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German Pages 157 [156] Year 2014
Hans-Rudolf Stadelmann
Im Herzen der Materie Glaube im Zeitalter der Naturwissenschaften 6. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 6., unveränderte Auflage 2014 © 2004 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2004 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-25926-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73697-3 eBook (epub): 978-3-534-73698-0
„Unser Erkennen ist Stückwerk, und unser Reden aus Eingebung ist Stückwerk. Wenn aber das Vollkommene kommen wird, dann wird das Stückwerk abgetan werden. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, sann wie ein Kind, urteilte wie ein Kind; als ich ein Mann wurde, tat ich ab, was kindisch war. Denn wir sehen jetzt wie mit einem Spiegel in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich völlig erkennen, wie ich auch völlig erkannt worden bin.“ Paulus, 1 Kor 13,9–12
Dank Der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Bern und der Kirchgemeinde Heimberg bin ich für die Gewährung eines viermonatigen Studienurlaubs, während dem wesentliche Teile dieser Arbeit entstanden sind, zu großem Dank verpflichtet. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Walter S. Moos, einem ehemaligen Physikerkollegen im Bundesamt für Gesundheit, für die sorgfältige Durchsicht meines Manuskripts und zahlreiche wertvolle Hinweise. Zu danken habe ich auch Herrn Dr. Bruno Kern vom Lektorat der WBG, der sich mit großem Engagement für die Publikation dieses Buches einsetzte. Und, last but not least, möchte ich auch meiner Ehefrau Anna Bögli danken, die mich vor, während und nach meinem Studienurlaub zu dieser Arbeit ermunterte und dabei auch immer wieder eigene Bedürfnisse zurückstellen musste.
Inhalt 1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Situation der christlichen Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Bibel – Autorität oder Hindernis auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Gottesglauben? . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Die Vielfalt biblischer Gottesbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Das naturwissenschaftliche Weltbild – die Evolution als der „Mythos“ unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Der Weltgeist, der sich in der Evolution offenbart . . . . .
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7. Spiritualität – in der Mystik Gott den Geist unmittelbar erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Evolutionäres Gottesbild und christlicher Gott – ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9. Konsequenzen aus dem evolutionären Gottesbild – Lebenssinn und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 10. Jesus Christus – Gottes Sohn, Prophet oder „Quantensprung“ der geistigen Evolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 11. Weitere christliche Glaubensbegriffe – im evolutionären Weltbild betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 12. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
1. Hinführung Der christliche Glaube wird zunehmend zu einem „Auslaufmodell“, sowohl was seine gesellschaftliche Relevanz im „christlichen Abendland“ als auch seinen Stellenwert im Leben des Einzelnen betrifft: Den Kirchen laufen zusehends die Mitglieder davon, Wirtschaft und Politik haben sich schon längst von christlichen Grundwerten verabschiedet. Und dies obwohl doch auch heute noch eine Mehrzahl unserer Zeitgenossen in Kindheit und Jugend eine mehr oder weniger intensive christliche Sozialisation erlebt hat. Sicher sind für diese Entwicklung verschiedene Faktoren verantwortlich.1 Meines Erachtens dürfte aber der wichtigste das Fundament des christlichen Glaubens selbst betreffen, nämlich den Glauben an Gott. Die bis heute tradierten und im Kirchenvolk verankerten Gottesbilder, also die vorwiegend anthropomorphen2 Vorstellungen von Gott als einem Deus ex Machina, einer Art von absolutem Weltenherrscher, welche die meisten von uns in unserer Kindheit mitbekommen und später kaum je ernsthaft in Frage gestellt haben, stammen aus längst vergangenen Zeiten und sind mit unserem heutigen Weltbild einfach nicht mehr vereinbar. Im christlichen Glauben haben sich die Vorstellungen von Gott in den 2000 Jahren seit Jesus kaum mehr verändert und deshalb nicht mit der Entwicklung unseres Weltbilds Schritt halten können, was meines Erachtens ein wesentlicher Grund für die heutige Irrelevanz Gottes und in der Folge auch für die allgemeine Entfremdung vom christlichen Glauben sein dürfte. Gott ist so in den Köpfen der meisten Zeitgenossen zu einem „Märchenbuch-Liebergott“ verkommen, der nichts mit der realen Welt und den Fragen ihrer Menschen zu tun haben kann und damit für ihr Leben bedeutungslos geworden ist. Wer fürchtet sich denn heute noch vor ewiger Verdammnis? Wer bangt noch um sein Seelenheil? Für wen ist denn noch die Frage Luthers „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ von Bedeutung? Was uns also vor allem fehlt, ist ein zeitgemäßes, heutige Menschen ansprechendes Gottesbild. Da Gottesbilder schon immer 9
zeit- und weltbildbedingt gewesen sind, wie sich schon am Alten Testament ohne weiteres aufzeigen lässt, ist die Suche nach einem mit unserer Weltsicht zu vereinbarenden Gottesbild auch im Rahmen des christlichen Glaubens durchaus legitim. Ich meine darum: Gott muss für unsere Zeit neu erfahren und „definiert“ werden, wie dies ja auch schon früher, d.h. vor der Erklärung der Bibel zur einzigen Richtschnur für den Glauben und vor der Dogmatisierung von Glaubensinhalten immer wieder geschehen ist. Dieses neue, zeitgemäßere Gottesbild ist dann auch mit den Grundlagen unseres christlichen Glaubens zu konfrontieren, wozu natürlich auch biblische Texte zu berücksichtigen und gegebenenfalls im Lichte unseres Weltbildes neu zu interpretieren sind. Es wird sich dabei die Frage aufdrängen, ob einige der traditionellen christlichen Begriffe und Glaubensinhalte (Trinität, Heiliger Geist, Reich Gottes, Ewiges Leben usw.) allenfalls neu interpretiert, beibehalten werden können oder ob sie als heute nicht mehr verständlich und im Widerspruch zu unserem Weltbild stehend fallen zu lassen sind. Ähnliches gilt sodann für die Interpretation Jesu: Vieles im traditionellen Verständnis Jesu als Christus, Erlöser, Gottessohn, Sühnopfer, „wahrer Gott“ in der Trinität etc. ist ja für einen heutigen Menschen kaum mehr nachvollziehbar und damit bedeutungslos geworden. Auch Jesus ist darum im Lichte unseres Weltbilds unter Berücksichtigung historischer Erkenntnisse und biblischer Aussagen neu zu „definieren“. Daraus dürfte auch eine Neubegründung und Erweiterung der traditionellen christlichen Ethik der Nächstenliebe erwachsen. Um es hier gleich vorwegzunehmen: Ich als Physiker und Theologe gehe bei alledem davon aus, dass der christliche Glaube auch im Lichte der neueren Welterkenntnisse Wesentliches über das Verhältnis dieser Welt und ihrer Menschen zu Gott auszusagen vermag, sofern man nur gewisse dogmatische und exegetische Engführungen der Vergangenheit als im damaligen Zeitgeist begründete menschliche Konstrukte fallen lässt und endlich einsieht, dass die mythologischen Bilder, auf die sie sich stützen, nicht wortwörtlich für wahr genommen werden wollen. Also: Ausgehend von grundsätzlichen Betrachtungen zum heutigen Weltverständnis und daraus folgenden allgemeinen Aussagen 10
über Gott soll in dieser Schrift gezeigt werden, dass die traditionellen christlichen Aussagen über Gott, Christus, Geist, Mensch und Ethik – allerdings im Kontext unseres Weltbildes neu ausgelegt! – in ihren Grundanliegen auch heute noch sinnvoll und Grundlagen eines verantwortbaren Glaubens sein können. Allerdings sind sie eben neu zu interpretieren und in heute verständlichen Sprachbildern zu formulieren. Natürlich stehen hinter diesem Unterfangen zwei Voraussetzungen, nämlich: 1. Dass Gott überhaupt „ist“3, und 2. Dass die ganze Wirklichkeit, die ganze für uns erkennbare Welt vom mikroskopisch Kleinen bis in äußerste kosmische Weiten ein Ganzes ist. Will sagen: Dass alles mit allem verbunden ist, weil es letztlich auf einem gemeinsamen Ursprung beruht. Insbesondere heißt das, dass z.B. überall dieselben physikalischen Grundgesetze und geistigen Prinzipien gelten und dass darum jegliche Form menschlicher Erkenntnis (naturwissenschaftliche, philosophische, theologische, psychologische und allenfalls auch offenbarte) dieselbe Wirklichkeit zum Gegenstand hat. Somit: Falls verschiedene Erkenntniswege anstatt zu komplementären zu widersprüchlichen Aussagen führen, muss die eine oder andere Aussage über die Wirklichkeit falsch sein, oder aber alle beide verfehlen die Wahrheit. Übrigens: Dass ich den Begriff „Gott“ zunächst in seiner allgemeinsten Bedeutung verwende, möglichst unbelastet von traditionellen biblischen Vorstellungen und insbesondere von anthropomorphen Engführungen, dürfte sich von selbst verstehen. Und: Da „Gott“ im Deutschen nun mal ein männlicher Begriff ist, gebrauche ich durchwegs die männliche Form, wohl wissend, dass Gott weder männlich noch weiblich vorzustellen ist. Leserinnen mögen es mir nachsehen. Und noch ein Letztes: Nicht nur die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern insbesondere auch die theologischen, auf die ich mich hier stütze, um daraus weiter gehende Schlussfolgerungen ziehen zu können, sind keineswegs neu. Die sehr zahlreichen Zitate und die Liste weiterführender Literatur, in der ich übrigens auch Autoren aufgeführt habe, mit deren Schlussfolgerungen bezüglich der Gottesfrage ich bloß teilweise oder auch gar nicht ein11
verstanden bin, belegen dies. Damit sind aber auch meine eigenen Ausführungen zu den Themenkreisen „Gott“ und „christlicher Glaube“ im Grunde genommen alles andere als neu. Während aber naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stoßen und auch ohne weiteres rezipiert werden, haben die neueren theologischen Entwicklungen den Weg ins allgemeine Bewusstsein leider nicht gefunden und sind deshalb für den christlichen Glauben wirkungslos geblieben, weshalb er in aufgeklärten Kreisen nach wie vor als im Geist der Antike verblieben und damit als weltfremd und hoffnungslos „veraltet“ gilt. Vielleicht kann diese Schrift auch etwas dazu beitragen, wichtige theologische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in die Öffentlichkeit zu tragen und so zu zeigen, dass die Annahme eines Gottes, ein Gottesglaube also, keineswegs im Widerspruch zu unserem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild steht. Darum: Sollten meine Gedanken nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Ablehnung stoßen und so eine Diskussion auslösen – es könnte ihnen nichts Besseres passieren! Für mich als Theologen und Physiker stellt diese Schrift natürlich auch so etwas wie eine theologische Standortbestimmung dar, eine selbstverständlich auch nur vorläufige Antwort auf die Frage, die wie ein roter Faden mein Leben durchzieht: Warum ist diese Welt? Hat sie einen Sinn, ein Ziel? Und: Was ist meine Aufgabe in meiner kurzen Lebensspanne, was ist der Sinn meines Lebens?
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2. Die Situation der christlichen Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends Der Weise richtet sein Verhalten sowohl nach den Theorien der Religion als auch der Naturwissenschaft aus. J. B. S. Haldane
Die großen christlichen Kirchen müssen je länger, desto schmerzlicher zur Kenntnis nehmen, dass sie in weiten Kreisen unserer Bevölkerung nicht mehr „ankommen“. Die wachsende Zahl von Kirchenaustritten spricht da eine sehr deutliche Sprache. Die Gründe für die Unzufriedenheit mit den Kirchen, die in den weitaus meisten Fällen für diesen Schritt angeführt werden – die Kirchensteuer, die Flüchtlingspolitik der Kirche, ihre Einstellung gegenüber den Randständigen unserer Gesellschaft, ihre Stellungnahmen zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen, insbesondere zu den Folgen einer globalisierten Wirtschaft, ihr Engagement in Umweltfragen, in der Entwicklungshilfe oder für den Frieden –, betreffen ja nicht nur die Kirche in ihrer Funktion als öffentlich-rechtliche Institution, die Steuern eintreibt und die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder mehr oder weniger erfolgreich unter einen Hut zu bringen versucht, sondern vor allem auch die Wertvorstellungen, die sie in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen vertritt. Dies legt die Vermutung nahe, dass der christliche Glaube an sich, aus dem ja diese Werthaltungen erwachsen, für viele nicht mehr nachvollziehbar ist oder von ihnen zumindest als für ihren alltäglichen Lebensvollzug in der heutigen Welt nicht mehr maßgebend und hilfreich und damit eben als überflüssig empfunden wird. Vordergründig könnte man für diese Entwicklung verantwortlich machen, dass es heute in weiten Kreisen ganz einfach an einem elementaren Wissen über die Grundlagen unseres Glaubens fehlt; mit anderen Worten: dass uns eine christliche Sozialisierung in Familie, Schule und Gesellschaft mehr oder minder abhanden gekommen ist. Sicher spielt auch dieser in unserer Gesellschaft be13
obachtbare Trend mit, fällt aber meines Erachtens nicht allzu sehr ins Gewicht. Häufig wird von Seiten der Kirchen auch argumentiert, der moderne Mensch sei halt „weniger religiös veranlagt“ als frühere Generationen. Gegen diese Behauptung spricht jedoch die Beobachtung, dass die Menschen von heute nachweislich in stärkerem Maße als früher zu ihren religiösen Bedürfnissen stehen und bewusst auf der Suche nach einem tragenden Glauben sind. Der große Zustrom zu evangelikalen Gemeinschaften, zu fernöstlichen Religionen und ihren spirituellen Praktiken oder zum so genannten „New Age“ macht dies deutlich. Ich bleibe demnach bei der Vermutung, dass der eigentliche Grund für die Kirchenferne der meisten unserer Mitmenschen weder in ihrem fehlenden religiösen Bedürfnis noch im sozialen oder politischen Engagement der Kirchen zu suchen ist, sondern in einem heute als nicht mehr einsichtig und hilfreich empfundenen christlichen Glauben und damit letzten Endes im eigentlichen „Kerngeschäft“ der Kirchen, einer zeitgemäßen Verkündigung christlicher Glaubensinhalte. Offensichtlich wird diese als für heutige Ohren zu wenig glaubwürdig und in Wort und Inhalt als hoffnungslos „veraltet“ empfunden, so dass der heutige Mensch zum Schluss kommt, er werde mitsamt seiner Lebenswelt nicht ernst genommen. Und dies, obwohl die Kirchen vorgeben, sich in ihrer Verkündigung an einer zeitgemäßen Theologie zu orientieren, wie sie auf den theologischen Hochschulen während der letzten 150 Jahre erforscht und auch gelehrt wird. Ich behaupte nun: Die entscheidende tiefere Ursache dafür, dass Christsein in unserer Gesellschaft ganz allgemein als rückwärtsgerichtet und weltfremd gilt und damit auch Anlass für die persönliche Entscheidung vieler Mitmenschen ist, dem christlichen Glauben, wie ihn die großen Kirchen vertreten, den Rücken zu kehren, liegt in der Unvereinbarkeit unserer heutigen von Technik und Naturwissenschaft geprägten Weltsicht mit der die christliche Verkündigung nach wie vor prägenden, im allgemeinen Bewusstsein aber schon längst obsoleten traditionell biblischen Weltsicht. Viele unserer aufgeklärten Zeitgenossen empfinden es zu Recht als Zumutung, mit dem christlichen Glauben implizit auch auf ein längst überholtes Weltbild verpflichtet zu werden. Christlicher Glaube, wie er in der kirchlichen Verkündigung noch meist darge14
stellt wird, gilt gerade darum bei denkenden Menschen schlicht als weltfremd, antiquiert, als ein Fossil aus vergangener Zeit, weil er mit unserer heutigen Weltsicht nicht mehr zu vereinbaren ist.4 Ein Blick auf die heutige „liberale“ Hochschultheologie könnte diesen Einwand zwar zumindest teilweise entkräften, aber offensichtlich haben es die christlichen Verkündiger und Katecheten in ihrem Bemühen, nicht auch noch das kleine, kirchentreue konservative „Häufchen“ aus den Kirchen zu vertreiben, bis heute verpasst, die neuere Theologie ins Volk zu tragen und so auch die Kirchenfremden von der bleibenden Aktualität christlichen Glaubens und christlicher Werte zu überzeugen. Der Spagat zwischen Tradition und Moderne ist den Kirchen also gründlich misslungen, nicht weil er nicht möglich gewesen wäre, sondern einzig darum, weil sie es nicht wagten, ihn auch außerhalb der universitären Elfenbeintürme unmissverständlich zu kommunizieren. Die altehrwürdige christliche Tradition mit ihren überkommenen Glaubenssätzen auf dem Hintergrund eines verflossenen dualistisch-gnostischen Weltbildes schwebt darum noch immer wie ein Gespenst über unseren Köpfen und vernebelt uns so den Zugang zu den jüngeren Entwicklungen in der Theologie und damit zu zeitgemäßeren Formulierungen und Ausdrucksweisen christlichen Glaubens. Meines Erachtens spricht auch der Übertritt ehemaliger Kirchenglieder zu evangelikalen Gemeinschaften nicht gegen die These, dass ein wesentlicher Teil der Kirchenflucht aufs Konto einer verkrusteten, weltfremden, längst nicht mehr aktuellen Theologie in der Verkündigung geht. Nur einer Minderheit der den Kirchen ablehnend oder gleichgültig Gegenüberstehenden ist die Kirche ja zu wenig „fromm“, einer Mehrheit ist sie im Gegenteil zu wenig „liberal“, zu wenig aufgeschlossen gegenüber unserem heutigen Weltverständnis. Und die evangelikale Glaubensrichtung gründet ja in einer noch wesentlich weltfremderen Theologie, nämlich einer unkritischen, wortwörtlichen Auslegung der Bibel als „Gottes Wort“ im eigentlichen Sinne und im Fürwahrhalten alter Mythen und Glaubenssätze, ohne dass man ihre ursprüngliche Intention zu erfragen und sie im heutigen Kontext zu interpretieren versucht. Dabei handelt es sich ganz einfach – und das ist ja wohl auch das Bestechende an dieser Glaubensrichtung – um eine bedingungslose Rückkehr zu einer Art von „Kinderglauben“, also 15
einen eigentlichen Akt der Regression, der zwar ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln vermag, aber den fundamentalistisch Glaubenden unweigerlich in einen Konflikt mit der heutigen Welt stürzt, in der er ja tagtäglich sein Leben bestehen muss (sofern er diese Unvereinbarkeit seines Glaubens mit seiner Lebenswelt überhaupt wahrzunehmen und sich einzugestehen vermag): Die Welt, in der man lebt, und die Welt des Glaubens fallen auseinander, man hat sich ja entschlossen, Glauben und Denken radikal voneinander zu scheiden. Dass ein solcher Glaube die Welt nur als fremd, vom „Bösen“ beherrscht und nicht als unser gottgegebenes Wirkungsfeld wahrnehmen kann, liegt auf der Hand. Eine Rückkehr zum Fundamentalismus etwa der protestantischen Orthodoxie wäre darum kontraproduktiv und mit Sicherheit der falsche Weg, um unsere großen Kirchen und den christlichen Glauben überhaupt aus der grundsätzlichen Krise zu führen, deren Ursache meines Erachtens ja gerade in der Unvereinbarkeit antiker christlicher Weltbilder mit der heutigen Weltsicht liegt. Warum aber finden auch neugnostische Glaubensformen wie die Theosophie und mit ihr die unzähligen Schattierungen des „New Age“, die sich ja ebenfalls auf ein längst widerlegtes und überwunden geglaubtes dualistisches Weltbild stützen, leichter Anhänger als die mit unserer heutigen Weltsicht doch eher verträgliche liberale Theologie, und zwar nicht zuletzt gerade auch in den Reihen unserer kritischeren Zeitgenossen? Auch diese Glaubensformen beruhen ja letzten Endes auf einem zweitausendjährigen Erlösungsmythos, der Gnosis, dem ein archaisches dualistisches Weltbild zugrunde liegt, und zwar genau dasselbe Weltbild, in dem auch der urchristliche Erlösermythos und die christlichen Dogmen ausformuliert wurden! Ich meine, dass auch ihr Erfolg meine Ansicht stützt: Anders als im christlichen Glauben ist der gnostische Mythos in jenen Glaubensformen nämlich nie in einem Kanon „heiliger Schriften“ und verbindlicher Glaubenssätze abschließend und bis in Einzelheiten festgelegt worden, so dass er – zumindest in einigen seiner Ausprägungen – den Veränderungen des Weltbildes einigermaßen angepasst werden und so seine Aktualität bewahren konnte. Ein illustratives Beispiel dazu geben die bekannten Bücher „Das Tao der Physik“ und „Wendezeit“ des Physikers Fritjof Capra ab, die es vermochten, eine große Schar von 16
naturwissenschaftlich und philosophisch Gebildeten, also von „typischen“ Kirchenfremden, in den Bann eines neugnostischen Selbsterlösungsmythos zu ziehen. Dies, weil es Capra offensichtlich gelungen ist, sowohl die Ergebnisse der heutigen Naturwissenschaften und die daraus ableitbaren philosophischen und weltanschaulichen Konsequenzen als auch fernöstliche Religionen (Taoismus) zu einer umfassenden, wenn auch im Grunde genommen immer noch klassisch gnostischen Philosophie oder besser gesagt: „Glaubensrichtung“ oder gar: „Weltreligion“ zu vereinen, die mit unserem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild durchaus kompatibel zu sein scheint. Überdies wird am Beispiel der in ihrer Ausprägung zwar recht unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Strömungen des „New Age“ auch deutlich, dass der heutige mündig gewordene Mensch besonders nach Glaubensformen sucht, in denen eigene religiöse Erfahrungen Platz haben. Man will sich nicht mehr mit einem Glauben aus „zweiter Hand“ begnügen, der durch irgendeine religiöse Autorität vermittelt wird. Der Glaube sollte also mit den eigenen Erfahrungen zumindest nicht im Widerspruch stehen, sondern auch diese ernst nehmen. Nicht ein Lehramt oder sonst eine theologische Autorität soll abschließend darüber bestimmen, was wahr ist und was nicht, sondern mündige Menschen wollen in ihrem Glauben auch ihre persönlichen Erfahrungen mit Gott wiederfinden. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Theologie und damit zu einer vermehrten Akzeptanz des christlichen Glaubens bei unseren aufgeklärten kritischen Zeitgenossen, also gerade bei jenen, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität stehen, ist demnach auch die nach wie vor mit großem Autoritätsanspruch behaftete christliche Tradition, die sich nicht nur in den meisten Theologenköpfen, sondern vor allem auch im Volksglauben beharrlich zu halten vermag. Mit diesem Autoritätsanspruch sehen sich nicht nur all die vielen, die einen zeitgemäßen Glauben suchen, konfrontiert, sondern auch die wenigen wirklich „liberalen“ Theologen. Mit der Folge, dass sie es kaum wagen, unkonventionelle theologische Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen: Verklausuliert und mit vielen Wenn und Aber gespickt sind ihre Predigten (ich gebe es zu: oft auch die meinen), ein unterschwelli17
ges schlechtes Gewissen ist ihr ständiger Begleiter. Wer lässt sich denn schon gerne nachsagen, er sei ein „Ungläubiger“? Die Aufgabe der Theologie wurde und wird ja auch noch heute weitgehend so verstanden, dass sie die in den Schriften der christlichen Tradition enthaltene Wahrheit herauslösen und sie für unsere Zeit und Situation fruchtbar machen soll. Theologie ist also Darstellung und Auslegung der christlichen Lehre, wie sie in der Bibel und allenfalls noch im altkirchlichen Dogma festgelegt ist. Wichtige Fragen gerade auch im Hinblick auf die Auslegung in unsere Zeit hinein bleiben bei dieser Methode aber auf der Strecke, wenn die Bibel als „Gottes Wort“ in jedem Fall als alleinige Grundlage und Autorität zur Entscheidung theologischer Fragen das letzte Wort behält. Auch dem bei der theologischen Arbeit immer wieder bemühten „Heiligen Geist“ bleibt da bloß ein enger Spielraum: Auch er „darf“ nur innerhalb biblischer Grenzen „wirken“; wirklich „Neues schaffen“ ist so nicht angesagt. Mit anderen Worten: Die traditionelle, bloß auf die Bibel als alleinige Richtschnur ausgerichtete Theologie kann da gar nicht anders, als sich weiterhin im Kreise zu drehen und Altbekanntes in endlosen Varianten wiederzukäuen. Damit bleibt sie im großen Ganzen – mit wenigen löblichen Ausnahmen – hoffnungslos in bestenfalls in etwas zeitgemäßere Worte gekleideten traditionellen Glaubensaussagen stecken. Viele Glaubensfragen, die sich im Blick auf unsere heutige Welt stellen, bleiben dabei offen oder werden mit Aussagen beantwortet, die im Kontext des heutigen Weltbildes nicht haltbar sind, z. B. Fragen wie: Hat Gott in unserem Weltbild überhaupt noch Platz? Was ist mit einem „allmächtigen“ Gott gemeint? Was soll die Dreieinigkeit? oder: Was heißt „Jesus starb für unsere Sünden“?, und überhaupt: Wie steht es mit der „Göttlichkeit“ Jesu? Die Theologie lässt somit grundsätzlich die Kreativität vermissen, die sonst in unserer von der Evolution bestimmten Welt so elementar am Werk ist. Für unseren Glauben soll offenbar nicht gelten, was allen anderen Vorgängen in unserer Welt zugrunde liegt. Glaubenserfahrungen, die heutige Menschen im Kontext des heutigen Weltbilds machen, sind noch immer grundsätzlich häresieverdächtig und bleiben unbeachtet, wie wenn sich Gott seit den Zeiten Jesu nicht mehr bemerkbar gemacht hätte. Was Wunder, dass der christliche Glaube in den Augen gerade der an Sinnfragen 18
interessierten, einen Lebenssinn, einen vernünftigen Glauben suchenden, geistig wachen Zeitgenossen zu einem Fossil aus längst vergangener Zeit, zu einem Museumsstück verkommen ist. Viele der theologischen Fragen, denen wir uns heute im Blick auf die Welt, in der wir leben, stellen müssten und die für den Glauben mündiger Menschen von größter Wichtigkeit sind, gelten also bedauerlicherweise für die traditionelle Theologie und auch im „Volksglauben“ durch den Hinweis auf den Autoritätsanspruch der Bibel als „Gottes Wort“ als ein für alle Mal geklärt. Und ganz besonders gilt das auch für die Grundlage eines jeden Glaubens, für unsere Vorstellung von Gott. Aber: • Dürfen wir denn behaupten, die einzig richtige Methode der Auslegung von Schrift und Tradition zu kennen? • Können wir denn allen Ernstes davon ausgehen, dass wir schon vor unserer theologischen Arbeit genau „wissen“, wer oder was Gott ist, kommt er uns doch schon in der Bibel in unzähligen verschiedenen Bildern und Vorstellungen entgegen? Oder wäre nicht gerade vor allen anderen die Frage nach Gott im heutigen Kontext vordringlich neu zu stellen? • Können wir denn weiterhin einfach voraussetzen, dass Gott eine Art von „dreifaltiger Person“ ist? • Dürfen wir einfach davon ausgehen, dass Gott sich uns vollständig und abschließend in der Bibel und in „seinem Sohn“ offenbart hat und damit alle Gotteserlebnisse in den vergangenen zweitausend Jahren disqualifizieren? Oder bedarf gerade auch diese Behauptung dringend einer Überprüfung, nicht zuletzt auch im Blick auf die großen nichtchristlichen Religionen, denen wir ja heute kaum mehr einfach Gottlosigkeit oder „Heidentum“ vorwerfen können? • Können wir als gegeben annehmen, dass Gott als der „ganz Andere“ im Kosmos und in der Natur nicht zu erkennen ist, also ausschließlich „außerhalb“ der Welt steht? Die Liste stillschweigender Annahmen und Voraussetzungen in der Theologie ließe sich wohl noch verlängern. Ich möchte mich jedoch im Folgenden auf die auch für den christlichen Glauben fundamentale Frage nach Gott beschränken und mich auf die Suche nach einem in der heutigen Zeit sinnvollen und sich auf unser 19
Leben auswirkendes Gottesbild machen. Hat doch schon Luther gesagt: „Worauf du nun, sage ich, dein Herz hängst und verlässt, das ist eigentlich dein Gott“, und in unserer Zeit hat der Psychologe Peter Schellenbaum5 festgestellt: „Das Wort Gott ist kein Sachwort, sondern ein Wirkwort.“ Beide meinen damit, dass ein Gottesbild und der daraus hervorgehende Gottesglaube nur dann für uns relevant ist, wenn er auch Auswirkungen auf unsere Weltsicht und insbesondere auch auf unsere Lebensgestaltung in dieser Welt zeitigt, z. B. also eine Ethik hervorbringt, die eine Antwort auf die Probleme unserer Zeit zu geben vermag. Und nicht zuletzt meint Schellenbaum mit seiner Feststellung im Anschluss an C. G. Jung auch, dass, weil ja „Gotteserkenntnis immer auch Selbsterkenntnis ist“, sich unsere Gottesbilder und unsere Persönlichkeit gegenseitig bedingen. Die meisten Gottesbilder aus vergangenen Zeiten, insbesondere auch einige biblische, die auch heute noch hartnäckig mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht werden, können dies aber nicht mehr leisten, da ihnen der grundlegende Bezug zu unserer heutigen Welt fehlt. Ein zeitgemäßeres Gottesbild tut also Not: „Wollen wir heute weiterhin verantwortlich von Gott reden, muss er etwas mit dieser unserer erfahrbaren Wirklichkeit zu tun haben. Die Wirklichkeit: Das ist in erster Linie die Welt und alles, was Welt in Raum und Zeit ausmacht, Makrokosmos und Mikrokosmos mit ihren Abgründen. Die Welt in ihrer Geschichte, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Welt mit Materie und Energie, mit Natur und Kultur, mit all ihren Wundern und Schrecken. Keine heile Welt jedenfalls, sondern die reale Welt in ihrer ganzen Fraglichkeit: mit all ihren konkreten Bedingungen und natürlichen Katastrophen, mit ihrem realen Elend und all dem Leid. Tiere und Menschen in ihrem Kampf ums Dasein: dem Entstehen und Vergehen, Fressen und Gefressenwerden“, schreibt Hans Küng.6 Biblische Gottesbilder sollen dabei durchaus in die Suche einbezogen werden, sind doch auch sie zu Bildern geronnene Gotteserfahrungen suchender Menschen aus früheren Zeiten. Falsch wäre es aber, aufgrund des traditionell geltend gemachten biblischen Autoritätsanspruchs ein biblisches, heutigen Menschen fremdes Gottesbild weiterhin zur christlichen Norm zu erklären. Im Blick auf die sich häufenden Kirchenaustritte hat es Xaver Pfister-Schölch so auf 20
den Punkt gebracht: „Sie haben bloß realisiert, dass sie mit der Kirche und ihren Aktivitäten, seien sie nun konservativ oder progressiv eingefärbt, nichts mehr anfangen können. Sie ziehen bloß die Konsequenz aus ihrer Erfahrung, dass sie mit dem Glauben an einen persönlichen Gott, der sich in die Geschichte des Einzelnen und der Welt im Ganzen einmischt, nichts mehr anfangen können.“7 Die Konsequenzen aus diesen Feststellungen liegen eigentlich auf der Hand. Dies haben leider erst einige wenige US-amerikanische theologische Hochschulen erkannt, indem sie spezielle Lehrstühle für eine auch im Kontext des heutigen naturwissenschaftlichen Weltbilds relevante Theologie geschaffen haben. Dr. Ronald Cole-Turner umriss 1996 in seiner Antrittsvorlesung auf den „H. Parker Sharpe Chair of Theology and Ethics“ in Pittsburgh die vordringliche Aufgabe der heutigen Theologie wie folgt: „Wir leben in einem Zeitalter, in dem sowohl unser Denken als auch unser Handeln maßgebend durch Wissenschaft und Technik bestimmt sind. Zweifellos sehen Kirchenfremde die Welt durch die Brille der Wissenschaft; vor allem junge Leute – diese typischen Vertreter der heutigen säkularen wissenschaftlichen Kultur – stehen verdutzt einer Kirche gegenüber, die nichts von Wissenschaft und Technik weiss, die ihre Welt nicht versteht und trotzdem noch meint, sie habe ihnen etwas zu sagen. Allein schon wegen ihres Predigtamts müsste die Kirche darum die Sprache und Denkmuster dieser neuen Kultur, in der wir leben, lernen. Aber unsere Aufgabe geht tiefer und ist weit schwieriger als einfach in einer neuen Sprache vom Glauben zu reden. Wir sind nicht bloß dazu aufgerufen, die Theologie zu kommunizieren, sondern sie grundlegend neu aufzubauen. Es darf uns nicht genügen, einfach die Theologie des ersten Jahrhunderts oder des fünften, des sechzehnten oder sogar des zwanzigsten zu nehmen, einige wenige Begriffe auszuwechseln, das Paket neu zu schnüren, einige wenige Illustrationen aus der neuesten Wissenschaft beizufügen, das Ganze per Internet zu verschicken und zu meinen, wir hätten so unserer Berufung Genüge getan. Die Theologien dieser vergangenen Jahrhunderte wurden ja in den Denkmustern ihrer Zeit erarbeitet und formuliert. Unsere Aufgabe ist es, heute das zu tun, was die Theologen früherer Jahrhunderte damals taten, nämlich die Kernstücke des Glau21
bens der Kirche Jesu Christi neu zu artikulieren. Unsere Aufgabe ist es, die Theologie von Grund auf zu erneuern, das Evangelium für unsere Zeit zu erläutern ... Die Theologie darf die Natur nicht mehr länger ausblenden (und so tun), als ob Gott eine andere Schöpfung neben unserer natürlichen Welt hätte. Die Theologie darf die Wissenschaft nicht mehr länger ausblenden (und so tun), als ob Gott eine andere Welt hätte, von der die Wissenschaft nichts weiß, in der er sich offenbart und uns erlöst. Es gibt nur eine Welt, die Gott geschaffen hat, und das ist unsere physikalische, natürliche Welt ... in der uns Gott begegnet und erlöst.“8
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3. Die Bibel – Autorität oder Hindernis auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Gottesglauben? Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Paulus, 2 Kor 3,6
Eine Gemeindeveranstaltung zum Thema „Gott und unsere Gottesbilder“ hat es an den Tag gebracht: Die traditionell biblischen, anthropomorph-theistischen9 Gottesbilder beherrschen nach wie vor die Gottesvorstellungen „guter Christen“, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Alltagserfahrungen häufig in krassem Widerspruch zu diesen Bildern stehen: Gott als allmächtiges, außerweltliches personales Gegenüber mit sehr menschlich gedachten Eigenschaften und Gefühlen wie Liebe und Erbarmen, aber auch Zorn, Rache und Parteilichkeit, das frei und willkürlich in den Lauf der Welt oder ins persönliche Schicksal von Menschen eingreifen kann, Nothelfer, moralische Instanz, Richter, mächtiges Über-Ich ..., kurzum: Gott, wie er uns in biblischen Gottesbildern entgegenkommt als Schöpfer, König, Richter, Rächer, Herr, Hirte, Fels und Hort, Vater usw. Unnötig zu erwähnen, dass die an der Veranstaltung teilnehmenden Gemeindeglieder allesamt zu den treuen Kirchgängern gehörten. Sind all die Ferngebliebenen nur darum nicht erschienen, weil sie von einer solchen Veranstaltung nichts Neues erwarteten, weil sie, die wir eigentlich ansprechen und mit ihnen zusammen zeitgemäßere Gottesbilder erarbeiten wollten, annehmen mussten, von der Kirche ohnehin wie gehabt nur Altbekannt-Traditionelles – allein begründet mit dem Hinweis auf die Autorität der Bibel – zu hören zu bekommen? Traditionelle Gottesbilder, die vor der Realität unserer heutigen Welt ohnehin nicht mehr bestehen können? Haben sie befürchtet, dass ihre berechtigten Anfragen an traditionelle Gottesbilder einmal mehr mit Hinweisen auf die Autorität der Bibel und mit Bibelzitaten wie „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege“ (Jes 55,8) vom Tisch gefegt würden? 23
Was ist denn nun aber wirklich von der während Jahrhunderten von den Kirchen in Anspruch genommenen biblischen Autorität zu halten? Ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte der „Heiligen Schrift“ könnte da manches ins rechte Licht rücken: Die Bibel ist, wie man übrigens schon längstens weiß, alles andere als eine einheitliche Schrift: Genau besehen, stellt sie eine ganze Bibliothek mit nicht weniger als sechsundsechzig einzelnen Schriften von unterschiedlichem Umfang dar, von denen neununddreißig zur Jüdischen Bibel („Altes Testament“) und siebenundzwanzig zur Christlichen Bibel („Neues Testament“) gehören. Schon dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass die Entstehungsgeschichte des biblischen Schrifttums äußerst kompliziert ist: Die meisten dieser Schriften hatten bereits eine Periode mündlicher Überlieferung hinter sich, bevor sie dann durch einen oder mehrere Verfasser, die zu den verschiedensten Zeiten lebten, und durch spätere redaktionelle Überarbeitungen in ihre heute vorliegende Form gebracht wurden. Außerdem entstanden die verschiedenen biblischen Schriften während einer außerordentlich weiten Zeitspanne von mehr als 1000 Jahren: die alttestamentlichen nach einer langen mündlichen Überlieferungsperiode zwischen etwa 900 und der Mitte des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, die neutestamentlichen zwischen den Jahren 50 und etwa 140 unserer Zeitrechnung. Und auch die endgültige Zusammensetzung der Bibel war Menschenwerk: Der Kanon10 neutestamentlicher Schriften war bis ins vierte Jahrhundert nach Christus nicht offiziell festgelegt. Erst durch einen Erlass des Athanasius im Jahre 367, der langen Streitereien ein Ende setzte, wurde der heutige Umfang von siebenundzwanzig neutestamentlichen Schriften für verbindlich erklärt, wobei eine größere Anzahl weiterer christlicher Schriften verworfen wurde. Die Grenzen des für den christlichen Glauben maßgeblichen alttestamentlichen Kanons waren hingegen immer etwas fließend; in der Reformationszeit erkannten die Reformierten nur die Jüdische Bibel (Tanach) an, wobei für sie entscheidend war, welche Schriften als Hilfe zum Glauben an den Gott Israels und an Jesus als seinen Messias interpretiert werden konnten. Luther fügte außerdem noch einen Teil der so genannten Apokryphen als „nützliche Schriften“ hinzu.11 Es dürfte somit nicht verwundern, dass die uns als „verbindlich“ 24
vorliegenden biblischen Schriften mit einem Werdegang von über tausend Jahren alles andere als eine Einheit sind, sondern sich uns als ein Konglomerat unterschiedlichster Traditionen und literarischer Formen in bildreicher Sprache präsentieren: Unter anderem finden wir im Alten Testament Sagen verschiedener Art (Stammessagen, Lokalsagen, Ätiologien und Kultlegenden), die nach langen mündlichen Überlieferungswegen in die israelitische Geschichtserfahrung eingegangen sind, Lieder, Sprüche und Orakel, kosmologische und anthropologische Mythen, die meist von sumerischem oder babylonischem Einfluss zeugen, Märchenmotive, Novellen und vielfach überarbeitete und religiös interpretierte geschichtliche Stoffe, juristische Stoffe und nicht zuletzt auch prophetische Schriften mit Resten alter Prophetenlegenden. Und nicht viel anders präsentiert sich das Neue Testament: Religiös interpretierte Geschichtsschreibung, Legenden, Wundergeschichten, Dämonenglauben, Logien, antike Mysterienfrömmigkeit, apokalyptische Naherwartung, hellenistische Philosophie und noch vieles mehr wechseln sich ab. Das heißt auch, dass die eigentlichen Glaubensaussagen in diesen unterschiedlichen literarischen Erscheinungsformen immer in Bilder und Mythen gekleidet sind. Dies ist einerseits notwendigerweise so, weil Erfahrungen des Göttlichen gar nicht anders als in Bildersprache ausgedrückt werden können, da dieses ja unsere Welt transzendiert und darum nicht in sachlogische Sprache zu fassen ist. Bilder und Mythen sind aber andererseits als literarische Formen immer kultur- und zeitbedingt, also vom jeweils herrschenden Welt- und Menschenbild geprägt. Ihre Aussagen können deshalb im heutigen Kontext nicht so ohne weiteres verstanden werden; sie müssen erst „übersetzt“, d. h., ihr Sinngehalt muss in Bilder und allenfalls Mythen übertragen werden, die Bezug auf unsere heutige Weltsicht nehmen, damit sie heutige Menschen ansprechen können. Sowohl die weite Zeitspanne der Entstehung der biblischen Schriften als auch die meisten ihrer vielfältigen literarischen Formen verbieten es also grundsätzlich, einzelne biblische Aussagen herauszugreifen und sie uninterpretiert als Glaubenssätze, also als wortwörtlich zu glaubende Wahrheiten aus ihrem Kontext herauszulösen. Biblische Texte können deshalb nur im Blick auf ihr 25
historisches, kulturelles und geistiges Umfeld verstanden und müssen auf uns und unsere Gegenwart bezogen werden. Dies alles bestätigt, was wir eigentlich schon längstens wissen: Die Bibel ist weder vom Himmel gefallen noch von Gott oder irgendeinem Engel ihren Autoren diktiert worden (Verbalinspiration), sie ist von Menschen in menschlichen Worten geschrieben worden. Menschen haben in den verschiedenen biblischen Büchern festgehalten, wie sie in der Geschichte oder in ihrem eigenen Leben Göttliches erlebt haben. Biblische Berichte widerspiegeln also menschliche Erfahrungen im Licht ihres Glaubens an Gott bzw. an Jesus als den Christus. Die Bibel will somit auch nicht persönliche oder kollektive geschichtliche Erfahrungen im Sinne der heutigen Geschichtsschreibung oder eines „Reports“ als objektive Tatsachen darstellen, sondern sie gibt solche Erfahrungen immer interpretiert durch den Glauben ihrer Autoren oder Redaktoren wieder. Kurzum: Die Bibel ist nicht „Gottes Wort“ im eigentlichen Sinne, sondern nur insofern, als die biblischen Autoren Gottes Wirken in ihrem Leben oder in der Geschichte zu erfahren glaubten und dies in einer für sie und ihre Weltsicht gemäßen Form zu Papier brachten. „Gottes Wort“ also in situations- und zeitbedingte Menschenworte gefasst. Ein wortwörtliches Verständnis der biblischen Schriften oder auch nur einzelner ihrer Aussagen verbietet sich deshalb grundsätzlich, nicht zuletzt auch darum, weil ein solches Verständnis die eigentlichen Aussagen ihrer Autoren, die ja immer in einer konkreten menschlichen und historischen Situation wurzelten, verstellen würde. Biblische Texte sind also immer in historischer, menschlicher und weltanschaulicher Sicht übersetzungsbedürftig. Denn unser heutiges Weltbild ist grundlegend anders, unsere gesellschaftlichen und persönlichen Probleme liegen anderswo, andere Gefahren bedrohen unsere Existenz. Die Bibel als „Rezeptbuch“ für die heutigen Lebensprobleme zu betrachten ist deshalb schlicht absurd. Dies gilt nun insbesondere auch für die meisten biblischen Gottesbilder, die ja gleichermaßen auf vergangenen kulturellen und weltanschaulichen Prämissen beruhen. Antike Mythen dürfen also nicht wortwörtlich für wahr gehalten werden; die ihnen eigene Wahrheit liegt „hinter“ ihren Sprachbildern. Für uns gilt es also herauszufinden, was der Geist biblischer Texte 26
uns eigentlich sagen will. Übrigens ist dies genau das, was uns Jesus in der Bergpredigt mit seiner Auslegung alttestamentlicher Gesetzestexte vorgezeigt hat. Leider hat gerade das in ihrer Zeit sehr berechtigte Anliegen der Reformatoren, wieder an den Ursprüngen des christlichen Glaubens anzuknüpfen, Luthers „sola scriptura“ also, später wesentlich zum Missverständnis der Bibel als „Gottes Wort“ im engeren Sinne beigetragen. Und auch die apodiktische Aussage Karl Barths im 20. Jahrhundert, dass sich Gott „senkrecht von oben“ ausschließlich und abschließend in der Heiligen Schrift und in Jesus Christus offenbart habe und dass später keine Offenbarungen oder Gotteserfahrungen von gleicher Bedeutung mehr erfolgt und überhaupt möglich seien, hat unsere Sicht auf die eigentliche Bedeutung der Bibel verstellt und so dem traditionellen Festhalten an wortwörtlich verstandenen Glaubenssätzen und heute nichtssagenden antiken Gottesbildern Vorschub geleistet. Oder wie Martin Koestler einmal festgestellt hat: „Der ‚Glaube an das Buch’ verdrängte den ‚Glauben an den lebendigen Gott’.“12 Die Meinung, Gott habe sich den Menschen nur in biblischer Zeit offenbart, vorher und nachher habe er beharrlich geschwiegen, dürfen wir ruhig als abwegig bezeichnen. Glaube hat immer etwas zu tun mit unserer Weltsicht, mit unseren Erlebnissen, Erfahrungen und unserem Schicksal. Und: Christlicher Glaube war in seinem tiefsten Wesen auch nie eine Art von Lehrstoff, den man auswendig lernen und abfragen kann. Der Basler Theologe F. Overbeck hat darum wohl nicht ganz zu Unrecht festgestellt: „Der Kanon des Neuen Testaments ist der Totenschein des Christentums.“ Und übrigens: Hat nicht auch schon Paulus vor einem buchstabentreuen Glauben mit den Worten „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2 Kor 3,6) eindringlich gewarnt?13
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4. Die Vielfalt biblischer Gottesbilder Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme ... und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Ex 3,13.14
Im Anschluss an die Feststellungen im vorstehenden Kapitel drängt sich nun die Frage auf: Gibt es den „biblischen Gott“ überhaupt? Wie bereits erwähnt, zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Bibel, dass wir es mit einer Vielzahl von Gottesbildern, also mit einer Vielzahl von Umschreibungen des einen unbenennbaren Gottes zu tun haben, die je im Rahmen eines ganz bestimmten weltanschaulichen und historischen Kontexts stehen: den „Gott der Väter“, Gott als Schöpfer, als Weltenherrscher, als König, Richter, Rächer, Herr der Heerscharen, Hirte, Fels und Hort, Vater, Liebe und ... und ... Schon die Vielzahl solcher Gottesbilder sollte es eigentlich verbieten, eines davon herauszugreifen und es als maßgebend für unseren Glauben zu deklarieren. Problematisch werden solche Gottesbilder ja immer dann, wenn sie in der Glaubenstradition festgeschrieben werden, zu festen Begriffen erstarren, sozusagen zum Inventar und Kriterium eines „rechten Glaubens“ gezählt werden und so bei den Gläubigen nicht zuletzt auch persönliche Gotteserfahrungen in ihrem eigenen Schicksal und ihrer eigenen Welt verunmöglichen. Waren es denn nicht auch solche persönlichen oder kollektiven Gotteserfahrungen, aus denen sich in biblischen Zeiten im kulturellen Umfeld Palästinas die „klassischen“ Gottesbilder herauskristallisierten? Biblische Bilder wie Herr, Herrscher, Richter, Vater, Hirt – übrigens immer als männlich vorgestellt! – verhindern also heute den Zugang zu Gott, wenn sie als nichtmetaphorisch gedachte Attribute Gottes absolut gesetzt werden. Und da solche Bilder in der „Heiligen Schrift“ der Christen, der Bibel, immer und immer wieder zur Charakterisierung Gottes gebraucht werden, ist die Gefahr groß, dass sie zum 28
Maßstab erhoben werden für jedes theologische Denken und für jeden Gottesglauben überhaupt. Wenn der christliche Glaube nicht rückwärtsgewandt bleiben und weiterhin als Fossil aus längst vergangenen Zeiten gelten soll, braucht er also dringend neue Begriffe, vielleicht auch neue Mythen, auf jeden Fall aber neue Gottesbilder, die im Kontext unseres heutigen Weltbildes verständlich sind und uns heute etwas zu sagen vermögen. Trotz ihrer Vielfalt ist allen biblischen Gottesbildern gemeinsam, dass sie ein anthropomorph-theistisches Gottesverständnis ausdrücken: Gott wird als eine Art von ins Unermessliche gesteigerter Person mit menschlichen Zügen und Verhaltensweisen jenseits und getrennt von dieser Welt verstanden. Gott ist also personhaft, hat einen Namen, er lässt sich sehen und hören, zeigt sich als Schöpfer, er gilt als allmächtig, sein Wesen ist die Liebe, aber als Deus ex Machina greift er wie ein absoluter Herrscher willkürlich und für die Menschen oft nicht einsichtig in diese Welt ein, er ist eifersüchtig und zornig, er erlässt Gesetze und richtet ihre Übertretung, wobei er aber auch immer wieder gnädig ist, er schließt einen Bund mit ausgewählten Menschen, für die er wie ein Vater oder eine Mutter ist und deren Freiheit ihm ein Anliegen ist, und er nimmt darum auch immer politisch Partei bis zur grausamen Vernichtung der Gegner seiner menschlichen Bundesgenossen ... An dieser verallgemeinernden Charakterisierung biblischer Gottesbilder lassen sich nun im Hinblick auf unsere Suche nach einem zeitgemäßeren Gottesbild zwei wichtige Beobachtungen machen: • In den biblischen Gottesbildern spiegeln sich die Weltsicht und das menschliche Selbstverständnis der damaligen Zeit wider: Sowohl das antike Weltbild, die politische und wirtschaftliche Situation in Palästina als auch Erfahrungen, die die Menschen in ihrem Leben persönlich oder als ganzes Volk machten und einer numinosen Macht (Schicksalsmacht) zuschrieben, ließen Gottesbilder wie z. B. „Schöpfer“, „König“, „Hirte“ und „Herr über Leben und Tod“ entstehen. Biblische Gottesbilder widerspiegeln also eine bestimmte Weltsicht, ein bestimmtes heute überholtes Weltbild. • Im Laufe der Geschichte veränderten sich sowohl die politische und wirtschaftliche Situation als auch das Weltbild der Israeliten, was eine Veränderung der Gottesbilder nach sich zog: Der 29
„biblische Gott“ veränderte sich im Laufe der Zeit, blieb also nicht der „immer Gleiche“. Wenn wir biblische Gottesbilder würdigen und ihre allfällige Bedeutung für uns heute diskutieren wollen, ist es somit unerlässlich, zunächst einen Blick auf das biblische Weltbild zu werfen: Das biblische Weltbild entspricht im Wesentlichen den mythischen Weltbildern der anderen Kulturen im Nahen Osten. Es unterscheidet sich nur in der Annahme eines einzigen Gottes (Monotheismus) von den anderen, die jeweils mehrere Götter für die Entstehung und Erhaltung der Welt voraussetzen. Das biblische Weltbild ist streng hierarchisch gegliedert: Die Erde wird als eine Scheibe verstanden, die auf Pfeilern in der Urflut abgestützt ist. Das Himmelsgewölbe überdeckt die Erde wie eine gläserne Käseglocke und verhindert so das Einbrechen der Urflut, die das Gebilde Erde–Himmelsgewölbe vollständig umgibt und so eine dauernde Gefahr für die Menschen darstellt (Sintflutgeschichte!). Sonne, Mond und Sterne sind als „Leuchten“ am Himmelsgewölbe angebracht. Über dem Zenith steht Gottes Thron, im Zentrum der Erdscheibe der Tempel von Jerusalem, der am Ort des Paradiesbaumes, des Weltenbaumes steht. Der Mensch sieht sich im Zentrum dieser Welt, denn er steht in einer besonderen Beziehung zu Gott als sein Ebenbild und Partner. Da Gott aber jenseits und hinter seiner Schöpfung steht, also rein transzendent vorgestellt wird, besteht ein absoluter, nicht überbrückbarer Unterschied zwischen Gott und seiner Schöpfung, zwischen Gott und Mensch. Naturereignisse und menschliches Schicksal werden im Einzelnen als von Gott bestimmt angesehen. Da sie aber für die Menschen oft nicht erklärbar sind, wird Gott Allmacht im Sinne eines nicht selten willkürlich handelnden Deus ex Machina zugeschrieben. In der Folge ist natürlich auch das alttestamentliche Sozialsystem streng hierarchisch gegliedert, mit einem als „Sohn Gottes“ verstandenen, von Gott über den Hohepriester eingesetzten und mit großer Macht und Willkür ausgestatteten König. Die alttestamentliche Welt ist übrigens nicht statisch, sondern geschichtlich gedacht: Die Schöpfung Gottes ist noch nicht zu Ende, die Welt geht auf ein Ziel zu, das mythologisch durch die Ruhe am siebenten Schöpfungstag dargestellt wird. Die Welt befindet sich also auf dem Weg in eine Zukunft mit Gott: Die Zeit verläuft deshalb 30
nicht zyklisch, sondern linear, im Gegensatz zum griechischen Weltbild, das in neutestamentlicher Zeit zunehmenden Einfluss auf das christliche Denken gewann. Im griechischen Weltbild ist die Welt nicht entstanden, sondern zeitlos gegenwärtig, und Gott wird als unveränderliches und geschichtsloses Sein betrachtet. Wenn wir des Weiteren die verschiedenen biblischen Gottesbilder in ihrer zeitlichen Abfolge näher betrachten, können wir nicht nur ihre Abhängigkeit vom Kontext des eben skizzierten Weltbildes feststellen, sondern wir können auch eine deutliche Entwicklung erkennen, die der Gottesglaube im Laufe der Zeit durchgemacht hat, eine Art von Evolution des Gottesbildes in Wechselwirkung mit den Erfahrungen, welche die Gläubigen als Mitgestalter und Mitbetroffene in der Geschichte ihres Volkes Israel gemacht haben14. Als ein erster solcher Entwicklungsschritt – der übrigens vom Theologen Gerd Theißen ganz im Sinne der heutigen Evolutionstheorie als eine Art geistiger Mutation interpretiert wird – ist der Übergang von der Vielgötterei zum Monotheismus zu nennen.15 Der Übergang zum Monotheismus ist nämlich im 6. Jahrhundert vor Christus ungefähr gleichzeitig bei den griechischen Philosophen (Xenophon) und beim biblischen Glauben an einen einzigen Gott (Deuterojesaia) feststellbar. Das Israel der Königszeit war, wie historisch-kritische Untersuchungen zutage förderten, noch polytheistisch. Neben Jahwe wurden noch andere Götter verehrt: Jahwe war zwar der Nationalgott; neben ihm gab es aber noch eine ganze Anzahl weiterer Götter, z. B. die verschiedenen El-Gottheiten wie El-Eljon (Gen 14,18), El-Schaddai (Gen 17,1) und der Gott von Beth El (Gen 35,7), gegen deren Verehrung nach der Exilszeit die großen Propheten Sturm liefen. In Jerusalem gab es zudem einen offiziellen Baaltempel (2 Kön 11,18), und sogar im Tempel Jahwes wurden fremde Götter verehrt (Ez 8). Außerdem stand Jahwe in der Gestalt von Aschera eine weibliche Gottheit zur Seite (2 Kön 23,7).16 In der Bibel wesentlich leichter erkennbar als der Übergang zum Monotheismus, da nicht der mehr oder weniger gründlichen Zensur der späteren monotheistisch und nationalistisch denkenden Priesterschaft zum Opfer gefallen, ist die fortschreitende Entwicklung der Gottesbilder vom Stammesgott über den Nationalgott 31
Israels bis zum universalen, zum einzigen Gott Jahwe, die sich infolge der Veränderungen in der kulturellen, sozialen, politischen und geistigen Welt Israels im Laufe seiner Geschichte ergab: Zur Zeit der nomadisierenden Patriarchen (ca. 1900–1400 v. Chr.) verehrte jede Sippe ihren eigenen Gott, z. B. den „Gott Abrahams“, den „Gott Jakobs“ oder einfach den „Gott meines Vaters“. Dieser Gott der Väter war nicht an einen bestimmten Ort oder an ein bestimmtes Heiligtum gebunden, sondern er teilte das Leben seiner Sippe, begleitete sie, bewahrte sie vor Gefahren und sorgte für ihr Wohl. Sein Wirken wurde in Erzählungen tradiert, z. B. in der Erzählung vom Aufbruch Abrahams oder in der Geschichte vom Auszug aus Ägypten und seiner Begleitung während der Wüstenwanderung. Hier ist ja auch der Gottesname JHWH, Jahwe, entstanden, was so viel heißt wie: „Ich bin der Ich-bin-da-füreuch“. Während dieser Zeit (ca. 1250 v. Chr.) mutierte Jahwe zum Bundesgott vom Sinai, also zu einem Gott, der als Gesetzgeber das Zusammenleben und damit eine einfache Staatsform der verschiedenen zur Sesshaftigkeit drängenden aramäischen Stämme ermöglichte und regelte. Nach der Einwanderung der verschiedenen Aramäerstämme in Palästina veränderte sich ihre wirtschaftliche und soziale Struktur einschneidend: Sie wurden teilweise zu Ackerbauern, und aus dem Sippenverband wurden Dorfgemeinschaften. Wenn sie von den vor ihnen ansässigen Kanaanäern, die z. T. in befestigten Städten wohnten, bedroht wurden, mussten sie sich unter der Leitung eines „Richters“ zu einem Heerbann zusammenfinden, um sich zu verteidigen. In solchen Zeiten der Bedrängnis „kam der Geist Jahwes“ über einen „Richter“ (Retter) und ermächtigte ihn, die Verteidigung aller betroffenen Stämme gemeinsam zu leiten (Ri 6,34). Nach dem Sieg wurde die Beute durch „Vollstreckung des Banns“ (Tötung aller Feinde) Jahwe übergeben. Das Bild Gottes als Krieger entstand: „Jahwe ist ein Krieger“ (Ex 15,3), Israels Kriege sind „Kriege Jahwes“ (Num 21,14 f.). In der Zeit der Staatsbildung Israels und der Königszeit (1030– 587 v. Chr.) wurde der Jahweglaube zur Staatsreligion, zur religiösen Legitimation der Existenz Israels als Staatsmacht in Palästina. Von Jahwe machte man sich nun das Bild eines göttlichen Königs, 32
der den König Israels erwählt und ihm die Macht zu seinem Amt als sein Stellvertreter verleiht, indem er den Titel „Gesalbter Jahwes“ erhielt. Israel verstand das Königsein Jahwes so, dass er allen anderen Göttern überlegen ist und allein Gehorsam beanspruchen und Hilfe geben kann. Die Weltentstehungsmythen der umgebenden Völker führten in Israel in dieser Zeit auch dazu, Jahwe als alleinigen Schöpfer zu sehen und seine Überweltlichkeit (Transzendenz) zu betonen. Im Zuge des aufkommenden Monotheismus wurde Jahwe zum einzigen Gott überhaupt, was sich im Verbot von Kultbildern (Ex 20,4) niederschlug. Durch die Propheten, die immer wieder das Volk Israel und seine Könige auf die Folgen aufmerksam machten, die eine Verletzung der Gesetze Jahwes nach sich ziehen könnte, und die dann auch geschichtliche Ereignisse wie Eroberungen Israels durch fremde Mächte als Strafe Jahwes interpretierten, wurde Jahwe auch zum Richter und Rächer. Nach der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (587 v. Chr.) stand Israel immer wieder unter der Herrschaft fremder Mächte: der Babylonier, der Perser, der Griechen und auch der Ägypter (Ptolemäer). Nur nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand wurde Juda noch einmal für 100 Jahre selbständig, bevor es 63 v. Chr. von Pompeius erobert und dem Römischen Reich angegliedert wurde. Gott wurde nun eher als Weisheit gesehen, deren Wirken in der Welt und im menschlichen Leben grundsätzlich unbegreiflich ist (Hiob), der man aber vertrauen darf, wenn man ihre Gebote einhält. Daneben kam die Apokalyptik auf, d. h. der Glaube, dass Jahwe zu gegebener Zeit seinen Messias, einen neuen König, schicken werde, um die Unterdrückung zu beenden und endgültig sein Königreich aufzurichten. Im Neuen Testament erfuhren diese alttestamentlichen, anthropomorphen, an menschlichem Verhalten und menschlichen Eigenschaften orientierten Gottesbilder einen weiteren „Evolutionsschub“ in Richtung eines eher als geistiges Wesen gedachten Gottes: „Gott ist wie ein gütiger Vater“, „Gott ist gnädig“, „Gott ist Geist“ (Joh 4,24) und „Gott ist Liebe“ (1 Joh). Verständlich in einer unsicheren Zeit, die charakterisiert war durch wirtschaftliche und menschliche Not infolge der römischen Unterdrückung und Ausbeutung und damit auch durch das Auseinanderbrechen sozialer und religiöser Bindungen. Ansprechend blieben diese Gottes33
bilder auch in der urchristlichen Zeit, die durch die Heimatlosigkeit der Gläubigen nach ihrem Ausschluss aus der Synagoge, durch ihren niederen sozialen Status, durch ihre Situation als Minderheit und durch die Christenverfolgungen im Römischen Reich geprägt war. Aus all diesen Beobachtungen an biblischen Gottesbildern lässt sich nun folgendes Fazit ziehen: • Weil sich „Gott an sich“ unserer vernünftigen Erkenntnis und damit auch jeder „sachlichen“ Beschreibung entzieht, konnte man und können wir auch heute noch von Gott nur in einer im jeweiligen Weltbild verankerten mythologischen Bildersprache, in Symbolen und Gleichnissen reden. Dabei erfasst jedes derartige Gottesbild bestenfalls den einen oder anderen Aspekt Gottes und niemals die ganze Wahrheit. Übrigens hat dieser Streifzug durch die biblische „Götterwelt“ auch gezeigt, dass das biblische Bilderverbot lediglich als Verbot verstanden wurde, sich Götzen und Götzenbildern jeglicher Art zu unterwerfen, sie also als für das Leben bestimmend anzusehen, nicht aber als ein Kunstverbot und auch nicht als Verbot, sich Vorstellungen von Gott zu machen oder Sprachbilder zu entwerfen. • Es gibt das biblische Gottesbild und damit den biblischen Gott nicht. Alle biblischen Gottesbilder und damit die hinter ihnen stehenden Vorstellungen von Gott haben ihre Entstehung einer bestimmten zeitbedingten Weltsicht und Welterfahrung, d. h. einem bestimmten politischen, gesellschaftlichen und geistigen Umfeld zu verdanken. Ihre Funktion war, die Gläubigen in ihrer spezifischen Situation zu richtigem, d. h. zu „gottgemäßem“ Handeln zu bewegen, insbesondere also zu lebens- und gemeinschaftsförderndem Handeln (Ethik). Das heißt, dass biblische Gottesbilder nur im weltanschaulichen und menschlichen Kontext, in dem sie entstanden sind, etwas über Gott aussagen, dass sie demnach ihre Bedeutung in einem anderen Kontext verfehlen. Also: Biblische Gottesbilder, mit dem Hinweis auf die Autorität der Bibel aus ihrem angestammten Umfeld herausgerissen und in unsere Zeit übernommen, sind nicht nur nichtssagend, sondern verstellen unseren Blick auf die für uns heute relevanten „Aspekte“ Gottes. 34
Im Blick auf diesen Sachverhalt folgert Hans Küng17: „Nicht nur in der Theologie insgesamt, sondern auch in der einzelnen Predigt und Religionsstunde müsste klar und deutlich werden: Der heutige Mensch braucht sich Gott nicht mehr wie der antike oder mittelalterliche Mensch vorzustellen, zu denken.“ Und H. v. Ditfurth fordert: „Der einzige kulturelle Kontext, auf den wir bei dem Versuch zurückgreifen können, die Bilder und Gleichnisse zu finden, mit denen sich die alte, ewig gleiche Botschaft überzeugender, dem heutigen Verständnis zugänglicher formulieren ließe, ist der unseres heutigen Weltbildes. Es ist ein im Wesentlichen von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geprägtes Weltbild.“18 Not tun uns also Gottesbilder, die das heutige Weltbild und die Situation des Menschen in der Welt, wie wir sie heute vorfinden und erleben, ernst nehmen; nur solche Gottesbilder können uns ja etwas über Gott in unserer Welt und damit über den Sinn dieser Welt und unseres Lebens in ihr aussagen.
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5. Das naturwissenschaftliche Weltbild – die Evolution als der „Mythos“ unserer Zeit Ich denke, dass das Bemühen, die Gegensätze zu überwinden, zu einer Synthese von rationellem Verstehen und mystischer Einheitserfahrung zu gelangen, der grundlegende Mythos unseres Zeitalters ist, nach dem – bewusst oder unbewusst – alle suchen. Werner Heisenberg Die Naturwissenschaft hat über das Sammeln von Fakten und Daten längst hinausgegriffen. Sie ist die Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln. Hoimar von Ditfurth
Gernot Eder, Professor für Kernphysik an der Universität Wien, schrieb 1986 über „den Mann auf der Straße“, für den der Umgang mit der Technik und naturwissenschaftliches Wissen Selbstverständlichkeiten sind19: „Seine Denkformen sind dem naturwissenschaftlichen Weltbild gemäß. Darum kommt eine (christliche) Verkündigung, die einen Adressaten haben soll, nicht herum.“ Und folglich: „Theologie sollte das Gottesverständnis rational aufbereiten. Begriffe einer Sprache, die niemand mehr spricht, können aber nur eine Entfremdung Gottes und einen Atheismus bewirken, der nicht von der bösen Welt, sondern von einer bornierten Verkündigung geboren wird.“ Mit anderen Worten: Ein Gottesglaube – auch ein „offenbarter“ – ist nur glaubwürdig, wenn er im Rahmen eines aktuellen Weltbilds begründet oder doch zumindest plausibel gemacht werden kann. Gott findet nur dann einen Platz im Leben heutiger Menschen, wenn er im herrschenden Weltbild „vorkommt“. Unter einem Weltbild sei hier eine allgemein akzeptierte, in sich mehr oder weniger konsistente Gesamtschau der Welt und der 36
Stellung des Menschen in ihr verstanden, bestehend aus der Summe sowohl all unseres Wissens über die Welt, in der Sprache der Wissenschaft formuliert, und den aus Wissen und Erfahrung auf vernünftigem Wege deduzierten Gegebenheiten, als auch der apriorisch angenommenen oder geglaubten Gegebenheiten, häufig in mythischer oder philosophischer Sprache ausgedrückt. Allgemein akzeptierte Weltentstehungs- und Weltendemythen, philosophische und ideologische Ansichten gehören also ebenso zu einem Weltbild wie gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Ein solches Weltbild stellt gewissermaßen den Rahmen, den Interpretationshorizont dar, in den wir unser Dasein einordnen. Und: Von einem Weltbild sollte man auch erwarten dürfen, dass es uns zumindest einige Hinweise zur Beantwortung der Sinnfrage gibt: Was ist der Sinn des Ganzen? Was könnten der Sinn und die Aufgabe meines Lebens sein? Ein Weltbild bestimmt somit nicht zuletzt auch unsere Ethik. Während in den antiken Weltbildern der Mensch mit seinem Lebensraum, der Erde, im Mittelpunkt der Welt einem Gott (oder Göttern) gegenüber stand, wurde er im Weltbild der Neuzeit zunehmend aus dem Zentrum verdrängt: auf einen kleinen Planeten einer mittelgroßen Sonne unter Milliarden anderer Sonnen in einer durchschnittlichen Galaxis unter Milliarden von anderen Galaxien in einem unvorstellbar großen Kosmos. Auch Gott verlor dabei seinen angestammten Platz: Die strenge Unterscheidung zwischen einem Diesseits und einem Jenseits und die Ausrichtung des gesamten menschlichen Lebens auf das göttliche Jenseits wurden hinfällig. Der Mensch wurde also in zweierlei Hinsicht heimatlos: in der Welt und im Glauben. Diese Tendenz wurde im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter verstärkt durch ein mechanistisches Weltbild, das sich auf die klassische Physik, hervorgegangen aus der Newton’schen Mechanik, und auf den Darwinismus, die frühe Evolutionstheorie, stützt, in welcher der ebenfalls mechanistisch gedachte Vorgang von „Zufall und Notwendigkeit“ den Gang der Welt bestimmt und so der christlichen Sichtweise einer von der göttlichen Vorsehung gelenkten Heilsgeschichte den Boden entzog: Die klassischen physikalischen Gesetze sind ja deterministischer Natur, d. h. aus einer bekannten Vergangenheit eines physikalischen Systems lässt sich 37
seine zukünftige Entwicklung exakt vorausberechnen (z. B. die Positionen der Planeten). Die Welt als Ganze wird in diesem Sinne als eine Art von kunstvollem Uhrwerk angesehen, das, einmal aufgezogen, unablässig den immer und überall geltenden Naturgesetzen folgend weiterläuft. Der Physiker Laplace meinte dazu: „Eine Intelligenz (der so genannte Laplace’sche Dämon), welcher für einen Augenblick alle Kräfte der Natur und die gegenseitigen Lagen aller Massen gegeben würden, wenn sie im Übrigen umfassend genug wäre, diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, könnte mit derselben Formel die Bewegung der größten Massen und kleinsten Atome begreifen, nichts wäre ungewiss für die Zukunft, und die Vergangenheit läge offen vor ihren Augen.“ Bis zum Ende der Welt, dem „Wärmetod“, der durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik vorbestimmt und vorhersagbar ist. Auch die vielfältigen Formen des Lebens nehmen in diesem Weltbild keine Sonderstellung mehr ein: Wenngleich die Evolution der Lebewesen nicht nach deterministischen Naturgesetzen auf ein klar vorhersagbares Ziel hin verläuft, sondern vom Gesetz von „Zufall und Notwendigkeit“ (Mutation und natürliche Auslese, „survival of the fittest“) bestimmt wird, unterliegt doch auch sie einer letztendlich durchschaubaren Naturgesetzlichkeit. In diesem Weltbild kommt Gott also nicht mehr vor und ist auch nicht mehr denknotwendig, bestenfalls noch als eine Art von „Uhrmacher“, der das Ganze konstruiert und einmal in Bewegung versetzt hat. Glaubensaussagen verlieren in diesem Weltbild ihren Bezug zur erfahrbaren Wirklichkeit. So konnte schon Laplace auf eine Frage von Napoleon, wo denn Gott in seinem Weltbild zu finden sei, antworten: „Sire, diese Hypothese brauche ich nicht.“ Das heutige Weltbild präsentiert sich in der Folge neuerer Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, wesentlich anders. Einsteins „Allgemeine Relativitätstheorie“ ist an die Stelle des Newton’schen Gravitationsgesetzes getreten, womit sich unsere Vorstellungen von Raum und Zeit grundlegend verändert haben. Die Quantentheorie und in ihrer Folge die neuen Theorien zu den „Elementarteilchen“ haben den klassischen Materiebegriff zugunsten von Energiefeldern und Energieschwingungen aufgelöst und den klassischen Determinismus durch statistische Gesetze und Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen ersetzt, und zu38
dem hat die Quantentheorie die Subjekt-Objekt-Spaltung als Illusion entlarvt, indem sie aufzeigte, dass Beobachter und Beobachtetes nicht voneinander zu trennen sind, dass also letztlich alles mit allem vernetzt ist und sich gegenseitig bedingt. Die Erforschung der Thermodynamik offener Systeme hat zur Entdeckung der „Selbstorganisation“ in den so genannten dissipativen Systemen geführt, die Chaostheorie den klassischen Determinismus weiter als einen idealisierten Sonderfall entlarvt, und nicht zuletzt haben wir der Astronomie, insbesondere der Astrophysik und der Kosmologie, wesentliche Erkenntnisse über die Entstehung und Entwicklung des ganzen Kosmos zu verdanken. Alle diese neuen Erkenntnisse, wiewohl noch nicht immer durchwegs gesichert und teilweise erst durch spekulative Theorien untermauert, haben zusammen mit einer durch die biologische Forschung verfeinerten Evolutionstheorie und – nicht zu vergessen – mit fundamentalen Erkenntnissen über die menschliche Psyche, den menschlichen Geist also, gezeigt, dass unsere Welt auf allen Ebenen nicht statisch, sondern in einer andauernden Entwicklung, einer Evolution begriffen ist. Nicht nur in der Biologie gilt also eine evolutionäre Entwicklung als gesichert, sondern wir können heute davon ausgehen, dass ein und dasselbe evolutionäre Prinzip auch in allen übrigen Dimensionen unserer Welt „am Werk“ ist. Allgemein bekannt ist ja schon seit Darwin, dass die Evolution von einfachsten zu immer komplexeren Lebewesen geführt hat. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wissen wir nun aber, dass auch schon der gesamte Kosmos mit seinen Galaxien, Sternen und Planeten wie auch die Geologie und Chemie der Erdoberfläche und die Erdatmosphäre Ergebnisse von Evolutionsprozessen sind. Der gesamte Kosmos hat also einen Anfang und eine Geschichte und zeigt sich uns als in einer andauernden Entwicklung begriffen, deren volle Bedeutung zu erfassen wir gerade erst begonnen haben. Ich werde deshalb in der Folge unser heutiges durchwegs von der Evolution geprägtes Weltbild als evolutionäres Weltbild bezeichnen. Und so präsentiert sich uns dieses Weltbild heute:
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Kosmische Evolution Der Ausgangspunkt zur Erkenntnis eines auch den ganzen Kosmos bestimmenden Evolutionsprozesses war die um 1924 vom amerikanischen Astronomen Edwin Hubble am Mount-WilsonObservatorium gemachte Entdeckung, dass es sich bei den bisher als „Nebel“ angesehenen fernen Galaxien um Sterneninseln analog unserer Milchstraße handelt und dass sich alle diese Galaxien von uns entfernen, und zwar mit umso größerer „Fluchtgeschwindigkeit“, je weiter sie von uns entfernt sind. Diese revolutionäre Entdeckung gelang ihm durch seine damals noch sehr schwierigen und darum auch mit großen Unsicherheiten behafteten Messungen ihrer Entfernungen sowie der Rotverschiebungen ihrer optischen Spektren, die er selber übrigens noch als klassischen Dopplereffekt, also als mit wachsender Entfernung zunehmende Relativgeschwindigkeit interpretierte. Schon bald konnte aber gezeigt werden, dass es sich bei diesen mit zunehmender Entfernung größer werdenden Rotverschiebungen um eine Folge der Ausdehnung des gesamten Universums, also um eine Zunahme des „Maßstabfaktors“ in einem als Ganzem expandierenden Universum handelt. Damit war das heute allgemein anerkannte Bild eines expandierenden Universums geboren und verdrängte die bislang geltende Vorstellung eines statischen Universums, die anfänglich auch noch von Einstein (mit dem eigens dafür in seine Allgemeine Relativitätstheorie eingeführten Kunstgriff einer so genannten „kosmologischen Konstanten“) vertreten und noch bis in unsere Zeit hinein hartnäckig vom britischen Astronomen Sir Fred Hoyle verteidigt wurde. Unter Zuhilfenahme stark vereinfachender Annahmen – das Weltall erscheint im kosmischen Maßstab homogen und isotrop, die Summe von Masse und Energie bleibt konstant, im kosmischen Maßstab wirkt als einzige Kraft die Massenanziehung (Gravitation) und die kosmologische Konstante wird null gesetzt – entstand in der Folge das so genannte Standardmodell der Kosmologie, dessen Dynamik durch die Friedmann-Gleichung beschrieben wird.20 Der russische Physiker Alexander Friedmann leitete dieses Modell, das die von Hubble beobachtete Expansion des kosmischen Raumes adäquat zu beschreiben vermag, aus den Einstein’40
schen Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie her, welche bekanntlich Gravitation, Massenverteilung und Geometrie des Raumes und der Zeit in Relation setzen und schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die klassische Newton’sche Vorstellung von Gravitation abgelöst hatten. Wird nun in diesem mathematischen Modell die Zeit rückwärts gegen null extrapoliert, so muss am Anfang der beobachteten Expansion vor ca. 15 Milliarden Jahren (neuester Wert 2003: 13.7 109 Jahre) ein Zustand „unendlich“ großer Energiedichte in einem „Punkt“ konzentriert vorgelegen haben, mathematisch gesehen also eine „Singularität“, mit der die Geschichte unseres Universums begonnen haben muss. Für diesen „unendlich heißen“ Anfang hat sich die Bezeichnung Urknall (big bang) eingebürgert: Raum und Zeit, Energie und Materie und alles, was sich in der Folge während Jahrmilliarden entwickelt hat, hat also seinen Anfang im Urknall. „Vor“ dem Urknall „gab“ es also noch keinen Kosmos und auch keine Zeit: Die Expansion fand und findet ja nicht in einen leeren Raum hinein statt, sondern spannt gewissermaßen die Raumzeit erst auf, heute mit einer „Ausdehnungsgeschwindigkeit“ (Hubble-Konstanten) von ca. 71 km/sec/Mpc.21 Es ist demnach physikalisch, d. h. im Standardmodell der Kosmologie, sinnlos zu fragen, was „vorher“ war oder was den Urknall auslöste. Man kann darum sagen: Die „Schöpfung“ der Welt begann mit dem Urknall und geht seitdem unaufhaltsam weiter. Das Standardmodell der Kosmologie hat sich zur Interpretation astronomischer und astrophysikalischer Beobachtungen außerordentlich gut bewährt; in der Physik gilt ja eine Theorie, ein Modell, so lange als „wahr“, bis es durch Beobachtungen oder Experimente widerlegt wird. Erwähnt sei hier nur als ein Beispiel unter vielen, dass die bei ihrer Entdeckung durch Penzias und Wilson 1964 noch rätselhafte kosmische Hintergrundstrahlung, eine aus allen Richtungen des Kosmos einfallende Wärmestrahlung von 2,7 K22 im Mikrowellenbereich, mit dem Urknall-Modell zwanglos als thermisches „Echo“ des Urknalls erklärt werden kann. Hingegen versagt die Friedmann-Gleichung, wenn man sich auf äußerst geringe Sekundenbruchteile dem Urknall nähert: Zum Zeitpunkt null ergibt sie, wie schon erwähnt, eine mathematische Singularität, also unendlich große Zahlenwerte für Druck, Tem41
peratur und Energiedichte, die physikalisch keinen Sinn machen: Für den „Moment“ des Urknalls ist die Friedmann-Gleichung also nicht interpretierbar. Für Zeiten kleiner als die so genannte Planck-Zeit (kleiner als 10-43 sec)23, also auch für den „Moment“ des Urknalls selber, müsste nämlich die Quantentheorie berücksichtigt werden, was die Friedmann-Gleichung nicht leisten kann, da sie auf den im physikalischen Sinn noch durchaus „klassischen“ Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie basiert. Bis heute gibt es aber noch keine brauchbare Quantentheorie der Gravitation. Was den eigentlichen Urknall, also den „Zeitpunkt null“ betrifft, wie man sich also die Entstehung von Raum und Zeit im Einzelnen vorstellen könnte, tappt man darum noch weitgehend im Dunkeln. Viele geistreiche, spekulative und häufig sehr exotisch anmutende physikalische Modelle über den Zeitpunkt null haben heute Hochkonjunktur und lassen sich gut vermarkten; die Theorien von Stephen Hawking (z. B. „Pea instanton“), Brian Greene („Superstring-Theorie“) und Ervin Laszlo („Das fünfte Feld“) seien hier als Beispiele erwähnt. Übrigens: Fast immer geht es bei diesen die Grenzen der seriösen Physik manchmal arg strapazierenden Modellen auch darum aufzuzeigen, dass es für den Urknall selbst weder metaphysische Ursachen noch einen göttlichen Auslöser z. B. in der Form eines Schöpfergottes brauchte, sondern dass sich die gesamte Evolution des Kosmos von allem Anfang an ausschließlich physikalisch beschreiben und begründen lässt. Und so stellt man sich heute die Evolution des Kosmos nach dem Urknall vor: Kurz nach dem Urknall (nach etwa 10-35 sec) dehnte sich das Universum in der so genannten Inflationsphase noch rascher, nämlich (wie im masselosen, dafür aber eine kosmologische Konstante enthaltenden Modell von Einstein und De Sitter beschrieben) exponentiell um den gigantischen Faktor von 1020 bis 1030 aus, erreichte dabei aber erst etwa die Größe einer Melone. Auch über die Ursache dieser Inflation ist man sich bis heute noch nicht vollständig im Klaren: Eine Theorie postuliert einen Phasenübergang zwischen verschiedenen Formen des Vakuums, bei dem Vakuumenergie frei wird und der die Entkoppelung der vier physikalischen Grundkräfte Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Wechselwirkung nach sich zieht, die ursprünglich in einer ein42
zigen Kraft vereinigt waren, eine andere geht von einem hypothetischen Teilchen, dem Higgs-Boson, aus (dem man gegenwärtig am CERN in Genf auf der Spur ist); diese Theorien sind aber noch teilweise spekulativ. Nach der Inflationsphase dehnte sich das Weltall wieder dem Friedmann-Modell folgend mit geringerer Geschwindigkeit weiter aus und kühlte sich dabei stetig ab. Dabei entstanden bis ca. 1Millisekunde nach dem Urknall aus Strahlungsenergie (Photonen) die ersten Elementarteilchen, zunächst Quarks, dann Hadronen (Protonen, Neutronen) und schließlich Leptonen (Elektronen, Neutrinos). Aber noch immer dominierte die Strahlung; das Plasma aus Elementarteilchen und Strahlung (ca. 1015 K heiß) war noch undurchsichtig. Erst nach etwa 1013 sec war die Temperatur auf etwa 3000 K gefallen, so dass durch Elektroneneinfang elektrisch neutrale Atome entstehen konnten und das Weltall durchsichtig und materiedominiert wurde. Das erste Element, das sich bildete, war der Wasserstoff, und durch Kernfusion entstanden auch Helium, Deuterium und Lithium. Praktisch sämtliches im Universum vorhandenes Helium wurde im Urknall selbst gebildet. Der im Weltall gemessene Anteil von ca. 25% Helium an der gesamten Masse und auch die Anteile von Deuterium und Lithium stimmen übrigens bestens mit den theoretischen Voraussagen aus dem Kosmologischen Standardmodell überein, das so eine weitere Bestätigung erfuhr. Die schwereren Elemente entstanden erst viel später in den ersten Sterngenerationen. Wann sich die ersten Galaxien bildeten, ist noch umstritten. Mit großer Wahrscheinlichkeit entstanden sie, als das Universum zwischen 1 Million und 1 Milliarde Jahre alt war. Das Universum bestand nach dem Urknall aus einer gigantischen Wolke von Wasserstoff- und Heliumgas mit vermutlich noch größeren Mengen so genannter dunkler (nicht leuchtender) Materie, über deren Natur heute noch gerätselt wird. In den auch nach der Inflationsperiode dichteren Regionen ballten sich unter dem Einfluss der Schwerkraft die Gase zu gigantischen rotierenden Scheiben, den ProtoGalaxien, zusammen. In lokalen Verdichtungen in diesen Scheiben stürzten die Gase zu riesigen Wasserstoffkugeln zusammen und erhitzten sich aufgrund der frei werdenden Gravitationsenergie, bis die Kernfusion einsetzte: Die ersten Sterne begannen zu leuchten. 43
Nach relativ kurzer Lebensdauer (einige Millionen Jahre) explodierten diese sehr massenreichen Sterne als so genannte Supernovae und setzten dabei auch die schweren Elemente frei, die in einer zweiten „Fusionsstufe“, also nach einem ersten Zusammenbruch des Sterns am Ende des Wasserstoff- und Heliumbrennens, entstanden waren: Kohlenstoff, Sauerstoff, Magnesium, Silizium und Eisen. Gewaltige so genannte molekulare Wolken, die auch feste Staubpartikel enthielten, gesellten sich zum interstellaren Wasserstoff und Helium, deren erneute Kontraktion unter dem Einfluss der Schwerkraft zur Bildung weiterer Sterngenerationen führte. Dieser Prozess ist auch heute noch zu beobachten, z. B. im Sternentstehungsgebiet des von bloßem Auge sichtbaren Orion-Nebels. Je nach ihrer Masse enden auch die Sterne der nachfolgenden Generationen in Supernova-Explosionen und anschließend als kleine Neutronensterne oder „schwarze Löcher“ bzw. als „weiße Zwerge“. Alle schweren Elemente, die von der Evolution als Ausgangsmaterial für die spätere Entstehung von festen Planeten mit Bergen, Pflanzen, Tieren und Menschen benötigt wurden, sind also durch Kernfusionsprozesse in den ersten Sterngenerationen entstanden und am Ende ihres „Lebens“ durch kosmische Explosionen freigesetzt worden. Wir alle bestehen also ebenso aus „Sternenstaub“ wie alles um uns herum: Luft, Gestein, Pflanzen, Tiere! Und immer wieder entstehen so aus den molekularen Wolken mit den Überresten alter Sterne neue Sterne, und aus der infolge des einsetzenden Strahlungsdrucks des neu geborenen Sterns nicht mehr weiter ins Zentrum fallenden Materie der Wolke auch Ringund Planetensysteme. So ist unsere Sonne nur einer von mehr als 200 Milliarden Sternen unserer Milchstraße und diese eine unter etwa 100 Milliarden weiterer Galaxien im gesamten Kosmos mit teilweise wesentlich größeren Ausmaßen. Immer wieder, in einem gigantischen Zyklus von Sterben und Neuwerden, entwickelt sich der Kosmos weiter: Evolution also im kosmischen Maßstab, von allem Anfang an, im großen Ganzen mit den heute bekannten Gesetzen der Physik erfassbar! So ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass es heute mit moderner Beobachtungstechnik gelungen ist, nachzuweisen, dass nicht nur unsere Sonne, sondern auch andere Sterne von einem Planetensystem umgeben sind. Im Übrigen wird heute auch versucht, das Evolu44
tionsprinzip, wie es im kosmischen Prozess von Sterben und Werden in der Entstehung zunehmend komplexerer Strukturen von Protosternen zu Sternen mit Planetensystemen, von Galaxien zu Galaxiensystemen, vom Wasserstoff zu schweren Elementen zu beobachten ist, mit naturwissenschaftlichen Theorien sehr spekulativer Art auch auf den Anfang unseres Universums selbst, den Urknall, auszudehnen: Man zieht z. B. aus der Tatsache, dass sowohl der Ausgangspunkt des Urknalls als auch die Schwarzen Löcher, die sich im Zentrum der Galaxien vorfinden und auch am Ende der Existenz eines massenreichen Sterns stehen, vergleichbare Singularitäten sind, den Schluss, dass sich im Laufe unzähliger Generationen von Schwarzen Löchern durch einen evolutionären Auswahlprozess letztendlich „unser“ Urknall als Anfang unseres Universums herausentwickelt haben könnte.24 Und immer wieder werden neue Entdeckungen gemacht, die zu einer Verfeinerung unserer Sicht des sich entwickelnden Universums führen. Meinte man noch vor wenigen Jahren, dass der Weltraum nur aus Galaxien, Sternen, Gas- und Staubwolken und Planeten bestehe, so musste man entdecken, dass die meiste im Weltraum vorhandene Materie nicht leuchtet und ein großer Teil davon auch mit anderen heute bekannten physikalischen Methoden nicht detektierbar ist; man schätzt aus Untersuchungen an Rotationskurven von Spiralgalaxien, dass mehr als 90% der Materie als Dunkle Materie in einer noch unbekannten hypothetischen Form vorliegen müssen, sei es als MACHO (Massive Compact Halo Object) in einem unsichtbaren Halo, der die Galaxien umgibt, sei es als WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles). Kosmologisch mindestens so bedeutungsvoll ist auch die vor kurzem gemachte Entdeckung, dass die aufgrund der Helligkeit von Supernova-Explosionen gemessenen Entfernungen sehr weit entfernter Galaxien größer sind als die mit der heutigen RotverschiebungLeuchtkraft-Skala ermittelten Distanzen. Erklären ließe sich dieser unerwartete Sachverhalt mit der Annahme, dass die Expansion des Universums nicht, wie im kosmologischen Standardmodell angenommen, weiterhin mit durch die gegenseitige Massenanziehung gebremster Geschwindigkeit, sondern seit rund der Hälfte des Alters des Universums wieder beschleunigt verläuft, ähnlich wie während der Inflationsphase. Die dem kosmologischen Standardmo45
dell zugrunde liegende Friedmann-Gleichung müsste dafür mit einem zusätzlichen Term ergänzt werden, welcher der ursprünglich von Einstein eingeführten und später von ihm als „größte Eselei meines Lebens“ fallen gelassenen kosmologischen Konstanten entspricht. Unklar ist allerdings, welche physikalische Realität diese Konstante in diesem Fall beschreibt. Vorgeschlagen wurde ein noch mysteriöses Feld „dunkler Energie“, die im kosmischen Maßstab im Gegensatz zur „gewöhnlichen“ Energie und Materie auf Massen nicht anziehend, sondern abstoßend wirkt. Eine alternative Theorie postuliert, dass die Lichtgeschwindigkeit, die ja als absolute Konstante in die Einstein’sche Relativitätstheorie eingeht, nicht konstant geblieben, sondern in den Jahrmilliarden seit dem Urknall kleiner geworden ist.25 Noch gibt es also viele ungelöste Probleme in der Kosmologie, und mit jedem Fortschritt in der Beobachtungstechnik kommen neue hinzu! Auf eines, das sich für weltanschauliche Folgerungen aus unserem heutigen Weltbild als bedeutungsvoll erweisen dürfte und zuweilen zu heftigen Diskussionen Anlass gibt, das so genannte Anthropische Prinzip, soll hier noch hingewiesen werden.
Das Anthropische Prinzip Das oben umrissene kosmologische Standardmodell, das unter vielen anderen zum Teil bereits erwähnten Annahmen davon ausgeht, dass die bekannten physikalischen Gesetze zu allen Zeiten und überall im Kosmos in gleicher Weise gelten, vermag die Geschichte der kosmischen Evolution, beginnend bloß Sekundenbruchteile nach dem Urknall, und die durch sie geschaffenen Voraussetzungen für die nachfolgenden Evolutionsschritte bis hin zum Menschen mit naturwissenschaftlichen, insbesondere physikalischen Theorien im großen Ganzen befriedigend zu erklären. Allerdings zeigt sich dabei, dass einige wesentliche physikalische Größen, die unseren Kosmos bestimmen, mit geradezu unglaublicher Präzision eingehalten werden mussten, damit letztendlich überhaupt Leben entstehen konnte. Dass solche Größen diese Werte haben, dass wir gerade diese Zahlenwerte messen, dass sich unser Kosmos so entwickelt hat, wie wir es beobachten, ist ja weiter 46
nicht verwunderlich, da es uns Menschen, die wir darüber staunen, andernfalls gar nicht gäbe (Anthropisches Prinzip). Nun aber sind diese wesentlichen Zahlenwerte (Elektrische Ladung und Masse des Elektrons und des Protons, die Stärke der Gravitationskraft, überhaupt aller vier Grundkräfte, die Planck’sche Konstante und weitere Konstanten) aus den uns bekannten physikalischen Gesetzen und Theorien nicht ableitbar; sie können nur gemessen werden. Und doch müssen diese Werte und ihre Relationen untereinander mit geradezu unglaublicher Genauigkeit stimmen, damit diese Welt so hat werden können, wie sie eben ist, und damit unsere Existenz überhaupt möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle diese Größen zufälligerweise so eingestellt haben könnten, ist verschwindend klein. Einige Beispiele dazu: Hätte das Gleichgewicht zwischen der beim Urknall frei gewordenen Expansionsenergie und der Stärke der Gravitation um mehr als nur 1:1060 (!) differiert, wäre das Universum schon längst wieder kollabiert, oder es hätte sich derart schnell ausgedehnt, dass es der Gravitation unmöglich gewesen wäre, Materie zu sammeln und Sterne zu bilden. Die Schwerkraft ist also in Relation zu den thermodynamischen und mechanischen Eigenschaften des Wasserstoffs gerade so groß, dass Gaskugeln entstehen können, die groß genug sind, dass sich in ihnen Kernreaktionen abspielen, und klein genug, dass sie nicht rasch zu Schwarzen Löchern zusammenfallen. Wäre die Gravitationskonstante also nur um ein Geringes anders gewesen, hätte im Universum gar nie Leben entstehen können. Oder: Gäbe es in der in Sternen ablaufenden Fusionsreaktion von drei Heliumkernen zu einem Kohlenstoffkern, der Grundlage allen Lebens, nicht eine Resonanz, welche die Reaktionsgeschwindigkeit „zufälligerweise“ gerade bei der Energie, die Heliumkerne im Innern von Sternen haben, drastisch erhöht, so würde Leben in der uns bekannten Form, nämlich auf Kohlenstoffbasis, nicht existieren. Oder: Wäre die elektrische Ladung des Elektrons nur geringfügig anders, so könnten Sterne nicht als Supernovae explodieren und so das Rohmaterial für nachfolgende Sterngenerationen wie etwa unsere Sonne oder Planeten wie die Erde ins All freisetzen. Nicht zu vergessen sind hier auch die ganz besonderen Eigenschaften des Wassers, die ja für die spätere Entstehung des Lebens auf der Erde grundlegend sind. Diese Liste 47
„glücklicher Zufälle“ und „Übereinstimmungen“ könnte noch weiter verlängert werden. Sie zeigt, dass die kosmische Evolution und damit auch das Leben, wie wir es kennen, sehr empfindlich von der Form der Naturgesetze und von einigen anscheinend „glücklichen Zufällen“ bei der „Wahl“ der Werte von physikalischen Konstanten durch die Evolution abhängt. Die heutige Kosmologie versucht deshalb, diesem Problem z. B. mit dem Vorschlag von „Vielwelten-Modellen“ zu begegnen: Postuliert wird dabei entweder, dass sich in einem pulsierenden Universum schon unzählige Urknalle ereignet haben, oder dass nach einem einzigen Urknall durch lokale Inflation ein „Multiversum“ entstanden ist, sodass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten unseres ganz speziellen Universums in der riesigen Zahl von bereits realisierten Universen nicht mehr verschwindend klein ist. Leider werden sich derartige theoretische Spekulationen nie experimentell überprüfen lassen, da es uns ja grundsätzlich verwehrt ist, über die Grenzen unseres eigenen Universums hinauszublicken. Der wohl einzige wissenschaftlich haltbare Weg wäre die Entwicklung einer seriösen „Theorie für Alles“ mit einer vollständigen Physik, in der Quantentheorie und Gravitationstheorie vereint wären und die auch für Zeiten kürzer als die Planck-Zeit gälte, welche dann (vielleicht) auch die beobachteten Naturkonstanten zwanglos zu erklären vermöchte. Solange aber die bekannten Gesetze der Physik an der Singularität im Urknall versagen, kann sich eine Erklärung der „glücklichen Zufälle“ nicht auf diese Gesetze berufen. Wenn man einen „Grund“ für den Urknall sucht, muss er deshalb außerhalb der heutigen Physik liegen. Der Physiker Paul Davies meint dazu26: „Solange wir auf dem Grundsatz vom zureichenden Grund beharren und eine rationale Erklärung der Natur fordern, haben wir keine andere Wahl, als diese Erklärung in etwas zu suchen, das jenseits oder außerhalb der physikalischen Welt liegt – in etwas Metaphysischem also –, weil ein kontingentes physikalisches Universum in sich keine Erklärung für sich selbst enthalten kann. Die Schöpfung kann nicht nur in der Auslösung des Urknalls bestehen, wir suchen vielmehr nach einem zeitlosen Begriff einer Schöpfung, die den Gleichungen Odem einbläst und so das Mögliche zum Existenten macht. Diese Instanz ist in dem Sin48
ne schöpferisch, als sie irgendwie die Gesetze der Physik zu verantworten hat, die unter anderem bestimmten, wie sich die Raumzeit entwickelt.“
Chemische und biologische Evolution Der weitere Verlauf der Evolution auf den durch die Phase der kosmischen Evolution geschaffenen Voraussetzungen präsentiert sich, zumindest im Rückblick, als „folgerichtig“ und mit naturwissenschaftlichen Modellen weitgehend beschreibbar etwa so: Vor ungefähr fünf Milliarden Jahren entwickelte sich unser Sonnensystem mit seinen Planeten aus der protosolaren Scheibe einer in sich zusammenstürzenden molekularen Wolke mit Materie aus einer früheren Sterngeneration. Die Erde, nach dem Zünden der Kernfusionsprozesse in der Sonne ebenfalls entstanden durch zusammenfallende Staubteilchen in der die Sonne umgebenden Materiescheibe, war zunächst ein glühender Ball aus heißem, flüssigem Gestein. Die Uratmosphäre setzte sich zum großen Teil aus Wasserdampf, Wasserstoff, Ammoniak und Methan zusammen. Durch Vulkanausbrüche kamen Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Stickstoff sowie Chlor- und Schwefelverbindungen dazu. Die ersten primitiven Lebensformen entstanden dann vor etwa dreieinhalb Milliarden Jahren, als sich unser Planet so weit abgekühlt hatte, dass der Wasserdampf aus der Atmosphäre als Wasser in flüssiger Form große Teile der Erdoberfläche bedeckte, da Wasser bekanntlich das wichtigste Lebenselement überhaupt ist. In einer Phase chemischer Evolution entwickelten sich zunächst einfache organische Moleküle, Moleküle auf der Basis von Kohlenstoff, die übrigens, wie neueste Forschungen ergeben haben, auch schon in der Eisschicht, die Partikel interstellaren Staubs einhüllt, entstehen können. Ob sich also die Bausteine der ersten selbstreplizierenden Moleküle auf der Erde selbst bildeten, wie das Urey und Miller schon 1953 mit ihrem berühmten (heute allerdings in gewissen Punkten umstrittenen) Experiment zu beweisen glaubten, oder ob sie durch Meteoriten oder Kometen auf die Erdoberfläche gelangten, kann heute (noch) nicht entschieden werden. Auf jeden Fall gibt es heute zahlreiche Hinweise darauf, dass sich sowohl unter 49
den Bedingungen der Urerde als auch im Weltraum und auf Kometen und Meteoriten mehrere Leben erzeugende Verbindungen von selbst bilden konnten und können. So gesehen ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich nicht nur auf unserer Erde, sondern auch andernorts im Universum einfachere oder komplexere Lebensformen gebildet haben. Einige dieser Moleküle, die Aminosäuren, lagerten sich jedenfalls auf der Urerde zu Molekülketten, den Proteinen, zusammen, aus denen sich „zufällig“ eine entwickelte, die sich selber reproduzieren konnte. Vermutlich fand diese Entwicklung im schützenden Hohlraum eines Zeolithen (wasserhaltiges Silikatmaterial) statt; später umgaben sich diese Moleküle mit einer Proteinhülle, der ersten Form einer Zellmembran. Die Fähigkeit zur Selbstreplikation, zum Selbstschutz und so zum Überleben sind ja typische Merkmale von Leben. Diese ersten Organismen, von denen alles Leben auf unserem Planeten abstammt, dürften bakterienähnlich gewesen sein. Alle Lebewesen unserer Erde, Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere, gehen offenbar auf dieselbe Urzelle zurück, tragen sie doch ihre Erbinformation in aus gleichen Molekülen aufgebauten und nach dem gleichen Mechanismus sich replizierenden Genen; sie sind also letztendlich miteinander „verwandt“. Der Schlüssel zur Entwicklung von immer komplexeren Lebewesen aus einer Urzelle ist die biologische Evolution, die darin besteht, dass bei der nie fehlerfreien Replikation zufällige Mutationen in den Erbeigenschaften (Genen) und damit Varianten der Lebewesen entstehen, die in ihrem Umfeld, das sich ja auch dauernd mitverändert, mehr oder weniger überlebensfähig sind. „Trial and error“, „Mutation und natürliche Auslese“, „Zufall und Notwendigkeit“ und „survival of the fittest“ sind gängige Formeln zur Beschreibung der Strategie, der sich die biologische Evolution bedient. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft dürfen diese allerdings nicht mehr bloß im ursprünglich von Darwin gemeinten Sinne verstanden werden, sondern erfordern einige Präzisierungen. Insbesondere trifft dies auf den Begriff der „Zufälligkeit“ von Mutationen zu. Den reinen Zufall gibt es im Zusammenhang mit der Evolution nicht, ihm sind in der Auswahl neuer Möglichkeiten (Varianten des Existierenden) recht enge Grenzen durch die herrschenden 50
Naturgesetze und das bereits Vorhandene gesetzt. Die berühmten Scherzfragen, mit denen man früher die Evolutionstheorie ad absurdum führen zu können glaubte, weil die Antworten darauf wesentlich längere Zeiten als das Alter des Universums ergeben („Wie lange brauchen 100 Affen, um auf 100 Schreibmaschinen mit rein zufällig gewählten Anschlägen auch nur eine Zeile eines Sonnets von Shakespeare zustande zu bringen?“ oder „Wie lange muss ich 1028 Eisenatome schütteln, bis zufällig ein Volkswagen herauskommt?“), gehen nämlich von einem anderen Begriff des Zufalls aus, als er in der Evolution am Werk ist, verkennen sie doch, dass die Evolution gar nie vor einer vergleichbaren Fragestellung stand. Daneben ist schon seit längerem bekannt, dass in offenen physikalischen Systemen, Systemen also, die sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befinden, in so genannten dissipativen Prozessen spontan geordnete Strukturen entstehen können, dass Ordnung also spontan auftritt und nicht das Ergebnis einer langen Reihe von Zufällen und Auswahlprozessen sein muss. Und auch die Chaostheorie enthüllt eine statistische Ordnung in den so genannten chaotischen Systemen. Materie und Energie besitzen offensichtlich eine ihnen innewohnende Fähigkeit zur Selbstorganisation. Des Weiteren dürften auch enzymatische Prozesse die Bildung von organischen Verbindungen, verglichen mit allein aufgrund thermischer Reaktionsdynamik ablaufenden Prozessen, wesentlich beschleunigt haben. Und in diesem Zusammenhang darf auch der durch Viren vermittelte Austausch von genetischem Material nicht vergessen werden: Wenn neue Erfindungen, die die Evolution macht, so auch allen anderen Lebewesen zur Verfügung gestellt werden, bedeutet dies eine Beschleunigung des Evolutionsprozesses. Evolutiven Gestaltungsprozessen liegen zudem Vorgänge wie Verschmelzung, Zusammenlegung, Anordnung und Neugruppierung, Koordination und Kombination von schon vorhandenen Elementen zugrunde. Diesen ist gemeinsam, dass sie Synergien erzeugen, dass also ein zusammengesetztes Ganzes mehr leistet als die Summe seiner Teile. Dieses Evolutionsprinzip, das aus einfachen komplexere Systeme zu schaffen vermag, finden wir auch heute noch in der Symbiose zwischen biologischen Systemen (zu der es ja unzählige Beispiele gibt, z. B. die Flechten als eine Symbiose zwischen den biologischen Systemen von Pilz und Alge, 51
oder der menschliche Verdauungsapparat, der ohne bestimmte Mikroorganismen gar nicht funktionsfähig wäre, oder Gebilde wie die Insektenstaaten bis hin zu Formen menschlicher Vergesellschaftungen). Der Weg der Evolution des Lebens von den ersten primitiven Organismen bis zu den heutigen Lebewesen, insbesondere zum Menschen, war dennoch sehr lang und ist durch unzählige Sackgassen, Nebenwege und Katastrophen gezeichnet. Erwähnt seien hier nur die Sauerstoffkatastrophe beim Auftreten des Chlorophylls und damit von Algen, die riesige Mengen des für die damaligen Lebewesen (Anaerobier) giftigen Sauerstoffs an die Atmosphäre abgaben und mit den so veränderten Umweltbedingungen die Geschichte des Lebens auf der Erde grundlegend veränderten, sowie kosmische und Klimakatastrophen wie etwa der verheerende Meteoriteneinschlag vor ca. 65 Millionen Jahren, der die Vorherrschaft der Riesenechsen beendete und damit die Evolution der Säuger begünstigte.
Evolution der Tier- und Pflanzenwelt Und so, wiederum nur in ganz groben Zügen gezeichnet, präsentiert sich die Evolution des Lebens vom einfachen Einzeller bis heute: Vor ca. 450 Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Landpflanzen, vor ca. 370 Millionen Jahren aus Fischen die ersten Amphibien, vor ca. 340 Millionen Jahren die ersten Reptilien, vor ca. 200 Millionen Jahren tauchten die ersten Säuger auf (eine Art von Spitzmäusen), vor ca. 35 Millionen Jahren die ersten Affenartigen, vor ca. 4 Millionen Jahren wurde aus dem Savannenaffen ein Zweibeiner, vor 2 bis 3 Millionen Jahren lebte der Australopithecus mit einem Gehirnvolumen von ca. 560 Kubikzentimeter, vor ca. 1,5 Millionen Jahren der Homo erectus mit einem Gehirnvolumen von 900 bis 1200 Kubikzentimeter, vor 300 000 Jahren tauchte der Homo sapiens mit einem Gehirnvolumen von 1300 Kubikzentimeter auf und vor 120 000 Jahren entwickelte sich in Ostafrika aus dem Homo sapiens der Homo sapiens sapiens, der sich von dort aus über die ganze Welt ausbreitete. So einfach und geradlinig, so52
zusagen Schritt für Schritt weiter wie auf einer Einbahnstraße, wie dieser Überblick glauben machen könnte, verlief die Entwicklung des modernen Menschen aber keineswegs. Der Paläontologe Pascal Picq kommt in einem Überblick über die bis heute bekannten verschlungenen Evolutionswege des Menschen zum Schluss: „Unser schöner Stammbaum ist gefällt. Stattdessen steht nun ein Busch.“27 Immer offen, ohne vorgegebenes Ziel, mit vielen Umwegen, Sackgassen und Rückschlägen, vom Einfachen zum Komplexeren, nach der bewährten Evolutionsstrategie von „Mutation“ und „Auslese“, von Tod und neuem Leben, schritt also die Evolution fort.
Evolution des Geistes Mit den Hominiden und ihrem zunehmenden Hirnvolumen trat auf der Erde (vielleicht sogar im ganzen Kosmos) erstmals das Phänomen selbstbewussten Geistes auf. Ohne Zweifel ist auch der menschliche Geist ein Produkt der Evolution, das an eine materielle Struktur, das Gehirn, gebunden ist. Geist ist also eine spät entstandene Qualität im Zusammenhang mit der Erweiterung der Hirnrinde, hervorgebracht von einem Gehirn, das von der Evolution geformt wurde. Geist ist also nicht etwas Übernatürliches, das in irgendeinem Zeitpunkt zur Natur hinzugefügt wurde, nicht „etwas vom Himmel Gefallenes“. Der Entwicklungsprozess des menschlichen Geistes begann auch nicht erst beim Übergang vom Affen zum Menschen, geistige Qualitäten sind auch schon bei niedrigeren Lebensformen erkennbar.28 Sogar Eigenschaften, die wir als typisch menschlich einstufen – wie altruistisches Verhalten –, lassen sich bereits auf früheren Entwicklungsstufen des Lebens beobachten: Zahlreiche anthropologische und primatologische Untersuchungen belegen die gegenseitige Hilfeleistung innerhalb der frühen hominiden Gemeinschaften. Die moderne Verhaltensforschung weist auch auf unzählige Beispiele von Kooperation im Tierreich hin, vom Füttern, Warnen und Lehren bis zum gemeinsamen Kampf und zur gemeinsamen Jagd. Und wie Manfred Eigen gezeigt hat, waren katalytische Reaktionen von allem Anfang an wesentlich für die Replikation der ersten präbiotischen Moleküle, sodass in diesem Sinne Kooperation sogar älter als das Leben ist. 53
Dass Evolution nicht bloß „grausamer Kampf aller gegen alle ums Dasein“ ist, wie immer wieder verkürzend gesagt wird, sondern auch auf Kooperation beruht, war übrigens schon Charles Darwin klar. Er schrieb in „Die Abstammung des Menschen“: „Die geringe körperliche Kraft des Menschen, seine geringe Schnelligkeit, der Mangel an natürlichen Waffen etc. werden mehr als ausgeglichen ... durch seine sozialen Eigenschaften, welche ihn dazu führten, seinen Mitmenschen zu helfen und Hilfe von ihnen zu empfangen.“29 Wie können wir uns nun die Evolution des Geistes vorstellen? Wenn wir uns vor Augen halten, dass der Prozess der Evolution so fortschreitet, dass sich zufällige Veränderungen, Mutationen des bereits Bestehenden, in ihrem Umfeld nur halten und weiterverbreiten können, wenn sie in diesem Umfeld besser oder zumindest gleich gut zu überleben vermögen, wobei die „zufällig“ realisierten neuen Eigenschaften der sich entwickelnden Spezies schon zuvor als potentielle Möglichkeiten angelegt sind, indem sie ja eine Antwort auf das Umfeld und auf die in ihm herrschenden Gesetzmäßigkeiten sein müssen, lässt sich verallgemeinernd sagen30, dass die Evolution „Anpassungsstrukturen“ an die Wirklichkeit schafft, mit denen sie die Wirklichkeit gewissermaßen „abbildet“. Mit anderen Worten: Die Evolution kann nichts hervorbringen, was nicht schon von allem Anfang an in der Welt, sei es in den Naturgesetzen oder in besonderen Eigenschaften der Energie/Materie oder des unmittelbaren Umfelds zumindest als Potentialität vorhanden gewesen wäre. Dies trifft mit Sicherheit auch auf unseren Erkenntnisapparat, also auf unsere Sinne zu, mit denen wir die Welt wahrnehmen: „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (zumindest teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Leben ermöglichte.“31 Der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz sagte es kurz so: „Das Leben selbst ist ein erkenntnisgewinnender Prozess.“ Die Sinneswahrnehmungen werden vom Gehirn aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten zu Verhaltensweisen verarbeitet, die den äußeren Gegebenheiten adäquat sind, wobei auch diese geistigen Fä54
higkeiten evolutionär erworben wurden und damit Anpassungsstrukturen an die umgebende Wirklichkeit, in diesem Falle an ein im Universum schon vorhandenes geistiges Prinzip sein müssen. Das Gehirn erzeugt also nicht den Geist, sondern integriert geistige Gegebenheiten, die offenbar im Universum schon von allem Anfang an potentiell angelegt sind, zu einem persönlichen geistigen Instrumentarium, zu dem nicht zuletzt auch das Selbstbewusstsein gehört. „Die Evolution des Selbst belohnt Bewusstsein, da es offensichtlich einen Überlebensvorteil darstellt“, schreibt der Hirnforscher Antonio R. Damasio und ergänzt: „Es scheint sicher, dass sich in den kommenden Jahrzehnten so viel Wissen über biologische Phänomene ansammeln wird, dass die überkommenen dualistischen Trennungen von Körper und Gehirn, Körper und Seele, Gehirn und Geist verschwinden werden. Doch die biologische Erklärung der Ursprünge und der Arbeitsweise des Geistes wird ihn nicht abschaffen; wir können vielmehr die ihm entgegengebrachte Ehrfurcht auf die erstaunliche Mikrostruktur des Organismus erweitern sowie auf die ungeheuer komplexen Funktionen, mit denen diese Struktur den Geist zu erschaffen vermag.“32 Wobei ich eingedenk des die Evolution bestimmenden Abbildungsprinzips eher von „hervorbringen“ als von „erschaffen“ sprechen würde. Ohne Zweifel bringen also die evolutionär erworbenen geistigen Fähigkeiten wie z. B. Selbstbewusstsein, logisches Denken, Kreativität, Altruismus etc. besondere Vorteile im „Überlebenskampf“ mit sich. Gleichzeitig müssen sie aber auch ein natürlicherweise nur unvollständiges Abbild eines Geistes oder eines geistigen Potentials darstellen, das seit Anbeginn dem Kosmos eigen sein muss. Vergleichbar etwa mit der Körperform eines Fisches, die durch die evolutionäre Anpassung an seinen Lebensraum, das Wasser, die hydrodynamischen Eigenschaften von Wasser abbildet. Oder vergleichbar mit dem menschlichen Auge, von dem schon Goethe feststellte, dass es „sonnenhaft“ sei, weil es nämlich insofern die Sonne abbildet, als das Maximum seiner spektralen Empfindlichkeit mit dem mittleren Intensitätsmaximum der Sonneneinstrahlung auf der Erdoberfläche übereinstimmt. Dass der Geist von allem Anfang an ebenso zu unserem Universum gehört wie die Energie, zeigt sich auch darin, dass die Naturgesetze, die mathe55
matische Struktur der physikalischen Welt und auch die kreative Strategie der Evolution ohne Zweifel geistige Gebilde sind. Das heißt also, dass z. B. Kreativität, Logik, Gedächtnis, die Fähigkeit zu kritischer Auswahl, Liebe und Altruismus älter sind als alle Gehirne. Das heißt aber auch, dass unsere Gehirne gar nicht anders können, als in den im Kosmos angelegten geistigen Strukturen zu denken. Das äußert sich am überzeugendsten in der ausgesprochen erfolgreichen mathematischen Beschreibung der physikalischen Welt. „Vom menschlichen Geist hervorgebrachte und konstruierte intellektuelle Gebilde finden eine überraschende Entsprechung in der Wirklichkeit. Von den entferntesten Galaxien bis zu den kleinsten Staubkörnern, von makrokosmischen Strukturen bis zu jenen Feldern, Symmetrien und Prozessen, aus denen die Materie aufgebaut ist – überall finden wir eine Strukturverwandtschaft zwischen mathematisch konstruierendem Verstand und objektiver Realität.“33 Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie sich zunächst als reine „Gedankenspielereien“ in abstrakter Logik entworfene mathematische Systeme später auf die Wirklichkeit anwenden lassen, also Wirklichkeit beschreiben: „Die erstaunlichste und immer wieder verifizierte Entdeckung der modernen Naturwissenschaft – unabhängig von einer mathematischen Vorformulierung der Naturvorgänge – ist nun aber, dass die Natur offenbar letzten Endes ein Gewebe aus mathematischen Relationen ist. Einfacher gesagt: die Mathematik, die der Mensch aus seinem Bewusstsein hinausprojiziert, entspricht auf irgendeine Weise einer mathematischen Wirklichkeit, die für den Menschen zwar ein Außen ist, das sein Bewusstsein jedoch zu reflektieren scheint.“34 Dass der menschliche Geist eine durch die Evolution hervorgebrachte Anpassungsstruktur an einen kosmischen Geist und damit ein Teil von ihm ist, zeigt sich aber auch darin, dass viele wissenschaftlich bedeutende Entdeckungen zunächst rein intuitiv gemacht wurden und erst im Nachhinein verifiziert und begründet werden konnten. Als Beispiele seien hier die Mathematiker Gauss und Riemann erwähnt, die mathematische Sätze ohne Herleitung niederschreiben konnten, sodass sich spätere Generationen von Mathematikern mit den Beweisen herumschlagen mussten, oder auch der Chemiker Kekulé, dem die Entdeckung des Benzolrings im Traum zugefallen sein soll. 56
Dass der menschliche Geist überhaupt imstande ist, die Welt und die sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, hängt also ursächlich mit dieser „Strukturverwandtschaft“ zusammen, damit also, dass sich der menschliche Geist als evolutionäre Anpassungsstruktur zu einem Abbild des Geistes entwickelt hat, der den gesamten Kosmos durchwaltet und bestimmt. Abbild heißt hier, das sei nochmals betont, dass keine Identität besteht, denn zweifellos manifestiert sich im menschlichen Geist bloß eine Teilmenge, ein Bruchteil des kosmischen Geistes. Dass der menschliche Geist die Welt überwiegend mit wissenschaftlichen Methoden zu erkennen vermag, darf aber nicht dazu verleiten, ihn – und damit natürlich indirekt auch den kosmischen Geist – auf seine verstandesmäßigen Fähigkeiten (Logik, mathematisches Denken, diskursive Erkenntnis, Informationsverarbeitung etc.) einschränken zu wollen. Zum Geist gehören sicher nicht nur solche Fähigkeiten wie logisches und abstraktes Denken, sondern auch Intuition, Kreativität, Phantasie und menschliche Empfindungen wie Subjektivität, Schönheit, Liebe, Barmherzigkeit etc. Der Evolutionsbiologe DeDuve stellt fest: „Der Geist ist die Schnittstelle zwischen dem, was wir gewöhnlich als Welt der Materie und Welt des Immateriellen bezeichnen. Der Geist ist unser Fenster zu Wahrheit, Schönheit, Barmherzigkeit und Liebe, zum Geheimnis unserer Existenz, zur Gewissheit des Todes, zur Schmerzlichkeit des Menschseins.“35 Der Mensch verfügt somit aufgrund der ontologischen Strukturverwandtschaft seines Geistes mit dem kosmischen Geist über zwei Zugänge zur Weltwirklichkeit, den diskursiv-wissenschaftlichen, der sich einer logischen Sprache bedient, und den intuitiv-mystischen, der meist in plötzlichen Eingebungen besteht und sich in Bildern und Symbolen ausdrückt. Wobei Letzterer entwicklungsgeschichtlich gesehen der ältere sein dürfte, wie die mythologischen Weltbilder antiker Kulturvölker nahe legen. Die Tatsache, dass Erkenntnisse über die Welt auch auf dem Weg über die Intuition möglich sind, wird auch durch die Tiefenpsychologie von C. G. Jung belegt, die mit dem Konzept eines kollektiven Unbewussten einen geistigen Zusammenhang zwischen dem Individuum und der Menschheit als Ganzer, ja sogar eine Verbin57
dung zwischen dem individuellen Geist und dem Geist des ganzen Kosmos postuliert. Natürlich drängt sich bei diesem Befund auch wieder die alte Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie auf: Sind Geist einerseits und Energie beziehungsweise Materie andererseits voneinander unabhängige Wirklichkeiten oder bilden sie eine Einheit: Dualismus oder Monismus? Da im Energiewirbel der Singularität des Urknalls, also schon vor jeder differenzierenden Strukturbildung die Potentialität für jede mögliche zukünftige Entwicklung vorhanden sein musste, dürfte, wie heute die meisten Naturwissenschafter und Philosophen annehmen, die monistische Betrachtungsweise zutreffen. Der Philosoph Hans Jonas meint dazu: „Was denn zu einer monistischen Lösung nötig scheint, ist eine ontologische Revidierung, eine Auffüllung des Begriffs ‚Materie‘ über die äußeren Messbarkeiten der Physik hinaus – also eine Meta-Physik des Weltstoffes. Das Mindeste, was wir der sich aus dem Urknall entwickelnden Materie im Hinblick auf das schließlich und spät Hervortretende zusprechen müssen, ist eine ursprüngliche Begabung mit der Möglichkeit eventueller Innerlichkeit – noch lange nicht Begabung mit Innerlichkeit und nicht einmal eine positiv wirksame Tendenz, die den Prozess des Werdens dahin lenkt ... Das hieße: Materie ist Subjektivität von Anfang an in der Latenz, selbst wenn Aeonen und dazu noch seltenes Glück für die Aktualisierung dieses Potentials nötig sind.“36 Wir kommen also nicht darum herum, unseren physikalischen Energie-Materie-Begriff um eine geistige Dimension zu erweitern. Und das heißt eben, dass Geist und Materie nicht verschiedenen Welten angehören, sondern letztlich voneinander nicht zu trennen sind. Bereits elementare materielle Strukturen sind „geistbegabt“.
Geistig-kulturelle Evolution Mit den heute existierenden Lebensformen und auch dem heutigen Menschen ist die Evolution noch keineswegs an ein Ende gekommen: Auch in den folgenden Jahrmillionen werden sich neue Lebewesen entwickeln und dabei alte verdrängen, auch der Mensch in seiner heutigen Form dürfte eines Tages aussterben und 58
einer anderen Gattung Platz machen. Neu ist allerdings mit dem Auftreten des Menschen, dass sich die Evolution, wie bereits erwähnt, nun besonders auch auf geistigem, d. h. kulturellem und zivilisatorischem Gebiet abspielt und hier ein bisher unbekanntes Tempo anschlägt, und dass der Mensch mit der Gentechnik sogar in den Gang der biologischen Evolution einzugreifen beginnt und ihr so eine bestimmte Richtung zu geben vermag, ob zu Nutzen oder Schaden des Lebens, wird sich weisen. „Evolution läuft (heute) auf zwei unterschiedlichen Zeitskalen ab: einer langsamen, biologischen, wie es sie seit Jahrmillionen gibt, und einer (um Größenordnungen) rascheren, intellektuellen, die erst vor relativ kurzer Zeit einsetzte. Für uns wahrnehmbar ist vor allem die Letztere.“37 Die kulturelle („intellektuelle“) Evolution betrifft Phänomene, die für das reine Überleben der Menschheit überflüssig zu sein scheinen, wie Kunst, Musik, Dichtung, Religion etc., Phänomene also, die durch die biologische Evolution nicht erklärbar sind. Die biologische Evolution stellt ja die von Genen kontrollierten vererbbaren Merkmale ins Zentrum. Diejenigen Gene, die ihren Trägern einen Überlebensvorteil bieten und die Erzeugung zahlreicher Nachkommen begünstigen, breiten sich zulasten anderer Gene aus. Diese Theorie vermag aber nicht zu erklären, warum Menschen so viel Energie in biologisch gesehen überflüssige kulturelle Dinge stecken. Ist es da überhaupt zulässig, auch die geistigkulturelle Entwicklung als Evolution zu bezeichnen? Richard Dawkins postulierte 1976 in seinem Buch „Das egoistische Gen“ eine Art von geistig-kulturellen Informationseinheiten, die er als „Meme“ bezeichnete, und Susan Blackmore38 entwickelte eine Evolutionstheorie, in der sie nachwies, dass die Grundprozesse der biologischen Evolution wie Replikation, Mutation und Selektion auch auf solche Meme anwendbar sind. Meme – es handelt sich dabei um Sprache, Mythen, Religionen, Musik, Theorien, Wissenschaft etc. und auch um menschliche Wertvorstellungen und Verhaltensweisen wie z. B. Altruismus – sind gespeichert in Menschengehirnen, in Büchern, auf Notenblättern, in Traditionen etc. und unterliegen nach dieser Theorie ähnlichen Evolutionsprozessen wie biologische Merkmale. Blackmore macht sogar eine Beeinflussung der biologischen Selektion durch dominierende Meme, mit anderen Worten eine Mem-Gen-Koevolution, plausibel. Da aber Meme im 59
Gegensatz zu Genen keine eigenständigen Replikatoren sind – sie bedürfen ja irgendeines externen materiellen Speichermediums – und überhaupt schwierig als Einheiten zu definieren und einzugrenzen sind, dürfte diese Theorie keine Erklärung des Mechanismus der kulturellen Evolution im naturwissenschaftlichen Sinne liefern, sondern bloß deskriptiven Wert haben, indem sie aufzeigt, dass auch Entwicklungen auf geistigem Gebiet den grundlegenden Strategien der Evolution unterliegen. Blackmore schreibt aber: „Memetisches Denken führt zu einer neuen Weltsicht. Aus der Perspektive der Meme ist jeder Mensch eine Vervielfältigungsmaschine für Meme – ein Vehikel zu ihrer Verbreitung, eine Gelegenheit für sie, sich zu vermehren, und eine Ressource, um die sie konkurrieren. Weder sind wir die Sklaven unserer Gene noch rational frei handelnde Wesen, die Kultur, Kunst, Wissenschaft und Technologie zu ihrem eigenen Vergnügen schaffen. Vielmehr nehmen wir an einem riesigen evolutionären Prozess teil, in dem Meme die evolvierenden Replikatoren darstellen.“ Was im Grunde genommen auch nichts anderes heißt, als dass sich im menschlichen Geist der kosmische Geist evolutionär abbildet. Die geistig-kulturelle Evolution unterscheidet sich also in ihrem Prozess nicht grundsätzlich von der biologischen, denn auch hier spielt die Selektion die entscheidende Rolle. Die Unterschiede bestehen hauptsächlich darin, dass einzelne „Mutationen“ gezielt erfolgen können, dass somit eine erste Auswahl schon vor ihrer Realisierung stattfindet. Des Weiteren erlaubt die kulturelle Evolution im Gegensatz zur biologischen die Kombination verschiedener Informationsträger. Aber: Wenn auch jedes kulturelle Element ein Produkt menschlicher Kreativität zu sein scheint, so wurden doch die großen geschichtlichen und kulturellen Strukturen weder von den Menschen vorausgesehen noch waren sie Erzeugnisse bewusster menschlicher Intention: Auch die kulturelle Evolution verläuft somit in ihren großen Zügen nicht teleologisch (d. h. zielgerichtet), sondern nach dem Prinzip von „trial and error“. Und nach all dem, was oben über die Evolution des Geistes festgestellt wurde, ist eben auch in der Kreativität des geschichtlich-kulturellen Prozesses die verborgene Kreativität des kosmischen Geistes am Werk.
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Schlussgedanken und Folgerungen Dieser ohne Erwähnung der entsprechenden Forschungsergebnisse natürlich arg verkürzte Überblick über die Evolution im Ganzen macht klar: Die Evolution, obwohl weder von allem Anfang an noch in irgendeiner späteren Phase zielgerichtet, sondern einzig durch die Naturgesetze und darüber hinaus durch die überall gleiche Strategie angetrieben, führte von der Energie zur Materie, von einfachen zu immer komplexeren Strukturen, vom Unbelebten zum Leben, von noch schlecht an die Umwelt angepassten zu immer besser angepassten Lebensformen, von einfachen Lebewesen zu immer komplexeren und letztendlich (bis heute wenigstens) zum Menschen, einer Lebensform, die über Selbstbewusstsein und besondere geistige Fähigkeiten verfügt. Und dieser Trend zum Leben erscheint nicht etwa als eine Randerscheinung der Evolution, sondern als eine ihr innewohnende allgemeine Tendenz: Das Leben hat mit seinen vielfältigen Formen jede denkbare ökologische Nische unserer Erde erobert. Wir finden es überall auf dem Land, in der Luft, im Wasser, in den kältesten und heißesten Regionen unseres Planeten, in den tiefsten Tiefen der Meere und sogar im lebensfeindlichen Umfeld heißer unterseeischer Schwefelquellen. Das Leben ist offensichtlich außerordentlich kreativ und anpassungsfähig und darum auf unserem Planeten schlechterdings allgegenwärtig. So sehr, dass die Entstehung von Leben in unserem Universum von Christian DeDuve als „kosmische Zwangsläufigkeit“ bezeichnet werden kann39 und Freeman Dyson gar meinte: „Irgendwie wusste das Universum, dass der Mensch kommen würde.“ Im Blick auf die kosmische Dimension der Evolution, durch die alles mit allem vernetzt ist, drängt sich tatsächlich der Gedanke auf, dass das Phänomen Leben nicht nur auf die Erde beschränkt ist, sondern auch andernorts im Weltraum anzutreffen sein dürfte. Die in der gesamten kosmischen Evolution beobachtbare Tendenz zum Leben veranlasst DeDuve darum zu folgender Feststellung40: „Die Erde ist kein seltsamer Splitter nahe bei einem seltsamen Stern in einer seltsamen Galaxis, verloren in einem riesigen, ‚teilnahmslosen’ Strudel von Sternen und Galaxien, die seit dem Urknall in Raum und Zeit herumwirbeln. Die Erde gehört zusammen 61
mit Billionen anderer erdähnlicher Himmelskörper zu einer kosmischen Wolke aus „Leben spendendem Staub“, der existiert, weil das Universum so ist, wie es ist. Wenn wir es vermeiden wollen, irgendeine Absicht zu erwähnen, können wir in rein faktischem Sinne feststellen: Das Universum ist so aufgebaut, dass diese Vielzahl Leben tragender Planeten entstehen musste. Unter den Milliarden Sternen einer Galaxis müssen viele von Planeten umkreist sein, und zumindest einige davon müssen die richtige Größe und die richtige räumliche Orientierung zu ihrer Sonne besitzen, so dass sie zu einer Wiege des Lebens werden. Das Universum ist nicht der teilnahmslose Kosmos der Physiker mit einer Prise Leben zum Ausgleich. Das Universum ist Leben, mit der erforderlichen Infrastruktur drum herum.“ Und, im Blick auf den offensichtlich in der Welt immanenten kosmischen Geist, der sich in den geistigen Fähigkeiten des Menschen, dem wohl bisher komplexesten Produkt der Evolution, abbildet, und damit auf den Sinn des Ganzen bekennt er: „Wenn das Universum nicht bedeutungsleer ist, was bedeutet es dann? Für mich findet sich diese Bedeutung im Aufbau des Universums, das nun einmal so ist, dass es auf dem Weg über Leben und Geist das Denken hervorbringt. Denken wiederum ist eine Fähigkeit, durch die das Universum in der Lage ist, über sich selbst zu reflektieren, seine eigene Struktur zu entdecken und so immanente Größen wie Wahrheit, Schönheit, Tugend und Liebe zu erfassen. Vielleicht ist der menschliche Geist nur ein Bindeglied – oder sogar ein Seitenast – in einem Evolutionsepos, das noch bei weitem nicht am Ende ist und eines Tages durchaus einen Geist hervorbringen könnte, der viel leistungsfähiger ist als unserer. Das ist die Bedeutung des Universums, wie ich es sehe.“ Am Beispiel der Feinabstimmung physikalischer Größen während der Phase der kosmischen Evolution, ohne die Leben in der uns bekannten Form ja nie möglich geworden wäre, zeigt sich außerdem, dass dem Phänomen Evolution mit der einfachen Darwin’schen Strategie von Zufall und Notwendigkeit auf dem Hintergrund der uns bis heute bekannten physikalischen Gesetze und Theorien wie auch der bisher vorgeschlagenen, noch äußerst spekulativen „Theorien für Alles“, welche die Quanten- und Relativitätstheorie und damit sämtliche vier physikalischen Grund62
kräfte unter einen Hut zu bringen versuchen, nicht beizukommen ist. Einflüsse, Gesetzmäßigkeiten, Beweggründe, die sich der Ratio des menschlichen Geistes (noch) entziehen und damit wohl eher in einem metaphysischen Bereich der Weltwirklichkeit gründen, sind so meines Erachtens nicht auszuschließen. Nicht zuletzt auch darum, weil die Physik die Frage nach dem Sinn des Ganzen wohl kaum zu beantworten vermag, eine Frage, die sich der seiner selbst bewusste Mensch angesichts seiner Existenz ja zwangsläufig stellt. Lassen solche Feststellungen nun den Schluss zu, dass unser Kosmos aufgrund einer Art „göttlichen Plans“ entstanden ist? Sicher nicht im deterministischen Sinne. Es ist zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, dass die Wissenschaft eine befriedigende und vor allem auch durch Beobachtungen erhärtbare Theorie finden kann, welche die in heutiger Sicht unwahrscheinlich genaue Abstimmung der Naturgesetze und der Anfangsbedingungen in unserem Universum erklären kann. An exotisch anmutenden Vorschlägen auf der Basis der Quantentheorie, die einen Nullpunkt der Zeit und damit einen eigentlichen Beginn des Kosmos und so auch die Frage nach dem Vorher und einem Verursacher (Schöpfergott) überflüssig machen, mangelt es nicht.41 Hingegen wird sich auch bei einer solchen Theorie wieder die Frage stellen, von wo denn die in ihr postulierten Gesetze und Mechanismen und somit auch solche Theorien selbst herkommen. Denn die letzte, alle anderen umfassende und noch als physikalisch und mathematisch zu bezeichnende Theorie muss ihre Ursache zwangsläufig in einem metaphysischen und somit transzendenten Bereich haben, was heißt, dass sich die letzte Ursache unserer Existenz und der naturgesetzlichen Eigenschaften des Universums wohl nicht im Rahmen der üblichen menschlichen Denkkategorien erfassen lässt. Davies stellt dazu fest42: „Schließlich ist eine vernünftige Erklärung der Welt im Sinn eines geschlossenen und vollständigen Systems logischer Wahrheiten fast sicherlich unmöglich. Wir sind durch eben die Regeln der Vernunft, die uns eine solche Erklärung überhaupt erst suchen ließen, vom letzten Wissen, letzten Erklärungen ausgeschlossen. Wenn wir darüber hinausgelangen wollen, müssen wir mit ‚Verstehen’ etwas anderes meinen als eine vernünftige Erklärung ... Wir, die Kinder des Universums – belebter Sternenstaub –, können aber über eben dieses Universum nachdenken und sogar 63
Einblick in die Regeln erhaschen, nach denen es abläuft. Durch bewusste Wesen wurde im Universum Bewusstsein erzeugt. Wir sind nicht ein Nebenprodukt sinnloser, zielloser Kräfte. Wir sind dazu da, hier zu sein. Wie wir mit dieser kosmischen Dimension verbunden wurden, ist ein Geheimnis.“ Und dieses Geheimnis der kosmischen und unser aller Existenz mit einer geheimnisvollen transzendenten Macht, mit Gott, in Verbindung zu bringen, wie dies die Menschen seit jeher geahnt und in mythologischen Vorstellungen ausgedrückt haben, ist somit auch für wissenschaftlich denkende Menschen durchaus legitim. Es bleibt bloß die Frage, wie man sich denn einen solchen Gott angesichts der eben umrissenen heutigen Weltsicht vorstellen könnte.
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6. Der Weltgeist, der sich in der Evolution offenbart Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion. F. D. E. Schleiermacher Der Geist über allem ist Gott. Der Geist, welcher allem innewohnt, ist die Natur. Giordano Bruno
Not tun uns Gottesbilder, die das heutige Weltbild und die Situation des Menschen in der Welt, wie wir sie heute vorfinden und erleben, ernst nehmen; nur solche Gottesbilder können uns etwas über Gott in unserer Welt und damit über den Sinn dieser Welt und unseres Lebens in ihr aussagen: Mit dieser Feststellung am Ende des Kapitels über biblische Gottesbilder habe ich bereits darauf hingewiesen, wo wir nach relevanten Gottesbildern suchen sollen, nämlich in unserer Welt, in der Natur, in unseren eigenen Erfahrungen. Hans Küng sagt es kurz so: „Der Mensch soll nicht ohne Verifikation einfach glauben müssen. Sondern seine Aussagen sollen im Kontakt mit der Wirklichkeit, im Erfahrungshorizont des Menschen und der Gesellschaft von heute sich bewahrheiten und bewähren und sollen so durch die konkrete Erfahrung der Wirklichkeit gedeckt sein.“43 Mit vielen weiteren Theologen (besonders auch Jürgen Molt65
mann44) meine ich nun, dass die so genannte „Natürliche Theologie“, die Gott in der Welt zu erkennen versucht, nicht nur legitim, sondern unabdingbar ist, wenn wir nicht einem total weltfremden und damit für unser Leben und Wirken in dieser Welt irrelevanten Gottesglauben verfallen wollen. Auch wenn diese Sichtweise im Widerspruch zu Karl Barths „Dialektischer Theologie“ steht, die ja ausschließlich auf eine übernatürliche „Offenbarung von oben“ setzt, und auch im Widerspruch zu einigen Naturwissenschaftern wie z. B. zum Astrophysiker Arnold Benz45, der zwischen Gott und Welt rigoros trennt und darum eine Gotteserkenntnis aus der Natur als unmöglich erachtet, ist dieses Unterfangen auch im Rahmen des christlichen Glaubens durchaus legitim, da ja in der jüdisch-christlichen Tradition Gott als Schöpfer dieser Welt angesehen wird, der so in ihr auch seine „Spuren“ hinterlassen haben muss, und da ja auch im Neuen Testament die Erkenntnis Gottes in der Welt als selbstverständlich gilt. So weist auch Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefs klar auf Gottes Offenbarung in der Schöpfung hin, und in seiner Areopagrede (Apg 17) lässt ihn der Evangelist Lukas von Gott sagen, dass er „nicht fern ist von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ „Offenbarung“ kann also nicht allein auf intuitivem, also im Sinne vergangener Weltbilder auf „übernatürlichem“ Weg geschehen, sondern kann uns auch über naturwissenschaftliche Erkenntnisse und deren vernunftgeleitete Interpretation zufallen. Das ausschließende Entweder-oder zwischen „übernatürlicher“ und „natürlicher“ Gotteserkenntnis ist auch darum abzulehnen, weil uns heute die Welt als eine Einheit erscheint, in der Energie/Materie und Geist nicht verschiedenen Welten angehören. So kann ich natürlich auch Luthers Pauschalurteil über die „Hure Vernunft“ nicht gelten lassen, nicht zuletzt auch darum, weil die Geschichte des christlichen Glaubens bis heute nur zu deutlich gezeigt hat, wie „übernatürliche Offenbarungen“ nicht nur die Wahrheit gründlich verpassen können, sondern sich auch zur Machtausübung über andere missbrauchen lassen, da sie ja mit „göttlicher Autorität“ daherkommen und sich mit dieser Begründung jeder vernünftigen Kritik entziehen. Unsere Vernunft als Teil des in der Welt immanenten und sie auch transzendierenden Geistes dürfte wohl das zuverlässigste Kriterium zur Beurteilung von Offenbarungen jeg66
licher Art sein, über das wir verfügen: „Alles aber prüfet, das Gute behaltet“ (1 Thess 5,21). Nicht zuletzt könnte eine solche Einstellung auch den unseligen Absolutheitsansprüchen gewisser Glaubensrichtungen, die sich allein im Besitz der „Wahrheit“ wähnen, den Boden entziehen. „Natürliche“ und „übernatürliche“ Offenbarungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und auf intuitiv-mystischem Weg gewonnene Erkenntnisse enthüllen dieselbe Realität und damit denselben Geist, der sich in ihr manifestiert. Sie sind komplementär; es kann also nur darum gehen, beide ernst zu nehmen und sie so weit wie möglich zu einem sinnvollen Ganzen zu vereinen, indem Widersprüchliches aufgedeckt und ausgeräumt wird. Widersprüche sind ja kaum zu vermeiden, wenn an sich gleiche Sachverhalte oder Erlebnisse in so unterschiedlichen Weltbildern wie dem heutigen rationalen naturwissenschaftlich-ganzheitlichen Weltbild oder dem dualistischen neutestamentlich-gnostischen Weltbild mit seinem ausgeprägten Dämonenglauben interpretiert werden. Als Ausgangspunkt für den Versuch, ein mit dem Kontext unseres heutigen Weltbilds verträgliches Gottesbild „herzuleiten“, sollen nun zunächst nochmals die, wie ich meine, wesentlichen Aspekte des evolutionären Weltbilds vereinfacht und in aller Kürze in Form einiger Thesen zusammengefasst werden: • Die Welt bildet ein Ganzes, das sich ausgehend von einem einzigen Ursprung (Urknall) vor ca. 15 Milliarden Jahren in einem kosmischen Evolutionsprozess entwickelt hat und noch weiter entwickelt (creatio continua). Der auf allen Ebenen aktive Evolutionsprozess (kosmisch, chemisch, biologisch, kulturell) verläuft zwar nicht im Sinne des klassischen Determinismus zielgerichtet (teleologisch), sondern im Rahmen der Vorgaben durch die Naturgesetze und des jeweils Erreichten „bedingt zufällig“ von einfachen zu immer komplexeren Strukturen und führte so von der Energie über die Materie zum Leben. Offensichtlich muss dem Kosmos auch von allem Anfang an eine Art geistiger Potentialität innewohnen, die den beobachteten Trend vom Einfachen zum Komplexen bis hin zu geistbegabtem Leben ermöglichte und favorisierte: DeDuve kommt nicht zuletzt im Blick auf die unwahrscheinliche Feinabstimmung physikalischer Größen zum Schluss, dass Leben eine „kosmische Zwangsläufigkeit“ sei. Und 67
Davies geht gar so weit zu sagen: „Falls die Existenz von Leben erfordert, dass Naturgesetze und Anfangsbedingungen mit großer Genauigkeit aufeinander abgestimmt sind und diese Feinabstimmung tatsächlich erreicht ist (Anthropisches Prinzip), dann scheint es nahe liegend, dahinter einen Plan zu vermuten.“ Der Welt liegt also ein ständiger kreativer Prozess zugrunde, in dem Realität entsteht, die dann umgekehrt auch wieder die Potentialität in ihrer Tendenz überformt.46 Und: Durch diesen kreativen Prozess, die Evolution, ist alles mit allem verknüpft, bedingt sich alles gegenseitig, insbesondere sind auch alle Erscheinungsweisen von Leben auf unserer Erde infolge ihrer Koevolution aufeinander bezogen. • In der heutigen Physik (Quantenfeldtheorie, Elementarteilchenphysik, String-Theorie u.a.m.), die sich im Wesentlichen zur Beschreibung der physikalischen Phänomene bewährt hat, hat sich der klassische Materiebegriff aufgelöst zugunsten von Energieschwingungen, die bestimmten mathematisch (im Sinne von Wahrscheinlichkeitsaussagen) erfassbaren Naturgesetzen, also letztendlich auch „geistigen Vorgaben“ folgen: Materie ist in heutiger Sicht so etwas wie „geronnener“ Geist, wobei Geist offensichtlich das Primäre ist, da im „Zeitpunkt“ des Urknalls noch keine Materie existierte. Geist und Materie können somit nicht mehr als grundsätzlich verschieden betrachtet werden. Die klassische dualistische Auffassung von Geist und Materie, wie sie ja auch dem biblischen Weltbild zugrunde liegt, ist nicht mehr weiter haltbar. Hans Jonas schreibt: „Wir müssen also von der Schaffung einer noch geistlosen, aber positiv mit der Möglichkeit des Geistes begabten Urmaterie ausgehen, und diese ‚Möglichkeit’ muss mehr als bloßes Stattgeben, leere Kompatibilität sein. Halten wir ferner daran fest, dass die erste schöpferische Ursache von Geist selber Geist sein muss, so lautet die Frage jetzt, in welcher Weise er die Sache des Geistes dem anfänglich geistlosen Weltstoff anvertraut hat.“47 • Auch der menschliche Geist ist ein Produkt der Evolution und somit ein Abbild der dem Kosmos innewohnenden geistigen Potentialität. Im Verlaufe der Evolution manifestierte sich der Geist zunehmend in mit geistigen Fähigkeiten begabten materiellen Strukturen bis hin zu selbstbewussten Lebewesen. Mit anderen 68
Worten: Der kosmische Geist „verwirklicht sich“ in der Evolution selbst, er „inkarniert“ sich sozusagen im Verlauf der Evolution selbst in den Strukturen dieser Welt.48 Dieser der Welt und ihrer Evolution sowohl immanente als sie auch transzendierende Geist bleibt aber als „letzte Wirklichkeit“ ein metaphysisches Postulat, da er der Naturwissenschaft nie vollständig, sondern nur in seinen „Abbildungen“, seinen „Inkarnationen“ eben, zugänglich ist. In Anbetracht dieser unserer evolutionären Gesamtschau der Welt ist es nun offensichtlich endgültig nicht mehr möglich, sich Gott als einen außerweltlichen, also rein transzendenten, zeitlosen, mit ins Absolute extrapolierten menschlichen Eigenschaften ausgestatteten, also anthropomorph gedachten, „allmächtigen“ Deus ex Machina vorzustellen, einen absoluten „Weltenherrscher“, der nach Belieben Naturgesetze außer Kraft setzen und von „oben“ her in das Geschick ausgewählter Völker oder einzelner Menschen eingreifen kann49 und den man mittels unbedingtem Gehorsam und einer im magischen Sinne missverstandenen Gebetspraxis gnädig stimmen, d. h. in seinem Handeln beeinflussen kann. Die Gleichsetzung von Gott und Allmacht hat ja zu Vorstellungen geführt, die in krassem Widerspruch zu unseren alltäglichen Erfahrungen stehen. Außerdem zeigt das evolutionäre Weltbild klar und deutlich, wie grundlegend unverträglich das Bild eines völlig zeitlosen, unveränderlichen Gottes mit der Vorstellung von Kreativität in der Natur, mit einem sich verändernden, sich entwickelnden und Neues ermöglichenden Universum ist. Darum nochmals das Fazit: Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wie „Geist“ und „Liebe“ vermögen uns die allermeisten der überlieferten biblischen Gottesbilder, insbesondere Anthropomorphismen wie König, Vater, Richter, Hirte etc. nicht mehr anzusprechen, da sie schlicht und einfach im Kontext unseres heutigen doch weitgehend konsistenten Weltbilds keinen Sinn mehr machen. Sie haben so ihre Aussagekraft und damit auch ihre Funktion verloren, uns als seine Chiffre, sein Symbol, an den Urgrund allen Seins, also an eine letzte Wirklichkeit zu verweisen und von dort her etwas Licht ins Dunkel unserer Frage nach Sinn und Ziel unserer Existenz zu bringen. Und weil auch der heute von Kirchenfremden in ihrer – berechtigten – Ablehnung traditionel69
ler Gottesbilder oft beschworene Glaube an eine „irgendwie geartete höhere Macht“ inhaltslos und damit ebenso sinnleer bleibt, da auch er keinen konkreten Bezug hat zur Welt, in der wir leben, entspricht ein mit unserer Weltsicht kompatibles Gottesbild wohl auch dem Bedürfnis gerade jener Zeitgenossen, die sich schon längst von den Kirchen verabschiedet haben. Wohlgemerkt: Der Wunsch, Gott „an sich“ als Urgrund und letztes Woraufhin jeglichen Seins erkennen zu wollen, sprengt sowohl den Rahmen vernünftigen naturwissenschaftlichen Erkennens und Argumentierens als auch den des intuitiven Erkennens (Mystik). Gott, wie er „wirklich ist“, bleibt unserem begrenzten Begreifen und Verstehen grundsätzlich entzogen. Wir können ihn bestenfalls angenähert erkennen, uns vielleicht ein immer „besseres“, aber auch immer unvollständig bleibendes Bild von ihm entwerfen. Was also dabei herauskommt, ist nie die Wahrheit an sich, sondern bleibt immer eine metaphysische Spekulation, im besten Falle eben eine, die der Wahrheit etwas näher kommt: ein Gottesbild also, nie Gott selber. Unverzichtbar bleibt aber, wie schon mehrmals betont, die Forderung, dass ein sinnvermittelndes Gottesbild nicht im Widerspruch zu unseren mehr oder minder gesicherten Erkenntnissen über die Welt, zu unserem Weltbild also, stehen darf.50 Gott nun im Blick auf unser Weltbild einfach als „Auslöser des Urknalls“ oder als „mythologische Verkörperung der physikalischen Gesetze“ (Hawking) zu definieren, hilft nicht weiter, da solche Gottesbilder kaum etwas zu einer nachvollziehbaren Erklärung der Tatsache, dass unsere Welt so ist, wie sie ist, und zum Sinn unserer Existenz als selbstbewusste und geistbegabte Lebewesen beitragen. Solche Gottesbilder sind nichtssagende Neuauflagen des alten „Lückenbüßer-Gottes“, den man schon in der Vergangenheit überall dort zu sehen wähnte, wo die Wissenschaft nicht mehr weiter wusste, nicht zuletzt in der klassischen Frage, wie denn das Leben in die noch unbelebte Welt gekommen sei. Ein etwas differenzierterer Vorschlag für ein Gottesbild geht von der Annahme aus, dass im Urknall außer der gesamten Energie des Kosmos auch schon alle Information vorhanden gewesen sei, welche für die nachfolgende Evolution von der Energie über die Materie zu Sternen, Galaxien, Planeten, Leben und geistbegabtem Leben benötigt wurde. Es sei also schon im Urknall eine Art von 70
„kosmogonischem Logos“ vorhanden gewesen. Auch dieses Gottesbild steht aber im Widerspruch zu unserem Weltbild, insbesondere zum Begriff der Information. Der Philosoph Hans Jonas51 stellt dazu fest: „Information ist ein Gespeichertes, und zu irgendwelchem Speichern hatte der Urknall noch keine Zeit. ... Information ist also nicht nur Ursache, sondern selber schon Ergebnis von Organisation, Niederschlag und Ausdruck des vorher Erreichten, das dadurch perpetuiert, aber nicht überhöht wird.“ Da Information im Chaos des Urknalls keinen Platz hat, scheidet für mich auch das Bild „Gott ist Logos im Sinne der gesamten die Welt bestimmenden Information“ aus. Ähnlich interpretiert übrigens auch Rupert Sheldrake52 das evolutionäre Weltbild hinsichtlich eines Gottes: „Ich behaupte, dass es in der Organisation aller sich selbst organisierenden Systeme, von den Atomen bis hin zu den Galaxien, so etwas wie ein inhärentes Gedächtnis gibt, eine Art kollektiver Erinnerung an vorheriges Ähnliches.“ Für ihn ist Gott also eine Art von immanentem Geist im Sinne eines Gedächtnisses der Natur. Anstelle des Begriffs „Naturgesetze“, die ja zum Inhalt dieses Gedächtnisses gehören, verwendet er lieber den Ausdruck „Gewohnheiten der Natur“, da er – übrigens auch in Übereinstimmung mit einigen Physikern (z. B. Smolin) – behauptet, dass auch alle diese „Gewohnheiten“ respektive Naturgesetze evolutionär sind, sich also entwickeln. Er stützt sich dabei auf die Erkenntnis, dass die bekannten Kraftfelder der Natur, die Gravitation, der Elektromagnetismus, die starke und die schwache Wechselwirkung, ursprünglich (während der so genannten Planck-Epoche bis 10-43 sec nach dem Urknall) ein einheitliches Kraftfeld darstellten, von dem sich in spontanen Phasenumwandlungen zuerst die Gravitation und später (10-35 sec) auch die anderen drei Grundkräfte abkoppelten, und behauptet, dass eine zwar weniger dramatisch verlaufende Evolution der „Gewohnheiten der Natur“ auch später stattfand und noch immer stattfindet. Neu gegenüber der Informations-Hypothese, die Gott als „kosmogonischen Logos“ postuliert, ist bei Sheldrake also bloß die Vorstellung, dass dieser Logos, das „Gedächtnis der Natur“, selbst einer andauernden Entwicklung unterworfen ist. Ebenfalls zu kurz greift, wie ich meine, auch das Gottesbild des amerikanischen Theologen Gordon D. Kaufman53. Er definiert 71
Gott als Summe aller innerweltlichen Faktoren, Kräfte und Prozesse (der physikalischen, vitalen und geschichtlich-kulturellen), welche die Evolution bestimmen und die er im „Symbol Gott“ zusammenfasst: „Gott sollte heute begriffen werden im Sinne der physikalischen, biologischen und geschichtlich-kulturellen Voraussetzungen, die menschliches Leben ermöglichen, es weiterhin erhalten und es zu einer vollkommeneren Menschlichkeit führen ... Das Symbol ‚Gott‘ weist auf eine Realität hin, auf eine letztgültige Tendenz oder Macht, die sich selbst im Laufe eines Evolutionsprozesses herausbildet, der nicht nur Myriaden von lebenden Spezies hervorgebracht hat, sondern auch mindestens eine Lebensform, die fähig ist, im Zuge einer kumulativen Geschichte aus sich selbst heraus geistig Gestalt anzunehmen und sich zu entwickeln hin zu einem gewissermaßen selbstbewussten und freien Wesen, das in einer symbolischen oder kulturellen Welt lebt, die es sich geschaffen hat. Mit dem Symbol ‚Gott‘ haben wir die Möglichkeit, diesen weiten evolutionsgeschichtlichen Bogen als kosmische Bewegung zusammenzuhalten.“ Abgesehen davon, dass dieses Gottesbild dem Menschen und seiner Entwicklung allzu sehr eine Sonderrolle im Rahmen der Evolution zuschreibt – es ist ja durchaus möglich oder sogar wahrscheinlich, dass auch das Lebewesen Mensch einmal aussterben und einem geistig höher entwickelten Platz machen wird –, vertritt auch Kaufman wie die anderen erwähnten Autoren ein pantheistisches Gottesbild (ähnlich dem schon im 17. Jahrhundert vom einflussreichen Philosophen Baruch Spinoza entworfenen), setzt also im Wesentlichen Gott und die Welt in eins. Ungelöst bleibt bei einem solchen rein immanenten Gottesbild die Frage nach der „Natur“ und dem „Woher“ dieser „letztgültigen Tendenz oder Macht, die sich selbst im Laufe eines Evolutionsprozesses herausbildet“. Da sich aber die Frage nach dem, was „vor dem Urknall“ war, wobei „vor“ nicht unbedingt zeitlich zu verstehen ist, auch in unserem evolutionären Weltbild stellt und weil sie auch im Rahmen unserer Logik mit ihrem Ursache-Wirkung-Denken, die ja auch ein Abbild der der Welt inhärenten Logik sein muss54, durchaus berechtigt ist und darum in neuester Zeit auch von Physikern gestellt wird55, und da wir überdies traditionell mit dem Begriff „Gott“ auch die Ursache der Welt bezeichnen (Schöpfergott), greifen, wie 72
ich meine, alle pantheistischen Gottesbilder zu kurz. Gott muss offenbar immer auch transzendent vorgestellt werden; er ist in der von uns erkennbaren physikalischen Wirklichkeit, aber er muss auch über sie und damit über die Grenzen unseres naturwissenschaftlichen Weltbilds hinausgreifen, sonst kann er nicht ihre letzte Ursache sein: Wir müssen Gott also panentheistisch56 denken. Dieser Voraussetzung genügen nun aber die Entwürfe von Jonas, Moltmann, Theißen, Dürr und anderen, in denen sie Gott als sowohl transzendenten wie immanenten Geist zu „definieren“ versuchen: Ausgehend von der Erkenntnis, dass Geist allgemein und im Besonderen auch der menschliche Geist immer an materielle Strukturen gebunden ist und dass auch er ein Produkt der Evolution ist, folgert der Philosoph Hans Jonas: „Und so muss er (der Mensch) jenem Geistfremden (der Materie) zu all den Eigenschaften, die ihn die Physik davon lehrt, noch die Fähigkeit zur Ermöglichung des Geistes zuerkennen. Denn wenn wir jetzt mit wohlerlaubter Metapher sagen, dass die Materie von Anbeginn schlafender Geist sei, so müssen wir hinzufügen, dass die wirklich erste, die schöpferische Ursache von schlafendem Geist nur wacher Geist sein kann, von potentiellem Geist nur aktueller. So führt uns denn die Selbsterfahrung des Geistes und zumal seines denkenden Ausgreifens ins Transzendente, als Teil des kosmischen Befundes, zum Postulat eines Geisthaften, Denkenden, Transzendenten am Ursprung der Dinge: als erste Ursache, wenn es nur eine gibt; als Mitursache, wenn es mehr als eine gibt.“57 Der Theologe Jürgen Moltmann führt in seinem sehr empfehlenswerten Buch „Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre“58 diese These, nämlich dass Gott als „Ursprung der Dinge“ der „wache“ Geist in und jenseits der Welt sein müsse, weiter aus, indem er neben den Ergebnissen der Naturwissenschaft auch die traditionelle christliche Vorstellung eines dreieinigen Gottes (Trinität: Vater, Sohn und Heiliger Geist als die drei Seinsweisen des einen Gottes) einbringt59 und so die Geschichte der Schöpfung, die Evolution, als Wirkungsgeschichte des Heiligen Geistes versteht: „Durch seinen Geist ist Gott selbst in seiner Schöpfung präsent. Die ganze Schöpfung ist geistgewirkt. Durch seinen Geist ist Gott auch in den Materiestrukturen präsent. Es 73
gibt in der Schöpfung weder geistlose Materie noch immateriellen Geist, denn es gibt nur informierte Materie. In diesem Sinn ist der gesamte Kosmos gottentsprechend zu nennen: Weil er durch Gott, den Geist, gewirkt ist und in Gott, dem Geist, existiert, darum bewegt und entwickelt er sich auch in den Energien und Kräften des göttlichen Geistes.“60 Und damit „meinen wir, dass wir jedes Einzelne als Teil des Ganzen und jedes Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen auffassen. Alle Geschöpfe sind Individuationen der Schöpfungsgemeinschaft und Manifestationen des göttlichen Geistes“61. Oder anders ausgedrückt: Alles, was ist, ist gewissermaßen eine Konkretisierung, eine Manifestation des göttlichen Geistes. Hier trifft sich Moltmann mit Gerd Theißen62, einem weiteren Theologen, der keine Berührungsängste mit der Naturwissenschaft hat: „Was aber ist jene geheimnisvolle letzte Wirklichkeit, auf die hin (in der Evolution) alle unsere organischen, intellektuellen und religiösen Strukturen Anpassungsversuche entwerfen? Die religiöse Tradition kennt nur einen angemessenen Begriff für sie: Gott. Er ist für sie das unbekannte Woraufhin aller Anpassungsversuche. Alle organischen, intellektuellen, sozialen, religiösen, ästhetischen Strukturen sind Hypothesen, um jene letzte Wirklichkeit unter irgendeinem Aspekt abzubilden, ihr zu entsprechen und ihr gerecht zu werden. Der ganze evolutionäre Weltprozess – von den kleinsten mikrophysikalischen Gegebenheiten bis hin zu den Galaxien, von Einzellern bis zum Großhirn, von den skurrilsten Mythen bis zu den differenziertesten theoretischen Systemen – tastet danach, immer adäquatere Anpassungsstrukturen an diese letzte Realität zu finden. Kurz: Die Welt ist eine Hypothese, um Gott gerecht zu werden.“ Ohne Zweifel versteht auch Theißen unter dieser „letzten Wirklichkeit“ Gott als den dem ganzen Kosmos innewohnenden Geist. Zu ähnlichen Vorschlägen – es sind ja neben Extrapolationen und Verallgemeinerungen aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild immer auch Spekulationen –, wie man sich im Rahmen des heutigen Weltbildes Gott vorstellen müsste, d. h. wie ein Gottesbild aussehen müsste, das uns heute etwas zu sagen hat, kommen auch manche Physiker, die sich zutrauen, über die engen Grenzen ihres Fachgebietes hinaus nach Zusammenhängen zu suchen. Stellver74
tretend für sie sei hier nur die Stimme von H.-P. Dürr63 erwähnt, der in einer Diskussion die Aussage des Theologen Wolfhart Pannenberg: „Gott ist Geist heißt nicht, dass er irgendein Bewusstseinswesen jenseits der Welt ist, sondern: Die Natur Gottes ist wie die alles durchdringende Luft, die überall gegenwärtig ist. Immanent und transzendent, der Weltgeist. Also im alttestamentlichen Sinn ‚Atem, Wind, ruach‘“ wie folgt ergänzt: „Was der Theologe ‚Atem Gottes‘ nennt, ist eine Grundstruktur, die auch in der naturwissenschaftlichen Beschreibung auftritt. Es gibt das Immaterielle im Gegensatz zum Materiellen gar nicht. Alles ist sozusagen ‚Atem Gottes‘. Das Wesentliche hinter allem ist also der Geist, der sich in der Evolution nach und nach konkretisiert. Evolution ist im Ganzen ein erkenntnisgewinnender Prozess, wobei für uns Menschen gilt, dass wir nur den Teil der Wirklichkeit erfassen, den wir fürs Überleben brauchen (Abbildtheorie).“ Was eben auch heißt, dass wir „den Geist“ nie vollumfänglich erkennen können. Meine eigenen Schlussfolgerungen und Spekulationen zu einem mit unserem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild verträglichen Gottesbild decken sich weitgehend mit jenen der zuletzt genannten Autoren: Wir können uns, grob gesagt, Gott als den kosmischen Geist, den Weltgeist, vorstellen, der sich selbst in der Evolution manifestiert. Bevor ich dies weiter entfalte, sind mir aber noch drei Präzisierungen wichtig: 1. Dass J. Moltmann im Wesentlichen an dem in der christlichen Dogmatik festgeschriebenen mythologischen trinitarischen Gottesbild festhält, obwohl er sonst durchwegs im heutigen Weltbild argumentiert, ist für mich unnötig und unverständlich. Wenn Gott der transzendent-immanente Geist ist, das umfassende geistige Prinzip also, das sich in der Welt durch die kosmische Evolution selbst konkretisiert und damit auch allem innewohnt, was ist, ist nicht einzusehen, warum wir ihn da noch in drei mythologische „Personen“ aufdröseln sollten: Gott als Geist ist einer. Der Heilige Geist ist Gott. Die Trinität mag als mythologisch-anthropomorphes Bild die noch in einem mindestens teilweise mythologischen Weltbild befangenen Christen vergangener Zeiten angesprochen haben, indem sie die Gotteserfahrung in drei Ebenen unterteilt hat: In der Schöpfung begegnet er uns als der „Vater“, im Mitmenschen, im Menschlichen überhaupt, als der 75
„Sohn“ und im Geistigen und Geistlichen eben als der ebenfalls personal gedachte „Heilige Geist“. Ganz abgesehen davon, dass das trinitarische Dogma in den Evangelien keine stichhaltige Begründung findet64, hat es im heutigen Weltbild einfach keinen Platz mehr; es trägt eher zur Verwirrung als zur Klärung des Gottesbegriffs bei, da es für heutige Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist. Mein Verzicht auf ein trinitarisches Gottesbild hat dann natürlich auch zur Folge, dass wir nicht darum herumkommen, auch die Person von Jesus als dem Christus neu zu „definieren“. 2. Ob die Evolution des Weltgeistes und damit des Weltganzen auf ein vorgegebenes Ziel hinsteuert oder einen Attraktor im Sinne der Chaostheorie hat, z. B. in Form des „Punktes Omega“ als Ziel einer „göttlichen Heilsgeschichte“, wie von Teilhard de Chardin postuliert, ist umstritten. Die heutige Evolutionstheorie zeigt ja klar auf, dass die Evolution auf allen Ebenen (kosmisch, biologisch, geistig) nicht auf ein von allem Anfang an vorgegebenes Ziel hinsteuert. Hingegen ist im Verlauf der Erdgeschichte der Trend zu immer komplexeren Strukturen bis hin zu geistbegabten, selbstbewussten und in ihrem Denken die vorfindliche Realität transzendierenden Lebewesen nicht zu übersehen, auch wenn die Evolution da gelegentlich wieder neu ansetzen musste und vielleicht auch in Zukunft wieder muss. Ich ziehe daraus den Schluss, dass der Weltgeist mit der kosmischen Evolution eben doch eine Art von Ziel verfolgt, nämlich sich selbst in dieser Welt zunehmend zu manifestieren und dabei immer adäquater zu konkretisieren, wobei die konkreten Ausformungen dieser Manifestation nicht von vornherein festgelegt, sondern „nur“ als Potentialität angelegt sind. Ob ihm eine adäquate Manifestation über die Spezies Mensch oder ein anderes Wesen „gelingt“, bleibe dahingestellt; die bisherige Evolutionsgeschichte der Erde zeigt, dass wohl auch der Mensch nicht „des Geistes letzter Schluss“ bleiben wird. Auch ein Physiker wie Paul Davies kann sich der Vorstellung einer in dieser Hinsicht zielgerichteten Evolution anschließen: „Aus der beobachteten Feinabstimmung der Naturgesetze, die gegeben sein muss, wenn sich im Universum bewusstes Leben entwickeln soll, folgt dann ganz eindeutig: Das Universum ist so von Gott entworfen, dass es das Entstehen von 76
Leben und Bewusstsein ermöglicht. Unsere eigene Existenz würde danach also einen wesentlichen Teil von Gottes Plan darstellen.“ 3. An dieser Stelle muss auch die Prozesstheologie von Alfred North Whitehead erwähnt werden.65 In der Prozesstheologie hat wie auch in unserem evolutionären Weltbild das Werden Vorrang vor dem Sein. Die Quantenphysik und vor allem auch die neueren Arbeiten über Chaos, Selbstorganisation und nichtlineare Systeme führten, wie schon erwähnt, zum Prozessdenken auch in den Naturwissenschaften: Offene Systeme, obwohl indeterminiert und scheinbar zufälligen äußeren Störungen ausgesetzt, können bekanntlich trotzdem geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten aufweisen. Es scheint also allgemeine Organisationsprinzipien zu geben, die das Verhalten von komplexen Systemen auf höheren Organisationsebenen bestimmen, Prinzipien, die neben den bekannten Naturgesetzen existieren. Im Mittelpunkt von Whiteheads Philosophie steht darum die Auffassung, Gott sei für die Ordnung der Welt verantwortlich, und zwar nicht durch direktes Handeln, sondern indem er die verschiedenen Möglichkeiten zur Verfügung stellt, die das Universum dann frei ist zu verwirklichen. Diese Möglichkeiten ortet er in elementaren Entitäten (einer Art von Monaden), worunter er „einzelne Vorgänge“, nicht dauerhafte, sondern raumzeitliche Größen versteht, eine jede – meist auf niedriger Ebene – ausgestattet mit geistigen Charakteristika wie „Erfahrung“, „Sehnsucht“ etc., also mit einer Art von Promentalität. Die physikalische Energie wäre dann eine Abstraktion aus einem Gesamtkomplex von physikalischer und geistiger Energie. Diese niedrige Ebene der Promentalität überbrückt die Kluft zwischen der Welt der Physik und der Welt des Geistes. Die elementarsten Entitäten im Universum – darunter können z. B. Elementarteilchen wie Quarks oder elementare Energieschwingungszustände wie Strings verstanden werden – haben also mentalistische (geistige) Eigenschaften. In einem moderneren Whiteheadianismus dient deshalb die Quantentheorie als Hilfsmittel, um die im Verlauf der Evolution zunehmende Manifestation von Geistigkeit formal zu beschreiben mittels einer in der Quantentheorie geläufigen „Verschränkung“ der promentalen „Quantenzustände“ der einzelnen 77
Entitäten. Die Quantentheorie wird so auf ein ontologisches System angewandt, das ab initio, von Beginn an, also nicht erst auf einer Ebene höherer Komplexität mentalistisch ist.66 Auch das Prozessdenken legt eine teleologische Sicht der Evolution nahe. Gott ist demnach das Prinzip der Kreativität, das die Entwicklung immer komplexerer geistbegabter Strukturen vorantreibt. Er wechselwirkt mit seiner in stetiger Evolution begriffenen Schöpfung in dem Sinne, dass er sich in ihr zunehmend manifestiert. Als Geist ist Gott gegenwärtig im Naturgeschehen, in der Geschichte und im Leben der Menschen, aber immer bleibt er auch ein Gegenüber, transzendiert als Potentialität seine werdende Konkretion. Gott ist also mehr als die Innenseite der Evolution oder das Selbst der Welt. Somit ist Gott bei Whitehead nicht ein selbst unbewegter Beweger, sondern seine Konkretion – wie er in der Welt in Erscheinung tritt – evolviert selbst mit der Welt. Und: In der „Vergottung“ der Welt erreicht die Schöpfung schließlich ihr letztes Ziel. Es ist darum „genauso wahr zu sagen, dass Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, dass die Welt Gott erschafft“67. In diesem Sinne nimmt Gott teil am Schicksal der Welt, bleibt von ihm nicht unberührt. Dies ist ja im Prinzip auch die Sichtweise des Neuen Testaments. Aber das heißt dann auch, dass Gott der Geist sich selbst im Verlauf der Evolution, also seiner Konkretisierung in der Welt, zusammen mit der Welt verändert, selbst evolviert. Sicher ein ungewohnter Gedanke für Christen! Inakzeptabel für mich ist zwar nicht diese Vorstellung, die aus der Prozesstheologie zwingend folgt, sondern wenn in diese Aussage die Gleichsetzung von Gott und Welt, also wiederum ein Pantheismus hineininterpretiert wird, wie dies Whitehead von seinen meist dem theologischen Lager angehörenden Gegnern gerne unterschoben wird. Da Gott aber auch in der Prozesstheologie Transzendenz in Form eines „Überschusses“ von Potentialität zugeschrieben wird, also von Potentialität, die nicht in der Welt konkretisiert wird, ist zu folgern, dass nicht Gott „selbst“, sondern eben „nur“ seine Konkretisierung in der Welt und damit natürlich nur unser Gottesbild der Evolution unterliegt. Nach diesen Ergänzungen kann nun ein Gottesbild, von dem ich behaupte, dass es sowohl mit unserem evolutionären Weltbild als 78
auch mit den wesentlichen biblischen Grundlagen verträglich ist (was noch zu zeigen sein wird), in seinen Grundzügen mit folgenden Thesen umschrieben werden: • Gott ist Geist, der „Weltgeist“, der sowohl transzendent wie auch in der Welt immanent ist. • Gott als der Geist umfasst auch die Ursache seiner selbst, ist also selbst nicht mehr auf ein weiteres Prinzip zurückzuführen. In diesem Sinne ist er die „letzte Wirklichkeit“, der „Urgrund allen Seins“. • Gott als der Geist ist einer, eben der Weltgeist. • Gott als der Geist konkretisiert und manifestiert sich in seiner Schöpfung. In dieser unserer Welt wirkt er im kosmischen Evolutionsprozess als Potentialität, als ermöglichender Geist. Indem er sich selbst mit der evolvierenden Welt zunehmend konkretisiert, wirkt er kreativ: Gott als der Geist ist kreativ. • Die Welt hat als einzigen Zweck Gott gewissermaßen als „Bühne“ für seine Konkretisierung zu dienen. Gott und seine Schöpfung, unsere Welt, sind so wechselseitig aufeinander bezogen. • In diesem Sinne sind auch Energie und Materie von einfachsten zu kompliziertesten Strukturen in steigendem Maße „geistbegabt“: Gott „wohnt seiner ganzen Schöpfung ein“ (um es in Theologensprache auszudrücken). • Auch der menschliche Geist ist eine im Evolutionsprozess entstandene Anpassungsstruktur an den Weltgeist und damit mit Gott, dem Weltgeist wesensverwandt, aber als sein Abbild natürlich bloß eine „Teilmenge“ desselben, so etwas wie Geist in nuce. • Da selbstbewusster Geist immer komplizierte Netzwerke „elementargeistiger“ materieller Strukturen (z. B. das neuronale Netzwerk des Gehirns) voraussetzt und wir annehmen können, dass Gott als der Geist eine Art von „höherem Selbstbewusstsein“ besitzt – der selbstbewusste menschliche Geist ist ja als evolutionäre Anpassungsstruktur an den Weltgeist bloß eine beschränkte Teilmenge desselben –, ist das, was wir heute unter „höheren Lebensformen“ verstehen, eine Voraussetzung für die fortschreitende Manifestation des Geistes in der Welt. Zusammen mit der Tatsache, dass in der Geschichte der Evolution ein Trend zum Leben unübersehbar ist, legt diese Feststellung nahe, dass dem Geist dieser Trend zur Evolution von Leben im Allge79
meinen und insbesondere hin zu geistbegabten „höheren“ Lebensformen eigen ist; oder, um es anthropomorph auszudrücken, dass Gott als der Geist das Leben „will“, um sich in ihm, theologisch ausgedrückt, zu „inkarnieren“. Mit anderen Worten: Die kreative Potentialität Gottes zielt auf geistbegabtes Leben hin. In diesem Sinne ist Gott das „Woraufhin“ aller evolutionären Anpassungsversuche. • In den bewussten Lebewesen (heute: in uns Menschen) wird sich der Weltgeist seiner selbst bewusst und kann sich so auf rein geistiger Ebene, d. h. ohne Notwendigkeit einer parallel laufenden weiteren Komplexifizierung materieller Strukturen, sozusagen selbständig weiter konkretisieren und entwickeln (Evolution auf der kulturellen Ebene: Abstraktes Denken, Mathematik, Philosophie, Kunst, Religion ...). Insofern hat die Konkretisierung des Geistes begonnen, sich von der Evolution der materiellen biologischen Strukturen mit ihrem Prinzip vom „Fressen und Gefressenwerden“ „abzukoppeln“, wobei nun auch humanisierende geistige Werte (z. B. Altruismus) für das Überleben, Befinden und Selbstverständnis des Menschen wichtig werden, indem sie sich als Selektionsvorteil erweisen. Gott der Geist konkretisiert sich in Richtung Humanität, in diesem Sinne verkörpert er einen Trend zum „Guten“. • Da die Evolution (Schöpfung) als ein anhaltender Prozess zu verstehen ist und sich Gott als der Geist in der Welt mit fortschreitender Schöpfung zunehmend konkretisiert und damit auch immer wieder neu offenbart, kann Gott selber nicht länger als gänzlich unveränderlich („ewig“) gedacht werden, sondern er ist als in unaufhörlicher Selbst-Schöpfung begriffen, als ein lebendiger und sogar werdender Gott zu verstehen. Gott selbst oder zumindest das Bild, das wir uns von ihm machen können, evolviert in Wechselwirkung mit seiner Schöpfung. Ein Gottesbild, wie es ja auch die traditionellen biblischen Gottesbilder sind, eine bildhafte menschliche Vorstellung von Gott also, die aber im Kontext unseres heutigen naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes verständlich ist und Sinn macht, könnte demnach, in einer einzigen kurzen These zusammengefasst, so aussehen: 80
Gott ist der transzendent-immanente Geist, das umfassende, kreative geistige Prinzip also, das, indem es sich durch die kosmische Evolution von Energie über Materie und Leben zu Geist in der Welt als seiner „Schöpfung“ zunehmend selbst konkretisiert, allem, was in der Welt ist, innewohnt und sich so in den materiellen und geistigen Strukturen der Welt manifestiert und dabei dem menschlichen Geist als seinem selbstbewussten Abbild erkennbar wird. Es sei hier nochmals betont: Gott als Geist ist mehr als bloße kreative naturgesetzliche Evolutionsstrategie. Dies wäre ja ein denkbar schweigsamer, kalter Gott, ein Gottesbild, das es niemals vermöchte, Menschen die Existenzangst zu nehmen und ihnen trotz schmerzvoller Erfahrungen Trost, Grundvertrauen in ihre Existenz und Sinn zu vermitteln. Auch spezifisch menschliche Formen des Fühlens und Denkens, humane geistig-seelische Ausprägungen des Menschen wie Liebe, Mitleid, Sehnsucht, Gerechtigkeitssinn, Schönheit sind ja evolutionäre „Abbildungen“ des göttlichen Geistes. Darum meint Kaufman: „Die göttliche Kraft, die uns unser menschliches Dasein gab, muss konzipiert werden als Kraft, die von der des menschlichen Geistes selbst nicht zu trennen ist, dessen schöpferische Aktivitäten die Kulturen erzeugt, die das menschliche Leben menschlich machen und durch sie sowie mit ihr arbeitet.“68 Das evolutionäre Gottesbild hat also nicht zuletzt auch eine „humanisierende“ Funktion. Also: Wenn im evolutionären Gottesbild von Gott als dem Geist die Rede ist, der sich in der Welt, insbesondere in ihren komplexen Strukturen konkretisiert, so steht Geist – das dürfte bis hierher klar geworden sein – nicht bloß für die mathematisch-naturgesetzlichen Hintergründe, nach denen die komplexen Strukturen der Schöpfung offensichtlich aufgebaut sind, also für die sozusagen „männlichen“ Eigenschaften des Geistes, sondern auch und sogar in grundlegenderem Maße für seine schöpferischen, Leben schaffenden, humanisierenden, also anthropomorph ausgedrückt: seine „weiblichen“ Wesenszüge. Ob man darum eher von einer „Geistin“69 reden sollte ... ? Im Folgenden werde ich dieses Gottesbild mit „evolutionäres Gottesbild“ oder synonym mit „Weltgeist“, „Gott als der Geist“ oder einfach „Geist“ bezeichnen. 81
7. Spiritualität – in der Mystik Gott den Geist unmittelbar erfahren Ich glaube einfach, dass irgendein Teil des menschlichen Selbst oder der Seele den Gesetzen von Raum und Zeit nicht unterliegt. Carl Gustav Jung Wenn sie wüssten, was die vierte Dimension in Wahrheit ist: die Schau des Unsichtbaren, die Sehweise der Ewigkeit! Dom Helder Camara
Nochmals: Gott mit der Welt, in der wir leben, zusammenzudenken hat für uns Menschen eine existentielle Bedeutung. Nur ein mit unserem Weltbild verträgliches Gottesbild kann uns einen einleuchtenden Sinnhorizont des Weltganzen und unserer eigenen Existenz vermitteln, uns also unsere Bestimmung im Rahmen der Evolution der Welt und des Lebens als zunehmender Konkretisierung des Geistes und damit Gottes aufzeigen. Gott erkennen ist so unabdingbar für ein sinnerfülltes menschliches Dasein im Rahmen der kosmischen Ordnung. Da Gott der Geist dieser unserer Welt, seiner Schöpfung, „innewohnt“, können wir über alle unsere Erfahrungen mit und in dieser Welt zu ihm in Beziehung treten. Gott erfahren heißt demnach, unsere Welt und insbesondere das Leben erfahren, wobei wir uns natürlich immer bewusst sein müssen, dass Gott mehr als der unserer Erfahrung zugängliche Teil des Weltgeistes ist. Zugang zu Gott finden wir also gerade nicht durch eine übernatürliche Offenbarung, wie in der christlichen Tradition immer wieder behauptet, sondern allein über seinen der ganzen Schöpfung innewohnenden und sich uns in ihr natürlicherweise offenbarenden Geist: „Die religiöse Wende besteht darin, dass wir unser Leben deshalb als sinnvoll erleben, weil es Antwort auf den objektiven Sinngehalt der Wirklichkeit sein darf.“70 Unsere diskursive, auf naturwissenschaftlich-philosophischer Ebene wahrgenommene Beziehung zur Welt im uns erkennbaren 82
Ganzen hat uns zum Entwurf eines Weltbilds geführt, das uns die Annahme einer fundamental geistigen Natur der Weltwirklichkeit und damit eine Vorstellung von Gott als Weltgeist nahe legt. Diese letztendlich geistige Natur der ganzen Wirklichkeit bedeutet, wie bereits ausgeführt, dass Gott als derselbe Geist allen Teilen seiner Schöpfung und damit auch dem Menschen „innewohnt“, wobei dieser Geist, nochmals sei es betont, infolge seiner Transzendenz natürlich mehr ist als seine Manifestationen, die wir in den Strukturen dieser Welt wahrnehmen können. Dieser „Gott in und um uns“ lässt sich demnach zu Recht auch in unserem evolutionären Weltbild bildhaft so charakterisieren, wie dies in der mystischchristlichen Tradition geschehen ist, z. B. als „Meer ohn Grund und Ende“ oder als „Luft, die alles füllet“. Die Aussagen etwa der Mystiker Jakob Böhme: „Mach nur die Augen auf, und du wirst sehen: Die Welt ist von Gott erfüllt“ und Angelus Silesius: „Halt an! Wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir. Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für“ widerspiegeln dasselbe Bild eines panentheistisch verstandenen Geist-Gottes. Die letztendlich geistige Natur der gesamten Wirklichkeit hat somit zur Folge, dass es neben der diskursiven, auf der Subjekt-Objekt-Spaltung beruhenden Welt- und damit Gotteserkenntnis auch eine unmittelbare, intuitiv-ganzheitliche Form der Erkenntnis bzw. Gottesbeziehung geben muss, weil ja der Geist einer ist und jede seiner Manifestationen, also auch der menschliche Geist, ein Teil von ihm ist. Nicht in logische Sprache gefasste Aussagen wie in der Wissenschaft, sondern Bilder, Symbole, Mythen und Rituale sind die Ausdrucksformen, in denen Menschen die ihnen solcherart zugefallenen Erkenntnisse zu meist anthropomorphen Deutungen der Wirklichkeit verarbeiten. Diese intuitive Form der Erkenntnis, traditionell als mystische Erkenntnis bezeichnet, ist ohne Zweifel die fundamentalere und entwicklungsgeschichtlich ältere, wie die mythologischen Weltbilder antiker Kultur- und auch heutiger Naturvölker zeigen, in denen mythische Elemente dominieren und sich die intuitiv wahrgenommene „Beseeltheit“ der Natur z. B. in der Verehrung von Naturgottheiten niedergeschlagen hat. Die intuitive Erkenntnis ist zwar in unserer Welt infolge der geistigen Evolution hin zu abstrakterem diskursivem Denken etwas in den Hintergrund getreten, spielt aber dennoch 83
eine wesentliche Rolle, nicht zuletzt auch bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, worauf ich ja bereits im 5. Kapitel hingewiesen habe: Die Geschichte der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse macht deutlich, dass sich die meisten der bedeutenden Entdeckungen auf intuitive Einfälle zurückführen lassen, die erst im nachhinein mit wissenschaftlicher Logik (z. B. mathematischen Methoden) hergeleitet und begründet werden konnten. Der Hirnforscher Ian Tattersall stellt dazu fest71: „Selbstverständlich bildet die Intuition nach wie vor einen Grundpfeiler unseres Urteilsvermögens. Das abstrakte Denkvermögen kam nur dazu. Beispielsweise ist ein intuitives Erfassen der Beziehungen zwischen Objekten und Ideen als Voraussetzung für wissenschaftliche Kreativität mit ziemlicher Sicherheit ebenso wichtig wie die symbolische Darstellung von Zusammenhängen. Letztlich ist es die einmalige Kombination von beidem, die Wissenschaft, Kunst oder Technik erst möglich macht.“ Übrigens: Von daher erhält auch die Tiefenpsychologische Schriftauslegung, wie sie vor allem von Eugen Drewermann bekannt gemacht wurde, ihre Berechtigung.72 Auch unsere christliche Religion, die als Buchreligion durch die Weitertradierung von häufig mythologisch formulierten Glaubensaussagen sozusagen auf einem „ursprünglicheren“ Entwicklungsstand „eingefroren“ ist, ist ja im Wesentlichen auf intuitiv-mystischen Erkenntnissen aufgebaut, was sich deutlich in ihrer Bildersprache und ihren mythologischen Aussagen zeigt. Schon der Kirchenvater Origenes (gest. 254) erkannte darum die Bedeutung, die der spirituellen, d. h. der allegorischen und der typologischen Schriftauslegung zukam. Die Allegorie sieht hinter den Buchstaben und den Sprachbildern eines Textes eine tiefere geistige Aussage. Die Typologie erkennt in den Geschichten und Personen Typen, d. h. Urbilder, die den Weg des Menschen zu Gott bzw. zu sich selbst beschreiben. Die tiefenpsychologische Schriftauslegung nimmt nun im Prinzip diese in den letzten Jahrhunderten mehr oder weniger verloren gegangene Methode auf der Basis der heutigen Tiefenpsychologie von C. G. Jung wieder auf: Ausgangspunkt für die tiefenpsychologische Schriftauslegung ist die Erkenntnis, dass die Autoren der Bibel Geschehenes und Erfahrenes bildhaft beschreiben, wobei in diesen bildhaften Geschichten auch immer schon die Deutung des be84
schriebenen Geschehens aus der Optik des Glaubens mit enthalten ist. Die Bilder und Symbole, denen sich die biblischen Autoren bedienten, sind im kollektiven Unbewussten der menschlichen Seele angelegt und bei allen Menschen und zu allen Zeiten im Prinzip dieselben. C. G. Jung hat erkannt, dass die konkreten Bilder, mit denen sich das menschliche Unbewusste ausdrückt, auf den Archetypen beruhen, einer Art von Strukturmustern, in denen sich Urerfahrungen der menschlichen Entwicklungsgeschichte bis in die tierische Vergangenheit zurück angesammelt haben. Die Autoren der Mythen und Legenden der Bibel benutzten unbewusst solche Bilder, um ihre Glaubenserfahrungen auszudrücken und weiterzugeben. Da im Unbewussten des Lesers oder Hörers dieser bildhaften Geschichten dieselben archetypischen Bilder und Symbole wie bei den Autoren angelegt sind, „verstehen“ sie deren Glaubensaussagen unmittelbar intuitiv, also ohne vernünftig-sachliche Analyse des Textes. Mythen und Legenden wollen also gar nicht wortwörtlich geglaubt, sondern eben „erlebt“, d. h. unbewusst erfahren werden: „Wir müssen also nicht etwas für wahr halten oder daran glauben. Indem wir eine Geschichte hören, werden wir in sie hineinverwickelt. Wir sehen uns neu, wir verstehen und haben so schon teil an der Wahrheit der Geschichte.“73 Da sich ganz ähnliche archetypische Bilder in gleicher Weise auch in unseren Träumen bemerkbar machen, verwendet Drewermann in seiner tiefenpsychologischen Schriftauslegung ähnliche Methoden, wie sie in der Tiefenpsychologie für die Traumdeutung angewandt werden.74 Wir Menschen verfügen also schon aufgrund unserer Herkunft und Natur, nämlich der ontologischen Entsprechung zwischen dem menschlichen und dem Weltgeist, über einen direkten Zugang zu Gott dem Geist, der zumindest bis heute über zwei „Wege“ möglich ist: Sowohl der diskursive, vernunftgeleitete analytische Weg des Naturwissenschafters als auch der intuitiv-ganzheitliche, spirituelle Weg des Mystikers haben ihre Berechtigung und führen beide, sich ergänzend, zu Gott. Denn es gibt nur eine Wirklichkeit, und alle dem Menschen zur Verfügung stehenden Erkenntnisweisen entsprechen notwendigerweise dieser einen geistig-göttlichen Wirklichkeit. In mystischen Erlebnissen kommt man also unmittelbar und 85
ganzheitlich zur Erkenntnis, dass sich im Erkennenden und im Erkannten derselbe eine Geist manifestiert, dass sich beide in ihrer letzten Wirklichkeit also demselben Geist zu verdanken haben. Der Beziehungscharakter jeglicher Erkenntnis ist so unübersehbar. Und: Dass eine solche Beziehung zwischen letztlich „Seelenverwandtem“ in traditioneller Theologensprache als „Liebe“ in ihrem umfassenden Sinn bezeichnet werden darf, dass also mystische Erkenntnis immer „liebende Erkenntnis“ der Welt ist. Teilhard de Chardin sagte dazu einmal: „Im Grunde kann keine Erkenntnis ohne Liebe leben“, und schon Paulus stellte ja fest: „Wenn ich ... wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“75 Schleiermacher, der große Theologe des 19. Jahrhunderts, bemerkte dazu treffend: „Religion ist Anschauung und Gefühl“, und der Astrophysiker Arnold Benz umschreibt den Beziehungsaspekt der intuitiv-ganzheitlichen Erfahrung als „teilnehmende Wahrnehmung“76. Ausgerechnet in der von den Kirchen immer wieder der Häresie verdächtigten Mystik mit ihrer jahrhundertealten Tradition dürfte also eine unserem heutigen evolutionären Welt- und Gottesbild angemessene Form von Spiritualität zu finden sein!77 Gerd Theißen78 hat es unternommen, die mystischen Erfahrungen von Wirklichkeit mit den Begriffen „Resonanz- und Absurditätserfahrungen“ etwas differenzierter zu erfassen. Indem er den aus der Physik bekannten Begriff der Resonanz als Analogie verwendet, gelingt es ihm, das Wesen mystischer Erfahrung auch dem unser heutiges Weltbild bestimmenden diskursiven Denken zugänglich zu machen. Unter Resonanz versteht man bekanntlich den Effekt, dass ein in einer bestimmten Frequenz schwingendes System ein zweites, zunächst ruhendes System, dessen Eigenfrequenz mit der Frequenz des schwingenden Systems übereinstimmt (Resonanzbedingung), zum Schwingen anregt, dass also eine Übertragung von Energie zwischen zwei Systemen unter Resonanzbedingungen besonders leicht vonstatten geht (Resonanz ist u. a. die Grundlage der Laserphysik). Im mystischen Erkenntnisprozess ist die Übereinstimmung der „Frequenzen“ von „Sender“ (in der Mystik erfahrene Wirklichkeit) und „Empfänger“ (menschlicher Geist) durch ihre Zugehörigkeit zum selben, eben dem einen 86
Weltgeist gegeben, also durch die ontologische „Strukturverwandtschaft“ aller Manifestationen des Geistes in der Welt. Die Analogie mit der Energieübertragung in einer physikalischen Resonanz macht zudem deutlich, dass der Mensch in der mystischen Erfahrung „von den resonanzfähigen Strukturen der Wirklichkeit mit Macht ergriffen wird“, dass er also von ihnen in einer plötzlichen Erkenntnis existentiell angesprochen und ihnen gegenüber in eine antwortende Haltung versetzt wird, was bekanntlich in traditioneller mystischer Sprechweise als „Erleuchtung“ oder „Peak-experience“ (Gipfelerlebnis) bezeichnet wird und meist einen Wendepunkt in seinem Leben bedeutet. Theißen bezeichnet zudem, da ja „Resonanz nicht das Normale, sondern das Unwahrscheinliche und Wunderbare ist“, das Ausbleiben mystischer Erfahrung, das „Verstummen von Resonanzerfahrung“ und die „verweigerte“ Resonanz als Absurditätserfahrung. Unter Religion, also Beziehung zu Gott, kann man deshalb in unserem evolutionären Gottesbild ganz allgemein „Sensibilität für Resonanz und Absurdität der Wirklichkeit“ verstehen. Spirituelle Erfahrungen bestehen somit im „Umhergetriebensein von Resonanz- und Absurditätserfahrungen, Betroffensein von überwältigendem Sinn und niederdrückender Sinnlosigkeit, vom mysterium fascinosum et tremendum der Wirklichkeit“79. Spiritualität erschöpft sich aber nicht in spirituellen Erfahrungen, also in der bloßen Sensibilität für Resonanz und Absurdität, sie führt zur „Identifikation mit dem Resonanzfeld der Wirklichkeit und (damit zum) Widerstand gegen die Absurdität“80. Wir erinnern uns: „Gott“ muss ja auch nach Definition des Psychologen Schellenbaum ein „Wirkwort“ sein! Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang im Blick auf traditionelle Glaubensaussagen angemerkt: Weil in solchen spirituellen Erfahrungen auch die traditionellen, meist anthropomorphen religiösen Vorstellungen und Symbole ihre empirische Basis haben, ist es nachvollziehbar, wie „im Mythos die mannigfachen Appellqualitäten der umgebenden Wirklichkeit zu handelnden Gottheiten gesteigert wurden. Der Konflikt von Resonanz und Absurdität wird zum Kampf zwischen Gott und Satan, zwischen Gottes Sohn und den teuflischen Dämonen, zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis.“81 Wenn wir nun mit Theißen im evolutionären Weltbild Spiritua87
lität als Beziehung zu Gott mit Offensein gegenüber Resonanzund Absurditätserfahrungen definieren, hat dies natürlich auch Auswirkungen auf unser Gebetsverständnis: Zum einen: Da Gott ja allem – auch uns – „innewohnt“, leben wir eigentlich in einer permanenten Beziehung zu Gott, und unser Offensein sollte sich nicht bloß auf bestimmte Gebetszeiten beschränken. Achtsamkeit – so die Bezeichnung der Mystiker für diese Grundhaltung – sollte uns durch das ganze tägliche Leben und Handeln begleiten. Oder anders ausgedrückt: Unser ganzes Leben sollte ein „Gebet“, eine innere Zwiesprache mit Gott sein. Und weil Gott ja nicht eine willkürlich von außen ins Leben eingreifende Kraft ist, heißt das zum andern: Ein Gebet darf nicht magisch missverstanden werden als wortreiches Bemühen des Beters, Gott zu einem gewünschten „Handeln“ zu veranlassen. Ein Gebet setzt also nicht Gott in Bewegung, kann ihn nicht in Bewegung versetzen, sondern den Beter selbst. Offensein, Achtsamsein heißt somit nicht reden, sondern vor allem hinhören: „La prière: Arrête, écoute ... Dieu te parle …“ („Das Gebet: Halt inne, hör zu ... Gott spricht zu dir“) lautete darum der Slogan einer vor bald zwanzig Jahren in der Kathedrale Notre-Dame in Paris durchgeführten Gebetswoche. Entscheidend ist also die mystische Dimension eines Gebets, die Erfahrung, nicht eine Sache des Verstandes. Die „Antwort“, die einem beim „Hören“ in die Stille zufallen kann, besteht vielleicht aus einer veränderten Sicht der Dinge, aus einer Einsicht, aus einem Impuls zu neuem Handeln ... aus einem „Aha-Erlebnis“ eben. Die Auffassung, dass ein Gebet eher eine Meditation denn ein Wortereignis sein sollte, deckt sich übrigens mit Jesu Aussagen in seiner Bergpredigt: „Wenn ihr aber betet, sollt ihr kein unnützes Geschwätz machen wie die Heiden; denn sie meinen, dass sie um ihrer vielen Worte willen Erhörung finden werden. Seid ihnen nun nicht gleich; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,7.8). Da sich Gott der Geist in seiner Schöpfung evolutionär „inkarniert“ und sich so in der Schöpfung manifestiert, dürfte insbesondere auch einer Schöpfungsspiritualität im Sinne einer Naturmystik als „zweitem Weg“ der Welt- und Gotteserkenntnis im evolutionären Welt- und Gottesbild eine besondere Rolle zukommen. Die Schöpfungsspiritualität sieht den Menschen ja als einen Teil des 88
ganzen Kosmos, „eingebettet in die Welt der Sterne, der Tiere und Pflanzen. Sie ist nicht nur die älteste religiöse Tradition, die bei allen Naturvölkern zu finden ist. Sie ist auch die Grundlage unserer christlichen Spiritualität. Gott, der Schöpfer, kann in seiner Schöpfung erkannt und erfahren werden, wie schon Paulus im Römerbrief (Röm 1,20) schreibt.“82 Der Mystiker will die Welt und damit Gott erkennen durch Vereinigung mit dem kosmischen Geist, mit dem Allumfassenden. Schöpfungsspiritualität in Form von Naturmystik sucht also die Offenbarung des göttlichen Seins besonders in der Schöpfung, in der liebenden Einswerdung mit der Natur. Johannes Thiele schreibt dazu83: „Wie die mittelalterliche Mystik eine Begegnung mit dem Göttlichen in der Seele zu erreichen suchte, so ist die Naturmystik spätestens seit der Renaissance darauf aus, die Begegnung mit dem Göttlichen in der Natur zu finden. Was in der Seele wirkt, der göttliche Funke, um es mit einem Begriff von Meister Eckhart zu sagen, kann die intimste Natur sein, die sich überhaupt denken lässt: die Natur, die Gott selbst bewirkt und beseelt. Und was in der Natur wirkt, kann wiederum in der Seele so erfahren werden, dass man die Verbundenheit mit dem vom göttlichen Geist durchwehten Grund allen Seins erlebt.“ Als Resonanz- und Absurditätserfahrung ist dieses Allgefühl aber nicht nur erleuchtende und beglückende Erfahrung, sondern ebenso Erschrecken, Bestürzung und Verwirrung. Und Thiele weiter: „Die Erde, so sagt uns die Mystik – die aus sich selbst nach einem geheimen Plan der Evolution Schönheit entstehen lässt, sie aber auch wieder in ihren Staub zurücknimmt – offenbart in dieser ständigen Schöpfung, im Werden und Vergehen, eine Transparenz, eine Durchsichtigkeit, in der wir die letzte wirkliche Kraft erkennen können, aus der wir kommen und in die wir zurückkehren eines nicht mehr fernen Tages: die Liebe Gottes.“ Da für den Naturmystiker alles in der Welt heilig ist, weil alles vom Geist-Gott durchdrungen ist, ist in der Schöpfungsspiritualität die Ehrfurcht der Schlüssel, „um in allen Dingen Gott zu entdecken, um die Dinge zu achten und behutsam mit ihnen umzugehen“, die Ehrfurcht natürlich auch dem Menschen als „Gottes Ebenbild“ gegenüber. Gelebte Schöpfungsspiritualität führt, um nur einige wichtige Punkte herauszugreifen, zu einem Leben im 89
Einklang mit den Rhythmen der Natur und mit der inneren „biologischen Uhr“ des Menschen; sie äußert sich in der Achtsamkeit: „Wer achtsam lebt, der lebt in Beziehung mit sich selbst, mit der Schöpfung, mit Gott und mit den Menschen“; und sie „hat nicht den Asketen als Ziel menschlicher Selbstwerdung vor Augen, sondern den schöpferischen Menschen: Wenn Gott in erster Linie als Schöpfer gesehen wird, dann besteht auch die höchste Würde des Menschen darin, dass er schöpferisch tätig sein kann“84. Ein Beispiel für eine naturmystische Betrachtung, die uns unser Einssein mit der ganzen Schöpfung, in der alles vom gleichen Geist gewirkt und durchwirkt ist, erleben lässt, indem sie uns klar vor Augen führt, dass wir mit unserer gesamten Umwelt zu einem Ganzen verbunden sind, soll das eben über die Naturmystik Gesagte etwas verdeutlichen85: Die Luft, die wir ein- und ausatmen, bringt Sauerstoff von außen in unseren Organismus und führt Kohlenstoff, der zu unserem Körper gehörte, ab. Der Kalk in unserem Skelett wird ständig mit Kalk aus der Erde ausgetauscht. Ständig sind wir auf Energiezufuhr von außen angewiesen und geben die „Schlackenstoffe“ wieder nach außen ab. Auch das, was uns als Person vermeintlich nach außen abgrenzt, unsere Haut, ist nicht dicht, nicht nur eine Grenze, sondern erlaubt einen Austausch von Gasen und Flüssigkeiten zwischen außen und innen. So werden auch die meisten unserer Körperzellen ständig mit von außen zugeführtem „Material“ (letzten Endes Sternenstaub!) erneuert; mein Körper heute besteht darum nicht mehr aus denselben Molekülen wie vor zwanzig Jahren. Darüber hinaus haben wir über unsere Gene nicht nur Anteil an der ganzen Menschheit, sondern auch an den Tieren und Pflanzen. Und über das kollektive Unbewusste sind auch unsere Seelen mit den Seelen aller Menschen verknüpft. So kann uns die Erkenntnis ergreifen: Als Menschen sind wir kleine lebende Teile im großen kosmischen Strom des Lebens, von allem, was wird, ist und vergeht. So haben wir Anteil am Geist und an der Materie von allem, was ist, und damit am Geist-Gott, der sich in seiner Schöpfung offenbart. Naturmystische Erlebnisse lassen uns also im Innersten existentiell betroffen und herausgefordert erkennen, dass wir als Teil des irdischen Lebensgeflechts Anteil am kosmischen Phänomen Leben 90
haben, in dem sich Gott, der Weltgeist, manifestiert und so selber verwirklicht, und dass alle Lebensformen als Teile dieses einen göttlichen Lebenswillens wahrgenommen und geachtet werden. Wir erleben so das Grundvertrauen, dass wir in unserem Sosein angenommen sind und, nicht zuletzt auch im Blick auf den uns aufgehenden Sinn des Ganzen, dass wir getragen vom göttlichen Geist allen Widerwärtigkeiten ins Auge sehen und sie getrost mit allem anderen Leben teilen können. Auch dass demzufolge unsere Aufgabe als selbstbewusste Lebewesen darin besteht, das Leben zu fördern und zu schützen, um so zur weiteren „Inkarnation“ von Gottes Geist beizutragen, kann eine Frucht naturmystischer Erkenntnis sein.86 Gerd Theißen bringt die Naturmystik so auf den Punkt: „Unser Lebenswille findet Resonanz in allem fremden Willen zum Leben. Diese Entsprechung zwischen unserem Lebenswillen und dem aller Kreaturen kann auch so erlebt werden, dass man die ganze Evolution vom Wasserstoff bis zu den kompliziertesten Organismen als Aufforderung verspürt, diese Entwicklung zu höherer Organisation fortzusetzen: als Steigerung des Lebens, als Entwicklung differenzierterer Gestaltung in der Kunst, als Entwurf verbesserter Erkenntnisse in der Wissenschaft, als Begründung lebensschützender Institutionen. Das eigene Leben erscheint dann als Echo einer umfassenden Tendenz des Lebens nach Mehr-als-Leben.“87
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8. Evolutionäres Gottesbild und christlicher Gott – ein Widerspruch? Relativ am vorurteilsfreiesten ist derjenige, der zugibt, dass er Vorurteile hat, der sich bemüht, diese zu entdecken, der aber weiß, dass ihm das nie ganz gelingen kann. Hans Lenk
Der theistisch gedachte Gott, wie er uns in den meisten biblischen Gottesbildern entgegentritt, ist, wie ich aufgezeigt habe, in der heutigen Zeit ein anachronistischer Fremdkörper. Es macht im Kontext unseres heutigen evolutionären Weltbilds offensichtlich keinen Sinn mehr, sich Gott rein transzendent und anthropomorph, d. h. als eine außerweltliche, unveränderliche und mit ins Absolute gesteigerten menschlichen Eigenschaften ausgestattete Person vorzustellen, als einen allmächtigen und absoluten Weltenherrscher, der nach Belieben Naturgesetze außer Kraft setzen und von „oben“ her ins Geschick auserwählter Völker oder einzelner Menschen eingreifen kann. Auch wenn im evolutionären Gottesbild angenommen wird, dass Gott als Weltgeist in ständiger kreativer Wechselwirkung mit seiner sich entwickelnden Schöpfung steht, heißt das gerade nicht, dass er willkürlich in Naturvorgänge oder in die Menschheitsgeschichte eingreifen könnte, sondern dass er die Welt eben als kreative Potentialität der Evolution über die Wechselwirkung zwischen Neuem und schon Vorhandenem ihrem „Ziel“, einer fortschreitenden Manifestation seiner selbst als Geist, näher bringt und dabei auch selbst der Naturgesetzlichkeit unterliegt, die ja auch von seinem Geist ist. In diesem Punkt deckt sich das evolutionäre Gottesbild mit unserer alltäglichen Erfahrung, die in unübersehbarem und doch von vielen Gläubigen hartnäckig verdrängtem Gegensatz zum traditionellen „christlichen“ Glauben steht, dass Gott überall willkürlich einzugreifen vermöchte (siehe auch Anmerkung 49). Gott kann aber durchaus weiterhin als Schöpfer und „Großer Beweger“ der Welt verstanden werden, insofern er eben als krea92
tive Potentialität im ganzen kosmischen Evolutionsprozess wirkt. Und natürlich auch insofern, als sich einzelne Menschen aus Einsicht in die großen Zusammenhänge unserer Welt oder in der Folge von mystischen Erfahrungen dazu aufgerufen sehen, sich ihrer Aufgabe als bewusste Lebewesen im Rahmen der Evolution zu stellen, nämlich Leben zu fördern oder auch auf andere Weise – Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion ... – zur „Inkarnation“ des Geistes beizutragen. Auch die traditionelle Auffassung von Gott als dem Schöpfer „aus dem Nichts“ (ex nihilo) dürfte mit dem evolutionären Gottesbild verträglich sein, wie heutige allerdings noch spekulative quantenkosmologische Theorien zum Urknall nahe legen, nach denen das Universum z. B. als Ergebnis einer Quantenfluktuation aus dem Vakuum (Nichts) hätte entstehen können.88 Allerdings wird Schöpfung im evolutionären Weltbild im Unterschied zur biblischen Tradition als ständiger Prozess (creatio continua) und nicht als einmaliges Ereignis verstanden. Und außerdem: Weil sich Gott als Weltgeist im Verlauf der Evolution in seiner Schöpfung selbst konkretisiert, ist auch er, oder doch zumindest das, was wir von ihm erfahren können, unser evolutionäres Gottesbild also, nicht der Unbewegte, ewig Gleiche, sondern selbst ein Werdender. Ein Gedanke, der auch heutigen Theologen nicht mehr fremd ist, meint doch z. B. Wolfhart Pannenberg: „Jesus verstand Gottes Anspruch auf die Welt ausschließlich als den Anspruch seiner kommenden Herrschaft ... Das impliziert, dass in gewissem Sinne Gott noch nicht ist. Wenn seine Herrschaft und sein Sein zusammengehören, so ist Gottes Sein wie seine Herrschaft noch nicht gekommen.“89 Um es zusammenfassend mit Hans Küng zu sagen: „Gott wirkt nicht von oben oder außen als unbewegter Beweger in die Welt hinein, sondern er wirkt als die dynamische wirklichste Wirklichkeit von innen im Entwicklungsprozess der Welt, den er ermöglicht, durchwaltet und vollendet. Er selbst ist Ursprung, Mitte und Ziel des Weltprozesses ... unter voller Respektierung der Naturgesetze, deren Ursprung er selber ist.“90 Abgesehen von diesen Differenzierungen ist es erstaunlich zu sehen, wie gut sich das evolutionäre Gottesbild mit weiteren biblischen Vorstellungen über Gott verträgt, wenn wir nur versuchen, 93
hinter die mythologische „Außenseite“ der biblischen Gottesbilder vorzustoßen. So gibt es eine beachtliche Zahl von Stellen in der Bibel, in denen von Gott als dem Geist und auch davon die Rede ist, dass dieser Geist seiner Schöpfung und insbesondere auch den Menschen innewohnt und, um es anthropomorph auszudrücken, das Leben „will“, um sich zu manifestieren.91 Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch, dass es schon in der rabbinischen und kabbalistischen jüdischen Tradition eine Lehre von der Schechina, der Einwohnung Gottes in seiner Schöpfung und so auch in den Menschen gibt: Der im Geist seiner Schöpfung einwohnende Gott ist in jedem seiner Geschöpfe präsent und bleibt jedem seiner Geschöpfe in Freud und Leid verbunden. Anthropomorph gesprochen: Gott „leidet“ also mit seiner Schöpfung mit; indem er sich selbst in ständiger Wechselwirkung mit ihr konkretisiert, hat er an ihrem Schicksal teil. Auch dieses „Mitleiden“ Gottes mit der Welt ist ja ein bekannter christlicher Topos, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Passion Jesu. Zumindest als Begriff sollte also allen Christen unser aus dem evolutionären Weltbild gewonnenes Bild von Gott als dem Geist nicht unbekannt sein. Da aber Gott als der schöpferische und allem innewohnende Weltgeist einer sein muss, was übrigens auch in den Gottesbildern des Alten Testaments immer wieder betont wird92, verträgt sich das evolutionäre Gottesbild, wie ich bereits ausgeführt habe, nicht mit dem mythologischen Bild eines dreieinigen Gottes (Trinität) aus der christlichen Dogmatik. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie gerade durch die hellenistisch geprägte christliche Dogmatik, die im Rahmen des damals herrschenden gnostischen Weltbildes93 formuliert wurde, mythologische Bilder zu „Realitäten“ und damit zu wortwörtlich zu Glaubendem erklärt wurden. Dies dürfte auch direkt oder indirekt der Grund dafür sein, dass sich der gnostische Dualismus von Geist und Materie, nicht zuletzt auch in seiner wertenden Form von „Gut“ und „Böse“, im Gottesbild vieler Christen bis heute, wenn auch nicht immer offensichtlich, so doch zumindest unterschwellig, hartnäckig zu halten vermochte. Das antike gnostische dreistöckige Weltbild mit der rein geistigen Sphäre, dem „Himmel“ „oben“, der materiellen Welt, von jener radikal getrennt und ihr entgegengestellt, bestehend aus der 94
Erde „unten“ und aus der noch „tiefer“ vorgestellten Unterwelt als Wohnstatt eines dem Geist dualistisch entgegengesetzten „Antigeistes“, impliziert ja auch immer eine moralische Wertung: Die geistige Welt, Gottes Welt, ist das Reich des „Guten“, die materielle Welt jenes des „Bösen“, das mythologisch als „Teufel“ personifiziert wurde. Der Mensch als Bewohner der materiellen Welt besitzt in seiner Seele einen göttlich-geistigen „Funken“ und ist demzufolge ein Spielball von Geist und Antigeist. Das bis heute weiterwirkende Verhängnisvolle94 an diesem Weltbild ist, dass wir zwar kaum noch an die Existenz eines Teufels glauben, aber vielfach noch immer an der Dichotomie von Geist und Materie festhalten und damit einem Gottesbild anhangen, das sozusagen in einen „guten Gott“ und einen „bösen Gott“ gespalten ist. Indem nun die physikalischen Grundlagen unseres heutigen evolutionären Weltbilds einerseits klar machen, dass zwischen Geist und Materie kein prinzipieller Unterschied besteht, Materie sozusagen als „geronnener Geist“ betrachtet werden muss, Geist somit auch jedwelcher Form von Materie „innewohnt“ und sich dieser Weltgeist – im evolutionären Gottesbild als Gott definiert – andererseits selbst kreativ in dieser Welt verwirklicht, ist sowohl der Dualismus von Geist und Materie als auch von Gott und Teufel obsolet. Das evolutionäre Weltbild macht ja ohne Weiteres deutlich, dass die in unserer Existenz als Menschen zum Überleben durchaus sinnvollen moralischen Wertungen „gut“ und „böse“ keine Entsprechung in der Strategie der biologischen Evolution haben. Allenfalls könnte man sagen, dass alles, was die Weiterentwicklung des Lebens fördert, als „gut“, und alles, was sie hindert, als „böse“ zu bezeichnen ist. Die meisten Mutanten sind zum Untergang verurteilt, die Evolution komplexerer Lebensformen ist nur um den Preis zu haben, dass ihnen einfachere organische Systeme als Bausteine, also als Nahrung und damit als Energiequelle dienen: „Fressen und Gefressenwerden“ und der Verdrängungskampf mit all seinem Leiden gehören mit zu den Grundstrategien, deren sich die Evolution für die Entwicklung und das Überleben höherer Lebewesen bedient. Und damit gehören auch sie Gott dem Weltgeist an, der ihnen in seiner evolutiven Konkretisierung auch selbst unterliegt, gewissermaßen also mit seiner unvollkommenen Schöpfung „leidet“. Eugen Drewermann stellt dazu fest: „Wer das Leben bejaht, dem bleibt, 95
ob er will oder nicht, deshalb kaum etwas anderes übrig, als sich mit der Tatsache seiner Grausamkeit abzufinden. Nicht weil ein Gott es so wollte, nicht weil ein Engel zum Teufel wurde, nicht weil der ‚erste‘ Mensch ‚sündigte‘, ist die Welt, wie sie ist; das Leben konnte nicht anders, als auf die Energiekrisen zu antworten, die sich ihm stellten und in die es sich selber hineinmanövrierte.“95 Damit ist meines Erachtens auch das Theodizeeproblem in seiner traditionellen Form vom Tisch, also die Frage nach einer Rechtfertigung Gottes: „Warum lässt Gott das Böse in der Welt zu?“ Insofern nämlich, als diese Frage von einem offensichtlich falschen Bild eines ausschließlich transzendenten, seiner Schöpfung gegenüberstehenden, allmächtigen und mit menschlichen Empfindungen und Moralvorstellungen ausgestatteten Gottes ausgeht, der das Leben, das er „will“, auch auf einem anderen, „schmerzfreien“ Weg realisieren könnte, wenn er bloß wollte, einem Gott also, wie er in der evolvierenden Welt, wie sie sich uns präsentiert, eben nicht denkbar ist. Wir müssten also vielmehr feststellen, dass Gott selbst als in seiner Schöpfung inkarnierter Geist sowohl das so genannte „Gute“ als auch das so genannte „Böse“ in sich vereinigt und demzufolge mit seiner Schöpfung, also auch mit den Menschen, die ja Geist von seinem Geist sind, dem „Bösen“ unterworfen ist. Auch den Tod rechnet die christliche Tradition dem Bösen zu. Evolutionsgeschichtlich gesehen ist er aber einfach der Preis, den die Natur für die Entwicklung komplexer vielzelliger höherer Lebewesen zu zahlen hat. Eugen Drewermann zieht aus dieser Feststellung die theologische Folgerung: Der Tod „ist unter evolutiven Bedingungen nicht das Gegenstück des Lebens, er gehört als ein integraler Bestandteil mitten ins Leben hinein. Es ist nicht möglich, Tod und Leben als mythische Größen einander gegenüberzustellen und sie theologisch mit dem ‚Teufel‘ und mit ‚Gott‘ zu identifizieren, wie es die kirchlich gebundene Dogmatik des Christentums bis heute versucht; die dunkle, unheimliche, doch dann auch wieder selbstverständlichste Wahrheit lautet, dass alles nichtautotrophe Leben nur leben kann durch Vernichtung anderen Lebens.“96 Fazit: Auf das evolutionäre Gottesbild lassen sich unsere menschlichen moralischen Wertungen von „gut“ und „böse“ nicht anwenden, oder andersherum: Was wir als „gut“ oder „böse“ be96
zeichnen, beides kommt von Gott. Gott muss in einem weiteren Sinne „gut“ sein, als es unser moralischer Begriff meint, vielleicht eben in dem Sinne, dass er das Leben und die zunehmende Vergeistigung der Schöpfung „will“ und ermöglicht. Auch zur Feststellung, dass der evolutionäre Gott „jenseits“ von Gut und Böse steht, lassen sich übrigens Übereinstimmungen in biblischen Gottesbildern finden. So „sagt“ z. B. Gott im 45. Kapitel des Buches Jesaja: „Ich bin Gott und außer mir ist keiner. Ich mache das Licht und ich schaffe die Finsternis. Ich gebe Frieden und ich schaffe das Unheil. Ich bin Gott, der alles tut.“ Und in den Klageliedern aus derselben Zeit lesen wir über das Unrecht, das in der Welt geschieht: „Sollte das Gott nicht sehen? Wer darf denn sagen, dass solches geschieht ohne Gottes Befehl und dass nicht Böses und Gutes komme aus dem Munde des Allerhöchsten?“ (Klgl 3, 34–38). Auch das bedeutet: Alles kommt von Gott, auch was uns sinnlos erscheint, was wir als böse oder zerstörerisch empfinden. Denn wenn wir Gott im evolutionären Gottesbild als Ursprung und Urkraft im Sinne des Weltgeistes ansehen, welcher der ganzen Welt mit allen ihren Ordnungen einwohnt und auch in allem ist, was sich ereignet, dann ist dieser für uns unüberbrückbare Widerspruch zwischen Gut und Böse, der uns ein Leben lang in Atem hält und existentiell bedroht, in Gott selbst aufgehoben. Vielleicht ähnlich wie in der modernen Quantenphysik der in der klassischen Physik unüberbrückbare Widerspruch zwischen Partikeln und Wellen aufgehoben ist. Von Gott wird in der christlichen Tradition bekanntlich als Person gesprochen. Es erübrigt sich, an dieser Stelle auf die vielen zum Teil auch heute noch unausrottbaren Vorstellungen von einem allzu vermenschlichten Gott und ihre Folgen sowohl im religiösen wie im sozialen Bereich hinzuweisen, die diese mythologische Redeweise evoziert hat. Die heutige Theologie hat sich auch schon längst von diesem Anthropomorphismus verabschiedet. So können wir etwa bei Hans Küng nachlesen: „Gott ist gewiss nicht Person, wie der Mensch Person ist: Der Allesumfassende und Allesdurchdringende ist nie ein Objekt, von dem sich der Mensch distanzieren kann, um über ihn auszusagen. Der Urgrund, Urhalt und das Urziel aller Wirklichkeit, das jede einzelne Existenz be97
stimmt, ist nicht eine Einzelperson unter anderen Personen, ist kein Über-Mensch oder Über-Ich. Auch der Personbegriff ist nur eine Chiffre für Gott: Gott ist nicht die höchste Person unter anderen Personen. Gott sprengt auch den Personbegriff: Gott ist mehr als Person!“97 Diese Feststellung deckt sich weitgehend mit dem, was im evolutionären Gottesbild deutlich geworden ist: Gott als der Geist ist nicht ein begrenztes Endliches neben oder auch jenseits von anderem Endlichen. Gott ist nicht nur transzendent, sondern auch immanent, in jedem Teil dieser Welt „anwesend“ und so sich manifestierend und „abbildend“, natürlich auch im Personsein des Menschen. Demzufolge kann Gott auch nicht weniger als Person sein; wenn schon, ist er Person in einem umfassenderen Sinn. Darum kann Küng zu Recht sagen: „Nein, eine gefühllose Geometrie oder Harmonie des Universums in naturgesetzlicher Notwendigkeit ... kann das Ganze der Wirklichkeit nicht erklären. Dies jedenfalls ist die Auffassung der Bibel: Die letzte Wirklichkeit ist mehr als eine universale Vernunft, mehr als ein großes anonymes Bewusstsein, mehr als auf sich selber bezogenes, sich selber denkendes Denken, mehr als nur die höchste Idee, mehr als nur die pure Schönheit des Kosmos. Die letzte Wirklichkeit ist etwas, das sich nicht gleichgültig verhält und uns nicht gleichgültig lässt, sondern uns in befreiender und beanspruchender Weise unbedingt angeht.“ Auch dieses in Theologensprache gefasste Bild von Gott als der letzten Wirklichkeit unterscheidet sich „sachlich“ kaum vom evolutionären Gottesbild. Insbesondere weist es auch auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch hin, die ja im evolutionären Gottesbild durch die ontologische „Verwandtschaft“ von menschlichem und göttlichem Geist gegeben ist. Im Kapitel 7 zur Spiritualität wurde diese intuitiv-ganzheitliche, mystisch-liebende Beziehung zu Gott als „zweiter Weg“ zur Weltwirklichkeit im Ganzen und damit als „zweiter Beziehungskanal“ zu Gott ja bereits etwas näher beleuchtet. In diesem Sinne tritt uns Gott auch im evolutionären Gottesbild als ein ansprechbares und antwortendes Du und somit als „Person“ entgegen. In diesem Zusammenhang und nicht zuletzt auch im Blick auf die Person Jesu dürfte auch die biblische Aussage von der „Gottebenbildlichkeit“ (imago Dei) des Menschen von Interesse sein. Dieser Begriff kommt nur in der Priesterschrift des Alten Testaments 98
im Zusammenhang mit dem „Schöpfungsbericht“, dem biblischen Ursprungsmythos, vor (Gen 1,26.27; Gen 5,1; Gen 9,6) und wird in späteren Stellen des Alten Testaments und im Neuen Testament als traditioneller Begriff verwendet und nicht weiter entfaltet.98 Gemeint ist damit, dass der „Mensch Gott auf der Erde repräsentiert, ihn als seine Ähnlichkeit reflektiert“, aber dass er auch „eine Erscheinungsweise Gottes selbst“ ist (Ps 8 und auch bei Paulus). „Der Mensch ist Gottes indirekte Offenbarung auf der Erde. Bildsein bedeutet immer, etwas erscheinen lassen und offenbaren. Der Gott, der sich (evolutionär) sein Bild auf der Erde schafft, entspricht sich darin.“ Und: „Nach der Substanzanalogie ist die Seele (der Geist), die Vernunfts- und Willensnatur des Menschen, der Sitz der Gottebenbildlichkeit, denn sie ist ... der göttlichen Natur ähnlich.“99 So kann der Theologe Jürgen Moltmann den biblischen Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen zwanglos aus dem evolutionären Welt- und Gottesbild erklären. Unter Bezugnahme auf Paulus, der diesen Begriff im Neuen Testament verwendet, um in Jesus als dem Christus das wahre Ebenbild Gottes darzustellen, stellt Moltmann weiter fest: „Die Gottebenbildlichkeit des Menschen erscheint im messianischen Licht des Evangeliums als ein geschichtlicher Prozess mit eschatologischem Ausgang, nicht als ein Zustand. Menschsein ist Menschwerden in diesem Prozess ... Die messianische Menschwerdung des Menschen bleibt in der Geschichte unabgeschlossen und unabschließbar.“100 Also: Auch im evolutionären Welt- und Gottesbild, in dem ja einerseits die „Einwohnung“ von Gottes Geist in seiner Schöpfung und damit auch im Menschen und andererseits die im Verlauf der Evolution fortschreitende Manifestation des göttlichen Geistes in der Welt und im Menschen postuliert sind, macht die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen durchaus Sinn. Ein letzter mit Gott verbundener biblischer Begriff, „Gottes Reich“, soll in dieser Gegenüberstellung des evolutionären Gottesbildes mit der biblischen Sicht nicht unerwähnt bleiben. Gottes Reich, auf das hin nach biblischer Überzeugung die Geschichte Gottes mit den Menschen angelegt ist, die Vollendung dieser Geschichte also, ist als mythologischer Begriff ebenso wenig wie der in diesem Kapitel diskutierte Gottesbegriff direkt aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild ableitbar. Die Evolution lässt zwar 99
einen bestimmten Trend erkennen, läuft aber nicht auf ein klar umschriebenes Ziel zu; die Kosmologie hat zwar einige denkbare Szenarien entwickelt, wie das Weltende in einigen Dutzend Milliarden Jahren aussehen könnte, doch sind dies naturgemäß physikalische Spekulationen, welche bestenfalls der physikalischen Dimension des Weltgeistes Rechnung tragen können, wie z. B. die Vorstellung von einem pulsierenden Universum mit einer unendlichen Folge von „Big Bangs“ und „Big Crashes“, oder die Vorstellung von einem sich immer weiter ausdehnenden Universum, das letztendlich den „Wärmetod“ stirbt. Dass die christliche Vorstellung von Gottes Reich, von dem Jesus sagt, dass es schon im Hier und Jetzt begonnen habe, nichts mit einem physischen Endzustand des Universums zu tun hat, obwohl es in der Bibel häufig in Verbindung mit Endzeitvisionen (Apokalyptik) genannt wird, sondern eine geistige Dimension meint, ist der Theologie schon längstens klar. Im zwar das physikalische Weltbild einschließenden, darüber hinaus aber ja eben auch auf der metaphysischen Spekulation, dass die Evolution auf die zunehmende Manifestation des Geistes in der Welt hin zielt, beruhenden evolutionären Weltbild ließe sich aber „Gottes Reich“ mit dem spekulativen „Endergebnis“ der Evolution, der vollkommenen Manifestation des Geistes in der Welt, also der endgültigen „Einwohnung Gottes“ in seiner Schöpfung deuten. Dieser Deutung hätte zweifelsohne auch Jesus zugestimmt. Sicher ist auch, dass sich jene „Welt“ in jeder Beziehung von der unsrigen unterscheiden dürfte, was in der biblischen Tradition eschatologisch mit den Begriffen „Neue Welt“ oder „Neues Jerusalem“ zum Ausdruck gebracht wird.
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9. Konsequenzen aus dem evolutionären Gottesbild – Lebenssinn und Ethik Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Albert Schweitzer
Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen sich das Leben unserer Gesellschaft noch weitgehend, wenn auch häufig bloß oberflächlich, an christlichen Werten – oder zumindest an dem, was man dafür hielt – ausrichtete, leben wir heute in einer Zeit, die kaum mehr verbindliche Werte kennt, in einer Zeit der ethischen Beliebigkeit also. In dem Maße, wie der christliche Glaube für viele zur Belanglosigkeit verkam, ging auch der ethische Konsens verloren: Wir leben in einer Art von ethischem Vakuum. Außerdem stand und steht in der abendländisch-christlichen Tradition der Mensch im Mittelpunkt aller ethischen Konzepte und ist ihr ausschließliches Objekt. Die rasante und geradezu blindwütig auf Produktion und materiellen Profit ausgerichtete Entwicklung der technischen Zivilisation hat inzwischen zur Einsicht geführt, dass ein Weitergehen auf dem eingeschlagenen Weg nicht nur unsere Mitbewohner dieser Erde in anderen Kontinenten in ihrer Existenz und Würde gefährdet, sondern auch unsere Umwelt, unseren ureigenen Lebensraum und damit auch unsere eigene Zivilisation mitsamt unseren eigenen Nachkommen ins Verderben stürzen könnte. Die traditionell anthropozentrische Ausrichtung der Ethik erweist sich auch in diesem Zusammenhang als ungenügend. Neue ethische Konzepte, die in unserer heutigen Situation greifen, sind darum gefragt, was beinahe zu einer Art „Wildwuchs“ von Vorschlägen geführt hat, von denen sich die meisten unter dem Begriff der Umweltethik einreihen lassen. Um nur einige, darunter auch durchaus exotische, zu nennen101, ohne aber im Einzelnen auf sie einzugehen: „Frieden mit der Natur“, „Speziezismus“, „Pathozentrische Position“, „Biozentrische Position“, „Tiefenökologie“ (Deep Ecology, Natur als Göttin betrachtet!), „Verantwortungsethik“, „Gerechtigkeitsethik“, „Fürsorgeethik“ (feministisch), „Diskursethik“ 101
usw., bis hin zu einer Art von Ökofaschismus, dessen Ziel es ist, den Menschen als „Schädling“ zu dezimieren. Zwar wird auch in den meisten dieser Ansätze die anthropozentrische Perspektive nicht verlassen, aber sie sind doch primär auf das menschliche Handeln der Umwelt gegenüber ausgerichtet. Trotzdem ist es offensichtlich keinem von ihnen gelungen, in unserer Gesellschaft allgemeine Anerkennung zu finden und sich als verbindliche Wertvorstellung zu etablieren. Ich meine nun, dass sich uns aus dem evolutionären Welt- und Gottesbild, wie ich es im 5. und 6. Kapitel umrissen habe, ein einsichtiges ethisches Konzept geradezu aufdrängt. Zur Erinnerung: Ein Gottesglaube ist in unserem Leben nur dann von Bedeutung, wenn das dahinter stehende Gottesbild einen Bezug hat zur realen Welt, so wie wir sie wahrnehmen und erleben und in der wir uns behaupten müssen; mit anderen Worten: wenn „Gott“ ein „Wirkwort“ ist, das uns nicht nur den Sinn unserer Existenz in dieser Welt zu deuten, sondern von daher auch auf unsere Lebensgestaltung Einfluss zu nehmen vermag, uns also auch zu einer Ethik verpflichtet, welche der Realisierung dieses Sinns förderlich ist. Gottesbilder, die keinen solchen Aufforderungs- und Motivationsgehalt in Bezug auf das menschliche Verhalten in der Welt haben, bleiben leere Götzen. Die mit dem heutigen evolutionären Weltbild verträgliche, ja von ihm geradezu evozierte Vorstellung von Gott als „dem transzendent-immanenten Geist“, der sich in der Welt kreativ durch die Evolution immer komplexerer Strukturen von Energie über Materie zu Leben zunehmend manifestiert, das Bild eines Gottes also, der in jedem Teil seiner Schöpfung als Geist „anwesend“ ist und in Übereinstimmung mit der in der Evolution beobachteten Tendenz zur Entwicklung des Lebens als ein Gott, der „das Leben will“, definiert werden kann, diesem Gott muss die ganze Schöpfung und der Mensch als selbstbewusstes geistbegabtes Wesen in ganz besonderem Maße dazu dienen, sich als Geist zunehmend zu verwirklichen. Der Sinn des menschlichen Lebens besteht also – wie der Sinn des Lebens überhaupt, nur eben in besonderem Maße – darin, selbst schöpferisch zu sein, d. h. einen Beitrag zur Evolution von Leben und Geist zu leisten. Dies sicher primär biologisch durch die Weitergabe des Lebens und durch Bewahrung und Förderung allen 102
Lebens, auf dass die biologische Evolution weiter fortschreite, und darüber hinaus durch Leistung eines Beitrags zur geistig-kulturellen Evolution. Da nun der Mensch sowohl über die kulturelle Evolution als auch durch Zucht, Genmanipulation und (Über-)Nutzung der Natur über die biologische Evolution direkt aufs Evolutionsgeschehen einwirkt, trägt er eine ursächliche Mitverantwortung102, aus der sich ethische Grundsätze und daraus Impulse zu ethischem Handeln ableiten lassen. „Wenn menschliches Handeln weltliche Abläufe zu beeinflussen vermag, die als Abläufe im Rahmen einer sich vollendenden Schöpfung anzusehen sind, dann ist dieses Handeln von vornherein einem unbefragbaren Wertmaßstab unterworfen: Es muss sich in jedem Augenblick an der Frage messen lassen, ob es dem der Vollendung der Welt zustrebenden Ablauf der Dinge im Wege steht oder zu ihm beiträgt.“103 Außerdem: Die Welt ist eine Einheit vom Geist bis zur Materie, von den Galaxien bis zu den Mikroben. Auch die Erde als Ganze ist ein physikalisch-chemisch-biologisches System, in dem über die Evolution letztendlich alles mit allem engstens verknüpft ist wie in einem großen Organismus. Und da Gott als Geist jedem Teil seiner Schöpfung innewohnt, könnte man sagen, dass die Erde als Ganze eine Art von lebendigem Organismus ist, ein Lebewesen also mit verschiedenen „Organen“ und einem „Geist“, die miteinander wechselwirken. Die Erde ist aber nicht nur eine funktionelle Einheit, in einem gewissen Sinn ist sie auch kreativ, indem sie sich unablässig weiterentwickelt und wandelt. Auch in diesem Sinn darf die Erde als ein „Wesen“ bezeichnet werden, dem wir Menschen als kleine, aber wichtige Zelle angehören und in dem unser Bewusstsein ein Teil seines Gesamtbewusstseins, seines Geistes ausmacht. Übrigens hat der Chemiker und Biologe James Lovelock von der Universität Oxford diese Gesamtschau der Erde als „Gaia-Hypothese“ bezeichnet (von griechisch Gaia = Erde). Auch aus dieser Sichtweise erwächst von selbst die Forderung, das Gesamtwohl des „Organismus Erde“ anzustreben. Die Stoßrichtung einer diesem Ziel verpflichteten Ethik ist damit nicht mehr nur entweder das Wohl des Menschen oder dasjenige der Umwelt, sondern die Sorge um das Überleben und die Weiterentwicklung des gesamten „Organismus Erde“ und damit letztendlich wiederum um die weitere „Inkarnation“ des Geistes. 103
Das Bewusstsein dieser grundlegenden Einheit der Erde und der Wechselbeziehungen zwischen all ihren Teilen, das sowohl aus der Kenntnisnahme unseres heutigen Weltbildes als auch aus naturmystischen Betrachtungen hervorgehen kann, lässt sich als Mitgefühl bezeichnen.104 Das weitere Leben von Mensch und Erde hängt also davon ab, ob und wie dieses Mitgefühl unser Denken und Handeln bestimmt. Mitgefühl im Sinne von Achtung, Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Rücksicht gegenüber unserer gesamten Mitwelt. Mitgefühl heißt auch, egoistische Interessen zugunsten des Lebens als Ganzem zurückzustellen, es meint auch Altruismus, d. h. Stützen des Wehrlosen und Schwachen. Mitgefühl ist somit der Ausgangspunkt für jedes soziale Engagement zugunsten unserer Mitmenschen und für jeden Versuch, die Schöpfung zu bewahren. Mit der Erkenntnis der wechselseitigen Verknüpfung von allem mit allem zeigt uns die Natur ja nicht einfach einen weiteren Aspekt ihrer geordneten Schönheit, sondern sie fordert uns heraus, uns über unsere Rolle im großen Spiel des Lebens auf dieser Erde Klarheit zu verschaffen und dann auch danach zu handeln. So besehen läuft eine aus dem evolutionären Welt- und Gottesbild (Gott „will“ das Leben, um sich selbst zu verwirklichen) abgeleitete Ethik auf die schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts vom großen Theologen und Tropenarzt Albert Schweitzer formulierte Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ hinaus. Schweitzer folgerte aus der Feststellung „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“: „Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören. Sittlich sind wir, wenn wir aus unserem Eigensinn heraustreten, die Fremdheit den anderen Wesen gegenüber ablegen, und alles, was sich von ihrem Erleben um uns abspielt, miterleben und miterleiden. In dieser Eigenschaft sind wir erst Menschen.“105 Und im Blick auf die in der Tradition ausschließlich auf den Menschen bezogene christliche Ethik der Nächstenliebe meinte er: „Das Prinzip dieser veneratio vitae entspricht dem der Liebe, wie es durch Religion und Philosophie entdeckt worden ist, als sie nach dem Grundbegriff des Guten forschten. Der Begriff Ehrfurcht vor dem Leben ist allgemeiner ... aber er birgt die gleichen Kräfte in sich.“106 Und damit: „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist 104
die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu.“107 Albert Schweitzer kam zu seiner Zeit natürlich nicht auf dem Weg der Reflexion über ein evolutionäres Welt- oder Gottesbild zu seiner Ethik, sondern über eine entscheidende religiöse Erfahrung, eine „Resonanz- und Absurditätserfahrung“ eben, wie wir sie im Kapitel 7 als „zweiten Weg“ der Erkenntnis bzw. Gottesbeziehung bezeichnet haben: Der eigene Lebenswille findet Resonanz in allem fremden Willen zum Leben: „Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob es sich mir gegenüber äußern kann oder stumm bleibt.“108 Auch die Absurditätserfahrung, dass nämlich, um Leben zu erhalten, immer auch Leben vernichtet werden muss, hat als die Kehrseite der Resonanzerfahrung zur Formulierung seiner Ethik beigetragen: „Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben. Sie bringt tausendfältig Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfältig in der sinnlosesten Weise ... Der große Willen zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst. Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen. Die Natur lässt sie die furchtbarsten Grausamkeiten begehen.“109 Um nochmals (etwas abgewandelt) Theißen zu zitieren110: Spiritualität, als Sensibilität für Resonanz und Absurdität, Achtsamkeit und Mitgefühl also, ist der Ausgangspunkt für eine Ethik, die aus der „Identifikation mit dem Resonanzfeld der Wirklichkeit“ und dem daraus folgenden Widerstand gegen ihre Absurdität erwächst: „Sie ist unbedingte Motivation zur Verwirklichung eines immer umfassenderen Resonanzfeldes der Wirklichkeit.“ Es ist nun in diesem Zusammenhang nicht uninteressant festzustellen, dass grundsätzliche Überlegungen zur Ethik, und zwar nun nicht zur menschlichen Ethik, sondern zu einer Ethik oder Moral, die eines Gottes würdig ist, dazu führen können, das evolutionäre Gottesbild abzulehnen. Also gewissermaßen auf umgekehrtem Weg: Nicht ein plausibles Gottesbild führt zu einer sinnvollen Ethik, sondern eine vorgegebene Ethik führt zu einem bestimmten 105
Gottesbild. Die Absurditätserfahrungen, die sich einem beim Studium der Geschichte der Evolution aufdrängen wie „Fressen und Gefressenwerden“, Grausamkeit, Artensterben und Massenausrottung usw., haben Eugen Drewermann veranlasst, das hier skizzierte Bild eines auch in seiner Schöpfung anwesenden und sich in ihr offenbarenden Gottes abzulehnen111: „Eben jene Konzeption des Göttlichen, die naturphilosophisch sich so überaus plausibel nahe legt, offenbart ihr gänzliches Ungenügen an den Fragen der menschlichen Existenz.“ Er begründet diese Ablehnung mit den Worten: „Eine Geschichte des Lebens ist vor unsere Augen getreten, die in ihrer ungeplanten Zufälligkeit, in der Fülle ihrer absurden Zerstörungen, in der offenbaren Flickschusterei selbst ihrer Grundeinrichtungen, in der infamen Bedenkenlosigkeit bei der Wahl und Erzeugung ihrer Mittel das gerade Widerspiel der Manifestation (der „Selbstoffenbarung“) eines unendlich sorgsam überlegenden und unendlich liebevoll überlegenen Gottes darstellt ... Die Erkenntnis der Welt ... widerlegt jenen Gott, der in der Weltwirklichkeit dem endlichen Geist des Menschen sich selbst zu einem dankbaren Lobpreis hätte zu erkennen geben wollen: Seine ‚Moral‘ hält dem nicht stand, was wir von einem Gott als Grund aller Sittlichkeit verlangen müssen!“112 Und daraus zieht Drewermann den Schluss: „Gott zu glauben hat damit zu tun, eben die Worte zum Sein zu vernehmen, die einem Menschen die Natur nicht zu sagen vermag. ‚Gott‘ ist von daher in der Tat keine Kategorie des Erkennens, kein Begriff der Vernunft, sondern ‚nur‘ ein Wort, eine Chiffre, mit deren Hilfe der Mensch sein eigenes Dasein als in sich berechtigt zu deuten versucht. Genauer gesagt: Das Wort Gott dient nicht dem Erfassen der Wirklichkeit, sondern der Interpretation der menschlichen Existenz im Angesicht der Wirklichkeit.“113 Drewermanns Gott, der offensichtlich a priori die im christlichen Glauben wohl bekannten menschlichen Attribute, die Drewermann nicht in einen weiteren Zusammenhang stellt, aufweisen muss wie z. B. das Gutsein, wird so auf eine Projektion menschlicher Wertvorstellungen in eine transzendente Wirklichkeit verkürzt: „In dem Glauben an einen persönlichen Gott projiziert sich die Grundhaltung von Vertrauen in eine Welt hinein, die ‚objektiv‘ ein solches Vertrauen nie und nimmer verdienen würde.“114 Damit gilt für ihn: „Gott ist nicht länger erkennbar als 106
Grund für das ‚Sein des Seienden‘; das einzige, was wir zeigen können, ist ein subjektiv anzunehmender Grund für ein menschliches Dasein des Menschen.“115 Ich meine dazu etwas pointiert: Gott ist für Drewermann offenbar „nur“ ein Gott der Menschen, seine einzige Funktion besteht darin, uns Menschen Sinn zu vermitteln und uns unser Dasein anzunehmen, zu erleichtern, also Seelsorge in einer nur schwer zu ertragenden Welt zu leisten. Und: In dieser Sicht ist der Mensch als geistbegabtes Wesen und in seinem Streben ganz aufs Transzendente ausgerichtet; fromme Weltflucht zumindest als Nichternstnehmen der Realität wird zu einer durchaus möglichen Haltung. Wenn (guter) Gott und (böse) Welt nämlich wie Alternativen einander gegenübergestellt werden, wie das ja auch schon mit der altbekannten christlichen Theorie von der grundsätzlichen Jenseitigkeit des Menschen, seiner Bestimmung und seiner Handlungsintentionen geschehen ist, so birgt das die Versuchung in sich, sich aus dieser Welt des Unvollkommenen und des Leidens in eine Art von „Vorhof der Transzendenz“ davonzustehlen. Mir scheint darum dieser „intellektuelle Gewaltakt“ Drewermanns zur „Rettung“ eines traditionellen, rein transzendenten Gottesbildes nicht nur unrealistisch, sondern auch gefährlich, da er nicht nur einem zu den Ergebnissen der heutigen Naturwissenschaften im Widerspruch stehenden Dualismus, sondern auch wieder einer anthropozentrischen Weltsicht das Wort redet, in der sich der Mensch grundlegend von der übrigen Schöpfung unterscheidet, also einer „anderen Welt“ angehört und für ihn darum grundsätzlich andere Wertvorstellungen als für die „übrige“ Schöpfung gelten. Eine Bewahrung der Mitwelt z. B. hat also nur insoweit moralischen Wert, als sie auch dem Menschen dient. Letzten Endes untergräbt das Drewermann’sche Gottesbild also eine universelle Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Das evolutionäre Weltbild zeigt hingegen klar auf, dass der Mensch bloß ein Teil unter anderen in der Schöpfung ist, mit allen anderen wesensverwandt und auf sie angewiesen, in ähnlicher Weise dem „Fressen und Gefressenwerden“ unterworfen wie die anderen Lebewesen auch (wie ja jeder Blick in eine Tageszeitung zeigt), ebenso leidend und Leiden verursachend. Es zeigt uns aber darüber hinaus auch einen Menschen, der über Selbstbewusstsein verfügt, aktiv in die 107
Evolution eingreift und der erkennen kann, dass ebendiese humanen Wertvorstellungen, die Drewermann am Herzen liegen, auf seiner Entwicklungsstufe einen Evolutionsvorteil gegenüber dem rein biologisch motivierten „Fressen und Gefressenwerden“ in der übrigen Welt bieten können. Natürlich muss eingeräumt werden, dass ja letztlich auch alle die christlichen Werte und Tröstungen, auf die Drewermann nicht verzichten will, Produkte der Evolution und damit Abbilder des Geistes Gottes, der treibenden Kraft der Evolution, sind, also auch Aspekte – aber eben bloß Aspekte und nicht das Ganze – der Manifestationen Gottes. Die eigentliche „Projektion“ verläuft im Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie ja immer vom Geist zu seiner Konkretisierung, von Gott zu seiner Schöpfung, von Gott zum Menschen und nicht umgekehrt und ist immer unvollständig, betrifft also immer nur einzelne Aspekte der göttlichen Wirklichkeit. Dies gilt natürlich auch für unsere humanen Wertvorstellungen – und stimmt übrigens mit Aussagen der biblischen Tradition überein: Nach dem Mythos vom Sinai hat Mose die Gesetzestafeln von Gott erhalten; und die Propheten sprachen im Auftrag Gottes – um nur zwei Beispiele zu nennen. Eine „Rückprojektion“ bloß einiger ausgewählter menschlich-moralischer Attribute auf Gott zwecks Rettung des Bildes eines ausschließlich gütigen Gottes erscheint mir darum auch vom biblischen Befund her unzulässig. Außerdem lässt sich auch die Unvereinbarkeit des Leidens in der Welt mit einem trotzdem als letztlich gütig vorgestellten Gott mit Hilfe des evolutionären Weltbilds plausibel machen: Da die Evolution nicht abgeschlossen ist, die Schöpfung also weitergeht, ist diese Welt eine vorläufige, unvollkommene Welt, in der sich „das Gute“ erst seit entwicklungsgeschichtlich kurzer Zeit im menschlichen Geist als Evolutionsfaktor bemerkbar macht. Gottes als des Guten vollständige „Inkarnation“ in seiner Schöpfung als „Zielpunkt“ der Evolution lässt die christlichen Wertvorstellungen als Vorwegnahme dessen, was das Leben dereinst sein könnte, erscheinen und sie gleichzeitig als erst mit dem bewussten Menschen auftretende Evolutionsstrategie, die auf dieses „Ziel“ hinweist, erkennen. So könnte man vielleicht sagen: Drewermanns Gott ist nicht Gott, wie er ist, sondern wie er sein wird.116 Gerade von daher erhält ja auch die Ethik ihre zentrale Bedeutung im evolutio108
nären Gottesbild, wie schon H. v. Ditfurth erkannt hat: „Da lässt sich die Welt dann nicht mehr als ein in seiner Unvollkommenheit unwandelbarer Ort auffassen, dessen Mängeln man nur dadurch entgehen kann, dass man ihn verlässt. Jetzt stellt sich heraus, dass wir alle, ob wir wollen oder nicht, fortwährend an einer Veränderung der Welt im Ablauf ihrer evolutiven Geschichte teilhaben, die zu ihrer Vollendung führen wird. Niemand kann daher aus der Verantwortung entlassen werden, die sich für ihn daraus ergibt, dass auch sein Tun und nicht zuletzt sein Lassen im Rahmen seiner Möglichkeiten mit darüber bestimmt, welchen Verlauf die Entwicklung nimmt, die über das Schicksal des Kosmos entscheidet.“117 Das heißt nun auch, dass Ethik nicht mehr als Privatsache Einzelner gelten kann, sondern alle Menschen gleichermaßen einbinden sollte. Die Sorge um das eigene Seelenheil genügt nicht mehr wie früher als Motiv zu ethischem Handeln. Schon die alltägliche Glaubenspraxis heutiger Christen zeigt ja, dass die Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“, die nicht nur Luther, sondern mit ihm unzählige Generationen Gläubiger aus Angst vor ewiger Verdammnis umtrieb, heute keinerlei ethische Motivationskraft mehr hat. Anders sieht es aber aus mit der Motivation zu ethischem Handeln, wenn man im evolutionären Welt- und Gottesbild erkannt hat, dass diese Welt als ganze Schöpfung auf dem evolutionären Weg zur Vollendung ist: „Die Hoffnungen können sich dann nicht länger auf die Möglichkeit einer individuellen, von allem übrigen isolierten ‚Erlösung‘ konzentrieren, also etwa darauf, nach dem eigenen Tod aus einer Welt der Unvollkommenheit in die Vollkommenheit einer jenseitigen Transzendenz versetzt zu werden. Erlösung in diesem Sinne ist dann nur noch denkbar als Teilnahme an einer Erlösung der Welt als ganzer, an einer Erlösung des ganzen Kosmos dann, wenn seine Geschichte an ihrem Endpunkt angekommen ist.“118 Über den Verlauf der Entwicklung – insoweit sie der Mensch beeinflussen kann – entscheidet dann nicht das Handeln Einzelner, sondern das Verhalten aller. Das Gute ist erst dann und in dem Maße gut, „in dem es zur Herstellung einer moralischen Solidarität beiträgt, die alle einbezieht, ohne eine einzige Ausnahme, da niemand ohne Einfluss auf den Ablauf der Geschichte ist, von der für uns alle alles abhängt.“119 109
Ohne Zweifel hatte Albert Schweitzer auch Recht, als er feststellte: „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu.“ Auch wenn die Ethik Jesu, wie wir sie aus seiner Bergpredigt kennen, ausschließlich auf das Verhalten den Mitmenschen gegenüber ausgerichtet ist – was ja auch nicht weiter verwundert, da in seiner Zeit die Bewahrung der Schöpfung noch kein Problem gewesen sein dürfte –, vertritt er nämlich andernorts durchaus eine „universelle Ethik“ im Sinne Schweitzers: Nach Mt 22,37–39 antwortete Jesus auf die Frage nach dem größten Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken. Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Der auf Gott bezogene erste Teil dieses „Doppelgebots der Liebe“, der ja in der christlichen Tradition meist als Aufforderung zum Gesetzesgehorsam interpretiert wurde, enthält gerade in der Sicht des evolutionären Welt- und Gottesbildes, das Gott ja auch als seiner ganzen Schöpfung innewohnend erkennt, eine ganz konkrete ethische Aufforderung und praktische Bedeutung: Gott lieben kann ja nicht heißen, irgendeine transzendente Gottesvorstellung zu lieben (wie macht man das überhaupt?), sondern meint meines Erachtens eben, ihn in seinen Konkretionen, in seiner Schöpfung also, zu lieben, d. h. die Schöpfung zu bewahren und besonders das Leben in allen seinen Erscheinungsformen zu schützen und zu fördern. Natürlich ist die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben infolge der Unvollkommenheit und Vorläufigkeit der weiter in Entwicklung begriffenen Welt ein Ideal und darum im praktischen Lebensvollzug erst beschränkt lebbar. Aber sie ist ja auch eine Strategie der Evolution und ihre Beachtung ein Bestandteil der Aufgabe, die dem Menschen im Rahmen der Evolution zugedacht ist und der er sich im Grunde genommen nicht „ungestraft“ entziehen kann. Zusammenfassend meine ich: Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als eine sinnvolle Strategie der Evolution findet eine plausible Begründung im evolutionären Welt- und Gottesbild. Sie deckt sich weitgehend mit der Ethik Jesu, der „christlichen Ethik“ also. Aber sie ist für alle Menschen, die sich ihrer Aufgabe im Rahmen der Evolution bewusst sind, eine Verpflichtung, der sie sich grund110
sätzlich nicht entziehen können, wenn sie nicht das Überleben und die Weiterentwicklung ihrer eigenen Art gefährden wollen. Ernst genommen und in die Praxis umgesetzt könnte sie zweifellos Lösungswege für alle großen Probleme unserer Zeit aufzeigen: Umweltschutz, Artenschutz, Gentechnik, Konfliktbewältigung, Hunger, Weltwirtschaft ...
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10. Jesus Christus – Gottes Sohn, Prophet oder „Quantensprung“ der geistigen Evolution? Hier am historischen Jesus, wie er uns durch die Texte vorgegeben ist und durch historische Rekonstruktion als Person begegnet, und nicht etwa am auferstandenen Christus, wie wir ihn uns erwünschen, fällt also die Entscheidung des Glaubens. Gerd Lüdemann
Es liegt auf der Hand, dass das evolutionäre Gottesbild auch eine Neuinterpretation von Jesus Christus erfordert. Eine zeitgenössische Christologie muss versuchen, die Geschichte Jesu in der Perspektive des evolutionären Gottesbilds zu sehen und zu deuten, von daher seine Bedeutung in Bezug auf die grundlegenden Probleme heutiger menschlicher Existenz zu erkennen und so gegebenenfalls ein neues Christusbild zu entwerfen. Ich meine, dass dies nicht nur erforderlich, sondern auch zulässig ist. Schon im Urchristentum finden sich immer wieder neue Bilder, mit denen Jesus für verschiedene Adressaten als Christus interpretiert wurde. Auch moderne Christologien fühlen sich dieser Aufgabe verpflichtet, um der historischen Gestalt Jesu eine Bedeutung auch für die Gegenwart zu geben. Man denke da nur z. B. an die „Kontextuelle Theologie“, die „Befreiungstheologie“ oder an die „Feministische Theologie“. Ohne Zweifel beleuchtet jede dieser Interpretationen einen Aspekt des historischen Jesus. Offenbar erweist sich die Größe der Person Jesu ja gerade darin, dass er für den Glauben jeder Zeit fruchtbar gemacht werden kann. Damit dies auch für unser heutiges evolutionäres Weltbild geleistet werden kann, drängt sich ein kurzer Blick auf den „historischen Jesus“ auf. Historiker stimmen darin überein, dass wir nur wenige zuverlässige Informationen über den Mann Jesus von Nazaret besitzen: Er war zunächst ein Anhänger Johannes’ des Täu112
fers und trat nach dessen Hinrichtung als Wanderprediger und Heiler im Palästina des ersten Jahrhunderts auf. Er verkündigte, dass in der Geschichte der Menschheit eine Entwicklung auf Gottes Reich hin bereits angebrochen sei und zum Abschluss dränge. Seine Heilungen von Leiden und Krankheiten und die Vergebung der Sünden waren für ihn Zeichen für das anbrechende Gottesreich. In seiner Lehre betonte Jesus, dass die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe gleichermaßen wichtig seien, und dabei radikalisierte er die Forderung nach Nächstenliebe: Angriffe anderer sollen wir immer wieder vergeben („siebzigmal siebenmal“ nach Mt 18,22), leidenden Mitmenschen soll unbedingt, also auch dann geholfen werden, wenn wir dafür Nachteile in Kauf nehmen müssen („Barmherziger Samariter“ Lk 10,25–37), Feinden soll man immer auch „die andere Wange hinhalten“ und mit ihnen eine „zweite Meile“ mitgehen (Mt 5,39–47). Jesus rief zu einer Umkehrung der gewohnten Maßstäbe auf, nach denen die Macht über andere ein Ausdruck der eigenen Wichtigkeit und anderen zu dienen erniedrigend ist, zu einem Verhalten also, das dem in der biologischen Evolution geltenden „survival of the fittest“ diametral widerspricht: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein“ (Mk 10,43.44). Diese Umkehrung der gewohnten Machtmaßstäbe und die radikalen ethischen Forderungen kennzeichneten auch sein Schicksal am Ende seines Lebens: Er lehnte es ab, sich gegen seine Feinde zu verteidigen oder zu schützen, und erduldete alle Erniedrigungen und Folterungen bis zum gewaltsamen Tod am Kreuz. Im Kreuz findet sich so all das symbolhaft zusammengefasst, was Jesus lehrte und tat und wofür er sich während seines Wirkens einsetzte. Nach seinem Tod erschien er, wie das Neue Testament berichtet, seinen Jüngern, was zum christlichen Auferstehungsglauben führte, der noch zu diskutieren sein wird. Solche Erscheinungen vor Einzelnen werden von Petrus und Jakobus, dem skeptischen Bruder Jesu, und von Paulus, der die Christen zunächst verfolgt hatte, berichtet. Daneben soll es auch Gruppenerscheinungen vor allen Aposteln und vor „500 Brüdern auf einmal“ gegeben haben, wie Paulus etwa zwanzig Jahre nach Jesu Tod berichtete (1 Kor 15,3ff.). An der Authentizität dieser Überlieferung bestehen kaum Zweifel, auch wenn sie als Interpretation einer mys113
tischen Erfahrung schwierig zu deuten ist und in der christlichen Tradition auch schon früh und dann immer wieder im Sinne einer Wiederbelebung eines Toten missdeutet wurde. Die Jünger selbst deuteten die Erscheinungen als eine Aufforderung Gottes, die Sache Jesu weiterzuführen. Auch wenn Jesus als jüdischer Rabbi in seiner Verkündigung die prophetischen und weisheitlichen Traditionen des Judentums fortsetzte und so gesehen einfach eine unter anderen religiösen Strömungen seiner Zeit (Pharisäer, Sadduzäer, Zeloten) verkörperte, ist doch in seinem Leben und seiner Verkündigung wirklich Neues, vorher nicht Dagewesenes auszumachen, sollte es auch „nur“ in einer neuen Kombination traditioneller Elemente bestanden haben. Zu diesem Neuen gehört aber nicht, dass er für sich einen besonderen Status beansprucht und sich selber für den Messias gehalten hätte; wahrscheinlicher ist, dass die damals im Volk weit verbreiteten Messiaserwartungen auf ihn projiziert und später von den Evangelisten übernommen wurden, was denn auch für die römischen Machthaber ein wichtiges Motiv für seine Hinrichtung gewesen sein dürfte. Wenn er sich selbst als „Menschensohn“ bezeichnete, tönt das für heutige Ohren zwar geheimnisvoll, im hebräischen Sprachgebrauch bedeutete dies aber nichts weiter als „Mensch“. Jesus wurde auch nicht, wie spätere mythologisierende Interpretationen weismachen wollen, von Gott „zur Vergebung der Sünden“ geopfert, was ja schon im Blick auf das von ihm verkündigte Bild von Gott als „liebendem Vater“ keinen Sinn macht, sondern er wurde das Opfer gesellschaftlicher Konflikte im damaligen Palästina, der wirtschaftlichen und machtpolitischen Konflikte zwischen Römern und Juden, zwischen Oberschicht (Tempelaristokratie) und Unterschicht, zwischen der Stadt Jerusalem und der Landbevölkerung in Judäa: „Jesus ist in seinem Sterben ein ‚Märtyrer‘ der menschlichen Unfähigkeit, mit seinen Mitmenschen zusammenzuleben – nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern auch im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen und Konflikte. Es ist dieselbe Unfähigkeit, die er in seiner Verkündigung bekämpft.“120 Mit Jesus haben sich aber trotz solcher Relativierungen grundsätzlich neue Perspektiven für den damaligen Glauben eröffnet: Neu in seiner Verkündigung ist sicher die Eindringlichkeit und Radikalität, mit der Jesus im Blick auf das Herannahen des Gottes114
reichs zu einer grundsätzlichen Verhaltensänderung aufruft, wie sie uns wohl am eindrücklichsten in seiner Bergpredigt überliefert ist. Für viele Einzelforderungen lassen sich zwar Entsprechungen in der jüdischen Tradition finden, nicht zuletzt auch für die immer wieder als „typisch christlich“ gerühmte Feindesliebe (Mt 5,43.44).121 Aber das Ganze seiner Verkündigung, die ihr eigene Stoßrichtung, ist etwas, was so vorher noch nicht da gewesen war. So interpretiert Jesus die für die Juden heiligen und damit unantastbaren Gebote neu, indem er sie mit seinem in jüdischer Sicht gotteslästerlichen „Ich aber sage euch ...“ vom buchstäblichen Sinn befreit und sie stattdessen auf ihre eigentliche Intention hin auslegt und sie damit nicht nur verschärft, sondern den Menschen auch die Aufgabe aufbürdet, in jeder Situation ihre praktische Umsetzung neu zu überdenken, anstatt sich stur an gesetzlichen Vorschriften orientieren zu können. Jesus setzt also nicht auf Gesetzestreue, sondern nimmt den Menschen als verantwortungsbewusstes, autonom denkendes Wesen ernst. Nicht nur seine Verkündigung, sondern auch ihre mutige Umsetzung in sein exemplarisches Leben zeigen eine große Unabhängigkeit von den herkömmlichen Normen, was, um nur zwei Beispiele zu nennen, an seinem Umgang mit dem Sabbatgebot oder mit der gesetzlich vorgeschriebenen Todesstrafe für eine Ehebrecherin klar ersichtlich wird. Dazu stellt er soziale Ordnungen auf den Kopf, z. B. in seinen Seligpreisungen die herrschenden „sozialdarwinistischen“ Machtstrukturen und insbesondere auch das typisch menschliche Streben nach Besitz und nach Macht über andere. Zum Neuen, das in der Verkündigung Jesu zu finden ist, gehört nicht zuletzt auch das von ihm gezeichnete Gottesbild, das im Hintergrund all seiner religiösen und ethischen Forderungen steht: Gott ist nicht mehr der gänzlich jenseitige absolute Herrscher, Gesetzgeber und Richter, sondern wesentlich Liebe und Güte, die dem Leben und insbesondere dem Menschen vergebend eine Chance gibt, ja grundsätzlich das Leben und den Menschen als sein Gegenüber „will“. Zeichenhaft dafür steht, dass Jesus von Gott als dem „Vater“ spricht. Darum kann für Jesus die Gottesherrschaft schon „mitten unter uns“ beginnen, wenn sich der Mensch an Gottes lebensfreundlichen Geboten orientiert. In der Folge dieses für die damalige Zeit durchaus revolutionären Gottesbildes 115
entstand die christliche Auffassung, dass sich Gott in Jesus offenbart habe, was ihm denn auch den Ehrentitel „Gottes Sohn“ eintrug. Die Einzigartigkeit Jesu führte dann aber schon in der urchristlichen Gemeinde zu seiner zunehmenden „Vergottung“. Mit anderen Worten: „Aus dem zum Glauben Rufenden wurde der Inhalt des Glaubens, aus dem Evangelium Jesu das Evangelium von Jesus als dem Christus. Man glaubte nun nicht nur wie er, man glaubte an ihn“122 als an eine göttliche Person. Die Interpretation der Jesuserscheinungen nach seiner Hinrichtung am Kreuz als „Auferstehung von den Toten“ im Sinne einer leiblichen Auferstehung zog weitere Mythologisierungen wie z. B. eine „Himmelfahrt“ nach sich, und in der Folge wurde Jesus mehr und mehr zu einer göttlichen Person in einem mythischen Weltdrama gnostischer Art emporstilisiert. Der Beginn dieser Entwicklung war bereits in den Evangelien angelegt, insbesondere im Johannesevangelium mit seinem Prolog von Jesus als dem göttlichen Logos (Wort), der vom Urbeginn der Welt an schon bei Gott gewesen war, von Gott als das erlösende Licht auf die Erde gesandt wurde, um dann wieder zu Gott zurückzukehren, und mit den hoheitsvollen Christusreden, die der historische Jesus sicher nie so gehalten hat. Das Modell dieses Mythos, Ausgang in der Ewigkeit – erlösendes Wirken in der dem Bösen verfallenen irdischen Welt –, Rückkehr in die Ewigkeit, findet sich in der Gnosis, einer damals weit verbreiteten Mischreligion aus philosophischen und religiösen Vorstellungen, und in den antiken Mysterienkulten: Der ewige Logos (Gottes Wort) steigt aus dem Himmel auf die Erde, erleidet hier das Schicksal eines Menschen, verhilft ihnen dabei zur Erlösung aus der „bösen“ Welt, indem er sie wieder auf ihre eigentliche Bestimmung als geistige Wesen hinweist, und geht wieder zurück in die Ewigkeit. Wer sich im entsprechenden Mysterienkult auf den Namen dieses Logos einweihen, also taufen lässt, nimmt am Schicksal des Logos teil, geht also nach seinem Tod auch in die Ewigkeit ein, wird demnach ebenfalls „vergottet“. Selbstverständlich stützte man sich bei der Mythologisierung der Person Jesu zum Christus durch die Übertragung einer solchen Art von gnostischem Erlösermythos auf ihn auf die eigene jüdische Glaubenstradition und auf die Überlieferungen zu seinem Leben und Wirken, immer 116
auch darauf bedacht, sich gegen die weit verbreiteten anderen gnostischen Glaubensrichtungen abzugrenzen. So wurde Jesus mit dem im jüdischen Glauben erwarteten Messias (Christus), einem ebenfalls mythologischen von Gott her erwarteten Befreier von Israel identifiziert, allerdings, dem Leben und Wirken Jesu Rechnung tragend, als gewaltfreier sanfter Erlöser umgedeutet. Und – auf diesen Unterschied legte und legt der christliche Glaube großen Wert – während der typisch gnostische Erlöser den Gläubigen einfach das nötige Wissen (Gnosis = eine Art Geheimlehre für die Eingeweihten) zur Selbsterlösung vermittelt, geschieht die Erlösung im christlichen Mythos nicht durch Einsicht und Streben des Menschen, also nicht durch Selbsterlösung, sondern ist ein Akt göttlicher Gnade, indem Gott den Erlöser, seinen „Sohn“ eben, „zur Vergebung der menschlichen Sünden“ den Opfertod sterben lässt, bzw. sich dieser selbst im Tod am Kreuz als stellvertretendes Opfer darbringt. So fanden denn auch archaische jüdische Opfervorstellungen zur Besänftigung der Gottheit im Jesus-Mythos Eingang und gaben der Hinrichtung Jesu eine mythologische Interpretation. Der Höhepunkt dieser Mythologisierung Jesu wurde im vierten Jahrhundert mit dem Glaubensbekenntnis von NizäaKonstantinopel erreicht, dem bis heute unangetasteten und für den christlichen Glauben nach wie vor „verbindlichen“ Bekenntnis: Wir glauben an den einen Herrn, Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, der vor aller Ewigkeit aus dem Vater gezeugt wurde, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht erschaffen, wesensgleich mit dem Vater, durch den alles erschaffen wurde, der um unseretwillen, der Menschen, und zu unserer Erlösung herabgekommen ist aus den Himmeln und Fleisch angenommen hat, aus dem Heiligen Geist und Maria, der Jungfrau, und Mensch geworden ist, der um unseretwillen gekreuzigt wurde unter Pontius Pilatus und gelitten hat und begraben wurde und am dritten Tag auferstanden ist gemäß den Schriften, und hinaufgefahren ist in die Himmel und sitzt zur Rechten des Vaters, und kommt wieder in Herrlichkeit zu richten die Lebendigen und die Toten, dessen Reich kein Ende haben wird. Mit diesem Glaubensbekenntnis wurde für die Christen implizit auch das damalige „dreistöckige“ Weltbild festgeschrieben und so 117
gewissermaßen zu einem Teil ihres Glaubens gemacht, jenes dualistische Weltbild, in dem Gott sozusagen als Urgeist, im Himmel „oben“ gedacht, der von ihm geschaffenen materiellen Welt „unten“ gegenüber steht: Die Materie, gleichsam als von Gott abgefallener, zum Teufel gewordener Geist, enthält keinen Funken mehr vom göttlichen Geist und ist völlig von Gott losgelöst, sozusagen sein negatives Prinzip. Der Mensch ist im Wesentlichen Materie, besitzt aber noch einen Funken göttlichen Geistes und ist in diesem Weltbild darum zwischen den beiden Extremen Geist und Materie, natürlich der Materie näher, in einem „Zwischenstockwerk“ angesiedelt. Seine Lebensaufgabe besteht darin, sich zunehmend vom Materiellen zu lösen und sich dem rein Geistigen zuzuwenden, um so wieder in Gottes Sphäre aufzusteigen, aus der er ursprünglich stammt. Der gnostische Erlöser verhilft seinen „eingeweihten“ Gläubigen zu diesem Aufstieg aus dem verlorenen Irdischen ins ewige Göttliche. Es erstaunt nicht, dass eine Darstellung des christlichen Glaubens im Weltbild des vierten Jahrhunderts, wie sie das dogmatisch noch immer maßgebende Glaubensbekenntnis nun mal ist, von heutigen Menschen weder verstanden noch ehrlicherweise so geglaubt werden kann. Christlicher Glaube, der sich auf diesen antiken Christusmythos stützt, ist eigentlich nicht viel mehr als Aberglaube, nicht zuletzt darum, weil er mit der überlieferten Verkündigung und dem Wirken Jesu kaum mehr etwas gemein hat und damit auch dem Selbstverständnis Jesu, wie es uns aus dem ältesten und darum wohl am wenigsten vom gnostischen Erlösermythos beeinflussten Evangelium, dem Markusevangelium, entgegenkommt, diametral widerspricht. Außerdem hat gerade dieses Christusbild dem christlichen Überlegenheitsdenken und Absolutheitsanspruch gegenüber anderen Religionen und Kulturen Vorschub geleistet und innerchristlich zur Abwertung der Natur – und der Frau, die mit der Natur gleichgesetzt wurde – sowie zur Verteufelung der Sexualität geführt. Eine Neuinterpretation der Person Jesu in unserem heutigen Welt- und Gottesbild ist also unerlässlich, wenn wir uns nicht weiterhin dem Vorwurf aussetzen wollen, einem heute absurd anmutenden antiken Mythos als Grundlage unseres Glaubens anzuhangen. Darum stellt sich jetzt die Frage, wie die Person Jesu mit ihrer 118
zweifellos einzigartigen Bedeutung für den nach ihr benannten christlichen Glauben im Rahmen unseres heutigen evolutionären Welt- und Gottesbildes dargestellt werden müsste. Denn sowohl die traditionelle dogmatische Christologie aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, die den Menschen Jesus mit den Formeln vom „fleischgewordenen Logos“ und vom „wahrhaften Gott und wahrhaften Menschen“ zum Christus und damit zum „menschgewordenen Gott“ und so zu einem Teil eines „dreieinigen“ Gottes verklärte, als auch die heutige naive evangelikale Volksfrömmigkeit, die Jesus gar völlig mit Gott identifiziert, sind ja nur in der Sichtweise des oben erwähnten mythologisch-dualistischen Weltbilds denkbar. Zunächst einmal: Im evolutionären Weltbild ist Gott der „Weltgeist“ einer, die Vorstellung von Gott als Trinität muss, wie ich schon betont habe, sowohl als unbiblisch als auch als mythologisches Konstrukt abgelehnt werden. Der historische Jesus kann als endlicher Mensch, der er nach allen Überlieferungen war, nicht Gott sein, denn das würde dem elementarsten Gottesbegriff widersprechen. Ebenso wie die Trinität ist der von hellenistisch denkenden Theologen aus dem Menschen Jesus durch seine ohnehin fragwürdige Identifikation mit dem in den Spätschriften des Alten Testaments erhofften jüdischen Messias und durch seine „Vergottung“ konstruierte Christus ein mythologisches Konstrukt, das, wie schon gesagt, mit der Natur und dem Leben und Wirken des Jesus von Nazaret nicht mehr viel gemein hat. Nebenbei bemerkt: Natürlich sind im Mythos und sogar im daraus abgeleiteten Dogma in bildhafter Form Glaubenserfahrungen der frühen Christen festgehalten, die vielleicht auch heutigen Menschen noch etwas zu sagen hätten, sofern man sie eben als Mythos, als religiöse Dichtung also, und nicht als „Tatsachenbericht“ lesen und entsprechend interpretieren würde. Noch immer erheben die altkirchlichen Glaubenssätze aber den Anspruch, wörtlich geglaubt werden zu müssen, und die wenigsten Theologen versuchen dieses für den christlichen Glauben fatale Missverständnis auszuräumen. Um nun wieder ins evolutionäre Weltbild zurückzukehren: Zwar ist Jesus also weder Gott noch eine von „drei göttlichen Personen“. Aber: Gott als der seiner ganzen Schöpfung einwohnende Geist manifestiert sich, „offenbart“ sich natürlich auch in der Person 119
Jesu, so wie er sich in allem Leben, insbesondere auch in allen Menschen offenbart. Insofern hat also das Neue Testament durchaus Recht, wenn es Jesus als unseren Bruder und Gott, den Geist, der ja letztendlich auch der Welt und ihrer Evolution als ihre „Ursache“ und ihr „Beweger“ innewohnt, metaphorisch als unser aller „Vater“ bezeichnet. In diesem metaphorischen Sinne – und nur in diesem – ist dann nicht nur Jesus „Gottes Sohn“, sondern sind wir alle „Gottes Söhne und Töchter“. Aber: Da ja Jesus, wie bereits festgestellt, in seiner Verkündigung und in seinem Wirken auf überzeugende Weise grundsätzlich Neues über Gott und die Stellung der Menschen zu ihm ausgesagt hat, das in der Folge rasch zu einer neuen Weltreligion anwuchs, muss auch festgestellt werden, dass er offenbar in ganz besonderem Maße von Gott beseelt war. Ihn als besonders, vielleicht in der Menschheitsgeschichte sogar als in einmaliger Weise vom Geist Gottes durchdrungenen Menschen in seiner religiösen „Funktion“ als Propheten einzustufen, liegt daher nahe. Aber ist er denn nicht aufgrund seiner Einzigartigkeit wenn auch nicht Gott, so doch eindeutig mehr als ein Prophet? Und wie könnte diese christliche Glaubenserfahrung und -überzeugung in unserem evolutionären Weltbild plausibel gemacht werden? Der Theologe Gerd Theißen versuchte eine Deutung des Phänomens Jesus im Rahmen der die ganze Geschichte des Universums bestimmenden Evolution123, ausgehend von der Frage: „Trifft man die Intention des Neuen Testaments, wenn man stattdessen (nämlich dass sich Gott in Jesus auf übernatürliche Weise ‚endgültig offenbart‘ hat) fragt, ob Jesus eine Variante menschlichen Lebens (im evolutionstheoretischen Sinn) ist, die der zentralen Wirklichkeit (Gott) besser gerecht wird?“124 Oder einfacher gefragt: Lässt sich das Neue, das mit Jesus auftrat, als eine Art von „Quantensprung“ in der menschlichen, der kulturellen und religiösen Evolution begreifen? Natürlich spricht das Neue Testament nicht in den Begriffen der Evolutionstheorie, und doch kann Theißen einleuchtende Parallelen aufzeigen, die einen „Schub“ in der kulturellen Evolution durch Jesu Leben und Verkündigung nahe legen: Im Neuen Testament wird von Jesus als „neuem Menschen“ gesprochen (1 Kor 15,44ff.), was durchaus als Mutation interpretiert werden kann, die zu einer besseren Anpassung an den göttlichen 120
Geist geführt hat. Das Neue Testament „beschreibt Jesus mit Bildern, die eine ganz enge Entsprechung zwischen Gott und ihm voraussetzen: Er ist das Ebenbild Gottes – das, was der Mensch sein sollte. Er ist (so) eine gelungene Anpassungsstruktur an die göttliche Realität.“125 Und wie schon dargelegt, besteht das mit Jesus auftretende Neue nicht in seinen einzelnen ethischen Aussagen und Forderungen, die in ähnlicher Weise ja bereits in der jüdischen Tradition zu finden sind, sondern „ihre Kombination ist einzigartig. In dieser Kombination liegt das Neue. Hier begegnet uns eine ‚Mutation‘ menschlichen Lebens“.126 Wie ja auch in der biologischen Evolution Mutationen aus der Neukombination von schon vorhandenen Elementen bestehen können. Übrigens: Da in einer selektionierten und darum besseren Anpassungsstruktur an die „zentrale Wirklichkeit“, also an den göttlichen Geist, gemäß der evolutionären Erkenntnistheorie dieser Geist auf eine weitere, bisher noch nicht da gewesene Weise „abgebildet“ wird oder, in theologischer Sprache ausgedrückt, sich „offenbart“, stützt die auf Jesus angewandte Mutationsmetaphorik auch den neutestamentlichen Befund, dass sich Gott in Jesus offenbart habe: „Denn das, was die Religionen ‚Offenbarungen‘ nennen, sind Mutationen unseres Gesamtbewusstseins, die ebenso unerklärlich und unableitbar sind wie die Mutationen des genetischen Codes innerhalb der biologischen Evolution. Hinter diesem Vergleich steckt die (der evolutionären Erkenntnistheorie zugrunde liegende) Überzeugung, dass das religiöse Bewusstsein den gleichen Prinzipien unterliegt wie die gesamte Evolution, ja, die gesamte Entwicklung unseres Verhaltens und Wissens.127 Die ‚Offenbarungen‘ zeigen uns die Gesamtwirklichkeit in einem neuen Licht. Sie verleiht uns gewissermaßen ein neues Organ, sie wahrzunehmen – so wie uns jeder Fortschritt in der Evolution neue Organe verlieh, die Umwelt zu erschließen.“128 Neu ist an dem von Jesus verkörperten kulturellen Evolutionsschritt, wie schon erwähnt, insbesondere die von ihm im Zusammenhang mit seinem neuen Gottesbild verkündigte und vorgelebte Ethik, die in direktem Widerspruch steht zu dem in der biologischen Evolution geltenden Selektionsprinzip, das man etwas salopp umschreiben kann mit „survival of the fittest“ oder mit der „größeren Überlebenschance des besser an die Umwelt Ange121
passten“ bzw. dessen, der sich im „Fressen und Gefressenwerden“ als der Stärkere erweist. Jesus setzte sich für die Schwachen ein und machte diese Einstellung für alle zur Pflicht, er identifizierte sich mit Kranken und aus der Gesellschaft Ausgestoßenen und er predigte die Nächstenliebe. Er leitete mit dieser Umkehr des Selektionsprinzips vom Konkurrenzverhalten in der biologischen Evolution zum Altruismus auf der Ebene der kulturellen Evolution eine Fortentwicklung der Evolutionsfaktoren ein, sozusagen eine „Evolution der Evolution“ (Theißen). In dem in Jesus vollzogenen Evolutionsschritt, der ja als solcher eine bessere Anpassung an die „zentrale Wirklichkeit“ (Gott) bedeutet, offenbart sich somit Gott als mit allem Leben solidarische „Liebe“, eben: als der Geist, der das Leben „will“, um sich in diesem selbst zu verwirklichen – in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen aus dem evolutionären Gottesbild. Offenbar ist „der Mensch auf einer Stufe der Evolution angelangt, wo er gegen grundlegende Rahmenbedingungen der Wirklichkeit verstößt, wenn er die Solidarität mit allen Menschen und der Natur aufkündigt129“. Dieser in Jesus erstmals sichtbar gewordene Evolutionsschritt „erlöst“ den Menschen gewissermaßen vom bisherigen Selektionsdruck und dem damit verbundenen Konkurrenzkampf. Theißen dazu: „Selektionsdruck heißt, dass die Güter knapp sind und Schwächere keine Lebenschancen haben. Angesichts dessen ruft Jesus zum Vertrauen in den Schöpfer auf, der für alle Geschöpfe sorgt. Selektionsdruck zeigt sich im Sozialdruck, der in Schuldgefühlen verinnerlicht wird: Sündenvergebung befreit von diesem Druck. Selektionsdruck erscheint als zwischenmenschliche Aggression: Gott aber lässt seine Sonne über Gute und Böse aufgehen. Ihn nachahmen heißt: die Feinde lieben.“130 Daraus folgt die christliche Ethik mit ihrem Protest gegen den „Kampf aller gegen alle“ als unbedingte Forderung des Evolutionsgeschehens: „Wenn kulturelle Evolution Selektionsminderung ist – also eine Evolution der Evolutionsprinzipien darstellt –, so kann der Protest gegen die Härte des Selektionsdruckes von bewusst handelnden und denkenden Lebewesen als eine Verpflichtung erkannt werden, die in der Struktur der Wirklichkeit ‚vorprogrammiert‘ ist und der sich niemand entziehen kann, wenn er der letztgültigen Realität entsprechen will“131 und, so möchte ich beifügen, nicht riskieren will, dass sich das Lebewesen Mensch in122
folge Missachtung des neuen Selektionsprinzips „Liebe zu Gott“, was dem evolutionären Gottesbild zufolge die Nächstenliebe, die Liebe zu allem Leben und die Liebe zur Mitwelt überhaupt mitmeint, selbst zum Aussterben verurteilt. Ich meine: Die Charakterisierung Jesu als eine geglückte „Anpassungsstruktur“ an die Wirklichkeit des als Weltgeist gedachten Gottes im Zuge der geistig-kulturellen Evolution kann heutigen Menschen sowohl seine Einmaligkeit als auch seinen überragenden religionsgeschichtlichen Erfolg plausibel machen, ohne ihn zu „vergotten“ und ihm eine Opferrolle in einem mythischen Erlösungsdrama kosmischen Zuschnitts vor dem Bühnenbild einer schon längst obsoleten Weltsicht zuzuweisen und so überdies ihn und seine Anliegen zu verfälschen. Heißt diese Einordnung der historischen Person Jesu ins evolutionäre Weltbild nun, dass es einen Christus nicht „gibt“ und dass die ganze christologische Symbolik für den christlichen Glauben obsolet ist? Wie ich bereits dargelegt habe, sind im evolutionären Weltbild zwei Erkenntnisweisen des Weltgeistes möglich: einerseits die diskursive, „wissenschaftliche“ Erkenntnis des Geistes (oder doch zumindest einiger seiner Teilaspekte) auf dem Weg über seine Konkretionen in den materiellen und lebenden Strukturen dieser Welt und andererseits die unmittelbare, intuitive, ganzheitlichmystische Erkenntnis aufgrund der Tatsache, dass wir ja alle „Geist von seinem Geiste“ sind, eine Erkenntnis gewonnen aus Resonanzund Absurditätserfahrungen in unserer Lebenswirklichkeit. Die von Menschen schon seit jeher gemachten religiösen Resonanzund Absurditätserfahrungen, also einerseits Liebe und Grundvertrauen ins Leben und andererseits Leiden, Tod und Sinnlosigkeit des Lebens, und der aus diesen Erfahrungen resultierende ethische Appell „Nächstenliebe statt Kampf aller gegen alle“ widerspiegelten sich im Leben und in der Verkündigung des historischen Jesus in offenbar vorher noch nie da gewesener, besonders eindrücklicher Weise. So „entstand“, wie schon erwähnt, in den urchristlichen Gemeinden die mythologische Christusfigur gleichsam als eine „Steigerung des historischen Jesus“, der so „über seine historische Situation hinaus allgemeine Bedeutung“ erhielt.132 Jesus wurde zu der „letztgültigen Realität“, die Menschen in ihren Resonanz- und Absurditätserfahrungen erkennen, also zu Gott selbst 123
gesteigert. Theißen führt dazu aus: „Es gibt kaum ein überzeugenderes Symbol für die Absurdität menschlichen Daseins als das Kreuz. Es traf einen Menschen, den schon seine Lehre als gefährlich erscheinen ließ – einen Menschen, der für eine gewaltfreie Lösung unserer zwischenmenschlichen Konflikte eintrat. Es wurde symbolisch gesteigert: An ihm starb nicht nur ein vorbildlicher und unschuldiger Mensch, was schon absurd genug ist; an ihm starb Gott selbst. Christologische Symbolik artikuliert zugleich die überwältigendste Resonanzerfahrung, die Menschen zugänglich ist, die Erfahrung der Liebe: ‚Wer bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm‘ (1 Joh 4,15 f.). Christliche Religion antwortet also wie jede Religion auf den Appellcharakter der Gesamtwirklichkeit. Ihr Proprium aber ist: Sie stellt einen leidenden Menschen ins Zentrum religiöser Erfahrung und bringt im Symbol des Kreuzes die überwältigende Absurdität der Wirklichkeit und im Liebesgedanken ihre Resonanzfülle zum Ausdruck. Christologische Symbolik sensibilisiert sowohl für die negativen Seiten unseres Daseins wie für das, was Widerstand gegen sie ermöglicht: für Resonanzerfahrung in ihren mannigfachen Formen, die in zwischenmenschlicher Liebe ihre Erfüllung findet.“133 Wie schon erwähnt, lassen sich intuitiv gewonnene, also mystische Erfahrungen nicht in der logisch-konkreten Sprache der Wissenschaft wiedergeben; sie können nur in dichterische Bildersprache und in Symbole gefasst werden. Und diese Sprache ist nun mal nicht zeitlos, sondern bedient sich bildhafter Vorstellungen aus dem jeweils herrschenden Weltbild. Die von Theißen erwähnte mythologische Überhöhung des historischen Jesus zum Christus erfolgte darum natürlicherweise mit der Symbolik und den Bildern, die das dualistische gnostische Weltbild der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung zur Verfügung stellte. Aufgrund der von den Gläubigen gemachten Resonanz- und Absurditätserfahrungen, die sie im Leben und in der Verkündigung von Jesus exemplarisch gespiegelt und bestätigt fanden, wurde Jesus in der Bilderwelt der dualistischen gnostischen Weltsicht zum „göttlichen Logos“, zum „Sohn Gottes“ und in dieser Eigenschaft zu Gott sel124
ber, zum „Weltenherrscher“ (Pantokrator) und endzeitlichen „Weltenrichter“, zum „Erlöser“, also nach jüdischer Tradition zum Messias, eben dem „Christus“ mythologisiert. Alle diese „Ehrentitel“ und die hinter ihnen stehenden christologischen Aussagen machen somit nur in der Perspektive jenes längst überholten dualistischen Weltbilds Sinn. Als mythologische Bilder dürfen sie deshalb schon gar nicht wortwörtlich in dem Sinne für „wahr“ genommen werden, wie das mit diskursiv gewonnenen und logisch formulierten Erkenntnissen, z. B. einem mathematischen Satz, möglich ist. Nach wie vor aber sprechen heutige Christen von „Menschwerdung Gottes“, von „Gottes Sohn“ oder von ihrem „Erlöser“, auch wenn sie sich, im Gegensatz zu den im antiken Weltbild lebenden Glaubensgenossen, denen diese Begriffe vom Weltbild her geläufig waren, darunter nichts mehr vorstellen können und z. B. bei der Frage, wovon sie sich denn durch Christus erlöst fühlten, keine Antwort wissen. Für heutige Menschen ist die alte Christologie darum zu einer Ansammlung von mehr oder weniger inhaltslosen Formeln verkommen. Die wichtigste Aufgabe heutiger Theologen bestünde darum auch im Falle Jesu darin, die in mythologischer Sprache ausgedrückten Glaubenserfahrungen der ersten und auch heutiger Christen am Leben und an der Verkündigung des historischen Jesus zu messen und sie dann gegebenenfalls im Rahmen unseres heutigen Weltbilds, also mit heutige Menschen ansprechenden Bildern christologisch zu interpretieren. Darunter dürfte aber infolge von weiteren Veränderungen in unserem Weltbild und der Vielfalt heutiger Probleme und Interpretationsmöglichkeiten keines zu finden sein, das sich von „der Kirche“ als allein zutreffend verordnen ließe, wie dies im vierten Jahrhundert noch möglich war. Wir werden deshalb weiterhin mit unterschiedlichen und wechselnden Christusvorstellungen leben müssen, wie sie etwa aus der Befreiungstheologie oder der Feministischen Theologie hervorgegangen sind. Und das ist gut so; nur so kann christlicher Glaube aktuell und lebendig bleiben.
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11. Weitere christliche Glaubensbegriffe – im evolutionären Weltbild betrachtet Warum muss sich das Universum all dem Ungemach der Existenz unterziehen? Natürlich kann man Gott als Antwort auf diese Frage definieren, aber das bringt einen nicht viel weiter, es sei denn, man akzeptiert die anderen Konnotationen, die gewöhnlich mit dem Begriff „Gott“ verbunden werden. Stephen Hawking
Da im Horizont des evolutionären Weltbildes Gott und Jesus in einer neuen Perspektive erscheinen, ist leicht einzusehen, dass auch viele christliche Glaubenssätze und -begriffe, welche für uns in unserer heutigen Welt, wie schon öfters betont, zwar noch vertraut klingen mögen, aber faktisch weitgehend unverständlich geworden sind, einer Neuinterpretation bedürfen. Dies soll im Folgenden an einigen wenigen Begriffen exemplarisch versucht werden. Die Leserin, der Leser wird dabei sicher bald merken, dass die meisten dieser Neuformulierungen so neu gar nicht sind, sondern in die heutige Theologie schon seit längerem Eingang gefunden haben, auch wenn sie von den Gläubigen kaum wahrgenommen – oder gar abgelehnt werden. Im Blick auf die den christlichen Glauben im eigentlichen Sinne konstituierenden Daten in Jesu Leben, als da sind: Tod am Kreuz (Karfreitag) und Auferstehung (Ostern), drängt es sich wohl als erstes auf, den Begriffen Tod, Ewiges Leben und Auferstehung nachzuspüren. Der natürliche Tod ist im Verlauf der Evolution des Lebens beim Übergang von einzelligen zu mehrzelligen Lebewesen, in denen sich die Keimzellen von den Körperzellen getrennt haben, notwendig geworden, da eine unbegrenzte Lebensdauer des ganzen Individuums im Blick auf die biologische Evolutionsstrategie, die sich ja auf die Weiterentwicklung des Lebens durch Mutationen im Genom beschränkt, eine unzweckmäßige Verschwendung biologi126
schen Materials wäre. Die Natur geht ja mit ihren Ressourcen immer sehr haushälterisch um. In evolutionärer Sicht ist der Tod also der Preis, den das Leben für seine zunehmende Komplexität und damit nicht zuletzt auch für seine eigentliche Funktion, nämlich dem Geist zu seiner Manifestation zu verhelfen, zu bezahlen hat, also letztlich eine Folge davon, dass Leben eigentlich noch nicht „ist“, sondern nach wie vor dem Evolutionsprozess unterliegt, also noch immer „im Werden“ ist. Der Tod ist also nicht „der Sünde Sold“, wie es Paulus im Kontext seines dualistischen Weltbilds meint, in dem der Mensch sozusagen als gefallener Engel beim mythologischen „Sündenfall im Paradies“ seiner ursprünglichen Unsterblichkeit verlustig ging. Da uns die Geschichte der Evolution gezeigt hat, dass sich auch der seiner selbst bewusste menschliche Geist als evolutionäre Anpassungsstruktur an die Geistigkeit der letzten Wirklichkeit, also dem Trend der Evolution zur zunehmenden Manifestation des Geistes zu verdanken hat und so zwangsläufig an materielle Strukturen wie das Gehirn gebunden bleibt, stirbt auch der individuelle menschliche Geist (religiös: die Seele) mit seinem Träger. Diese durch die Evolution und die Gehirnforschung nahe gelegte monistische Antwort auf das in der Philosophie immer wieder erörterte „Geist-Körper-Problem“ widerspricht der in den christlichen Glauben eingedrungenen hellenistischen Auffassung eines vom Körper unabhängigen Geistes, der den körperlichen Tod „überlebt“, deckt sich hingegen mit der ursprünglichen jüdischen Sicht, dass Körper und Geist ein untrennbares Ganzes bilden. Was ist demzufolge von der christlichen Hoffnung auf ein „Weiterleben der Seele nach dem Tod“ zu halten? Eine bloße Illusion? Der Theologe Wolfhart Pannenberg meint: „Ob nach dem Tod überhaupt etwas bleibt, ist immerhin Gegenstand begründeter Zweifel. Es hat sicher eine gewisse Plausibilität, dass danach nicht einfach Nichts ist, aber es ist dennoch sehr rätselvoll. Das Leben ist das Ganze unserer leiblichen Existenz. Vielleicht ist das die Seele, dieses Ganze, das auch dann nicht einfach verschwindet, wenn seine Teile sich auflösen. Aber woraufhin dieses Ganze dann noch bestehen kann, wenn unser Leib sich auflöst, das ist eine große Frage.“134 Mit etwas anderen Worten: Das evolutionäre Weltund Gottesbild sieht die Welt allgemein und den Menschen im Be127
sonderen als Manifestation des transzendent-immanenten Weltgeistes, als „Inkarnation“ Gottes also. So betrachtet ist der Mensch auch ein Teil des ganzen nicht kreatürlichen und somit „unsterblichen“ Weltgeistes. Man könnte darum sagen: Auch mit dem Tod bleibt der menschliche Geist, was er immer war, nämlich ein Teil des Weltgeistes, zu dessen Konkretisierung er ja zu Lebzeiten beigetragen hat; oder allenfalls: Mit dem Tod geht der menschliche Geist wieder ein in den Weltgeist. So bringt der Mensch als Mitschöpfer am einen Ganzen der Welt auch seine persönliche Lebensgeschichte ein in den Weltgeist. Insofern stellt sich nur noch die letztendlich aus dem evolutionären Gottesbild nicht beantwortbare Frage, in welcher Form denn der einzelne Mensch nach seinem Tod am Weltgeist teilhat oder ob alle individuellen Spuren mit dem Tod verwischt werden. Die christliche Hoffnung hält über die oben stehenden kargen Folgerungen aus dem evolutionären Gottesbild hinaus daran fest, „dass jeder einzelne Mensch im Gedächtnis Gottes aufbewahrt bleibt“135. In diesen Sinne, ob mit oder ohne Bewahrung der Individualität, dürfte auch der biblische Begriff Ewiges Leben vom evolutionären Gottesbild her zu sehen sein: Gott, der Geist, manifestiert sich in der Welt, seiner Schöpfung, deren Sinn eben in dieser seiner Manifestation besteht, insbesondere im Leben, das eine Voraussetzung für das Auftreten von Geist in dieser Welt ist. Gott „will“ also das Leben, um sich zu „inkarnieren“. Damit ist er nicht nur transzendent, sondern eben auch im Leben, er ist ein „Gott des Lebens“; in diesem Sinne ist er selbst das ewige Leben. Der Mensch als bewusster Teilhaber an Gottes Geist hat somit auch Anteil am ewigen Leben, und dies schon zu seinen Lebzeiten. In diesem Sinne ist ewiges Leben natürlich zeitlos, hat so aber bestimmt nichts mit der Vorstellung einer Art von ins Endlose verlängerten persönlichen Existenz zu tun. In guter Übereinstimmung mit diesen Überlegungen steht, was der Theologe Hans Küng über den Glauben an das ewige Leben sagt: „Das vertrauende Sich-Einlassen auf einen letzten Sinn der gesamten Wirklichkeit und unseres Lebens, auf den ewigen Gott, auf ein ewiges Leben, wird im allgemeinen Sprachgebrauch zu Recht als ‚Glauben’ an Gott, an ein ewiges Leben bezeichnet. Dabei geht es freilich um Glauben in einem weiten Sinn, der hier besser mit Vertrauen oder Hoffnung umschrieben wäre.“136 128
Die Unsicherheit bezüglich eines „Weiterlebens“ nach dem Tod widerspiegelt sich auch in den ursprünglichen, noch nicht mythisch-gegenständlich überformten Berichten des Neuen Testaments zur „Auferstehung“ Jesu, besser gesagt: zur Auferweckung Jesu durch Gott in 1 Kor 15,5 ff. Sie berichten äußerst karg von Erscheinungen Jesu, ohne diese weitergehend zu interpretieren, als dass Jesus, in welcher Form auch immer, weiterlebe. Noch nicht von einem leeren Grab oder einem wiederbelebten Leichnam, der isst und trinkt und dessen Wunden noch erkennbar sind, ist hier die Rede, sondern einfach von Erscheinungen, die nicht weiter konkretisiert, aber als tatsächliche Ereignisse durchaus glaubhaft gemacht werden. Nicht zuletzt auch wegen der phänomenalen motivierenden Wirkung, die sie auf die Betroffenen hatten: Der christliche Glaube verbreitete sich bekanntlich mit einer für die damalige Zeit geradezu unglaublichen Geschwindigkeit über das ganze Römische Reich. Die späteren „Auferstehungsberichte“, wie wir sie in den Evangelien vorfinden, sind also keine „Berichte“ oder „Reports“ im heutigen Sinn, sondern die mythisch-bildhaften, materiell-konkretisierenden Interpretationen von Glaubenserfahrungen im Rahmen des für die damaligen Menschen geltenden Weltbilds. Dies zeigt sich ja auch darin, dass diese Berichte in ihren Einzelheiten wesentlich voneinander abweichen. Hans Küng folgert:„Auferweckung ist kein raum-zeitlicher Akt. Auferweckung meint nicht ein Naturgesetze durchbrechendes, innerweltlich konstatierbares Mirakel, nicht einen lozierbaren und datierbaren supranaturalistischen Eingriff in Raum und Zeit. Auferweckung bezieht sich auf eine völlig neue Daseinsweise in der ganz anderen Dimension des Ewigen, umschrieben in einer Bilderschrift, die interpretiert werden muss.“137 Und: „Jesus ist nicht ins Nichts hineingestorben. Er ist im Tod und aus dem Tod in jene unfassbare und umfassende allerletzte und allererste Wirklichkeit hineingestorben, von ihr aufgenommen worden, die wir mit dem Namen Gott bezeichnen.“138 Was oben im Kontext des evolutionären Gottesbildes zum Thema Weiterleben nach dem Tod gesagt wurde, gilt also auch für die Auferstehung Jesu: Mit seinem Tod ging er ein zu Gott, dem Geist, von dem er als geistbegabter Mensch selbst ein Teil war. Die unmittelbar nach seinem Tod sogar in noch verstärktem Maße 129
weitergehende Wirkungsgeschichte des Lebens und der Verkündigung Jesu, die Erfahrung seiner Jünger also, dass sein Geist weiterwirkte und so „seine Sache“ in vorher ungeahnter Weise weiterging, legte dann auch als eigentliche „Pointe“ des christlichen Glaubens nahe, dass Gott selbst Jesus „auferweckt“ habe, auf dass sein Geist in anderen Menschen weiterwirke. Der Theologe Rudolf Bultmann brachte es so auf den Punkt, dass er sagte, Jesus sei von Gott ins Kerygma, in die Verkündigung, auferweckt worden. Diese Interpretation ist ohne weiteres mit unserem evolutionären Welt- und Gottesbild vereinbar, in dem Jesus ja als „Quantensprung“ in der geistig-kulturellen Evolution interpretiert werden kann, der am Anfang einer neuen Epoche im evolutionären Geschehen in Richtung auf eine zunehmende „Vergeistigung“ steht. Geglaubt wird Jesus Christus in der christlichen Tradition auch als „Erlöser“ und „Heilsbringer“. Darum ist nun auch zu fragen: Wie könnte das Leben und Wirken Jesu im evolutionären Weltbild, für die heutige Welt also, als heilend oder erlösend wahrgenommen werden? Auch diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir auch unsere Erwartungen an das Heil und an die Rolle Jesu von traditionellen Begriffen lösen. Da ist zunächst die Vorstellung von Sünde und Schuld zu überdenken. Vor dem Hintergrund des evolutionären Gottesbilds kann Sünde nicht mehr als persönlicher Ungehorsam oder als Verletzung göttlichen Willens verstanden werden, da die Vorstellung Gottes als einer mythologischen Person im Sinne eines göttlichen Gesetzgebers und Richters nicht mehr haltbar ist. Der Mensch unterliegt zwar wie alle anderen Lebewesen auch den Gesetzen der biologischen Evolution, nämlich sich zu vermehren und um sein Überleben zu kämpfen, aber er ist als bewusst geistbegabtes Wesen auch – und das heute mit großer Auswirkung auf seine Mitmenschen und die ganze Mitwelt – zum aktiven Mitgestalter in der kulturellen Evolutionsphase geworden, in der auch andere Selektionskriterien als die erfolgreiche Weitergabe der eigenen „egoistischen“ Gene gelten, nämlich humane Werte und Normen („Meme“), die eine kooperative Weiterentwicklung ganzer Menschengesellschaften ermöglichen. Theißen zieht daraus den Schluss: „Damit ist er (der Mensch) irreversibel zum Bürger zweier Welten geworden: Er hat einen ersten Schritt in eine neue Phase der Evo130
lution getan, ohne dass er in ihr auf Dauer heimisch werden kann. Denn als biologisches Lebewesen unterliegt er nach wie vor den Gesetzen biologischer Evolution. Als kulturelles Lebewesen aber steht ihm die Möglichkeit universalen prosozialen Verhaltens vor Augen. Als biologisches Lebewesen ist er von Verhaltenstendenzen bestimmt, welche die objektive Funktion haben, Leben auf Kosten nicht-genetisch verwandter Artgenossen zu fördern. Als kulturelles Lebewesen sieht er sich der Forderung ausgesetzt, das Leben durch eine immer umfassendere Solidarität gerade mit denen zu fördern, die im Verteilungskampf um Lebenschancen die Verlierer sind.“139 Der Mensch muss somit die biologisch vorgegebenen Verhaltensmuster (Konkurrenz) durch die die kulturelle Evolution begünstigenden Selektionskriterien (Kooperation) in Schach halten: „Wir erleben die Spannung zwischen biologischer und kultureller Evolution in uns als Schuld. Uns ist bewusst, dass wir (biologisch) prädisponierten Verhaltensweisen nicht automatisch folgen müssen. Aber wir erleiden allzu oft eine Niederlage dabei. Wir sind so prädisponiert zur Sünde.“140 Somit kann Sünde verallgemeinernd als Missachtung des sich in der Evolution manifestierenden göttlichen „Willens“ zu geistbegabtem Leben definiert werden; sie besteht also grundsätzlich im Zuwiderhandeln gegen den evolutionären Trend zur Höherentwicklung des Lebens. Denn als vernunftbegabte Lebewesen wissen wir darum, dass die ganze von uns geprägte kulturelle Evolution in einer Katastrophe für die Gattung Mensch oder gar für alles Leben enden kann, wenn wir uns weiterhin von Verhaltensweisen leiten lassen, die dem Trend der geistigen Evolution zuwiderlaufen. Das grundlegende menschliche Problem, unsere Schuld, ist also heute nicht in einer im urgeschichtlichen Mythos vom „Sündenfall“ begründeten Entfremdung von Gott („Erbsünde“) oder im Ungehorsam einem personalistisch als Gesetzgeber und Herrscher gedachten Gott gegenüber zu orten, sondern besteht vielmehr im stetigen Untergraben der Bedingungen für ein sinnvolles und fruchtbares menschliches Leben durch unsere Umweltverschmutzung und durch die Vergiftung des Ökosystems sowie durch unsere sozialen, politischen und ökonomischen Ordnungen und Institutionen, die unterdrückerisch und entmenschlichend sind. Die Frage nach dem Heil wird so zur Frage, wie wir das menschliche Leben und seine Institutionen so neu 131
ordnen können, dass wir uns als Teil des ganzen Lebensgeflechts dieser Erde nicht weiterhin unsere eigene Lebensgrundlage zerstören, nicht weiterhin sozusagen am Ast sägen, auf dem wir sitzen, und wie wir zu einem humaneren Zusammenleben zwischen allen Menschen kommen. Die klischeehafte Formel von unserer bereits erfolgten „Erlösung von den Sünden“ durch Jesus Christus, meist verbunden mit dem weltverachtenden Ansatz, die religiöse Dimension des Lebens von seinen politischen, ökonomischen, kulturellen und biologischen Dimensionen zu trennen, ist in diesem Sinne selbst als „Sünde“ einzustufen. „Heil sollte nicht länger aufgefasst werden als ein bestimmter Prozess oder eine Kraft, als einseitiges von oben auf die Erde wirkendes Tun. Vielmehr umfasst es alle die menschliche Wirklichkeit betreffenden Handlungen und Prozesse, die dazu verhelfen, Gewalt, Zerrüttung und Entfremdung sowie die verschiedenen Formen von Unterdrückung und Ausbeutung und all die anderen geschichtlichen und institutionellen Momente zu überwinden, die heute den Zerfall und die Zersplitterung von Personen und Gesellschaften fördern. Kurz, wo immer in der Welt ein schöpferischer, ein befreiender und heilender, ein versöhnlicher und neuer Geist am Werk ist, dort muss eine rettende Kraft erkannt werden. Wenn wir uns selbst für dieses Werk der Versöhnung, der Heilung und Befreiung in der menschlichen Wirklichkeit einsetzen, nehmen wir am Heilswerk des göttlichen Geistes unmittelbar teil.“141 In diesem Sinne setzt der Verfasser des ersten Johannesbriefes Gott, die schöpferische Realität, mit der Liebe gleich (1 Joh 4,8.16) und interpretiert seinem mythologischen Verständnis der Dinge entsprechend alle Handlungen der Versöhnung und der Liebe als übernatürliches Wirken des göttlichen Geistes in der christlichen Gemeinschaft. Natürlich waren es die Verkündigung und das Leben Jesu, die hier als Vorbild wirkten. Jesus ist somit das exemplarische Beispiel ihrer Verwirklichung. Aber: „Das, was eine Daseinsform ‚christlich‘ (und damit zum Leben ‚erlöst‘) macht, sind demnach nicht eine übernatürliche Qualität oder übernatürliche Qualitäten, die nur durch Jesus Christus zugänglich gemacht werden, es ist vielmehr die Wertung von Qualitäten und Möglichkeiten, die zur Versöhnung und einer liebenden Gemeinschaft hinführen: jene Möglichkeiten und Qualitäten, die beispielhaft in der 132
Geschichte Jesu dargestellt werden als normativ für menschliches Leben.“142 Dies ist ja auch von Jesus selbst so verstanden worden. So wird er von Matthäus im Gleichnis vom Jüngsten Gericht zitiert: „Wahrlich ... was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40), und in Mt 7,21: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.“ Jesus kann also insofern als unser „Erlöser“ bezeichnet werden, als er uns von der Last des Konkurrenzverhaltens und der Selbstbehauptung, vom biologischen Selektionsdruck also, befreit hat, indem er uns – nicht zuletzt mit seinem konsequent gewaltfreien „Weg zum Kreuz“ – beispielhaft die Liebe (zu allem Leben) als gangbaren und – als evolutionäres Selektionskriterium – erfolgversprechenden Weg zum „Heil“ aufgezeigt hat. Nebenbei bemerkt: Im Neuen Testament werden Erlösungserfahrungen der Jünger und der urchristlichen Gemeinde häufig in Form von Wundergeschichten weitergegeben. Dass es sich bei solchen Wundern oder Zeichen nicht um Ereignisse handelte, in denen Jesus unter Zuhilfenahme übernatürlicher Fähigkeiten Naturgesetze außer Kraft setzte, versteht sich im evolutionären Weltund Gottesbild von selbst. Die Menschen der damaligen Zeit dachten aber nicht naturwissenschaftlich und kannten auch keine Naturgesetze im heutigen Sinn, sondern erklärten ihre Erfahrungen im Rahmen des herrschenden dualistischen Weltbilds: Jedes Geschehen, auch jedes Naturgeschehen, wurde entweder der Macht Gottes oder einer bösen dämonischen Macht zugeschrieben. In der ganzen antiken Welt waren Dämonenglaube und Dämonenfurcht weit verbreitet, so dass gerade Geschichten über Dämonenaustreibungen den ersten Christen besonders geeignet erschienen, um ihre zum Leben befreienden Erfahrungen mit Jesus bildhaft in Worte zu kleiden und sie den in jener Zeit ohnehin auf Wunder aller Art begierigen Mitmenschen weiterzugeben. Die zu Wundergeschichten überhöhten und verklärten Erfahrungen sollten also zum Glauben an den „Gottessohn“ aufrufen. Dies gilt auch für die mit Sicherheit unhistorischen Naturwunder Jesu, wie die Stillung eines Seesturms oder die Verwandlung von Wasser in Wein. Da Wundergeschichten als eine damals weit verbreitete Literaturform 133
mit klar geregeltem Aufbau allgemein dem Ausdruck und der Verbreitung gläubigen Staunens dienten, lag diese Form der Missionierung nahe. Vielen Wundergeschichten über Jesus dienten (natürlich auch schon bildhaft gemeinte) Wundererzählungen aus dem Alten Testament als Vorlage, z. B. die wunderbaren Speisungen und Totenerweckungen der Propheten Elija und Elischa. Zudem wurden auch außerchristliche Motive und Stoffe auf Jesus übertragen, um seine Größe und Vollmacht zu unterstreichen, wie dies ja auch bei anderen „Religionsstiftern“ geschah. Als ein Beispiel unter vielen sei die Geschichte der Auferweckung des Jünglings zu Nain vom Tod (Lk 7,11–17) erwähnt, die bis in Einzelheiten mit der Geschichte der Auferweckung einer jungen Braut vor den Toren Roms durch den Wunderheiler Apollonius von Tyana übereinstimmt. Jesus als „Herr“ und „Gottessohn“ durfte da natürlich nicht hinter Apollonius zurückstehen ... Ohne Zweifel ereigneten sich aber in Jesu Nähe auch tatsächlich Heilungen von Kranken, die für die Menschen der damaligen Zeit erstaunlich waren und so Anlass zu den Geschichten über Wunderheilungen gaben. Es wird sich dabei um psychische und psychosomatische Krankheiten gehandelt haben, deren Heilung – damals als Dämonenaustreibung verstanden – heute als Folge von psychischen Einflüssen wie tiefem Vertrauen und Glauben an Jesus durchaus verstehbar ist. Dafür spricht auch, dass überliefert wird, dass Jesus in seiner Heimatstadt Nazaret keine Heilung vollbringen konnte, weil Glauben und Vertrauen in ihn fehlten. Auch Heilungsgeschichten sind von daher eigentliche Glaubensgeschichten (Legenden), mit denen die ersten Christen Jesus als „Gottessohn“ und „Herr über Leben und Tod“ verklärten. Die oben im Zusammenhang mit dem Begriff der „Sünde“ gemachte Feststellung, dass der Mensch offenbar ein Grenzgänger zwischen biologischer und geistig-kultureller Evolution ist, dass also im Grunde genommen die gesamte menschliche Geschichte bis heute ein Übergang zwischen biologischer und geistig-kultureller Evolution ist, lässt auch die jesuanische Naherwartung, also Jesu Überzeugung, dass der Anbruch des Reiches Gottes unmittelbar bevorstehe, in einem neuen Licht erscheinen. Dabei rücken auch weitere Begriffe wie Gottes Reich, Gericht und Gnade ins Blickfeld. Bekanntlich war Jesu Naherwartung ein Irrtum. Wir können 134
aber seine Hoffnung auf das Ende dieser und das Anbrechen einer neuen, eben: von Gottes Welt als mythischen Ausdruck für seine Wahrnehmung des Übergangs von der biologischen zur kulturellen Evolution interpretieren, wenn unter der Chiffre „Gottes Reich“ ein hypothetischer Zustand verstanden wird, der am „Ende“ der Evolution mit der „vollkommenen“ Manifestation des Weltgeistes in seiner Schöpfung, mit einer „neuen Welt“ also erreicht wird. Wie wir zwar wissen, ist die Evolution offen, sie ist kein zielgerichteter Prozess, man kann nicht wissen, wohin sie führt. Denn die Geschichte von Natur und Mensch ist ja von „Zufall und Notwendigkeit“ bestimmt, sie entwickelt sich nach dem Prinzip von „trial and error“. Aber weil der Evolutionsprozess grundsätzlich ein Anpassungsprozess an die Grundbedingungen der Realität ist, hat er sozusagen ein systemimmanentes Ziel, nämlich die adäquate Anpassung an die letzte Realität, den Weltgeist eben. Darum sind, wie bereits dargelegt, in der Entwicklung trotz all der Sackgassen und Rückschläge, die den Evolutionsprozess kennzeichnen, klare Tendenzen auszumachen, wie die Tendenz zu komplexeren materiellen Strukturen und damit zu Leben und zu zunehmender Manifestation von Geist. Wenn wir nun postulieren, dass das systemimmanente Ziel des Evolutionsprozesses in der vollständigen Anpassung an die letzte Realität besteht, dann ist damit eigentlich dasselbe ausgesagt wie in der urchristlichen Eschatologie143: Das Eschaton, das Letzte, besteht in der völligen Entsprechung zu Gott in „Gottes Reich“. Paulus spricht davon, dass „auch das Geschaffene selbst befreit werden wird von der Knechtschaft des Verderbens zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21), und bezeichnet den neuen Menschen als Ebenbild Gottes (1 Kor 15,49). Die Gewissheit des Paulus über dieses Ziel wird aber in der urchristlichen Eschatologie durch das mythische Bild eines endzeitlichen Gerichts in Frage gestellt. Diese Gerichtssymbolik macht im Rahmen des Endzeitmythos klar, was der heutige Wissenschafter im Blick auf die Geschichte der Evolution erkennt, dass es nämlich keineswegs sicher ist, dass das menschliche Leben das immanente Ziel der Evolution, die vollständige Anpassung an Gott als die letzte Realität, je erreichen wird. Denn, wie oben erwähnt, erstens ist die Evolution ein „trial and error“-Prozess und zweitens kann die 135
kulturelle Evolution ohne weiteres in einem selbstverschuldeten Fiasko für den Menschen enden (und ist ja vielleicht schon auf dem Weg dorthin), was dann eben mit dem mythologischen Gericht gemeint wäre. Das Wissen des Menschen, dass es eigentlich seine Lebensaufgabe wäre, das systemimmanente Ziel der Evolution auf dem Weg der kulturellen Evolution zu fördern, er aber als noch immer der „alte Mensch“ und damit biologischen Selektionszwängen unterworfen dieser seiner Bestimmung nie ganz gerecht werden kann, macht ihn, wie schon weiter oben festgestellt, zum Sünder. Sünde ist also „das mangelnde Vermögen, adäquate Anpassungsstrukturen an die letztgültige Realität zu verwirklichen“144. In diesem Sinne sind natürlicherweise alle Menschen Sünder, was so auch schon im Neuen Testament behauptet wird. Denn alle Menschen haben die Aufgabe, sich im Zuge der kulturellen Evolution an Gott als die letztgültige Realität anzupassen, aber keiner kann dieses Ziel erreichen. Der christliche Glaube hofft darum, ja es ist ihm eigentlich Gewissheit: „Entsprechung zu Gott wird auf ganz andere Weise erreicht: Gott lässt die fragwürdigen Anpassungsversuche von Menschen vor ihm als gelungen gelten. Gott bejaht sie unabhängig von ihrem Gelungen- und Misslungensein.“145 Wie Jesus sagte: „Gott lässt die Sonne über Guten und Bösen aufgehen.“ Da nämlich im evolutionären Welt- und Gottesbild der menschliche Geist am göttlichen Geist Anteil hat, hat der Mensch, wie sich Theißen ausdrückt, „die Möglichkeit, schon jetzt – innerhalb eines verschwindenden und oft misslingenden Lebens – das innere Ziel der ganzen Evolution zu erleben: Die Übereinstimmung mit Gott. Er erfährt so einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft: Ein Stück Ewigkeit.“146 Das könnte denn in unserem Weltbild mit Gottes Gnädigsein und seiner Rechtfertigung des Sünders gemeint sein. Diese sicher in mancherlei Hinsicht noch sehr vorläufige und unvollständige Interpretation christlicher Glaubensinhalte im Rahmen des evolutionären Gottesbildes bestätigt meines Erachtens doch hinreichend, dass der christliche Glaube in seinen Grundzügen und Intentionen auch in der Welt, in der wir heute leben, nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat und uns weiterhin sinnvolle Deutungen und gute Antworten auf die Fragen und Probleme unserer Zeit zu geben vermag ... sofern wir diesen Glau136
ben nicht mit dem Fürwahrhalten von antiken Mythen verwechseln. In diesem Sinne will ich meine Ausführungen auch als ein Bekenntnis zum christlichen Glauben verstanden wissen. Darum lasse ich zum Schluss dieses Abschnitts mit Interpretationen christlicher Begriffe im evolutionären Welt- und Gottesbild nochmals den Theologen Gerd Theißen zu Wort kommen, denn besser als er kann man diese Betrachtungen wohl nicht zusammenfassen: „Der Mensch ahnt: Gelänge eine gültige Übereinstimmung mit Gott als der zentralen Wirklichkeit, so würde sein verschwindendes individuelles Leben an etwas Ewigem teilhaben: an jener Information, die alles steuert und bestimmt. Er würde etwas Ewiges in sich erfahren, mit dem er sich als seinem wahren Selbst identifizieren könnte – nicht ein schon immer vorhandener Kern im Menschen, sondern eine durch die zentrale Wirklichkeit verliehene neue Struktur und Dynamik: Der Geist Gottes wohnte in ihm als vollkommene Entsprechung Gottes. Eben diese Möglichkeit will der christliche Glaube eröffnen: Obwohl der Mensch in tiefer Entfremdung zur zentralen Wirklichkeit lebt, darf er sich als deren gelungenes Ebenbild betrachten.“147
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12. Schlussbetrachtungen Sei getrost; du würdest nicht nach mir suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest. Blaise Pascal
Habe ich nun meinen Gott gefunden? Ich meine ja, zumindest im Sinne dieses „Gotteswortes“ aus Pascals Pensées. Gewiss: Die Suche geht weiter, denn Gott hat in der Welt nicht nur die erwähnten und ihm zugeschriebenen „Spuren“ hinterlassen, wir werden auch immer wieder auf neue „Spuren“ in seiner sich unablässig weiter entwickelnden Schöpfung stoßen. Gewiss: Gott kann nie festgemacht oder gar bewiesen werden, auch nicht aufgrund weiterer spektakulärer Entdeckungen und Theorien der Naturwissenschaften, auch nicht mit einer „Theorie für alles“, nach der die Physiker so intensiv forschen, auch nicht mit einem zukünftigen die Welt noch besser beschreibenden Weltbild. Gewiss: Auch das evolutionäre Gottesbild stützt sich letztendlich auf eine metaphysische Spekulation, auf einen mit Gott gleichgesetzten Weltgeist eben. Und doch: Für mich „stimmt“ das evolutionäre Gottesbild, da es einerseits im heutigen Weltbild verständlich und mit ihm verträglich ist und andererseits alles, was ist, in einen umfassenden Sinnzusammenhang zu stellen und so diese uns erfahrbare Welt zu deuten vermag. Der „evolutionäre Gott“ ist so nicht ein verstaubtes Fossil, sondern ein „aktueller“ Gott, der uns auch heute noch „etwas zu sagen hat“. Und nicht zuletzt: Das evolutionäre Gottesbild ist mit dem von seinem mythologischen Überbau befreiten christlichen Glauben nicht nur verträglich, sondern bestätigt ihn weitgehend, insbesondere auch die grundlegenden ethischen Forderungen Jesu. Dies ist im Blick auf die gemachte Feststellung, dass wir über zwei Zugangswege zur selben Weltwirklichkeit verfügen, den diskursiv-wissenschaftlichen und den intuitiv-mystischen, auch zu erwarten gewesen, sofern man nur bereit ist, Widersprüchliches zu bereinigen. Dass sich ein Gottesglaube grundsätzlich nur dann auf den Le138
bensvollzug der Gläubigen sinnstiftend und ethisch motivierend auswirken kann, wenn er im Boden des jeweiligen Weltbilds verwurzelt ist, habe ich bereits in den ersten Kapiteln ausführlich dargelegt. Häufig wird dagegen aber eingewendet, dass alle Weltbilder vorläufig, Gott hingegen „ewig“ sei. Abgesehen davon, dass diese Behauptung, sollte Whitehead mit seiner Prozesstheologie Recht behalten, auch nicht auf „Gott an sich“ zutreffen würde, ist in dieser Schrift immer die Rede von Gottesbildern gewesen, weil ja die Rede von „Gott an sich“ gar nicht sein kann ... und auch in der jüdisch-christlichen Tradition eigentlich gar nie war, wie ich im vierten Kapitel gezeigt habe. Und Gottesbilder können nun mal nicht „ewig“ sein, da sie nur vom Weltbild ihrer Zeit her zu verstehen sind. Was nun unser naturwissenschaftliches Weltbild betrifft: Natürlich haben wir im Blick auf die rasante Entwicklung der Wissenschaften in den letzten Jahrhunderten allen Grund, unser heutiges Weltbild auch als nur vorläufig zu betrachten. Trotzdem dürfen wir annehmen, dass es keinem wissenschaftlichen Fortschritt gelingen wird, alle diejenigen unserer Erkenntnisse, die sich in Beobachtung und Experiment immer wieder bestätigt haben, wieder aufzuheben. So wie die in der Beobachtungspraxis vielfach bestätigte Einstein’sche Allgemeine Relativitätstheorie das klassische Newton’sche Gravitationsgesetz nicht entwertet, das ja nach wie vor in planetaren Dimensionen mit genügender Genauigkeit anwendbar ist, sondern es bloß in einen größeren Zusammenhang stellt, in dem es weiterhin als Grenzfall seine Gültigkeit behält. Darum stellt H. v. Ditfurth zu Recht fest: „Deshalb eben gibt es von unserem naturwissenschaftlichen Weltbild kein Zurück. So lückenhaft es ohne allen Zweifel ist, so formuliert es doch gewissermaßen Minimalbedingungen, die unser Denken und Spekulieren zu respektieren hat, wenn wir Wert darauf legen, dass es einen Sinn haben soll. Weil das so ist, sind auch theologische Aussagen dem Prüfstein ausgesetzt, den die vom heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild formulierten Rahmenbedingungen für die Möglichkeit sinnvoller Aussagen darstellen.“148 Für mich umfassen diese Minimalbedingungen, die als Folge unserer heutigen Welterkenntnis an unser Reden über Gott gestellt werden müssen, drei Punkte: 139
• Die ganze Welt, wie sie sich uns heute präsentiert, vom Kosmos bis zu den Elementarteilchen oder Strings, von der Materie bis zum Geist, ist eine „Momentaufnahme“ aus einer globalen Geschichte, nämlich der Evolution, die mit so etwas wie einem „Urknall“ begann und auf allen Ebenen des Existierenden weitergeht, und die sich überall der gleichen Strategie von Mutation und Selektion (mit je nach bereits Vorhandenem durchaus unterschiedlichen Selektionskriterien) bedient. Diese Evolution ist gegen die Zukunft hin offen, verläuft also nicht geradewegs auf ein bestimmtes vorgegebenes Ziel zu; hingegen ist ein Trend zu höher organisierten Strukturen und damit zu Leben und Geist unübersehbar. • Die Welt ist von ihrem evolutionären Werdegang her ein Ganzes, in dem alles von einem einzigen Ursprung ausging und sich darum alles gegenseitig bedingt und somit alles mit allem verbunden ist (holistisches Weltbild). Insbesondere gilt das auch für das Leben auf der Erde: Alle Lebensformen gehen offensichtlich auf eine Urzelle zurück, sind somit miteinander genetisch verwandt und haben sich in Wechselwirkung miteinander entwickelt (Koevolution). • Geist und Materie sind nicht zwei grundverschiedene Prinzipien, sondern gehören ontologisch zusammen. Der Geist gehört also nicht einer „anderen Welt“ an als die Materie. Die heutige Naturwissenschaft, insbesondere auch die Quanten- und Elementarteilchentheorie, legt uns also ein monistisches Weltbild nahe. Als weitere zwar logisch, aber nicht naturwissenschaftlich begründbare Voraussetzung steht hinter dem evolutionären Gottesbild natürlich die Annahme, dass Gott „etwas mit dieser Welt zu tun“ haben muss, z. B. als deren Urgrund, als „Schöpfer“ oder Sinn. Ein Gottesbild, das diese Annahme nicht erfüllt, ist schlicht überflüssig, da es ja keinerlei Auswirkungen auf Glaubende und ihren Lebensvollzug in dieser Welt haben kann. Und wenn denn Gott „etwas mit dieser Welt zu tun“ hat, und wäre es auch nur als deren Urgrund, der sie nach dem Urknall sich selbst überlässt, oder als „Geist der Evolution“ oder als „Summe aller Naturgesetze“, kann er ja nicht nur transzendent, er muss auch immanent und darum in dieser Welt erkennbar sein. Naturwissenschaft ist al140
so neben den „klassischen“ Wegen intuitiver Erkenntnis (Mystik) allen theologischen Unkenrufen zum Trotz ein durchaus gangbarer und viel versprechender Weg zur Gotteserkenntnis, der übrigens gegenüber allen übrigen Weisen der Gotteserkenntnis den klaren Vorteil hat, für alle Menschen gleichermaßen nachvollziehbar und in einer allen verständlichen mathematisch-logischen Sprache formulierbar zu sein. Die von weltfremden supranaturalistischen Theologen so viel geschmähte „natürliche Theologie“ hat also nicht nur ihre Berechtigung nicht zuletzt auch im Blick auf entsprechende biblische Aussagen (z. B. bei Paulus), sondern ist für eine Theologie, die ihre Augen nicht vor der Realität verschließen und sich nicht in mythologische Spekulationen verrennen oder mehr oder weniger zweifelhaften Offenbarungsbehauptungen aufsitzen will, eine wesentliche Grundlage. Aber, und das sei hier nochmals mit Nachdruck betont, auf dem Weg naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird man auch wieder bloß Hinweise auf Gott finden, nur Aspekte Gottes, nie Gott selber, auch wenn diesen Hinweisen ein großes Gewicht zuzumessen ist. Für mich, der ich als Theologe und Naturwissenschaftler in dieser Welt lebe, „stimmt“ also das aus dem evolutionären Weltbild hervorgehende evolutionäre Gottesbild als Weltdeutung und Sinnvermittlung und damit als „Prüfstein“ für theologische Aussagen. Natürlich können je nach Standpunkt die Meinungen darüber auseinander gehen, inwieweit ein Gottesbild dem „Prüfstein“ ausgesetzt werden soll, „den die vom heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild formulierten Rahmenbedingungen für die Möglichkeit sinnvoller Aussagen darstellen“ (Ditfurth). An den Beispielen der Gottesbilder des Theologen Eugen Drewermann und des Naturwissenschaftlers Hoimar von Ditfurth, die beide mit ausdrücklichem Bezug auf das heutige evolutionäre Weltbild entstanden sind, soll nun noch gezeigt werden, wie sehr sich Gottesbilder voneinander unterscheiden können, auch wenn sie am „Prüfstein“ desselben Weltbildes gemessen werden. Im Drewermann’schen vorab seelsorgerisch motivierten Gottesbild, auf das ich ja bereits im 9. Kapitel ausführlicher hingewiesen habe, scheint mir dieser „Prüfstein“ zu wenig ernst genommen worden zu sein. Nicht dass Drewermann seine Augen vor der Realität verschlossen oder das evolutionäre Weltbild nicht zur 141
Kenntnis genommen hätte, ganz im Gegenteil! Auf seiner 760 Seiten umfassenden hervorragend und detailliert dargestellten Geschichte der biologischen Evolution149 wird er nicht müde, darauf hinzuweisen, wie grausam und erbarmungslos doch die Evolution mit ihren Geschöpfen umgeht. Trotzdem hält er daran fest, dass dies so nicht der Wille des „unendlich sorgsam überlegenden und unendlich liebevoll überlegenen Gottes“ sein könne. Indem er sich also sein traditionell christliches Gottesbild nicht durch die Realität der Welt in Frage stellen lässt, definiert Drewermann Gott so: „Das Wort ‚Gott‘ dient nicht dem Erfassen der Wirklichkeit, sondern der Interpretation der menschlichen Existenz im Angesicht der Wirklichkeit.“ Mit anderen Worten: Gott darf nichts mit den Ursachen der Grausamkeit des Evolutionsprozesses zu tun haben. So entwirft er denn, wie schon gezeigt, sein Gottesbild als eine Projektion menschlicher Sehnsüchte: Gott, wie er sein müsste, wenn er ausschließlich aus dem Willen bestünde, den Menschen durch die Evolution zu einer leidfreien Gottebenbildlichkeit, zur Liebe zu verhelfen: „In dem Glauben an einen persönlichen Gott projiziert sich die Grundhaltung von Vertrauen in eine Welt hinein, die objektiv ein solches Vertrauen nie und nimmer verdienen würde ... Und das Wichtigste: Er (der Mensch) setzt in dem Glauben an einen persönlichen Gott der ‚Willkür‘ ein Ende, mit der ihm die Welt mal glücklich, mal unglücklich, mal selig, mal unselig, mal ‚himmlisch‘, mal ‚höllisch‘ erscheint; er erhebt sich gerade über die ‚Beliebigkeit‘ des ‚mal so, mal so‘ der Weltsicht. Zu sagen: ‚Ich glaube an Gott‘ geht mithin zurück auf die ‚Tat‘ einer Freiheit, die sich zu einer im Ganzen vertrauensvollen Deutung der Welt entwirft.“150 Drewermann entwirft also ein Gottesbild, das alle dunklen Spuren Gottes in der realen Welt bewusst ausblendet, damit der Gläubige „trotz aller nur möglichen Formen von Katastrophen die Welt schließlich im Ganzen als ‚zuverlässig‘, ja, als ‚dankenswert‘ erlebt“151, also ein Gottesbild, das die Botschaft vermittelt: Gott, die letzte Realität, ist weder Leid noch Konkurrenzkampf noch Tod, sondern ausschließlich Liebe. Ein ohne Zweifel tröstliches und zum Leben ermutigendes, wenn auch illusionäres Gottesbild. Wie schon erwähnt, kann diese Sichtweise aber auch nicht einfach völlig falsch sein. Denn auch das, was diesem projektiven Gottesbild zugrunde liegt, nämlich die tiefe menschliche Sehn142
sucht nach einem Leben in Liebe und Geborgenheit, ist ja das Ergebnis einer Erkenntnis, die wir der Evolution als „erkenntnisgewinnendem Prozess“ zu verdanken haben, der Erkenntnis nämlich, dass Güte, Liebe und Verlässlichkeit als „Abbildungsstrukturen“ der letzten Wirklichkeit lebensfördernd und damit auch zu Selektionskriterien geworden sind. So sind Güte, Liebe und Verlässlichkeit zweifellos göttliche Attribute. Wenn aber Gott nicht ein Götze, sondern ein Gott der ganzen Welt ist, von allem Anfang an, dann dürfen wir auch seine für uns unverständlichen dunklen Seiten, denen wir mit der ganzen Schöpfung ja nach wie vor tagtäglich in Form von Absurditätserfahrungen schmerzhaft ausgesetzt sind, nicht einfach ausblenden, was eben heißt, dass auch das Wissen: zu Gott „gehören“ auch Leid und Tod, mit zum „Prüfstein“ gehört. Hoimar von Ditfurth152, der von mir häufig zitierte Naturwissenschaftler, vermeidet das Problem des Widerspruchs zwischen einem gütigen und einem grausamen Gott, mit anderen Worten zwischen dem „christlich-traditionellen“ Gott der Liebe, den Drewermann offensichtlich vor dem Urteil des naturwissenschaftlichen „Prüfsteins“ „retten“ will, und einem aus evolutionärer Sicht der gesamten, auch der grausamen, Realität dieser Welt einwohnenden Gott, indem er schon gar nicht erst versucht, über Attribute Gottes zu spekulieren. Ja, er vermeidet es konsequent, überhaupt von „Gott“ zu reden. Er spricht, immer auf dem Boden der Evolution und der evolutionären Erkenntnistheorie verbleibend, einfach vom „jenseitigen“ (transzendenten) „Geist“, der sich in der Welt insbesondere in der Form menschlichen Geistes im Verlauf der Evolution zunehmend manifestiert. Dabei geht er aber davon aus, dass dieser Geist nicht von allem Anfang an zur Materie gehört, in dem Sinne also „jenseitig“ bleibt, wobei aber die im Laufe der Evolution zunehmend in die Immanenz „einbrechende“ Transzendenz im menschlichen Gehirn „einen ersten Reflex jenes „Geistes in der jenseitigen Wirklichkeit“ entstehen lässt.153 Für ihn ist dabei keine Frage, dass zu diesem Geist auch die dunklen, grausamen Seiten der Evolution gehören. Und auch er geht in der Interpretation des in der Evolution beobachtbaren Trends so weit zu sagen: „Die Geschichte der Evolution ist identisch mit der Geschichte des Auftauchens und der Ausbreitung des geistigen Prin143
zips in der sich evoluierenden materiellen Welt“154, und: „So gesehen stellt Evolution nichts anderes dar als die Bewegung (nicht räumlich zu verstehen), die der Kosmos bei seiner Annäherung an das Jenseits vollzieht.“155 Auch der Naturwissenschaftler Ditfurth kommt angesichts des in der Geschichte der Evolution sichtbaren Trends also nicht darum herum, von einem „Ziel“ der Evolution zu reden, natürlich auch nicht kausal deterministisch oder teleologisch verstanden, das er so umschreibt: „Das lässt uns an die Möglichkeit denken, dass diese von uns Evolution genannte Geschichte dann ein natürliches Ende finden könnte, wenn sie schließlich ein Bewusstsein hervorgebracht haben wird, das groß genug ist für die ganze Wahrheit des Kosmos. Das natürliche Ende der Evolution wäre dann identisch mit jenem fernen Augenblick, in dem diese diesseitige Welt und jener jenseitige Geist völlig ineinander aufgegangen sein werden.“156 So spricht auch Ditfurth letzten Endes von Religion und einem Gott, auch wenn er diese Vokabel vermeidet und sich mit dem Begriff „jenseitiger Geist“ begnügt. Und vor allem verzichtet er darauf, Spekulationen über Attribute dieses Geist-Gottes anzustellen, den jenseitigen Geist also in irgendeiner Weise festzulegen. Beide, Eugen Drewermann, der Theologe, und Hoimar von Ditfurth, der Naturwissenschafter, stehen auf dem Boden des evolutionären Weltbildes, und doch kommen beide offensichtlich zu sehr unterschiedlichen Gottesbildern, je nach dem, wie sie den „Prüfstein“ Weltbild gewichten und wie weit sie auch subjektive menschliche Wert- und Wunschvorstellungen einfließen lassen. Nicht von ungefähr kommt übrigens, dass sie trotz ihrer unterschiedlichen Gottesbilder übereinstimmende ethische Forderungen ableiten. Ihr Weltbild ist ja dasselbe, und ihre Gottesbilder decken sich, was die Zukunft der Schöpfung beziehungsweise das „Ziel“ der Evolution betrifft. Auch „mein“ evolutionäres Gottesbild stützt sich auf dieses Weltbild und ist irgendwo zwischen denen von Drewermann und Ditfurth anzusiedeln, wohl eher näher bei dem von Ditfurth. Tröstlich ist meines Erachtens auch am evolutionären Gottesbild, das die „dunklen Seiten Gottes“ nicht unterschlägt, die Hoffnung, dass Leid und Tod im Trend der Evolution zunehmend an Bedeutung verlieren, weil dieser Gott letztendlich das Leben „will“. Viel144
leicht könnte eher naturwissenschaftlich und philosophisch denkenden Menschen bei solchen in unserer Sicht auf Widersprüche hinauslaufenden Erörterungen über Gott die philosophische Spekulation von Whitehead weiterhelfen, dass Gott nicht „ist“, sondern auch selbst „wird“ in Koevolution mit seiner Schöpfung, und zwar eben zu reiner Liebe und Güte, zu dem also, was auch das „Ziel“ des Lebens überhaupt ist. Und noch eine letzte zusammenfassende Überlegung: Das jeweilige Weltbild spiegelt sich immer in den Gottesbildern seiner Zeit; in diesem Sinne ist jedes Gottesbild weltbildbedingt, aber nicht nur. So legt uns unser heutiges evolutionäres Weltbild zwar die „Existenz“ eines als Weltgeist gedachten Gottes nahe, verbietet es aber gleichzeitig, Attribute in dieses Gottesbild hineinzuprojizieren, die über die sich aus der Geschichte der Evolution ergebenden Selektionskriterien und Tendenzen hinausgehen, nämlich über die bloße Erkenntnis, dass er sich in der Welt zunehmend manifestiert und dabei auf die Existenz komplexer geistbegabter Lebensformen angewiesen ist. Die konkreten Gottesbilder unseres Glaubens enthalten aber über die sich aus dem Weltbild ergebenden Erkenntnisse über Gott hinaus immer auch bildhaft umschriebene Attribute Gottes, die uns auf dem Weg intuitiver Erkenntnis zufallen. Konkrete Gottesbilder haben darum immer auch eine Komponente, die auf ganzheitlicher Erfahrung beruht. Zum entscheidenden letzten „Prüfstein“ für den „Wahrheitsgehalt“ und damit für die Akzeptanz eines Gottesbildes müsste demnach vernünftigerweise die Widerspruchsfreiheit beider Komponenten erhoben werden – und nicht das heutige Beharren auf überkommenen, vermeintlich sakrosankten Dogmen und Glaubenssätzen. Wenn sich die verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen auf diesen einfachen gemeinsamen Nenner einigen, sich so auch vom unseligen Dualismus verabschieden, damit ihre fruchtlosen Auseinandersetzungen um die „Wahrheit“ beenden und so ihre Glaubwürdigkeit beim „Mann und der Frau auf der Straße“ wiederfinden könnten, könnte da der christliche Glaube nicht die ihm ursprüngliche Kraft und seine Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft wieder erlangen? Und müssten und könnten sich dann nicht auch die Kirchen wieder auf ihre eigentliche, von allen 145
akzeptierte Aufgabe konzentrieren: Leben und Geist zu bewahren und zu fördern? Vielleicht stünde dann sogar einem gemeinsamen „Weltethos“, wie es z. B. von Hans Küng vorgeschlagen wurde, und damit einer vielleicht etwas friedlicheren Zukunft der Menschheit nichts mehr im Wege ... Wenn du einem Philosophen begegnest, der behauptet, dass er die letzte Wahrheit gefunden hat, sei misstrauisch! Hans Reichenbach
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Anmerkungen 1
Siehe z. B. Günter Kegel, Glaube ja, Kirche nein?, Kreuz Verlag 1994. Anthropomorph = menschenähnlich, vermenschlichend. 3 Zur Auseinandersetzung mit dieser Frage sei das Buch von Georg Scherer, Die Frage nach Gott, WBG 2001 empfohlen. Scherer geht bei seinen philosophischen Erwägungen von der Sinnfrage und der Sinnerfahrung aus und kommt zum Schluss, dass Gott der „absolute Sinngrund“ sein müsse. 4 H. v. Ditfurth dazu in „Wir sind nicht nur von dieser Welt“ (S. 139): „Zweifelt jemand daran, dass das Unbehagen, das hier zum Ausdruck kommt, seine Ursachen nicht zuletzt auch in der mangelhaften Bereitschaft der Kirche hat, sich von einem objektiv längst überholten mittelalterlichen Weltbild zu lösen? Wer, und sei es aus noch so großer Pietät, darauf beharrt, seine Botschaft in eine Sprache zu kleiden, die einer längst untergegangenen Welt angehört, darf sich nicht wundern, wenn der Verdacht aufkommt, auch der Inhalt der Botschaft selbst könnte von gestern sein.“ 5 Peter Schellenbaum, Stichwort: Gottesbild, Kreuz Verlag 1981, S. 35. 6 Hans Küng, 24 Thesen zur Gottesfrage, Piper 1979, S. 11. 7 X. Pfister-Schölch in „Aufbruch“ Nr. 44, Juli/August 1994. 8 „We live in an age in which both our thinking and our acting are pervasively conditioned by science and by technology. Certainly those outside the church see the world through science; young people especially – these citizens of the contemporary, secular, scientific culture – are perplexed at a church that ignores science and technology, that ignores their world, and yet still thinks it has something to say to them. If for no other reason than evangelism, the church must learn the language and the thought forms of this new culture that has come to us. But our task is deeper and more difficult than learning to speak of faith in a new tongue. We are called not only to communicate theology but to reconstruct it. It will not do for us to take the theology of the first century or the fifth, of the sixteenth or even the twentieth, change a few words, repackage the carton, add a few illustrations from recent science, post it on the Internet, and think we have met our calling. The theologies of these previous centuries were constructed and expressed in the thought forms of their time. Our task is to do now what theologians of previous centuries did then, to articulate anew the core beliefs of the church of Jesus Christ. Our task is to reconstruct theology, to expound the gospel for our time ... Theology can no longer neglect nature, as if God had some other creation beside this natural world. Theology can no longer neglect science, as if God had some other world, unknowable by science, in 2
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which to be revealed and in which to redeem us. There is but one world God has made, and it is this physical, natural world ... in which God Incarnate meets us and redeems us.“ 9 Theismus: Der Glaube an einen einzigen, persönlichen, außer- und überweltlichen, selbstbewussten und selbsttätigen Gott, der als Schöpfer, Erhalter und Lenker der Welt gedacht wird. 10 Kanon = Verzeichnis der als maßgebend erklärten heiligen Schriften. 11 Zum Weiterlesen empfiehlt sich: Gregor Tischler, Und Gott schrieb ..., Kösel 1996. 12 Martin Koestler, Stirbt Jesus am Christentum?, Novalis 1982, S. 21. 13 Zum Weiterlesen z. B.: Martin Koestler, Stirbt Jesus am Christentum?, Novalis 1982. 14 Einer meiner Lehrer, Prof. Ringeling, drückte dies einmal salopp so aus: „Gott hat im Laufe der Zeit auch etwas gelernt.“ 15 Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 90 ff. 16 Zitiert nach G. Theißen, S. 74. 17 Hans Küng, Existiert Gott?, S. 212. 18 Hoimar von Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, S. 221. 19 Gernot Eder in Diakonia 4/17, 1986, S. 248. 20 Eine ausgezeichnete und gut verständliche Darstellung der Kosmologie vermittelt das Buch von J. V. Feitzinger, Kosmische Horizonte; eine sehr fundierte und doch gut lesbare Einführung ins Standardmodell der Kosmologie findet sich im empfehlenswerten Buch von John F. Hawley & Katherine A. Holcomb, Foundations of Modern Cosmology, S. 261 ff. und eine sehr einfache Kürzestfassung in Mark A. Garlick, The expanding universe. 21 1 Parsec (pc) = 3.08 x 1016 m = 3.26 Lichtjahre; 1Mpc = 106 pc. 22 K = Grad Kelvin; 0 K = -273.15 C. 23 10-43 = 1/100000 ... 00000 (43 Nullen!). 24 Nachzulesen bei Lee Smolin, Warum gibt es die Welt?, C. H. Beck 1999. 25 Star Observer 6/01, S. 50 ff. 26 In Paul Davies, Der Plan Gottes. 27 Pascal Picq, Die Evolution des Menschen, Spektrum der Wissenschaft, 1/2003. 28 Chr. DeDuve, Aus Staub geboren, S. 375 ff. 29 Zusammengefasst und zitiert nach M. A. Nowak et al., Das Einmaleins des Miteinander, Spektrum der Wissenschaft 8/1995, S. 46 ff. 30 Siehe unter vielen anderen: Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, Chr. Kaiser 1978. 31 G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 102. 32 Antonio R. Damasio, Wie das Gehirn Geist erzeugt, in Spektrum Dossier 2/2002, „Grenzen des Wissens“, S. 36 ff. 148
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Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, Chr. Kaiser 1978, S. 50. 34 P. Berger, Auf den Spuren der Engel, Frankfurt 1970, S. 73. 35 Chr. DeDuve, Aus Staub geboren, S. 372. 36 Hans Jonas in Dürr und Zimmerli (Hrsg.), Geist und Natur, Scherz Verlag 1990. 37 Georg Ribi in Chr. Thomas (Hrsg.), Auf der Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick, S. 146. 38 Susan Blackmore, Die Macht der Meme, in Spektrum Dossier 2/2002, „Grenzen des Wissens“, S. 46 ff. 39 Seine wissenschaftlich fundierte Darstellung der Evolution in „Aus Staub geboren“ (Spektrum Verlag 1995) sei an dieser Stelle allen Interessierten zum Weiterlesen empfohlen. 40 Chr. DeDuve, Aus Staub geboren, S. 444 ff. 41 Siehe z. B. Stephen Hawking, Das Universum in der Nussschale, Hoffmann und Campe 2001. 42 Paul Davies, Der Plan Gottes, insel tb 1934, S. 279. 43 Hans Küng, Existiert Gott?, Ex Libris 1980, S. 582. 44 Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung, Chr. Kaiser 1985. 45 Arnold Benz, Die Zukunft des Universums, Patmos 1997. 46 H.-P. Dürr, M. Oesterreicher, Wir erleben mehr als wir begreifen, S. 148. 47 Hans Jonas in H.-P. Dürr und W. Zimmerli, Geist und Natur, S. 71. 48 H.-P. Dürr, M. Oesterreicher, Wir erleben mehr als wir begreifen, S. 112. 49 In dieser Hinsicht, nämlich „dass Gott sowohl in der materiellen als auch in der spirituellen Welt handelnd eingreift“, widerspreche ich vehement den „Schlussfolgerungen“, die Kitty Ferguson in ihrem sonst ausgezeichneten Buch „Gott und die Gesetze des Universums“ auf S. 336 zieht! 50 H. v. Ditfurth hält dazu in „Wir sind nicht nur von dieser Welt“ (S. 135/6) fest: „Wir dürfen davon ausgehen, dass es keinem noch so unvorstellbaren wissenschaftlichen Fortschritt gelingen wird, die unserer Erkenntnisse wieder aufzuheben oder gegenstandslos werden zu lassen, die sich in Beobachtung und Experiment bewährt haben. Deshalb eben gibt es von unserem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild kein Zurück. Das gilt auch für religiöse Aussagen. Nichts gegen metaphorische oder mythologische Umschreibungen anders nicht aussagbarer Inhalte! Sobald derartige Umschreibungen aber wörtlich gemeint sind oder missverstanden werden, transportieren sie nichts mehr als reinen Aberglauben. Weil das so ist, sind auch theologische Aussagen dem Prüfstein ausgesetzt, den die vom heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild formulierten Rahmenbedingungen für die Möglichkeit sinnvoller Aussagen darstellen.“ 51 Hans Jonas in H.-P. Dürr und W. Zimmerli, Geist und Natur, S. 62. 149
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R. Sheldrake in J. Lovelock et al., Der wissende Kosmos, S. 112 ff. G. D. Kaufman, Theologie für das Nuklearzeitalter, S. 68–71. 54 H. v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, S. 179: „Der unserem Denken von Geburt an eingeprägte Zwang, alles kausal geordnet zu sehen, stellt ein angeborenes Wissen über die Welt selbst dar. Erworben wurde dieses Wissen im Ablauf der Evolution unserer Art durch allmähliche genetische Anpassung an selektierende Umweltbedingungen. Jede Anpassung aber bildet einen Teil der realen Welt ab ... Es gilt ebenso auch für Verhaltensweisen und Erkenntnisstrukturen. Und deshalb ist die in unserem Erkenntnisvermögen steckende Kausalkategorie in Wahrheit nichts anderes als ein Abbild der in der realen Welt tatsächlich herrschenden Ordnung.“ 55 M. A. Bucher, D. N. Spergel, Was vor dem Urknall geschah, in Spektrum Dossier 2/2000, „Kosmologie“, S. 45. 56 Gott ist mehr als die Welt, er ist immanent und transzendent. 57 Hans Jonas in H.-P. Dürr und W. Zimmerli, Geist und Natur, S. 69/70. 58 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, Chr. Kaiser 1985. 59 Ebd., S. 27: „Wir verzichten darum bewusst auf die um die eigene Identität ängstlich bemühte Abgrenzung der theologischen Schöpfungslehre von den Naturwissenschaften und ihren naturwissenschaftlichen Theorien. Wir suchen die Gemeinschaft von naturwissenschaftlichen und theologischen Erkenntnissen.“ 60 Ebd., S. 219. 61 Ebd., S. 112. 62 G. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, Chr. Kaiser 1984, S. 46. 63 H.-P. Dürr in H.-P. Dürr et al., Gott, der Mensch und die Wissenschaft, Pattloch 1997. 64 Mt 28,18–20 ist eine spätere „Zutat“ im Matthäus-Evangelium, eine „Bildung der matthäischen Gemeinde“ (U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd.1, Benziger, Neukirchener 1985, S. 67). Das Trinitätsdogma entstand erst im 4. Jahrhundert als hellenistische Spekulation und wurde erst 1334 für die gesamte Kirche eingeführt. 65 Eine sehr einfache Einführung dazu findet sich im Annex zur Reformierten Presse Nr. 7/2002. 66 Abner Shimony in Roger Penrose, Das Große, das Kleine und der menschliche Geist, Spektrum Akad. Verl. 2002. 67 Whitehead, zitiert nach M. Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt, S. 121. 68 G. D. Kaufman, Theologie für das Nuklearzeitalter, S. 67. 69 Kurt Marti. 70 Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 38. 53
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Ian Tattersall, Wie der Mensch das Denken lernte, Spektrum der Wissenschaft 4/2002, S. 56 ff. 72 Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese I, II, Walter Verlag, 1984/1985. 73 Anselm Grün, Tiefenpsychologische Schriftauslegung, Vier-Türme-Verlag 1992, S. 19. 74 Für die Methodik und beispielhafte Auslegungen biblischer Texte sei auf die Originalliteratur von Drewermann verwiesen. 75 1 Kor 13. 76 A. Benz in Dalferth et al., Die Wissenschaften und Gott, S. 114 ff. 77 Karl Rahner meinte einmal: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht mehr sein.“ 78 G. Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 48 ff. 79 Ebd., S. 49. 80 Ebd., S. 79. 81 Ebd., S. 90. 82 Anselm Grün, Benediktinische Schöpfungsspiritualität, Vier-TürmeVerlag 1996. 83 Johannes Thiele, Die mystische Liebe zur Erde, S. 243. 84 Alle Zitate aus Anselm Grün, Benediktinische Schöpfungsspiritualität. 85 Nach Jörg Zink in Dornen können Rosen tragen. 86 Auf ein m. E. sehr erhellendes weiteres Beispiel einer naturmystischen Betrachtung, die an ein Gedicht von Theodor Fontane anknüpft, sei an dieser Stelle hingewiesen. Sie ist bei Eugen Drewermann in „... und es geschah so“ auf den Seiten 858 ff. nachzulesen. 87 Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 64. 88 Stephen Hawking, Das Universum in der Nussschale, Hoffmann & Campe 2001. 89 W. Pannenberg, Theologie und Reich Gottes, Mohn 1971, S. 14. 90 Hans Küng, Existiert Gott?, S. 709. 91 Z. B. Ps 139; Joh 4,24 „Gott ist Geist“; 1 Kor 3,16 „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und dass der Geist Gottes in euch wohnt?“; Joh 6,63 „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft nichts; die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“; 1 Joh 4,13: „Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat.“ 92 An prominenter Stelle im „jüdischen Glaubensbekenntnis“ Dtn 6,4: „Höre Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft.“ 93 Siehe Kap. 10. 151
94 Z. B. in der Geschichte des Christentums die brutale Verfolgung jener, die „nicht zu Gott gehören“: Andersdenkender, Häretiker, Juden(!), Muslime, Frauen, Hexen u. v. a. Auch die körperfeindliche (Askese) und sexualfeindliche (Moral) „christliche“ Grundhaltung und unser zerstörerischer Umgang mit der Natur sind Folgen des radikalen Schnitts zwischen Geist (Gut) und Materie (Böse). 95 E. Drewermann, ... und es geschah so –, Die moderne Biologie und die Frage nach Gott, S. 225. 96 Ebd., S. 271. 97 Hans Küng, Existiert Gott?, S. 692. 98 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 222. 99 Ebd., S. 226. 100 Ebd., S. 233. 101 Hedi Wyss, Die Weltwoche Nr. 33 vom 17. August 1995, S. 27. 102 G. Ribi in Chr. Thomas (Hrsg.), Auf der Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick, S. 146: „Sollte aus irgendeinem Grund unsere Kultur samt unserem Wissen verloren gehen, könnte sie in wenigen Tausend Jahren neu entstehen. Nicht so die biologische Information, die im Genom der Organismen enthalten ist. Geht sie verloren, dauert es Jahrmillionen, bis sie wieder entsteht.“ 103 H. v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, S. 146. 104 Jörg Zink in: Dornen können Rosen tragen. 105 A. Schweitzer in H.W. Bähr (Hrsg.), Die Ehrfurcht vor dem Leben, S. 111. 106 Ebd., S. 111. 107 Ebd., S. 156. 108 A. Schweitzer, zitiert nach G. Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 64. 109 A. Schweitzer in H.W. Bähr (Hrsg.), Die Ehrfurcht vor dem Leben, S. 32. 110 G. Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 79. 111 Eugen Drewermann, ... und es geschah so, Walter 1999. 112 Ebd., S. 81 f. 113 Ebd., S. 772. 114 Ebd., S. 849. 115 Ebd., S. 856. 116 Ich komme im 12. Kapitel „Schlussbetrachtungen“ nochmals auf Drewermanns Gottesbild zurück. 117 H. v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, S. 149. 118 Ebd., S. 147. 119 Ebd., S. 147.
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Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 133. Spr 25, 21.22: „Wenn deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so gib ihm zu trinken“; allerdings mit dem Zusatz „so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln, und der Herr wird es dir vergelten”. 122 Hans Küng, Existiert Gott?, S. 745. 123 Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 111 ff. 124 Ergänzungen in Klammern vom Verf. 125 Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 135 f. 126 Ebd., S. 138. 127 Die Auffassung, dass auch das religiöse Bewusstsein einer evolutionär beschreibbaren Entwicklung unterliegt, deckt sich übrigens mit der Theorie von Susan Blackmore zur geistig-kulturellen Evolution (siehe Kap. 5). 128 Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 118 f. 129 Ebd., S. 155. 130 Ebd., S. 160. 131 Ebd., S. 161. 132 Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 116. 133 Ebd., S. 109 f. 134 W. Pannenberg in H.-P. Dürr et al., Gott, der Mensch und die Wissenschaft, S. 129. 135 Ebd., S. 132. 136 Hans Küng, Ewiges Leben?, S. 105. 137 Ebd., S. 138. 138 Ebd., S. 148. 139 G. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 181. 140 Ebd., S. 183. 141 G. D. Kaufman, Theologie für das Nuklearzeitalter, S. 90. 142 Ebd., S. 91. 143 G. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, S. 214 ff. 144 Ebd., S. 214. 145 Ebd., S. 214. 146 Ebd., S. 215 f. 147 Ebd., S. 215. 148 H. v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, S. 135 f. 149 Eugen Drewermann, ... und es geschah so –. 150 Ebd., S. 849 f. 151 Ebd., S. 849 f. 152 Hoimar v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, Hoffmann und Campe 1981. 153 Aufgrund dieses Postulats bekennt sich Ditfurth unnötigerweise zum Dualismus von Geist und Materie, wobei er den Geist ganz der Transzen121
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denz, dem „Jenseits“, wie er sagt, zuordnet. Da man im Rahmen der modernen Physik durchaus davon ausgehen kann, dass Geist und Materie letztendlich nicht unterschiedliche ontologische Prinzipien sind, dass also jede Form von Materie schon in elementarem Maß geistbegabt ist, legt sich vielmehr eine monistische Sicht von Geist und Materie nahe, wie auch ich sie vertrete. An den Überlegungen und Schlussfolgerungen Ditfurths ändert dies prinzipiell nichts. Sein Dualismus wird einzig dort sichtbar, wo Ditfurth die zunehmende Manifestation des Geistes im Verlauf der Evolution als einen fortlaufenden Einbruch der Transzendenz, der Welt des Geistes also, in unsere physikalisch-materielle Welt hinein interpretiert: „Evolution verwandelt fortlaufend Transzendenz in subjektive Wirklichkeit.“ (S. 235) Ich hingegen betrachte den Geist als ein der Materie übergeordnetes und sie konstituierendes und darum von allem Anfang an in ihr enthaltenes Prinzip, nicht zuletzt der Ergebnisse der Quanten- und Elementarteilchenphysik wegen, somit als sowohl immanent als auch transzendent. Auch in diesem Sinn ist der Übergang zwischen Welt und Transzendenz fließend. 154 Ebd., S. 264. 155 Ebd., S. 236. 156 Ebd., S. 289.
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