpaare wie Aktivität/Passivität, öffentlich/privat, Authentizität/Maskerade denken. Marias Version des Vergessens wird zwar vom Desinteresse selbstzufriedener Franzosen und Französinnen abgegrenzt, die in Cafés sitzen, während Algerier und Algerierinnen auf der Straße massakriert werden, und als Überlebenstechnik angesichts eines Traumas kontexualisiert, jedoch mit dem Effekt, die Roman-Darstellung des nationalsozialistischen Genozids zu entpolitisieren. Die Gräuel der nationalsozialistischen Lager werden mit der Gewalt des amerikanischen Rassismus und des französischen Kolonialismus analogisiert (auch wenn es nie zu einer Gleichsetzung kommt), aber der Roman entfernt den Holocaust aus der Gegenwart politischen Handelns, er existiert nur in der Vergangenheit oder als quälende Erinnerung, von der es sich frei zu machen gilt, wohingegen die rassistische und kolonialistische Gewalt gegenwärtiges Handeln verlangen. Die diskursive Auslöschung Marias ist ein Aspekt der Auflösung der Romanhandlung, dem die Kritik bislang keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Am Ende Suche nach Gerechtigkeit werden. Siehe Ranjana Khanna, The Experience of Evidence: Language, the Law, and the Mockery of Justice, in: Anne-Emmanuelle Berger (Hrsg.), Algeria in Others’ Languages, Ithaca 2002, S. 107–138, hier S. 129. Siehe auch das Buch, in das Khanna diesen Essay aufgenommen hat: Khanna, Algeria Cuts.

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beschließt Simeon, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren; diese Entscheidung geht mit seiner Erkenntnis einher, dass »die Algerier Amerikas dort drüben waren und einen Kampf führten, der härter war als der irgendeiner Guerilla in irgendwelchen verbrannten Bergen. Sie kämpften gegen das steinerne Gesicht« (S. 210). Dass Afroamerikaner als die »Algerier Amerikas« aufgefasst werden, ist Ausdruck einer im Roman nachgezeichneten politischen Umkehr. In einem früheren Passus hat Simeon gerade die Goutte d’Or besucht, ein algerisches Viertel in Paris, das er mit Harlem vergleicht (S. 88). Er sagt zu Babe: »Sieht mir so aus, als seien die Algerier die Nigger Frankreichs« (S. 105). Simeon hat also zunächst die gesellschaftlichen Bedingungen und die Geschichte Frankreichs in eine amerikanische Begrifflichkeit übertragen, und nun wird seine politische Reife durch eine Rückübersetzung angezeigt, also die Anwendung amerikanischen Vokabulars auf den französisch-algerischen Krieg. Was geschieht jedoch im Zuge dieser Rückübersetzung mit der dritten Kategorie von Begriffen, die Simeons Aufenthalt in Paris ebenfalls geprägt haben  – Gender, Judentum, Holocaust? Hier zeichnet sich eine Ergänzung von Gilroys These über The Stone Face ab. Gilroy zufolge zeigt Simeons Abwendung von Frankreich und der Algerienkrise die Abwendung des Romans von der kosmopolitischen Vorstellungswelt, die ihn ansonsten belebt. Ergänzend würde ich argumentieren, dass auch die Abwendung des Romans von Maria und dem von ihr symbolisierten Erbe wichtig ist. Dass Maria aus dem Roman verschwindet, markiert nicht nur die Marginalisierung des nationalsozialistischen Genozids, der zuvor das Verhältnis von algerischer und afroamerikanischer Geschichte vermittelt hat; wichtiger ist, dass ihr Verschwinden auch einen vereinfachten, vergeschlechtlichten Gegensatz zwischen authentischem gegenwärtigen Handeln und einem nicht authentischen Verhältnis zur Vergangenheit begünstigt. Es ist wichtig, Marias Wunsch, das Trauma der Konzentrationslager zu vergessen  – einen Wunsch, der sich durch ihre weiblich codierte Sehnsucht auszeichnet, in der Maskerade ihrer Bühnenfigur zu verschwinden –, vom Wunsch des Textes zu unterscheiden, Maria zu vergessen. Dadurch, dass Maria narrativ durch die algerischen Frauen ersetzt wird, die sich mit dem Ablegen des Schleiers »aktiv« an ihrer »Emanzipation« beteiligt haben, werden vergeschlechtlichte Gegensätze durch einen weiteren Gegensatz ergänzt: den zwischen unpolitischer Vergangenheit einerseits, politischer Gegenwart und Zukunft andererseits. Eine solche Polarisierung wiederholt sich bei vielen fortschrittlichen Kritikern und Kritikerinnen der Gegenwart, die eine Entpolitisierung der Erinnerung im Allgemeinen und speziell des Holocaustgedenkens anprangern.42 Hier wird aber die ausschlaggebende politische Rolle vernebelt, die Erinnerung im gesamten Roman gespielt hat (von ihrer Bedeutung für das im Roman dokumentierte antikoloniale Milieu ganz zu schweigen): Rückblenden 42 Siehe beispielsweise die Bemerkungen von Alain Badiou zum nationalsozialistischen Genozid in: ders., Ethik, sowie von Slavoj Žižek in: ders., Totalitarismus: fünf Interventionen zum Geoder Missbrauch eines Begriffs. Aus dem Englischen von Oliver Hörl, Hamburg 2012.

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haben die Kontextualisierung von Simeons Beobachtungen über den Rassismus im Paris der Gegenwart anhand seiner Rassismuserfahrungen als junger Erwachsener in den Vereinigten Staaten ermöglicht, und es ist das historische Gedächtnis, das es Simeon erlaubt, die französischen Reaktionen auf den Algerienkrieg am Vorabend des 17. Oktober mit früheren Reaktionen auf die nationalsozialistische Besatzung zu vergleichen. Warum aber ist es wichtig, die Erinnerung aufrechtzuerhalten, und was geht verloren, wenn ihre Bedeutung vergessen wird? In einer Auseinandersetzung mit den sehr unterschiedlichen und konfliktreichen Hinterlassenschaften des Kommunismus im Europa des 20. Jahrhunderts hat Fredric Jameson einen anregenden Ausgangspunkt für eine Antwort auf diese Frage vorgeschlagen: »Die Erinnerung an diese immense historische Erfahrung duldet keine Umfahrungen, auch wenn es kein beruhigendes Verfahren geben kann, diese Erfahrung ›aufzuarbeiten‹. […] Es gibt kein richtiges Verfahren, sich der Vergangenheit zu stellen  – Vergessen ist nicht heilsamer als durch ein bleibendes Trauma gebannt zu sein. Aber Geschichte besteht nicht aus wechselnden Moden, die man nach Wunsch aufgreifen oder ablegen kann.«43 Ganz ähnlich die Geschichten, um die es in The Stone Face und allgemein im Frankreich der 1960er-Jahre geht: Selbst inmitten eines »heißen« Dekolonisierungskriegs kann die jüngere und doch vergleichsweise ferne Geschichte des nationalsozialistischen Genozids nicht einfach umgangen werden. Das offensichtliche Unbehagen des Romans Maria gegenüber führt dazu, dass sie ein wenig zu schnell aus der Erzählung verschwindet. Zwar gibt es, wie Jameson treffend bemerkt, kein richtiges Verfahren, sich der Vergangenheit zu stellen  – und es sollte von einem Roman nicht verlangt werden, ein solches zu finden –, doch The Stone Face kann als Allegorie dafür dienen, dass der Versuch, die Vergangenheit abzustreifen, unweigerlich politische Aufgaben unerledigt lässt und die Wiederkehr des Unverarbeiteten möglich macht. Im Rückblick klüger geworden, können wir erkennen, dass der Roman durch die Umgehung der von der Figur Marias aufgeworfenen Fragen auf ein weiteres uneingestandenes Problem der Komplizenschaft verweist, obwohl er solche Probleme ansonsten mit viel Einblick untersucht. Die journalistischen und fiktionalen Texte zum 17. Oktober analogisieren zwar oft Algerien und Auschwitz, doch fehlt überdeutlich die Auseinandersetzung mit der Mitschuld Frankreichs am nationalsozialistischen Genozid. So, wie sie damals formuliert wurde, hatte die Analogie die Form eines kolonialen Vergleichs: Die Nationalsozialisten haben sich zu den Franzosen und den Juden und Jüdinnen so verhalten, wie die Franzosen sich heute zu den Algeriern und Algerierinnen verhalten. Diese Analogie verschleiert, dass sich tatsächlich auch einige Franzosen zu den (französischen und ausländischen) Juden verhalten haben wie die Franzosen zu den Untertanen des Kolonialreichs. Heute scheint das offenkundig, doch damals war es das nicht. Nicht nur war die Rolle Papons im Zweiten 43 Fredric Jameson, Foreword: A Monument to Radical Instants, in: Peter Weiss, The Aesthetics of Resistance, Bd. 1, Durham 2005, S. vii–xlix, hier S. viii.

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Weltkrieg unbekannt; die französische Gesellschaft verleugnete im Allgemeinen die Kollaboration und die Rolle des Vichy-Regimes – was erst dank der geballten Wirkung von Robert Paxtons Geschichtsbuch Vichy France und Marcel Ophuls’ Dokumentarfilm Das Haus nebenan in den frühen 1970er-Jahren aufgebrochen werden sollte. Ich behaupte nicht, dass es die Verantwortung von Smith’ Roman gewesen wäre, dieses historische Schweigen Frankreichs anzusprechen, wohl aber, dass wir daran, wie The Stone Face Maria und den nationalsozialistischen Genozid behandelt, einige Vermeidungsmechanismen erkennen können, die den stets unvollständigen, aber ebenso stets notwendigen Prozess der Vergangenheitsbewältigung aus der Bahn werfen können. Trotz seiner einzigartigen und eindrucksvollen Bemühungen, multiple Vergangenheiten zusammenzuführen – trotz seiner aktiven Entwicklung eines Modells multidirektionaler Erinnerung, das Afroamerikaner, europäische Jüdinnen, algerische Muslime und Muslima verbindet – fällt der Roman zurück in eine vergeschlechtlichte Vorstellung von Erinnerung, die den politischen Wert seiner Erinnerungsarbeit beeinträchtigt: Er riskiert, die Erinnerung an die Vergangenheit zu feminisieren und gleichzeitig politisches Handeln mit maskulinistischer Überwindung von Unterdrückung zu assoziieren.

Multidirektionale Erinnerung

und die Universalisierung des Holocaust Wie der politische Journalismus von Duras und Kréa scheint auch Smith’ Roman zunächst ein universalistisches antirassistisches Narrativ zu formulieren, das auf der Analogisierung unterschiedlicher historischer Erfahrungen rassistischer und kolonialer Gewalt beruht. Von einem im Exil lebenden Autor verfasst, den seine Aufmerksamkeit für multiple nationale und transnationale Geschichten auszeichnet, könnte The Stone Face auch wie eine perfekte Veranschaulichung der Globalisierung der Erinnerung wirken – und für die Tendenz des Holocaustgedenkens stehen, weit jenseits ihres ursprünglichen Kontextes zu zirkulieren und den Charakter einer universellen moralischen »Währung« anzunehmen. Doch indem sie zwei oder sogar drei Ghettos zusammenführen, erzeugen Duras, Kréa und Smith asymmetrische Konstellationen, die eher multidirektional als universalistisch sind. Beim Übergang vom Universalismus zur Multidirektionalität geht es nicht nur um Begrifflichkeiten, er hat ernste Konsequenzen sowohl für die Ethik als auch für die Politik der Erinnerung. Soziologen und Soziologinnen haben am überzeugendsten argumentiert, dass es einen Zusammenhang zwischen der Globalisierung des Holocaust und seiner Universalisierung gibt. Der bekannte Kultursoziologe Jeffrey Alexander vertritt die These, der nationalsozialistische Genozid an den europäischen Juden und Jüdinnen sei irgendwann um 1961 herum – also zu dem Zeitpunkt, auf den wir uns hier konzentrieren  – nicht mehr als schreckliche, in Kriegszeiten begangene Gräueltat mit begrenzten Implikationen gesehen worden, sondern habe vielmehr den Status eines

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Ereignisses erhalten, das sich wie kein anderes eigne, das historisch Böse zu beleuchten, wo auch immer es sich zeigt.44 So würde Alexander die von mir hier betonten Reaktionen auf den 17. Oktober aller Wahrscheinlichkeit nach als frühe Instanzen dessen ansehen, was er moralische Universalität nennt, also als Belege dafür, dass der Holocaust ein Musterbeispiel für Grausamkeit ist, das unser Verständnis der Gegenwart voranbringen und ethisches und politisches Handeln fördern kann.45 Ein ebenso ehrgeiziger Versuch, einen Rahmen zu schaffen, in dem über die moralische Universalität des Holocaust nachgedacht werden kann, findet sich in Daniel Levys und Natan Sznaiders Schriften über »kosmopolitisches« Holocaustgedenken.46 Levy und Sznaider zufolge haben die Kräfte der Globalisierung die Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid über den nationalstaatlichen Rahmen, der bis vor Kurzem noch der wichtigste Bezugspunkt für kollektive Erinnerung gewesen sei, hinaus erweitert. Wie Alexander, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf ein internationales Archiv, vertreten Levy und Sznaider die These, die Entwicklung des Holocaustgedenkens in Deutschland, Israel und den Vereinigten Staaten sei mit einer Dialektik von Partikularität und Universalismus einhergegangen, und dieses Gedenken habe in der Epoche seit dem Kalten Krieg als Vehikel der Forderungen nach Menschenrechten und Entschädigung globale Tragweite erhalten. In einem Zeitalter der Globalisierung »transzendiere« ein abstrakter und dekontextualisierter Holocaust »ethnische und nationale Grenzen« und werde, zumindest in Europa, »in absolut universellen Begriffen betrachtet: Er kann allen jederzeit widerfahren, und alle sind verantwortlich« (Memory Unbound, S. 88, 101). Im »abstrakten Charakter von ›Gut und Böse‹, der den Holocaust symbolisiert«, erkennen Levy und Sznaider »einen moralischen Prüfstein in einer Zeit der Ungewissheit«, was »zur extraterritorialen Qualität kosmopolitischen Gedenkens« ebenso beitrage wie zur Herstellung »transnationaler Solidarität« (ebenda, S. 102, 93). Alexander und Levy/Sznaider bemühen sich zwar, den Status des Holocaustgedenkens seit den frühen 1960er-Jahren nachzuzeichnen, doch haben ihre Darstellungen einen stark normativen Einschlag: Sie begreifen die Globalisierung und Universalisierung des nationalsozialistischen Genozids als eine fortschrittliche Entwicklung, die Solidarität und Menschenrechte befördere.47 44 Siehe Jeffrey Alexander, On the Social Construction of Moral Universals: The »Holocaust« from War Crime to Trauma Drama, in: ders., The Meanings of Social Life: A Cultural Sociology, New York 2003, S. 27–84. 45 Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Alexanders Werk bietet mein Kommentar: Michael Rothberg, Multidirectional Memory and the Universalization of the Holocaust, in: Jeffrey C. Alexander with Commentaries by Martin Jay u. a., Remembering the Holocaust: A Debate, New York 2009, S. 123–134. 46 Meine Bemerkungen zum Werk von Levy und Sznaider beruhen auf: dies., Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2007 (zuerst 2001; engl. Übers.: Holocaust and Memory in the Global Age, Philadelphia 2006), sowie einem Aufsatz, der ihre These auf Englisch skizziert: dies., Memory Unbound. 47 Die Frage nach dem »progressiven« Charakter der Darstellung ist bei Alexander komplizierter als bei Levy/Sznaider, denn Alexander spricht erst dann von einer Universalisierung des

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Die Reaktion auf die Ereignisse des 17. Oktober war eine Gelegenheit, sich mit jener Reihe ineinander verschränkter Begriffe zu beschäftigen, die Alexander wie auch Levy/Sznaider in ihren Schriften über das Holocaustgedenken nutzen. Ich habe mich bemüht, die allzu wohlfeile Zusammenfassung des Transnationalen, des Globalen und des Komparativen zu etwas Universellem rückgängig zu machen. Im Gegensatz zu jenen, die die Universalisierung des Holocaust preisen, oder auch kritisieren, habe ich die These vertreten, dass die transnationale Zirkulation des Holocaust als Aspekt der Multidirektionalität der Erinnerung verstanden werden sollte. Zwar finden sich sowohl bei Alexander als auch bei Levy/Sznaider Einsichten in die globalen Dynamiken und moralischen Ansprüche kollektiven Holocaustgedenkens, doch weicht die Perspektive, die ich hier im Zeichen multidirektionaler Erinnerung entwickelt habe, von der dieser Autoren ab.48 Zwar heben die drei Kritiker Universalität, Globalisierung und Kosmopolitismus hervor, doch sie erzählen die Geschichte des Holocaustgedenkens ausschließlich in Hinblick auf vermeintlich autonome Veränderungen in der Bedeutung des Holocaust. Damit verdecken sie die aktive Rolle, die andere Geschichten und Erinnerungen bei solchen Veränderungen gespielt haben. Ihre »universalistischen« Argumente sind entschieden lokal und zuweilen sogar provinziell. Indem sie über die dialogischen Interaktionen des Holocaustgedenkens mit den Erbschaften des Kolonialismus, der Dekolonisierung, der Rassifizierung und der Sklaverei hinweggehen, vereinfachen sie die Geschichte des Holocaustgedenkens nicht nur unzulässig, sie erzeugen letztlich auch eine Vorstellung von Moralität, die zu singulär und zu abstrakt universell bleibt. Ein heterogeneres Verständnis moralischen Handelns, das die Bedeutung von Vergleichen und Verallgemeinerungen akzeptiert, sich aber zugleich einer allzu einfachen Universalisierung verweigert, mag zwar zu keinem globalen Moralkodex führen, könnte aber den Weg ebnen für neue transnationale Gerechtigkeits- und Solidaritätskonzepte, die Holocaust, wenn ein bestimmtes nationalistisch-progressives Narrativ aufgegeben worden ist. Alexanders Darstellung bleibt, wie ich in »Multidirectional Memory and the Universalization of the Holocaust« dargelegt habe, insofern fortschrittlich, als das traumatische Narrativ Alexander zufolge dieselbe Art von Menschenrechten befördert, die auch Levy und Sznaider im Sinn haben. 48 Siehe auch Aleida Assmanns Bemerkungen zu Europa als »Erinnerungsgemeinschaft«. Assmann schreibt in Antwort auf Levy und Sznaider: »Der Holocaust ist nicht zu einer einzigen universellen und gemeinsamen Erinnerung geworden, aber er ist zum Paradigma oder zur Vorlage geworden, durch die andere Völkermorde und historische Traumata sehr häufig wahrgenommen und dargestellt werden. Der Holocaust hat damit andere traumatische Erinnerungen rund um den Globus nicht ersetzt, sondern eine Sprache für deren Artikulation geschaffen.« Ich stimme dieser Einschätzung zwar zu, glaube aber, dass Assmann die andere Seite der Dialektik übergeht: das Ausmaß, in dem die Entstehung des Holocaust als eine solche Vorlage im Rahmen eines Dialogs mit anderen Geschichten stattgefunden hat. Die Erinnerung an Kolonialismus und Sklaverei ist erstaunlich abwesend in den Überlegungen zum europäischen Gedächtnis, die Assmann in diesem Vortrag anstellt. Siehe Aleida Assmann, Europe: A Community of Memory?, in: German Historical Institute Bulletin 40 (2007), S. 11–25, hier S. 14.

MULTIDIREKTIONALE ERINNERUNG UND DIE UNIVERSALISIERUNG

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nicht den leicht manipulierbaren abstrakten Code »Gut und Böse« reproduzieren. Wie in der Zeit seit dem 11. September 2001 besonders deutlich geworden ist, bietet genau dieser Code den falschen Rahmen für ein Nachdenken über die Erbschaften politischer Gewalt. Eine Moralität »jenseits von Gut und Böse« könnte unter diesen Umständen die Risiken abstrakter Kategorisierungen und singulärer moralischer Vorlagen sehen. Ein multidirektionales Bewusstsein der bereichsübergreifenden Echos der Geschichte kann zur Entwicklung einer Vision beitragen, die die Ausweglosigkeit der Verantwortung zur Kenntnis nimmt: die schwierige Aufgabe, Mittäterschaft zu vermeiden, sich aber zugleich an die generelle Komplizenschaft des Mensch-Seins zu erinnern. Texte aus der Zeit des Massakers vom 17. Oktober 1961 tragen zu unserem Verständnis der Wirkungsweise von kollektiver Erinnerung und Komplizenschaft in kulturell komplexen Kontexten bei. Sie können helfen nachzuvollziehen, dass die Entstehung des Holocaustgedenkens in Frankreich Teil eines mehrteiligen Vorgangs war, bei dem ein Gespür für die Besonderheit jüdischen Leidens unter den Nationalsozialisten erst später um eine moralisch komplexere Wahrnehmung des Kontextes erweitert wurde, in dem sich der Holocaust in Frankreich ereignet hat. Am antikolonialen Journalismus der Epoche und an Smith’ Roman können wir außerdem ablesen, wie diese Geschichte des Holocaustgedenkens in die Geschichte der Dekolonisierung eingebettet ist, die Frankreich in jenen Jahren erschütterte. Als sich der Algerienkrieg auf sein Ende zubewegte, kamen zur Wiederkehr von Praktiken wie Folter noch allzu vertraute rassistische Identifizierungsprozesse hinzu; beides trug zu einem zunehmenden Verständnis jüdischen Leidens im Zweiten Weltkrieg bei. Diese aufkommende Erinnerung diente wiederum als politische Ressource: Sie bot ein Vokabular für verletzte Menschenrechte, auf das antikoloniale Aktivisten und Aktivistinnen zurückgreifen konnten, um eine Opposition gegen den spätkolonialen Staat zu mobilisieren. Diese Verschränkung von Geschichten und Erinnerungen leitet zu einer weiteren Spekulation über: Was, wenn die blutigen Pariser Ereignisse des 17. Oktober, die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen so deutlich an die Vel’ d’Hiv’-Razzia erinnerten, auch die Saat für ein verspätetes Bewusstseins französischer Mitschuld an den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs säten? Auf der historiografischen Ebene muss diese These spekulativ bleiben. Doch können wir rückblickend erkennen, dass der 17. Oktober ein Anlass für solche Reflexionen der Komplizenschaft werden sollte. In Texten, die das Massaker von 1961 aus größerem historischen Abstand betrachten, etwa Didier Daeninckx’ Kriminalroman Meurtres pour mémoire (dt. Bei Erinnerung Mord), Leïla Sebbars Jugendroman La Seine était rouge (dt. Die Seine war rot) und Michael Hanekes Spielfilm Caché, wird durch die retrospektive Sicht auf den 17. Oktober die in The Stone Face behandelte Problematik der Komplizenschaft weiterentwickelt. Deren herausragende Bedeutung war aufgrund der seit den frühen 1980er-Jahren erfolgten Enthüllungen über Papons Karriere noch offenkundiger geworden. Erkennt man die Relevanz des Themas Komplizenschaft in diesen Werken, dann wird auch deutlich,

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8. EINE GESCHICHTE DREIER GHETTOS

dass eine für Fragen intergenerationeller Übertragung sensible Ethik des Gedenkens eine notwendige Ergänzung jener Gedenkpolitik darstellt, die in unmittelbaren Kämpfen um Dekolonisierung entsteht. Achtet man sowohl auf die ethischen als auch auf die politischen Aspekte der Erinnerung, schafft das ein Bewusstsein für die »Gegenwart« eines jeden Kontextes – so, wie er durch multidirektionale Ströme der Geschichte und Schichten ungleichmäßig aufgearbeiteter historischer Zeiten bestimmt wird.

9. Versteckte Kinder: Die Ethik multigenerationeller Erinnerung nach 1961

Die multidirektionalen Solidaritäten, die sich als autonome Geschichts- und Diskursbereiche in Texten und Bewegungen um 1961 finden, sollten aufgrund der Institutionalisierung des Holocaust und des Kolonialismus bald unsichtbar werden. Doch in jüngeren Jahren haben solche Solidaritäten ein Comeback erlebt, was zu einem nicht geringen Teil auf die »Wiederkehr« des 17. Oktober im öffentlichen Diskurs zurückgeht, die seit der Aufdeckung von Maurice Papons Vergangenheit als Kollaborateur im Jahr 1981 und seit dem 1997/98 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen ihn geführten Prozess zu verzeichnen gewesen ist. Das jüngere Interesse am Oktober-Massaker ist Teil eines zunehmend umfassenderen Interesses an der Epoche des Algerienkriegs in Frankreich und anderswo, was zur bereits längeren Faszination von der Vichy-Zeit und der nationalsozialistischen Besatzung hinzukam. Dieses erneuerte Interesse ist in einer Zeit besonders beunruhigender historischer Verdichtung entstanden, während der multiple Vergangenheiten in flüchtigen öffentlichen Formen kursieren. Doch haben sich die besonderen Konfigurationen und Wertigkeiten solcher Überschneidungen seit den frühen 1960er-Jahren verändert. Der Kolonialismus steht zwar weiterhin im Mittelpunkt vieler zeitgenössischer Konflikte, doch ist der »heiße« algerische Revolutionskrieg qualitativ anderen Kämpfen um Pädagogik, Erinnerung und Geschichtsschreibung gewichen. Ein Ereignis im Feld von Recht und Politik fand besondere Resonanz: Anfang 2005 haben französische Parlamentarier und Parlamentarierinnen ein umstrittenes Gesetz verabschiedet, wonach »Lehrpläne die positive Rolle der französischen Anwesenheit im Ausland, insbesondere in Nordafrika, anerkennen« sollen (Gesetz vom 23. Februar 2005). Präsident Chirac verlangte zwar ein Jahr später die Aufhebung des Gesetzes, denn »wenn der Text die Franzosen spaltet, muss er umgeschrieben werden«, doch bereits die Möglichkeit eines solchen Gesetzes hat verschiedene Gegendiskurse angestoßen. Chiracs Rückzieher reagierte auf Proteste von Intellektuellen gegen die im Gesetz erkennbare Beschönigung des Kolonialismus und, unmittelbarer und genauso wichtig, auf soziale Unruhen von Jugendlichen aus migrantischen und Minderheitengruppen in den Vororten größerer Städte. Die im Herbst 2005 von den Rändern ausgehenden Proteste stießen international auf Aufmerksamkeit; viele Beobachter wunderten sich über die Tiefe der Krise Frankreichs und seine Unfähigkeit, sich den Erbschaften des Kolonialismus und der Dekolonisierung zu stellen. In der Zwischenzeit, zwischen den Riots und der faktischen Aufhebung des Gesetzes, verfasste eine Gruppe prominenter Historiker und Historikerinnen, darunter Pierre Vidal-Naquet und Pierre Nora, der Initiator des Projekts Lieux de mémoire, die Petition Liberté pour l’histoire (Freiheit für die Geschichte). Besorgt über staatliche Eingriffe in den Zuständigkeits-

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9. VERSTECKTE KINDER

bereich professioneller Historiker und Historikerinnen, aber auch über die häufiger werdenden Forderungen zivilgesellschaftlicher Gruppen, die Geschichtsschreibung zu revidieren, um den sich wandelnden gesellschaftspolitischen Umständen gerecht zu werden, erklärten die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen: »Die Geschichte ist keine Religion. […] Die Geschichte ist keine Moral. […] Die Geschichte ist nicht der Sklave der Gegenwart. […] Die Geschichte ist kein Gegenstand des Gesetzes.«1 Die Petition verallgemeinert den Kampf um die Geschichte des Kolonialismus und die Erinnerung an ihn; sie fordert die Aufhebung nicht nur des Gesetzes vom 23. Februar 2005 zur Darstellung des Kolonialismus im Unterricht, sondern darüber hinaus einer Reihe weiterer Gesetze zu traumatischen Geschichten, die »eines demokratischen Regimes unwürdig sind«: des Gayssot-Gesetzes über Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 13. Juli 1990, das die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt, des Gesetzes vom 29. Januar 2001, das den Genozid an den Armeniern und Armenierinnen anerkennt, und des Taubira-Gesetzes vom 21. Mai 2001, das Sklaverei und Sklavenhandel zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt.2 Andere Historiker und Historikerinnen vertreten die Position, dass zwischen dem Gesetz des 23. Februar 2005 und zumindest einigen anderen Gesetzen (insbesondere dem Gayssot-Gesetz zur Holocaust-Leugnung) differenziert werden sollte. Doch die Liberté-pour-l’histoire-Historiker drücken eine immer stärker ausgeprägte Ungeduld gegenüber der in Frankreich so genannten devoir de mémoire (»die Pflicht, sich zu erinnern«) aus und äußern den Eindruck, die Vergangenheit sei Gegenstand politischer und moralistischer Manipulation geworden. So hat beispielsweise Henry Rousso, Autor des Standardwerks über die Erinnerung an Vichy, ein von ihm so empfundenes mittlerweile unverhältnismäßig judäozentrisches Verständnis der Vichy-Jahre verurteilt, als eine »Vergangenheit, die nicht vergeht« – so der Titel des Buches, das er mit Eric Conan verfasst hat. Rousso hat auch leidenschaftlich über Probleme geschrieben, die sich ergeben, wenn Historiker und Historikerinnen als Sachverständige vor Gericht auftreten – eine Situation, von der er glaubt, dass seine Kollegen und Kolleginnen aufgrund der sehr unterschiedlichen Verfahren und Wahrheitskriterien nur in ein schwieriges, sogar unhaltbares Verhältnis zu ihrem Fach geraten können.3 In einem Interview für Le Monde vom Februar 2006 legt Pierre Nora rhetorisch nach.4 Nora greift Roussos Anliegen auf und beklagt die aktuelle Bedeutung der 1 2 3

4

Die Petition erschien zunächst in: Libération, 13. Dezember 2005, https://www.liberation.fr/ societe/2005/12/13/liberte-pour-l-histoire_541669 [28. 12. 2020]. Das Chirac-Zitat sowie grundlegende Informationen zu den verschiedenen hier erwähnten Gesetzen finden sich in der Sonderausgabe Colonies: Un débat français von: Le Monde 2 (Mai/ Juni 2006), S. 3. Rousso geht in seiner sehr relevanten Reihe von Interviews mit Philippe Petit nuanciert auf viele dieser Themen ein. Siehe Henry Rousso, The Haunting Past: History, Memory and Justice in Contemporary France, Philadelphia 2002. Siehe auch Eric Conan/Henry Rousso, Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1994. Buob/Frachon, »La France est malade de sa mémoire«.

DIE ETHIK MULTIGENERATIONELLER ERINNERUNG NACH 1961

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Erinnerung im öffentlichen Diskurs Frankreichs: »Wir sind von einer bescheidenen Erinnerung, die nur verlangte, eingelassen und anerkannt zu werden, übergegangen zu einer, die bereit ist, sich mit allen Mitteln durchzusetzen. Ich habe an anderer Stelle eine ›Tyrannei der Erinnerung‹ beschworen; es wäre notwendig, heute von ihrem Terrorismus zu sprechen. Es geht so weit, dass wir weniger für das Leid sensibel sind, das die Erinnerung ausdrückt, als für die Gewalt, mit der sie sich Gehör verschaffen will« (S. 9; Hervorhebung M. R.). Nora verteidigt die »Grundprinzipien« der Geschichtsschreibung gegen eine aggressive und »pathologische« Erinnerung und befürchtet, die zeitgenössische Gesellschaft sei »von einer Neuschreibung der Geschichte aus Sicht der Opfer bedroht« (S. 9). Problematisch an Erinnerung ist für Nora, wie für die anderen Liberté-pour-l’histoire-Historiker, dass sie die »nicht manichäische Geschichte« moralisiere und soziale Spaltungen begünstige: »Das wirkliche Problem ist weniger die Konkurrenz oder Solidarität der Opfer als vielmehr die konflikthafte Inkompatibilität von Erinnerungen. Angesichts dieses ernsthaften und schwierigen Problems sehe ich keine andere mögliche Antwort als die einer Autorität der Versöhnung (une autorité de conciliation). Diese kann zwei Gestalten annehmen, natürlich ohne Zwang, allerdings setzen beide voraus, dass sich Historiker und Politiker ›zusammenreißen‹. Die politische Rede ist unverzichtbar, vorausgesetzt, dass sie mutig und frei von Demagogie ist. […] Versöhnung durch Geschichte dauert länger. Sie ist es aber, die letztlich benötigt wird, denn die Erinnerung spaltet, allein die Geschichte kann Einheit stiften. Historiker sind zwischen gesellschaftlichem Druck und intellektueller Expertise am besten positioniert, alles – und für alle – zu sagen, was die Vergangenheit zulässt, und auch, was sie nicht gestattet.« (S. 9)

Nora und seine Kollegen und Kolleginnen äußern zwar wichtige Bedenken hinsichtlich des Gebrauchs, den die Öffentlichkeit von der Vergangenheit macht, doch das Interview mit ihm zeigt auch, dass das, was in den aktuellen Debatten auf dem Spiel steht, über das akademische Fach hinausgeht und das Verhältnis von Identität, Gedächtnis und Staat betrifft. Vor dem Hintergrund der jüngeren sozialen Unruhen von Jugendlichen aus migrantischen und Minderheiten-Communities knüpft Nora eine Assoziationskette, die Erinnerung mit vermeintlicher Pathologie, Irrationalität und Gewalt der Opfer der Geschichte verbindet. Seine Aussagen räumen implizit auch eine Krise staatlicher Anerkennungs- und Versöhnungsmechanismen ein; und gegen die Schwäche des Staates und die Entzweiung der Unterdrückten empfiehlt Nora gebieterische Heilkräfte von Historikern und Historikerinnen. Nora richtet seine Kritik zwar nicht an die Adresse der Erinnerung an den 17. Oktober 1961, doch vieles an ihr scheint der Art von Erinnerung zu entsprechen, die ihm Unbehagen bereitet. Durch Bewegungen der »Opfer« und ihrer Nachfahren von unten befördert und angeregt durch die Vorstellungskraft von Romanautorinnen und Filmregisseuren, hat sich die Erinnerung an den Oktober 1961 binnen

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9. VERSTECKTE KINDER

fünfundzwanzig Jahren in der französischen Öffentlichkeit aggressiv Geltung verschafft. Das Argument, das ich hier entwickle, stützt einen der Aspekte der Libertépour-l’histoire-Position: die Vorstellung, dass es nicht Aufgabe des Staates sein kann, Geschichte zu schreiben, und dass Geschichte kein Gegenstand der Rechtsprechung sein sollte. Ich breche allerdings mit der Stoßrichtung und den von Nora im Interview mit Le Monde vorgetragenen Ideen zur Frage der Erinnerung. Im Gegensatz zu den französischen Historikern und Historikerinnen argumentiere ich, dass die Formen der Erinnerung und Gegenerinnerung, die zivilgesellschaftliche Gruppen und öffentlich zirkulierende Texte kreieren, wesentlich sind für den Widerstand gegen jene Homogenisierung und Moralisierung der Erinnerung, die sich aus staatlicher Instrumentalisierung ergeben. Wenn Nora unsere Aufmerksamkeit von dem »Leid […], das in der Erinnerung zum Ausdruck kommt«, zu der »Gewalt, mit der sie sich Gehör verschaffen will«, lenkt, greift er einen wichtigen Aspekt der jüngeren akademischen und künstlerischen Herangehensweisen an den 17. Oktober und die Shoah auf: die Betonung der Mittel und Modi der Übertragung von Erinnerung. Je häufiger eine Nachkriegsgeneration die andere ablöst, desto geringer wird die Zahl derer, die sich noch persönlich an die Zeit zwischen den 1940er- und den 1960er-Jahren erinnern. Dadurch wird die Frage der Weitergabe und Vermittlung der Erinnerung genauso wichtig wie die ihres Inhalts. Die drei Texte, mit denen ich mich in diesem Kapitel befasse, behandeln die Tradierung von Erinnerungen ebenso wie den Charakter der weitergegebenen Geschichten. Da sie der Frage der Tradierung anhand von Narrativen intergenerationeller Konflikte eine Bühne bieten, fordern uns Didier Daeninckx’ Kriminalroman Bei Erinnerung Mord (1984), Leïla Sebbars Jugendroman La Seine était rouge: Paris, octobre 1961 (Die Seine war rot: Paris, Oktober 1961, 1999) und Michael Hanekes Thriller Caché (2005) auf, das Verhältnis von multidirektionaler Erinnerung zu der von Marianne Hirsch so genannten »Postmemory« zu reflektieren. Hirschs Begriff soll das spezifische Verhältnis von Kindern zu den traumatischen Ereignissen erfassen, die deren Eltern erlebt haben – ein Verhältnis, das sich durch die hier untersuchten Texte zieht und dem weder mit der Idee einer unpersönlichen Geschichte noch mit der einer einzigartigen persönlichen Erinnerung endgültig beizukommen ist. Postmemory beruht zwar auf intimen familiären Erfahrungen, hat aber im Zeitalter der Massenmedien, die sich obsessiv mit unbewältigten Gewaltgeschichten befassen, wichtige Auswirkungen auf die kollektive Erinnerung. Hirsch vergleicht ihren neu geprägten Begriff mit anderen »post«-Begriffen wie »postkolonial«, »postsäkular« und »postmodern«: »Postmemory teilt den Schichtaufbau dieser anderen ›post‹-Begriffe, und ihren Verspätungscharakter, indem sie sich an die Praxis (oder Praxen) des Zitierens und der Vermittlung anlehnt, dabei einen bestimmten Moment der Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwende markierend, in dem man eher zurückblickt als nach vorn und in dem man die Gegenwart in Bezug auf eine unruhige Vergangenheit

DIE ETHIK MULTIGENERATIONELLER ERINNERUNG NACH 1961

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definiert, anstatt neue Paradigmen zu initiieren. Wie die anderen ›post‹-Begriffe kommt auch in Postmemory ein unruhiges Oszillieren zwischen Kontinuität und Bruch zum Ausdruck. Und doch ist Postmemory keine Bewegung, Methode oder Idee; ich sehe sie vielmehr als eine Struktur der inter- und transgenerationalen Weitergabe von traumatischem Wissen und traumatischen Erfahrungen. Sie ist eine Folge der traumatischen Erinnerung, allerdings (und anders als bei der posttraumatischen Belastungsstörung) auf generationenübergreifender Ebene.«5

Im Kontext der Holocaustforschung entwickelt, bietet sich Hirschs Begriff an – wie sie selbst sagt –, ihn auf andere Bereiche zu übertragen. Die in diesem Kapitel untersuchten Texte veranschaulichen, dass sich die Struktur von Postmemory in postkolonialen Kontexten wie der Situation nach dem Algerienkrieg besonders deutlich manifestiert, und sie ermutigen uns, noch einen Schritt weiter zu gehen. Was Hirsch nicht sagt – obgleich ihre Darstellung die Möglichkeit nicht ausschließt –, ist, dass Postmemory eine bestimmte Version von Multidirektionalität der Erinnerung sein könnte. Nicht nur, dass der vermittelte und späte Charakter der Postmemory an den vermittelten und späten Charakter aller Erinnerungen – an deren Konstruktion von Netzwerken räumlich und zeitlich differenzierter »Momente« – erinnert, diese Eigenschaften der Postmemory sind just der Punkt, an dem das multidirektionale Zusammentreffen disparater historischer Vorstellungswelten ansetzt. Die meisten Erörterungen von Vergangenheitsbewältigung neigen zu der Annahme einer Homologie kollektiver Erinnerung und nationaler oder ethnischer Identität: Es liegen zahlreiche Darstellungen und Kritiken der Art und Weise vor, wie Deutsche oder Franzosen ihre Geschichte aufgearbeitet haben. In diesem Buch habe ich betont, dass Vergangenheitsbewältigung stets in komparativen Kontexten und durch Zirkulation von Erinnerungen nur scheinbar separater Geschichten nationaler oder ethnischer Gruppen stattfindet. Die drei in diesem Kapitel untersuchten Texte rufen mitunter subtil viele Kontexte auf – darunter der algerische Unabhängigkeitskrieg, der Zweite Weltkrieg, der algerische Bürgerkrieg der 1990er-Jahre, der »Krieg gegen den Terrorismus« und die Not papierloser Migrantinnen in Europa –, doch sie lassen sich auf keinen dieser Kontexte reduzieren. In ihrem kontextual komplexen und oft enigmatischen Verhältnis liegt auch ihr Versprechen, ein Nachdenken über eine Ethik multidirektionalen Gedenkens in einem Postmemory-Zeitalter zu ermöglichen. Noras Behauptung, aktuelle Versuche, die Geschichte aus der Opferperspektive umzuschreiben, würden auf eine Art Gedenkterrorismus hinauslaufen, ist rhetorisch und erkenntnistheoretisch bedenklich. Aber anstatt Noras Herausforderung zu ignorieren, konzentriere ich mich im Folgenden auf drei Werke, die seine Sorge zu bestätigen scheinen, da sie Erinnerung bewusst als verstörend, gewaltsam und sogar terrorisierend darstellen. Die vielfältigen Strategien, durch die diese Texte die »gespenstische 5

Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory, in: Poetics Today 29 (2008), S. 103–128, hier S. 106.

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Vergangenheit« in den Vordergrund stellen, erzeugen allerdings keine Spaltung, sondern wollen vielmehr bestehende unverarbeitete Spaltungen sichtbar machen. Ihre Aufdeckung verborgener Geschichten, Traumata und gesellschaftlicher Spaltungen konstituiert die ethische Dimension multidirektionaler Erinnerung. Sie implizieren die Notwendigkeit einer Open-end-Treue, die an Alain Badious Ethik der Wahrheiten erinnert. Badiou zufolge bedeutet Ethik, auf eine bestimmte Art auf ein Ereignis zu reagieren, das den bis dahin verborgenen Widerspruch oder die »Lücke« (trouée) in einer Situation sichtbar werden lässt; ethische Treue bedeute eine »fortgesetzte Erkundung der Situation« im Lichte des Ereignisses, um ein neues Subjekt zu »induzieren«, das eine neue Wahrheit konstruieren und die gesellschaftliche Situation rekonstruieren kann.6 Badious Hinweis, das ethische Subjekt gehe aus der Untersuchung der Lücken der Gegenwart erst hervor – und kann der Untersuchung nicht vorausgesetzt werden –, erweist sich einer multidirektionalen Ethik der Erinnerung als besonders dienlich. Daeninckx, Haneke und Sebbar lege alle nahe, dass Erinnerungsarbeit von der Gegenwart ausgeht: Ein Individuum untersucht aufgrund der Widersprüche seiner Situation die Vergangenheit, wodurch es ein Subjekt Badiou’scher Treue und ein Agent der Erinnerung wird. Wie in The Stone Face ergibt sich diese Bewegung vom Individuum zum Subjekt und Handelnden aus einer Anrufung, doch scheint die Anrufung hier weder vom Staat noch von einer Gegenkraft (wie den Algeriern und Algerierinnen in Smith’ Roman) auszugehen; sie scheint Resultat der Geschichte selbst, des häufig übersehenen oder vergessenen Archivs der Gegenwart. Es ist leicht zu erkennen, dass verdrängte persönliche und politische Ereignisse, die mit dem Oktober 1961 zusammenhängen, in allen drei hier untersuchten Texten die verborgenen Leerstellen sind. Insofern aber ethische Treue die Neugestaltung individueller und kollektiver Geschichte aufgrund dieser Gewalt nach sich zieht, sprechen die Texte nicht mit einer Stimme. Ein einziger Text leitete die Auseinandersetzung mit dem 17. Oktober im literarischen Mainstream Frankeichs ein: Didier Daeninckx’ 1984 veröffentlichter Thriller Bei Erinnerung Mord. Der viel diskutierte Roman hat eine erstaunliche Erzählstruktur, die auf die Notwendigkeit zu verweisen scheint, die Spezifik multidirektionaler Erinnerung unter den Bedingungen der Postmemory zu durchdenken – also unter den Bedingungen der Auseinandersetzung späterer Generationen mit den traumatischen Vergangenheiten ihrer Eltern. Bei Erinnerung Mord hat eine Generation nach den Ereignissen zu einer erneuten Auseinandersetzung mit dem 17. Oktober beigetragen und den Boden für Hanekes und Sebbars Werke bereitet, da der Roman zum Nachdenken darüber auffordert, was es bedeutet, wenn Geschichten verborgen bleiben, und was es bedeutet, sie ans Licht zu bringen. Hanekes Film schließt sich Bei Erinnerung Mord an, da auch er Fragen der Erinnerung vor allem anhand von Familiengeschichten, insbesondere Vater-Sohn-Beziehungen, erkundet. Leïla Sebbars Jugendroman La Seine était rouge: Paris, octobre 1961 beschäftigt sich auf ver6

Badiou, Ethik, S. 91, 64.

»HARD-BOILED« ERINNERUNG: BEI ERINNERUNG MORD

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gleichbare Weise mit der schwierigen intergenerationellen Tradierung von Erinnerungen und erkundet wie Hanekes Film Formen, die die Erbschaft einer gewaltsamen Vergangenheit annehmen kann. Caché antizipierend, setzt sich La Seine zentral mit Fragen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie mit der Rolle von Filmen bei der Herstellung ethischer Varianten der Erinnerung auseinander. Während Daeninckx’ und Sebbars Romane unterschiedliche ethische Subjekte der Erinnerung (und der Postmemory) hervorbringen, hat Hanekes Film keine positive Gestalt des Subjekts der Treue zu bieten. Die in Caché ins Werk gesetzte Inszenierung des Erinnerungsterrorismus soll vielmehr das Publikum durch dessen Unterweisung in einer Ethik multidirektionaler Erinnerung in ethische Subjekte verwandeln. Trotz dieser Unterschiede soll die in allen drei Fällen aufscheinende Ethik nicht die gesellschaftliche Einheit im Sinne Noras fördern, sondern die Achtsamkeit auf die multidirektionalen Echos lenken, die das Terrain der Politik konstituieren. Inspiriert von Sebbars Roman, schließe ich mit der Frage, was es bedeuten würde, wenn traumatische Geschichten endlich ein angemessenes Begräbnis erhielten.

»Hard-boiled« Erinnerung: Bei Erinnerung Mord Didier Daeninckx’ Roman Bei Erinnerung Mord von 1984 wird häufig als Meilenstein im öffentlichen Bewusstsein des Massakers vom Oktober 1961 bezeichnet.7 Kurz nach der Verurteilung Maurice Papons wegen seiner antijüdischen Aktivitäten im Zweiten Weltkrieg verfasst, bringt er traumatische und umstrittene Geschichten in eine populäre Form. Mit den dunklen Vergangenheiten Vichys und des Algerienkriegs ist Bei Erinnerung Mord, in der hier eingeführten Begrifflichkeit, ein entschieden multidirektionaler Text. Darüber hinaus führt der Roman nicht nur zwei Geschichten zusammen, die uns über weite Teile dieses Buches beschäftigt haben, er verbindet auch zwei Gattungen, die in folgenden Jahrzehnten wiederholt genutzt wurden, um sich fiktional mit den Ereignissen des Oktober 1961 und dem nationalsozialistischen Genozid auseinanderzusetzen. Daeninckx kombiniert Geheimnis, Aufdeckung und Offenbarung in der Handlung eines Polizeithrillers mit intergenerationeller Geschichtstradierung. Elemente dieser beiden Gattungen finden sich später beispielsweise in Hanekes Film und in Sebbars Roman. Da dem 17. Oktober 1961 (trotz Smith’ Roman und den Werken algerischer Schriftsteller, die Spuren des Ereignisses bezeugen) in den beiden Jahrzehnten zwischen dem Massaker und der Veröffentlichung von Daeninckx’ Krimi wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde, liegen die Gründe für diese Gattungswahl auf der Hand.8 Wie könnte man ein Ereignis, das 7 8

Didier Daeninckx, Meurtres pour mémoire, Paris 1984, dt.: Bei Erinnerung Mord, Heilbronn 2003. Zur Fortdauer des 17. Oktober als Thema im Werk algerischer Schriftsteller siehe Seth Graebner, Remembering 17 October 1961 and the Novels of Rachid Boudjedra, in: Research in African Literatures 36 (2005) 4, S. 172–197.

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eine Generation lang aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt wurde, besser darstellen als durch eine Erzählung, die sich um Intrigen dreht und die Schicksale eines Elternteils und eines Kindes miteinander verbindet? Doch die Dinge liegen nicht ganz so einfach. Im Erscheinungsjahr 1984 mit dem Grand Prix de la Littérature Policière und dem Prix Paul Vaillant-Couturier ausgezeichnet, weist Bei Erinnerung Mord nicht gerade die Handlung auf, die man angesichts der geradezu mustergültigen Rolle des Romans bei der Heranführung eines breiten Publikums an die Ereignisse des Oktober 1961 erwarten würde. Mit seiner gesellschaftlichen Wirkung hat der Roman zwar zur Offenlegung einer »verborgenen« Geschichte  – des Massakers an Algeriern und Algerierinnen auf den Straßen der Pariser Innenstadt – beigetragen, doch in narrativer Hinsicht funktioniert der Roman anders. Das Rätsel, dessen Lösung man erwartet, ist tatsächlich Ausgangspunkt der Handlung. Bei Erinnerung Mord beginnt in der bidonville von Nanterre und folgt den Aktivitäten mehrerer Algerier und Algerierinnen, die sich auf die beispiellosen Demonstrationen in der Pariser Innenstadt vorbereiten und an diesen teilnehmen. Bis zum Ende des zweiten Kapitels sind alle Figuren, die diese Ereignisse verkörpern, entweder verstorben – vor der Bonne-Nouvelle Metrostation ermordet – oder verhaftet und in die provisorischen Lager in Sportstadien am Stadtrand verschleppt worden. Keine der Figuren taucht in der Romanhandlung wieder auf. Doch gibt es einen zweiten Handlungsstrang, der mit dem der Demonstration verwoben ist und das Rätsel im Mittelpunkt des Thrillers ankündigt. Außer von der brutalen Zerschlagung der Demonstration erzählen die ersten Kapitel von den letzten Stunden im Leben des Roger Thiraud, eines Lateinund Geschichtslehrers an einem Pariser Gymnasium, der während der Demonstration vor seiner Wohnung vorsätzlich niedergeschossen wird, nur einige Schritte von dem Ort entfernt, an dem die Algerier und Algerierinnen massakriert werden. Die Frage, weshalb man diese scheinbar belanglose Figur kaltblütig ermordet hat, ist ein zentraler Aspekt der im Roman entwickelten Intrige. Daeninckx’ Narrativ behandelt die Ereignisse des 17. Oktober nicht als verborgene und verdrängte Vergangenheit, sondern als Anlass, einem anderen Rätsel nachzuspüren. Die Ermordung von Roger Thibaud während der Demonstration erleichtert zwar die Aufnahme mehrerer enthüllender Passagen mit Einzelheiten zum 17. Oktober, die bei Erscheinen des Romans kaum bekannt gewesen sein dürften (was dem Roman zu Recht den Ruf eines Enthüllungsbuchs eingetragen hat), doch letztlich ist das Massaker nur zufällig oder bedingt mit der Romanhandlung verbunden. Tatsächlich gibt es außer der Ermordung Rogers mindestens zwei weitere Rätsel, die in dem Roman eine Rolle spielen. Gleich nachdem Daeninckx eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse des 17. Oktober vorgelegt hat (einschließlich des fiktionalen Todes von Roger Thiraud), springt die Handlung zwanzig Jahre in die Zukunft und erzählt in einem kurzen, halben Kapitel die Geschichte der letzten Tage von Thirauds Sohn Bernard: Zwei Monate nach dem Tod seines Vaters geboren, wird Bernard 1982 während eines Besuchs in Toulouse ebenfalls kaltblütig ermordet. Sein

»HARD-BOILED« ERINNERUNG: BEI ERINNERUNG MORD

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Tod markiert einen wichtigen Wechsel in der Erzählform des Romans. Während sich die ersten zweieinhalb Kapitel eines externen Erzählers bedienen und zwischen einer Reihe figurengebundener Verkörperungen wechseln (von denen die meisten bald sterben), wird der Rest des Buchs (mit Ausnahme eines kurzen Kapitels) von Inspektor Cadin erzählt, dem der Mordfall des jungen Thiraud zugewiesen wird und dessen Erzählstil Eigenschaften der als hard-boiled bekannten Gattung von Detektivromanen aufweist (schwarzer Humor, Ironie, ein gewisser Machismo). Zu diesem Zeitpunkt wird rasch deutlich, dass das eigentliche Rätsel im Mittelpunkt von Cadins Ermittlungen – und damit des Romans – weder der Mord an Bernard noch der an Roger ist, sondern die Verbindung zwischen beiden. Diese aufzudecken erfordert eine Rückblende von 1982 in das Jahr 1961 und schließlich in die 1940er-Jahre, die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung und der Beteiligung des Vichy-Regimes am nationalsozialistischen Genozid. Roger und Bernard sind ermordet worden, um zu verhindern, dass Verbrechen ans Licht gelangen, die während des Holocaust von einer hochrangigen, an Papon erinnernden Figur verübt worden sind, die nach wie vor im Polizeiapparat arbeitet. Die Spannung zwischen der historischen Wirkung des Romans (den 17. Oktober ans Licht gebracht zu haben) und seinen erzählerischen Mitteln (die die französische Mitschuld am Holocaust aufdecken) entsteht durch die hard-boiled-Krimigattung, die auf solche Umwege spezialisiert ist. Diese Spannung wirkt sich wesentlich auf das Nachdenken über multidirektionale Erinnerung aus, da sie mehrere Generationen verbindet. In der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Höhepunkt der Dekolonisierung zu Beginn der 1960er-Jahre hat sich die Gegenüberstellung der (wie auch immer jungen) Holocaust-Vergangenheit und des anhaltenden Konflikts in der kolonisierten Welt häufig zeitlich asymmetrisch und anachronistisch niedergeschlagen – was Texte wie The Negro and the Warsaw Ghetto, Chronik eines Sommers, Les belles lettres und The Stone Face belegen. Anachronismen spielen in den Texten der letzten Jahrzehnte des 20. und der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts weiter eine wichtige Rolle; allerdings sind Holocaust und Dekolonisierung in diesen Texten »Geschichte« geworden (wie unabgeschlossen deren Aufarbeitung auch sein mag). In dem Maß, in dem sich die beiden Ereignisgruppen zeitlich voneinander entfernen, rücken Fragen intergenerationeller Tradierung  – beziehungsweise ihres Ausbleibens – in den Mittelpunkt. Um dieser Transformation der individuellen und kollektiven Erinnerung gerecht zu werden, hat sich speziell die Holocaustforschung in den letzten Jahrzehnten mit den Geschichten der zweiten und dritten Generation befasst und ästhetische Formen und analytische Kategorien für diese neuen Erinnerungsphänomene entwickelt. Hirschs Begriff »Postmemory« war besonders nützlich, um diese überwiegend Post-1970er-Jahre-Entwicklungen konzeptionell zu erfassen. Die eigenartige strukturelle Beziehung von Bei Erinnerung Mord zu »verborgenen« Vergangenheiten bestätigt die engen Verbindungen zwischen Postmemory und multidirektionaler Erinnerung. Letztlich beruht das Rätsel im Mittelpunkt des Romans weder auf den Ereignissen des 17. Oktobers 1961 (wie sehr sie dem breiten

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Publikum auch verborgen zu sein scheinen) noch auf denen des Holocaust (wie »gegenwärtig« sie demselben Publikum auch geworden sein mögen). Die Pointe von Bei Erinnerung Mord – das Rätsel, das der Roman inszeniert, um es aufzulösen – ist vielmehr die Verbindung verschiedener Epochen und der Fortbestand der unbewältigten Vergangenheit in der Gegenwart. Cadins Ermittlungen zu den fiktionalen Morden an Roger und Bernard Thibaud stehen für das fehlende Verbindungsstück zwischen unterschiedlichen Verbrechen und Geschichten. In »realer« historischer Hinsicht verkörpern die Ermittlungen das, was tatsächlich gerade die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit erlangt hatte: Papons doppelte Schuld, also seine bis dahin unbekannte Rolle bei der Deportation von Juden und Jüdinnen während der nationalsozialistischen Besatzung sowie seine öffentlich erkennbaren, aber weitgehend ignorierten Aktivitäten in der Spätphase des französischen Kolonialismus und insbesondere seine Rolle beim Oktober-Massaker. Die fiktionalen Mittel, derer sich Daeninckx bedient, um die vielfältigen Aspekte von Papons glänzender Karriere wiederzugeben, verweisen darauf, dass die Absicht des Romans über die Anklage einer einzelnen – wenngleich zentralen – Figur hinausgeht: Wie jede Detektivarbeit funktioniert Cadins fiktionale Mordermittlung nach dem Prinzip Ursache und Wirkung, wenn sie sich von einer Spur zur nächsten bewegt und so einen breiten Ausschnitt des französischen Lebens in der Nachkriegszeit sichtbar macht. Indem er verwandte Phänomene verschiedener Epochen zur Pointe seines Narrativs macht, provoziert Daeninckx eine Auseinandersetzung mit den umfassenderen Problemen französischer Komplizenschaft. Jenseits der Erinnerung an die Ereignisse des nationalsozialistischen Genozids und des Algerienkriegs, selbst jenseits der verschiedenen Verbindungen, die in der kollektiven Erinnerung mittlerweile zwischen beiden bestehen, geht es um die Frage der Verantwortung, insbesondere der Frankreichs. In französischen Diskursen zur Zeit des Oktober-Massakers wurden Verbindungen zum nationalsozialistischen Genozid hergestellt, jedoch ohne die Mitschuld Frankreichs am nationalsozialistischen Genozid zur Sprache zu bringen; sie war in historischen oder politischen Texten noch nicht thematisiert worden. Vom Standpunkt eines partiellen Außenseiters schreibend, warf William Gardner Smith zwar die Frage der Mitschuld auf, jedoch nicht die der spezifisch französischen Mitschuld. Zwei Jahrzehnte später hingegen können die unmittelbar nach den Ereignissen des Algerienkriegs und des Zweiten Weltkriegs hergestellten Verbindungen Grundlage einer »Ermittlung« werden, die die nicht gestellten Fragen nach Mitschuld zum Gegenstand hat. In der erzählerischen Welt von Daeninckx ist die französische Mitschuld das ultimative Verbrechen und das kausale Element der Intrige (abgesehen von den wenigen Algeriern und Algerierinnen in den ersten beiden Romankapiteln sind tatsächlich sämtliche Figuren Franzosen und Französinnen). Bernard Thiraud muss aus demselben Grund sterben wie sein Vater: Er hat zu viel in den Archiven des Zweiten Weltkriegs recherchiert, insbesondere zur Geschichte der Deportation von Juden und Jüdinnen und der Mitwirkung des französischen Staates. Entsprechend wichtig ist

»HARD-BOILED« ERINNERUNG: BEI ERINNERUNG MORD

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es, dass Cadin am Anfang seiner Ermittlungen beim Durchblättern der von Bernard in den Archiven von Toulouse konsultierten Dokumente ohne es zu wissen auf einen Schlüsseltext stößt: Pierre Lavals Empfehlung aus dem Jahr 1942, »die zur Deportation ausersehenen Familien nicht auseinanderzureißen«. Laval schrieb (und Daeninckx zitiert): »In Anbetracht der Gemütsbewegung auf diese barbarische Maßnahme hin, habe ich bei der deutschen Armee erwirkt, daß die Kinder nicht von ihren Eltern getrennt werden und ihnen somit folgen können« (S. 61). In einer Sprache des Anstands formuliert, sorgte Lavals tatsächlich »barbarischer« Befehl dafür, dass die Vichy-Regierung einmal dafür berüchtigt sein würde, mehr Juden und Jüdinnen, und insbesondere jüdische Kinder, in den Tod geschickt zu haben, als von den Deutschen verlangt.9 Als Generalsekretär der Präfektur Gironde während der Besatzung folgte Maurice Papon Lavals Befehlen und beteiligte sich an der Deportation von 1600 Juden, darunter 130 Kinder unter 13 Jahren, in das Internierungslager Drancy, der Durchgangsstation nach Auschwitz. Andre Veillut – die Figur, die in Daeninckx’ Schlüsselroman hinter den Morden an den beiden Thirauds steckt  – wird für ihre Mitwirkung an der Deportation jüdischer Kinder verurteilt: »Er hat die Überstellung der jüdischen Familien in das Sammellager Drancy gewissenhaft organisiert. Weder aus politischer Überzeugung, noch aus Antisemitismus, sondern einfach nur, weil er den Vorschriften gehorchte und die Befehle des vorgesetzten Apparats ausführte. […] Die Region, die [ihm] unterstand, steht an erster Stelle sämtlicher Verwaltungsbezirke Frankreichs bei den Deportationen jüdischer Kinder« (S. 205). Indem er Veillut als exemplarischen Fall des banalen, todbringenden Bürokraten zeichnet, wie ihn Hannah Arendts Bericht über Eichmann berühmt gemacht hat, bietet Daeninckx eine fiktionalisierte Version der am weitesten verbreiteten Darstellung Papons als eines unideologischen Täters (wenngleich House und MacMaster diese in jüngerer Zeit infrage gestellt haben und Papon mit rechtsextremen Elementen in der Polizei und der Armee in Verbindung bringen; siehe Paris 1961, S. 33–60). Unabhängig von der historischen Exaktheit dieses verschleierten Papon-Porträts, seine Funktion ist eindeutig: Es bereitet den Boden für die im Roman hergestellte multidirektionale Verbindung unterschiedlicher Epochen und Geschichten. Als Cadin von Bernards Freundin Claudine gefragt wird, weshalb sich Roger Thiraud mit einem Deportationsfall beschäftigt hat, der sich zu einer Zeit abspielte, da er noch ein Kind war, antwortet Cadin: »Roger Thiraud wurde in Drancy geboren – das ist die Verbindung. Die reicht aus.« (S. 211). Die zufällige Verbindung Rogers – und später seines Sohnes Bernard – mit der Geschichte französischer Komplizenschaft hat eine Parallele in der bedingten Verbindung, die der Roman zwischen dem 17. Oktober (einer »Familien«-Demonstration mit Frauen und Kindern) und der Deportation jüdischer Kinder herstellt. Veilluts fiktionale Karriere verläuft – wie die von Papon – vom Zweiten Weltkrieg über die Zeit des Algerienkriegs und weit darüber hinaus, 9

Siehe zur Deportation jüdischer Kinder das Standardwerk: Michael R. Marrus/Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1981, S. 263–269.

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doch Daeninckx betont eher Zufälligkeiten der Geburt und der Familie als ideologische Überzeugungen. Die ergebnisoffenen Konventionen der hard-boiled-Krimigattung  – deren Tendenz, im Zuge der »Aufklärung« eines Verbrechens ein kontingentes oder metonymisches Assoziationsfeld aufzudecken – erlauben es Daeninckx, Algerien, Vichy und viele andere zeitgenössische Fragen im selben erzählerischen Rahmen unterzubringen, ohne sie in ein singuläres, kausales Narrativ zu zwingen.10 Der Fokus auf das Kontingente mündet nicht in einer Entpolitisierung genozidaler und kolonialer Gewalt, sondern in einer immer stringenteren ethischen Forderung: Aufgrund des Zufalls der Geburt erben nationale (und andere) Subjekte den Imperativ, die multiplen Formen der Gewalt zu untersuchen, die man in ihrem Namen begangen hat. Geschichten über viktimisierte Kinder können zwar schnell sentimental werden, doch das ist hier nicht der Fall – vielleicht, weil Daeninckx sie in den ironischen Ton und schwarzen Humor der hard-boiled-Gattung einbettet. Dass Kinder in Bei Erinnerung Mord im Vordergrund stehen, unterstreicht die generationelle und intergenerationelle Tradierung. Während Bernard die von seinem Vater begonnenen Recherchen zu Ende führen will, versucht der Roman, zwei Verbrechenskomplexe aufzuarbeiten, die lange ignoriert wurden; Komplizenschaft und Schweigen haben aber dafür gesorgt, dass die Verbrechen in der französischen Gesellschaft wiederkehren. Daher die zeitliche Verschiebung im Roman: Der Text befasst sich mit historischen Gewalttaten der 1940er- und 1960er-Jahre, doch die fiktionale Gewalt, von der er erzählt (die Ermordung von Vater und Sohn), findet in den 1960er- und 1980er-Jahren statt. Die Schichtung dieser beiden zeitlich getrennten und sich doch überschneidenden Reihen von (»realen« und »fiktionalen«) Gewalttaten hält zwei Lektionen für die Bedeutung der Postmemory bereit: erstens, dass Postmemory die narrative Struktur für eine erforderliche ethische Auseinandersetzung mit unaufgearbeiteten Vergangenheiten sein kann, und zweitens, dass eine solche Auseinandersetzung oft, wenn nicht immer, eine multidirektionale Ausgrabung sich überschneidender Geschichten erfordern wird. Der Roman liefert auch eine Art Wiederlegung, avant la lettre, von Noras Diktum des »Gedächtnisterrorismus«: Bei Erinnerung Mord deutet an, dass die Gewalt sich fortsetzen und spätere Generationen heimsuchen wird, so lange die Erinnerung stumm bleibt. Angesichts der Spannungen im postkolonialen Frankreich ließe 10 Ich denke hier an das wichtige Buch: Michael André Bernstein, Foregone Conclusions: Against Apocalyptic History, Berkeley 1994. Bernstein unterscheidet Narrative, in denen zukünftiges Wissen auf frühere Ereignisse rückprojiziert wird, um sie als Teil einer »notwendigen« Entwicklung erscheinen zu lassen (»backshadowing«), von solchen, in denen die Zufälligkeit gegenüber der Notwendigkeit betont und die Geschichte nicht als vorherbestimmt dargestellt wird (»sideshadowing«). Mir geht es hier darum, dass die Gattung des Kriminalromans stark zum ersten Narrativtyp tendieren kann – schließlich sollen ja die Verbindungen aufgedeckt werden, die notwendigerweise zu einem Verbrechen geführt haben –, dass aber Daeninckx’ Gebrauch der hard-boiled-Gattung es ihm erlaubt, nicht rückwärts, sondern seitwärts zu blicken, sodass er kontingente Assoziationen überblicken und innerhalb seines Narrativs eine Schichtung mehrerer Nebenhandlungen vornehmen kann.

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sich diese kritische Sichtweise durchaus als prophetisch bezeichnen. Sicherlich hat Daeninckx’ Erzählung über den 17. Oktober als Teil eines von verborgenen Geschichten und uneingestandener Mitschuld geprägten Generationendramas den im Entstehen begriffenen Kanon von Darstellungen des Massakers geprägt, wie an La Seine était rouge wie auch an Caché zu sehen ist. Doch sollten die 20 Jahre, die zwischen Bei Erinnerung Mord und um die Jahrtausendwende erschienenen Werken vergangen sind, neue Traumata produzieren und neue Ausgrabungen und Erzählstrategien erfordern. Daeninckx’ Roman bedient sich einiger Konventionen von Postmemory-Arbeiten – etwa indem er eine öffentliche Geschichte als Vater-Sohn-Drama gestaltet  –, doch sein Subjekt der Erinnerung (Inspektor Cadin) steht außerhalb des Netzwerks individueller und kollektiver Schicksale, das es zu untersuchen gilt. Cadins Äußerlichkeit – oder zumindest Distanz  – gegenüber den von ihm aufgedeckten Geschichten des Algerienkriegs und des Holocaust unterscheidet ihn deutlich von den Hauptfiguren von Caché und La Seine était rouge, die, wenn auch manchmal nur marginal, selbst in die Erbschaften des 17. Oktober verstrickt sind. Zusammen mit der konventionellen Gendercodierung des Romans, die den männlichen Detektiv nicht nur den Fall lösen, sondern auch die Frau – die Freundin des Opfers Bernard Thiraud – gewinnen lässt, verweist Cadins externe Position als professioneller Polizeiinspektor auf die Grenzen der hard-boiled-Erinnerung. Die Konventionen der hard-boiled-Gattung erlauben es Daeninckx zwar, einen »schrägen« Blick auf die Ereignisse der Geschichte zu werfen – dadurch metonymische Verbindungen der Komplizenschaft im Algerien- und im Zweiten Weltkrieg sowie zwischen beiden aufdeckend  –, doch sie dienen auch dazu, die Mitschuld durch eine traditionell heterosexuelle Auflösung einzugrenzen und diesen Makel aus der Welt des normativen Paars auszuschließen.11

Caché und die Ethik des Erinnerungsterrorismus Michael Hanekes Caché (Verdeckt) nutzt einige Elemente der Erzählstruktur von Bei Erinnerung Mord. Wie Daeninckx legt Haneke einen spannenden Thriller vor, in dem rätselhafte Vorfälle und Historisches zusammentreffen, doch gibt es hier keine Außenposition. Fasziniert von Fragen der Überwachung und Ermittlung zieht der Film die Position des Ermittlers in das Verbrechen hinein. Haneke scheint auch Daeninckx’ Verhältnis von Vorder- und Hintergrund umzukehren: Nun sind es die Ereignisse des 17. Oktober 1961, die als »verborgene« Geschichte und nicht als das 11 Die von Žižek inspirierte Anspielung auf den »schrägen Blick« hat mein Kollege Robert A. Rushing vorgeschlagen. Ich danke ihm für seine Überlegungen zum Verhältnis der hardboiled-Gattung zu der Art von historischem Umweg, von dem Daeninckx Gebrauch macht. Siehe Rushings anregenden und erhellenden psychoanalytischen Ansatz zur Analyse von Detektivromanen: ders., Resisting Arrest: Detective Fiction and Popular Culture, New York 2007. Siehe auch Slavoj Žižek, Looking Awry: An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, Cambridge 1992.

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Setting einer anderen Erzählung über historische Mitschuld auftauchen. Das von Papon verantwortete Massaker war zwar in den frühen 1980er-Jahren, als Daeninckx seinen hard-boiled-Roman verfasste, noch ein Geheimnis; 2005 jedoch war es zu einem offen diskutierten Thema der französischen Zeitgeschichte geworden– was nicht bedeutet, dass der Staat oder die breite Öffentlichkeit daraus gelernt hätten. Die doppelte Umkehr, die Caché von Bei Erinnerung Mord absetzt – die Umkehr des Verhältnisses von Vorder- und Hintergrund, und zwar in einem gesellschaftlichen Kontext, der sich selbst grundlegend gewandelt hat –, lässt vermuten, dass Hanekes Film ebenso wie Daeninckx’ Roman mehr (vielleicht auch weniger) verbirgt, als es zunächst scheinen mag. Caché ist um das Verdrängte des Kolonialismus herum strukturiert und wurde bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai 2005 mit drei Preisen ausgezeichnet, nur wenige Monate nach der Vorlage des umstrittenen Gesetzes, das die Betonung der »positiven Aspekte« des Kolonialismus im Unterricht forderte; der Film lief im Herbst in Paris an, unmittelbar nach den sozialen Unruhen in den Vorstädten. Obwohl Caché zweifellos ein zeitgemäßer Film ist, ist er teilweise ein Film über die Unzeit der Erinnerung beziehungsweise über die zerrüttende »Gewalt, mit der sich die Erinnerung Gehör verschaffen will«, um Nora zu zitieren. Mit der Geschichte von Georges Laurent (Daniel Auteuil), einem bürgerlichen Pariser Medienintellektuellen, der von Erinnerungen an seine Kindheit in den frühen 1960er-Jahren terrorisiert wird, beteiligt sich Caché an den jüngeren Reflexionen der lange verdrängten Ereignisse des 17. Oktober 1961. Weil er die Produktivität der Gewalt der Erinnerung begrüßt, legt dieser französische Film, gedreht von einem im Zweiten Weltkrieg in Deutschland geborenen Österreicher, nahe, dass eine Ethik des Gedenkens Situationen gerecht werden muss, die von kultureller Differenz geprägt sind. Im Mittelpunkt von Caché stehen die Auswirkungen der Rückkehr des Verdrängten auf ein bürgerliches Subjekt, das seine Mitschuld an der spätkolonialen Gewalt bis zum Ende des Films leugnet. Caché dramatisiert zudem die Struktur von Gewalt, verborgenem Wissen und Trauma, die Aimé Césaire als choc en retour bezeichnet hat. Wie Césaire interessiert sich Haneke für die Erkundung der zunehmenden Wirkung spätkolonialer Brutalität. Die Anfangsszene von Caché hat schnell Berühmtheit erlangt: Während des Vorspanns sehen wir in einer langen ruhigen Einstellung die Fassade eines bürgerlichen Stadthauses.12 Bald erfahren wir, dass wir damit das erste einer ganzen Reihe von Über12 Indem ich von einer »Akkumulation« von Namen spreche, spiele ich auf Ian Baucoms Plädoyer für eine Geschichtsphilosophie an, die Zeit als Gegenstand der Akkumulation und nicht der Progression auffasst. Baucom bezieht sich auf das Werk von Schriftstellern und Schriftstellerinnen der Karibik und des schwarzen Atlantik, die sich mit dem anhaltenden Spuk der Sklaverei befassen, doch seine Formulierungen lassen sich auch auf wertvolle Weise auf die post-Holocaust und postkolonialen Kontexte von Multidirektionale Erinnerung anwenden und sind besonders geeignet, um Fragen der Zeitlichkeit, der Verantwortung und der Gerechtigkeit in Caché nachzugehen. Siehe Ian Baucom, Specters of the Atlantic: Slavery, Finance Capital, and the Philosophy of History, Durham 2006.

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wachungsvideos gesehen haben, die Georges und Anne Laurent zugeschickt worden sind.13 Wie Libby Saxton in ihrer gelungenen Interpretation des Filmanfangs bemerkt, bedeutet das Betrachten eines Videos und nicht der Aufnahme eines Hauses auch, dass die Eingangsszene eigentlich die Nahaufnahme eines Fernsehbildschirms ist und nicht eine Totale der Fassade.14 Diese perspektivische Neuausrichtung führt, so würde ich ergänzen, zu einer bedeutenden Verschiebung der erzählerischen Ebene des Films: Der Film scheint zunächst mit dem Blick eines äußeren Erzähler zu beginnen, doch wir erkennen bald, dass es sich um den Blick der Figur Georges handelt. Diese Bewegung von einem scheinbar externen Erzähler zu einer figurengebundenen Fokalisierung versinnbildlicht die internalisierte Ermittlerposition, die Caché von Bei Erinnerung Mord unterscheidet; in Daeninckx’ Roman steht das »Ich« des Erzählers für dessen Äußerlichkeit gegenüber den historischen Entwicklungen, um die es im Roman geht. Die Spannung zwischen externer und figurengebundener Fokalisierung, wie auch zwischen Narration und Fokalisierung, besteht während des gesamten Films und wirkt sich deutlich auf die geleistete Erinnerungsarbeit aus. Die Wirkung dieses den Film eröffnenden Tricks ist oft bemerkt worden: Er erzwingt eine Identifikation sowohl mit dem Beobachter oder der Beobachterin als auch mit Georges, und er stellt den Status jeder weiteren Filmeinstellung infrage, die sich nun, zumindest momentan, als Überwachungsaufnahme deuten lässt.15 Darüber hinaus etabliert diese Anfangsszene das zentrale, die Handlung vorantreibende Rätsel: die Frage, wer die Videos aufgezeichnet und den Laurents geschickt hat und warum. Die letztlich ungelöste und scheinbar unlösbare Frage nach dem Urheber oder der Urheberin der Videos legt den Schluss nahe, dass ein dunkler und unsichtbarer Bereich fortbestehen wird, doch die Spannung zwischen Fokalisierung und Narration verweist auch darauf, dass Modi der Sichtbarkeit im Film genauso wichtig sein werden. Aus der Eröffnungssequenz gehen zwei Modi von Sichtbarkeit hervor: zum einen die unsichtbare und nicht-menschliche Position der »verborgenen« Kamera mit ihrer Anrufung des Betrachters und der Betrachterin der Überwachungsvideos, zum anderen der sichtbare Bereich jener gefilmten und auf Videokassetten aufgespielten Bilder, die mehrdeutige, die Untersuchung vorantreibende »Spuren« bergen 13 In fast allen Filmen Hanekes gibt es Figuren namens Georges und Anne (beziehungsweise Georg und Anna, in den deutschsprachigen Filmen); in vielen Filmen spielt auch die Motivik der Überwachung eine Rolle. 14 Libby Saxton, Secrets and Revelations: Off-Screen Space in Michael Haneke’s Caché (2005), in: Studies in French Cinema 7 (2001) 1, S. 5–17, hier S. 8. 15 Ich betone die Tatsache, dass der Film auf eine Identifikation mit Georges, nicht mit Georges und Anne hinwirkt, weil Anne, anders als das Publikum und Georges, die Videoaufnahmen zu Beginn des Film bereits gesehen hat. Die Unterscheidung zwischen Georges’ und Annes Blicken ist für den weiteren Verlauf des Films von Bedeutung. Die Überwachungsthematik ist auch für die Kolonialgeschichte relevant, die den Hintergrund von Caché liefert. Wie Alexis de Tocquevilles 1847 veröffentlichter Rapport sur l’Algérie belegt, wurde der französische Kolonialismus in Algerien bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Wunsch angetrieben, das algerische Volk »unter Überwachung zu stellen«, um »seine Techniken, Ideen und Ansichten sowie […] das Geheimnis seiner Regierung zu erfassen«. Zit. n. Paul Silverstein, Algeria in France: Transpolitics, Race, and Nation, Bloomington 2004, S. 46 f.

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oder »verbergen«. Tatsächlich ließe sich, unter Verweis auf den rätselhaften Schluss des Films, auch sagen, dass es in Caché vor allem um die Synthese oder Koexistenz dieser beiden Modi geht: um unsichtbare Sichtbarkeit oder, anders gesagt, um das, was für alle einsehbar und doch verborgen ist. Am wichtigsten ist vielleicht, dass die Eingangssequenz des Films Häuslichkeit als etwas Unheimliches erscheinen lässt. In den meisten Überwachungsaufnahmen sind Wohnungen zu sehen: die Fassade des Pariser Stadthauses, in die Familie Laurent wohnt, das ländliche Anwesen von Georges’ Mutter und die innen und von außen gefilmte Wohnung von Majid (Maurice Bénichou), dem algerischen Mann, der als Junge nach dem Verschwinden seiner Eltern im Zuge der Ereignisse vom 17. Oktober 1961 zeitweilig mit Georges’ Familie auf dem ländlichen Anwesen gelebt hat. Georges erkennt bald, dass die Überwachungsvideos etwas mit Majid zu tun haben, und tatsächlich führen sie ihn schließlich zu der schäbigen Wohnung, in der Majid als gebrochener Mann lebt. Und hier spielt der szenische Höhepunkt des Films: der undeutlich motivierte Selbstmord von Majid unter den Augen von Georges.16 Wir wissen nichts über das Leben, das Majid in der Zwischenzeit geführt hat, doch wir erfahren, dass er vor vierzig Jahren als soeben zur Waise gewordener auf Betreiben des jungen Georges aus dem Haus der Familie Laurent verbannt wurde, wo er gerade erst Zuflucht gefunden hatte. Diese Verbannung infolge von Neid und Grausamkeit ist das ungesühnte individuelle Verbrechen im Mittelpunkt des Filmnarrativs, das in der filmischen Bilanz von Schuld und Verantwortung zugleich dazu dient, an die von Majids Eltern erlittene kollektive Gewalt zu erinnern und auch zu verdrängen. Majids Verbannung und Georges’ fehlende Bereitschaft, die Verantwortung zu übernehmen, wirken angesichts der Ereignisse des 17. Oktober als Allegorie für die umfassendere Weigerung der französischen Gesellschaft, sich den Verbrechen aus der Zeit des Algerienkriegs zu stellen. Doch so wichtig der Fokus des Films auf den 17. Oktober auch ist, so steht er doch im Kontext einer weiteren komparativen Vorstellungswelt. Die komparative Rekontextualisierung des 17. Oktober wird zur eigentlichen Herausforderung für das 16 Wie so vieles an dem Film ist auch Majids Selbstmord mehrfach bedeutsam. Dass er sich selbst die Kehle durchschneidet, erinnert an den Bürgerkrieg, von dem Algerien in den 1990erJahren, nach den abgesagten Wahlen des Jahres 1992, zerrissen wurde. Im Laufe des Jahrzehnts kostete die Gewalt zwischen Islamisten und paramilitärischen Regierungseinheiten bis zu 100 000 Menschen das Leben. Einer bedeutenden Anzahl dieser Opfer wurde die Kehle durchgeschnitten. Die Form des Schnitts und der an Majids Wand hinterlassene Blutfleck erinnern das Publikum nicht nur an einen ähnlichen Fleck in Hanekes Der siebente Kontinent (1989), der das dramatischste (auf Plakaten verwendete) Bild des Films lieferte, sie dienen auch als Symbol des zweideutigen Verhältnisses Frankreichs zu Algerien  – ein Verhältnis, das sich, wie Étienne Balibar bemerkt hat, in der Schwebe befindet zwischen »einer Nation« und »zwei Nationen«. Mit anderen Worten: Der Schnitt, den sich Majid zufügt, ist ein Bild für die Wunde, die Algerien und Frankreich zugleich voneinander und jeweils von sich selbst abgrenzt, dabei aber auch beide in dem vereinend, was Paul Silverstein vielleicht als uneinheitliche »transpolitische« Entität bezeichnen würde. Siehe Étienne Balibar, Algeria, France: One Nation or Two?, in: Joan Copjec/Michael Sorkin (Hrsg.), Giving Ground: The Politics of Propinquity, New York 1999, S. 162–172; außerdem Silverstein, Algeria in France.

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Publikum und zur Quelle einer möglichen Ethik multidirektionaler Erinnerung. In Caché löst diese Ethik die Identifikation des Publikums mit Georges und dessen Blick auf und übersetzt Überwachung in Ermittlung.17 Eine aussagekräftige Szene in der Mitte des Films veranschaulicht die Methode dieser Rekontextualisierung. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen verborgenen Geschichten in Caché und verbindet sie sehr deutlich mit vermissten Kindern und jenem besonderen Modus, den ich unsichtbare Sichtbarkeit genannt habe. Während die bedrohlichen Videos und die sie begleitenden brutalen, kindlichen Zeichnungen zunehmend beunruhigen und die Ehe von Georges und Anne (Juliette Binoche) zu scheitern droht, verschwindet ihr jugendlicher Sohn. Die besorgten Eltern gehen davon aus, dass dies etwas mit den Überwachungsvideos zu tun hat, und streiten, wie sie reagieren sollen. Derweil laufen im Hintergrund auf einem Fernseher in einem Bücherregal die Abendnachrichten: Bilder des Irakkriegs flackern über den Bildschirm, gefolgt von einem Bericht über die Prozesse wegen der Folter in Abu Ghuraib; ein Bild des sadistischen Charles Graner füllt mehrere Sekunden lang das Bild und weicht dann einem Bericht über israelische Gewalt in den besetzten Gebieten (siehe Abb. 7). Mittels seiner mise-en-scène betont Haneke den Aspekt der Rahmung und insbesondere die wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Bezugsrahmen. Ein Fernseher, umgeben von Büchern und Videokassetten, gerahmt von einer Filmkamera: In diesem Szenario, dessen sich Haneke auch anderswo bedient, verkörpert die Verkettung der Medien die Spezifik, die Überschneidungen und die Interferenz unterschiedlicher Geschichten ebenso wie das schwierige Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum sowie von Alltag und extremer Gewalt.18 17 Max Silverman hat eine überzeugende Analyse des Bildes und des Blicks in Caché vorgelegt. Seiner anregenden Interpretation zufolge zeigt der Film, wie eine vom Bild gebannte Gesellschaft des bürgerlichen, orientalistischen Spektakels zumindest potenziell von einem ent-orientalisierten Blick und Bild aufgelöst werden kann. Siehe Max Silverman, The Empire Looks Back, in: Screen 48 (2007) 2, S. 245–249. 18 In Der Siebente Kontinent (1989) setzt Haneke das Radio auf ähnliche Weise ein wie in Caché das Fernsehen – um eine private Geschichte zu kontextualisieren und zu öffentlichen Ereignissen in Beziehung zu setzen. Er verwendet auch einen ähnlichen Aufbau aus Fernseher und Bücherregal im Zuhause der Hauptfiguren Georg und Anna. Als Georg in Vorbereitung auf den kollektiven Selbstmord der Familie mit der Zerstörung des Hauses beginnt, zerstört er als Erstes die Regalwände um den Fernseher herum (allerdings nicht den Fernseher selbst). »Ich glaube es geht nur, wenn wir systematisch vorgehen«, sagt er seiner Frau. Die systematische Zerstörung erstreckt sich auf die Gesamtheit des weltlichen Besitzes der Familie, einschließlich eines großen Aquariums voll exotischer Fische, deren Ableben Haneke in einer besonders schockierenden Szene unerbittlich filmt, und allen Geldes, das die Toilette heruntergespült wird. In einem auf der DVD enthaltenen Interview bemerkt Haneke, diese Szenen hätten dem Publikum bei der Premiere den Atem verschlagen. In Benny’s Video (1992) verwendet Haneke erneut einen Fernseher, um die öffentliche Geschichte in einen intimen Kontext einzuführen: Diesmal nutzt er Nachrichten über die Balkankriege und über Skinheads, die Asylsuchende in Deutschland angreifen. Er gebraucht außerdem im Schlafzimmer der Hauptfigur Benny denselben »rahmenden« Aufbau, bei dem der Fernseher (der im Film eine Schlüsselrolle spielt) in einem Bücherregal steht und von Büchern und Videokassetten umgeben ist.

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Abbildung 7: Georges und Anne streiten sich über ihren verschollenen Sohn, während im Fernsehen über den Abu-Ghuraib-Folterskandal berichtet wird. Michael Haneke, Caché (2005) Sammlung des Autors

Die Zentralität des Fernsehers in dieser Szene, im Privatbereich des bürgerlichen Zuhauses, weist das Publikum auf Krieg, Folter und Kolonialismus hin, auch wenn Georges und Anne diese Hinweise nicht bemerken. Die Doppelperspektive, die durch die Differenz des Zuschauerblicks und des Blicks von Georges und Anne bestärkt wird, spaltet die kombinierte Perspektive der Eröffnungssequenz; dort wird ja der Blick des Publikums sowohl mit Georges’ Überwachung als auch mit dessen einfacher »Betrachtung« des Videos identifiziert. In dieser späteren Szene erkennt das Publikum die Verbindungen zwischen bestimmten individuellen und kollektiven Geschichten und kann beobachten, wie die Figuren diese Verbindungen ignorieren. Der Film deutet somit dasselbe an wie Césaire ein halbes Jahrhundert zuvor: dass die Möglichkeitsbedingung bestimmter Geschichten imperialer Gewalt aus dem strukturellen Nicht-Sehen bürgerlicher metropolitaner Subjekte resultiert. Caché suggeriert mittels der mise-en-scène, dass postkoloniale Beschäftigungsversuche mit einer unbewältigten Kolonialgeschichte an zeitgenössische Bestätigungen imperialer Herrschaft und an heterogene Auswirkungen der Vergangenheit gekoppelt sind. Der Film impliziert auch, dass diese Geschichte unbewältigt bleiben wird, solange sie »ungesehen«, also außerhalb der Kreisläufe von Erinnerung und Verantwortung bleibt. Die Szene lässt uns auch verstehen, wie Erinnerungen von Opfern der Geschichte »terroristisch« wirken können, so, wie sie Nora sieht: Die Bekräftigung einer Erinnerung kann gewaltsam oder sogar traumatisierend erscheinen, wenn die Mehrheitsgesellschaft einfach von

EINE NEUINTERPRETATION VON CACHÉ ANHAND DES PAPON-PROZESSES

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ihr überrascht wird – wenn also, wie in den Ausführungen zu Über den Kolonialismus angemerkt, der Gesellschaft die Angstbereitschaft [deutsch im Original] fehlt. Durch die Inszenierung des doppelten Blicks in dieser Szene zeigt Haneke Nora widersprechend, warum Ethik sich um Erinnerung und um Geschichte drehen muss: Sozialer Konflikt kann nur durch einen Diskurs angesprochen werden, der Vergangenheit und Gegenwart, das Öffentliche und das Private verwebt.

Versteckte Kinder:

Eine Neuinterpretation von Caché anhand des Papon-Prozesses Eine Frage bleibt jedoch: Warum wird dieses ethische Problem mittels der Figur eines vermissten Kindes thematisiert? Gattung und Erzählstruktur verbinden die Form des Films damit, dass er die Bedeutung von Kindern und den gesellschaftlichen Kontext, der Kinder zu Trägern ethischer Vergleiche macht, betont. Caché bedient sich der beiden Erzählformen, die auch in Bei Erinnerung Mord verwendet werden und von denen während der letzten Jahrzehnte in Diskussionen um das Massaker des 17. Oktober häufig Gebrauch gemacht worden ist: Weil die Ereignisse anscheinend aus dem Verborgenen heraufbeschworen wurden, haben sich Autorinnen, Filmregisseure, Anwältinnen und andere soziale Akteure oft Narrativen der Ermittlung, des intergenerationellen Konflikts oder transgenerationeller Tradierung zugewandt.19 Nicht nur literarische Texte haben sich den Ereignissen in der Doppelform von Ermittlung und transgenerationeller Tradierung angenähert; wichtig sind auch die Narrative der sozialen Bewegungen von Migranten und Migrantinnen der zweiten und dritten Generation und juristische Auseinandersetzungen wie der Papon-Prozess. Hinter den literarischen und außerliterarischen Narrationsweisen steht eine gewisse Sorge um die Tradierung der Erinnerung auf familiärer und kollektiver Ebene, und sie machen darauf aufmerksam, dass die Geschichtswissenschaft diese verborgenen Verbrechen nicht aufgedeckt hat. Sie werfen unweigerlich Fragen nach dem Wesen von Vergleichen auf, da die verschiedenen Ermittlungsgeschichten beim Aufdecken von Leerstellen in der Regel mehr als nur eine individuelle oder kollektive Geschichte offenlegen. Ermittlungs- und intergenerationelle Narrative bleiben in Caché trotz komparativer Bezüge auf Werke von Daeninckx oder Sebbar, aber auch auf öffentliche Spektakel wie den Papon-Prozess eher lakonisch und indirekt. Die ethische Aufladung des Films beruht auf seiner Verfolgung mehrdeutiger, multigenerationeller Spuren, die er mit diesen Texten und Spektakeln gemeinsam hat, und seiner rigorosen Weigerung, ein singuläres Subjekt der Erinnerung und der Ethik zu erstellen. 19 Siehe zur Ermittlungsthematik Ranjana Khannas nuancierten Aufsatz über Caché, in dem sie den Film zu Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Der Doppelmord in der Rue Morgue in Beziehung setzt: Ranjana Khanna, From Rue Morgue to Rue des Iris, in: Screen 48 (2007) 2, S. 237–244.

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Ein Exkurs zum Papon-Prozess macht es möglich, die besondere Bedeutung des Kindes und der intergenerationellen Tradierung in Hanekes Film zu untersuchen und eine neue Lesart des rätselhaften, aber überaus wichtigen Schlusses zu formulieren. Die endgültige Aufnahme des Oktober-Massakers in die öffentliche Erinnerung geschah im Rahmen einer anderen Geschichte  – des 1997/98 gegen Maurice Papon geführten Prozesses, in dem es um seine Rolle bei der Deportation von Juden und Jüdinnen in nationalsozialistische Lager während des Zweiten Weltkriegs ging. Die Aufarbeitung einer genozidalen Vergangenheit war es, die zum »Prozess innerhalb des Prozesses« führte, durch den Papons Verantwortung für das Massaker vom Oktober 1961 Gegenstand der Verhandlungen und öffentlich wurde. Papons Rolle bei der Deportation von rund 1700 Juden und Jüdinnen aus Bordeaux blieb im Dunkeln, bis 1981 eine Enthüllung der Wochenzeitung Le Canard enchaîné den dann noch sechzehn Jahre dauernden Vorgang, ihn vor Gericht zu bringen, anstieß. Die Herausgeber und Herausgeberin des Prozessprotokolls beschreiben, dass es das Pariser Satireblatt war, durch das Papons »verborgene Vergangenheit [le passé caché] […] aufgedeckt wurde«.20 Ironischerweise ermöglichte diese Enthüllung eines »verborgenen« Teils einer mittlerweile bekannten Vergangenheit (der Mitschuld des Vichy-Regimes) die öffentliche Diskussion einer Episode, die einmal bekannt, dann aber »verborgen« gewesen war (Papons Rolle beim Pariser Oktober-Massaker). Mit anderen Worten: Der Papon-Prozess wurde ein Punkt, an dem sich zwei »Vektoren der Erinnerung« trafen, wie Nancy Wood vielleicht sagen würde  – zwei Vektoren, die bis dahin in unterschiedliche Richtungen zu weisen schienen (Vichy kam aus dem Verborgenen in die Sichtbarkeit, der Oktober 1961 vom Sichtbaren ins Verborgene).21 Im Mittelpunkt des Prozessgeschehens zum 17. Oktober stand die lange Aussage des Historikers Jean-Luc Einaudi über die Ereignisse vor, während und im Umfeld des Massakers. Einaudi verfasste La bataille de Paris und andere bedeutende Werke. Seine gesamte, auf Verlangen des Gerichts ohne Notizen vorgetragene Aussage bezeugte die multidirektionale Verschlungenheit der beiden Geschichten: der des nationalsozialistischen Terrors und der Mitschuld Papons, des eigentlichen Gegenstands des Prozesses, und der von Papons Beteiligung an der Repression von Algeriern und Algerierinnen in der Kolonie wie auch in Frankreich, des Kerns von Einaudis Aussage. Einaudi lenkte die Aufmerksamkeit u. a. auf die Rolle von für beide Geschichten wichtigen Figuren: Paul Teitgen, der KZ-Überlebende, dessen berühmter Rücktritt während der Schlacht von Algier in Delbos Les belles lettres vorkommt, und Edmond Michelet, ein Dachau-Überlebender, der sich für die Veröffentlichung von Zeugnissen über Folter im Algerienkrieg engagierte.22 Einaudi wies auch darauf hin, dass Papons Handlungen nach seinem Amtsantritt als Polizeipräfekt ein Nach20 Siehe Erhel/Aucher/de la Baume (Hrsg.), Le Procès de Maurice Papon, Bd. 1, S. 9. 21 Siehe Nancy Wood, Vectors of Memory: Legacies of Trauma in Postwar Europe, London 1999. 22 Zu Teitgen siehe Erhel/Aucher/de la Baume (Hrsg.), Le Procès de Maurice Papon, Bd. 1, S. 235, zu Michelet ebenda, S. 229.

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hall der damals jüngeren Vergangenheit waren: »Ende August 1958 ordnete er, wie er in einem Kommuniqué sagt, Razzien gegen nordafrikanische Arbeiter an. Wissen Sie, wo er sie interniert hat? Im Vel’ d’Hiv’, das noch existierte, sowie in der Salle Japy – beides Orte, an denen man Juden vor ihrer Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager festgehalten hatte« (Le Procès, Bd. 1, S. 227). Neben diesen Hinweisen auf Personen und Orte, die die beiden Kriege verbinden, verknüpfte Einaudi am Ende seiner Aussage Film und multidirektionale Erinnerung. Er bezog sich auf Jacques Panijels klandestinen Film Octobre à Paris, den Pierre Vidal-Naquet und andere Mitglieder des Comité Maurice Audin in Auftrag gegeben hatten, und stellte klar, was jenseits von Schuld und Unschuld im Papon-Prozess auf der Tagesordnung stand: die Herstellung einer gerechten kollektiven Erinnerung durch die Bergung einer verborgenen Geschichte. »Dieser Film, der vom gesamten Oktober 1961 handelt, endet mit [den Ereignissen in] der Metro-Station Charonne [wo neun kommunistische Antikriegsdemonstranten und -demonstrantinnen von der Pariser Polizei ermordet wurden]. Er schließt mit diesen Worten: ›Werden wir endlich begreifen, dass jeder ein Jude [un youpin] ist, dass jeder ein dreckiger Araber [bicot] ist, jeder?‹ Der Film wurde bei seiner ersten Vorführung in Paris beschlagnahmt, zusammen mit Zeitschriften und Büchern. Monsieur Papon wollte nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Schließlich kam diese Wahrheit aber doch zum Vorschein. Ich bin hierhergekommen im Gedenken an die algerischen Opfer, die man wie Hunde in einem Massengrab für unbekannte Muslime auf dem Friedhof von Thiais begraben hat. Auch im Gedenken an die Toten von Charonne bin ich hierhergekommen.« (Le Procès, Bd. 1, S. 236)

Einaudis Filmbeispiel und dass er seine Aussage den verschiedenen Opfern des 17.  Oktober und der Metrostation Charonne widmet, sind ein Hinweis, dass die kollektive Erinnerung bei jeder Darstellung des Oktobers 1961 notwendigerweise mehrere Geschichten umfasst, von denen einige lange Zeit im »Gemeinschaftsgrab« gesellschaftlichen Vergessens »beerdigt« gewesen waren.23

23 Anders als die Ereignisse des 17. Oktober sind die von Charonne dem kollektiven Vergessens nicht anheimgefallen. Im Gegenteil: Charonne hat sich zu einem der wichtigsten Gedenkorte der französischen Linken entwickelt. Das Verhältnis der Erinnerungen an diese beiden Geschichten ist zwar komplex – Charonne wird oft als eine Art Deckerinnerung dargestellt, die den Zugang zum 17. Oktober versperre –, doch Einaudis Geste zeigt, wie die bekannteren Ereignisse von Charonne als Hebel wirken können, um die andere Geschichte zu evozieren. Eine außerordentlich detailreiche und faszinierende Geschichte der Ereignisse von Charonne und des Gedenkens an sie, einschließlich der Verbindungen zum 17. Oktober, bietet: Alain Dewerpe, Charonne, février 1962: Anthropologie historique d’un massacre d’État, Paris 2006. Die Tatsache, dass Dewerpe der Sohn eines der Opfer des Charonne-Massakers ist und sein Buch somit ein Werk der Postmemory, ist für dieses Kapitel nicht ohne Belang.

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Einaudis Aussage war so dramatisch, dass sie erhebliches neues Interesse an der offiziell noch verleugneten Geschichte des 17. Oktober geweckt hat. Bei Caché geht es weniger als im Prozess um eine explizite Erörterung des Oktober 1961, sondern vielmehr darum, Diskurse über versteckte Kinder anzustoßen, das heißt über die von ihren Eltern aufgegebenen jüdischen Kinder, die sie oft der Obhut christlicher Familien oder Schulen anvertrauten, um sie vor der Deportation zu schützen. Wie die Historikerin Annette Wieviorka argumentiert hat, veränderte der Papon-Prozess die Konturen des Holocaustgedenkens: »Der Eichmann-Prozess markiert das Aufkommen der Figur des Zeugen. Der Papon-Prozess markiert eine doppelte Delegierung der Zeugenschaft. Die Rolle des Zeugen wurde zunächst an die Historiker delegiert, die zu Zeugen der Anklage, der Verteidigung oder des Klägers wurden. Alles, was es über dieses Rollengewirr zu sagen gibt, wurde während des Prozesses und in den unmittelbar nach dem Prozess veröffentlichten Werken gesagt. Aber der Papon-Prozess markiert auch – und das ist es, was mich hier wirklich interessiert – die Delegierung der Zeugenschaft an eine neue Generation, die der Kinder, die während des Krieges aufwuchsen und für die die Erinnerung an eine traumatische Vergangenheit nicht mehr in der Erinnerung an bestimmte Ereignisse besteht, über die nichts gesagt werden kann, sondern in dem nicht wieder gut zu machenden Schock, den diese Ereignisse in ihrem jungen Leben ausgelöst haben.«24

Am Beispiel von Einaudi haben wir die erste von Wieviorka genannte Delegierung bereits kennengelernt, und die Beispiele Noras und Roussos haben uns das Unbehagen vor Augen geführt, dass diese Vermengung juristischer, öffentlicher und akademischer Gattungen bei vielen Historikern und Historikerinnen ausgelöst hat. Für Caché besonders relevant ist der Generationenwechsel, den der Prozess markiert: von den Zeugen und Zeuginnen der ersten Generation, die im Eichmann-Prozess zu Wort kamen, zu denen der »anderthalbten« und zweiten Generation im Papon-Prozess. 25 In vorherigen Kapiteln habe ich die Bedeutung des Eichmann-Prozesses für eine Geschichte der Holocaust-Zeugenschaft rekontextualisiert, indem ich die zeitgleich vorgelegten Zeugnisse in Rouch und Morins Chronik eines Sommers und Delbos Les belles lettres neben den Eichmann-Prozess gestellt habe. Caché und andere Texte zum 17. Oktober helfen uns, die von Wieviorka beschriebene Transformation zu rekontextualisieren, weil sie diese Transformation 24 Annette Wieviorka, The era of the witness, Ithaca. 2006, S. 145 25 »Generation 1.5« ist eine von Susan Suleiman in ihrem faszinierenden Buch Crises of Memory and the Second World War entwickelte Kategorie, die jene beschreiben soll, die während der Ereignisse Kinder waren. Diese zweite Generation, von Marianne Hirsch als die der Postmemory bezeichnet, wurde nach den Ereignissen geboren, hat aber durch die familiäre Tradierung von Erzählungen und Affekten einen persönlichen Bezug zu ihnen. Im Papon-Prozess haben Vertreter und Vertreterinnen beider Generationengruppen ausgesagt.

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in den umfassenderen Diskurs über Trauma und intergenerationelle Erinnerungstradierung einordnen. In Hinblick auf die Analyse von Caché ist am frappierendsten, dass die Zeugenaussagen, die im Papon-Prozess den stärksten Eindruck hinterließen, nicht unbedingt die von Erwachsenen waren, die ihre Kindheit im Krieg durchlebt hatten, sondern die von »versteckten Kindern« (enfants cachés). Von diesen sticht besonders die Aussage von Esther Fogiel heraus. Fogiel wurde von der Familie, der ihre Eltern sie kurz vor der Deportation anvertraut hatten, vergewaltigt und brutal misshandelt; Mitte der 1960er-Jahre, zwei Jahrzehnte, nachdem sie diese Tortur überlebt hatte, beging Fogiel einen Selbstmordversuch.26 Wieviorka merkt an: »Esther Fogiel ist sicherlich ein Extremfall. Andere Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, hatten das Glück, in eine freundlichere Umgebung aufgenommen zu werden. Aber Fogiels Leid, selbst ihr Suizidversuch, finden in unterschiedlichem Maße Widerhall in der Erfahrung der Menschen, die als Kind versteckt werden mussten, um der Verfolgung zu entgehen, und die heute beginnen, sich zu äußern, insbesondere in den Rundbriefen der ›associations d’enfants cachés‹ [Vereinigungen für versteckte Kinder], die man in Frankreich, den Vereinigten Staaten, Israel, Polen und anderswo gegründet hat. Esther Fogiels Zeugnis scheint auch in Büchern wie Berthe Burko-Falcmans ergreifendem Roman L’enfant caché [»Das versteckte Kind«] Widerhall zu finden. Während die Zahl der Vereinigungen von Holocaust-Überlebenden drastisch zurückgegangen ist und diese Vereinigungen sich Sorgen um ihre Zukunft machen, florieren die Vereinigungen von Angehörigen der zweiten Generation.« (S. 148 f.)

Außer Fogiels gab es weitere ergreifende Zeugenaussagen ehemals versteckter Kinder, etwa die von Georges Gheldman, von dem ein Prozessbeobachter sagte, er sei »ein Kind geblieben, dass in der Erinnerung an die Trennung von seiner Mutter lebt«, und Jacky Alisvaks, der bemerkte: »Es ist sehr schwierig, wenn man als kleiner Junge von seinen Eltern fortgerissen und gezwungen wird, ein neues Leben zu beginnen, ohne zu wissen wie.«27 Die Verbindung zwischen Caché, dem Papon-Prozess und den Diskursen von und über versteckte Kinder trägt dazu bei, die vorletzte Szene des Films verständlich zu machen, aber auch die Abspannszene auf den Stufen der Schule. Der Umweg über den Prozess erlaubt es zu erkennen, wie Caché die Zeugenaussagen von Fogiel, Gheldman, Alisvaks und anderen einst versteckten Kindern in der Geschichte von Majid  – mit seinen verschwundenen Eltern, seiner schlechten Behandlung durch 26 Siehe Fogiels Zeugenaussage in: Erhel/Aucher/de la Baume (Hrsg.), Le Procès de Maurice Papon, Bd. 1, S. 838–841. 27 Zu Gheldman siehe Eric Conan, Le procès Papon: Un journal d’audience, Paris 1998, S. 95. Alisvaks’ Zeugenaussage findet sich in: Erhel/Aucher/de la Baume (Hrsg.), Le Procès de Maurice Papon, Bd. 1, S. 796.

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seine Pflegefamilie und seinem verzögerten, Jahrzehnte nach dem Trauma begangenen Suizid – aufgreift und umwandelt. Eingedenk des Diskurses versteckter Kinder, den der Papon-Prozess mit ausgelöst hat, können wir uns auch der abschließenden Traumsequenz zuwenden, in der es um Majids Trennung von der Laurent-Familie geht. Sie lässt sich nun als eine zwischen der Gewalt des Oktober 1961, der Gewalt des Zweiten Weltkriegs und anderen zeitgenössischen Formen von Staatsgewalt vermittelnde Sequenz interpretieren. Der Kontext der Szene: Georges kehrt nach einer verstörenden Begegnung mit Majids Sohn, der ihn mit dem Selbstmord seines Vaters konfrontiert hat, früher als sonst von der Arbeit zurück, nimmt zwei Schlaftabletten – die er, suggestiv, als cachets (Tabletten) beschreibt – und legt sich auf sein Bett. Die nächste Szene ist bildlich als Georges’ Traum von seiner Kindheit gekennzeichnet, obgleich ihre Plastizität und ihr gegenüber früheren Szenen gesteigerter Realismus nahelegen, dass es sich auch um eine Erinnerung handeln könnte. Aus einer Perspektive gefilmt, die zuvor mit dem jungen Georges identifiziert worden ist, sehen wir den Innenhof des Hauses, in dem Georges seine Kindheit verbracht hat. Ein altmodischer Kombi fährt auf den Hof, und bald wird uns klar, dass wir die Szene beobachten, in der Majid nach der mutmaßlichen Ermordung seiner Eltern durch Papons Polizei von der Laurent-Familie getrennt wird. Der Junge versucht, dem Paar zu entfliehen, das gekommen ist, um ihn in ein Waisen- oder Krankenhaus zu bringen. Selbst nachdem man ihn wieder eingefangen hat, wehrt er sich und schreit, dass er nicht fort will. Diese Sequenz gibt mehrere Hinweise auf das Trauma in Majids Vergangenheit, das anzuerkennen Georges in der Gegenwart vollkommen (sogar übertrieben) unfähig bleibt. Da sie am Ende des Films angesiedelt ist, lässt sich die Szene auch leicht als Episode aus der Kindheit von Georges und Majid deuten, was sie von anderen Erinnerungsfetzen und Träumen unterscheidet, von denen Georges in früheren Teilen des Films heimgesucht wird. Zugleich bleibt die Szene durch ihre traumartige Unbestimmtheit für weitere Assoziationen offen. Zweifellos erinnert sie, als Szene, in der ein Kind von einem sicheren Ort in eine staatliche Institution verbracht wird, an Zeugenaussagen aus dem Papon-Prozess, etwa an die der jüdischen Kinder, die durch die französische Polizei von ihren Eltern getrennt wurden, die man in die Lager im Osten deportierte. Die »historische« Einfärbung der Szene, das Haus und der alte Kombi ermöglichen es, die Bilder ebenso gut auf die Vichy-Zeit wie auf das Jahr 1961 zu beziehen. Durch die Übertragung vom Prozess zum Film erhalten die Geschichten versteckter Kinder weitere öffentliche Resonanz, während die marginaleren Ereignisse des 17. Oktober eine gesellschaftlich sanktionierte Ausdrucksform finden. Die »frei assoziierende« Qualität der Traumsequenz lädt dazu ein, einen Schritt weiter zu gehen. In der folgenden Abspannszene, die sich spiegelbildlich zur Vorspannszene verhält, fokussiert die Kamera die Stufen eines Gebäudes, das als das Gymnasium erkennbar gemacht wurde, an dem Georges’ Sohn Pierrot unterrichtet wird. Der Schultag geht zu Ende, Gruppen von Teenagern unterschiedlichen ethnischen

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Abbildung 8: Versteckte Kinder. Pierrot und Majids Sohn links unten auf der Schultreppe. Michael Haneke, Caché (2005) Sammlung des Autors

Hintergrunds treten in das Sonnenlicht hinaus auf die Straße. Die Kamera bleibt vollkommen statisch, bis der Abspann vorbei ist und das Bild schwarz wird. Solche ruhenden und »objektiven« Einstellungen sind im Film von Anfang an mit dem mysteriösen Gebrauch der Überwachungskamera verbunden. Die letzte Szene, außerhalb der Schule, scheint verstörenderweise anzudeuten, dass sich die Überwachung auch außerhalb des vom Film dargebotenen Rahmens fortsetzen wird.28 Abgesehen davon wirkt sie wie eine bewusst unterdeterminierte Szene, die das Publikum rätseln lässt, welchen Sinn sie wohl haben könnte. In einigen Kinos, in denen Caché gezeigt wurde, hatte ein Großteil des Publikums den Saal vor Ende der Szene bereits verlassen (zumindest in den drei Städten in den USA, wo ich den Film gesehen habe). Doch selbst für geduldigere Zuschauer und Zuschauerinnen bleibt die Szene undurchsichtig, ihre Pointe unklar. Und doch: So sehr das Weitwinkelobjektiv und die ruhende Kamera für fehlende Fokussierung sorgen, in der Einstellung verbirgt sich tatsächlich ein wichtiger Hinweis auf die Deutung des Films: die erste auf der Leinwand beobachtbare Begegnung von Pierrot und Majids Sohn (siehe Abb. 8). Vielen Zuschauern 28 Eine ähnliche, wenn auch explizitere Wirkung wird in Funny Games erzielt, einem Film, dessen Ende im Wesentlichen den Anfang reinszeniert, allerdings mit neuen Opfern. Anders als Funny Games lässt sich Caché als auf relativ erbauliche Weise endend verstehen: Auf den Stufen der Schule tritt eine neue, multikulturelle Generation auf den Plan. Nur dies hervorzuheben hieße allerdings, die in der Schlussszene ebenfalls spürbare Bedrohung zu ignorieren.

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und Zuschauerinnen scheint dieses Detail zu entgehen, wenn sie den Film das erste Mal sehen, doch beim zweiten Mal zeigt sich, dass die Kinder leicht zu identifizieren sind.29 Die beiden Söhne haben in der Geschichte, die sich gerade abgespielt hat, keine eindeutige Rolle gespielt. Majids namenlos bleibender Sohn ist besonders verdächtig, für die Überwachungsvideos verantwortlich zu sein, von denen sich die LaurentFamilie bedroht gefühlt hat, besteht aber nachdrücklich auf seiner Unschuld. Seine Begegnung mit Pierrot deutet eine mögliche Komplizenschaft der beiden Jungen an, die in Bezug auf den Oktober 1961 Vertreter der zweiten oder Postmemory-Generation sind, aber Charakter und Kontext dieser Komplizenschaft bleiben vage, und es ist schwer zu sagen, ob sich die beiden zuvor bereits begegnet sind. Die offensichtliche Fortsetzung der Überwachung deutet darauf hin, dass die beiden Söhne noch in den historischen Rahmungen leben, die ihre Eltern  – unvermeidlich unterschiedlich  – terrorisiert haben. Am hervorstechendsten ist jedoch die Art und Weise ihres Auftretens oder Nicht-Auftretens in dieser Szene. Pierrot und Majids Sohn sind zugleich sichtbar und unsichtbar: Sie sind vor aller Augen verborgen. Dieser Sichtbarkeitsmodus ist eine grundlegende Metapher des Films und ein weiteres Anzeichen dafür, dass sich der Film am kulturellen Diskurs der »versteckten Kinder« beteiligt und ihn zugleich verschiebt. Die in Caché evozierten Geschichten sind tatsächlich keine unsichtbaren, aber sie werden, wie die Fernsehnachrichten im Hintergrund oder die beiden Jungen im Abspann, leicht übersehen. Neben der offenen Frage, wer für die Überwachungsvideos verantwortlich ist, erschließt der undurchsichtige Charakter der leicht zu übersehenden Begegnung der beiden Jungen die Bedeutung des Films. Weil eine abschließende Interpretation der Begegnung stringent und bewusst verhindert wird (Haneke hat sich sogar geweigert, den Dialog zu veröffentlichen, den er für diese Szene geschrieben zu haben behauptet), fungiert der Schluss in erster Linie als Anreiz für ethische Fragen. Inwiefern kann ein Kind ein verantwortlicher Akteur sein? In welchem Verhältnis stehen Kinder zu den Handlungen und Leidensgeschichten ihrer Eltern? Welche Implikationen hat der Vorschlag, umfassende gesellschaftliche Dramen, Gewalt und Vergeltung durch die Handlungen von Kindern und das familiäre Erbe solcher Handlungen sinnbildlich darzustellen? Die undurchsichtige Sichtbarkeit versteckter Kinder verbindet Caché mit mindestens zwei weiteren Geschichten, auf die sich der Film im Unterschied zum Oktober 1961 nicht ausdrücklich bezieht. Die erste Geschichte betrifft den Papon-Prozess und verweist auf die Vergangenheit, die zweite betrifft aktuelle Kämpfe und fragt nach der 29 In einem auf der DVD von Caché enthaltenen Interview bestätigt Haneke meinen Eindruck, dass in etwa die Hälfte der Zuschauer und Zuschauerinnen die Anwesenheit von Pierrot und Majids Sohn in der Schlussszene übersieht. Es ist wichtig, dass diese Art von visueller Mehrdeutigkeit integraler Bestandteil des Films ist, ein Ergebnis von Entscheidungen über Kamerawinkel und die Platzierung von Statisten und Statistinnen. Der Film verlangt mehrfache Sichtungen – und frustriert selbst dann noch das Bedürfnis nach Gewissheit.

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Zukunft. Die versteckten Kinder der Abspannszene und die »Entführung« Majids in der vorletzten Szene sind Glieder einer multidirektionalen Kette, die die im PaponProzess erzählte Geschichte des Holocaust mit den Ereignissen des Oktober 1961 und einer aktuellen ethischen und politischen Krise verbindet. Die Rhetorik »versteckter Kinder« ist nicht an den Holocaust gebunden geblieben, wenngleich der Genozid ihr wichtigster Kontext ist. Sie taucht zusätzlich bei einem anderen zeitgenössischen französischen Phänomen auf: der Organisierung von Eltern und Kindern gegen die Deportation von Kindern aus Familien papierloser Migranten und Migrantinnen. Ein 2006 in Le Monde veröffentlichter Artikel beschreibt das Réseau éducation sans frontières (Netzwerk Bildung ohne Grenzen). Dieser 2004 gegründete Zusammenschluss hat sich direkten Aktionen verschrieben, durch die Kinder vor der Deportation bewahrt werden sollen. Le Monde beschreibt ein typisches Mitglied: »Als Mutter dreier Kinder hat sich Valérie Tranchand noch nie zuvor als Aktivistin betätigt. Zweimal hat sie ein ›verstecktes Kind‹ [enfant caché] aus dem Victor-Hugo-Gymnasium unter ihre Fittiche genommen. Ziviler Ungehorsam? [Ihren Kindern hat sie erklärt:] ›Man sollte das Gesetz achten, aber nicht jedes Gesetz. Man kann in die Lage kommen, ungerechte Gesetze zu missachten.‹«30 Die Aufforderung, ungerechte Gesetze zu missachten, einer der wichtigsten Imperative des Post-Holocaust-Bewusstseins, verweist darauf, wie sich eine Ethik des Vergleichs von sich beidseitig bedingender Vergangenheit und Gegenwart in ein politisches Netzwerk mit praktischem Programm übersetzen lässt.

Irritierende Ethik und multidirektionale Verantwortung Caché hat keine explizit politische Agenda, die mit der des Réseau éducation sans frontières vergleichbar wäre. Der ethische Gehalt des Films beruht auf der Ermittlungsarbeit, die er dem Publikum abverlangt. Seine exzessive Forderung von Erinnerung und Gerechtigkeit ist bedrohlich, denn sie verspricht keine einfachen Antworten auf Fragen individueller und kollektiver Verantwortung. Der Film hält uns vielmehr an, die Leinwand nach Hinweisen zu durchsuchen und gleichzeitig den Bildrahmen zu verlassen, um nach relevanten Kontexten Ausschau zu halten. Diese Verbindung einer offenen ästhetischen Form mit historischer Suggestivität konstituiert Hanekes ethische Praxis und führt zu einer Vorstellung von Treue, deren Reichweite sich nicht im Voraus bestimmen lässt. Im Gegensatz zu Nora, der behauptet, Historiker seien »am besten positioniert, alles […] zu sagen, wozu die Vergangenheit berechtigt«, verwendet Haneke die Erinnerung als Hebel, um nach Autorität und Verantwortung zu fragen. Die Geschichte ist in Caché ein Waisenkind, und versteckte Kinder kommen zuhauf vor. 30 Laetitia Van Eeckhout, Mobilisation citoyenne contre les expulsions d’enfants, in: Le Monde, 17. Juni 2006, www.lemonde.fr/societe/article/2006/06/17/mobilisation-citoyenne-contre-lesexpulsions-d-enfants_784782_3224.html [28. 12. 2020].

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Die Viktimisierung von Kindern zieht sich gespenstisch durch Caché und verweist auf verborgene Geschichten des Films, doch befasst sich Caché, wie Hanekes Œuvre insgesamt, auch mit der Möglichkeit, dass Kinder Täter sein können.31 In Hanekes Werk gibt es keinerlei Sentimentalität, und sein Fokus auf Georges’ Kindheitsverbrechen sollte nicht als Minimierung oder Relativierung der französische Kolonialverbrechen aufgefasst werden. Wenn Georges’ Beitrag zur Vertreibung Majids aus seinem Elternhaus eine Allegorie kolonialer Gewalt ist, ist es eine komplexe, mehrteilige Allegorie. Auf einer ersten Ebene dient Hanekes Erzählung der Geschichte mittels Georges’ Kindheitshandlung dazu, das Publikum durch die verstörende Frage nach den Grenzen moralischer Verantwortung und ethischer Handlungsfähigkeit zu irritieren. Genau so, wie das Publikum in die Lage von Detektiven versetzt wird, die Bilder nach Spuren absuchen, werden wir in ethische Fragestellerinnen verwandelt und eingeladen, darüber nachzudenken, was einen verantwortungsvollen moralischen Akteur ausmacht. Diese Befragung führt zu weiteren Bewertungsebenen. Anstatt es uns zu erlauben, Schuld schnell und abschließend mit einem klar definierten moralischen Akteur zu identifizieren und uns so an einer Beschuldigung zu beteiligen, die die Grenzziehung zwischen Verantwortung und moralischen Dilemmata erleichtern würde, regt Caché eine signifikante, aber keineswegs unbegrenzte Ausweitung ethischer Verantwortung an. Der Film hilft uns beispielsweise zu erkennen, dass, unabhängig davon, wie wir Georges’ Rolle bewerten, Majid in Wirklichkeit von Georges’ Eltern aus der Familie entfernt wurde. Sie sind, wie ambivalent ihre Haltung auch sein mag, verantwortliche Akteure. Die Szene, in der Georges seine Mutter besucht, veranschaulicht die Nachwirkungen dieser Verantwortung: Ruhig und bettlägerig, weigert sich Georges’ Mutter (Annie Girardot), sich der Vergangenheit zuzuwenden, als Georges erwähnt, dass er wiederholt von Majid geträumt hat. Die Mutter scheint Georges für sein herzloses kindliches Verhalten gegenüber Majid zu verurteilen; sie verweist indirekt auf sein Wissen von dem traurigen Szenario, weigert sich aber zugleich, ihre eigene Rolle anzuerkennen oder sich mit ihr auseinanderzusetzen. Der Film deutet auch an, dass das wahre Verbrechen nicht das Verhalten des jungen Georges ist, sondern seine Unfähigkeit als Erwachsener, die tiefen Auswirkungen seines Verhaltens auf Majids Leben anzuerkennen – ganz gleich, wie man seine Verantwortung als Kind beurteilt. Bei seinem Versagen geht es also um sein Gedächtnis und seine ethische Vorstellungskraft 31 Zu den weiteren Filmen von Haneke, die sich mit der Viktimisierung von Kindern befassen, gehören Der siebente Kontinent und Wolfszeit. Zu den Filmen, die Fragen nach Kindern und Jugendlichen als Täter (und oft auch als Opfer) aufwerfen, zählen insbesondere Benny’s Video und Funny Games. In Benny’s Video begeht der Teenager Benny einen willkürlichen, unmotivierten Mord an einem anderen Teenager. Anschließend rasiert er sich den Schädel, wodurch er (wie andere Figuren bemerken) zugleich wie ein KZ-Häftling und ein Neonazi-Skinhead aussieht. Das ist eine der sehr wenigen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus in Hanekes Werk, und sie betont die mehrdeutigen Erbschaften des Faschismus, wie sie sich auf spätere Generationen auswirken.

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ebenso sehr wie um die Lüge, die er als Junge aufgetischt hat (Georges gebraucht dafür einen Ausdruck aus dem Schulslang: cafter [»Petze«]). Als sich Georges und Majid Jahrzehnte später, nach dem Auftauchen der Überwachungsvideos, zum ersten Mal wieder begegnen, fragt Majid rhetorisch: »Was tut man nicht alles, um nichts zu verlieren?« Seine Frage betrifft Gegenwart und Vergangenheit: Georges’ Weigerung, sich der Vergangenheit zu stellen, schützt die Intaktheit seines Selbstbilds als ethisches Subjekt, so wie die Lüge des Kindes die ethnische Unantastbarkeit der Kernfamilie bewahrt hat. Beide Ausweitungen der Verantwortung – auf Georges’ Eltern und auf den erwachsenen Georges  – drehen sich um inter- und transgenerationelle Verbindungen. Das heißt, der Film erkundet die mit einer Komplizenschaft mehrerer Generationen einhergehenden Verbindungen ebenso wie die, die sich aus indirekter Verantwortung ergeben  – also genau jene, die die Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen in allen Geschichten nationaler Schande betreffen. Dass der Film die Geschichte des Oktober 1961 ethisch irritierend als die einer Rivalität zwischen Kindern inszeniert, führt zu zwei grundlegenden Anklagen: Zum einen werden Subjekte angeklagt, die unter Umständen juristisch gar nicht belangt werden können (weil sie »minderjährig« oder als Beobachter keine aktive Rolle gespielt haben), zum anderen werden Vorstellungen von Verjährung hinterfragt (wenn die Frage um transgenerationelle Verantwortung erweitert wird). Solche Anklagen wahren eine wesentliche Distanz gegenüber Rechtssystemen und juristischen Anklagen; sie implizieren ethische Vorschriften und Formen von Treue, die über das Gesetz hinausgehen und den Zustand oder die Situation, auf die sie verweisen, noch radikaler infrage stellen. Außerdem birgt der Fokus auf die Verantwortung und Viktimisierung von Kindern eine Lektion über die Ethik der Zeitlichkeit: Ohne das Vergangenheit und Gegenwart verbindende Band  – hier repräsentiert durch das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen –, kann es keine Verantwortung, keine kausale Verbindung geben, in der sich Gerechtigkeit denken ließe. Der Film geht sogar weiter. Indem er das Publikum zu mit einer Serie von Rätseln konfrontierten Detektiven macht, weist er durch Fragen darauf hin, dass die Reichweite der Verantwortung multidirektional ist: Wer ist für die Überwachungsvideos verantwortlich? Welche Bedeutung hat die Begegnung der beiden Söhne im Abspann? Wo verlaufen die Grenzen der Verantwortung? Wie verhalten sich die Kinder im Film zu den im Prozess thematisierten versteckten Kindern oder zu den jungen Sans papiers, die eventuell auf Pierrots Schule gehen? Diese Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf »Grauzonen« von Verantwortung und Mitschuld und verlangen Antworten jenseits aller linearen Kausalitätsmodelle. Sie verkomplizieren dualistische ethische Konzepte des Selbst und des Anderen. Indem Haneke die zentralen Rätsel des Films unterdeterminiert lässt, legt er die Überdeterminiertheit historischer Verantwortung offen.32 Georges ist nicht 32 Caché könnte auf produktive Weise anhand von Clifton Spargos Begriff der »Erinnerung an Ungerechtigkeit« interpretiert werden. Spargo schreibt: »Die Art und Weise, in der wir über

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das ethische Subjekt dieser multidirektionalen Verantwortung; seine Unfähigkeit zur Treue gegenüber dem Ereignis, das seine Kindheit und noch viel mehr zerrissen hat – seine Unfähigkeit, das Ereignis auch nur als Bruch zu begreifen oder den 17. Oktober überhaupt als Ereignis anzuerkennen –, steckt vielmehr ex negativo den Raum eines potenziellen, noch unverwirklichten ethischen Subjekts ab.

La Place de la Concorde:

Die Rückkehr an Stätten der Erinnerung in La Seine était rouge Caché lässt sich als Heraufbeschwörung des Ödipus-Mythos in der Version von Sophokles und Freud verstehen, sein narrativer Aufbau folgt dem der Tragödie: Ein Mann wird aufgefordert, ein Verbrechen zu untersuchen; schließlich stellt sich heraus, dass er selbst der Verbrecher sein könnte, nach dem er sucht. Andere Bestandteile der freudschen Version sind im Film verstreut: Die Gewaltandrohungen (und die tatsächliche Gewalt) sowie die intergenerationellen Konflikte evozieren das Trauma der Kastration, während die Szenen der Anspannung mit Georges und seiner Mutter, aber auch mit Pierrot und dessen Mutter Anne, die Georges der Untreue verdächtigt, uneingestandene Wünsche andeuten. Spielt der Film mit einem ödipalen Szenario, dann jedoch ohne die Auflösung, die sich bei Sophokles und Freud findet. Georges’ Blindheit liegt nicht daran, dass er das Ausmaß seiner Verbrechen der Held der griechischen Tragödie »sieht«; sie resultiert vielmehr aus der anhaltenden Verweigerung, zu sehen (insbesondere in halb- oder unbewussten Zuständen). Auch wird die elterliche Autorität nicht wie in der normativen Psychoanalyse erfolgreich neu verhandelt; vielmehr ist die Position des Vaters hier die einer unauflösbaren Legitimationskrise. Haneke bietet nicht jene Außenposition, die Daeninckx für das ethische Subjekt der Fahndung postuliert. Haneke bezieht sich auf Ödipus, um anzudeuten, dass eine Rekonstruktion des weißen französischen Subjekts nicht ohne weitere Konfrontation mit historischer Verantwortung möglich sein wird; dagegen bezieht sich Leïla Sebbar auf einen anderen Text von Sophokles, um die Entstehung eines minoritären Subjekts zu skizzieren.33 Sebbars La Seine était rouge: Paris, octobre 1961 beteiligt sich zwar, Geschichte nachdenken, und die Aufmerksamkeit, die wir der historischen Ungerechtigkeit widmen […], schaffen einen Raum der Kritik innerhalb der gegenwärtigen Ordnung. Unter anderem bietet die Erinnerung an eine Ungerechtigkeit, die in ihren historischen, systemischen Kausalzusammenhängen dargestellt wird, eine Antwort an den Bürger, dem die Sache egal ist, weil er sich nicht als kausal verantwortlich wahrnehmen kann. Die Erinnerung erweitert das Kausalitätsprinzip bis zu dem Punkt, an dem das Subjekt seine Position innerhalb einer Kausalitätskette akzeptiert.« Spargo, Vigilant Memory, S. 261. 33 In einem kurzen und prägnanten Aufsatz über Caché verweist Paul Gilroy auf die Grenzen der Vision des Films, das heißt auf dessen Unfähigkeit, über die Krise des weißen, bürgerlichen Subjekts hinauszugehen, hin zu einem vollständig imaginierten, alternativen, nichtweißen Subjekt. In einer klugen und komplementären Argumentation hat Mark Cousins die These vertreten, das Beklemmende und der potenzielle ethische Gehalt des Films würden

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wie Bei Erinnerung Mord und Caché, an der Aufdeckung »verborgener« Geschichten, doch der abschließende Appell des Romans an die Figur der Antigone evoziert auch den ethischen Imperativ, die Toten zu Grabe zu tragen und die Möglichkeit zu trauern wiederherzustellen. Sebbars Roman ist den Opfern des Massakers von 1961, dem Comité Maurice Audin und einer Reihe von Personen gewidmet, die sich als Akteure und Akteurinnen multidirektionaler Erinnerung begreifen lassen – darunter Daeninckx, Jean-Luc Einaudi, Elie Kagan, Jacques Panijel und Paulette Péju. Der Roman widmet sich bewusst Fragen der individuellen und kollektiven Erinnerung. Wie Bei Erinnerung Mord und Caché lenkt La Seine était rouge die Aufmerksamkeit auf angespannte, wenn nicht gar zerrüttete Eltern-Kind-Beziehungen, und auch Sebbars Roman erkundet solche Beziehungen im Namen eines ethischen Gedenkprojekts. Doch anders als Caché, wo Orte der Erinnerung und ethische Subjektivität nur ex negativo und andeutungsweise skizziert werden, und anders als Bei Erinnerung Mord, wo es zur Wiedereinsetzung eines klassisch männlichen Subjekts (des hard-boiled-Detektivs) kommt, kündigt La Seine die Geburt eines neuen Subjekts der Erinnerung an, auch wenn es auf einer Figur klassischer Provenienz aufbaut und an einem historisch aufgeladenem Ort entsteht.34 Der Adressierungsmodus des Romans, seine offenkundig pädagogische Ausrichtung und seine Aufforderung, sich mit seiner jugendlichen Protagonistin zu identifizieren, kennzeichnen ihn als Text, der sich an junge Erwachsene richtet, doch ist er keineswegs ein einfaches oder vereinfachendes Werk. Sebbar verwendet eine komplexe Erzählstruktur und unterteilt ihren relativ kurzen, 125 Seiten langen Roman in 37 kurze Kapitel mit zahlreichen Erzählern und Erzählerinnen und Fokalisierungsformen. Die Handlung wird vor allem von den Perspektiven dreier junger Figuren getragen: Amel, ein sechzehnjähriges Beur-Mädchen, das in Nanterre aufwächst, und zwei Freunde in den Zwanzigern: Louis, ein französischer Filmemacher, und Omer, ein algerischer Journalist im Exil. Das Buch zeichnet Amels Versuche »entschärft«, wenn seine selbstreflexive Form Gegenstand eines auf die Besichtigung folgenden Tischgesprächs wird, und nicht etwa die politische Frage der Kolonialschuld. Ich stimme Gilroy und Cousins zwar darin zu, dass der Film nicht so weit geht, ein positives, alternatives ethisches und politisches Projekt zu inszenieren (was, wie ich noch darlegen werde, La Seine était rouge durchaus tut), doch ich bin etwas wohlwollender, was die von Haneke skizzierte Vision einer künftigen Ethik angeht. Siehe Paul Gilroy, Shooting Crabs in a Barrel, in: Screen 48 (2007) 2, S. 233–235; Mark Cousins, After the End: Word of Mouth and Caché, in: Screen 48 (2007) 2, S. 223–226. 34 Meine Interpretation von Sebbars Roman deckt sich mit zwei ausgezeichneten Aufsätzen von Anne Donadey und Dawn Fulton. Meine Herangehensweise unterscheidet sich allerdings insofern von der dieser beiden Kritikerinnen, als ich La Seine in erster Linie in den multidirektionalen Traditionen verorte, die im Fokus dieses Buches stehen, und dadurch, dass ich auf Assoziationsgeflechte aufmerksam mache, die um die Fotografien Elie Kagans, den Schauplatz Place de la Concorde und die intertextuellen Bezüge auf das griechische Trauerspiel entstehen. Siehe Anne Donadey, Recasting Postcolonialism: Women Writing Between Worlds, Portsmouth 2001, S. 28–33; Dawn Fulton, Elsewhere in Paris: Creolised Geographies in Leïla Sebbar’s La Seine était rouge, in: Culture, Theory & Critique 48 (2007) 1, S. 25–38.

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nach, von ihrer zurückhaltenden Mutter und ihrer Großmutter etwas über die Vergangenheit zu erfahren. Beide Frauen waren an den Ereignissen des 17. Oktober beteiligt, lehnen jedoch Amels Bitte um Unterrichtung wiederholt mit der Entschuldigung ab, sie würden ihr am »festgesetzten Tag [au jour dit]« alles erzählen.35 Amels Mutter Noria weist also den Wissensdurst ihrer Tochter konsequent zurück, spricht aber offen mit Louis, dem Sohn einer porteuse de valise (einer »Kofferträgerin«, das heißt einer Französin, die den FLN während des Krieges materiell unterstützt hat), der einen Dokumentarfilm über die Ereignisse dreht. Anstatt die Geschichte des 17. Oktober direkt zu erzählen oder deren intergenerationelle Tradierung von Mutter und Großmutter zur Tochter darzustellen, nutzt der Roman indirekte Mittel. Etwas mehr als zwei Drittel des Romans bestehen aus »Transkriptionen« der Szenen aus Louis’ Film, in denen Noria und eine vielfältige Gruppe weiterer Augenzeugen und Augenzeuginnen über ihre Erlebnisse am 17. Oktober und den Folgetagen berichten. Nachdem sie Louis’ Film gesehen hat – und so zum ersten Mal die Geschichte ihrer Eltern erfährt –, rekrutiert Amel Omer, um sie auf ihren Streifzügen durch Paris zu begleiten, wo die beiden Spuren der Ereignisse ausfindig machen wollen. Amel und Omer suchen Orte auf, die in dem Film erwähnt werden und an denen es während der Demonstration zu Vorfällen kam, und sammeln weitere Zeugnisse von Parisern und Pariserinnen, denen sie unterwegs begegnen.36 Komplizierter wird alles dadurch, dass es dem Roman keineswegs nur darum geht, die singuläre Vergangenheit des Polizeimassakers zu rekonstruieren  – wie sein indirekter, »intermedialer« Stil bereits vermuten lässt. Wie Daeninckx, Haneke und viele andere, die auf das Massaker reagiert haben, richtet Sebbar ihre Aufmerksamkeit eindeutig auf ein umfassenderes Aufeinandertreffen von Geschichten und Erinnerungen. Der Roman ist nicht nur eine ebenso fragmentierte wie detailreiche Darstellung des 17. Oktober, er beschwört auch zahlreiche weitere Geschichten herauf, einschließlich des größeren Kontexts des algerischen Unabhängigkeitskriegs, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, des französischen Kriegs in Indochina, des napoleonischen Einmarsches in Ägypten, des Mai 1968 und  – vielleicht am nachdrücklichsten  – des algerischen Bürgerkriegs der 1990er-Jahre. Die pädagogische Stoßrichtung der Erzählung übertrifft diese multidirektionalen Anrufungen sogar; letztlich geht es um die Strukturen der kollektiven Erinnerung als solcher. Unmittelbar im Anschluss an den Papon-Prozess 1997/98 geschrieben, kehrt der Roman wiederholt zur Memorialisierung und Präsenz bestimmter Monumente im Pariser 35 Leïla Sebbar, La Seine était rouge: Paris, octobre 1961, Paris 1999, S. 16. 36 Sebbars Interesse an den mit dem Oktober 1961 assoziierten Erinnerungsorten kontrastiert wesentlich mit Hanekes scheinbarer Meidung solcher Orte. Caché spielt zwar erkennbar in Paris (flüchtige Ansichten der Rue des Iris – ein bedeutungsvoller Name – erlauben es, Georges’ Haus im 13. Arrondissement exakt zu verorten), doch der Film scheint die Gleichgültigkeit seines Protagonisten gegenüber der ihn umgebenden Geschichte zu reproduzieren, indem er sich weigert, Orte historischer Gewalt sichtbar zu machen. Ich danke Manuel Rota für die Anregung, mein Augenmerk auf diesen Aspekt des Films zu richten.

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Raum zurück. Von der Widmung zu Beginn bis zum überraschenden Schluss betont La Seine die Interaktion von Akteuren und Schauplätzen der Erinnerung. Tatsächlich lässt sich der Roman trotz seines jugendlichen Zielpublikums mit Gewinn als eine Lektion für Theoretiker der Erinnerung wie Nora und Rousso verstehen, die neuerdings vor der sozialen Sprengkraft ihres Analysegegenstands zurückzuschrecken. Sebbars Roman macht auf einige Beispiele für lieux de mémoire (Orte der Erinnerung), wie sie Nora bezeichnet hat, aufmerksam und ruft dabei den Zweiten Weltkrieg und Formen des Holocaustgedenkens in Erinnerung. Für Nora markiert die Zunahme von Orte der Erinnerung in der Moderne den Niedergang einer gelebten, kollektiven Erinnerung, die natürlich und kontinuierlich von einer Generation an die nächste weitergereicht wird. In dem berühmten Aufsatz, der den ersten Band von Les lieux de mémoire einleitet, schreibt Nora: »Es gibt Orte [lieux] der Erinnerung, weil es keine Umgebungen [milieux] der Erinnerung gibt.«37 Auf gewisse Weise bestätigt La Seine Noras These – denn der Roman betont die Kluft zwischen den Generationen –, doch letztlich lehnt er Noras Narrativ eines Verfalls ab und verweist auf mögliche neue Formen des Gedenkens bei der Interaktion von Orten und Akteuren der Erinnerung. Deutlicher noch als Bei Erinnerung Mord veranschaulicht La Seine die Struktur, die Hirsch Postmemory nennt – eine Ästhetik, die Hirsch mit den Kindern von Holocaust-Überlebenden in Verbindung bringt und zunächst in Reaktion auf Maus, Art Spiegelmans Comic über seinen Vater, einen Auschwitz-Überlebenden, entworfen hat. Wie Maus befasst sich Sebbars fiktionales Werk mit den Bemühungen der zweiten Generation, die Geschichten einer wenig mitteilsamen Generation von Zeugen und Zeuginnen zu rekonstruieren. Die Art und Weise, in der das geschieht, lenkt die Aufmerksamkeit auf den künstlichen Charakter dieser Rekonstruktion: durch Betonung des medialen (und vermittelten) Charakters der Geschichten der zweiten Generation und die Weigerung, anhand der vermischten Chronologie der individuellen Erinnerung ein bruchlos verlaufendes Narrativ zu rekonstruieren. Wie die Protagonisten und Protagonistinnen vieler Holocaust-Geschichten der zweiten Generation bemerken Amel und Louis eine tiefe Kluft zwischen ihren Erfahrungen und Lebensgeschichten und denen ihrer Eltern, die sie, mit zwangsläufig gemischten Ergebnissen, überbrücken wollen. Trotz solcher Ähnlichkeiten zwischen La Seine und zahlreichen Texten der Holocaust-Postmemory verweist Sebbar auf wesentliche Unterschiede zu solchen Texten. Eines der wichtigsten Motive in La Seine sind Amels, Louis’ und Omers wiederholte Besuche von Erinnerungsorten. Sie führen oft zu einer umgangssprachlichen Gegenerinnerung, da Omer die offizielle Erinnerung staatlicher Denkmäler mit der Erinnerung an den Algerienkrieg kombiniert. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den nationalsozialistischen Genozid waren im Diskurs und im öffentlichen Raum Frankreichs bis Ende der 1990er-Jahre weitverbreitet, doch die Gegenerinnerungen 37 Pierre Nora, Entre Mémoire et Histoire: La problématique des lieux, in: ders. (Hrsg.), Les lieux de mémoire, I: La République, Paris 1984, S. xvii.

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von Algeriern und Algerierinnen und ihren Nachfahren blieben außerhalb des Mainstream (wie die Leerstellen in Noras monumentalem Projekt bezeugen). Neben die »weiße Marmorplatte« am Santé-Gefängnis, die erklärt: »In diesem Gefängnis wurden am 11. November 1940 Gymnasiasten und Studenten inhaftiert, die General de Gaulles Aufruf gefolgt waren und zu den Ersten zählten, die sich gegen den Besatzer auflehnten«, sprüht Omer in roten Lettern: »1954–1962 wurden in diesem Gefängnis algerische Widerstandskämpfer guillotiniert, die sich gegen den französischen Besatzer auflehnten« (S. 28  f.). Die Voreingenommenheit der offiziellen Erinnerung verarbeitet Sebbar auch am Schauplatz eines anderen Denkmals literarisch. Am SaintMichel-Brunnen versperrt Omers Körper teilweise Amels Sicht auf die Inschrift. Mit Amel lesen wir: »Dem Gedenken an die Soldaten der französischen Streitkräfte des Inneren und die Einwohner des fünften und … Bezirks, die an diesem Ort … im Gefecht gestorben sind« (S. 101). Die Unvollständigkeit dieses Denkmals wird kurz darauf durch eine weitere gesprühte Botschaft, diesmal auf dem Quai Saint-Michel, ergänzt: »Hier fielen Algerier am 17. Oktober 1961 für die Unabhängigkeit Algeriens« (S. 107). Indem La Seine die Erinnerung an den algerischen Unabhängigkeitskrieg mit dem offiziellen französischen Kriegsgedenken kontrastiert, beteiligt sich der Roman nicht an der Erinnerungskonkurrenz, sondern folgt vielmehr Bei Erinnerung Mord durch den Einsatz metonymischer Mittel: Omers Botschaften verdecken nie andere Gedenkorte, sondern sind neben ihnen verortet.38 Diese metonymische Ausweitung des Gedächtnisses konstituiert eine multidirektionale Rhetorik, die sich durch La Seine hindurchzieht, wie das Beispiel eines dritten Denkmal-détournements zeigt, diesmal auf der Place de la Concorde. Die längs des konkreten und symbolischen Raums der Concorde konstruierten Assoziationen deuten interessante Verbindungen zwischen Postmemory und multidirektionaler Erinnerung an. In Chronik eines Sommers macht das Zeugnis, das Marceline inmitten des Verkehrs auf der Place de la Concorde ablegt, aus dem chaotischen, aber scheinbar unschuldigen öffentlichen Platz einen Ort voller Erinnerungen an Deportation und Erniedrigung. Nur ein Jahr nachdem Marceline von Rouch und Morin gefilmt wurde, sollte die Concorde ein Schauplatz zeitgenössischer Polizeigewalt werden. Wie Omer auf die Fassade des Hotels Crillon schreibt: »Hier wurden Algerier am 17. Oktober 1961 38 Abgesehen von der allgemeinen metonymischen Technik, die ich sowohl in La Seine als auch in Daeninckx’ Roman am Werk sehe, scheint Sebbars Interesse an den Erinnerungsschichten, die öffentlichen Räumen und ihrer Umgebung eingeschrieben sind, auf zwei Passagen in Bei Erinnerung Mord Bezug zu nehmen: zum einen auf die Beschreibung einer Mauer in Toulouse, die mit Graffiti bedeckt ist, die konträre politische Haltungen zum Ausdruck bringen, und zum anderen auf den letzten Absatz des Romans, in dem Cadin und Claudine beobachten, wie Arbeiter, die an der Metro-Haltestelle Bonne-Nouvelle (dem Schauplatz einiger der am 17. Oktober 1961 verübten Massaker) Schichten alter Plakate entfernen und dabei ein Plakat aus der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung freilegen (S. 159, 216). Diese Beispiele betonen zwar die Konkurrenz und das Blockieren von Erinnerungen, doch der Roman selbst wirkt darauf hin, die unterschiedlichen Botschaften lesbar zu machen – wie das auch Sebbars Text tut.

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von der Polizei des Präfekten Papon brutal zusammengeschlagen« (S. 81). Sebbar markiert das Pariser Wahrzeichen als Schauplatz unterschiedlicher Gewaltgeschichten und fügt dem »Ort« der Concorde im öffentlichen Gedächtnis weitere metonymische und intertextuelle Aspekte hinzu. Sie bringt die moderne jüdische Geschichte und den Kolonialismus im Allgemeinen ins Spiel, indem sie Fotografie (eine der Schlüsselressourcen der Ästhetik von Postmemory) und ein Denkmal beschwört. Multiple, manchmal zufällige Assoziationen machen aus der Place de la Concorde eine beispielhafte Schnittstelle multidirektionaler Erinnerung und schaffen letztlich einen »Platz« für die Konstruktion von Gegendiskursen der Erinnerung und der Trauer.39 Durch einen ekphrastischen, bildlich beschreibenden und einen anspielungsreichen Gebrauch der Fotografie evoziert Sebbar die Concorde als »Schnittstelle« in einem mobilen Netzwerk kollektiver Erinnerungen.40 In einer der Zeugenaussagen aus Louis’ Film, die direkt nach Amels und Omers Ausflug zur Concorde eingefügt wird, benutzt Amels Mutter ein berühmtes Bild: »Wir trafen zufällig Flora [Louis’ Mutter], sie sagte uns, die Concorde sei gefährlich. Die Polizei schlage Algerier. Die Bullen hätten Maschinengewehre. Ihr Freund, der Fotograf, zeigte ihr Fotos der Concorde-Metro-Station, ein paar Wochen später habe ich sie auch gesehen. Am Bahngleis stehen Männer, Algerier, zusammengepfercht [parqués], mit den Händen auf dem Kopf, es ist eine Razzia [une rafle], sie werden sie in die Gefangenenlager bringen, wie meinen Vater in den Palais des Sports« (S. 79  f.). Das von Noria beschriebene 39 Die Strategien, derer sich Sebbar hier bedient, sind mit denen vergleichbar, die Patrick Modiano in seinem Roman La place de l’étoile einsetzt. La place de l’étoile spielt auf subversive Weise mit dem Zusammenhang zwischen dem gelben Stern (l’étoile jaune), den Juden und Jüdinnen während der Besatzung zu tragen gezwungen waren, und einem Ort in Paris, der Place de l’Etoile (dem Standort des Arc de Triomphe sowie, nebenbei bemerkt, ein weiterer Ort, an dem sich Algerier und Algerierinnen in der Nacht des 17. Oktober bewegten). Modianos hybrides, nicht-fiktionales Werk Dora Bruder ist insofern ein weiterer offenkundiger Vorläufer von Sebbars Roman, als in ihm die Geschichte einer unter den Bedingungen der Postmemory unternommenen Ermittlung erzählt wird. 40 Sebbars Darstellung der Place de la Concorde als Ort der »Konkordanz« sich überschneidender Geschichten korrespondiert auf interessante Weise mit der kulturell-politischen Bedeutung des Ortes selbst. Wie Maurice Agulhon in Paris: A Traversal from East to West (»Paris: Eine Durchquerung von Ost nach West«), einem Essay für das Lieux-de-Mémoire-Projekt berichtet, entstand die Concorde im postrevolutionären 19. Jahrhundert als »neutralisierter« Ort: »Die Place de la Concorde spiegelte somit ein gewisses Bild Frankreichs wider, und es war undenkbar, dass ein Platz, der gewissermaßen in der Mitte Frankreichs lag, nicht auch das Zentrum von Paris sein sollte. Daraus ergab sich die Idee, dass Paris eine Stadt der Hälften, Ost und West, sei, definiert in Bezug auf die Concorde. […] Die antagonistischen Leidenschaften, die einst mit diesem zentralen Platz verbunden waren, wurden nun in der Vergangenheit begraben« (S. 535). Sebbar könnte, wie Rouch und Morin vor ihr, als Wiederbeleberin einiger dieser antagonistischen Leidenschaften angesehen werden. Sie folgt diesem historischen Narrativ auch insofern, als die den Platz zu einem Ort möglicher Übereinstimmung macht. Siehe Maurice Agulhon, Paris: A Traversal from East to West, in: Pierre Nora (Hrsg.), Realms of Memory: The Construction of the French Past, Bd. III: Symbols, New York 1998, S. 523–552.

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Foto ist zwar in ein fiktionales Narrativ eingebettet, lässt sich aber leicht als eines von denen identifizieren, die Elie Kagan, ein jüdischer Fotograf und Journalist, aufgenommen hat (siehe Abb. 9).41 Kagan, der die nationalsozialistische Besatzung im Versteck überlebte, machte viele der am häufigsten reproduzierten Fotos jener Nacht und arbeitete aktiv darauf hin, die Ereignisse des 17. Oktober sichtbar zu machen. In einem Notizbuch, das sich im Besitz seiner Familie befindet, hat Kagan einige Jahre nach dem Massaker einen lyrischen Text verfasst, der die Brutalität Papons auf multidirektionale Weise im Licht der Razzia des Vel’ d’Hiv’ deutet: »17. Oktober 1961 […] Später werden sie diesen heißen Tag ›Ratonnades à Paris‹ nennen. Araber zu Tausenden, Concorde, Solférino, Rue de Lille, behelmte Männer. Meine Angst, die mich überrascht. Oktober 61 Juli 42 Oktober 61 Juli 42 Metro, vollgepackte Wagen Franzosen, die Nase ans Fenster gepresst, gleichgültig, Sie schießen, sie töten, und dann löschen sie es schnell aus.«42

In den späten 1960er-Jahren schreibend, fängt Kagan die Stimmung von 1961 ein, als die Ereignisse bereits zur Razzia des Vel’ d’Hiv’ in Beziehung gesetzt wurden, und greift zugleich auf die Erfahrung der Folgen des Vergessens zurück. Doch sein Text zeigt, und sein Auftritt in Sebbars Roman bestätigt es, dass multidirektionale Erinnerung selbst aus den Tiefen des Vergessens hervorgehen kann. Zusätzlich zu La Seines Hinweis auf Kagans Concorde-Foto und seiner Erwähnung im paratextuellen Raum von Sebbars Widmung taucht Kagan auch in einem der Zeugnisse aus Louis’ Film auf: in der Aussage eines französischen Studenten, dessen jüdisch-ukrainische Mutter ihn überreden wollte, sich von der Demonstration fernzuhalten, aus Sorge, es könne dort zu einem Ausbruch (ihr) allzu vertrauter Gewalt kommen (S. 96). Der Student gibt sich als Mitglied jener kleinen Gruppe von Franzosen und Französinnen zu erkennen, die den FLN während der Demonstration unterstützt haben (und deren reale Entsprechungen zu den Subjekten dieses Buches zählen): 41 Eine Sammlung der Fotografien, die Kagan am 17. Oktober gemacht hat, sowie kurze biografische Texte über ihn finden sich in: Jean-Luc Einaudi/Elie Kagan, 17 octobre 1961, Arles 2001. Das hier erwähnte Foto findet sich auf S. 34 f., mit dem Hinweis, es sei aus der Metro heraus aufgenommen worden: »Elie Kagan steigt in die Metro. Auf dem Bahnsteig sind Algerier eingepfercht [parqués], mit gegen ihre Rücken gepressten Maschinengewehren. Oben bemerkt er das Bahnhofsschild: ›Concorde‹. […] Sein Blick bemerkt die tragische Ironie der Szene, die Kluft zwischen dem Schild und den Tatsachen« (S. 36). 42 Einaudi/Kagan, 17 octobre 1961, S. 74.

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Abbildung 9: Das von Elie Kagan aus dem Zug aufgenommene Foto eines Polizeiangriffs auf algerische Demonstranten an der Metro-Haltestelle Concorde © Elie Kagan / La contemporaine. Bibliothèque, Archives, Musée des mondes contemporains

»Ich war an dem Tag, dem 17. Oktober 1961, an der Metro-Station Solférino … Manche Leute waren aus Solidarität immer dabei. Eine der Instruktionen an das [Unterstützungs-]Netzwerk lautete, zu observieren, Zeuge zu sein, sich nicht unmittelbar zu beteiligen. Befreundete Fotografen riskierten ihr Leben, machten Fotos, Concorde, Solférino, Pont de Neuilly, Nanterre. Insbesondere einer von ihnen, ein Freund meiner Eltern, Elie Kagan, ist auf seiner Vespa durch ganz Paris gefahren, bis Nanterre, denn er wusste, dass man dort Algerier getötet hatte. Ich habe die Fotos dieses tragischen Tages gesehen. Im Großen und Ganzen haben es die Journalisten versäumt, ihre Arbeit zu machen.« (S. 95)

Nachdem er Kagans ethisches »Durchkreuzen« von Paris mit dem Versagen des Mainstream-Journalismus kontrastiert hat, beschreibt der Student seine eigene Rolle in einer Szene, die eine von Kagans bekanntesten Bilderserien rekapituliert: »Als ich in Solférino ankam, war die Metro-Station verlassen. Ein Mann saß völlig allein auf einer Bank, er war am Kopf verwundet. Er blutete. Er war benommen. Ich habe ihm geholfen. Ich habe mit ihm die Metro genommen« (S. 96) (siehe Abb. 10).43 Diese 43 Siehe zu dieser Serie von Fotografien Einaudi/Kagan, 17 octobre 1961, S. 37–41.

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Hinweise auf Kagans Mobilität (seine Vespa wird in Berichten über den 17. Oktober häufig erwähnt) und die metonymische Assoziierung seiner Person und der des Studenten mit Verkehrskreiseln und Metro-Stationen stehen emblematisch für den multidirektionalen Erinnerungsverkehr, der unter und zwischen den Schichten des urbanen Textes von Paris zirkuliert.44 Wenn sie Bezüge auf bekannte Fotografien  – und einen bekannten jüdischen Fotografen – in ihr Narrativ einbettet, spricht Sebbar die affektive Macht eines der prominentesten Medien an, das mit der Artikulation verspäteter Postmemory assoziiert ist. Marianne Hirsch vertritt seit einiger Zeit die These, dass die Fotografie ein privilegierter Schauplatz für die intergenerationelle Übertragung der Vergangenheit ist: »Es ist die Technologie der Fotografie selbst und der durch sie erzeugte Referenzglaube, der die Holocaust-Generation mit der nachfolgenden Generation verbindet. Das Versprechen der Fotografie, einen Zugang zum Ereignis selbst zu bieten, und ihre leichte Aneignung von ikonischer und symbolischer Macht machen sie zu einem einzigartig machtvollen Medium für die Übertragung von Ereignissen, die unvorstellbar bleiben.«45 Unter Rückgriff auf Kategorien, die Aleida Assmann entwickelt hat, argumentiert Hirsch, dass »Postmemory-Arbeit […] danach strebt, entlegenere gesellschaftliche/nationale und archivarische/kulturelle Gedenkstrukturen zu reaktivieren und neu zu verkörpern, durch deren Reinvestierung mit resonanten individuellen und kollektiven Formen der Vermittlung und des ästhetischen Ausdrucks«.46 Sebbars Roman folgt, wie die anderen in diesem Kapitel untersuchten Texte, dem von Hirsch skizzierten Modell und verwebt die Problematik nationaler und kultureller Erinnerung mit einem intimen, familiären Narrativ. Indem sie Kagan nennt und ihn mit einem jüdischen Einwanderermilieu in Verbindung bringt – ganz zu schweigen von der Aktivierung der Erinnerung an Fotografien, die an die antijüdischen Razzien zwanzig Jahre zuvor denken lassen –, entwickelt Sebbar einen postmemorialen wie auch multidirektionalen Ansatz. In La Seine ist die Place de la Concorde Trägerin weiterer Bedeutungen, die für die Reflexion der Artikulation von Postmemory und multidirektionaler Erinnerung relevant sind. Als Amel und Omer den Platz erreichen, versucht sie, ihm eine Führung anzubieten: »Das ist die Concorde, sagt Amel, und dort ist der Obelisk und da drüben ist La Défense.« Doch Omer widersetzt sich Amels neutraler Darstellung der Stadt: »Ich bin kein Tourist und der Obelisk interessiert mich einen Dreck. Ihr habt Ägypten geplündert, Bonaparte der Erste, und ihr seid stolz darauf« (S. 77). Omer erinnert der über dreitausend Jahre alte Obelisk an Napoleons Ägypten-Feldzug. Damit wird der Obelisk zu einem metonymischen Zeichen, das an die »glorreiche« Kolonial44 Sebbars Interesse an Metro-Stationen als Erinnerungsorten hat sich auch in ihrer Sammlung episodischer »Schnappschüsse« niedergeschlagen: dies., Métro: Instantanés, Paris 2007. Der »Octobre 2001, Solférino: L’Algérien« überschriebene Eintrag nimmt auf den 17. Oktober Bezug. 45 Hirsch, The Generation of Postmemory, S. 107 f. 46 Ebenda, S. 111.

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Abbildung 10: Elie Kagans Foto des jungen Mannes, der einem von der Polizei an der MetroHaltestelle Solferino blutig geprügelten algerischen Demonstranten zu Hilfe kommt © Elie Kagan / La contemporaine. Bibliothèque, Archives, Musée des mondes contemporains

vergangenheit Frankreichs erinnert  – eine Vergangenheit, in die Omer sogar das Beur-Mädchen Amel integriert –, obwohl der Obelisk tatsächlich erst vier Jahrzehnte später von Mehmet Ali, dem Vizekönig von Ägypten, an Frankreich verschenkt wurde. Trotz dieses Anachronismus unterstreicht Omers Bemerkung die Bedeutung des Ägypten-Feldzugs und die weiteren Implikationen und langfristigen Folgen der imperialistischen Kultur. Laut Edward Said war der Einmarsch in Ägypten der Gründungsmoment des orientalistischen Macht/Wissen-Regimes: »[D]ie napoleonische Expedition [schuf] dem Orientalismus durch das große Gemeinschaftswerk, die Description de l’Égypte, gleichsam ein szenisches Ambiente, da fortan Ägypten

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und später die anderen islamischen Länder als eine Art Übungsfeld, Laboratorium und Schauplatz für die Erprobung des westlichen Wissens über den Orient galten.«47 Omers postkolonialer Blick richtet sich auf dieses Theater des Wissens, nachdem es in die Metropole reimportiert worden war und als Orientierungspunkt fungierte, selbst für Subjekte wie Amel, die mit den anhaltenden Auswirkungen des kolonialen Erbes leben müssen. Sebbar inszeniert eine Konfrontation mit orientalistischem Wissen an einem Ort sich überschneidender Geschichten – nicht nur der Kolonialismus, die nationalsozialistische Besatzung und Papons polizeiliches Massaker prägen die Concorde, sondern auch die revolutionäre Inbrunst der Französischen Revolution, im Zuge derer an eben der Stelle, an der jetzt der Obelisk steht, mehr als tausend Menschen hingerichtet wurden. Sebbar verwendet hier eine metonymische, assoziative Rhetorik, um die historischen Schichten freizulegen, die das Erbe der Postmemory bestimmen. Eine letzte mit der Concorde verbundene, anachronistische Metonymie deutet an, dass aus dem Aufdecken der Erbschaften der Vergangenheit eine multidirektionale und postmemoriale Handlungsfähigkeit hervorgehen kann, die aber auch lernen muss, die Vergangenheit ruhen zu lassen. In dem Roman ist Louis von Napoleons ÄgyptenFeldzug besessen; gefangen zwischen der orientalistischen Verlockung des Ostens und seiner eigenen Skepsis gegenüber dem Kolonialismus, möchte Louis zusammen mit Amel den Feldzug in einem Film nacherzählen.48 Am Ende treffen sich Louis, Amel und Omer zufällig in der für ihren kosmopolitischen Charakter berühmten Stadt Alexandrien  – Amel ist nun doch mit Omer angereist und nicht mit Louis. In diesem kurzen Schlusskapitel deuten die beiden jungen Männer an, wie sie Amel gern »erzählen« würden. Louis möchte sie zur Heldin seines Films machen, doch Omer erklärt, er werde ihr ein Theaterstück schreiben. Dessen Handlung revidiert den Roman, den wir gerade gelesen haben, und macht daraus die aktualisierte Fassung einer bekannten griechischen Tragödie: »Es ist die Geschichte eines Mädchens, das nachts auf einem Hügel für seine Brüder ein Grab aushebt, sie versucht es verzweifelt, der Boden ist hart, Soldaten bewachen die Korpusse der hingerichteten Zwillingsbrüder. Die Armee hat die Leichen auf dem Platz [place] des Dorfes zur Schau gestellt« (S. 125). Omers Handlung macht aus Amel eine Antigone, die den Toten des 17. Oktober Gerechtigkeit widerfahren lassen will, indem sie in der Erinnerung die ihnen angemessenen Bestattungsriten abhält. Hier suggeriert der Roman eine unbemerkte zufällige Verbindung zwischen Ägypten, der Place de la Concorde und der Geschichte Antigones. Der ägyptische Ursprungsort des Obelisken, am Eingang zum Tempel von Ramses II., heißt heute Luxor, früher aber Theben. Und Theben ist natürlich noch eine andere, eine griechische Stadt: der Schauplatz der Sagen von Ödipus und Antigone. Sebbar greift 47 Edward Said, Orientalismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 56. 48 Der genaue Grund für Louis’ Obsession bleibt unklar. Wir wissen, dass er Ägypten im Alter von zehn Jahren mit seinem Vater besucht hat (S. 49) und dass sein Vater jüdische Bekannte in Alexandrien hat, doch die (berufliche? genealogische?) Verbindung der Familie zu Ägypten wird nicht erklärt.

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auf diese kontingente Assoziationskette zurück, um die Arbeit sowohl der Geschichte als auch der Erinnerung als Verschiebung erkennbar zu machen. Ein Obelisk – und ein Ortsname – lassen sich zwar von einem Kontinent zum anderen transportieren, dadurch radikal ihre Bedeutung ändernd, doch die Bedeutung eines stationären Ortes erfährt eine Verschiebung, da sich an ihm verschiedene Geschichten übereinanderlegen. Allerdings offenbart sich keine dieser Verschiebungen von selbst – daher die Notwendigkeit einer Gedenkakteurin und einer metonymischen Rhetorik. Wenn sie Paris und letztlich das Mittelmeer durchquert (bezeichnenderweise nicht in Richtung Algerien!), fungiert Amel-Antigone als Akteurin auf der Ebene der Geschichte und als Verkörperung der metonymischen Rhetorik des Textes. Dennoch bleiben Fragen, deren Bedeutung für Sebbars besondere Pädagogik der Postmemory zentral sind. Warum etwa variiert Omer die Geschichte Antigones, indem er beide Brüder unbestattet lässt, wo doch bei Sophokles einer der beiden ordnungsgemäß beigesetzt worden ist und nur der zweite nicht? Indem sie die klassische Handlung abwandelt, verkompliziert Sebbar die Frage der Gerechtigkeit. In Antigone ist das Dilemma deutlich: »Hat Kreon nicht den einen unsrer beiden Brüder / des Grabs gewürdigt und dem andern schmählich es versagt?«49 Als erklärter Staatsfeind darf Polyneikes nicht bestattet werden; als vermeintlicher Wahrer des Status quo erhält Eteokles ein Heldenbegräbnis. Antigone widersetzt sich der Autorität des Staates und handelt entsprechend der höheren Moral von Familie und Gerechtigkeit. In La Seine bleiben jedoch beide Brüder unbestattet; die Aufgabe ist dadurch als doppelt schwer gekennzeichnet. Mittels der Weigerung, zwischen den Toten zu unterscheiden, erweitert Sebbar die multidirektionale Erinnerung, die eine Reihe von Geschichten und Orten umfasst, die nicht durch eine historistische Logik verbunden sind, um das Bedürfnis nach einer Ethik der Erinnerung, die »jenseits von Gut und Böse« agiert (einer Ethik, die sich tatsächlich nicht sehr von Antigones unterscheidet). Der Hinweis auf die beiden Brüder beinhaltet zudem eine noch spezifischere Reihe historischer Bezugspunkte. Den gesamten Roman hindurch wird die Aufmerksamkeit nicht allein auf die Gewalt gelenkt, die der französische Staat am 17. Oktober gegen Algerier und Algerierinnen ausgeübt hat, und auch nicht nur auf die longue durée des europäischen Kolonialismus und Antisemitismus, sondern zusätzlich auf eine Geschichte interner Gewalt, die den Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens gekennzeichnet hat und in den 1990er-Jahren als tödliche Wahrheit über den unabhängigen algerischen Staat zum Vorschein gekommen ist.50 Wie Omer im Zuge einer Diskussion um jenes abrahamitische Erbe des Opfers, das er sowohl im Unabhängigkeitskrieg als auch im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre sieht, gegenüber Amel bekräftigt: »Die Geste, die Kehle durchzuschneiden, ist in uns. Verstehst du?« Amel lehnt Omers 49 Sophokles, Antigone, Ditzingen 2013, S. 7 (Prolog, S. 21 f.). 50 Beispiele für interne und von der FLN ausgehende Gewalt finden sich auf S. 38, 42, 92, Hinweise auf den algerischen Bürgerkrieg der 1990er-Jahre, vor dem die Figur Omer geflohen ist, auf S. 22 und 52. Omer und Amels Diskussion über das Opfer Abrahams vereint beide Formen von Gewalt (S. 61–63).

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Logik zwar ab und erwidert: »Wir sind nicht alle Halsabschneider, ich verstehe nicht«, doch die verstörenden Tatsachen der Gegengewalt spuken durch den Roman (S. 63). Omers auf dem Dorfplatz zur Schau gestellte »Zwillingsbrüder« deuten an, dass es unmöglich sein könnte, die Rollen der Gerechten und der Ungerechten eindeutig zu verteilen: Es gibt zu viele Tote, und die Toten sind tatsächlich zu eng miteinander verwandt (ein weiterer Nachhall des Ödipus-Mythos, der hier ebenso wie in Caché aufgerufen wird). Gedächtnisorte wie die Place de la Concorde aufsuchend und Denkmäler des kulturellen Gedächtnisses wie Antigone rekonfigurierend, geht Sebbars Roman einen Schritt weiter als Caché und entwirft die Figur eines ethischen Subjekts der multidirektionalen Erinnerung. Bei Sebbar wird der Platz mittels der Handlungsfähigkeit eines gerechten und relationalen Gedenkens zum Ort einer »Konkordanz« der Erinnerungen, also zu einem Schauplatz der Transformation multipler Gewaltgeschichten in eine potenziell friedliche Zukunft. »Relational« sollte hier in doppeltem Sinn verstanden werden: Es geht um die Verhältnisse innerhalb einer Familie, doch ist diese Familie auch von historisch assoziationsreichen Differenzen geprägt. Die Figur der Antigone deutet, insbesondere durch ihre Umdeutung in der Schlussepisode des Romans, an, dass die zu überwindende Gewalt innerhalb der Gemeinschaften stattfindet – sei es Frankreich, Algerien oder der geeinte/getrennte »transpolitische« Raum, den beide gemeinsam repräsentieren (um die Begrifflichkeiten Étienne Balibars und Paul Silversteins aufzugreifen). Das Beharren auf der Notwendigkeit interner Rechenschaft und darauf, Amel die Verantwortung für diese Aufgabe zuzuweisen, einem jungen, weiblichen und minorisierten Subjekt der Postmemory-Generation, unterscheidet La Seine von Bei Erinnerung Mord, wo das männliche Subjekt von Erinnerung und Ermittlung der von ihm aufgedeckten Mitschuld äußerlich bleibt, auch wenn es aufmerksam für die sich nacheinander abblätternden Lagen der Geschichte bleibt, die es umgeben.

Die unbegrabenen Toten bestatten:

die Enden der multidirektionalen Erinnerung Die Wendung zu Antigone auf der letzten Seite von Sebbars Roman wirft eine zweite Frage auf, die Implikationen für alle hier untersuchten Texte und sogar ganz allgemein für die Theoretisierung der multidirektionalen Erinnerung hat. Wie sollen wir verstehen, dass es im Drama des Sophokles um den Versuch geht, die Toten ordnungsgemäß zu bestatten, wo es doch in einem Großteil des Diskurses über den 17. Oktober – einschließlich aller hier untersuchten Texte – um das Aufdecken einer verborgenen Vergangenheit geht? Oder, um die Begrifflichkeit aufzugreifen, mit der wir begonnen haben: Wie verhält sich Sophokles’ Beharren auf ordentlicher Bestattung zu der von Pierre Nora und anderen Historikern und Historikerinnen vorgetragenen Behauptung, der Erinnerungsdiskurs sei dermaßen ausgeufert, dass er die

DIE UNBEGRABENEN TOTEN BESTATTEN

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historische Erkenntnis bedrohe und sogar eine »terroristische« Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sei? Antigones Schilderung der Ungerechtigkeit, die sie zu richten sucht, ist für die Themen dieses Kapitels besonders relevant und im Hinblick auf diese Themen ebenso herausfordernd: »Eteokles, sagt man, hat er [Kreon], wie’s die Ordnung will, nach Recht und Brauch geborgen in der Erde, so dass er drunten bei den Toten Ehr genießt. Doch Polyneikes’ Leiche, der so kläglich fiel, – es sei den Bürgern ausgerufen, heißt es – solle keiner im Grabe bergen und bejammern, nein, man lass ihn unbestattet, unbeweint, den Beutevögeln als leckern Vorrat, wenn sie ihn erspähn, zum Fressgenuss.«51

Antigone  – und deren Interpretation durch Sebbar  – birgt eine doppelte Lektion für die zeitgenössischen Erinnerungskriege. Erstens insistiert das Drama, dass das Gedenken an die Toten nicht nur terroristisch wirken kann, sondern unter gewissen Umständen tatsächlich eine terrorisierende Position einnehmen muss. Wie Sophokles und Sebbar klarstellen, ist es der Staat, der die Dynamik des Terrors produziert, wenn er sich weigert, alle Toten anzuerkennen. Wenn der Staat das Gesetz der Trauer instrumentalisiert, müssen Forderungen nach Gerechtigkeit von »gesetzlosen« Akteuren und Akteurinnen der Erinnerung und der Postmemory ausgehen. Doch Antigone insistiert auch darauf (und Sebbar bestätigt es), dass der Zweck des Gedenkens ist, in der Trauer gerecht zu sein und sich »nach Recht und Brauch« zu verhalten. Das Ergebnis der Treue zum katastrophalen Ereignis sollte, das legt auch Badious Ethik nahe, in der Transformation der Situation bestehen, die die Katastrophe verursacht hat. Geht es – wie so oft – um mehrfache Katastrophen, dann wird die Aufgabe schwieriger, aber nicht weniger dringlich. Indem sie auf die multidirektionalen Erbschaften verweisen, die sich rund um das Massaker des 17. Oktober überkreuzen und häufen, streben Daeninckx, Haneke und Sebbar nicht nach der endlosen Aufdeckung stets weiterer Ebenen von Geschichte, sondern nach einer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Situationen, die Gewalt erzeugen. Wenn sie den unbequemen Überschneidungen und Komplizenschaften nachgehen, die die Geschichten von Genozid und Kolonialismus kennzeichnen, lassen sie die Möglichkeit offen, neue Orte der Verständigung aufzubauen.

51 Sophokles, Antigone, Ditzingen 2013, S. 7 f.

Epilog: Multidirektionale Erinnerung in einem Zeitalter der Besatzungen

Ich habe in Multidirektionale Erinnerung versucht, zwei zentralen Aufgaben gerecht zu werden. Zum einen sollten wichtige Aspekte der intellektuellen, kulturellen und politischen Geschichte der Nachkriegszeit neu dargestellt werden, und zwar durch den Nachweis, dass die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden und Jüdinnen stets mit ständigen Prozessen der Dekolonisierung verwoben gewesen ist; zum anderen sollten die theoretischen Konsequenzen dieser neu begriffenen Verwobenheit für unser Nachdenken über öffentliche Erinnerung und Gruppenidentität dargelegt werden. Um diese beiden Ziele zu erreichen, ist das Buch sowohl retrospektiv als auch zukunftsbezogen, und es hat einen revisionären Blick auf die Vergangenheit mit einem optimistischen Sinn für die Möglichkeiten der Zukunft verbunden. Von zentraler Bedeutung für die Möglichkeiten, die ich aufzuzeigen und zu empfehlen versucht habe, ist mein Konzept der multidirektionalen Erinnerung gewesen, das auf der Anerkennung der produktiven Interaktion disparater Gedenkakte beruht und das ich in Abgrenzung zu einem Verständnis von Erinnerung als Konkurrenz um knappe öffentliche Ressourcen entwickelt habe. Das Konkurrenzmodell macht die Vorstellung einer Knappheit des bürgerschaftlichen Raums – was ich in meinen einführenden Bemerkungen zu Walter Benn Michaels kurz als ImmobilienmarktModell beschrieben habe – zur Grundlage seiner Auffassung von öffentlicher Erinnerung. So wird die Washingtoner Mall zum Schauplatz eines Nullsummen-Konflikts um die Relation der Präsenz der Erinnerung an die Sklaverei, beziehungsweise den Holocaust, und das in einem hochgradig nationalisierten Kontext. Die polemische Stoßrichtung meiner Argumentation war es, den Reduktionismus des auf die Nation zentrierten, an der Analogie zum Immobilienmarkt ausgerichteten Ansatzes zugunsten eines offeneren Verständnisses der Möglichkeiten von Erinnerung und Gegenerinnerung zurückzuweisen, das ein »erneutes Aufsuchen« und Umschreiben hegemonialer Erinnerungsstätten ermöglichen könnte. Dass sich der Wettbewerb der Erinnerungen nicht auf eine Konkurrenz um Immobilien reduzieren lässt, bedeutet allerdings nicht, dass Immobilien und allem, was sie in Hinblick auf symbolische, politische und wirtschaftliche Macht beinhalten, keinerlei Bedeutung zukommt. Der Besitz von Immobilien kann tatsächlich zu den Dingen zählen, um die es beim Wettbewerb der Erinnerungen geht, wie viele der hartnäckigsten politischen Kämpfe rund um den Globus bezeugen. Dieses Projekt hat bereits weite Wege beschritten, doch es gibt natürlich viele wichtige Bereiche,

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die ich nicht habe ansprechen können und in denen sich überschneidende Erbschaften nach dem multidirektionalen Ansatz, den ich hier entwickelt habe, verlangen – oder diesen vielleicht auch infrage stellen. Um die beiden offenkundigsten Beispiele zu nennen: In den Kämpfen von Indigenen aus aller Welt wie auch im israelischpalästinensischen Konflikt konvergieren Konflikte um die Erinnerung mit Auseinandersetzungen um Territorien. Es gibt keine einfachen Antworten auf politische Dilemmata wie diese, doch die möglichen Lösungen könnten sehr wohl von Visionen der Solidarität wie denen profitieren, die Multidirektionale Erinnerung sichtbar werden lässt. Das neuerliche Nachdenken über die Erinnerung, das hier vorgeschlagen wurde, mag nicht in der Lage sein, alle Aspekte der Gerechtigkeit gleichermaßen anzusprechen – insbesondere diejenigen nicht, bei denen es um die Umverteilung materieller Ressourcen geht –, doch es kann zu einem Überdenken der Fragen nach Anerkennung und Repräsentation beitragen. Wie Nancy Frasers Arbeiten zur »Rahmung« (framing) von Gerechtigkeit nahelegen, sind Fragen nach Anerkennung und Repräsentation von ausschlaggebender Bedeutung, wenn es darum geht zu klären oder zu hinterfragen, welche Form die Gerechtigkeit annehmen wird, wer als Subjekt der Gerechtigkeit zählen darf und wie oder unter welcher Gerichtsbarkeit Recht gesprochen werden soll.1 Für einen in den USA arbeitenden Forscher stellen sich diese schwierigen Fragen nach dem, was Fraser »abnormale Gerechtigkeit« (abnormal justice) nennt, insbesondere dann, wenn die Forderungen amerikanischer Ureinwohner und Ureinwohnerinnen und die Folgen des Genozids an diesen Indigenen ernstgenommen werden, weil solche Forderungen und Folgen den nationalstaatlichen Rahmen sprengen und nach einer Anerkennung des anhaltenden kolonialistischen Status der USA verlangen.2 Wie Jodi Byrd über Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit in den heutigen USA schreibt: »Während jene Genozide des 20. Jahrhunderts, die außerhalb des amerikanischen Kontinents stattgefunden haben, anerkannt werden, bleiben jene, die der wirtschaftlichen und territorialen Expansion Amerikas intrinsisch gewesen sind – die Sklaverei und die Entfernung und ›Einhegung‹ [reservation] der amerikanischen Ureinwohner – nach wie vor eine wesentliche Verwerfung im Herzen amerikanischer Identitäten.«3 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es für Amerikaner und Amerikanerinnen somit »einfacher« (oder relativ einfach) gewesen ist, sich anderswo verübten Genoziden zu stellen, als sich mit der anhaltenden Enteignung der amerikanischen Ureinwohner und Ureinwohnerinnen zu konfrontieren – gerade weil 1 2

3

Siehe Fraser, Reframing Justice in a Globalizing World; dies., Abnormal Justice, in: Critical Inquiry 34 (2008), S. 393–422. Abnormale Gerechtigkeit meint Situationen, in denen »die Disputanten […], auch wenn sie über wesentliche Fragen streiten, grundlegende Meinungsverschiedenheiten darüber ausagieren, wer berechtigt ist, Forderungen an wen und in Bezug worauf zu richten; darüber, wo und wie solche Forderungen überprüft werden sollten; und darüber, wer verpflichtet ist, ihnen nachzukommen, sofern sie gerechtfertigt sind« (Fraser, Abnormal Justice, S. 398). Byrd, »Living My Native Life Deadly«, S. 318.

MULTIDIREKTIONALE ERINNERUNG

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»Immobilien« einer der Faktoren sind, die dabei im Spiel sind. Und doch bietet die Multidirektionalität der Erinnerung, wie Byrd anerkennt, eine kritische Ressource, um die ungleiche Verteilung der Aufmerksamkeit anzugehen. Byrds nuancierte Erörterung der »konkurrierenden Diskurse« über den Genozid, die in Bezug auf amerikanische Ureinwohner und Ureinwohnerinnen immer noch zirkulieren, wägt zwischen den harschen Forderungen ab, die sich ergeben, wenn divergente Erinnerungen konvergieren (S. 328). Sie betont zugleich die Unvermeidbarkeit von Vergleichen, die Gefahr, dass Vergleiche zu Gleichsetzungen werden, wie konkurrenzbasierte Ansätze Überlebende letztlich »gegeneinander ausspielen, dabei zugleich die Unschuld und Kontrolle der Unterdrücker verdinglichend«, und die anhaltende Notwendigkeit, die Folgen der Manifest-Destiny-Doktrin aufzudecken und sich ihnen zu stellen (S. 313).4 Ein multidirektionaler Ansatz kann dazu beitragen, dass diese unvergleichbaren Risiken und Gelegenheiten insgesamt im Rahmen der Gerechtigkeit bleiben. Die Konfrontation mit traumatischen Geschichten verlangt nichts Geringeres. Ganz so, wie es für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den USA und anderen Siedlerkolonien wichtig ist, das Gewicht indigener Forderungen anzuerkennen, ist es auch von ausschlaggebender Bedeutung, dass Holocaustforscher und -forscherinnen anerkennen, wie sich ihr Thema mit einem anderen, anhaltenden Konflikt überschneidet. Die Besetzung palästinensischen Landes durch Israel hat im Zusammenhang politischer Auseinandersetzungen zu einigen der offenkundigsten – und oft gehässigsten – Analogisierungen des nationalsozialistischen Genozids geführt. In diesem Kontext nimmt die Evokation des Holocaust in der Regel die Form eines rituellen Austausches von Bedrohungen und Beleidigungen an. Zu einem typischen – und vergleichsweise geringfügigen – derartigen Austausch kam es im Februar 2008 zwischen israelischen und palästinensischen Sprechern. Nachdem ein israelischer Verteidigungsbeamter die Palästinenser gewarnt hatte, sie würden Gegenstand einer »Shoah« (eines Desasters oder Holocausts) werden, sofern sie nicht die vom Gazastreifen ausgehenden Raketenangriffe auf Israel einstellten, antwortete ein HamasSprecher, die Palästinenser hätten es mit »neuen Nazis« zu tun.5 Hier erkennen wir in verdichteter Form die typische, spiralförmige Logik der Produktion von Erinnerung und die Tendenz von »Feinden«, dieselbe Sprache von Leid und Vergeltung zu gebrauchen. Die ineinander verschränkten Archive von Genozid und Kolonialismus, die in diesem Buch erkundet wurden, treten im israelisch-palästinensischen Kontext häufig frappierend deutlich hervor. Man nehme etwa die merkwürdige Geschichte des israelischen Historikers Benny Morris. In Büchern wie The Birth of the Palestinian Refugee 4

5

Weiteres zum Verhältnis von Holocaust und Genozid an Indigenen bei: Lilian Freedberg, Dare to Compare: Americanizing the Holocaust, in: American Indian Quarterly 24 (2000) 3, S. 353–380; A. Dirk Moses (Hrsg.), Genocide and Settler Society: Frontier Violence and Stolen Indigenous Children in Australian History, New York 2004; Moses (Hrsg.), Empire, Colony, Genocide. Reuters, Israeli Official Warns Palestinians of »Shoah«, in: New York Times, 29. Februar 2008.

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EPILOG

Problem (»Die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems«) hat Morris sich anderen heutigen kritischen Historikern und Historikerinnen angeschlossen und den Unschuldsmythos revidiert, der mit Erzählungen über die Gründung des israelischen Staates einherging. Doch obwohl Morris als einer der prominentesten »post-zionistischen« Forscher bekannt war, hat er in den letzten Jahren dramatisch von dieser Zuschreibung Abstand genommen und provokante Verteidigungen Israels und Verurteilungen der Palästinenser und Palästinenserinnen veröffentlicht. Morris arbeitet zwar weiterhin zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die 1948 von der Hagana, dem Vorläufer der Israel Defense Forces, begangen wurden, ist aber außerdem dazu übergegangen, jene »Transferpolitik« zu rechtfertigen, die ihm zufolge auf Israels ersten Premierminister David Ben-Gurion zurückgeht. In einem 2004 auf Anhieb berüchtigt gewordenen Interview mit der israelischen Zeitung Ha’aretz behauptete Morris: »Ben-Gurion hatte recht. […] Ohne die Entwurzelung der Palästinenser wäre hier kein jüdischer Staat entstanden. […] Es gibt in der Geschichte Umstände, die eine ethnische Säuberung rechtfertigen. Ich weiß, dass dieser Begriff im Diskurs des 21. Jahrhunderts völlig negativ besetzt ist, aber wenn es um die Wahl zwischen ethnischer Säuberung und Völkermord geht – die Vernichtung Ihres Volkes – ziehe ich ethnische Säuberung vor. […] Selbst die große amerikanische Demokratie hätte ohne die Vernichtung der Indianer nicht geschaffen werden können.«6

Nachdenkend über die zeitgenössische Politik, sagt Morris, man müsse für die Palästinenser und Palästinenserinnen »einen Käfig bauen«, denn »es gibt dort ein wildes Tier, das man einsperren muss« (Shavit, Interview with Benny Morris). Angesichts der Empörung, die diese Bemerkungen ausgelöst haben, hat Morris später klargestellt, seine Bemerkungen über den »Käfig« und den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern und Ureinwohnerinnen seien »Ausrutscher« gewesen; er sei gegenwärtig kein Befürworter der Ausweisung von Palästinensern und Palästinenserinnen aus Israel oder den besetzten Gebieten. Dennoch spekuliert er in seiner wohlüberlegten Antwort: »Wenn in der Zukunft [Araber aus den Gebieten oder aus Israel] massive Gewalt gegen den Staat Israel verüben sollten, und das in Kombination mit einem breiten Angriff durch Israels Anrainerstaaten, sodass das Überleben Israels gefährdet wäre, dann wären Vertreibungen sicherlich eine Möglichkeit.«7 6

7

Ari Shavit, Survival of the Fittest: An Interview with Benny Morris, in: Ha’aretz, 9. Januar 2004. Eine kurze Erörterung der Bedeutung von Morris’ Interview im Kontext der zeitgenössischen israelischen Politik bietet Henry Siegman, Israel: The Threat from Within, in: New York Review of Books, 26. Februar 2004. Benny Morris, Right of Reply / I Do Not Support Expulsion, in: Ha’aretz, 23. Januar 2004. Siehe auch Benny Morris, Der zweite Holocaust, in: Die Welt, 6. Januar 2007, http://www.welt. de/print-welt/article706570/Der_zweite_Holocaust.html [28.  12.  2020]. Morris hat die englischsprachige Fassung dieses Artikels selbst veröffentlicht: http://groups.yahoo.com/group/

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In seinen provokanten Interviews und Schriften aus der Zeit nach dem 11. September 2001 und der zweiten Intifada, der Zeit des Irakkriegs, präsentiert Morris ein Potpourri aus extremer Gewalt der Vergangenheit und Gegenwart, primitivistischen Mythen und paranoid-apokalyptischen Fantasien. Darüber hinaus durchläuft sein Diskurs rasche Perspektivwechsel und changiert zwischen den Positionen von Opfern, Tätern und Beobachtern. Der Hintergrund, vor dem diese Wechsel stattfinden, ist allerdings der einer in sich stimmigen Weltsicht: jener des Kolonialismus. Tatsächlich hallen in Morris’ Diskurs die Zeitlichkeit und die Tropen nach, die Césaire 1950 als für koloniale Diskurse zentral identifiziert hat. Morris verortet die israelische Gesellschaft und »den Westen« ausdrücklich in einer langen Geschichte der Kolonialherrschaft und identifiziert sich insbesondere mit den Momenten und Gestalten einer im Niedergang begriffenen Kolonialgeschichte: »dem Römischen Reich des vierten, fünften und sechsten Jahrhunderts«, als »sie die Barbaren hereinließen und diese das Reich von innen heraus stürzten«; den Kreuzrittern, die der »Schwachpunkt Europas« gewesen seien; und dem Pied-noir Albert Camus in seiner Haltung zur Algerienfrage – »Er hat seine Mutter über die Moral gestellt. Mein Volk zu bewahren ist wichtiger als universelle Moralbegriffe« (Shavit, Interview with Benny Morris). Dass er sich und das Schicksal seines Landes an solchen historischen Wendepunkten verortet, ermöglicht Morris die Aufrechterhaltung seiner mehrdeutigen Position als (im guten Sinn) revisionistischer Historiker einerseits und Apologet »ethnischer Säuberung« und politischer Gewalt andererseits. Sicher, Morris spricht aus einem Kontext heraus, der von Gewalt durchzogen ist – der Gewalt der Besatzung ebenso wie jener der Selbstmordattentäter. Doch der phantasmatische Überschuss seines Diskurses lässt sich nicht allein aus der Tatsache zeitgenössischer Gewalt erklären. Die Kategorie der multidirektionalen Erinnerung erlaubt es, das wir uns der zugleich politischen und psychischen Natur des in solchen Diskursen zu verzeichnenden Überschusses nähern, weil sie darauf besteht, dass wir ernstnehmen müssen, wie sich öffentliche Erinnerungen wechselseitig durchkreuzen. Erinnerungskriege wie jene, die nicht aufgehört haben, den Nahen Osten aufzuwühlen, können zwar Verzweiflung auslösen angesichts der Reduktion von Politik auf krude Stereotypen und Beschimpfungen, doch die unbehagliche Nähe von Erinnerungen zueinander ist auch der Kessel, aus dem neue Visionen der Solidarität und Gerechtigkeit hervorgehen müssen. So ist es von ausschlaggebender Bedeutung, dass Morris’ Sprache selbst dann, wenn er einer Politik der Trennung das Wort redet, die wechselseitige Verschränkung von Geschichten und die Komplizenschaften verrät, die koloniale und genozidale Gewalt unweigerlich erzeugen.8 Das unaussprechbare Eingeständnis, dass »verfeindete« Bevölkerungen eine gemeinsame, wenn auch ungleiche Geschichte teilen,

8

eejh/message/63915 [1.  12  2007]. Eine Darstellung der Politik des Diskurses des »zweiten Holocaust« bietet Arye Naor, Lessons of the Holocaust Versus Territories for Peace, 1967– 2001, in: Israel Studies 8 (2003) 1, S. 130–152. Eine ausführlichere, in diese Richtung zielende Argumentation bietet Gil Z. Hochberg, In Spite of Partition: Jews, Arabs, and the Limits of Separatist Imagination, Princeton 2007.

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ist das utopische Moment, dass der Ideologie konkurrenzbasierter Viktimisierung zugrunde liegt. Ich ziehe zwei weitere Schlussfolgerungen aus der Art von Erinnerungskonflikt, für die der israelisch-palästinensische Disput emblematisch steht. Erstens: Wir können die strukturelle Multidirektionalität der Erinnerung nicht eindämmen. Selbst wenn es wünschenswert wäre, zwischen unterschiedlichen Geschichten eine Mauer, einen Cordon sanitaire zu ziehen (wie das manchmal der Fall zu sein scheint): Es ist nicht möglich. Erinnerungen sind mobil, Geschichten ineinander verschränkt. Politische Konflikte zu verstehen erfordert es, die Verflechtung von Erinnerungen im Kraftfeld des öffentlichen Raums zu verstehen. Der einzige Weg nach vorn ist der der Verstrickung von Erinnerungen.

Dank Multidirektionale Erinnerung verbindet erstmals in einem Buch Holocaustforschung und Postcolonial Studies. Das Buch versucht, die Beziehungen zwischen mindestens drei Archiven transnationaler Kulturräume zu rekonstruieren. Es verbindet die Betrachtung des schwarzen Atlantiks mit der französisch-algerischer Begegnungen und interpretiert beide im Verhältnis zur Geschichte der jüdischen Diaspora. Die Erkenntnisressourcen, die diese ungewöhnlichen Verbindungen mit sich bringen, sollen zu einem genaueren Verständnis von kollektiver Erinnerung und deren Beziehung zur Gruppenidentität beitragen. Zum einen wird die Logik vorherrschender Darstellungen von Erinnerung und Identität infrage gestellt – eine Logik, die ich als von Konkurrenz und Nullsummenspielen bestimmt sehe. Zum anderen wird eine Gegentradition freigelegt, in der sich das Holocaustgedenken mit dem Erbe von Kolonialismus, Sklaverei und anhaltenden Dekolonisierungsprozessen überschneidet. Diese von mir vorgestellte Gegentradition existiert bis heute, sie geht zurück auf Generationen von Aktivistinnen, Aktivisten und Intellektuellen, die heute die Bühne des politischen Geschehens verlassen, und von deren Beispiel dieses Buch inspiriert wurde. Manche sind heutigen Akademikern und Akademikerinnen wohlbekannt, andere hätten größere Bekanntheit verdient. Einige sind während der Niederschrift von Multidirektionale Erinnerung verstorben: Aimé Césaire, André Mandouze, Jean Rouch, André Schwarz-Bart und Pierre Vidal-Naquet. Andere sind schon vor Jahrzehnten von uns gegangen: Hannah Arendt, Charlotte Delbo, Marguerite Duras, W. E. B. Du Bois. Ich bin überzeugt, dass sich viel von ihnen lernen lässt – wie auch von anderen, die noch durchaus aktiv sind: Didier Daeninckx, Michael Haneke, Caryl Phillips und Leïla Sebbar. Auch dieses Buch ist Yasemin Yıldız gewidmet. Ohne ihre Liebe, Intelligenz, Unterstützung und ausgeprägten lektorischen Fähigkeiten wüsste ich ganz wörtlich nicht, was aus mir werden sollte. Michael Rothberg für die Originalausgabe *** Für die deutsche Ausgabe danken wir Michael Rothberg für die Geduld und Freundlichkeit, mit der er Fragen zur Übersetzung und im Interview beantwortet hat. Nicole Warmbold und Fritz Veitl vom Metropol Verlag haben sich weit über das im Verlagswesen Übliche hinaus engagiert und Sina Arnold hat wichtige Anregungen für das Nachwort gegeben. Für die großzügige finanzielle Unterstützung danken wir der 1939 Society Samuel Goetz Chair in Holocaust Studies at UCLA – und noch einmal Michael Rothberg, der sie dort organisiert hat –, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Goethe-Institut, dem Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und der Stiftung Zeitlehren. Felix Axster • Jana König

Felix Axster • Jana König

Nachwort: Multidirektionale Erinnerung in Deutschland

Zivilisationsbruch-These: (post-)koloniale Implikationen Mitte der 1990er-Jahre setzte sich der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen mit den Zumutungen deutscher Debatten über vermeintlich Fremde und Fremdes auseinander. Dabei verwendete er eine unnachahmliche Formulierung, die auch 25 Jahre später noch haften geblieben ist: Mit Blick auf kulturalisierende Zuschreibungen neurechter-rassistischer, aber auch multikulturalistisch-exotisierender Provenienz sprach Diederichsen von deutschen „Orientalismen und Afrikanismen, die nie auch nur aus der Entfernung von einem dekolonisierenden Gedanken angeweht wurden“.1 Die Liste entsprechender Zumutungen ist auch im noch jungen 21. Jahrhundert schon lang – zu denken wäre etwa an die rassistisch-sozialdarwinistischen Thesen Thilo Sarrazins in seinem 2010 erschienenen Buch Deutschland schafft sich ab, die enorme Breitenwirkung entfalteten; oder an das Zusammenspiel von Integrationsparadigma und Leitkulturbegriff, das immer dann wirksam wird, wenn insbesondere konservative Politiker die viel beschworene Heimat von Migrantinnen und Migranten „überflutet“ und also bedroht wähnen.2 Zudem zeugt die Virulenz rechten Terrors von der mörderischen Dimension dieser Zumutungen. Angesichts der anti-rassistischen und anti-kolonialen Interventionen der letzten zwei Dekaden allerdings müsste Diederichsens Diagnose wahrscheinlich modifiziert werden. Dank des Engagements zahlreicher Aktivisten, Wissenschaftlerinnen, Künstler, Kuratorinnen u. a. zeichnet sich seit der Jahrtausendwende das ab, was manche Beobachter als „koloniale Konjunktur“ bezeichnen:3 Das koloniale Erbe (und somit auch die Geschichte des kolonialen Rassismus) hat, nachdem es jahrzehntelang mehr 1 2

3

Diedrich Diederichsen, Politische Korrekturen, Köln 1996, S. 102. Vgl. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. Von den zahlreichen kritischen Repliken seien hier exemplarisch erwähnt Sebastian Friedrich (Hrsg.), Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, Münster 2011; Hilal Sezgin (Hrsg.), Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 2011. Robert Gerwarth/Stephan Malinowski, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466, hier S. 439. An dieser Stelle sei auf eine frühe postkoloniale und antirassistische Intervention in Deutschland verwiesen: Katharina Oguntoye/May Opitz/Dagmar Schultz (Hrsg.), Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986.

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oder weniger dem Vergessen anheimgefallen war, in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Sinne lässt sich konstatieren, dass zwar die Zumutungen nicht weniger geworden sind und der koloniale Mief im Rahmen zum Beispiel von HeimatDebatten durchaus kultiviert wird.4 Doch gleichzeitig hat der dekoloniale Wind – um im von Diederichsen bemühten Bild zu bleiben – in Deutschland zugenommen. Und während der weltweiten Black Lives Matter-Proteste im Sommer 2020, die von der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch weiße Polizisten ausgelöst wurden und die unter anderem durch das Stürzen kolonial-rassistischer Denkmäler die Frage nach den kolonialen Implikationen von Erinnerungspolitik und -kultur auf die Tagesordnung setzten, entstand kurzzeitig fast der Eindruck, als könne sich dieser Wind zu einem Sturm entwickeln. Allerdings scheint sich der Wind nach der neuerlichen Konjunktur islamistischen Terrors wie in Wien oder Lyon einige Monate später gedreht zu haben: Rassismuskritik und post- oder dekoloniale Theorie sehen sich verstärkt dem Vorwurf ausgesetzt, sich nicht genügend vom Islamismus abzugrenzen.5 Sicher gibt es Positionen innerhalb der adressierten akademischen und aktivistischen Milieus, die den Islamismus trotz der ihm immanenten faschistischen und misogynen Elemente im Interesse eines abstrakten Anti-Rassismus verharmlosen, ignorieren oder verklären. Hier stößt das – mitunter von Rechten okkupierte – universalistische Prinzip der Emanzipation aller Menschen mit einem kulturalistischen Legitimationsdenken zusammen, das angesichts der Sorge, einem antimuslimischen Rassismus in die Hände zu spielen, entstanden ist. Dies gilt es unbedingt zu kritisieren, doch wird man den Eindruck nicht los, dass die über den Anti-Rassismus hereingebrochene Entrüstung nur bedingt mit der Frage nach dem Verhältnis zum Islamismus zu tun hat, es sich also eher (oder zumindest auch) um einen Backlash gegen die Erfolge post- und dekolonialer Interventionen handelt.6 Die „koloniale Konjunktur“ wirkte sich auch auf die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust aus. In der Geschichtswissenschaft zum Beispiel flammte zu Beginn der 2000er-Jahre ein bisweilen heftig geführter Streit über das Verhältnis zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus bzw. kolonialen und nationalsozialistischen Gewaltpraktiken auf.7 Die Rede war von einer „‚Kolonialisierung‘ des Nationalsozialismus“ sowie von einer „postkoloniale[n] Perspektive auf die

4 5 6 7

Vgl. Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019. Vgl. Alan Posener, Die Tat von Paris ist auch ein Fanal für uns, in: Die Welt, 19. 10. 2020, www.welt.de/debatte/kommentare/article218161858/Mord-an-Samuel-Paty-Dieses-Fanalgilt-auch-uns.html [10. 1. 2021]. Siehe Ulrike Freitag, Auch die eigene Gesellschaft kritisch befragen, in: Der Tagesspiegel, 16. 11. 2020, www.tagesspiegel.de/wissen/rolle-der-nahostwissenschaft-auch-die-eigene-gesell schaft-kritisch-befragen/26626580.html [10. 1. 2021]. Als Überblick über die Debatte siehe Gerwarth/Malinowski, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“?

NACHWORT: MULTIDIREKTIONALE ERINNERUNG IN DEUTSCHLAND

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Massenverbrechen des Dritten Reiches“.8 Könnte man also sagen, dass auch die NSund Holocaustforschung einer Dekolonisierung bedürfen? Was genau würde eine solche Diagnose implizieren? Woran ließen sich entsprechende Leerstellen festmachen? Und läuft die skizzierte Perspektive nicht Gefahr, die Besonderheiten des nationalsozialistischen „Erlösungsantisemitismus“ und der mit diesem zusammenhängenden Vernichtungspolitik einzuebnen?9 Steht also das mit der Chiffre Auschwitz assoziierte Singularitätsparadigma zur Disposition? Bekanntermaßen hat es in Deutschland lange gedauert, bis dieses Paradigma zumindest weitgehend anerkannt wurde. Die ersten Jahrzehnte nach 1945 waren vor allem von Verdrängung und Schweigen geprägt. Und wenn man heute konstatieren kann, dass das Bekenntnis zu einer aus Auschwitz resultierenden Verantwortung zum Selbstverständnis der Berliner Republik gehört, symbolisiert im Denkmal für die ermordeten Juden Europas inmitten der Hauptstadt, so wird man hinzufügen müssen, dass dieses Bekenntnis erst in einem zähen und langwierigen Kampf um Erinnerung durchgesetzt wurde, der maßgeblich von Überlebenden und ihren Verbänden getragen wurde. Es würde zu weit führen, die zahlreichen Stationen und Etappen dieses Kampfes auch nur ansatzweise aufzuführen. Wichtig scheint uns aber der Verweis auf den „Historikerstreit“ von 1986 bzw. auf die im Zuge dieses Streits etablierte Zivilisationsbruch-These zu sein, zumal hinsichtlich des Singularitätsparadigmas sowie der Frage nach möglichen kolonialen Implikationen der Holocaustforschung. Zur Erinnerung: Als die konservative Kohl-Regierung 1982 an die Macht kam, rief sie eine „geistig-moralische Wende“ aus, die dazu beitragen sollte, ein positiv konnotiertes deutsches Nationalgefühl zu begründen und zu verbreiten. Auch geschichtspolitisch sollte sich diese Wende niederschlagen, und zwar als ein im Zeichen von Nationalismus und Antikommunismus gestarteter Versuch der Relativierung des Holocaust. Entscheidend war hier die These des konservativen Historikers Ernst Nolte, der zufolge Auschwitz eine Reaktion auf die Massenverbrechen in der Sowjetunion gewesen und der Holocaust nur vor dem Hintergrund einer gewissermaßen vorgelagerten „‚asiatischen‘ Tat“ zu verstehen seien.10 Historisierung des Nationalsozialismus hieß hier, die zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen als aus dem bolschewistischen Terror – dem eigentlichen Verbrechen des 20. Jahrhunderts – ableitbar zu interpretieren bzw. als einen Versuch, die angeblich von diesem Terror ausgehende Gefahr abzuwehren. 8

Birthe Kundrus, Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur „Kolonialisierung“ des Nationalsozialismus, in: WerkstattGeschichte (2006) 43, S. 45–62; Jürgen Zimmerer, Nationalsozialismus postkolonial. Plädoyer zur Globalisierung der deutschen Gewaltgeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S. 529–548, hier S. 541. 9 Zum Begriff des Erlösungsantisemitismus siehe Saul Friedländer, Erlösungsantisemitismus. Zur Ideologie der „Endlösung“, in: ders., Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007, S. 28–53. 10 Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 1986.

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Die Zivilisationsbruch-These, die insbesondere der Historiker Dan Diner ab 1987 prägte und die mit dem Singularitätsparadigma korrespondiert, war der vielleicht einflussreichste und nachhaltigste Einwand gegen derartige Relativierungen von deutscher Schuld und Verantwortung.11 Diner geht von der Prämisse aus, dass es im Zuge der Aufklärung zwar keineswegs zu einem Ende von Krieg und Gewalt gekommen sei, Krieg und Gewalt seitdem aber auf bestimmten Voraussetzungen beruhten, die durchaus einen rationalen Kern hätten. Demnach erfolgt ihre Anwendung, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen (Bereicherung, Aneignung u. a.). Zudem sei der Selbsterhaltungs-Wunsch derer, die Gewalt ausüben, in Rechnung zu stellen. In diesem Sinne geht es allgemein um die Antizipierbarkeit von Verhalten, wobei Nützlichkeitsfaktoren und -erwägungen sowie Überlebensinstinkte eine bedeutsame Rolle spielen. Diner zufolge hat der Holocaust mit all diesen Vorannahmen und Gewissheiten gebrochen. Juden und Jüdinnen seien aufgrund von Zugehörigkeit und Abstammung, gewissermaßen grundlos, vernichtet worden, auch ihre Arbeitskraft bzw. die Möglichkeit ihrer Ausbeutung habe sie nicht vor dem Tod bewahrt. Die Vernichtung sei insofern total gewesen, als die Nationalsozialisten sich das Ziel gesetzt hätten, in jedem Winkel ihres Einflussbereichs Juden und Jüdinnen aufzustöbern und zu ermorden. Dabei wurden – und zwar inmitten des Krieges – enorme Ressourcen und ein hohes Maß an Energie aufgewandt, so als ob es gelte, eine Mission zu erfüllen, der Priorität vor dem eigenen Überleben einzuräumen sei. Vor diesem Hintergrund spricht Diner von einem „Zerbrechen ontologischer Sicherheit“ bzw. von der „Durchbrechung aller bisher als gewiss erachteten ethischen und instrumentellen Schranken von Handeln“ sowie von dem „geradezu gegenrationale[n] Verhalten der Nazis“.12 Die Zivilisationsbruch-These war der Versuch, das historische Geschehen des Holocaust sowie seine kulturelle Dimension nicht zuletzt aus der Perspektive der Opfer zu erschließen. Denn gerade die Opfer verließen sich in ihrer Weltwahrnehmung und ihrem Weltvertrauen auf das, was Diner als zivilisatorische Rationalität beschreibt und was die Nazis im Holocaust zunichte machten. Angesichts der „kolonialen Konjunktur“ wiederum stellt sich die Frage, ob und inwiefern Sklaverei und kolo11 Vgl. Dan Diner, Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit der Massenvernichtung, in: Babylon – Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1987) 2, S. 23–33. Innerhalb der Geschichtswissenschaft wird die Zivilisationsbruch-These als ein Versuch der erkenntnistheoretischen Annäherung an oder Einordnung von Auschwitz immer wieder diskutiert. Siehe z.  B. Heidemarie Uhl (Hrsg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck u. a. 2003. Auch die Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des Theodor-Herzl-Preises im Oktober 2019, in der sie mehrmals vom „Zivilisationsbruch der Shoah“ sprach, zeugt von dem enormen Einfluss der Dinerschen Intervention. Vgl. Angela Merkel, Rede zur Verleihung des Theodor-Herzl-Preises am 28. Oktober 2019 in München, www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/ aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zur-verleihung-des-theodor-herzl-preises-am28-oktober-2019-in-muenchen-1686238 [10. 1. 2021]. 12 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 14 und 31.

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niale Gewaltpraktiken einen Bruch in der Weltwahrnehmung und im Weltvertrauen der Opfer des Kolonialismus dargestellt haben. Zudem ist der Begriff der Zivilisation, der bei Diner als Kontrastfolie fungiert, um Charakter und Dimension des Holocaust fassbar zu machen, keineswegs unschuldig.13 Immerhin haben sich die Kolonisierenden als Zivilisationsbringer imaginiert, war die Vorstellung, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der als wild geltenden kolonisierten Gebiete zivilisiert werden müssten, zentraler Bestandteil der Ideologie des Kolonialismus. Ließe sich also sagen, dass der Zivilisationsbruch-These eine eurozentrische Perspektive eingeschrieben ist? Vor einigen Jahren hat Diner die post- oder dekoloniale Herausforderung für die Holocaust-Forschung und die Zivilisationsbruch-These selbst diskutiert. Dabei thematisierte er auch die Frage nach den eurozentrischen Implikationen seiner eigenen Denkbewegungen. Ein wichtiger Bezugspunkt für seine Überlegungen ist der 8. Mai 1945, dem eine „doppelte Bedeutung“ innewohne: Wie an vielen anderen Orten kamen auch im nordalgerischen Sétif, seinerzeit Teil des französischen Kolonialreichs, Tausende Menschen zusammen, um die Befreiung vom Faschismus zu feiern.14 Nachdem die Feiernden der Aufforderung nicht Folge geleistet hatten, die grün-weiße Fahne der algerischen Nationalbewegung zu entfernen, schossen französische Sicherheitskräfte in die Menge. In den nächsten Tagen kam es an vielen Orten in Algerien zu Unruhen, die von der Kolonialmacht brutal niedergeschlagen wurden. Schätzungen gehen von Tausenden, teilweise sogar von Zehntausenden Toten aus. Das Massaker von Sétif markiert laut Diner einen Wendepunkt. Der Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskriegs am 1. November 1954 lasse sich gewissermaßen als eine Fernwirkung der Ereignisse rund um den 8. Mai 1945 verstehen: „Was 1954 anhob, war im Grunde nur aufgeschoben worden.“15 So gesehen markiere der 8. Mai 1945 nicht nur das Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern auch den Beginn der Dekolonisation. Diner resümiert: „So schieben sich für den Kolonisierten Bilder der nach 1945 an ihm verübten Grausamkeiten vor die Zeitzeichen der Befreiung in Europa.“16 13 Siehe Oliver Marchart, Umkämpfte Gegenwart. Der „Zivilisationsbruch Auschwitz“ zwischen Singularität, Partikularität, Universalität und Globalisierung der Erinnerung, in: Uhl, Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, S. 35–65. 14 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S. 67. 15 Ebenda. Der aus einer algerischen Familie stammende Schriftsteller und Filmregisseur Mehdi Lallaoui hat kürzlich in eine ähnliche Richtung argumentiert: „Die Massaker im Mai und Juni 1945 in Algerien markierten tatsächlich einen Bruch in den Beziehungen zu Frankreich. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass der Großteil derjenigen, die neun Jahre später die FLN [Front de Libération Nationale – algerische Befreiungsbewegung] gründeten, ehemalige Soldaten waren, die Frankreich befreit hatten. Sie waren aus dem Krieg in Europa nach Algerien zurückgekehrt und mussten dort mit ansehen, wie ihre Familien massakriert wurden. […] Die Erfahrungen von Mai und Juni 1945 waren somit tatsächlich der Ausgangspunkt für den Beginn des Algerienkrieges im November 1954, der fast acht Jahre dauern und zur Unabhängigkeit führen sollte.“ „Das ist für uns unerträglich“. Interview mit Mehdi Lallaoui über Frankreichs Kolonialmassaker in Sétif, in: iz3w (2020) 381, S. 41–44, hier S. 43. 16 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S. 78.

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Ausgehend von dem Massaker von Sétif setzt sich Diner grundsätzlich mit den Bedingungen und Charakteristika kolonialer Gewaltformen auseinander. Dabei macht er eine spezifische Dynamik aus: Auch wenn das Ziel der Kolonialmacht zunächst Eroberung, Versklavung und Befriedung gewesen sei, habe sie letztlich zu einer „unterschiedslose[n] Art der Gewaltausübung“ tendiert.17 Dies habe vor allem mit der Bedeutung des kolonialen Rassismus bzw. der die kolonialen Verhältnisse strukturierenden Ordnungskategorie „Rasse“ zu tun, die „keine Differenzierung jenseits der bloßen Herkunft“ zulasse.18 Demnach hätten koloniale Gewaltformen tatsächlich oder zumindest potenziell „genozidalen Charakter“ angenommen.19 Somit stelle sich aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen genozidaler Kolonialgewalt und Holocaust. Zwar seien die Kolonialmächte durch die von ihnen während der Epoche der Dekolonisierung verübten Massaker „dem nahe gekommen, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Europa aufgeführt hatten“.20 Gleichwohl markiere der Holocaust eine Differenz: „Bei aller Absolutheit der kolonialen Gewalt […] steht der Holocaust als eine bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft. Weder gilt es durch Gewalt einen Willen zu brechen noch etwas zu erzwingen. Der Vernichtungstod ist ein im Kern grundloser Tod.“21 Genau diese Differenz aber – und das ist die eigentliche Pointe von Diners Ausführungen – drohe immer weniger zur Kenntnis genommen zu werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen der 8. Mai 1945 bzw. die an diesem Tag sich gleichzeitig vollziehende Befreiung vom Faschismus und die Manifestation von Kolonialgewalt noch einmal in einem anderen Licht: Diner spricht von einer „unheimlichen Begegnung“ sowie von einer „gegenläufige[n] Konstellation“: „Die kalendarische Chiffre der Befreiung im Westen fällt mit einem herausragenden Datum der kolonialen Unterdrückung zusammen.“22 In diesem Sinne fungiert der 8. Mai 1945 als Indikator für das, was Diner als Gegenläufige Gedächtnisse bezeichnet. In gewisser Weise lässt sich die Diagnose vermeintlich gegenläufiger Gedächtnisse als eine Fortschreibung der Zivilisationsbruch-These begreifen. Zumindest stehen in beiden Fällen erkenntnistheoretische Fragen zur Diskussion. Während es bei der Zivilisationsbruch-These um den Versuch der Erkenntnis des Holocaust bzw. der Dimension und Bedeutung dieses historischen Ereignisses geht, setzt sich die Gegenläufigkeits-These mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erkenntnis dieser Erkenntnis auseinander. Diner registriert, dass das durch den Kolonialismus verur17 Ebenda, S. 75. Siehe auch Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hrsg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006; Michael Mann, Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus, in: Mihran Dabag/Horst Gründer/Uwe-K. Ketelsen (Hrsg.), Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid, München 2004, S. 118–135. 18 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S. 75. 19 Ebenda, S. 81. 20 Ebenda, S. 11. 21 Ebenda, S. 81. 22 Ebenda, S. 64 f. und 67.

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sachte Leid „endlich Anerkennung“ fordere – er spricht von „zunehmend vernehmbaren Ansprüchen auf Entschuldigung und Entschädigung“. Dabei falle auf, dass die mit diesen Ansprüchen korrespondierenden „Erzählungen dem vom Holocaust vorgegebenem Narrativ zu entsprechen suchen“.23 Weiter heißt es: „Das Bild vom Holocaust zieht eine universale Moral nach sich, in der die unterschiedlichen, auf verschiedenen historischen Zeitstufen angesiedelten Vergangenheiten sich wie in einer Art egalisierender Gleichzeitigkeit begegnen.“24 Die Folge sei eine „Anthropologisierung von Leid“, die den „Maßgaben der historischen Urteilskraft“ entgegenstehe.25 Von Bedeutung ist nun, dass Diner davon ausgeht, der Wahrnehmung und Deutung des Holocaust als Zivilisationsbruch liege ein „westliche[s], gar eurozentrisch imprägnierte[s] Erfahrungs- und Weltverständnis“ zugrunde.26 An anderer Stelle ist die Rede von einem „westlich imprägnierten Anspruch auf erkenntnistheoretisch angeleitete historische und begriffliche Trennschärfe im Vergleich von Massenverbrechen untereinander – vor allem aber mit Auschwitz“.27 Was heißt das aber im Umkehrschluss? Diner fragt: „Wird mit der westlichen Diskurshoheit außereuropäischen, außerwestlichen Kulturen und Traditionen nicht eine Deutung des Holocaust auferlegt, die ihren Erfahrungen und Intuitionen, unter Umständen gar ihrer Weltdeutung fremd ist? Will dies umgekehrt bedeuten, die dem Zivilisationsbruch zugeschriebene Geltung reduziere sich auf den Traditionszusammenhang der westlichen Aufklärung und ihrer Moderne? Erweist sich Auschwitz als ein singulärer Zivilisationsbruch nur dann, wenn jenes Geschehen vor dem Hintergrund westlicher Rationalitätsvorstellungen, eines westlichen historischen Erwartungshorizonts, seiner Semantiken und Begriffsbildungen abgebildet wird?“28 Es handelt sich um rhetorische Fragen. Diners Überlegungen zur Gegenläufigkeit des kolonialen und des Holocaust-Gedächtnisses laufen letztlich auf die Entgegensetzung von „westlicher“ und „arabisch-muslimischer“ Welt hinaus. Während Erstere durch ein „weitgehend säkularisiertes Weltbild“ gekennzeichnet sei, das gewissermaßen als Voraussetzung für die Befähigung zur Erkenntnis des Holocaust als Zivilisationsbruch firmiert, sei bei Letzterer das „Phänomen einer verzögerten Säkularisierung, eines Zeitstaus des Sakralen“ bzw. eine „unzureichende Profanierung der […] Lebenswelten“ zu beobachten, auf die die „unter Muslimen vorherrschende Wahrnehmungsbarriere des Holocaust“ zurückzuführen sei.29 Weiter heißt es: „Ein sakral durchdrungenes Bewusstsein wird sich dem Holocaust als Zivilisationsbruch 23 Ebenda, S. 38. 24 Ebenda. Allgemein zur Universalisierung des Holocaust in der Erinnerungskultur siehe Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001. 25 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S, 38. 26 Ebenda, S. 37. 27 Ebenda, S. 39. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 104.

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verweigern – als Widerlegung der an die Aufklärungstradition gebundenen Vorstellungen von Vernunft- und Rationalitätserwartungen.“30 Die „Tendenz zur Pluralisierung“ von Geschichtsbildern und historischen Narrativen jedenfalls, die mit der „kolonialen Konjunktur“, mit der Forderung nach Anerkennung außereuropäischer Erfahrungs- und Erinnerungswelten einhergeht, wird – das ist Diners durchaus pessimistische Schlussfolgerung – die „Maßgaben historischer Urteilskraft“ aushöhlen.31 Entsprechend drohe ein Verfall von Unterscheidungsfähigkeit und -bereitschaft, der darauf hinauslaufe, die Spezifik des Holocaust als Zivilisationsbruch einzuebnen.

Gegenläufigkeit vs. Multidirektionalität Wir haben Dan Diner hier so viel Platz eingeräumt, weil die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus respektive die Zivilisationsbruch-These für unsere politische Sozialisation im Land der Täter, für unseren Umgang mit dem historischen Erbe, das auch ein familiäres Erbe war und ist, von eminenter Bedeutung ist. Zudem halten wir das von ihm bemühte Bild, dass sich das koloniale Gedächtnis und das Gedächtnis des Holocaust „aneinander reiben“, für durchaus bedenkenswert.32 Wir wollen auch keineswegs mögliche Spannungen negieren, die sich im Zuge dieser Reibung ergeben. Und doch lässt einen Gegenläufige Gedächtnisse einigermaßen ratlos zurück. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Gegensatzpaare – koloniales Gedächtnis vs. Gedächtnis des Holocaust, „Westen“ vs. „arabisch-muslimische Welt“ – einen quasi ontologischen Status haben, was dazu führt, dass das Verhältnis der Opfer kolonialer Verbrechen einerseits und nationalsozialistischer Verbrechen andererseits zueinander kulturalisiert wird.33 Zudem haftet der Dinerschen Analyse ein eigentümlich fatalistischer Zug an. Die Reibung der Gedächtnisse ist keineswegs als offener Prozess konzipiert bzw. als Prozess, der verschiedene Möglichkeiten bereithält, zum Beispiel die Möglichkeit eines wechselseitigen Aufeinander-Einwirkens. Im Gegenteil, in fast schon teleologischer Weise läuft die Geschichte bei Diner auf Verfall und Verlust hinaus. Gewiss, die faschistische Konterrevolution war und ist eine ernst zu nehmende Gefahr, auch in arabisch-muslimischen Ländern und Milieus. Aber lässt sich das koloniale Gedächtnis auf die arabisch-muslimische Welt reduzieren? Und lässt sich die Aufklärung derart westlich imprägnieren? Wäre ihre Genese nicht 30 31 32 33

Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 107. Ebenda, S. 40. Auch Omar Kamil bemüht in seiner Auseinandersetzung mit der Rezeption des Holocaust seitens arabischer Intellektueller das Bild gegenläufiger Gedächtnisse. Im Gegensatz zu Diners ontologisierendem Ansatz allerdings stützt sich Kamil auf ein historisch-politisches Argument, das die Gegenläufigkeit (bzw. die Ignoranz arabischer Intellektueller gegenüber dem Holocaust) auf Opferkonkurrenzen und den arabisch-israelischen Konflikt zurückführt. Vgl. Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945– 1967, Göttingen 2012.

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im Sinne eines global- und verflechtungsgeschichtlichen Ansatzes zu rekonstruieren, wobei dann auch zum Beispiel die von Sklaven ausgehende Revolution auf Haiti kurz nach der Französischen Revolution mit einbezogen werden müsste?34 Was ist mit der Beteiligung der „Dritten und Vierten Welt“ am Kampf gegen den Faschismus?35 Spielte nicht auch hier die Vision von Freiheit und Gleichheit eine zentrale Rolle? Bestand die nachhaltige Wirkung des Massakers von Sétif nicht gerade darin, dass diese Vision inmitten des Freudentaumels zerplatzte oder zerstört wurde? Müssen das koloniale Gedächtnis und das Gedächtnis des Holocaust notgedrungen gegenläufig sein? Besteht nicht auch die Möglichkeit, dass sich diese Gedächtnisse während oder nach der „Reibung“ miteinander verbinden? Und liefe eine solche Verbindung automatisch darauf hinaus, historische Urteilskraft preiszugeben und die Spezifik des Holocaust einzuebnen? Auch diese Fragen sind rhetorischer Natur. Wenn die von Diner aufgeworfene Frage nach den eurozentrischen Implikationen der Zivilisationsbruch-These ernst gemeint ist, müsste es doch eigentlich darum gehen, Auswege zu suchen und aufzuzeigen. Aber Gegenläufige Gedächtnisse lässt einen auch deshalb ratlos zurück, weil eine Art erinnerungskulturelles Dilemma postuliert wird, das irgendwie unauflöslich zu sein scheint. Unsere Fragen sind aber nicht nur rhetorisch, sie haben auch eine dramaturgische Funktion. Denn sie leiten über zu Michael Rothbergs 2009 publizierter und viel diskutierter Studie Multidirectional Memory, die nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Das Buch handelt genau von der Möglichkeit der Verbindung zwischen kolonialem und Holocaust-Gedächtnis. Und es steht emblematisch für das, was Rothberg als „koloniale Wende in der Holocaust-Forschung“ bezeichnet. Somit stellt es eine Art Gegenposition zu Gegenläufige Gedächtnisse dar. Interessant ist, dass beide Autoren im Grunde von der gleichen historischen Konstellation ausgehen, sich auf die mehr oder weniger gleichen historischen Geschehnisse beziehen und ähnliche Quellen nutzen. Dennoch kommen sie zu anders gelagerten Schlussfolgerungen, was auch damit zusammenhängt, dass sie von konträren Voraussetzungen ausgehen. Zum Beispiel steht der pessimistische Grundton von Diner im Gegensatz zum Optimismus bei Rothberg. Und während Ersterer den Schwerpunkt auf die Logik von Opfer- oder Erinnerungskonkurrenz legt, geht es bei Letzterem um den Versuch, diese zu überwinden. Vielleicht ließe sich sagen, dass das Zivilisationsbruch-Postulat und die mit diesem korrespondierenden Singularitäts- und Gegenläufigkeitsthesen die größtmögliche gedankliche Herausforderung für Multidirektionale Erinnerung darstellen – dasselbe gilt in umgekehrter Richtung. Jedenfalls halten wir eine Gegenüberstellung der beiden Ansätze insofern für produktiv, als sie sich wechselseitig zu 34 Siehe z. B. Cyril Lionel Robert James, Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Unabhängigkeitsrevolution in Haiti, Köln 1984. 35 Siehe Rheinisches JournalistInnenbüro (Hrsg.), „Unsere Opfer zählen nicht.“ Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin/Hamburg 2005.

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befragen vermögen. Gleichzeitig scheinen die von Diner formulierten Prämissen und Thesen in eine erinnerungspolitische Sackgasse zu führen. Rothbergs Ansatz hingegen hat das Potenzial, aus diesem Dilemma herauszuführen. Nicht zuletzt deshalb haben wir uns entschieden, die Übersetzung von Multidirektionale Erinnerung auf den Weg zu bringen. Doch worum geht es in Multidirektionale Erinnerung? Eines von Rothbergs Zielen ist es, ein Archiv multidirektionaler Perspektiven zu erstellen, das essayistische und literarische Texte sowie Filme versammelt. Es beginnt mit Hannah Arendts und Aimé Césaires Überlegungen aus den 1950er-Jahren und endet (vorläufig) mit einem Roman von Leïla Sebbar und einem Film von Michael Haneke, die 1999 bzw. 2005 erschienen sind. Das Gemeinsame dieser Texte und Filme besteht darin, dass sie – mal mehr, mal weniger explizit, mal mehr, mal weniger systematisch – Bezüge herstellen zwischen der Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus einerseits und von Nationalsozialismus und Holocaust andererseits. In jeweils eigenen Kapiteln nimmt Rothberg detaillierte Lektüren vor und setzt diese in Beziehung zueinander. So entsteht das beeindruckende Panorama einer über Jahrzehnte andauernden Denktradition, das die gewohnten Einteilungen von auf den Holocaust und den Kolonialismus bezogenen erinnerungspolitischen Konjunkturen und disziplinären Grenzen herausfordert. Doch Rothberg betätigt sich nicht nur als Archivar. Die Arbeit im und am Archiv läuft darauf hinaus, einen Vorschlag zu unterbreiten, der das Verständnis von Erinnerung an sich betrifft: Rothberg wendet sich gegen die weitverbreitete Vorstellung, dass Aufmerksamkeit eine knappe Ressource sei und Erinnerung entsprechend die Form eines Nullsummenspiels annehme. Er bestreitet, dass Erinnerungen an jeweils spezifische Ereignisse aufgrund der Aufmerksamkeitsökonomie notwendigerweise in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Im Gegenteil, Multidirektionalität bezeichnet eine produktive Dynamik, die gewissermaßen auf ein Mehr an Erinnerung hinausläuft, da durch die wechselseitigen Bezugnahmen verschiedene historische Geschehnisse gleichzeitig in den Fokus rücken. Multidirektionale Formen des Erinnerns haben somit einen inkludierenden Effekt, da sie mehrere Geschichten in sich zu vereinen vermögen. Dies setzt voraus, Erinnerung weniger identitär zu denken, Geschichte oder Geschichten nicht als Eigentum von bestimmten Gruppen zu verstehen. Es ließe sich fragen, wer befugt sein sollte, gerade denjenigen sozialen Gruppen, die traumatisierende Gewalt erfahren haben und ihre Identität nicht zuletzt aus der Erinnerung an diese Gewalt beziehen, eben diesen Zusammenhang von Geschichte, Erinnerung und Identität abzusprechen. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass multidirektionales Erinnern bei Rothberg auf normativen Prämissen beruht, er – wie vor allem das Interview in diesem Band belegt – zwischen guten und schlechten Formen der Multidirektionalität unterscheidet, wobei Solidarität und Gerechtigkeit als Unterscheidungskriterien fungieren. In diesem Sinne verbindet sich mit dem „identitätsskeptischen“ Ansatz die Hoffnung, dass die gleichzeitige Erinnerung an unterschiedliche historische Geschehnisse Ver-

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bindungen eben nicht nur zwischen den erinnerten Geschichten, sondern auch zwischen den in ihnen hergestellten oder aus ihnen geronnenen Subjektivitäten stiftet. Die multidirektionalen Bezüge jedenfalls – ob intendiert oder nicht – können unterschiedliche Formen annehmen (Vergleiche, Analogien, Aneignungen, Verweise, Zitate etc.). Und sie können dazu beitragen, historische Geschehnisse wechselseitig zu beleuchten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Dan Diner in Gegenläufige Gedächtnisse, während er sich mit der Situation in den jüdischen Ghettos befasst, vom „Herz der Finsternis“ spricht, also jene Metapher verwendet, die durch die gleichnamige Kolonialnovelle des Schriftstellers Joseph Conrad von 1899 zu einer Art Ikone kolonialer Wissensordnungen und Vorstellungswelten geworden ist.36

Multidirektionalität in Deutschland 1: postmigrantische Gesellschaft

Das Archiv der multidirektionalen Ansätze, die Vorstellung von Aufmerksamkeit als quasi unbegrenzter Ressource, der Anspruch der Überwindung von Opferkonkurrenz, solidarische Bezugnahmen – Multidirektionale Erinnerung scheint einige Versprechen bereitzuhalten. So ist es kaum verwunderlich, dass das Buch seit einigen Jahren auch im Rahmen der erinnerungspolitischen Debatten in Deutschland rezipiert wird, nicht zuletzt in jenen Kontexten, in denen es um das Verhältnis zwischen Migration und Erinnerungskultur und um die Frage nach der Verfasstheit der Erinnerungskultur in der postmigrantischen Gesellschaft geht.37 Wenn Anerkennung der aus dem Holocaust resultierenden Schuld und Verantwortung zum erinnerungspolitischen Selbstverständnis der Berliner Republik gehört – ein Erfolg jahrzehntelanger Kämpfe –, so ist heute hinzuzufügen, dass diese Republik mit dem Aufstieg rechter Gruppen und Parteien wie der AfD eine neuerliche völkische Konjunktur erlebt, die von dem Versuch der Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen zwecks Wiederherstellung vermeintlich deutscher Größe gekennzeichnet ist. Zudem zeugen – 36 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S. 27; Joseph Conrad, Das Herz der Finsternis, in: ders., Geschichten vom Hörensagen, Frankfurt a. M. 1959, S. 41–135. 37 Siehe z. B. Sina Arnold/Jana König, „The whole World owns the Holocaust“: Geschichtspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft am Beispiel der Erinnerung an den Holocaust unter Geflüchteten, in: Naika Foroutan/Juliane Karakayali/Riem Spielhaus (Hrsg.), Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Bonn 2018, S. 173–190; Lydia Lierke/Massimo Perinelli, Intro, in: dies. (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020, S. 11–30. Rothberg selbst hat sich mit dem Verhältnis zwischen Holocaust-Erinnerung und Migration in Deutschland befasst, siehe Michael Rothberg, Multidirectional Memory in Migratory Settings: The Case of Post-Holocaust Germany, in: Chiara Di Cesari/Ann Rigney (Hrsg.), Transnational Memory. Circulation, Articulation, Scales, Berlin/Boston 2014, S. 123–145; Michael Rothberg/Yasemin Yildiz, Memory Citizenship: Migrant Archives of Holocaust Remembrance in Contemporary Germany, Paral lax, 17:4, London 2011, S. 32–48.

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konträr zu dem offiziellen Selbstverständnis – Langzeitstudien von einem konstant hohen Niveau antisemitischer Einstellungen innerhalb der deutschen Bevölkerung, wobei nicht zuletzt der sekundäre Antisemitismus eine Rolle spielt, in dem sich Erinnerungs- und Schuldabwehr in Bezug auf den Holocaust ausdrücken (etwa die Imagination, dass Juden und Jüdinnen Vorteile aus der Vergangenheit schlagen oder zu viel über den Holocaust sprechen würden).38 Wichtig scheint uns auch zu sein, sich die Debatte über das Unbehagen an der Erinnerung – so der Titel eines Sammelbandes – zu vergegenwärtigen, die, noch vor dem Aufstieg der AfD, insbesondere unter Historikerinnen und Historikern geführt wurde.39 Hier wurde unter anderem konstatiert, dass „unser Gedenken in moralisierenden und sinnentleerten Formen des öffentlichen Erinnerns“ erstarrt sei, woraus das „unangenehme Gefühl“ resultiere, „in einer erinnerungspolitischen Sackgasse gelandet zu sein“.40 Die Rede vom Unbehagen bezog sich zudem auf das symbolische Kapital, das mit der Erinnerungskultur in der Berliner Republik akkumuliert werden konnte, sodass Deutschland inzwischen als „Erinnerungsweltmeister“ gehandelt wird und sich durchaus gerne als solcher inszeniert. Vielleicht war die staatsoffizielle Annahme des Auschwitz-Erbes der Preis für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, den zu entrichten man insofern bereit war, als eine Macht- und Einflusserweiterung Deutschlands in Aussicht stand. Schließlich hat sich in den letzten 20 Jahren – wenn auch zögerlich – ein Wandel im Selbstverständnis der Bundesrepublik vollzogen, den die Rede von der Einwanderungs- oder der postmigrantischen Gesellschaft markiert. Gewiss ist auch dieses neue Selbstverständnis umkämpft, denkt man an aktuelle Gegenbewegungen: völkische Heimat-Diskurse, rechtsradikale Hetze bis hin zum Terror und ein rassistischer Innenminister seien hier nur als Stichworte genannt. Was bedeutet das für die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust? Einerseits gilt es, die etablierten Standards erinnerungskultureller und -politischer Praxen gegen die völkische Bewegung zu verteidigen. Andererseits kommt es darauf an, ausgehend von dem skizzierten Unbehagen Kritik an allzu selbstgefälligen Formen der Re-Formulierung deutscher Identität im Zeichen von Auschwitz zu üben. Dabei könnte der Begriff des Selbstmisstrauens ein Orientierungspunkt sein, den der Auschwitz-Überlebende Jean Améry geprägt hat, ein Begriff, der sich gegen gewis38 Für die aktuellen Zahlen der Zustimmungswerte zu primär- und sekundärantisemitischen Aussagen siehe Johannes Kiess/Oliver Decker/Ayline Heller/Elmar Brähler, Antisemitismus als antimodernes Ressentiment. Struktur und Verbreitung eines Weltbildes, in: Oliver Decker/Elmar Brähler (Hrsg.), Autoritäre Dynamiken. Neue Radikalität – alte Ressentiments, Gießen 2020, S. 211–248. 39 Siehe Ulrike Jureit/Christian Schneider/Margrit Frölich (Hrsg.), Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt a. M. 2012; siehe auch Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. 40 Ulrike Jureit, Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht, in: dies./Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S. 19–103, hier S. 23.

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sermaßen durch Auschwitz geläuterte Patriotismen und Nationalismen in Anschlag bringen ließe.41 In diesem Zusammenhang spielen auch migrationspolitische Aspekte eine Rolle. Sina Arnold und Jana König weisen auf die Bedeutung hin, die dem Holocaust-Gedenken im Rahmen von Debatten über Migration und Integration inzwischen zukommt. Sie beziehen sich unter anderem auf den ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière, der 2016 auf einer Tagung zum Thema „Integration von Geflüchteten“ erklärte, dass die Erinnerung an Auschwitz ein zentraler Faktor für das gesellschaftliche Zusammenleben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sei. Entsprechend würde – so resümieren Arnold und König – ersichtlich, dass „das Gedenken an den Holocaust […] Teil einer Integrationsanforderung“ und „Geschichtspolitik […] somit auch zu einem komplexen Instrument des Aus- wie des Einschlusses aus der und in die ‚deutsche (Erinnerungs-)Gemeinschaft‘“ wird.42 Das Holocaust-Gedenken wird demnach bisweilen zu einer Art Leitkultur stilisiert und fungiert dabei als ein Ordnungsruf, der über Teilhabe und Zugehörigkeit entscheidet.43 Allerdings lässt sich die postmigrantische Herausforderung für die Erinnerungskultur und -politik nicht auf derartige Inanspruchnahmen des Holocaust-Gedenkens im Sinne nationaler Selbstvergewisserung und Abgrenzung reduzieren. Vielmehr zeichnet sich eine grundsätzliche Transformationsdynamik ab, bei der es Arnold und König zufolge nicht zuletzt darum geht, „Geschichte und Gesellschaft jenseits des nationalen Containers in einem globalen Rahmen zu denken“.44 In diesem Sinne kommt es darauf an, vielschichtigen und vielstimmigen Erinnerungen Platz einzuräumen und Erinnerungskultur und -politik als einen Prozess zu verstehen, der permanenter Aushandlung bedarf. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen. 41 Vgl. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 124. Auch Michael Rothberg hat auf den Begriff des Selbstmisstrauens verwiesen, vgl. Michael Rothberg, Das Gespenst des Vergleichs, in: LATITUDE. Machtverhältnisse umdenken – für eine entkolonialisierte und antirassistische Welt, Mai 2020, www. goethe.de/prj/lat/de/dis/21864662.html [10. 1. 2021]. 42 Arnold/König, „The whole world owns the Holocaust“, S. 180. 43 In ähnlicher Weise mutiert auch der Kampf gegen Antisemitismus manchmal zu einem leitkulturellen Ordnungsruf. Max Czollek verweist in diesem Zusammenhang auf den CDUBundestagsabgeordneten Philipp Amthor, der am 27. 1. 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, in einem Interview sinngemäß behauptet hat, dass Antisemitismus vor allem ein Problem unter Muslimen sei und dass in Deutschland lebende Muslime sich der „deutschen Kultur“ als dezidiert anti-antisemitischer Kultur anzupassen hätten. Czollek resümiert: „Durch Verkündigung ihrer triumphalen Aufarbeitung werden die zwölf Jahre Nationalsozialismus […] zur Grundlage, wieder richtig stolz auf Deutschland zu sein – und allen anderen ihre Vorurteile vorzuwerfen. Und durch die Behauptung, die Leitkultur existiere vor allem, um Juden vor den angeblich antisemitischen Muslim*innen zu schützen, gewinnt die Forderung nach einer deutschen kulturellen Dominanz für die Gegenwart endlich eine vermeintliche gesellschaftliche Rechtfertigung. […] Seit 1945 fiel es vermutlich selten leichter, derart unbefangen und zugleich aggressiv den von den Vorfahren begangenen Holocaust zur Grundlage für deutsche Überlegenheitsgesten zu machen.“ Max Czollek, Gegenwartsbewältigung, München 2020, S. 93. 44 Arnold/König, „The whole world owns the Holocaust“, S. 186.

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Die Diskrepanz zwischen dem Versuch der Holocaust-Relativierung im Zuge des Historikerstreits der 1980er-Jahre und der staatsoffiziellen Anerkennung einer aus Auschwitz resultierenden Verantwortung in der Berliner Republik zeugt ja gerade von dem prozessualen Aushandlungscharakter der Erinnerungskultur und -politik – ebenso wie die Forderung nach Anerkennung der Erinnerung an kolonialrassistische Gewaltformen und Herrschaftsverhältnisse. Dennoch scheint uns der Hinweis auf das Prozessuale wichtig zu sein, gerade auch in Abgrenzung zur identitätspolitischen Inanspruchnahme des Holocaust-Gedenkens durch die Nachkommen der Täter und Täterinnen. Multidirektionales Erinnern im Sinne von Michael Rothberg mag als ein Ansatz verstanden werden, der die Möglichkeit bereithält, erinnerungspolitisch motivierten und begründeten Ausschlüssen entgegenzuwirken. Die postnationalsozialistische Gesellschaft ist eben auch eine postmigrantische und wird somit nicht umhin kommen, ihre Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zu diversifizieren: In einer Migrationsgesellschaft verändern sich nicht nur die gegenwärtigen Verhältnisse, sondern auch die historischen Bezüge. Damit „stellt sich die Frage nach einer vermeintlichen ‚Nationalgeschichte‘ neu“.45 Man interpretiert Rothberg sicherlich nicht falsch, wenn man Multidirektionalität nicht nur als Forderung, sondern auch als das, was gewissermaßen die ganze Zeit geschieht, versteht. Er geht bei seinem Vorschlag, anders über Erinnerung nachzudenken, keineswegs von einem Nullpunkt aus, sondern schließt an eine über Jahrzehnte sich hinziehende Tradition wechselseitiger erinnerungspolitischer Bezugnahmen zwischen Holocaust und Kolonialismus an. Aus dieser Perspektive wäre Multidirektionale Erinnerung der Versuch, die Theorie der Praxis anzugleichen. Wie auch immer – Rothbergs Vorschlag scheint geeignet zu sein, eine Art Rahmen für den Prozess der Diversifizierung von Erinnerungskultur und -politik abzugeben oder zumindest im Sinne einer ethischen Prämisse als Orientierung zu dienen, wobei nicht nur Empathie und Solidarität (statt Konkurrenz) als Maßstab gelten, sondern auch Differenzierung (statt Gleichsetzung).46 Gerade dieser Aspekt ist auch und vor allem angesichts der von Dan Diner artikulierten Sorge vor dem Verlust historischer Urteilskraft und der damit zusammenhängenden Gefahr einer Einebnung der Spezifik des Holocaust von Bedeutung. 45 Ebenda, S. 174. 46 Micha Brumlik bemerkte in diesem Zusammenhang: „Michael Rothberg gelingt es nämlich, mit seinem Konzept einer multidirectional memory […] der unseligen, allemal politisch instrumentalisierbaren Konkurrenz von Erinnerungen eine universalistische Perspektive im Sinne einer allen Opfern von Gewaltherrschaft zukommenden anamnetischen Solidarität zukommen zu lassen. […] Gerade wenn ‚multiperspektivisches Erinnern‘ zur fruchtbaren Perspektive einer solidarischen, kritischen Geschichtsschreibung und Gesellschaftsanalyse werden soll, ist es unerlässlich, Ähnlichkeiten wie Unterschiede präzise zu benennen.“ Micha Brumlik, Für ein „multidirektionales“ Erinnern – der Beitrag Michael Rothbergs, in: Texte zur Kunst, 30. 9. 2020, www.textezurkunst.de/articles/micha-brumlik-fur-ein-multidirektionales-erinnern-der-beitrag-michael-rothbergs/ [10. 1. 2021].

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Multidirektionalität in Deutschland 2: Singularität und (Post-)Kolonialismus

Doch wie genau wäre dieser Spezifik Rechnung zu tragen? Wie verhält sich der Ansatz der multidirektionalen Erinnerung zum Singularitätsparadigma? In letzter Zeit ist vermehrt die Rede von einem zweiten Historikerstreit zu vernehmen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich zwar die Vorzeichen geändert hätten, die grundlegende Problematik aber die gleiche geblieben sei. Dieser Lesart zufolge gibt es so etwas wie eine postkoloniale Kampagne gegen das Singularitätsparadigma. Linke Antirassistinnen und Antirassisten würden die Relativierung des Holocaust betreiben, indem sie ihn ausgehend von kolonialen Gewaltformen neu einzuordnen und entsprechend zu historisieren versuchten.47 Auch Michael Rothberg wird mit dieser „Kampagne“ in Verbindung gebracht. So schreibt zum Beispiel Steffen Klävers, dass es Rothbergs Anliegen in Multidirektionale Erinnerung sei, „dem Holocaust den Status als ‚singulär‘ abzuerkennen“.48 Dieser Status wiederum – das ist die Prämisse, von der Klävers im Anschluss an Diners Zivilisationsbruchthese ausgeht – sei nicht das Resultat erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen, sondern leite sich „aus der Tat selbst“ ab.49 Rothberg wiederum behandelt die Singularitätsfrage auf der Ebene der Debatte und Zuschreibung. Er versucht nachzuvollziehen, wie das Singularitätsparadigma entstanden ist, welche erinnerungspolitischen Dynamiken und Konjunkturen eine Rolle spielten, inwiefern eine Hierarchisierung von Leiderfahrungen impliziert ist. Und er plädiert dafür, historische Verstrickungen ins Zentrum der Analyse zu rücken, was voraussetze, Singularitätsansprüche zurückzustellen. Klävers wirft die durchaus berechtigte Frage auf, ob sich Multidirektionalität (oder die Konzentration auf historische Verstrickungen) und Singularität notwendig ausschließen müssen.50 Wenn die Zivilisationsbruchthese ein wichtiger Baustein für die Genese des Singularitätsparadigmas war, der nicht nur dazu beitrug, die erinnerungspolitische Aufmerksamkeit auf den Antisemitismus und den Holocaust als wesentliche Bestandteile nationalsozialistischer Herrschaft zu lenken, sondern auch implizierte, dem Versuch der Relativierung von deutscher Schuld entgegenzuwirken, so mutet die Aussicht auf eine Überwindung von Singularitätsansprüchen tatsächlich ambivalent an. Allerdings sollten in diesem Zusammenhang drei Punkte berücksichtigt werden. Auf die ersten beiden Punkte hat Michael Rothberg in einem Beitrag zur gegenwärtigen 47 Vgl. z. B. Thierry Chervel, Je nach Schmerz, in: Perlentaucher – das Kulturmagazin, 24. 5. 2020, www.perlentaucher.de/essay/die-debatte-um-achille-mbembe-postcolonial-studies-und-derholocaust.html [10. 1. 2021]. 48 Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin/Boston 2019, S. 175. 49 Ebenda, S. 162. 50 Vgl. ebenda, S. 175.

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Historikerstreit-Analogie selbst hingewiesen.51 Erstens handelt es sich beim sogenannten Historikerstreit 2.0 – anders als beim Historikerstreit der 1980er-Jahre – um eine globale Debatte, an der Historiker, Aktivistinnen oder Journalisten aus unterschiedlichen Kontinenten und Weltregionen beteiligt sind.52 Entsprechend wird man denjenigen, die ein skeptisches Verhältnis zu Singularitätsansprüchen haben, aber eben nicht von Deutschland aus sprechen, kaum den Vorwurf machen können, dass die Relativierung oder Entlastung von (deutscher) Schuld und Verantwortung Programm sei. Im Gegenteil, das postkoloniale Framing von Nationalsozialismus und Holocaust, ob man es nun sinnvoll findet oder nicht, zielt zweitens auf eine Ausweitung von Verantwortung. Denn während der von Nolte und anderen vor über 30 Jahren vorgebrachte Verweis auf den Bolschewismus dazu diente, die Deutschen zu entlasten, weil die Kommunisten die Verbrechen „vor uns“ begangen, „wir“ lediglich darauf reagiert hätten und daher nicht allein Täter der großen Massenmorde des 20. Jahrhunderts seien, geht es heute eher um die Forderung, Verstrickungen anzuerkennen, im Sinne von: „das übrigens habt ihr/haben wir auch noch gemacht“. Drittens – wir kommen noch einmal auf den Sprechort zurück – wäre der Kontext der USA zu berücksichtigen. Als Rothberg Multidirektionale Erinnerung schrieb, gab es in der National Mall in der Hauptstadt Washington zwar schon seit 16 Jahren ein Holocaust-Museum, aber – anders als heute – noch kein Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur. Dies zu verstehen ist durchaus wichtig, weil es als ungerecht empfunden werden konnte und wird, dass der Sklaverei als einem der Gründungsverbrechen der USA nach der Eroberung und Unterwerfung des Landes ein geringerer Stellenwert in der amerikanischen Erinnerungskultur zugemessen wird als dem Holocaust. Nichtsdestotrotz könnte Rothbergs Abkehr vom Singularitätsparadigma gerade in Deutschland durchaus missverständlich sein oder missinterpretiert werden. Die Verantwortung für die Geschichte des Kolonialismus zum Beispiel wurde und wird hierzulande immer wieder mit dem Hinweis auf die Kürze der formalen Kolonialherrschaft des Deutschen Kaiserreichs relativiert. Kolonialismus, so heißt es dann, sei doch Sache der anderen, der Franzosen, der Engländer usw. gewesen. Wir nicht, die anderen auch – auf diese treffende Formel haben Andreas Eckert und Albert Wirz diese Haltung und dieses Selbstverständnis vor beinahe zwanzig Jahren gebracht.53 Es gibt eine 51 Vgl. Michael Rothberg, Vergleiche vergleichen: Vom Historikerstreit zur Causa Mbembe, in: Geschichte der Gegenwart, 23. 9. 2020, geschichtedergegenwart.ch/vergleiche-vergleichenvom-historikerstreit-zur-causa-mbembe/ [10. 1. 2021]. 52 An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass in einer zentralen Publikation zum Historikerstreit von 1986 ff. über zwanzig (deutsche) Autoren versammelt sind und dass es sich tatsächlich ausschließlich um (männliche) Autoren handelt. Vgl. Piper Verlag (Hrsg.), „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. 53 Andreas Eckert/Alber Wirz, Wir nicht, die anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 373–393.

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Steigerung dieses Arguments, die sich auch und vor allem als ein Raunen und weniger als ausformuliertes Argument äußert, wobei die Relativierung der Verantwortung für den Kolonialismus zugleich die Form der Holocaust-Relativierung annimmt: Da die anderen, die Franzosen, Holländer, Belgier und Engländer, an ihrer Vergangenheit nicht rühren, sollten sie aufhören, uns an die Holocaust-Schuld zu erinnern. Vor diesem Hintergrund besteht durchaus die Möglichkeit, dass die von Rothberg artikulierte Skepsis gegenüber Singularitätsansprüchen, die mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für koloniale Gewaltverbrechen einhergeht, in Deutschland im Sinne eines Entlastungsnarrativs verstanden wird. Multidirektionale Erinnerung zielt jedoch keineswegs auf Entlastung, welcher Art auch immer sie sein mag. Während die Erinnerung an den Holocaust erklärtermaßen in der Staatsräson der Bundesrepublik verankert ist, gilt das für die Erinnerung an den „Vernichtungskrieg im Osten“ bisher nicht. Denn im Kalten Krieg wie auch danach war und ist es eine Leerstelle, ermordeter Kommunisten, Slawen und Slawinnen zu gedenken, und im Fall einer Schuldanerkenntnis drohten Entschädigungszahlen an kommunistische Regime.54 Der nun endlich entstehende Erinnerungsort für die Opfer des „Vernichtungskrieges im Osten“ in Berlin wird, „multidirektional“ gesehen, keinesfalls „entlastende“ Fragen der Opferkonkurrenz stellen, wenn endlich der Millionen nichtjüdischer polnischer, russischer, ukrainischer oder belarussischer und anderer osteuropäischer Opfer und der Millionen durch Hunger ermordeter sowjetischer Kriegsgefangenen gedacht wird. Und eine erst in den letzten Jahren diskutierte Spezifik des deutschen Kontextes könnte mit diesem Erinnerungsort „multidirektional“ ins Blickfeld auch der postkolonialen Perspektive treten: die Frage, ob und inwiefern der nationalsozialistische Vernichtungskrieg im Osten mit kolonialen Gewaltpraktiken in Verbindung gebracht werden kann. Hier rückt auch die bereits im 19. Jahrhundert virulente „Lebensraum“-Politik, die stets mit Annexionsplänen und -praktiken vor allem in Polen zusammenhing, in den Fokus der Aufmerksamkeit.55 Sie lassen sich durchaus als Kolonisierungsprojekte verstehen, auch wenn sie in Europa stattfanden. 54 Die überlebenden russischen und polnischen Jüdinnen und Juden und Zwangsarbeiter erhielten im Gegensatz zu ihren Leidensgenossen im Westen erst Jahrzehnte nach Kriegsende viel erbärmlichere „Entschädigungen“. Siehe u.  a. Karl Heinz Roth/Hartmut Rübner, Verdrängt – Vertagt – Zurückgewiesen. Die deutsche Reparationsschuld am Beispiel Polens und Griechen lands, Berlin 2019. 55 Vgl. Hannes Heer/Christian Streit, Vernichtungskrieg im Osten – Judenmord, Kriegsgefangene und Hungerpolitik, Hamburg 2020; Hito Steyerl/Mark Terkessidis, Die Wahrnehmungsschwelle, in: Die Zeit, Nr. 2/2021, 7. Januar 2021, www.zeit.de/2021/02/rassismus-deutschlandrechtsextremismus-kolonialismus-antisemitismus [10. 1. 2021]; Mark Terkessidis, Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg 2019; Philipp Ther, Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 129– 148; Jürgen Zimmerer, Die Geburt des „Ostlandes“ aus dem Geiste des Kolonialismus. Die nationalsozialistische Eroberungs- und Beherrschungspolitik in (post-)kolonialer Perspektive, in: Sozial.Geschichte (2004) 1, S. 10–43.

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Ein weiterer Hinweis ist uns wichtig: Auch wenn sich die Entstehung von Multidirektionale Erinnerung möglicherweise mit (der Empfindung) einer Schieflage innerhalb der US-amerikanischen Erinnerungskultur in Verbindung bringen lässt, geht es Rothberg eben gerade nicht darum, die Aufmerksamkeit für den Holocaust zu schmälern, um Platz zu schaffen für die Erinnerung an Sklaverei und Kolonialismus. Vielmehr ist es die Logik von Schmälern und Platz wegnehmen, die er als Nullsummenspiel und Erinnerungskonkurrenz kritisiert. Die Episode um das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, mit der er sein Buch einleitet, ist hierfür ein gutes Beispiel. Anfang der 1990er-Jahre besuchte Khalid Muhammad, der der Nation of Islam angehörte, dieses Museum. Kurz darauf hielt er einen Vortrag, in dem er nicht nur den Holocaust leugnete, sondern auch von einem „schwarzen Holocaust“ sprach und darüber hinaus die Existenz des Holocaust Memorial Museums als Form der Leugnung des „schwarzen Holocaust“ kritisierte. Rothberg nun bürstet Muhammads Aussage gegen den Strich. Dabei geht es ihm weniger um die Frage, ob die Rede von einem „schwarzen Holocaust“ sinnvoll sei oder nicht. Vielmehr kommt es ihm darauf an, diese Rede als eine Form der multidirektionalen Bezugnahme kenntlich zu machen, was er auf den Umstand zurückführt, dass die Holocaust-Erinnerung hier wie eine Art Katalysator fungiere, der es Muhammad ermögliche, das Verbrechen der Sklaverei zu thematisieren. Möglicherweise ist diese Einstiegsepisode unglücklich gewählt, und ein Blick in das diesem Buch vorangestellte Interview legt nahe, dass Rothberg heute von einer schlechten Form der multidirektionalen Erinnerung sprechen würde. Nichtsdestotrotz wird deutlich, dass der Ansatz der multidirektionalen Erinnerung gerade in Abgrenzung zu Muhammads Nullsummenspiel-Logik („eure Erinnerung löscht unsere Geschichte aus“) entwickelt wird. Die Holocaust-Erinnerung steht also anderen Erinnerungen nicht im Weg. Vielmehr hat sie nicht zuletzt aufgrund ihrer globalen Verbreitung das Potenzial, anderen Erinnerungen Aufmerksamkeit zu verschaffen, und zwar vermittels (guter) multidirektionaler Bezugnahmen.56 Um abschließend noch einmal auf das Thema Singularität zurückzukommen: Rothbergs Behandlung des Singularitätsparadigma ist vermutlich der strittigste 56 Wir haben die Muhammad-Episode auch deshalb noch einmal erwähnt, weil sie in der (diffamierenden und tendenziösen) Rezeption von Rothbergs Buch eine Rolle spielt. Stefan Laurin z. B. behauptet, Rothberg würde die Rede von einem „schwarzen Holocaust“ gutheißen. Er zitiert dann aus dem Buch von Steffen Klävers, allerdings in entstellender Weise: „Wenn die Sklaverei […] als ‚black holocaust‘ beschrieben wird, dann wäre die Verdrängung und Leugnung dieses Ereignisses ebenfalls ein Fall von Holocaustleugnung.“ Die Auslassung ist nicht unbedeutend, denn drei entscheidende Wörter werden nicht wiedergegeben: „wie bei Muhammad“. Klävers gibt hier also nicht – anders als Laurin suggeriert – die Position von Rothberg wieder, sondern die von Muhammad. Laurin wiederum bastelt sich Rothberg als Holocaust-Relativierer zurecht, indem er ihm quasi die Worte von Muhammad in den Mund legt. Stefan Laurin, Decolonizing Auschwitz?, in: Ruhrbarone – Journalisten bloggen des Revier, 23. 12. 2020, www.ruhrbarone.de/decolonizing-auschwitz/194370 [10. 1. 2021]. Vgl. auch Klävers, Decolonizing Auschwitz?, S. 158.

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Aspekt von Multidirektionale Erinnerung. Wie bereits erwähnt: Dieses Paradigma war und ist ein wichtiger Bestandteil des erinnerungspolitischen Kampfes gegen die im Land der Täter und Täterinnen grassierenden Tendenzen zur Verdrängung und Abwehr von Schuld und Verantwortung, die mit dem sekundären Antisemitismus korrespondieren. Zudem lässt sich Dan Diners Charakterisierung der Spezifik des Holocaust (die grundlose und totale Vernichtung) unseres Erachtens nicht umgehen. Rothbergs Herangehensweise rührt aus der Annahme, dass (der Anspruch auf) Singularität bisweilen mit einer Hierarchisierung von Leid und Erfahrungen einhergehe. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Yehuda Bauer vor einigen Jahren den Begriff der Präzedenzlosigkeit in die Debatte eingeführt hat, und zwar als Alternative zum Singularitätsbegriff.57 Möglicherweise zeugt die Suche nach einem neuen Begriff von dem Wunsch, einen Ausweg aus der bisweilen festgefahrenen Auseinandersetzung um das Singularitätsparadigma zu finden. Wenn man die postkoloniale und die postmigrantische Herausforderung ernst nimmt und sich auf eine (Neu-)Verhandlung der Erinnerungskultur einlässt, stellt sich die Frage, mit welcher Haltung man sich in diese Verhandlung hineinbegibt. Auf jeden Fall gilt es, an den Besonderheiten der postnazistischen deutschen Gesellschaft und Geschichte festzuhalten. Eine Diskussion, in der die Akzeptanz oder NichtAkzeptanz des Singularitätsanspruchs als eine Art Voraussetzung oder Bedingung fungiert, von der der weitere Verlauf der Verhandlung abhängt, scheint uns wenig vielversprechend zu sein. Multidirektionale Erinnerung plädiert dafür, sich derartigen Aushandlungsprozessen in empathisch-solidarischer Weise anzunähern. Das halten wir für einen guten Ausgangspunkt.

Felix Axster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin sowie am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Jana König lebt in Berlin und arbeitet zur Geschichte der Linken in Deutschland und zu Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft sowie zu Geschichts- und Vergangenheitspolitiken. Sie ist Mitglied des AutorInnenkollektivs Loukanikos.

57 Vgl. Yehuda Bauer, Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt a. M. 2001.

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Personenregister

Adelson, Leslie A. 55 Admiral Robert 102 Adorno, Theodor W. 144 f., 157, 255 Agamben, Giorgio 62, 72 f., 81, 91 f., 118, 134, 158 f. Agulhon, Maurice 343 Alexander, Jeffrey 31, 304–306 Alisvaks, Jacky 331 Alleg, Henri 231, 244 Althusser, Louis 21, 291 Améry, Jean 43, 230 Aravamudan, Srinivas 180 Arendt, Hannah 15, 31, 50 f., 56, 59, 61–94, 99–102, 104–106, 108, 111–118, 122 f., 131, 133–136, 138–140, 143 f., 146 f., 150, 159, 179, 211–213, 319 Arnold, James 106, 130 Arrighi, Giovanni 192 Assmann, Aleida 15, 17, 65, 306, 346 Assmann, Jan 65 Assouline, Pierre 244 Auteuil, Daniel 322 Bachtin, Michail 45 Badiou, Alain 48 f., 251, 302, 314, 351 Bal, Mieke 35 Baldwin, James 288, 291 Balibar, Étienne 324, 350 Barnouw, Dagmar 64 Barthes, Roland 232 Baucom, Ian 251, 322 Bauer, Yehuda 33, 76–79 Ben-Gurion, David 212, 236, 356 Benhabib, Seyla 64, 68, 70, 81 Bénichou, Maurice 324 Benjamin, Walter 63, 68, 70, 72, 83, 92, 103, 111 f., 139, 163, 167, 187

Bennett, Jill 37, 253, 254 Berg, Nicolas 40 Berlant, Lauren 54, 259, 260 Berman, Paul 187 Berman, Russell 157 Bernasconi, Robert 81, 158 Bernstein, Michael André 320 Bernstein, Richard J. 64, 68 Bewes, Timothy 188, 194 Bidault, Georges 232 Binoche, Juliette 325 Blanchot, Maurice 232 Bloch, Ernst 45 Blücher, Heinrich 68 Boder, David 18 Boujhered, Djamila 300 Boupacha, Djamila 248, 260, 300 Bourdet, Claude 269, 281, 286 Brackman, Harold 146 Brandt, Willy 19 Breton, André 103 Brodzki, Bella 169, 179, 181 f. Brooks, Philip 274 Brown, Laura 121, 259 Browning, Christopher 7 Bruller, Jean 244 Buelens, Gert 121 Burko-Falcman, Berthe 331 Bush 55 Byrd, Jodi 77, 354 f. Caillois, Roger 132 Cain, William E. 149 Camus, Albert 234, 357 Canovan, Margaret 64, 66, 74, 79, 81, 87 f. Caruth, Cathy 39, 119–124, 127, 205

400 Castronovo, Russ 147 Cayrol, Jean 225 Césaire, Aimé 15, 50 f., 56, 61 f., 65, 95, 97–114, 116–140, 143 f., 146 f., 149 f., 159, 164, 169, 211, 224, 230, 322, 326, 357 Chandler, James 180 Cheah, Pheng 124 Cheyette, Bryan 125, 188, 196 Chirac, Jacques 309 Chruschtschow, Nikita 130, 149 Churchill, Ward 33 Cixous, Hélène 54 Cliff, Michelle 54 Clifford, James 224 Cohen, William 263 Cole, Joshua 275 f. Confino, Alon 28 Conrad, Joseph 56, 62, 65, 82–87, 92, 104 f., 113–116, 136 f., 179 Cooper, Frederick 139 Cousins, Mark 338 f. Craps, Stef 121, 188 Daeninckx, Didier 53, 273, 296, 307, 312, 314–316, 318–323, 327, 338– 340, 342, 351 Danner, Mark 261 Dawson, Ashley 188 de Beauvoir, Simone 300 de Gaulle, Charles 257, 342 de Gennaro, Mara 106 de Lescure, Pierre 244 de Man, Paul 7 de Tocqueville, Alexis 323 Debray, Régis 219 Delacroix, Eugène 98 f. Delanoë, Bertrand 275 Delbo, Charlotte 10, 52, 60, 223 f., 231 f., 237–262, 272, 276, 280, 328, 330 Depestre, René 109

PERSONENREGISTER

Derrida, Jacques 54 Desai, Anita 54 Dewerpe, Alain 329 Diawara, Manthia 10 Dilorio, Sam 217 f., 220 Dimock, Wai Chee 45 Diner, Dan 10, 15, 76 Donadey, Anne 339 Dossa, Shiraz 77, 81 Dreyfus, Alfred 233 f. Drosten, Christian 11, 13 Dschingis Khan 75 Du Bois, W. E. B. 9, 12, 19, 31 f., 49, 51 f., 65, 101, 136–138, 140, 143–167, 170, 181, 184, 189 f., 193, 200, 207 f., 211, 236, 269, 277, 282, 285 Duras, Marguerite 53, 227, 269, 277– 283, 286 f., 296, 304 Dussel, Enrique 64 f. Eaton, Mick 224 Edelman, Lee 54 Edwards, Brent Hayes 31 Eichmann, Adolf 10, 49, 52, 208, 212– 216, 228 f., 233, 237–239, 248, 258, 280, 319, 330 Einaudi, Jean-Luc 274, 328–330, 339 Evans, Martin 232 Ezrahi, Sidra 174, 186 Fabian, Johannes 45, 94 Faguet, Emile 107 Fanon, Frantz 50 f., 102, 118 f., 121, 123– 128, 133 f., 190, 232, 237, 295, 298 Feldman, Ron H. 64 Felman, Shoshana 240, 252–254, 258 Fitzpatrick, Matthew P. 135 Flaherty, Robert 216 Florenne, Yves 107 f. Floyd, George 14 Fogiel, Esther 331 Foucault, Michel 36, 72, 158 f.

401

PERSONENREGISTER

Fougeron, André 58–62, 97, 101, 128, 146, 150, 211 Frank, Anne 54 Fraser, Nancy 46–48, 354 Freud, Sigmund 37–39, 42 f., 99, 109 f., 112, 119–122, 127, 187, 191, 338 Fritzsche, Peter 28 Fulton, Dawn 339 Fuss, Diana 191 Gandhi, Mahatma 280 Géricault, Théodore 97–99 Gerlach, Christian 136 Gheldman, Georges 331 Gilman, Sander 126 Gilroy, Paul 9, 12, 16, 31, 164, 287, 289, 294, 296, 298, 300, 302, 338 f. Girardot, Annie 336 Goethe, Johann Wolfgang von 120 Golsan, Richard 34 Graner, Charles 325 Greene, Graham 245 Griaule, Marcel 220 Grosse, Pascal 67 Habermas, Jürgen 14 Halbwachs, Maurice 41 Halimi, Gisèle 300 Hamou, Bousetta 257 Hancock, Ian 33 Haneke, Michael 43, 53–55, 270, 307, 312, 314 f., 321–328, 333–340, 351 Hansen, Miriam 37 Hardt, Michael 165 Harootunian, Harry 45 Hartman, Geoffrey 226 Haughton, Hugh 39 Hausner, Gideon 228 Hayling, Alan 274 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30, 83, 86, 196

Heidegger, Martin 63, 70 Hess, Remi 241 f. Hirsch, Joshua 214, 228 Hirsch, Marianne 54, 299, 312 f., 317, 330, 341, 346 Hitler, Adolf 19, 71, 75, 98 f., 107 f., 110–112, 134, 183 f., 254 Hochberg, Gil Z. 357 Hochhuth, Rolf 212 Horne, Alistair 55 House, Jim 263, 267 f., 270, 272 f., 275 f., 282, 319 Hull, Isabel 66, 135 f., 138 f. Husserl, Edmund 70 Huston, Nancy 54 Huxley, Aldous 255 Huyssen, Andreas 27, 37 Ivens, Joris 219, 233 Jameson, Fredric 35, 67, 113, 303 Jankélévitch, Vladimir 187 Jaspers, Karl 63 Jeanson, Francis 218, 231, 244, 247– 249, 254 f., 259 Kagan, Elie 281, 339, 344–347 Kaplan, Alice 7 Katz, Steven 33 Kaufmann, Francine 173, 176 Kettane, Nacer 273 Khanna, Ranjana 300 f., 327 King, Richard H. 81–83 Korsch, Karl 128 f. Koshy, Susan 202 Kréa, Henri 269, 283, 286, 304 Lacan, Jacques 206 LaCapra, Dominick 28, 83, 90, 105, 109–112, 122, 171, 185–187, 205, 234 Lagrou, Pieter 246 f. Lalieu, Olivier 246 f.

402 Lallaoui, Mehdi 273 Langer, Lawrence L. 175, 226, 238, 242 Lanzmann, Claude 7, 32 f., 145, 227 Laplanche, Jean 109 Laub, Dori 240, 252–254 Laval, Pierre 319 Le Meur, Jean 247–249 Ledent, Bénédicte 188, 195, 197 f. Lefebvre, Henri 45, 217, 241 Levering, David 154 Levi, Neil 21, 37 Levi, Primo 7, 9, 134, 204, 224, 237, 282 Lévi-Strauss, Claude 103 Levine, Michel 274 Levy, Daniel 31, 270, 305 f. Leys, Ruth 120–122 Linenthal, Edward T. 34, 37 Lionnet, Françoise 45 Lipstadt, Deborah 34, 77 Lloyd, David 90 Loridan, Marceline 10, 217–230, 233, 235, 279 f., 283, 296, 342 Lumumba, Patrice 10, 221, 289–293 Luxemburg, Rosa 128 f. MacMaster, Neil 263, 267 f., 270, 272 f., 275 f., 282, 319 Mandouze, André 232 Margalit, Avishai 41 Marie, Michel 226, 298 Maurel, Micheline 244 Mbembe, Achille 11, 14 f. McCormick Blaine, Anita 143 Mehmet Ali 347 Melas, Natalia 45, 85 Memmi, Albert 54 Mengele, Josef 11, 13 Merleau-Ponty, Maurice 232 Mesher, D. 172 Mesnard, Philippe 28

PERSONENREGISTER

Michaels, Walter Benn 25–27, 29–31, 33 f., 37, 39, 47, 119, 353 Michelet, Edmond 328 Miller Budick, Emily 146 Miller, Nancy K. 8 Missac, Pierre 111 Modiano, Patrick 343 Monnoyer, Jean-Maurice 111 Morin, Edgar 10, 52, 60, 214, 216–220, 222 f., 226 f., 229–232, 236, 239, 241, 259, 277, 279, 330, 342 f. Morris, Benny 56, 355–357 Morrison, Toni 9, 205 Moses, A. Dirk 35 f., 66, 112, 129, 134, 138 Moyn, Samuel 212 Mufti, Aamir 49 Muhammad, Khalid 25–27, 29–34, 36, 46 f. Napoleon 346–348 Negri, Antonio 165 Newton, Adam Zachary 146 Ngal, Georges 103 Nietzsche, Friedrich 72 Nkrumah, Kwame 294 Nolte, Ernst 10, 14 Nora, Pierre 276, 309–313, 315, 320, 322, 326 f., 330, 335, 341 f., 350 Norton, Anne 81 Novak, Amy 121, 122, 127 Novick, Peter 151, 212, 228 Olick, Jeffrey K. 28 Ophuls, Marcel 304 Orr, Linda 7 Ozick, Cynthia 204 Öztürk, Anny 19 Öztürk, Sibel 19 Paley, Grace 9, 12 Panijel, Jacques 273 f., 329, 339

403

PERSONENREGISTER

Papon, Maurice 34, 53, 263, 267, 271, 274–276, 281, 294, 296, 303, 307, 309, 315, 317–319, 322, 327–332, 334 f., 340, 343 f., 348 Paxton, Robert 304 Péju, Paulette 272, 339 Petit, Philippe 310 Philipson, Robert 170 Phillips, Caryl 51 f., 90, 138, 140, 167, 169–172, 188–194, 196 f., 199, 201– 208, 211 Pietz, William 81, 94 Poe, Edgar Allan 327 Pontalis, Jean-Bertrand 109 Pontecorvo, Gillo 55, 232 Power, Samantha 35 Preminger, Otto 283 Proskauer, Joseph 152 Quint, David 120 f., 127 Ramses II. 348 Rapoport, Nathan 51, 155, 160–164, 181 Resnais, Alain 216, 221, 225, 227, 277 Ricks, Thomas 55 Ricœur, Paul 232 Ringelblum, Emanuel 17 Riva, Emmanuelle 227 Robert, Georges siehe Admiral Robert Robbins, Joyce 28 Rosenfeld, Alvin 174 f. Roskies, David 161–163 Ross, Kristin 60, 235, 239, 242 f., 249, 287, 294, 296 Roth, Philip 8 Rothman, William 218 Rouch, Jean 10, 52, 60, 214, 216–232, 236, 239, 241, 259, 277, 279, 330, 342 f. Roussi Césaire, Suzanne 102 Rousso, Henry 234, 310, 330, 341

Ruscio, Alain 97 Rushing, Robert A. 321 Said, Edward 13, 89, 184, 347 Salomon, Michel 176, 178 Sanders, Mark 292, 294 f. Santner, Eric 206 Sartre, Jean-Paul 106, 125, 231, 248 Saxton, Libby 323 Sbouaï, T. 273 Scharfman, Ronnie 169, 182 Schechner, Alan 13 Schwarz-Bart, André 49, 51, 90, 137, 140, 167, 169–179, 181–190, 192 f., 195–199, 202, 205–208, 211, 224, 228 Schwarz-Bart, Simone 169, 182 Sebald, W. G. 54 Sebbar, Leïla 53 f., 307, 312, 314 f., 327, 338–344, 346, 348–351 Sedgwick, Eve 191 Segev, Tom 228 Sereny, Gita 7 Sergent, Jean-Pierre 218 f., 224, 280 Servan-Schreiber, Jean-Jacques 251 Shakespeare 192, 193, 201 Shandler, Jeffrey 214, 228 f. Shepard, Todd 282, 285 f. Shih, Shu-mei 45 Sholem, Gershom 178 Silverman, Max 325 Silverstein, Paul 324 Smith, Valerie 299 Smith, William Gardner 53, 167, 198, 269 f., 287–289, 291 f., 294–300, 304, 307, 314 f., 318 Sophokles 338, 349–351 Spargo, R. Clifton 39, 337 f. Spiegelman, Art 7, 297, 341 Stalin, Josef 33, 149 Stannard, David 33–35, 37 Steiner, Jean-François 212 Stoler, Ann Laura 139

404 Stone, Dan 36, 66, 81 f. Stora, Benjamin 231, 234, 273 Stovall, Tyler 287 f., 294–296 Sturken, Marita 27 Suk, Jeannie 102 Suleiman, Susan 28, 330 Sundquist, Eric 146 Sznaider, Natan 31, 270, 305 f. Taslitzky, Boris 96–101, 108, 128, 146, 150, 211 Tasso, Torquato 119 f., 122, 127 Teitgen, Paul 230, 249, 328 Terdiman, Richard 28 Thatcher, Nicole 241 Thorez, Maurice 100 f., 130 f., 164 Tillion, Germaine 220 Todorov, Tzvetan 145, 220 Tölölyan, Khachig 193 Tranchand, Valérie 335 Traverso, Enzo 66, 129 Trezise, Thomas 246 Ungar, Steven 215 Uri, Leon 284 Van Styvendale, Nancy 121 Vico, Giambattista 170, 181

PERSONENREGISTER

Vidal-Naquet, Lucien 233 Vidal-Naquet, Pierre 231–233, 244, 255, 309, 329 Voegelin, Eric 69, 70 Von Eschen, Penny M. 150 Wagner, Richard 157 Walkowitz, Rebecca 188, 206 Walzer, Michael 184 Warner, Michael 240, 247, 250–254, 258, 261 Weissman, Gary 37 Wertow, Dsiga 216 Whitehead, Anne 188 Wiesel, Elie 32, 33, 169, 204, 224, 228, 252 Wieviorka, Annette 212, 228, 234, 330 f. Wolf, Christa 7 Wood, Nancy 328 Yildiz, Yasemin 18, 22 Young, James E. 36, 161, 163 Young, Robert 32, 81, 133 f. Young-Bruehl, Elizabeth 63 f., 68, 81 Zierler, Wendy 170, 188, 194 Zimmerer, Jürgen 15, 66, 135–139 Žižek, Slavoj 152, 302, 321