Perfektkonstruktionen mit ›haben‹ und ›sein‹: Eine Korpusuntersuchung im Althochdeutschen, Altsächsischen und Neuhochdeutschen 9783110488814, 9783110492170, 9783110489590

This study examines German perfect constructions from a usage-based perspective by carrying out a meticulous empirical i

236 39 2MB

German Pages 348 [350] Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
1.1 Teil I: Theoretische Grundlegung
1.2 Teil II: Empirische Untersuchung – Die Perfektkonstruktionen im Althochdeutschen und Altsächsischen
1.3 Teil III: Empirische Untersuchung – Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen
2 Entstehung grammatischer Konstruktionen
2.1 haben/sein-Perfekt und Zustandspassiv als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare
2.2 Schemata versus Regeln
2.3 Die Perfektkonstruktionen im kognitiven Netzwerk
2.4 Grammatikalisierung: Abbau von Kompositionalität als Ursache für Desemantisierung und Dekategorialisierung
2.5 Grammatische Konstruktionalisierung: Zunahme an Produktivität und Schematizität
2.6 Mechanismen der Grammatikalisierung
2.6.1 Reanalyse
2.6.2 Analogie
2.6.3 Reanalyse und Analogie im Grammatikalisierungsprozess
2.7 Persistenz und Extension
2.8 Universelle Grammatikalisierungspfade
2.9 Fazit
3 Grundlegende Kategorien
3.1 Aktionsart
3.1.1 Telizität
3.1.2 Weitere Einteilung in Ereignisklassen nach Vendler und Comrie
3.1.3 Degree Achievements
3.2 Tempus
3.3 Aspekt
3.4 Semantische Transitivität
4 Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium
4.1 Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II
4.1.1 Prototypische Funktion: Resultativität
4.1.2 Weitere aktionale Differenzierung: Resultativität mit Zielzustand oder resultierendem Zustand
4.1.3 Abweichungen vom Prototyp: Partizip II von atelischen Verben
4.2 Universeller Entwicklungspfad der Perfektkategorie
4.3 Resultativ: Ursprung der Entwicklung
4.3.1 Definition und Subtypen des Resultativs: Die kompositionellen Konstruktionen mit sein und haben
4.3.2 Identifikationsmerkmale des Resultativs
4.4 Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz
4.4.1 Resultatsperfekt
4.4.2 Schwaches Resultatsperfekt
4.4.3 Experiential
4.4.4 Perfekt der Persistenz
4.4.5 Perfekt der Nahen Vergangenheit
4.4.6 Graduelle Schwächung des Gegenwartsbezugs im Zuge der diachronen Entwicklung
4.4.7 Zusammenfassung
5 Forschungsüberblick und -diskussion
5.1 Hilfsverbverteilung
5.1.1 Grundtendenzen der Hilfsverbverteilung im Deutschen: Transitivität und Aktionsart als Steuerungsfaktoren
5.1.2 Unakkusativitätshypothese
5.1.3 Graduelle Modelle zur Erklärung der Hilfsverbselektion
5.1.4 Funktionale Unterschiede zwischen haben + V-PP und sein + V-PP?
5.1.5 Forschungsfragen und -desiderate mit Blick auf die Hilfsverbverteilung
5.2 Hilfsverbwahl im Gebrauchsbasierten Modell
5.2.1 Sprachspezifische Irregularität als Ergebnis von Frequenz und Analogie
5.2.2 Hypothesen: Übertragung des gebrauchsbasierten Modells auf die Hilfsverbwahl im Gegenwartsdeutschen
5.3 haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich
5.3.1 Die Konstruktionen im Gotischen
5.3.2 habban und beon + V-PP im Altenglischen
5.3.3 Die Konstruktionen im Althochdeutschen
5.3.4 Die Konstruktionen im Altsächsischen
5.3.5 Abbau der Partizipialflexion im Althochdeutschen und Altsächsischen – Indikator für die einsetzende Grammatikalisierung?
5.3.6 Weitere Entwicklung im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen
5.3.7 Zusammenfassung
6 Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen
6.1 Korpora und Methodologie
6.2 Isidor
6.3 Tatian
6.4 Otfrid
6.4.1 haben/eigan + V-PP im Otfrid: Resultatsperfekt
6.4.2 uuesan + V-PP
6.5 Heliand
6.5.1 hebbian + V-PP
6.5.2 uuesan + V-PP
6.6 Genesis
6.6.1 hebbian + V-PP
6.6.2 uuesan + V-PP
7 Zusammenfassung und theoretische Interpretation der Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen
7.1 Frequenzielle Unterschiede: Höhere Produktivität im Altsächsischen
7.2 Temporal-aspektuelle Funktion: Höherer Grammatikalisierungsgrad im Altsächsischen
7.2.1 Mehrdeutigkeit der Konstruktionen und ein abstraktes Präsensperfektschema
7.2.2 Rekonstruktion eines Grammatikalisierungspfads
7.3 Distribution als Indikator für Grammatikalisierung
7.4 Engführung der Perspektiven: Funktionale Begründung der haben/sein-Prototypen
7.5 Offene Fragen und Untersuchungsdesiderate
8 Korpusuntersuchung der Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen
8.1 Methodisches Vorgehen
8.2 Ergebnisse: Hilfsverbwahl der Degree Achievements
8.2.1 Untersuchte Verben
8.2.2 Tokenfrequenz
8.2.3 Aspekt: Hilfsverbwahl zur Differenzierung von resultativer und nicht-resultativer Lesart
8.2.4 Aktionsart: Telisches vs. atelisches Ereignis
8.2.5 Regionale Tendenzen: haben-Präferenz in der Schweiz
8.2.6 Fazit: Tokenfrequenz, Aspekt und Aktionsart sowie Regionalität als Determinanten der Hilfsverbwahl
8.3 Ergebnisse: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben
8.3.1 Untersuchte Bewegungsverben
8.3.2 Eindeutige sein-Präferenz der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion
8.3.3 Hohe Transitivität als letzte Bastion von haben + V-PP bei Bewegungsverben
8.3.4 Eindeutige haben-Selektion in hochtransitiven Sätzen
8.3.5 Zusammenfassung: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben
9 Haben + V-PP und sein + V-PP im Neuhoch-deutschen: Theoretische Interpretation der Ergebnisse
9.1 Warum tendiert sein + V-PP so stark zur Resultativität
9.2 Die Hilfsverbwahl bei Degree Achievements und Bewegungsverben
9.2.1 Ursachen für die Produktivität des Bewegungsschemas
9.2.2 Das Transitivschema als Persistenzmerkmal
10 Zusammenfassung
10.1 Grammatikalisierung und Hilfsverbwahl: Historische Konditionierung der Prototypen
10.2 Hilfsverbwahl und funktionale Unterschiede: sein + V-PP kein Resultativ
10.3 Semantisch konditionierte Schemata der Hilfsverbwahl im Deutschen
10.3.1 Telizität
10.3.2 Bewegungssemantik
10.3.3 Semantische Transitivität
Literaturverzeichnis
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 9783110488814, 9783110492170, 9783110489590

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Melitta Gillmann Perfektkonstruktionen mit ‚haben‘ und ‚sein‘

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger

Band 128

Melitta Gillmann

Perfektkonstruktionen mit ‚haben‘ und ‚sein‘

Eine Korpusuntersuchung im Althochdeutschen, Altsächsischen und Neuhochdeutschen

Dissertation – Universität Hamburg – 2015.

ISBN 978-3-11-048881-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049217-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048959-0 ISSN 1861-5651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Mein größter Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Renata Szczepaniak. Von ihr habe ich das wissenschaftliche Arbeiten und Schreiben gelernt. Diese Arbeit hat wesentlich von ihren Ratschlägen, ihrer konstruktiven Kritik und Diskussionen mit ihr profitiert und hätte ohne sie nicht in dieser Form geschrieben werden können. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Damaris Nübling (Mainz), die, zusammen mit Renata Szczepaniak, in der Zeit meines Studiums meine Begeisterung für die (Historische) Sprachwissenschaft geweckt hat. Hilfreiche Anmerkungen und wichtige Hinweise am Manuskript verdanke ich außerdem meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Jürg Fleischer. Ein ganz großer Dank gilt meiner Doktorschwester Johanna Flick, die ich nicht nur wegen ihrer fachlichen Kompetenz, sondern auch als sehr gute und loyale Freundin schätze. Für sprachliche und inhaltliche Korrekturen am Manuskript danke ich meinen Hamburger Kolleg_innen Fabian Barteld, Dagmar Barton, Carolin Jürgens sowie Hanna Fischer (Marburg) und Jens Fleischhauer (Düsseldorf). Wichtige und inspirierende Diskussionen habe ich mit Gunther De Vogelaer (Münster), Alexander Estis (Freiburg) und Evie Coussé (Stockholm) geführt. Für Diskussionen danke ich auch den Teilnehmer_innen des sprachhistorischen Doktorandenkolloquiums in Hamburg sowie des Doktorandenkolloquiums unter Leitung von Prof. Dr. Klaus-Peter Wegera in Bochum, in dem ich mein Projekt im Sommer 2011 vorstellen konnte. Für eine schöne kollegiale Zeit am Institut und zahlreiche wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Gespräche möchte ich mich bei Jana Tereick, Heike Zinsmeister, Arne Witt und Katharina Hilpert bedanken. Stellvertretend für alle Mainzer danke ich Antje Dammel, Jessica Nowak, Mirjam Schmuck und Kristin Kopf für das Mitfiebern und Daumendrücken aus der Ferne. Vergessen möchte ich auch nicht die Bibliothekare des Instituts, deren Geduld ich häufig überstrapaziert habe, und die Sekretär_innen, v.a. Mirko Newie, die mich in organisatorischen Fragen immer kompetent unterstützt haben und ohne die der Unibetrieb nicht funktionieren würde. Bedanken möchte ich mich außerdem bei meinen Freund_innen Alex, Dana, Eva, Lydia, Jeanette, Karo, Krische, Kyuho, Malte, Steffi und meinen Geschwistern Kathrin und Marius. Ohne eure Unterstützung und den nötigen Freizeitausgleich wäre die Zeit der Doktorarbeit unmöglich gewesen. Nicht genug danken kann ich meinen Eltern, Hildegard und Joachim Gillmann, dafür, dass sie mich in allen meinen Entscheidungen unterstützen und ich mich immer auf sie verlassen kann. Ihnen ist diese Arbeit deshalb gewidmet. Hamburg, 11.08.2016 Maren Melitta Gillmann

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis | XII Tabellenverzeichnis | XIV 1  1.1  1.2  1.3 

2  2.1  2.2  2.3  2.4  2.5  2.6  2.6.1  2.6.2  2.6.3  2.7  2.8  2.9  3  3.1  3.1.1  3.1.2  3.1.3  3.2  3.3  3.4 

Zielsetzung und Aufbau der Arbeit | 1  Teil I: Theoretische Grundlegung | 3  Teil II: Empirische Untersuchung – Die Perfektkonstruktionen im Althochdeutschen und Altsächsischen | 5  Teil III: Empirische Untersuchung – Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen | 5  Entstehung grammatischer Konstruktionen | 7  haben/sein-Perfekt und Zustandspassiv als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare | 8   Schemata versus Regeln | 9  Die Perfektkonstruktionen im kognitiven Netzwerk | 10  Grammatikalisierung: Abbau von Kompositionalität als Ursache für Desemantisierung und Dekategorialisierung | 16  Grammatische Konstruktionalisierung: Zunahme an Produktivität und Schematizität | 18   Mechanismen der Grammatikalisierung | 20  Reanalyse | 20  Analogie | 21  Reanalyse und Analogie im Grammatikalisierungsprozess | 22  Persistenz und Extension | 27  Universelle Grammatikalisierungspfade | 29  Fazit | 30  Grundlegende Kategorien | 32  Aktionsart | 32  Telizität | 33  Weitere Einteilung in Ereignisklassen nach Vendler und Comrie | 35  Degree Achievements | 37  Tempus | 38   Aspekt | 44  Semantische Transitivität | 46

VIII | Inhaltsverzeichnis

4  4.1  4.1.1  4.1.2  4.1.3  4.2  4.3  4.3.1  4.3.2  4.4  4.4.1  4.4.2  4.4.3  4.4.4  4.4.5  4.4.6  4.4.7  5  5.1  5.1.1  5.1.2  5.1.3  5.1.4  5.1.5  5.2  5.2.1 

Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium | 49  Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II | 49  Prototypische Funktion: Resultativität | 50  Weitere aktionale Differenzierung: Resultativität mit Zielzustand oder resultierendem Zustand | 52  Abweichungen vom Prototyp: Partizip II von atelischen Verben | 56  Universeller Entwicklungspfad der Perfektkategorie | 59  Resultativ: Ursprung der Entwicklung | 60  Definition und Subtypen des Resultativs: Die kompositionellen Konstruktionen mit sein und haben | 60  Identifikationsmerkmale des Resultativs | 66  Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 68   Resultatsperfekt | 69  Schwaches Resultatsperfekt | 73  Experiential | 75  Perfekt der Persistenz | 79  Perfekt der Nahen Vergangenheit | 81  Graduelle Schwächung des Gegenwartsbezugs im Zuge der diachronen Entwicklung | 82  Zusammenfassung | 83  Forschungsüberblick und -diskussion | 86  Hilfsverbverteilung | 86  Grundtendenzen der Hilfsverbverteilung im Deutschen: Transitivität und Aktionsart als Steuerungsfaktoren | 87  Unakkusativitätshypothese | 95  Graduelle Modelle zur Erklärung der Hilfsverbselektion | 108   Funktionale Unterschiede zwischen haben + V-PP und sein + V-PP? | 123  Forschungsfragen und -desiderate mit Blick auf die Hilfsverbverteilung | 132  Hilfsverbwahl im Gebrauchsbasierten Modell | 133  Sprachspezifische Irregularität als Ergebnis von Frequenz und Analogie | 134 

Inhaltsverzeichnis | IX

5.2.2 

5.3.7 

Hypothesen: Übertragung des gebrauchsbasierten Modells auf die Hilfsverbwahl im Gegenwartsdeutschen | 136  haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 138   Die Konstruktionen im Gotischen | 138   habban und beon + V-PP im Altenglischen | 139  Die Konstruktionen im Althochdeutschen | 143  Die Konstruktionen im Altsächsischen | 151  Abbau der Partizipialflexion im Althochdeutschen und Altsächsischen – Indikator für die einsetzende Grammatikalisierung? | 154  Weitere Entwicklung im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen | 156  Zusammenfassung | 162 

6  6.1  6.2  6.3  6.4  6.4.1  6.4.2  6.5  6.5.1  6.5.2  6.6  6.6.1  6.6.2 

Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen | 164  Korpora und Methodologie | 164  Isidor | 171  Tatian | 178   Otfrid | 189  habēn/eigan + V-PP im Otfrid: Resultatsperfekt | 190  uuesan + V-PP | 200  Heliand | 206  hebbian + V-PP | 206  uuesan + V-PP | 222  Genesis | 225  hebbian + V-PP | 226  uuesan + V-PP | 231 



Zusammenfassung und theoretische Interpretation der Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen | 232  Frequenzielle Unterschiede: Höhere Produktivität im Altsächsischen | 232  Temporal-aspektuelle Funktion: Höherer Grammatikalisierungsgrad im Altsächsischen | 234  Mehrdeutigkeit der Konstruktionen und ein abstraktes Präsensperfektschema | 234  Rekonstruktion eines Grammatikalisierungspfads | 237  Distribution als Indikator für Grammatikalisierung | 240 

5.3  5.3.1  5.3.2  5.3.3  5.3.4  5.3.5 

5.3.6 

7.1  7.2  7.2.1  7.2.2  7.3 

X | Inhaltsverzeichnis

7.4  7.5  8  8.1  8.2  8.2.1  8.2.2  8.2.3  8.2.4  8.2.5  8.2.6  8.3  8.3.1  8.3.2  8.3.3  8.3.4  8.3.5  9  9.1  9.2  9.2.1  9.2.2  10  10.1  10.2  10.3 

Engführung der Perspektiven: Funktionale Begründung der haben/sein-Prototypen | 241  Offene Fragen und Untersuchungsdesiderate | 242  Korpusuntersuchung der Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen | 245  Methodisches Vorgehen | 245  Ergebnisse: Hilfsverbwahl der Degree Achievements | 252  Untersuchte Verben | 253  Tokenfrequenz | 255  Aspekt: Hilfsverbwahl zur Differenzierung von resultativer und nicht-resultativer Lesart | 256  Aktionsart: Telisches vs. atelisches Ereignis | 258   Regionale Tendenzen: haben-Präferenz in der Schweiz | 262  Fazit: Tokenfrequenz, Aspekt und Aktionsart sowie Regionalität als Determinanten der Hilfsverbwahl | 264  Ergebnisse: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben | 264  Untersuchte Bewegungsverben | 265  Eindeutige sein-Präferenz der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion | 268   Hohe Transitivität als letzte Bastion von haben + V-PP bei Bewegungsverben | 280  Eindeutige haben-Selektion in hochtransitiven Sätzen | 281  Zusammenfassung: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben | 302  Haben + V-PP und sein + V-PP im Neuhoch-deutschen: Theoretische Interpretation der Ergebnisse | 306  Warum tendiert sein + V-PP so stark zur Resultativität | 306  Die Hilfsverbwahl bei Degree Achievements und Bewegungsverben | 310  Ursachen für die Produktivität des Bewegungsschemas | 310  Das Transitivschema als Persistenzmerkmal | 311 Zusammenfassung | 314  Grammatikalisierung und Hilfsverbwahl: Historische Konditionierung der Prototypen | 314  Hilfsverbwahl und funktionale Unterschiede: sein + V-PP kein Resultativ | 315  Semantisch konditionierte Schemata der Hilfsverbwahl im Deutschen | 316 

Inhaltsverzeichnis | XI

10.3.1  10.3.2  10.3.3 

Telizität | 316  Bewegungssemantik | 317  Semantische Transitivität | 318  

Literaturverzeichnis | 321

 

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36:

Das abstrakte Perfektschema und seine teilspezifizierten Mikrokonstruktionen ..... 10 Beispiel-von-Beziehung zwischen Zustandspassiv und Kopulakonstruktion .......... 11 Teil-Ganzes-Beziehung zwischen Partizip II und Zustandspassiv ........................... 11 Netzwerkbeziehungen der Konstruktionen mit Partizip II ...................................... 15 Reanalyse in Anlehnung an Hopper/Traugott (2003:49) ........................................ 22 Ereignisstruktur des atelischen Verbs schlafen nach Teuber (2005: 103) ................ 33 Ereignisstruktur des telischen Verbs einschlafen nach Teuber (2005: 103) ............. 33 Einteilung in Aktionsarten (in Anlehnung an Vendler 1979, Dowty 1979 und Comrie 1981) ...................................................................................................... 37 Das Verhältnis von (S), (E) und (R) am Futur II .......................................................39 Temporale Konzeption von Die Täterin war blond in Anlehnung an Klein (1994) ...... 41 Temporale Konzeption von Das Haus ist eingestürzt in Anlehnung an Klein (1994) .. 41 Präsensrelation beim atelischen und telischen Ereignis........................................43 Perfektfunktion (erste Annäherung) .................................................................... 44 Perfektiver Aspekt und imperfektiver Aspekt (in Anlehnung an Klein (1994) ........... 45 Die Grundbedeutung des resultativen Part II nach Welke (2005: 203) .................... 51 Die verlaufsbezogene Lesart eines attributiven Part II mit atelischem Verb ............ 57 Universeller Grammatikalisierungspfad der Vergangenheit nach (Bybee/Dahl 1989, vereinfacht) .............................................................................................. 59 Die Funktion des Resultativs ............................................................................... 61 Funktionen der Perfektkategorie in Anlehnung an McCawley (1971, 1981) und Comrie (1981) .................................................................................................... 68 Resultatsperfekt ................................................................................................70 Schwaches Resultatsperfekt ............................................................................... 73 Die Experiential-Funktion ....................................................................................76 Funktion des Persistenzperfekts (in Anlehnung an Iatridou et al. 2001: 155) ........... 79 Perfekt der Nahen Vergangenheit ........................................................................ 81 Universeller Grammatikalisierungspfad der Vergangenheit unter Einbezug der Perfekttypen ............................................................................................... 82 Grundtendenzen der Hilfsverbdistribution im Deutschen (vorläufig) ..................... 90 Grundtendenzen der Hilfsverbdistribution im Deutschen ..................................... 94 Der Einfluss graduell variierender Patientivität auf die Auxiliarwahl (Kontinuum I in Anlehnung an Hinze/Köpcke 2007: 127, vereinfacht) ....................121 Der Einfluss graduell variierender Telizität auf die Auxiliarwahl (Kontinuum II in Anlehnung an Hinze/Köpcke 2007: 128, vereinfacht).................. 122 Die Funktionen von haben + V-PP sein + V-PPAkt .................................................. 130 Gruppierung haben + V-PP und sein + V-PP in Abhängigkeit von der Funktion .......131 Extensionspfad von haben + V-PP in Anlehnung an Grønvik (1986: 31,44,63) ....... 145 System der aktiven Verbalformen im Notkernach Oubouzar (1974: 16) ................. 150 Dentlers Taxonomie in Relation zur Polysemie der Perfektkonstruktion im Deutschen ....................................................................................................... 160 Direktes Objekt in habēn + V-PP bei Otfrid ......................................................... 198 Zweite Argumentstelle bei hebbian + V-PP im Heliand ........................................ 215

Abbildungsverzeichnis | XIII

Abb. 37: Anteil resultativer vs. nicht-resultativer Belege von habēn/hebbian + V-PP in den untersuchten Quellen (absolute Zahlen) .................................................. 234 Abb. 38: Anteil resultativer vs. nicht-resultativer Belege von uuesan + V-PP in den untersuchten Quellen....................................................................................... 235 Abb. 39: Abstraktes Präsensperfektschema im Althochdeutschen und Altsächsichen ........ 236 Abb. 40: Grammatikalisierungsgrad der Perfektkonstruktionen im Althochdeutschen und Altsächsischen .......................................................................................... 238 Abb. 41: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion .................... 273 Abb. 42: Hilfsverbselektion bei jung entlehnten Bewegungsverben (telischer Gebrauch) ... 274 Abb. 43: Hilfsverbselektion bei jung entlehnten Bewegungsverben (atelischer Gebrauch) . 275 Abb. 44: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit belebtem Akkusativ (relative Zahlen) .... 283 Abb. 45: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit konkretem Objekt (absolute Zahlen).......283 Abb. 46: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit Objekt u. Direktional..............................285 Abb. 47: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit individuiertem Fortbewegungsmittel......286 Abb. 48: Einfluss von Definitheit und Numerus des zweiten Aktanten auf die Hilfsverbwahl von Bewegungsverben im atelischen Satz (absolute Zahlen)......289 Abb. 49: Abb. 50: Abb. 51: Abb. 52:

Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit abstrakten Akkusativen.........................292 Hilfsverbwahl in der idiomatisierten Phrase Kampagne/Kurs fahren ………………....298 Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit einem Pfadakkusativ.............................300 Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit Akkusativergänzung..............................305

Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19: Tab. 20: Tab. 21: Tab. 22: Tab. 23: Tab. 24: Tab. 25: Tab. 26: Tab. 27: Tab. 28: Tab. 29: Tab. 30: Tab. 31: Tab. 32: Tab. 33: Tab. 34: Tab. 35: Tab. 36: Tab. 37: Tab. 38:

Temporal-aspektuelle Funktionen von sein + V-PP im Gegenwartsdeutschen ......... 12  Temporal-aspektuelle Funktionen von haben + V-PP im Gegenwartsdeutschen ...... 12  Motivation vs. Mechanismus des Sprachwandels (in Anlehnung an Traugott/Trousdale 2013: 38) .............................................................................. 25  Transitivitätsmerkmale nach Hopper/Thompson (1980: 252) ................................. 47  Semantische Merkmale der Individuiertheit (aus Hopper/Thompson 1980: 253).... 48  Funktion und Bildungsmöglichkeiten des resultativen Partizip II (vorläufig) ........... 52  Funktion und Bildungsmöglichkeiten des resultativen Part II (vorläufig) ................ 55  Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Part II ................................. 59  Typen des einstelligen Resultativs...................................................................... 64  Typen des haben-Resultativs ............................................................................. 66  Identifikationsmerkmale des Resultativs .............................................................67  Identifikationsmerkmale des Resultatsperfekts ................................................... 72  Identifikationsmerkmale des schwachen Resultatsperfekts .................................. 75  Identifikationsmerkmale des schwachen Experientials ......................................... 79  Identifikationsmerkmale des Persistenzperfekts ................................................. 80  Identifikationsmerkmale des Perfekts der Nahen Vergangenheit .......................... 82  Die Auxiliary Selection Hierarchy nach Sorace (z.B. 2000)................................... 109  Auxiliar-Selektion-Hierarchie im Französischen, Niederländischen, Deutschen und Italienischen (in Anlehnung an Legendre 2007a) ........................................... 115  Das Prototypenmodell der Auxiliarselektion nach Shannon (1990, 1993) .............. 117  hebbian + V-PP und uuesan + V-PP im Heliand nach Arnett (1997) ....................... 152  Umfang der untersuchten althochdeutschen und altsächsischen Textkorpora ...... 165  Kriterien zur Bestimmung der temporal-aspektuellen Funktion ........................... 170  Vorkommen von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP im Isidor ....................... 171  uuesan + V-PP im Isidor .................................................................................... 172  Vorkommen von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP im Tatian ...................... 179  habēn/eigan + V-PP im Tatian ........................................................................... 179  uuesan + V-PP im Tatian ................................................................................... 182  Vorkommen von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP im Otfrid ...................... 189  Funktionen von habēn/eigan + V-PP im Otfrid .................................................... 193  Funktionen von uuesan + V-PP im Otfrid ............................................................ 203  Vorkommen von hebbian + V-PP und uuesan + V-PP im Heliand ......................... 206  Semantische Verbklassen in uuesan + V-PP ....................................................... 222  Vorkommen von hebbian + V-PP und uuesan + V-PP in den Genesis-Fragmenten .. 226  Tokenfrequenz von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP in den untersuchten altgermanischen Texten ................................................................................... 233  Temporal-aspektuelle Funktionen von uuesan + V-PP im Althochdeutschen und Altsächsischen ................................................................................................ 235  Temporal-aspektuelle Funktionen von habēn/hebbian + V-PP im Althochdeutschen und Altsächsischen .............................................................. 236  Öffentliche Korpora des Archivs W (Korpora über 8.000 Wörter) ..........................246  Merkmale bei der Kategorisierung der Akkusativergänzung ................................ 250 

Tabellenverzeichnis | XV

Tab. 39: Gesamtvorkommen der untersuchten Degree Achievements in DeReKo geordnet nach Gebrauchshäufigkeit ................................................................. 253  Tab. 40: Hilfsverbwahl der untersuchten Degree Achievements ....................................... 254  Tab. 41: Die aspektuelle Funktion von sein + V-PP bei den untersuchten Degree Achievements....................................................................................... 256  Tab. 42: Hilfsverbwahl der Degree Achievements (nicht-resultative Funktionen) in Deutschland, Österreich und der Schweiz ......................................................... 262  Tab. 43: Hilfsverbwahl von wuchern und rosten in der Schweiz und dem übrigen deutschen Sprachraum (beobachtete Häufigkeiten) ........................................... 263  Tab. 44: Hilfsverbwahl von wuchern, rosten, faulen, schimmeln in Österreich und dem landesdeutschen Sprachraum (beobachtete Häufigkeiten) ................................. 263  Tab. 45: Tokenfrequenz der untersuchten Bewegungsverben im Perfekt .......................... 266  Tab. 46: haben + V-PP und sein + V-PP bei den untersuchten Bewegungsverben (alle Formen) ................................................................................................... 267  Tab. 47: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion .................... 268  Tab. 48: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion .................... 270  Tab. 49: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit individuiertem Fortbewegungsmittel (absolute und relative Zahlen) .......................................................................... 286  Tab. 50: Einfluss von Definitheit und Numerus des zweiten Aktanten auf die Hilfsverbwahl von gefahren im atelischen Satz (absolute Zahlen) ....................... 288  Tab. 51: Einfluss von Definitheit des Objekts (individuiertes Fortbewegungsmittel) auf die Hilfsverbwahl ............................................................................................. 289  Tab. 52: Einfluss von Numerus des Objekts (individuiertes Fortbewegungsmittel) auf die Hilfsverbwahl ............................................................................................. 290  Tab. 53: Hilfsverbwahl von gefahren bei inkorporiertem Objekt (absolute Zahlen) ............ 290  Tab. 54: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben bei abstrakten Akkusativen (absolute und relative Zahlen) ......................................................................................... 291  Tab.55: Einfluss von Definitheit, Numerus und Inkorporation des abstrakten Objekts auf die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben (gesamt) ........................................ 294  Tab. 56: Einfluss der (In)Definitheit des abstrakten Akkusativs auf die Hilfsverbwahl ........ 294  Tab. 57: Abstrakter Akkusativ als erreichtes Ziel ............................................................. 296  Tab. 58: Einfluss der Semantik auf die Hilfsverbwahl der Abstrakta ................................. 296  Tab. 59: Hilfsverbwahl der teilidiomatisierte Phrase Angriffe/Einsätze etc. fahren/fliegen….. ............................................................................................. 297  Tab. 60: Hilfsverbwahl beim teilidiomatischen Konstruktionsmuster Angriffe fliegen (Beobachtete Häufigkeiten) .............................................................................. 298  Tab. 61: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit einem Pfadakkusativ (absolute Zahlen) 300  Tab. 62: Temporal-aspektuelle Funktionen von sein + V-PP und haben + V-PP ................... 306  Tab. 63: Exemplarische Verwendungskontexte des resultativen vs. nicht-resultativen haben + V-PP ........................................................................ 308  Tab. 64: Verwendungskontexte des resultativen vs. nicht-resultativen sein+ V-PP ............ 308 

1 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit Das Perfekt zählt zu den meist untersuchten Gegenständen der deutschen Linguistikforschung. Es wird häufig diskutiert, welche Funktion(en) das Perfekt erfüllt (zu einer Übersicht s. Ehrich 1992, Thieroff 1992, Rathert 2004) bzw. ob sich die unterschiedlichen Lesarten unter eine einheitliche temporale Bedeutung fassen lassen (z.B. Klein 2000, Musan 2002: Kap. 2, Rathert 2004, Rothstein 2008) und – eng mit diesen Fragen verwandt –, ob es sich um eine Tempus- oder um eine Aspektkategorie handelt (z.B. Vater 2000, Musan 2002: Kap. 2, Rothstein 2008: Abschnitt 5.2). Bis heute wurde nicht abschließend geklärt, warum sich das Perfekt, vom Oberdeutschen (Obdt.) ausgehend, auf Kosten des synthetischen Präteritums ausbreitet (z.B. Reis 1894, Lindgren 1957, Trost 1980, Dentler 1997, 1998). Eine aktuelle empirische Studie untersucht, was die nach Norden hin gefächerte Zunahme des Präteritumgebrauchs aus gegenwartssprachlicher Sicht motiviert und ob es in norddt. Sprachregionen, die die Opposition zwischen Perfekt und Präteritum stärker bewahrt haben, Bedeutungsunterschiede gibt (Fischer 2015, i.Vorb.). Typologisch-vergleichende Arbeiten zeigen, dass sich das Nord-Süd-Gefälle weiter über die gesamte Germania fortsetzt: Im Deutschen (Dt.) und im Niederländischen (Ndl.) ist das Perfekt bereits zum Vergangenheitstempus grammatikalisiert und in den meisten Fällen mit dem Präteritum austauschbar. Dagegen steht es im Englischen (Engl.), Dänischen (Dän.) und Schwedischen (Schwed.) in funktionaler Opposition zum synthetischen Vergangenheitsausdruck, was von einem schwächeren Grammatikalisierungsgrad zeugt (z.B. Grønvik 1986, Ehrich/Vater 1989, Klein/Vater 1998, Rothstein 2008, Dammel et al. 2010, Schmuck 2013: Kap. 3.2). Seit jüngerer Zeit gilt das Interesse verstärkt den etwa seit dem Frühneuhochdeutschen (Fnhd.) belegten Doppelperfektformen (Rödel 2007, Welke 2009, Hundt 2011, Brandner/Salzmann/Schaden 2016). Mit Buchwald-Wargenau (2012) liegt jetzt sogar eine diachrone Untersuchung des Doppelperfekts vor. Die vorliegende Dissertation betrachtet das dt. Perfekt unter einem anderen Aspekt: Sie widmet sich der Verteilung der Hilfsverbkonstruktionen haben + Partizip II und sein + Partizip II (im Folgenden kurz haben + V-PP und sein + V-PP). Dieses Thema wurde bisher nur selten aus funktionaler Perspektive behandelt (s. aber Hinze/Köpcke 2007, Gillmann 2011, 2015), dafür umso häufiger aus generativer. Hier gilt die Auxiliarselektion als Paradebeispiel einer sog. Unakkusativitätsdiagnostik (z.B. Alexiadou et al. 2004: 5ff.), was sogar so weit geht, dass sie mit Unakkusativität gleichgesetzt wird. Diese Arbeiten liefern interessante Beobachtungen zu sprachübergreifenden Übereinstimmungen der Auxiliarverteil-

2 | Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

ung und zeigen Gemeinsamkeiten zwischen Verben mit sein-Perfekt und passiven Konstruktionen auf. Da sie sich v.a. für Universalien interessieren, thematisieren sie sprachspezifische Eigenheiten aber häufig nicht. Zudem konzentrieren sie sich auf syntaktische Erklärungen, weshalb Gebrauchsfaktoren wie Frequenz und Analogie, die sich aus der Sprachprozessierung ergeben, nicht mit einbezogen werden. Überraschenderweise gibt es bis heute kaum empirische Untersuchungen zur Hilfsverbverteilung im Deutschen (Dt.) (s. aber Hinze/Köpcke 2007, Keller/Sorace 2003). Diese Arbeit betrachtet die Wahl der Auxiliare haben und sein aus gebrauchsbasierter Perspektive und nimmt eine empirische Untersuchung ausgewählter Bewegungsverben und Degree Achievements mit schwankendem Perfekthilfsverb vor. Der gebrauchsbasierte Zugang wirft ein neues theoretisches Licht auf das System der Perfekthilfsverben. Die empirische Untersuchung ergänzt bisherige Beobachtungen, indem sie für das Dt. spezifische Muster und Regelmäßigkeiten der Auxiliarwahl offenlegt. Dabei wird die Hilfsverbverteilung nicht nur aus synchroner, sondern auch aus diachroner Perspektive betrachtet; d.h. es wird nach den historischen Ursachen und einer möglichen funktionalen Konditionierung des heutigen Systems gesucht. Zu diesem Zweck werden die Perfektkonstruktionen in der frühsten dt. Sprachstufe, dem Althochdeutschen (Ahd.), in den Blick genommen und quantitativ-qualitativ analysiert. Anders als im Neuhochdeutschen (Nhd.) muss dabei allerdings zunächst die Funktion der Konstruktionen bestimmt werden, um zu überprüfen, ob diese mit der Wahl des Hilfsverbs interagiert. Dieselbe Untersuchung wird im Altsächsischen (As.), der dem Ahd. am nächsten verwandten altgermanischen (altgerm.) Sprache, durchgeführt und mit den im Ahd. erzielten Ergebnissen verglichen. Der Vergleich dient dazu, eine mögliche regionale Staffelung aufzudecken. Im Vordergrund steht die Frage, ob das Perfekt in beiden altgerm. Sprachen Funktionsunterschiede erkennen lässt und ob sich diese Unterschiede in der Distribution der Hilfsverbkonstruktionen niederschlagen. Gerade der Vergleich zwischen beiden altgerm. Sprachen kann somit Aufschluss über eine mögliche funktionale Konditionierung der Hilfsverbverteilung geben. Das zweite übergeordnete Ziel der Arbeit ist somit, Funktion und Verwendungskontexte der ahd. und as. Perfektfunktionen zu bestimmen und zu vergleichen. Beide Faktoren geben Aufschluss über den Grammatikalisierungsgrad der Konstruktionen. Somit geht es letztendlich auch darum, eine mögliche regionale Staffelung der Grammatikalisierung auszumachen. Die Ergebnisse werden durch jüngere Untersuchungen im Altenglischen (Ae.) ergänzt und somit auf die gesamte Westgermania erweitert.

Teil I: Theoretische Grundlegung | 3

Grundsätzlich können sich historische Untersuchungen nicht auf muttersprachliche Kompetenz stützen. Überdies besteht bei der Analyse feiner Funktionsunterschiede, wie sie zwischen den einzelnen Perfekttypen existieren, generell die Gefahr des subjektiven Urteils. Um bei der qualitativen Analyse dennoch eine möglichst hohe Objektivität zu gewährleisten, ist neben einer breiten Datenbasis ein Kriterienkatalog erforderlich, mit dem sich die Funktion in den Einzelbelegen messbar, operationalisierbar und vergleichbar machen lässt. Ein solcher Kriterienkatalog wird im Theorieteil ausgehend von der typologischen Literatur erarbeitet. Das Buch gliedert sich insgesamt in drei Teile, von denen der erste die theoretische Grundlage (Teil I), die beiden weiteren die empirischen Untersuchungen in den altgerm. Sprachen (Teil II) und dem Nhd. (Teil III) enthalten. Die folgenden Abschnitte skizzieren knapp die Inhalte und Zielsetzungen der Einzelkapitel.

1.1 Teil I: Theoretische Grundlegung Der erste Teil liefert theoretische Grundlagen. Kap. 2 führt zunächst die Perfektkonstruktionen als Gegenstandsbereich der Arbeit ein und bettet sie in das konstruktionsgrammatische Modell ein (2.1-2.3). Dieser Teil dient dazu, das in dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis der Konstruktionen zu klären, v.a. ihre Funktion und ihre Verflechtung mit formal und funktional verwandten Konstruktionen wie dem Partizip II (im Folgenden kurz Part II) und dem Zustandspassiv. Danach wird Grammatikalisierung als Sprachwandelprozess vorgestellt, bei dem grammatische Konstruktionen entstehen, und Mechanismen diskutiert, die in diesem Prozess greifen (2.4-2.6). Es wird Hoppers Prinzip der Persistenz eingeführt, das eine diachrone Erklärung für sprachübergreifende Tendenzen der Hilfsverbverteilung bietet (2.7). Anschließend werden Ursachen für die Universalität von Grammatikalisierungspfaden nach Bybee (2010) umrissen (2.8). Kap. 3 definiert die für diese Arbeit grundlegenden Kategorien Aktionsart, Tempus, Aspekt und semantische Transitivität. Zum einen werden die Konzepte selbst erklärt, zum anderen Grundbegriffe, die für diese Arbeit wesentlich sind (darunter Telizität), festgelegt. Dies ist v.a. mit Blick auf Aspekt und Aktionsart notwendig, da die Terminologie in der Forschungsliteratur uneinheitlich und häufig unpräzise gebraucht wird. In den Kap. zu Tempus und Aspekt wird, ausgehend von der Tempustheorie von Reichenbach (1947/1966), Klein (1994) und Kiparsky (2002), ein Grundgerüst erarbeitet, um unterschiedliche Funktionstypen des Perfekts zu definieren und voneinander abzugrenzen. Kap. (4) widmet sich dann Funktionstypen, die in der frühen Phase der Grammatikalisierung entstehen. Hier wird das Ziel verfolgt, operationalisierbare Kriterien für die qualitative Analyse der ahd. und as. Perfektbelege zu erarbeiten. Da

4 | Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

in dieser Arbeit die Aufgabe von Kompositionalität als konstitutives Element von Grammatikalisierungsprozessen angesehen wird, ist zunächst die genuine Funktion des freien Part II zu klären, um kompositionelle und nicht-kompositionelle Semantik voneinander abgrenzen zu können (Abschnitt 4.1). Anschließend wird der universelle Grammatikalisierungspfad nachgezeichnet, der laut der typologischen und sprachhistorischen Literatur vom Resultativ über das Präsensperfekt zum Vergangenheitstempus führt (4.2). Die folgenden Abschnitte nehmen die ersten beiden Entwicklungsstufen dieses Pfads genauer in den Blick, wobei fünf Perfekttypen unterschieden werden (4.3-4.4). Basierend auf der Definition dieser Funktionstypen werden Identifikationsmerkmale erarbeitet. Kap. (5) bietet einen Forschungsüberblick. Als erstes werden bestehende Erklärungsmodelle der Hilfsverbdistribution beschrieben (5.1). Begonnen wird bei der Beschreibung der Junggrammatiker. Danach werden Grundzüge der Unakkusativitätshypothese vorgestellt und ihr Erklärungspotential für die Hilfsverbdistribution im Dt. diskutiert, wobei ein kurzer Vergleich zum Italienischen (It.) und Niederländischen (Ndl.) gezogen wird. Die Darstellung wendet sich dann graduellen Modellen zu wie Soraces (z.B. 2000) Auxiliarselektionshierarchie (kurz ASH) und Shannons kognitivem Prototypenmodell (Shannon z.B. 1993). Als sprachspezifische Übertragung von Shannons universellem Modell kann das für das Dt. adaptierte, sprachspezifische Modell von Hinze/Köpcke (2007) angesehen werden. Schließlich wird die im Wesentlichen durch Leiss (1992) und Teuber (2005) vertretene These, dass Funktionsunterschiede zwischen haben + V-PP und sein + V-PP bestehen, diskutiert. Ausgehend von diesem Forschungsüberblick wird ein Vorschlag gemacht, wie bisherige Erklärungen der Hilfsverbverteilung durch ein gebrauchsbasiertes Modell gewinnbringend ergänzt werden können (5.2). Es wird die Hypothese aufgestellt, dass sich im Bereich der Bewegungsverben frequentiell gestützt ein Schema herausgebildet hat, das die Hilfsverbwahl in diesem Bereich heute produktiv steuert. Diese Hypothese wird in Teil III empirisch überprüft. Nach dem Forschungsüberblick zur Hilfsverbdistribution betrachtet Abschnitt (5.3) die Konstruktionen von HABEN + V-PP und SEIN + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich mit verwandten altgerm. Sprachen. Zu diesem Zweck werden die entsprechenden Konstruktionen im Gotischen (Got.) und anschließend im Ae., der dem Ahd. und As. am dichtesten verwandte altergerm. Sprache, in den Blick genommen. Danach wird skizziert, wie die ahd. und as. Perfektkonstruktionen in der bisherigen Forschung bewertet wurden und ein Ausblick auf die weitere Entwicklung der Konstruktionen im Mittelhochdeutschen (Mhd.) gegeben.

Teil III: Empirische Untersuchung – Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen | 5

1.2 Teil II: Empirische Untersuchung – Die Perfektkonstruktionen im Althochdeutschen und Altsächsischen Der erste empirische Teil präsentiert die Untersuchung von HABEN + V-PP und SEIN + V-PP im Ahd. und As. Ziel ist es, die temporal-aspektuelle Funktion sowie die Verwendungskontexte der Konstruktionen zu bestimmen; beide bilden Indikatoren für den Grammatikalisierungsgrad. Es wird der Frage nachgegangen, ob sich Funktion und Verwendungskontexte wechselseitig beeinflussen. Kap. (6) stellt zunächst das methodische Vorgehen bei der eigenen empirischen Untersuchung vor: Die Untersuchungsmethode wird umrissen, die verwendeten Texte werden vorgestellt und die Probleme, die diese Texte für linguistische Untersuchungen mit sich bringen, diskutiert. Es folgt eine knappe Skizze der Analysemethode, die im Wesentlichen auf den in Kap. (4) erarbeiteten Perfekttypen und Identifikationsmerkmalen aufbaut. Die folgenden Abschnitte präsentieren dann in chronologischer Reihenfolge die Ergebnisse, die bei der Untersuchung der Einzeltexte erzielt wurden: Beginnend mit dem Ahd. wird zunächst der Isidor (Kap. 6.2), danach der Tatian (Kap. 6.3) und schließlich der Otfrid (Kap. 6.4) in den Blick genommen. Es folgt eine Beschreibung der Belege im as. Heliand (6.5) und in den Genesisfragmenten (Kap. 6.6). Kap. (7) fasst die wichtigsten Ergebnisse vergleichend zusammen und interpretiert sie theoretisch innerhalb des gebrauchsbasierten Modells. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Tokenfrequenz und Produktivität der Konstruktionen, ihrem Funktionsspektrum sowie den Verwendungskontexten. Ausgehend von den Daten wird ein diachroner Grammatikalisierungspfad rekonstruiert.

1.3 Teil III: Empirische Untersuchung – Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen Die Kap. (8)-(9) behandeln eine Korpusuntersuchung von nhd. Degree Achievements und Bewegungsverben im Deutschen Referenzkorpus des IDS Mannheim. Ziel ist es, anhand der Verben mit schwankendem Perfektauxiliar, Einflussfaktoren bzw. mögliche produktive Schemata der Hilfsverbwahl auszumachen. Nach dem methodischen Vorgehen (Kap. 8.1) werden die Ergebnisse, die bei der Untersuchung der Degree Achievements (Kap. 8.2) und der Bewegungsverben (Kap. 8.3) erzielt wurden, präsentiert. Dabei werden potentielle Steuerungsfaktoren wie Tokenfrequenz, Aspekt, Aktionsart sowie, im Fall der Bewegungsverben, semantische Transitivität überprüft. Anhand infrequenter, neu aus dem

6 | Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Engl. entlehnter Bewegungsverben wird überprüft, ob es ein neues, produktives Hilfsverbschema gibt, das die Auxiliarwahl bei Bewegungsverben steuert. Kap. (9) fasst die in Teil III erzielten Ergebnisse vergleichend zusammen und interpretiert sie aus gebrauchsbasierter Perspektive. Jedes Kapitel schließt mit einem Fazit, das einen Überblick über zentrale Aspekte und Ergebnisse gibt. Im letzten Kapitel (10) werden die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.

2 Entstehung grammatischer Konstruktionen Ziel dieses Kap. ist es, theoretische Grundannahmen der vorliegenden Arbeit vorzustellen. Zum einen werden das in Teil II und Teil III empirisch untersuchte Perfekt und das verwandte Zustandspassiv in das konstruktionsgrammatische Modell eingebettet, das den theoretischen Rahmen dieser Arbeit bildet (Abschnitt 2.1–2.3). Dies dient in erster Linie dazu, die betreffenden Konstruktionen allgemein im Sprachsystem zu verorten und ihre Funktion aufzuzeigen sowie die Beziehungen zwischen beiden. Zum anderen wird das in dieser Arbeit zugrunde liegende Konzept der Grammatikalisierung im gebrauchsbasierten Modell dargestellt (Abschnitt 2.4–2.8). Der erste Abschnitt (2.1) betrachtet die Perfektkonstruktionen (z.B. Sie hat gelacht, Ich bin gefallen) und das formal und funktional verwandte Zustandspassiv (Das Haus ist frisch gestrichen) im konstruktionsgrammatischen Modell. Es wird gezeigt, wie die Konstruktionen in einem netzwerkartigen Beziehungsgeflecht untereinander verknüpft sind (2.3). Darauf aufbauend widmen sich die folgenden Abschnitte der Grammatikalisierung (2.4–2.7). Grammatikalisierung wird als Prozess definiert, in dem sich grammatische Konstruktionen durch Aufgabe von Kompositionalität, durch Chunking und durch Automatisierung herausbilden (2.4). Es entstehen neue Schemata im Netzwerksystem, während Verbindungen zu den ursprünglichen Knotenpunkten allmählich abreißen. Neben dem Abbau von Kompositionalität beinhaltet Grammatikalisierung auf Konstruktionsebene Zunahme an Schematizität und Produktivität (2.5). Im Anschluss wird die in der Forschung bestehende Diskussion um die Rolle von Reanalyse und Analogie skizziert (2.6). Dabei wird deutlich, dass Analogie stärker an der Uminterpretation von Konstruktionen beteiligt ist als in früheren Arbeiten angenommen. Bei neuen Funktionen handelt es sich häufig um die analogische Weiterentwicklung bereits existierender Verwendungen. Hierin liegt eine mögliche Erklärung dafür, dass besonders im frühen Grammatikalisierungsstadium semantische sowie strukturelle Eigenschaften der historischen Ausgangskonstruktion beibehalten werden. Abschnitt (2.7) stellt diese sog. Persistenz vor und diskutiert mögliche Ursachen. Abschnitt (2.8) skizziert mögliche gebrauchsbasierte Ursachen für die Universalität von Grammatikalisierungspfaden. Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse des Kap. zusammenfassend dargestellt (2.9).

8 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

2.1 haben/sein-Perfekt und Zustandspassiv als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare In einem gebrauchsbasierten Sprachmodell bilden Konstruktionen, d.h. konventionalisierte Form-Bedeutungspaare, die zentralen Bezugsgrößen (Goldberg 1995, 2006, Croft 2001, Bybee 2010, Booij 2010). Es handelt sich um einfache und komplexe Zeichen, d.h. einzelne Wörter und Mehrwortverbindungen, die eine eigene mentale Repräsentation besitzen. Mit dem haben/sein-Perfekt und dem Zustandspassiv stehen in dieser Arbeit komplexe Konstruktionen im Vordergrund. Feste Bestandteile dieser Konstruktionen bilden die Hilfsverben haben oder sein kombiniert mit einem Partizip II (im Folgenden kurz haben/sein + V-PP ). Vereinfacht gesagt, trägt dieses Schema die abstrakte Bedeutungskomponente [+ Vergangenheit] (genauer hierzu s. Kap. 2.3 und Kap. 4.2–4.4). Das Vollverb (V) und die Argumentstruktur bilden Leerstellen, die je nach Kommunikationsinteresse gefüllt werden, vgl. (1). (1)

habenfin + ge-V-t/enPart Sie hat gelacht.

seinfin + ge-V-t/enPart Sie ist gekommen.

Dass es sich um Konstruktionen handelt, ist daran zu erkennen, dass sich die Bedeutung nicht-kompositionell aus der Summe der einzelnen Bestandteile ergibt, sondern die Verbindung als Einheit Bedeutung trägt. Die fehlende Kompositionalität ist ein Kennzeichen u.a. grammatikalisierter Konstruktionen wie in (1), aber auch lexikalischer Idiome wie in (2). (2a)

Sie zeigt ihm einen Vogel

(2b)

Fall nicht immer mit der Tür ins Haus.

Idiomatizität ist jedoch keine notwendige Voraussetzung für den Konstruktionsstatus, schon die erhöhte Kookurrenzfrequenz trägt dazu bei, dass eine Zeichenfolge eine mental abgespeicherte Einheit bildet (Goldberg 2006: 5). Deshalb stellt auch das Zustandspassiv eine Konstruktion dar, obwohl eine kompositionelle Fügung vorliegt (s. Maienborn 2007). Strukturell handelt es sich um eine Kopulakonstruktion mit prädikativem Partizip II (genauer zum Zustandspassiv und seiner Beziehung zu den Perfektkonstruktionen s. 2.3) (3)

Das Haus ist seit Jahren abgerissen.

Schemata versus Regeln | 9

2.2 Schemata versus Regeln Sprachübergreifend existieren abstrakte Muster und Regularitäten, die lexikalische Zeichen in Relation setzen. In generativen Modellen spricht man von Regeln, z.B. Phrasenstrukturregeln und Transformationsregeln (Chomsky 2002 z.B.). Langacker (2013) kritisiert, dass diese Regeln unabhängig von konkreten sprachlichen Äußerungen existieren und keine Ähnlichkeit mit ihnen aufweisen. Statt Regeln werden im gebrauchsbasierten Modell deshalb Schemata angesetzt (vgl. z.B. Köpcke 1993, 1994, 1999, Bybee 2010: 73f., Langacker 2013). Schemata sind abstrakte Generalisierungen über konkrete Ausprägungen (auch Mikrokonstruktionen) wie in den Beispielsätzen (1), (2) und (3). Ein abstraktes Schema geht aus ähnlichen Mikrokonstruktionen hervor und bildet eine Verallgemeinerung über deren formale und/oder funktionale Gemeinsamkeiten. Umgekehrt sind einzelne Mikrokonstruktionen spezifischer als Schemata. Anders als Regeln sind Schemata also eng mit konkreten Ausprägungen verwandt. Sie resultieren aus lokalen, hochspezifischen Vorkommen und verfestigen sich durch deren wiederholten Gebrauch. Schemata sind nicht primär gegeben, sondern bilden sich im Sprachgebrauch heraus: Es handelt sich um konventionell etablierte Muster, die geteilte Eigenschaften einzelner Mikrokonstruktionen repräsentieren. In ihrer Struktur gleichen sie konkreten Ausprägungen deshalb stark. Schemas bear the closest relations to expressions. They are templates for expressions, representing the abstracted commonality (at any level of specifity). Expressions and the patterns they instantiate are thus the same in their basic nature, differing only in degree of specifity. Both specific expressions and abstracted schemas are thus directly analogous to the expressions they characterize apart from their level of specifity. (Langacker 2009: 2)

Nach Bybee (2010) befreit diese Sicht davon, alle Ausnahmen ‚wegerklären‛ zu müssen. Da Schemata um Prototypen organisiert sind und deshalb keine scharfen Grenzen besitzen, sind sie flexibler als starre Regeln (s. Köpcke 1988, 1993, 1994, 1999). Damit erfassen sie das Wesen sprachlicher Strukturen besser. Im Falle der Perfektkonstruktionen kann ein Schema angesetzt werden, das über haben + V-PP und sein + V-PP generalisiert. Beide Mikrokonstruktionen teilen sich funktionale (SEM) und formale (SYN) Eigenschaften: Es handelt sich um die Verbindung eines Hilfsverbs und aktiven Partizips II, die als Ganze Präsensperfekt- bzw. Vergangenheitsfunktion trägt.

10 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

SYN: Auxfin + ge-V-t/en SEM: Präsensperfekt/Vergangenheit

Mikro-Kxn1

Mikro-Kxn2

SYN: habenfin + ge-V-t/en

SYN: seinfin + ge-V-t/en

Sie hat gelacht.

Sie ist gekommen.

Abb. 1: Das abstrakte Perfektschema und seine teilspezifizierten Mikrokonstruktionen

Auch die Verteilung der Perfekthilfsverben ist durch Schemata determiniert, die sich aus den semantisch-strukturellen Kontexten der Mikrokonstruktionen ergeben. Dabei spielen im Wesentlichen hohe Transitivität (vgl. Kap. 3.4), Telizität (vgl. Kap. 3.1.1) und, wie in dieser Arbeit gezeigt wird (Kap. 8.3 und 9), Bewegungssemantik eine Rolle. Alles in allem bilden Schemata abstrakte Generalisierungen über gemeinsame formale und/oder funktionale Merkmale spezifischer Äußerungen. Sie beschreiben sprachliche Strukturmuster besser als Regeln, da sie eng mit sprachlichen Äußerungen verwandt sind, indem sie 1. diachron daraus hervorgehen, 2. diesen in ihrer Beschaffenheit gleichen. Unterschiede bestehen allein im Grad der Spezifik. Schemata sind flexibler als starre Regeln, da sie nicht auf ja/nein-Klassifikationen, sondern auf prototypisch organisierten Kategorien beruhen.

2.3 Die Perfektkonstruktionen im kognitiven Netzwerk Wie schon Abbildung 1 deutlich macht, ist für das gebrauchsbasierte Modell grundlegend, dass im mentalen Lexikon Verbindungen zwischen Konstruktionen bestehen (s. u.a. Goldberg 1995, 2006, Croft 2001, Langacker 2013). Das Sprachsystem, das aus diesen Verbindungen resultiert, wird mit der Metapher eines Netzwerks erfasst (vgl. Fillmore/Baker 2010, Goldberg 1995: Kap. 3, Bybee

Die Perfektkonstruktionen im kognitiven Netzwerk | 11

2010: 22ff.): Konstruktionen bilden Knotenpunkte in diesem Netzwerk, die sowohl über Form-/Funktionsähnlichkeiten mit anderen Konstruktionen verbunden sind. Von einem Knotenpunkt gehen i.d.R. mehrfache Verbindungen aus, sodass ein multidimensionales System resultiert. Goldberg (1995, 2006) setzt fünf Verbindungstypen an: Die Beispiel-von-Beziehung, die Teil-Ganzes-Beziehung, die Polysemiebeziehung, die metaphorische Erweiterung sowie die Vererbungsbeziehung. Wie zu zeigen, sind alle Verbindungstypen abgesehen von der metaphorischen Erweiterung mit Blick auf das haben/sein-Perfekt und das verwandte Zustandspassiv relevant. Wie bereits in Abschnitt (2.1) angesprochen, handelt es sich beim Zustandspassiv um eine Kopulakonstruktion. Die prädikative Position ist obligatorisch mit einem passiven Partizip II besetzt, vgl. Abbildung 2. Damit besteht eine Beispielvon-Beziehung: Das Zustandspassiv ist die spezifischere Ausgestaltung der abstrakten sein-Kopulakonstruktion. [[NPNOM]

[sein]

[APNOM]]

Der Zaun ist rot.

[[NPNOM]

[sein]

[ge-V-t/en]PASS]

Der Zaun ist gestrichen.

Abb. 2: Beispiel-von-Beziehung zwischen Zustandspassiv und Kopulakonstruktion

Die komplexe Zustandspassivkonstruktion setzt sich wiederum aus einfachen Konstruktionen zusammen: Die Partizip II-Konstruktion bildet einen Bestandteil der komplexen Zustandspassivkonstruktion und steht damit in einer Teil-Ganzes-Beziehung, vgl. Abbildung 3. [gestrichen] [Der Zaun ist [gestrichen]] Abb. 3: Teil-Ganzes-Beziehung zwischen Partizip II und Zustandspassiv

Genau wie einzelne lexikalische Wörter können Konstruktionen bei gleichbleibender Ausdrucksseite systematisch mehrere Bedeutungen tragen. Es besteht eine Polysemie-Beziehung (Goldberg 1995: 75ff., Croft 2001: 27, 116–119). Die Polysemie wird durch die lexikalische Füllung der Leerstellen oder durch den Kontext aufgelöst.

12 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

Auch die Perfektkonstruktionen zeigen systematische Mehrdeutigkeit: Beide erfüllen mehrere, eng verwandte Funktionen: Sie können das gegenwärtig andauernde Resultat eines zurückliegenden Ereignisses bezeichnen (= Resultativ), ein zurückliegendes Ereignis mit Gegenwartsbezug (= Präsensperfekt) oder allein ein zurückliegendes Ereignis (= Vergangenheit), vgl. Tabelle 1 für sein + V-PP und Tabelle 2 für haben + V-PP. Tab. 1: Temporal-aspektuelle Funktionen von sein + V-PP im Gegenwartsdeutschen

sein + V-PP

Bedeutung

Resultativ

Viele Jahre sind vergangen.

‘X ist (jetzt) ge-V-t/en’

Präsensperfekt

Sie ist gerade angekommen.

‘X ist (gerade) ge-V-t/en’

Vergangenheit

Goethe ist 1893 gestorben.

‘X V-te (damals)’

Tab. 2: Temporal-aspektuelle Funktionen von haben + V-PP im Gegenwartsdeutschen

haben + V-PP

Bedeutung

Resultativ

Das Pferd hat die Fesseln bandagiert.

‘Y von X ist (jetzt) ge-V-t/en’

Präsensperfekt

Ich habe schon gegessen.

‘X hat (Y) (gerade) ge-V-ten’

Vergangenheit

Caesar hat den Rubikon überschritten.

‘X V-te (damals) (Y)’

Diese Funktionen liegen semantisch nah beieinander und sind metonymisch aufeinander bezogen. Das Präsensperfekt bildet das Bindeglied zwischen Resultativität (mit reiner Gegenwartsreferenz) und Vergangenheitslesart (mit reiner Vergangenheitsreferenz), die funktional vergleichsweise weit voneinander entfernt sind. Polysemien wie in Tabelle 1 und Tabelle 2 sind häufig durch diachrone Bedeutungsverschiebungen motiviert (z.B. Hopper/Traugott 2003: 77f., Bybee 2010: 199, Traugott/Trousdale 2013f.). In der Gegenwartssprache sind die Zwischenschritte der Bedeutungsverschiebung als koexistierende Bedeutungsvarianten erhalten. Dies trifft auch auf die Funktionen von sein + V-PP und haben + V-PP zu: Sie repräsentieren metonymische Zwischenschritte auf dem diachronen Entwicklungspfad, der vom Resultativ über das Präsensperfekt zur allgemeinen Vergangenheit führt. Der Entwicklungspfad wird in Kap. (4.2)–(4.4) eingehender beschrieben, wobei v.a. die Perfektfunktion stärker ausdifferenziert wird.

Die Perfektkonstruktionen im kognitiven Netzwerk | 13

Nach Goldberg ist eine der polysemen Bedeutungen aus synchroner Perspektive die zentrale, um die sich die übrigen Verwendungen als semantische Ableitungen gruppieren. Ähnlich geht Croft (2001) von radialen Erweiterungen eines Prototypen aus, die diachron durch einen semantischen Prozess abgeleitet sind und synchron in einer semantischen Beziehung (z.B. Metonymie) stehen (weiter zu Prototypen s. Lakoff 1987, Köpcke 1995 u.a.). Den Prototypen macht nach Croft in erster Linie die semantische Salienz, d.h. hohe kognitive Wahrnehmbarkeit, aus. Bybee (2010: 79) nimmt dagegen an, dass sich der zentrale Vertreter durch hohe Tokenfrequenz auszeichnet, wodurch er eine starke mentale Repräsentation besitzt und leicht abrufbar ist. Die Frage, welche Funktion die prototypische bzw. zentrale ist, wird später im Zusammenhang mit dem kategorialen Status von sein + V-PP wiederaufgenommen (vgl. Kap. 5.1.4.2 und 9.1). Fraglich ist, ob die Unterscheidung zwischen Präsensperfekt und Vergangenheit, wie sie in Tabelle 1 und Tabelle 2 getroffen wird, einer kognitiven Realität entspricht. D.h. nehmen kompetente Sprecherinnen des Dt. temporal-aspektuelle Unterschiede zwischen Sätzen wie Ich habe gerade eine vegane Currywurst gegessen und Ich habe gestern eine vegane Currywurst gegessen überhaupt wahr? Diese Frage ließe sich bspw. mithilfe psycholinguistischer Untersuchungen beantworten. Da die Unterscheidung aber aus linguistischer, insbesondere aus sprachhistorischer und typologischer Perspektive relevant ist, wird sie hier beibehalten. Die fehlende Trennlinie in Tabelle 1 und Tabelle 2 soll aber die enge semantische Zusammengehörigkeit der beiden Lesarten andeuten. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die resultative Funktion tatsächlich als polyseme Erweiterung der Konstruktion aufzufassen ist oder ob es sich eher um eine eigene homonyme Konstruktion handelt. Nach Croft (2001: 112f.) zeichnen sich Homonyme durch geringfügige formale Unterschiede, z.B. feine artikulatorische Abweichungen oder distributive Unterschiede, aus. Gerade die Distribution spricht dafür, für das Resultativ eine eigene, homonyme Konstruktion anzusetzen. Das haben-Resultativ tritt im Gegensatz zum Präsensperfekt bzw. Vergangenheitsmarker nur in hochspezifischen Kontexten, nämlich mit einem Akkusativobjekt, auf, das in einer Pars-Pro-Toto-Beziehung zum Subjekt steht (Die Welpen haben ihre Augen geschlossen vs. Sie hat gelacht, näher hierzu Kap. 4.3). Überdies sind die Bedeutungsvarianten im kognitiven Netzwerk in unterschiedlichem Maße mit anderen Konstruktionen verknüpft. So bildet das resultative sein + V-PPAkt wie das Zustandspassiv ein Beispiel für eine Kopulakonstruktion (näher hierzu s. Kap. 4.3). M.a.W. gruppiert es sich zusammen mit dem Zustandspassiv zu einer Kategorie, vgl. (4). Das resultative haben + V-PP ist funktional eher lose mit diesen Resultativfügungen verbunden, vgl. (5).

14 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

(4a) (4b) (5)

Der Zaun

ist

rot.

[[NPNOM]]] Der Zaun [[NPNOM]]] Der Garten [[NPNOM]

[sein]fin ist [sein]fin hat [haben]fin

[APNOM]] gestrichen. [ge-V-t]PASS] den Zaun gestrichen. [NPAKK] [ge-V-t]PASS]

In der Präsensperfekt- bzw. Vergangenheitsfunktion bilden sein + V-PPAkt und haben + V-PP dagegen eine Einheit. Diese unterschiedliche Einbindung in das kognitive Netzwerk spricht ebenfalls dafür, für das Resultativ eine eigene homonyme Konstruktion anzusetzen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere zwischen Resultativ und Präsensperfekt eine nahe semantische Verwandtschaft besteht. In dieser Arbeit wird vereinfachend von einer Mehrdeutigkeit der Konstruktionen gesprochen. In der Präsensperfekt- bzw. Vergangenheitsfunktion werden sein + V-PPAkt und haben + V-PP vom selben abstrakten Schema überdacht. Hier liegt eine Vererbungsrelation vor: Der Begriff Vererbung bezieht sich dabei auf die synchrone Beziehung zwischen einer spezifischen Konstruktion und einem abstrakten Schema. Vererbt werden formale oder funktionale Eigenschaften, die sich beide teilen. Nach Goldberg erben Mikrokonstruktionen Eigenschaften von dominierenden Schemata, enthalten dabei aber zusätzliche, spezifischere Informationen. So handelt es sich bei haben + V-PP und sein + V-PP um die spezifischen Ausprägungen des Schemas AUX + V-PPAkt. Abbildung 4 fasst die Beobachtungen zusammen, die bis hierhin über die Verbindungen zwischen den Konstruktionen mit Partizip II gemacht wurden. Dabei bietet sie nur einen Auszug aus dem multidimensionalen Beziehungsgeflecht, in das die Konstruktionen verwoben sind, und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zu ergänzen wäre z.B. eine Verbindung zwischen Zustandspassiv und dem unmarkierten werden-Passiv. Darüber hinaus bilden die in Abbildung 4 dominierenden Knoten ebenfalls Subschemata generellerer Hilfsverbkonstruktionen im Dt.

Sie hat gelacht. Sie ist gekommen.

Fesseln bandagiert.

Abb. 4: Netzwerkbeziehungen der Konstruktionen mit Partizip II

SEM2: Perfekt/Vergangenheit

SEM1: Resultativ

SYN: [sein]fin + [ge-V-t/en]AKT

Mikro-Kxn

Das Pferd hat die

SYN: [haben]fin + [ge-V-t/en]AKT

Mikro-Kxn

Sieben Tage sind vergeudet.

Sieben Tage sind vergangen.

SEM1: Resultativ

SYN: [sein]fin + [ge-V-t/en]PASS

SEM: Vorliegen eines Zustands

SYN: [sein]fin + [AP]

SYN: [Kopula]fin + [AP] SEM: Vorliegen/Eintreten/Andauern eines Zustands6

SYN: [Aux]fin + [ge-V-t/en]AKT

SEM: Perfekt/Vergangenheit

Die Perfektkonstruktionen im kognitiven Netzwerk | 15

16 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

Aus diachroner Perspektive ist wichtig, dass das sprachliche Netzwerk ein dynamisches System ist. Neue Knoten und Verbindungen können entstehen, bestehende Knoten können untergehen, was das Ende der Konstruktion bedeutet und Verbindungen zwischen Konstruktionen können abreißen, d.h. Wissen um die einmal existierende Motivation geht verloren. Im grammatischen Bereich wird das Entstehen und Untergehen bzw. Abreißen von Konstruktionen und Verbindungen häufig durch Grammatikalisierungsprozesse bewirkt. Im Folgenden wird Grammatikalisierung innerhalb des gebrauchsbasierten Modells vorgestellt und diskutiert.

2.4 Grammatikalisierung: Abbau von Kompositionalität als Ursache für Desemantisierung und Dekategorialisierung Im Grammatikalisierungsprozess wandelt sich eine Konstruktion mit autonomen, (meist) lexikalischen Elementen schrittweise zu einer grammatische(re)n Konstruktion (Bybee 2010: 106). Dabei verändert sich sowohl ihre Funktion als auch Distribution. Grammatikalisierung führt somit zu einer Erweiterung des mentalen Netzwerks: Auf lange Sicht entsteht ein neues Schema, das mit einer neuen, grammatischen Funktion verbunden wird (Traugott/Trousdale 2013: 62f). Der Prozess beginnt aber auf Ebene der Mikrokonstruktionen. Am Anfang der Grammatikalisierung stehen kompositionelle Verbindungen, deren Bedeutung sich aus der Summe der einzelnen Bestandteile ergibt. Meist sind diese bereits so frequent, dass man von einer Konstruktion sprechen kann. Als Ursprung des haben/sein-Perfekts werden resultative Konstruktionen mit prädikativem Partizip II angenommen (näher hierzu s. Kap. 4.3). Wie bereits in Kap. (2.3) erwähnt, sind diese Resultativkonstruktionen noch heute Bestandteil des Sprachsystems. Diese ursprüngliche Funktion lässt sich deshalb an nhd. Beispielen wie in (6b) und (7b) veranschaulichen. (6a)

Ihre Katze ist (seit drei Jahren) tot.

[+ komp.]

(6b) (6c) (7a) (7b) (7c)

Ihre Katze ist (seit drei Jahren) verstorben. Ihre Katze ist (vor drei Jahren) gestorben. Das Gebäude hat die Außenflügel rot. Das Gebäude hat die Außenflügel renoviert. Die Arbeiter haben die Außenflügel renoviert.

[+ komp.] [- komp.] [+ komp.] [+ komp.] [- komp.]

Im Laufe der Grammatikalisierung geht die Kompositionalität und Transparenz der Konstruktion allmählich verloren. Nach Bybee (2010) ist dies eine Folge der

Grammatikalisierung: Abbau von Kompositionalität | 17

erhöhten Kookurrenzfrequenz: Die häufig zusammen gebrauchten Zeichen verlieren ihre Eigenständigkeit und entwickeln sich zu ganzheitlich memorierten Einheiten, sog. Chunks (Bybee 2010: Kap. 3). Mit der Aufgabe der Kompositionalität geht die Desemantisierung und Dekategorialisierung lexikalischer Elemente einher (vgl. Lehmann 1995, Bybee 2010: 144): Die Bedeutung der Lexeme wird abstrakter. Konkrete lexikalische Wörter bleichen semantisch aus und wandeln sich zu abstrakten Funktionswörtern. Dabei geben sie Eigenschaften, die typisch für die jeweilige Wortart sind, auf. Bei Verben zeigt sich die Dekategorialisierung z.B. im Verlust der Argumentstruktur. So fordert haben in der grammatikalisierten Perfektkonstruktion anders als im Vollverbgebrauch nicht notwendigerweise eine Akkusativergänzung. (8a)

Sie hat ein Buch

→ haben als Vollverb

(8b) (9a) (9b) (9c)

*Sie hat Sie hat ein Buch gelesen. Sie hat gelesen. Sie hat gelacht.

→ haben als Vollverb → haben als Hilfsverb → haben als Hilfsverb → haben als Hilfsverb

Durch die Aufgabe der Kompositionalität und die Desemantisierung kommt es zu einer Diskrepanz zwischen Form und Funktion, die im Grammatikalisierungsprozess dadurch gelöst wird, dass sich ein Schema herausbildet, das mit einer neuen, grammatisch(er)en Funktion verbunden ist (Bybee 2010: 145, Traugott/ Trousdale 2013: 120f). Dadurch nimmt die Analysierbarkeit der Konstruktion zwar erneut zu, jedoch kann die Kompositionalität nicht wiederhergestellt werden. In grammatikalisierten Konstruktionen liegt demnach immer ein gewisser Grad an Idiomatizität vor (vgl. Diewald 2009: 107). In Kap. (7) wird gezeigt, dass sich auch bei der Grammatikalisierung des Perfekts ein neues Schema herausbildet. Es lässt sich festhalten, dass im Grammatikalisierungsprozess eine ursprünglich kompositionelle Verbindung autonomer Zeichen durch hohe Kookurrenzfrequenz zu einem Idiom wird. Grammatikalisierung bedeutet demnach Transparenzverlust, der die Desemantisierung und Dekategorialisierung ursprünglich lexikalischer Zeichen beinhaltet. Allmählich reißt die Verbindung zu den ursprünglichen Knotenpunkten im Netzwerk ab und die Konstruktion wird mit einem neuen Schema verbunden. Insbesondere der Abbau von Kompositionalität ist zentral für das in dieser Arbeit vertretene Konzept von Grammatikalisierung.

18 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

2.5 Grammatische Konstruktionalisierung: Zunahme an Produktivität und Schematizität Neben dem Abbau von Kompositionalität ist die Zunahme an Produktivität charakteristisch für Grammatikalisierungen (z.B. Himmelmann 2004). Nach Traugott/Trousdale (2013) kommt unter konstruktionsgrammatischem Gesichtspunkt die Zunahme an Schematizität hinzu. Produktivität und Schematizität beeinflussen sich wechselseitig (s. auch Bybee 2010: 95); sie betreffen einmal die Ebene der Mikrokonstruktionen, einmal die Ebene der Makrokonstruktionen. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf Erstere, da Veränderungen auf Ebene der Makrokonstruktionen mit Blick auf die Fragestellungen dieser Arbeit nicht zielführend sind und zu weit führen. Auf der Ebene der Mikrokonstruktionen bezieht sich Produktivität darauf, ob eine Konstruktion ihre Leerstellen mit neuen Lexemen füllt oder ob sie allein gängige Lexeme wiederholt: “Productivity is the likelihood that a construction will apply to a new item” (Bybee 2010: 94). Es geht also darum, wie offen die Leerstellen für neues lexikalisches Material sind. Gesteigert wird Produktivität durch Typenfrequenz: Je mehr Types eine Konstruktion aufweist, desto produktiver ist sie. Dabei ist es wichtig, dass sie auch tokeninfrequente Types umfasst. Denn in der Konstruktion häufig gebrauchte Types besitzen eine eigene mentale Repräsentation. Damit ist die Form nicht voll transparent (Bybee 2010: 95). Ein Beispiel für ein produktives Verfahren ist die schwache Formenbildung in der dt. Verbflexion. Sie unterliegt weder phonologischen noch semantischen Beschränkungen, neue, z.B. entlehnte Verben schließen sich dem schwachen Bildungsmuster an (z.B. fragen – frag-te, canceln – cancel-te). Damit besitzt das Verfahren eine hohe Typenfrequenz. Hohe Typenfrequenz kann wiederum die Tokenfrequenz der Konstruktion nach oben treiben. Eng verknüpft mit der Typenfrequenz ist die Schematizität, die ebenfalls zur Steigerung der Produktivität beiträgt. Schematiztät bezieht sich auf die Abstraktheit eines phonologischen oder semantischen Musters (Traugott/Trousdale 2013: 116ff.). Wie bereits in Kap. (2.1) erwähnt, bildet ein Schema eine Generalisierung über einzelne Mikrokonstruktionen und ergibt sich aus der Summe ihrer Gemeinsamkeiten. Hohe Schematizität, d.h. Abstraktheit eines Schemas, kommt deshalb durch möglichst unterschiedliche Types zustande (Bybee 2010: 67). Sie lässt sich erneut an der schwachen Präteritalbildung veranschaulichen: Schwach flektierende Verben zeichnen sich weder durch spezifische phonologische noch semantische Eigenschaften aus. Dadurch ist das Schema sowohl formal als auch inhaltlich hochabstrakt. Köpcke (1999) setzt hier das formale Schema [V_te] an.

Grammatische Konstruktionalisierung: Zunahme an Produktivität und Schematizität | 19

Schematizität und Produktivität greifen ineinander: Denn je stärker die Types in einer Konstruktion phonologisch und semantisch voneinander abweichen, desto geringer sind die Blockaden, neue Types aufzunehmen und desto mehr Types können sich analogisch anschließen und desto produktiver breitet sich die Konstruktion aus. In eingeschränktem Maße kann eine Konstruktion aber auch bei hoher phonologischer und/oder semantischer Ähnlichkeit (und damit geringer Schematizität) produktiv werden. Dies setzt jedoch eine gewisse Typenfrequenz voraus, die die Grundlage der analogischen Ausbreitung bildet. So wechseln im Fnhd. eine Reihe von schwachen Verben zum starken Bildungsmuster über. Diese gehören nach Köpcke (1999: 56) schwerpunktmäßig den besonders typenfrequenten Schemata [# __ı+N] (z.B. dingen, schinden, winden) und [#__aı̯+Frikativ/Plosiv] (z.B. geigen, gleisen, kneifen, pfeifen) an. Die analogische Ausbreitung stützt sich auf die Ähnlichkeit der Schemata und ihre relative Typenfrequenz. Hierbei handelt es sich um ein formales Schema. In Kap. (9.2.1) wird argumentiert, dass sich die Perfektbildung mit haben und sein bedingt mit der Produktivität und Schematizität des starken und schwachen Bildungsmusters parallel führen lässt: Haben + V-PP ist unter den Perfektkonstruktionen das produktivere Bildungsmuster. Es verfügt über mehr und unterschiedlichere Types und ist deshalb produktiver. Dennoch ist sein + V-PP in eingeschränktem Maße produktiv: In Kap. (8.3) wird empirisch nachgewiesen, dass sich die Mikrokonstruktion innerhalb der Gruppe der Bewegungsverben produktiv ausbreitet. Es bildet sich also ein semantisches Schema heraus, das auf dem Merkmal [+ Bewegung] basiert. Dabei zeigt sich, dass auch Tokenfrequenz die Produktivität eines Musters steigern kann: Als analogische Vorlage dienen gebrauchshäufige Bewegungsverben wie gehen, laufen und fahren. Nach Traugott/Trousdale (2013: 116ff.) nehmen im Grammatikalisierungsprozess sowohl Schematizität als auch Produktivität einer Konstruktion zu. Die Steigerung der semantischen Schematizität entspricht der Desemantisierung und Dekategorialisierung der gesamten Konstruktion (vgl. Lehmann 1995, Hopper/ Traugott 2003): Eine grammatikalisierende Mikrokonstruktion wird schematischer und, damit einhergehend, abstrakter. Die abstrakte Konstruktion öffnet sich für unterschiedlichere Kollokate. Erhöhte Schematizität treibt somit die Ausbreitung (Extension) voran und führt zur Steigerung von Produktivität und Tokenfrequenz. Es lässt sich festhalten, dass Grammatikalisierung auf Konstruktionsebene Steigerung von Produktivität und Schematizität bedeutet. Beide bedingen sich wechselseitig: Mit hoher Schematizität nimmt die Abstraktheit einer Konstruk-

20 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

tion zu (Desemantisierung und Dekategorialisierung). Je abstrakter die Konstruktion ist, desto mehr Kollokate erlaubt sie und desto produktiver breitet sie sich aus.

2.6 Mechanismen der Grammatikalisierung Language change takes place as people use language and all mechanisms of change must be based on processing mechanisms. (Bybee 2010: 72f.)

Grammatikalisierung ist kein einzelner Sprachwandelmechanismus, sondern umfasst ein Bündel an Mechanismen, die sich auf die Funktion und Form einer Konstruktion auswirken. In der Forschung bestehen allerdings unterschiedliche Auffassungen darüber, welcher der zentrale Mechanismus ist, der bei der Grammatikalisierung greift. Insbesondere die Rolle von Reanalyse und Analogie ist umstritten. Im Folgenden wird die in der Forschung bestehende Kontroverse skizziert. Zu diesem Zweck werden zunächst beide Mechanismen allgemein vorgestellt. Anschließend wird ausgehend von der Forschungsliteratur diskutiert, wie bzw. in welchem Ausmaß sie am Grammatikalisierungsprozess beteiligt sind.

2.6.1 Reanalyse Gemäß der Definition Langackers versteht man unter Reanalyse einen „change in the structure of an expression or class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestation“ (Langacker 1977: 58). Es handelt sich um einen koverten Prozess, der (in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Theorie) die Verschiebung der hierarchischen bzw. Konstituentenstruktur, der Kategorienzugehörigkeit und der grammatischen Beziehungen bezeichnet (s. u.a. Haspelmath 1998: 323, Traugott/Trousdale 2013: 35f.). Die Reanalyse kann darin bestehen, dass ein komplexes Zeichen neu segmentiert wird (vgl. 10) oder dass eine syntaktische Struktur uminterpretiert wird (vgl. 11). Dabei entsteht eine (meist geringfügig) neue Lesart. (10) (11)

mhd. Bettel.er → nhd. Bett.ler (in Anlehnung an Fleischer/Barz 1992: 207f.) [Da zerriss [dem Jungen]NP [seine Hose]NP]S. → [Da zerriss [dem Jungen seine Hose]NP]S. (zitiert nach Haspelmath 1998: 325)

Mechanismen der Grammatikalisierung | 21

Ausdrucksseitig manifestiert sich Reanalyse erst nachträglich in der analogischen Ausbreitung. D.h. erst in Kombination mit neuen Kollokaten wird deutlich, dass die Struktur uminterpretiert wurde, vgl. (12) und (13). Der folgende Abschnitt befasst sich näher mit der Analogie. (12)

(13)

mhd. Bettel.er →

nhd. Bett.ler nhd. Wissenschaft.ler (in Anlehnung an Fleischer/Barz 1992: 207f.) [Hamburg][er] → [ham][burger] [cheese][burger] (in Anlehnung an Hopper/Traugott 2003: 50)

2.6.2 Analogie Der Begriff Analogie bezeichnet zwei Prozesse, die auf unterschiedlichen Ebenen Ikonizität bewirken können (Paul 1920a: Kap. 5, Croft 2000: 67, Hopper/Traugott 2003: 63ff., Bybee 2010: 58). Einmal gibt es den analogischen Ausgleich, der intraparadigmatische Alternanz beseitigt und zu einem uniformen Stamm in unterschiedlichen Flexionsformen führt. Dieser Prozess greift z.B. bei der Beseitigung des grammatischen Wechsels, der zur Vereinheitlichung des Konsonanten in allen Paradigmenzellen der betroffenen Verben führt (vgl. mhd. slahe – sluoh – sluogen – geslagen → nhd. schlage – schlug – schlugen – geschla-gen). Da der analogische Ausgleich für die in dieser Arbeit betrachteten morphosyntaktischen Phänomene keine Rolle spielt, wird Analogie hier ausschließlich im zweiten Sinne verwendet: Er bezeichnet die Ausbreitung (Extension) einer (grammatischen) Konstruktion auf neue (lexikalische) Kollokate. Diese Extension führt langfristig zur einheitlichen Bildung einer Kategorie (Bybee 2010: Kap. 4). Beispielhaft hierfür ist die Ausbreitung des schwachen Bildungsmusters im dt. Verbalparadigma (s. Bittner 1985). (14a)

bellen – ball → bellen – bellte

(14b)

backen – buk → backen – backte

Lexeme treten meist nicht willkürlich in eine neue Konstruktion, sondern die Extension folgt einer gewissen Ordnung und verläuft in Rückkopplung an bereits bestehende Formen. So breiten sich junge Konstruktionen zuerst auf Lexeme aus, die eine semantische oder phonologische Ähnlichkeit zu bisherigen Kollokaten aufweisen (Bybee 2010: Kap. 4, De Smet 2012). Häufige, hochkonventionalisierte

22 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

Phrasen dienen bei dieser Extension als analogische Basis: Neue Formen werden mit bereits bestehenden, frequenten Vorlagen abgeglichen (näher hierzu s. Kap. 2.6.3). Dass sich eine Konstruktion basierend auf Ähnlichkeiten ausbreitet, steht in Einklang mit der Grundannahme, dass Sprachzeichen in einem Netzwerk organisiert sind, in dem ähnliche Elemente nahe beieinander liegen (vgl. Kap. 2.3). Ein synchrones Resultat der analogischen Ausbreitung ist, dass grammatische Konstruktionen um Prototypen organisiert sind: Ähnliche Instanzen gruppieren sich zusammen, wobei zwischen zentralen Mitgliedern, die aus historischer Perspektive meist die Vorlage der analogischen Ausbreitung bilden, und peripheren Mitgliedern zu unterscheiden ist. Analogie ist als Sprachwandelmechanismus deshalb so überzeugend, weil sie sich auch als Prozessierungsmechanismus im synchronen Sprachgebrauch beobachten lässt (De Smet 2012).

2.6.3 Reanalyse und Analogie im Grammatikalisierungsprozess Im Grammatikalisierungsprozess kommt es zu einem Bedeutungs- und Strukturwandel, der mit der Ausweitung einer Konstruktion auf neue Kontexte einhergeht. Diese Veränderungen legen nahe, dass sowohl Reanalyse als auch Analogie in den Grammatikalisierungsprozess involviert sind. In der Forschung ist jedoch umstritten, wie beide Mechanismen zu gewichten sind. Ursprünglich bestand ein Konsens, dass Reanalyse die Schlüsselrolle im Grammatikalisierungsprozess spielt (z.B. Heine et al. 1991: 219, Hopper/Traugott 2003). Hopper/Traugott lehnen die in generativen Ansätzen vertretene Auffassung einer abrupten Reanalyse ab. Stattdessen gehen sie davon aus, dass eine Folge kleinschrittiger, aber dennoch diskreter Reanalysen zu einer graduellen Bedeutungsverschiebung führt. Voraussetzung für die Reanalyse ist dabei die Ambiguität einer Struktur. Der Hörer deutet eine von der Sprecherin geäußerte grammatische Konstruktion um und weist ihr eine graduell abweichende Bedeutung bzw. Struktur zu. Reanalyse vollzieht sich demnach über ein Zwischenstadium, in dem Ursprungs- und Zielstruktur nebeneinander bestehen (der sog. „kritische Kontext“, vgl. Diewald 2009):

A A

B B

Abb. 4: Reanalyse in Anlehnung an Hopper/Traugott (2003:49)

Mechanismen der Grammatikalisierung | 23

Analogie bildet in diesem Szenario lediglich eine Folge der Reanalyse: Durch die abstraktere Bedeutung, die im Zuge der Uminterpretation entsteht, lockern sich Bildungsrestriktionen, die von der ursprünglichen konkreten Semantik herrühren. Damit wird eine analogische Ausbreitung (Extension) auf neue Kontexte möglich. Für den Verlauf der Grammatikalisierung ergibt sich damit folgende Chronologie: (15)

(1) Reanalyse → (2) Analogie (in Anlehnung an Hopper/Traugott 2003: 39)

Umgekehrt kann Analogie als ausdrucksseitiger Indikator dafür angesehen werden, dass eine Reanalyse stattgefunden hat. Die eigentliche Kategorienveränderung besteht nach Hopper/Traugott (2003) jedoch im Bedeutungs- und strukturellen Wandel, d.h. der Reanalyse. Das Hopper/Traugottsche Szenario wurde inzwischen vielfach kritisiert. Nach Haspelmath (1998) spielt Reanalyse im Grammatikalisierungsprozess keine Rolle, da beide widersprüchliche Eigenschaften aufwiesen. Reanalyse erfolge im Gegensatz zur Grammatikalisierung immer abrupt, könne bidirektional verlaufen und impliziere nicht notwendigerweise einen Verlust an Autonomie. Haspelmath kommt u.a. deshalb zu dieser Bewertung, weil er einen sehr engen ReanalyseBegriff ansetzt. Z.B. wertet er den Kategorienwechsel eines Wortes nicht als Reanalyse, auch wenn dieser strukturelle Veränderungen mit sich bringt. Fischer (2007) geht sogar noch weiter: Sie bestreitet, dass Reanalyse als Wandelprozess überhaupt existiert. Für sie ist struktureller Wandel immer analogisch begründet. Auch De Smet (2009, 2012) kritisiert das Hopper/Traugottsche Modell. Ihm zufolge bleibt unbeantwortet, woher die neue Bedeutung bzw. Struktur kommt (De Smet 2009). In einem theoretischen Modell, das auf die Annahme einer angeborenen Universalgrammatik verzichtet, sei es nicht plausibel, dass diese aus dem Nichts entstehe. Auch kritisiert er, dass Reanalyse als diskreter Mechanismus konzipiert ist, der nicht mit einem Prozess des konkreten Sprachgebrauchs in Verbindung gebracht werden könne. Dies mindert ihr Erklärungspotential als Sprachwandelmechanismus. Ihm zufolge spielen kleinere Teilprozesse eine Rolle, die ineinandergreifen und in enger Verbindung zum Sprachgebrauch stehen (De Smet 2009). Zum einen nennt er Automatisierung („automatization“ De Smet 2009, vgl. auch Langacker 2013: 16), einen Prozess, der Bybees „Chunking“ entspricht (Bybee 2010: 136). Durch erhöhte Gebrauchshäufigkeit nehmen die Konventionalisierung sowie die interne Kohäsion einer Wortgruppe zu. Dabei löst sie sich

24 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

von ihrer Spenderkonstruktion und wird als eigenständige Einheit abgespeichert. Die drastischste Konsequenz der Automatisierung bildet nach De Smet die in Kap. (2.4) beschriebene Aufgabe der Kompositionalität. Auch Bybee (2010: Kap. 8) betrachtet das Chunking als Movens der Reanalyse und deren graduellen Verlauf. Bei dieser Erklärung stellt sich allerdings die Frage, wie die erhöhte Gebrauchsfrequenz zustande kommt. Neben dieser frequenziell bedingten Reanalyse schreibt De Smet (v.a. 2012), ähnlich wie Fischer (2007), der Analogie eine wichtige Rolle zu. De Smet geht davon aus, dass Reanalyse über ein hybrides Stadium verläuft, in dem Sprecher keine exakte Kategorienzuweisung vornehmen. Diese Hybridität ist durch die analogische Art der Ausbreitung motiviert, die durch die Ähnlichkeitsbeziehungen zu bestehenden Konstruktionen gesteuert wird. Am Beispiel des engl. Gradadverbs all but ‘fast’, das aus einer kompositionellen Verbindung aus dem Pronomen all ‘alles’ und der Präposition but ‘außer’ hervorgeht, zeigt er, dass die Extension in Rückkopplung an die Ursprungskonstruktion und auf Grundlage von Ähnlichkeit erfolgt. All but, das ursprünglich nur mit Substantiven kombiniert wird (16a), breitet sich zunächst auf prädikative Adjektive aus (16b), von wo aus es auf das strukturell ähnliche be-Passiv (16c) und schließlich auf andere finite Verbformen übergeht (16d–f). Darunter sind als erstes komplexe Verbformen wie in (16d) betroffen, die ausdrucksseitig dem Passiv ähneln, danach Simple-Past-Formen, die ein gleichlautendes Past Participle besitzen (z.B. finished, thought). Diese analogische Art der Ausbreitung ist ursächlich für die Gradualität der Extension. (16a)

Engl.

(16b)

Engl.

(16c)

Engl.

(16d)

Engl.

(16e)

Engl.

(16f)

Engl.

Pshaw, pshaw! this is all but the whining end of a modern novel. (1773, CLMETEV) amidst perils from which escape was all but miraculous (1838, COHA) The first formidable backyard gate was all but battered down (1945, COHA) my foot was already between them—my blade had all but crossed their rapiers (1835, COHA) He all but fell down and knocked his head on the table out of sheer helpless astonishment. (1948, COHA) We all but apprehend, we dimly forebode the truth. (1841, COHA) (Beispiele zitiert nach De Smet 2012: 611f.)

Mechanismen der Grammatikalisierung | 25

Selbst bei fortgeschrittener Extension besteht noch eine Verbindung zur Ursprungskonstruktion, was zu einem hybriden Charakter der Konstruktion führt. Dies steht im Einklang mit einem netzwerkartig organisierten Sprachmodell, in dem multiple Verbindungen unter den Konstruktionen bestehen. Demnach besitzt Reanalyse keine temporale Priorität über Extension, sondern ergibt sich vielmehr im Zuge der analogischen Extension. De Smet zieht daraus die Konsequenz, dass Reanalyse lediglich einen Teilaspekt der Extension darstellt und Analogie die Schlüsselrolle bei der Herausbildung von Konstruktionen einnimmt. Allerdings steht auch bei De Smet die funktionale Uminterpretation der Konstruktion im Vordergrund, womit es sich allenfalls um eine schwache Modifikation des Hopper/Traugottschen Grammatikalisierungskonzepts handelt. Aufgrund ähnlicher Argumente räumen auch Traugott/Trousdale (2010, 2013: Kap. 3) der Analogie stärkeres Gewicht ein als noch Hopper/Traugott (2003). In ihrem Modell unterscheiden sie zwischen Reanalyse und Analogisierung als Mechanismen, d.h. dem ‚Wie‘ des Sprachwandels, sowie Parsing und analogischem Denken als motivierenden Prozessen, d.h. dem ‚Warum‘ von Sprachwandel, vgl. Tabelle 3. Tab. 3: Motivation vs. Mechanismus des Sprachwandels (in Anlehnung an Traugott/Trousdale 2013: 38)

Motivation vs. Mechanismus Motivierender Prozess

Mechanismus

Analogisches Denken

Analogisierung

Parsing

Reanalyse

Sie gehen davon aus, dass der Mechanismus der Reanalyse zum einen durch unterschiedliches Parsing eines ambigen Satzes wie in (17) motiviert sein kann; d.h. Hörer und Sprecherin weisen dem Satz eine unterschiedliche Struktur zu. (17)

Engl.

I saw a man on a hill with a telescope. ‘Using a telescope I saw a man on the hill’ ‘I saw a man on the hill and he was using a telescope’ ‘I saw a man on the hill that had a telescope on it’ (zitiert nach Traugott/Trousdale 2013: 52)

26 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

Zum anderen kann Reanalyse durch analogisches Denken bedingt sein. Bei der Dekodierung von Äußerungen nimmt der Hörer stets einen Abgleich mit existierenden Knoten im sprachlichen Netzwerk vor. Da das sprachliche Wissen einzelner Individuen nicht deckungsgleich ist, kann es vorkommen, dass er eine Struktur keinem bestehenden Schema zuordnen kann. Er ist gezwungen, diese mit einem anderen, ähnlichen Knoten abzugleichen, auch wenn die Struktur durch diesen Knoten nur teillizensiert wird. Dabei bedient er sich also analogischen Denkens. So kommt es zu einer geringfügig veränderten Form-Bedeutungspaarung, die allerdings erst durch wiederholten Gebrauch zu einer konventionalisierten Konstruktion wird. Als Beispiel nennen Traugott/Trousdale (2013: 217ff.) die Entstehung des engl. going-to-Futurs. In seinem Ursprung kombiniert es verschiedene Konstruktionen miteinander: Das lexikalische Bewegungsverb go, die progressive be V– ing-Konstruktion und einen Finalsatz mit to. Im Zuge seiner Grammatikalisierung reißt die Verbindung zu diesen ursprünglichen multiplen Knoten allmählich ab und die Konstruktion wird mit dem bereits bestehenden modalen Schema verbunden. Dieses modale Schema überdacht einmal das Subschema der einfachen Modalverben (will, shall, must), zum anderen zusammengesetzte modale Ausdrücke (be to, have to, ought to). Die Entwicklung von going to V wird dadurch vorangetrieben, dass es sich partiell an beide Subschemata anschließt: Aufgrund der formalen Ähnlichkeit zunächst an das System der komplexen Modalverben, mit zunehmender Automatisierung und Herausbildung der deiktischen Futurbedeutung an die einfachen Modalverben. Hier wird der Begriff Analogie deutlich weiter gefasst als in der Grammatikalisierungstheorie, wo sie allein die Ausbreitung einer Konstruktion in Rückkopplung an bereits konventionalisierte Instanzen derselben Konstruktion beschreibt (z.B. Hopper/Traugott 2003: 63ff.). Neue Konstruktionen entstehen nach dieser Erklärung in Rückkopplung an bereits bestehende. Eine Konsequenz ist, dass Konstruktionen nie vollkommen neu sind, sondern sich zumindest teilweise aus bereits bestehenden Strukturen bedienen. Ähnlich wie De Smet gehen Traugott/Trousdale davon aus, dass neu entstehende Konstruktionen zunächst am Randbereich einer Kategorie liegen, da noch immer eine Verbindung zum Ursprung besteht. Im Laufe der Zeit reißen diese Verbindungen aber zunehmend ab und die Konstruktion arbeitet sich ins Zentrum der Kategorie vor. Mit Analogisierung bezeichnen Traugott/Trousdale dagegen die Anpassung einer Konstruktion in ein bereits existierendes Schema. So entwickelt sich bspw. der Partitivmarker a deal of unter Vorlage von Konstruktionen wie a lot/heap/bit of zum Quantifizierer. Genau genommen handele es sich jedoch auch bei dieser Analogisierung um eine Art der Reanalyse, denn

Persistenz und Extension | 27

Analogization therefore necessarily entails micro-step changes, in other words neoanalysis. There is no issue of temporal succession here; analogization is neo-analysis. (Traugott/Trousdale 2013: 58)

Im Gegensatz zu De Smet halten Traugott/Trousdale damit an der Schlüsselrolle der Reanalyse im Grammatikalisierungsprozess fest. Auch wenn De Smet (2012) und Traugott/Trousdale (2013) zu einer unterschiedlichen Bewertung von Reanalyse kommen, liegen beide Szenarien nahe beieinander. Überzeugend zeigen sie, dass Analogie bei der Umdeutung von Konstruktionen eine wichtigere Rolle spielt als in früheren Arbeiten angenommen. Dies betrifft sowohl die analogische Weiterentwicklung der Ursprungskonstruktion, die dazu führt, dass sich die Konstruktion nur in kleinen Schritten verändert, als auch die Angleichung an analogische Vorlagen im Sprachsystem, die eine Neuinterpretation der Konstruktion vorantreibt. Analogische Ausbreitung verläuft damit in Rückkopplung an den Spenderbereich und an das Zielschema. Überzeugend ist auch, dass Chunking und Automatisierung an der Umdeutung einer Konstruktion beteiligt sind. De Smets (2012) Kritik, die auf eine Abschaffung der Reanalyse hinausläuft, scheint zu stark, zumal auch in seiner Darstellung die semantisch-strukturelle Uminterpretation im Vordergrund steht. In dieser Arbeit wird der Begriff der Reanalyse deshalb beibehalten, um outputorientiert darauf Bezug zu nehmen, dass die semantische bzw. funktionale Umdeutung einer Kategorie, Struktur oder Bedeutung stattgefunden hat.

2.7 Persistenz und Extension Wie schon in Kap. (2.6.3) angedeutet, können Konstruktionen trotz Entfernung vom ursprünglichen Schema Eigenschaften der Spenderkonstruktionen beibehalten. Diese sog. Persistenz bildet nach Hopper (1991: 28f.) eines von fünf Prinzipien, durch die sich Konstruktionen im frühen Grammatikalisierungsstadium auszeichnen: When a form undergoes grammaticalization from a lexical to a grammatical function, so long as it is grammatically viable some traces of its original lexical meanings tend to adhere to it and details of its lexical history may be reflected in constraints on its grammatical distribution. (Hopper 1991: 22)

Während Hopper Persistenz v.a. semantisch definiert, zeigt Askedal 2005, dass sie auch strukturelle Eigenschaften betrifft (s.a. Breban 2009, De Smet 2012). Per-

28 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

sistenz kann „auf verschiedenen […] miteinander korrelierenden Ebenen unterschiedlich stark“ (Askedal 2005: 214) ausgeprägt sein. Damit ist sie ein Gegenspieler der Dekategorialisierung, die sich auf den Abbau von Eigenschaften der Spenderkonstruktion bezieht (Hopper 1991: 30f.). Aus der Persistenz ergeben sich Restriktionen, die die Extension einer grammatikalisierenden Konstruktion behindern. Zunächst ist die Konstruktion deshalb auf spezifische Kollokate und Strukturen beschränkt. So wertet Askedal es als Persistenzerscheinung, dass das sog. Rezipientenpassiv im Dt. i.d.R. mit dreiwertigen Verben auftritt und nahezu obligatorisch eine Akkusativergänzung sowie einen Rezipienten in der Subjektsposition aufweist, vgl. (18a). Verwendungen, die von diesem Muster abweichen, kommen zwar durchaus vor, sind in den Korpora aber seltener und weniger akzeptiert, vgl. (18b,c). (18a) (18b) (18c)

[Ich]Rez bekomme das Hemd zugeschickt. ?[Ich]Rez bekomme Ø geholfen. ?[Ich]Mal bekomme das Buch weggenommen.

Laut Askedal ergibt sich diese Persistenz aus der „analogische[n] Weiterentwicklung“ (Askedal 2005: 221) der Spenderkonstruktion. Ähnlich betrachten Traugott/ Trousdale (2013: 229) das Fortbestehen des Ursprungsschemas als Voraussetzung für Persistenz. Als Spenderkonstruktion des Rezipientenpassivs nimmt Askedal eine Konstruktion an, in der das Partizip als Objektsprädikativ fungiert: (19)

Sie bekamen die Fässer gereinigt. ‘Sie bekamen die Fässer in gereinigtem Zustand.’

Dass Persistenz eine Folge der analogischen Ausbreitung ist, erscheint vor dem Hintergrund der Ausführungen in 2.6.3 durchaus plausibel. M.E. stellt sich allerdings die Frage, ob eine Konstruktion wie in (19) tatsächlich frequent genug ist, um als Muster einer analogischen Ausweitung zu dienen und damit die Semantik und Struktur in (18a) zu stützen. Geht man davon aus, dass sprachliche Einheiten als Netzwerk organisiert sind, wäre als alternative Erklärung denkbar, dass eine Verbindung zum Vollverb bekommen und seiner prototypischen Argumentstruktur besteht. Diese Erklärung liegt näher an Hoppers ursprünglicher Definition, die das Fortbestehen des Ursprungslexems als relevant ansieht. Allerdings muss in einem Netzwerkmodell von Sprache nicht von einer einzigen Analogievorlage ausgegangen werden, beide Erklärungen können ineinandergreifen. Auch kann die Persistenz in unterschiedlichen Grammatikalisierungen unterschiedlich motiviert sein.

Universelle Grammatikalisierungspfade | 29

Wie im Folgenden zu zeigen, spielt Persistenz auch bei der Entwicklung der Perfektkonstruktionen eine wichtige Rolle: Sowohl die für das Präsensperfekt charakteristische Gegenwartsrelevanz (Kap. 4 und 7.2) als auch die universellen Prototypen der HABEN/SEIN -Selektion (Kap. 6.3.2 und 7) lassen sich diachron mit Persistenz erklären. Es wird sich aber zeigen, dass die prototypischen Verwendungskontexte nicht auf die resultative Ursprungskonstruktion zurückführbar sind (Kap. 7). Es lässt sich festhalten, dass Persistenz das Fortbestehen semantischer sowie struktureller Eigenschaften einer historisch älteren Konstruktion bezeichnet. Sie ergibt sich daraus, dass auch bei fortgeschrittener Grammatikalisierung Verbindungen zu (Einheiten) der ursprünglicheren Konstruktion bestehen. Dies steht im Einklang mit der analogischen Art der Extension, die durch Ähnlichkeitsbeziehungen zum Spenderbereich gesteuert verläuft.

2.8 Universelle Grammatikalisierungspfade Interessanterweise entwickeln sich dieselben grammatischen Kategorien sprachübergreifend nach ähnlichen Mustern sowohl, was den lexikalisch(er)en Spenderbereich als auch die Chronologie der Entwicklung angeht. […] there is the remarkable fact that across unrelated languages lexical items with very similar meanings […] give rise to grammatical morphemes which also have very similar meanings. (Bybee 2010: 107)

Die Existenz dieser sog. universellen Grammatikalisierungspfade wurde in einer Reihe typologischer Arbeiten nachgewiesen (z.B. Dahl 1985, Bybee/Dahl 1989, Bybee et al. 1994, Heine/Claudi/Hünemeyer 1991, Lehmann 1995, Heine/Kuteva 2002). Zwar sind die Pfade nie exakt gleich, zeichnen sich aber durch verblüffende Ähnlichkeiten aus (Bybee 2010: 195). Vor dem Hintergrund des oben dargestellten Verlaufs der Grammatikalisierung überrascht der universelle Charakter. Bybee nennt im Wesentlichen zwei Ursachen: Erstens gehen dieselben Kategorien sprachübergreifend aus ähnlichen (lexikalischen) Spenderkonstruktionen hervor. Mit Croft (2003) und Croft/Poole (2008) ist dies auf generelle Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung und geteilte kognitive Grundlagen sowie Ähnlichkeiten in der Sprachprozessierung zurückzuführen. Zweitens greifen in allen Sprachen ähnliche Sprachwandelmechanismen. Wie in Kap. (2.6) gezeigt, entwickeln sich grammatikalisierende Konstruktionen analogisch in Rückkopplung an den Spenderbe-

30 | Entstehung grammatischer Konstruktionen

reich. Da die Entwicklung auf Ähnlichkeit beruht und in minimalen Schritten verläuft, schlagen dieselben bzw. ähnliche lexikalische Konstruktionen sprachübergreifend ähnliche Grammatikalisierungspfade ein. Unterschiede einer Kategorie in unterschiedlichen Sprachen lassen sich hingegen häufig dadurch erklären, dass entweder unterschiedliche Stadien auf dem Grammatikalisierungspfad erreicht sind oder unterschiedliche Spenderkonstruktionen vorliegen. Mit fortschreitender Grammatikalisierung wird die Konstruktion genereller und mit mehr Kontexten kompatibel. Dadurch steigt ihre Typenfrequenz und die Anzahl möglicher Analogievorlagen für die weiteren Entwicklungen. Die logische Konsequenz ist, dass sprachübergreifende Unterschiede zunehmen, je weiter man auf dem Pfad voranschreitet. Neben soziokulturellen Faktoren ist dafür v.a. das umgebende Sprachsystem verantwortlich. Da die Uminterpretation einer Konstruktion häufig durch die analogische (Teil)Angleichung an bereits bestehende Konstruktionen erfolgt (vgl. Kap. 2.6), ergeben sich Unterschiede, wenn im Sprachsystem unterschiedliche Voraussetzungen bestehen. Dass sprachübergreifende Ähnlichkeit mit zunehmender Grammatikalisierung abnimmt, wird in dieser Arbeit an der Hilfsverbdistribution deutlich, die zwar universell über historisch bedingte Prototypen organisiert ist. Diese werden im Dt. aber durch ein neu entstehendes Bewegungsschema überlagert (vgl. Kap. 9.2). Dagegen ergeben sich Unterschiede zwischen dem Ahd. und As. eher dadurch, dass unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade erreicht sind (vgl. Kap. 7). Es lässt sich festhalten, dass die Herausbildung grammatischer Konstruktionen sprachübergreifend ähnlichen Entwicklungspfaden folgt. Dies liegt daran, dass sich auch in nicht verwandten Sprachen dieselben Kategorien aus ähnlichen Spenderkonstruktionen entwickeln und an diesem Prozess dieselben Sprachwandelmechanismen teilhaben. Da jedoch auch das bestehende Sprachsystem Einfluss auf die Entwicklung einer Kategorie nimmt, nehmen v.a. bei fortschreitender Grammatikalisierung sprachübergreifende Unterschiede zu.

2.9 Fazit In diesem Kap. wurden Konstruktionen, d.h. konventionalisierte Form-Bedeutungspaare, als Basiseinheiten des Sprachsystems eingeführt. Konstruktionen sind in einem mehrdimensionalen Netzwerk organisiert, in dem sie über ihre Form- und Bedeutungsseite mit anderen Konstruktionen verbunden sind. Spezifische Mikrokonstruktionen wie haben + V-PP und sein + V-PP werden von abstrakteren Schemata (z.B. AUX + V-PP) überdacht.

Fazit | 31

Grammatikalisierung bezeichnet innerhalb dieses Modells die Entstehung grammatischer Konstruktionen. Dabei wird die Kompositionalität der Verbindung abgebaut, was mit der Desemantisierung und Dekategorialisierung ursprünglich autonomer, lexikalischer Bestandteile einhergeht. Im Zuge der Automatisierung reißt die Verbindung zu ursprünglichen Knoten allmählich ab und ein neues Schema entsteht. Die Konstruktion wird im Grammatikalisierungsprozess abstrakter und schematischer und kann sich infolgedessen auf neue Kollokate ausbreiten. Diese Extension treibt wiederum die Typenfrequenz der Konstruktion in die Höhe und führt zu einer Steigerung der Produktivität. Im Zuge der Grammatikalisierung findet somit eine graduelle Uminterpretation der Konstruktion statt. Diese kann frequenzbedingt sein und durch Chunking und Automatisierung zustande kommen. Häufig ist sie (auch) analogisch motiviert und wird durch eine (partielle) Angleichung an ein zweites Schema vorangetrieben. Zugleich verläuft die Ausbreitung gesteuert durch eine Ähnlichkeitsbeziehung zur Spenderkonstruktion: Die Konstruktion geht zunächst auf Lexeme über, die Kollokaten der Spenderkonstruktion gleichen. Dies ist ursächlich für die Gradualität der Grammatikalisierung. Infolge dieser analogischen Art der Ausbreitung bleibt eine Verbindung zu (Elementen) der Ursprungskonstruktion lange bestehen, was sich im hybriden Charakter der Konstruktion und in der Persistenz semantisch-struktureller Eigenschaften niederschlägt.

3 Grundlegende Kategorien Ziel dieses Kap. ist es, die in dieser Arbeit zentralen Konzepte von Aktionsart (3.1), Tempus (3.2) und Aspekt (3.3) sowie semantischer Transitivität (3.4) zu definieren. Dabei kann kein vollständiger Forschungsüberblick über bestehende Tempus- und Aspekttheorien gegeben und auch keine eigene Tempustheorie entwickelt werden. Vielmehr wird ausgehend von der Forschungsliteratur ein Instrumentarium erarbeitet, mit dem sich unterschiedliche Perfektfunktionen bestimmen und voneinander abgrenzen lassen. Darauf aufbauend werden in Kap. (4) Funktionstypen des Präsensperfekts definiert, die die Grundlage für die qualitative Analyse der ahd. und as. Belege bilden (Kap. 6). Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Begriffe, die sich auf grammatische Kategorien beziehen, immer mehrdeutig sind (Bybee/Dahl 1989: 51f.). Zum einen bezeichnen sie funktional-semantische Konzepte, wie sie sprachübergreifend auch unabhängig von einer grammatikalisierten Form bestehen. Zum anderen beziehen sie sich auf sprachspezifische grammatische Konstruktionen. In dieser Arbeit betrifft diese Mehrdeutigkeit insbesondere den Begriff ‚Perfekt‘. Um Funktion und Konstruktion terminologisch zu trennen, beziehen sich die Begriffe ‚Präsensperfekt‘, ‚Perfektfunktion(en)‘ oder auch ‚Perfektkategorie‘ auf die Funktion Präsensperfekt, wohingegen das ‚Perfekt‘ oder die ‚Perfektkonstruktion(en)‘ auf die Mikrokonstruktionen haben + V-PP und sein + V-PP Bezug nehmen.

3.1 Aktionsart Aktionsart beschreibt die temporale Struktur des Verbalereignisses (im Folgenden daher auch Ereignisstruktur). Es handelt sich um keine grammatische Kategorie, die die Bedeutung systematisch verändert, sondern um eine lexikalische, die dem Ereignis1 inhärent ist (z.B. Ehrich 1992: 73, Klein 1994: 30ff.).

|| 1 Genau genommen ist die Aktionsart nicht dem Ereignis, sondern der Ereignisbeschreibung, d.h. der konkreten Realisierung des Ereignisses in einer spezifischen Äußerung inhärent. Dasselbe Ereignis kann (genau wie ein Verb) durativ, telisch oder atelisch sein. Wenn im Folgenden von einem telischen Ereignis oder telischen Verb gesprochen wird, handelt es sich um eine Verkürzung, die der Leseerleichterung geschuldet ist.

Aktionsart | 33

3.1.1 Telizität Man unterscheidet zwischen grenzbezogenen, sog. telischen und nicht-grenzbezogenen, sog. atelischen Ereignissen (Kiparsky 2002). Ein atelisches Ereignis enthält eine einzige Phase, die die Handlung, das Geschehen oder den Zustand eines Partizipanten (1a,b) bzw. die einfache Relation zwischen zwei Partizipanten beinhaltet (1c). Ein telisches Ereignis bezeichnet dagegen den punktuellen oder durativen Zustandswechsel eines Partizipanten (2a). Er kann durch einen weiteren, agentiven Partizipanten herbeigeführt werden (2b). (1a)

Oskar telefoniert/schläft.

(1b) (1c) (2a) (2b)

Das Wasser rauscht. Egon liebt Frieda. Das Mädchen fällt hin. Der Holzfäller fällt den Baum.

Klein (1994, 2000) und darauf aufbauend Teuber (2005) beschreiben die zeitliche Struktur von Ereignissen mithilfe von „Zeitintervallen“. Für ein atelisches Ereignis wie schlafen, das in seinem Verlauf unbegrenzt ist, setzen sie ein einziges Intervall an (s. Abbildung 6). Dieses Zeitintervall umfasst ein in sich homogenes Ereignis, d.h. es liegt immer dieselbe Situation vor, unabhängig davon, welcher Abschnitt des Schlafens fokussiert wird.

schlafen

Abb. 6: Ereignisstruktur des atelischen Verbs schlafen nach Teuber (2005: 103)

Telische Ereignisse enthalten dagegen drei Intervalle, die aufeinander folgende Zustände eines Partizipanten aufzeigen. Das letzte Intervall enthält den Gegenwert des ersten. Dazwischen liegt ein Zustandswechsel. Dies lässt sich am Verb einschlafen veranschaulichen (s. Abbildung 7). t1

t2

t3

\\\\\\\\\\\\\\\|-----------------------|//////////////// [- schlafen]

einschlafen

[+ schlafen]

Abb. 7: Ereignisstruktur des telischen Verbs einschlafen nach Teuber (2005: 103)

34 | Grundlegende Kategorien

Im ersten Intervall (t1) gilt, dass der Subjektsreferent nicht schläft, im letzten (t3) ist die Schlafenssituation eingetreten (Klein 1994, 2000). Zwischen t1 und t3 ist ein Intervall des Zustandswechsels geschaltet. Dieser Zustandswechsel konstituiert die eigentliche Situationszeit, die im finiten Gebrauch fokussiert ist (vgl. Egon schläft ein). Die Ereignisstruktur kann sich, wie z.B. in (1a) und (2a), aus der Semantik des Verbs ergeben. Häufig wird sie aber von weiteren Konstruktionen im Kontext beeinflusst (vgl. z.B. Verkuyl 1972, Dowty 1979). Ein Paradebeispiel hierfür bilden die Bewegungsverben2 (Dowty 1979: 60ff., Levin/RH 1992: 258, Ramchand 2008: 29f.). Ein Verb wie schwimmen bezeichnet kontextfrei eine unbegrenzte Fortbewegung, kombiniert mit einer Direktionalphrase ist die Bewegung telisch (bereits bei Paul 1905: 162). (3a)

Franziska schwimmt elegant.

→ atelisch

(3b) (4a) (4b)

Franziska schwimmt nach Amerika. Der Ball rollt. Der Ball rollt den Berg hinab.

→ telisch → atelisch → telisch

In den b-Sätzen markiert die Direktionalphrase den Endpunkt eines Pfads, der inkrementell beschritten wird (Hay/Kennedy/Levin 1999). Dieser Pfad gibt die zeitliche Erstreckung des Ereignisses vor. Er kann auch in Form einer NP explizit genannt werden, vgl. (5). Die NP spannt dann eine Skala auf, entlang der sich der Zustandswechsel, hier der Ortswechsel, inkrementell vollzieht (ebd.). (5a)

Wir sind den ganzen Weg gelaufen.

(5b)

Dana joggte 10km.

Es lässt sich festhalten, dass Aktionsart eine lexikalische Kategorie ist, die sich allerdings nicht allein aus der Semantik des Verbs ergibt. Sie wird durch weitere Konstruktionen wie Direktionale oder individuierte NPs modifiziert. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen atelischen und telischen Ereignissen: Ate-

|| 2 Wie noch zu zeigen (vgl. Kap. 6.3.1), unterteilen sich Bewegungsverben nach Sorace (z.B. 2000) in Ortswechselverben („change of location“) wie kommen und ankommen und Verben, die die Art einer Bewegung bezeichnen („manner of motion“). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Letztere, Ortswechselverben sind inhärent telisch.

Aktionsart | 35

lische enthalten eine homogene Ereignisphase und damit nur ein einziges Zeitintervall, telische denotieren dagegen einen Zustandswechsel und enthalten drei Intervalle.

3.1.2 Weitere Einteilung in Ereignisklassen nach Vendler und Comrie Ereignisklassen lassen sich weiter nach der Dauer der Situationszeit einteilen. Der Begriff Situationszeit bezieht sich auf das in den Grundtempora assertierte Intervall, das ist bei Atelischen die einzige Ereignisphase, bei Telischen die Übergangsphase. Innerhalb der telischen Gruppe werden punktuelle Achievements wie ankommen und durative Accomplishments wie versinken unterschieden (Vendler 1979, Dowty 1979): (6) (7)

Achievements [+telisch] [+punktuell]: kommen, ankommen, fallen, sterben Accomplishments[+telisch] [-punktuell]: versinken, verblühen, bearbeiten

In Anlehnung an Comrie (1981: 42) werden punktuelle Semelfaktive wie husten und klopfen von den übrigen atelischen Ereignissen unterschieden. Semelfaktive gleichen telischen Verben, v.a. Achievements darin, dass sie ein gebundenes Ereignis denotieren, d.h. sie enthalten Handlungsgrenzen, bezeichnen aber keinen Zustandswechsel. (8)

Semelfaktive [-telisch] [+punktuell]: klopfen, husten, auflachen, erblicken

In Kombination mit Adverbialen der zeitlichen Erstreckung bzw. in der Progressivform tragen punktuelle Ereignisse iterative Lesart, vgl. (9a,b). Z.T. erfordert die Iterativität einen pluralischen Partizipanten (vgl. das Subjekt in 9c,d). (9a) (9b) (9c) (9d)

Der Patient hustete die ganze Zeit. Der Patient war am Husten. ?Der Gast ist den ganzen Tag angekommen. Den ganzen Tag sind Gäste angekommen.

(Semelfaktiv: iterativ) (Semelfaktiv: iterativ) (Achievement) (Achievement)

Durative Ereignisse werden zusätzlich danach unterschieden, ob sie Bewegung oder das Verharren in einem Zustand implizieren. Diese Unterscheidung nach

36 | Grundlegende Kategorien

den Merkmalen stativ und dynamisch betrifft v.a. die atelische Gruppe: Sie grenzen States wie wissen oder stehen von Activities wie laufen oder lachen ab (Vendler 1979, Dowty 1979).3 (10)

States [-telisch] [-punktuell] [-dynamisch]:

(11)

wissen, stehen, sein Activities [-telisch] [-punktuell] [+dynamisch]: laufen, lachen, telefonieren, arbeiten

Accomplishments enthalten eine dynamische Übergangsphase, die dem einzigen Zeitintervall der Activities gleicht. (12)

Accomplishments: [+telisch] [-punktuell] [+dynamisch]: sinken, verblühen, bearbeiten

Zusammenfassend lassen sich damit die Aktionsarten in Abbildung 8 festhalten. Die Trennschärfe, die durch die Darstellung suggeriert wird, entspricht allerdings nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Bei den Ereignisklassen handelt es sich nicht um klar abgrenzbare, sondern eher um graduelle Kategorien mit fließenden Übergängen (s. auch Sorace z.B. 2000).

|| 3 Hohe Dynamizität geht häufig mit hoher Agentivität einher: Eine dynamische Handlung geht von einem aktiv handelnden Aktanten aus. Einige der von Dowty (1979) genannten Tests zur Identifikation von dynamischen Verben, etwa die Möglichkeit der Imperativbildung (a-c) oder die Kombination mit Adverbien wie absichtlich („deliberately“) und vorsichtig („carefully“), zielen eher auf das Merkmal der Agentivität denn auf die Dynamizität. Die Tests zeigen, wie eng Aktionsart mit semantischen Rollen verflochten ist. a. *Know the answer! (State) b. Run! (Activity) c. Build a house! (Accomplishment) a. *John deliberately/carefully knew the answer! (State) b. Jan ran deliberately/carefully. (Activity) c. Jan deliberately/carefully built a house. (Accomplishment) (zitiert nach Dowty 1979: 55)

Aktionsart | 37

[+ telisch]

[- telisch]

[+punktuell]

[+punktuell]

Achievement fallen

Semelfaktiv klopfen [+dynamisch] Accomplishment versinken

[+dynamisch] Activity tanzen

[-dynamisch] State stehen

Abb. 8: Einteilung in Aktionsarten (in Anlehnung an Vendler 1979, Dowty 1979 und Comrie 1981)

3.1.3 Degree Achievements Dass die Begriffe Telizität und Zustandswechsel nicht ohne Weiteres gleichzusetzen sind, zeigen die in der Forschung viel diskutierten Degree Achievements wie in (13–14) (z.B. Dowty 1979, Hay/Kennedy/Levin 1999, Kennedy/Levin 2008, Ramchand 2008). Die häufig deadjektivischen oder denominalen Verben bezeichnen zwar immer einen Zustandswechsel, oszillieren dabei aber zwischen telischer und atelischer Lesart. Sie denotieren die Veränderung skalarer Eigenschaften eines Partizipanten. Ein Endpunkt ist nicht notwendigerweise impliziert. Bei Degree Achievements handelt es sich somit, anders als der Name suggeriert, um Accomplishments, die eine Activity-Lesart annehmen können. Dies trifft jedoch nicht auf alle Degree Achievements zu. Z.B. ist wachsen nur atelisch (ebenso Engl. grow) und damit ausschließlich ein Activity.4 (13a)

Engl. The soup cooled in/for 10 minutes.

(13b) (13c)

Engl. The clothes dried in/for an hour. Engl. The sky darkened in an hour, but it wasn’t completely dark. (Beispiele in Anlehnung an Kennedy/Levin 2008)

|| 4 Diesen Hinweis verdanke ich Jens Fleischhauer (Düsseldorf).

38 | Grundlegende Kategorien

(14a) (14b)

Das Schiff sank in drei Stunden/drei Stunden lang. Das Brot schimmelte in wenigen Tagen/tagelang.

Wie bei den Bewegungsverben variiert die Ereignisstruktur in Abhängigkeit von weiteren Konstruktionen bzw. dem Äußerungskontext. Die aktionale Unbestimmtheit führt dazu, dass das Perfekthilfsverb bei Degree Achievements im Dt. schwankt. In Kap. (8.2) wird untersucht, welche Faktoren die Hilfsverbwahl bei einzelnen Degree Achievements wie altern, faulen oder schimmeln beeinflussen.

3.2 Tempus Tempus ist eine deiktische Verbalkategorie, die ein Geschehen zeitlich lokalisiert (Comrie 1981: 1f.). Das Geschehen wird in Relation zum Sprechzeitpunkt als gleichzeitig (Gegenwart), vorzeitig (Vergangenheit) oder nachzeitig (Zukunft) dargestellt (Welke 2005: 7). Diese Tempusrelationen lassen sich nach der klassisch gewordenen Theorie nach Reichenbach (1947/1966) mithilfe zeitlicher Punkte und deren Beziehung erfassen: Die Ereigniszeit (E) fällt mit dem Sprechzeitpunkt (S) entweder zusammen (15), geht ihm voran (16) oder folgt ihm (17): (15)

Gegenwart: Angela ist Kanzlerin. (E) = (S)

(16) (17)

Vergangenheit: Angela promovierte in Physik.(E) < (S) Zukunft: Die FDP wird nicht im Bundestag vertreten sein. (E) > (S)

Mithilfe von (E) und (S) lassen sich zwar die zeitlichen Grundrelationen, aber nicht das funktional komplexere Präsensperfekt erfassen bzw. von der generellen Vergangenheit abgrenzen. Generelle Vergangenheit und Präsensperfekt unterscheiden sich nach Reichenbach durch einen zusätzlichen Referenzpunkt (R). (R) fällt in (18) mit dem Ereignis (E), in (19) mit dem Sprechzeitpunkt (S) zusammen.5 (18) (19)

Vergangenheit: Angela promovierte in Physik. (E), (R) < (S) Präsensperfekt: Thüringen hat einen linken Ministerpräsidenten gewählt.(E) < (S), (R)

|| 5 (R) wird analog auch auf die übrigen Tempora übertragen, z.B. Gegenwart Angela ist Kanzlerin: (S) = (E) = (R) oder Futur Die FDP wird nicht im Bundestag vertreten sein: (S) < (E) = (R). Welke (2005: 10f.) kritisiert, dass (R) für die Grundtempora Gegenwart, Vergangenheit und Futur keinen Mehrwert bringe.

Tempus | 39

In diesem Modell bildet (R) die abstrakteste Größe, die am schwersten objektiv fassbar ist. Vielfach wurde kritisiert, dass Reichenbach selbst keine Definition für (R) bietet (z.B. Wunderlich 1970: 122, Thierhoff 1992: 80, Welke 2005: 9ff.). Welke (2005: 12f.) versteht (R) in Anlehnung an Bäuerle (1979) als „zweite Evaluationszeit“ neben der Sprechzeit. Es handelt sich um eine zusätzliche Ereignisebene, von der aus das Ereignis (E) betrachtet wird und die im Kontext explizit gemacht wird. Dies lässt sich z.B. am folgenden Futur II-Satz veranschaulichen, vgl. Abbildung 9. S

>

E 3 Mal verleugnen

>

R Hahn kräht

Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben.

Abb. 9: Das Verhältnis von (S), (E) und (R) am Futur II

Im Beispiel wird das Ereignis (E) (3 Mal verleugnen) in Relation zu einem weiteren Ereignis gesetzt, das zeitlich darauf folgt (hier: Ehe der Hahn kräht). Solche Kontextelemente, die zusätzliche Ereignisebenen denotieren, bieten Anhaltspunkte, um den Referenzpunkt zu identifizieren. Häufig machen Temporaladverbiale (R) explizit (z.B. Dann wirst du mich verleugnet haben). Viele Sätze enthalten allerdings keine eindeutigen kontextuellen Indikatoren. In diesen Fällen ist (R) nicht objektiv bestimmbar. Für die vorliegende Arbeit bringt das Reichenbachsche Modell die grundsätzliche Schwäche mit sich, dass es von starren Kategorien ausgeht und weder Polysemie noch Gradualität abbilden kann (ähnlich s. Welke 2005: 9). So lassen sich graduelle Unterschiede, die zwischen unterschiedlichen Perfektfunktionen bestehen (vgl. Kap. 4.3–4.4), mit dem Modell nicht erfassen. Das liegt u.a. daran, dass das Modell die Ereignisstruktur nicht berücksichtigt. Gerade die Perfektfunktionen korrelieren stark mit spezifischen Aktionsarten. Diese Probleme sind in Klein (z.B. 1994) besser gelöst. In seiner Tempustheorie wandelt er das Reichenbachsche Modell ab. Zwar behält er das Grundgerüst von drei Zeitintervallen bei, modifiziert diese und ihr Zusammenwirken aber. (E)6

|| 6 Klein grenzt sich gegenüber Reichenbach auch terminologisch ab, indem er statt (S) Time of Utterance (TU), statt (E) Time of Situation (TSit) und statt (R) Topic Time (TT) verwendet. Aus

40 | Grundlegende Kategorien

bezeichnet dabei nicht mehr das Ereignis, sondern die Ereignisstruktur, (R) ist „the time for which the particular utterance makes an assertion” (Klein 1994: 37), also die Zeitspanne, über die eine Aussage gemacht wird. Die wichtigste Veränderung gegenüber Reichenbach (1947/1966) besteht darin, dass Klein Temporalität nicht als Relation zwischen (E) und (S), sondern zwischen (R) und (S) versteht (s. auch Musan 2002: 5ff., Rothstein 2008: 35f.). Die grundlegenden zeitlichen Relationen lassen sich damit folgendermaßen beschreiben: (20)

Gegenwart: Angela ist Kanzlerin. (R) = (S)

(21) (22)

Vergangenheit: Angela promovierte in Physik. (R) < (S) Zukunft: Die FDP wird nicht im Bundestag vertreten sein. (R) > (S)

Diese Modifikation ergibt sich u.a. aus der Überlegung, dass ein Satz wie (23) nicht besagt, dass das Ereignis zum Zeitpunkt der Äußerung vergangen ist. Bei einer Eigenschaft wie dem Blond-Sein einer Person ist es wahrscheinlich, dass sie über die beschriebene Situationszeit hinaus andauert. Somit trägt das Tempus hier nicht dazu bei, das gesamte Ereignis zeitlich in Relation zur Sprechzeit zu situieren, sondern nur einen Ausschnitt der Ereigniszeit. Es handelt sich um den Ausschnitt, der in der Äußerung fokussiert ist. (23)

Die Täterin war blond.

D.h. in (23) wird eine Aussage über ein Subintervall von (E) getroffen, nämlich das Intervall, das den temporalen Fokus (R) trägt. Abbildung 10 veranschaulicht dies an Satz (23). In Anlehnung an Klein (1994) repräsentieren die eckigen Klammern (R), der Pfeil markiert (S). Ähnliche Probleme bereitet das Zustandspassiv für das Reichenbachsche Modell, (vgl. 24). (24)

Das Haus ist eingestürzt.

|| Verständlichkeitsgründen wird an dieser Stelle die geläufigere Terminologie Reichenbachs beibehalten.

Tempus | 41

R

S

--------------[--------]--------------

E Abb. 10: Temporale Konzeption von Die Täterin war blond in Anlehnung an Klein (1994)

Hier überschneidet sich nur ein Teil der Ereigniszeit mit dem Sprechzeitpunkt, nämlich das gegenwärtig andauernde Resultat (das Eingestürzt-Sein). Der Vorgang des Einstürzens liegt vor der Sprechzeit. Da (E) bei Reichenbach nicht weiter untergliederbar ist, bleibt unklar, welcher Teil des komplexen Ereignisses (E) konstituiert und in welchem relationalen Verhältnis (E) folglich zum Sprechzeitpunkt (S) steht. Geht man dagegen mit Klein davon aus, dass sich Temporalität aus dem Verhältnis von (R) und (S) ergibt und (E) der Ereignisstruktur entspricht, kann nach Zeitintervallen subdifferenziert werden. Die temporale Relation in (24) lässt sich damit wie folgt darstellen: S

XXXXXXXX -------[---------------] -------

E Abb. 11: Temporale Konzeption von Das Haus ist eingestürzt in Anlehnung an Klein (1994)

Für die vorliegende Arbeit hat Kleins Ansatz somit den Vorteil, dass er den Einfluss der Ereignisstruktur auf das relative Zeitverhältnis besser erfasst. Dies ist insbesondere für die Differenzierung der Perfekttypen wichtig (s. Kap. 4.3–4.4). Trotz dieser Verbesserungen besteht ein Schwachpunkt von Kleins Modell darin, dass es sich de facto um eine Reduktion des Beschreibungsinventars handelt. Wenn (R) das Intervall ist, über das eine Assertion gemacht wird, kann ein einziges (R) den Unterschied zwischen genereller Vergangenheit und Präsensperfekt nicht hinreichend abbilden. Hieraus resultieren Probleme für die adäquate Erfassung der Perfektfunktion. Klein (1994) selbst thematisiert diese Probleme nicht und behält die ursprüngliche Reichenbachsche Definition des Präsensperfekts bei, indem er es als (E) vor (R) (zumeist R = S) beschreibt. Auf diese Weise kann er ein symmetri-

42 | Grundlegende Kategorien

sches Tempusmodell mit einer minimalen Anzahl von drei Zeitintervallen beibehalten. Allerdings besagt diese Formalisierung, dass allein eine Assertion über das Sprechintervall, nicht aber über das zurückliegende Ereignis getroffen wird. Eine Konsequenz ist, dass die Perfektsätze in (25) und (26) dieselbe Formalisierung besitzen wie das Zustandspassiv in (24). Dies wird ihrer Bedeutung nicht gerecht, da das vergangene Ereignis durch die Formalisierung nicht abgebildet wird.7 (25) (26)

(A: Hast du Hunger?) B: Ich habe schon gegessen. St. Pauli hat den HSV mit 4:0 geschlagen.

Auch die Polysemie, die für das Präsensperfekt sprachübergreifend charakteristisch ist wird nicht erfasst.8 Indem (R) auf (S) festgelegt ist, wird (E), wie bei Reichenbach, nur holistisch betrachtet, Einzelintervalle der Ereignisstruktur lassen sich nicht fokussieren. Für eine Unterscheidung von Perfektfunktionen, wie sie in Kap. (4) angestrebt wird, ist das Modell deshalb nicht geeignet. Im Folgenden wird dieses Problem dadurch gelöst, dass, ähnlich wie in Kiparskys (2002) Beschreibung der engl. Perfektfunktionen zwei Referenzpunkte angesetzt werden.9 So besteht die Möglichkeit der doppelten Fokussierung, d.h. von (S) und (E) zugleich. Dadurch können einzelne Zeitintervalle von (E) in die Analyse mit einbezogen werden und es kann zwischen unterschiedlichen Perfektfunktionen differenziert werden. Die folgende Analyse stützt sich deshalb auf dieses Modell. Die beiden Referenzpunkte werden dabei als (R1) und (R2) bezeichnet.10 Die Ausprägung von (R1) und (R2) variiert in Abhängigkeit von der Perfektfunktion. Das bedeutet, je nach Perfektfunktion wird entweder der Sprechzeitpunkt oder das Ereignis stärker fokussiert (genauer hierzu s. Kap. 4). Das in dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Temporalität lässt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: In Anlehnung an Klein (1994) wird davon ausgegangen, dass sich Temporalität aus dem Verhältnis von einem Refe-

|| 7 Ähnliche Kritik äußern Welke (2005: 108ff.) und Rothstein (2008: Kap. 1). 8 Dies ist bei Kleins Definition ausdrücklich gewünscht, da er eine einheitliche Beschreibung des Präsensperfekts anstrebt. 9 Kiparsky weicht terminologisch sowohl von Reichenbach als auch von Klein ab: Bei ihm bildet (E) den zweiten Referenzpunkt, den er definiert als „time during which the event unfolds“ (Kiparsky 2002). Der Ereignisstruktur, d.h. Kleins TSit entspricht bei Kiparsky €. Zur Verständniserleichterung werden im Folgenden die konventionelleren Reichenbachschen Bezeichnungen beibehalten. 10 Die Nummerierung der Referenzpunkte ist willkürlich und dient allein der Unterscheidung. Sie deutet keine Gewichtung bzw. Priorisierung an.

Tempus | 43

renzpunkt (R) zum Sprechzeitpunkt (S) ergibt. (R) bezeichnet dabei die Zeitspanne, über die eine Assertion gemacht wird. (E) bezieht sich auf die lexikalische Ereignisstruktur. In den Grundtempora ist bei einem atelischen Ereignis das einzige Intervall, bei einem telischem der Zustandswechsel fokussiert.11 Dies wird in Abbildung 12 zusammenfassend anhand des Gegenwartstempus illustriert. Die eckigen Klammern deuten wieder (R) an. S

S

----[-------------]----

///////[------------]\\\\\\\

E

E

Eva schläft.

Eva schläft ein.

Abb. 12: Präsensrelation beim atelischen und telischen Ereignis

Für die Perfektfunktion wird, wie bei Kiparsky (2002), ein zweiter Referenzpunkt (R2) angesetzt. Das Präsensperfekt zeichnet sich somit durch einen doppelten temporalen Fokus aus, der sowohl auf dem Sprechzeitpunkt als auch auf (einem Subintervall von) dem vorausgehenden Ereignis liegt (s. auch Dentler 1997, 1998). Dies wird in Abbildung 13 exemplarisch an einem Satz mit atelischem Verb veranschaulicht. Dabei handelt es sich jedoch nur um eine erste Annäherung an die Perfektfunktion. Eine genauere Definition sowie eine Ausdifferenzierung einzelner Perfektfunktionen folgt in Kap. (4):

|| 11 Unklar ist, ob sich die Referenz tatsächlich nur auf den Zustandswechsel beschränkt oder ob sie auch den Beginn der Nachphase betrifft.

44 | Grundlegende Kategorien

E

----[-------------]---R2

S

[

] R1

Hast du gut geschlafen? Abb. 13: Perfektfunktion (erste Annäherung)

3.3 Aspekt Auch beim Aspekt handelt es sich um eine grammatische Kategorie. Im Gegensatz zum Tempus nimmt Aspekt jedoch keine äußere Lokalisierung des Geschehens auf einer Zeitachse vor, sondern bezieht sich ähnlich wie die Aktionsart auf die interne Zeitstruktur (Comrie 1981: 3). Die prototypische aspektuelle Opposition, die vor allem in slawischen Sprachen stark entwickelt ist, besteht zwischen der perfektiven und imperfektiven Konstitution eines Ereignisses (Comrie 1981). Beim perfektiven Aspekt wird die Situation von außen, als Ganze betrachtet, wobei in Abhängigkeit vom zugrunde liegenden Verb unterschiedliche Ereignisphasen, etwa Beginn, Übergangsphase oder Ausgang, fokussiert sind. Im imperfektiven Aspekt wird das Ereignis dagegen von innen bzw. in seinem Verlauf perspektiviert. Mögliche Endpunkte des Verbalereignisses werden dabei ausgeblendet. Klein (1994: 99) definiert Aspekt als „ways to relate the time of situation to the topic time”. In der hier verwendeten Terminologie bedeutet das, dass Aspekt im Gegensatz zum deiktischen Tempus nicht das Verhältnis zwischen (R) und (S), sondern zwischen (R) und (E) bezeichnet (ähnlich s. Musan 2002: 6ff.). So ist der perfektive Aspekt dadurch charakterisiert, dass die Ereigniszeit (E) gänzlich in die Referenzzeit (R) eingeschlossen ist. Dadurch erscheint das Ereignis als abgeschlossen bzw. aus der sog. Außenperspektive. Umgekehrt bildet (R) beim imperfektiven Aspekt nur ein Subintervall von (E), was dazu führt, dass die Handlungsgrenzen ausgeblendet sind. Dieses Verhältnis ist in Abbildung 14 illustriert. Die eckigen Klammern repräsentieren erneut (R), die gestrichelte Linie deutet E an.

Aspekt | 45

R

[

--E Perfektiv

R

]

-----[------]----E Imperfektiv

Abb. 14: Perfektiver Aspekt und imperfektiver Aspekt (in Anlehnung an Klein (1994)

In den in dieser Arbeit betrachteten kontinentalwestgerm. Sprachen existiert keine systematische Unterscheidung zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt (mehr). Dennoch ist der Begriff des Aspekts bzw. seine Abgrenzung vom Tempus relevant, da sich Tempus historisch aus Aspekt speist. Dies ist insbesondere für das Präsensperfekt relevant, das auf dem universellen Grammatikalisierungspfad im Übergangsbereich zwischen Aspekt und Tempus liegt und sich deshalb durch einen hybriden kategorialen Charakter auszeichnet. Dieser hybride Charakter manifestiert sich in dem schon in Abschnitt 3.2 beschriebenen doppelten Referenzpunkt: Aspektuelle Bedeutungsaspekte des Präsensperfekts ergeben sich aus dem Verhältnis (E) vor (R2), Temporalität durch (R1) vor (S), vgl. Abbildung 13.12 Diese kategoriale Zwischenposition hat dazu geführt, dass die Klassifizierung des Präsensperfekts als Aspekt oder Tempus in der Forschung diskutiert wird (vgl. Comrie 1981: 52). An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein grundlegender Unterschied zwischen der Perfektkategorie und dem perfektiven Aspekt besteht (s. auch Comrie 1981: 12, Dahl 1985, Rödel 2007). Aufgrund der begrifflichen und z.T. auch funktionalen Ähnlichkeit werden beide Bezeichnungen in der Forschung terminologisch häufig nicht sauber getrennt. V.a. wird mit dem Adjektiv perfektiv sowohl auf den perfektiven Aspekt als auch auf die Perfektfunktion Bezug genommen.13 In Anlehnung an Comrie (1981: 12), Dahl 1985 und Rödel 2007) werden die Konzepte in der vorliegenden Arbeit auch terminologisch getrennt:

|| 12 Kleins Formalisierung der Perfektfunktion (E) vor (R) wird dieser kategorialen Zwischenposition nicht gerecht, da sie das Präsensperfekt eindeutig als Aspekt ausweist. 13 Diese terminologische Vermischung wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass perfektiv im Bereich der Aktionsarten synonym zu telisch gebraucht wird.

46 | Grundlegende Kategorien

Im Folgenden bezieht sich das Adjektiv perfektiv ausschließlich auf den grammatikalisierten perfektiven Aspekt, wie er etwa in den slawischen Sprachen vorliegt. Auf die Perfektfunktion wird hingegen mit dem Adjektiv perfektisch Bezug genommen. Zusammenfassend lässt sich Aspekt als grammatische Kategorie definieren, die die interne zeitliche Struktur eines Ereignisses modifiziert. Im Gegensatz zu Tempus ergibt sich Aspekt aus der Beziehung zwischen (R) und (E). Das Präsensperfekt nimmt eine Zwischenposition zwischen Tempus und Aspekt ein, die sich im doppelten Referenzpunkt äußert. Die Perfektfunktion wurde vorläufig formalisiert als (E) vor (R2) (aspektuelle Funktion) und (R1) vor (S) (temporale Funktion).

3.4 Semantische Transitivität Interessanterweise interagieren Aspekt und Aktionsart mit der Argumentstruktur des Satzes. Für die Beschreibung der in dieser Arbeit behandelten Resultativ- und Präsensperfektkategorie ist mit Blick auf die Argumentstruktur v.a. das Konzept der semantischen Transitivität relevant. Nach Hopper/Thompson (1980) ist Transitivität kein rein syntaktisches, sondern ein semantisches Phänomen. Diese semantische Transitivität definieren sie als „a global property of an entire clause, such that an activity is carried over or transferred from an agent to a patient” (Hopper/Thompson (1980: 25, ähnlich s. Rice 1987, DeLancey 1987). Hochtransitiv ist demnach Satz (27): (27)

Kain erschlug Abel.

Semantische Transitivität ist kein binäres Konzept, das entweder vorhanden ist oder nicht, sondern liegt in unterschiedlichen Ausprägungsgraden vor. Die Anwesenheit von zwei Partizipanten, einem handlungsausführenden Subjekt und einem direkten Objekt, das der Handlung unterliegt, bildet nur eines von zehn Merkmalen, die die hohe Transitivität ausmachen, vgl. Tabelle 4. Je mehr der zehn Transitivitätsmerkmale in einem Satz gegeben sind, desto transitiver ist er. Die Merkmale lassen sich danach unterscheiden, ob sie sich auf das Ereignis oder auf die Partizipanten beziehen. Ein hochtransitives Ereignis beinhaltet Bewegung (Kinesis), ist zugleich telisch und bestenfalls punktuell. Deshalb ist ein Zustandswechsel wie in (28a) immer graduell transitiver als ein Zustand wie in (28b).

Semantische Transitivität | 47

Tab. 4: Transitivitätsmerkmale nach Hopper/Thompson (1980: 252)

Hohe Transitivität Partizipanten

2 oder mehr Partizipanten: A und O

Kinesis

Handlung

Aktionsart

telisch

Punktualität

punktuell

Volitionalität

volitional

Affirmation

affirmiert

Modus

Realis

Agentivität

hoch

Affiziertheit des O

hoch

Individuiertheit des O

individuiert

Ein hochtransitiver Satz beschreibt außerdem ein faktisches Ereignis, d.h. er ist affirmiert und steht im Indikativ, vgl. (29a) vs. (29b,c). (28a)

Der Baum fällt.

[+ telisch]

(28b) (29a) (29b) (29c)

Der Baum steht. Der Holzhacker fällt den Baum. Der Holzhacker fällt den Baum nicht. Der Holzhacker würde den Baum fällen.

[- telisch] [+ affirmiert] [+ Indikativ] [- affirmiert] [+ Indikativ] [+ affirmiert] [- Indikativ]

Das Subjekt im transitiven Satz zeichnet sich durch hohe Agentivität und Volitionalität aus. Denn ein agentives Subjekt führt nach Hopper/Thompson (1980) tendenziell eher eine äußerlich wahrnehmbare Veränderung des Objekts herbei als ein nicht-agentives, vgl. die Oppositionspaare unter (30) und (31). (30a)

Ich schrieb deinen Namen.

(30b) (31a) (31b)

Ich vergaß deinen Namen. [- volitional] Georg erschreckte mich. [+ agentiv] Das Bild erschreckte mich. [- agentiv] (Beispiele in Anlehnung an Hopper/Thompson 1980: 252)

[+ volitional]

Die zweite Partizipantenrolle, d.h. das direkte Objekt, ist bei hoher Transitivität affiziert und individuiert. Beide Merkmale greifen wechselseitig ineinander und interagieren mit der Aktionsart. Affiziertheit bezeichnet das Ausmaß, in dem das

48 | Grundlegende Kategorien

Objekt von der Handlung betroffen ist und einem Zustandswechsel unterliegt. So ist das Objekt in (32a) stärker affiziert als in (32b), da es infolge der Handlung gänzlich aufgebraucht ist und nicht mehr existiert. (32a)

Ich habe das Bier leer getrunken.

(32b)

Ich habe etwas Bier getrunken.

Das Minimalpaar in (32) veranschaulicht ebenfalls die Individuiertheit. Ein individuierter Referent ist als distinkte Größe mit konturierten Grenzen wahrnehmbar. Deshalb steigt Individuiertheit zusammen mit Konkretheit und Definitheit. Zählbare, singularische Referenten sind individuierter als pluralische oder Massennomen (Timberlake 1975, Hopper/Thompson 1980). Mit diesen Eigenschaften hebt sich ein individuiertes Objekt sowohl vom Agens als auch von der Handlung ab. Tab. 5: Semantische Merkmale der Individuiertheit (aus Hopper/Thompson 1980: 253)

Individuated

Non-Individuated

proper

common

human, animate

inanimate

concrete

abstract

singular

plural

count

mass

referential, definite

non-referential

Nur ein individuiertes Objekt kann vollkommen von der Verbalhandlung betroffen und damit affiziert sein. Die Objektseigenschaften Affiziertheit und Individuiertheit sind somit ineinander verschränkt. Es lässt sich festhalten, dass Transitivität eine semantische Eigenschaft nicht nur eines Verbs, sondern eines Satzes ist. Ein hochtransitiver Satz bezeichnet eine faktische Handlung, die von einem willentlich agierenden Subjekt ausgeht und sich auf ein individuiertes Objekt richtet. Dieses Objekt erfährt dabei einen Zustandswechsel und ist von der Handlung affiziert.

4 Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium Dieses Kap. stellt auf Grundlage typologischer Arbeiten universelle Perfekttypen vor. In erster Linie wird damit das empirische Kap. (6), das die Konstruktionen im Ahd. und As. untersucht, vorbereitet. Der erste Abschnitt (4.1) widmet sich der Funktion und, damit eng verwandt, den Bildungsmöglichkeiten der Part II-Konstruktion. Denn die Bildungsmöglichkeiten des attributiven Part II geben Aufschluss über die Bildungsmöglichkeiten der kompositionellen Konstruktionen haben + V-PP und sein + V-PP. So lässt sich nachvollziehen, wie sich der Anwendungsbereich des Perfekts im Zuge der Grammatikalisierung erweitert. Danach wird der universelle Grammatikalisierungspfad des Präsensperfekts bzw. der Vergangenheitskategorie in seinen Grundzügen skizziert (Abschnitt 4.2). Die folgenden Abschnitte differenzieren die frühen Stadien dieses Grammatikalisierungspfads weiter aus und definieren sie genauer. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass synchron koexistierende Funktionen diachronen Zwischenstufen des Entwicklungspfads entsprechen. Deshalb werden die Funktionstypen an gegenwartssprachlichen Beispielen (v.a. Dt. und Engl.) veranschaulicht. Abschnitt (4.3) widmet sich dem Resultativ, das nach vorherrschender Forschungsmeinung den Ausgangspunkt der universellen Entwicklung bildet: Auf eine allgemeine Beschreibung der Kategorie (4.3.1) folgen Identifikationsmerkmale (4.3.2). Anschließend werden prototypische Perfekttypen vorgestellt. Die Reihenfolge der Darstellung bildet dabei die hier angenommene Chronologie der Entstehung ab: Begonnen wird mit dem Resultatsperfekt (4.4.1–4.4.2), worauf das Experiential (4.4.3), das Persistenzperfekt (4.4.4) und schließlich das Perfekt der Nahen Vergangenheit folgen (4.4.5). Jeder Abschnitt schließt mit einer tabellarischen Synopse, die die Identifikationskriterien der jeweiligen Perfektfunktion zusammenstellt. Abschnitt (4.4.6) zeigt die graduell abnehmende Gegenwartsrelevanz bei den Perfekttypen.

4.1 Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II Wie bereits in Abschnitt (2.3) erwähnt, ist das Part II nicht nur Bestandteil komplexer Konstruktionen wie dem Perfekt, sondern bildet selbst eine eigenständige, einfache Konstruktion mit einer Form- (ge-V-t/en) und einer Funktionsseite.

50 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Abschnitt (4.1.1) zeigt zunächst, dass Resultativität die prototypische Funktion der Part II-Konstruktion bildet. Diese resultative Funktion bringt aktionale Beschränkungen mit sich und wirkt sich auf diathetische Eigenschaften des Part II aus. In Abschnitt (4.1.2) werden ausgehend von Parsons (1990) und Kratzer (2000) Resultative mit Ziel- und resultierendem Zustand unterschieden. Im Dt. gibt es nur passive Partizipien mit resultierendem Zustand. Abschnitt (4.1.3) zeigt, dass passive Part II sogar von atelischen Verben gebildet werden können. Diese passiven Part II sind nicht immer resultativ. Das Kap. schließt mit einer zusammenfassenden Übersicht über die Funktionen und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Part II (Tabelle 8).

4.1.1 Prototypische Funktion: Resultativität Die eigentliche Funktion sowie ursprüngliche Bildungsbeschränkungen des Part II lassen sich nur am autonomen, d.h. attributiven, Gebrauch veranschaulichen, vgl. (1). Denn die Perfektkonstruktionen mit haben und sein tragen als Ganze Bedeutung, sodass die originäre Funktion des Part II nicht erkennbar ist. Diese Unterschiede schlagen sich auch darin nieder, dass im Perfekt alle Verben ein Part II bilden, wohingegen die Bildung des attributiven Part II auf bestimmte Verbklassen beschränkt ist, vgl. (2). (1a) (1b) (2a) (2b)

Die verblühten Narzissenzwiebeln (habe ich ausgegraben). Bemalte Ostereier (werde ich noch kaufen). *Die gelachte Frau, aber Die Frau hat gelacht. ?Das gekommene Kind, aber Das Kind ist gekommen.

Die attributiven Partizipien in (1) zeigen die nach Haspelmath (1994) prototypische Funktion: Sie sind resultativ, d.h. sie bezeichnen einen Zustand, der aus einem vorangehenden Zustandswechsel resultiert und zeitgleich mit dem Hauptereignis des Satzes andauert (näher zur Resultativität s. Kap. 4.3). Da diese resultative Funktion immer einen vorangehenden Zustandswechsel impliziert, ist das Part II auf telische Verben beschränkt (s. u.a. Haspelmath 1994: 159, Welke 2005: 201). Mit Welke lässt sich diese Funktion des Part II wie in Abbildung 15 veranschaulichen. Die eckigen Klammern deuten erneut (R) an:

Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II | 51

S

XXXXXXXX -------[---------------]-------

E

Das zerstörte Karthago Abb. 15: Die Grundbedeutung des resultativen Part II nach Welke (2005: 203)

Aus der Resultativität leiten sich sekundär diathetische Eigenschaften ab (z.B. Haspelmath 1994, Abraham 2000, Kotin 2000: 322; Welke 2005: Kap. 6.2). Bei transitiven Verben bringt das Part II, ähnlich wie im Passiv, eine Argumentreduktion mit sich: Das Agens wird ausgeblendet und das Argument, das im finiten Satz als direktes Objekt realisiert wird, bildet das Bezugswort des Part II, vgl. (3). Das Part II transitiver Verben trägt deshalb passive Bedeutung. (3a) (3b) (3c)

Die Römer zerstörten Karthago. #Die zerstörten Römer Das zerstörte Karthago → passives Partizip II

Bei Intransitiven führt das Part II zu keiner Argumentreduktion: Das (ohnehin meist einzige) Argument, das im finiten Satz als Subjekt realisiert wird, bildet das Bezugswort des Part II. Das Part II intransitiver Verben hat somit aktive Bedeutung. (4a)

Der Soldat fiel im Krieg.

(4b)

Der im Krieg gefallene Soldat→ aktives Partizip II

Strukturell ist die Part II-Konstruktion somit, unabhängig davon, ob ein transitives oder intransitives Verb zugrunde liegt, intransitiv. Trotz der diathetischen Unterschiede ähneln sich aktives und passives Part II auch semantisch. Denn das Bezugswort des aktiven Part II trägt die semantische Rolle Thema (Haspelmath 1994: 157) bzw. Undergoer (Coussé 2011: 619 basierend auf van Valin/La Polla 1997) und steht damit dem Patiens-Bezugswort des passiven Partizips nahe. Aufgrund dieser semantischen Rolle beschreibt Haspelmath (1994) das Part II insgesamt als patiensorientiert.

52 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Soweit lässt sich festhalten, dass das Part II protypischerweise resultative Funktion trägt, weshalb es auf telische Verben beschränkt ist. Bei transitiven Verben ist das Part II passiv, bei intransitiven aktiv. Semantisch gleichen sich beide Diathesetypen aber dadurch, dass auch das Bezugswort des aktiven Part II zum Protopatiensbereich zählt. Tabelle 6 fasst die bis hierhin ermittelten Funktionen und Bildungsmöglichkeiten des Part II zusammen. Wie die folgenden Abschnitte zeigen, muss dabei noch genauer nach Aktionsart differenziert werden. Tab. 6: Funktion und Bildungsmöglichkeiten des resultativen Partizip II (vorläufig)

Transitives Verb

Intransitives Verb

Funktion

Resultativ

Telizität

[+ telisch]

Diathese

passiv

aktiv

Semantische Rolle

Patiens

Thema

Der bemalte Zaun

Die verblühte Blume

Beispiel

4.1.2 Weitere aktionale Differenzierung: Resultativität mit Zielzustand oder resultierendem Zustand Dass Telizität – v.a. bei Intransitiven – eine Grundvoraussetzung für die Partizipienbildung ist, zeigen die Oppositionen in (5): (5a) (5b)

*der geschlafene Hund vs.

der eingeschlafene Hund

*die geblühte Blume vs. die erblühte Blume (zitiert nach Haspelmath 1994: 159)

Bei Bewegungsverben ist die Partizipienbildung häufig nur mit einer zusätzlichen Direktionalergänzung möglich, die, wie in Kap. (3.1.1) dargelegt, zur Begrenzung der Bewegung beiträgt, vgl. (6). (6)

*der getanzte Junge vs.

der über den Hof getanzte Junge

(zitiert nach Haspelmath 1994: 160)

Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II | 53

Allerdings zeigen Gegensatzpaare wie (7a) und (7b) bzw. (7a) und (7c), dass Telizität alleine nicht hinreichend ist, um ein Resultativ zu bilden. Das Achievementkommen ist zwar inhärent telisch, bildet aber nur, wenn es mit einem Direktional kombiniert bzw. als Partikelverb gebraucht ist, ein attributives Part II. (7a)

*Der gekommene Vater

(7b) (7c)

Der nach Hause gekommene Vater Der angekommene Gast

Innerhalb der telischen Ereignisse ist eine weitere aktionale Unterscheidung erforderlich, die das letzte Zeitintervall betrifft. Diese Unterscheidung spielt bei resultativen Konstruktionen wie dem Part II eine Rolle. Nach Parsons (1990: 234f.) und darauf aufbauend Kratzer (2000) besteht ein Unterschied zwischen einem resultierenden Zustand (resultant state) wie in den Beispielen (8a) und (9a) und einem inhärenten Zielzustand (target state) wie in den Beispielen (8b) und (9b). (8a) (8b) (9a) (9b)

Das Buch ist gelesen. → Resultierender Zustand Die Ausfahrt ist versperrt. → Zielzustand (8b zitiert nach Kratzer 2000: 385) Die Gäste sind gekommen. → Resultierender Zustand Die Schlüssel sind verschwunden. → Zielzustand

Parsons definiert die Opposition folgendermaßen: Resultierender Zustand (resultant state) For every event e that culminates, there is a corresponding state that holds forever after. This is “the state of e’s having culminated,” which I call the “Resultant state of e,” or “e’s Rstate.” If Mary eats lunch, then there is a state that holds forever after: The state of Mary’s having eaten lunch. Zielzustand (target state) It is important not to identify the Resultant-state of an event with its “target” state. If I throw a ball onto the roof, the target state of this event is the ball’s being on the roof, a state that may or may not last for a long time. What I am calling the Resultant-state is different; it is the state of my having thrown the ball onto the roof, and it is a state that cannot cease holding at some later time”. ...... For a large number of verbs, there is a “typical” independently identifiable state that its object is in after the verb is true of it. If the state is transitory, then we come to use the adjective form of the past participle to stand for the transitory state instead of for the permanent resultant state. For example, anything that is cracked and then not repaired is in a state that is easy to identify - until the repair… (Parsons 1990: 234f.)

54 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Während sich ein resultierender Zustand also aus dem bloßen Abschluss eines Geschehens ergibt, bezieht sich ein Zielzustand auf einen Zustand, der ereignisinhärent ist und sich als (i.d.R. umkehrbare) Eigenschaft eines Partizipanten manifestiert. Die Oppositionen in (7) und in (10) zeigen, dass Intransitive nur dann ein attributives Part II bilden, wenn ein Ereignis mit inhärentem Zielzustand zugrunde liegt. Bei Transitiven ist auch ein attributives Part II mit resultierendem Zustand möglich, doch ist auch dieser Gebrauch etwas markierter als mit inhärentem Zielzustand (vgl. 11a und 11b). (10a)

Die verschwundenen Schlüssel

(Zielzustand)

(10b) (10c) (11a)

*Die gekommenen Gäste *Der Großvater gewordene Mann Die versperrte Ausfahrt

(Resultierender Zustand) (Resultierender Zustand) (Zielzustand)

(11b)

Die begrüßten Gäste

(Resultierender Zustand)

Ähnlich wie Telizität (vgl. Kap. 3.1.1) ergibt sich der Zielzustand nicht nur aus der Verbalsemantik, sondern auch aus weiteren Konstruktionen, s. (12): (12)

Die Tür war provisorisch verschlossen.

In (12) modifiziert das Adverb provisorisch nicht nur das Ereignis, sondern wirkt sich zugleich auf den Zielzustand aus: Das provisorische Verschließen der Tür zeigt sich in deren aktuellem Zustand. Damit konstituiert das Adverb hier zusammen mit dem Partizip den Zielzustand. Als Test für die Unterscheidung zwischen Ziel- und resultierendem Zustand führt Kratzer (2000) die Modifizierbarkeit mit einer temporalen für-Phrase oder immer noch an, vgl. (13 und 14). Dieser Test basiert auf der Annahme, dass der andauernde Zielzustand umkehrbar ist. Im Gegensatz dazu bezeichnet ein resultierender Zustand eine immer gültige Tatsache. Denn der reine Vollzug eines Ereignisses wird nicht als Eigenschaft eines Partizipanten konzeptualisiert. Deshalb ist der resultierende Zustand unabänderlich und die Modifikation mit einer für-Phrase bzw. mit immer noch glückt nicht, vgl. (13b, 14b). (13a)

Die Ausfahrt ist für drei Wochen versperrt.

[+ Zielzustand]

(13b) (14a) (14b)

*Die Gäste sind für drei Wochen begrüßt. Die Schlüssel waren immer noch verschwunden. *Die Gäste waren immer noch gekommen.

[- Zielzustand] [+ Zielzustand] [- Zielzustand]

Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II | 55

Kratzer (2000) weist jedoch darauf hin, dass der immer-noch-Test nicht immer zuverlässig ist. In bestimmten Fällen ist er dadurch blockiert, dass der Zielzustand aufgrund von Weltwissen unumkehrbar ist, vgl. (15). Die Modifikation mit der für-Phrase bringt dieselben Probleme mit sich: (15a)

?Er ist immer noch verstorben.

(15b) (16)

?Die Blumen sind immer noch verblüht. ?Die Blumen sind für den Winter verblüht.

Für das Folgende ist relevant, dass innerhalb der telischen Prädikate weiter zwischen Ziel- und resultierendem Zustand unterschieden werden muss. Die Beobachtung, dass ein resultatives Part II von telischen Verben gebildet werden kann, muss mit Blick auf Intransitive präzisiert werden: Nur telische Intransitive mit inhärentem Zielzustand bilden ein attributives Part II (z.B. verblüht), telische Intransitive mit resultierendem Zustand (z.B. gekommen) nicht. Tabelle 7 ist durch die Unterscheidung zwischen Ziel- und resultierendem Zustand erweitert. Der folgende Abschnitt zeigt, dass passive Partizipien auch von atelischen Verben gebildet werden können. Tab. 7: Funktion und Bildungsmöglichkeiten des resultativen Part II (vorläufig)

Transitives Verb

Intransitives Verb

Funktion

Resultativ

Telizität

[+ telisch]

Zustand

Resultierender Zustand

Resultierender Zustand

Zielzustand

Diathese

passiv

aktiv

Semantische Rolle

Patiens

Thema

Beispiel

Das gelesene Buch

Der bemalte Zaun

Die verblühte Blume

*Der gekommene Gast

56 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

4.1.3 Abweichungen vom Prototyp: Partizip II von atelischen Verben Zuweilen bilden auch atelische Verben ein attributives Part II. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: Partizipien (1) mit resultierendem Zustand, (2) mit einer einfachen, andauernden Ereignisphase. Da der resultierende Zustand (vgl. Kap. 4.1.2) keine inhärente Nachphase voraussetzt, ist er auch bei atelischen Verben möglich: Die attributiven Partizipien in (17b) und (18b) tragen Abgeschlossenheitsbedeutung, auch wenn sie ein atelisches Verb enthalten. Dem Bezugswort wird die Eigenschaft zugeschrieben, dass die denotierte Handlung an ihm vollzogen worden ist, d.h. dass es gestreichelt bzw. besprochen wurde. Der resultierende Zustand erfordert ein dynamisches Verb. (17a) (17b) (18a)

Er streichelt die Katze. Die gestreichelte Katze Sie besprechen das Problem.

→ atelisches Ereignis → resultierender Zustand → atelisches Ereignis

(18b)

Das besprochene Problem

→ resultierender Zustand

Der resultierende Zustand beschränkt sich auch bei atelischer Aktionsart weitestgehend auf transitive Verben. Atelische Intransitive bilden nur in Ausnahmefällen ein attributives Part II mit resultierendem Zustand. Z.B. kann das Partizip gewesen wie in (19a) attributiv gebraucht werden. Hierbei handelt es sich allerdings um den seltenen Vollverbgebrauch von sein und ein zum Adjektiv erstarrtes Part II. Im unmarkierten Gebrauch, d.h. als Kopula oder Existenzverb, bildet sein kein attributives Part II, s. (19b,c). (19a)

Ein gewesener Künstler

(19b) (19c)

??Die krank gewesene Mitarbeiterin ??Das am Anlegeplatz gewesene Boot

Die meisten Activities sind gänzlich ungrammatisch in der Part II-Konstruktion, vgl. (20a,b). Bewegungsverben sind etwas akzeptabler als andere Activities, was vermutlich daran liegt, dass sie auch die Accomplishment-Lesart erlauben: Die Part II-Konstruktion hat hier einen ähnlich telisierenden Effekt wie Direktionale (vgl. Kap. 3.1.1). Trotz dieser geringfügig höheren Akzeptabilität ist das attributive Part II auch bei Bewegungsverben zweifelhaft, vgl. (20c).

Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Partizip II | 57

(20a)

*Eine gelachte Frau

(20b) (20c)

*Ein telefonierte Frau ??Eine geschwommene Frau

Bei Intransitiven hat ein Part II mit resultierendem Zustand somit Ausnahmecharakter. Im Folgenden werden die Fälle deshalb nicht weiter berücksichtigt. Die zweite Verwendungsweise des Part II bei atelischen Verben ist nicht resultativ, sondern geschehens- bzw. verlaufsbezogen, vgl. (21). In diesen Fällen bezeichnet das Part II „Gleichzeitigkeit zu einer gegebenen Evaluationszeit“ (Welke 2005: 211, ähnlich auch Paul 1905: 162). D.h. das im Partizip bezeichnete Ereignis dauert gleichzeitig mit der übergeordneten Ereigniszeit an. I.d.R. handelt es sich um stative Verben. (21a) (21b) (21c)

Ein von zwei Balken getragenes Dach Der gehasste Diktator (zitiert nach Welke 2005: 208) Ein häufig beschworenes Bild

In Anlehnung an Welke lässt sich diese Funktion wie in Abbildung 16 veranschaulichen: S

-------[---------------]------E

Das geliebte Kind Abb. 16: Die verlaufsbezogene Lesart eines attributiven Part II mit atelischem Verb

Auch die verlaufsbezogene Verwendung beschränkt sich weitgehend auf transitive Verben und damit auf passive Partizipien. Nur vereinzelt existieren aktive Part II mit Verlaufsbezug, wobei es sich meist um lexikalisierte Adjektive handelt. Z.B. ist das Partizip gelegen auf den spezifischen Kontext landschaftlicher Positionsbeschreibungen beschränkt, vgl. (22a). Im unmarkierten Gebrauch von liegen ist das verlaufsbezogene Part II fraglich. Dasselbe gilt für die übrigen Positionsverben, vgl. (22b,c).

58 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

(22a) (22b) (22c)

Das am Fluss gelegene Landhaus ??Die den ganzen Tag auf der Badematte gelegene Frau ??Die im Vorlesungssaal gesessenen Studenten

Das Fehlen aktiver verlaufsbezogener Part II (vgl. 23a) ist u.a. darauf zurückzuführen, dass sie semantisch äquivalent mit dem Part I wären (z.B. Paul 1905: 165). Somit sind die aktiven Partizipien mit Verlaufsbezug wahrscheinlich zu weit vom resultativen Prototyp entfernt. (23a) (23b)

*Die gelachte/telefonierte Frau Die lachende/telefonierende Frau

Passive Partizipien mit Verlaufsbezug werden insbesondere von Verben gebildet, die zwischen telischer und atelischer Aktionsart osziliieren (Paul 1905: 163), z.B. erleuchten, beleuchten, beunruhigen, ärgern, betäuben, berühren, bewegen. Bei den Partizipien ist deshalb häufig unklar, ob sie Abgeschlossenheit oder den Ereignisverlauf denotieren. Welke (2005) vermutet, dass das verlaufsbezogene Part II diachron erst mit der Herausbildung des Vorgangspassivs aufgekommen ist. Dafür, dass der verlaufsbezogene Gebrauch des Part II in Analogie zum grammatikalisierten Vorgangspassiv entsteht, spricht, dass das verlaufsbezogene Part II häufig eine Agensangabe erfordert, vgl. (24). (24a) (24b) (24c)

Ein von Pferden gezogener Wagen Der von Kerzen erleuchtete Altarraum Die von den Bildern bewegten Zuschauer

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Part II sowohl von der Argumentstruktur als auch von der Aktionsart des zugrunde liegenden Verbs abhängen. Als prototypische Funktion des Part II wurde Resultativität identifiziert, die am eindeutigsten durch ein telisches Verb mit Zielzustand erzielt wird (Die (seit Tagen) verschwundenen Schlüssel, Die (immer noch) provisorisch verschlossene Tür). Transitive Verben, die im Gegensatz zu Intransitiven ein passives Part II bilden, erlauben das resultative Part II auch mit resultierendem Zustand (Die gelesenen Bücher). Dieser resultierende Zustand wird nicht nur mit telischen, sondern auch mit atelischen Verben erzielt (Die begrüßten Gäste). Atelische Transitive bilden daneben auch ein passives Part II mit verlaufsbezogener Lesart, die meist eine von-Agensangabe aufweist (Die von Feinden umgebene Stadt). Das Part II von Intransitiven ist somit

Universeller Entwicklungspfad der Perfektkategorie | 59

deutlich beschränkter als das Part II von Transitiven. Tabelle 8 bietet eine endgültige Zusammenfassung der Funktionen des attributiven Part. II: Tab. 8: Funktion und Bildungsmöglichkeiten des attributiven Part II

Transitives Verb Funktion

Verlauf

Zustand Telizität

Intransitives Verb Resultativ

--

Resultierender Zustand

Zielzustand

[- telisch]

[+/- telisch]

[+ telisch]

Diathese

passiv

aktiv

Semantische Rolle

Patiens

Thema

Beispiel

Das geliebte Kind

Das gelesene Buch

Der bemalte Zaun

Die verblühte Blume

4.2 Universeller Entwicklungspfad der Perfektkategorie Gemäß der typologischen Literatur bilden sich Perfekt- bzw. Vergangenheitskategorien sprachübergreifend entlang eines ähnlichen funktionalen Entwicklungspfades heraus (vgl. Bybee/Dahl 1989: Kap. 5; Bybee et al. 1994: Kap. 3, Litvinov/Nedjalkov 1988: 4, Hopper/Traugott 2003: 62, Heine/Kuteva 2002: 151). Dieser universelle Pfad führt von einer zunächst kompositionellen Resultativkonstruktion über die Perfektkategorie bis hin zum Marker der allgemeinen Vergangenheit. Resultativ >> Die Blumen sind verblüht.

Präsensperfekt>> Sie ist gerade gegangen.

Vergangenheit Goethe ist 1832 gestorben.

Abb. 17: Universeller Grammatikalisierungspfad der Vergangenheit nach Bybee/Dahl 1989 (vereinfacht)

Da HABEN + V-PP und SEIN + V-PP im Ahd. und As. am Anfang der Entwicklung stehen (z.B. Abraham 1991, Kotin 2000: 323f.), legt die folgende Darstellung ihren

60 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Schwerpunkt auf die frühen Stadien, d.h. die ersten beiden Entwicklungsstufen in Abbildung 17. Sie werden genauer definiert und weiter ausdifferenziert. Damit verhält sie sich komplementär zu Dentler (1997, 1998), die den Wandel vom Perfekt zum Vergangenheitstempus betrachtet und die metonymischen Zwischenschritte (sog. „Funktionsbereiche“) darstellt (vgl. Abbildung 17). Das Folgende basiert v.a. auf typologischen Arbeiten zur Resultativ- und Perfektkategorie (u.a. Dahl 1985, Comrie 1981, Nedjalkov/Jaxontov 1988, Litvinov/ Nedjalkov 1988, Bybee/Dahl 1989, Bybeeet al. 1994). Für die Beschreibung der Perfektfunktionen werden überdies Arbeiten zum engl. Present Perfect herangezogen, näher hierzu s. Kap. (4.4).

4.3 Resultativ: Ursprung der Entwicklung 4.3.1 Definition und Subtypen des Resultativs: Die kompositionellen Konstruktionen mit sein und haben In den typologischen Arbeiten zur Perfektkategorie (z.B. Comrie 1981) bzw. zur historischen Entstehung des Präsensperfekts (z.B. Traugott 1972, Bybee et al. 1994) wird der Begriff des Resultativs häufig zwar gebraucht, aber zumeist nur unzureichend definiert (s. aber Dahl 1985, Haspelmath 1992 oder Coussé 2011). Dies führt zum uneinheitlichen Gebrauch des Begriffs in der Forschung und zur Vermischung mit anderen Perfektfunktionen, v.a. mit dem Perfect of Result (ähnliche Kritik äußert Mittwoch 2008: 324). Dasselbe Problem betrifft diachrone Studien zum dt. Perfekt. So bietet etwa Dentler (1997) keine Definition des Resultativs, sondern fasst alle Perfektfunktionen mit Resultatsbezug zu einem Funktionsbereich A zusammen. Ihr Vorgehen lässt sich dadurch rechtfertigen, dass sie mit dem Mhd. ein späteres Entwicklungsstadium im Blick hat und der Übergang vom Perfekt zum Vergangenheitstempus im Vordergrund steht. Doch auch Arbeiten zum Ahd. liefern keine hinreichende Definition (z.B. Oubouzar 1974), selbst wenn Resultativität als maßgebliche Funktion von uuesan + V-PP und habēn/eigan + V-PP bewertet wird (z.B. Leiss 1992). Eine ausführliche Definition sowie Kriterien zur Identifikation des Resultativs und zur Abgrenzung von der Perfektkategorie findet sich im typologischen Überblickswerk von Nedjalkov/Jaxontov (1988) sowie in der Monografie zu „Resultativkonstruktionen im Deutschen“ von Litvinov/Nedjalkov (1988). Die Autoren definieren die resultative Semantik zunächst als „state implying a previous event“ (Nedjalkov/Jaxontov1988: 6). Es handelt sich um eine Aspektkategorie, die prototypischerweise den ereignisinhärenten Zielzustand fokussiert

Resultativ: Ursprung der Entwicklung | 61

(Litvinov/Nedjalkov 1988, Nedjalkov/Jaxontov1988). Der vorausgehende Zustandswechsel wird dabei nicht assertiert. Wie für Aspektkategorien charakteristisch (vgl. Kap. 3.3), ergibt sich Resultativität aus der Beziehung zwischen dem Ereignis (E) und dem fokussierten Intervall (R). Die Konstruktion erfüllt keine temporale Funktion, sondern das Tempus des Satzes, d.h. die Relation zwischen (R) und (S) (vgl. Kap. 3.2), wird durch das finite Verb bestimmt, s. Abbildung 18 (die eckigen Klammern zeigen erneut (R) an). S

XXXXXXXX -------[---------------]-------

R

Die Blumen sind (seit Wochen) verblüht. Abb. 18: Die Funktion des Resultativs

Im Beispiel handelt es sich um einen Präsenssatz: (R) fällt mit dem Sprechzeitpunkt (S) zusammen. Der Zielzustand wird einem Partizipanten als Eigenschaft zugeschrieben (Nedjalkov/Jaxontov 1988, Litvinov/Nedjalkov 1988). Deshalb werden sprachübergreifend Kopulakonstruktionen mit einem Part II zum Ausdruck von Resultativität genutzt. Auch im Dt. dominiert das Strukturmuster sein + V-PP (25a), daneben gibt es Verbindungen mit weiteren stativen Verben wie haben (25b), halten (25c) oder bleiben (25d). Mit Resultativen wie in (25) stehen transparente, kompositionelle Konstruktionen am Beginn der Perfektgrammatikalisierung (vgl. Kap. 2.4). (25a) (25b) (25c) (25d)

Er ist frisch rasiert. Egon hat die Schürze vorgebunden. Dann halten wir die Rote Flora besetzt. Die Rote Flora bleibt besetzt.

sein + V-PP haben + V-PP halten + V-PP bleiben + V-PP

Neben der Resultativität ‚erbt‘ die Konstruktion auch die intransitive Struktur vom Part II, vgl. (25a) und (25d): Bei transitiven Verben wird das Agens ausgeblendet, sodass es zu einer intransitiven Struktur kommt und die Konstruktion eine passiv-ähnliche Bedeutung erhält, vgl. (26b). In der dt. Grammatikschreibung wird deshalb vom Zustandspassiv gesprochen. Bei intransitiven Verben wird die Argumentstruktur dagegen beibehalten und die Konstruktion ist aktiv,

62 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

vgl. (27b). Nedjalkov/Jaxontov (1988: 9), Litvinov/ Nedjalkov (1988: Kap. 2) sprechen in (26b) vom „Objektsresultativ“, in (27b) vom „Subjektresultativ“. (26a) (26b) (27a) (27b)

Sarah versteckt den Schlüssel. Der Schlüssel ist versteckt. Sarah verschwindet. Sarah ist verschwunden.

[+ transitiv] →Objektsresultativ [- transitiv] →Subjektsresultativ

Vermutlich unterscheiden kompetente Sprecherinnen des Dt. nicht zwischen aktivem und passivem Resultativ (s. auch Leiss 1992, Teuber 2005, Welke 2005: 213). Die Einheit der Diathesetypen wird besonders bei Verben mit inchoativ/kausativAlternanz sichtbar: Es handelt sich um telische Verben, die sowohl mit intransitiver als auch mit transitiver Argumentstruktur auftreten (vgl. 28a,b). (28a) (28b) (28c) (28d)

Der Krug zerbrach. Egon zerbrach den Krug. Der Krug war (*von Egon) zerbrochen. Der Krug wurde (von Egon) zerbrochen.

Die Beispielsätze unter (28) zeigen, dass beim passiven Resultativ nicht nur eine syntaktische, sondern auch eine semantische Agensausblendung stattfindet, die zur Einheit der beiden Diathesetypen führt. So ist mit der Verlaufsperspektivierung beim ‚echten‘ Passiv in (28d) immer ein Agens impliziert, das durch eine fakultative von-Phrase explizit gemacht werden kann. Hier liegt eindeutig der transitive Satz (28b) zugrunde. Das Resultativ in (28c) assertiert dagegen nur den Zielzustand des Zerbrochen-Seins, der sich als Zustand des Patiens (hier: der Krug) zeigt. Über das vorausgehende Ereignis wird keine Aussage getroffen und damit auch nicht über einen möglichen Urheber der Handlung (ähnlich s. Kratzer 2000: 388). Deshalb ist nicht erkennbar, ob in (28c) der intransitive Satz (28a) oder der transitive Satz (28b) zugrunde liegt. Zusätzlich zeichnet sich das Subjekt des aktiven Resultativs durch eine hohe semantische Ähnlichkeit zum Subjekt des passiven Resultativs aus, vgl. (29b) und (30b). Da die Konstruktion auf telische Verben beschränkt ist, enthält das Subjekt immer den Partizipanten, auf den sich der Zustandswechsel richtet; das ist im intransitiven Satz das Subjekt, im transitiven das direkte Objekt, vgl. (29a) und (30a). In der Resultativkonstruktion erscheint er als Träger des Zielzustands, vgl. (29b) und (30b). Dadurch sind die Unterschiede zwischen aktivem und passivem Satz aufgehoben.

Resultativ: Ursprung der Entwicklung | 63

(29a) (29b) (30a) (30b)

Die Blumen verblühen. Die Blumen sind verblüht. Der Frost vernichtet die Blumen. Die Blumen sind vernichtet.

Da das kompositionelle Resultativ ein Part II enthält, ist es auf Verben mit Zielzustand beschränkt (s. Kap. 4.1.2). Telische Verben wie kommen, werden oder fallen, die keinen inhärenten Zielzustand besitzen, sondern einen resultierenden Zustand ausbilden, bilden deshalb kein Resultativ (ähnlich s. Litvinov/Nedjalkov 1988: 417 und Hole 2002: 171). Das zeigt sich z.B. daran, dass die Beispielsätze unter (31) weder mit Adverbialen der zeitlichen Erstreckung noch mit noch modifiziert werden können. Gekommen sein, geworden sein und gefallen sein fokussieren nicht allein den Sprechzeitpunkt, sondern referieren immer auf das vorausgehende Geschehen. Der fehlende Zielzustand ist der Grund dafür, dass diese Verben (ohne eine Partikel oder ein Direktional) kein attributives Part II bilden, vgl. (32). (31a) (31b) (31c) (32a)

*Sie ist schon ein Jahr Tante geworden. *Sie ist schon drei Stunden nach Hause gekommen. *Sie ist noch nach Hause gekommen. ??Die Tante gewordene Frau

(32b)

*Die gekommene Frau

In Ausnahmefällen erlauben Resultativkonstruktionen nach Nedjalkov/Jaxontov (1988: 13f.) auch stative Verben, wodurch sich allerdings eine geringfügig andere Funktion ergibt: Hier ist der andauernde Zustand fokussiert, der bei diesen Verben die einzige Ereignisphase konstituiert, vgl. (33). Damit ergibt sich eher stative denn resultative Funktion. Nedjalkov/Jaxontov (ebd.) und Litvinov/Nedjalkov (1988: 31 u. 61–78) sprechen deshalb vom sog. „Quasi-Resultativ“. (33)

Die Stadt war am Fluss gelegen.

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich folgende Typen des Resultativs:

64 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Tab. 9: Typen des einstelligen Resultativs

Argumentstruktur Ereignisstruktur Zustand

Quasiresultativ

Objektsresultativ

Subjektsresultativ

Die Stadt war am Fluss gelegen.

Die Stadt ist verlassen.

Die Stadt ist verkümmert.

[+ zweistellig]

[- zweistellig]

[- telisch]

[+ telisch]

Einzige Zustandsphase

Zielzustand

Aufgrund seiner stativen Funktion erfordert das Resultativ also Verben, die eine Zustandsphase enthalten. Dieser eingeschränkte Anwendungsbereich ist typisch für schwach grammatikalisierte Konstruktionen, die keine hohe Reihenbildung aufweisen. Neben dem bisher betrachteten einstelligen Typ existiert ein zweistelliger mit der Struktur haben + V-PP (vgl. auch Latzel 1977, Helbig 1978, Leirbukt 1981, Hole 2002, Rothstein 2007, Businger 2011, 2013). Im Gegenwartsdt. fällt er formal mit dem haben-Perfekt zusammen, diachron bildet er wahrscheinlich dessen Ursprungskonstruktion. Es handelt sich um eine kompositionelle Konstruktion, die sich aus dem Lexem haben und dem adjektivisch gebrauchten Part II zusammensetzt (Rothstein 2007, Businger 2011). (34a) (34b)

Eva hat die Haare hochgesteckt. Der Spieler hat die Augen verbunden.

Das Vollverb haben legt die Argumentstruktur des Satzes fest, sodass er obligatorisch zwei (pro)nominale Argumente enthält (Teuber 2005: 75). Im Unterschied zum einstelligen sein + V-PP bezeichnet die zweistellige Konstruktion nicht den Zielzustand des Subjekts, sondern des Objekts. Litvinov/Nedjalkovs (1988) Bezeichnung Possessiv-Resultativ ist etwas irreführend, da die Konstruktion im strengen Sinne keine possessive Relation herstellt (ähnlich s. Jacob 1998: 113, Kuroda 1999, Hole 2002: 177ff.). Haben bringt meist kein Besitzverhältnis zum Ausdruck, sondern eher eine konkrete oder abstrakte Zugehörigkeit des Objekts zum Bereich des Subjekts (Hole 2002). Häufig (aber nicht immer) handelt es sich um eine meronymische Beziehung, etwa zwischen Personen und deren Körperteilen, s. (34).

Resultativ: Ursprung der Entwicklung | 65

Wie bereits im Zusammenhang mit dem Objektsresultativ festgestellt, wird das Agens in der resultativen Funktion ausgeblendet. In (34a) wird keine Aussage darüber gemacht, wer das Hochstecken der Haare ausgeführt hat, sondern allein beobachtet, dass Evas Haare zum Zeitpunkt der Äußerung hochgesteckt sind. Hole bezeichnet das Subjekt als „mittelbaren Zustandsträger“ (Hole 2002: 178) im Gegensatz zum Objekt, das der direkte Zustandsträger ist. Was die Argumentstellen angeht, scheint sich die Konstruktion um einen Prototypen zu gruppieren, den Hole folgendermaßen beschreibt: Das Subjekt referiert auf eine (animate/menschliche) Entität, das in einer Teil-Ganzes-Beziehung zum Objektsreferenten steht, und das Partizip II gibt einen Zustand an, in dem sich der Objektsreferent befindet. Der zugrundeliegende Verbalstamm ist transitiv-kausativ, und das passivische Partizip bezeichnet den resultierenden Nachzustand. (Hole 2002: 169)

Prototypisch sind demnach die Sätze unter (34). Allerdings ist die Konstruktion nicht auf diesen Prototypen beschränkt. So muss das Subjekt nicht belebt sein, vgl. (35a,b). Das Partizip enthält nicht obligatorisch ein transitives Verb. Bestimmte intransitive Verben sind ebenfalls erlaubt, s. (35c,d). (35a) (35b) (35c) (35d)

Das Cafe hat die Fassade eingerüstet. Die Kamera hat die Linse zugeklebt. Meerjungfrauen haben die Beine zu einem Schwanz zusammengewachsen. Er hat die Zunge geschwollen. (Beispiele zitiert nach Hole 2002)

Auch das haben-Resultativ ist auf telische Verben mit inhärentem Zielzustand beschränkt (Hole 2002: 171), vgl. (35a–d). Nedjalkov/Jaxontov (1988: 13f.) und Litvinov/Nedjalkov (1988: 31 u. 61–78) gehen nicht explizit darauf ein, ob die Konstruktion auch stative Verben erlaubt und wie sein + V-PP ein Quasi-Resultativ ausbildet. Die Beispiele, die Hole (2002: 170f.) als Gegenargument gegen die allein resultative Funktion der Konstruktion aufführt, sind m.E. auch resultativ intpretierbar (36). (36a) (36b) (36c)

Meerjungfrauen haben die Beine zu einem Schwanz zusammengewachsen. Der Patient hat die linke und die rechte Herzkammer aufgrund eines Geburtsfehlers miteinander verbunden. Der Patient hat die Halsschlagader schon immer verengt. (zitiert nach Hole 2002: 170)

66 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Insgesamt ergeben sich für das haben-Resultativ ähnliche Typen, wie für das einstellige Resultativ. Tabelle 10 gibt eine zusammenfassende Übersicht. Tab. 10: Typen des haben-Resultativs

QuasiResultativ

ObjektsResultativ

SubjektsResultativ

(Er hat die Halsschlagader verengt.)

Sie hat die Augen verbunden.

Er hat die Zunge geschwollen.

Argumentstruktur Ereignisstruktur Zustand

[+ zweistellig]

[- zweistellig]

[- telisch]

[+ telisch]

Einzige Zustandsphase

Zielzustand

4.3.2 Identifikationsmerkmale des Resultativs Bei Identifikationsmerkmalen des Resultativs handelt es sich vornehmlich um charakteristische Kontextmerkmale und typische adverbiale Kollokate, die sich aus der spezifischen Semantik des Resultativs ergeben. Da die Resultativkonstruktion einen gleichzeitigen Zustand zum Ausdruck bringt, tritt sie bei präsentischem Finitum im Gegenwartskontext auf (vgl. 37a). Bei präteritalem Finitum ist sie in einen Vergangenheitskontext eingebettet (vgl. 37b). (37a) (37b)

Sieh mal, die Blumen sindFin ganz verwelkt! Egon konnte es nicht glauben: Alle seine Blumen warenFin verwelkt.

Typisch sind Temporaladverbiale, die Gleichzeitigkeit anzeigen, im Gegenwartskontext z.B. jetzt oder nun. Sie lokalisieren den andauernden Zielzustand zeitlich, vgl. (38a). Ähnlich beschreiben Adverbiale der Dauer die Erstreckung des Zustands (38b), Modaladverbiale modifzieren dessen Eigenschaften (38c). Einen häufig angeführten Test zur Identifikation des Resultativs bildet die Modifikation mit (immer) noch oder total, die bereits als Test für den Zielzustand erwähnt wurde (Nedjalkov/Jaxontov1988: 15, Bybee et al. 1994: 65, s. 39a,b).

Resultativ: Ursprung der Entwicklung | 67

(38a) (38b) (38c) (39a) (39b)

Jetzt sind alle Schneeglöckchen verblüht. Der Schlüssel ist seit drei Tagen verschwunden. Die Tür ist fest verschlossen. Das Haus ist total/immer noch eingestürzt. Der Schlüssel ist immer noch verschwunden.

Beschränkungen bzgl. adverbialer Modifikatoren ergeben sich v.a. aus der stativen Semantik. Bspw. ist das Resultativ nicht mit Direktionalen kompatibel, da diese stets eine gewisse Dynamizität implizieren (40a). Dagegen erlaubt es Adverbiale, die lokale Ruhe denotieren, wenn sie den Zielzustand fokussieren wie in (40b). (40a) (40b)

#Sie ist von hier verschwunden. Die Kinder waren auf der letzten Party so fantasievoll geschminkt.

Auch mit Adverbialen der Iteration ist das Resultativ nicht kompatibel: Bei einem in der Vergangenheit wiederholten Ereignis ist der Bezug auf einen einzelnen Zielzustand nicht möglich. Bei einem Adverbial der Iteration tritt deshalb der Ereignisverlauf stärker in den Vordergrund und die Tempuslesart stellt sich ein, vgl. (41). Einen ähnlichen Effekt hat die Koordination mit einem vergangenen Ereignis, s. (42a). Ein Resultativ wird dagegen mit weiteren Kopulakonstruktionen koordiniert, s. (42b). (41) (42a) (42b)

#Die Sonne ist immer wieder verschwunden. #Sie hat gelacht, ist verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Die Tür ist versperrt und die Schlüssel sind verschwunden.

Diese relativ spezifischen Identifkationsmerkmale des Resultativs sind Tabelle 11 zusammengefasst. Tab. 11: Identifikationsmerkmale des Resultativs

Resultativ Funktion

Attribution von Eigenschaften

Ereignisklassen

telisch (inhärenter Zielzustand)

Tempus Kontext

= Tempus Kopula

Agens

nicht assertiert

68 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Resultativ Adverbial der Dauer

Fokussierung des Zielzustandes

Modifiziert durch

noch, total

Adverbial der Zeit

spezifiziert Zeitpunkt des Zielzustandes

Lokaladverbial

statisch (meist + Dat, -Akk)

Adverbial Iteration

[-] (sonst temporale Lesart)

Koordination

Kopulakonstruktion

Diathese

prototypisch intransitiv

4.4 Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz Gemäß der typologischen Literatur lässt sich das Präsensperfekt nach weiteren Funktionstypen subklassifizieren. Dieser Abschnitt stellt die prototypischen Bereiche des Perfekts vor. Die Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf Arbeiten zum engl. Present Perfect, weil es als prototypischer Vertreter des Präsensperfekt gilt (z.B. Dahl 1985). Überdies handelt es sich ebenfalls um eine westgerm. Sprache, deren Perfekt durch einen vergleichsweise schwachen Grammatikalisierungsgrad charakterisiert ist. Deshalb bietet das engl. Present Perfect einen guten Vergleichspunkt für die Konstruktionen in den untersuchten altwestgerm. Sprachen. In der Tradition von McCawley (1971, 1981) und Comrie (1976) werden für das Engl. folgende Perfekttypen unterschieden. (Resultativ) Perfect of result

He is gone. I have forgotten my driver`s license.

Experiential perfect

I have been to Berlin (twice).

Perfect of persistent situation

I have been living in Berlin for five years.

Perfect of recent past

The train station has burned to the ground.

Abb. 19: Funktionen der Perfektkategorie in Anlehnung an McCawley (1971, 1981) und Comrie (1981)

Synchron stehen diese Perfekttypen in einer Polysemie-Beziehung (vgl. auch Kap. 2.3). Diachron repräsentieren sie nach Schwenter (1994) metonymische Entwicklungsschritte auf einem graduellen Entwicklungspfad. Im Gegensatz zur generellen Vergangenheit zeichnen sich diese Typen nur durch eine geringe Fokusverschiebung aus, nach Dentler ist noch keine „präteritale Färbung“ (Dentler

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 69

1997: 68) eingetreten. Sie stehen damit weiter am Anfang des Grammatikalisierungspfades und entsprechen im Wesentlichen Dentlers ersten beiden sog. Funktionsbereichen (A und –B), differenzieren diese jedoch stärker aus. In der Forschungsliteratur wird regelmäßig davon gesprochen, dass sich das Präsensperfekt durch einen Gegenwartsbezug oder Gegenwartsrelevanz auszeichnet (z.B. Haspelmath 1992, Bybee et al. 1994, Coussé 2014). Leider werden diese Begriffe in den seltensten Fällen definiert, was zum uneinheitlichen Gebrauch führt. Nach Dahl/Hedin erweckt dies den Eindruck, „that everyone knows that the perfect implies ‚current relevance‛ but nobody knows what that is supposed to mean“ (Dahl/Hedin 2000: 391). Zudem suggeriert der Begriff eine einheitliche Perfektbedeutung und wird damit der bereits erwähnten Polysemie nicht gerecht. Nach Dahl/Hedin (ebd.) ist Gegenwartsrelevanz ein graduelles Phänomen, das mit fortschreitender Grammatikalisierung abnimmt. Die stärkste Ausprägung liege beim konkreten Ereignisresultat vor, wie es z.B. beim Resultativ der Fall ist. Dieser konkrete Gegenwartsbezug wird allmählich zur abstrakteren Gegenwartsrelevanz geschwächt, die wiederum unterschiedliche Ausprägungsgrade kennt. Wenn die Gegenwartsrelevanz schließlich vollständig abgebaut ist, liegt ein Vergangenheitstempus vor. Die folgenden Abschnitte stellen die Perfekttypen in Abbildung 19 vor und definieren diese anhand maßgeblicher Kriterien. Abschnitt (4.4.6) zeigt, dass sie durch graduell abnehmende Gegenwartsrelevanz charakterisiert sind.

4.4.1 Resultatsperfekt Mittwoch definiert das sog. Resultatsperfekt im Gegenwartsengl. wie folgt: There is one event of the type denoted by the base sentence in the interval terminating at the evaluation point, and its direct result holds at this point. (Mittwoch 2008: 324)

Ähnlich wie das Resultativ weist das Resultatsperfekt einen starken Resultatsbezug auf. Gleichzeitig liegt ein schwacher Fokus auf dem vorangehenden Zustandswechsel. Damit hat sich die Konstruktion von der resultativen Semantik des Part II gelöst und die Kompositionalität ist aufgegeben. Diese Funktion wird in Abbildung 20 und den engl. Beispielen unter (43) veranschaulicht. Der doppelte Fokus ist in der Abbildung durch (R1) und (R2) sowie die eckigen Klammern angedeutet.

70 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

S

X[XXXXX]XX -------[---------------]-------

R1

(R2)

Ich habe meine Brille verloren.

Abb. 20: Resultatsperfekt

(43a)

Engl.

(43b)

Engl.

(43c)

Engl.

I have lost my glasses. (zitiert nach Iatridou et al. 2001: 156) Polieceman: May I see your driver’s license? Driver: I’ve left it at home. A: Is John here yet? B: Yes, he has arrived. (zitiert nach Klein 1994: 111)

Das Resultatsperfekt ist an distributionellen Eigenschaften und der Verbindung mit spezifischen Kollokaten erkennbar (Mittwoch 2008: 328). Z.B. ist es (mit präsentischem Hilfsverb) nie in einen präteritalen, sondern nur in einen präsentischen Kontext eingebettet. Denn es bezeichnet kein vergangenes Geschehen, das sich in eine narrative Abfolge zurückliegender Ereignisse einreiht. Der Schwerpunkt liegt auf dem gleichzeitig andauernden Ereignisresultat. Nach Mittwoch (2008) erfordert das Resultatsperfekt stets ein telisches Prädikat, aber nicht notwendigerweise mit inhärentem Zielzustand. Im Vergleich zum Resultativ hat damit eine schwache Extension der verbalen Ereignisklassen stattgefunden. Zur Veranschaulichung führt Mittwoch die folgenden möglichen Prädikate an: Prädikat Resultat (44a) Engl. Ann leave her driving /Ann’s driving license license at home be at home. (44b) Engl. John arrive in Paris / John be in Paris. (44c) Engl. Mary lock the door / the door be locked. (44d) Engl. Someone break my cup / my cup be broken. (zitiert nach Mittwoch 2008: 328)

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 71

Auch die argumentstrukturellen Beschränkungen sind verglichen mit dem Resultativ gelockert (näher hierzu s. Kap. 4.3.1). Zwar ist weiterhin ein Argument erforderlich, an dem sich der Resultatszustand zeigt (sog. internes Argument). Dies betrifft in transitiven Sätzen das direkte Objekt (45a,c,d), in intransitiven das Subjekt (45b).

(45a) (45b) (45c) (45d)

Engl. Engl. Engl. Engl.

Resultatsperfekt Ann has left her driving license at home. John has arrived in Paris. Mary has locked the door. Someone has broken my cup.

Im Gegensatz zum Resultativ kann der Urheber der Handlung aber genannt werden. Interessanterweise ist dieser aber nie fokussiert. Die Unmöglichkeit der Fokussierung begründet Mittwoch (2008: 328) damit, dass das Agens für das Resultat i.d.R. irrelevant ist. Das Resultatsperfekt ist deshalb in Sätzen ausgeschlossen, in denen das Agens durch ein W-Wort erfragt wird, vgl. (46). Im Passiv steht i.d.R. keine Agensangabe, vgl. (47). (46a) (46b) (46c)

Engl. Engl. Engl.

(47)

Engl.

#Who has broken my cup? # Who has locked the door? #Who has opened my letter? (zitiert nach Mittwoch 2008: 328) ?The book has been wrongly shelved by one of the librarians. (zitiert nach Mittwoch 2008: 329)

Wie das Resultativ (vgl. Kap. 4.3) verbindet sich auch das Resultatsperfekt typischerweise mit adverbialen Modifikatoren, die das Resultat fokussieren (vgl. 48, 49). So stellt sich in (48) die resultatsperfektische Funktion deshalb nicht ein, weil die Adverbien quickly bzw. slowly die Aufmerksamkeit auf den Ereignisverlauf lenken. Hermetically ‘dicht’ in (49) spezifiziert hingegen Eigenschaften des Nachzustandes. Auch in (50) wird der Nachzustand durch das Temporaladverb now zeitlich lokalisiert. (48a) (48b)

Engl. Engl.

#She has sealed the window quickly. #You’ve corrected the proofs too slowly.

72 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

(49)

Engl.

(50)

Engl.

She has sealed the window hermetically. (zitiert nach Mittwoch 2008: 329) He has left now.

Mit lokalen Ausdrücken verträgt sich das Resultatsperfekt nicht, da Adverbiale wie in the garden, in the classroom oder where in (51) den Ereignisverlauf fokussieren. Anders als das Resultativ ist das Resultatsperfekt aber mit Direktionalen kompatibel, weil es eine gewisse Dynamizität impliziert. In (52) spezifizieren in the garden und where den Endpunkt des Geschehens und begrenzen es damit. Häufig konstituieren Direktionale sogar selbst das Ereignisresultat. (51a) (51b) (51c) (52a) (52b)

Engl. Engl. Engl. Engl. Engl.

#I have peeled the potatoes in the garden. #We have sold the books in the classroom. #Where have you found the loot? We have buried Fido in the garden. Where have you hidden the loot? (zitiert nach Mittwoch 2008: 329)

Adverbiale der Frequenz bzw. der Kardinalität schließen das Resultatsperfekt jedoch aus. Denn die Referenz auf ein Ereignisresultat lässt sich nur bei einem singulären Ereignis herstellen. (53)

Engl.

# I have locked the door twice.

Tabelle 12 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Eigenschaften des Resultatsperfekts. Tab. 12: Identifikationsmerkmale des Resultatsperfekts

Resultatsperfekt Funktion

vergangenes Ereignis mit gegenwärtig andauerndem Zielzustand

Ereignisklassen

telisch

Tempus Kontext

= Tempus Hilfsverb

Agens

nicht fokussierbar

Adverbial der Dauer

Fokussierung des Nachzustandes

modifiziert durch

Modalaverbiale, Dativpronomen

Adverbial der Zeit

spezifiziert Zeitpunkt des Nachzustandes

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 73

Resultatsperfekt Lokaladverbial

dynamisch

Adverbial Iteration

[-]

Koordination

Koordination mit einem folgenden Ereignis

Diathese

internes Argument

4.4.2 Schwaches Resultatsperfekt Die oben vorgestellte Funktion bezieht sich auf prototypische Fälle des Resultstatsperfekts, Mittwoch (2008) spricht von “strong resultatives”. Diese lassen sich durch das beschränkte Spektrum an Verben, typische kontextuelle Merkmale und ihre spezifische Funktion identifizieren. Daneben existiert ein Gebrauch mit abgeschwächtem Resultatsbezug. Mittwoch spricht von den sog. „weak resultatives“ (Mittwoch 2008: 333), was hier als schwaches Resultatsperfekt übersetzt wird. Zeman meint wohl diesen Funktionstyp, wenn sie vom Perfekt mit “abstraktem Resultat“ (Zeman 2010: 203) spricht. Das schwache Resultatsperfekt bringt zwar ebenfalls ein Ereignisresultat zum Ausdruck, doch ergibt sich dieses nicht ereignisinhärent, sondern lediglich durch den Abschluss einer Handlung in der Vergangenheit. Hier liegt immer ein resultierender Zustand nach Kratzer (2000) vor (vgl. Kap. 4.1.2). Die Funktion lässt sich wie in Abbildung 21 darstellen. S R1

(R2)

---------------------------------------Hausschuhe sehen

Wissen um den Verbleib der Hausschuhe

Hast du meine Hausschuhe gesehen? Abb. 21: Schwaches Resultatsperfekt

Zeman meint wohl diesen Funktionstyp, wenn sie vom Perfekt mit “abstraktem Resultat“ (Zeman 2010: 203) spricht. Das schwache Resultatsperfekt bringt zwar ebenfalls ein Ereignisresultat zum Ausdruck, doch ergibt sich dieses nicht ereig-

74 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

nisinhärent, sondern lediglich durch den Abschluss einer Handlung in der Vergangenheit. Hier liegt immer ein resultierender Zustand nach Kratzer (2000) vor (vgl. Kap. 4.1.2). Die Funktion lässt sich wie in Abbildung 21 darstellen. In dem Beispiel ist das Wissen über den Verbleib der Hausschuhe das Resultat des vorausgehenden Sehens. Der Abschluss des Sehens ist nicht ereignisinhärent, sondern wird durch die Perfektkonstruktion auferlegt. Daher sind auch atelische Verben mit der Konstruktionssemantik kompatibel und ein „internes Argument“, das den Träger des Resultats bildet, ist nicht erforderlich. Abgesehen von der Öffnung für atelische Verben unterliegt das schwache Resultatsperfekt ähnlichen Restriktionen wie das prototypische Resultatsperfekt. Dies gilt z.B. für die Fokussierung des Agens. Auch das schwache Resultatsperfekt kann nicht in einem Satz auftreten, in dem das Agens durch ein W-Wort erfragt wird, s. (54a,b). Ebenso wenig ist es mit Lokaladverbialen kombinierbar, da diese die Aufmerksamkeit zu stark auf das vorausgehende Ereignis lenken, s. (55). (54a) (54b) (55)

Engl. Engl. Engl.

#Who has seen my slippers? #Who has had lunch? #I have had lunch in the cafeteria. (zitiert nach Mittwoch 2008: 333)

Das schwache Resultatsperfekt verträgt sich dagegen besser mit modalen Modifikatoren. Eine reine Modifikation des vorausgehenden Verbalgeschehens ist zwar nach wie vor nicht möglich, doch lässt sich ein Satz wie (56) als schwaches Resultatsperfekt interpretieren. Das schnelle Essen steht hier metonymisch für die nachfolgende Befindlichkeit, z.B. in Form von Bauchschmerzen. (56)

Engl.

I have eaten too quickly. (zitiert nach Mittwoch 2008: 333)

Insgesamt ist der Resultatsbezug in dieser Funktion sehr abstrakt. Deshalb ist es schwieriger, operationalisierbare Kriterien aufzuführen, die die Funktion eindeutig identifizieren. Tabelle 13 fasst die in diesem Abschnitt genannten Kriterien zusammen.

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 75

Tab. 13: Identifikationsmerkmale des schwachen Resultatsperfekts

Schwaches Resultatsperfekt Funktion

Ereignis mit gegenwärtig andauerndem Nachzustand

Ereignisklassen

[- bestimmte stative Verben]

Tempus Kontext

= Tempus Hilfsverb

Agens

nicht fokussierbar

Adverbial der Dauer

Fokussierung des Nachzustandes

Modifiziert durch

Modalaverbiale, Dativpronomen

Adverbial der Zeit

spezifiziert Zeitpunkt des Nachzustandes

Lokaladverbial

dynamisch

Adverbial Iteration

[-]

Koordination

Koordination mit einem folgenden Ereignis

Diathese

keine Beschränkungen

4.4.3 Experiential Zu den prototypischen Perfekttypen zählt auch das sog. Experiential. Hier ist der Gegenwartsbezug weiter abgeschwächt; er besteht nicht in einem Ereignisresultat, sondern eher als abstraktere Gegenwartsrelevanz. M.a.W. ist das vorausgehende Ereignis stärker fokussiert als in den zuvor betrachten Funktionstypen. Comrie definiert das Experiential wie folgt: „the experiential perfect indicates that a given situation has held at least once during some time in the past leading up to the present“ (Comrie 1981: 58, ähnlich Dahl 1985: 41). Demnach besagt ein Satz wie (57), dass „on at least one occasion (though possibly on more than one) Bill did in fact go to America“ (Comrie 1981: 59). (57)

Engl.

Bill has been to America. (zitiert nach Comrie 1981: 59)

Der Name Experiential rührt daher, dass dem Subjekt durch eine in der Vergangenheit gemachte Erfahrung (engl. experience) gewisse Eigenschaften bzw. Wissen attribuiert werden (Bybee et al. 1994: 62). Abbildung 22 veranschaulicht diese Funktion.

76 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

S

Bill ist in Amerika gewesen.

R1

R2

(E1)

(E2)

E3

Abb. 22: Die Experiential-Funktion

Wie Abbildung 22 zeigt, weist das Experiential einen doppelten Referenzpunkt auf, nämlich auf dem vergangenen Ereignis und auf dem Sprechzeitpunkt: (R2) fokussiert, anders als z.B. beim Resultatsperfekt, keine spezifische Ereignisphase, sondern (E) wird holistisch, d.h. aus der Außenperspektive, betrachtet. Gleichzeitig wird eine Aussage über (S) gemacht, nämlich, dass das Ereignis zum Zeitpunkt der Äußerung (mindestens einmal) stattgefunden hat. Dahl/Hedin (2000: 386ff.) sprechen von der typenfokussierenden Funktion des Perfekts: Das Experiential bezieht sich im Gegensatz zum Simple Past nicht auf ein konkretes Vorkommen in der definiten Vergangenheit, d.h. ein einzelnes Token, sondern auf das generelle Eintreten eines Geschehens. Demnach zielt die Frage in (58a) darauf ab, ob John innerhalb einer bestimmten Zeitspanne überhaupt (d.h. ein oder mehrere Male) gezwinkert hat, wohingegen (58b) die überraschte Reaktion darauf darstellt, dass John in einer bestimmten Situation gezwinkert hat. (58a)

Engl.

(58b)

Engl.

Has John winked? Typenfokussierend ‘Hat John (jemals) gezwinkert?’ Did John wink? Tokenfokussierend ‘Hat John gezwinkert?’ (zitiert nach Dahl/Hedin 2000: 387)

Trotz der funktionalen Unterschiede besteht in konkreten Äußerungen ohne kontextuelle Indikatoren häufig eine Ambiguität zwischen Resultatsperfekt und Experiential. Satz (59) erlaubt sowohl die Interpretation, dass die Sprecherin zum Zeitpunkt der Äußerung ihren Ausweis vermisst (Resultatsperfekt), als auch, dass sie schon einmal die Erfahrung gemacht hat, ihn zu verlieren (Experiential). Ohne weiteren Kontext lässt sich der Satz nicht disambiguieren. (59)

Engl.

I have lost my passport.

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 77

Auch das Experiential ist an typischen kontextuellen Merkmalen erkennbar. Wie das Resultatsperfekt ist es aufgrund des obligatorischen Origo-Bezugs typischerweise in einen Gegenwartskontext eingebettet. Da der Referenzpunkt (R2) das gesamte Ereignis holistisch fokussiert, zeigt das Experiential keine Präferenz für eine aktionale Ereignisklasse. Es kommt gleichermaßen mit telischen und atelischen Verben vor, vgl. (60). (60a) (60b)

Engl. Engl.

I’ve been to America. I’ve cleaned the whole house before. (zitiert nach Michaelis 1994: 131)

→ atelisch → telisch

Das Agens kann, anders als beim Resultatsperfekt, fokussiert werden. In einem Satz wie (61) trägt die Hervorhebung des Subjekts durch Kontrastakzent deshalb zur Disambiguierung bei: M.a.W. liegt in einem Satz wie (61) bei kontrastakzentuiertem Subjekt eindeutig ein Experiential vor, das Resultatsperfekt ist ausgeschlossen. Hier wird betont, dass die Sprecherin und keine andere Person die Handlung ausgeführt hat. (61)

Engl.

I have now taken a picture of a flock of cranes in flight. (zitiert nach Mittwoch 2008: 341)

Bei der Untersuchung historischer Texte ist Akzentuierung schwierig auszuwerten. Besser geeignet zur Disambiguierung sind adverbiale Modifikatoren. Z.B. tritt das Experiential typischerweise mit Adverbialen der indefiniten Vergangenheit auf, s. (62). (62)

Engl.

We’ve had this argument before. (zitiert nach Michaelis 1994: 126)

Definite Zeitausdrücke sind dagegen nicht mit dem Experiential kompatibel, da sie die für das Simple Past charakteristische Tokenlesart erzwingen (Dahl 1985: 142): In Verbindung mit einer bestimmten Zeitreferenz wird automatisch ein konkretes Geschehen in der Vergangenheit aktualisiert. Ähnlich bemerkt Inoue in Bezug auf das japanische Perfekt, dass, wenn „the time span becomes shorter […] the sentence becomes increasingly unacceptable“ (Inoue 1975, zitiert nach Dahl 1985: 142). Einen zuverlässigen Indikator für das Experiential bilden außerdem aufgrund der Typenlesart Adverbiale der Frequenz und Kardinalität, die das wiederholte Vorkommen des Ereignisses denotieren, s. (63a) (Michaelis 1994: 126). Bei

78 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

einem wiederholten Ereignis kann auf kein einziges Ereignisresultat referiert werden, wodurch das Resultatsperfekt ausgeschlossen ist. Z.T. wird derselbe Effekt durch pluralische NPs erzielt, s. (63b). (63a) (63b)

Engl. Engl.

I’ve met her four times. Many people have complained about this practice. (zitiert nach Mittwoch 2008: 326)

Favorisiert wird die Experiential-Lesart auch in nicht-affirmativen Kontexten. Dies ist nach Dahl darauf zurückzuführen, dass hier der unspezifische Zeitbezug und der Typenbezug die Regel ist (Dahl 1985: 142). (64)

Engl.

I have never been to New York.

Dentlers (1997, 1998) Funktionsbereich -B, den sie u.a. durch Adverbiale der Frequenz und der indefiniten Zeitreferenz identifiziert (näher zu Dentlers Taxonomie vgl. Kap. 5.3.6), ist mit dem Experiential zumindest partiell deckungsgleich. Die meisten Belege, die Dentler in dieser Kategorie für das Mhd. anführt, lassen sich als Experiential interpretieren, vgl. (65a) und (65b). Satz (65c), in dem es um den Tod der Ehefrau geht, bezieht sich jedoch auf ein spezifisches, einmaliges Geschehen. Hier liegt eindeutig die Tokenlesart vor. (65a)

Ahd.

(65b)

Mhd.

(65c)

Fnhd.

Íh hábo dâfóre geóuget. taz dissimila bona nemúgen éin sîn (Notk2 204:3) „[…] nu nim dinen pogen/der dich selten hat petrogen/ und uar zu iagen, […] (Gen 2237) Hin ist alle mein freud! E der zeit ist die vns verswunden; zu fru ist sie vns entwischt; allzu schir habt ir sie vns enzuckt […] (Ack 155: 8) (zitiert nach Dentler 1997: 96, Hervorhebung MG)

Vor dem Hintergrund der obigen Definition ist (65c) nicht als Experiential zu verstehen. Aus typologischer Perspektive wäre hier eher ein Präteritum zu erwarten. Ein Beleg wie (65c) legt damit nahe, dass schon im Mhd. die Grenzen zwischen Perfekt- und Vergangenheitsfunktion verwischen. Es ist jedoch unklar, ob in der hdt. und ndt. Sprachgeschichte das Konzept des Experientials jemals in der Form bestand und vom Präteritum funktional abgegrenzt war, wie es im heutigen Engl. der Fall ist. Tabelle 14 bietet eine zusammenfassende Übersicht über die Identifikationsmerkmale des Experientials.

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 79

Tab. 14: Identifikationsmerkmale des schwachen Experientials

Experiential Funktion

Vergangenes Ereignis

Ereignisklassen

keine Beschränkung

Tempus Kontext

= Tempus Hilfsverb

Agens

fokussierbar

Adverbial der Dauer

Fokussierung des Ereignisverlaufs

Modifiziert durch

Modalaverbiale, Adverbiale der Frequenz/Kardinalität

Adverbial der Zeit

Indefinite Zeitangabe

Lokaladverbial

Direktional- und Lokalangabe

Koordination

Koordination mit einem folgenden Ereignis

Diathese

keine Beschränkungen

4.4.4 Perfekt der Persistenz Das Perfekt der Persistenz (Iatridou et al. 2001: 155) bezeichnet ein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit beginnt und bis zur übergeordneten Sprechzeit andauert (s. auch McCoard 1978, Dowty 1979, Vlach 2003, Michaelis 1994: 133). Das bedeutet, (R) setzt zeitgleich mit (E) ein, beide erstrecken sich bis zum Sprechzeitpunkt, wobei (E) potentiell darüber hinausgehen kann. I have been sick since 1990. S

1990

E=R Abb. 23: Funktion des Persistenzperfekts (in Anlehnung an Iatridou et al. 2001: 155)

Das Perfekt der Persistenz bezeichnet typischerweise ein unabgeschlossenes Geschehen. Deshalb konzentriert es sich im Engl. auf stative Verben und progressive Formen, die keine Ereignisgrenzen enthalten. Weiterhin ist das Perfekt der

80 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

Persistenz obligatorisch mit bestimmten Adverbialen kombiniert (Kiparsky 2002, Iatridou et al. 2001: 163). Es handelt sich um Modifikatoren, die die zeitliche Erstreckung ausgehend von einem definiten oder indefiniten Zeitpunkt in der Vergangenheit bezeichnen ((at least/ever) since, for five days (now), always). Aus typologischer Perspektive handelt es sich beim Persistenzperfekt um eine seltene Perfektfunktion. Ein Ereignis, das bis einschließlich des Sprechzeitpunkts (und darüber hinaus) andauert, wird universell häufiger durch das Präsens markiert (Dahl 1985: 137), so auch im Nhd. (vgl. Ich wohne seit drei Jahren in Hamburg.). Wie aus der Forschungsliteratur hervorgeht, finden sich im Mhd. zumindest vereinzelt Belege für das Perfekt der Persistenz (z.B. Shimazaki 2002: 64ff, Paul et al. 2007: §S9 Anm. 1, Dentler 1997: 74f., 96ff.). (66a)

Mhd.

(66b)

Mhd.

[…] es bedarf vil wol gewizzenheit,/ swer guot ritter wesen sol./ ouch hân ichz gelernet wol/ von kinde in mînem muote hie: […] (Greg. 1566) […] Du sold wizen daz van anegende minez lebenez der duifel mir vil leidez getan hat und mich dicke geslagen und gar ubellichen gegeiselt. Zu einen ziten waz er einen beren gelich, zu der anderen zit als ein lewe […] (Reg 82:27) (zitiert nach Dentler 1997: 96, Hervorhebung MG)

Tabelle 15 fasst die Merkmale des Persistenzperfekts zusammen: Tab. 15: Identifikationsmerkmale des Persistenzperfekts

Persistenzperfekt Funktion

Ereignis dauert zur übergeordneten Ereigniszeit an

Ereignisklassen

[- gebunden]

Tempus Kontext

= Tempus Hilfsverb

Agens

fokussierbar

Adverbial der Dauer

Fokussierung des Ereignisverlaufs

Modifiziert durch

Adverbial der zeitl. Erstreckung (obligatorisch)

Adverbial der Zeit

Beginn der Handlung definite Zeitangabe

Lokaladverbial

Direktional- und Lokalangabe

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 81

4.4.5 Perfekt der Nahen Vergangenheit Beim Perfekt der Nahen Vergangenheit (auch Hot News Perfect) besteht die Gegenwartsrelevanz weitgehend darin, dass das Geschehen zeitlich nahe am Sprechzeitpunkt liegt (Comrie 1981: 60). Diese Funktion wird in Abbildung 24 illustriert. Deutschland hat Brasilien im Halbfinale mit 7:1 geschlagen. R

S

-E Abb. 24: Perfekt der Nahen Vergangenheit

Das Perfekt der Nahen Vergangenheit ist typisch für Nachrichtentexte in Print und Fernsehen, wo es häufig den Einstieg in eine längere präteritale Erzählpassage bietet. Nach Mittwoch (2008) ist dieser Gebrauch des Perfekts pragmatisch motiviert und wird verwendet, „[…] to announce a dramatic recent event“ (Mittwoch 2008: 344). Wichtig ist die Aktualität des Geschehens („recency“) sowie seine hohe Brisanz („informative value“) (Schwenter 1994: 1004). Klein (1994: 113) führt als charakteristische Modifikatoren die Adverbien recently und just an. Ähnlich wie das Experiential ist auch das Perfekt der Nahen Vergangenheit verbsemantisch nicht beschränkt (ebd.). Von den zuvor betrachteten Perfekttypen unterscheidet sich das Perfekt der Nahen Vergangenheit grundlegend dadurch, dass es in einen präteritalen Kontext eingebettet ist. Im Gegensatz zum Experiential denotiert es ein konkretes Ereignis in der Vergangenheit. Die Gegenwartsrelevanz hat sich damit auf die Nähe zur Sprecherorigo bzw. auf die textgliedernde Funktion reduziert. Das Perfekt wird v.a. metakommunikativ gebraucht und schafft damit den Übergang zwischen einem präsentischen und einem präteritalen Diskurskontext. Im Gegenwartsengl. tritt die Funktion v.a. in den Medien auf. In historischen Textgattungen ist deshalb mit keinem hohen Auftreten zu rechnen. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass Schwenter (1994) bei seiner Untersuchung diachroner engl. Korpora nur Einzelbelege erzielt. In sprachhistorischen Arbeiten zum Perfekt im Dt. wird das Perfekt der Nahen Vergangenheit nicht explizit erwähnt. Durch seine textgliedernde Funktion erinnert es aber an Dentlers (1997) Funktionsbereich B, in dem das Perfekt „introduzierend[…], kommentierend[…], gliedernd[…] oder resümierend[…]“ (Dentler 1997: 76) verwendet wird (näher hierzu

82 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

s. Kap. 5.3.6). Tabelle 16 fasst die Merkmale des Perfekts der Nahen Vergangenheit zusammen. Tab. 16: Identifikationsmerkmale des Perfekts der Nahen Vergangenheit

Perfekt der Nahen Vergangenheit Funktion

Ereignis in der nahen Vergangenheit

Verbsemantik

keine Beschränkung

Tempus Kontext

Präteritum

Agens

keine Beschränkung

Adverbial der Zeit

spezifiziert Zeitpunkt der nahen Vgh.

Lokaladverbial

keine Beschränkungen

Koordination

Koordination mit einem folgenden Ereignis

Diathese

keine Beschränkungen

4.4.6 Graduelle Schwächung des Gegenwartsbezugs im Zuge der diachronen Entwicklung Ausgehend von der theoretischen Literatur kann der Grammatikalisierungspfad aus Abbildung 17 wie in Abbildung 25 präzisiert werden. Bei der Grammatikalisierung wird der Gegenwartsbezug graduell abstrakter und schließlich vollkommen abgebaut. Die Gegenwartsrelevanz des Präsensperfekts kann somit als semantisches Persistenzmerkmal im Sinne von Hopper (1991) verstanden werden (vgl. Kap. 2.7), das aus der resultativen Ursprungskonstruktion entstammt. In der Abbildung wird die zunehmende Abstraktheit durch die abgeschwächte Umrahmung angedeutet. Resultativ >> Die Blumen sind verblüht.

Resultativ

Resultatsperfekt

Präsensperfekt>> Sie ist gerade gegangen.

Vergangenheit Goethe ist 1832 gestorben.

Experiential/

Nahe

Generelle

Persistenz-

Vergangen-

Vergangen-

perfekt

heit

heit

Abb. 25: Universeller Grammatikalisierungspfad der Vergangenheit unter Einbezug der Perfekttypen

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 83

Der Pfad beginnt beim kompositionellen Resultativ, das ausschließlich das konkrete Ereignisresultat präsentiert. Mit dem alleinigen Resultatsbezug ist die Gegenwartsrelevanz hier am stärksten ausgeprägt und maximal konkret. Vom Resultativ ist es nur ein kleiner Schritt zum Resultatsperfekt: Hier steht weiterhin das Resultat im Vordergrund, jedoch wird bereits das vorausgehende Ereignis mit assertiert. Damit ist der Resultatsbezug bereits etwas abstrakter. Auf der Stufe des Experientials bzw. Persistenzperfekts hat sich der temporale Fokus dagegen stärker auf das Ereignis selbst verschoben: Es werden ein oder mehrere Ereignisse denotiert, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne bis zur übergeordneten Ereigniszeit stattfinden. Mit präsentischem Hilfsverb besteht die Gegenwartsrelevanz entweder darin, dass das Ereignis in der unbestimmten Vergangenheit mindestens einmal stattgefunden hat und somit zum Sprechzeitpunkt als Type vorliegt (=Experiential), oder darin, dass sich das Ereignis bis zum Sprechzeitpunkt erstreckt und womöglich darüber hinaus andauert (=Persistenzperfekt). Im Perfekt der Nahen Vergangenheit ist der Gegenwartsbezug am stärksten geschwächt. Er beläuft sich darauf, dass das Geschehen in relativer Nähe zum Sprechzeitpunkt steht. Schwenter (1994) nimmt deshalb an, dass die Grammatikalisierung am weitesten fortgeschritten ist und das Perfekt der Nahen Vergangenheit die Brücke zur generellen Vergangenheit bildet.

4.4.7 Zusammenfassung In diesem Kap. wurden Funktionstypen betrachtet, die gemäß der typologischen Literatur auf dem universellen Grammatikalisierungspfad des Präsensperfekt bzw. der generellen Vergangenheit früh entstehen. Am Beginn des Grammatikalisierungspfads steht die kompositionelle Resultativkonstruktion. Sie bezeichnet einen gleichzeitig andauernden Zielzustand, der das Resultat eines vorausgehenden Zustandswechsels ist. Mit dieser Semantik, die die kompositionelle Konstruktion vom Part II erbt, ist das Resultativ immer stativ. Die Funktion lässt sich nur mit einem beschränkten Set an Verben erzielen, nämlich telischen Verben mit inhärentem Zielzustand. Typischerweise verbindet sich das Resultativ mit Adverbialen, die den gleichzeitigen Zielzustand fokussieren. Direktionale, die immer eine gewisse Dynamizität implizieren, und iterative Adverbiale sind dagegen nicht mit Resultativität kompatibel. Funktional eng mit dem Resultativ verwandt ist das sog. Resultatsperfekt. In dieser Funktion ist die ursprüngliche Kompositionalität aufgegeben. Wie für ein Präsensperfekt üblich, ist das Resultatsperfekt durch einen doppelten Referenzpunkt charakterisiert. Es bezeichnet sowohl ein zurückliegendes Ereignis als

84 | Funktionen des Perfekts im frühen Grammatikalisierungsstadium

auch sein mit dem Haupttempus gleichzeitig andauerndes Resultat. Mit Mittwoch (2008) äußert sich dieses Resultat im Falle des starken Resultatsperfekts als Zustand eines Partizipanten (dem internen Argument), im Falle des schwachen Resultatsperfekts ergibt es sich lediglich durch den Abschluss des Ereignisses. Während Ersteres auf telische Verben beschränkt ist, unterliegt Letzteres keinen aktionalen Beschränkungen. Auch das Resultatsperfekt verbindet sich typischerweise mit Adverbialen, die das Ereignisresultat fokussieren. Anders als das Resultativ tritt es aber mit Direktionalen auf. Adverbiale der Iteration sind jedoch ausgeschlossen. Beim Experiential ist der Resultatsbezug vollständig abgebaut und hat sich zur abstrakteren Gegenwartsrelevanz gewandelt: Das vorausgehende Ereignis ist stärker fokussiert. Dabei referiert das Experiential nicht auf ein Ereignis in der definiten Vergangenheit, sondern bezieht sich typenfokussierend auf die Tatsache, dass das Ereignis zum Sprechzeitpunkt vorlag. Da das Ereignis holistisch perspektiviert wird, spielen spezifische Ereignisphasen keine Rolle. Deshalb ist das Experiential auf keine bestimmte aktionale Verbklasse beschränkt, sondern bei Verben jeder Aktionsart möglich. Charakteristischerweise tritt es mit Adverbialen der indefiniten Vergangenheit, der Iteration und der Kardinalität auf. Deutlich spezifischer ist die Funktion des sog. Persistenzperfekts: Es bezieht sich auf ein Ereignis, das in der Vergangenheit eingesetzt hat und bis zum Sprechzeitpunkt oder darüber hinaus andauert. Die meisten Sprachen, darunter auch das Gegenwartsdt., verwenden hier das Präsens. Da das Persistenzperfekt ein andauerndes Ereignis bezeichnet, ist es auf Verben mit ungebundener Ereignisstruktur beschränkt. Im Engl. enthält es entweder ein statives Verb oder eine Progressivform. Das Persistenzperfekt tritt obligatorisch mit einem temporalen Adverbial auf, das entweder den Anfangspunkt in der (in)definiten Vergangenheit oder die gesamte zeitliche Dauer spezifiziert. Als letztes wurde das Perfekt der Nahen Vergangenheit besprochen (auch Hot News Perfect), bei dem die Gegenwartsrelevanz am weitesten geschwächt ist. Sie reduziert sich darauf, dass das Ereignis zeitlich nahe an der Sprecherorigo situiert ist. Das Perfekt der Nahen Vergangenheit ist pragmatisch lizensiert, indem es die hohe informative Brisanz der Proposition markiert. Darüber hinaus erfüllt es eine textgliedernde Funktion, indem es den Einstieg in eine längere präteritale Erzählpassage ermöglicht. Die fast vollständig abgebaute Gegenwartsrelevanz legt nahe, dass das Perfekt der Nahen Vergangenheit am stärksten grammatikalisiert ist und die Vorstufe zur generellen Vergangenheit bildet.

Perfektfunktionen, Grammatikalisierungsgrad und Gegenwartsrelevanz | 85

Es wird deutlich, dass der Gegenwartsbezug mit zunehmendem Grammatikalisierungsgrad der Funktionstypen geschwächt wird. Der beschriebene metonymische Entwicklungspfad ist theoretisch konstruiert. Im Zuge der empirischen Untersuchung wird überprüft, inwieweit er sich an den historischen Daten bestätigt.

5 Forschungsüberblick und -diskussion Das vorliegende Kap. gibt einen Überblick über bisherige Forschungen zu haben + V-PP und sein + V-PP. Ziel ist es, Ergebnisse vorausgehender Arbeiten vorzustellen, Forschungslücken aufzuzeigen und Kriterien herauszuarbeiten, die in die Analysemethode mit einfließen. Zunächst werden Erklärungsansätze zur Verteilung der Hilfsverbkonstruktionen besprochen (Abschnitt 5.1) und es wird ein Vorschlag gemacht, wie diese Erklärungen durch ein gebrauchsbasiertes Modell ergänzt werden könnten (Abschnitt 5.2). Abschnitt (5.3) betrachtet dann die Konstruktionen im Althochdeutschen und Altsächsischen, die mit Hilfe der Forschungsliteratur diachron und diatopisch eingebettet werden.

5.1 Hilfsverbverteilung Im Folgenden werden existierende Erklärungsansätze der Hilfsverbverteilung diskutiert, wobei sowohl sprachspezifische als auch typologische Modelle berücksichtigt werden. Auf diesem Überblick aufbauend werden in Abschnitt (5.1.5) Forschungsfragen entwickelt. Abschnitt (5.1.1) stellt basierend v.a. auf junggrammatischen Beschreibungen Grundtendenzen der Hilfsverbwahl im Dt. dar. Die folgenden Abschnitte bauen auf den hier gewonnenen Erkenntnissen auf und zeigen theoretische Erklärungsansätze: Abschnitt (5.1.2) behandelt die sog. Unakkusativitätshypothese, die zuerst allgemein vorgestellt und diskutiert und im zweiten Schritt auf ihr Erklärungspotential für die Hilfsverbverteilung hin überprüft wird. Anschließend werden Modelle in den Blick genommen, die die Auxiliardistribution als graduelles Phänomen erklären (Abschnitt 5.1.3): Dabei stehen v.a. Soraces Auxiliarselektionshierarchie, die sich als Weiterentwicklung der Unakkusativitätstheorie versteht (Abschnitt 5.1.3.1), und Shannons Prototypenmodell (Abschnitt 5.1.3.2) im Vordergrund. Der darauffolgende Abschnitt (5.1.4) widmet sich Ansätzen, die von funktionalen Unterschieden zwischen SEIN + V-PP und HABEN + V-PP ausgehen. In diesem Zusammenhang wird als erstes der sog. Irrealis-Effekt besprochen (Abschnitt 5.1.4.1), der als indirektes Indiz dafür gewertet wurde, dass sein + V-PP in den Vorstufen bestimmter europ. Sprachen resultative Funktionen erfüllte. Danach wird die insbesondere durch Leiss (1992) und Teuber (2005) vertretene Hypothese, dass sein + V-PP noch im Gegenwartsdt. ein Resultativ bzw. eine Kopulakonstruktion ist, diskutiert.

Hilfsverbverteilung | 87

5.1.1 Grundtendenzen der Hilfsverbverteilung im Deutschen: Transitivität und Aktionsart als Steuerungsfaktoren Die Arbeiten der Junggrammatiker Anfang des letzten Jhdts. und aktuelle Grammatiken wie die Duden-Grammatik (2009: 464ff.) oder der Zweifelsfall-Duden (2011: 441ff.) beschreiben Grundtendenzen der Hilfsverbdistribution. Deshalb werden sie hier trotz des dazwischen liegenden, forschungsgeschichtlichen Zeitraums im selben Abschnitt dargestellt. Die junggrammatischen Arbeiten, die sich mit der Verteilung der Perfekthilfsverben beschäftigen, nehmen (wie gewöhnlich) eine sprachgeschichtliche Perspektive ein, wobei z.T. nicht eindeutig zwischen gegenwärtigem System und historischen Sprachstufen unterschieden wird. Allen voran ist Hermann Pauls ausführliche Abhandlung zu nennen (Paul 1905), die den Wandel vom Mhd. zur Gegenwartssprache beschreibt. Sie stützt sich v.a. auf Adelungs Wörterbuch sowie Grimms DWB und wird durch introspektive Grammatikalitätsurteile Pauls ergänzt. Als Weiterführung dieser Abhandlung versteht sich Dieninghofs Untersuchung zu den periphrastischen Formen im Ahd., in der er erstmals eine nahezu vollständige Auflistung aller ahd. Belege von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP bietet (Dieninghof 1907). Damit bildet die Monografie die empirische Grundlage für viele spätere, stärker theoretisch ausgerichtete Arbeiten zur Entstehung des dt. Perfekts (z.B. Grønvik 1986, Kuroda 1999). Behaghel, der die Wahl des Perfekthilfsverbs bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1900 anreißt, behandelt die Thematik ausführlicher in seiner Syntax (Behaghel 1924). Neben den bereits genannten stützt er sich auf die Arbeit Kerns (1912) zum Ndl., der immer wieder Vergleiche zum Hdt. und Ndt. zieht. Alle diese Arbeiten enthalten ausführliche Besprechungen einzelner Verben insbesondere mit schwankender Hilfsverbwahl. Um grobe Entwicklungslinien aufzuzeigen, werden die Einzelverben, die durch die Junggrammatiker in Auflistungen dargeboten werden, hier zu semantischen Gruppen zusammengefasst. Die Darstellung reduziert sich auf Aspekte, die mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit relevant sind. Sowohl in den Abhandlungen der Junggrammatiker (z.B. Behaghel 1900, 1924, Paul 1905: 161) als auch in der Duden-Grammatik (2009: 464) findet sich die grundlegende Beobachtung, dass transitive Verben ein haben-Perfekt bilden (1a). Unter den obligatorischen haben-Verben nennt der Duden außerdem Reflexive (1b), da sie syntaktisch transitiv sind, sowie Verben mit einem Dativobjekt, die keine Orts- oder Zustandsveränderung denotieren (1c).

88 | Forschungsüberblick und -diskussion

(1a)

Kain hat Abel erschlagen.

(1b) (1c)

Kain hat sich versteckt. Die Schlange hat ihr geholfen.

Behaghel (1924: 273f.) unterscheidet außerdem zwischen Verben mit obligatorischem Akkusativ und Genitiv (2a, b). Insbesondere bei ersteren beobachtet er Ausnahmen, d.h. Verben, die trotz Akkusativergänzung ein sein-Perfekt bilden, s. (3). Diese Wahl von sein + V-PP führt er auf Analogien zurück. (2a) (2b) (3a)

in einem sale witen han ich in gesehen (Nib. 78,2 zitiert nach Behaghel 1924: 273) des ich e han gegert (Iw. 5524, zitiert nach ebd.: 274) Er ist durchfaren weite weite land (Soltau, Hist. Volksl. II, 59,21 nach ebd.: 273)

(3b)

Zweimal war die Sonne durchgereiset diese Bahn (Logau zitiert nach ebd.)

Die Belege zeigen, dass Behaghel Transitivität als formales Merkmal versteht. Im Gegensatz dazu bemerkt Hermann Paul: Das Mass des Raumes und der Zeit neben Verben der Bewegung wird vom Sprachgefühl nicht als Obj. gefasst. Man sagt daher: er ist drei Meilen, drei Stunden gegangen. Auch die Angabe des Terrains, über das sich eine Bewegung erstreckt, hat keinen Einfluss. (Paul 1905: 206)

Nach Paul behalten überdies Bewegungsverben, die infolge von Wortbildungsprozessen syntaktisch transitiv sind, das Hilfsverb des Simpliziums (sein) bei. (4a)

von dort aus bin ich Frankreich in zwei Richtungen durchreiset (Kleist an Henriette 19. Juli 1804, zitiert nach Paul 1905: 207)

(4b) (4c)

wenn ich die ganze Welt umschifft wäre (Lessing 3,296,13, zitiert nach ebd.) er mag die übrigen um so viel eher übergangen seyn (Lessing 6,417,15, zitiert nach ebd.)

Nach der Duden-Grammatik (2009: 465) belaufen sich diese Ausnahmen der Transitivitätsregel im Gegenwartsdt. lediglich auf Partikelverben mit der Basis gehen, z.B. durchgehen und eingehen, vgl. (5).

Hilfsverbverteilung | 89

(5a) (5b)

Die Verhandlungspartner sind die Punkte des Koalitionsvertrages durchgegangen. Nach langem Zögern sind wir den Vertrag eingegangen.

Bei Intransitiven erfolgt die Wahl der Hilfsverbkonstruktion dagegen in Abhängigkeit von der Aktionsart: Atelische1 Verben wählen haben + V-PP, telische sein + V-PP (Paul 1905: 166, Behaghel 1900: 68, Kern 1912: 32, Duden-Grammatik 2009: 465, Zweifelsfall-Duden 2011: 442). Paul (1905: 167ff.) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass nur wenige Simplizia telisch sind, zumeist handelt es sich um Partikel- bzw. präfigierte Verben. Häufig führt die Präfigierung einer atelischen Basis zum Aktionartenwechsel und zieht einen Hilfsverbwechsel nach sich: (6a)

Er hat gebebt.

Er ist erbebt.

(6b) (6c)

Das Haus hat gebrannt. Das Haus ist abgebrannt. Das Wasser hat gedampft. Das Wasser ist verdampft. (Beispiele nach Paul 1905: 170)

Die Hilfsverbverteilung im Dt. ergibt sich somit aus einem Zusammenspiel syntaktischer (Transitivität) und semanischer (Aktionsart) Faktoren. Abbildung 26 fasst diese Grundtendenzen in einer vorläufigen Übersicht zusammen. Entsprechend dieser Grundtendenzen sind Verben, die kontextabhängig telisch oder atelisch sind, durch Variation des Auxiliars gekennzeichnet, die Hilfsverbwahl erfolgt in Abhängigkeit von der jeweils realisierten Ereignisstruktur (Paul 1905: 172).

|| 1 In den Darstellungen selbst wird anstelle von telisch und atelisch von „perfektiv“ und „imperfektiv“ gesprochen, wobei „[d]as Imperfektivum […] einen Vorgang in seinem Verlauf, seiner Dauer [bezeichnet]. Das Perfektivum enthält die Beziehung auf einen bestimmten Moment. Es drückt entweder den Abschluss eines Vorganges oder das Geraten in einen Zustand aus.“ (Paul 1905: 162). Da in dieser Definition unklar bleibt, ob auch Semelfaktive zu den „Perfektiven“ zählen, sprechen Kern (1912: 18) und daran angelehnt Behaghel (1924: 276) präzisierend von „Mutativa“, die eindeutig nur telische Verben implizieren. In der Duden-Grammatik (2009) wird neutraler von Verben gesprochen, die eine „Veränderung mit Bezug auf den Subjektaktanten bezeichnen“ (Duden-Grammatik 2009: 464). Aus Gründen der Einheitlichkeit wird im Folgenden die Bezeichnung telisch und atelisch wie im Rest der Arbeit beibehalten.

90 | Forschungsüberblick und -diskussion

TRANSITIV

INTRANSITIV

ATELISCH

TELISCH

haben +

sein +

V-PP

V-PPAkt

Sokrates hat den

Sie hat gelacht.

Schierlingsbecher

Er ist gestorben.

getrunken.

Abb. 26: Grundtendenzen der Hilfsverbdistribution im Deutschen (vorläufig)

(7a) (7b)

ich habe gekniet

→ atelisch

‘auf den Knien liegen’ ich bin gekniet → telisch ‘sich auf das Knie werfen’ (Beispiele nach Paul 1905: 172)

In diesem Zusammenhang stellen Paul (1905: 179ff.) und Behaghel (1924: 279) fest, dass deadjektivische sowie desubstantivische Verben wie in (8) häufig zwischen telischer und atelischer Aktionsart variieren. Hierbei handelt es sich um Degree Achievements, die die skalare Veränderung von Eigenschaften zum Ausdruck bringen (vgl. Kap. 3.1.3). Sie denotieren zwar i.d.R. einen Zustandswechsel, implizieren jedoch nicht notwendigerweise einen Endpunkt. (8a)

(8b)

Deadjektiva: altern, bleichen, dorren, faulen, reifen, heilen, trocknen, keimen, wachsen, gären Desubstantiva: rosten, keimen, sprießen, quellen

Nach Paul (1905: 179f.) wechsle das Hilfsverb bei diesen Verben historisch in Abhängigkeit davon, ob das Geschehen auf den Ausgang bzw. das Resultat bezogen ist oder im Verlauf perspektiviert wird. Allerdings trete „dieser Unterschied nicht

Hilfsverbverteilung | 91

immer klar hervor[…], weil für die subjektive Auffassung ein ziemlicher Spielraum“ (Paul 1905: 179) bleibe. (9a) (9b) (10a)

(10b)

so sehr habt ihr gealtet, wenigstens um zehn Jahre (J.Gotthelf 18. Jh., zitiert nach Paul 1905: 180) Karolina war in diesen wenigen Monaten um Jahre gealtert (Stahr Jh., zitiert nach ebd.) also hat das evangelium am allerstärksten gewachsen, beide an der zahl der gleubigen und an wunderbarlicher kraft (Luther in D.Wb., zitiert nach ebd.: 181) von zwein estin die uzir eineme stamme gewassen sint (Wackernagels Leseb. 192,10, zitiert nach ebd.)

Zur Gegenwartssprache hin komme es jedoch zunehmend zur Verallgemeinerung von sein + V-PP, weil es „in der Natur der Sache [liege], dass das Perf. [bei diesen Verben] meistens ein Resultat ausdrückt“ (Paul 1905: 181, Ergänzungen in [ ] MG). Betrachtet man aber die Verben in (8), entsteht m.E. der Eindruck, dass die Tendenz zu sein lexemabhängig variiert: Altern und wachsen neigen kategorischer zu einem Auxiliar als schimmeln und faulen (näher hierzu s. Kap. 8.2). Wie in Kap. (3.1.1) gezeigt, sind auch Bewegungsverben durch aktionale Ambiguität charakterisiert. Nach Paul (1905) zeigen sie in der Geschichte des Dt. aktional konditioniert Hilfsverbvariation. (11)

Ich habe mein [sic!] Tage viel gereiset; ich bin nach Hamburg gereiset. (Paul 1905: 182)

Nach Paul hat sich „[i]n der Tradition der Grammatiken und Wörterbücher […] diese Unterscheidung [jedoch] länger bewahrt, als im wirklichen Gebrauch“ und „jetzt [werde] das Perf. fast ausschließlich mit sein [gebildet]“ (Paul 1905: 182).2

|| 2 Leider bietet Paul keine näheren Informationen darüber, wann die aktionsartensensitive Hilfsverbwahl bei diesen Verben aufgegeben wurde. Die von ihm präsentierten Belege legen jedoch nahe, dass die Regel bereits im Mhd. nicht ausnahmslos greift, vgl.: „Der Regel zu widersprechen scheint Nib 293,4 durch wes liebe die helde her gevarn hân, sowie die Lesart von A Nib. 401,3 durch dich mit im ich her gevarn hân. Allein, wenn hier auch eine Zielbestimmung daneben steht, so tritt doch die Vorstellung von der Erreichung des Zieles zurück hinter der des Beweggrundes, worauf der Nachdruck liegt. Allerdings ist das ein Fall, in dem das Sprachgefühl schwanken konnte, vgl. die analoge Stelle 400,2 durch die dîne liebe sîn wir gevar her.“ (Paul

92 | Forschungsüberblick und -diskussion

Diachron hat also eine Generalisierung von sein + V-PP stattgefunden. Ähnlich stellt die Duden-Grammatik (2009: 465f.) fest, dass eindeutige Bewegungsverben im Dt. eine starke Tendenz zu sein aufweisen (12a). Zu Schwankungen komme es nur, wenn bei Verben wie in (12b) die Art der Bewegung als Aktivität im Mittelpunkt steht: (12a) (12b)

fahren, gehen, fliegen, folgen, laufen, reisen, springen, flitzen, reisen, springen, stolzieren, schlendern, wandern tanzen, schwimmen, hinken, joggen

Die Selektion von sein + V-PP lässt sich historisch jedoch nicht bei allen Verben darauf zurückführen, dass eines der zwei nebeneinander existierenden Hilfsverben generalisiert wurde (Paul 1905: 190f.). Denn auch einige Bewegungsverben, die ursprünglich nur ein haben-Perfekt bildeten, weisen heute sein + V-PP auf. Hierzu zählen z.B. das Verb folgen, das nach Paul atelisch ist, da es „eine im Verhältnis zu der eines anderen Gegenstandes sich gleich bleibende Bewegung“ (ebd.: 190) bezeichnet, und das vormalige Kausativum rennen, ursprünglich ‘das Pferd rennen machen’. Vermutlich nehmen diese Verben sein + V-PP in Analogie zu den übrigen Bewegungsverben an (ebd.: 191). Weitere Ausnahmen der Aktionsartenregel ergeben sich nach Paul nur daraus, dass sich sein + V-PP auf atelische Ereignisse ausgedehnt hat, denn eine diachrone „Ausgleichung [habe] […] überwiegend zu Gunsten von sein“ (Paul 1905: 166) stattgefunden. An erster Stelle nennt er hier das Sonderverhalten der Verben sein und bleiben, die trotz atelischer Aktionsart ein sein-Perfekt bildeten. Historisch kommt bei beiden Verben auch haben + V-PP vor, dieser Gebrauch ist v.a. charakteristisch für niederdt. Dialekte. Während Behaghel (1924: 276) die sein-Selektion dieser Verben auf Analogie zur Kopula werden zurückführt, verweist Paul (1905: 169) darauf, dass bleiben (ahd. bilīban) ursprünglich telisch war, vgl. (13a). Noch heute zeigt sich die ursprünglich telische Aktionsart in Verbindungen wie sitzen/stehen/kleben bleiben oder übrig bleiben, s. 13b,c). (13a)

daz si dâ herren beliben (Tristan 429, zitiert nach Paul 1905: 169)

|| 1905: 182) Ob das Schwanken des Hilfsverbs in diesen mhd. Sätzen tatsächlich mit einem subtilen Bedeutungsunterschied einhergeht oder ob es bereits ein Indiz dafür bildet, dass sich die strikte Kopplung von Aktionsart und Hilfsverbwahl bereits im Mhd. auflöst, erfordert eine eigenständige Untersuchung in mhd. Korpora.

Hilfsverbverteilung | 93

(13b) (13c)

Sie blieb sitzen/stehen/liegen. Die Hälfte des Essens blieb übrig.

Weiterhin erwähnt Paul Positionsverben wie sitzen, stehen, liegen, die südlich der Main-Linie ein sein-Perfekt bilden. Auch diese Verben sind ursprünglich aktional ambig: Anders als im Gegenwartsdt. bezeichnen sie historisch nicht allein die Ruhe an einem Ort, sondern auch das Einnehmen einer Position (Paul 1905: 172ff., Dal 2014: 142), vgl. (14a,b). (14a)

Mhd.

(14b)

Mhd.

hān für wār hie gesezzen manec jār ‘Ich habe wahrlich so manches Jahr hier gesessen’ und do er was gesezzen ‘als er sich gesetzt hatte’ (zitiert nach Dal 2014: 142; Übersetzung MG)

Zum Nhd. hin werden Verwendungen wie in (14b) von den reflexiven sich setzen, sich stellen und sich legen übernommen. Im Obdt. bleibt die telische Variante jedoch länger bewahrt, was dazu führt, dass sein + V-PP auch im atelischen Gebrauch generalisiert wurde (Dal 2014: 142). Die sein-Selektion der Positionsverben dürfte die maßgebliche Ursache dafür sein, dass in der Forschung von einer süddt. sein-Tendenz ausgegangen wird (z.B. Paul 1905: 166f., Grønvik 1986). So bemerkt Paul, dass „in Süddeutschland sein ein beträchtlich grösseres Gebiet gewonnen hat als in Norddeutschland“ (Paul 1905: 166f.). Dass das Obdt. aber bei weiteren Verbklassen zu sein + V-PP tendiert, wurde bisher nicht empirisch nachgewiesen. Anders als die Junggrammatiker führt die Duden-Grammatik (2009: 465) auch Fälle an, in denen haben + V-PP im prototypischen sein-Bereich, d.h. bei telischen Intransitiven, auftritt. Neben den Verben des Anfangens und Endens (anfangen, beginnen, aufhören, enden) werden zunehmen und abnehmen erwähnt. Ergänzend könnten hier die Präfixverben auslernen bzw. ausstudieren angeführt werden. Es zeigt sich, dass die Telizitätsregel im Dt. nicht uneingeschränkt produktiv ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hilfsverbverteilung im Dt. grundlegend durch das Zusammenspiel syntaktischer und semantischer Faktoren bestimmt ist: Transitive und atelische Intransitive wählen haben + V-PP, telische Intransitive sein + V-PP. Dabei handelt es sich jedoch nicht um harte Regeln, sondern eher um Tendenzen.

94 | Forschungsüberblick und -diskussion

TRANSITIV

INTRANSITIV

ATELISCH

TELISCH

haben +

sein +

V-PP

V-PPAkt

Akkusativobjekt

Activities

Achievements

Sokrates hat

Sie hat gelacht.

Sie ist

den Schierlingsbecher

States

gekommen.

getrunken.

Sie hat dort ge-

Accomplishm.

Genitivobjekt

lebt.

Sie ist erblüht.

Er hat ihrer Hilfe bedurft. Reflexivpronomen Er hat sich rasiert. AUSNAHMEN

Akkusativobjekt Wir sind die Punkte des Vertragsdurchgegangen. Sie ist einen Vertrag eingegangen.

Activities

Achievements

Sie ist geschwommen.

Der Film hat

States

aufgehört.

Sie ist dort

Accomplishm.

gewesen/

Letztes Jahr hat er

geblieben.

ausgelernt.

In der Zeitung ist ge-

Die Armut hat

standen. (regional)

zugenommen.

Abb. 27: Grundtendenzen der Hilfsverbdistribution im Deutschen

Vereinzelte Ausnahmen bilden durch ein Präfix transitivierte Formen von gehen (z.B. durchgehen, eingehen) sowie die Verben des Anfangs und Endens und bestimmte telische Intransitive mit haben-Selektion (zunehmen/abnehmen, auslernen). Verben mit variabler Telizität wie den Degree Achievements zeigenes Hilfsverbschwankungen, wobei sich ein Hilfsverb bei bestimmten Lexemen verfestigt. Als ganze semantische Gruppe weichen die Bewegungsverben, die auch im atelischen Gebrauch sein + V-PP wählen. Abbildung 27 fasst die ermittelten

Hilfsverbverteilung | 95

Grundtendenzen der Hilfsverbverteilung unter Berücksichtigung der wichtigsten Ausnahmen zusammen.

5.1.2 Unakkusativitätshypothese3 Zu den prominentesten Erklärungen der Hilfsverbverteilung zählt die sog. Unakkusativitätstheorie. In diesem Absschnitt werden zunächst die Grundannahmen der Theorie skizziert und diskutiert. Anschließend wird sie auf ihr Erklärungspotential für die Hilfsverbverteilung überprüft. Da Unakkusativität als Universalie, daher mit sprachübergreifender Gültigkeit, verstanden wird, geht dieser Teil sprachvergleichend vor, wobei neben dem Dt. v.a. das Ndl. und It. im Vordergrund stehen.

5.1.2.1 Theoretische Grundannahmen der Unakkusativitätstheorie Die Unakkusativitätshypothese geht ursprünglich auf Perlmutter (1978) zurück und wurde von Burzio (1986)4 im Rahmen der Government-and-Binding-Theorie (GB) weiterentwickelt. Sie beruht auf der Annahme, dass sich intransitive Verben universell in zwei Unterklassen aufspalten, die sich in ihrer tiefenstrukturellen Basiskonfiguration unterscheiden (Levin/Rappaport-Hovav 1995:3): Unergative

|| 3 Dieser Abschnitt erhebt nicht den Anspruch, einen erschöpfenden Forschungsüberblick über die Unakkusativitätstheorie zu geben. Es werden nur grundlegende Tendenzen aufgezeigt und diskutiert. Insbesondere die theoretischen Modellierungen innerhalb der jeweils zugrundeliegenden Theorien, sei es Government-Binding oder Minimalismus, werden nicht besprochen. Für einen Überblick s. Levin/Rappaport-Hovav (1995), Alexiadou et al. (2004). 4 Burzio selbst spricht von der „ergative hypothesis“ (ähnlich Grewendorf 1989 und Abraham 1996). Nach Primus handelt es sich sowohl bei dem Begriff „Unakkusativität“ als auch bei „Ergativität“, die die syntaktischen Phänomene in die Nähe von Ergativsprachen rücken, um einen „typologischen Fehlgriff“ bzw. einen „terminologischen Ausrutscher“ (Primus 2003: 32). Gegen Ergativität spricht aus typologischer Sicht, dass syntaktische Ergativität morphologische Ergativität voraussetzt, in den behandelten Sprachen jedoch ausschließlich syntaktische Ergativphänomene angeführt werden. Zudem bilden die betreffenden syntaktischen Konstruktionen selbst keine Ergativphänomene: Ergative Sprachen zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass der Absolutiv der primäre Kasus (= der Pivot) ist. Hierbei handelt es sich um eine formale Regel, nicht aber um eine funktionale. Die beobachtenden Phänomene beruhen jedoch gerade auf funktionalen Unterschieden. Nach Primus lassen sich die Phänomene daher besser als Instanzen von „gespaltener Intransitivität“ bestimmen. Im Folgenden wird der Terminus „Unakkusativität“ dennoch beibehalten, da er in den meisten der hier zitierten Arbeiten gebraucht wird. Er wird allerdings synonym zu „gespaltener Intransitivität“ gebraucht.

96 | Forschungsüberblick und -diskussion

und Unakkusative. Während das einzige Argument unergativer Verben wie lachen oder arbeiten tiefenstrukturell mit dem Subjekt eines transitiven Satzes korrespondiert, entspricht das Subjekt unakkusativer Verben wie fallen oder ankommen einem direkten Objekt. Aus der GB-Perspektive wird das Subjekt bei Unakkusativen innerhalb der VP basisgeneriert und daher als „internes Argument“ bezeichnet, wohingegen das Subjekt bei Unergativen in der Subjektsposition, also außerhalb der VP, basisgeneriert wird, womit es sich um ein „externes Argument“ handelt, vgl. (15). (15a) (15b)

[VP V NP] → internes Argument (= unakkusatives Verb) NP [VP V] → externes Argument (= unergatives Verb)

An der Oberfläche erscheinen beide jedoch als Subjekt, was bei den Unakkusativen durch eine Argumentbewegung in die leere Subjektsposition ermöglicht wird. Die Bezeichnung unakkusativ rührt daher, dass dem „internen Argument“ nicht der Oberflächenkasus Akkusativ zugewiesen wird, sondern es nach der Bewegung in die Subjektsposition zum Nominativ wird (Levin/Rappaport-Hovav 1995: 3).5 Zudem können Unakkusative kein zusätzliches Argument im Akkusativ binden, da die Position des direkten Objekts bereits besetzt ist (vgl. 16). (16)

*Das Mädchen ist das Knie gefallen.

Unakkusative weisen damit dieselbe syntaktische Struktur wie Passive auf, da das tiefenstrukturelle Objekt an der Oberfläche als Subjekt auftritt. Diese Entsprechung veranschaulichen besonders eindrücklich Verben mit inchoativ-kausativAlternation, vgl. (17). Aber auch Prädikate wie in (18a,b) sind als unakkusativ zu klassifizieren (z.B. Grewendorf 1989: 2): (17a)

Der Junge zerbricht die Vase.

(17b) (17c) (18a) (18b)

Die Vase wird zerbrochen. Die Vase zerbricht. Die Vase fällt. Die Frau fällt.

passiv unakkusativ unakkusativ unakkusativ

|| 5 Dies folgt aus der sog. Generalisierung Burzios, die besagt: Wenn die Subjektsposition keine eigene Theta-Rolle besitzt, wird dem direkten Objekt nicht der Objektskasus zugewiesen, oder m.a.W. ohne externes Argument wird das interne Argument zum Subjekt.

Hilfsverbverteilung | 97

Neben diesen eindeutigen Fällen gibt es Verben, die in ihrer Zugehörigkeit variabel sind (Levin/Rappaport-Hovav 1995: Kap.5). Z.B. variiert der Status von Bewegungsverben in Abhängigkeit von der Konstruktion, in der sie auftreten: Während sie generell als unergativ klassifiziert werden, weil ihr Subjekt der Urheber der Bewegung ist, sind sie in Kombination mit einer Direktionalergänzung unakkusativ. Denn bei telischer Aktionsart richtet sich der Zustandswechsel auf das Subjekt, wodurch die Ähnlichkeit zum direkten Objekt erhöht wird (näher hierzu s. 5.1.2.3). (19a)

Susan läuft.

unergativ

(19b)

Susan läuft nach Hause

unakkusativ

Unakkusativität wird traditionell als syntaktisches Phänomen verstanden, das semantisch determiniert ist (Perlmutter 1978, Levin/Rappaport-Hovav 1995), wobei umstritten ist, welche semantischen Merkmale genau eine Rolle spielen. Empirisch zu beobachten ist Unakkusativität an einer Reihe von Oberflächenkonstruktionen, den sog. „unaccusativity diagnostics“ (z.B. Alexiadou et al. 2004: 5ff.). Ausgehend von diesen Konstruktionen werden unakkusative Verben identifiziert und semantische Merkmale abgeleitet, die Unakkusativität konstituieren. Zu den prominentesten Unakkusativitätsdiagnostiken zählt die it. ne-Klitisierung (Burzio 1986: 20ff.): Das partitive Klitikon ersetzt normalerweise ein direktes Objekt (20a). Anstelle des Subjekts kann es nur bei Unakkusativen erscheinen, vgl. (20b) und (20c). (20a)

It.

(20b)

It.

(20c)

It.

Le mele, ne prendo due. Die Äpfel davon nehmen-1.Sg zwei ‘Von den Äpfeln nehme ich zwei.’ *Ne lavorano molti. Davon arbeiten-3.Pl viele ‘Viele arbeiten.’ Ne arrivano molti. Davon ankommen-3.Pl viele ‘Viele von ihnen kommen an.’ (Beispiele zitiert nach Burzio 1986: 20; Übertragung ins Deutsche MG)

98 | Forschungsüberblick und -diskussion

Als sprachübergreifende Diagnostik wird regelmäßig die Bildung des attributiven Part II angeführt: Demnach beschränkt sich das attributive Part II auf Unakkusative, Unergative bilden nur in grammatikalisierten Konstruktionen wie dem Perfekt ein Part II, s. die (c)-Belege. (21a)

It.

(21b)

It.

(21c)

It.

(22a)

Ndl.

(22b)

Ndl.

(22c)

Ndl.

(23a) (23b) (23c)

Dt. Dt. Dt.

Il partito treno Der abgefahrene Zug ‘Der abgefahrene Zug’ *La lavorata ragazza Die gearbeitete Mädchen ‘Das gearbeitete Mädchen’ La ragazza ha lavorato. Die Mädchen haben-3.Sg gearbeitet ‘Das Mädchen hat gearbeitet.’ De aangekomen brief Der angekommene Brief ‘Der angekommene Brief’ *De gelachen vrouw Die gelachte Frau ‘Die gelachte Frau’ De vrouw heeft gelachen. Die Frau haben-3.Sg gelacht ‘Die Frau hat gelacht.’ Der gestorbene Mann *Der telefonierte Mann Der Mann hat telefoniert.

Eine weitere Konstruktion, die traditionell mit Unakkusativität in Verbindung gebracht wird, ist das unpersönliche Passiv. Bereits Perlmutter (1978) geht davon aus, dass nur Unergative ein unpersönliches Passiv bilden, vgl. (24a–d). (24a) (24b) (24c) (24d)

Ndl. Dt. Ndl. Dt.

Er wordt altijd gewerkt. Es wird immerzu gearbeitet. *Er wordt altijd gestorven. *Es wird immer gestorben.

→unergativ →unergativ →unakkusativ →unakkusativ

Hilfsverbverteilung | 99

Aus diesen (und weiteren) Diagnostiken werden Telizität und fehlende Agentivität bzw. Kontrollfähigkeit als wesentliche Merkmale der Unakkusativität abgeleitet. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Arbeiten darin, welche Konstruktionen sie als Unakkusativitätsdiagnostiken ansetzen, was dazu führt, dass sie z.T. unterschiedliche semantische Merkmale ermitteln. Der folgende Abschnitt setzt sich mit diesen und weiteren Problemen der Theorie kritisch auseinander.

5.1.2.2 Methodische Probleme bei der Bestimmung von Unakkusativität Arbeiten im Bereich der Unakkusativitätstheorie zeigen eine Reihe interessanter Korrelationen zwischen Unakkusativen und passiven Konstruktionen auf. Leider sieht sich die Theorie mit einer Anzahl an Problemen konfrontiert. Dieser Abschnitt zeigt, dass diese Probleme wesentlich dem methodischen Vorgehen geschuldet sind, mit dem Unakkusativität bestimmt wird. Wie bereits erwähnt, werden in der Forschung ausgehend von Unakkusativitätsdiagnostiken wie in (20)–(24) semantische Merkmale abgeleitet, die Unakkusativität konstituieren. Problematisch ist allerdings, dass kein Konsens besteht, welche Konstruktionen genau als Unakkusativitätsdiagnostiken anzusetzen sind. Zwar gibt es Schnittmengen zwischen den einzelnen Arbeiten, doch sind sie nicht deckungsgleich.6 Zusätzlich verkompliziert wird das Bild durch die sog. „unaccusativity missmatches“ (z.B. Alexiadou et al. 2004: 8ff.). Der Terminus bezieht sich darauf, dass selbst die in der Forschung regelmäßig aufgeführten Diagnostiken teilweise unterschiedliche Verbklassen abgrenzen: Z.B. gibt es nach Zaenen (1993) Verben, die im Ndl. und im Dt. weder ein attributives Part II noch ein unpersönliches Passiv bilden, vgl. (25)–(26). Diese Verben sind also gemäß des ersten Tests unergativ, gemäß des zweiten unakkusativ. Infolgedessen ist umstritten, welche semantischen Merkmale genau für Unakkusativität relevant sind. Levin/Rappaport|| 6 Z.B. spiegelt sich Unakkusativität nach Burzio(1986) auch in Wortstellungsregularitäten des It. wieder. Demnach kann das Subjekt eines unakkusativen Verbs sowohl prä- als auch postverbal auftreten: a. Molti esperti arriveranno. b. Arriveranno molti esperti. (zitiert nach Burzio 1986: 21) Damit vergleichbar sind nach Grewendorf (1989: 26ff.) sog. split phrases im Dt., d.h. DPs deren Kernnomen ins Vorfeld verschoben wird, wobei das modifizierende Adjektiv im Mittelfeld bleibt. Diese Konstruktion sei nur bei direkten Objekten und dem Subjekt unakkusativer Verben möglich, bei unergativen hingegen ungrammatisch:a. Tassen hat sie schöne gekauft. b. Tassen sind schöne angekommen. c. *Mädchen haben dort nette gearbeitet. Nach Levin/Rappaport-Hovav (1995: Kap. 6) handelt es sich bei diesen Konstruktionen jedoch nicht um echte Unakkusativitätstests, da sie lediglich diskursfunktional motiviert seien und an der Oberflächenstruktur operierten.

100 | Forschungsüberblick und -diskussion

Hovav (1995) gehen deshalb davon aus, dass einzelne Konstruktionen auf unterschiedliche Merkmale der Unakkusativität reagieren und jeder Test nur eine Subklasse identifiziert. Aus diesem Grund sei es nicht möglich, ein einziges semantisches Kriterium zu finden, das sich alle Unakkusativen teilen. (25a) (25b) (25c) (25d) (26a) (26b) (26c) (26d)

Ndl. Ndl. Dt. Dt. Ndl. Ndl. Dt. Dt.

*De een hele tijd geduurde concert *Er werd (door het concert) een hele tijd geduurd. *Das ewig gedauerte Konzert * Es wird (von dem Konzert) ewig gedauert *De gestonken badkamer *Er wordt door de badkamer gestonken. *Das gestunkene Badezimmer *Es wird vom Badezimmer gestunken. (Ndl. Bsp. zitiert nach Zaenen 1993: 320f.; dt. Entsprechungen MG)

In der generativen Forschung ziehen die „unaccusativity mismatches“ eine große Diskussion nach sich, ob Unakkusativität tatsächlich, wie ursprünglich von Perlmutter (1978) formuliert, ein syntaktisches Phänomen darstellt, das semantisch motiviert ist (s. auch Levin/Rappaport-Hovav 1995) oder besser als rein syntaktisches bzw. rein semantisches Phänomen verstanden wird.7 Es wird deutlich, dass schon der Gegenstand der Unakkusativität an sich umstritten ist. Die genannten Probleme rühren im Wesentlichen aus dem methodischen Vorgehen, das zur Bestimmung von Unakkusativität angewandt wird. A priori wird die Existenz eines universellen Prinzips unterstellt. Da es sich um ein tiefenstrukturelles Phänomen handelt, entzieht es sich aber dem direkten empirischen Zugriff und ist nur mittelbar über bestimmte Oberflächenkonstruktionen zugänglich. Dabei bleibt unklar, was diese Konstruktionen zu Unakkusativitätsdiagnostiken qualifiziert und infolgedessen, welche Konstruktionen genau zu den Diagnostiken zählen. Aus dieser (umstrittenen) Menge an Konstruktionen werden wiederum semantische Merkmale abgeleitet, über die Unakkusativität nachträglich definiert wird. Nach Croft (2001: 31) sind diese methodischen Probleme charakteristisch für Theorien, die universelle Kategorien auf Grundlage distributioneller Merkmale identifzieren. Es entsteht regelmäßig der Eindruck, dass „the choice of criteria looks suspiciously like serving a priori theoretical assumptions“ (Croft 2001: 31).

|| 7 Den syntaktischen Ansatz vertritt v.a. Rosen (1984), den semantischen u.a. van Valin (1990).

Hilfsverbverteilung | 101

Ein alternatives Vorgehen, wäre im Vorhinein zu definieren, was Unakkusativität ist. Dabei sollten Identifikationskriterien (z.B. semantische Merkmale) festgelegt werden, die möglichst aus Sprachen mit unumstritten gespaltener Intransitivität wie dem Lakhota (vgl. Croft 1998) abgeleitet werden.8 Erst im Anschluss kann überprüft werden, ob bzw. in welchem Umfang gespaltene Intransitivität auch in den betreffenden indoeurop. Sprachen eine Rolle spielt. Da es in der vorliegenden Arbeit um die Hilfsverbverteilung geht, stellt der folgende Abschnitt Arbeiten dar, die die Hilfsverbverteilung durch Unakkusativität erklären. Das hier beschriebene methodische Vorgehen zieht sich durch die meisten dieser Arbeiten hindurch. Deshalb erfolgt die Darstellung unter Vorbehalt der hier angeführten Kritik.

5.1.2.3 Unakkusativität und Hilfsverbselektion: Ein Vergleich des Deutschen mit dem Italienischen und Niederländischen Die Hauptregel ist freylich, dass diejenigen Intransitiva, wobey das Subjekt thätig, oder doch mehr tätig als leidend gedacht werden muss, haben, diejenigen aber, wobey es leidend, oder doch mehr leidend als thätig vorgestellt wird, seyn bekommen. (Adelung: Umständliches Lehrgebäude, 823 zitiert nach Paul 1905: 161)

Darauf Hermann Paul: Diese Regel ist nicht sowohl aus den Thatsachen abstrahiert, als vielmehr a priori konstruiert. Es liegt dabei die Vorstellung zu Grunde, dass diejenigen Intransitiva, die wie die Transitiva das Perf. mit haben umschreiben, eben darum mit den letzteren eine nähere Verwandtschaft haben müssten. Die Schwierigkeiten, die sich aus der Anwendung ergaben, konnten Adelung nicht entgehen. Er suchte sich aber darüber hinweg zu helfen, oft auf eine recht gezwungene Art. Und so haben seine Anschauungen weiter fortgewirkt. […] Das hat trotz manchen richtigen Erkenntnissen im einzelnen das Durchdringen einer richtigen Gesamtauffassung verhindert. (Paul 1905: 161)

Traditionell wird die Hilfsverbselektion als eine der wichtigsten Unakkusativitätsdiagnostiken angesehen, was häufig sogar zur terminologischen Gleichsetzung führt (z.B. van Hout 2004). Nach gängiger Auffassung selegieren Unakkusative sprachübergeifend SEIN, wohingegen Unergative HABEN wählen:

|| 8 Nach Croft (1998) ist gespaltene Intransitivität im Lakhota nur durch die semantische Rolle determiniert.

102 | Forschungsüberblick und -diskussion

(27a) (27b) (27c)

It. Dt. Ndl.

(28a) (28b) (28c)

It. Dt. Ndl.

Unakkusative Il treno è partito a mezzogiorno. Der Zug ist um die Mittagszeit abgefahren. De trein is ʾs middags vertrokken. Unergative Sua madre ha lavorato per molti anni a Berlino. Seine Mutter hat viele Jahre in Berlin gearbeitet. Zijn moeder heeft jarenlang in Berlijn gewerkt.

Auch wenn Unakkusativität als universelles Prinzip verstanden wird, ist die Hilfsverbverteilung in verschiedenen Sprachen nicht deckungsgleich, sondern durch sprachübergreifende Variation gekennzeichnet. Vertreter der Unakkusativitätstheorie gehen dennoch davon aus, dass ein gemeinsames syntaktisches Prinzip zugrunde liegt. Im Folgenden wird deshalb eine sprachvergleichende Perspektive eingenommen. Der Reihe nach werden die Grundtendenzen der Hilfsverbverteilung im It., Ndl. und Dt. vorgestellt und verglichen. Am Ende jedes Abschnitts wird diskutiert, ob die Verhältnisse in den Einzelsprachen durch Unakkusativität erklärt werden können. Mit Blick auf das Dt. muss diese Frage verneint werden.

Italienisch Burzio (1986) ist der erste, der die Hilfsverbselektion in den Zusammenhang der Unakkusativität stellt. Dies scheint kein Zufall zu sein, denn gerade im It. reagiert das Perfekthilfsverb in bemerkenswerter Konsequenz auf die semantische Rolle des Subjekts.9 Hier wählen nicht nur eindeutig agentive Verben avere (29a) und eindeutig patienshafte essere (29b), sondern das Auxiliar wechselt i.d.R. sogar beim selben Verb in Abhängigkeit von der semantischen Rolle, vgl. (29c,d). (29a)

It.

(29b)

It.

(29c)

It.

La ragazza ha lavorato. ‘Das Mädchen hat gearbeitet.’ È bastato! ‘Es hat gereicht!’ Ho finito a lavorare. ‘Ich habe aufgehört zu arbeiten.’

[+ agentiv] [- agentiv] [+ agentiv]

|| 9 Im Gegensatz zu den germ. Sprachen bilden reflexive Verben im It. und Frz. ein Perfekt mit SEIN, vgl. it. Mi sono dimenticata del tuo compleanno ‘Ich habe deinen Geburtstag vergessen’.

Hilfsverbverteilung | 103

(29d)

It.

Il film è finito. ‘Der Film hat aufgehört.’

[- agentiv]

Daneben nimmt auch die Aktionsart Einfluss auf die Wahl des Hilfsverbs: Telische Verben wählen essere. Bei Bewegungsverben greift diese Regel jedoch nicht konsequent. Einige haben avere generalisiert und nehmen das Hilfsverb auch bei telischer Aktionsart (Sorace 2000: 876). Dies hängt vermutlich mit der hohen Agentivität des Subjekts zusammen. (30a)

It.

(30b)

It.

(31a)

It.

(31b)

It.

Maria ha corso velocemente. ‘Maria ist schnell gelaufen.’ Maria è corsa in farmacia. ‘Maria ist zur Apotheke gelaufen.’ Paola ha nuotato con perfetto stile. ‘Paola ist im perfekten Stil geschwommen.’ Paola ha nuotato a riva. ‘Paola ist zum Ufer geschwommen.’ (Beispiele zitiert nach Sorace 2000: 876; Übertragung ins Deutsche MG)

Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass die Hilfsverbselektion im It. v.a. durch Agentivität bzw. Kontrollfähigkeit des Subjekts, nachgeordnet durch Telizität determiniert ist. Die hohe Relevanz von Kontrollfähigkeit ist nach Croft (1998: 5055) charakteristisch für Sprachen mit gespaltener Intransitivität. Damit gibt es gute Gründe dafür, die Hilfsverbselektion im It. als Unakkusativitätsdiagnostik anzuerkennen.

Niederländisch Im Gegensatz zum It. hat die semantische Rolle des Subjekts im Ndl. keinen Einfluss auf die Distribution der Hilfsverben (Zaenen 1993, van Hout 2004: 60). Die Wahl des Perfektauxiliars geht hier ziemlich konsequent mit der Ereignisstruktur des Satzes einher, vgl. (32). Wie produktiv diese Regel im Ndl. ist, zeigt sich daran, dass Verben mit variabler Telizität das Hilfsverb in Abhängigkeit von der Satzsemantik wählen, vgl. (33). (32a)

Ndl.

(32b)

Ndl.

Het meisje is vertrokken. ‘Das Mädchen ist verschwunden.’ Het meisje heeft gelachen. ‘Das Mädchen hat gelacht.’

104 | Forschungsüberblick und -diskussion

(33a)

Ndl.

(33b)

Ndl.

Het meisje heeft gefietst. ‘Das Mädchen ist fahrradgefahren.’ Het meisje is naar huis gefietst. ‘Das Mädchen ist nach Hause geradelt.’

Aus dieser Regelmäßigkeit schließt van Hout (2004), dass Unakkusativität im Ndl. primär durch Telizität determiniert ist.10 Semantisch sei dies dadurch begründet, dass Telizität stark mit Objekthaftigkeit verbunden ist. Denn ein individuiertes direktes Objekt trägt bei fakultativ transitiven Verben regelmäßig zur Handlungsbegrenzung bei, vgl. (34c). Entsprechungen desselben Satzes ohne direktes Objekt sind hingegen atelisch, vgl. (34a,b). (34a)

Ndl.

(34b)

Ndl.

(34c)

Ndl.

Elena heeft jarenlang/*binnen een jaar (Intransitiv) geschreven. ‘Elena hat jahrelang/in einem Jahr geschrieben.’ Elena heeft jarenlang/*binnen een jaar (Obliques aan haar proefschrift geschreven. Objekt) ‘Elena hat jahrelang/in einem Jahr an ihrer Dissertation geschrieben.’ Elena heeft *jarenlang/binnen een jaar (Direktes haar proefschrift geschreven. Objekt) ‘Elena hat jahrelang/innerhalb eines Jahres ihre Dissertation geschrieben.’ (Beispiele zitiert nach van Hout 2004: 62f.; Übertagung ins Deutsche MG)

Van Hout leitet daraus ab, dass die telische Zustandsänderung eine Objektseigenschaft ist. Im intransitiven Satz betrifft diese Zustandsänderung aber das Subjekt, das dadurch einem Objekt semantisch gleicht, vgl. (35).11 Hier zeigt sich der

|| 10 Van Hout (2004) setzt Hilfsverbwahl und Unakkusativität gleich. Abgesehen von den funktional und historisch verwandten attributiven Partizipien betrachtet sie keine weiteren Konstruktionen und kommt deshalb zu dem Schluss: „a single factor plays a role in Dutch: telicity. No effects are attested for agentivity or notions such as internal versus external control.” (van Hout 2004: 60). Zur Kritik an diesem methodischen Vorgehen, vgl. Abschnitt (5.1.2.2). 11 In ihrer minimalistischen Analyse wird in der Position des internen Arguments deshalb das Merkmal Telizität überprüft.

Hilfsverbverteilung | 105

Zusammenhang von Ereignisstruktur und Unakkusativität: Die Partizipanten, die einem Zustandswechsel unterliegen, sind sich semantisch ähnlich, vgl. (35). (35a) (35b)

Er hat den Baum gefällt. Der Baum ist gefallen.

Nach Croft (1998: 50–55, 2001: 162f.) reicht das semantische Merkmal Telizität aus typologischer Perspektive allerdings nicht aus, um von gespaltener Intransitivität zu sprechen. Ihm zufolge handelt es sich deshalb im Ndl. nur um aktionale Unterschiede. Vor den Argumenten, die van Hout vorbringt, scheint die strukturelle und semantische Entsprechung von direktem Objekt und dem Subjekt telischer Intransitiva allerdings durchaus plausibel. Außerdem spielt Telizität auch im It. eine, wenn auch nachgeordnete, Rolle. Ob im Ndl. von gespaltener Intransitivität zu sprechen ist, scheint damit letzten Endes Definitionssache zu sein. Diese Frage kann nur im Rahmen einer breiter angelegten typologischen Studie beantwortet werden.12 Problematisch an van Houts Argumentation ist allerdings, dass sie ihre Beobachtungen zum Ndl. auf die gesamte Germania übertragen will, ohne sich mit weiteren germ. Sprachen zu befassen. Der folgende Abschnitt zeigt, dass bereits das eng verwandte Dt. nicht denselben Regelmäßigkeiten folgt wie das Ndl.

Deutsch Burzios Beobachtung, dass die Wahl der Perfekthilfsverben im It. Ausdruck von Unakkusativität ist, wurde auch auf das Dt. übertragen (z.B. Haider/Rindler-Schjerve 1987: 1030). Unterschiede zwischen den Sprachen wurden dabei als Idiosynkrasien verbucht. Grewendorf (1989) und Abraham (z.B. 1996) identifizieren später, ähnlich wie Zaenen (1993) und van Hout (2004) für das Ndl., Telizität als relevantes Merkmal der Unakkusativität im Dt. Die Tatsache, dass einige transitive Verben wie durchgehen oder eingehen ein sein-Perfekt bilden (z.B. Wir sind einen Vertrag eingegangen/den Vertrag durchgegangen), führt Grewendorf darauf zurück, dass es sich ausschließlich um abgeleitete Transitive handelt. Hier sei die „Analogie“ zur intransitiven Basis so stark, dass das Hilfsverb des Simpliziums

|| 12 Gegen die Unakkusativität spricht die Tatsache, dass gerade im Ndl. deutlich mehr zweistellige und sogar semantisch transitive Verben ein zijn-Perfekt bilden (Lieber/Baayen 1997, ANS 1984, Hoekstra 1999 und Gillmann 2015). Die meisten Arbeiten zur Unakkusativitätstheorie klammern diese Fälle jedoch von Anfang an aus, indem sie den Untersuchungsgegenstand auf Intransitive eingrenzen.

106 | Forschungsüberblick und -diskussion

beibehalten wird (Grewendorf 1989: 9ff.). Weniger überzeugend ist Grewendorfs Erklärung der Hilfsverbwahl atelischer Bewegungsverben wie gelaufen sein oder geflogen sein: Die Partizipien dieser Verben seien strukturell „passiv“.13 D.h. die Auxiliare haben und sein würden bei den Bewegungsverben mit verschiedenen semantischen Rollen in Verbindung gebracht: Bei gefahren sein und geflogen sein stelle sich eine Lesart ein, „according to which the subject is a passenger“ (Grewendorf 1989: 13). Leider wird diese Behauptung nicht empirisch belegt. Jüngere psycholinguistische Untersuchungen wiederlegen sie sogar (Sorace/Keller 2003, s. auch Kap. 8.3.2.3). Besser erfasst werden die semantischen Gegebenheiten durch die Erklärung von Randall et al. (2004). Sie beobachten, dass das Verb tanzen im Gegensatz zum ndl. dansen auch dann sein wählt, wenn es eine atelische Bewegung bezeichnet, vgl. (37). (35a) (35b) (36a) (36b) (37a) (37b)

Ndl. Dt. Ndl. Dt. Ndl. Dt.

He heeft urenlang op de tafel gedanst. [- telisch] Er hat stundenlang auf dem Tisch getanzt. [- telisch] He is in twee seconden de kamer in gedanst. [+ telisch] Er ist in zwei Sekunden ins Zimmer getanzt. [+ telisch] He heeft urelang door de zaal gedanst. [- telisch] Er ist stundenlang durch den Saal getanzt. [- telisch] (Beispiele in Anlehnung an Randall et al. 2004: 334f.)

(37a, b) zeigen, dass die Telizitätsregel im Dt. weniger konsequent greift als im Ndl. Nach Randall et al. (2004) ist die Hilfsverbwahl in Sätzen wie (37b) durch ein weiteres semantisches Merkmal bestimmt, das im Dt. neben Telizität syntaktische Unakkusativität determiniere: [+ Locomotion].

|| 13 Zu dieser Analyse kommt Grewendorf, indem er sich auf folgendes Zitat Hermann Pauls beruft: „Rätselhaft ist die schon im Mhd. übliche Verbindung des Part. imperfektiver Bewegungsbezeichnungen mit kommen: gegangen, gelaufen, gerannt, gesprungen, gekrochen, geschlichen, geschwommen, geflogen, geritten, gefahren u.a. Aktiv gefasst würden diese Partizipien allem was wir wissen widersprechen [= dass aktive Part II auf telische Verben beschränkt sind; MG]. Es scheint mir daher immer noch am wahrscheinlichsten, daß sie ursprünglich passivisch zu nehmen sind, und daß der Gebrauch mit dem im §327 zu besprechenden [= unpersönliches Passiv; MG] auf gleiche Linie zu stellen ist; gegangen kommen wäre dann hier eigentlich ‘kommen, so daß dabei gegangen wird’.“ (Paul 1920b: 80)

Hilfsverbverteilung | 107

Locomotion is not any kind of motion – it refers to travelling motion. Wiggling or stretching is not locomotion, nor is dancing in place. But dancing around the room […] and dancing into the room […] are both instances of locomotion. (Randall et al. 2004: 336)

Die Beobachtung, dass ein semantisches Merkmal [+ Locomotion] im Dt. sein + V-PP bedingt, ist überzeugend und lässt sich auch auf prototypischere Bewegungsverben übertragen wie gefahren sein oder geflogen sein. Unklar bleibt allerdings, warum Randall et al. (2004 dieses Merkmal als Parameter der Unakkusativität ansetzen. Bewegungssemantik spielt bei keiner weiteren Konstruktion, die als Unakkusativitätsdiagnostik gehandelt wird, eine Rolle. Auch semantisch lässt sich nicht begründen, warum atelische Bewegungsverben ein „internes Argument“ zuweisen sollen. Es handelt sich um Activities mit kontrollierendem Subjektsreferenten (Levin/Rappaport-Hovav 1995), die eine homogene, gleichbleibende Handlung denotieren. Damit weisen sie Eigenschaften auf, die typisch für Unergative sind, weshalb sie in der Forschungsliteratur einheitlich als unergativ betrachtet werden (z.B. Levin/Rappaport-Hovav 1995: 185, Alexiadou et al. 2004: 3). Somit wird schon am Beispiel der Bewegungsverben deutlich, dass sich die Hilfsverbverteilung im Dt. nicht uneingeschränkt auf Unakkusativität zurückführen lässt. Weitere Gegenargumente liefern die bereits in Kap. (5.1.1) angeführten telischen Verben mit haben-Perfekt. Interessanterweise bilden die Kognate dieser Verben im Ndl. bzw. semantisch verwandte ndl. Verben ein zijn-Perfekt: (38a) (38b) (38c) (38d) (38e) (38f)

Dt. Ndl. Dt. Ndl. Dt. Ndl.

Die Armut hat zugenommen/abgenommen. De armoed is toegnomen/afgenomen. Der Film hat angefangen. De film is begonnen. Sie hat ausgelernt. Zij is afgestudeerd. ‘Sie hat ihr Studium beendet.’

Insgesamt wird deutlich, dass die Unakkusativitätshypothese keine adäquate Erklärung für die Hilfsverbverteilung im Gegenwartsdt. bietet. Dagegen sprechen telische Intransitive mit haben-Perfekt und v.a. die große Gruppe der Bewegungsverben, die trotz atelischer Aktionsart und agentivem Subjektsrefenten sein +VPP wählen. Letztere sind eindeutig unergativ.

108 | Forschungsüberblick und -diskussion

5.1.2.4 Fazit: Unakkusativität und Hilfsverbdistribution im Italienischen, Niederländischen und Deutschen Der sprachübergreifende Vergleich hat gezeigt, dass Unakkusativität bei der Hilfsverbverteilung im It., Ndl. und Dt. eine unterschiedliche Rolle spielt. Im It. kann der Wechsel von essere und avere eindeutig als Ausdruck von gespaltener Intransitivität angesehen werden, da hier v.a. Agentivität, nachgeordnet Telizität, eine Rolle spielen. Ob man die Hilfsverbwahl im Ndl., die im Wesentlichen auf Telizität reagiert, als Unakkusativitätsdiagnostik betrachten will, scheint Definitionssache zu sein. Während Croft (1998) hier allein von aktionalen Unterschieden ausgeht, liefert van Hout (2004) plausible Argumente dafür, dass das Subjekt telischer Intransitive strukturell-semantisch dem Objekt im transitiven Satz entspricht. Im Gegenwartsdt. ist Unakkusativität dagegen eindeutig keine produktive Determinante der Hilfsverbselektion. Während Agentivität keine Rolle spielt, greift die Telizitätsregel nicht konsistent und scheint v.a. nicht mehr produktiv zu sein. Einige telische Intransitive bilden ein haben-Perfekt ohne erkennbare Tendenz zum Hilfsverbwechsel (z.B. angefangen haben/zugenommen haben). Entscheidend wird Unakkusativität von atelischen Bewegungsverben überlagert. Diese Activities mit kontrollfähigem Subjekt bilden ein sein-Perfekt, obwohl sie eindeutige Unergative sind.

5.1.3 Graduelle Modelle zur Erklärung der Hilfsverbselektion 5.1.3.1 Die Auxiliar-Selektion-Hierarchie Sorace (2011: 68) kritisiert an den vorausgehenden Arbeiten zur Unakkusativität (v.a. Levin/Rappaport-Hovav 1995), dass sie von einer strikten Binarität ausgehen. Daraus resultierten Probleme, mit sprachinterner sowie -übergreifender Varianz umzugehen. Ihr zufolge liegt jedoch auch in der Varianz eine Systematik. Um diese zu erfassen, leitet sie aus dem typologischen Vergleich der Hilfsverbselektion eine implikative Hierarchie ab, die sog. Auxiliary Selection Hierarchy (ASH) (z.B. Sorace 2000, 2004, 2011; Keller/Sorace 2003). Es handelt sich um ein Kontinuum semantischer Verbklassen, das primär durch Aktionsart, d.h. Telizität, sekundär durch die semantische Rolle des Subjekts, d.h. Agentivität, determiniert ist.14 Über graduelle Abstufungen führt es von einem maximal telischen zu einem maximal prozesshaften Pol. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass die prototypischen Pole, die sog. „core classes“, kategorisch ein bestimmtes || 14 Legendre (2007b) überführt die ASH in ein optimalitätstheoretisches Modell, dem sie statt Verbklassen semantische Merkmale zugrunde legt.

Hilfsverbverteilung | 109

Hilfsverb fordern. Variation betrifft nur den mittleren Bereich, in dem beide Merkmale schwach ausgeprägt sind. Die ASH erhebt den Anspruch, Varianz in der Hilfsverbselektion sprachübergreifend und ausnahmslos zu erfassen. Einzelsprachen unterscheiden sich demnach nur darin, an welcher Stelle des Kontinuums sie die Trennlinie zwischen HABEN- und SEIN-Selektion ziehen (s. auch Legendre 2007a, b).15 Dabei ist die Hierarchie in dem Sinne implikativ, dass Hilfsverbschwankungen mit der Entfernung von den Kernklassen zunehmen. Tabelle 17 zeigt die ASH mit ihren graduellen Stufen, die im Folgenden genauer dargestellt und diskutiert werden. Tab. 17: Die Auxiliary Selection Hierarchy nach Sorace (z.B. 2000)

Change of Location

kommen, ankommen

Change of State

sterben, trocknen, erscheinen

Continuation of State

bleiben, dauern, überleben

Existence of State

stehen, sitzen, sein

Uncontrolled Process

stinken, zittern

Manner of Motion

laufen, fahren, schwimmen

Non-Motional Controlled Process

arbeiten telefonieren

Den prototypischen SEIN-Bereich bilden die sog. change-of-location-Verben (Ortswechselverben), die maximal telisch sind, vgl. (39) (Sorace 2000: 863f., Keller/ Sorace 2003: 65). Hier zeigen Muttersprachler sprachübergreifend die stärksten Intuitionen. Weder Atelisierung des Ereignisses noch ein agentives Subjekt bewirken den Wechsel zu HABEN + V-PP. Selbst im Frz., das über den reduziertesten Bestand an SEIN-Verben verfügt, bilden alle Verben dieser Gruppe ein Perfekt mit être, vgl. (39b). Sprachen, die wie das Engl. nur ein HABEN-Perfekt grammatikalisiert haben, haben Resultativfügungen in diesem Bereich konserviert, vgl. (39e). (39a)

It.

Maria è venuta alla festa. Maria sein-3.Präs gekommen zum Fest ‘Maria ist zum Fest gekommen.’

|| 15 Sorace geht davon aus, dass weitere Unakkusativitätsphänomene derselben Gradualität folgen, weshalb sie in späteren Arbeiten von der „Split Intransitivity Hierarchy“ (SIH) (z.B. Sorace 2011) spricht. Da in dieser Arbeit die Hilfsverbverteilung im Vordergrund steht, wird die ursprüngliche Bezeichnung ASH beibehalten.

110 | Forschungsüberblick und -diskussion

(39b)

Frz.

(39c)

Ndl.

(39d) (39e)

Dt. Engl.

Marie est arrivée en retard. Marie sein-3.Präs angekommen in Verspätung ‘Marie ist zu spät gekommen.’ De brief is met de tweede post gekomen. Der Brief sein-3.Präs mit der zweiten Post gekommen ‘Der Brief kam mit der zweiten Post an.’ Der Zug ist zu spät gekommen. The Lord is come. Der Herr sein-3.Präs gekommen ‘Der Herr ist gekommen.’ (Beispiele nach Sorace 2000: 863f., Übertragung ins Deutsche MG)

Etwas weniger konsistent in ihrem Hilfsverbverhalten sind die sog. change-ofstate-Verben (Sorace 2000 864f.). Diese Gruppe umfasst alle übrigen Zustandswechselverben. Es handelt sich um inhärent telische Verben wie sterben, geboren werden oder entstehen, die ausschließlich SEIN wählen (vgl.40), aber auch um Degree Achievements wie trocknen oder wachsen mit kontextabhängiger Aktionsart (vgl. Kap. 3.1.3).16 Nach van Hout (2004) wechselt das Hilfsverb hier in Abhängigkeit von der Telizität des Satzes, vgl. (41).17 (40a)

Frz.

(40b)

Ndl.

(40c)

Dt.

Ma fille est née a cinq heures du matin. Meine Tochter sein-3. Präs um fünf Uhr vom Morgen ‘Meine Tochter ist um fünf Uhr morgens geboren.’ De leraar is plotseling gestorven. Der Lehrer sein-3. Präs plötzlich gestorben ‘Der Lehrer ist plötzlich gestorben.’ Die Zwillinge sind im April geboren.

|| 16 M.E. bleibt etwas unklar, warum die ASH innerhalb des SEIN-Prototypen zwischen changeof-location und change-of-state unterscheidet. Da Telizität als entscheidende Determinante der ASH angesetzt wird, wäre es konsistenter, zwischen inhärent telischen und fakultativ telischen Verben zu unterscheiden. Damit würden Verben wie sterben oder werden, die nach Sorace sprachübergreifend ausschließlich SEIN + V-PP wählen, ebenfalls in den prototypischen Bereich fallen. 17 Wie bereits in Kap. (5.1.1) erwähnt, geht der Hilfsverbwechsel bei den Degree Achievements z.T. mit aspektuellen Differenzen einher, vgl. Ich bin ausgeschlafen vs. Ich habe ausgeschlafen.

Hilfsverbverteilung | 111

(41a)

It.

(41b)

It.

(41c)

Ndl.

La temperatura è salita/?*ha salito improvvisamente. Die Temperatur sein/haben-3. Präs gestiegen plötzlich ‘Die Temperatur ist plötzlich gestiegen.’ Le mele sono marcite/?hanno marcito al sole. Die Äpfel sein/haben-3.Pl.Präs gefault in=der Sonne ‘Die Äpfel sind in der Sonne gefault.’ De temperatuur is/heeft 3 uurlang gestegen. Die Temperatur sein/haben-3.Präs drei Stunden=lang gestiegen ‘Die Temperatur ist drei Stunden lang gestiegen.’ (Beispiele nach Sorace 2000: 865-866; Übertragung ins Deutsche MG)

Unerwähnt bleiben bei Sorace (2000, 2004) und Keller/Sorace (2003) Ausnahmen wie zunehmen/abnehmen oder die Verben des Beginnens und Endens, die im Dt. trotz telischer Aktionsart ein haben-Perfekt bilden. Das Dt. zeigt damit bereits auf dieser Stufe eine etwas stärkere Varianz als das Ndl. In den folgenden Klassen, die traditionell als stativ klassifiziert werden, nimmt Sorace eine feiner Subdifferenzierung vor: Sie unterscheidet zwischen Verben wie bleiben oder dauern, die das Fortbestehen eines vorherigen Zustands beschreiben (sog. continuation-of-state-Verben) und reinen Zuständen wie stehen, gefallen oder existieren. Denn die continuation-of-state-Verben bezeichnen die Negation einer Veränderung und sind damit graduell telischer als einfache States (Sorace 2000: 867). Während sie im It. essere wählen, bei agentivem Subjekt jedoch auch avere erlauben (vgl.42), tendieren sie im Frz., Ndl. und Dt. zu HABEN (vgl. 43). Die einzige Ausnahme bildet in diesen Sprachen das Verb BLEIBEN (vgl. 44).18 Die sprachübergeifende Varianz führt Sorace auf den mittleren Status auf der ASH, d.h. die schwache Ausprägung von Telizität, zurück. (42a)

It.

La guerra è/?ha durata/o a lungo. Der Krieg sein/haben-3.Präs gedauert lange ‘Der Krieg hat lange gedauert.’

|| 18 Auch das ndl. Verb blijken 'sich ergeben', das Sorace zu den States zählt, sollte m.E. eher in dieser Klasse, wenn nicht sogar bei den vorausgehenden Zustandswechselverben eingeordnet werden, vgl. ndl. Het is gebleken dat […] ‘Es hat sich gezeigt/herausgestellt, dass’.

112 | Forschungsüberblick und -diskussion

(42b)

It.

(43a) (43b)

Dt. Ndl.

(44a)

Frz.

(44b)

Ndl.

(44c)

Dt.

Il presidente è/ha durato in carica due anni. Der Präsident sein/haben-3.Sg.Präs überdauert in Amt zwei Jahre ‘Der Präsident ist zwei Jahre im Amt geblieben.’ Der Wanderer hat /??ist kurz verweilt. Het concert heeft/ ??is een hele tijd geduurd. Das Konzert haben /sein-3.Sg.Präs eine ganze Zeit gedauert ‘Das Konzert hat ziemlich lange gedauert.’ Marie est restée /*a resté a la maison avec les enfants. ‘Marie ist mit den Kindern zu Hause geblieben.’ De onverwachte gast is /*heeft voor het eten gebleven. ‘Der unerwartete Gast ist zum Essen geblieben.’ Die Gäste sind /*haben am Tisch sitzen geblieben. (Beispiele nach Sorace 2000: 867f.; Übertragung ins Deutsche MG)

Dagegen fehlt Telizität bei den sog. existence-of-state-Verben vollständig. Dadurch kommt es nach Sorace (2000: 869) zu einer starken Varianz innerhalb der Klasse. Im It. überwiegt essere, was auch durch die geringe Agentivität stativer Prädikate beding sein könnte, s. (45). Dabei seien die Sprecherintuitionen allerdings schwach. Frz., Dt. und Ndl. tendieren dagegen zu HABEN, vgl. (46). (45a) (45b)

It. It.

(46a)

Frz.

(46b) (46c)

Dt. Ndl.

I dinosauri sono esistiti/ ?hanno esistito 65 milioni di anni fa. La commedia è sembrata/?ha sembrato interessante a tutti. ‘Die Komödie schien allen interessant.’ Le dinosaures ont existes/*sont existes il y a 65 millions. ‘Die Dinosaurier lebten vor 65 Millionen Jahren.’ Das Buch hat mir gefallen. Het beeldje heeft op de tafel gestaan. ‘Das Bild stand auf dem Tisch.’ (Beispiele nach Sorace 2000: 868f., Übertragung ins Deutsche MG)

Ausnahmen in den germ. Sprachen bilden das SEIN-Perfekt beim Verb SEIN sowie die bereits angesprochene, regional bedingte sein-Selektion der Positionsverben sitzen, stehen, liegen im Dt.19

|| 19 Zu ergänzen wäre die zijn-Selektion des Verbs bevallen 'gefallen' im Ndl., vgl. ndl. Dat boek is me bevallen 'Dieses Buch hat mir gefallen'.

Hilfsverbverteilung | 113

(47a) (47b)

Dt. Ndl.

Peter ist lange Zeit im Ausland gewesen. Anne is deze winter in Australië geweest. ‘Anne war diesen Winter in Australien.’ (Beispiele nach Sorace 2000: 870, Übertragung ins Deutsche MG)

Diese vier Verbklassen konstituieren die erste Hälfte der ASH, die durch graduell abnehmende Telizität und eine abnehmende Tendenz zu SEIN + V-PP charakterisiert ist. Die zweite Hälfte der ASH ist durch Agentivität und Prozesshaftigkeit bestimmt. Kontrollierte Handlungsverben wie telefonieren den HABEN-Prototyp. Das Subjekt dieser atelischen Prozesse ist nicht affiziert, weshalb sie die stärkste Agentivität unter den intransitiven Verben aufweisen.20 (48a)

It.

(48b)

Frz.

(48c)

Ndl.

(48d)

Dt.

I colleghi hanno chiaccherato tutto il pomeriggio. ‘Die Kollegen haben den ganzen Nachmittag geschwätzt.’ Les policiers ont travaillé toute la nuit. ‘Die Polizisten haben die ganze Nacht gearbeitet.’ De trompettist heeft met bolle wangen geblazen. ‘Der Trompeter hat mit aufgeblasenen Backen geblasen.’ Kurt hat den ganzen Sonntag gearbeitet. (Beispiele nach Sorace 2000: 874, Übertragung ins Deutsche MG)

Unmittelbar auf den HABEN-Prototyp folgen die sog. manner-of-motion-Verben. In semantischer Hinsicht gleichen sie der vorausgehenden Gruppe darin, dass sie eine agentive Handlung bezeichnen, die nicht zielgerichtet ist. Es handelt sich um Activities, die in Kombination mit einem Direktional eine AccomplishmentLesart annehmen (vgl. Kap. 3.1). Wie bereits erwähnt (Kap. 5.1.2.3), wechselt das Hilfsverb im Ndl. und It. in Abhängigkeit von der Aktionsart, wobei das It. eine leichte Tendenz zu avere aufweist, vgl. (49a,b). Das Frz. kennt ausschließlich avoir, vgl. (49ac). Während sich diese Sprachen damit gut in die von der ASH vorausgesagte Gradualität einfügen, durchbricht das Dt. das Muster: Auch ohne Direktional wählen die Bewegungsverben sein + V-PP, (vgl. 49d).

|| 20 Innerhalb dieser Gruppe zeigt sich besonders eindrücklich, wie stark die Hilfsverbwahl im It. durch Agentivität bestimmt ist. So ist für einige it.Sprecher essere akzeptabel, wenn ein unbelebtes Subjekt vorliegt (Sorace 2000: 874). Dies gilt insbesondere, wenn die volitionale Handlung eine Veränderung des Subjektsreferenten nach sich zieht.

114 | Forschungsüberblick und -diskussion

(49a)

It.

(49b)

Ndl.

(49c)

Frz.

(49d)

Dt.

Gli atleti svedesi hanno corso alle Olimpiadi. ‘Die schwedischen Athleten liefen bei den olympischen Spiele.’ De zwerver heeft overal gelopen. ‘Der Landstreicher ist überall herumgelaufen.’ Marie a nagé tout l'apres-midi. ‘Marie ist den ganzen Nachmittag geschwommen.’ Uschi ist den ganzen Tag gerannt/gelaufen/geschwommen. (Beispiele nach Sorace 2000: 875, Übertragung ins Deutsche MG)

Das Hilfsverbverhalten der Bewegungsverben im Dt. überrascht, da sie alle semantischen Merkmale des haben-Prototyps teilen: Wie die kontrollierten Handlungsverben denotieren sie eine atelische Handlung mit agentivem Handlungsträger. Innerhalb der ASH folgen sie deshalb unmittelbar auf den Kernbereich der haben-Selektion. Sorace (2000) und Keller/Sorace (2003) erwähnen dieses Verhalten zwar, thematisieren aber nicht die Konsequenzen, die es für die implikative Hierarchie der Hilfsverbselektion hat. Der Bruch des Kontinuums zeigt sich noch deutlicher daran, dass die folgende Gruppe im Dt. (wie auch im Ndl.) wieder ein HABEN-Perfekt bildet: Es handelt sich um unkontrollierte Prozesse wie zittern und regnen. Sorace vermutet allerdings, dass die Sprecherintuitionen in dieser semantischen Klasse weniger eindeutig sind als bei den kontrollierten Prozessen. (50a) (50b)

Dt. Ndl.

Die Opfer haben gezittert. Gisteren heeft het de hele dag geregent. ‘Gestern hat es den ganzen Tag geregnet.’

Tabelle 18 fasst das Hilfsverbverhalten in den betrachteten Sprachen vereinfachend zusammen.

Hilfsverbverteilung | 115

Tab. 18: Auxiliar-Selektion-Hierarchie im Französischen, Niederländischen, Deutschen und Italienischen (in Anlehnung an Legendre 2007a)

ASH

Französisch

Ortswechsel Zustandswechsel

Niederländ.

Deutsch

Italienisch

S

S

S

S

S/H

S/(H)

S/H

S

Andauernder Zustand

H

H

H

S

Zustand

H

H

H

S

Unkontrllierter Prozess

H

H

H

H

Bewegung

H

H

S

H

Kontrollierte Handlung

H

H

H

H

Tabelle 18 veranschaulicht erneut das Sonderverhalten der Bewegungsverben im Dt. Legendre (2007a,b) zieht in ihrer optimalitätstheoretischen Version der ASH daraus Konsequenzen. Sie setzt für das Dt. ein geringfügig anderes Ranking der Beschränkungen an als für die anderen Sprachen: „Internal Motion“ (*A/+Mo), das in ihrem Modell die Bewegungsverben von den übrigen Verben abgrenzt, befindet sich hier links vom Umschlagspunkt des Hilfsverbs, also im sein-Bereich. Sie schlussfolgert, dass die Position des Merkmals „Internal Motion“ im Gegensatz zu den übrigen Merkmalen universell variabel ist: [Internal Motion] is not universally fixed and it may be interposed into the fixed *A hierarchy […] Ranking *A/+MO [Internal Motion] (anywhere) above *E in German has the effect of overriding the violation of *E and selecting E [= sein] as the optimal auxiliary. (Legendre 2007b: 168; Ergänzungen [ ] MG)

Legendres optimalitätstheoretische Modellierung rettet zwar die Idee der graduellen Abfolge, beschreibt aber eher die Tendenzen der Hilfsverbverteilung, als dass sie sie erklärt. Alles in allem stellt die ASH eine Verbesserung gegenüber dem binären Modell der Unakkusativität dar. Die Beobachtung, dass es sprachübergreifend prototypische Bereiche für HABEN- und SEIN-Selektion gibt und es sich dabei nicht um scharf abtrennbare Gruppen, sondern um Prototypen mit gradueller Zugehörigkeit handelt, ist überzeugend. Auch die zentrale Rolle, die Telizität dabei einnimmt, kann nicht bestritten werden. Agentivität erscheint v.a. für das It. relevant. Leider berücksichtig die ASH nur intransitive Verben. Damit werden zweistellige und transitive Verben mit SEIN-Perfekt, wie sie besonders im Ndl. auftreten (z.B. 1984), nicht erfasst.

116 | Forschungsüberblick und -diskussion

Das größte Problem der ASH ergibt sich jedoch daraus, dass sie, ähnlich wie die Unakkusativitätstheorie, den Anspruch erhebt, Hilfsverbselektion ausnahmslos als universelles Phänomen zu erklären. Erstens erscheint die empirische Grundlage mit vier zugrunde liegenden (und zudem historisch verwandten) Sprachen zu schwach, um von Universalien zu sprechen. Zweitens hat sich gezeigt, dass v.a. das Verhalten der Bewegungsverben im Dt. das implikative Modell stört. Diese Verben wählen sein + V-PP, obwohl sie dicht am HABEN-Prototyp liegen. Die universellen Erklärungen greifen damit nur bis zu einem gewissen Grad. Sowohl die ASH als auch Legendres optimalitätstheoretische Version der Hierarchie berücksichtigen allein semantische Merkmale. Damit wird zwar vorausgesagt, in welchen semantischen Klassen Variation auftreten kann, jedoch nicht erklärt, warum bestimmte Verben abweichen: Warum bilden z.B. BLEIBEN und SEIN im Dt. und Ndl. ein SEIN-Perfekt, obwohl innerhalb der continuation-ofstate bzw. existence-of-state-Verben ansonsten HABEN + V-PP bevorzugt wird? Dass Semantik nicht die einzige Erklärung bilden kann, wird u.a. daraus ersichtlich, dass Verben des SEIN-Prototyps auch dann SEIN + V-PP wählen, wenn sie atelisch gebraucht sind. In Kap. (5.2) wird dafür argumentiert, auch gebrauchsbasierte Mechanismen wie Frequenz und Analogie zur Erklärung der Hilfsverbverteilung heranzuziehen.

5.1.3.2 Der sprachübergreifende kognitive Ansatz: Zwischen Transitivität und Mutativatität Ähnlich wie Sorace kritisiert auch Shannon (z.B. 1990, 1993) die strikte Binarität der Unakkusativitätstheorie. Alternativ entwirft er ein Prototypenmodell (in Anlehnung an Lakoff 1987), das sowohl die synchrone Variation der Hilfsverben als auch deren diachrone Entwicklung erfassen soll. Anders als die ASH berücksichtigt das Modell auch transitive Sätze. Es beruht auf der Grundannahme, dass prototypisch transitive Sätze HABEN selegieren (51a), prototypisch mutative dagegen SEIN (51b). (51a) (51b)

Der Vater hat die Fenster sauber gewischt. Das Haus ist eingestürzt.

→transitiv →mutativ

Shannons kognitivem Ansatz liegt Hopper/Thompsons (1980) Modell der semantischen Transitivität zugrunde, demzufolge sich die Transitivität eines Satzes aus einem Bündel von zehn binären Merkmalen ergibt (s. Kap. 3.4). Je mehr der semantischen Merkmale (s. zweite Spalte Tabelle 19) erfüllt sind, desto transitiver ist der Satz. Bei maximaler Ausprägung liegt prototypische Transitivität vor. Als

Hilfsverbverteilung | 117

zweiten Prototypen führt Shannon die semantische Mutativität ein (s. vierte Spalte Tabelle 19).Während Transitivität von Hopper/Thompson (1980: 279) als “the effective carrying over of an activity from an A to a patient” beschrieben wird, definiert Shannon Mutativität als „the effective change in the patient subject“ (Shannon 1993: 133). Mutativität ergibt sich aus dem gleichen Set binärer Eigenschaften, die jedoch nicht einfach den Gegenwert der Transitivitätsmerkmale aufweisen. Vielmehr entsprechen die mutativen Eigenschaften sogar großenteils den transitiven. Unterschiede betreffen lediglich die Merkmale, die sich auf die Partizipanten beziehen: Ein mutativer Satz weist nur einen Partizipanten zu, der sich bestenfalls durch fehlende Agentivität und Volitionalität auszeichnet. Was aktionale und modale Eigenschaften anbelangt, stimmen Transitivität und Mutativität sogar überein: Im prototypischen Fall handelt es sich um dynamische Ereignisse, die einen punktuellen Zustandswechsel beschreiben und weder hypothetisch noch negiert sind. Tab. 19: Das Prototypenmodell der Auxiliarselektion nach Shannon (1990, 1993)

High Transitivity

Low Transitivity

High Mutativity

participants

2 or more (A and O)

1 participant

1 participant

kinesis

action

nonaction

action (event)

aspect

telic

atelic

telic

punctuality

punctual

nonpunctual

punctual

volitionality

volitional

nonvolitional

nonvolitional

affirmation

affirmative

negative

affirmative

mode

realis

irrealis

realis

agency

A high in potency

A low in potency

A low in potency

affectedness of O

O totally affected

O not affected

O (= A) totally affected

individuation of O

O highly individuated

O non individuated

O (= A) highly individuated

Für beide Konzepte ist die Affiziertheit eines Partizipanten relevant: Im transitiven Satz bewirkt das Agens einen Zustandswechsel des direkten Objekts, im mutativen unterliegt das Subjekt einer Veränderung ohne äußere Einwirkung. Die affizierte Größe ist also einmal das syntaktische Objekt, das andere Mal das Subjekt.

118 | Forschungsüberblick und -diskussion

Ein Satz mit einem stativen Prädikat unterscheidet sich dagegen in maximaler Ausprägung von beiden Prototypen (vgl. mittlere Spalte in Tabelle 19). In diesen Fällen greift der Default mit HABEN, s. (52). (52)

Der Mann hat jahrelang in einem Zelt gewohnt.

Shannons kognitives Modell zielt nicht nur auf die Hilfsverbdistribution im synchronen Sprachsystem, sondern auch auf deren diachrone Entwicklung: Historisch sollen die Konstruktionen mit HABEN und SEIN von den jeweiligen Prototypen ausgehen und in die weniger eindeutigen Bereiche vordringen. Shannon sieht diese Annahme in vorausgehenden Arbeiten zum Ahd. bestätigt: Diese zeigen, dass habēn + V-PP zunächst nur in transitiven Sätzen vorkommt (z.B. Paul 1905, Grønvik 1986). In diesen Arbeiten wird allerdings keine Unterscheidung zwischen semantischer und syntaktischer Transitivität getroffen. Dass das Prototypenmodell die diachrone Entwicklung wiederspiegelt, sieht Arnett (1997) im Heliand bestätigt. Ihre Korpusuntersuchung zeigt, dass in dem as. Epos alle transitiven Ereignisse in der hebbian-Konstruktion auftreten. Allerdings ermittelt sie keinen Unterschied zwischen semantischer und syntaktischer Transitivität: Nahezu alle Sätze mit einer Akkusativ-, Genitiv- oder Dativergänzung weisen hebbian + V-PP auf. Darüber hinaus tendierten auch intransitive Sätze mit agentivem Subjekt zu hebbian. Der mutative Prototyp neige dagegen stark zu uuesan + V-PP, jedoch kommen auch vereinzelt Belege mit hebbian + VPP vor (genauer zum As. s. Kap. 5.3.4 unf 6.5–6.6). Weitere empirische Evidenz für das Prototypenmodell in der diachronen Entwicklung bietet Coussé (2013, 2014), die eine Kollostruktionsanalyse der Konstruktionen hebben + V-PP und sijn + V-PP im Mndl. durchführt. Während hebben + V-PP im 13. und 14. Jhdt. vornehmlich mit den semantisch transitiven Verben des Besitzwechsels auftritt, breitet es sich ab dem 15. Jhdt. zunehmend auf Verba Dicendi und Sentiendi sowie auf Besitzverben aus, die sich durch schwächere Transitivität auszeichnen. Ab dem 16. Jhdt. kommt die Konstruktion sogar mit transitiven Activities vor. Nach Coussé verläuft auch die Expansion von sijn + VPP konsistent mit Shannons Modell: Während die Konstruktion im 13. Jhdt. ausschließlich bei mutativen Ereignissen vorkommt, breitet sie sich ab dem 14. Jhdt. zunehmend auf Ereignisse mit schwächerem Mutativitätsgrad aus. Dabei folgt die Ausbreitung den graduellen Stufen der ASH (vgl. Kap. 5.1.3.2): Zunächst verbindet sich die Konstruktion nur mit telischen Verben, später vereinzelt mit continuation-of-state-Verben und schließlich auch mit dem Zustandsverb sijn.

Hilfsverbverteilung | 119

Somit wurde bereits empirisch belegt, dass Shannons Prototypenmodell bei der diachronen Expansion der Konstruktionen eine Rolle spielt. Interessant wäre zu überprüfen, ob die Konstruktion mit HABEN im Ahd. nur bei semantisch oder, wie im As., auch bei syntaktisch transitiven Sätzen vorkommt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die ursprüngliche Beschränkung auf die beiden Prototypen funktional motiviert ist (näher hierzu s. Kap. 6 und 7). Shannons Ansatz entspricht der traditionellen Sichtweise (vgl. Kap. 5.1.1), mit dem Unterschied, dass er rein semantisch fundiert ist und explizit von einer graduellen Ausprägung ausgeht. Mit der Unakkusativitätstheorie teilt er die Ansicht, dass das Subjekt im mutativen Satz dem Objekt im transitiven Satz entspricht. Jedoch geht er nicht von einer tiefenstrukturellen Basiskonfiguration aus, sondern von einer semantischen Fundierung. Das Prototypenmodell hat außerdem den Vorteil, dass es auch die Auxiliarwahl von Transitiven berücksichtigt. Dabei belässt es Shannon nicht bei der reinen Dichotomie, sondern berücksichtigt neben den zentralen Bereichen auch peripherere Fälle, für die er einen Default ansetzt. Ähnlich wie die ASH geht der kognitive Ansatz von einer Stufung aus. Diese besteht aber nicht in einer feingliedrigen Auffächerung semantischer Verbklassen, sondern ergibt sich eher aus dem Transitivitätskontinuum. Vielversprechend ist deshalb Coussé (2014), die Soraces graduelle Telizität mit Shannons Prototypenansatz verbindet. Ähnlich wie die Unakkusativitätstheorie will der kognitive Ansatz universelle Aussagen über alle germ. und roman. Sprachen mit Hilfsverbalternanz treffen. Sprachübergreifende Unterschiede sollen dabei durch die Gradualität des Modells erfasst werden. Da das Prototypenmodell im Gegensatz zur ASH keine implikativen Stufen aufweist und sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher semantischer Faktoren ergibt, ist es in seinen Vorhersagen zwar etwas unpräziser, deckt dadurch aber mehr Fälle sprachübergreifender Varianz ab. Z.B. lässt sich der Einfluss von Agentivität im It. darauf zurückführen, dass ein Satz mit agentivem Subjekt einem transitiven Ereignis ähnlicher ist. Umgekehrt wird aber der sog. Irrealis-Effekt, d.h. das Phänomen, dass SEIN-Verben in den historischen Sprachstufen einiger germ. und roman. Sprachen im nicht-indikativischen Modus zu HABEN wechseln (näher hierzu Kap. 5.1.4.1), durch geringe Transitivität erklärt: Denn der nicht-indikativische Modus schwächt sowohl Transitivität als auch Mutativität, weshalb in diesen Fällen der Default mit HABEN greift.21 Allerdings bietet das kognitive Modell keine Erklärung dafür, warum verschiedene

|| 21 Es ist etwas kontraintuitiv, dass in einigen Fällen die Schwächung von Transitivität, in anderen ihre Stärkung zur HABEN-Selektion führt. Dies liegt daran, dass HABEN + V-PP einerseits

120 | Forschungsüberblick und -diskussion

Sprachen für unterschiedliche Aspekte der Transitivität sensitiv sind (z.B. It. für Agentivität, Ndl. für Modus). Auch ist nicht klar, was die beiden Prototypen letztendlich motiviert. An seine Grenzen stößt der Ansatz bei vollkommener Abweichung von den Prototypen: Hierzu zählt z.B. die lexemabhängige haben-Selektion bestimmter Mutativa im Dt. (z.B. abnehmen/zunehmen, aufhören/anfangen/enden) oder die zijn-Selektion bestimmter transitiver Verben im Ndl. (vgl. Ndl. Hitler is de oorlog begonnen ‘Hitler hat den Krieg begonnen.’). Auch für das typologische Sonderverhalten der Bewegungsverben im Dt. bietet das Prototypenmodell keine Erklärung. Erneut zeigt sich, dass eine universelle Erklärung, die das Hilfsverbverhalten unterschiedlicher Sprachen auf dieselben Prinzipien zurückführen will, entscheidende Fälle sprachspezifischer Varianz nicht abdecken kann.

5.1.3.3 Das sprachspezifisches Prototypenmodell Ausgehend vom kognitiven Ansatz Shannons entwerfen Hinze/Köpcke (2007) ein Prototypenmodell speziell für die Hilfsverbselektion im Dt., das sie mit einem Fragebogentest bei Grundschülern überprüfen.22 Sowohl die empirische Untersuchung als auch das theoretische Modell beruhen auf Beobachtungen zu den Bewegungsverben, die aufgrund ihrer „uneindeutige[n] Merkmalsausprägung“ (Hinze/Köpcke 2007: 98) besonders geeignet seien, um Gradualität abzubilden. Das Prototypenmodell besteht aus zwei sich überlagernden Kontinua, die auf den graduellen Merkmalen Patientivität und Telizität (in ihrer Terminologie „Resultativität“) beruhen. Dabei ist Kontinuum I durch Direktionalität bzw. Patientivität der zweiten Ergänzung charakterisiert vgl. Abbildung 28.

|| durch den transitiven Prototypen determiniert ist, andererseits aber den Default bildet, der bei schwacher Merkmalsausprägung greift. 22 Ihr Experiment besteht aus einem Fragebogentest, der von Grundschülern der Jahrgangsstufen 3 bis 5 bearbeitet wurde. In die Untersuchung flossen insgesamt 104 Fragebögen mit ein.

Hilfsverbverteilung | 121

sein

haben

Peter _ von Hannover nach München gefahren.

Michael _ die Strecke auch bei Regen gefahren.

Der Millionär _ einen Ferrari gefahren.

Der Pilot _ die Hilfsgüter nach Indien geflogen.

94% sein A1

66% sein C3

50% sein B2

11% sein B1

Abb. 28: Der Einfluss graduell variierender Patientivität auf die Auxiliarwahl (Kontinuum I in Anlehnung an Hinze/Köpcke 2007: 127, vereinfacht)

Den prototypischen sein-Bereich bilden Ereignisse, die ein eindeutiges Direktional enthalten (nach Hause laufen), den prototypischen haben-Bereich Sätze mit einem Objekt, das selbst eine Ortsveränderung erfährt und damit in den zentralen Patiensbereich gehört (die Hilfsgüter nach Indien fliegen). In diesen prototypischen Kontexten greifen die Grundschüler in 94% zu sein + V-PP (A1) bzw. in 89% zu haben + V-PP (B1). Graduelle Zwischenstufen bilden Ergänzungen im Akkusativ, die eine räumliche Erstreckung bezeichnen und damit einer Direktionalergänzung semantisch ähnlicher sind (C3), sowie weitere Objekttypen (B2). Das zweite Kontinuum beruht dagegen auf aktionalen Eigenschaften des Ereignisses und reicht vom telischen („resultativen“) zum atelischen („durativen“) Pol. Dabei ist der prototypische sein-Bereich deckungsgleich mit dem aus Kontinuum I: Es handelt sich um die eindeutige Accomplishment-Verwendung der Bewegungsverben, die durch eine Direktionalergänzung explizit telisiert sind (A1). Den haben-Prototyp bilden dagegen Activities wie tanzen, welche außerhalb eines Fortbewegungskontexts verwendet werden (B1). Hinze/Köpcke (2007: 113) ermitteln in diesen Sätzen ein haben-Übergewicht von 92%. Zwischen den beiden Polen siedeln sie Verben an, die zwar eine Fortbewegung bezeichnen, die Handlung aber in ihrer Dauer fokussieren (C1, C2, C4). Die Autoren nehmen an, dass diese Ereignisse durch eine graduelle Abnahme von Telizität charakterisiert sind, s. Abbildung 29.

122 | Forschungsüberblick und -diskussion

sein

haben

Peter _ von Hannover nach München gefahren.

Der Fahrer _ 12 Stunden ohne Unterbrechung gefahren.

Der Großvater _ mehrere Kilometer gehumpelt.

Patrick _ durch den Saal Tango getanzt.

Patrick _ früher sehr gerne getanzt.

94% sein A1

84% sein C1

50% sein C2

51% sein C4

8% sein B3

Abb. 29: Der Einfluss graduell variierender Telizität auf die Auxiliarwahl (Kontinuum II in Anlehnung an Hinze/Köpcke 2007: 128, vereinfacht)

Während die Beobachtung, dass sich die Patienshaftigkeit einer zweiten Ergänzung auf die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben auswirkt, überzeugend ist, sind die Schlussfolgerungen, die aus den intransitiv gebrauchten Bewegungsverben gezogen werden, problematisch. Denn Kontinuum II beruht auf der Grundannahme, dass Bewegungsverben inhärent telisch seien: […] dass die Bewegungsverben auch in der Verwendung ohne Direktional offenbar resultativ [= telisch] interpretiert werden können, was nichts anderes bedeutet, als dass das semantische Merkmal „resultativ“ in der Bedeutungsstruktur des Verbs immer noch vorhanden ist, wenn auch mangels oberflächensyntaktischer Repräsentanz weniger stark ausgeprägt. Die Bewegungsverben sind gewissermaßen notwendig (inhärent) resultativ; in den spezifischen Verwendungskontexten variiert lediglich die Gewichtung dieses Merkmals“. (Hinze/Köpcke 2007: 102f., Ergänzungen [ ] MG)

Unklar bleibt jedoch, warum die Sätze Der Fahrer ___ 12 Stunden ohne Unterbrechung gefahren oder Der Großvater __ mehrere Kilometer gehumpelt telischer sind als Patrick ___ durch den Saal Tango getanzt. Insgesamt scheint sich das Modell stark an Parametern zu orientieren, die durch Arbeiten mit universellem Anspruch vorgegeben sind. Alle graduellen Ansätze beziehen allein semantische Merkmale mit ein. Deshalb wird v.a. das Sonderverhalten der Bewegungsverben im Dt. nicht erfasst. In Kap. (5.2) wird dafür argumentiert, dass gebrauchsbasierte Einflussfaktoren und

Hilfsverbverteilung | 123

Mechanismen wie Frequenz und Analogie die Modelle gewinnbringend ergänzen könnten.

5.1.4 Funktionale Unterschiede zwischen haben + V-PP und sein + V-PP? Einige Arbeiten gehen von funktionalen Unterschieden zwischen den Konstruktionen mit HABEN und SEIN aus. Dabei wird angenommen, dass SEIN + V-PP im Gegensatz zu HABEN + V-PP kein Perfekt, sondern ein Resultativ ist. Diese Hypothese wird einmal in Bezug auf die historischen Vorstufen einiger europ. Sprachen vertreten. Als indirektes Indiz dafür, dass die Form nicht grammatikalisiert ist, wird der sog. Irrealis-Effekt angeführt, der in (5.1.4.1) im Zusammenhang mit dieser Diskussion vorgestellt wird. Zum anderen wird vereinzelt die Meinung vertreten, dass sein + V-PP auch im Gegenwartsdt. allein eine resultative Konstruktion darstellt. Diese Hypothese wird in Abschnitt (5.1.4.2) diskutiert.

5.1.4.1 Der Irrealiseffekt In den Vorstufen einiger europ., besonders germ. Sprachen wechselten Verben mit regulärem SEIN-Perfekt im nichtindikativischen Modus zu HABEN + V-PP. Dieser sog. Irrealis-Effekt findet sich z.B. im Mndl. (Shannon 1995: 138ff.), im Me. (McFadden/Alexiadou 2010 u.a.), im Nordgerm. (Larsson 2009) und im Altspan. (z.B. Rosemeyer 2014). Er betrifft alle Arten von Sätzen, die ein hypothetisches Geschehen bezeichnen, vgl. (53a–c). Dagegen zeigt weder das Mhd. noch das Fnhd. eine Tendenz zum modusbedingten Auxiliarwechsel (vgl. auch Sapp 2011: 41f.); sîn + V-PP tritt auch im irrealen Satz auf, vgl. (53d). (53a)

Mndl.

(53b)

Me.

daer brac dat pert inden ijs, so dat hi bi na verdrenckt hadde. ‘Da brach das Pferd in das Eis ein, sodass es beinahe ertrunken wäre.’ (zitiert nach Kern 1912: 267, Übersetzung MG) and if they had come sooner, they could haue holpen them. ‘und wenn sie früher gekommen wären, hätten sie ihnen helfen können.’ (Giff,G3V.246, zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010:395)

124 | Forschungsüberblick und -diskussion

(53c)

Me.

(53d)

Me.

And he . . .will wish he had with the poore peoples children gon barefoot. ‘Und er wird sich wünschen barfuß gegangen zu sein mit den Kindern armer Leute.’ (Locke,35.46, zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010: 395) enwære er niht schiere den sînen ze helfe komen, si müesten schaden hân genomen ‘Wäre er nicht schnell den Seinen zu Hilfe gekommen, hätten sie Schaden nehmen müssen.’ (Erec 2657–2660)

McFadden/Alexiadou (2010) und Larsson (2009) führen den modusbedingten Auxiliarwechsel im Engl. und Schwed. auf einen Funktionsunterschied der Konstruktionen mit HABEN und SEIN zurück: Demnach fungierte nur HABEN + V-PP als Präsensperfekt, SEIN + V-PP war dagegen immer resultativ, vgl. (54a,b). Diese funktionalen Unterschiede manifestierten sich u.a. darin, dass die Konstruktion mit SEIN nicht mit Temporaladverbialen der (nahen) Vergangenheit kombiniert wurde, vgl. (54). (54a)

(54b)

Me.

For his tyme was not come to dyen.

Me.

‘Denn seine Zeit zu sterben war nicht gekommen/da.’ (WycSer,I,414.3405, zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010: 396) Sence I came to ye Tower her hath com to or 3 frends ‘Seit ich zu dem Turm kam, sind 2 oder 3 Freunde gekommen.’ (EHat,2,158.60, zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010: 403)

Nach McFadden/Alexiadou (2010) und Larsson (2009) ergibt sich der Irrealis-Effekt als indirekte Folge dieser Funktionsunterschiede. Denn das periphrastische Perfekt spielt im nicht-indikativischen Modus eine besondere Rolle bei der Markierung der Vorzeitigkeit. Infolge der Enttemporalisierung der konjunktivischen Präteritalformen, die ab dem 9.Jh. einsetzte (Schrodt 2004: 131, Petrova 2008), stellt der synthetische Konjunktiv in den germ. Sprachen keinen Vergangenheitsbezug mehr her. Sätze wie in (55) bezeichnen trotz des Präteritalstamms ein gegenwärtiges hypothetisches Geschehen. Um Vorzeitigkeit zu markieren, muss zur periphrastischen Perfektform gegriffen werden (56).

Hilfsverbverteilung | 125

(55a) (55b)

Engl. Dt.

(56a) (56b)

Engl. Dt.

Gegenwart If I owned a car, I would drive to Vegas. Wenn ich ein Auto besäße, würde ich nach Las Vegas fahren. Vergangenheit If I had owned a car, I would have driven to Vegas. Wenn ich ein Auto besessen hätte, wäre ich nach Las Vegas gefahren. (Engl. Beipiele zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010: 413)

Da die Konstruktion mit SEIN in der engl. und schwed. Sprachgeschichte nur das Resultat des Geschehens, nicht aber das vergangene Ereignis bezeichnete, wurde im Irrealis zu HABEN + V-PP gewechselt, wenn das Geschehen im Verlauf betrachtet wurde. Dies erklärt das große Übergewicht der Formen im nichtindikativischen Modus. Nach dieser Erklärung bietet der Irrealis-Effekt also ein indirektes Indiz dafür, dass die Konstruktion mit HABEN, aber nicht die Konstruktion mit SEIN zum Präsensperfekt grammatikalisiert war. Für das Ausbleiben der Grammatikalisierung sprechen auch frequentielle Gegebenheiten: McFadden/Alexiadou (2010: 415) zeigen, dass die Gebrauchsfrequenz von be + V-PP diachron konstant (und damit vergleichsweise niedrig) bleibt, wohingegen der Gebrauch von have + V-PP signifikant zunimmt. Langfristig führte dies zum nahezu vollständigen Schwund der Konstruktion mit be. Dass der Irrealis-Effekt auch im Mndl., nicht aber im Mhd. existierte, legt nach dieser Erklärung nahe, dass die Grammatikalisierung von SEIN + V-PP im Süden des Kontintentalwestgerm. einsetzte. Im Norden müsste die Opposition zwischen SEIN-Resultativ und HABEN-Perfekt länger bestanden haben. Demnach wäre zu erwarten, dass sich dieselbe Opposition auch in den hier untersuchten altgerm. Sprachen zeigt. Alles in allem zeigt sich, dass der Irrealiseffekt, d.h. der regelmäßige Wechsel von SEIN + V-PP zu HABEN + V-PP im Konjunktiv, mit Grammatikalisierung zusammenhängt. Während er traditionell auf die Expansion des HABEN-Perfekts zurückgeführt wird, sehen McFadden/Alexiadou (2010 u.a.) und Larsson (2009) in ihm einen indirekten Hinweis für die fehlende Grammatikalisierung von SEIN + V-PP. Die Konstruktion sei in den historischen Sprachstufen des Engl. und Schwed. allein ein Resultativ.

126 | Forschungsüberblick und -diskussion

5.1.4.2 sein + V-PP und haben + V-PP als unterschiedliche Kategorien? Leiss (1992) und später Teuber (2005) bestreiten sogar für das Gegenwartsdt., dass haben + V-PP und sein + V-PP eine einheitliche Kategorie bilden, und sprechen den Konstruktionen einen unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrad zu. Vergangenheitsfunktion erkennen sie nur haben + V-PP zu. Die Konstruktion, die traditionell als sein-Perfekt bezeichnet wird, gruppiert sich dagegen nach Leiss zusammen mit dem Zustandspassiv zu einer resultativen Konstruktion. Teuber geht sogar noch einen Schritt weiter bzw. formuliert Leiss’ Hypothese konsequenter aus: Ihm zufolge handelt es sich in beiden Fällen um eine Kopulakonstruktion. Demnach sähen kompetente Sprecher des Dt. keinen Unterschied zwischen folgenden Konstruktionen: (57a) (57b) (57c)

Das Haus ist eingestürzt. Das Haus ist rot gestrichen. Das Haus ist rot.

Leiss’ Argumentation geht vornehmlich von der ausdrucksseitigen Übereinstimmung der Konstruktionen in (57a) und (57b) aus, von der sie auf eine funktionale Identität schließt (Leiss 1992: 156). Es sei wenig sinnvoll, zwei Formen für das Perfekt anzusetzen. Teuber beruft sich v.a. auf die fehlende Ausweitung der Argumentstruktur, denn für ihn bildet der „Verlust der Argumentstruktur“ (Teuber 2005: 81) den maßgeblichen Indikator für eine Grammatikalisierung. Deshalb sei „die Frage, was als komplexe Wortform ins Paradigma gehör[e] und was nicht, vergleichsweise leicht empirisch überprüfbar“ (ebd.). Die Grammatikalisierung von haben + V-PP erkenne man v.a. daran, dass sich die Konstruktion auch mit intransitiven Verben verbindet. Dagegen hat sich sein + V-PP nicht auf transitive Verben ausgeweitet, weshalb er eine Grammatikalisierung ausschließt. Beide Analysen basieren auf der Prämisse, diachron habe keine Extension von sein + V-PP auf atelische Ereignisse stattgefunden. Leiss erwähnt atelische Verben nur in Verbindung mit der stativen Lesart, die Litvinov/Nedjalkov (1988: 31 u. 61–78) als „Quasi-Resultativ“ (vgl. Kap. 4.3.1) bezeichnen (z.B. Die Stadt ist von Feinden umgeben). Da diese Verwendungen mit dem Resultativ „alle Merkmale teilen, mit Ausnahme des Merkmals des Nachzustands, […] [sind sie] inhaltlich ähnlich“ (Leiss 1992: 185f.) und damit unproblematisch für ihre These. Teuber behauptet sogar, die aktive Konstruktion mit sein könnte ausschließlich mit Partizipien gebildet werden, die auch in attributiver Position vorkommen

Hilfsverbverteilung | 127

(58a,b). Das Partizip verhalte sich somit wie ein prädikatives Adjektiv (58c), weshalb eine kompositionelle Analyse vorzuziehen sei.23 (58a) (58b) (58c)

Das Haus ist eingestürzt. Das Haus ist gebaut. Das Haus ist rot.

> Das eingestürzte Haus > Das gebaute Haus > Das rote Haus

Die Argumentation von Leiss und Teuber wirkt auf den ersten Blick schlüssig, hält einer näheren Prüfung jedoch nicht stand. Zunächst fehlt den gewagten Thesen beider Autoren die empirische Fundierung. So kritisiert Thieroff, dass Leissʾ Thesen „unbewiesen im Raum stehen [bleiben]“ (2007: 172). Überdies ist es methodisch problematisch, wie Leiss von der Form auf die Funktion zu schließen. Funktionale Eigenschaften sollten aus Kontextmerkmalen, die zur Vereindeutigung der temporal-aspektuellen Semantik beitragen, abgeleitet werden. Nach Leiss (1992) spräche gegen eine Klassifizierung von sein + V-PP als Tempus, dass die Konstruktion nur bei bestimmten Intransitiven vorkommt. Es habe „exotische Qualität“ (Leiss 1992: 165), eine Tempusform nur für intransitive Verben anzusetzen. Noch exotischer erscheint jedoch die aus ihrer Kategorisierung folgende Konsequenz, dass eine bestimmte Gruppe von Verben eine Tempusform, nämlich das Perfekt, gar nicht bildet – zumal sich diese Tempusform im Zuge des Präteritumschwunds gegenwärtig zum alleinigen Vergangenheitsmarker entwickelt. Sollten haben + V-PP und sein + V-PP tatsächlich zu unterschiedlichen Kategorien zählen, wäre bei jedem Verb, das in der sein-Konstruktion vorkommt, eine parallel existierende Form mit haben zu erwarten, wie z.B. Engl.: (59a) (59b)

Engl. Engl.

He is gone. He has gone.

Resultativ Perfekt

|| 23 Aufgrund seines deverbalen Charakters handele es sich jedoch nicht um ein prototypisches Adjektiv, weshalb es weder in attributiver noch in prädikativer Position komparierbar bzw. mit un- präfigierbar sei: a. *Das Kind ist eingeschlafener > *Das eingeschlafenere Kind b. *Das Haus ist gebauter

> *Das gebautere Haus

a. *Die Ausstellung ist uneröffnet.> *Die uneröffnete Ausstellung b. *Das Kind ist uneingeschlafen. > *Das uneingeschlafene Kind Zwar findet er einige Beispiele, in denen die un-Präfigierung auch beim Part II möglich ist, auffällig ist dabei jedoch, dass es sich ausschließlich um Formen der passiven Konstruktion handelt, die seine These nicht stützen:Die Bücher auf dem Stapel sind ungelesen. >Die ungelesenen Bücher

128 | Forschungsüberblick und -diskussion

(60a) (60b)

Dt. Dt.

Drei Tage sind vergangen. *Drei Tage haben vergangen.

Bei Teuber greift hingegen die Gleichsetzung von Grammatikalisierung und argumentstrukturellem Wandel zu kurz. Wie in Kap. (2.4–2.8) gezeigt, besteht Grammatikalisierung in der funktionalen Uminterpretation einer Konstruktion, die sich zu einem neuen, grammatisch(er)en Form-Bedeutungspaar entwickelt. Damit kann ein Wandel der Argumentstruktur einhergehen, dies ist jedoch keine notwendige Bedingung und lässt sich keinesfalls als Hauptindikator werten. Neben dem Verlust von Kompositionalität besteht die funktionale Uminterpretation bei sein + V-PP und haben + V-PP in einer Verlagerung des temporalen Fokus, der sich vom Resultat auf das vorausgehende Ereignis verschoben hat (vgl. Kap. 4). Im Gegensatz zum Zustandspassiv bzw. einer reinen Kopulakonstruktion sind heute sowohl haben + V-PP als auch sein + V-PP mit einem Temporaladverbial der definiten Vergangenheit kombinierbar (s.61, vgl. auch Thieroff 2007: 172). Daran ist zu erkennen, dass bei beiden Konstruktionen eine Fokusverlagerung stattgefunden hat. (61a,b) ist deshalb weder ein Resultativ noch eine Kopulakonstruktion. (61a) (61b) (61c) (61d)

Haus hat gestern offen gestanden. Das Haus ist gestern eingestürzt. *Das Haus ist gestern gestrichen. *Das Haus ist gestern gelb.

Die gesamte Argumentation steht und fällt mit der Annahme, dass sein + V-PP allein telische Verben erlaubt. Wie bereits in Kap. (5.1.1) gezeigt, bilden bestimmte States wie in (62a) und (62b) und sogar Activities wie in (62c) ein seinPerfekt (ähnlich s. Gillmann 2011, Kotin 2014: 33). In allen diesen Fällen ist allein die Perfekt- bzw. Vergangenheitslesart zulässig. (62a) (62b) (62c)

Die Frau ist Staatssekretärin gewesen. Sie ist dort geblieben. Sie ist absichtlich langsam geschwommen.

Unter Berücksichtigung dieser Verbgruppen erweist sich auch Teubers Behauptung, die Konstruktion enthalte nur Partizipien, die attributiv gebraucht werden könnten, als unzutreffend. Nicht nur die genannten atelischen, sondern auch telische Verben ohne inhärenten Zielzustand bilden kein pränominales Part II, vgl. (63a–c).

Hilfsverbverteilung | 129

(63a) (63b) (63c)

*Die Staatssekretärin gewesene Frau ?Das absichtlich langsam geschwommene Mädchen *Die gekommene Frau [-Zielzustand]

Somit wird deutlich, dass eine einheitliche Kategorisierung von sein + V-PPAkt und sein + V-PPPass in der radikalen Form, in der sie von Leiss und Teuber postuliert wird, nicht haltbar ist. Nichtsdestotrotz kann nicht bestritten werden, dass sich Sätze wie in (64) in funktionaler Hinsicht verblüffend ähneln: Ohne weiteren Kontext stellt sich in (64a) wie in (64b) zweifellos resultative Funktion ein. (64a) (64b)

Sieben Tage sind vergangen. Sieben Tage sind vergeudet.

Interessanterweise geht der Auxiliarwechsel bei bestimmten Degree Achievements systematisch mit einer aspektuellen Differenzierung einher (näher hierzu s. Kap. 8.2). (65a) (65b)

Die Wäsche ist (jetzt) getrocknet. Die Wäsche hat (lange) getrocknet.

Offensichtlich neigt sein + V-PP in Verbindung mit bestimmten Verben stark zur resultativen Funktion. Die Perfekt- bzw. Vergangenheitsfunktion kann in diesen Fällen nur kontextuell, z.B. im Vergangenheitsdiskurs oder durch ein Temporaladverbial, induziert werden, vgl. (66a). Allerdings besteht diese Möglichkeit weder bei einer Kopulakonstruktion noch beim kompositionellen „Zustandspassiv“, vgl. (66) und (66c). (66a) (66b) (66c)

Sieben Tage sind damals wie im Fluge vergangen. *Sieben Tage sind damals wie im Flug glücklich. *Sieben Tage sind damals wie im Fluge vergeudet.

Die These von der kategorialen Einheit von sein + V-PPAkt und sein + V-PPPass kann also nicht vollständig von der Hand gewiesen werden, allerdings wird sie von Leiss (1992) und Teuber (2005) zu weit getrieben. Das grundlegende Problem liegt darin, dass die Konstruktionen auf eine einzige Funktion reduziert werden. Wie bereits in Kap. (2.3) erwähnt, zeichnen sich beide Mikrokonstruktionen des Perfekts im Dt. durch systematische Mehrdeutigkeit aus, vgl. Abbildung 30.

130 | Forschungsüberblick und -diskussion

VERGANGENHEIT

haben + V-PP

sein + V-PPAkt

Caesar hat den

Goethe ist 1832

Rubicon über-

gestorben.

PRÄSENSPER-

Ich habe schon

Sie ist gerade

gegessen.

verschwunden.

Die Welpen haben

Die Geranien

die Augen noch

sind verblüht.

FEKT

RESULTATIV

GRAMMATIKALISIERUNG

schritten.

geschlossen.

Abb. 30: Die Funktionen von haben + V-PP sein + V-PPAkt

Das resultative sein + V-PPAkt ist tatsächlich ein Beispiel von einer Kopulakonstruktion und bildet eine Kategorie mit dem Zustandspassiv (vgl. Kap. 2.3). Das resultative haben + V-PP ist lose mit dieser sein-Konstruktion verwandt. Dagegen bilden haben + V-PP und sein + V-PPAkt, wenn sie als Perfekt bzw. Vergangenheitsmarker gebraucht sind, eine Einheit. Dammel (2011: 13f.) spricht von einer „Allolexie“ der Hilfsverben, aus konstruktionsgrammatischer Sicht ließe sich auch von Allokonstruktionen sprechen. In Kap. (2.3) wurde dafür argumentiert, aufgrund dieser unterschiedlichen Einbindung in das Konstruktionsnetzwerk, für die Resultativfunktion einerseits und Perfekt- bzw. Vergangenheitsfunktion andererseits getrennte, homonyme Konstruktionen anzusetzen, die sich jedoch durch eine enge semantische Nähe auszeichnen. Abbildung 31 fasst die Beziehungen der Konstruktionen zusammen. Die fetten Linien zeigen dabei zusammengehörige Konstruktionen an.

Hilfsverbverteilung | 131

RES.

haben + V-PP

sein + V-PPAkt

sein + V-PPPass

Der Hund hat

Das Haus ist

Das Haus ist

die Augen noch

eingestürzt.

zerstört.

verschlossen.

PERFEKT

VGH.

Ich habe schon

Sie ist gerade

gegessen.

verschwunden.

Caesar hat den

Goethe ist 1832

Rubicon

gestorben.

über-

schritten.

Abb. 31: Gruppierung haben + V-PP und sein + V-PP in Abhängigkeit von der Funktion24

Haben + V-PP ist durch dieselbe funktionale Mehrdeutigkeit charakterisiert wie sein + V-PP. Jedoch stellt sich die resultative Funktion hier seltener ein und ist auf wenige Kontexte beschränkt. D.h. Resultativität ist bei sein + V-PP leichter zugänglich als bei der Schwesterkonstruktion mit haben. Mögliche Ursachen für diese Tendenzen werden in Kap. (9.1) diskutiert. Alles in allem zeigt sich, dass sein + V-PP im Gegenwartsdt. nicht auf die Funktion des Resultativs (bzw. der Kopulakonstruktion) beschränkt werden kann. Dagegen spricht, dass die Konstruktion in Verbindung mit atelischen Verben eindeutig Perfekt- bzw. Vergangenheitsfunktion erfüllt. Der Vergangenheitsbezug zeigt sich auch an der Kompatibilität mit Temporaladverbialen der Vergangenheit. Jedoch lassen sich weder sein + V-PP noch haben + V-PP auf eine einzige Funktion reduzieren. Beide sind mehrdeutig und erfüllen einen Fächer an (eng verwandten) Funktionen, die aus dem metonymischen Bedeutungswandel der Grammatikalisierung resultieren. Dabei fällt auf, dass sein + V-PP in Verbindung mit bestimmten Verben stärker zur resultativen Ursprungsfunktion tendiert als

|| 24 Anders als es die Darstellung suggeriert, handelt es sich bei den Funktionen nicht um streng getrennte Bereiche, sondern um graduell ineinander übergehende Verwendungen, vgl. auch Kap. (4).

132 | Forschungsüberblick und -diskussion

haben + V-PP. Die Hypothese von Leiss (1992) und Teuber (2005) ist damit nicht vollständig von der Hand zu weisen, wird von den Autoren aber zu stark verabsolutiert.

5.1.5 Forschungsfragen und -desiderate mit Blick auf die Hilfsverbverteilung Dieser Abschnitt präsentiert Forschungsfragen, die sich aus dem vorausgehenden Forschungsüberblick mit Blick auf die Hilfsverbverteilung ergeben. Diese Forschungsfragen lassen sich in zwei Komplexe unterteilen: Zum einen geht es um eine mögliche historische Konditionierung des Systems, die auf Grundlage der frühsten hdt. und ndt. Überlieferungen untersucht werden soll (5.1.5.1), zum anderen um Tendenzen und mögliche Schemata der Hilfsverbwahl im Gegenwartsdt (5.1.5.2).

5.1.5.1 Historische Konditionierung der Hilfsverbverteilung Der Forschungsüberblick hat gezeigt, dass sich HABEN + V-PP und SEIN + V-PP sprachübergreifend um semantisch konditionierte Prototypen gruppieren. Als wichtigste Determinanten dieser universellen Prototypen wurden semantische Transitivität und Telizität identifziert. Wie in Kap. (2.8) dargelegt, gehen Universalien nach Bybee (2010) häufig darauf zurück, dass sich grammatische Kategorien in unterschiedlichen Sprachen aus ähnlichen Spenderkonstruktionen entwickeln. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, auf welche Spenderkonstruktionen die Prototypen der haben/sein-Selektion zurückgehen. Anders ausgedrückt: Sind die heutigen Determinanten der Hilfsverbverteilung, Transitivität und Telizität, diachron auf die Funktion der Konstruktionen zurückführbar? Dieser Frage wird in dieser Arbeit mit Blick auf das Dt. nachgegangen. Zu diesem Zweck nimmt Kap. (6) die Funktion der Konstruktionen in der ältesten dt. Sprachstufe in den Blick. Bei der Frage nach der Funktion geht es indirekt auch um den Grammatikalisierungsgrad, da Grammatikalisierung die graduelle Herausbildung grammatischer(er) Funktionen bezeichnet (vgl. Kap. 2.4–2.8). Um die Frage nach einer möglichen funktionalen Konditionierung der Hilfsverbverteilung zu beantworten, werden neben der Funktion auch die Verwendungskontexte der Konstruktionen betrachtet. Sie geben Aufschluss darüber, ob eine Extension über den ursprünglichen Anwendungsbereich hinaus stattgefunden hat bzw. darüber, wie die Extension verläuft. Dabei stellt sich die Frage, ob es in den historischen Quellen Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Ausbreitung von HABEN + V-PP und SEIN + V-PP entlang der graduellen Stufen von Soraces ASH

Hilfsverbwahl im Gebrauchsbasierten Modell | 133

bzw. Shannons Prototypenmodell verläuft. Diese Annahme ist wahrscheinlich, wenn man davon ausgeht, dass die Extension analogisch in Rückkopplung an bereits bestehende Verwendungen erfolgt (vgl. Kap. 2.6). Auch die Extension bildet einen Indikator für den Grammatikalisierungsgrad. Überdies kann der Vergleich zwischen dem Ahd. und As. regionale Unterschiede innerhalb der westgerm. Schwestersprachen offenlegen. Ist die Grammatikalisierung in beiden altgerm. Sprachen gleichermaßen fortgeschritten oder lassen sich regionale Tendenzen ausmachen? Die Beobachtungen im Zusammenhang mit dem engl. Irrealiseffekt legen nahe, dass die Grammatikalisierung von SEIN + V-PP im Süden der Westgermania früher einsetzt bzw. die Konstruktion im Norden länger allein resultative Funktion erfüllt (zu weiteren Tendenzen im Ae. s. Kap. (5.3.2). Diesen Fragen wird in Kap. (6) nachgegangen.

5.1.5.2 Mögliche Tendenzen und Schemata im Gegenwartsdeutschen Neben der historischen Konditionierung stellt sich die Frage nach Tendenzen und möglichen Schemata der Hilfsverbverteilung im Gegenwartsdt. Der Forschungsüberblick hat gezeigt, dass keiner der theoretischen Ansätze die Hilfsverbwahl im heutigen Dt. vollständig erklärt. Insbesondere das Sonderverhalten der Bewegungsverben erfassen die vorwiegend universell orientierten Modelle nicht. Ziel der empirischen Untersuchung in Kap. (8) ist es, Tendenzen der Hilfsverbwahl im Gegenwartsdt. zu erfassen. Es wird untersucht, welche Schemata die Hilfsverbwahl heute produktiv organisieren. Dieser Frage lässt sich v.a. an Verben mit schwankendem Hilfsverb untersuchen. In Kap. (8) wird deshalb die Hilfsverbwahl bei Degree Achievements und Bewegungsverben empirisch untersucht und verglichen. Das folgende Kap. macht zunächst einen Vorschlag, wie die vorgestellten Erklärungsansätze der Hilfsverbverteilung durch ein gebrauchsbasiertes Modell ergänzt werden können.

5.2 Hilfsverbwahl im Gebrauchsbasierten Modell Die folgenden Abschnitte machen einen Vorschlag, wie bisherige theoretische Ansätze der Hilfsverbwahl durch ein gebrauchsbasiertes Modell gewinnbringend ergänzt werden können. Zu diesem Zweck werden zunächst gebrauchsbasierte Erklärungen der Hilfsverbverteilung in der Geschichte des Engl. und im Altspan. vorgestellt (5.2.1). Anschließend wird diese Erklärung auf das Dt. übertragen (5.2.2).

134 | Forschungsüberblick und -diskussion

5.2.1 Sprachspezifische Irregularität als Ergebnis von Frequenz und Analogie Wie der Forschungsüberblick in Kap. (5.1) gezeigt hat, legen bisherige Erklärungsansätze Tendenzen der Hilfsverbverteilung offen, sind aufgrund ihres universellen Anspruchs aber zu grobmaschig, um sprachspezifische Besonderheiten zu erfassen. Smith (2001, 2007) und Rosemeyer (2012, 2013, 2014) zeigen am Bsp. des Engl. und Altspan., dass sich sprachspezifische Unterschiede in der Hilfsverbwahl besser durch ein gebrauchsbasiertes Modell, wie in Bybee (1985, 2001) entworfen, erklären lassen. Nach Bybee (1985, 2001) spielt Frequenz eine Rolle, wenn es um die Verteilung konkurrierender Bildungsmuster einer Kategorie geht. Da Formen mit hoher Tokenfrequenz als Ganze abgespeichert sind, sind sie resistenter gegen analogische Ausgleichsprozesse und Regularisierungen als weniger frequente Formen. So weisen Hooper (1976) und Bybee (1985) im Zusammenhang mit der starken und schwachen Präteritalbildung im Engl. nach, dass infrequente starke Formen zuerst von analogischem Ausgleich betroffen sind und deshalb früher in die schwache Flexionsklasse überführt werden. Neben der Tokenfrequenz der einzelnen Formen begünstigt Produktivität, dass sich eine Konstruktion gegenüber einer zweiten durchsetzt. Wie bereits in Kap. (2.5) gezeigt, ergibt sich Produktivität nach Bybee (2010: 67) aus einem Zusammenspiel von hoher Typenfrequenz eines Verfahrens und seiner Schematizität. Die schwache Präteritalbildung verfügt im Engl. (und im Dt.) über eine höhere Typenfrequenz als die starke, d.h. deutlich weniger Verben bilden ein starkes Präteritum. Zusätzlich ist die schwache Formenbildung hochschematisch: Verben, die das schwache Bildungsmuster eingehen, zeichnen sich weder durch phonologische noch semantische Ähnlichkeit aus. Damit handelt es sich um ein abstraktes Schema. Das schwache Verfahren greift deshalb bei einer höheren Anzahl an Verben, die zugleich durch phonologische und semantische Unterschiede gekennzeichnet sind. Daraus ergeben sich viele und vielfältige Vorlagen für die analogische Ausbreitung, weshalb das schwache Bildungsmuster produktiv auch auf neue Verben, z.B. Entlehnungen, angewendet werden kann. Smith (2001, 2007) überträgt diese Beobachtungen auf die analogische Ausbreitung von have + V-PP in der engl. Sprachgeschichte. Schon im Ae. zeichne sich have + V-PP durch eine höhere Typenfrequenz aus als be + V-PP und stelle damit von Anfang an die produktivere Konstruktion dar.25 Dies prädestiniert have + V-PP zum alleinigen Perfektmarker. Ähnlich wie die starke Präteritalbildung || 25 Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie bzw. warum es zu dieser höheren Tokenfrequenz von have + V-PP kommt.

Hilfsverbwahl im Gebrauchsbasierten Modell | 135

bei Verben hoher Tokenfrequenz noch bis heute konserviert ist, blieb die Konstruktion mit be bei Verben mit besonders hoher Tokenfrequenz, v.a. come und go, bis ins 19. Jhdt. erhalten. Aufgrund ihrer Häufigkeit sind die Formen für Sprecher als Ganze abrufbar und werden deshalb als letzte an das reguläre Bildungsmuster angepasst. Ähnlich zeigt Rosemeyer (2012, 2013, 2014), dass die Ersetzung von ser + VPP durch haber + V-PP im Altspan. frequenzgesteuert verläuft. Fast alle späten Vorkommen von ser + V-PP enthalten hochfrequente Verben, darunter changeof-location-Verben wie ir ‘gehen’, venir ‘kommen’, pasar ‘vorbeigehen’, partir ‘abreisen’, volver ‘zurückkehren’, die Sorace als SEIN-Prototypen identifiziert. Rosemeyers Beobachtung legt damit nahe, dass, anders als von Sorace angenommen, nicht allein semantische Faktoren die graduellen Stufen der ASH konstituieren. Sie scheinen durch Gebrauchsfrequenz zumindest verstärkt. Diese Erklärung steht im Einklang mit einem kognitiven Modell, das statt Regeln Schemata annimmt (vgl. Kap. 2.2): Die Prototypen sind nicht durch a priori bestehende Regeln determiniert, sondern ergeben sich sekundär aus dem wiederholten Gebrauch. Smith (2007) verweist in diesem Zusammenhang auf eine interessante Korrelation zwischen Grammatikalisierungsgrad, bzw. der daraus resultierenden gesteigerten Tokenfrequenz, und Hilfsverbalternanz: Er führt die Tatsache, dass die Alternanz von haben + V-PP und sein + V-PP im Dt. im Gegensatz zum Engl. stabil ist, auf die weit fortgeschrittene Grammatikalisierung der Konstruktionen im Dt. zurück. Wie bereits in Kap. (2.3) gezeigt, fungieren die dt. Konstruktionen nicht nur als Präsensperfekt, sondern auch als Marker der allgemeinen Vergangenheit. Das treibt die Tokenfrequenz einzelner Types in die Höhe, was wiederum einen konservierenden Effekt auf die Mikrokonstruktionen haben + V-PP und sein + VPP hat (ähnlich s. auch Sapp 2011: 41). Im Gegensatz dazu besitzt das engl. Present Perfect, das nicht als Marker allgemeiner Vergangenheit fungiert, einen deutlich geringeren Anwendungsbereich und infolgedessen eine niedrigere Tokenfrequenz. Diese geringe Tokenfrequenz begünstigt die Verallgemeinerung einer einzigen Mikrokonstruktion, d.h. have + V-PP, im Engl., da dies einen geringeren Memorisierungsaufwand bedeutet. Betrachtet man die germ. und roman. Sprachen, bestätigt sich diese Korrelation von Hilfsverbalternanz und hohem Grammatikalisierungsgrad fast ausnahmslos: Abgesehen vom Dänischen zeigen ausschließlich Sprachen, deren Perfekt auch Vergangenheitsfunktion erfüllt, die alternierenden Hilfsverben HABEN und SEIN (Französisch, Italienisch, Niederländisch, Deutsch, Luxemburgisch). In Sprachen, in denen die Konstruktion auf die Perfektfunktion beschränkt ist, wurde HABEN + V-PP dagegen zum alleinigen Perfektausdruck generalisiert

136 | Forschungsüberblick und -diskussion

(Spanisch, Norwegisch, Schwedisch, Englisch). Unbeantwortet bleibt in dieser Erklärung nach wie vor, warum sich ausgerechnet HABEN + V-PP fast immer zum frequenteren Perfektausdruck entwickelt. Insgesamt zeigen Smiths und Rosemeyers Beobachtungen zur Diachronie des Engl. und Span., dass gebrauchsbasierte Ansätze bisherige Erklärungen der Hilfsverbverteilung gewinnbringend ergänzen und offene Fragen beantworten können. Die Verdrängung von SEIN + V-PP verläuft in diesen Sprachen frequenzgesteuert. Bei hochfrequenten Verben bleibt die unproduktive Mikrokonstruktion mit SEIN länger erhalten als bei weniger frequenten. Insbesondere die Beobachtungen Rosemeyers legen darüber hinaus nahe, dass Soraces universelle HABEN/SEIN-Prototypen nicht allein semantisch motiviert sind, sondern sich durch Tokenfrequenz verfestigt haben. Der folgende Abschnitt macht einen Vorschlag, wie der gebrauchsbasierten Ansatz auf die Hilfsverbverteilung im Dt. anwendbar ist.

5.2.2 Hypothesen: Übertragung des gebrauchsbasierten Modells auf die Hilfsverbwahl im Gegenwartsdeutschen Im Dt. kann das gebrauchsbasierte Modell v.a. die irreguläre Hilfsverbwahl einzelner Verben und das typologische Sonderverhalten der dt. Bewegungsverben als semantische Klasse erkären. Kap. (8.2–3) überprüft die gebrauchsbasierte Erklärung anhand der Bewegungsverben. Wie in Kap. (5.1.3.1) und (5.1.3.2) gezeigt, identifizieren Shannon (z.B. 1993) und Sorace (z.B. 2000) neben Prototypen mit konsistenter Auxiliarwahl semantische Klassen, in denen Hilfsverbvariation wahrscheinlich ist. Beide Modelle erklären zwar, dass Schwankungen innerhalb dieser semantischen Klassen auftritt, aber nicht, warum bestimmte Verben Sonderverhalten zeigen: Warum bilden ausgerechnet die Verben sein und bleiben im Dt. ein sein-Perfekt – obwohl die übrigen States und continuation-of-states ein haben-Perfekt bilden? Auffälligerweise handelt es sich bei sein und bleiben um hochfrequenten Verben. Für den morphologischen Bereich hat Nübling (1998, 2000, 2010) nachgewiesen, dass hohe Tokenfrequenz zu Irregularisierung führt: Hochfrequente Verben zeigen flexivisches Sonderverhalten und bilden klassenungebundene Muster aus. Insbesondere das gebrauchshäufigste Verb sein weist mit Suppletion in allen Paradigmenzellen hochgradig irreguläre Formenbildung auf. Diese Beobachtungen lassen sich auf die Hilfsverbwahl übertragen: Dass gerade sein und bleiben mit dem sein-Perfekt von den übrigen stativen Verben abweichen, kann analog zur

Hilfsverbwahl im Gebrauchsbasierten Modell | 137

morphologischen Irregularität durch die hohe Gebrauchshäufigkeit der Verben26 erklärt werden: Aufgrund ihrer hohen Tokenfrequenz bilden die beiden Verben ihr Perfekt nicht nach dem regelmäßigen Verfahren, sondern leisten sich ihre eigenen Formen. Ähnlich vermutet Sapp (2011: 38), dass die sein-Selektion hier lexikalisch fetgelegt sei. Bei den beiden Kopulaverben ist zudem nicht auszuschließen, dass sie sich durch ihre strukturelle und semantische Ähnlichkeit in ihrer Perfektbildung gegenseitig stützen. Neben diesen Einzelfällen zeigen die dt. Bewegungsverben als ganze semantische Klasse Sonderverhalten: Entgegen den in der Forschung angenommenen universellen Prototypen bilden sie trotz atelischer Aktionsart und agentivem Subjekt ein sein-Perfekt. Damit unterscheiden sich die dt. Bewegungsverben von allen übrigen germ. und rom. Sprachen und nehmen einen typologischen Sonderstatus ein. Auch dieses Sonderverhalten ist durch ein gebrauchsbasiertes Modell besser erklärbar. Neben Tokenfrequenz scheinen hier v.a. Lexikalisierung des Hilfsverbs und analogische Ausbreitung eine Rolle zu spielen. Historisch wechselten auch die Bewegungsverben das Hilfsverb abhängig von der Aktionsart des Satzes: Bei atelischem Ereignis bildeten sie ein haben-Perfekt, bei telischem Ereignis ein sein-Perfekt (s. 5.1). Offensichtlich wurde das ursprünglich an Telizität gekoppelte sein-Perfekt in der gesamten Gruppe generalisiert und auf den atelischen Gebrauch übertragen. Aus gebrauchsbasierter Perspektive ist anzunehmen, dass diese Generalisierung frequenzgestützt verläuft: D.h. tokenfrequente Verben generalisieren sein + V-PP zuerst, da die Form aufgrund des häufigen Vorkommens als Ganze abgespeichert ist und bei der Sprachprozessierung nicht mehr transparent gebildet wird. Werden diese Formen mit festem Hilfsverb wiederholt gebraucht, bildet sich ein neues Schema heraus, in dem die Bewegungssemantik mit sein + V-PP verbunden ist. Dieses neu entstehende Schema der Bewegungsverben kann produktiv werden: Analogisch schließen sich weitere, weniger frequente Bewegungsverben an. Dieses gebrauchsbasierte Szenario wird in Kap. (8.3) korpusgestützt überprüft. Sollte die Generalisierung von sein + V-PP bei den Bewegunsgverben tatsächlich frequenziell bedingt sein, ist zu erwarten, dass Bewegungsverben mit hoher Tokenfrequenz wie gehen oder laufen noch im Gegenwartsdt. kategorischer

|| 26 Interessanterweise bilden gerade diese Verben auch in anderen Sprachen mit Hilfsverbalternanz Ausnahmen (vgl. ndl. Ben je wel eens verliefd geweest? ‘Bist du schon mal veliebt gewesen’, Ik ben thuis gebleven ‘Ich bin zu Hause geblieben’). Die Erklärungen lassen sich demnach auch auf diese Sprachen übertragen.

138 | Forschungsüberblick und -diskussion

und in mehr Kontexten ein sein-Perfekt bilden als weniger häufige Verben wie schwimmen oder humpeln. Darüber hinaus wird überprüft, ob das Schema, in dem Bewegungssemantik mit sein + V-PP verbunden ist, im Gegenwartsdt. produktiv ist. Die Produktivität des Schemas wird an jung aus dem Engl. entlehnten Bewegungsverben mit niedriger Tokenfrequenz getestet.

5.3 haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich Im Folgenden werden erstens haben + V-PP und sein + V-PP diachron und diatopisch innerhalb der verwandten altgerm. Sprachen eingeordnet. Zweitens wird ein knapper Forschungsüberblick über bereits bestehende Arbeiten zu den Konstruktionen im Ahd. und As. gegeben. Dabei steht jeweils die Frage nach der temporal-aspektuellen Funktion und, damit verbunden, den Verwendungskontexten im Vordergrund. Abschnitt (5.3.1) betrachtet die ersten Belege der Konstruktionen im Got. Danach wird der Blick innerhalb der westgerm. Sprachen auf das Ae. ausgeweitet (5.3.2). Anschließend werden die Ergebnisse bisheriger Studien zu den Konstruktionen im Ahd. (5.3.3) und As. (5.3.4) vorgestellt. Abschnitt (5.3.5) geht auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Grammatikalisierung und Abbau der Partizipialflexion ein. In (5.3.6) wird schließlich die weitere weitere Entwicklung der Konstrutkionen im Mhd. und Fnhd. skizziert.

5.3.1 Die Konstruktionen im Gotischen Nach Kotin (2012: 314) treten die künftigen Perfektkonstruktionen im Got. nicht systematisch auf: Uuisan ‘sein’ + V-PP lässt sich nur vereinzelt nachweisen (vgl. 67a). Die Grundbedeutung der Konstruktion bezeichnet Kotin (1997: 484f.) als „statal“, uuisan besitze „Vollexem-Wert“ [sic!] (ebd.: 484). Dies legt eine kompositionelle Bedeutung nahe (vgl. auch Abraham 1991, 1992). Deutlich häufiger als die aktive Konstruktion ist das passive uuisan + V-PP belegt, das laut Leiss (1992) zunächst im Präteritum als Ergänzung zum defektiven Passivparadigma entsteht. (67a)

Got.

so baurgs alla garunnana was at daura ‘Die ganze Stadt war zum Tor gelaufen.’ (Mk. 1,33, zitiert nach Kotin 2012: 314)

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 139

(67b)

Got.

(67c)

Got.

frauja, sai sa skatts þeins, þanei habaida galagidana in fanin ‘Herr, hier ist dein Schatz, den ich in ein Tuch gelegt hatte.’ (Lk. 19,20, zitiert nach ebd.) […] gatandida habandane swesa miÞvissein ‘Sie haben ein gebrandmarktes Gewissen.’ (1. Timot. 4,2 zitiert nach Erdmann 1886:105)

Got. haban + V-PP ist mit insgesamt zwei Belegen (vgl. 67b,c) noch seltener belegt als uuisan + V-PP. Kuroda (1997: 289) favorisiert in beiden Fällen die kompositionelle Funktion (s. auch Dal 2014). Nach Grønvik (1986: 34) ist „der gotische Wortlaut […] in enger Anlehnung an die Vorlage entstanden“, weshalb er (67b) nicht als „Beleg für ein gotisches haben-Perfekt“ verstanden haben will. Ähnlich führt Kotin die niedrige Frequenz der haban-Konstruktion v.a. darauf zurück, dass die Struktur dem Griech. „artfremd“ (Kotin 1997: 488) sei und für die Wulfila-Übersetzer eine allzu große Entfernung von der Vorlage bedeutet hätte. Insgesamt sind wisan + V-PP und haban + V-PP damit im Got. marginal, wobei ersteres etwas häufiger belegt ist. Für beide Konstruktionen wird die kompositionelle Funktion angenommen.

5.3.2 habban und beon + V-PP im Altenglischen 5.3.2.1 Die habban-Konstruktion im Altenglisch: Ein vollentwickeltes Perfekt Im Vergleich zum Got. tritt habban27 + V-PP im Ae. überraschend häufig auf (Grønvik 1986: 60ff.). Die hohe Gebrauchsfrequenz lässt darauf schließen, dass es sich um ein konventionalisiertes Form-Bedeutungspaar handelt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass schon im frühen Ae. eine Grammatikalisierung der Konstruktion stattgefunden hat und seit den ersten Textdenkmälern keine kompositionelle Bedeutung mehr vorliegt (z.B. Wischer 2004: 248f.; van Gelderen 2004: 170f.; Łęcki 2010). So beobachtet van Gelderen (2004) bereits im Beowulf (um 700 n.Chr.) intransitive Verben in der Konstruktion (vgl. 68a, 69a) und Łęcki (2010) weist neben atelischen sogar telische Intransitive nach (vgl. 68b, 69b). Mit telischen Intransitiven hat sich habban + V-PP bereits auf die prototypische SEINDomäne ausgeweitet (vgl. Kap. 5.1).

|| 27 Selten auch agan ‘besitzen’ (s. Łęcki2010: 155f.)

140 | Forschungsüberblick und -diskussion

(68a)

Ae.

syddan hie togadre gegan hafdon ‘sobald sie zusammengekommen waren’ (Beowulf 2630, zitiert nach van Gelderen 2004: 171)

(68b)

Ae.

we to symble geseten hafdon ‘Wir hatten uns zum Essen gesetzt.’ (Beowulf 2104, zitiert nach ebd.)

(69a)

Ae.

we habbađ gesyngod ϸæt we swa spræcon ongoean ϸone almihtigan God ‘Wir haben gesündigt, als wir so über den allmächtigen Gott gesprochen haben.’ (ÆHom 21 319 zitiert nach Ļęcki 2010: 158)

(69b)

Ae.

ϸa Scipia hæfde gefaren to ∂ære niwan byrig Cartaina ‘Als Scipio zur neuen Stadt Cartagena gefahren war’ (Or 4 10.104.29, zitiert nach Ļęcki 2010: 160)

Ferner tritt die Konstruktion nicht nur mit belebtem Subjektsreferenten wie in (68) und (69) auf, sondern auch mit unbelebtem bzw. abstraktem (vgl. 70a) (Łęcki 2010: 179), womit sie sich weiter vom possessiven Vollverb habban ‘besitzen’ entfernt hat. Auch Objekte, die konsumiert werden oder verloren gehen wie in (70b), deuten auf eine fortgeschrittene Extension im Ae. hin. (70a)

Ae.

gimmas hæfdon bewrigene weor∂lice treow ‘Edelsteine hatten des Herrschers Baum geschmückt’ (Dream 16, zitiert nach Ļęcki 2010: 169)

(70b)

Ae.

& forđæm we habbađ nu ægderforlæten ge đone welan ge đone wisdom ‘Und deshalb haben wir beides verloren Reichtum und Weisheit’ (CPLetWærf 33, zitiert nach Łęcki 2010: 182)

Mit dieser fortgeschrittenen Extension korreliert ein breites Funktionsspektrum der ae. Konstruktion. Laut Łęcki handelt es sich seit den ersten ae. Schriftzeugnissen um ein „fully developed perfect“ (Łęcki 2010: 153). Die ae. Konstruktion erfüllt dieselben Funktionen wie im heutigen Engl.: Sie ist nicht auf den Ereignisresultats beschränkt, sondern kann ein sich in der Vergangenheit erstreckendes (71a) bzw. wiederholendes Ereignis (71b) bezeichnen (Łęcki 2010: 175f.).

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 141

(71a)

Ae.

nu hæbbe ic…ϸinne willan gelæst to ful monegum dæge. ‘Nun habe ich sehr viele Tage deinen Willen erfüllt’ (GenB 726, zitiert nach Ļęcki 2010: 175)

(71b)

Ae.

swa he hit oft accunad hæfde ‘Wie er es oft erlebt hatte’ (CP 48.373.25, zitiert nach Ļęcki 2010: 175)

Dazu passt, dass die Konstruktion mit Modifikatoren der indefiniten Vergangenheit wie siđđan ‘nachdem’ (71c) und ær ‘zuvor’ (71d) kombiniert wird, die das vergangene Ereignis fokussieren (Łęcki 2010: 178ff.). Wie in Kap. (4.4) gezeigt, sind diese Modifikatoren charakteristisch für das Experiential- bzw. Persistenzperfekt. (71c)

Ae.

siđđan hi Þa beman geblawan habbađ ‘nachdem er die Trompete geblasen hatte’ (Nic (D) 78, zitiert nach Ļęcki 2010: 178)

(71d)

Ae.

swa god swa yfel, swa hi ær gewyrht habbađ ‘wie gut oder böse er zuvor gehandelt hatte’ (Nic (E) 49, zitiert nach Ļęcki 2010: 179)

Insgesamt verweisen sowohl Frequenz, Auftretenskontexte als auch temporalaspektuelle Funktion darauf, dass habban + V-PP im As. weit grammatikalisiert ist und ein voll entwickeltes Präsensperfekt bildet. Die Konstruktion ist nicht auf den Ausdruck des Geschehensresultats beschränkt, sondern bezeichnet regelmäßig Ereignisse in der indefiniten Vergangenheit. Dies manifestiert sich u.a. in ihrer Kompatibilität mit entsprechenden temporalen Modifikatoren. Wie weit die Extension fortgeschritten ist, wird v.a. daran deutlich, dass sich habban + V-PP bereits auf telische Intransitive, und damit auf die prototypische SEIN-Domäne, sowie auf unbelebte Subjekte ausgeweitet hat.

5.3.2.2 beon + Partizip Dem engl. Perfekt kommt innerhalb der Westgermania eine Sonderstellung zu, da es anders als z.B. das Dt. und Ndl. heute nur ein einziges Perfektauxiliar have besitzt. In der engl. Sprachgeschichte existierte jedoch auch die Konstruktion beon + V-PP, die heute nur noch in fossilierten Fügungen fortbesteht (z.B. engl. The Lord is come). McFadden/Alexiadou (2010 u.a.) begründen den diachronen Schwund von be + V-PP damit, dass die Konstruktion nie zum Präsensperfekt grammatikalisiert ist (s. auch Kap. 5.1.4.1). M.a.W. war be + V-PP in der engl.

142 | Forschungsüberblick und -diskussion

Sprachgeschichte stets eine kompositionelle Kopulakonstruktion mit resultativer Funktion: For be periphrases […], we propose the structure […] which specifically lacks Perf. Auxiliary be is nothing more nor less than the copula, combining here with a resultative participle. This compositionally yields a perfect-of-result interpretation, where the result state holds of the subject. Because it lacks Perf, however, we will argue that it cannot produce any of the other interpretations associated with the PDE perfect. (McFadden/Alexiadou 2010: 393)

Da die Konstruktion demnach nie Perfektfunktion übernommen hat, bildete sie nie eine Kategorie mit have + V-PP. Darum könne auch nicht von einer Verdrängung durch have + V-PP gesprochen werden. Evidenzen für die fehlende Grammatikalisierung ergeben sich nach Mc Fadden/Alexiadou (2010) aus den Frequenzverhältnissen. In einer umfangreichen Korpusuntersuchung zeigen sie, dass die Konstruktion mit be während der gesamten engl. Sprachgeschichte frequentiell auf demselben Niveau bleibt. Auch der sog. Irrealiseffekt deutet den Autoren zufolge darauf hin, dass die Konstruktion nicht grammatikalisiert sei (s. Kap. 5.1.4.1). Traugott (1972: 93) nimmt eine im Vergleich zu McFadden/Alexiadou abgeschwächte Bewertung von beon + V-PP vor, wonach schon im Ae. neben der resultativen auch die reanalysierte Perfektfunktion existierte. Anders als im heutigen Engl. sei die resultative Funktion jedoch nicht auf bestimmte feste Verbindungen wie engl. The leaves are fallen (in Opposition zu engl. *I am fallen mit belebtem Subjektsreferenten) beschränkt, sondern werde produktiver gebildet. Diese Produktivität leitet sie aus Belegen wie (72a) ab, dem sie Satz (72b) als Minimalpaar mit perfektischer Funktion gegenüberstellt. (72a)

Ae.

Craccuse wæron monege cyningas […] to fultume cumene. ‘Craccus waren viele Könige zu Hilfe gekommen.’ (Nic (D) 78, zitiert nach Ļęcki 2010: 178)

(72b)

Ae.

Hie wæron cumen Leoniđan to fultume. ‘Sie waren Leonitha zu Hilfe gekommen’ (zitiert nach Traugott 1972: 93, Übersetzung MG)

(73a)

Ae.

(73b)

Ae.

I . . . wil build againe the Tabernacle of Dauid, which is fallen downe. (KJNT,XV,1A.1000 zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010: 401) I perceive these honourable Lords . . . are come to hear what hath been scattered upon the Wrack of Report.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 143

(RalTr,1,214.59) (zitiert nach McFadden/Alexiadou 2010:401) Weder aus McFadden/Alexiadou (2010) noch aus Traugott (1972) geht deutlich hervor, woraus die Resultativität der Einzelbelege abgeleitet wird.28 McFadden/Alexiadou (2010) führen zwar an, dass Resultativität in iterativen Kontexten sowie mit atelischen Verben ausgeschlossen ist. Es wird aber nicht klar, auf welche Merkmale sie ihre qualitative Analyse stützen, sodass sie zu der resultativen Bewertung kommen. Es lässt sich festhalten, dass ae. beon + V-PP in der Forschung entweder als reine Resultativkonstruktion oder als Konstruktion mit starker Tendenz zur Resultativität angesehen wird. Demnach ist es deutlich schwächer grammatikalisiert als die Schwesterkonstruktion mit habban.

5.3.3 Die Konstruktionen im Althochdeutschen Dieser Abschnitt gibt einen knappen Forschungsüberblick über bisherige Untersuchungen zu habēn/eigan + V-PP (5.3.3.1) und uuesan + V-PP (5.3.3.2) im Ahd. Dabei werden Grundthesen zur temporal-aspektuellen Funktion sowie Extension der Konstruktionen skizziert.

5.3.3.1 habēn/eigan + V-PP im Althochdeutschen Unter den Arbeiten, die sich ausführlich mit ahd. habēn/eigan + V-PP beschäftigen, sind insbesondere Oubouzar (1974), Grønvik (1986) und Kuroda (1997, 1999) zu nennen. Grønvik (1986) beschreibt die Herausbildung von ahd. habēn/eigan + V-PP im Vergleich mit den übrigen altgerm. Sprachen. Er geht davon aus, dass bereits der erste Beleg von habēn/eigan + V-PP in der Exhortatio (um 800 n.Chr.) „eindeutig als eine echt deutsche Perfektform gekennzeichnet“ (Grønvik 1986: 35) sei (74). Die Konstruktion ist also in diesem Beleg bereits grammatikalisiert. Dafür spricht u.a. das lat. synthetische Perfekt accepistis: Zum einen trägt die lat. Form selbst Perfektfunktion, zum anderen übersetzt das komplexe habēn + V-PP eine synthetische Form, was den Konstruktionsstatus nahelegt.

|| 28 Nach Ļęcki (2010: 148) erweckt es den Anschein, dass Traugott den Abbau der Partizipialflexion mit der Grammatikalisierung gleichsetzt.

144 | Forschungsüberblick und -diskussion

(74)

Lat.

qui christianum nomen accepistis

Ahd.

ir den christanun namun intfangan eigut ‘die ihr den christlichen Namen empfangen habt’ (Exh 9,5, zitiert nach Grønvik 1986: 34f.)

Auch zwei Instanzen im Muspilli (um 830 n.Chr.) wertet Grønvik als Perfektbelege, vgl. (75). (75a)

Ahd.

pi daz er in uuorolti kiuuerkot hapeta (Musp. 36) ‘für das, was er in der Welt ausgeführt hatte’

(75b)

Ahd.

Denne der paldet, der gipuazzit hapet (Musp. 99) ‘dann faßt der Mut, der gebüßt hat’ (zitiert nach Grønvik 1986: 36)

Dagegen nimmt Öhl (2009) eine Grammatikalisierung erst ab Notker an. Noch bei Otfrid spricht er von einer „Prädikativkonstruktion“ (Öhl 2009: 293), da die Konstruktion ausschließlich mit transitiven Verben und „großenteils mit kongruierendem PII“ (ebd.) vorkomme. Grønviks Bewertung ist aber deshalb überzeugender, weil er die perfektische Funktion der Konstruktion in (74) und (75) aus Kontextkriterien ableitet und begründet. Eine Extension auf intransitive Verben bzw. der Abbau der Partizipialflexion geben eher Aufschluss über einen fortgeschritteneren Grammatikalisierungsgrad. Grønvik skizziert Phasen, entlang derer sich HABEN + V-PP in den germ. Sprachen ausbreitet (Grønvik 1986: 31). Diese Phasen werden durch den graduellen Extensionspfad in Abbildung 32 abgebildet.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 145

Phase I: Telische Transitive (a) ih habēn inan gibuntanan (b) ir den christanun namun intfangan eigut Exh 9,5 Phase II: Atelische Transitive (c) daz er in uuorolti kiuuerkot hapeta Musp 36 Phase III: Absolut gebrauchte Transitiva (d) Der gipuazzit hapet Musp 99 Phase IV: Verben mit Genitiv- oder Dativergänzung (e) die gotes ergezzen hábent N II,364,9 (f) Nu hábent sie dir úbelo gedanchot N II,311,6 Phase V: Atelische Intransitive (g) so habet er gelógen N I 544,29 Phase VIa: Extension SEIN + V-PP (h) si waren zagele gerne gewesin R 3999 Phase VIb: Extension HABEN + V-PP (i) hafað þæs geworden wine Beow 2026 Abb. 32: Extensionspfad von haben + V-PP in Anlehnung an Grønvik (1986: 31,44,63)

Phase I umfasst telische Transitive (vgl. Bsp. a und b). Nur in diesen Kontexten kann sich Resultativität einstellen, allerdings liegt nicht notwendigerweise eine resultative Konstruktion vor. Die funktionale Reanalyse zum Präsensperfekt, die auf dieser Stufe stattfindet, beruht nach Grønvik (1986: 30) auf dem hybriden kategorialen Charakter des Partizips: Die zunächst nur implizit vorhandene vorzeitige Handlung tritt in den Vordergrund. Nach dieser Reanalyse weitet sich habēn/eigan + V-PP in Phase II auf atelische Verben aus, die eine einzige Ereignisphase aufweisen und deshalb keine resultative Funktion haben können (vgl. Bsp. c). Mit der Ausweitung auf atelische Verben wird die semantische Transitivität geschwächt, doch konzentriert sich die Konstruktion weiterhin auf syntaktisch transitive Sätze. Restriktionen der Argumentstruktur persistieren demnach länger als aktionale Restriktionen. In den nächsten Entwicklungsphasen wird die Objekthaftigkeit der zweiten Argumentstelle schrittweise geschwächt. Phase III enthält absolut gebrauchte Transitive (vgl. Bsp. d) und bildet damit eine Brücke zu intransitiven Sätzen. In Phase IV erscheinen unprototypischere Objekte, d.h. Genitiv- und Dativergänzungen (vgl. Bsp. e und f), bis in Phase V sogar atelische Intransitive in der Konstruktion auftreten (vgl. Bsp. g). Letztere besitzen kein freies Part II, die Partizipformen werden also in Analogie zu den bereits bestehenden Perfektformen

146 | Forschungsüberblick und -diskussion

gebildet. Damit hat sich habēn + V-PP eindeutig zu einer Konstruktion entwickelt. Nach Grønvik ist Phase V um 1000 n.Chr. bei Notker erreicht. Ab Phase VI schlagen Sprachen, die die HABEN/SEIN-Alternanz beibehalten, und Sprachen, die HABEN + V-PP generalisieren, unterschiedliche Wege ein. Im ersten Fall endet die Extension der HABEN-Konstruktion hier, da Kontexte mit telischen Intransitiven bereits ein SEIN-Perfekt bilden. Im Dt. startet SEIN + V-PP sogar eine leichte Gegenoffensive (Phase VIa), indem es ab dem Mhd. auf einige atelische Intransitive übergeht (vgl. Bsp. h). Diese Ausbreitung auf die ursprüngliche HABEN-Domäne spricht dafür, dass sich beide Konstruktionen funktional einander angenähert haben. Sprachen wie das Engl. verallgemeinern HABEN + V-PP auch auf telische Intransitive (vgl. Bsp. i), bis die Konstruktion alle Kontexte abdeckt (Phase VIb). Grønviks rekonstruiertes Phasenmodell beruht auf der theoretischen Annahme, dass die Extension kleinschrittig verläuft und die Konstruktion in Analogie zu bereits konventionalisierten Verwendungen neue Kontexte erfasst. Dieses graduelle Modell ist zwar theoretisch plausibel, aber nicht alle von Grønvik angesetzten Zwischenschritte sind empirisch belegbar (vgl. Kap. 6). Eine empirische Untersuchung von habēn/eigan und uuesan + V-PP im Otfrid liegt mit Kuroda (1997, 1999) vor. Kuroda bewertet die habēn/eigan-Konstruktion im Ahd. als „benefaktive stative Resultativkonstruktion“ (Kuroda 1999: 52). Benefaktivität meint dabei nicht, dass das Ereignis zum Nutzen des Subjektsreferenten stattfindet, sondern bringt zum Ausdruck, dass haben auch in der Resultativkonstruktion nicht notwendigerweise eine Besitzrelation herstellt (hierzu vgl. auch Kap. 4.3.1). Das Verb bringt eher eine abstrakte Relation zwischen Subjekt und Objekt zum Ausdruck, die nach Kuroda als Zustand des Subjekts konzeptualisiert ist. Dieser allgemeine Begriff von Benefaktivität ermöglicht es ihm, auch das Subjekt von Wahrnehmungsverben als Benefaktiv zu klassifizieren. Die Resultativität von habēn/eigan + V-PP begründet Kuroda wie folgt: wir finden keinen Beleg dieser Konstruktion, wo aus dem Kontext zu erschließen ist, daß der Verlauf des Ereignisses auf irgendeine Weise betont würde, das zu diesem Resultat geführt hat. (Kuroda 1999: 60)

Demnach zeichnet sich die Konstruktion durch einen engen „Resultatsbezug“ (ebd.) aus, den Kuroda an Beispiel (76) veranschaulicht, in dem die Perfektform von findan der Präteritumform fand gegenübersteht.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 147

(76)

Ahd.

Mit arabeitin werbent thie heiminges tharbent; ih haben iz funtan in mir, nie fand ih liebes wiht in thir; Ni fand in thir ih ander guat, suntar rozagaz muat, seragaz herza joh managfalta smerza! (O I,18,28, zitiert nach Kuroda 1999: 60, Hervorhebung MG)

Beleg (76) legt nahe, dass Kuroda unter Resultativität sowohl das kompositionelle Resultativ fasst, wie in Kap. (4.3) definiert, als auch das nicht-kompositionelle Resultatsperfekt, wie in Kap. (4.4.1–4.4.2) beschrieben. Diese Unterscheidung wird bei ihm nicht getroffen. Aus der Resultativität schließt Kuroda auf die Stativität der Konstruktion, denn Resultativität und Stativität seien „die beiden Seiten einer Medaille“ (Kuroda 1999: 60). Wie in Kap. (4) gezeigt, trifft dies aber nur auf die enge Definition von Resultativität und nicht auf das Resultatsperfekt zu. Insgesamt macht Kuroda interessante Beobachtungen, was den engen Resultatsbezug angeht. Überzeugend ist auch, dass die Resultativkonstruktion nicht notwendigerweise possessive Bedeutung trägt. Das Konzept der Resultativität müsste aber genauer definiert werden. Deshalb wird aus Kurodas Darstellung nicht deutlich, aus welchen (Kontext)Merkmalen er die Resultativität der Einzelbelege ableitet und worauf er genau seine qualitative Analyse stützt. Oubouzar (1974: 12ff.) untersucht die beiden Perfektkonstruktionen im spätahd. Notker. Die Funktion, die sie für habēn/eigan + V-PP beschreibt, entspricht ziemlich genau dem Resultatsperfekt: Die zusammengesetzten Verbformen h+pII und s+pIIitr differenzieren diese beiden Tempora [=Präsens u. Prätertitum] nicht. Sie drücken einen Tatbestand aus, der entweder den temporalen Wert eines Präsens (habet getân/ist chomen) oder eines Präteritums (habeta getân/uuas chomen) hat. […] Die Formen von h+pIIPräs.Ind. befinden sich in einem Kontext im Präsens und drücken einen allgemeinen oder zur Zeit des Sprechaktes gültigen Tatbestand aus. Wird die Form mit einem Objekt konstruiert, so ist dieser Tatbestand gleichzeitig ein Zustand des Objekts, andernfalls handelt es sich um die Feststellung einer vollzogenen Handlung. (Oubouzar 1974: 12–14)

Gemäß dieser Beschreibung ist habēn/eigan + V-PP keine kompositionelle Konstruktion, zeichnet sich aber durch einen starken Resultatsbezug aus. Oubouzar sieht dies als aspektuelle und nicht als temporale Funktion an. Die Extension der Konstruktion ist bei Notker vergleichsweise weit fortgeschritten: Oubouzar erwähnt (leider ohne Angaben von Häufigkeiten) Belege, in

148 | Forschungsüberblick und -diskussion

denen die Konstruktion einen Nebensatz als direktes Objekt (77a) oder gar kein direktes Objekt (77b) besitzt. Daneben gibt es Sätze mit einem Genitivobjekt (77c) und sogar mit intransitiven Verben (77d) (bereits Erdmann 1886: 106). Damit stimmen sie mit Grønviks Extensionsstufe V überein. (77a)

Ahd.

er nehabet irgézen daz uuir stuppe birn (N 742,10)

(77b)

Ahd.

so er geheizan habeta (N 936,14)

(77c)

Ahd.

die íro infúnden hábent (N 797,14/15)

(77d)

Ahd.

Uuir éigen gesundot sáment únseren fórderon (N783,11) (zitiert nach Oubouzar 1974: 12)

Insgesamt zeigt der knappe Forschungsüberblick, dass ahd. habēn/eigan + V-PP keine kompositionelle Konstruktion mehr ist, aber einen engen Resultatsbezug aufweist. Insbesondere Oubouzars Beschreibung legt nahe, dass es sich um ein Resultatsperfekt handelt. Bei Notker tritt die Konstruktion bereits bei Intransitiven auf.

5.3.3.2 uuesan + V-PP Arbeiten, die sich mit ahd. uuesan + V-PP befassen, betonen häufig seine paradigmatische Opposition zu weiteren Konstruktionen im Sprachsystem, etwa dem telischen uuerdan + V-PP, bzw. die funktionale Übereinstimmung mit dem passiven uuesan + V-PP. Dabei bewerten sie ahd. uuesan + V-PP als kompositionelle, resultative Konstruktion. So hatte laut Eggers (1987: 241) “[f]ür den Isidor-Übersetzer [...] ist quhoman, ist uuordan noch die Bedeutung ‘ist ein Gekommener, ist ein Gewordener’“. Ähnlich wurde uuesan + V-PP als „Kopulakonstruktion“ (Eroms 1997: 19), „Resultativ“29 (Leiss 1992: 159) bzw. „Prädikativphrase“ (Schrodt 2004: 12) bezeichnet oder es wurde davon gesprochen, dass uuesan den „Status der Vollverben und die dafür kennzeichnende eigene lexikalische Bedeutung völlig beibehalte[…]“ (Kotin 1999: 397). Valentin formuliert: „Ob uuesan und uuerdhan Hilfsverben sind, wird nun sehr fraglich [...] Hinzu kommt, dass die besprochenen Kombinationen offenbar nicht grammatikalisiert sind“ (Valentin 1987: 10). Etwas unspezifischer bezeichnet Kotin (2014: 33) die

|| 29 Kotin (1998: 91ff.) zeigt schon im Zusammenhang mit der passiven Konstruktion, dass uuesan + V-PP nicht ausschließlich resultative Funktion erfüllt.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 149

Funktion „als resultativ, perfektiv bzw. telisch […](gegangen, gestorben, geblieben, gefallen etc.)“. Aufgrund dieser Semantik sei uuesan + V-PP zunächst auf telische Verben beschränkt.30 In den meisten Fällen basiert die semantische Bewertung von uuesan + V-PP nicht auf systematisch erhobenen Daten. Eine Ausnahme bildet erneut Kuroda (1997, 1999), der alle Belege von uuesan + V-PP im Otfrid untersucht und als „mutative stative Resultativkonstruktion“ (Kuroda 1999: 95) bewertet. Von Mutativität spricht er, weil die Konstruktion in seinem Otfrid-Korpus ausschließlich telische Verben enthalte (zu einer Ausnahme s. Kap. 6.4.2). Ferner gibt es Kuroda zufolge „keinen Beleg im Evangelienbuch, wo wir annehmen könnten, daß der Verlauf des jeweiligen Ereignisses an sich, das zu diesem Resultat geführt hat, thematisiert würde“ (Kuroda 1999: 94). Die Konstruktion bezeichne immer den „Subjektszustand“ (ebd.), weshalb Kuroda sie insgesamt als Resultativ- und damit zugleich als Kopulakonstruktion bewertet. Diese Funktion veranschaulicht er u.a. an den Belegen unter (78). (78a)

Ahd.

(78b)

Ahd.

“Then Moyses”, quad, “io sageta, joh alt giscrib uns zelita – thiu salida ist uns wortan, thaz wir nan eigun funtan: (O II,7,44;) theiz niwurti irfuntan thaz druhtin was irstantan: (O IV,37,28) (zitiert nach Kuroda 1999: 92, Hervorhebung MG)

Wie bereits im Zusammenhang mit habēn/eigan + V-PP erwähnt (vgl. Kap. 5.3.3.1), unterscheidet Kuroda nicht zwischen kompositionellem Resultativ und nicht-kompositionellem Resultatsperfekt. Ferner geht aus seiner Darstellung nicht deutlich hervor, welche (Kontext-)Merkmale ihn dazu bewegen, Einzelbelege wie unter (78) als Resultativ bzw. Kopulakonstruktion zu klassifizieren. Oubouzar (1974) kommt zu einer etwas anderen Bewertung von uuesan + VPP als die vorerwähnten Arbeiten. Zwar geht auch sie davon aus, dass die Konstruktion „einen Zustand des Subjekts ausdrückt, der das Ergebnis eines voraufgegangen Vorgangs ist“ (Oubouzar 1974: 13). Aufgrund der daraus resultierenden engen Verknüpfung mit der übergeordneten Sprechzeit tritt uuesan + V-PP (mit präsentischem Finitum) v.a. im Präsenskontext auf und verbindet sich i.d.R. mit

|| 30 Kotin (2014: 33) geht davon aus, dass das Part II transitiver Verben historisch ursprünglich sei und die „Bildung eines Partizip II intransitiver Verben […] schon das Ergebnis einer Reanalyse gewesen sein [müsse]“ (Kotin 2014: 33). Das Part II intransitiver Verben sei erst mit der Grammatikalisierung des haben- bzw. sein-Perfekts aufgekommen.

150 | Forschungsüberblick und -diskussion

Adverbialen wie nu. Im Gegensatz zu den oben genannten Studien geht Oubouzar jedoch davon aus, dass „die beiden Teile der Zusammensetzung bereits zu einer Einheit zusammengeschmolzen sind“ (ebd.: 11) und „[d]as finite Verb […] die semantischen Eigenheiten, die der weiteren Ausbildung der zusammengesetzten Verbformen im Wege stehen, aufgegeben“ (ebd.: 12) hat. Oubouzar nimmt also keine kompositionelle Konstruktion an. Vielmehr gruppiert sie bereits im Notker „ist chomen und habet getân zusammen“ zu éiner Kategorie, weil sie die „gleiche[..] Funktion“ (ebd.) erfüllen: uuesan + V-PP besitze zwar „präsentische[n] Wert“ (ebd.: 13), dabei sei aber der Vorgang [stärker] […] erwähnt“ (ebd.) als bei einer Kopulakonstruktion.31 Ind.

Konj.

Ind.

Konj.

Ind.

Konj.

Präs.

tuot

tûe

getuot

getûe

ist chomen habet getân

sî chomen habe getân

Prät.

teta

tâti

geteta

getâti

uuas chomen habeta getân

---

Abb. 33: System der aktiven Verbalformen im Notker nach Oubouzar (1974: 16)

Diese Ausführungen legen nahe, dass Oubouzar (1974) die Konstruktion, anders als die zuvor genannten Studien nicht als Resultativ, sondern als Resultatsperfekt interpretiert, auch wenn sie diese Unterscheidung nicht explizit trifft. Sie setzt das folgende System der aktiven Verbalformen bei Notker an, vgl. Abbildung 33. Ähnlich spricht Dal (2014: 140) davon, dass die Konstruktion bereits bei Otfrid „nicht mehr den Zustand, sondern die in der Vergangenheit liegende Handlung“ ausdrückt. Auch Grønvik (1986: 16) schreibt uuesan + V-PP Perfektfunktion zu, geht dabei aber noch weiter als Oubouzar und Dal. Ihm zufolge lasse sich „[d]ie ahd. sein-Fügung ohne Mühe mit den entsprechenden nhd. Verbformen ersetzen; zwischen beiden sei kein Bedeutungsunterschied zu erkennen (Grønvik 1986: 17). Weiterhin sei die Perfektfunktion nicht, wie in der Grammatikalisierungstheorie angenommen, durch die Reanalyse einer resultativen Konstruktion

|| 31 Bemerkenswert ist, dass Oubouzars Bewertung der Konstruktion in der Forschung kaum zur Kenntnis genommen wird, obwohl sie häufig zitiert wird (vgl. v.a. Leiss 1992: Kap. 4, die ihre Resultativitätshypothese auf die wenigen bei Oubouzar zitierten Belege stützt, anders aber z.B. bei Zeman 2010: 212).

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 151

entstanden. Vielmehr sei die Ambiguität zwischen resultativer und perfektischer Lesart von Anfang an gegeben und resultiere aus der funktionalen Ambivalenz des Partizips. Da aber das Part. Perf. einen aus einer abgeschlossenen Handlung hervorgegangenen Zustand bezeichnet, musste die prädikative Fügung diese Bedeutung mit übernehmen. Eine Fügung wie „(er) ist verschwunden“ mußte deshalb von ältester Zeit an als eine analytische Fügung von perfektischer, oder besser perfektisch-präsentischer Bedeutung aufgefasst werden. (Grønvik 1986: 16)

Grønvik zufolge besteht also die perfektische Lesart von uuesan + V-PP in allen germanischen Altsprachen seit ältester Zeit. Das bedeutet, dass die Konstruktion nie ausschließlich resultative Funktion erfüllte. Aus diesen Überlegungen würde folgen, dass das in der theoretischen Literatur angenommene Reanalyseszenario, das von einer kompositionellen resultativen Funktion zu einer nicht-kompositionellen perfektischen Funktion führt, zumindest mit Blick auf uuesan + V-PP, falsch ist. Insgesamt besteht in der Forschungsliteratur ein Konsens, dass uuesan + VPP, genau wie habēn/eigan + V-PP, durch einen starken Resultatsbezug charakterisiert ist. Umstritten ist aber, ob es sich um eine kompositionelle Kopulakonstruktion mit resultativer Funktion oder um ein bereits (schwach) grammatikalisiertes Präsensperfekt handelt. Leider geht aus all diesen Studien nicht ausreichend hervor, aus welchen Merkmalen die Funktion der Konstruktion bei der qualitativen Analyse abgeleitet wird.

5.3.4 Die Konstruktionen im Altsächsischen In seiner Syntax des Heliand beschreibt Behaghel (1897) die Funktion von habēn/uuesan + V-PP wie folgt: die genannten Verbindungen bezeichnen Vorgänge, die in der Vergangenheit sich vollzogen haben und in die Gegenwart hereinwirken, und zwar bezeichnet das Präsens hier fast regelmäßig einmalige wirkliche, hinter der Gegenwart des Sprechenden zurückliegende Thatsachen: z.B. nu haƀađ thit lioht afgeƀen[…] Erodes [the] cuning 771 […] (Behaghel 1897: 55)

Demnach weisen auch die as. Konstruktionen einen starken Gegenwartsbezug auf. Die von Behaghel beschriebene Einmaligkeit des Geschehens könnte so interpretiert werden, dass es sich nicht um die Experiential-Funktion, sondern um das Resultatsperfekt handelt.

152 | Forschungsüberblick und -diskussion

Auch mit präteritalem Finitum stellen die Konstruktionen nach Behaghel relative Vorzeitigkeit her, allerdings im Verhältnis zu einem präteritalen Haupttempus. Sie „bezeichnen Thatsachen, die den vorher mitgeteilten vorausgehen“ (Behaghel 1897: 57), bzw. „fassen die vorausgehenden Thatsachen zusammen“ (ebd.). Dabei wird die Abgeschlossenheit des Geschehens betont, die „die Voraussetzung für das Nachfolgende“ (ebd.) bildet. Eine detaillierte empirische Untersuchung von hebbian + V-PP und uuesan + V-PP im Heliand liegt mit Arnett (1997) vor. Sie ermittelt 182 Belege, die sich wie in Tab. 20: nach Indikativ und Konjunktiv aufteilen. Im Gegensatz etwa zum Mittelengl. und Mittelndl. zeigt der Konjunktiv keine auffällige Tendenz zu hebbian + V-PP (Arnett 1997: 50f.). Tab. 20: hebbian + V-PP und uuesan + V-PP im Heliand nach Arnett (1997)

hebbian + V-PP

uuesan + V-PP

gesamt

Indikativ

126

39

165

Konjunktiv

13

4

17

gesamt

139

43

182

Anders als die Arbeiten zum Ahd. widmet sich Arnett nicht der temporal-aspektuellen Funktion – sie setzt voraus, dass es sich um ein Präsensperfekt handelt –, sondern der Auxiliarverteilung, die sie mit Shannons kognitivem Modell interpretiert (vgl. Kap. 5.1.3.2). Uuesan + V-PP beobachtet sie vornehmlich in Sätzen, die dem mutativen Prototypen entsprechen. Nur 5 Belege mit uuesan + V-PP bewertet sie als schwach transitiv. Dabei handelt es sich um drei negierte Sätze, die das Verb koman enthalten und bei Affirmation dem mutativen Prototypen zuzurechnen wären. Die beiden weiteren Sätze enthalten ein Reflexivpronomen im Dativ, vgl. (78). Vom mutativen Prototypen weichen sie laut Arnett (1997: 43) dadurch ab, dass sie neben dem Subjekt eine weitere Ergänzung aufweisen. Da diese aber durch keine weitere NP im Dativ substituierbar sei, liege hier kein echtes Objekt vor (ebd.). (78a) (78b)

As. As.

uuas

iru

thiorna

githigan

war

Refl

Frau

gewachsen

(H 253)

than

uuas

im

Iohannes

fon is iuguđhêdi

damals

war

Refl

Johannes

von seiner Jugend

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 153

As.

auuahsan

an ênero uuôstunni

(auf)gewachsen

in einer Wüste

(H 859)

(zitiert nach Arnett 1997: 43) Hochtransitive Sätze weisen nach Arnett immer hebbian + V-PP auf. Als hochtransitiv wertet sie nicht nur Sätze mit Akkusativobjekt, sondern auch mit Genitiv- (5 Belege) und sogar mit Dativobjekt (7 Belege). Denn Genitiv- und Dativobjekte unterschieden sich lediglich dadurch von prototypischen Objekten, dass sie nur marginal affiziert seien. In dieser Arbeit werden Sätze mit Dativobjekt dagegen als intransitiv betrachtet, da es sich um indirekte Objekte handelt. Arnett zeigt, dass sich hebbian + V-PP auf schwachtransitive Sätze ausgeweitet hat. Mit libbian ‘leben’ tritt sogar ein Intransitivum in der Konstruktion auf, vgl. (79).32 Diese Extension betrachtet sie als Indikator dafür “that the perfect construction has neared full grammaticalization in Old Saxon” (Arnett 1997: 45). (79)

As.

the habda at them uuîha sô filu uuintro endi sumaro gilibid […] ‘der hatte in dem Tempel so viele Winter und Sommer gelebt.’ (zitiert nach Arnett 1997: 44)

(H 465)

Darüber hinaus beobachtet sie hebbian + V-PP sogar in einigen mutativen Sätzen. (80a)

As.

habdun mid iro gelôƀon te im fasto gefangen (H 1237–12238) ‘hatten mit ihrem Glauben zu ihm fest gewendet’

(80b)

As.

Habdun thea liudi an tuê mid iro gilôƀon gifangan (H 3900) ‘Hatten die Leute in zwei mit ihrem Glauben gewendet’ (zitiert nach Arnett 1997: 45, Übersetzung MG)

Dass hebbian + V-PP in der prototypischen uuesan-Domäne auftritt, erklärt Arnett dadurch, dass die Sätze unter (80) Eigenschaften des mutativen und des transitiven Prototypen in sich vereinten: Sie sind telisch und punktuell, haben aber ein volitionales Subjekt. M.E. bilden die Belege v.a. Indizien für die starke Extension von hebbian + V-PP im As. Im Zuge der Grammatikalisierung lösen sich die Prototypen der Auxiliarverteilung hier auf.

|| 32 Im Gegensatz zu Arnett wird libbian in dieser Arbeit als State und nicht als Activity bewertet.

154 | Forschungsüberblick und -diskussion

Insgesamt legt Arnetts Studie zur Auxiliardistribution nahe, dass die Extension von hebbian + V-PP, das sogar bei Intransitiven vorkommt, weit fortgeschritten ist. Die Konstruktion scheint damit stärker grammatikalisiert als im Ahd. Behaghels Ausführungen legen dagegen nahe, dass die Perfektkonstruktionen im As. eine ähnliche Funktion erfüllen wie von Kuroda und Oubouzar für das Ahd. beschrieben. Interessant wäre, ob ein Zusammenhang zwischen Funktionsspektrum und Extension der Konstruktionen besteht.

5.3.5 Abbau der Partizipialflexion im Althochdeutschen und Altsächsischen – Indikator für die einsetzende Grammatikalisierung? Anders als im Nhd. kann das Adjektiv im Ahd. und As. auch in prädikativer Position flektieren und mit dem Bezugswort kongruieren (Gallée 1993: 220ff., Braune/ Reiffenstein 2004: 218ff., Fleischer 2007). Daneben existiert aber bereits die endungslose Form, vgl. (81). (81a)

Ahd.

(81b)

As.

inti sat-e uuvrdut und satt-M.Pl. wurdet inti ther man uuas reht-Ø und der Mann war gerecht (zitiert nach Fleischer 2007: 283)

(T 82,4) inti gotforht-Ø (T 5,7) und gottesfürchtig

Dabei gibt es für jede Paradigmenposition eine flektierte und eine unflektierte Form: In morphologischer Hinsicht zeigt sich also im Althochdeutschen eine komplexe Situation: Einerseits scheinen die keine overte Endung aufweisenden Formen, die ursprünglich nur dem Singular und dem Neutrum Plural zukamen, auf den Plural Maskulin und Feminin ausgedehnt zu werden […], womit dann für jede Position im Paradigma eine Form zur Verfügung steht, die keine overte Endung aufweist. Andererseits besteht mit den pronominalen33 Formen für jede Position des Paradigmas auch eine Form, die eine overte Endung aufweist. (Fleischer 2007: 289).

|| 33 Die unflektierten werden auch als nominale Formen bezeichnet, da sie überwiegend mit der starken Substantivflexion übereinstimmen, die flektierten als pronominale, da sie der pronominalen Flexion entsprechen. Erstere sind aus lautgesetzlichen Gründen endungslos. Im Folgenden wird zur Verständniserleichterung von flektierten und unflektierten Formen gesprochen.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 155

Fleischer (2007) zeigt in einer umfangreichen Untersuchung des prädikativen Adjektivs, dass die overten Endungen in erster Linie an bestimmte Paradigmenzellen gekoppelt sind: In den untersuchten ahd. und as. Quellen tendieren v.a. die mask. und fem. Pluralformen zur flektierten Form, im Ahd. flektieren aber auch der Neutr.Pl. und das Fem.Sg. Nur Otfrid weicht auffällig von diesen Tendenzen ab (ebd.: 325ff.), was zumindest teilweise durch den Reim erklärbar sei. Das As. zeigt dagegen „ein geringeres Maß an Variation“ (Fleischer 2007: 289) als das Ahd., weshalb Gallée (1993: 221) für die meisten Paradigmenzellen nur eine Form ansetzt. Flektierte Formen konzentrieren sich im Wesentlichen auf den Plural v.a. des Mask. und Fem.Sg. mit dem Morphem -a/-e, bei dem Klein von „Heterographie für ein einheitliches Phonem /æ/“ (Klein 1997, zitiert nach Fleischer 2007: 290) ausgeht. Der Neutr.Pl. ist dagegen – wie die Singularformen – überwiegend endungslos. Nur vereinzelt tritt (wohl aus analogischen Gründen) das Pluralmorphem -a/-e auf. Analog zum Adjektiv kann auch das Part II in den komplexen Verbformen, wie den in dieser Arbeit betrachteten Konstruktionen habēn/hebbian + V-PP und uuesan + V-PP, flektieren. Interessanterweise tendiert aber das Part II in Fleischers Korpus deutlich stärker zur unflektierten Form als das reine Adjektiv: Während etwa ein Fünftel (Ahd.) bzw. ein Viertel (As.) der Adjektive overte Flexionsendungen zeigt, ist es unter den Part II-Formen nur ein Zehntel (Fleischer 2007: 309ff.). Unflektierte Formen treten besonders in der Konstruktion mit uuerdan auf (z.B. stemma […] gihorit uuard T 10,16 ‘Die Stimme wurde gehört’). Die seltenere Flexion des Part II könnte ein indirekter Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Grammatikalisierung und Abbau der Flexion sein (ebd.: 341). Umgekehrt wird aus der zumindest noch partiell vorhandenen Partizipialflexion in einigen Forschungen auf den adjektivischen Status und damit auf eine kompositionelle Semantik der Konstruktion im Ahd. geschlossen (vgl. z.B. Dieninghoff 1907: 17, Eroms 1990: 83f., Abraham 1991: 128f., 1992: 5, Kotin 1997: 484). Wie das Beispiel der roman. Sprachen zeigt, deutet die Flexion aber nicht notwendigerweise auf eine ungrammatikalisierte Form hin (z.B. it. La pizzeria viene chiusa. ‘Die Pizzeria wird geschlossen-Fem.Sg’, it. La mela? Non l’ho mangiata. ‘Den Apfel-Fem.Sg? Den-Fem.Sg hab ich nicht gegessen-Fem.Sg’). Da Grammatikalisierung auf der Inhaltsseite ansetzt, sollte sie in erster Linie aus der Funktion abgeleitet werden. In Kap. (6) wird überprüft, ob die hier untersuchten ahd. und as. Konstruktionen einen Zusammenhang zwischen overter Kongruenzflexion des Part II und adjektivischem Status erkennen lassen oder ob der Abbau der Flexion auf eine Grammatikalisierung zum Perfekt hindeutet.

156 | Forschungsüberblick und -diskussion

5.3.6 Weitere Entwicklung im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen Im Mhd. ist das Perfekt weiter grammatikalisiert als im Ahd. Dies legt bereits die Tokenfrequenz nahe: Kuroda ermittelt im Tristan (um 1210 n.Chr.) zehnmal so viele Belege für hân + V-PP wie im Otfrid (Kuroda 1999: 63). In ihrer empirischen Untersuchung zur diachronen Entwicklung des Perfekts in Texten zwischen dem 11. und 16. Jh. beobachtet Dentler (1997, 1998) eine Fokusverschiebung vom gegenwärtig andauernden Nachzustand auf das vergangene Geschehen. Diese „Perfekterneuerung“ (Dentler 1997) beschreibt sie als metonymischen Prozess, der sich graduell über fünf sog. Funktionsbereiche (FB) vollzieht. In den frühen Texten dominiert Dentlers FB A stark. Er stellt ein „Sammelbecken für alle Belege dar[…], die nicht zu den übrigen Funktionsbereichen gehören“ (Dentler 1997: 92). Vornehmlich enthält er resultatsbezogene Verwendungen (vgl. 82). Ähnlich beobachtet Kuroda, bei den meisten Perfektbelegen im Tristan sei „der Resultatsbezug deutlich anzunehmen“ (Kuroda 1999: 66). (82)

Mhd.

Der meister sprach: ‘daz hat Got also geschaffen daz si sintz unterscheiden mit wasser unde mit gebirge daz sie nith zu ein ander komen mugen’ (Luc 12:19 ziteriet nach Dentler 1997: 73, Hervorhebung MG)

Wie Kuroda differenziert auch Dentler diese Funktion nicht weiter aus, da ihr Untersuchungsinteresse innovativeren Verwendungen des Perfekts gilt. Zeman (2010), die das Tempussystem im Herzog Ernst (um 1200) untersucht, beschreibt die Funktion dagegen präziser wie folgt. Diese Beschreibung legt ein Resultatsperfekt nahe. Der Verbalvorgang selbst steht nicht im Vordergrund sondern der durch den Abschluss der Verbalhandlung erzeugte resultative Nachzustand, der auf das Subjekt bezogen ist. In der Regel ist eine passivische Stativbedeutung jedoch ausgeschlossen […] Insgesamt kann dem mhd. Perfekt damit nicht mehr die Bedeutung eines Resultativums zugesprochen werden. (Zeman 2010: 192–193)

FB A überwiegt zwar während Dentlers gesamten Untersuchungszeitraums, lässt aber eine diachrone Abnahme verzeichnen: Während der Funktionstyp im 11. Jh. noch 77% aller Perfektbelege stellt, ist er im 16. Jh. auf 62% gesunken. Diese Abnahme lässt sich durch den diachronen Anstieg der übrigen Funktionsbereiche erklären.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 157

Neben FB A existieren von Anfang an Verwendungen, bei denen das vergangene Ereignis stärker hervortritt und die Dentler unter FB -B fasst, vgl. (83). (83a)

Ahd.

(83b)

Mhd.

(83c)

Mhd.

Íh hábo dârfóre geóuget. taz dissimilia bona nemúgen éin sîn (11. Jh./ Notk2 204:3) “(…) nu nim dinen pogen/ der dich selten hat petrogen/ und uar uz iagen/ daz ich mich chunne gelaben…” (11. Jh. Gen 2237) ‘[…] ouch hân ichz gelernet wol/von kinde in mînem muote hie’ (12. Jh. Greg 1566) (zitiert nach Dentler1997: 96, Hervorhebung MG)

FB -B ist in einen gegenwärtigen Kontext eingebettet und bezeichnet ein Ereignis, das entweder in der indefiniten Vergangenheit stattfindet (= Experiential, vgl. Kap. 4.4.3) oder in der (in)definiten Vergangenheit einsetzt und sich bis zum Sprechzeitpunkt erstreckt (= Persistenzperfekt, vgl. Kap. 4.4.4). Der Funktionstyp ist an entsprechenden Temporaladverbialen, Adverbialen der Frequenz oder der zeitlichen Erstreckung erkennbar. Auch Kuroda beobachtet im Tristan durative und iterative Ereignisse, in denen der Resultatsbezug geschwächt ist (Kuroda 1999: 65). Nach Zeman (2010: 195) stellt sich die verlaufsbezogene Lesart insbesondere bei bestimmen Verbklassen ein: So „rückt das Verbalereignis selbst in den Vordergrund“, wenn der Satz atelische34 Verben enthält. Ihre Beschreibung der betreffenden Belege entspricht ziemlich genau der Definition des Experientials in Kap. (4.4.3). Trotz des Vergangenheitsbezugs unterscheidet sich das Perfekt dennoch von einem Vergangenheitstempus wie dem Präteritum, indem […] nicht der Verlauf der Verbalhandlung im Vordergrund steht, sondern das Faktum, dass ein Verbalereignis stattgefunden hat. (Zeman 2010: 195)

In Dentlers Korpus steigt der Anteil von FB -B von 21,8% im 11. Jh. auf 32% im 14. Jh. an, lässt zum 16. Jh. hin aber einen erneuten Rückgang auf 16% erkennen. Die Brücke vom Präsensperfekt zur generellen Vergangenheit bildet Dentlers FB B. Die Konstruktion ist in einen präteritalen Kontext eingebettet, treibt die Handlung aber nicht als Teil der Ereigniskette voran, sondern wird redeeinführend, kommentierend, redeabschließend oder gliedernd gebraucht. Dadurch tritt der Sprecher bzw. der Schreiber selbst in den Vordergrund.

|| 34 Zeman selbst spricht von „imperfektiven Verben“ (ebd.: 195).

158 | Forschungsüberblick und -diskussion

(84a)

Redeabschließend Mhd.

(84b) Mhd.

(84c) Mhd.

(84d) Ahd.

[…] do cherten si sich widere zuo ir rehten vorderen zu gote unt zuo der heiligen […]. Von diu habet der tiufal sin errun arbeite verlorn. (12. Jh. Phys /Wiener Prosa/ 64:3, zitiert nach Dentler 1997: 112; Hervorhebung MG) Kommentarfunktion An disem ungewinne/ erzeigete ouch vrou Minne/ ir swære gewonheit:/ si machetie nâch liebe leit./ alsam ist in erwallen/ daz honec mit der gallen./er begunde sêre weinen,/… (12. Jh. Greg. 139, zitiert nach Dentler 1997: 115; Hervorhebung MG) Einführungsfunktion Nu hör zu, man, und vornym, weip, und lernt beide zucht und tugund! es ist geweßen eyn fürst eyns landes, der gepurt ey margrafe, und der waz auß der maßen guter sytten… (15. Jh. Gris 1:16, zitiert nach Dentler 1997: 117; Hervorhebung MG) Texgliederungsfunktion (139) (…) Daz leid uuas mir so harto âna daz iz mih in súhte uuis slêuuen téta (…) (142) Din reht ist êuuig reht… (143) Vvaz ist mir danne geskehen? Arbeite unde ángeste begágendon mir îo doh uuâren dîniu gebót, min gedang (11. Jh. Notk1 933:17, zitiert nach Dentler 1997: 120; Hervorhebung MG)

Dentler beobachtet einen „leichten, aber markanten Anstieg“ von FB B: Zunächst kommt die Funktion in ihrem Korpus gar nicht vor, erreicht im 16. Jh. aber immerhin knapp 10%. Aus einem bei Oubouzar (1974) zitierten Notkerbeleg schließt Dentler aber, dass der Funktionsbereich bereits im Spätahd. vereinzelt vorkommt, vgl. (84d). Der Perfektbeleg in (84d) unterbricht einen Ereignisbericht und stellt einen Bezug zum Sprechzeitpunkt her, der u.a. am Dativobjekt mir erkennbar ist. Auch Oubouzar bemerkt, dass der Satz nicht mehr allein einen gegenwärtigen Tatbestand, sondern das Ereignis selbst bezeichnet. Sie wertet den Beleg deshalb als Anzeichen für die beginnende funktionale Verschiebung von uuesan + V-PP.

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 159

Die übrigen beiden Funktionstypen, die Dentler ansetzt, zählen zur Kategorie der generellen Vergangenheit. Sie sind in ihrem Korpus selten. FB B+ bezeichnet ein Ereignis in der definiten Vergangenheit, das in einen präsentischen Kontext eingebettet ist und „auf einen im Redezusammenhang isolierten […] Sachverhalt“ (Dentler 1997: 80) verweist. Die Referenz auf die definite Vergangenheit kann durch temporale Adverbiale, aber auch durch NPs markiert sein, die auf historische Personen referieren, vgl. (85). FB B+ tritt in Dentlers Korpus erst ab dem 12. Jh. auf und erreicht im 16. Jh. 4% aller Perfektbelege. (85)

Mhd.

‘es habent Römer gesiget e,/ ee Jesus wurde menschleich/geporn. Aber in seins vater reich/ ist er und was auch ye…’ (14. Jh. Märt 25. Eustachius: 8031, zitiert nach Dentler 1997: 126; Hervorhebung MG)

Die letzte Phase der „Perfekterneuerung“ bildet FB C. Hier hat sich die Konstruktion zum Marker der allgemeinen Vergangenheit entwickelt. Sie referiert auf ein Ereignis in der definiten Vergangenheit, das in einen präteritalen Kontext eingebettet ist. Der temporale Fokus wird durch ein Temporaladverbial der definiten Vergangenheit markiert. (86)

Mhd.

jâ stuont daz selbe hiuselîn/ nâch iu niht zwelf wochen/ ê daz ez wart zerbrochen:/ ich hân ez allez verbrant,/ beidiu dach und want./ ich truoc iu dô sô herten muot:/.. (12. Jh. Greg. 3706, zitiert nach Dentler 1997: 139)

Bis zum 14. Jh. beobachtet Dentler (1997: 146) fast keine Belege für FB C, im 15. und 16. Jh. tritt er aber immerhin mit 7,6% bzw. 6,8% auf. Entsprechend enthält nach Zeman (2010: 195) auch der Herzog Ernst keine Perfektformen mit genereller Vergangenheitsfunktion. Dagegen weist der Tristan laut Kuroda (1999: 67) bereits Perfektbelege auf, die in einer sequenziellen Ereigniskette mit dem Präteritum alternieren, wobei er die genauen Frequenzverhältnisse nicht angibt. Das anfänglich geringe Vorkommen spricht für den jungen Charakter der Funktion. Im fnhd. Fortunatus hat sich „[d]er Verwendungsbereich der Konstruktion“ laut Kuroda „entscheidend erweitert“ (Kuroda 1999: 69). Hier gebe es „kein[en] bemerkenswerte[n] Unterschied zum Gegenwartsdeutschen mehr“ (ebd.). Zwar bestehen die schon im Otfrid beobachteten resultatsbezogenen Verwendungen weiter fort, doch gibt es noch häufiger als im Tristan Fälle, die das Ereignis stärker

160 | Forschungsüberblick und -diskussion

fokussieren und „Belege, bei denen die haben-Perfektkonstruktion als Vorzeitigkeitsform interpretiert werden kann“ (Kuroda 1999: 73). Kategorie

Perfektfunktionen

Taxonomie nach Dentler (1997)

(vgl. Kap. 4) Resultativ Resultatsperfekt Präsens-

Experiential

perfekt

Persistenzperfekt

Funktionsbereich A Funktionsbereich –B

Hot News Funktionsbereich B generelle Vergangenheit

Funktionsbereich B+ Funktionsbereich C

Abb. 34: Dentlers Taxonomie in Relation zur Polysemie der Perfektkonstruktion im Deutschen

Abbildung 34 fasst Dentlers Taxonomie der metonymischen Perfekterneuerung zusammen und setzt sie in Beziehung zu den Kategorien Resultativ, Präsensperfekt, das weiter nach den in Kap. (4) erarbeiteten Perfektfunktionen ausdifferenziert wird, und generelle Vergangenheit. Im Vergleich zur Schwesterkonstruktion mit hân ist sîn + V-PP deutlich infrequenter: In Dentlers gesamtem Untersuchungszeitraum macht die Konstruktion nur 10–20% der Perfektbelege aus (1997: 55), Zeman ermittelt 20 Belege gegenüber 121 mit hân + V-PP. Diese geringe Token- geht mit einer geringen Typenfrequenz einher; im Herzog Ernst „stellt ein Drittel der Belege (n = 6) das Verb (zû/ her) komen ‘(her-)kommen, ausfahren’“ (Zeman 2010: 214). Was die temporal-aspektuelle Funktion angeht, ermittelt Zeman viele uneindeutige Fälle, wobei die Konstruktion insgesamt „näher an der präsentischen Lesart verortet zu sein“ scheint als hân + V-PP (ebd.). In drei Belgen mit einem atelischen Verb ist aber „eine präsentische Bedeutung ausgeschlossen (ebd.: 215). In diesen Verwendungen sei die Konstruktion bereits „in die Nähe der hân-Konstruktion“ gerückt (ebd.: 217). Es wird deutlich, dass bereits im Mhd. eine schwache Grammatikalisierung von sîn + V-PP stattgefunden hat. Dass beide Konstruktionen zum Präsensperfekt grammatikalisiert sind, scheint auch Sapp (2011) vorauszusetzen, der die Hilfsverbverteilung im Bonner Frühneuhochdeutsch Korpus untersucht. In seinen Ergebnissen sieht er Soraces

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 161

ASH bestätigt (vgl. Abschnitt 5.1.3.1): Verben die gemäß der ASH zum Kernbereich der HABEN-Selektion zählen, wählen ausnahmslos haben + V-PP. Auch Soraces sein-Prototyp bestätigt sich weitgehend: Die wenigen Ausnahmen, die Sapp hier ausmacht, sind m.E. dadurch erklärbar, dass es sich nicht um Ortswechsel-, sondern um Bewegungsverben handelt. (87a)

Fnhd.

(87b)

Fnhd.

(87c)

Fnhd.

wie wir also drey Stundt vngefehr hatten gefahren (Amerika 23) do derselue man alsus eyne wile vp der straissen gegangen hadde (Buch Köln 426) nach dem sye ein gantzest Jahr schier an diesem Wasser hatten gereyset (Amerika 12) (zitiert nach Sapp 2011: 36)

Dennoch überrascht es, dass auch telisch gebrauchte Bewegungsverben ein haben-Perfekt bilden. Belege wie unter (88) und werfen Zweifel daran auf, dass die Hilfsverbwahl historisch streng nach Aktionsart organisiert war (s. auch Abschnitt 5.1.1 Fußnote 2). (88a)

Fnhd.

(88b)

Fnhd.

(88c)

Fnhd.

(88d)

Fnhd.

(88e)

Fnhd.

(88f)

Fnhd.

habe mithin an das ander gstad geylt (Gespenster 40) Robertus hatt auch mit sundrem Ernst haim geeylet. (Nachbarn 26) Sy hedden by yn getreden vnd nyet by dat banner. (Buch Köln 441) daz ich von gotes leichnamen getreten han auf gotes mine (Namen 8vA) der erst mit ganzen willen vser der welte getretten het (Mannen 6) wann ... zu der stund hat Christus gestigen ans chrewcz (Rationale 14–15) (zitiert nach Sapp 2011: 37)

Wie mit Sorace zu erwarten, zeigen Verben, die im mittleren Bereich der ASH angesiedelt sind, Variation. Insbesondere die stativen Positionsverben liegen, sitzen und stehen sind davon betroffen (Sapp 2011: 38ff.). Das schwankende Hilfsverb führt Sapp darauf zurück, dass diese Verben im Mhd. neben dem atelischen Verweilen auch das telische Einnehmen einer Position bezeichneten. Sein Korpus enthält für den letzteren Gebrauch aber keine Belege, weshalb er schlussfolgert,

162 | Forschungsüberblick und -diskussion

dass die Hilfsverbvariation bereits im Fnhd. ein Relikt der früheren Semantik ist. Synchron sei die Wahl des Perfekthilfsverbs durch verschiedene Faktoren bestimmt. So tendiere das Lexem liegen deutlich stärker zu sein als stehen und sitzen. Ferner bilden die fnhd. Belege bereits die heutigen regionalen Tendenzen ab: Während sein + V-PP im Mitteldeutschen (Mdt.) nur in etwa 50% der Belege auftritt, wird die Konstruktion im Obdt. fast ausschließlich gewählt (ebd.). In den verbleibenden Fällen tritt haben signifikant häufiger auf, wenn der Satz ein Adverbial der Duration enthält. Dies spricht für semantische Unterschiede zwischen den Konstruktionen mit haben und sein. Interessanterweise ist der Effekt aber besonders deutlich, wenn das Adverbial die Form eines Akkusativs hat, vgl. (89). (89)

Fnhd.

Do die werlet gestanden hatte fünfzen jar (Rothe Chronik 17) (zitiert nach Sapp 2011: 39)

Sapp vermutet “that these accusative NPs are reanalyzed as objects, thus the auxiliary that is typical of transitive verbs is selected” (Sapp 2011: 39). Die Tendenz zu haben ließe sich aber m.E. schon durch die formale Ähnlichkeit zu transitiven Sätzen erklären, die die Wahl desselben Hilfsverbs fördert. Insgesamt erfüllt das Perfekt im Mhd. „prototypische Perfektsemantik“ (s. Zeman 2010: 218). Dies bezieht sich nicht nur auf hân + V-PP, sondern auch auf sîn + V-PP, das bereits vereinzelt mit atelischen Verben auftritt und damit eine zumindest schwache Grammatikalisierung zeigt. Bei beiden Kosntruktionen dominieren in der gesamten Periode resultatsbezogene Verwendungen, sie nehmen aber diachron anteilig ab. Ab dem 14. Jh. treten Verwendungen auf, die als Marker der generellen Vergangenheit angesehen werden können. Eine Brücke zwischen Präsenperfekt und genereller Vergangenheit bildet nach Dentler Funktionsbereich B, der redeeinführend, -abschließend, kommentierend oder gliedernd einen Sprecherbezug in einem präteritalen Kontext herstellt. Die Verteilung der Hilfsverben bildet bereits im Fnhd. weitgehend die graduellen Stufen von Soraces ASH ab. Auffälligerweise zeigen aber die Bewegungsverben Hilfsverbvariation, die nicht an Aktionsart gekoppelt ist. Überdies kann ein formaler Akkusativ die Wahl von haben + V-PP begünstigen.

5.3.7 Zusammenfassung Es lässt sich festhalten, dass ahd. habēn/eigan + V-PP in der Forschung als Präsensperfekt angesehen wird. Bei uuesan + V-PP ist dagegen umstritten, ob es sich

haben + V-PP und sein + V-PP im diachronen und diatopischen Vergleich | 163

um eine kompositionelle Kopulakonstruktion oder um ein bereits (schwach) grammatikalisiertes Präsensperfekt Innerhalb der westgerm. Altsprachen deutet sich ein Nord-Süd-Gefälle an: Neuere Untersuchungen zum Ae. zeigen, dass sich habban + V-PP hier schon zum Präsensperfekt entwickelt hat, dagegen sei beon + V-PP in der gesamten engl. Sprachgeschichte nicht grammatikalisiert. Arnetts Untersuchung der Auxiliardistribution im Heliand deutet auf eine starke Extension im As. hin, die deutlich weiter fortgeschritten scheint als im Ahd. Was die temporal-aspektuelle Funktion anbelangt, sind aus der Forschungsliteratur keine Unterschiede zwischen den ahd. und as. Konstruktionen erkennbar. Es handelt sich um ein Präsensperfekt mit starkem Resultatsbezug. Eine genaue Bestimmung der Funktion steht bisher aber noch aus. Im Mhd. erfüllen beide Konstruktionen Perfektfunktion, wobei sie durch einen starken Resultatsbezug gekennzeichnet sind. Dentler (1997) beobachtet eine zunehmende Verlagerung des temporalen Fokus vom Resultat auf das vorausgehende Ereignis. Ab dem Fnhd. fungieren die Perfektkonstruktionen regelmäßig als Marker der generellen Vergangenheit.

6 Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen Dieses Kap. präsentiert die Korpusuntersuchung in den ahd. und as. Quellen. Das Hauptuntersuchungsinteresse gilt der temporal-aspektuellen Funktion von uuesan + V-PP und haben + V-PP und, damit verwandt, der Frage nach der Distribution der Konstruktionen über semantisch-strukturelle Kontexte. Beides sind Indikatoren für den Grammatikalisierungsgrad. (6.1) widmet sich dem methodischen Vorgehen, wobei zunächst Korpora, Untersuchungsmethode und anschließend die Analysemethode vorgestellt werden. Da die Analysemethode wesentlich auf den theoretischen Überlegungen in Kap. (4) aufbaut, werden hier nur die Kernpunkte skizziert. Die nachfolgenden Abschnitte präsentieren die Ergebnisse, die bei der Untersuchung der Einzelquellen erzielt wurden. Dabei folgt die Darstellung der Chronologie der untersuchten Texte, beginnend bei Isidor (Kap. 6.2), über Tatian (Kap. 6.3) bis hin zu Otfrid (Kap. 6.4). Anschließend werden der as. Heliand (Kap. 6.5) und die as. Genesis (Kap. 6.6) in den Blick genommen. Kap. (7) zieht schließlich einen resümierenden Vergleich über die gewonnen Ergebnisse und bettet sie in ein gebrauchsbasiertes Modell ein.

6.1 Korpora und Methodologie In dieser Arbeit werden die Perfektkonstruktionen in den folgenden ahd. und as. Texten untersucht: Althochdeutsch Isidors De fide catholica ex verteri et novo testamento contra Iudaeos (Übersetzung aus dem Lat. spätes 8. Jhdt.) Tatians Diatessoron (Übersetzung aus dem Lat. um 840 n.Chr.) Evangelienharmonie Otfrid von Weißenburgs (Bibeldichtung um 870 n.Chr.) Altsächsisch Heliand (Bibelepos um 840) Genesis-Fragmente (Bibelepos um 870)

Korpora und Methodologie | 165

Die Auswahl ist v.a. durch den Umfang der Texte motiviert. Bei den jungen Konstruktionen habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP ist mit einer geringen Tokenfrequenz zu rechnen. Um dennoch auf eine repräsentative Belegzahl zu kommen, müssen möglichst umfangreiche Texte ausgewertet werden. Der Isidor enthält nach Petrova (2014: 36) 5.892 Wörter, der Tatian 54.109 und der Otfrid 79.341. Für den Heliand wurden hier ~25.000 und für die Genesis ~3.000 Wörter ermittelt.1 Tabelle 21 bietet eine Übersicht über die untersuchten Texte und die Anzahl laufender Textwörter. Tab. 21: Umfang der untersuchten althochdeutschen und altsächsischen Textkorpora

Althochdeutsch

750-800

Altsächsisch

Text

Wörter

Text

Isidor (I)

5.892

--

Wörter

800-850

Tatian (T)

54.109

Heliand (H)

~25.000

850-900

Otfrid (O)

79.341

Genesis (G)

~3.000

Die quantitativen Vorteile dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass keiner der Texte bedenkenlos für die linguistische Untersuchung geeignet ist. Mit Blick auf sprachwissenschaftliche Fragestellungen wären autochthone Prosatexten vorzuziehen, da diese weder durch eine anderssprachige Vorlage beeinflusst noch durch dichterische Freiheit verfremdet sind (Fleischer 2006: 28). Autochthone Prosatexteist sind für das Ahd. aber in zu geringem Umfang überliefert. Bei den Isidor- und Tatianbilinguen ist mit starkem Einfluss der lat. Vorlage zu rechnen. Dies trifft besonders auf Tatian zu, der nach Lippert (1974) nahezu interlineare Züge aufweist und infolgedessen grammatische Strukturen enthält, die sich nicht in anderen ahd. Texten beobachten lassen und z.T. sogar ungrammatisch sind. Dittmer/Dittmer (1998: 20) bemerken jedoch einschränkend, dass der Einfluss der Vorlage von der jeweiligen grammatischen Konstruktion abhängt: So wird etwa das Subjektspronomen in Tatian häufiger entgegen der lat. Vorlage realisiert als in Isidor. Matzel (1970: 357) macht zudem darauf aufmerksam, dass bei Isidor ein Unterschied zwischen Bibelzitaten und Kommentarpassagen besteht (s. auch Fleischer 2006: 35). Letztere zeigen eine || 1 Um die ungefähre Anzahl der Textwörter im Heliand und der Genesis zu ermitteln, wurde der digitalisierte Text aus der Textdatenbank Titus (http://titus.uni-frankfurt.de/indexd.htm) kopiert und in ein Dokument des Textverabeitungsprogramms Microsoft Word eingefügt. Mithilfe der Funktion „Wörter zählen“ konnte so die ungefähre Anzahl der Wörter ermittelt werden.

166 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

höhere Eigenständigkeit, während sich die Bibelzitate eng an den Vulgatatext halten. Seit Masser (1997) ist außerdem bekannt, dass die starke Verpflichtung des Tatianübersetzers gegenüber der lat. Vorlage nicht (ausschließlich) mit dem Unvermögen des Übersetzers, sondern im Wesentlichen mit der Konzeption der Handschrift zusammenhängt. Es gilt als oberstes Prinzip, dass eine Zeile der Ausgangssprache immer durch genau eine Zeile der Zielsprache wiedergegeben wird und beide im Umfang übereinstimmen (Masser 1997: 128). Diesem sog. Prinzip der korrespondierenden Zeilen sind sprachliche Aspekte nachgeordnet, was zu einer hohen strukturellen Übereinstimmung von lat. Ausgangs- und ahd. Zielsprache führt und dadurch z.T. zu den bereits erwähnten ungrammatischen Konstruktionen führt. Bei der Tatianbilingue ist es deshalb von besonderem Belang, mit einer Edition zu arbeiten, die den Zeilenumfang handschriftengetreu abbildet, um den Einfluss der Zeilenlänge mit einzubeziehen. V.a. für Tatian hat sich für die Untersuchung syntaktischer Phänomene seit Ruhfus (1897) das sog. Differenzprinzip etabliert (vgl. auch Dittmer/Dittmer 1998, Fleischer/Hinterhölzl/Solf 2008): Man beschränkt sich auf die Stellen, die von der lat. Vorlage abweichen. Dieses Vorgehen beruht nicht nur auf der Überlegung, Belege, die eine lat. Struktur imitieren, auszuschließen. In Übersetzungen die der lat. Vorlage stark verpflichtet sind, werden sog. Differenzbelege sogar als besonders aussagekräftig bewertet, da der Übersetzer hier bewusst von der Vorlage abweicht (Donhauser 1998, Fleischer/Hinterhölzl/Solf 2008). Bei der folgenden Untersuchung des Isidor und des Tatian wird deshalb den Differenzbelegen höhere Priorität eingeräumt. Nach Jäger (2008: 7) zeigen allerdings auch übereinstimmende Strukturen authentischen Sprachgebrauch auf, in dem Sinne, dass die realisierte Konstruktion eine im ahd. System zumindest mögliche Verwendung wiederspiegelt. Daher werden die Belege mit übereinstimmender Vorlage aus der folgenden Analyse nicht ausgeschlossen. Diese Belege bringen aber immer das Problem auf, zu entscheiden, „[w]elche Belege […] für authentische althochdeutsche Konstruktionen [stehen], bei welchen Belegen […] es sich um ‚Phantomstrukturen‘ [handelt], und welche Belege […] an sich grammatische Strukturen in unauthentischer Distribution zeigen“ (Fleischer 2008: 50). Deshalb ist hier der ständige Vergleich mit dem lat. Text besonders wichtig. Ein drastisches Beispiel für eine durch die Vorlage induzierte Konstruktion bildet der Dativus Absolutus, der (nahezu) ausschließlich in den Übersetzungstexten auftritt und hier stets den lat. Ablativus Absolutus wiedergibt. Bei dieser Konstruktion kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um authentischen Sprachgebrauch handelt (Fleischer 2008: 42ff.). In der folgenden Untersuchung gilt es, ähnliche Fälle, die offensichtlich durch Imitation der lat. Vorlage entstanden sind, zu identifizieren. Wenn die hier untersuchten Konstruktionen also in

Korpora und Methodologie | 167

Kontexten auftreten, die nur in Übersetzungstexten vorkommen und die lat. Struktur nachahmen, werden sie mit Vorsicht behandelt. Nicht nur die Arbeit mit den Übersetzungen, sondern auch mit dem autochthonen Otfrid ist problematisch, da es sich um einen poetischen Text handelt. In der Forschung wurde beobachtet, dass stilistische Unterschiede zwischen der ahd. Prosa- und Poesiesprache bestehen (Fleischer 2008). Als Haupteinflussfaktoren lassen sich dabei der Endreim und das Metrum ausmachen. Bei Formen, die ausschließlich in Reimposition vorkommen, kann davon ausgegangen werden, dass es sich, wenn nicht um ungrammatische, so doch um weniger gebräuchliche (markierte) Verwendungen handelt. Dazu zählt bspw. die Kongruenzflexion des Partizips mit dem direkten Objekt in der Fügung uuesan + Part I wie in warun [...] gibot sinaz fullentaz ‘sie war sein Gebot (er)füllend’ (Fleischer 2008). Darüber hinaus kann sich das alternierende Versmaß auf die Wahl einer Konstruktion auswirken. Ob der letztere Faktor Einfluss auf die Wahl der analytischen Perfektformen gegenüber dem synthetischen Präteritum nimmt, lässt sich aus heutiger Perspektive kaum entscheiden. Verschärft wird die Problematik dadurch, dass die untersuchten Texte dialektal heterogen sind (s. auch Fleischer 2007: 322 f.). So repräsentiert der südrheinfränkische Otfrid eine deutlich südlichere Varietät als der ostfränkische Tatian. Unterschiede zwischen den Quellen können somit regional bedingt sein. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass der ca. 50 Jahre später verfasste Otfrid automatisch ein späteres Entwicklungsstadium widerspiegelt. Die Unterschiede können auch regional bedingt sein. Der Vergleich mit den as. Texten zielt direkt darauf, regionale Unterschiede zu ermitteln. Zwar ist das As. im Gegensatz zum Ahd. in deutlich geringerem Umfang tradiert (s. Tabelle 21, allerdings sind die überlieferten Texte für sprachwissenschaftliche Untersuchungen besser geeignet. Die Hauptquelle bildet das Heliandepos. Die wohl in westfälischem Schreibdialekt verfasste Bibeldichtung entstand in etwa zeitgleich mit Tatian (um 840 n.Chr.), entspricht gattungsmäßig aber eher Otfrid. Zwar ist auch hier mit Einfluss des Stabreims zu rechnen, jedoch lässt dieser größere Freiheit als Otfrids Endreim mit alternierendem Versmaß. Da sich die Alliteration zudem schwerpunktmäßig auf nominale Elemente konzentriert (Lehmann 1953: 162), ist der Einfluss auf die Wahl des Verbs bzw. der Verbform als gering einzuschätzen. Auch die Verslänge scheint keine starken Konsequenzen nach sich zu ziehen: Aufgrund des sog. „Hakenstils“, d.h. regelmäßiger Enjambements, sind Vers- und Satzbeginn in der Mehrheit der Fälle nicht identisch (Sowinski 1985: 288), sodass auch die Verslänge nur einen geringen Einflussfaktor bildet. In poetischen Texten besteht jedoch immer das Problem, dass durch dichterische Freiheit ungrammatische bzw. markierte Strukturen

168 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

auftreten. Bei fehlenden prosaischen Vergleichstexten lassen sich diese Fälle vom heutigen Standpunkt aus leider kaum identifizieren. Zusätzlich wurden für die Untersuchung des As. die Genesis-Fragmente (um 870 n.Chr.) herangezogen. Die ebenfalls stabreimende Dichtung ist nur bruchstückhaft in drei Fragmenten überliefert (Krogh 1996: 117). Der Text wurde trotz des geringen Umfangs herangezogen, da er als Vergleichstext zu dem as. Heliand dienen kann: An der Genesis kann überprüft werden, ob die Grundtendenzen, die im Heliand ausgemacht wurden, auch für weitere as. Texte Gültigkeit besitzen. Damit können Eigenheiten eines Verfassers ausgeschlossen werden. Die Untersuchung ging zunächst von der Textdatenbank des Projekts Titus (Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialien) der Universität Frankfurt aus,2 wo die Texte in digitalisierter Form vorliegen und frei zugänglich sind. Im Gegensatz zu Editionen bietet das digitalisiert Textkorpus3 den Vorteil, dass die Belege mithilfe der Suchfunktion schneller ermittelt werden können. Dafür wurde nach den finiten Formen von uuesan und habēn/eigan bzw. hebbian in allen Tempora (Präsens u. Präteritum) und Modi (Indikativ u. Konjunktiv) und in unterschiedlichen Schreibvarianten gesucht. Danach wurden die erzielten Belege mit den Ergebnissen vorausgehender Untersuchungen verglichen, auf Vollständigkeit überprüft und bei Bedarf ergänzt. Für das Ahd. waren hierfür v.a. die empirisch ausgerichtete Arbeit von Joseph Dieninghoff (1907) sowie mit Blick auf Otfrid Kurodas (1999) Untersuchung der Perfektumschreibungen von Relevanz. Die im as. Heliand ermittelten Belege wurden mit Arnetts (1997) Daten abgeglichen. Lediglich für den Genesis-Text gab es keine vergleichbare Untersuchung. Da die Titus-Textdatenbank selbst nicht handschriftenbasiert ist und z.T. auf älteren Editionen beruht, bei denen durch das Abtippen Fehler entstanden sein könnten, wurden die Belege im Anschluss mit jüngeren Editionen, die sich stärker an den Handschriften orientieren, verglichen. Dabei wurden folgende Editionen verwendet: Isidor von Sevilla: Eggers (1964) Tatian: Masser (1994) Otfrid: Kleiber (2004–2010) Heliand: Taeger (1996) Genesis-Fragmente: Taeger (1996)

|| 2 Zum Zeitpunkt der Untersuchung war das DDD Referenzkorpus Altdeutsch leider noch nicht zugänglich. 3 http://titus.fkidg1.uni-frankfurt.de/indexd.htm

Korpora und Methodologie | 169

V.a. mit Blick auf Tatian war ein Abgleich mit der Edition von Masser (1994) wegen dem Prinzip der korrespondierenden Zeilen (s.o) unumgänglich. Da der in Titus enthaltene Text auf Sievers (1961) beruht, folgen die Stellenangaben aber dieser Edition. Als Hilfsmittel zur Übersetzungen der ahd. Texte wurden vornehmlich die Glossare der Einzeltexte herangezogen. Dabei wurde für Isidor mit Hench (1893) für Tatian mit Sievers (1961), für Otfrid mit Kelle (1881/1963) gearbeitet. Ergänzt wurden die Glossare durch die Wörterbücher von Schützeichel (72012) sowie Köbler (1995). Für die Übersetzung der as. Texte erwiesen sich das Altsächsische Wörterbuch von von Holthausen (1954) sowie Köbler (2013) als sehr hilfreich. Um das Funktionsspektrum von SEIN + V-PP und HABEN + V-PP in den ahd. und as. Texten zu bestimmen und zwischen kompositionellem Resultativ und weiteren, nicht-kompositionellen Perfekttypen zu unterscheiden, werden die in Kap. (4) erarbeiteten Identifikationsmerkmale angewandt, vgl. Tabelle 22. Diese Merkmale bieten die Grundlage für die folgende qualitative Analyse, vgl. (6.2)– (6.6). Mithilfe dieser Merkmale soll die temporal-aspektuelle Funktion von HABEN + V-PP und SEIN + V-PP möglichst objektiv bestimmt werden. Einschränkend ist zu bemerken, dass v.a. die von Mittwoch (2008) getroffene Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Resultatsperfekt bei der Analyse der historischen Daten nicht getroffen werden konnte, da sie durch dieselben adverbialen Marker charakterisiert sind. Diese Unterscheidung wird bei der Analyse deshalb nicht vorgenommen. Neben der Funktion werden die Verwendungskontexte untersucht. Einmal wird die semantische Verbklasse des Vollverbs bestimmt, wobei die Unterscheidung zwischen telischer und atelischer Aktionsart im Vordergrund steht. Kommen die Konstruktionen bei atelischen Verben vor, hat eine Ausweitung über die ursprünglichen Auftretenskontexte stattgefunden. Darüber hinaus wird die Argumentstruktur betrachtet. Es werden transitive und intransitive Sätze unterschieden, wobei erstere weiter nach dem Grad der Transitivität klassifiziert werden. Das Subjekt wird nach [+/- belebt] kategorisiert, das direkte Objekt wird nach Prototypizität bestimmt. (Pro)Nomen sind prototypischere Objekte als Nebensätze, akkusativische NPs prototypischer als Genitive. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, ob es einen Zusammenhang zwischen Verwendungskontexten und Funktion der Konstruktionen gibt.

= Tempus Finitum

lokalisiert Zeitpunkt des lokalisiert Zeitpunkt des Zielzustandes oder resultierenden Zustands Zielzustandes

Fokussierung des Zielzustandes

Tempus Kontext

Adverbial der Zeit

Adverbial der Dauer

Kopulakonstruktion

Subjekt des Zielzustandes

Koordination

Thema

Subjekt des Zielzustandes

folgendes Ereignis

Lokalangabe (meist Dat) Direktionalangabe

Dativpronomen

nicht obligatorisch

folgendes Ereignis

Direktionalangabe

Dativpronomen, Modalaverbiale

lokalisiert Beginn der Ereignisspanne

= Tempus Hilfsverb

[- gebunden]

[AUX + V-PP]

Ereignis, das von Vgh. bis zum Sprechzeitpunkt andauert

Engl. I have been living here since 1970.

Persistenzperfekt

nicht obligatorisch

folgendes Ereignis

Direktional u. Lokal

Modalaverbiale, Adverbial der Frequ.

nicht obligatorisch

folgendes Ereignis

Direktional u. Lokal

Adverbial der zeitl. Erstreckung (oblig.)

Fokussierung des Ereignisverlaufs

lokalisiert Ereignis in der indef. Vgh.

= Tempus Hilfsverb

---

= Tempus Hilfsverb

[AUX + V-PP]

---

Vergangenes Ereignis (typenfokussierend)

Ich bin schon einmal in New Zork gewesen.

Experiential

[AUX + V-PP]

Fokussierung des Zielzustandes oder resultierenden Zustands

= Tempus Hilfsverb

[+ telisch] [+/- Zielzustand]

Lokaladverbial

Weitere Modikatoren noch, total

[+ telisch] [+ Zielzustand]

Verbsemantik

[AUX + V-PP]

[Kop] + [V-PP]Adj

Struktur

Vergangenes Ereignis, dessen resultierender Zustand gleichzeitig andauert

Attribution eines Nach- vergangenes Ereignis, zustands an ein internes dessen Nachzustand Argument am internen Argument gleichzeitig andauert

Funktion

Hast du meinen Schlüssel gesehen?

Resultatsperfekt i.w.s

Der Schlüssel ist (immer Ich habe meinen noch) verschwunden. Schlüssel verloren.

Resultatsperfekt i.e.S

Beispiel

Resultativ

Tab. 22: Kriterien zur Bestimmung der temporal-aspektuellen Funktion

170 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Isidor | 171

6.2 Isidor Der früheste der hier untersuchten Texte, die südrheinfränkische Isidorbilingue (um 790 n.Chr., Metz/Lothringen), enthält nur wenige Belege für die Konstruktionen. Tabelle 23 gibt zunächst einen Überblick über die Tokens in beiden Tempora und Modi des Finitums: Tab. 23: Vorkommen von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP im Isidor

Finitum im

habēn/eigan +V-PP

uuesan + V-PP

Präs. Ind.

0

4

Präs. Konj.

0

0

Prät. Ind.

0

0

Prät. Konj.

0

0

gesamt

0

4

Während habēn/eigan + V-PP im Isidor gar nicht belegt ist, kommt uuesan + VPP insgesamt viermal vor. Die geringen Belegzahlen der Konstruktionen sind zunächst mit dem geringen Textumfang erklärbar. Überdies bietet das lat. Original für habēn/eigan + V-PP keine direkte Vorlage. Trotzdem ist das gänzliche Fehlen der Konstruktion bemerkenswert: Eine teil- bzw. vollkonventionalisierte Konstruktion sollte auch unabhängig von der lat. Vorlage auftreten. Das Fehlen von habēn/eigan + V-PP legt deshalb nahe, dass die Konstruktion im Sprachsystem der Isidorschreiber nicht (stark) etabliert ist. Auch uuesan + V-PP ist mit vier Belegen vergleichsweise selten und auf Formen mit einem Finitum im Ind.Präs. beschränkt. In den folgenden Abschnitten werden die vier Belege zunächst vorgestellt und dann getrennt nach Differenzbelegen und Belegen mit übereinstimmender Struktur in der lat. Vorlage qualitativ analysiert. Für einen ersten Überblick sind alle im Isidor ermittelten Belege der Mikrokonstruktion mit uuesan + V-PP unter (1) aufgeführt. (1a)

Lat. Ahd.

(1b)

Lat. Ahd.

Dum ad eam conuertitur Innan dhiu ir chiuuoruan ist (I IX,8) Während ihr zugewandt ist ‘Während er ihr zugewandt ist’ dominus iesus christus olim uenisse dhazs druhtin nerrendeo christ dass Herr rettender Christ

172 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Ahd.

(1c)

Lat. Ahd. Ahd.

(1d)

Lat. Ahd. Ahd.

iu ist langhe quoman (I V,6) schon ist lange gekommen ‘dass der Messias schon lange gekommen ist’ a patre per illum cuncta creata esse noscuntur. chichundit dhazs fona dhemu almahtigin fater gekündet dass von dem allmächtigen Vater dhurah inan ist al uuordan (I II,3) durch ihn ist alles geworden ‘es ist bekannt, dass durch den allmächtigen Vater alles geschaffen wurde’ adam factus est quasi unus ex nobis adam ist dhiu chiliihho uuordan so Adam ist der gleiche geworden wie einhuuelih unser (I IV,5) irgendeiner uns-Gen ‘Siehe, Adam ist einer von uns geworden.’

Das Part II zeigt in keinem der Belege Kongruenzflexion. Es handelt sich ausschließlich um Singularformen des Mask. (3 Mal) und des Neutr. (1 Mal), bei denen nach Fleischer (2007) i.d.R. keine overten Endungen auftreten. Damit hat die fehlende Flexion an dieser Stelle keine Aussagekraft. Semantisch fällt auf, dass alle Partizipien ein telisches Verb enthalten: Zweimal handelt es sich um Verben der Ortsveränderung (giuueruan ‘drehe, (zu)kehren, zuwenden’ und quoman ‘kommen’), zweimal um die Kopula uuerdan ‘werden’. Beide uuerdan-Belege haben eine übereinstimmende lat. Vorlage. Tabelle 24 fasst diese ersten Ergebnisse zusammen. Tab. 24: uuesan + V-PP im Isidor

Type

Token

Telizität

flekt. Partizip

Lat. Vorlage

chiuuoruan ‘zugewandt’

IX,8

+

-

-

quhoman ‘gekommen’

V,6

+

-

-

uuordan ‘geworden’

II,3 IV,5

+

-

+

Isidor | 173

In den beiden Differenzbelegen übersetzt das analytische uuesan + V-PP jeweils eine synthetische lat. Form, vgl. (2). (2a)

Lat. Ahd. Ahd.

(2b)

Lat.

Ahd. Ahd. Ahd. Ahd.

Dum ad eam conuertitur, cum innocentibus commoratur. Innan dhiu ir chiuuoruan ist Während ihr zugewandt ist mit dhem unbalauuigom ist siin samuuist. (I IX,8) mit den Unschuldigen ist sein Zusammensein ‘Während er (= der Wolf) ihr (= der Kirche) zugewandt ist, verweilt er unter den Unschuldigen.’ Que scilicet LXX ebdomade, si a tempore danielis numerentur, procul dubio sanctus sanctorum dominus iesus christus olim venisse cognoscitur. Chiuuisso nu, ibu dhea sibunzo uuehono fona daniheles zide Gewiss nun wenn die 70 Wochen-Gen.Pl von Daniels Zeit uuerdhant chizelido, buuzsan einigan zuuiuun werden gezählte ohne irgendwelchen Zweifel ist dhanne archennit, dhazs dher […] druhtin ist dann erkannt dass der Herr nerrendeo christ iu ist langhe quhoman. (I V,6) rettender Christ schon ist lange gekommen ‘Gewiss, wenn man sieben Wochen von Daniel an rechnet, muss man zweifellos anerkennen, dass der Messias schon lange gekommen ist.’

Auffälligerweise korrespondieren dabei nicht dieselben lat. Tempora: (2a) weist mit convertitur ‘er wendet sich zu’ das Präsens eines Deponens auf, (2b) mit venisse ‘gekommen sein’ einen synthetischen Infinitiv Perfekt, der den verbalen Teil einer NCI-Konstruktion bildet. Die unterschiedlichen Tempusformen in der lat. Vorlage deuten bereits darauf hin, dass ahd. uuesan + V-PP in den beiden Sätzen jeweils unterschiedliche Funktionen erfüllt. Chiuuorvan ist in (2a) bezeichnet eindeutig einen resultativen Zustand. Einen Indikator liefert der temporale Konnektor innan dhiu ‘während’ (lat. dum), der Gleichzeitigkeit mit dem präsentischen Matrixsatz herstellt (mit dhem unbalauuigom ist siin samuuist). Da der Nebensatz ein gleichzeitig andauerndes Ereignis bzw. einen gleichzeitigen Zustand zum Ausdruck bringt, ist die perfektische Funktion mit dem Konnektor nicht kompatibel ist. D.h. chiuuoruan ist bringt in

174 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(2a) nicht zum Ausdruck, dass der Wolf (hier Metapher für den Sünder) sich der Kirche zugewandt hat, sondern ihr zugewandt ist. Mit dieser Funktion erklärt sich, warum im lat. Text ein Präsens korrespondiert.4 Denn das Resultativ bezeichnet einen gleichzeitig andauernden Zustand und ist somit Präsens. Allerdings präsentiert der ahd. Übersetzer die Situation aus einer geringfügig anderen Perspektive als der Schreiber des lat. Originals. Während lat. ad eam convertitur ‘er wendet sich zu ihr hin’ ein dynamisches Ereignis bezeichnet, fokussiert chiuuoruan ist ‘zugewandt ist’ den gegenwärtig andauernden Zielzustand. Im Einklang mit dieser leicht versetzten Konzeption wandelt der ahd. Schreiber das lat. Direktional ad eam in das Dativobjekt ir um, das mit dem Verharren in einer Position semantisch kompatibel ist. Vermutlich weicht der Übersetzer absichtlich von der lat. Vorlage ab. Denn für die zeitliche Abfolge der Ereignisse erscheint es logischer, dass der Wolf bei den Unschuldigen verweilt, nachdem er sich der Kirche zugewandt hat, als während er sich noch im Prozess des Zuwendens befindet. Es lässt sich festhalten, dass die Konstruktion in (2a) resultative Semantik trägt. Wie bereits angedeutet, erfüllt ist […] quhoman in (b) eine andere temporalaspektuelle Funktion. Isoliert betrachtet, scheint der Satz zunächst ambig zwischen Resultativität und Präsensperfekt zu sein. Wie die unter (3) aufgeführten Übersetzungen des häufig zitierten Belegs zeigen, favorisierten vorausgehende Arbeiten die resultative Interpretation. Demnach liegt der temporale Fokus ausschließlich auf dem Ereignisresultat, dessen zeitliche Erstreckung durch das Adverbial langhe zusätzlich betont wird. (3)

Ahd.

christ iu ist langhe quoman (I V,6) ‘Christ ist schon lange da’ (Schröder 1955: 45) ‘Christus ist euch ein lange Gekommener’ (Eroms 1997: 19) ‘[…] Christus (für) euch (schon) lange gekommen ist’ (Schrodt 2004: 12)

Wie aus der Übersetzung in (2b) hervorgeht, wird der Beleg in dieser Arbeit aber perfektisch interpretiert (d.h. ‘dass der Messias schon lange gekommen ist’). Ver-

|| 4 Streng genommen ist diese Aussage ungenau. Denn im Lat. ist das Präsens im dum-Satz kein verlässlicher Indikator für eine präsentische Zeitrelation, weil die Subjunktion in der Bedeutung ‘während’ stets das Präsens verlangt (Rubenbauer/Hoffmann 1995: 269) und die Zeitrelation erst durch den übergeordneten Matrixsatz vereindeutigt wird. Das logische Tempus von lat. convertitur wird also eigentlich erst durch commoratur ‘er verweilt’ vereindeutigt.

Isidor | 175

schiedene Argumente sprechen für diese Analyse: Zunächst wird ahd. iu hier anders als bei Eroms (1997) und Schrodt (2004) nicht als Dativus Commodi des des Personalpronomens ir ‘ihr’, sondern zusammen mit dem folgenden langhe als adverbiale Konstituente iu […] langhe ‘schon lange’5 aufgefasst (vgl. auch mhd. ielanc ‘schon lange, längst’). Ein Dativ würde in der Tat für Resultativität sprechen, da er semantisch gut mit der Zustandslesart kompatibel ist. Außerdem stellt das deiktische Personalpronomen in der 2. Pers. einen starken Gegenwartsbezug her, weil es das Geschehen mit der Sprechsituation verbindet. Gegen iu als Personalpronomen spricht allerdings, dass die lat. Vorlage kein entsprechendes vobis aufweist. Überdies zeigt die Suche im Gesamttext, dass iu im Isidor häufiger das lat. Temporaladverbial iam ‘schon’ übersetzt (vgl. I V,5; V,7; V,9; IX,11). Auffälligerweise handelt es sich dabei stets um thematisch ähnliche Kontexte, in denen es um die Ankunft oder Geburt Christi geht. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, iu auch in (2b) als temporales Adverb ‘schon’ zu interpretieren, das zusammen mit dem (später) folgenden langhe lat. olim (hier ‘schon lange’) übersetzt. Dieses lat. Adverbial würde durch die früheren Übersetzungen nicht erfasst. Meine Interpretation führt also zu einer genaueren Deckung mit dem lat. Text. Das Adverbial iu […] langhe rückt aber das vergangene Geschehen (quhoman) stärker in den Vordergrund und schließt Resultativität aus.6 Die Verwendung entspricht dem engl. Experiential (I have been to New York), s. Kap. (4.4.3): Das Präsensperfekt betont, dass das Ereignis (die Ankunft des Messias) zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit stattgefunden hat. Vom engl. Experiential unterscheidet es sich aber dadurch, dass das Ereignis nicht wiederholbar ist. Auch der inhaltliche Zusammenhang spricht für das Präsensperfekt. Der Beleg steht im Kontext der theologischen Auseinandersetzung mit den Juden, die die Ankunft des Messias leugnen. Dem Schreiber, bei dem es sich um keinen Zeitgenossen Jesu’ handelt, geht es nicht darum, dass der „rettende Christ“ zum Zeitpunkt der Äußerung da ist. Vielmehr liefert er Argumente dafür, dass es sich bei der Ankunft Christi um ein historisches Faktum handelt und der Messias tatsäch-

|| 5 Ebenso übersetzen Hench (1893: 155) und Grønvik (1986: 17) iu […] lange. 6 Auch Schröder (1955) interpretiert iu […] langhe als Temporaladverbial. In seiner Übersetzung fokussiert das Adverbial allerdings die zeitliche Erstreckung des Resultats. Schröders Übersetzung impliziert damit allerdings, dass ahd. quhoman im Gegensatz zum nhd. gekommen einen Zielzustand besitzt, der einem Partizipanten als Eigenschaft zugesprochen wird. Diese Annahme kann weder be- noch widerlegt werden, da hier die muttersprachliche Kompetenz fehlt. Da gekommen im Gegenwartsdt. keinen Zielzustand denotiert, sollte diese Interpretation für das Ahd. nur dann herangezogen werden, wenn sie aus dem Kontext zweifelsfrei hervorgeht.

176 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

lich ‚gekommen‛ ist. Die Gegenwartsrelevanz besteht hier also nicht in einem gegenwärtig andauernden Zustand, sondern darin, dass das Ereignis zum Zeitpunkt der Äußerung einmal stattgefunden hat. Dieser Gegenwartsbezug motiviert wohl die Wahl der komplexen Konstruktion in (2b) gegenüber dem Präteritum. Auffälligerweise findet sich aber wenige Zeile später ein „Minimalpaar“ zu (2b) im Präteritum, vgl. (4). (4)

Lat. Ahd. Ahd.

Ideoque iam advenit Christus quem adnuntiabat sermo propheticus endi bidhiu iu chiuuisso quham christ, und deshalb schon gewiss kam Christ, dhen dhes forasagin uuort bifora chundida (I V,7) den des Propheten Wort zuvor kündete ‘und deshalb ist Christus, den die Prophezeihung des Propheten zuvor angekündigt hat, sicher schon gekommen.’

(4) gibt mit der Präteritalform quham ‘kam’ (nahezu?) denselben Inhalt wie (2b) mit dem Perfekt ist quhoman wieder. Wie schon Oubouzar (1974) am Beispiel des Notkers erwähnt, erfüllt das Präteritum im Ahd. auch Präsensperfektfunktion. Resultativität ist aber auszuschließen. Der parallele Beleg (4) bietet damit einen indirekten Indikator dafür, dass auch in (2b) ein Präsensperfekt vorliegt. Insgesamt macht die Analyse der beiden Differenzbelege deutlich, dass ahd. uuesan + V-PP sowohl wie in (2a) als resultativ-stative Kopulakonstruktion als auch wie in (2b) als Präsensperfekt fungiert. Für die perfektische Funktion in (2b) sprechen 1. die Kombination mit einem Adverbial der indefiniten Vgh. (iu […] langhe), 2. Die Tatsache, dass das Fortbestehen eines Zielzustands zum Zeitpunkt der Äußerung durch den Kontext ausgeschlossen ist, sowie 3. die Austauschbarkeit mit dem synthetischen Präteritum (paralleler Beleg 4). Die Differenzbelege zeigen damit, dass uuesan + V-PP bereits im Frühahd. nicht auf Resultativität beschränkt, sondern eine polyseme Konstruktion ist. In den beiden weiteren Belegen weist der lat. Isidortext eine strukturell übereinstimmende Form auf: Hier wird das Perfekt eines lat. Passivs (!) mit dem aktiven uuesan + V-PP übersetzt. Die Konstruktion enthält dabei immer das Vollverb uuerdan ‘werden’, vgl. (5a) und (5b). (5a)

Lat. Ahd.

quando a patre per illum cuncta creata esse noscuntur. Dhanne ist nu chichundit dhazs fona dhemu almahtigin fater Dann ist nun verkündet dass von dem allmächtigen Vater

Isidor | 177

Ahd.

(5b)

Lat.

Ahd. Ahd. Ahd

dhurah inan ist al uuordan (I II,3) durch ihn ist alles geworden ‘es ist bekannt, dass durch den allmächtigen Vater alles geschaffen wurde’ »Fecit deus hominem ad imaginem suam«. Et cum dicet idem deus »Ecce adam factus est quasi unus ex nobis« got chiuuorahta mannan imu anachiliihhan«. Gott schuf Menschen sich ähnlichen Endi […] quhad »See Adam ist dhiu ghiliihho und sprach Sieh Adam ist der gleiche uuordan so einhuuelih unser« (I IV,5) geworden wie einer uns-Gen ‘Gott erschuf den Menschen nach seinem Ebenbild. Und er sprach: Siehe Adam ist wie einer von uns geworden.’

Es überrascht, dass das aktive7 uuordan ist zweimal ein lat. Passiv (creata esse ‘dass erschaffen (worden) ist’ und factus est8 ‘ist gemacht worden’) übersetzt. Die ahd. Form wird offensichtlich mit Passiv assoziiert. Das geht nicht nur aus der lat. Vorlage hervor, sondern auch daraus, dass (5a) eine für Passivsätze typische Agensangabe in Form einer PP enthält (fona dhemu almahtigin fater dhurah inan). Diese Agensangabe bricht mit den Erwartungen an einen intransitiven Satz, der normalerweise alleine einen Zustandswechsel denotiert und kein Agens impliziert (vgl. z.B. Alles ist (*von ihm) entstanden). Dass der Übersetzer ist uuordan passiv konstruiert, wird wahrscheinlich durch die Verflechtung der Form in das umgebende Konstruktionsnetzwerk begünstigt: Erstens besteht im frühen Ahd. eine enge Verbindung zwischen aktivem und passivem uuesan + V-PP, die wohl als einheitliche Konstruktion konzeptua-

|| 7 Dass die ahd. Form aktiv ist, kann als gesichert gelten: Wie aus dem Glossar hervorgeht, wird uuerdan im gesamten Isidor, wie auch im Nhd., ausschließlich intransitiv gebraucht (vgl. Hench 1893: 185). 8 Genau genommen ist lat. factus est ambig zwischen dem Perfekt Passiv von facere (hier ‘machen, erschaffen’) und der suppletiven Perfektform des Deponens fieri ‘werden, entstehen’. Dass es sich hier um ein Passiv handelt geht aus dem transitiven Fecit deus im vorausgehenden Satz hervor, das hier passivisch wiederaufgegriffen wird. Dennoch hat wohl die Ambiguität der lat. Form die Wahl des aktiven ist […] uuordan motiviert.

178 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

lisiert werden. Zweitens wird uuerdan schon im Ahd. regelmäßig als Passivauxiliar verwendet (vgl. Kotin 2003), weshalb auch das Vollverb mit Passivität assoziiert ist. In erster Linie ist der ungewöhnliche passive Gebrauch jedoch auf Übersetzungskonventionen zurückzuführen. Die Suche nach weiteren finiten Formen von ahd. uuerdan zeigt, dass das Verb im Isidor regelmäßig das lat. Deponens fieri ‘werden, entstehen’ übersetzt. Das suppletive fieri bedient sich bei der Perfektbildung aus dem Paradigma des transitiven facere ‘machen, erschaffen’. Im Lat. sind infolgedessen das aktive factus est ‘geworden/entstanden ist’ und das passive factus est ‘gemacht worden ist’ homonym. Die Belege unter (5) legen nahe, dass der Übersetzer factus est gewohnheitsmäßig als (gi)uuortan ist wiedergibt. In (5) handelt es sich damit nicht um authentischen ahd. Sprachgebrauch, die Formen scheinen vielmehr durch Übersetzungskonventionen motiviert. Es wird deutlich, wie problematisch die Belege mit identischer lat. Struktur für die Untersuchung der ahd. Texte sind. Insgesamt hat sich gezeigt, dass Isidor nur wenige authentische Belege der Perfektkonstruktionen aufweist. Dass habēn/eigen + V-PP gar nicht vorkommt, ist zum einen auf seine schwache Grammatikalisierung, zum anderen auf das fehlende lat. Vorbild zurückzuführen. Von den vier Belegen mit uuesan + V-PP spiegeln nur zwei authentischen ahd. Sprachgebrauch wieder. Die übrigen Beiden geben die lat. Vorlage wieder, was u.a. daran erkennbar ist, dass das intransitive uuerdan passivisch konstruiert wird. Die beiden Differenzbelege zeigen, dass uuesan + V-PP, anders als in vorherigen Arbeiten vermutet, in der Sprache des Isidor nicht nur resultative, sondern auch Perfektfunktion erfüllt. Diese Beobachtung setzt sich auch bei der Untersuchung des Tatian und des Otfrid fort.

6.3 Tatian Im ostfränkischen Tatian (um 830 n.Chr., Fulda) treten die Mikrokonstruktionen mit habēn/eigan und uuesan häufiger auf als im Isidor. Dies ist wohl nicht primär auf den späteren Verfassungszeitpunkt, sondern eher auf den größeren Textumfang zurückzuführen. V.a. aber bietet die lat. Vorlage mehr strukturelle Vorbilder. Tabelle 25 gibt einen ersten Überblick über alle Belege von habēn + V-PP und uuesan + V-PP getrennt nach den Tempora und Modi des Finitums.

Tatian | 179

Tab. 25: Vorkommen von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP im Tatian

Finitum im

habēn/eigan + V-PP

uuesan +V-PP

Präs. Ind.

3

4

Präs. Konj.

0

0

Prät. Ind.

2

11

Prät. Konj.

0

0

gesamt

5

15

Habēn/eigan + V-PP tritt mit 5 Belegen häufiger auf als im Isidor, uuesan + V-PP überwiegt aber weiterhin gegenüber der Schwesterkonstruktion um das Dreifache (15 Fälle). Auffälligerweise tendieren die Formen mit uuesan etwas stärker zum präteritalen Finitum (11 zu 4 Belege). Einen ersten Überblick über alle 5 Belege mit habēn/eigan gibt Tabelle 26. Sie zeigen eine klare Präferenz zu telischen Verben, nur bei gihaltana ‘gehalten’ ist unklar, ob es sich, wie im Nhd. um ein Zustandsverb handelt oder das Präfix gi- telisierende Wirkung hat. Auffälligerweise flektiert das Part II in 4 von 5 Belegen. Tab. 26: habēn/eigan + V-PP im Tatian

Type

Token

Telizität

Partizipialflexion

Differenzbeleg

Stelle

gistriunit ‘gewonnen’

1

+

-

+

262,6

forlegana ‘geschändet’

1

+

+

+

63,23

gihaltana ‘gehalten’

1

?

+

-

265,5

giflanzotan ‘gepflanzt’

1

+

+

-

163,11

gisaztiu ‘aufgehäuft’

1

+

+

-

170,14

In zwei der fünf habēn-Belege weist der lat. Text keine parallele habere-Konstruktion auf, s. (6). Beide Male liegt aber das Perfekt eines Deponens, d.h. esse + VPP, und damit eine komplexe lat. Form vor. Damit gibt es eine partielle Übereinstimmung und es ist zumindest mit einem indirekten Einfluss des Originals zu

180 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

rechnen. Die Wahl der komplexen habēn-Konstruktion ist hier wahrscheinlich auf das Prinzip der korrespondierenden Zeilen zurückzuführen. (6a)

Lat. Ahd. Ahd.

(6b)

Lat. Ahd. Ahd.

domine, .V. talenta tradidisti mihi. & ecce alia quinque super lucratus sum trohtin fimf talenta saltostu mir, senu nu Herr fünf Talente zahltest=du mir, sieh=nun nun andero fimui ubar thaz haben gistriunit (T 262,4–6) andere fünf über das habe-1.Sg gewonnen ‘Herr, 5 Talente hast du mir übergeben, siehe nun fünf weitere habe ich dazu gewonnen.’ quoniam omnis qui uiderit mulierem ad concupiscendum eam. iam moechatus est eam in corde suo. iogiuuelih thie thar gisihit uúib sie zi geronne iu habet jeglicher der da anblickt Frau sie zu begehren schon hat sia forlegana in sinemo herzen (T 63,20–23) sie Ehebruchbegehen in seinem Herzen ‘Ich sage euch, dass jeder, der da eine Frau begehrend anblickt, in seiner Vorstellung schon mit ihr geschlafen hat.’

Beide Belege erfüllen perfektische Funktion (s. auch Grønvik 1986: 35), was in (6a) u.a. daran erkennbar ist, dass der Satz mit einem präteritalen Hauptsatz koordiniert ist (fimf talenta saltostu mir). Auch die im Lat. korrespondierende Perfektform spricht gegen Resultativität. Haben gistriunit bringt zum Ausdruck, dass der Sprecher in der (nahen) Vergangenheit fünf Talente dazugewonnen hat und infolgedessen zum Äußerungszeitpunkt im Besitz dieser Talente ist. Diese Funktion entspricht dem in Kap. (4.4.1) vorgestellten Resultatsperfekt. In (6b) fokussiert das Adverb iu ‘schon’ das vorausgehende Geschehen: Es markiert die indefinite Vergangenheit. Habet sia forlegana bringt zum Ausdruck, dass das Schänden stattgefunden hat, sobald der Mann die Frau begehrend betrachtet. Diese Verwendung entspricht dem engl. Experiential (vgl. Kap. 4.4.3). Auffälligerweise weist das Partizip forlegana in (6b) dennoch Kongruenzflexion auf. So wird deutlich, dass die adjektivische Flexion nicht notwendigerweise für einen adjektivischen Status des Part II spricht. Die Belege lassen keine starke Extension erkennen. Beide Sätze zeichnen sich durch einen relativ hohen Transitivitätsgrad aus: Sowohl (6a) als auch (6b) enthalten ein telisches Verb mit einem menschlichen Subjektsreferenten und einem (pro)nominalen Akkusativobjekt.

Tatian | 181

Insgesamt erfüllen beide Differenzbelege Präsensperfektfunktion und betsätigen Grønviks (1986) Beobachtung, dass habēn/eigan + V-PP seit den ersten Vorkommen grammatikalisiert und nicht auf Resultativität beschränkt ist. Sie lassen keine starke Extension erkennen, da beide einen Subjektsreferenten enthalten, der eine Handlung an einem nominalen Akkusativ ausführt. Sie liegen nahe am transitiven Prototypen. In drei weiteren Fällen zeigt die lat. Vorlage die parallele Struktur habere + V-PPP. (7a)

Lat. Ahd. Ahd.

(7b)

Lat. Ahd. Ahd.

(7c)

Lat. Ahd. Ahd.

domine ecce mna tua quam habui repositam in sudario. herro senu thin mna thia Herr sieh=nun deine Münze die ich habeta gihaltana In sueizduohhe (T 265,4–6) ich hatte gehaltene im Schweißtuch. ‘Herr, sieh deine Münze, die ich in einem Tuch aufbewahrt habe.’ arborem fici habebat quidam plantatam in uinea sua. et uenit quaerens fructum phígboum habeta sum giflanzotan in sinemo Feigenbaum hatte einer gepflanzt in seinem uuingarten inti quám suochen uuahsamon Weingarten und kam suchen Frucht ‘Es besaß einer einen Feigenbaum in seinem Garten und er kam, um nach den Früchten zu suchen.’ (T 163,10–14) anima habes multa bona posita In annos plurimos. requiesce comede bibe epulare sela habes managiu guot gisaztiu In managiu iar. Seele hast manche Güter gesetzte in manchen Jahren resti iz Inti trink Inti goumi (T 70, 12–15) ruhe iss und trink und speise ‘Seele, du hast viel Gut aufgehäuft in manchem Jahr: Ruhe, iss, trink und speise.’

(7a) und (7b) sind eindeutig resultativ. Dabei trägt habēn die (relativ) konkrete Bedeutung ‘besitzen’: Der belebte Subjektsreferent ist der Possessor, dem das Objekt als veräußerbarer Besitz zugehört. Die Konstruktionen sind in einen gegenwärtigen Kontext eingebettet und bezeichnen einen andauernden Zielzustand

182 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(gihaltana, giflanzotan). Für (7b) ist Resultativität sogar die einzig zulässige Lesart: Wie der weitere Kontext deutlich macht, ist das Subjekt des Satzes (sum) nur der Besitzer des Baumes, nicht aber das Agens des Pflanzens (s. Szczepaniak 2011: 132). Das Präsensperfekt, das den Vorgang des Pflanzens denotieren würde, ist deshalb ausgeschlossen. In (7c) wird hingegen durch das temporale Adverbial in managiu iar das vorausgehende Ereignis selbst fokussiert, wodurch sich die Perfektfunktion einstellt. Da die drei Belege in enger Anlehnung an den lat. Text konstruiert sind, erlauben sie nicht die Schlussfolgerung, dass Resultativität im Ahd. dominiert. Allerdings wird deutlich, dass habēn/eigan + V-PP prinzipiell resultative Funktion erlaubt. Interessanterweise flektiert das Part II in allen Belegen. Eine Regelmäßigkeit lässt sich in den wenigen Belegen allerdings nicht erkennen. (7c) bestätigt aber die Beobachtung, dass adjektivische Flexion nicht notwendigerweise mit adjektivischem Status zusammenhängt. Tab. 27: uuesan + V-PP im Tatian

Type

Token

Telizität

Partizipialflexion

Differenz- Stelle beleg

fram gigangan ‘fortgeschritten’

1

+

-

+

27,12

argangana ‘vergangen’

1

+

+

-

37,6

arstorbana ‘verstorben’

1

+

+

gilihhet ‘gefallen’

1

-

-

-

104,2

githiket ‘dick (geworden)’

1

+

-

-

110,21

biliban ‘gestorben’

1

+

-

+

233,2

giuuortan ‘geworden’

8

+

-

-

105,14; 106,6; 107,20; 107,23; 147,28; 298,26; 323,29; 342,5

gisamanote ‘versammmelt’

1

+

+

-

107,26

41,26

Tatian | 183

Die Mikrokonstruktion mit uuesan ist mit 15 Belegen dreimal so häufig im Tatian belegt wie habēn/eigan + V-PP. Tabelle 27 bietet einen Gesamtüberblick über die auftretenden Formen. Die Belege zeigen eine starke Präferenz zu telischen Verben (zum einzigen atelischen Beleg s. u.). Kongruenzflexion des Part II bildet mit 3 von 15 Fällen die Ausnahme. Auffälligerweise handelt es sich dabei ausschließlich um Pluralformen: argangana, arstorbana, gisamanote. Nur ein einziger Beleg mit pluralischem Subjekt zeigt keine overte Flexionsendung (sín giuverbit T 74,6 ‘sie seien umgekehrt, haben sich bekehrt’). Damit bestätigt sich Fleischers (2007) Beobachtung, dass die Flexion an bestimmte Paradigmenzellen gebunden ist (s. Kap. 5.3.5). Von den insgesamt 15 Belegen treten nur zwei ohne strukturelles lat. Vorbild auf, (vgl. 8). (8a)

Lat. Ahd. Ahd.

(8b)

Lat. Ahd.

ego enim sum senex et uxor mea processit In diebus suis ih bim alt Inti mîn quena fram ist gigangan ich bin alt und meine Frau fort ist gegangen In ira tagun (T 27,11–12) in ihren Tagen ‘Ich bin alt und meine Frau ist in fortgeschrittenem Alter.’ domine iam fetet quadriduanus enim est. trohtin her suihhit îu fior taga biliban ist (T 233,1–2) Herr er riecht schon vier Tage geblieben ist ‘Herr, er riecht schon, vier Tage ist er tot.’

Fram ist gigangan in (8a) erfüllt eindeutig resultative Funktion: Es beschreibt die Betagtheit des Subjekts (= Zacharias Gattin Elisabeth), die das Ergebnis des voranschreitenden Alters ist. Dass die Konstruktion Eigenschaften attribuiert, wird auch durch die koordinierte Kopulakonstruktion (ih bim alt) deutlich. Zacharias, dem soeben die Geburt eines Kindes prophezeit wurde, verweist zuerst ungläubig auf das eigene fortgeschrittene Alter und anschließend auf das seiner Frau. Die ahd. Übersetzung weicht auffällig (v.a. für den T) vom lat. Vorbild ab: Der DreiWort-Ausdruck (fram ist gigangan) gibt ein synthetisches Perfekt (lat. processit) wieder. Vermutlich setzt sich der Übersetzer (ähnlich wie der Isidorübersetzer in 8a) bewusst von der Vorlage ab: Uuesan + V-PP hebt expliziter den gegenwärtig andauernden Zustand hervor als ein synthetisches Präteritum. Daraus, dass der Übersetzer sich vollkommen von der lat. Vorlage absetzt, schlussfolgert Kotin (2014: 34), dass uuesan + V-PP „in das Verbalsystem voll integriert war“, d.h. eine fortgeschrittene Grammatikalisierung.

184 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

In (8b) handelt es sich im Gegensatz zu (8a) lediglich um einen partiellen Differenzbeleg: Eine lat. Kopulakonstruktion mit prädikativem Adjektiv (quadriduanus) wird durch eine ahd. Kopulakonstruktion mit prädikativem Part II übersetzt. Auch biliban ist in (8b) ist eindeutig ein Resultativ: Das Verstorbensein dauert gleichzeitig mit dem präsentischen Haupttempus an. Die zeitliche Erstreckung des Zielzustandes wird durch das Adverbial fior taga ‘vier Tage’ explizit markiert. Es lässt sich festhalten, dass beide Differenzbelege im Tatian resultativ sind. In (8a) weicht der Übersetzer auffällig stark von der Vorlage ab, wahrscheinlich um die Resultativität eindeutig zu markieren. In (8b) handelt es sich dagegen nur um einen partiellen Differenzbeleg, da ein prädikatives Adjektiv durch ein prädikatives Part II übersetzt wird. Die übrigen 13 Belege mit uuesan + V-PP weisen eine parallele lat. Struktur auf. Dabei fällt zunächst der hohe Anteil an Formen mit dem Partizip giuuortan auf (8 Belege). Wie bereits im Isidor beobachtet, sind diese Formen problematisch. Zwar übersetzen sie hier kein lat. Passiv, doch korrespondiert, unabhängig von der Bedeutung, immer eine Perfektform des Deponens fieri ‘werden, entstehen, geschehen’. Nur zweimal handelt es sich um die Kopula ‘werden’ (vgl. 9a), sonst übersetzt uuerdan lat. fieri in der Vollverbbedeutung ‘entstehen, geschehen’, vgl. (9b). (9a)

Lat. Ahd. Ahd.

(9b)

Lat. Ahd. Ahd.

cum dies factum esset uocauit discipulos suos. thó tág uúas giuuortan gihalota zi imo als Tag war geworden holte zu sich sine iungiron (T 107,23–24) seine Jünger ‘Als es Tag geworden war, holte er seine Jünger zu sich.’ terræ motus factus est magnus. angelus enim domini descendit de cęlo tho erhtbibunga uuas giuuortan michil gotes engil da Erdbeben war geworden groß Gottes Engel steig fon hímile (T 323,28–30) stieg vom Himmel ‘da erbebte die Erde stärker: Gottes Engel stieg vom Himmel’

Der Vollverbgebrauch von uuerdan scheint markiert, da er sich in keiner der übrigen untersuchten Quellen findet und auch aus nhd. Perspektive ungewöhlich

Tatian | 185

ist. Offensichtlich wird das Deponens fieri in den Übersetzungstexten unterschiedslos mit einer Form von uuerdan übersetzt. Es entsteht der Verdacht, dass es sich nicht um authentischen Sprachgebrauch handelt, sondern hier Übersetzungsgewohnheiten greifen. Aufgrund dieses problematischen Status werden die Formen mit dem Partizip giuuortan in der folgenden funktionalen Analyse nicht berücksichtigt. Ähnliches gilt für den einzigen Beleg, in dem uuesan + V-PP ein atelisches Verb (gilīhhēn ‘gefallen’) enthält: (10)

Lat. Ahd.

quia sic fuit placitum ante tè uuanta íz so uuas gilihhet denn es so war gefallen ‘Denn so hat es dir gefallen.’

fora thir. vor dir

(T 104,1–2)

Da es sich um den einzigen Fall handelt, in dem die aktive uuesan-Konstruktion ein State enthält, ist es, gerade beim Tatian der als dem lat. Text stark verpflichtet gilt (vgl. Kap. 6.1), naheliegend, dass die lat. Form fuit placitum imitiert wird.9 Deshalb wird auch Beleg (10) als marginal für das ahd. Sprachsystem gewertet und in den folgenden Ausführungen nicht weiter beachtet. Unter den verbleibenden vier Belegen sind nur zwei resultativ interpretierbar, doch erlauben sie auch die perfektische Interpretation: (11a)

Lat. Ahd. Ahd.

(11b)

Lat.

uade In terram israhel, defuncti sunt enim qui quęrebant animam pueri far In erda Israhel. uuanta arstorbana sint fahr in Land Israel denn gestorben-Pl sind thie thar suohtun thes knehtes sela (T 41,23–27) die da suchten des Jungen Leben ‘geh nach Israel, denn die, die dem Jungen nach dem Leben trachteten, sind tot/sind gestorben’ uocauit discipulos suos. et […] sedebat secus mare. et congregate sunt ad eum turbę multę

|| 9 Nach Nedjalkov/Jaxontov (1988: 31 u. 61-78) ist es nicht ungewöhnlich, dass States in Resultativkonstruktionen auftreten (vgl. Kap. 4.3.1). In diesem sog. „Quasi-Resultativ“ wird die einzige Zustandsphase des States fokussiert. Dadurch kommt eine rein stative Lesart zustande, die dem Resultativ funktional verwandt ist. Das Quasi-Resultativ ist aus typologischer Perspektive eher im passiven Bereich zu vermuten, wo es sich im Ahd. regelmäßig beobachten lässt (vgl. Kotin 2003), aber auch in einem aktiven Satz ist es nicht auszuschließen.

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Ahd. Ahd. Ahd.

gihalota zi imo sine iungiron […] holte zu sich seine Jünger sáz nah themo seuue Inti gisamanote uuarun saß nahe dem Meer und versammelt-Pl waren zi imo manago menigi (T 107,23–27) zu ihm zahlreiche Menge Resultativ ‘Er setzte sich in die Nähe des Meeres und versammelt war bei ihm eine große Menge.’ Perfektisch ‘Er rief seine Jünger zu sich, setzte sich in die Nähe des Meeres und es hatte sich bei ihm eine große Menge versammelt.’

Arstorbana sint in (11a) kann im präsentischen Kontext (arstant inti nim) sowohl einen gegenwärtig andauernden Zielzustand (‘verstorben sind’) als auch ein vergangenes Ereignis mit Resultatsbezug (‘gestorben sind’) bezeichnen. Beide Funktionen gleichen sich so stark, dass eine Unterscheidung für das Erreichen des kommunikativen Ziels nicht relevant ist. Aus heutiger Sicht lässt sich nicht entscheiden, welche Funktion im konkreten Fall vorliegt. Auch bei gisamanote uuarun in (11b) kann die Anwesenheit der Menge als resultativer Zustand im Sinne von ‘versammelt(e) waren’ konzeptualisiert sein. Beim Präsensperfekt richtet sich die Aufmerksamkeit stärker auf den Vorgang des Versammelns im Sinne von ‘versammelt hatten sich’. Auch hier ist nicht letztendlich entscheidbar, welche Lesart aktualisiert ist, da der Satz keine vereindeutigenden Kontextmerkmalef enthält. Die PP mit zi trägt nicht zur Disambiguierung bei, da die Präposition im Tatian zugleich die Richtung einer Bewegung als auch die Ruhe an einem Ort anzeigen kann (vgl. Sievers 1961: 510ff.). Damit sind beide Belege unter (11) ambig. Beim Vergleich von lat. und ahd. Text in (11b) fällt auf, wie stark der Übersetzer darauf bedacht ist, strukturell korrespondierende Verbformen zu wählen: vocavit – gihalota, sedebat – sáz. Interessanterweise setzt sich der ahd. Text aber durch das Tempus des Auxiliars bei gisamanote uuarun – congregate sunt von der lat. Vorlage ab: Das präsentische sunt wird mit dem präteritalen uuarun übersetzt. Dadurch kommt es zu einer leicht versetzten Perspektivierung: Während das Versammeln im lat. Text ein gleichwertiges Glied in einer Kette vergangener Ereignisse darstellt (vocavit […] sedebat […] congregate sunt) und der Fokus damit auf dem Verlauf liegt (auch sichtbar am Direktional ad eum), lokalisiert der ahd. Schreiber das Ereignis des Versammelns in der Vorvergangenheit (gisamanote

Tatian | 187

uuarun). Diese Abweichung von der lat. Vorlage lässt auf Restriktionen im Gebrauch der ahd. uuesan-Konstruktion schließen: Ähnlich wie das engl. Present Perfect (vgl. Kap. 4.4) referiert sie nicht auf Ereignisse in der definiten Vergangenheit, sondern stellt Vorzeitigkeit nur in Relation zu einem übergeordneten Zeitrahmen her (gihalota […] sáz […] inti gisamanote uuarun). Um die Funktion der lat. Form adäquat zu übersetzen, hätte der Übersetzer ein synthetisches Präteritum wählen müssen. Da dies eine zu große strukturelle Entfernung von der Vorlage bedeutet hätte, wählt er eine Plusquamperfektform und nimmt damit eine zeitlich leicht versetzte Perspektive in Kauf. In den übrigen beiden Belegen mit struktureller lat. Entsprechung ist Resultativität durch Kontextmerkmale ausgeschlossen, auch wenn beide Sätze Partizipien enthalten, die als Zustandsprädikate durchaus denkbar sind (argangana ‘vergangen’, githiket ‘dick geworden, verhärtet’): (12a)

Lat. Ahd. Ahd. Ahd.

(12b)

Lat. Ahd. Ahd.

Et postquam consummati sunt dies octo ut circumcideretur puer. uocatum est nomen eius ihesus. After thiu thô argangana uuarun ahto taga Nach dem da vergangen-Pl waren acht Tage thaz thaz kind bisnitan uuvrdi uuard Imo dass das Kind beschnitten würde wurde ihm ginennit namo heilant (T 37,6–8) genannt Name Heiland ‘Nachdem acht Tage nach der Beschneidung vergangen waren, wurde dem Kind der Name Heiland gegeben.’ Incrassatum est enim cór populi huius et auribus graviter audierunt et oculos suos cluserunt githiket ist herza thesses folkes Inti órun suarlihho gedickt ist Herz dieses Volkes und Ohren schwerlich gihortun inti iro ougun bisluzun (T 110,21–23) hörten und ihre Augen verschlossen ‘Dick geworden ist das Herz des Volkes und mit den Ohren hörten sie schwerlich und sie schlossen ihre die Augen.’

In (12a) schließt der Subjunktor after thiu ‘nachdem’ die Zustandsinterpretation aus. Kotin übersetzt: ‘Danach waren nun acht Tage vergangene’ (Kotin 1999: 395, 2014: 35) und nimmt damit eine parataktische Struktur an. Diese Interpretation ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, after thiu kommt im Tatian sowohl als Konals auch als Subjunktor vor. M.E. sprechen aber die Verbspitzenstellung des Folgesatzes sowie das im Lat. korrespondierende postquam für eine hypotaktische

188 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Struktur. Interessanterweise flektiert das Part II hier trotz der eindeutig perfektischen Funktion. (12b) ist, im Vergleich zu den übrigen Belegen im Tatian sehr auffällig. Es handelt sich um den einzigen Fall, in dem uuesan + V-PP in eine Folge präteritaler Prädikate eingereiht ist (Githiket ist […] gihortun […] bisluzun […]). Die analytische Form wird hier parallel zur lat. Vorlage (incrassatum est) gebildet, anders als in (12b) behält der Übersetzer aber das präsentische Finitum bei. An dieser Stelle wäre eher ein ahd. Präteritum zu erwarten. Für diesen exzeptionellen Gebrauch von uuesan + V-PP lassen sich unterschiedliche Erklärungen anführen. Zum einen nimmt githiket ist topikalisierte Position ein: Nach einem längeren Abschnitt im Präsens bildet es das erste Glied in der vergangenen Ereigniskette. Das Perfekt ermöglicht hier den Übergang von einem Präsens- zu einem Präteritalabschnitt. Ferner bildet die Reihenfolge der Prädikate die temporale Abfolge der Ereignisse nicht ikonisch ab, sondern es handelt sich um eine Aufzählung von Ereignissen, deren Reihenfolge auch vertauscht werden könnte (Incrassatum est […] audierunt […] cluserunt). Außerdem zeichnen sich auch die koordinierten Präterita durch Gegenwartsrelevanz aus, was im anschließenden Finalsatz (mit präsentischen Prädikat) deutlich wird (mín sie mit ougon sihuuanne gisehen […]). Hier erfüllt das ahd. Präteritum erneut Perfektfunktion (s. auch Abschnitt 6.2). Die Perfektfunktion der synthetischen Präteritalformen ermöglicht die Koordination mit githiket ist. Trotz dieser Erklärungen besitzt (12b) Ausnahmecharakter: Das Hauptmotiv für die Wahl der Form könnte in der lat. Vorlage bestehen. Es lässt sich festhalten, dass die Belege mit strukturellem lat. Vorbild ambig oder eindeutig perfektisch sind. Ferner wird deutlich, dass die Konstruktion nicht auf Ereignisse in der definiten Vergangenheit referieren kann. Damit verhält sie sich wie ein klassisches Präsensperfekt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Perfektkonstruktionen im Tatian häufiger auf als im Isidor auftreten, sich aber weiterhin durch niedrige Tokenfrequenz auszeichnen. Wie im Isidor überwiegt uuesan + V-PP im Vergleich zu habēn/eigan + V-PP, was u.a. durch das häufigere lat. Vorbild erklärbar ist. Beide Mikrokonstruktionen kommen sowohl mit als auch ohne strukturelles Vorbild vor. Habēn/eigan + V-PP wird in den (aussagekräftigeren) Differenzbelegen perfektisch, uuesan + V-PP resultativ gebraucht (jeweils nur zwei Belege). Die häufigeren Belege mit strukturellem lat. Vorbild legen aber nahe, dass beide Konstruktionen beide Funktionen erlauben. Demnach zeichnen sie sich bereits im Ahd. durch eine Mehrdeutigkeit aus, die allerdings schwächer ausgeprägt ist als im Nhd. Ähnlich wie im heutigen Engl. bezeichnen sie keine Ereignisse in der

Otfrid | 189

definiten Vergangenheit, was daran erkennbar ist, dass sie i.d.R. nicht in präteritale Kontexte eingebettet werden. Auch für den Tatian hat sich ein Zusammenhang zwischen adjektivischer Kongruenzflexion und adjektivischem Status des Part II nicht bestätigt. Während habēn/eigan + V-PP überwiegend Kongruenzflexion zeigt, ohne dass sich eine Regelmäßigkeit zeigt, flektiert das Part II bei uuesan + V-PP nur in drei (von vier) Belegen mit pluralischem Subjekt. Die Kongruenzflexion scheint somit primär morphologisch motiviert. Die Konstruktionen zeigen im Tatian keine Extension, sondern konzentrieren sich weitgehend auf die semantisch-strukturellen Ursprungskontexte. Sie enthalten (mit Ausnahme eines wahrscheinlich nicht authentischen Belegs) nur telische Verben. Uuesan + V-PP konzentriert sich auf intransitive Sätze, habēn/eigan + V-PP auf hochtransitive Sätze mit belebtem Subjekt und individuiertem Objekt.

6.4 Otfrid In Otfrids Evangelienharmonie (um 870 n.Chr.) sind beide Konstruktionen mit insgesamt 81 Belegen deutlich häufiger vertreten als im Isidor und Tatian. Tabelle 28 bietet zunächst einen Gesamtüberblick über die Tokenfrequenzen sowie Tempus und Modus des Finitums: Tab. 28: Vorkommen von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP im Otfrid

Finitum

habēn/eigan + V-PP

Präs. Ind.

44

14

Präs. Konj.

1

3

uuesan + V-PP

Prät. Ind.

5

10

Prät. Konj.

2

2

gesamt

52

29

Beide Konstruktionen treten am häufigsten mit einem Auxiliar im Ind.Präs. auf, uuesan + V-PP ist daneben relativ oft im Ind.Prät. belegt.

190 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

6.4.1 habēn/eigan + V-PP im Otfrid: Resultatsperfekt Habēn/eigan + V-PP verhält sich im Otfrid insgesamt progressiver als im Tatian (s. auch Kuroda 1999: 55). Das zeigt schon die Tokenfrequenz: Mit 52 Belegen ist die Konstruktion deutlich frequenter als in dem Übersetzungstext. Nur zweimal ist die Konstruktion resultativ gebraucht. Die Sätze unter (13) bezeichnen den Zustand des direkten Objekts (then hìmilisgon héilant/iz), das in einer Zugehörigkeitsbeziehung zum Subjekt (thiz lánt/sie) steht. Sie sind eher strukturell als semantisch transitiv: Die semantische Transitivität ist in (13a) durch das unbelebte Subjekt, in (13b) durch das stative Verb haltan geschwächt. Auch wenn das Part II in diesen Belegen prädikativ auf das direkte Objekt bezogen ist, zeigt es keine Kongruenzflexion. Hier deutet sich bereits an, dass die Partizipialflexion nicht durch den adjektivischen Status motiviert ist (näher dazu s. unten). (13a)

Ahd. Ahd.

(13b)

Ahd. Ahd.

(14)

Ahd. Ahd. Ahd.

Níuuuiboran habet thiz lánt Neugeboren hat dieses Land then hímilisgon héilant (O I,12,13) den himmlischen Heiland ‘Neugeboren hat dieses Land den himmlischen Heiland.’ in búah sie iz duent in Buch-Akk.Pl. sie es tun zisámane giháltan thar zi hábanne (O III,7,54) zusammen gehalten da zu haben ‘Sie fügen es in Büchern zusammen, um es dort zusammengehalten zu haben.’ Thoh habet thérer thuruh nót so druhtin sélbo gibót, Doch hat dieser durch Not so Herr selbst gebot thaz fíant\ thiz fásto binágili[t]; dass Feind dies fest vernagelt; Símbolon bispérrit (O L,71–73) für immer versperrt ‘Doch hat er (= Ludwig) sorgfältig, wie Gott ihm geboten hatte, damit der Feind uns nicht angreift, dieses (Reich) fest verschlossen und für immer versperrt.’

Die übrigen Belege von habēn/eigan + V-PP fungieren fast alle als Resultatsperfekt (zur einzigen Ausnahme s.u.). Diese Funktion wird im Folgenden an Bsp. (14)

Otfrid | 191

näher erläutert. Anschließend werden weitere Eigenschaften sowie Erkennungsmerkmale des Resultatsperfekts im Otfrid aufgezeigt. Die Hauptaussage von Satz (14) ist, dass das Reich für Feinde verschlossen und damit sicher ist. Es wird der Zielzustand (binagilit) assertiert, der eine Eigenschaft des direkten Objekts (thiz) spezifiziert. Anders als in den resultativen Belegen unter (13) wird allerdings gleichzeitig eine Aussage über die Handlung des Verschließens gemacht, die durch König Ludwig ausgeführt wurde. Damit weist (14) einen doppelten Referenzpunkt auf, wie er für das Präsensperfekt charakteristisch ist (vgl. Kap. 3.2 und 4.4). Die beiden Referenzpunkte werden in dem Beleg explizit durch Adverbiale markiert: Das Adverb fásto ‘fest’ beschreibt den Zielzustand näher (d.h. das Reich ist fest verschlossen), der Finalsatz thaz fíant uns ni gáginit ‘damit der Feind uns nicht angreift’ gibt das Ziel der Handlung an, die damit selbst in den Vordergrund tritt. Der starke Gegenwartsbezug in Sätzen wie (14) dürfte der Grund dafür sein, dass die Konstruktion in der Forschung als „resultativ“ (Kuroda 1999) bzw. als „Präsens“ (Oubouzar 1974) bezeichnet wurde (genauer dazu s. Kap. 5.3.3). Besser erfasst wird die Funktion aber als Resultatsperfekt, wie in Kap. (4.4.1) definiert: Habēn/eigan + V-PP bezeichnet eine vorausgehende telische Handlung, deren Resultat gleichzeitig mit der übergeordneten Ereigniszeit andauert. Anders als im Nhd. denotiert habēn/eigan + V-PP nie absolute, sondern nur relative Vorzeitigkeit zu einem übergeordneten Ereignis. Deshalb ist es mit präsentischem Hilfsverb in einen präsentischen, mit präteritalem in einen präteritalen Kontext eingebettet. Nur sechsmal sind die beiden Referenzpunkte wie in (14) durch mehrere Adverbiale explizit markiert. Häufig tritt habēn/eigan + V-PP ganz ohne (21 Belege) oder mit nur einem Adverbial auf, sodass keine oder nur eine der beiden Zeitebenen markiert ist. Zur letzteren Gruppe zählen sechs Belege, in denen der Zielzustand durch ein Adverbial oder Prädikativ hervorgehoben wird. In (15) betont das Adverb élichor ‘auf ewig’ die zeitliche Erstreckung des Geborgen-Seins. (15)

Ahd. Ahd.

Then tód then habet fúntan thiu hélla […] Den Tod den hat gefunden die Hölle joh élichor gibórgan (O V,23,265–266) und ewig geborgen ‘Den Tod hat sich die Hölle ausgedacht und für immer einverleibt.’

Ähnlich stellen deiktische Dativobjekte bzw. freie Dative einen Bezug zur übergeordneten Ereigniszeit her (7 Belege). Der Dativus Commodi in (16) bringt zum

192 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Ausdruck, dass das Verbalereignis dem Sprecher zum Nutzen gereicht (háben ih mir fúntan). Durch diesen Sprecherbezug ist das Ereignis gleichzeitig mit dem Sprechzeitpunkt verbunden. (16)

Ahd.

In thir háben ih mir fúntan thegan éinfaltan In dir habe ich mir gefunden Gefolgsmann lauteren ‘In dir habe ich einen zuverlässigen Jünger gefunden.’ (O II,7,55)

Modaladverbiale fokussieren dagegen i.d.R. die vorausgehende Handlung (7 Belege). In (17) beschreibt das Adverbial mit then máhtin ‘durch seine Allmacht’, wie Gott die Bedrängnis der Welt überwunden hat, und fokussiert damit die Handlung selbst. Gleichzeitig dauert das Resultat, nämlich die Bezwingung der Welt durch Gott, als immergültiger Tatbestand an. (17)

Ahd.

Thaz hábeta mit then máhtin ther éuuinigo Das hatte mit diesen Mächten der ewige drúhtin úbaruuvntan (O V,14,13–14) Herr überwunden ‘Der ewige Gott hatte durch seine Allmacht das (= die Bedrängnis der Welt) überwunden.’

Anders als im Tatian ist die Konstruktion im Otfrid nie mit Temporaladverbialen der indefiniten Vergangenheit belegt (z.B. iu ‘schon’). Das Fehlen temporaler Adverbiale steht im Einklang mit der dominierenden resultatsperfektischen Funktion. Bei den geringen Belegzahlen ist aber nicht auszuschließen, dass es auf Zufall beruht. (18)

Ahd. Ahd. Ahd.

Ín tho druhtin zélita uuant ér se selbo uuélita, Ihnen da Herr erzählte denn er sie selbst wählte mánota sie thes náhtes mánagfaltes réhtes mahnte sie des Nachts mancherlei-Gen.Sg Pflicht-Gen.Sg Er hábet in thar gizáltan\ dróst mánagfaltan Er hat ihnen da erzählt Trost-Akk.Sg mancherlei-Akk.Sg ‘Es lehrte sie da der Herr, da er sie selbst auserwählt hatte, mahnte ihnen in dieser Nacht mancherlei Gebote an. Er hat ihnen da viel Trost versprochen’ (O IV,15,55)

Otfrid | 193

Ein einziger Beleg ist nicht als Resultatsperfekt klassifizierbar, vgl. (18). Hábet […] gizáltan verhält sich wie ein Vergangenheitstempus. Die Konstruktion ist in eine Kette präteritaler Prädikate eingereiht, das vergangene Ereignis wird zusätzlich durch das Adverbial thar fokussiert (18) hat damit eindeutig Ausnahmecharakter. Hier wäre eher ein Präteritum zu erwarten. Während Kuroda (1999: 61f.) die Wahl des analytischen Perfekts mit Reimzwang erklärt, hebt die Form nach Brinkmann „das Gesagte isolierend aus der präteritalen Umgebung als besonders bedeutsam hervor“ (Brinkmann 1931: 30). Dentler (1997: 113) wertet (18) dagegen als frühsten Beleg für ihren FB B und als Indikator dafür, dass der redeabschließende Gebrauch eine lange Tradition habe. Auf alle Fälle zeigt der Beleg, dass die Konstruktion bereits im Otfrid das Potential zum Vergangenheitsmarker besitzt. Hier deutet sich bereits die spätere funktionale Verschiebung zum Tempus an. Da es sich jedoch um einen Einzelbeleg handelt, zählt es wahrscheinlich nicht zum konventionalisierten Funktionsspektrum der Konstruktion im Otfrid. Tabelle 29 bietet einen zusammenfassenden Überblick über die Funktionen, die habēn/eigan + V-PP im Otfrid erfüllt. Der Schwerpunkt liegt mit 49 von 52 Belegen eindeutig beim Resultatsperfekt. Tab. 29: Funktionen von habēn/eigan + V-PP im Otfrid

Resultativ

Resultatsperfekt

Vergangenheit

[+ kompositionell]

[- kompositionell]

[- kompositionell]

2

49

1 (Reim?)

gesamt

52

Nahezu ausnahmslos tritt habēn/eigan + V-PP im Otfrid in hochtransitive Sätzen auf: Ein belebtes Subjekt führt eine Handlung an einem direkten Objekt aus. Die Veränderung des Objekts dauert als Zustand zeitgleich mit der übergeordneten Ereigniszeit an, vgl. (19). Das Übergewicht hochtransitiver Sätze ist somit auf die temporal-aspektuelle Funktion zurückzuführen. (19)

Ahd. Ahd.

Meistar uuízist thaz thiz wíb firuuóraht habet Meister wisest dass diese Frau verwirkt hat ira lib (O III,17,13–14) ihren Körper ‘Meister, du musst wissen, dass diese Frau ihren Körper verwirkt hat’

194 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

In der Konstruktion treten nur telische Verben auf. Denn nur telische Verben denotieren den Zustandswechsel des Objekts und können einen Resultatsbezug herstellen. Die fehlende Extension auf atelische Verben ist demnach durch die dominierende Funktion des Resultatsperfekts erklärbar. Auffälligerweise handelt es sich fast ausnahmslos um präfigierte Verben (s. auch Kuroda 1997: 264). Mit 24 Belegen nimmt der perfektive Marker gi- Spitzenstellung ein. Daneben sind die Präfixe fir- sieben-, bi- fünf- sowie ir- viermal belegt. Systematisch unpräfigiert tritt nur das inhärent telische und zugleich tokenfrequente Verb fintan auf (Typ: habēn funtan ‘erfunden/gefunden haben’). Dass die Konstruktion fast ausnahmslos präfigierte Verben enthält, hängt zum einen mit der obligatorischen Telizität zusammen: Häufig bildet ein präfigiertes Verb das telische Gegenstück zu einem atelischen Simplizium. Die nahezu lückenlose Präfigierung legt allerdings nahe, dass die habēn/eigan-Konstruktion mit der präfigierten Verbformen assoziiert ist und das Präfix selbst zum formalen Schema gehört. Nur bei hoher Tokenfrequenz wurde die unpräfigierte Form konserviert (vgl. funtan habēn). Nach Kuroda (1999) treten v.a. Verba Dicendi und Sentiendi in der habēnFügung auf. (20a)

Ahd. Ahd. Ahd.

(20b)

Ahd. Ahd. Ahd.

Thoh hábet er mo irdéilit ioh sélbo Doch hat er ihm-Dat.Sg verurteilt und selbst giméinit, tház er nan in béche festgesetzt dass er ihn in Hölle \mit kétinu zibréche (O I,5,57–58) mit Kette zerbreche ‘Doch hat er den Teufel verurteilt und beschlossen, dass er ihn in der Hölle mit der Kette (in die er ihn legte) zerbreche.’ „mih io gómman nihein in min múat ni biréin mich je Mann kein in mein Herz-Akk nicht berührte háben ih giméinit in múate bicléibit habe ich festgesetzt in Herz beschlossen thaz ih éinluzzo mina wórolt nuzzo." (O I,5,38–39) dass ich einsam meine Welt nutze ‘Mich hat nie ein Mann in meinem Herzen berührt. Ich habe für mich entschieden, dass ich mein Leben einsam zubringe.’

Otfrid | 195

Diese Beobachtung scheint der resultatsperfektischen Funktion auf den ersten Blick zu widersprechen, da diese Verben prototypischerweise atelisch sind. Eine nähere Betrachtung der Belege zeigt jedoch, dass es sich um die Verben giméinen ‘festsetzen, beschließen’, bicléiben ‘befestigen, beschließen’, irdéilen ‘urteilen’ handelt, vgl. (20). Diese performativen Verben machen keine reine Aussage über einen bestehenden Zustand, sondern stellen selbst einen Zustand her. Aufgrund dieser Semantik sind sie besonders gut mit dem Resultatsbezug kompatibel. Fast alle Belege enthalten ein Subjekt mit belebtem Referenten. Schwerpunktmäßig handelt es sich um agentive Subjekte, die willentlich eine physische Zustandsveränderung am Objekt hervorrufen. Sieht man von den resultativen Belegen unter (13) ab, ist die Konstruktion nur zweimal mit unbelebtem Subjekt bezeugt. Einmal handelt es sich um ein personfiziertes Abstraktum (21a), im zweiten Fall wird das Alter metaphorisch als belebt betrachtet (21b). Deshalb kann nicht von einer Öffnung der Subjektsposition für unbelebte Referenten gesprochen werden.10 Auch die zweite Argumentstelle entspricht i.d.R. dem hochtransitiven Schema (s. auch Grønvik 1986: 36). Mit 42 von 50 Belegen dominieren Sätze mit prototypischem direktem Objekt: Es handelt sich um 29 Pronomen im Akkusativ (4 Mal belebter, 25 Mal unbelebter Antezedens) und 13 nominale Objekte (2 Mal belebter, 11 Mal unbelebter Referent, vgl. 22). (21a)

Ahd.

(21b)

Ahd. Ahd.

(22a)

Ahd. Ahd.

Then tód then habet fúntan thiu hélla (O V,23,265) Den Tod den hat gefunden die Hölle ‘Den Tod hat sich die Hölle ausgedacht.’ Iz hábet ubarstígana in uns Es-Nom.Sg (= das Alter) hat überstiegene in uns iúgund mánaga (O I,4,53) Jugend-Akk manche ‘Wir haben das Jugendalter lange hinter uns gelassen.’ Uuir éigun iz firlázan; thaz mugun Wir haben es verlassen das können uuir ío riazan (O I,18,11) wir immer bedauern ‘Wir haben es (= das Paradies) verlassen, das werden wir für immer bedauern.’

|| 10 Zu Kurodas These, das Subjekte erfülle in der Konstruktion die semantische Rolle des Benefaktivs, s. Kap. (5.3.3).

196 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(22b)

Ahd.

ir eigut […] síuchi in mir gilóchot; ihr habt Krankheit in mir gelindert ‘Ihr habt die Krankheit in mir gelindert.’

(O V,20,76)

Als schwache Extension auf ein unprototypischeres Objekt lässt sich der einzige Beleg mit einem Reflexivpronomen werten, vgl. (23). Laut Kelle (1881/1963: 179) liegt hier das reflexive Verb sih gieinōn ‘sich einigen über’ vor. Da das Reflexivpronomen lexikalisch mit dem Verb verbunden und durch keine andere (pro)nominale Ergänzung ersetzbar ist, handelt es sich allenfalls um ein formales, aber kein semantisches Objekt. Mit Kristes tódes enthält der Satz aber ein direktes Objekt im Genitiv. (23)

Ahd. Ahd.

Kristes tódes […] ther líut sih Christus-Gen Tod-Gen der Volk Refl-Akk habet giéinot; (O IV,1,2) hat geeinigt ‘das Volk hat sich geeinigt, Christus hinrichten zu lassen.’

Schwach ausgeprägt ist die semantische Transitivität auch in sechs Sätzen mit einem Komplementsatz. Es handelt sich um Ergänzungen zu den oben bereits angesprochenen Verben des Beschließens bzw. Festsetzens. Die Proposition des Nebensatzes macht explizit, was beschlossen bzw. festgesetzt wurde, vgl. (24). Aufgrund des fehlenden nominalen Charakters und der Abstraktheit handelt es sich um unprototypische direkte Objekte. (24a)

Ahd. Ahd.

(24b)

Ahd. Ahd. Ahd.

Thoh hábet er

[…] sélbo giméinit,

tház er

Doch hat er selbst festgesetzt dass er nan in béche \mit kétinu zibréche (O I,5,57–58) ihn in Hölle mit Kette zerbreche ‘Doch hat er beschlossen, dass er ihn in der Hölle mit der Kette (in die er ihn legte) zerbreche.’ „mih io gómman nihein in min múat ni biréin mich je Mann kein in mein Herz-Akk nicht berührte háben ih giméinit in múate bicléibit habe ich festgesetzt in Herz beschlossen thaz ih éinluzzo mina wórolt nuzzo." (O I,5,38–39) dass ich einsam meine Welt nutze

Otfrid | 197

‘Mich hat nie ein Mann in meinem Herzen berührt. Ich habe für mich entschieden, dass ich mein Leben einsam zubringe.’ Am weitesten vom transitiven Pol entfernt ist die Fügung in zwei Belegen mit den absolut gebrauchten Transitiven sprehhan ‘sprechen’ (25a) und tuon ‘tun’ (25b), die nicht einmal ein formales Objekt enthalten. Hier erfüllen allerdings das Adverbial sus bzw. der Subjunktor so eine ähnliche Funktion wie pronominale Ergänzungen: Sie nehmen anaphorisch eine vorausgehende Proposition auf. Auch wenn die Sätze somit kein direktes Objekt besitzen, enthalten sie aus semantischer Sicht zwei Partizipanten. (25a)

Ahd. Ahd.

(25b)

Ahd. Ahd. Ahd.

"Laz iz sús thuruh gán, so uuir éigun Lass es so durch gehen so wir haben nu gispróchan (O I,25,11) nun gesprochen ‘Lass es so geschehen, wie wir nun gesprochen haben.’ Nu bigín uns rédinon, uuémo thih uuolles ébonon, Nun beginn uns sagen wem dich willst gleichstellen uuénan thih zélles ana wán, nu gene al wen dich (zu)zählst ohne Zweifel nun jene alle éigun sus gidán?" (O III,18,35-36) haben so getan ‘Nun beginn uns zu verkünden, wem du dich gleichstellen willst, für wen du dich hältst, da nun jenen allen so widerfahren ist (= sie gestorben sind)?’

Interessanterweise nimmt mit der schwächeren Transitivität unter (25) der Resultatsbezug ab. Die Belege machen deutlich, dass eine wechselseitige Beziehung zwischen hoher Transitivität und resultatsperfektischer Funktion besteht. Denn das Resultatsperfekt bezeichnet eine vergangene Handlung, die einen andauernden Zielzustand am direkten Objekt hervorruft. Ohne direktes Objekt rückt das abgeschlossene Ereignis stärker in den Vordergrund. Die Ergebnisse legen damit nahe, dass sich habēn /eigan + V-PP im Otfrid aufgrund der resultatsperfektischen Funktion auf hochtransitive Sätze konzentriert. Anders als in der Forschung vermutet (z.B. Coussé 2014), scheint der hochtransitive Prototyp somit historisch nicht durch die resultative Ursprungskonstruktion, sondern durch das Resultatsperfekt motiviert zu sein (weiter hierzu Kap. 7).

198 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Abbildung 35 bietet eine zusammenfassende Übersicht über die direkten Objekte, die bei Otfrid in habēn/eigan + V-PP vorkommen. Belege mit (pro)nominalem Akkusativobjekt bilden den Löwenanteil, echt intransitive Sätze sind dagegen gar nicht belegt. Eine Zwischenposition nehmen Sätze mit einem Komplementsatz ein. Absolute Transitive sind vergleichsweise selten. 35 30 25 20 15 10 5 0

30

Pronomen-Akk Nomen-Akk 13

Reflexivpronomen 6 1

2

NS Absolute Transitiva

Abb. 35: Direktes Objekt in habēn + V-PP bei Otfrid

Insgesamt gruppiert sich habēn/eigan + V-PP im Otfrid damit stark um einen hochtransitiven Prototypen. Die Konstruktion ist auf telische Ereignisse beschränkt und kommt ausschließlich mit belebtem Subjekt und einem mehr oder weniger prototypischen direkten Objekt vor. Es wurde eine wechselseitige Beziehung zwischen resultatsperfektischer Funktion und hoher Transitivität beobachtet: Habēn/eigan + V-PP bezeichnet eine vorzeitige Handlung, deren Resultat am direkten Objekt gleichzeitig andauert. Das Übergewicht hochtransitiver Sätze ist somit funktional erklärbar. Im Otfrid flektiert das Part II nur dreimal in habēn/eigan + V-PP (s. auch Kuroda 1999: 59), s. (26a–c): (26a)

Ahd. Ahd.

Iz hábet ubarstígana in uns Es-Nom.Sg (= das Alter) hat überstiegene in uns iúgund mánaga (O I,4,53) Jugend-Akk manche ‘Wir haben das Jugendalter lange hinter uns gelassen.’

Otfrid | 199

(26b)

Ahd.

(26c)

Ahd.

Er hábet in thar gizáltan\ dróst mánagfaltan Er hat ihnen da erzählt Trost-Akk.Sg mancherlei-Akk.Sg ‘Er hat ihnen da viel Trost versprochen’ (O IV,15,55–56) Sie éigun mir ginómanan liabon drúhtin minan Sie haben mir genommenen lieben Herren meinen ‘Sie haben mir meinen lieben Herrn genommen.’ (O V,7,29)

Die Kongruenzflexion lässt sich in diesen Belegen weder morphologisch noch funktional erklären: Es handelt sich um Formen im Akk.Sg.Fem. (26a) und Mask. (26b und 26c). In 15 vergleichbaren Sätzen mit einem Objekt im Akk.Sg.Mask./ Fem. unterbleibt die Partizipialflexion aber. Ferner ist keines der flektierenden Partizipien adjektivisch gebraucht und umgekehrt zeigen die adjektivischen Partizipien unter (13) keine Kongruenzflexion. Auch im Otfrid besteht somit kein Zusammenhang zwischen adjektivischer Flexion und adjektivischem Status. Vielmehr scheint die Partizipialflexion durch den Endreim motiviert zu sein (s. auch Fleischer 2007). Flektiert wird nur in reimender Position: ubarstigana ‒ managa, gizaltan ‒ managfaltan, ginomanan ‒ minan. Möglicherweise handelt es sich bei der adjektivischen Partizipialflexion bereits im Otfrid um einen Archaismus, der zu dichterischen Zwecken aktualisiert wird. Es lässt sich festhalten, dass die zentrale Funktion von habēn/eigan + V-PP im Otfrid das Resultatsperfekt ist. Die Konstruktion bezeichnet eine vergangene Handlung, deren Resultat am direkten Objekt gleichzeitig andauert. Anders als beim Resultativ ist nicht allein der Zielzustand, sondern zugleich die vorausgehende Handlung assertiert. Damit gibt es einen doppelten Referenzpunkt, der Schwerpunkt liegt aber auf dem andauernden Resultat. Beide Referenzpunkte können durch Adverbiale overt markiert werden. Bei habēn/eigan + V-PP ist das Resultatsperfekt an hohe Transitivität gekoppelt: Es bezeichnet eine telische Handlung, die i.d.R. in einer Manipulation des direkten Objekts durch das Subjekt besteht. Das Resultat dauert als gegenwärtiger Zustand am Objekt an. Die wechselseitige Beziehung zwischen Resultatsperfekt und Transitivität zeigt sich darin, dass der Resultatsbezug in den beiden Belegen ohne direktes Objekt geschwächt ist. Nur zwei der Belege im Otfrid sind resultativ, keiner von beiden besitzt ein flektierendes Partizip. Die overte Kongruenzflexion somit nicht durch den adjektivischen Charakter motiviert. Die drei Belege mit flektierendem Part II legen nahe, dass die Flexion dem Endreim dient.

200 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

6.4.2 uuesan + V-PP Anders als in den Übersetzungstexten ist uuesan + V-PP im Otfrid seltener als habēn/eigan + V-PP (29 Belege). Wie im Nhd. stellt haben + V-PP eindeutig die frequentere Konstruktion. Interessanterweise wird uuesan + V-PP anteilig häufiger resultativ gebraucht als habēn/eigan + V-PP (8 von 29 Belegen), vgl. (27). (27)

Ahd. Ahd.

Yrhugis thar thoh éines man ther thir si Erinnerst da doch eines Mannes der dir sei irbólgan, […] far, bisúani thih er (O II,18,21–23) erzürnt geh versöhne dich vorher ‘Wenn dir da noch einer in den Sinn kommt, der dir erzürnt ist, […] geh, versöhne dich zuerst mit ihm!’

(27) beschreibt Eigenschaften des Subjekts (irbolgan ‘erzürnt’). Dabei wird nur implizit vorausgesetzt, dass diese Eigenschaften aus einem vorausgehenden Ereignis (in 27 erzürnen) resultieren. Assertiert wird allein der Zielzustand. Si irbolgan ist somit eine stative Kopulakonstruktion im Präsens. Allerdings überwiegt auch bei uuesan + V-PP die Resultatsperfektfunktion (15 von 29 Belege). Wie bei habēn/eigan + V-PP wird ein vergangenes Geschehen beschrieben, dessen Resultat zeitgleich mit der übergeordneten Ereigniszeit andauert. Alle Belege mit den Vollverben quëman (insgesamt 7) und uuerdan (insgesamt 2) weisen diese Lesart auf, vgl. (28). Aufgrund des fehlenden Zielzustands können diese Verben keine resultative Funktion ausbilden (s. Kap. 4.3.1). (28)

Ahd. Ahd. Ahd.

Sie kúndtun thar then líutin thóh si es Sie verkündeten dort den Leuten doch sie es tho ni rúahtin thaz ín uuas queman da nicht kümmerten dass ihnen war gekommen hérasun ther gotes éinigo sun. (O II,3,25–26) hierher der Gottes einzige Sohn ‘Sie verkündeten da den Leuten, obwohl es sie nicht kümmerte, dass für sie Gottes einziger Sohn gekommen war.’

Uuas queman in (28) bringt zum Ausdruck, dass Gottes Sohn zu dem Zeitpunkt, als die Jünger es verkünden (kundtun), unter den Menschen ist. Das Dativpronomen ín fokussiert dabei explizit das Resultat. Gleichzeitig tritt durch das Direktional hérasun ‘hierher’ das dynamische Ereignis selbst hervor, wodurch sich der Satz vom reinen Resultativ wie in (27) unterscheidet.

Otfrid | 201

Viermal wird das andauernde Resultat durch den temporalen Marker nu ‘jetzt, nun’ fokussiert, vgl. (29). Dass in (29a) und (29b) aber zugleich das vorausgehende Ereignis assertiert ist, wird durch die Direktionalergänzungen (zi stade hiar, héimortes) deutlich, die Dynamizität implizieren. In (30) wird die zeitliche Erstreckung des Zielzustands durch ein Adverbial spezifiziert (zi líbe ‘für immer’), das damit ähnlich wie nu den andauernden Zustand fokussiert. (29a)

Ahd.

(29b)

Ahd.

(30)

Ahd.

bin nú zi stáde hiar gimíerit (O V,25,2) Bin nun zu Gestade hier gelangt ‘Ich bin nun zu diesem Gestade gelangt […]’ Bin nu mines uuórtes gikerit héimortes (O V,25,3) Bin meines Wortes gekehrt heimwerts nun ‘Meine Dichtung ist nun zu Ende.’ Si kundta […] thaz in thiu fruma quéman uuas, Sie verkündete dass ihnen das Heil gekommen war sálida zi líbe, gómmanne joh uuíbe (O I,16,17–18) Seeligkeit zu jeder-Zeit Mann-Dat.Sg und Frau- Dat.Sg ‘Sie berichteten, dass ihnen, Männern und Frauen, für immer Seeligkeit zuteil geworden war.’

Ein modales Adverbial modifziert dagegen die Handlung selbst. Ähnlich wie bei einem Direktional ist in (31) deshalb reine Resultativität ausgeschlossen. (31)

Ahd.

thaz ér uuas selbo irstántan dass er war selbst auferstanden ‘dass er selbst auferstanden war’

(O V,11,37)

Da Resultativ und Resultatsperfekt funktional nahe beieinander liegen, ist eine Unterscheidung häufig kommunikativ nicht erforderlich. Infolgedessen lässt sich oft (5 Mal) nicht endgültig entscheiden, welche der beiden Funktionen im konkreten Fall realisiert ist. So ist biliban uuas in (32) sowohl als ‘gestorben sein’ als auch als ‘verstorben sein’ interpretierbar. Es fehlen Kontextmerkmale wie direktionale Ergänzungen oder modale Modifikatoren, die die Funktion vereindeutigen würden.

(32)

Ahd.

er selbo méinta er selbst meinte

auur tház aber das

tház er tho dass er da

202 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Ahd.

bilíban uuas (O III,23,48) gestorben/verstorben war ‘Er meinte aber, dass er zu diesem Zeitpunkt tot war.’

Mit der resultativen und resultatsperfektischen Funktion zeichnet sich uuesan + V-PP im Otfrid durch einen engen Gegenwartsbezug aus. Die Konstruktion bringt allenfalls relative Vorzeitigkeit zur übergeordneten Ereigniszeit zum Ausdruck. Deshalb stimmt das Tempus des Hilfsverbs immer mit dem übergeordneten Tempus überein. Ein Beleg weist allerdings keine der beiden resultatsbezogenen Funktionen auf, vgl. (33). (33)

Ahd. Ahd. Ahd.

Er thríttun stunt nan grúazta uuant er Er drittes Mal ihn grüßte denn er in ímo buazta thaz er ér íu in uuar mín in ihm strafte dass er früher schon in Wahrheit so thiko lóugnita sin; Ther thría stunton jáhi so oft leugnete seiner Der drei Mal sich-bekannte-Konj. so thiko inflóhan uuari (O V,15,25) so häufig entflohen war-Konj ‘Zum dritten Mal sprach er (= der Herr) ihn (Petrus) an, denn er ließ ihn Buße tun, dass er ihn wahrlich vorher so häufig verleugnet hatte; der dreimal bekannte (ja, ich liebe dich), hatte ihn genauso häufig verleugnet.’

Inflóhan wari in (33) denotiert kein einzelnes, sondern ein sich wiederholendes Geschehen, was durch das Adverbial so thiko ‘so oft’ explizit gemacht wird. In dieser iterativen Lesart ist die Fokussierung eines einzigen Zielzustands logisch ausgeschlossen. Verglichen mit den übrigen Belegen liegt hier ein innovativer Gebrauch vor, der mit dem engl. Experiential vergleichbar ist (s. Kap. 4.4.3). Da die Form am Versende auftritt, ist nicht auszuschließen, dass sie dem Endreim geschuldet ist. Dies würde den Ausnahmecharakter des Belegs erklären. Tabelle 30 bietet eine zusammenfassende Übersicht über die Funktionen, die uuesan + V-PP im Otfrid erfüllt.

Otfrid | 203

Tab. 30: Funktionen von uuesan + V-PP im Otfrid

Resultativ

ambig

[+ kompositionell] [+/- kompositionell] 8

5

Resultatsperfekt

Experiential

[- kompositionell]

[- kompositionell]

15

1 (Reim)

gesamt

29

Ähnlich wie habēn/eigan + V-PP enthält auch uuesan + V-PP (nahezu) ausnahmslos telische Verben. Diese Affinität ist auch hier auf die dominierende resultatsperfektische Funktion zurückzuführen: Nur telische Verben können einen Resultatsbezug herstellen (vgl. Kap. 4). Damit ist auch die fehlende Extension auf atelische Verben funktional erklärbar. Wie bereits bei habēn/eigan + V-PP beobachtet, handelt es sich vornehmlich um präfigierte Verben. Dabei tritt der perfektive Marker gi- (6 Belege) etwas seltener auf als das Präfix ir- (8 Belege). Unpräfigiert sind allein die inhärent telischen und zugleich tokenfrequenten Verben quëman und uuerdan. Wie bereits im Zusammenhang mit funtan habēn beobachtet, resultiert das Fehlen des gi-Präfixes aus einem Zusammenspiel von Semantik (genauer Telizität) und hoher Tokenfrequenz. Einmal liegt trotz gi-Präfigierung ein statives Verb vor: (34)

Ahd. Ahd.

Det er ófan in […] uuio […] gilégan uuas tat er offen ihnen wie gelegen war thaz uuár (O III,23,48) die Wahrheit ‘Er legte ihnen offen, was die Wahrheit war.’

Bei gilegan handelt es sich um ein als Adjektiv lexikalisiertes Part II.11 Indirekte Anzeichen dafür ergeben sich aus der Tatsache, dass gilegan in den Glossen lat. Adjektive wie propinquus ‘nahe’ übersetzt und sogar als Basis verschiedener Wortbildungen, etwa gilegenī ‘(feste) Lage’ dient (Schützeichel 2012: 194). Damit bildet das Zustandsverb in (34) keinen Indikator für eine Extension der Perfektfunktion. Vielmehr liegt eine Kopulakonstruktion vor, die hier allerdings keine

|| 11 Kuroda (1999) geht dagegen davon aus, dass man es hier „mit perfektiviertem giliggen zu tun habe[…], das bereits vor der Bildung des Partizips mit ge- präfigiert und nicht wie das neuhochdeutsche Verb liegen, sondern als ein mutatives Verb mit der Bedeutung ‘zum Liegen kommen’ (Paul 1905: 165) aufzufassen ist“ (Kuroda 1999: 94). M.E. passt diese Übersetzung aber nicht zur Semantik des Satzes (??‘wie die Wahrheitheit zum Liegen gekommen ist’).

204 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

resultative, sondern stative Funktion erfüllt. Der Beleg entspricht Nedjalkov/ Jaxontovs (1988) „Quasi-Resultativ“, vgl. Kap. (4.3.1). Mit 24 zu 5 Belegen überwiegen belebte Subjekte im Korpus eindeutig. Im Gegensatz zu Coussé (2013, 2014) werden belebte Subjektsreferenten hier nicht als Entfernung vom Prototypen des Resultativs gewertet, da es für die resultative Funktion nicht relevant ist, ob der Satz ein belebtes oder ein unbelebtes Subjekt enthält. M.a.W. bieten belebte Subjekte kein Anzeichen für eine Extension von uuesan + V-PP.12 Ähnliches gilt für Ergänzungen im Dativ: Viermal kommt ein Dativobjekt wie in (35a), dreimal ein freier Dativus Commodi (35b) vor: Im Gegensatz zu Arnett (1997: 40), die Sätze mit Dativobjekt in ihrer Analyse des Heliand in der Nähe des transitiven Prototyp verortet, werden diese Belege hier als intransitiv betrachtet. Sie bilden kein Anzeichen für eine Ausweitung der Argumentstruktur. Denn freie Dative sind valenzungebunden und deuten deshalb nicht auf den verbalen Charakter des Partizips hin. Dativobjekte hingegen können auch in der Valenz von Adjektiven stehen (vgl. nhd. dem Menschen vertraut) und zeigen daher nicht notwendigerweise eine strukturelle Reanalyse von uuesan + V-PP an. Ergänzungen in anderen Kasus, z.B. Akk. oder Gen., lassen sich nicht beobachten. (35a)

Ahd. Ahd.

(35b)

Ahd. Ahd.

Mit thiu si ih ío bifangan ioh Mit dem-Inst sei ich immer umgeben und fíanton ingángan (O V,3,17) Feinden entgangen ‘Damit (= Mit dem Kreuz) sei ich für immer umfangen und den Feinden entgangen.’ thaz ín uuas queman dass ihnen war gekommen hérasun ther gotes éinigo sun. (O II,3,25–26) hierher der Gottes einzige Sohn ‘dass für sie Gottes einziger Sohn gekommen war’

Insgesamt konzentriert sich uuesan + V-PP auf intransitive Sätze mit telischen, meist präfigierten Verben. Das Subjekt ist in den meisten Fällen belebt, daneben kommen vereinzelt Dativobjekte oder freie Dative vor.

|| 12 Auch das schon im Otfrid zu beobachtende Übergewicht belebter Subjekte legt nahe, dass die Subjektsposition bereits in der Ursprungskonstruktion keinen Beschränkungen unterlag.

Otfrid | 205

Uuesan + V-PP kommt insgesamt viermal mit flektierendem Part II vor, s. (36). (36a)

Ahd.

(36b)

Ahd.

(36c)

Ahd. Ahd.

(36d)

Ahd.

ér\ ist Lázarus bilíbaner […] (O III,23,50) früher ist Lazarus gestorben-Mask.Sg ‘Lazarus ist soeben verstorben.’ déta uuaz tház uuas al githíganaz (O II,4,22) tat etwas das war alles vollkommenNeutr.Sg ‘Alles, was er tat, war vollkommen’ Uns sint kínd zi béranne Uns sind Kinder zu tragen íu dága furifárane (O I,4,51) schon Tage vorbeigefahren-Mask.Pl ‘Für uns ist die Zeit, Kinder zu kriegen, schon vorbei.’ Nu birun uuir gihúrsgte zi gotes thíonoste (O II,6,55) Nun sind wir geeilt-Mask.Pl zu Gottes Dienst ‘Nun sind wir geeilt, um Gott zu dienen.’

Wie bei habēn/eigan + V-PP ist die Kongruenzflexion weder morphologisch noch funktional erklärbar. Neben zwei Pluralformen flektiert das Part II einmal im Mask. und Neutr.Sg., wo nach Fleischer (2007) endungslose Formen zu erwarten sind. Weiterhin ist zumindest in (36d) der adjektivische Status des Part II durch die Zweckangabe zi gotes thíonoste ‘zu Gottes Dienst’ ausgeschlossen. Dagegen flektieren die eindeutig adjektivischen Partizipien unter (28) nicht. Da sich alle flektierenden Formen erneut auf das Versende konzentrieren, sind sie vermutlich durch das Reimschema motiviert: ér – bilíbaner, waz – githíganaz, béranne – furifárane, gihúrsgte – thíonoste (s. auch Fleischer 2007). Insgesamt weist uuesan + V-PP im Otfrid ein ähnliches Funktionsspektrum auf wie die Schwesterkonstruktion mit habēn: Zwar ist Resultativität bei uuesan + V-PP anteilig etwas häufiger als bei habēn/eigan + V-PP. Die Konstruktion fungiert aber mehrheitlich als Resultatsperfekt, d.h. sie bezeichnet ein vorausgehendes Ereignis, dessen Resultat gegenwärtig andauert. Der einzige Beleg mit Experiential-Funktion könnte durch den Endreim motiviert sein. Durch die Herausbildung des Resultatsperfekts haben sich habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP funktional angenähert und einen gemeinsamen Weg in Richtung Perfektfunktion eingeschlagen (näher hierzu Kap.7). Mit dem engen Gegenwartsbezug hat sich die Konstruktion nicht weit vom resultativen Ursprung entfernt. Deshalb konzentriert sich uuesan + V-PP auf in-

206 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

transitive Sätze mit telischen Verben. Nur telische Verben können einen Resultatsbezug herstellen. Mit Blick auf die Argumentstruktur konnte keine Extension beobachtet werden. Wie bei habēn/eigan + V-PP flektiert das Part II nur in reimender Position.

6.5 Heliand Der as. Heliand (um 840 n.Chr.) enthält deutlich mehr Belege sowohl für hebbian + V-PP (140 Belege) als auch für uuesan + V-PP (48 Belege) als alle ahd. Texte, obwohl er nur etwa ein Drittel an Textumfang des Otfrid besitzt (Grønvik 1986: 38). Tabelle 31 gibt einen ersten Überblick über alle Token der Konstruktionen mit den jeweiligen Tempora und Modi des Finitums. Tab. 31: Vorkommen von hebbian + V-PP und uuesan + V-PP im Heliand

Finitum im

hebbian + V-PP

uuesan + V-PP

Präs. Ind.

53

18

Präs. Konj.

1

1

Prät. Ind.

73

26

Prät. Konj.

13

3

gesamt

140

4813

Wie im Otfrid überwiegen indikativische Formen eindeutig, beide Konstruktionen zeigen aber einen höheren Anteil mit präteritalem Hilfsverb. Dies ist wohl auf die narrative Textsorte zurückzuführen: In den meisten Belegen bildet das Haupttempus Präteritum den Bezugspunkt, zu dem die Konstruktionen relative Vorzeitigkeit herstellen.

6.5.1 hebbian + V-PP Dieser Abschnitt zeigt, dass hebbian + V-PP im as. Heliand deutlich frequenter auftritt als in den ahd. Texten und insgesamt weiter grammatikalisiert ist. Dies

|| 13 Arnett (1997: 34) ermittelt nur 182 Belege.

Heliand | 207

geht sowohl aus der Funktion als auch aus den Auftretenskontexten hervor. Anschließend wird gezeigt, dass die Partizipialflexion im Heliand nicht durch den adjektivischen Status motiviert ist. Ein einziger Beleg erfüllt eindeutig resultative Funktion: In (37) wird die böse Rede als dem Herzen des Sünders zugehörige Eigenschaft dargestellt. (37)

As. As. As. As.

thes ni mag he farhelan eouuiht, dessen nicht kann er verhehlen irgendetwas ac cumad fan them uƀilan man inuuidrâdos, sondern kommen von dem üblen Mann böse Reden bittara balusprâca, sulic sô hi an is bittere Bosheitsaussprüche, solche so er in sein breostun haƀad geheftid umbi is herte: (H 1754–1757) Brust-Dat.Pl. hat geheftet um sein Herz ‘das kann er nicht verbergen, sondern er gibt böses Gerede, bittere Bosheiten von sich, wie er sie in seinem Herzen trägt.’

Die Mehrheit der Belege fungiert, ähnlich wie im Otfrid als Resultatsperfekt. Sie bezeichnen ein zurückliegendes Ereignis, dessen Resultat gleichzeitig mit der übergeordneten Ereigniszeit andauert. Hierzu gehören Belege, in denen das Ereignisresultat durch ein Adverbial explizit fokussiert ist: Sieben Mal übernehmen die Temporaladverbiale nu (3 Mal) bzw. than (4 Mal) diese Funktion. In (38a) legt nu den Schwerpunkt auf den Zeitpunkt, zu dem Herodes tot ist, (38b) berichtet von der römischen Vorherrschaft bei der Geburt Jesu’ (= than). (38a)

As. As.

(38b)

As.

nu haƀad thit lioht afgeƀen […] nun hat dieses Licht abgegeben Erodes [the] cuning (H 771–772) Herodes der König ‘Nun ist Herodes gestorben.’ Than habda thuo drohtin god Rômanoliudeon farliuuan Damals hatte da Herr Gott Römer-Dat.Pl verliehen rîkeo mêsta (H 53–54) Reich-Gen.Pl meistes […] ‘Damals besaß das römische Volk durch die Gunst Gottes das größte Reich.’

208 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

In drei weiteren Belegen wird das Ereignisresultat durch das Lokaladverbial hier/hêr/hîr fokussiert, s. (39a), zwölf Mal spezifizieren modale Adverbiale Eigenschaften des Nachzustandes, s. (39b): (39a)

As. As.

(39b)

As. As.

the hêr al haƀad giuuendid an thene der hier alles hat gewendet auf den uueroldscat uuilleon sînen (H 771–772) Erdenschatz Willen-Gen.Sg sein-Gen.Sg ‘der hier nur nach weltlichen Gütern strebt.’ Habda im uualdand god, them heliðon Hatte ihnen herrschender Gott den Helden an iro hertan hêlagna gêst fasto bifolhan (H 20–22) an ihr Herz heiligen Geist fest befohlen ‘Gott hatte ihnen den heiligen Geist sehr ans Herz gelegt.’

Neben diesen eindeutigen resultatsperfektischen Verwendungen erfüllt die Konstruktion mit präteritalem Hilfsverb 15 Mal resümierende Funktion (s. auch Behaghel 1897: 57): Hebbian + V-PP fasst eine vorausgehende Erzählpassage zusammen und schließt sie ab. (40a)

As. As. As.

(40b)

As.

Habda thô […] uualdandes sunu gelêrid Hatte da herrschend-Gen.Sg Sohn gelehrt thea liudi, huô sie lof gode die Leute wie sie Lob Gott-Dat.Sg uuirkean scoldin (H 1984–1986) machen sollten ‘Da hatte Jesus die Menschen gelehrt, wie sie Gott loben sollten.’ Habda iru thô giholpen hêlag barn godes (H 3895) Hatte ihr da geholfen heiliges Kind Gottes ‘Da hatte Gottes Sohn ihr geholfen.’

In (40a) folgt habda [..] gelêrid auf eine unterweisende Rede von Jesus und fasst diese zusammen, in (40b) schließt habde [...] giholpen eine Szene ab, in der Jesus eine Ehebrecherin vor der Steinigung rettet. Diese resümierenden Verwendungen fokussieren das Verbalgeschehen etwas stärker als das Resultatsperfekt, (vgl. 40a,b), perspektivieren es aber weiterhin in seinem Abschluss. In 7 der 15 resümierenden Belege wird die Abgeschlossenheit explizit durch das Temporaladverbial thô markiert, das den Fokus auf die Nachphase des Ereignisses legt.

Heliand | 209

Durch den resümierenden Charakter tritt der Sprecher (bzw. hier Schreiber) implizit in Erscheinung. Mit diesem impliziten Sprecherbezug und seiner textgliedernden Funktion gleicht der resümierende Typ Dentlers (1997) Funktionsbereich B, der ebenfalls (u.a.) redeabschließend gebraucht wird (s. Kap. 5.3.6). Die resümierenden Belege im Heliand unterscheiden sich aber durch das relative Zeitverhältnis vom Funktionsbereich B: Zwar ist die Konstruktion im Heliand ebenfalls in einen präteritalen Kontext eingebettet, enthält aber immer ein präteritales Hilfsverb. Damit bezeichnet sie kein zeitlich gleichgeordnetes Geschehen in einer sequentiellen Ereigniskette, sondern bringt Vorzeitigkeit in Relation zum übergeordneten Präteritum zum Ausdruck. Der resümierende Typ könnte das Bindeglied zwischen Resultatsperfekt und stärker verlaufsbezogenen Perfektfunktionen bilden, die im Heliand regelmäßiger auftreten als im Otfrid. Einige Belege entsprechen dem engl. Experiential. So bezeichnen die Sätze unter (41) ein in der Vergangenheit wiederholtes Ereignis, was in beiden Fällen durch ein Adverbial der Iteration explizit gemacht wird. Hier ist der Bezug auf ein einziges Ereignisresultat und damit das Resultatsperfekt ausgeschlossen. (41a)

As. As.

(41b)

As.

[…] sô he mancunnea managa huîla, so er Menschengeschlecht-Dat.Sg manches Mal, god alomahtig forgeƀen habda (H 244–245) Gott allmächtiger vorhergesagt hatte ‘[…] wie der allmächtige Gott dem Menschengeschlecht oft prophezeit hatte.’ manon iu thero mahlo, thie ik iu manag mahnen euch der Rede-Gen.Pl die ich euch manchen hebbiu uuordon giuuîsid (H 4710–4711) habe Worten gezeigt ‘[Der soll] euch an die Rede erinnern, die ich euch mit vielen Worten gezeigt habe.’

Ähnlich legen Adverbiale der indefiniten Vergangenheit wie êr ‘vorher, früher’ (3 Mal) oder langa huîla ‘vor langer Zeit’ (1 Mal) den Schwerpunkt auf das zurückliegende Ereignis (vgl.42). (42a)

As. As.

all sô is uuillio geng endi hie habda gimarcod alles so sein Wille ging und er hatte gezeigt êr manno cunnie (H 5710–5711) vorher Menschen-Gen.Pl Geschlecht-Dat.Sg

210 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(42b)

As. As.

‘Alles geschah nach seinem Willen und wie er es zuvor den Menschen prophezeit hatte.’ Im habda giuuîsid ualdandas craft Ihm hatte gezeigt Herrscher-Gen.Sg Macht-Nom.Sg langa huîla, that […] (H 469–470) lange Zeit, dass ‘Ihm hatte der mächtige Herr vor langer Zeit gezeigt, dass’

Der Ereignisverlauf steht auch in sieben Belegen mit Lokaladverbial im Vordergrund. Die Adverbiale markieren einen spezifischen Ort, an dem das Ereignis stattgefunden hat, und fokussieren damit dessen Verlauf (vgl. 43). In (43) wird der Verlaufsbezug zusätzlich dadurch verstärkt, dass der Satz ein pluralisches Objekt (sô filo morðes) enthält, das zu einer iterativen Lesart führt. (43)

As. As.

thie habda under them rîke sô filo morðes girâdan der hatte in dem Reich so viel Mord-Gen.Sg begangen endi manslahta gifrumid (H 5398–5399) und Totschlag-Gen.Sg verübt ‘der hatte im Reich so viel Mord und Totschlag begangen.’

Auch Adverbiale der zeitlichen Erstreckung lenken die Aufmerksamkeit auf den Ereignisverlauf (2 Belege). (44) erfüllt aber eine andere Perfektfunktion als die zuvor betrachteten Belege: Der Satz bezeichnet ein in der Vergangenheit einsetzendes Ereignis, das bis zur übergeordneten Ereigniszeit andauert. Diese Funktion entspricht dem engl. Persistenzperfekt (vgl. Kap. 4.4.4). (44)

As. As. As.

Thar fundun sea ênna gôdan man aldan […] Da fanden sie einen guten Mann alten the habda at them uuîha sô filu uuintro der hatte in dem Tempel so viele Winter endi sumaro gilibd an them liohta (H 463–466) und Sommer gelebt an dem Licht ‘Da fanden sie einen guten Greis, der viele Jahre in dem Tempel gelebt hatte.’

Die Funktion der unter (38-44) präsentierten Belege ist anhand disambiguierender Adverbiale eindeutig bestimmbar. Ohne entsprechende Kontextmerkmale sind Resultatsperfekt und Experiential aber schwer zu unterscheiden. Die Beispielsätze unter (45) veranschaulichen die Verwandtschaft beider Funktionen.

Heliand | 211

(45a)

As. As. As.

(45b)

As. As.

Resultatsperfekt Maria uuas siu hêten, Maria war sie geheißen,

uuas iru thiorna githigan war Refl Jungfrau gediehen

sea ên thegan habda, Ioseph gimahlit […] sie-Akk.Sg ein Degen hatte Joseph geheiratet that uuas [sô] diurlîc uuîf (H 252–255) das war so tugendhafte Frau ‘Sie hieß Maria, war zur Jungfrau herangewachsen. Es hatte sie ein junger Mann namens Joseph geheiratet; sie war so tugendhaft.’ Experiential Anna uuas siu hêtan, […] siu habde ira drohtine Anna war sie geheißen sie hatte ihrem Herren uuel githionod te thanca, uuas iru githungan uuîf. wohl gedient zum Danke war Refl tüchtig Frau ‘Sie hieß Anna. Sie hatte ihrem Herren eifrig gedient, sie war eine tüchtige Frau.’ (H 504–506)

Beide Sätze führen eine Person, einmal Maria (45a), einmal die Tempeldienerin Anna (45b), ein und beschreiben wesentliche Charaktermerkmale. Obwohl es sich um ähnliche Kontexte handelt, wurde hebbian + V-PP im ersten Fall als Resultatsperfekt, im zweiten als Experiential klassifiziert. In (45a) ist habda […] gimahlit in einen präteritalen Kontext eingebettet, in dem Eigenschaften von Maria beschrieben werden. Hier ist es wahrscheinlich, dass nicht die Eheschließung als vergangenes Ereignis, sondern die Ehe mit Joseph als andauernde Eigenschaft präsentiert wird. Deshalb liegt ein Resultatsperfekt als Lesart nahe. In (45b) bezeichnet habde […] githionod dagegen eine in der Vergangenheit habituell ausgeführte Handlung. Diese Handlung wird durch das Modaladverbial uuel modifiziert. Zwar gleicht (45b) dem Beleg (45a) insofern, als das gewissenhafte Dienen ebenfalls als Wesensmerkmal Annas angesehen wird. Durch die Wiederholung der Handlung in der Vergangenheit ist der Bezug auf ein einziges Ereignisresultat aber ausgeschlossen. Deshalb wurde (45b), anders als (45a), als Experiential klassifiziert. Schon dieser Vergleich macht deutlich, dass Resultatsperfekt und Experiential verwandte Funktionen mit fließenden Übergängen sind. Daneben gibt es auch echt ambige Fälle wie in (46), in denen nicht entscheidbar ist, ob das Ereignisresultat, d.h. Marias Schwangerschaft, oder das Ereignis selbst, d.h. das Schwängern, stärker fokussiert ist.

212 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(46)

As. As.

sagda them siu uuelda, that sie habde giôcana sagte dem sie wollte dass sie hatte geschwängert-Akk.Sg thes alouualdon craft (H 293–294) des Allmächtigen Macht ‘Sie erzählte jedem, dass sie der allmächtige Gott geschwängert hatte.’

In vergleichbaren Fällen ohne disambiguierende Adverbiale war eine Unterscheidung zwischen Resultatsperfekt und Experiential nicht zu leisten. Aus diesem Grund wird hier darauf verzichtet, genaue Häufigkeitsangaben der beiden Perfektfunktionen zu geben. Ähnlich wie Otfrid gruppiert sich hebbian + V-PP auch im Heliand um einen transitiven Prototypen, weicht aber insgesamt etwas stärker davon ab. Dies zeigt sich bereits in der Subjektsposition: Belebte Subjekte überwiegen mit 134 zu 140 Belegen stark. Ähnlich wie auch bei Otfrid finden sich unter den sechs unbelebten Subjekten vornehmlich personifizierte Abstrakta, vgl. (47). (47)

As. As.

sô haƀed im uurdgiscapu, metod so hat ihm Schicksal-Nom.Pl Verheißung-Nom.Sg gimarcod endi maht godes. (H 127–128) bestimmt und Macht-Nom.Sg Gottes-Gen.Sg ‘So hat es ihm das Schicksal, die Verheißung und die Macht Gottes bestimmt.’

Zweimal liegen aber echt unbelebte Subjekte vor, vgl. (48). Mit der Saat (48a) und dem Jordan (48b) handelt es sich dabei um Naturphänomene.14 Die beiden Belege zeugen von einer schwachen Öffnung der Subjektsposition und damit einer Ausweitung über den transitiven Prototypen hinaus. (48a)

As. As.

(48b)

As.

habda it thes uualdes hlea forana hatte es (= die Saat) des Waldes Decke vorne oƀarfangan, (H 2410–2412) überdeckt ‘Die Decke des Waldes hatte sie vorne bedeckt.’ bi ênes uuatares staðe, that thar habda Iordan zu eines Wassers Gestade, das da hatte Jordan

|| 14 Unter Umständen lässt sich auch die Flussbezeichnung als Personifizierung interpretieren.

Heliand | 213

As.

aneƀan Galileo land ênna sê geuuarhtan. (H 1150–1152) neben Galiläer Land einen See gemacht ‘zu einem Gestade, das der Jordan bei Galiläa zu einem See geformt hatte’

Mit Blick auf die zweite Argumentstelle weicht die Konstruktion stärker vom transitiven Muster ab. Zwar besitzt die Mehrheit der Sätze (107 Belege) ein (pro)nominales Objekt im Akkusativ (z.B. 48b), die übrigen 33 Belege enthalten aber ein unprototypischeres bzw. gar kein direktes Objekt. Zu den unprototypischeren Objekten zählen sechs Genitivobjekte, (s. 49): Sie denotieren keinen individuierten Referenten und tragen deshalb nicht zur Begrenzung der Ereignisstruktur bei. Aufgrund dieser fehlenden Begrenzungen lässt sich der Resultatsbezug bei einem Genitivobjekt schwieriger herstellen als bei einem Akkusativ. Vermutlich kommt die Konstruktion deshalb in den ahd. Quellen nicht in Sätzen mit Genitivobjekt vor. (49a)

As. As.

(49b)

As.

he is lîƀes haƀad mid is uuordun Er seines Lebens-Gen.Sg hat mit seinen Worten faruuerkod. (H 4823–4824) verwirkt ‘Er hat sein Leben durch seine Worte verwirkt.’ hie mid is uuordon haƀit dôðes gisculdid Er mit seinen Worten hat Todes-Gen.Sg geschuldet ‘Er hat sich mit seinen Worten des Todes schuldig gemacht.’ (H 5330–5331)

Auch Komplementsätze bilden unprototypische Objekte. Ähnlich wie im Otfrid treten diese in der Valenz von Verben des Festsetzens und Beschließens auf (6 Belege), s. (50a). Ein Satz enthält sogar einen reinen Infinitiv als direktes Objekt, s. (50b). (50a)

As. As.

huuand im habde forliuuan liudio hêrro, Denn ihm hatte verliehen Leute-Gen.Pl Herr, that he mahte […] gihôrean uualdandes uuord (H 573–575) dass er konnte hören Herrschers Wort ‘Denn ihm hatte der Menschen Gott die Gabe geschenkt, dass er seine Worte vernehmen konnte.’

214 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(50b)

As.

huô thu gelînod haƀas wie du gerlernt hast

As.

te blîðseanne

liudio menegi Leute-Gen.Pl Menge (H 2751–2752)

zu erfreuen ‘wie du gelernt hast, die Menschenmenge zu erfreuen.’ Häufiger als im Otfrid ersetzt die Partikel so bei Verba Dicendi ein direktes Objekt (6 Belege). Die Partikel verweist anaphorisch auf eine vorausgehende Proposition, s. (51). Damit sind diese Sätze zwar nicht strukturell transitiv, enthalten aber zwei Partizipanten. (51)

As. As.

ef thu sîs cuning oƀar all […] wenn du seist König über alles sô thu haƀis selƀo gisprocan (H 5567–5568) so du hast selbst gesprochen ‘Wenn du der König über alles bist, wie du es selbst behauptet hast.’

Viermal15 kommt hebbian + V-PP nur mit einem Reflexivpronomen vor. Arnett (1997: 42) macht darauf aufmerksam, dass die Reflexivpronomen alle durch ein nominales Objekt ersetzt werden können, weshalb diese Sätze als schwach transitiv gewertet werden. (52a)

As.

[…] that ik hebbiu mi sô foruuerkot dass ich habe Refl so verwirkt ‘dass ich mich so versündigt habe’

(52b)

As.

Habde imu craft mikil, an themu thinghûse Hatte Refl-Dat.Sg Menge große an dem Gerichtshaus [thiod] gisamnod (H 5130–5131) Volk-Nom.Sg versammelt ‘Es hatte sich eine große Menschenmenge beim Gerichtshaus versammelt.’

(H 5012)

|| 15 Die Zahl bezieht sich allein auf die Vorkommen, die neben dem Reflexivpronomen kein weiteres direktes Objekt enthalten. D.h. Belege wie haƀit im [gicoranan] muod (H 3451) ‘Er hat sich einen guten Willen auserwählt’, die ein Reflexivpronomen neben einem (pro)nominalen Akkusativ aufweisen, sind darunter nicht enthalten.

Heliand | 215

Abbildung 36 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Realisierung des direkten Objekts bei hebbian + V-PP. Wie im Ahd. konzentriert sich die Konstruktion auf Sätze mit (pro)nominalem Akkusativobjekt. Daneben treten Sätze mit unprototypischerem direktem Objekt wie Genitiven, Nebensätzen und Reflexivpronomen auf. Bei Verba Dicendi wird das direkte Objekt z.T. durch die anaphorische Partikel so ersetzt. 140 120

107

100 80 60 40 20

1

6

6

1

6

4

4

5

0

Abb. 36: Zweite Argumentstelle bei hebbian + V-PP im Heliand

Wie Abbildung 36 zeigt, tritt hebbian + V-PP im Gegensatz zu seiner ahd. Entsprechung auch in intransitiven Sätzen auf (insgesamt 9 Belege). Als intransitiv werden hier auch vier Belege gewertet, die ein dativisches, d.h. indirektes Objekt aufweisen, s. (53) (anders etwa Arnett 1997). (53a)

As.

(53b)

As.

siu habde ira drohtine uuel githionod (H 505–506) Sie hatte ihrem Herrn wohl gedient ‘Sie hatte ihrem Herrn gut gedient.’ habde iru giholpen hêleando Crist (H 3031) hatte ihr geholfen rettender Christ ‘Es hatte ihr geholfen der rettende Christ.’

Fünf Mal ist hebbian + V-PP sogar ganz ohne Objekt belegt. Auffälligerweise ist nur einer dieser fünf einstelligen Sätze atelisch: Er enthält das State libbian ‘leben’, s. (54a).

216 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(54a)

As. As.

the habda at them uuîha sô filu uuintro der hatte in dem Tempel so viele Winter-Gen.Pl endi sumaro gilibd (H 465–466) und Sommer-Gen.Pl gelebt ‘Der hatte viele Jahre in dem Tempel gelebt hatte.’

Die übrigen intransitiven Sätze sind telisch (s. auch Arnett (1997 und Kap. 5.3.4), vgl. (54b–c). Dieses Ergebnis überrascht: Nach Grønvik (1986) sollte sich die Konstruktion zuerst auf atelische Intransitive ausbreiten. Eine Extension auf telische Intransitive ist nur in Sprachen zu erwarten, die HABEN + V-PP generalisieren (vgl. Kap. 5.3.3.1). (54b)

As. As.

(54c)

As. As.

(54d)

As. As. As.

Habdun thea liudi Hatten die Leute mid iro gilôƀon

an tuê in zwei gifangan

(H 3900)

mit ihrem Glauben geteilgt ‘Es hatten sich die Leute in zwei Glaubensrichtungen aufgespalten.’ farstandan ni uueldun, that sie habdun verstehen nicht wollten dass sie hatten [forfangan] fîundun an uuillean (H 2363–2364) verfangen Feinde-Gen.Pl in Willen ‘Sie wollten nicht einsehen, dass sie im Willen der Feinde verfangen waren.’ Sô thiu frî haƀdun gegangan te them gardon, Als die Frauen hatten gegangen zu dem Garten that sia te them graƀe mahtun gisehan selƀon, dass sie zu dem Grab konnten sehen selbst thuo thar suôgan quam engil […] (H 5794–5797) da dorthin herfahren kam Engel ‘Als die Frauen zu dem Garten gegangen waren, von wo aus sie zu dem Grab selbst blicken konnten, da kam der Engel herabgefahren.’

Das hebbian-Perfekt in (54b) und (54c) lässt sich wahrscheinlich dadurch erklären, dass die Verben gifôhan und farfôhan eine transitive Variante in der Bedeutung ‘fangen, fassen’ besitzen. Demnach wurde das Hilfsverb vom transitiven auf

Heliand | 217

den intransitiven Bereich generalisiert. In (54d) liegt mit gangan dagegen ein genuin intransitives Bewegungsverb vor, das durch das Direktional te them gardon sogar explizit telisiert ist. Die abweichende Hilfsverbwahl lässt sich vielleicht darauf zurückführen, dass das Verb bei atelischer Aktionsart ein hebbian-Perfekt bildet (allerdings gibt es hierfür keine Belege im Heliand). Wie in Abschnitt (6.5.2) noch zu zeigen, tendieren Ortswechselverben im Heliand stark zu uuesan + V-PP. Vor diesem Hintergrund ist die hebbian-Selektion in (54d) besonders überraschend. Insgesamt zeigen die Belege (54b–d), dass hebbian + V-PP bereits in die prototypische Domäne von uuesan + V-PP vorgedrungen ist. Damit ist die Extension weiter fortgeschritten als in den meisten Gegenwartssprachen mit Hilfsverbalternanz. Auch im Heliand enthält die Konstruktion fast ausschließlich präfigierte Verben. Die einzige Ausnahme bildet erneut das inhärent telische Verb findan, das allerdings nur einmal belegt ist. In genau 10% (14 von 140 Belegen) zeigt das Part II Kongruenzflexion. Dieses Verhältnis stimmt mit den in Fleischer (2007) ermittelten Zahlen für die Flexion des Part II (wohlgemerkt im Nominativ!) überein. Das Partizip flektiert nur, wenn der Satz ein Akkusativobjekt enthält, mit dem es kongruiert (vgl.55). Unter den 107 Sätzen mit einem Akkusativ machen die 14 Belege mit Kongruenzflexion aber nur 13% aus. Bei einem Objekt in anderem Kasus oder ganz ohne Objekt kommt es nie zur Partizipialflexion. (55a)

As. As.

(55b)

As.

[…] thea gesîðos Cristes, the he imu habde die Gesinde Christi die er Refl-Dat.Sg hatte selƀo gicorane (H 2902–2904) selbst erkoren-Akk.Pl.Mask ‘die Gefolgsleute, die Jesus sich selbst ausgesucht hatte’ that sie habde giôcana thes alouualdon craft (H 293–294) dass sie hatte geschwängert-Akk.Sg des Allmächtigen Macht ‘dass sie der allmächtige Gott geschwängert hatte.’

Keiner der Belege mit overter Flexion enthält ein adjektivisches Part II. Die Kongruenzflexion ist somit auch im Heliand vom adjektivischen Status entkoppelt. Auch eine ausdrückliche Abhängigkeit von einer spezifischen morphologischen Form ist nicht erkennbar, doch überwiegt das Morphem -a/-e (11 von 14 Belegen), das den Plural (55a) bzw. das Fem.Sg. (55b) markiert. Die Flexion scheint hier formal konditioniert zu sein. Dafür spricht auch, dass gerade das tokenfrequente

218 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Partizip gicoran eine Affinität zur flektierten Form (5 von 8 Belegen mit Kongruenzflexion) zeigt. Möglicherweise bleibt die Kongruenzflexion aufgrund der Gebrauchshäufigkeit besser erhalten als bei minderfrequenten Lexemen. Insgesamt ist hebbian + V-PP deutlich stärker grammatikalisiert als sein ahd. Pendant. Neben der Verwendung als Resultatsperfekt tritt die Fügung regelmäßig als Experiential auf. Diese Funktion ist u.a. an Adverbialen der Frequenz sowie Adverbialen der zeitlichen Erstreckung und der indefiniten Vergangenheit (z.B. êr) erkennbar. Mit präteritalem Hilfsverb erfüllt die Konstruktion 15 Mal resümierende Funktion. Einmal ist sie als Persistenzperfekt gebraucht. Auch die Extension ist deutlich weiter fortgeschritten als im Ahd. Immerhin zweimal ist hebbian + V-PP mit einem unbelebten Subjekt belegt. Neben unprototypischen Objekten wie Nebensätzen, Infinitiven oder Ergänzungen im Genitiv tritt die Konstruktion in Sätzen mit indirektem Objekt und sogar ganz ohne direktes Objekt auf. Überraschenderweise sind die intransitiven Sätze mehrheitlich telisch. Hebbian + V-PP ist damit in die prototypische Domäne von uuesan + V-PP vorgedrungen und hat Extensionsstufe VIb erreicht, die nach Grønvik (1986) charakteristisch für Sprachen ist, die das Hilfsverb HABEN generalisieren.

6.5.2 uuesan + V-PP Dieser Abschnitt macht deutlich, dass uuesan + V-PP im Heliand ähnliche Funktionen erfüllt wie die Schwesterkonstruktion mit hebbian, dabei zeigt die Konstruktion aber lediglich eine schwache Extension. Ein Zusammenhang zwischen Partizipialflexion und adjektivischem Statuts ist auch hier nicht erkennbar. Auch im Heliand tendiert uuesan + V-PP anteilig häufiger zur Resultativität als hebbian + V-PP. In 11 der 48 Belege ist die Konstruktion eindeutig resultativ gebraucht. Drei dieser resultativen Belege finden sich in einem einzigen Satz (vgl. 56). Die prädikative Funktion der Partizipien in (56) ist daran erkennbar, dass sie mit dem Adjektiv unscôni koordiniert sind. (56)

As. As.

flêsk is unc antfallan, fel unscôni, Fleisch ist uns entfallen, Haut unschön, is unca lud giliðen, lîk gidrusnod, (H 153–155) ist uns Gestalt vergangen, Körper gedürrt ‘Wir haben stark abgenommen, die Haut ist hässlich, die frühere Gestalt ist vergangen, der Körper abgemagert.’

Heliand | 219

In den meisten Fällen fungiert uuesan + V-PP aber genau wie hebbian + V-PP als Resultatsperfekt. Die Konstruktion beschreibt ein vergangenes Geschehen, dessen Resultat zeitgleich mit dem übergeordneten Ereignisstrang andauert. So bringt (57) zum Ausdruck, dass sich Jesus zum Äußerungszeitpunkt am Tempel befindet. Das Adverb nu markiert explizit den Fokus auf dem gegenwärtig andauernden Resultat. Gleichzeitig rückt das Direktional an thesan uuîh die Bewegung zum Tempel in den Vordergrund, sodass reine Resultativität ausgeschlossen ist. Einen ähnlichen Effekt hat die finale Angabe te alôsienne thea liudi, die das Ziel der Bewegung angibt und diese damit selbst fokussiert. (57)

As. As.

nu is the hêlago Krist […] selƀo an thesan uuîh nun ist der heilige Christ selbst zu diesem Tempel cuman te alôsienne thea liudi (H 521–523) gekommen zu erlösen die Leute, ‘Nun ist der heilige Christ selbst zu diesem Tempel gekommen, um die Leute zu erlösen.’

In vergleichbaren Sätzen wird das andauernde Ereignisresultat fünf Mal durch ein Temporaladverbial fokussiert. Im Präsenskontext handelt es sich um nu, im Vergangenheitskontext um thuo/thō, s. (58). (58a)

As.

(58b)

As. As.

alles is mi nu thes lôn cumen (H 3374) alles ist mir nun des Lohns gekommen ‘Der gesamte Lohn ist mir nun zuteilgeworden.’ Thuo uuas thar uuerodes sô filo Da war da der Menschen so viel allaro elithiodo cuman te them êron Cristes (H 2231–2232) aller Länder gekommen zu der Ehre Christi ‘Da waren so viele Menschen aller Nationen gekommen, um Christus zu ehren.’

Direktionalergänzungen (insgesamt 16) heben dagegen den Ereignisverlauf hervor, sodass reine Resultativität ausgeschlossen ist, s. (59). Dennoch steht in (59) die Konsequenz des Ereignisses, nämlich dass Lazarus tot ist, im Vordergrund. Ähnlich geben finale Adverbiale wie in (60) das Ziel des Geschehens an und rücken es dadurch in den Vordergrund. Das Resultat der Bewegung dauert aber zeitgleich mit der übergeordneten Ereigniszeit an, d.h. die Subjektsreferenten befinden sich infolge der Bewegung (gefarana) am Zielpunkt (thar).

220 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(59)

As. As.

(60)

As. As.

Thuo sagda hêlag Crist selƀo is gisîðon that Da sagte heiliger Christ selbst seinem Gefolge dass aslâpan uuas Lazarus fan them legare (H 4004–4006) entschlafen war Lazarus fan them legare ‘Da teilte Jesus seinen Gefolgsleuten mit, dass Lazarus von seinem Bett entschlafen war.’ uuârun thar gefarana te thiu, that sie waren dorthin gefahren zu dem dass sie ûses drohtines dâdio […] fâron uuoldun (H 1228–1230) unseres Herren Taten erfahren wollten ‘Sie hatten sich dorthin begeben, um die Taten des Herrn zu erfahren.’

In (61) ist uuesan + V-PP in einen NS mit der Subjunktion antat ‘bis’ eingebettet. Die Subjunktion macht die Ereignisgrenze explizit, fokussiert aber zugleich den Geschehensverlauf. (61)

As. As.

Thô geng mahtig tô neriendo Crist, antat Da ging Mächtiger zu rettendem Christ bis he ginâhid uuas, hêleandero bezt: (H 2179–2180) er genaht war der Retter beste ‘Da ging der Mächtige zu dem Erlöser Christus, bis er den besten Heiland erreicht hatte.’

Die besprochenen Modifikatoren vereindeutigen den temporalen Fokus, sodass zwischen Resultativ und Resultatsperfekt unterschieden werden kann. Vier Sätze ohne entsprechende Kontextmerkmale sind ambig zwischen beiden Funktionen. So lässt sich in (62) nicht letztendlich entscheiden, ob dem Subjekt (it all) allein Eigenschaften attribuiert werden (‘bewahrheitet ist’) oder zusätzlich auf das vorausgehende Geschehen referiert wird (‘sich bewahrheitet hat’): (62)

As.

Thô uuas it all Da war es alles

giuuârod sô, bewahrheitet so

As.

spâha man weise Männer

gisprocan habdun gesprochen hatten

sô it êr so es vorher (H 374–375)

Resultativ ‘Da war alles so bewahrheitet, wie es zuvor weise Männer prophezeit hatten.’

Heliand | 221

Perfektisch ‘Da hatte sich alles so bewahrheitet, wie es zuvor weise Männer prophezeit hatten.’ In drei Fällen liegen innovativere Perfektfunktionen vor, die stärker den Ereignisverlauf fokussieren. (63a) bezeichnet eine Handlung, die in der Vergangenheit regelmäßig ausgeführt wurde. Das Adverb giuuno ‘gewöhnlich’ macht dabei die Wiederholung explizit. Ähnlich rückt das Adverbial at lezt in (63b) das vergangene Ereignis in den Vordergrund. Die Funktion von uuesan + V-PP entspricht in beiden Fällen dem engl. Experiential.

(63a)

As. As.

Experiential thar uuas hie [up] giuuno gangan da war er hinauf gewöhnlich gegangen mid is iungron. (H 4720–4721) mit seinen Jüngern. ‘Auf diesen Berg war er gewöhnlich mit seinen Jüngern gestiegen. Das war Judas wohl bekannt.’ hiet thiem at êrist geƀan. thia thar at lezt hieß denen als erstes geben die da zuletzt uuârun liudi cumana (H 3426–3427) waren Leute gekommen ‘Er hieß denen zuerst ausgeben, die zuletzt gekommen waren.’

(63b)

Satz (64) enthält dagegen ein Persistenzperfekt: Er beschreibt eine Zeitspanne, die in der Vergangenheit einsetzt und sich bis zur übergeordneten Ereigniszeit erstreckt. Johannes ist von seiner Jugend an in der Wüste aufgewachsen und lebt zur Ereigniszeit noch immer dort.

(64)

As. As.

Persistenzperfekt Than uaas im Iohannes fon is iuguðhêdi Damals war Refl Johannes von seiner Jugend auuahsan an ênero uuôstunni (H 859–860) aufgewachsen in einer Wüste ‘Damals lebte Johannes in einer Wüste, wo er von Jugend an aufgewachsen war.’

222 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Es lässt sich festhalten, dass uuesan + V-PP ein ähnliches Funktionsspektrum aufweist wie die Schwesterkonstruktion mit hebbian. Eindeutig resultative Sätze sind zwar anteilig häufiger vertreten, die Mehrheit der Belege fungiert aber ebenfalls als Resultatsperfekt. Dreimal ist der Resultatsbezug abgeschwächt: Die Konstruktion wird zweimal als Experiential, einmal sogar als Persistenzperfekt gebraucht. Damit verhält sich auch uuesan + V-PP mit Blick auf seine temporalaspektuelle Funktion progressiver als seine ahd. Entsprechung. Wie im Otfrid konzentriert sich uuesan + V-PP im Heliand auf telische Intransitive (s. auch Arnett 1997), was erneut durch die dominierende resultatsperfektische Funktion erklärbar ist (näher hierzu s. Kap. 7.4). Die Telizität der Verben wird, wie im Otfrid nahezu ausnahmslos durch Präfigierung erzielt. Es dominieren die Präfixe gi- mit 17 sowie a- (= ahd. ir- ‘er-’) mit 10 Belegen. Nur die beiden sehr frequenten, inhärent telischen Verben kuman und uuordan treten regelmäßig ohne Präfix auf. Wie bereits im Ahd. beobachtet (Kap. 6.2–6.3), hat sich das Präfix auch im As. zum festen Bestandteil der Konstruktion etabliert. Nur tokenfrequente, telische Verben sind nicht von der Generalisierung betroffen. Neben der Affinität zur Telizität fällt der hohe Anteil an Ortswechselverben auf, die 31 der 48 Fälle (~64,6%) ausmachen. Eindeutige Spitzenstellung nimmt dabei kuman mit 19 Belegen ein, das auch in den ahd. Quellen stets unter den frequentesten Verben ist. Synonym zu kuman wird ginahid gebraucht, das mit 6 Belegen das zweithäufigste Verb in der Konstruktion ist. Weitere 6 Belege enthalten die Bewegungsverben gifaran, gihuuerƀan und gangan ‘gehen, sich begeben’. Neben den Ortswechselverben weist die Konstruktion 17 Zustandswechselverben auf. Tabelle 32 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die semantischen Verbklassen in der Fügung. Tab. 32: Semantische Verbklassen in uuesan + V-PP

Verben

Anzahl

kuman

19

ginahid

6

andere Ortswechselverben

6

Zustandswechselverben

17

Interessanterweise bildet diese Verteilung die graduellen Stufen von Sorace’s ASH ab: Gemäß der ASH konstituieren Ortswechselverben gefolgt von Zustandswechselverben universell den prototypischen Bereich der SEIN-Selektion (Sorace

Heliand | 223

z.B. 2000, näher hierzu vgl. Kap. 5.1.3.1). Die Daten legen nahe, dass dieser Prototyp durch das tokenfrequente cuman uuesan motiviert ist: Durch ihr hohes Vorkommen besitzt die Form eine eigene mentale Repräsentation und bildet eine geeignete Analogievorlage für konzeptuell verwandte Verben. Dies führt zur produktiven Ausbreitung im semantischen Bereich der Ortswechselverben. Was die Argumentstruktur anbelangt, gruppiert sich die Konstruktion um einen intransitiven Prototypen. Mit 30 zu 48 Belegen überwiegen belebte Subjekte anteilig etwas schwächer als im Otfrid. Das Übergewicht der belebten Subjekte ergibt sich bereits aus dem hohen Anteil von Bewegungsverben, die i.d.R. ein belebtes Subjekt erfordern. Wie bereits in Kap. (6.4.2) erwähnt, wird das Auftreten belebter Subjekte hier nicht als Indikator für eine argumentstrukturelle Extension gewertet. Ähnlich wie im Ahd. tritt uuesan + V-PP überwiegend in einstelligen Sätzen auf (35 Mal). Zehn Belege weisen einen zusätzlichen Aktanten im Dativ auf. Die Sätze mit Dativ bilden aber keinen Indikator für eine argumentstrukturelle Ausweitung, da sie intransitiv sind. Der Dativus Commodi verbindet sich häufig (7 Mal) mit den Ortswechselverben kuman und nôhian, vgl. (65a,b). (65a)

As. As.

(65b)

As.

Inuuidrâdo, lêðaro sprâka, alles is mi Boshafter Anschlag, liederliche Rede alles ist mir nu thes lôn cumen. (H 3373–3374) nun des Lohns gekommen ‘Boshafter Anschlag, bösartige Rede, alles ist mir nun zuteilgeworden.’ Heƀanriki is ginâhid manno barnun (H 5593–5594) Himmelreich ist genaht Menschen-Gen. Kinder-Dat. ‘Das Himmelreich hat sich den Menschen aufgetan.’

Da diese Dative den Endpunkt der Bewegung angeben, bewertet Arnett (1997: 41) alle Ergänzungen im Dativ als Direktional. Mit dieser Bewertung fügen sich die Belege optimal in Shannons (1993 u.a.) mutativen Protypen ein (s. Kap. 5.1.3.2). M.E. wird die semantische Rolle der Dative aber besser als Bene- bzw. Malefaktiv erfasst: Die Dative bezeichnen eher einen Partizipanten, zu deren Nutzen das Subjekt gekommen ist, als den Zielpunkt der Bewegung. Benefaktivität wird auch den übrigen Belegen mit einem Dativ besser gerecht, die sich nicht als Direktional interpretieren lassen. In (66) denotiert der Dativ einen Aktanten, zu dessen Vorbzw. Nachteil sich das Geschehen vollzieht.

224 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

(66a)

As. As.

(66b)

As.

Benefaktiv Nu nist hie selƀo hier, ac hie ist Nun nicht=ist er selbst hier, sondern er ist astandan iu (H 5822–5823) auferstanden euch-Dat ‘Er ist jetzt nicht mehr hier, sondern ist für euch auferstanden.’ Malefaktiv is unc unkero selƀero dâd uuorðan te uuîtie. (H 5593–5594) ist uns-Dat unsere eigene Tat geworden zur Strafe ‘Wir wurden für unsere eigene Tat bestraft.’

Interessanterweise finden sich im Heliand auch zwei Belege mit einem Reflexivpronomen im Dativ (s. auch Arnett 1997), s. (67). Diese Reflexivpronomen bilden einen Indikator für eine schwache Extension im Heliand. (67a)

(67b)

As.

As. As.

Maria uuas siu hêten, uuas iru thiorna githigan Maria war sie geheißen, war Refl Jungfrau gediehen ‘Sie hieß Maria, sie war zur Jungfrau herangewachsen.’ (H 252–253) Than uaas im Iohannes fon is iuguðhêdi Damals war Refl Johannes von seiner Jugend auuahsan an ênero uuôstunni (H 859–860) aufgewachsen in einer Wüste ‘Damals lebte Johannes in einer Wüste, wo er von Jugend an aufgewachsen war.’

Von den 48 Belegen von uuesan + V-PP flektiert das Part II 9 Mal. Mit diesen etwa 19% zeigen sie eine etwas stärkere Tendenz zur Flexion als Fleischer (2007) für die Gesamtzahl der Partizip II-Belege ermittelt. (68)

As.

uuârun thar gefarana (H 1228) waren dorthin gefahren-Flekt ‘Sie hatten sich dorthin begeben’

Es handelt sich ausschließlich um Pluralformen (s. 68), womit sich die von Fleischer beobachteten morphologischen Tendenzen bestätigen. Dabei flektiert das Partizip allein auf das Morphem -a/-e. Wie bereits bei hebbian + V-PP beo-

Genesis | 225

bachtet, werden die morphologischen Tendenzen wohl durch die formale Übereinstimmung unterstützt. Allerdings enthält der Heliand auch fünf Pluralformen ohne Kongruenzflexion, sodass allenfalls von einer Tendenz gesprochen werden kann. Auch im Heliand erfüllt uuesan + V-PP ähnliche Perfektfunktionen wie hebbian + V-PP. Die kompositionelle resultative Funktion ist zwar anteilig häufiger, in den meisten Fällen fungiert aber auch uuesan + V-PP als (nicht-kompositionelles) Resultatsperfekt. Zweimal bezeichnet die Konstruktion wie ein engl. Experiential ein Geschehen in der indefiniten Vergangenheit, einmal wie ein Persistenzperfekt ein Geschehen, das sich bis zur übergeordneten Ereigniszeit erstreckt. Mit dem abgeschwächten Resultatsbezug verhält sich as. uuesan + V-PP funktional progressiver als seine ahd. Entsprechung. Eine starke Extension der Konstruktion ist nicht erkennbar: Sie tritt allein in intransitiven Sätzen auf, insgesamt zehn Mal mit einem Dativ. Aufgrund des engen Resutatsbezugs konzentriert sie sich auf telische Verben, wobei Ortswechselverben mit rund 65% gegenüber anderen Zustandswechselverben überwiegen. Die Verbklassen bilden damit die Gradualität von Sorace’s ASH ab (vgl. Kap. 5.1.3.1). Die Affinität zu Bewegungsverben könnte durch die hohe Tokenfrequenz einzelner Ortswechselverben in der Konstruktion motiviert sein: kuman uuesan (19 Belege) bzw. ginahid uuesan (6 Belege) können als analogische Vorbilder fungieren, die weitere, bedeutungsverwandte Ortswechselverben anziehen (näher hierzu s. Kap. 7).

6.6 Genesis Die Genesis-Fragmente (~875 n.Chr.) entsprechen mit ca. 3.000 Wörtern nur etwa einem Achtel des Heliandepos. Das erklärt die geringen Belegzahlen der Konstruktionen. Tabelle 33 gibt erneut eine Übersicht über die Gesamtvorkommen von hebbian + V-PP und uuesan + V-PP in den as. Genesis-Fragmenten (vgl. Tabelle 33). Wie im Heliand überwiegen im Indikativ die Formen mit präteritalem Finitum. Auffälligerweise fehlt uuesan + V-PP nahezu gänzlich, was möglicherweise auf den geringen Textumfang zurückzuführen ist. Hebbian + V-PP ist dagegen mit 22 Belegen vergleichsweise häufig belegt und dominiert anteilig noch deutlicher gegenüber der Schwesterkonstruktion mit uuesan als im Heliand.

226 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

Tab. 33: Vorkommen von hebbian + V-PP und uuesan + V-PP in den Genesis-Fragmenten

Finitum im

hebbian + V-PP

uuesan + V-PP

Präs. Ind.

8

--

Präs. Konj.

--

1

Prät. Ind.

13

--

Prät. Konj.

1

--

gesamt

22

1

6.6.1 hebbian + V-PP Hebbian + V-PP zeigt in der Genesis ein ähnliches Funktionsspektrum wie im Heliand. Unter den wenigen Belegen findet sich kein resultativer Satz, die Konstruktion fungiert mehrheitlich als Resultatsperfekt (16 von 22). Die Referenz auf dem andauernden Ereignisresultat wird dabei sechsmal durch ein Temporaladverbial explizit gemacht (im Präsenskontext nu, im Präteritalkontext thuo/thō), vgl. (69). Fünfmal wird der andauernde Zielzustand durch ein Adverbial (70a) oder Prädikativ (70b) fokussiert. (69a)

As.

(69b)

As.

thoh thu ina nu aslagan hebbias, doch du ihn nun erschlagen hast dôdan giduanan. (G 636–637) tot getan-Akk.Sg.Mask ‘doch du ihn nun erschlagen hast, tot gemacht’ Thuo habdun [iro] firindâdi all Sodomothiod

As.

Da hatten ihre Freveltaten alle Sodomleute sêro antgoldan (G 911–912) sehr entgolten ‘Da hatten die Bewohner von Sodom ihre Sünden gebüßt.’ thea te goda hebbian fasto gifangan (G 796–797)

(70a)

die zu Gott haben fest gewendet ‘[…] die Gott gänzlich zugewandt sind'

Genesis | 227

(70b)

As.

[…] uuit hebbiat unk giduan mahtigna god, wir haben uns gemacht mächtigen Gott uualdand uurêđan. (G 578–579) herrschenden zornig. ‘wir haben den mächtigen Gott, den Herrscher, gegen uns aufgebracht.’

Fünf weitere Sätze enthalten ein Reflexivpronomen im Dativus Ethicus, das die innere Involviertheit des Subjektsreferenten zum Ausdruck bringt und damit ebenfalls einen Bezug zur übergeordneten Ereigniszeit herstellt, vgl. (0) (71)

As.

habda im sundea giuuaraht bittra an is bruođa hatte Refl-Dat Sünde verübt bittere an seinem Bruder ‘Er hatte sich bitter an seinem Bruder versündigt.’ (G 616–617)

Diese 16 Belege erfüllen eindeutig die Funktion des Resultatsperfekts, die übrigen zeichnen sich durch einen schwächeren Resultatsbezug aus. Z.B. ist in (72a) ausgeschlossen, dass das Resultat gegenwärtig andauert, da das Ereignis mit ni negiert ist. In (72b) ist die Handlung durch das pluralische Subjekt und Objekt iterativ, sodass kein einzelnes Geschehensresultat vorliegt. Die Funktion entspricht dem engl. Experiential (insgesamt 5 Belege). (72a)

As. As.

(72b)

As. As.

thes ni habda he êniga geuuuruhte te thi, dessen nicht hat er irgendetwas getan an dir, sundea gisuohta (G 635–637) Sünde gesucht ‘Er hat an dir keine vergleichbare Sünde begangen.’ habdun im

sô [filu] fîunda barn

hatten ihnen

so vieler Feinde Kinder

uuammas geuuîsid

(G 742–743)

Frevel-Gen. gezeigt ‘Sie hatten an so vielen Übeltätern sündhaftes Verhalten gesehen.’ Besonders auffällig ist der Perfektgebrauch in (73), weshalb der Beleg hier in seinem weiteren Kontext präsentiert wird. Habdun […] ginuman bezeichnet ein Ereignis, das im Verhältnis zum präteritalen Haupttempus nachzeitig ist, und stellt

228 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

damit eine futurische Zeitrelation her: Der Satz verweist darauf, dass den Eltern nach Kains Brudermord keine Freude mehr zuteil wird. (73)

As. As. As. As.

siu ni habdun thuo noh kindo than mêr sie nicht hatten da noch Kinder-Gen damals mehr libbendero an them liahta, botan thana ênna, thie thuo lebend an dem Licht außer diesen einen der da alêđit uuas uualdanda be is faruuurohtiun: verhasst war Herrschendem bei seinen Übeltaten

As.

thar ni habdun da nicht hatten ginuman,

siu êniga uuunnia tuo niudlîco sie irgendeine Freude hinzu nützlich [huuand] nie sulican nîd [afhuof,]

As.

genommen that he uuarđ

denn nicht solchen Hass aufhob is bruođar bano. (G 680–684)

dass er wurde

seines Bruders Mörder.

‘Da hatten sie keine Kinder mehr, die auf der Erde lebten, abgesehen von dem einen, der Gott verhasst war aufgrund seiner Verbrechen: Da konnten sie keine echte Freude mehr erlangen, denn er konnte das Verbrechen nicht wiedergutmachen, dass er seinen Bruder getötet hatte.’ Womöglich lässt sich der futurische Gebrauch dadurch erklären, dass die Konstruktion noch stark durch Aspektualität geprägt ist und deshalb auch relative Nachzeitigkeit herstellen kann. Da es sich aber im Gesamtkorpus um den einzigen Beleg in dieser Funktion handelt und es keine weiteren Indikatoren für eine futurische Zeitreferenz gibt, wird (73) hier als Ausnahme gewertet. Alles in allem zeigen die Belege in der Genesis ähnliche Tendenzen wie im Heliand: Schwerpunktmäßig fungiert die Konstruktion als Resultatsperfekt (16 Belege). Weitere 5 Sätze erfüllen Experiential-Funktion. Hebbian + V-PP erfüllt nicht nur vergleichbare Funktionen, sondern tritt auch in ähnlichen Kontexten auf wie im Heliand. Die Konstruktion geht auch hier stärker über den transitiven Prototypen hinaus als in den untersuchten ahd. Texten. Auch in der Genesis weist hebbian + V-PP allein telische, präfigierte Verben auf. Spitzenstellung nimmt erneut das gi-Präfix ein (14 Mal), daneben ist far/for(= ahd. fir- ‘ver-’) mit fünf Vorkommen recht häufig vertreten. Jeweils einmal kommen die Präfixe ant- ‘ent-’, a- ‘er-’ sowie bi- ‘be-’ vor.

Genesis | 229

Alle Sätze enthalten ein belebtes Subjekt, 17 weisen zusätzlich ein prototypisches direktes Objekt im Akkusativ auf. Die übrigen fünf Belege weichen graduell vom transitiven Muster ab. So enthält (72b), hier wiederholt als (74), ein Genitivobjekt, das aufgrund der fehlenden Individuiertheit nicht zur Begrenzung der Handlung beiträgt. Die Individuiertheit wird in (74) zusätzlich durch die Pluralität des Objekts geschwächt. Durch die fehlende Individuiertheit des Objekts und die daraus folgende Iterativität der Handlung ist der Resultatsbezug geschwächt. Erneut wird der wechselseitige Zusammenhang von hoher Transitivität und resultatsperfektischer Funktion deutlich. (74)

As.

habdun im sô [filu] fîunda barn hatten ihnen so vieler Feinde Kinder uuammas geuuîsid (G 742–743) Frevel-Gen gezeigt ‘Sie hatten an so vielen Übeltätern sündhaftes Verhalten gesehen.’

Auch zwei Belege, die nur ein Reflexivpronomen enthalten, haben sich vom prototypischen direkten Objekt entfernt, vgl. (75). Da das Verb faruuerkon aber (im Heliand) auch mit einem substantivischen Akkusativ belegt ist (vgl. z.B. 49a), sind die Sätze zumindest schwach transitiv. (75a)

As.

(75b)

As. As.

Thuo habdun im eft sô suuîðo Sodomoliudi, Da hatten Refl-Akk wieder so sehr Sodomleute uueros sô faruuerkot, that […] (G 739–740) Menschen so verwirkt, dass ‘Da hatten sich die Bewohner von Sodom erneut so sehr versündigt, dass […].’ hebbiat [im] umbi Sodomaland hatten Refl-Akk im Sodomland uueros sô foruuerkot. (G 767–768) Menschen so verwirkt ‘Es hatten sich die Menschen im Sodomland so versündigt.’

Einmal kommt hebbian +V-PP sogar in einem intransitiven Satz vor. Es handelt sich um das telische Verb fangan ‘sich hinwenden’, das auch im Heliand ein hebbian-Perfekt bildet, vgl. (76). (76)

As.

thea te goda

hebbian fasto

gifangan

(G 796–797)

230 | Korpusuntersuchung im Althochdeutschen und Altsächsischen

die zu Gott haben fest ‘die Gott gänzlich zugewandt sind’

gewendet

Der Beleg bestätigt damit, dass sich hebbian + V-PP im As. auf telische Intransitive ausgeweitet hat und Grønviks Extensonsstufe VIb erreicht ist (vgl. Kap. 5.3.3.1). Insgesamt tritt hebbian + V-PP damit in ähnlichen Kontexten auf wie im Heliand. Zwar konzentriert sich die Konstruktion auf hochtransitive Sätze, neben Sätzen mit unprototypischem direktem Objekt, etwa im Genitiv, gibt es sogar einen intransitiven Satz mit dem telischen Verb fangan ‘sich hinwenden’. Damit ist auch in der Genesis Grønviks Extensionsstufe VIb erreicht. Unter den 22 Belegen mit hebbian + V-PP flektiert das Part II dreimal, s. (77). Dabei lässt sich keine Regelmäßigkeit feststellen. Einmal flektiert ein Partizip im Mask.Sg. und zweimal flektieren Pluralformen. Auffälligerweise treten zwei der drei flektierenden Partizipien im selben Satz auf, vgl. (77a). Die geringen Belegzahlen erlauben hier keine weiteren Schlussfolgerungen. (77a)

(77b)

As.

As. As.

thes ni habda he êniga [geuuuruhte] te thi, dessen nicht hatte er irgendetwas getan zu dir sundea gisuohta, thoh thu ina nu Sünde gesucht-Akk.Sg.Fem doch du ihn nun aslagan hebbias, dôdan giduanan. (G 635–637) erschlagen hast tot getan-Akk.Sg.Mask ‘Er hat an dir keine vergleichbare Sünde begangen, aber du hast ihn erschlagen.’ Thô geng im thanan miđ grimmo hugi, habda ina Da ging Refl dann mit feindlichem Sinn hatte ihn god selƀo suîđo farsakanan. (G 669–670) Gott selbst starker zurückgewiesen-Akk.Sg ‘Da ging er feindselig, der mächtige Gott selbst hatte ihn zurückgewiesen.’

Insgesamt bestätigen die Belege in der Genesis die Tendenzen, die bereits im Heliand beobachtet wurden. Die Mehrheit der Belege mit hebbian + V-PP fungiert als Resultatsperfekt (insgesamt 16), fünf weitere Sätze erfüllen die ExperientialFunktion. Wie im Heliand konzentriert sich die Konstruktion auf hochtransitive Sätze, v.a. die zweite Argumentstelle weicht aber graduell von der hochtransitiven Struktur ab: Neben Sätzen mit unprototypischem direktem Objekt, etwa im Genitiv, gibt es sogar einen intransitiven Satz mit dem telischen Verb fangan ‘sich

Genesis | 231

hinwenden’. Damit ist auch in der Genesis Grønviks Extensionsstufe VIb erreicht. Sowohl Funktion als auch Extension sprechen damit für eine weite Grammatikalisierung von hebbian + V-PP im As.

6.6.2 uuesan + V-PP Der einzige Beleg mit uuesan + V-PP ist resultativ (vgl. 78): Dem Subjektsreferenten (thu) wird die Eigenschaft des Erzürnt-Seins zugeschrieben. Das Dativobjekt im steht in der Valenz des adjektivischen Partizips. (78)

As.

sô thu im abolgan ni sîs? so du ihnen-Dat.Pl erzürnt nicht seist ‘wenn du ihnen nicht zornig bist?’

(G 825)

Aus diesem einzigen Beleg lässt sich allerdings nicht schlussfolgern, dass uuesan + V-PP in der Genesis auf Resultativität beschränkt ist. Die geringen Belegzahlen erlauben keine weiteren Aussagen über das Funktionsspektrum bzw. die Distribution der Konstruktion in der Genesis. V.a. aufgrund des hohen Vorkommens im Heliand überrascht es, dass uuesan + V-PP in der Genesis nur einmal belegt ist. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen dem seltenen Vorkommen der Konstruktion und der fortgeschrittenen Grammatikalisierung von hebbian + V-PP. Aufgrund der geringen Datenlage lässt sich diese Vermutung aber nicht verifizieren.

7 Zusammenfassung und theoretische Interpretation der Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen Dieses Kap. fasst die Ergebnisse der Untersuchung in den ahd. und as. Quellen zusammen und interpretiert sie theoretisch innerhalb des gebrauchsbasierten Modells. Abschnitt (7.1) vergleicht zunächst die frequenziellen Verhältnisse innerhalb der Einzelquellen; hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Übersetzungs- und autochthonen Texten sowie zwischen ahd. und as. Quellen. Im As. haben die Konstruktionen eine höhere Tokenfrequenz und Produktivität erreicht. Anschließend widmet sich Abschnitt (7.2) der temporal-aspektuellen Funktion: Es wird deutlich, dass HABEN + V-PP und SEIN + V-PP in den untersuchten altgerm. Sprachen (schwach) grammatikalisiert sind und von einem gemeinsamen Präsensperfekt-Schema überdacht werden (7.2.1). Die funktionale Verschiebung ist aber im As. weiter fortgeschritten als im Ahd. Ausgehend von den Daten wird ein diachroner Entwicklungspfad der Perfektfunktionen rekonstruiert (7.2.2). Abschnitt (7.3) zeigt, dass auch die Verwendungskontexte der Konstruktionen auf eine stärkere Grammatikalisierung im As. hindeutet. Die Beobachtungen zu Funktion und Verwendungskontexten werden in (7.4) zusammengeführt; es zeigt sich, dass die präferierten Kontexte der Konstruktionen, die heute als synchrone Prototypen der haben- und sein-Selektion fortbestehen, ursprünglich durch die dominierende resultatsperfektische Funktion motiviert sind. Abschließend werden einige noch offene Fragen skizziert (7.5).

7.1 Frequenzielle Unterschiede: Höhere Produktivität im Altsächsischen Schon innerhalb der ahd. Texte zeigen die Konstruktionen deutliche Frequenzunterschiede: Im Isidor und Tatian sind beide seltener belegt als im Otfrid. Tabelle 34 fasst die Vorkommenshäufigkeiten der Einzelkonstruktionen unter Berücksichtigung der Abfassungszeit und der Anzahl laufender Textwörter zusammen:

Frequenzielle Unterschiede: Höhere Produktivität im Altsächsischen | 233

Tab. 34: Tokenfrequenz von habēn/eigan + V-PP und uuesan + V-PP in den untersuchten altgermanischen Texten

Text (Abfassungszeit)

Isidor (750–800)

Laufende Textwörter

HABEN

SEIN

+ V-PP

+ V-PP

5.892

0

4

Tatian (800–850)

54.109

5

15

Otfrid (850–900)

79.341

52

29

Heliand (800–850)

~25.000

140

48

Genesis (850–900)

~3.000

22

1

Auf den ersten Blick scheinen die Ergebnisse eine diachrone Entwicklung im Ahd. abzubilden, da die Belegzahlen beider Konstruktionen mit der Abfassungszeit zunehmen. Im Isidor, dem ältesten der untersuchten Texte, wurde die niedrigste Trefferzahl erzielt, habēn/eigan + V-PP ist hier gar nicht belegt. Der ca. 50 Jahre jüngere Tatian weist beide Konstruktionen etwas häufiger auf, wobei uuesan + V-PP weiterhin zahlenmäßig überwiegt. Im wiederum 50 Jahre jüngeren Otfrid treten die Konstruktionen deutlich häufiger auf als im Isidor und Tatian und sind stärker konventionalisiert. Habēn/eigan + V-PP überwiegt hier gegenüber uuesan + V-PP, womit sich die relativen Verhältnisse umgekehrt haben. Damit deutet sich eine Entwicklung an, die das heutige Übergewicht von haben + VPP geprägt hat. Allerdings zeigen die Übersetzungstexte eine starke Abhängigkeit von der lat. Vorlage. Vermutlich hängen die geringen Belegzahlen daher v.a. mit der geringen Anzahl lat. Vorbilder zusammen. Die Wahl einer ahd. analytischen gegenüber einer lat. synthetischen Form bedeutet eine weite strukturelle Entfernung vom lat. Text, wie sie in den ahd. Übersetzungstexten vermieden wird (s. Kap. 6.1–6.3). Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind die Frequenzunterschiede deshalb nicht (allein) auf die diachrone Zunahme der Konstruktionen, sondern auf die unterschiedlichen Textsorten zurückzuführen. Ob auch regionale Faktoren eine Rolle spielen, lässt sich aufgrund der Datenbasis nicht sagen. Besonders deutliche Frequenzunterschiede bestehen zwischen den ahd. und den as. Texten. Obwohl der Heliand nur etwa ein Drittel an Textumfang des gattungsmäßig vergleichbaren Otfrid besitzt, kommen die Konstruktionen fast dreimal so häufig vor, vgl. Tabelle 34. Die höhere Produktivität im As. deutet bereits auf einen stärkeren Grammatikalisierungsgrad hin.

234 | Theoretische Interpretation Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen

7.2 Temporal-aspektuelle Funktion: Höherer Grammatikalisierungsgrad im Altsächsischen 7.2.1 Mehrdeutigkeit der Konstruktionen und ein abstraktes Präsensperfektschema Schon in den frühsten ahd. und as. Quellen weisen HABEN + V-PP und SEIN + V-PP neben der resultativen auch die perfektische Funktion auf. Abbildung 37 zeigt den Anteil resultativer vs. nicht-resultativer Verwendungen von HABEN + V-PP in den untersuchten Quellen.

160

139

140 120 100 80 50

60 40

22

20

2 3

2

1

0

0 Isidor

Tatian

Otfrid

Heliand Genesis

resultativ

0

2

2

1

0

nicht resultativ

0

3

50

139

22

Abb. 37: Anteil resultativer vs. nicht-resultativer Belege von habēn/hebbian + V-PP in den untersuchten Quellen (absolute Zahlen)

In fast allen Quellen überwiegt die Perfektfunktion eindeutig. Nur im Tatian halten sich resultatives und nicht-resultatives HABEN + V-PP mit zwei gegenüber drei Belegen etwa die Waage. Beide Resultative imitieren dabei aber eine übereinstimmende lat. Form. Insgesamt ist das resultative HABEN + V-PP in den altgerm. Texten damit zahlenmäßig marginal. Bei SEIN + V-PP ist der Anteil resultativer Formen in allen Quellen höher als bei HABEN + V-PP. Wie Abbildung 38 zeigt, dominieren aber auch hier die nichtresultativen Belege.

Höherer Grammatikalisierungsgrad im Altsächsischen | 235

40

35

35 30 22

25 20 15

10 7

10 5

3

1

4

2

1 0

0 Isidor

Tatian

Otfrid

Heliand

Genesis

resultativ

1

2

7

10

1

nicht resultativ

3

4

22

35

0

Abb. 38: Anteil resultativer vs. nicht-resultativer Belege von uuesan + V-PP in den untersuchten Quellen

Damit lässt sich bereits im Ahd. und As. eine Mehrdeutigkeit beider Konstruktionen beobachten, die allerdings noch nicht so stark ausgeprägt ist wie im Nhd.: HABEN + V-PP und SEIN + V-PP bezeichnen einen resultativen Zustand oder ein perfektisches Geschehen. Anders als heute denotieren sie aber kein Geschehen in der generellen Vergangenheit, vgl. Tabelle 35 und Tabelle 36. Tab. 35: Temporal-aspektuelle Funktionen von uuesan + V-PP im Althochdeutschen und Altsächsischen

uuesan + V-PP

Bedeutung

Resultativ

ther thir si irbolgan (O II,18,21)

‘X ist (jetzt) ge-V-t’

Präsensperfekt

Ther […] so thiko inflóhan wari (O V,15,25)

‘X ist (gerade) ge-V-t’

Vergangenheit

----

‘X V-te (damals)’

236 | Theoretische Interpretation Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen

Tab. 36: Temporal-aspektuelle Funktionen von habēn/hebbian + V-PP im Althochdeutschen und Altsächsischen

habēn/hebbian + V-PP

Bedeutung

Resultativ

Níuwiboran habet thiz lánt then ‘Y von X ist (jetzt) ge-V-t’ hímilisgon héilant (O I,18,12–13)

Präsensperfekt

Thaz hábeta mit then máhtin drúhtin úbarwuntan (O V,14,13)

‘X hat (Y) (gerade) ge-V-t’

Vergangenheit

----

‘X V-te (damals) (Y)’

In der Präsensperfektfunktion ist die Kompositionalität abgebaut, d.h. perfektisches HABEN + V-PP bzw. SEIN + V-PP sind (schwach) grammatikalisiert. Mit der Grammatikalisierung einer Konstruktion bildet sich ein neues, abstraktes Schema heraus (vgl. Kap. 2.4). Die funktionale Ähnlichkeit von HABEN + V-PP bzw. SEIN + V-PP legt nahe, dass sie bereits von einem gemeinsamen Schema überdacht werden, in dem sie mit der Präsensperfektfunktion verbunden sind. Bereits in den frühesten Überlieferungen bilden beide Konstruktionen also eine einheitliche Kategorie. SYN: Auxfin+ ge-V-t/enAKT SEM: Präsensperfekt

Mikro-Kxn1

SYN: HABENfin + ge-V-t/enAKT Thaz hábeta drúhtin

Mikro-Kxn2

SYN: SEINfin + ge-V-t/enAKT

Ther so thiko inflóhan wari

úbarwuntan

Abb. 39: Abstraktes Präsensperfektschema im Althochdeutschen und Altsächsichen

Höherer Grammatikalisierungsgrad im Altsächsischen | 237

Wie im Got. (vgl. Kap. 8.1) überwiegt in den frühen ahd. Quellen uuesan+ V-PP gegenüber habēn/eigan+ V-PP. Leiss (1992) bemerkt, dass alle Sprachen, die ein HABEN-Perfekt grammatikalisieren, zuerst die Konstruktion mit SEIN aufweisen. Dieses implikative Verhältnis legt nahe, dass die Grammatikalisierung von HABEN + V-PP in Analogie zum bereits bestehenden Schema von SEIN + V-PP erfolgt: D.h. das HABEN-Perfekt wird durch den zuvor bestehenden Knoten von SEIN + V-PP teillizensiert. Anschließend wird HABEN + V-PP so produktiv, dass es eine stärkere Extension von SEIN + V-PP stoppt und sich zur frequenteren und, im Norden der Westgermania sogar zur alleinigen Perfektkonstruktion entwickelt.

7.2.2 Rekonstruktion eines Grammatikalisierungspfads Die Präsensperfektbelege wurden weiter nach dem Perfekttyp analysiert. Bei HABEN + V-PP und SEIN + V-PP überwiegt sowohl im Ahd. als auch im As. das Resultatsperfekt; d.h. die Konstruktionen bezeichnen mehrheitlich ein vergangenes Ereignis, dessen Resultat zeitgleich mit der übergeordneten Haupthandlung andauert. Im As. treten daneben regelmäßig Perfektformen auf, die stärker das Ereignis fokussieren. Vergleichbar mit dem engl. Experiential bezeichnen sie ein (wiederholtes) Geschehen in der indefiniten Vergangenheit. Zwei Belege denotieren wie das engl. Persistenzperfekt ein Ereignis, das vorzeitig einsetzt und bis zur übergeordneten Ereigniszeit andauert. Außerdem finden sich in den as. Texten resümierende Verwendungen, die einen vorausgehenden präteritalen Erzählstrang zusammenfassen und abschließen. Mit diesem weiteren Funktionsspektrum repräsentiert das As. ein fortgeschritteneres Grammatikalisierungsstadium als das Ahd. Aus den Ergebnissen lässt sich folgender Grammatikalisierungspfad rekonstruieren (vgl. Abbildung 40).

238 | Theoretische Interpretation Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen

Resultativ

Resultats-

Resüm.

perfekt

Funktion

Experiential

Persistenzperfekt

Ahd. Ther thría

beta

Ahd. Thoh habet Ahd. Er hábet in thérer thuruh thar gizáltan\

gihaltana in

nót thiz fásto

dróstmá

so thiko inflóhan

sueizduoh

binágilit;

nagfaltan

wari;

As. sô hi an

As. nu haƀað

As. Habde iru

As. Thie habda

As. the habda at

is breostun

thit lioht

thô giholpen

under them

them uuîha sô

haƀad

afgeƀen[…]

hêlag barn

rîkesô

filu uuintro endi

geheftid

Erodes

godes

filo morðes

sumaro gilibd

Ahd. thia ih ha-

stunton jáhi, \

girâdan Althochdeutsch Altsächsisch

Abb. 40: Grammatikalisierungsgrad der Perfektkonstruktionen im Althochdeutschen und Altsächsischen

Die Rekonstruktion des Grammatikalisierungspfads basiert auf der theoretischen Annahme, dass funktionale Verschiebungen analogisch erfolgen und schrittweise in Rückkopplung an bereits bestehende Funktionen verlaufen. Das Leitmotiv der Perfektentwicklung ist die graduelle Schwächung des Gegenwartsbezugs vom konkreten Resultatsbezug zur abstrakten Gegenwartsrelevanz (Dahl/Hedin 2000). Gegenwartsrelevanz ist aus diachroner Perspektive ein Persistenzmerkmal (vgl. Hopper 1991 u. Kap. 2.7). Aufgrund der Gradualität der analogisch motivierten Bedeutungsverschiebung wird sie zunächst abstrakter und schwindet erst bei starker Grammatikalisierung. Dass das Resultativ am Anfang der Entwicklung steht, lässt sich anhand der hier erhobenen Daten nicht belegen. Diese Annahme ist der typologischen Literatur (z.B. Traugott 1972, Nedjalkov/Jaxontov 1988, Bybee et al. 1994: Kap. 3) entnommen und beruht auf der theoretischen Grundannahme, dass Grammatikalisierungen bei kompositionellen Konstruktionen beginnen. Die erste Perfektfunktion, die sich diachron herausbildet, ist das Resultatsperfekt (ähnlich s. Schwenter 1994). Empirisch spricht dafür, dass nur das Resul-

Höherer Grammatikalisierungsgrad im Altsächsischen | 239

tatsperfekt in allen untersuchten Texten nachweisbar ist und zahlenmäßig immer dominiert. Aufgrund des engen Resultatsbezugs ist der schwache Grammatikalisierungsgrad auch theoretisch plausibel. Beim Experiential hat sich der Fokus dagegen stärker auf das vorausgehende Ereignis verschoben. In den ahd. Texten wurde dieser Perfekttyp nur vereinzelt, in den as. regelmäßiger beobachtet. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sich das Experiential sekundär aus dem Resultatsperfekt entwickelt. Die nur im As. beobachteten resümierenden Belege könnten diachron eine Brücke zwischen beiden Perfekttypen bilden. Diese Brückenfunktion lässt sich zwar nicht empirisch nachweisen, ist aber theoretisch plausibel. Denn die resümierenden Verwendungen stehen funktional zwischen Resultatsperfekt und Experiential, indem sie einerseits Abgeschlossenheit bezeichnen, andererseits aber nicht das Resultat, sondern das Ereignis perspektivieren. Die Gradlinigkeit und Konsekutivität, die die Metapher des Grammatikalisierungspfads und das Szenario in Abbildung 40 suggerieren, ist eine Idealisierung. Wahrscheinlich dienen nicht allein die resümierenden Verwendungen, sondern auch das Resultatsperfekt, das in allen Quellen neben den übrigen Perfekttypen am frequentesten auftritt, als analogisches Vorbild, das die neu entstehende Experiential-Lesart teilliziensiert. Wie in Kap. (4.4.1–4.4.2) gezeigt, variiert auch der Resultatsbezug des Resultatsperfekts graduell in seiner Ausprägung, was Mittwoch (2008) mit der Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Resultatsperfekt erfasst. Mittwochs schwaches Resultatsperfekt ist funktional nur einen Schritt vom Experiential entfernt und dürfte damit ebenfalls dessen Herausbildung fördern. Dass verschiedene analogische Vorlagen die Reanalyse einer Konstruktion vorantreiben, steht im Einklang mit einem mehrdimensionalen Konstruktionsnetzwerk, in dem verschiedene Konstruktionen über Form- oder Funktionsseite miteinander verknüpft sind. Insgesamt zeigen beide Konstruktionen im As. innovativere Perfektfunktionen als im Ahd. Diese regionalen Tendenzen stehen im Widerspruch zu dem, was aus gegenwartssprachlicher Perspektive erwartbar wäre. Im heutigen Mittel- und Süddt. hat das Perfekt das synthetische Präteritum im Zuge des obdt. Präteritumschwunds bzw. der Perfektexpansion abgelöst und den Ausdruck der generellen Vergangenheit vollständig übernommen. Im Norddt. tritt das Präteritum dagegen noch regelmäßiger auf. Nach Fischer (2015) beruht die Wahl des Präteritums zwar auch hier nicht auf funktionalen Unterschieden, sondern ist an bestimmte Lexeme gekoppelt und im Wesentlichen durch deren Tokenfrequenz bedingt. Die stärkere Konservierung einzelner Präteritalformen legt allerdings nahe, dass funktionale Unterschiede im Norddt. länger existierten als im Süddt. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die frühesten Textdenkmäler gegenteilige Tendenzen aufweisen.

240 | Theoretische Interpretation Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen

Die stärkere Perfektgrammatikalisierung im As. passt aber zu Łeçkis (2010) Beobachtung, dass HABEN + V-PP im Ae. bereits das gesamte Funktionsspektrum entwickelt hat, das es auch im Gegenwartsengl. besitzt (vgl. Kap. 5.3.2). Das in der vorliegenden Untersuchung ermittelte Nord-Süd-Gefälle lässt sich damit auf die gesamte Westgermania ausweiten: Die Perfektgrammatikalisierung greift im Norden am stärksten und wird nach Süden hin schwächer. Es lässt sich festhalten, dass HABEN+ V-PP und SEIN + V-PP in allen untersuchten altgerm. Texten grammatikalisiert sind. Im konstruktionellen Netzwerk werden sie von einem gemeinsamen Präsenperfektschema überdacht. Die Konstruktionen erfüllen sowohl resultative als auch perfektische Funktion und sind damit mehrdeutig. Die Mehrdeutigkeit ist allerdings im As. stärker ausgeprägt als im Ahd.

7.3 Distribution als Indikator für Grammatikalisierung Auch die Verwendungskontexte zeigen ein fortgeschritteneres Entwicklungsstadium im As. So geht HABEN + V-PP insbesondere mit Blick auf das direkte Objekt stärker über den transitiven Prototypen hinaus als im Ahd.: Während im Otfrid nur wenige Belege, z.B. mit Komplementsatz oder zwei absolut gebrauchten Transitiven von der zweistelligen Struktur abweichen, kommt as. hebbian + V-PP regelmäßiger bei unprototypischem direktem Objekt wie Nebensätzen, Infinitiven und Genitivobjekten und sogar in intransitiven Sätzen vor. Überraschenderweise überwiegen telische gegenüber atelischen Intransitiven, womit HABEN + VPP bereits in die prototypische SEIN-Domäne vorgedrungen ist und damit Züge einer Sprache zeigt, die haben als alleiniges Perfekthilfsverb generalisiert. Diese Ergebnisse legen nahe, dass das ahd. habēn+ V-PP selbst mit der transitiven Argumentstruktur verbunden ist und ähnlich wie ein Vollverb, zwei Leerstellen (Subjekt und direktes Objekt) zuweist. Im As. ist die Konstruktion dagegen nicht mehr obligatorisch mit der zweiten Argumentstelle verbunden. As. hebbian + V-PP hat demnach höhere Schematizität und Produktivität erreicht, was nach Traugott/Trousdale (2013: 116ff.) charakteristisch für Grammatikalisierungsprozesse ist (vgl. Kap. 2.5). SEIN + V-PP zeigt dagegen auch im As. nur eine schwache Extension. Die Konstruktion konzentriert sich in allen untersuchten Quellen auf telische Intransitive, womit sich Shannons mutativer Prototyp für beide altgerm. Sprachen bestätigt (vgl. Kap. 5.1.3.2). Im Isidor und Tatian überwiegen die Verben uuerdan und quhoman in der Konstruktion, im Otfrid und im Heliand ist kommen das frequenteste Verb (im Otfrid 7x quhoman, im Heliand 19x cuman). Interessanterweise bildet uuesan + V-

Engführung der Perspektiven: Funktionale Begründung der haben/sein-Prototypen | 241

PP bereits im Heliand die graduellen Stufen von Soraces ASH ab, indem telische Ortswechselverben gegenüber anderen Zustandswechselverben überwiegen. Diese hohe Affinität zu Ortswechselsverben könnte durch das häufige Vorkommen der Verbindung quhoman uuesan motiviert sein.1 Infolge der hohen Tokenfrequenz besitzt die Form eine eigene mentale Repräsentation und ist kognitiv leicht abrufbar. Dadurch zieht sie bedeutungsverwandte Ortswechselverben analogisch an. Anders als in Kap. (2.5) dargelegt, führt hier nicht die Typen-, sondern die Tokenfrequenz zur Steigerung der Produktivität (ähnlich s. auch Kap. 9.2). Wie bereits Rosemeyers (2014) Ergebnisse für das Altspan. nahelegen (vgl. Kap. 5.2.1), wäre Soraces SEIN-Prototyp damit historisch nicht allein semantisch, sondern frequenziell, d.h. durch das hohe Vorkommen von quhoman uuesan, motiviert. Diese Erklärung steht im Einklang mit dem gebrauchsbasierten Modell, das davon ausgeht, dass sich Schemata und Regeln sekundär aus dem wiederholten Sprachgebrauch ergeben und verfestigen.

7.4 Engführung der Perspektiven: Funktionale Begründung der haben/sein-Prototypen Bereits in Kap. (6.4) und (6.5) wurde die Vermutung aufgestellt, dass sich Funktion und Verwendungskontexte der Perfektkonstruktionen wechselseitig bedingen. Der Zusammenhang zeigt sich besonders deutlich bei HABEN + V-PP. Da das Resultatsperfekt hier ein andauerndes Resultat am direkten Objekt bezeichnet, tritt es präferiert bei prototypischem Objekt auf. Denn ein untypischeres Objekt, bspw. in Form eines Genitivs, hat i.d.R. keinen individuierten Referenten und trägt deshalb nicht zur Begrenzung des Ereignisses bei (vgl. Ich habe das Bier getrunken vs. Ich habe Bier getrunken). Dass habēn/eigan + V-PP im Otfrid nicht bei Genitivobjekt vorkommt, lässt sich somit funktional begründen. Diese These wird auch durch die Beobachtung gestützt, dass in den beiden Belegen ohne direktes Objekt das vorausgehende Geschehen stärker im Vordergrund steht. Anders als in der Forschung vermutet (z.B. Coussé 2013, 2014) geht die Präferenz hochtransitiver Sätze demnach nicht auf die resultative Ursprungskonstruktion, sondern auf das im Ahd. dominierende Resultatsperfekt zurück. Dafür spricht auch, dass das resultative HABEN + V-PP nicht auf transitive Verben beschränkt ist (z.B. Sie hat die Lippe geschwollen). Außerdem ist aufgrund der hö-

|| 1 Auch in Zemans mhd. Korpus stellt komen das frequenteste Verb in der Konstruktion, das etwa ein Drittel ihrer sîn-Belege ausmacht (Zeman 2010: 214).

242 | Theoretische Interpretation Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen

heren Tokenfrequenz wahrscheinlicher, dass das Resultatsperfekt einen Prototypen nachhaltig verfestigt als das HABEN-Resultativ, das von den ersten Überlieferungen an zahlenmäßig marginal ist. Auch die Konzentration von uuesan + V-PP auf telische Intransitive ist durch das Resultatsperfekt erklärbar. Die Konstruktion bezeichnet die Zustandsveränderung des Subjekts, deren Resultat gleichzeitig andauert. Das resultative uuesan + V-PP hat dagegen einen eingeschränkteren Anwendungsbereich, da es auf Zielzustandsverben beschränkt ist. Noch im Gegenwartsdt. bilden hochtransitive Sätze die prototypische Domäne der haben-Selektion, telische Intransitive der sein-Selektion. Bei diesen heutigen Prototypen handelt es sich um analogische Weiterentwicklungen der historisch ursprünglichen Kontexte: Die Konstruktion breitet sich kleinschrittig aus, indem sie nach und nach Kontexte erfasst, die semantisch-strukturelle Ähnlichkeit zu bestehenden Verwendungskontexten besitzen (s. auch Rosemeyer 2014). Insgesamt sind die synchronen Prototypen der Hilfsverbwahl damit diachron durch Persistenz motiviert (vgl. Hopper 1991: 22 und Kap. 2.7).

7.5 Offene Fragen und Untersuchungsdesiderate Die Ergebnisse lassen einige Fragen offen bzw. werfen neue Fragen auf, die nur durch weitere empirische Untersuchungen beantwortet werden können. Diese unbeantworteten Fragen betreffen insbesondere Konstruktionen, die formal und funktional mit den Perfektkonstruktionen verwandt sind. Bspw. müsste die Funktion des freien Part II in den altgerm. Sprachen empirisch untersucht werden. Ausgehend von der Prämisse, dass komplexe Verbalkonstruktionen im Ahd. noch nicht grammatikalisiert sind, wurde die Funktion der Partizipien bisher v.a. innerhalb komplexer Konstruktionen analysiert (z.B. Kotin 2000). Wie diese Arbeit für das Perfekt und Kotin (2003) für das uuerdanPassiv zeigen, hat allerdings bereits in den altgerm. Sprachen eine (schwache) Grammatikalisierung der Verbalperiphrasen stattgefunden, sodass diese Prämisse nicht aufrechterhalten werden kann. Um empirisch gesicherte Aussagen über die Kompositionalität der Konstruktionen bzw. eine mögliche historische Ursprungskonstruktionen zu treffen, wäre eine systematische Untersuchung des Part II außerhalb der komplexen Konstruktionen erforderlich. Ferner müssten die Funktion und Verwendungsbedingungen des ahd. Präteritums systematisch analysiert werden, um ein umfassendes Bild vom ahd. Vergangenheitssystem zu erhalten. Wie schon in Oubouzar (1974) und Shimazaki (2002) wurde auch in dieser Arbeit beobachtet, dass das ahd. Präteritum u.a. perfektische Funktion erfüllt und an einigen Stellen mit dem Perfekt austauschbar

Offene Fragen und Untersuchungsdesiderate | 243

ist (vgl. Kap. 6.2).2 Diese Beobachtung müsste an einer repräsentativen Datenbasis überprüft werden, um das genaue Funktionsspektrum des Präteritums objektiv zu bestimmen. Ferner werfen die Ergebnisse die Frage auf, wie sich die beobachteten regionalen Unterschiede erklären lassen: Warum ist die Grammatikalisierung im As. (bzw. im Norden der Westgermania) weiter fortgeschritten als im Ahd.? Nach Bybee (2010: 195ff.) gehen Unterschiede zwischen Sprachen auf Unterschiede im Sprachsystem zurück (vgl. Kap. 2.8). Demnach könnte der Einbezug des umgebenden Konstruktionsnetzwerks Aufschluss geben. Aus der Forschungsliteratur geht hervor, dass das As. insgesamt eine höhere Affinität zu komplexen Konstruktionen besitzt als das Ahd. Eine mögliche Erklärung bestünde also darin, dass ein abstraktes Schema, das die komplexen Verbkonstruktionen insgesamt überdacht, im As. stärker verfestigt ist als im Ahd., was sich wiederum förderlich auf die Entwicklung einzelner Mikrokonstruktionen auswirken kann. Insbesondere die formal und funktional verwandte Konstruktion uuerdan + V-PP mit intransitiven Verben (Typ: uuard quhoman) könnte Einfluss auf die Grammatikalisierung der Perfektkonstruktionen nehmen. Die Konstruktion existiert zwar in allen westgerm. Altsprachen, ist aber im As. deutlich häufiger belegt.3 Während sie im Isidor 11 Mal vorkommt und in den übrigen ahd. Texten marginal ist (Eggers 1984: 249ff.), ist sie im Heliand ganze 40 Mal belegt (Dal 1959: 31) und tritt noch im Mndl. regelmäßig auf (Kern 1912). Damit zeigt uuerdan + V-PP ein vergleichbares Nord-Süd-Gefälle wie die Perfektkonstruktionen. Die höhere Tokenfrequenz der komplexen Konstruktion mit Part II könnte das Makroschema im As. insgesamt verstärken, was wiederum die Produktivität der Einzelkonstruktionen in die Höhe treibt.4 Berechtigterweise wirft diese Erklärung || 2 s. auch Zeman (2010) für das Mhd. 3 Anders als im Nhd. dient uuerdan + V-PP damit nicht primär zum Passivausdruck. Gemäß der Forschungsliteratur (z.B. Eroms 1997, Valentin 1987) markiert die Konstruktion in Opposition zum (vermeintlich) stativen uuesan + V-PP Aspektualität, die sich aus aktionalen Bedeutungselementen der Vollverben ergibt (Kotin 2003). Demnach bezeichnet uuesan + V-PP einen andauernden Zustand, während uuerdan + V-PP einen punktuellen Zustandswechsel zum Ausdruck bringt. Durch die Kombination mit dem Partizip stehen beide Konstruktionen in Verbindung zu einem Zustand, unterscheiden sich jedoch in dessen Perspektivierung (Valentin 1987:9). Dadurch ergibt sich ein erstaunlich symmetrisches Aspektsystem, das sich durch eine vergleichsweise hohe Paradigmatizität auszeichnet. Die Opposition fügt sich nach Eroms (1997) in das Leitprinzip der „verbalen Paarigkeit“ ein. Die empirische Untersuchung hat gezeigt, dass sich die postulierte Stativität für uuesan + V-PP nicht bestätigt. Vor diesem Hintergrund müsste auch die ‚aspektuelle‘ Funktion von uuerdan + V-PP empirisch überprüft werden. 4 Für eine wechselseitige Beeinflussung v.a. von uuesan + V-PP und uuerdan + V-PP spricht, dass die Konstruktionen gerade im Präteritum formale Eigenschaften teilen: Abgesehen vom

244 | Theoretische Interpretation Ergebnisse im Althochdeutschen und Altsächsischen

aber erneut die Frage nach den Ursachen für die höhere Frequenz von Verbalperiphrasen im As. insgesamt auf. Zur Beantwortung dieser Fragen wären weitere empirische Untersuchungen erforderlich, die sich dem Verbalsystem in beiden altgerm. Sprachen widmen.

|| stammfinalen Auslaut sind uuas und uuard formidentisch. Auffälligerweise werden diese formalen Ähnlichkeiten zusätzlich dadurch gesteigert, dass die Konstruktionen präferiert mit ähnlichen verbalen Kollokaten auftreten. Diese Ähnlichkeiten legen nahe, dass die Konstruktionen miteinander assoziiert sind und sich funktional beeinflussen. Um diese Hypothese zu überprüfen, wäre eine detaillierte Untersuchung der Funktion und der Verwendungskontexte des aktiven uuerdan + V-PP erforderlich.

8 Korpusuntersuchung der Hilfsverbwahl im Neuhochdeutschen Im folgenden Kap. wird die Wahl des Perfekthilfsverbs bei Degree Achievements und Bewegungsverben im Nhd. untersucht, die laut der Forschungsliteratur schwankendes Perfekthilfsverb aufweisen. Überprüft werden u.a. semantische Einflussfaktoren wie Aspekt, Aktionsart und semantische Transitivität sowie der Einfluss von Tokenfrequenz. Der erste Abschnitt präsentiert das methodische Vorgehen bei der Untersuchung (8.1). Dabei wird das Deutsche Referenzkorpus des IDS Mannheim vorgestellt, das die Datengrundlage bildet. Anschließend werden Durchsuchungs- und Analysemethode skizziert. Die folgenden Abschnitte stellen die Ergebnisse, die für die Degree Achievements (Kap. 8.2) und für die Bewegungsverben (Kap. 8.3) erzielt wurden, vor. Kap. (9) vergleicht die Ergebnisse, die für beide Verbklassen erzielt wurden, und erklärt sie theoretisch im gebrauchsbasierten Modell.

8.1 Methodisches Vorgehen Für die Untersuchung wurde das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo)1 des IDS Mannheim verwendet. Mit 4 Milliarden öffentlich zugänglichen2 Wörtern bietet es die größte Sammlung geschriebener deutschsprachiger Texte, die für die linguistische Analyse aufbereitet sind. Dank seines Umfangs ist diese Textsammlung gut geeignet, um den Einfluss unterschiedlicher Gebrauchshäufigkeiten zu ermitteln. Gesucht wurde im Archiv W der geschriebenen Sprache, das die größte Menge geschriebener Texte aus DeReKo enthält. Tabelle 37 listet alle Korpora auf, die mit mehr als 8.000 Wörtern im Archiv W öffentlich zugänglich sind. Bei der Untersuchung wurden lediglich die Artikel und Diskussionen des Onlinelexikons Wikipedia ausgeschlossen, da bei der vergleichsweise stark vertretenen OnlineQuelle die Urheberschaft problematisch ist (in Tabelle 37 deshalb nicht enthalten).

|| 1 http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora/ 2 Intern zugänglich sind 6,1 Milliarden Wörter (Stand 16.03.2013).

246 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Tab. 37: Öffentliche Korpora des Archivs W (Korpora über 8.000 Wörter)

Wörter

Jahrgänge

Quelle

832.529.946

1996–2013

Rhein-Zeitung

350.285.938

1985–2013

Mannheimer Morgen

269.815.931

1997–2013

St. Galler Tagblatt

214.292.807

1990–2013

Nürnberger Nachrichten

201.067.187

2005–2013

Braunschweiger Zeitung

178.372.388

2007–2013

Niederösterreichische Nachrichten

133.740.791

2005–2013

Die Südostschweiz

112.261.529

1991–2000

Salzburger Nachrichten

111.027.626

2002–2013

Nürnberger Zeitung

109.592.315

1991–2000

Die Presse

106.027.630

1970–1999

Frankfurter Rundschau

74.913.182

1994–2000

Neue Kronen-Zeitung

66.176.233

1996–2000

Kleine Zeitung

59.789.857

1996–2000

Zürcher Tagesanzeiger

57.101.151

2005–2013

Hamburger Morgenpost

51.937.014

1996–2000

Tiroler Tageszeitung

51.809.293

1998–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Deutscher Deutscher Bundestag

42.509.233

2007–2013

Hannoversche Allgemeine

40.146.740

1997–2000

Vorarlberger Nachrichten

33.539.856

2007–2013

Burgenländische Volkszeitung

25.942.785

1995–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag Nordrhein-Westfalen

22.313.026

1998–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag Niedersachsen

22.248.965

1997–1999

Berliner Morgenpost

19.888.170

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Hessischer Landtag

19.559.171

1996–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag Schleswig-Holstein

19.207.795

1996–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag von Baden-Württemberg

18.496.352

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Thüringer Landtag

18.372.787

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Sächsischer Landtag

Methodisches Vorgehen | 247

Wörter

Jahrgänge

Quelle

16.678.011

1998–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag Mecklenburg-Vorpommern

15.752.883

1998–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Bayerischer Landtag

14.501.033

1996–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag Rheinland-Pfalz

14.329.454

1996–1997

Oberösterreichische Nachrichten

13.811.069

1997–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Hamburgische Bürgerschaft

12.749.424

1973–2012

VDI Nachrichten

12.730.084

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Abgeordnetenhaus Berlin

12.079.573

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag Brandenburg

11.684.560

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Bremische Bürgerschaft

10.919.796

1998–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag von Sachsen-Anhalt

8.026.744

1999–2012

Parlamentarische Protokolle des Parlaments Landtag des Saarlandes

8.015.643

1993–1998

COMPUTER ZEITUNG

Das Archiv W enthält neben belletristischen, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten v.a. eine große Zahl an Zeitungstexten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (s. Tabelle 37). Da Zeitungstexte geschriebene und sogar lektorierte Sprache enthalten, scheinen sie auf den ersten Blick zur Untersuchung sprachlicher Variation ungeeignet. Schmidlin (2011: 158ff.) zeigt jedoch in einer empirischen Untersuchung, dass die dt. Pressesprache nicht variantenfrei ist. Eine hohe Variantendichte ermittelt sie v.a. in kleinräumigen Lokalanzeigern. Bei „Qualitätszeitungen mit mittlerer bis großer Reichweite“ (Schmidlin 2011: 160), wozu sie u.a. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung oder Die Presse zählt, hängt das Ausmaß an Variation von der nationalen Herkunft ab: Hier ist die Variantendichte in der österreichischen und schweizerischen Pressesprache höher als in vergleichbaren deutschen Texten.3

|| 3 Schmidlin zeigt, dass die Herkunft des Lektors bzw. der Lektorin keinen erkennbaren Einfluss auf die Anzahl regionaler Varianten in einem Zeitungstext nimmt.

248 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Für die linguistische Untersuchung haben Zeitungstexte zudem den Vorteil, dass sie sich durch eine hohe Textsortenvielfalt auszeichnen, die ebenfalls eine sprachliche Heterogenität mit sich bringt: Es stehen verschiedene Arten der Berichterstattung (z.B. (welt)politischer Journalismus vs. Lokal- bzw. Sportjournalismus) und von Rubriken (Bericht, Leserbrief, Interview) nebeneinander. Die Berichte enthalten häufig Zitate. Daraus lässt sich schließen, dass sie konzeptionell schriftliche wie mündliche Sprache in sich vereinen (vgl. Koch/Oesterreicher 1985). DeReKo ist somit dazu geeignet, Varianz in der Standardsprache zu untersuchen. Aufgrund der breiten Streuung können die Zeitungstexte sogar Aufschluss über regionale Tendenzen geben. Natürlich bieten sie keine geeignete Datengrundlage, um regionalsprachliche oder dialektale Eigenschaften zu untersuchen. Hierzu müssten gezielt kleinräumig Daten erhoben werden. Wenn im Folgenden von regionalen Tendenzen gesprochen wird, bezieht sich dies deshalb nur auf standardsprachliche Variation. Mit Blick auf das Korpus ist außerdem zu beachten, dass die einzelnen Zeitungen und damit Sprachregionen zahlenmäßig nicht ausgewogen repräsentiert sind: Wie Tabelle 37 zeigt, liegt ein regionaler Schwerpunkt auf dem Mdt., das mit der Rheinzeitung und dem Mannheimer Morgen zahlenmäßig stark vertreten ist. Der norddt. Sprachraum ist demgegenüber unterrepräsentiert. Aussagen über regionale Tendenzen können deshalb nicht auf absoluten, sondern nur auf relativen Zahlen beruhen.4 Durchsucht wird DeReKo mit der Cosmas II-Applikation (Corpus Search, Management and Analysis System). Sie ermöglicht, ein eigenes Korpus aus den Texten zusammenzustellen und darin mithilfe von Suchoperatoren zu recherchieren. Für die vorliegende Untersuchung wurde je nach Frequenz des betreffenden Verbs im gesamten bzw. in einem Teilkorpus gesucht. Erbrachte die Suchanfrage weniger als 1000 Token einer Perfektform, wurden die Gesamtbelege ausgewertet. Bei mehr als 1000 Treffern war eine Annotation aller Einzelbelege nicht möglich, weshalb die Abfrage auf Texte aus den Jahren 2011 und 2012 eingeschränkt wurde. Dieses Vorgehen betrifft die meisten Bewegungsverben (vgl. Kap. 8.3). || 4 Bei der Annotation ergab sich das Problem, dass einzelne Belege in den Ergebnislisten doppelt bzw. mehrfach auftreten. Dies ist der Fall, wenn ein Satz in einem Text mehrfach, z.B. in der Überschrift bzw. im Fließtext vorkommt. Z.T. wird derselbe Satz jedoch auch in verschiedenen Ausgaben derselben Zeitung wiederholt. Handelt es sich um eine Pressemitteilung, kann ein Satz in verschiedenen Zeitungen auftreten und findet sich deshalb mehrfach im Korpus. Aufgrund dieser vielfältigen Ursachen konnten die doppelten Belege nicht vollständig eliminiert werden. Da alle Zeitungstexte von dem Problem betroffen waren, wurden die Dopplungen deshalb beibehalten.

Methodisches Vorgehen | 249

Übertraf die Trefferzahl selbst im Teilkorpus von 2011 und 2012 10.000 Belege, wurde lediglich eine Stichprobe ausgewertet. Letzteres war allein beim Verb gehen der Fall. Bei der Recherche wurde mit Suchoperatoren gearbeitet. Für jedes Lexem wurde nach dem Partizip (ge-x-t/en) in Kombination mit allen Flexionsformen von sein (&sein) und von haben (&haben) gesucht. Die Abfrage wurde mit dem Abstandsoperator (/s0) auf einen Satz beschränkt. Aus diesem Vorgehen ergaben sich die folgenden Suchanfragen, die für jedes Verb durchgeführt wurden: (1)

Suchanfrage ge-x-t/en/s0 &sein ge-x-t/en /s0 &haben

Beispiel geschwommen /s0 &sein geschwommen /s0 &haben

Formen, die nicht zum Paradigma des Auxiliars bzw. zum Partizip gehörten, konnten z.T. mithilfe der Wortformliste automatisch ausgeschlossen werden. Bspw. wurden die flektierten Formen des homonymen Possessivpronomens sein herausgefiltert. Die unflektierte Form (z.B. sein Auto) wurde dabei aber nicht erfasst und musste, genau wie Belege mit unpersönlichem Passiv (z.B. es wird gelaufen/gefahren), manuell aussortiert werden. Schließlich erfolgte mithilfe des Datenbankmanagementsystem Microsoft Access eine Annotation der erzielten Perfektbelege nach morphosyntaktischen und semantischen Kriterien. Untersucht wurden Verben, bei denen laut der Forschungsliteratur semantisch bedingt Hilfsverbvariation zu erwarten war, namentlich Degree Achievements und Bewegungsverben (Näheres zur Auswahl der Einzellexeme s. Kap. 8.2 und Kap. 8.3.1). Die erzielten Belege wurden zunächst nach den Tempus-ModusMerkmalen des Hilfsverbs sowie dem Aspekt der Gesamtkonstruktion annotiert, wobei zwischen [+/- resultativ] unterschieden wurde (z.B. ist ausgeschlafen vs. hat ausgeschlafen). Diese aspektuellen Unterschiede sind besonders mit Blick auf die Hilfsverbwahl der Degree Achievements relevant (vgl. Kap. 8.2.3). Darüber hinaus wurden die Belege entsprechend ihrer Aktionsart nach [+/- telisch] klassifiziert und in einem ja/nein-Feld wurde festgehalten, ob eine Direktionalergänzung vorliegt. Zwar bewirkt ein Direktional bei Bewegungsverben prototypisch die Telizität des Ereignisses, doch sind die beiden Merkmale nicht notwendigerweise gekoppelt. Z.B. kann ein Satz wie (2a) telisch sein, auch wenn er keine Direktionalergänzung enthält. Umgekehrt telisieren bestimmte Direktionale die Handlung nicht (2b). Deshalb wurden beide Merkmale getrennt annotiert. (2a) (2b)

Wir sind bei grün gefahren. Der Mann war Richtung Stadt gefahren.

[+ telisch, -Direktional] [- telisch, +Direktional]

250 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Darüber hinaus wurde vermerkt, ob ein Akkusativ im Beleg enthalten ist, wobei zunächst zwischen Reflexivpronomen und anderen (pro)nominalen Ergänzungen im Akkusativ unterschieden wurde. Die (pro)nominalen Akkusative wurden weiter nach semantisch-strukturellen Merkmalen klassifiziert, wobei folgende Kategorien unterschieden wurden: Tab. 38: Merkmale bei der Kategorisierung der Akkusativergänzung

a. Thema/Patiens [+ belebt]

die Kinder fahren

b. Thema/Patiens [- belebt] [+Direkt]

ein/das Auto in die Garage fahren

c. Thema/Patiens [- belebt] [+ konkret]

einen/den Koffer, ein/das Auto fahren

d. abstrakt

Rennen/Wettkampf/Weltrekord schwimmen

e. Pfad

zwei Kilometer/die Strecke schwimmen

f. inkorporiert

Auto fahren

g. keins5

fahren

Wie die Beispiele in Tabelle 38 zeigen, ist die Klassifikation nach Art des Akkusativs v.a. mit Blick auf die Bewegungsverben relevant, da die Objekthaftigkeit des Akkusativs hier stark variiert. Objekthaftigkeit ist eine graduelle Eigenschaft, die durch semantische Merkmale wie Konkretheit, Definitheit und Individuiertheit der Ergänzung sowie Telizität des Ereignisses bestimmt ist und in Abhängigkeit davon mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann (näher hierzu s. Kap. 3.4). Bei Bewegungsverben bilden Akkusative mit belebtem Referenten eindeutige Objekte: Sie bezeichnen das Patiens, das räumlich bewegt wird (z.B. die Kinder fahren). Sie sind hochkonkret und -individuiert und deshalb gut als eigenständige Einheit wahrnehmbar und vom Verbalereignis abgrenzbar. Ähnliches gilt für unbelebte, aber konkrete Akkusative, wenn sie mit einer Direktionalergänzung kombiniert sind. Das Direktional erhöht die Objekthaftigkeit des Akkusativs. Denn zum einen telisiert es die Bewegung. Deshalb ist eindeutig, dass der konkrete Referent als Patiens von einem Ort weg bzw. zu einem Ort hin bewegt wird (vgl. das Auto/die Koffer in die Garage/aus der Einfahrt fahren). Zum anderen verhindert das Direktional eine Adjazenz von Objekt und Vollverb, wodurch der Akkusativ stärker als eigenständige syntaktische Einheit und sein Referent als distinkte Größe konzeptualisiert wird.

|| 5 Akkusative, die eine Zeit- oder Geschwindigkeitsangabe enthielten (Sie ist eine Stunde/ 100km/h gefahren) wurden unter ‚kein Akkusativ‘ gefasst.

Methodisches Vorgehen | 251

Sofern sie kein Fortbewegungsmittel bezeichnen, sind konkrete Akkusative auch ohne Direktionalergänzung patienshaft: In der Phrase die Koffer fahren beschreiben die Koffer den bewegten Gegenstand. Allerdings ist die Patienshaftigkeit etwas schwächer als in die Koffer nach Hause fahren, da der Zielpunkt der Bewegung nicht spezifiziert ist. Da sie adjazent stehen und ein Ereigniskonzept bezeichnen, bilden Akkusativ und Verb außerdem eine engere syntaktische und semantische Einheit. Weniger eindeutig als in den bisher betrachteten Fällen ist die semantische Rolle bei Fortbewegungsmitteln ohne Direktional: In das Auto fahren lässt sich der Akkusativ entweder als bewegtes Patiens oder als Instrument der Bewegung auffassen. Darüber hinaus werden Akkusativ und Verb stärker als Einheit konzeptualisiert. Zur Kontaktstellung kommt die hohe Kookurrenzfrequenz, die die Verbindung zusätzlich stärkt. Der Akkusativ bezeichnet aber nach wie vor eine individuierte Größe mit einem spezifischen Referenten, weshalb hier weiterhin von einem Objekt gesprochen wird. Abstrakta bilden dagegen i.d.R. Adverbiale: Semantisch sind sie weder Patiens noch Instrument, sondern modifizieren die Art der Bewegung. Unterschieden wird bei der Annotation zwischen abstrakten Pfadakkusativen wie in wie in e. (Tabelle 38) und allen übrigen Arten von Abstrakta wie in d. (Tabelle 38). Bei Letzteren handelt es sich schwerpunktmäßig um Bezeichnungen für Wettkämpfe oder im Wettkampf erzielte Preise und Ergebnisse. In Kap. (8.3.4.2) wird untersucht, ob sich Definitheit oder Individuiertheit auf die Hilfsverbwahl in der Gruppe d. auswirken. Die abstrakten Pfadakkusative in e. beschreiben einen zurückgelegten Weg bzw. eine Strecke. Semantisch gleichen sie damit Direktionalangaben, was für ihren adverbialen Charakter spricht. Neben prototypischen NPs kommen in dieser Gruppe numerische Streckenangaben ohne overte KasusNumerus-Flexion vor (z.B. 100km laufen). Die formale Unbestimmtheit und der fehlende Determinierer schwächt den nominalen Charakter der Phrase und damit auch ihre Objekthaftigkeit, weshalb diese Sätze noch dichter am intransitiven Pol liegen. Insbesondere die Abstrakta und Pfad-Akkusative waren bei der Annotation nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Wie die Beispiel unter (3) zeigen, lassen sich bestimmte Ergänzungen sowohl als Pfad als auch als abstrakten Wettkampf interpretieren. Betreffende Belege wurden als ambig annotiert, wie es in den Beispielen unter (3) angedeutet ist. (3a) (3b)

Pfad/Abstrakt: Pfad/Abstrakt:

50m Freistil schwimmen (als Schnellster) die 50 Meter schwimmen

252 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Die geringste Objekthaftigkeit ist bei Inkorporation gegeben. Ergänzungen wie in Auto/Mercedes fahren sind nicht-individuiert und haben keinen spezifischen Referenten, sondern nehmen generisch auf eine Klasse von Objekten Bezug (z.B. die Klasse der Autos). Damit besteht eine enge Verbindung mit dem Verb, die Phrase wird als syntaktisch-semantische Einheit wahrgenommen. Weiterhin wurde bei allen Belegen in einem ja/nein-Feld festgehalten, wenn es sich um eine (teil)idiomatisierte Phrase mit übertragener Bedeutung wie in den Beispielen unter (4) handelt. Gerade die prototypischen Bewegungsverben bilden regelmäßig Idiome. (4a) (4b) (4c)

Am Ende des Vortrags habe ich etwas geschwommen. Damit sind wir immer gut gefahren. Was hat dich da nur geritten?

Um zusätzliche Informationen über eventuelle regionale Tendenzen zu erhalten, wurden die Belege nach Herkunftsland der Zeitschrift kategorisiert, d.h. Deutschland, Österreich, Schweiz. Innerhalb der landesdt. Zeitungen wurde weiterhin nach Nord-, Mittel- und Süddeutschland unterschieden.

8.2 Ergebnisse: Hilfsverbwahl der Degree Achievements Bereits die Junggrammatiker beobachten, dass das Perfekthilfsverb der Degree Achievements schwankt, z.B. Das Gras hat/ist gewuchert (näher hierzu s. Kap. 5.1.1). Das vorliegende Kap. untersucht an ausgewählten Verben, was dieses Schwanken steuert. Nach einer knappen Darstellung der untersuchten Verben und erster Tendenzen der Auxiliarwahl (8.2) werden einzelne Steuerungsfaktoren überprüft. Dabei wird deutlich, dass die Hilfsverbwahl lexemabhängig unterschiedlich motiviert ist: Neben Tokenfrequenz (8.2.2) spielen die funktionale Differenzierung zwischen resultativem und nicht-resultativem Aspekt (8.2.3) und die Aktionsart (8.2.4) eine Rolle. Regionale Unterschiede zeigen sich in erster Linie zwischen landesdt. und schweizer bzw. österreichischen Texten (Abs. 8.2.5).

Ergebnisse Degree Achievements | 253

8.2.1 Untersuchte Verben Die häufig deadjektivischen oder denominalen Degree Achievements (z.B. faulen, wuchern) denotieren die Veränderungen skalarer Eigenschafen eines Partizipanten (vgl. Kap. 3.1.3). Dabei implizieren sie nicht notwendigerweise einen Endpunkt, weshalb sie kontextabhängig zwischen telischer und atelischer Aktionsart variabel sind (z.B. Die Wäsche ist bei dem heißen Wetter in drei Stunden getrocknet. vs. Die Wäsche hat schon acht Stunden getrocknet, ist aber noch nicht trocken). Diese aktionale Unbestimmtheit ist eine Ursache dafür, dass das Perfekthilfsverb in der Verbgruppe schwankt. Im Folgenden wird die Hilfsverbwahl einzelner Degree Achievements exemplarisch untersucht. Die untersuchten Verben wurden mit der Zielsetzung ausgewählt, eine möglichst große Spannbreite an Gebrauchshäufigkeiten abzubilden. Um dies zu gewährleisten, wurde bei der Auswahl die Wortformliste des IDS Mannheim (DeReWo)6 zugrunde gelegt, die auf dem Referenzkorpus DeReKo beruht. In DeReWo werden die Häufigkeiten eines Wortes nicht in absoluten Zahlen, sondern in Häufigkeitsklassen angegeben, die relativ zum frequentesten Wort im Korpus (dem Definitartikel der, die, das) festgelegt sind. Ein Wort gehört in die „Häufigkeitsklasse N, wenn das häufigste Wort etwa 2N-mal häufiger vorkommt […]“ (IDS 2013: 13). Tab. 39: Gesamtvorkommen der untersuchten Degree Achievements in DeReKo geordnet nach Gebrauchshäufigkeit

Partizip

Häufigkeitsklasse in DeReWo

Token der Perfekformen (gesamt)

geschwitzt

14

1.000

gealtert

15

769

gewuchert

15

79

gerostet

16

49

gefault

17

38

geschimmelt

19

12

Geordnet nach abnehmender Tokenfrequenz zeigt Tabelle 39 die untersuchten Degree Achievements mit ihrer Häufigkeitsklasse in DeReWo (Spalte 2) und

|| 6 http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/methoden/derewo.html

254 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

mit den Token, die die Untersuchung in DeReKo für die jeweilige Perfektform erbracht hat (Spalte 3). Die Häufigkeitsklassen, die aus allen grammatischen Formen eines Verbs resultieren, zeigen weitgehend dieselben Tendenzen wie die Tokenfrequenz der Perfektformen. Nur bei altern und wuchern gibt es eine auffällige Diskrepanz: In De-ReWo gruppieren sich beide Verben zusammen zur Häufigkeitsklasse 15, im Perfektkorpus ist altern mit 769 Belegen dagegen deutlich häufiger als wuchern (79 Belege). Diese Diskrepanz erklärt sich dadurch, dass im Perfektkorpus allein das Degree Achievement (z.B. Das Unkraut ist/hat gewuchert) aufgenommen wurde, das homonyme Activity (z.B. Jemand hat mit etwas gewuchert) wurde bei der Annotation aussortiert. Die Zahlen in DeReWo basieren hingegen auf allen Formen unabhängig von der Bedeutung. Wie Tabelle 39 zeigt, gehört keines der Degree Achievements in den Bereich der Hochfrequenz. Während die Perfektformen von altern und schwitzen mittlere Tokenfrequenz besitzen, kommen gewuchert haben/sein (79 Belege), gerostet haben/sein (49 Belege) und gefault haben/sein (38 Belege) relativ selten vor. Geschimmelt haben/sein ist mit 12 Belegen besonders infrequent. Bei der Hilfsverbwahl ist keine einheitliche Tendenz erkennbar, jedoch präferiert jedes Einzelverb eines der beiden Hilfsverben (vgl. Tabelle 40). Bei geschwitzt und geschimmelt überwiegt haben + V-PP, wobei das Ergebnis bei Letzterem unter Vorbehalt zu betrachten ist, da die Zahlen aufgrund des geringen Vorkommens womöglich nicht repräsentativ sind. Die übrigen Verben tendieren dagegen stärker zu sein + V-PP, was sich am eindeutigsten bei gealtert zeigt. Tab. 40: Hilfsverbwahl der untersuchten Degree Achievements

Partizip

haben

sein

absolut

relativ

absolut

relativ

888

88,8%

112

11,2%

gewuchert

21

26,6%

58

73,4%

gealtert

17

2,2%

752

gerostet

14

28,6%

35

71,4%

gefault

5

13,2,8%

33

86,8%

geschimmelt

11

91,7%

1

8,3%

geschwitzt

97,8%

Im Folgenden werden Einflussfaktoren diskutiert, die die Präferenz zu entweder haben + V-PP oder sein + V-PP bedingen bzw. einen Hilfsverbwechsel motivieren.

Ergebnisse Degree Achievements | 255

8.2.2 Tokenfrequenz Mit 769 Belegen ist gealtert nach geschwitzt das häufigste der untersuchten Degree Achievements und tendiert mit 97,8% am konsequentesten zu einer festen Hilfsverbkonstruktion, nämlich sein + V-PP. Die 17 haben-Belege treten ausschließlich in der Schweiz auf. In Deutschland und Österreich existiert allein gealtert sein – unabhängig davon, ob die Form resultativ oder verlaufsbezogen gebraucht ist (vgl. 5). (5a)

(5b)

Resultativ Heute ist seine Zielgruppe entsprechend geschrumpft – und gealtert. Warum er trotzdem weiter macht? „Wegen der besonderen Clubatmosphäre […] (BRZ08/FEB.07224 Braunschweiger Zeitung, 14.02.2008; Der Konzertpapst aus dem Untergrund) Nicht-Resultativ Laut einer Dekra-Studie sind die Autos in Deutschland seit 1993 im Schnitt um 1,2 Jahre gealtert. (BRZ06/FEB.00054 Braunschweiger Zeitung, 01.02.2006; Jeder zweite Wagen weist Mängel auf)

Die Festigkeit des Hilfsverbs legt nahe, dass die Perfektform aufgrund ihrer relativ hohen Tokenfrequenz eine eigene mentale Repräsentation besitzt und als Ganze abgespeichert ist. Damit in Einklang treten die übrigen Degree Achievements (abgesehen von geschwitzt) deutlich seltener auf und sind stärker durch Hilfsverbalternanz gekennzeichnet. Gegen den Zusammenhang von Tokenfrequenz und lexikalischem Hilfsverb scheint auf den ersten Blick das Verb schwitzen zu sprechen, das mit 1000 Belegen zwar die höchsten Belegzahlen erbringt, mit einem Verhältnis von fast 90% haben + V-PP zu über 10% sein + V-PP jedoch weniger eindeutig in seiner Hilfsverbwahl ist als altern. Der folgende Abschnitt (8.2.3) zeigt, dass der Wechsel von haben + V-PP und sein + V-PP bei schwitzen funktional motiviert ist und zur aspektuellen Differenzierung dient.

256 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

8.2.3 Aspekt: Hilfsverbwahl zur Differenzierung von resultativer und nichtresultativer Lesart Wie bereits in Kap. (5.1.4.2) erwähnt, tendiert sein + V-PP stärker zur Resultativität als haben + V-PP. Dieser Abschnitt überprüft, ob Degree Achievements diesen Unterschied funktionalisiert haben und mit dem Hilfsverbwechsel zwischen resultativer und nicht-resultativer Lesart differenzieren (gefault sein vs. gefault haben). Tabelle 41 gibt einen ersten Überblick darüber, wie häufig sein + V-PP bei den untersuchten Verben resultativ bzw. nicht-resultativ (= Perfekt/generelle Vergangenheit) gebraucht ist. Da resultative und perfektische Lesart semantisch eng verwandt sind, lassen sie sich in Sätzen ohne disambiguierende Kontextmerkmale nicht eindeutig unterscheiden. Bei der Annotation wurden diese Fälle als ambig gekennzeichnet. Wie Tabelle 41 zeigt, finden sich uneindeutige Belege nur bei faulen und rosten. Tab. 41: Die aspektuelle Funktion von sein + V-PP bei den untersuchten Degree Achievements

Resultativ

Resultativ/Perfekt

Perfekt bzw. Vergangenheit

schwitzen

112

--

--

faulen

10

14

9

rosten

10

7

18

wuchern

--

--

58

schimmeln

--

--

1

Die Daten bestätigen die aspektuelle Funktion: Geschwitzt sein tritt ausschließlich resultativ mit adjektivischem Part II auf (112 Belege). Der Bezug auf den Zielzustand wird häufig durch das Adjektiv nass hervorgehoben (optional als Kompositum mit einem intensivierenden Erstglied z.B. klitsch-/patschnass):

(6a)

(6b)

Resultativ Jessica Simon war nass geschwitzt. (RHZ05/NOV.08710 Rhein-Zeitung, 07.11.2005; Mit großen Sprüngen in Richtung Finale) Milan Sasic war klitschnass geschwitzt, als […] (RHZ06/SEP.23863 Rhein-Zeitung, 25.09.2006; Sasic und Wolf sehen nur das Positive)

Ergebnisse Degree Achievements | 257

(6c)

(6d)

„Ich bin patschnass geschwitzt, aber es war toll!“ (RHZ01/AUG.10055 Rhein-Zeitung, 14.08.2001; „Ich bin patsch-nass geschwitzt, aber es war toll!“) Perfektisch „Ich glaube, bei diesen heißen Temperaturen haben wir auf der Trainerbank mehr geschwitzt als die Spieler auf dem Feld.“ (NON13/JUN.10170 Niederösterreichische Nachrichten, 20.06.2013, Ressort: Sport; S TI M M E N & SPRÜCHE)

Tendenziell zeigen auch faulen und rosten die aspektuellen Unterschiede. (7a–c) enthält Beispiele für resultatives gefault/gerostet sein. In (7b) fokussiert das Adjektiv morsch eindeutig das gegenwärtige Resultat und macht damit deutlich, dass eine Aussage über den Zustand der Antriebsketten gemacht wird. Auch Formen mit doppeltem Hilfsverb wie in (7c) sprechen für die Resultativität der Konstruktion: Wie Hundt (2011) überzeugend zeigt, handelt es sich bei den Doppelformen von sein + V-PP nicht um ein Doppelperfekt (vgl. Ich hab telefoniert gehabt), sondern um das einfache Perfekt eines Resultativs (vgl. Am 11. November 1999 wäre die Frist […] abgelaufen gewesen, ZEIT 24/2000, ZEIT-Korpus zitiert nach Hundt 2011: 20). So wird in (7c) der (in der Vergangenheit liegende) Zustand der gefaulten Altarwand beschrieben.

(7a)

(7b)

(7c)

Resultativ Dort zerlegte er einen Nussbaum, dessen Inneres gefault war. (RHZ11/NOV.11118 Rhein-Zeitung, 10.11.2011, S. 23; Die Baumkrone ist sein Arbeitsplatz) Die Antriebsketten sind morsch gerostet, der Transmissionsriemen ist hinüber, vom Hackwerk fehlen Teile. (RHZ96/AUG.11410 Rhein-Zeitung, 21.08.1996; Wird die alte Säge wieder sägen?) Die Altarwand sei gefault gewesen, schildert Westphal Probleme. (BRZ07/DEZ.13667 Braunschweiger Zeitung, 22.12.2007; Aktionäre der Zuckerfabrik finanzierten neue Orgel)

Bei faulen und rosten dient der Hilfsverbwechsel allerdings weniger systematisch zur aspektuellen Differenzierung als bei schwitzen. Gefault sein und gerostet sein kommen auch in eindeutig nicht-resultativer Funktion vor, die Formen sind in diesen Fällen semantisch äquivalent mit gefault/gerostet haben, vgl. (8).

258 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(8a)

(8b)

Nicht-resultativ Denn bei zahlreichen Umzügen sind sie in irgendeinem Keller am hinteren Ende etwas gefault. (R97/JAN.05333 Frankfurter Rundschau, 22.01.1997, S. 4, Ressort: LOKAL-RUNDSCHAU; Mit „Esche geleimt“ übern Siegfried-Schuß) […] dass das Fahrzeug von innen nach außen gerostet ist. (BRZ12/MAI.09325 Braunschweiger Zeitung, 18.05.2012; Bültener Feuerwehr schenkt der Gemeinde ein Fahrzeug)

Gewuchert sein und geschimmelt sein werden dagegen nie resultativ gebraucht. Schimmeln tritt ohnehin nur ein einziges Mal mit sein auf: In (9) legen das Adverbial in der Folge und die Koordination mit einem präteritalen Ereignis den Fokus auf den Ereignisverlauf. Wuchern bildet dagegen aus semantischen Gründen keine resultative Funktion aus, da das Verb keinen inhärenten Zielzustand besitzt (s. Kap. 4.1.2 und 4.3.1): Weder die Modifikation mit noch noch mit einem seit-Adverbial führen zu einem grammatischen Satz, vgl. (10). (9)

(10a) (10b)

In der Folge sind Mobiliar und Europaletten geschimmelt und mussten entsorgt werden. (RHZ10/MAI.01701 Rhein-Zeitung, 07.05.2010; Jugendraum der Stadt wird saniert) ??Die Pflanzen sind noch gewuchert. ?? Die Pflanzen sind seit Tagen gewuchert.

Insgesamt trägt der Hilfsverbwechsel bei den untersuchten Degree Achievements bedingt zur aspektuellen Differenzierung bei: Nur bei schwitzen ist sein + V-PP systematisch an Resultativität gekoppelt. Gefault sein und gerostet sein erlauben sowohl die resultative als auch die verlaufsbezogene Lesart. Gewuchert sein und geschimmelt sein werden dagegen nie resultativ gebraucht.

8.2.4 Aktionsart: Telisches vs. atelisches Ereignis In diesem Abschnitt wird der Einfluss der Aktionsart auf die Hilfsverbwahl der Degree Achievements überprüft. Dabei beziehen sich die Ausführungen allein auf eindeutig verlaufsbezogene, d.h. nicht-resultative, Verwendungen. Denn die im vorausgehenden Abschnitt (8.2.3) betrachtete resultative Funktion setzt immer ein telisches Ereignis voraus (vgl. Kap. 4.3.1), nur bei perfektischer bzw. Ver-

Ergebnisse Degree Achievements | 259

gangenheitsfunktion schwankt die Aktionsart der Degree Achievements (vgl. atelisch Die Stühle haben lange Zeit im Keller gefault vs. telisch Die Stühle sind von oben nach unten gefault). Eine methodische Herausforderung bestand darin, die Aktionsart aller Sätze eindeutig zu bestimmen. Häufig lässt sich nicht letztendlich entscheiden, ob das Ereignis telisch oder atelisch ist. Bestimmte Kontextmerkmale können die Aktionsart jedoch vereindeutigen. Hierzu zählen Direktionalergänzungen oder Konsekutivsätze, die dem Ereignis eine explizite Grenze setzen, vgl. (11) und (12). In der Konstruktion vor sich hin VERB-en wird der Vorgang dagegen von innen perspektiviert und die Ereignisgrenze ausgeblendet, vgl. (13). In diesen eindeutigen Kontexten zeigen faulen, rosten und schimmeln eine deutliche Korrelation von Hilfsverbwahl und Aktionsart: Sein + V-PP kommt bei telischem, haben + V-PP bei atelischem Ereignis vor.

(11a)

(11b)

(11c)

(12)

(13a)

Direktionalergänzung (+ telisch) Durch die Schnittfläche ist der Stamm mit der Zeit von oben nach unten gefault. (RHZ06/FEB.06259 Rhein-Zeitung, 07.02.2006; Die Re(d)aktion „Buche in Daaden musste...“) Bültener Gerätewart fest, dass das Fahrzeug von innen nach außen gerostet ist. „Es gab keine Chance mehr, das Fahrzeug zu retten“, (BRZ12/MAI.09325 Braunschweiger Zeitung, 18.05.2012; Bültener Feuerwehr schenkt der Gemeinde ein Fahrzeug [Ausführliche Zitierung nicht verfügbar]) […] ein Tumor im Rückenmark war vom obersten Halswirbel bis zu einem mittleren Brustwirbel gewuchert. (H87/JS6.45128 stern, 20.08.1987, S.022; Komm, großer schwarzer Vogel) Konsekutivsatz (+ telisch) Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts sind die Bäume und Sträucher so gewuchert, dass die Besucher nur noch vereinzelt einen Eindruck von den Naturgewalten bekommen, die einst die Landschaft kraftvoll formten. (NUZ07/JAN.02153 Nürnberger Zeitung,23.01.2007; Berühmte Felsschlucht soll wieder felsig werden) vor-sich-hin (- telisch) Als der Kraftfahrzeugmeister ihn vor Jahren entdeckte, hatte er zehn Jahre lang in einem Waldstück vor sich hin gerostet. „Damals wuchsen Bäume durch die Ladefläche“, erzählt er.

260 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(13b)

(13c)

(RHZ06/JUN.09855 Rhein-Zeitung, 12.06.2006; Bäume wuchsen durch Ladefläche) Aber: „Wenn ein Antrag der Oppositionsparteien nicht mindestens sechs Monate vor sich hin gefault hat, kommt er nicht auf die Tagesordnung.“ (P98/DEZ.51770 Die Presse, 23.12.1998, Ressort: Inland; FP-Klubchef Stadler nimmt Parlament unter Beschuß) Nachbarn berichten von schlimmen Zuständen: Im Sommer hätten auf der Terrasse über Wochen Essensreste vor sich hin geschimmelt[…] (HMP05/NOV.00687 Hamburger Morgenpost, 09.11.2005, S. 16; Horror-Eltern von der Veddel)

Umgekehrt beeinflusst die Wahl der Konstruktion in Kontexten, die sowohl die telische als auch die atelische Lesart erlauben, die aktionale Interpretation. Die folgenden Minimalpaare, die in Anlehnung an die DeReKo-Belege konstruiert sind, veranschaulichen die Opposition: (14a) (14b) (15a) (15b)

[...] dass die Eisenstäbe im Laufe der Jahre gerostet haben. [...] dass die Eisenstäbe im Laufe der Jahre gerostet sind. […] denn das Holz der bisherigen Schaukel hat in den vergangenen Jahren gefault. […] denn das Holz der bisherigen Schaukel war in den vergangenen Jahren gefault.

Während in (14a) und (15a) das Rosten bzw. Faulen als unabgeschlossener Vorgang betrachtet wird, perspektivieren (14b) und (15b) stärker den Endpunkt. Dabei handelt es sich um feine Bedeutungsnuancen, sodass die Konstruktionen häufig austauschbar sind. Deutlicher erkennbar sind diese semantischen Unterschiede bei wuchern: Kombiniert mit sein + V-PP erhält es eine inchoative Semantik, wodurch das Entstehen des Unkrauts in den Vordergrund tritt, vgl. (16a). Mit haben + V-PP ist dagegen das Bestehen zentral, vgl. (16b). Die aktionale Lesart wird in den Beispielen zusätzlich dadurch verstärkt, dass im ersten Fall ein individuiertes, im zweiten ein nicht-individuiertes Subjekt vorliegt. (16a)

Die Ligusterhecke rund um den Kinderspielplatz war trotz der Trockenheit gewuchert, also legten die Helfer Hand an und haben das Grün zu einer schönen Hecke zurückgeschnitten. (NON12/SEP.02378 Niederösterreichische b. Nachrichten, 06.09.2012; Ein Putztag mit Geselligkeit)

Ergebnisse Degree Achievements | 261

(16b)

Zuvor haben hier Waldreben, Geissblatt, Liguster, Hartriegel, Weissdorn, Schneeball und Brombeeren gewuchert. (E97/AUG.18923 Zürcher Tagesanzeiger, 06.08.1997, S. 17, Ressort: Region; Fabiola, Cora & Co. räumen auf)

Es wird deutlich, dass die Konstruktionen selbst einen gewissen Bedeutungsgehalt besitzen und mit Telizität verbunden sind. Diese Bedeutungsnuancen sind jedoch sehr abstrakt und wenig salient. Da eine aktionale Differenzierung zudem vielfach für das Erreichen des kommunikativen Ziels nicht erforderlich ist, wird sie von den Sprecherinnen wahrscheinlich häufig nicht wahrgenommen. Vereinzelte Belege weichen aber von der Aktionsartensemantik ab (weiter dazu s. 8.2.5). Zweimal tritt haben + V-PP bei eindeutig telischen Ereignissen auf (vgl. 17), einmal sein + V-PP bei eindeutig atelischem (vgl. 18).

(17a)

(17b)

(18)

Telische Sätze mit haben + V-PP Die Fassade des Büroturms hat wie gewünscht zu einem matten Rot gerostet […] (E98/NOV.28412 Zürcher Tagesanzeiger,06.11.1998, S. 12, Ressort: Schweiz; Die Staatsbetriebe deregulieren ihr Museum) Die Schnellzüge halten hier nur selten, die Siedlung hat in die Lorzeebene gewuchert, die Rechnung fürs vergangene Jahr schloss mit 7,5 Millionen Franken Überschuss. (E98/OKT.27077 Zürcher Tagesanzeiger, 24.10.1998, S. 10, Ressort: Schweiz; Unauffällig, aber einflussreich) Atelischer Satz mit sein + V-PP [der] jahrelang auf einem Spielplatz des Kölner Zoos vor sich hin gerostet war. (RHZ00/DEZ.05907 Rhein-Zeitung, 08.12.2000; Mal auf derselben Couch wie Prinz Charles sitzen)

Insgesamt richten die Degree Achievements ihre Hilfsverbwahl damit an der Aktionsart aus: In eindeutig telischen Sätzen tritt sein + V-PP, in eindeutig atelischen haben + V-PP auf. Die meisten Sätze sind allerdings aktional unterspezifiziert. Hier kann die Wahl von sein + V-PP oder haben + V-PP Einfluss auf die aktionale Interpretation nehmen. Die semantischen Unterschiede sind allerdings sehr subtil und in vielen Fällen nicht von kommunikativem Interesse.

262 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

8.2.5 Regionale Tendenzen: haben-Präferenz in der Schweiz Dieser Abschnitt zeigt, dass die Hilfsverbwahl der Degree Achievements auch regionale Tendenzen aufweist. Einschränkend sei hier noch einmal erwähnt, dass die Daten, die vornehmlich aus Zeitungstexten stammen, keine Aussagen über dialektale Tendenzen, sondern allenfalls über standardsprachliche Variation erlauben. Bereits in Kap. (8.2.2) wurde darauf hingewiesen, dass gealtert haben nur im schweizer Sprachraum vorkommt. Vergleicht man die Hilfsverbwahl der übrigen Degree Achievements (in nicht-resultativer Funktion) insgesamt, setzt sich der Eindruck einer schweizer haben-Tendenz fort (Tabelle 42). Tab. 42: Hilfsverbwahl der Degree Achievements (nicht-resultative Funktionen) in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Deutschland

Österreich

Schweiz

haben

sein

haben

sein

haben

sein

gewuchert

6

44

4

7

10

3

gerostet

5

15

3

1

5

2

gefault

3

9

2

--

--

--

geschimmelt

7

1

5

--

--

--

Da in den schweizer Zeitungstexten nur Formen mit rosten und wuchern belegt sind, kann allein die Hilfsverbwahl dieser Verben einem regionalen Vergleich unterzogen werden (in Tabelle 42 durch einen gepunkteten Rahmen hervorgehoben). Beide Verben verzeichnen im landesdt. Sprachraum ein eindeutiges seinÜbergewicht, in der Schweiz tendieren sie dagegen mehrheitlich zu haben + VPP. Mit einem Chi-Quadrat-Test wird überprüft, ob die regionalen Unterschiede signifikant sind. Zu diesem Zweck wird zunächst die Hilfsverbwahl von wuchern und rosten in der Schweiz mit dem übrigen dt. Sprachraum verglichen. Dabei erweist sich der Unterschied zwischen beiden Sprachregionen als signifikant (p < 0.001, χ2 = 21.76396).

Ergebnisse Degree Achievements | 263

Tab. 43: Hilfsverbwahl von wuchern und rosten in der Schweiz und dem übrigen deutschen Sprachraum (beobachtete Häufigkeiten)

haben + V-PP

sein + V-PP

gesamt

Schweiz

15

5

20

Deutschland/Österreich

18

67

85

gesamt

33

72

105

Auffälligerweise stammen auch die beiden Sätze, in denen telisches rosten und wuchern ausnahmsweise ein haben-Perfekt bilden, aus der Schweiz, vgl. (17a,b). Im schweizer Hochdeutsch wird haben + V-PP somit nicht nur insgesamt häufiger, sondern auch in Kontexten gebraucht, in denen die Konstruktion im übrigen dt. Sprachraum nicht üblich ist. Diese schweizer haben-Tendenz scheint auf den ersten Blick durch den frz. Sprachkontakt erklärbar, allerdings zeigt auch die österreichische Pressesprache ein (etwas schwächeres) haben-Übergewicht und nimmt, was die Hilfsverbwahl der Degree Achievements in Tabelle 43 angeht, eine Zwischenposition ein: Abgesehen von wuchern tendieren die Verben auch in Österreich zu haben + V-PP. Auch hier ist der Unterschied zum landestdt. Sprachraum signifikant (p < 0.001, χ2 = 13.366). Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zur verbreiteten Annahme, dass sein + V-PP im Obd. generell überwiegt (vgl. Kap. 5.1.1). Tab. 44: Hilfsverbwahl von wuchern, rosten, faulen, schimmeln in Österreich und dem landesdeutschen Sprachraum (beobachtete Häufigkeiten)

haben

sein

gesamt

Österreich

14

8

22

Deutschland

21

69

90

gesamt

35

77

112

Die geringen Belegzahlen zeigen leider nur grobe Tendenzen auf. Um genauere regionale Tendenzen zu erzielen, müssten kleinräumig weitere Daten erhoben werden. Insgesamt bestätigen die Degree Achievements die häufig vermutete obd. sein-Tendenz nicht. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass haben + V-PP in der Schweiz 1) insgesamt häufiger ist als im übrigen dt. Sprachraum und 2) sogar in

264 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

vereinzelten telischen Belegen auftritt. Österreich nimmt eine Zwischenposition ein: Hier zeigt sich ein etwas schwächeres haben-Übergewicht als in der Schweiz.

8.2.6 Fazit: Tokenfrequenz, Aspekt und Aktionsart sowie Regionalität als Determinanten der Hilfsverbwahl Die Hilfsverbwahl der Degree Achievements folgt keiner einheitlichen Tendenz. Lexemabhängig greifen unterschiedliche Steuerungsmechanismen. Die relativ hohe Tokenfrequenz von altern hat zu einer Verfestigung des sein-Perfekts geführt; gealtert sein wird unabhängig von Aspektualität und Aktionsart gebildet und scheint eine eigene mentale Repräsentation zu besitzen. Gealtert haben existiert nur als schweizer Variante, wo sie womöglich durch frz. Sprachkontakt motiviert ist. Das frequentere Verb geschwitzt nutzt den Wechsel von sein + V-PP und haben + V-PP, um systematisch zwischen resultativer und nicht-resultativer Funktion zu unterscheiden. In abgeschwächter Form ist diese aspektuelle Differenzierung auch bei faulen und rosten zu beobachten. Gefault sein und gerostet sein beschreiben häufig resultativ andauernde Eigenschaften des Subjektsreferenten, werden im Gegensatz zu geschwitzt sein aber auch perfektisch verwendet. In nicht-resultativer Funktion richtet sich die Wahl des Hilfsverbs bei rosten, faulen und wuchern an der Aktionsart des Satzes aus: Bei eindeutig telischer Ereignisperspektivierung wird sein + V-PP, bei eindeutig atelischer haben + V-PP gewählt. Umgekehrt kann die Wahl der Hilfsverbkonstruktion in aktional unterspezifizierten Sätzen die Interpretation beeinflussen. Dies spricht dafür, dass die Mikrokonstruktionen selbst mit einem gewissen Bedeutungsgehalt verbunden sind. Die aktionalen Unterschiede werden vereinzelt von regionalen Tendenzen überlagert. Überraschenderweise wurde v.a. in schweizer Texten ein Übergewicht von haben + V-PP beobachtet, die Mikrokonstruktion überwiegt aber auch in Österreich. Mit Blick auf die Degree Achievements bestätigt sich die in der Forschung häufig vermutete obd. sein-Tendenz somit nicht.

8.3 Ergebnisse: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben Dieser Abschnitt untersucht die Hilfsverbwahl der dt. Bewegungsverben. Nach einer Darstellung der untersuchten Verben und erster genereller Tendenzen (8.3.1–8.3.2) werden Faktoren überprüft, die in der Forschung als allgemeine Determinanten der Hilfsverbwahl in der Intransitivkonstruktion gelten. Dabei wird deutlich, dass Aktionsart keinen (oder nur marginalen) Einfluss übt und die

Ergebnisse Bewegungsverben | 265

Hilfsverbwahl der Bewegungsverben heute vom Ursprungsschema (telische Intransitive = sein + V-PP, atelische Intransitive = haben + V-PP) entkoppelt ist (0). Anders als bei den Degree Achievements wechselt das Hilfsverb nicht, um zwischen resultativer und perfektischer Funktion zu differenzieren (8.3.2.2), und auch die Agentivität des Subjekts spielt keine Rolle (8.3.2.3). Abschnitt (8.3.2.4) zeigt, dass sich vielmehr die Tokenfrequenz eines Lexems darauf auswirkt, wie stark es zu sein + V-PP tendiert. Besonders gebrauchsfrequente Bewegungsverben wählen die Mikrokonstruktion häufiger und in unterschiedlicheren Kontexten. Die Untersuchung infrequenter, neu aus dem Engl. entlehnter Verben macht deutlich, dass sein + V-PP bei Bewegungsverben im Dt. produktiv ist (8.3.2.5). Im Dt. hat sich ein neues Schema herausgebildet, in dem sein + V-PP mit Bewegungssemantik verbunden ist. Im nativen Kernbereich der Bewegungsverben erweisen sich prototypisch transitive Sätze als letzte Bastion von haben + V-PP (8.3.3). Transitivität ist somit weiterhin eine Determinante der Hilfsverbwahl im Gegenwarsdt., die sogar die Bewegungssemantik überlagert. Die Untersuchung zeigt, dass v.a. die Patienshaftigkeit der Akkusativergänzung die Hilfsverbwahl beeinflusst.

8.3.1 Untersuchte Bewegungsverben Tabelle 45 bietet einen Überblick über die untersuchten Bewegungsverben. Sie sind in der Darstellung nach abnehmender Gebrauchshäufigkeit geordnet. Auch die Bewegungsverben wurden mit der Zielsetzung ausgewählt, eine große Spannbreite an Gebrauchshäufigkeiten abzubilden, um einen möglichen Einfluss von Tokenfrequenz zu ermitteln. Die Auswahl der Verben beruht deshalb erneut auf den Häufigkeitsklassen in DeReWo (vgl. Kap. 8.2), die in der dritten Spalte von Tabelle 45 angegeben sind. Diese Häufigkeitsklassen, die auf allen grammatischen Formen der Lexeme beruhen, zeigen ähnliche Tendenzen wie die Tokenfrequenzen der Perfektformen, die für diese Arbeit erhoben wurden (vgl. Spalte 4). Allerdings weicht das Verb laufen etwas ab, das sich in DeReWo zusammen mit fahren zur Häufigkeitsklasse 9 gruppiert, bei der Korpusuntersuchung aber nur auf etwa ein Viertel der Perfektbelege von gefahren kommt. Bouldern hat dagegen keinen Eintrag in DeReWo, doch erbrachte die Suchanfrage immerhin 4 Perfektformen. Das Verb wurde deshalb aufgenommen, weil gerade ein so niedrigfrequentes Verb Aufschluss über die Produktivität von Bildungsmustern verspricht.

266 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Tab. 45: Tokenfrequenz der untersuchten Bewegungsverben im Perfekt7

Perfektformen

prototypische Bewegungsverben

neu entlehnte Anglizismen

Kontrollverb

Häufigkeitsklasse Token in DeReWo (gesamt) gegangen*8

6

~14.633

gefahren*

9

9963

gelaufen*

9

2444

geflogen*

11

2118

geschwommen*

12

445

geritten*

13

362

gejoggt*

15

44

gewalkt

16

23

geskatet

17

22

gebik(e)t

18

4

gebouldert

--

4

getanzt*

11

734

Tokenfrequenz 1) hochfrequent 2) frequent

3) mittelfrequent

4) infrequent

Auch die Bewegungsverben wurden mit der Zielsetzung ausgewählt, eine große Spannbreite an Gebrauchshäufigkeiten abzubilden, um einen möglichen Einfluss von Tokenfrequenz zu ermitteln. Die Auswahl der Verben beruht deshalb erneut auf den Häufigkeitsklassen in DeReWo (vgl. Kap. 8.2), die in der dritten Spalte von Tabelle 45 angegeben sind. Diese Häufigkeitsklassen, die auf allen grammatischen Formen der Lexeme beruhen, zeigen ähnliche Tendenzen wie die Tokenfrequenzen der Perfektformen, die für diese Arbeit erhoben wurden (vgl. Spalte 4). Allerdings weicht das Verb laufen etwas ab, das sich in DeReWo zusammen mit fahren zur Häufigkeitsklasse 9 gruppiert, bei der Korpusuntersuchung aber nur auf etwa ein Viertel der Perfektbelege von gefahren kommt. Bouldern hat dagegen keinen Eintrag in DeReWo, doch erbrachte die Suchanfrage immerhin 4

|| 7 Die Verben, die mit * markiert sind, sind im Gesamtkorpus so häufig, dass nicht alle Belege annotiert werden konnten. Hier liegt eine Stichprobe aus den Jahren 2011 und 2012 zugrunde. 8 Bei gegangen war eine manuelle Durchsicht aller Belege und das Aussortieren möglicher passiver Verwendungen aufgrund des hohen Vorkommens nicht möglich. Deshalb können hier nur ungefähre Zahlenangaben gemacht werden.

Ergebnisse Bewegungsverben | 267

Perfektformen. Das Verb wurde deshalb aufgenommen, weil gerade ein so niedrigfrequentes Verb Aufschluss über die Produktivität von Bildungsmustern verspricht. Zur Vereinfachung werden die Verben im Folgenden nach ihrer Häufigkeit in vier Grobgruppen eingeteilt: (1) Das hochfrequente Verb gegangen mit ~14.633 Perfektvorkommen, (2) die ebenfalls frequenten Verben gefahren (9963), gelaufen (2444) und geflogen (2118), (3) die Verben mittlerer Tokenfrequenz geschwommen (445), geritten (362) und gejoggt (44) sowie (4) die eindeutig niedrigfrequenten Anglizismen gewalkt, geskatet, gebik(e)t und gebouldert mit jeweils weniger als 25 Belegen (im Gesamtkorpus wohlgemerkt !). Als Kontrollverb wurde getanzt aufgenommen, das im unmarkierten Fall keine Fortbewegung, sondern eine dynamische Aktivität bezeichnet. Tabelle 46 stellt die Ergebnisse, die für die Hilfsverbverteilung insgesamt ermittelt wurden, in absoluten und relativen Zahlen dar. Mit Ausnahme von gegangen sind alle Bewegungsverben in beiden Mikrokonstruktionen belegt. Dennoch bestätigt sich die in der Forschung vermutete Tendenz zu sein + V-PP bei nahezu allen Bewegungsverben auf den ersten Blick. Das Kontrollverb getanzt wählt im Gegensatz dazu zu fast 96% haben + V-PP. Tab. 46: haben + V-PP und sein + V-PP bei den untersuchten Bewegungsverben (alle Formen)

Verb

haben

sein

gegangen*

0

(0%)

14.633

(100%)

gefahren*

951

(9,5%)

9012

(90.5%)

gelaufen*

68

(2,8%)

2376

(97,2%)

geflogen*

154

(7,3%)

1964

(92,7%)

geschwommen*

20

(4,5%)

425

(95,5%)

geritten*

183 (53)

(50,6%) (77,2%)

179 (179)

(49,4%) (22,8%)

gejoggt*

5

(11,4%)

39

(88,6%)

gewalkt

2

(8,7%)

21

(91,3%)

geskatet

3

(13,6%)

19

(86,4%)

gebik(e)t

0

(0%)

4

(100%)

gebouldert

1

(25%)

3

(75%)

getanzt*

704

(95,9%)

30

(4,1%)

Unter den Bewegungsverben weicht allein geritten von der klaren sein-Präferenz ab, bei dem sich haben + V-PP und sein + V-PP die Waage halten. Dieses Ergebnis

268 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

ist jedoch stark durch lexikalisierte Phrasen vom Typ [NPAkk-Bel hat der Teufel geritten] verfärbt, die ganze 130 haben-Belege ausmachen. Die hohe Transitivität erzwingt hier haben + V-PP. Zieht man diese Belege ab, ergibt sich ein Verhältnis von 77,2% (179 Belege) sein + V-PP zu 22,8% (53 Belege) haben + V-PP, womit sich auch geritten in die allgemeine Tendenz einfügt.

8.3.2 Eindeutige sein-Präferenz der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion Dieser Abschnitt betrachtet die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben nur in der Intransitivkonstruktion. Eine methodische Herausforderung bestand darin, bei der Annotation alle intransitiven Sätze zu identifzieren, da die Grenze zwischen direkten Objekten und Adverbialen im Akkusativ oft schwer zu ziehen ist. Bspw. bildet eine Streckenangabe wie in Sie ist 100 Meter gelaufen eindeutig ein Adverbial, individuiert, z.B. durch den Definitartikel, liegt die Phrase jedoch näher am Objekt-Pol, vgl. Sie ist die 100 Meter gelaufen. Um dieses methodische Problem zu umgehen, wurden zunächst alle Sätze, die das rein formale Merkmal [+Akkusativ] aufwiesen, herausgefiltert. Lediglich temporale Angaben (z.B. Sie ist drei Stunden gelaufen) und Geschwindigkeitsangaben (Sie ist 100km/h gefahren) wurden beibehalten, da es sich zweifellos um keine Objekte handelt. Tab. 47: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion

Verb

haben

sein

gefahren*

1 (0,01%)

7837 (99,99%)

gelaufen*

--

2187 (100%)

geflogen*

--

1870 (100%)

geschwommen*

10 (3,2%)

300 (96,8%)

geritten*

4 (2,4%)

160 (97,6%)

gejoggt*

4 (12,5%)

28 (87,5%)

gewalkt

2 (11,8%)

15 (88,2%)

geskatet

3 (17,6%)

14 (82,4%)

gebik(e)t

--

4 (100%)

gebouldert

1 (25%)

3 (75%)

getanzt*

612 (95,3%)

30 (4,7%)

Ergebnisse Bewegungsverben | 269

Dieser Abschnitt (8.3.2) beschränkt sich auf dieses Teilkorpus mit eindeutig intransitiven Sätzen. Die Belege mit einem Akkusativ werden in Abschnitt (8.3.3) ausführlicher behandelt und nach ihrem Transitivitätsgrad subdifferenziert. Wie Tabelle 47 zeigt, wählen die Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion noch konsequenter sein + V-PP als im Gesamtkorpus: Insbesondere die prototypischen Bewegungsverben nehmen die Mikrokonstruktion in (nahezu) 100%. Beim Kontrollverb getanzt bleibt das haben-Übergewicht dagegen in etwa gleich. Die folgenden Abschnitte gehen u.a. den Fragen nach, wie die starke seinTendenz der Bewegungsverben zu erklären ist, was die wenigen Fälle von haben + V-PP in der Intransitivkonstruktion motiviert.

8.3.2.1 Aktionsart: sein + V-PP bei telischen und atelischen Bewegungen In der Forschung gilt Aktionsart als wichtigste Determinante der Hilfsverbverteilung in der Intransitivkonstruktion. Um den Einfluss von Aktionsart zu überprüfen, werden die intransitiven Sätze nach dem semantischen Merkmal [+/- telisch] klassifiziert. In den meisten Fällen korreliert Telizität mit der Anwesenheit einer Direktionalphrase, die die Bewegung explizit begrenzt, vgl. (19). Doch telisiert nicht jede Direktionalphrase die Bewegung (vgl. 20a), umgekehrt kann eine Bewegung telisch sein, auch wenn der Satz keine direktionale Angabe enthält, vgl. (20b). Bei der Annotation waren deshalb semantische Kriterien ausschlaggebend. (19a)

(19b)

(20a)

(20b)

Anschließend sei der Landwirt nach Harxbüttel gefahren […] (BRZ12/NOV.13711 Braunschweiger Zeitung, 27.11.2012; Polizei verbot, dass Pferd zum Schlachthof kam) Für das Entziehen der Fahrerlaubnis ist es nicht erforderlich, dass der Führerscheininhaber unter Drogeneinfluss gefahren ist. [- telisch] (BRZ12/OKT.14833 Braunschweiger Zeitung, 29.10.2012; Der Führerschein ist sehr schnell in Gefahr) Sie seien erst ziellos durch die Straßen gefahren […] [- telisch] (BRZ11/NOV.10136 Braunschweiger Zeitung, 18.11.2011; Zerstörungswut – Trio schlägt in drei Stadtteilen zu) „Der LKW ist bei rot gefahren“ [+ telisch] (BRZ12/MAI.05461 Braunschweiger Zeitung, 11.05.2012; Es ist schon wieder passiert;Wie oft denn noch?) [+ telisch]

Die Untersuchung zeigt, dass der Hilfsverbwechsel bei den intransitiven Bewegungsverben nicht an Telizität gekoppelt ist. Unabhängig von ihrer Aktionsart

270 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

wählen sie sein + V-PP, vgl Tabelle 48. Im Gegensatz dazu überwiegt beim Kontrollverb tanzen, das prototypischerweise keine Fortbewegung bezeichnet, haben + V-PP (zu den 13 Belegen mit atelischem getanzt sein, s. Abschnitt 8.3.2.5). Die wenigen haben-Belege bei Bewegungsverben haben Ausnahmecharakter. Sie beschränken sich auf atelische Sätze, sind aber selbst hier marginal. Sein + V-PP hat sich somit auf Kosten der haben-Konstruktion ausgebreitet und diese nahezu verdrängt. Tab. 48: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion

Verb

haben telisch

atelisch

sein telisch

gesamt

atelisch

gefahren*

--

1 (0%)

4972 (63,4%)

2865 (36,6%)

7838

gelaufen*

--

--

837 (38,3%)

1350 (61,7%)

2187

geflogen*

--

--

1397 (74,7%)

473 (25,3%)

1870

geschwommen*

--

10 (3,2%)

100 (32,3%)

200 (64,5%)

310

geritten*

--

4 (2,4%)

41 (25%)

119 (72,6%)

164

gejoggt*

--

4 (12,5%)

6 (18,75%)

22 (68,75%)

32

gewalkt

1 (5,9%)

1 (5,9%)

3 (17,6%)

12 (70,6%)

17

geskatet

--

3 (17,6%)

5 (29,4%)

9 (52,9%)

17

gebik(e)t

--

--

3 (75%)

1 (25%)

4

1 (25%)

1 (25%)

2 (50%)

4

--

612 (95,3%)

17 (2,6%)

13 (2%)

642

gebouldert getanzt*

Auffälligerweise beschränkt sich haben + V-PP auf Bewegungsverben mittlerer und niedriger Tokenfrequenz. Diese Verteilung legt nahe, dass die Perfektformen der gebrauchshäufigen Bewegungsverben als Ganze abgespeichert sind und das Hilfsverb lexikalisiert ist (näher hierzu s. Abschnitt 8.3.2.4). Die Lexikalisierung von sein + V-PP könnte durch den vergleichsweise hohen Anteil telischer Verwendungen gerade bei den tokenfrequenten Verben gefahren und geflogen motiviert sein. In telischen Sätzen kommt auch historisch sein + V-PP vor. Durch wiederholten Gebrauch hat sich das ohnehin frequentere9 Hilfsverb verfestigt.

|| 9 Auf den ersten Blick scheint gelaufen von dieser Tendenz abzuweichen, das ein starkes Übergewicht an atelischen Verwendungen aufzeigt. Die Zahlen sind jedoch stark durch idiomatische

Ergebnisse Bewegungsverben | 271

Insgesamt wird deutlich, dass die Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion unabhängig von der Aktionsart sein + V-PP wählen. Haben + V-PP tritt nur marginal auf und ist auf einzelne atelische Belege bei mittel- bis niedrigfrequenten Bewegungsverben beschränkt. Die frequenteren Verben haben sein + VPP lexikalisiert und zeigen in der Intransitivkonstruktion keine Variation.

8.3.2.2 Aspektualität Anders als die Degree Achievements werden die Bewegungsverben i.d.R. nicht resultativ gebraucht, da sie keinen inhärenten Zielzustand besitzen. Resultativ ist lediglich die idiomatisierte Phrase [NP-Belist gelaufen], die insgesamt 319 Mal im Korpus vorkommt, vgl. (21): (21)

[…] denn die Sache mit den Zeugnisnoten ist schließlich längst gelaufen. Wer mag da noch ernsthaft Unterricht machen? (BRZ11/JUL.02776 Braunschweiger Zeitung, 06.07.2011;)

Dass es sich tatsächlich um ein Resultativ handelt, zeigt die Modifikation mit einer seit-PP, vgl. (22b). Der immer-noch-Test (22c) führt zwar zu grenzwertiger Grammatikalität. Das liegt aber daran, dass der Zielzustand nicht reversibel ist (zu ähnlichen Fällen s. Kratzer 2000: 387). (22a) (22b) (22c)

Die Saison ist gelaufen. Die Saison ist seit dem Ausscheiden von Robben gelaufen. ?Die Saison ist immer noch gelaufen.

Auf die resultative Funktion der Konstruktion weisen auch Doppelformen hin, die im Korpus nur bei diesem Idiom vorkommen, vgl. (23). Die Doppelformen, die im Korpus auftreten, bestätigen Hundts (2011) Beobachtung, dass es sich bei den sein-Doppelformen nicht um ein Doppelperfekt (vgl. Ich habe das gesagt gehabt), sondern um das einfache Perfekt einer Resultativkonstruktion handelt.

|| Phrase des Musters [NP ist gut/schlecht etc. gelaufen] geprägt. Insgesamt bezeichnen nur 369 Belege eine atelische Fortbewegung, sodass auch hier die telische Variante überwiegt.

272 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(23)

Nach der Pause übernahmen die Gäste das Kommando. Hätten die Moselaner jedoch bei einem der wenigen Konter nachgelegt, dann wäre die Partie gelaufen gewesen. (RHZ11/AUG.33710 Rhein-Zeitung, 29.08.2011, S. 26; Lyudmil Kirovs Knaller beschert Eisbachtal einen Punkt in Schweich)

Die Aspektualität wirkt sich allerdings nicht auf die Hilfsverbwahl aus, da gelaufen unabhängig von der Bedeutung immer sein + V-PP wählt. Anders als bei den Degree Achievements (s. Kap. 8.2.3) differenziert der Hilfsverbwechsel somit bei den Bewegungsverben nicht zwischen aspektuellen Funktionen der Konstruktion.

8.3.2.3 Agentivität des Subjekts In der Forschung wurde vereinzelt ein Zusammenhang zwischen Agentivität der Bewegungsverben und dem Wechsel zu haben + V-PP vermutet (v.a. Grewendorf 1989, Zweifelsfall-Duden 2011: 442), wie er im It. systematisiert ist (s. Kap. 5.1.2.3). Die Daten bestätigen diesen Zusammenhang nicht. Sein + V-PP tritt auch bei eindeutig agentivem Subjekt auf, z.B. wenn die Agentivität durch Adverbiale wie absichtlich, vorsichtig oder selbst explizit betont wird. (24a)

(24b)

(24c)

Nach Medienberichten ist der Pilot möglicherweise absichtlich tief geflogen, um den Passagieren eine Militärbasis zu zeigen. (M12/MAI.04383 Mannheimer Morgen, 14.05.2012, S. 16; Bitte um niedrige Flughöhe) „Ich bin halt vorsichtig gefahren.“ (BRZ11/JAN.02872 Braunschweiger Zeitung, 08.01.2011; Um eins ist ihre Nacht zu Ende) Wer im Schadensfall einräumen muss, selbst gefahren zu sein, hätte wohl ziemlich fahrlässig gehandelt. (A12/DEZ.00620 St. Galler Tagblatt, 03.12.2012, S. 1; Salzkorn)

Agentivität wirkt sich somit nicht auf die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben aus; auch bei hochagentivem Subjekt wählen sie sein + V-PP.

8.3.2.4 Tokenfrequenz Im Gegensatz zu den semantischen Faktoren Aktionsart, Aspektualität und Agentivität ist der Einfluss von Tokenfrequenz deutlich erkennbar: Je frequenter die

Ergebnisse Bewegungsverben | 273

Perfektform eines Bewegungsverbs ist, desto entschiedener wählt es sein + V-PP. Das hochfrequente gegangen (~14.633 Perfektbelege) kommt in allen Kontexten ausschließlich in der sein-Konstruktion vor und die frequenten Verben gefahren, gelaufen und geflogen wählen in der Intransitivkonstruktion zu 100% sein + VPP. Vermutlich sind die Perfektformen dieser Verben als Ganze abgespeichert. Bei geminderter Gebrauchshäufigkeit nimmt die Festigkeit des Hilfsverbs ab. Die mittelfrequenten Verben geschwommen und geritten wählen haben + V-PP immerhin in rund 3% der intransitiven Sätze. Bei den infrequenten Anglizismen ist die haben-Selektion mit 11–25% anteilig dagegen vergleichsweise hoch.10 Abbildung 41 veranschaulicht diesen Zusammenhang von Hilfsverbwahl und Tokenfrequenz der Bewegungsverben: Mit der von links nach rechts abnehmenden Tokenfrequenz steigt der Anteil der haben-Belege. 100% 80% 60% 40% 20% 0%

0,01%

12,50% 17,60% 3,20% 11,80% 2,40%

25% haben sein

hochfrequent

mittelfrequent

niedrigfrequent

Abb. 41: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben in der Intransitivkonstruktion (relative Zahlen)

Alles in allem zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Tokenfrequenz der Einzellexeme und der Festigkeit des Perfekthilfsverbs: Die frequenten Bewegungsverben haben sein + V-PP am stärksten generalisiert. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse erscheint es naheliegend, dass die konsequente sein-Selektion der Bewegungsverben das Ergebnis einer Lexikalisierung ist. Der folgende Abschnitt zeigt jedoch, dass sich das sein-Perfekt der Bewegungsverben || 10 Die 100%ige sein-Selektion von gebik(e)t ist vermutlich dadurch zu erklären, dass dahinter nur vier Belege stecken und die Ergebnisse damit nicht aussagekräftig sind.

274 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

nicht allein durch Lexikalisierung erklären lässt. Bewegungssemantik ruft im Gegenwartsdt. produktiv sein-Selektion hervor.

8.3.2.5 Bewegungssemantik als produktive Determinante von sein + V-PP Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, dass Bewegungssemantik im Gegenwartsdt. produktiv zur sein-Selektion führt. Ein eindeutiges Indiz liefert die Perfektbildung der neu entlehnten Bewegungsverben gebik(e)t, gewalkt, gebouldert und geskatet: Selbst diese infrequenten Anglizismen tendieren unabhängig von der Aktionsart stark zum sein-Perfekt. Abbildung 42 und Abbildung 43 stellen die Hilfsverbwahl der Verben einmal im telischen und einmal im atelischen Satz gegenüber: 6 4 2 0 gewalkt

geskatet

gebouldert

gebik(e)t

haben

1

0

0

0

sein

3

5

1

3

Abb. 42: Hilfsverbselektion bei jung entlehnten Bewegungsverben (telischer Gebrauch)

Wie zu erwarten, wählen die telischen Bewegungsverben (fast) ausnahmslos sein + V-PP, doch auch die atelischen tendieren stark zu dieser Mikrokonstruktion: Atelisches gewalkt bildet in 12 von 13, geskatet in 9 von 12 und gebouldert in 2 von 3 Fällen ein sein-Perfekt. Sein + V-PP tritt auch beim einzigen atelischen Beleg von gebik(e)t auf, vgl. (25).

Ergebnisse Bewegungsverben | 275

14 12 10 8 6 4 2 0 gewalkt

geskatet

gebouldert

gebik(e)t

haben

1

3

1

0

sein

12

9

2

1

Abb. 43: Hilfsverbselektion bei jung entlehnten Bewegungsverben (atelischer Gebrauch)

(25a)

(25b)

(25c)

(25d)

Atelische Bewegungen mit sein + V-PP Hannelore fährt fort: „Erst bin ich nur im Dunkeln gewalkt, spätabends oder ganz früh morgens, damit mich niemand sieht“, (RHZ04/OKT.21334 Rhein-Zeitung, 21.10.2004; Drei Frauen nehmen zusammen ab) „Früher bin ich mit meiner Clique immer auf Schulhöfen geskatet. Aber die Hausmeister haben uns das irgendwann verboten“. (RHZ02/SEP.10661 Rhein-Zeitung, 14.09.2002; 50 Inliner waren „voll auf der Rolle“) Ich bin gut vorbereitet, bin viel gebouldert und habe viel für die Grundlagenausdauer gemacht (NON07/MAR.06551 Niederösterreichische Nachrichten, 13.03.2007, S. 75; „Ziemliches Roulette“) Denn so schnell dürfte er noch nie gelaufen oder gebikt sein. (SOZ05/JUL.02982 Die Südostschweiz, 16.07.2005; Wenn Frauen reisen)

Aufgrund des jungen Entlehnungsalters und der niedrigen Frequenz der Verben kann eine Lexikalisierung des Hilfsverbs ausgeschlossen werden. Die Ergebnisse sprechen deshalb dafür, dass die sein-Selektion durch Bewegungssemantik motiviert ist. Auch tanzen wechselt regelmäßig zu sein + V-PP, wenn es eine Bewegung bezeichnet. Das überwiegend atelisch gebrauchte Verb wählt i.d.R. haben + V-

276 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

PP, in den wenigen telischen Belegen aber sein + V-PP (12 Belege), vgl. (26). Die Hilfsverbwahl folgt demnach der Aktionsart. (26a)

(26b)

steht der Besucher auf Steinen, auf denen die schöne Salome getanzt haben könnte, bevor sie den Kopf des enthaupteten Johannes […] (NUN12/DEZ.02645 Nürnberger Nachrichten, 22.12.2012, S. 15; Wo Jesus getauft wurde – Ein paar Mosaiksteinchen wiesen den Weg: Jordanien ist voll biblischer Geschichte) BU: Der Moonwalk-Jubel wird zu ihrem Markenzeichen: Andrea Petkovic ist bei den French Open in Paris ins Viertelfinale getanzt. (HMP11/MAI.02684 Hamburger Morgenpost, 31.05.2011, S. S45; Paris Petko tanzt weiter – Moonwalk-Jubel nach Dreisatz-Sieg – Im Viertelfinale wartet Sharapova)

Doch auch wenn das Verb eine nicht-zielgerichtete Bewegung in einem Raum bezeichnet, tritt sein + V-PP auf (insgesamt 10 Mal), vgl. (27) (s. auch Randall et al. 2004). Diese atelischen Sätze enthalten i.d.R. eine Direktionalphrase, die jedoch nur die Richtung und keinen definiten Zielpunkt angibt. Damit ist es nicht Telizität, sondern Bewegungssemantik, die hier zur sein-Selektion führt. (27a)

(27b)

Sie sei oft voller Übermut durch die ganze Wohnung getanzt. „Es ist schwer zu begreifen, dass […]“ (RHZ12/JAN.15325 Rhein-Zeitung, 16.01.2012, S. 8; Grab der kleinen Katharina ist die kalte Ostsee) Auch beim Fastnachtsumzug waren die SKK-Mitglieder durch die Straßen der Stadt getanzt und hatten von ihrem Narrenschiff aus die Bürger mit Bonbons beworfen. (M11/MAR.02925 Mannheimer Morgen, 09.03.2011, S. 15; Prinz Marcel als Sänger spitze)

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wäre umgekehrt zu erwarten, dass Bewegungsverben bei fehlender Bewegungssemantik ein haben-Perfekt bilden. So vermutet die Duden-Grammatik (2009: 466) Schwankungen, wenn die nicht die Fortbewegung, sondern „die Art der Bewegung im Mittelpunkt steht“ (DudenGrammatik 2009: 466, s. auch Kap. 5.1.1). Im Korpus ist der Effekt bei den genannten Verben allerdings nur schwach erkennbar: Während geflogen in keinem der Belege auf eine (sportliche) Aktivität Bezug nimmt, wählen geschwommen und geritten auch in diesen Sätzen mehrheitlich sein + V-PP. Nur vereinzelt kommt haben + V-PP vor (1 Mal bei geschwommen, 3 Mal bei geritten).

Ergebnisse Bewegungsverben | 277

(28a)

(28b)

(29)

[…] Aus diesem Grund sei Voltigieren „extrem vielseitig“, schwärmt Viktor, der genau wie sein Bruder früher geschwommen ist, und das sogar ziemlich erfolgreich. (BRZ12/MAR.07707 Braunschweiger Zeitung, 14.03.2012; Starke Arme allein reichen nicht) die Lust am Sport hat sie sich lange erhalten, und ist bis vor zwei Jahren noch gern geschwommen. Heute verbringt sie viel Zeit im Garten […] (BRZ12/JUL.02708 Braunschweiger Zeitung, 06.07.2012; Einst mit Ballett auf Welttournee) „Inzwischen habe ich sicher mehr als 1000 Seepferdchen erteilt“, sagt Reimer, die […] früher bei der DLRG geschwommen hat. (BRZ12/JUN.09122 Braunschweiger Zeitung, 16.06.2012; Erst das Seepferdchen, dann kraulen)

Der semantische Unterschied spielt bei den nicht-nativen Bewegungsverben eine etwas größere Rolle: Alle sechs haben-Belege lassen sich so interpretieren, dass das Ereignis eher als Tätigkeit denn als Fortbewegung aufgefasst wird. (30a)

(30b)

(30c)

ich habe nie geskatet, bin über 40, Unternehmer und Arbeitgeber. (NUN11/JUL.02730 Nürnberger Nachrichten, 25.07.2011, S. 2; Jugendfeindliche Stadt?) Die Jugendlichen hätten weiter geskatet, geschrien und gegrölt […] (RHZ99/JUL.12470 Rhein-Zeitung, 20.07.1999; Münzplatz: Skater überrollten Verbot) Wir haben als erstes nur gebouldert, das heißt Klettern ohne Sicherung. (BRZ06/NOV.04315 Braunschweiger Zeitung, 08.11.2006; Ich klettere gerne in unserer Klettergruppe)

(30a) bezieht sich auf das Skaten als Hobby, dem in der Vergangenheit regelmäßig (bzw. nie) nachgegangen wurde. In (30b) wird Skaten in einer Reihe weiterer Handlungsverben (schreien, grölen) genannt. Auch bouldern in (30c) lässt sich als Freizeitaktivtät verstehen. Allerdings erlauben alle Verben in derselben Bedeutung auch sein + V-PP, sodass keinesfalls von einer strikten Regel zu sprechen ist, vgl. (31). (31a)

Tobias Schönijahn, der früher geskatet ist […] (BRZ06/JAN.15946 Braunschweiger Zeitung, 31.01.2006; Eishockey auf dem Mörser Dorfteich)

278 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(31b)

(31c)

[…], wenngleich schon fast jeder „gebouldert“ ist. Bouldern hat sich aus dem Klettertraining an großen Steinen [entwickelt] (I97/JAN.00708 Tiroler Tageszeitung, 08.01.1997, Ressort: Regionalsport Oberinntal, Außerfern; Österreichs Spitzenkletterer in Karrösten) Zum zweiten Mal ist heute Marlene Brüggemeyer dabei. „Ich bin gewalkt. Ich mache ja noch mit Hubert Breitbach mittwochs Gymnastik“ (RHZ05/APR.07544 Rhein-Zeitung, 07.04.2005; Fröhliche Gruppe dreht ihre Runden)

In (31a) und (31b) beziehen sich skaten und bouldern auf ein in der Vergangenheit ausgeführtes Hobby, in (31c) stellt der Folgesatz das Walken in den Zusammenhang mit Gymnastikkursen, woraus deutlich wird, dass die Sprecherin über eine sportliche Betätigung spricht. Bewegungsverben können somit zu haben + V-PP wechseln, wenn nicht die Fortbewegung, sondern die Aktivität im Vordergrund steht. Bei den infrequenten Anglizismen ist dieser Hilfsverbwechsel etwas stärker ausgeprägt als bei den mittelfrequenten Verben geschwommen und geritten. Erneut zeigt sich, dass sein + V-PP umso konsequenter gewählt wird, je tokenfrequenter das Bewegungsverb ist. Noch weiter von der Fortbewegungsbedeutung entfernt sind idiomatisierte Phrasen wie Das ist gut/schlecht gelaufen oder Wir sind damit gut gefahren. Ihre unspezifische Grundbedeutung prädestiniert gerade die tokenfrequenten Verben gehen, fahren, fliegen und laufen, in Konstruktionen mit übertragener Bedeutung aufzutreten. Sehr häufig wird das Verb laufen idiomatisch verwendet, aber auch fahren, fliegen und schwimmen kommen regelmäßig in Phrasen mit übertragener Bedeutung vor, vgl. (32). (32a) (32b)

(32c)

Das ist dumm gelaufen. (BRZ11/FEB.07091 Braunschweiger Zeitung, 15.02.2011;) „Ich glaube, die Saison ist für uns gelaufen.“ (BRZ11/MAI.02345 Braunschweiger Zeitung, 06.05.2011; Gamsen kann noch hoch klettern) „Das ‚Dornbergkarree‘ ist eine gute Idee“, lobt Kuschnik: „Wir sind mit den Ideen von Bürgermeister Hartmut Marotz immer gut gefahren.“ (BRZ11/OKT.02721 Braunschweiger Zeitung, 07.10.2011; „Dornbergkarree wichtigstes Projekt“)

Ergebnisse Bewegungsverben | 279

(32d)

(32e)

„Als der große Ansturm kam, sind wir in beiden Restaurants ‚geschwommen‘“, gibt Zellinger zu. (NON12/AUG.08685 Niederösterreichische Nachrichten, 16.08.2012; ;Sind auf gutem Weg;) […] stellten dabei fest, dass zwischen ihnen offenbar auch die Fäuste geflogen waren. (M12/JAN.00396 Mannheimer Morgen, 03.01.2012, S. 15; Handfester Ehestreit)

Auch wenn die idiomatischen Phrasen keine Fortbewegung bezeichnen, bilden sie überwiegend ein sein-Perfekt. Diese sein-Tendenz scheint auf den ersten Blick der These zu widersprechen, dass sein + V-PP an Bewegungssemantik gekoppelt ist. Bei näherer Betrachtung bestätigen diese Fälle aber die Korrelation von Tokenfrequenz und generalisiertem Hilfsverb. Gerade die frequenten Verben laufen, fahren und fliegen bilden auch in den idiomatischen Phrasen ausschließlich ein sein-Perfekt. Dagegen zeigt das mittelfrequente schwimmen leichte Variation: In vier von zwölf Belegen wird in der Phrase Wir haben/sind ziemlich geschwommen ein haben-Perfekt gebildet, vgl. (33). (33)

„Wir haben hinten ab- und zu ein bisschen geschwommen und waren vor dem gegnerischen Tor nicht konsequent genug“ (RHZ12/JUN.19227 Rhein-Zeitung, 18.06.2012, S. 23; Kreuznacher HC macht sein Meisterstück)

Insgesamt wird deutlich, dass sein + V-PP im Gegenwartsdt. produktiv an Bewegungssemantik gekoppelt ist. Ein starkes Indiz hierfür liefern neu entlehnte, infrequente Anglizismen wie gewalkt und gebik(e)t, die unabhängig von der Aktionsart ein sein-Perfekt bilden. Eindrücklich zeigt sich die Produktivität von Bewegungssemantik auch bei getanzt, das nicht nur bei telischer, sondern auch bei atelischer Bewegung ein sein-Perfekt bildet (z.B. Wir sind durch den Raum getanzt). Ob Bewegungsverben bei fehlender Fortbewegungsbedeutung zu haben + V-PP wechseln, hängt dagegen von ihrer Tokenfrequenz ab: Die frequenten Verben gefahren, geflogen und gelaufen bilden auch in idiomatisierten Phrasen ohne Bewegungssemantik ausschließlich ein sein-Perfekt (z.B. Das ist gut gelaufen/Wir sind damit gut gefahren), wohingegen das mittelfrequente geschwommen in vergleichbaren Fällen zwar sein + V-PP präferiert, aber auch haben + V-PP erlaubt (z.B. Wir sind/haben ziemlich geschwommen). Wenn nicht die Fortbewegung, sondern eine (sportliche) Aktivität im Vordergrund steht, zeigen die infrequenten

280 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Anglizismen anteilmäßig häufiger haben + V-PP als die mittelfrequenten geschwommen und geritten. Diese Ergebnisse sprechen erneut dafür, dass das Hilfsverb umso stärker lexikalisiert ist, je frequenter das Bewegungsverb ist. Die Ergebnisse zeigen, dass im Gegenwartsdt. ein Schema besteht, in dem sein + V-PP produktiv mit Bewegungssemantik verknüpft ist. Vermutlich geht dieses Schema diachron aus dem wiederholten Gebrauch der prototypischen Bewegungsverben im sein-Perfekt hervor. Die Produktivität der Bewegungssemantik resultiert somit daraus, dass frequente Bewegungsverben sein + V-PP lexikalisiert haben (näher hierzu s. Kap. 9.2.1).

8.3.3 Hohe Transitivität als letzte Bastion von haben + V-PP bei Bewegungsverben Dieser Abschnitt zeigt, dass haben-Selektion bei den dt. Bewegungsverben an semantische Transitivität gekoppelt ist: Je transitiver der Satz, desto zuverlässiger wird die Mikrokonstruktion gewählt. Umgekehrt sinkt der Anteil der haben-Belege mit abnehmender Transitivität. Hochtransitiv ist eine Bewegung, wenn ein willentlich handelndes Agens ein möglichst individuiertes Patiens zu einem bestimmten Ziel hin bewegt und damit seine Position verändert. Die Bewegungsverben zeigen im Korpus unterschiedliche Grade an Transitivität, die wesentlich von der Patienshaftigkeit des Objekts abhängen. Nach Hopper/Thompson (1980) erhöht die Individuiertheit des zweiten Partizipanten die Transitivität des Satzes, da individuierte Referenten höhere Patienshaftigkeit erreichen und den Satz insgesamt klarer von intransitiven abgrenzen. Im Folgenden zeigt sich, dass ein individuiertes Objekt die Tendenz zu haben + V-PP steigert. Unter den untersuchten Bewegungsverben bezeichnen nur gefahren, geflogen und geritten die räumliche Veränderung eines zweiten Partizipanten, weshalb nur sie transitive Sätze bilden. Die unter 8.3.4 folgenden Ausführungen, die sich hochtransitiven Belegen widmen, beschränken sich deshalb auf diese Verben.

Ergebnisse Bewegungsverben | 281

8.3.4 Eindeutige haben-Selektion in hochtransitiven Sätzen Belebte Objekte sind hochindividuiert und bei Bewegungsverben stark patienshaft.11 V.a. bei gefahren (280 Belege) und geflogen (34 Belegen) bewirkt ein belebtes bzw. menschliches Objekt hohe Transitivität: Ein menschlicher Bewegungsträger bewegt einen zweiten menschlichen Partizipanten i.d.R. zu einem bestimmten Ort hin und manipuliert ihn damit räumlich. Der belebte Akkusativ bildet eine semantisch-syntaktisch eigenständige Einheit, die sich konzeptuell eindeutig vom Verbalereignis abgrenzen lässt. Dazu passt, dass diese Sätze ausnahmslos haben + V-PP aufweisen, vgl. (34). (34a)

(34b)

(34c)

Mit Blaulicht hat die Polizei einen nach einem Verkehrsunfall unter Zeitdruck stehenden Bräutigam zu seiner eigenen Hochzeit gefahren. (NUZ12/AUG.01605 Nürnberger Zeitung, 13.08.2012, S. 15; gh PolizeiProtokoll) „Nach seinen Erzählungen hat er auch zeitweise Generalfeldmarschall Erwin Rommel gefahren“ (RHZ12/JUL.31941 Rhein-Zeitung, 28.07.2012, S. 13; Gondershausener begegnete dem #8222;Wüstenfuchs“) In den ersten zehn Monaten des Jahres hat Air Berlin zusammen allerdings 31,02 Millionen Passagiere geflogen, 3,1 Prozent mehr als in der Vergleichsperiode 2010. (NUN11/NOV.00732 Nürnberger Nachrichten, 08.11.2011, S. 17; Rückschlag für Air Berlin – Fluggesellschaft verliert im Oktober deutlich Passagiere)

Die konsistente Hilfsverbwahl ist im Wesentlichen dadurch motiviert, dass Belebtheit die semantische Rolle vereindeutigt: Bei fahren und fliegen denotiert ein belebtes Objekt immer die bewegte Größe. Belebtheit spielt demnach eine sekundäre Rolle, indem sie das Objekt klar als Patiens ausweist.

|| 11 In der folgenden Darstellung wird die idiomatisierte Phrase [NP] hat [NP]Belebt geritten nicht berücksichtigt (z.B. Was hat mich da geritten?), auch wenn sie mit ihrem belebten Objekt in die Gruppe zählt. Mit ihrem relativ hohen Vorkommen von 131 Belegen würde sie die Ergebnisse verzerren. Diese hochtransitive Konstruktion weist ausnahmslos haben + V-PP auf, vgl.: Welcher Teufel sie dann geritten hat, verstehe ich nicht“, sagt Ankläger Mag. (NON11/APR.10384 Niederösterreichische Nachrichten, 14.04.2011; Bankrotte Putzfrau fackelte ein Therapiezentrum ab)

282 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Weniger eindeutig ist die semantische Rolle des belebten Objekts bei geritten: Es bezeichnet nicht nur den bewegten Partizipanten, sondern zugleich das Fortbewegungsmittel. Die semantische Rolle oszilliert damit zwischen Patiens und Instrument. Wird der Akkusativ als Instrument aufgefasst, ist die Transitivität des Satzes geringer und die Ähnlichkeit zu intransitiven Sätzen steigt. Im Korpus schlägt sich die Uneindeutigkeit der semantischen Rolle darin nieder, dass neben geritten haben auch geritten sein vorkommt: Zwar überwiegt haben + V-PP mit 17 (von 19) Vorkommen klar, doch tritt sein + V-PP immerhin zweimal auf. Im Gegensatz zu gefahren und geflogen ist geritten sein bei belebtem Objekt somit nicht ungrammatisch. (35a)

(35b)

(35c)

Am Sonnabend hatte er bereits den tschechischen Hengst Mikhail Glinka im Preis der Sparkassen Finanzgruppe ganz nach vorn geritten.dpa (HAZ12/AUG.01553 Hannoversche Allgemeine, 27.08.2012; Peitsche für Außenseiter) Als Svenja zu uns kam, ist sie ihr Pferd zwar viel geritten […] (RHZ11/MAR.33229 Rhein-Zeitung, 28.03.2011, S. 15; Hardy Diemer freut sich über gestiegenes Interesse am Turnier in Diez) Das große Pferd, das ich bis jetzt geritten bin, war 1,79 Meter groß und heißt Niko. (BRZ12/SEP.02151 Braunschweiger Zeitung, 05.09.2012; Henriette möchte mal einen Reiterhof haben)

Die Wahl von sein + V-PP könnte in den Sätzen (35b,c) dadurch begünstigt sein, dass die neutralen NPs ihr Pferd bzw. das (Pferd) weniger individuiert sind als der Eigenname in (35a). Allerdings überwiegt auch in vergleichbaren Sätzen mit einem Appelativum haben + V-PP, vgl. (35d). Aufgrund der geringen Anzahl an sein-Belegen lässt sich keine abschließende Erklärung für die sein-Selektion finden. (35d)

«Im letzten Jahr habe ich im Training auch immer Hindernispferde geritten. Ich habe zwar Respekt, aber keine Angst. (A11/MAI.10137 St. Galler Tagblatt, 27.05.2011, S. 65; Comeback über die Sprünge)

Ergebnisse Bewegungsverben | 283

Abbildung 44 fasst das Hilfsverbverhalten von gefahren, geflogen und geritten bei belebtem Objekt zusammen. 100% 50%

haben sein

0% gefahren

geflogen

geritten

gesamt 280

gesamt 34

gesamt 19

Abb. 44: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit belebtem Akkusativ (relative Zahlen)

Nicht nur Objekte mit belebtem, sondern auch mit anderen konkreten Referenten tragen eindeutig die semantische Rolle Patiens, sofern es sich nicht um Fortbewegungsmittel handelt. In den Daten spiegelt sich dies in einer deutlichen Tendenz zu haben + V-PP wieder. Geflogen wählt die Konstruktion in 8 von 8, gefahren in 37 von 39 Fällen.

40 30

haben

20

sein

10 0 gefahren

geflogen

gesamt 39

gesamt 8

Abb. 45: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit konkretem Objekt (absolute Zahlen)

Auffälligerweise handelt es sich fast immer um telische Sätze, in denen eine Direktionalangabe den Endpunkt der Bewegung spezifiziert (weiter hierzu s. unten).

284 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(36)

Thomann lächelt. […] Gerade eben hat er noch Strommasten zur Montage nach Grindelwald geflogen. (A12/NOV.09894 St. Galler Tagblatt, 23.11.2012, S. 41; Aus Flug wird Übernachtung)

Sein + V-PP kommt nur bei geringer Transitivität vor. In (37a) ist Schrott semantisch in die VP inkorporiert und bildet zusammen mit gefahren das Prädikat des Satzes. Auch formal handelt es sich um keine typische Nominalphrase, da das Massennomen ohne Determinierer und overte Flexion auftritt. Schrott fahren liegt damit näher am intransitiven Pol als Sätze mit prototypischerem Objekt, was die Wahl von sein + V-PP fördert. Im vergleichbaren Beleg (37b) tritt aber haben + VPP auf. Das schwankende Hilfsverb lässt sich womöglich durch den uneindeutigen Transitivitätsgrad der Sätze erklären. (37a)

(37b)

Aber nicht nur mein Opa ist schon Schrott gefahren, sondern auch der Opa von meinem Opa. Das ist Tradition. (RHZ12/SEP.16882 Rhein-Zeitung, 15.09.2012, S. 17; Demo mit Schellen und klaren Worten) Gestern hat der Josef Jauche gefahren – und im ganzen Dorf hat es gestunken! (RHZ11/JUL.19323 Rhein-Zeitung, 19.07.2011, S. 20;)

Eine zweite Erklärungsmöglichkeit wäre, dass Jauche fahren für den Sprecher eine feste Phrase bildet, bei der nicht die Bewegung, sondern die Aktivität (Jauche verteilen) vordergründig ist. Im Folgenden wird deutlich, dass haben-Selektion bei inkorporiertem Objekt Ausnahmecharakter hat. Fortbewegungsmittel werden hier gesondert behandelt, da ihre semantische Rolle weniger eindeutig ist als bei den übrigen konkreten Objekten: Sie lassen sich sowohl als Patiens als auch als Instrument interpretieren (vgl. das Auto fahren vs. die Koffer fahren). Verglichen mit den zuvor betrachteten Fällen ist die Transitivität deshalb geschwächt. Eindeutig als Patiens fungiert ein Fortbewegungsmittel, wenn der Satz ein Direktional enthält. Das Direktional steigert die Patienshaftigkeit des Objekts, indem es 1) den Zielpunkt der Bewegung angibt und sie dadurch telisiert, 2) das direkte Objekt und die Verbalhandlung syntaktisch voneinander abgrenzt und damit eine Adjazenz verhindert, sodass beide in geringerem Maße eine semantisch-syntaktische Einheit bilden (vgl. das Auto fahren vs. das Auto nach Hause fahren). Das Fahrzeug wird dadurch stärker als distinkte Größe konzeptualisiert,

Ergebnisse Bewegungsverben | 285

die zu einem Ort hin bewegt wird. Ausnahmslos tritt in diesen hochtransitiven Sätzen haben + V-PP auf: (38a)

(38b)

Claudia Loher, eine der Trainerinnen, hat den Kleinbus von Trogen nach St. Gallen gefahren. (A11/OKT.04179 St. Galler Tagblatt, 11.10.2011, S. 41; Für den Verband ein Meilenstein) Der Pilot hat die T6 mit der Neun-Zylinder-Maschine […] schon am Morgen nach Weinheim geflogen […] (M11/SEP.01739 Mannheimer Morgen, 06.09.2011, S. 19; Und die Erde hat sie doch immer wieder)

80 60 60 haben

40

sein

20 2 0 gefahren

geflogen

Abb. 46: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit individuiertem Fortbewegungsmittel und Direktionalergänzung (absolute Zahlen)

Strukturell und semantisch verwandt sind idiomatisierte Konstruktionen wie etwas zu Schrott fahren oder tot fahren sowie die metaphorische Konstruktion etwas an die Wand fahren wie in (39). Hier gibt entweder eine Präpositionalphrase oder ein Objektsprädikativ einen Zielpunkt an und telisiert damit die Bewegung. Auch diese Sätze sind deshalb hochtransitiv und bilden ausnahmslos ein haben-Perfekt (196 Belege). (39a)

(39b)

Ein Autolenker hat am Montagabend seinen Wagen zu Schrott gefahren, weil er einem Hasen ausgewichen war […] (A11/MAR.05146 St. Galler Tagblatt, 16.03.2011, S. 48; Handy und Geld aus Büro gestohlen) Allein in der vergangenen Woche haben Raser in der Malbergstraße drei Katzen und ein Reh tot gefahren […] (RHZ12/JUL.27721 Rhein-Zeitung, 25.07.2012, S. 19; Leuteroder machen mobil gegen Raser)

286 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(39c)

«Die bürgerliche Mehrheit hat innerhalb der vergangenen vier Jahre die Kantonsfinanzenan die Wand gefahren.» (A12/FEB.06553 St. Galler Tagblatt, 15.02.2012, S. 33; Kantonsfinanzen: Die Crux mit Soll und Haben)

8.3.4.1 Schwankendes Perfekthilfsverb bei konkretem Objekt zwischen Patiens und Instrument Enthält der Satz keine Direktionalergänzung, ist die semantische Rolle eines individuierten Fortbewegungsmittels weniger klar: Es lässt sich als Patiens oder als Instrument interpretieren. Infolgedessen schwankt das Perfekthilfsverb. Zwar ist haben + V-PP weiterhin präferiert, doch kommt sein + V-PP durchaus vor: 300 243 250 200 haben

150 100

sein

45

50

9

7

0 gefahren

geflogen

Abb. 47: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit individuiertem Fortbewegungsmittel (absolute Zahlen)

Tab. 49: Hilfsverbwahl bei Bewegungsverben mit individuiertem Fortbewegungsmittel (absolute und relative Zahlen)

haben

sein

gefahren

243 (84,4%)

45 (15,6%)

geflogen

9 (56,3%)

7 (43,7%)

(40a)

Noch weiss die Polizei nicht, wer das Auto gefahren hat. (A12/JAN.00645 St. Galler Tagblatt, 06.01.2012, S. 40; Den fünf Tunesiern droht U-Haft)

Ergebnisse Bewegungsverben | 287

(40b)

(41a)

(41b)

„Wer einmal ein Elektroauto gefahren ist, fährt immer Elektroauto“ (A11/JAN.06573 St. Galler Tagblatt, 22.01.2011, S. 25; Japan ist die Teststrecke der „Stromer“) „Rund 500 Mal habe ich dieses Flugzeug geflogen, und immer funktionierte das Fahrwerk.“ (M11/NOV.00874 Mannheimer Morgen, 03.11.2011, S. 16; „Held von Warschau“ gefeiert) Das kann ich nicht beurteilen, weil ich dieses Flugzeug nie geflogen bin. (SOZ12/FEB.03849 Die Südostschweiz, 19.02.2012, S. 17; «Dann beginnt wirklich der Bazar!»)

Wie bereits erwähnt, wird Patienshaftigkeit durch Individuiertheit erhöht. Deshalb wird überprüft, ob die Individuiertheit des Akkusativs Einfluss auf die Hilfsverbwahl nimmt. Zu diesem Zweck werden die Fortbewegungsmittel beim Verb fahren nach Definitheit und Numerus klassifiziert, sodass sich die Klassen (42)– (45) ergeben.

(42a)

(42b)

(43a)

(43b)

(44a)

Definit Singular Es stellte sich heraus, dass der Mann getrunken hatte, keinen Fahrausweis besitzt und das Auto ohne Wissen des Besitzers gefahren hatte.(red.) (A12/APR.03482 St. Galler Tagblatt, 11.04.2012, S. 33; Flucht: Polizei schiesst auf Reifen) Bad Kreuznach. Wer ist das Auto gefahren? (RHZ11/NOV.08854 Rhein-Zeitung, 08.11.2011, S. 17; Wer war am Steuer?) Definit Plural Er selbst habe die Autos aus Wolfsburg aber noch nie gefahren. (BRZ12/MAI.01754 Braunschweiger Zeitung, 04.05.2012; Kunze‘sche Gedankensplitter-Verkettung) wie die Alfas, die ich in den letzten 20 Jahren gefahren bin. (BRZ11/DEZ.03555 Braunschweiger Zeitung, 07.12.2011; 20 Jahre Alfa –und keine Probleme) Indefinit Singular Auf Nachfrage bestritt der Mann, ein Auto gefahren zu haben. (BRZ12/JUL.02681 Braunschweiger Zeitung, 06.07.2012; 48-Jähriger fuhr nach Diebstahl betrunken Auto)

288 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(44b)

(45a)

(45b)

„Wer einmal ein Elektroauto gefahren ist, fährt immer Elektroauto“ (A11/JAN.06573 St. Galler Tagblatt, 22.01.2011, S. 25; Japan ist die Teststrecke der „Stromer“) Indefinit Plural Einige Modelle habe ich früher selber gefahren. (BRZ12/APR.10505 Braunschweiger Zeitung, 23.04.2012; Besucherrekord beim BMW-Treffen in Ilsede) Er ist in seinem Leben schon mehrere Golf-Modelle gefahren. (BRZ12/NOV.04276 Braunschweiger Zeitung, 09.11.2012; Werker glauben: Der wird wiedergut ankommen)

In der Klasse Definit Singular wurden außerdem generische Objekte wie in (46) von partikularen wie in (42) unterschieden.

(46a)

(46b)

Definit Singular Generisch Manfred Stanze […] hat den Opel-Mokka bereits Probe gefahren. (BRZ12/OKT.02520 Braunschweiger Zeitung, 05.10.2012; Mokka: Der neue Star von Opel) Herr Fiebig, sind Sie den neuen Golf schon zur Probe gefahren? (BRZ12/APR.01530 Braunschweiger Zeitung, 04.04.2012; „Der Golf VII wird für VW wichtiger als der Vorgänger“)

Für die Hilfsverbwahl ergeben sich folgende Ergebnisse für die Klassen: Tab. 50: Einfluss von Definitheit und Numerus des zweiten Aktanten auf die Hilfsverbwahl von gefahren im atelischen Satz (absolute Zahlen)

haben

sein

gesamt

Definit Sg.

127 (90,7%)

13 (9,3%)

140

Definit Pl.

14 (82,3%)

3 (17,6%)

17

Definit Sg. Generisch

21 (65,6%)

11 (34,4%)

32

Indefinit Sg.

67 (80,7%)

16 (19,3%)

83

Indefinit Pl.

14 (87,5%)

2 (12,5%)

16

gesamt

243 (84,4%)

45 (15,6%)

288

Ergebnisse Bewegungsverben | 289

140

127

120 100 80

67 haben

60

sein

40 20

13

21

14

3

16

11

14

2

0 Definit Sg.

Definit Pl.

Definit Sg.

Indefinit Sg. Indefinit Pl.

Generisch Abb. 48: Einfluss von Definitheit und Numerus des zweiten Aktanten auf die Hilfsverbwahl von Bewegungsverben im atelischen Satz (absolute Zahlen)

Tatsächlich überwiegt haben + V-PP in der Klasse Definit Sg. am stärksten. Außerdem wählen die partikularen definiten Objekte anteilmäßig häufiger die haben-Konstruktion als die indefiniten. Mit einem Chi-Quadrat-Test wurde überprüft, ob der Einfluss von Definitheit oder Numerus einen signifikanten Unterschied in der Hilfsverbwahl mit sich bringen. Zu diesem Zweck wurden zunächst alle partikularen definiten Objekte mit allen indefiniten verglichen, vgl. Tabelle 51. Tab. 51: Einfluss von Definitheit des Objekts (individuiertes Fortbewegungsmittel) auf die Hilfsverbwahl

haben

sein

gesamt

Definit Sg. u. Pl.

141

16

157

Indefinit Sg. u. Pl.

82

17

99

gesamt

223

33

256

Der Unterschied erwies sich nicht als signifikant (χ2 = 2.6348, p = 0.1). Die Hypothese, dass sich die Definitheit eines Fortbewegungsmittels auf die Hilfsverbwahl

290 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

auswirkt, kann somit auf Grundlage der Daten nicht bestätigt werden. Anschließend wurden die singularischen mit den pluralischen Objekten verglichen, vgl. Tabelle 52. Tab. 52: Einfluss von Numerus des Objekts (individuiertes Fortbewegungsmittel) auf die Hilfsverbwahl

haben

sein

gesamt

Singular

215

40

255

Plural

28

5

33

gesamt

243

45

288

Auch dieser Unterschied war nicht signifikant (χ2 = 0,0063, p = 0,9). Im Falle der Fortbewegungsmittel lässt die Individuiertheit somit keinen signifikanten Effekt erkennen. Beim Verb fahren sind Fortbewegungsmittel häufig in die Verbalhandlung inkorporiert, z.B. Auto fahren, Motorrad fahren. Formal handelt es sich um keine prototypischen Nominalphrasen, da sie weder einen Determinierer noch overte Nominalflexion besitzen. Semantisch sind die Objekte weder referentiell noch individuiert: Sie haben keinen spezifischen Referenten, sondern weisen generisch eine Klasse, z.B. die Klasse der Autos, aus. Objekt und Verbalhandlung lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen, vielmehr bilden sie eine enge semantische Einheit. Damit befinden sich diese Sätze nahe am intransitiven Pol. Im Einklang mit dieser Intransitivität überwiegt sein + V-PP im Korpus deutlich mit 384 zu 6 Belegen: Tab. 53: Hilfsverbwahl von gefahren bei inkorporiertem Objekt (absolute Zahlen)

gefahren

(47a)

haben

sein

gesamt

6 (1,5%)

384 (98,5%)

390

sein + V-PP Auf den ersten Metern habe ich großen Respekt. Ich bin noch nie Motorrad oder Roller gefahren. Hochkonzentriert fahre ich vom Hof. (NUZ11/SEP.02668 Nürnberger Zeitung, 29.09.2011, S. 3; Ein ElektroMotorroller im Selbsttest – So weit uns die Akkus tragen)

Ergebnisse Bewegungsverben | 291

(47b)

(48a)

(48b)

Insgesamt sind die Menschen in Deutschland 2011 mehr Zug gefahren. (NUZ12/MAR.02866 Nürnberger Zeitung, 30.03.2012, S. 21; Mitarbeiterbindung und Umweltschutz sind neue Primärziele – Bahn probt den Brückenschlag) haben + V-PP Ich bin zwar nie im Militär gewesen, aber habe für Behinderte Taxi gefahren. (A11/JUN.08002 St. Galler Tagblatt, 24.06.2011, 33; «So bin ich Söldner geworden») „Der hat nur Mercedes gefahren“, schmunzelt Bauer. (M11/SEP.00063 Mannheimer Morgen, 01.09.2011, S. 20;)

Es lässt sich festhalten, dass Sätze wie Auto fahren mit inkorporiertem Fortbewegungsmittel intransitiv sind. Dementsprechend bilden sie fast ausschließlich ein sein-Perfekt.

8.3.4.2 Abstrakta: sein-Tendenz aufgrund von Intransitivität Abstrakte Akkusative kommen bei einer größeren Anzahl Bewegungsverben vor als konkrete. Es handelt sich i.d.R. um Adverbiale, d.h. die Sätze sind intransitiv. Tabelle 54 und Abbildung 49 geben einen ersten Überblick über die Hilfsverbwahl in den Belegen. Die zweite Spalte Tabelle 54 enthält exemplarisch einige Abstrakta, die typischerweise in Verbindung mit den betreffenden Verben auftreten. Alle Verben zeigen eine klare sein-Tendenz. Tab. 54: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben bei abstrakten Akkusativen (absolute und relative Zahlen)

Mögliche Abstrakta

haben

sein

gesamt

gefahren

Rennen, Runden, Schleife, Slalom, Finale, Saison

39 (9,9%)

354 (90,1%)

393

gelaufen

Marathon, Runde, Rekord

13 (9,1%)

130 (90,9%)

143

geflogen

Kurve, Zielkreis

3 (16,7%)

15 (83,3%)

18

geschwommen

Rennen, Wettkampf

2 (3,5%)

55 (96,5%)

57

geritten

Rennen, Parcours, Prüfungen

5 (31,25%)

11 (68,75%)

16

62

565

627

gesamt

292 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

96,50%

100% 91%

90,10% 90%

83,30%

80% 68,75%

70% 60% 50%

haben

40%

31,25% sein

30%

16,70%

20%

9,90% 10%

9% 3,50%

0% gefahren (393) gelaufen (143) geflogen (18) geschwommen

geritten (16)

(57)

Abb. 49: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit abstrakten Akkusativen (absolute Zahlen in Klammern)

Die sein-Präferenz beträgt bei den meisten Verben über 90%, lediglich bei fliegen und reiten ist sie mit ~80% bzw. ~70% etwas schwächer ausgeprägt. Allerdings sind beide Verben im Korpus relativ selten mit abstraktem Objekt vertreten (16 und 18 Belege), weshalb die Zahlen weniger aussagekräftig sind. Trotz des uneindeutigeren Verhältnisses fügen sich aber auch fliegen und reiten in die allgemeine sein-Tendenz ein. Die Tendenz zu sein + V-PP lässt sich durch die Intransitivität der Sätze erklären. Vermutlich sind die wenigen haben-Belege durch erhöhte Patienshaftigkeit des Akkusativs und damit erhöhte Transitivität des Gesamtsatzes motiviert. Da Patienshaftigkeit durch Individuiertheit gesteigert wird, wurde überprüft, ob Individuiertheit einen Einfluss auf die Hilfsverbwahl nimmt. Zu diesem Zweck wurden auch die Abstrakta bei der Annotation nach Definitheit und Numerus klassifiziert, sodass sich die Merkmalskombinationen in (49)–(52) ergaben:

Ergebnisse Bewegungsverben | 293

(49a)

(49b)

(50a)

(50b)

(51a)

(51b)

(52a)

(52b)

Definit Singular Mein erstes Rennen war ich als 19-Jähriger gefahren. (A11/APR.08148 St. Galler Tagblatt, 26.04.2011, S. 45; Ein starker Kaffee mit Eiercognac) Gerne, nur allzu gerne hätten die Matrosen der Gorch Fock ihren Südamerika-Törn zu Ende gefahren. Zumal ein Ziel New York hieß. (BRZ11/MAI.04396 Braunschweiger Zeitung, 10.05.2011;) Definit Plural Der 40jährige Spanier war in der vergangenen Saison 14 Grands Prix für Sauber gefahren, ehe […] (A11/JUN.03565 St. Galler Tagblatt, 11.06.2011, S. 23; De la Rosa für Perez im zweiten Sauber) 390 Fahrten von der Gemeinde Niederhelfenschwil in das Gemeindegebiet von Uzwil oder in umgekehrter Richtung hat das Taxiunternehmen Toscanelli aus Uzwil in den vergangenen fünf Monaten gefahren. (A11/APR.09075 St. Galler Tagblatt, 28.04.2011, S. 41; Ruftaxi: 65 Fahrten im Monat) Indefinit Singular 10 Jahre alt, aber er ist am Samstagvormittag bereits ein Rennen in der 65ccm-Klasse gefahren. (A12/JUL.10894 St. Galler Tagblatt, 30.07.2012, S. 31; Donner, Lärm und Schlamm) Sie hat einen superguten Riesenslalom gefahren […] (BRZ11/FEB.09673 Braunschweiger Zeitung, 21.02.2011; „Wenn nur alle so konsequent ihre Ziele verfolgten wie Maria Riesch“) Indefinit Plural «Bisher bin ich in Muttenz immer gute Rennen gefahren.» Im letzten Jahr wurde Gallati dort Sechster. (SOZ12/AUG.05107 Die Südostschweiz, 22.08.2012, S. 11; Mit einem «guten Gefühl» zum Schlussspurt ansetzen) Engeli hat kleinere Touren in Weinfelden bereits gefahren. Bald wird er mit dem grossen Kühlwagen unterwegs sein. (A12/OKT.10897 St. Galler Tagblatt, 26.10.2012, S. 67; Der Milchmann klingelt wieder)

Eine zusätzliche Kategorie wurde für Inkorporation angesetzt (z.B. Marathon laufen, Wettkampf schwimmen/fahren): Inkorporierte Substantive sind semantisch weder nach Definitheit noch nach Numerus spezifiziert. Auch formal handelt es

294 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

sich nicht um prototypische NPs, da sie weder einen Determinierer noch overte Nominalflexion aufweisen.

(53)

Inkorporiert Die Olympiasiegerin Camille Muffat ist bei den französischen Kurzbahn Meisterschaften ebenso wie Jungstar Yannick Agnel Weltrekord geschwommen. (SOZ12/NOV.03554 Die Südostschweiz, 17.11.2012, S. 16; Französisches Rekordfestival)

Die fünf Klassen bilden ein Kontinuum abnehmender Individuiertheit, das sich von Definit Singular bis zu Inkorporiert erstreckt (vgl. Tabelle 55). Mit der Individuiertheit sinkt gleichzeitig die Patienshaftigkeit des Akkusativs. Die Untersuchung zeigt, dass der Grad der Individuiertheit die Wahl des Perfekthilfsverbs beeinflusst. Der Anteil von haben + V-PP steigt, je individuierter der Referent ist, vgl. Tabelle 55. Tab.55: Einfluss von Definitheit, Numerus und Inkorporation des abstrakten Objekts auf die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben (gesamt)

+Individuiert

- Individuiert

haben

sein

Def. Sg.

34 (18,1%)

154 (82,9%)

188

Def. Pl.

9 (14,3%)

54 (85,7%)

63

gesamt

Indef. Sg.

12 (9,1%)

120 (90,9%)

132

Indef. Pl.

6 (4,5%)

127 (95,5%)

133

Inkorporiert

--

68 (100%)

68

gesamt

61

523

584

Mit einem Chi-Quadrat-Test wurde überprüft, ob die (In)Definitheit des Abstraktums Einfluss auf die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben nimmt. Zu diesem Zweck wurden alle definiten mit allen indefiniten NPs verglichen, vgl. Tabelle 56. Tab. 56: Einfluss der (In)Definitheit des abstrakten Akkusativs auf die Hilfsverbwahl

haben

sein

gesamt

Definit (Sg.+Pl.)

43

208

251

Indefinit (Sg.+Pl.)

18

247

265

gesamt

61

455

516

Ergebnisse Bewegungsverben | 295

Es ergibt sich ein p-Wert von 0.0012 (χ2 = 10,4198), womit sich der Einfluss von Definitheit auf die Hilfsverbwahl als signifikant erweist. Da bei Inkorporation sein + V-PP mit 100% gewählt wurde, war ein Signifikanztest nicht erforderlich. Die fünf Klassen in Tabelle 55 decken allerdings nicht alle Belege mit abstraktem Akkusativ ab. Das Korpus enthält NPs wie persönliche Bestzeit oder Jahresbestzeit (schwimmen/laufen/fahren) und quantifizierende Angaben wie 1:52,7 schwimmen, die schwer zuzuordnen sind. Semantisch sind sie zwar definit, da das superlativische Kompositionserstglied bzw. Adjektiv (Bestzeit/schnellste Zeit) oder der Quantor eine unifizierende Wirkung hat. Allerdings enthalten die NPs keinen Determinierer. Formal gleichen sie damit eher inkorporierten Substantiven. Diese formale Ähnlichkeit ist möglicherweise die Ursache dafür, dass die 40 Belege nahezu ausnahmslos (39:1 Belege) ein sein-Perfekt bilden. Es wird deutlich, dass nicht nur semantische, sondern auch formale Merkmale Einfluss auf die Objekthaftigkeit einer NP nehmen. Eine Teilgruppe der oben betrachteten abstrakten Akkusative bezeichnet ein Ziel oder Ergebnis, das durch eine sportliche Leistung erreicht wurde (vgl. 54 und 55). Es handelt sich um NPs mit einem positiv-evaluativen Adjektiv bzw. Kompositionserstglied wie in sensationelle Zeit oder Bestzeit bzw. um positiv konnotierte Substantive wie Rekord. (54a)

(54b)

(54c)

(55a)

(55b)

Er hatte im zweiten Durchlauf eine sensationelle Zeit gefahren. (BRZ12/DEZ.04506 Braunschweiger Zeitung, 10.12.2012; Stefan Luitz sensationell Zweiter) Im Schweizer-Final in Sitten VS hat der Hefenhofer Stiward Peña […] Sekunden die schnellste Zeit gelaufen. (A12/SEP.13496 St. Galler Tagblatt, 29.09.2012, S. 63; Stiward Peña läuft der Konkurrenz davon) Aber es gibt Athleten, die haben in London neue Schweizer Rekorde geschwommen. (SOZ12/AUG.01218 Die Südostschweiz, 03.08.2012, S. 21; Gian Gilli: «Es ist ja nicht alles zusammengestürzt») Bei den deutschen Meisterschaften Anfang Juni war vom Lehn die weltweit zweitschnellste Zeit des Jahres geschwommen. (M11/JUL.07992 Mannheimer Morgen, 30.07.2011, S. 10) Jörg Schütz (Lauftreff Puderbach) ist beim 31. Frankfurt-Marathon erneut eine persönliche Bestzeit über die 42,195 Kilometer gelaufen. (RHZ12/NOV.09813 Rhein-Zeitung, 09.11.2012, S. 13; Schütz läuft 2:55,56 Stunden [Ausführliche Zitierung nicht verfügbar])

296 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Diese Abstrakta beschreiben ein im Wettkampf erzieltes Ergebnis und sind damit graduell individuierter als die übrigen Abstrakta. Mit der Individuiertheit steigt erneut die Transitivität des Gesamtsatzes (z.B. die schnellste Zeit schwimmen). Die Belege tendieren deshalb etwas stärker zu haben + V-PP, auch wenn sein + V-PP insgesamt überwiegt. Tabelle 57 präsentiert die Ergebnisse, die in den betreffenden Sätzen für die Hilfsverben erzielt wurden: Tab. 57: Abstrakter Akkusativ als erreichtes Ziel

Beispiele Objekte

haben

sein

gesamt

16

43

59

2

51

53

1

--

1

--

--

--

gelaufen

8

35

43

gesamt

27

129

156

gefahren geschwommen geritten geflogen

Bestzeit, Weltrekord, schnellste Zeit

Mit einem Chi-Quadrat-Test wurde die Hilfsverbwahl der Abstrakta in Tabelle 57 mit allen übrigen Abstrakta verglichen (vgl. Tabelle 58). Bei p = 0.0016 (χ2 = 12.8178) erweist sich die Semantik des Abstraktums als hochsignifikant. Tab. 58: Einfluss der Semantik auf die Hilfsverbwahl der Abstrakta

haben

sein

gesamt

Erreichtes Ergebnis

27

129

156

Andere Abstrakta

35

436

471

gesamt

62

565

627

In den bisher betrachteten Daten wurden (teil)idiomatisierte Phraseologismen nicht berücksichtigt. Idiome lassen sich bei den prototypischen Bewegungsverben im Korpus aber häufig beobachten. Oft trat z.B. das Konstruktionsmuster in (56) auf, das v.a. in den Zeitungstexten regelmäßig zur Beschreibung von Kriegshandlungen genutzt wird.

Ergebnisse Bewegungsverben | 297

(56)

Angriffe/Attacken/Einsätze/Konter fliegen/schwimmen/reiten/fahren

Der teilidiomatisierte Phraseologismus enthält einen Akkusativslot, der mit einem Abstraktum aus dem Bedeutungsfeld ‘Angriff’ gefüllt wird, sowie einen Slot für ein Bewegungsverb. Die Bedeutung lässt sich paraphrasieren mit ‘aus einer Bewegung angreifen’. Im Korpus tendiert dieses Konstruktionsmuster stärker zu haben + V-PP als die zuvor betrachteten Sätze mit abstraktem Akkusativ. Dies ist durch den idiomatischen Sonderstatus der Konstruktion und ihre relative Frequenz erklärbar, die offensichtlich zu einem ebenfalls idiomatisierten Perfekthilfsverb führen. Tab. 59: Hilfsverbwahl der teilidiomatisierte Phrase Angriffe/Einsätze etc. fahren/fliegen…

haben

sein

gesamt

geflogen

95

13

108

geritten

4

1

5

geschwommen

2

--

2

gefahren

44

7

51

gelaufen

1

1

2

gesamt

146

22

168

(57a)

(57b) (57c)

Amerikanische, französische und britische Kampfflugzeuge haben seit Samstag Angriffe geflogen […] (A11/MAR.06818 St. Galler Tagblatt, 21.03.2011, S. 1; Luftschläge gegen Libyen – Gadhafi droht mit Vergeltung) 26 000 Einsätze sind ihre Kampfflugzeuge geflogen. (BRZ11/OKT.10850 Braunschweiger Zeitung, 22.10.2011;) „Die ehrenamtlichen Helfer sind zahlreiche Einsätze Tag und Nacht gefahren, auch die nahegelegene Autobahn gehörte zum Einsatzgebiet“, berichtet Bernd Grendel. (RHZ12/MAI.12310 Rhein-Zeitung, 11.05.2012, S. 20; Die Hilfe am Nächsten hat in Asbach Tradition)

Ein Chi-Quadrat-Test zeigt, dass die haben-Tendenz des Phraseologismus höchstsignifikant ist (χ2 = 406.8845, p < .001).

298 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Tab. 60: Hilfsverbwahl beim teilidiomatischen Konstruktionsmuster Angriffe fliegen (Beobachtete Häufigkeiten)

haben

sein

gesamt

Angriffe/Attacken/Einsätze/Konter fliegen/schwimmen/reiten/fahren

146

22

168

Abstraktum + Bewegungsverb (andere)

62

565

627

gesamt

208

587

795

Einen ähnlichen Effekt zeigen weitere, stärker idiomatisierte Phraseologismen mit dem Verb fahren wie in (58). Sie haben eine übertragenere Bedeutung als das zuvor betrachtete Konstruktionsmuster. Bspw. bezeichnen sie keine Bewegung. (58)

Kampagne/Kurs/Linie/Schicht/Tour/Programm/Risiko fahren

Auch wenn beide Hilfsverbkonstruktionen möglich sind, überwiegt haben + VPP mit 41 zu 15 Belegen erneut eindeutig (vgl. Abbildung 50). Auch der Einfluss dieses Idioms im Vergleich zu den übrigen Abstrakta erweist sich als hochsignifikant aus (χ2 = 160,9808, p < 0,001).

60

41

40

haben

20

sein

0 Kampagne/Kurs/Linie/Risiko etc. fahren

Abb. 50: Hilfsverbwahl in der idiomatisierten Phrase Kampagne/Kurs/Linie/Risiko etc. fahren

(59a)

(59b)

(60a)

„Beide sind einen klaren Kurs gefahren. Der Bürgermeister muss nun einmal dem Ratsauftrag folgen.“ (RHZ12/FEB.23914 Rhein-Zeitung, 22.02.2012, S. 25; Der Verkauf des Saunarium ist vorerst geplatzt) „In den letzten Jahren haben wir immer denselben Kurs gefahren.“ (NON11/FEB.02218 Niederösterreichische Nachrichten, 02.02.2011; ‚Wird ein Schlüsseljahr‘) „Am Dienstag sind sie ein klasse Programm gefahren.“

Ergebnisse Bewegungsverben | 299

(60b)

(RHZ11/MAR.14270 Rhein-Zeitung, 12.03.2011, S. 13; Hoffnungsvolles Trio) In Ascona hatte das Municipio eine intensive Nein-Kampagne gefahren und den Bürgern alle Nachteile einer Fusion aufgelistet. (SOZ11/NOV.04401 Die Südostschweiz, 21.11.2011, S. 15; Ascona will allein bleiben)

8.3.4.3 Pfad-Akkusative: Deutlichste Präferenz von sein + V-PP Akkusative mit der semantischen Rolle Pfad bezeichnen den Weg, über den sich der Subjektreferent bewegt. I.d.R. sind Pfad-Akkusative Adverbiale, weshalb es sich überwiegend um intransitive Sätze handelt. Die Gruppe enthält recht heterogene Vertreter: Neben prototypischen NPs wie eine Strecke oder einen Weg gibt es numerische Entfernungsangaben wie 350.000 Kilometer, die weder einen Determinierer noch overte Nominalflexion aufweisen. Erstere gleichen z.T. den oben betrachteten Abstrakta, weshalb es in einigen Fällen schwierig war, eine klare Trennlinie zu ziehen, vgl. Sie ist eine Runde gelaufen (Pfad) vs. Sie ist eine erfolgreiche Runde gelaufen (Abstrakt). Bei numerischen Streckenangaben ist fraglich, ob überhaupt von einem Akkusativ gesprochen werden kann, da der Kasus hier nicht flexivisch markiert ist. Entsprechend ihrer Intransitivität tendieren die Sätze mit Pfadakkusativ stark zu sein + V-PP. (61a)

(61b)

(61c)

„[…] habe nachher auf meiner GPS-Uhr festgestellt, dass ich einen Umweg geschwommen bin“, berichtet Breuer. (RHZ12/FEB.23914 Rhein-Zeitung, 22.02.2012, S. 25; Der Verkauf des Saunarium ist vorerst geplatzt) Alle Piloten […] sind unzählige Male diese Strecke geflogen. (A11/MAR.01864 St. Galler Tagblatt, 05.03.2011, S. 41; People’s-Piloten fliegen Maschinen von Ex-Formel-1-Weltmeister Lauda) Rund 50 000 Kilometer ist er in diesem Jahr geflogen […]. (BRZ12/OKT.05479 Braunschweiger Zeitung, 11.10.2012; Ein Jahr im Land der Kängurus)

Tabelle 61 und Abbildung 51 geben einen Überblick über die Hilfsverbwahl der Bewegungsverben bei Pfadakkusativ. Die Sätze weisen fast ausnahmslos sein + V-PP auf, haben + V-PP macht maximal 2,2% aus.

300 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Tab. 61: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit einem Pfadakkusativ (absolute Zahlen)

haben

sein

gesamt

gefahren

8

360

368

gelaufen

1

49

50

geflogen

1

58

59

geritten

0

5

5

geschwommen

1

56

57

gejoggt

0

11

11

gesamt

11

539

550

100,00% 90,00% 80,00% 70,00% 60,00% 50,00% 40,00% 30,00% 20,00% 10,00% 0,00%

97,80%

98%

98,30%

100%

98,20%

100%

haben sein 2,20%

2%

1,70%

0%

1,80%

0%

Abb. 51: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit einem Pfadakkusativ (relative Zahlen)

Der Hilfsverbwechsel scheint semantisch motiviert zu sein. Die wenigen habenBelege wirken transitiver als die Sätze mit sein + V-PP, vgl. (62). Die Strecke wird als Ergebnis präsentiert, das bspw. durch eine sportliche Leistung erreicht wurde. Damit ähneln die Belege semantisch den oben besprochenen Abstrakta, die ein erreichtes Ziel oder Ergebnis bezeichnen. Es wird deutlich, dass haben + V-PP so stark mit semantischer Transitivität verbunden ist, dass die Konstruktion selbst die transitive Interpretation hervorrufen kann.

Ergebnisse Bewegungsverben | 301

(62a)

(62b)

Nachdem die jungen Sportler erfolgreich die geforderten Strecken geschwommen hatten, verbachten sie und die Betreuer noch schöne Stunden im Hallenbad. (RHZ11/AUG.18380 Rhein-Zeitung, 16.08.2011, S. 22; Sportabzeichen war ein echter Ferienspaß) 548 000 Kilometer haben sie in dieser Zeit gefahren. Sie haben also über 13mal die Erde umrundet. (A11/AUG.07429 St. Galler Tagblatt, 25.08.2011, S. 53; 31 Jahre zusammen unterwegs)

8.3.4.4 Hilfsverbwahl bei Reflexivpronomen Sätze mit Reflexivpronomen werden in den Standardgrammatiken zu den eindeutigen haben-Kontexten gezählt (s. Kap. 5.1.1). Dabei entsteht der Eindruck, es handele sich um eine rein formal konditionierte Regel und in allen Sätzen trete unterschiedslos haben + V-PP auf. Die Korpusuntersuchung zeigt aber, dass hier eine feinere Unterscheidung nach Transitivität vorzunehmen ist. Die Daten weisen drei unterschiedliche Fälle mit Reflexivpronomen aus: Die erste Gruppe enthält ein patienshaftes Reflexivpronomen im Akkusativ. Die hochtransitiven Sätze bezeichnen die Zustandsveränderung eines Patiens, das aber koreferent mit dem Agens ist, vgl. (63). Alle 74 Belege des Typs weisen haben + V-PP auf. (63a)

(63b) (63c)

Bis wir uns raus geschwommen haben, hat es ganz schön gedauert. (HMP11/SEP.00416 Hamburger Morgenpost, 04.09.2011, S. 34; 2822 Ein Kraftakt zum Auftakt – Meister startet mit Arbeitssieg gegen Lübbecke in die Saison – Ange) «Ein Teil der Völker hatte sich wohl bereits im Herbst kahl geflogen» (A12/JUN.00508 St. Galler Tagblatt, 01.06.2012, S. 45; Varroamilbe) Ihr habt euch in unsere Herzen getanzt […] (BRZ11/NOV.16096 Braunschweiger Zeitung, 28.11.2011; „Als ob nur einer atmet“)

Auch in der zweiten Gruppe handelt es sich um Resultativkonstruktionen. Patiens ist allerdings nicht das Reflexivpronomen, sondern eine weitere NP im Akkusativ, vgl. (64a). Das Reflexivpronomen steht im Dativ und bringt zum Ausdruck, dass das Subjekt der Zustandsträger ist. Auch diese hochtransitiven Sätze bilden nahezu ausnahmslos ein haben-Perfekt (insgesamt 25 von 26 Belegen).

302 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

(64a)

weil sie zu wenig getrunken oder sich ein paar Blasen gelaufen hatten. (RHZ11/MAI.16004 Rhein-Zeitung, 14.05.2011, S. 22; SWR-Wandertag hinterlässt Eindrücke)

Einmal tritt überraschenderweise aber sein + V-PP auf. Dieser Beleg wirkt auch aufgrund der Verbspitzenstellung im Aussagesatz konzeptionell mündlich. (64b)

wir haben uns echte professionelle Jugendarbeit gewünscht – sind wir uns die Füße wund gelaufen, dass es eine anständige Förderung gibt. (BVZ12/MAI.00321 Burgenländische Volkszeitung, 03.05.2012; Geld für geplanten E-Cube)

Die dritte Gruppe ist im Gegensatz zu den vorherigen Belegen intransitiv. Neben dem Reflexivpronomen im Dativ gibt es kein weiteres Objekt. Es handelt sich ausschließlich um die teilidiomatisierte Phrase sich über den Weg laufen (23 Belege). Anders als in den vorherigen Belegen bezieht sich das Pronomen reziprok auf eine Gruppe von Referenten. Auffälligerweise wird in diesen intransitiven Belegen ausschließlich ein sein-Perfekt gebildet. (65)

Kennengelernt haben sich die beiden, weil sie sich „irgendwann mal über den Weg gelaufen sind“. (RHZ11/DEZ.00819 Rhein-Zeitung, 01.12.20)

Es wird deutlich, dass ein Reflexivpronomen nicht pauschal zu einem haben-Perfekt führt. Somit handelt es sich um keine rein formal konditionierte Regel. Intransitive Bewegungen bilden selbst bei Reflexivpronomen ein sein-Perfekt.

8.3.5 Zusammenfassung: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben In der Intransitivkonstruktion bilden Bewegungsverben nahezu ausnahmslos ein sein-Perfekt. Anders als z.B. im Ndl. (vgl. Kap. 5.1.2.3) ist sein + V-PP auch bei atelischen Bewegungen stark präferiert. Während weder eine aspektuelle Differenzierung noch die Agentivität des Subjekts eine Rolle spielt, wirkt sich die Tokenfrequenz des Bewegungsverbs darauf aus, wie entschieden es sein + V-PP wählt. Auffälligerweise bilden gerade die hochfrequenten Verben gehen, fahren, fliegen und laufen in der Intransitivkonstruktion ausnahmslos ein sein-Perfekt, wohingegen die mittelfrequenten Verben schwimmen und reiten immerhin zu 3%

Ergebnisse Bewegungsverben | 303

und die niedrigfrequenten Anglizismen zwischen 11%–25% haben + V-PP aufweisen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Mikrokonstruktion mit sein im Bereich der Hochfrequenz (stärker) lexikalisiert ist. Die sein-Selektion der Bewegungsverben lässt sich allerdings nicht allein durch Lexikalisierung erklären. Denn selbst neu entlehnte Bewegungsverben präferieren trotz geringer Konventionalisierung und niedriger Frequenz sein + VPP und tanzen wechselt systematisch zu sein + V-PP, wenn es sich nicht auf eine Aktivität, sondern auf eine Bewegung bezieht. Im Gegenwarstdt. besteht somit ein produktives Schema, in dem die Mikrokonstruktion mit sein mit Bewegungssemantik verknüpft ist. Umgekehrt wechseln Bewegungsverben bei fehlender Bewegungssemantik nicht systematisch zu haben + V-PP. Während die frequenten Bewegungsverben fahren, laufen und fliegen auch in idiomatisierten Phrasen wie Die Sache ist gut gelaufen/Wir sind damit gut gefahren ausschließlich sein + V-PP aufweisen, erlaubt das mittelfrequente geschwommen im vergleichbaren Idiom Wir sind/haben ziemlich geschwommen immerhin in einem Drittel der Fälle haben + V-PP. Anteilmäßig etwas häufiger wechseln die niedrigfrequenten Anglizismen bouldern, biken, walken und skaten zu haben + V-PP, wenn nicht die Fortbewegung, sondern die Aktivität im Vordergrund steht. Somit wird auch bei fehlender Bewegungssemantik sein +V-PP umso konsequenter gewählt, je tokenfrequenter das betreffende Verb ist. Das sein-Schema wird aber von der Transitivitätsregel überlagert. Bewegungsverben wählen umso kategorischer haben + V-PP, je transitiver der Satz ist. Dabei spielt im Wesentlichen die Patienshaftigkeit des Akkusativs eine Rolle, die durch die Individuiertheit des Referenten und die Telizität der Bewegung erhöht wird. Sätze mit einem eindeutigen Patiens-Akkusativ bilden ausnahmslos ein haben-Perfekt. Hierzu zählen belebte Objekte, die an der Spitze der Individuiertheitsskala stehen (z.B. die Kinder fahren), aber auch konkrete Objekte, sofern es sich nicht um Fortbewegungsmittel handelt (z.B. die Koffer fahren). Fortbewegungsmittel oszillieren zwischen der semantischen Rolle Patiens und Instrument (z.B. das Auto fahren). Ein Direktional kann hier die semantische Rolle vereindeutigen (z.B. das Auto in die Garage fahren). Es setzt der Bewegung eine explizite Grenze und telisiert sie. Zusätzlich verhindert es eine Adjazenz von Objekt und Bewegungsverb, sodass sie als eigenständige syntaktische Einheiten konzeptualisiert werden. Beides führt dazu, dass die Patienshaftigkeit des Objekts und damit die Transitivität des Satzes steigt. Die betreffenden Sätze bilden ausnahmslos ein haben-Perfekt.

304 | Korpusuntersuchung Neuhochdeutsch

Ohne Direktional ist dagegen nicht eindeutig, ob das Fortbewegungsmittel das bewegte Objekt oder das Instrument der Bewegung ist. Die syntaktische Adjazenz führt außerdem dazu, dass der Akkusativ stärker in die Verbalhandlung integriert ist. Infolgedessen schwankt das Hilfsverb in diesen Sätzen. Zwar überwiegt haben + V-PP bei individuiertem Referenten, der Unterschied erwies sich aber nicht als signifikant. Ist das Fortbewegungsmittel in die Verbalhandlung inkorporiert (z.B. Auto fahren), sind die Sätze eindeutig intransitiv. Ein sein-Perfekt ist hier obligatorisch. Auch bei abstraktem Akkusativ korreliert die Hilfsverbwahl mit dem Transitivitätsgrad des Satzes (z.B. den/einen/Ø Marathon laufen). Da abstrakte Akkusative i.d.R. adverbial oder sogar inkorporiert sind, tendieren die Belege stark zu sein + V-PP. Der Anteil des haben-Perfekts steigt mit der Individuiertheit und damit einhergehend der Patienshaftigkeit des Abstraktums. Sätze mit definitem Abstraktum wählen signifikant häufiger haben + V-PP als Sätze mit indefinitem Abstraktum. Bei Inkorporation ist sein + V-PP erneut obligatorisch. Einen Effekt zeigt in dieser Gruppe auch die Semantik des Objekts: Beschreibt das Abstraktum ein in einem Wettkampf erreichtes Ergebnis (z.B. Weltrekord laufen), wird haben + V-PP signifikant häufiger gewählt als in den Gesamtbelegen mit abstraktem Akkusativ. Diese Akkusative sind aufgrund ihrer Semantik vermutlich individuierter. In (teil)idiomatisierten Phrasen wie Angriffe fliegen, Programm fahren überwiegt haben + V-PP sogar. Diese Sätze haben auch das Hilfsverb idiomatisiert. Pfadakkusative, die ebenfalls zumeist Adverbiale sind, präferieren sein + V-PP am deutlichsten. Interessanterweise kann haben + V-PP die Transitivität dieser Sätze erhöhen: Streckenangaben werden mit einem haben-Perfekt stärker als Ergebnis, das im Wettkampf oder bei einer sportlichen Aktivität erzielt wurde, aufgefasst (z.B. sie hat die 100 Meter gelaufen). Es wird deutlich, dass die Mikrokonstruktion selbst mit hoher Transitiver verbunden ist. Auffälligerweise zeigt sich der Einfluss semantischer Transitivität auch in Sätzen mit Reflexivpronomen: Im transitiven Satz tritt haben + V-PP auf, intransitive Bewegungen mit einem dativischen Reflexivpronomen bilden dagegen ein sein-Perfekt. Abbildung 52 fasst die Ergebnisse, die zur Hilfsverbselektion von Bewegungsverben mit Akkusativ gemacht wurden, in einer Übersicht zusammen.

Ergebnisse Bewegungsverben | 305

HABEN + V-PP

SEIN + V-PP

TRANSITIV

INTRANSITIV

PATIENSHAFT INKORPORIERT

INDIVIDUIERT

nicht-referenziell

konkret, definit, referenziell

kein Determinierer keine Nominalflexion

Sie hat die Kinder gefahren Sie hat den

Sie hat/ist den

Sie ist Mercedes

Mercedes in die

Mercedes gefahren.

gefahren.

Garage gefahren.

Sie ist/hat den

Sie ist (einen) Marathon

Marathon gelaufen.

gelaufen.

Sie hat die Koffer

Sie hat/ist

Sie hat/ist

gefahren.

Bestzeit

die 100 km

gelaufen.

(in 1 Stunde)

Sie ist 100 km gefahren.

gefahren. Abb. 52: Hilfsverbwahl der Bewegungsverben mit Akkusativergänzung

9 Haben + V-PP und sein + V-PP im Neuhochdeutschen: Theoretische Interpretation der Ergebnisse Dieses Kap. fasst die wichtigsten Ergebnisse der empirischen Untersuchung in Kap. (8) zusammen und erklärt sie theoretisch. Zunächst widmet es sich der temporal-aspektuellen Funktion der Konstruktionen, insbesondere der Frage, warum sein + V-PP stärker zur Resultativität tendiert als haben + V-PP (Kap. 9.1). Anschließend werden die Ergebnisse, die für die Hilfsverbwahl der Degree Achievements und Bewegungsverben erzielt werden, knapp skizziert und verglichen (Kap. 9.2). Es werden mögliche Ursachen aufgeführt, dass sich im Dt. ein produktives Bewegungsschema bei der Hilfsverbwahl herausbildet (Kap. 9.2.1). Das daneben existierende Transitivschema wird als Persistenzmerkmal erklärt (Kap. 9.2.2).

9.1 Warum tendiert sein + V-PP so stark zur Resultativität Haben + V-PP und sein + V-PP zeigen im Gegenwartsdt. systematische Mehrdeutigkeit: Sie dienen sowohl als Resultativ als auch als Präsensperfekt und Vergangenheitsmarker. Die letzten beiden Funktionen gehen diachron aus dem Resultativ hervor, wobei das Präsensperfekt die Brücke zum Vergangenheitsmarker bildet (vgl. Kap. 4). Heute nimmt es eine funktionale Zwischenposition ein. Aufgrund der engen semantischen Verwandtschaft nehmen kompetente SprecherInnen des Dt. vermutlich keine Unterscheidung zwischen Präsensperfekt und Vergangenheit vor, was in Tabelle 62 (wie in Kap. 2.3) durch die fehlende Trennlinie angedeutet ist. Tab. 62: Temporal-aspektuelle Funktionen von sein + V-PP und haben + V-PP

sein + V-PP Resultativ

Viele Jahre sind vergangen.

haben + V-PP Die Welpen haben die Augen geschlossen.

Präsensperfekt Sie ist gerade angekommen.

Ich habe schon gegessen.

Vergangenheit Goethe ist 1893 gestorben.

Caesar hat den Rubikon überschritten.

Warum tendiert sein + V-PP so stark zur Resultativität | 307

Auffälligerweise tendieren haben + V-PP und sein + V-PP unterschiedlich stark zu diesen temporal-aspektuellen Funktionen: Bei sein + V-PP stellt sich Resultativität leichter ein als bei haben + V-PP (s. auch Kap. 5.1.4.2). (1a) (1b) (2a) (2b)

Die Briefe sind angekommen. Die Blumen sind verblüht. Sie hat die Augen verbunden. Sie hat einen Apfel gegessen.

Es stellt sich die Frage, warum Resultativität bei sein + V-PP stärker aktiviert ist als bei haben + V-PP. Hierfür lassen sich verschiedene, ineinandergreifende Erklärungen anführen. 1) Markiertheit: Das resultative haben + V-PP ist markierter als das resultative sein + V-PP, vgl. (3). Es ist natürlicher, den Zustand eines einzigen, unmittelbaren Zustandsträgers (die Blumen in 3a) zu beschreiben als den Zustand eines mittelbaren (das Mädchen in 3b) an einem unmittelbaren Zustandsträger (die Augen in 3b). Deshalb tritt die resultative haben-Konstruktion insgesamt infrequenter auf. (3a) (3b)

Die Blumen sind verblüht. Das Mädchen hat die Augen verbunden.

2) Typen- und Tokenfrequenz von haben + V-PP: Das resultative haben + V-PP ist u.a. deshalb so auffällig, weil es auf wenige, sehr spezifische Kontexte beschränkt ist: Neben einem Verb mit inhärentem Zielzustand ist ein Objekt, das in einer Pars-Pro-Toto-Beziehung zum Subjekt steht, erforderlich. Dagegen unterliegt das nicht-resultative haben + V-PP kaum Bildungsbeschränkungen, vgl. Tabelle 63. Die nicht-resultative Verwendung ist infolgedessen deutlich typen- und gleichzeitig tokenfrequenter als das resultative haben + V-PP. Diese Frequenzverhältnisse führen wiederum dazu, dass die Konstruktion stärker mit den nicht-resultativen Verwendungen assoziiert ist und sich diese leichter einstellt.

308 | Haben + V-PP und sein + V-PP im Neuhochdeutschen:

Tab. 63: Exemplarische Verwendungskontexte des resultativen vs. nicht-resultativen haben + V-PP

[+ Zielzustand] [+ telisch] [+ Objekt-TeilGanzes-Beziehung]

[- Zielzustand] [+ telisch] [+ Objekt]

[- Zielzustand] [- telisch] [- Objekt]

Resultativ

Sie hat die Augen (jetzt) verbunden.

--

--

Präsensperfekt/ Vergangenheit

Sie hat die Augen (gestern) verbunden.

Sie hat einen Apfel gegessen.

Sie hat telefoniert.

3) Geringe Typenfrequenz von sein + V-PP: Dagegen hat sich sein + V-PP im Zuge seiner Grammatikalisierung in deutlich geringerem Maße auf neue Kontexte ausgebreitet als haben + V-PP. Die Mikrokonstruktion hat über die ursprüngliche telische Domäne hinweg nur vereinzelte atelische Verben erfasst: Neben den Kopulaverben sein und bleiben sind es im Wesentlichen die Bewegungsverben, die bei atelischer Aktionsart ein sein-Perfekt bilden. Auf Transitive vermochte sich die Konstruktion nicht auszubreiten. Infolge dieser schwachen Extension konzentriert sich die Konstruktion nach wie vor auf Kontexte, in denen sich die resultative Funktion leicht einstellt. Daneben gibt es eine Reihe von Verwendungen mit telischen Verben, die zwar keinen Zielzustand besitzen und deshalb im strengen Sinne kein Resultativ bilden, aber ein Resultatsperkt (vgl. Kap. 4.3 u. 4.4.14.4.2) und dem Resultativ funktional gleichen, vgl. Tabelle 64. Tab. 64: Verwendungskontexte des resultativen vs. nicht-resultativen sein+ V-PP

[+ Zielzustand] [+ telisch]

[- Zielzustand] [+ telisch]

[- Zielzustand] [- telisch]

Resultativ

Die Blumen sind (jetzt) verblüht.

--

--

Präsensperfekt/ Vergangenheit

Die Blumen sind (im letzten Winter) verblüht.

Sie ist (gerade) gekommen.

Sie ist Lehrerin gewesen.

Warum tendiert sein + V-PP so stark zur Resultativität | 309

4) Formal und funktional verwandte Konstruktionen: Dass sich sein + V-PP nur schwach auf neue Kontexte ausgebreitet hat, hängt mit dem umgebenden Konstruktionsnetzwerk zusammen. Die Mikrokonstruktion ‚konkurriert‘ mit dem funktionsähnlichen haben + V-PP, das relativ schnell neue Kontexte erfasst und dadurch eine starke Extension von sein + V-PP eindämmt. Diese Situation wird zusätzlich durch das formidentische Zustandspassiv verschärft: Transitive Verben bilden auch deshalb kein sein-Perfekt, weil sie in der Konstruktion bereits passive Lesart ausbilden (Z.B. gestrichen sein).1 Das umgebende Konstruktionsnetzwerk verhindert somit eine starke Extension von sein + V-PP, sodass die Konstruktion nur eine geringe Typenfrequenz (und gleichzeitig Tokenfrequenz) erreicht. Dazu kommt, dass das Zustandspassiv das resultative Schema verstärkt: Da die passive Konstruktion nur resultativ (oder stativ) gebraucht wird, ist Resultativität bei sein + V-PP insgesamt stärker aktiviert und leichter zugänglich als bei der Schwesterkonstruktion mit haben. Alles in allem tendiert sein + V-PP stärker zur Resultativität als haben + V-PP. Dies liegt u.a. daran, dass sich sein + V-PP nach wie vor auf den Ursprungskontext bzw. Kontexte, die dem historischen Ursprung gleichen, konzentriert und nur in geringem Maße auf atelische Verben ausgebreitet hat. In den ursprünglichen Kontexten stellt sich Resultativität leicht ein. Das resultative Schema wird zusätzlich durch das formidentische Zustandspassiv verstärkt, das immer resultativ (oder stativ) ist. Dagegen ist haben + V-PP in der nicht-resultativen Funktion deutlich typen- und gleichzeitig tokenfrequenter als in der resultativen. Diese Frequenzverhältnisse bewirken wiederum, dass die Mikrokonstruktion stärker mit Präsensperfekt bzw. Vergangenheit assoziiert ist als mit Resultativität. Die geringe Ausbreitung von sein + V-PP ist durch seine besondere Verflechtung in das umgebenden Konstruktionsnetzwerk bedingt: Zum einen erschwert das konkurrierende haben-Perfekt eine stärkere Extension, da es relativ schnell viele Kontexte erfasst hat. Zum anderen verhindert das formidentische Zustandspassiv ein sein-Perfekt bei transitiven Verben.

|| 1 Dass eine formidentische passive Konstruktion nicht notgedrungen eine Extension auf transitive Sätze verhindert, zeigt das Ndl. Hier bilden bestimmte transitive Verben ein zijn-Perfekt (vgl. Lieber/Baayen 1997, Gillmann 2015). Im Unterschied zum Dt. ist das ndl. zijn-Passiv allerdings nicht notwendigerweise resultativ, sondern bildet auch das Perfekt Passiv (vgl. ndl. Zij is gevraagd ‘Sie ist gefragt worden’). Aktive und passive Konstruktion bilden damit im Ndl. wohl eine stärkere Einheit als im Dt. In Gillmann (2015) wird dafür argumentiert, dass sich die Aufgabe der Kasusmorphologie im Ndl. förderlich auf die Extension von zijn + V-PP auf transitive Sätze auswirkt.

310 | Haben + V-PP und sein + V-PP im Neuhochdeutschen:

9.2

Die Hilfsverbwahl bei Degree Achievements und Bewegungsverben

9.2.1

Ursachen für die Produktivität des Bewegungsschemas

Die empirische Untersuchung hat für die Hilfsverbwahl der Degree Achievements und der Bewegungsverben unterschiedliche Ergebnisse erbracht (vgl. Abschnitt 8.2 und 8.3). Die Degree Achievements folgen keinem einheitlichen Muster: Jedes Einzelverb zeigt eine mehr oder weniger deutliche Tendenz zu entweder haben + V-PP oder sein + V-PP. Lexemabhängig spielen hier unterschiedliche Faktoren eine Rolle wie frequenzbedingte Idiomatisierung (gealtert sein), Aspektualität ((nass) geschwitzt sein vs. geschwitzt haben), Aktionsart (nach unten gefault sein vs. vor sich hin gefault haben) und z.T. Regionalität (gealtert haben nur in der Schweiz). Die Bewegungsverben sind dagegen in ihrer Hilfsverbwahl deutlich konsistenter. In der Intransitivkonstruktion bilden sie (nahezu) ausnahmslos ein sein-Perfekt. Auch neu entlehnte Anglizismen tendieren unabhängig von der Aktionsart zu der Mikrokonstruktion und das Activity tanzen wechselt bei Bewegungssemantik systematisch von haben + V-PP zu sein + V-PP. Das sein-Perfekt ist somit in einem produktiven Schema mit Bewegungssemantik verbunden. Dieses Bewegungsschema hat die (vermutlich ältere) Aktionsartenregel außer Kraft gesetzt. Für diese unterschiedlichen Tendenzen der Degree Achievements und der Bewegungsverben lassen sich verschiedene Ursachen ausmachen: 1) Semantische Salienz: Die Bewegungsverben teilen sich ein salientes semantisches Merkmal [+Bewegung]. Dadurch sind sie gut als semantisch zusammengehörige Klasse identifizierbar. Das neue Hilfsverbschema generalisiert über dieses Merkmal, das sich alle Bewegungsverben, unabhängig von weiteren Bedeutungsaspekten, teilen. Den Degree Achievements fehlt dagegen ein solch salientes Merkmal. Der skalare Zustandswechsel ist zu abstrakt, um sie als zusammengehörige semantische Klasse auszuweisen. 2) Tokenfrequenz und Lexikalisierung: Einzelne Bewegungsverben erreichen höhere Tokenfrequenzen als die Degree Achievements. Je tokenfrequenter ein Bewegungsverb ist, desto konsequenter wählt es sein + V-PP. Durch wiederholten Gebrauch hat sich das Hilfsverb verfestigt, sodass die Form nicht mehr in einem transparenten Verfahren gebildet wird. Die häufig gebrauchten Perfektformen besitzen eine eigene mentale Repräsentation und werden bei der Sprachprozessierung als Ganze abgerufen. Das lexikalisierte Hilfsverb bei hochfrequenten Einzelverben bildet die Analogievorlage und damit die Voraussetzung für die Produktivität des Bewegungsschemas. Es wird deutlich, dass hier nicht nur Typen-

Die Hilfsverbwahl bei Degree Achievements und Bewegungsverben | 311

sondern auch Tokenfrequenz am Produktivwerden eines Schemas beteiligt ist (im Gegensatz zu Bybee (2010: 94ff., s. auch Kap. 2.5). 3) Semantisch ähnliche Analogievorlagen: Verstärkt wird das Bewegungsschema zusätzlich durch Ortswechselverben wie kommen oder ankommen, die aufgrund ihrer inhärenten Telizität von je her obligatorisch ein sein-Perfekt bilden. Die Untersuchung in Kap. (6) hat KOMMEN schon in den altgerm. Quellen als häufigstes Verb in der Mikrokonstruktion mit uuesan ausgewiesen (ähnlich Zeman 2010: 214 für das Mhd.). Auch sprachübergreifend zeigen diese Achievements konsequente sein-Selektion, weshalb Sorace (z.B. 2000) sie als universellen Kernbereich der SEIN-Selektion ansieht (vgl. Kap. 5.1.3.1). Auch diese Verben, die mit den Bewegungsverben semantisch eng verwandt sind, tragen dazu bei, dass sich das entstehende Bewegungsschema verfestigt. 4) Typenfrequenz und Produktivität: Wie in Kap. (2.5) gezeigt, führt relative Typenfrequenz gepaart mit formaler oder semantischer Ähnlichkeit zur bedingten Produktivität eines Schemas. Dies lässt sich auch bei der Perfektbildung der Bewegungsverben beobachten. Infolge von 2) und 3) ergibt sich eine relativ hohe Typenfrequenz des Bewegungsschemas. Je mehr Verben mit dem Merkmal [+Bewegung] das sein-Perfekt bilden, desto stärker wird die Konstruktion selbst mit Bewegungssemantik verbunden: Das führt dazu, dass Bewegungssemantik heute systematisch sein-Selektion bewirkt. Die sein-Selektion der Bewegungsverben ergibt sich somit aus der Lexikalisierung des Hilfsverbs und der daraus folgenden Herausbildung eines produktiven Bewegungsschemas. Beide Prozesse verstärken sich vermutlich wechselseitig. Besonders im Bereich der frequenten und mittelfrequenten Verben ist es schwierig, die Grenze zwischen Lexikalisierung und produktiver Ausbreitung zu ziehen. Vermutlich greifen hier beide Prozesse ineinander, wobei der Grad der Lexikalisierung mit abnehmender Tokenfrequenz schwächer wird.

9.2.2 Das Transitivschema als Persistenzmerkmal Bewegungssemantik setzt zwar die Aktionsartenregel außer Kraft, wird allerdings von semantischer Transitivität überlagert. In hochtransitiven Sätzen wird obligatorisch ein haben-Perfekt gebildet. Dabei wird haben + V-PP umso wahrscheinlicher gewählt, je näher der Satz am transitiven Pol liegt. Hierbei hat sich v.a. die semantische Rolle des Akkusativs als entscheidend erwiesen. Bei eindeutig patienshaftem Objekt ist das haben-Perfekt obligatorisch (Sie hat die Kanzlerin/die Koffer gefahren, Sie hat das Auto in die Garage gefahren). Erlaubt das Objekt sowohl Patiens- als auch Instrumentlesart (Sie hat/ist das Auto

312 | Haben + V-PP und sein + V-PP im Neuhochdeutschen:

gefahren), schwankt das Hilfsverb. Sätze mit adverbialem oder inkorporiertem Akkusativ präferieren dagegen sein + V-PP (Sie hat/ist einen/Ø Marathon/100 Meter gelaufen). Bei abstraktem Akkusativ wird die Patienshaftigkeit durch Individuiertheit gesteigert. Deshalb tendieren Sätze mit individuiertem Abstraktum stärker zum haben-Perfekt (z.B. Sie ist den Marathon in einer neuen Rekordzeit gelaufen). Die komplementäre Verteilung von haben/sein + V-PP bei Bewegungsverben legt nahe, dass die Mikrokonstruktionen selbst mit einer bestimmten Argumentstrukturbedeutung assoziiert sind. Dafür sprechen auch Minimalpaarsätze, die sich nur durch das Hilfsverb unterscheiden. Konstruiert man z.B. einen Satz des Typs (4a), der ein belebtes und deshalb eigentlich patienshaftes Objekt enthält, mit sein + V-PP, stellt sich die Instrumentlesart ein: In (4b) liegt im Gegensatz zu (4a) nahe, dass Jan nicht der Name einer Person, sondern der Name eines Fahrzeugs ist. (4a) (4b)

Ich habe Jan gefahren. Ich bin Jan gefahren.

Umgekehrt kann haben + V-PP bei adverbialem Akkusativ die Transitivität steigern: Ist ein Pfadakkusativ mit einem haben-Perfekt konstruiert, wird es stärker als erreichtes Ergebnis betrachtet, wodurch seine Patienshaftigkeit steigt (vgl. 5a,b). (5a)

Ich bin 1000 Meter in 2:36 gelaufen.

(5b)

Ich habe (die) 1000 Meter in 2:36 gelaufen.

Haben + V-PP ist somit selbst mit hoher Transitivität assoziiert. Aus diachroner Perspektive lässt sich dies als Persistenz erklären. Im Ahd. konzentriert sich die Konstruktion auf hochtransitive Sätze, was durch die dominierende resultatsperfektische Funktion motiviert ist (vgl. Kap. 6). Bei der Ausbildung weiterer Perfektfunktionen und schließlich des unmarkierten Vergangenheitsbezug hat sich haben + V-PP von den vormaligen kontextuellen Beschränkungen gelöst und schrittweise auf neue Kontexte ausgebreitet. Als Konsequenz bilden sogar viele Intransitive regelmäßig ein haben-Perfekt (z.B. Sie hat gelacht). Doch besteht der ursprüngliche Kontext, der den Ausgangspunkt der analogischen Ausbreitung bildet, als synchroner Prototyp fort. Das Transitivschema steuert die Hilfsverbwahl im Gegenwartsdt. nach wie vor, sodass hochtransitive Sätze obligatorisch ein haben-Perfekt bilden.

Die Hilfsverbwahl bei Degree Achievements und Bewegungsverben | 313

Alles in allem wurden bei der Untersuchung zwei produktive Schemata ermittelt: Das historisch jüngere Bewegungsschema bewirkt heute bei allen Bewegungsverben unabhängig von der Aktionsart sein-Selektion. Die Produktivität des Bewegungsschemas ist durch seine relative Typenfrequenz bedingt: Bestimmte inhärent telische Achievements wie kommen bilden von je her ein seinPerfekt, einzelne tokenfrequente Bewegungsverben wie gehen oder laufen haben das Hilfsverb lexikalisiert. Basierend auf diesen festen Perfektformen generalisiert das Bewegungsschema über das saliente semantische Merkmal [+ Bewegung]. Neue bzw. weniger frequente Verben schließen sich produktiv an das Muster an. Außer Kraft gesetzt wird das Bewegungsschema nur durch das alt ererbte und gleichzeitig universelle Transitivitätsschema, das den Prototyp der habenSelektion im Gegenwartsdt. bildet. Es handelt sich um ein Persistenzmerkmal, das aus der analogischen Weiterentwicklung des historischen Ursprungskontexts herrührt und noch heute produktiv greift.

10 Zusammenfassung 10.1 Grammatikalisierung und Hilfsverbwahl: Historische Konditionierung der Prototypen Die Untersuchung in den altgerm. Sprachen hat Shannons Prototypen als historische Ursprungskontexte der Perfektkonstruktionen bestätigt: HABEN + V-PP gruppiert sich um hochtransitive Sätze, SEIN + V-PP um telische Intransitive. Dabei zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Verwendungskontext und temporalaspektueller Funktion der Konstruktionen. Sowohl im Ahd. als auch im As. sind beide Konstruktionen (schwach) grammatikalisiert: In allen untersuchten Quellen erfüllt die Mehrheit der Belege Präsensperfektfunktion, im Zuge der Grammatikalisierung hat sich somit ein Präsensperfektschema herausgebildet, das HABEN + V-PP und SEIN + V-PP im Konstruktionsnetzwerk überdacht. Unter diesen Präsensperfektbelegen überwiegt der Typ des Resultatsperfekts stark. Das As. zeigt daneben regelmäßig Verwendungen, die dem engl. Experiential und dem Persistenzperfekt vergleichbar sind und die das Ereignis selbst stärker fokussieren. Dieses breitere Funktionsspektrum zeugt von einer fortgeschritteneren Grammatikalisierung im As. Die fortgeschrittenere Grammatikalisierung schlägt sich auch in einer höheren Tokenfrequenz und einer weiteren Extension der as. Perfektkonstruktionen nieder. Extension und temporal-aspektuelle Funktion greifen hier ineinander. Denn das Resultatsperfekt bezeichnet ein vorausgehendes Ereignis, dessen Resultat zeitgleich andauert. Dieses andauernde Resultat manifestiert sich als Zustand eines Partizipanten, der sich infolge eines vorausgehenden Zustandswechsels ergibt. Der Zustandswechsel besteht im intransitiven Satz in der telischen Veränderung des Subjekts (z.B. Sie ist gekommen), im transitiven Satz in der Manipulation eines individuierten Objekts durch ein willentlich handelndes Subjekt (z.B. Sie hat die Tür versperrt). Auf diese Weise interagiert der ursprünglich enge Resultatsbezug mit der Argumentstruktur. Die universellen Prototypen der HABEN/SEIN-Selektion sind somit zunächst funktional motiviert. Dass sie auch nach der funktionalen Uminterpretation erhalten bleiben und die Distribution der Hilfsverbkonstruktion bis zur Gegenwartssprache (mit)bestimmen, ist auf die analogische Art der Ausbreitung zurückzuführen. Die Korpusuntersuchung im Nhd. hat gezeigt, dass mit der Bewegungssemantik heute ein weiteres Determinans der Hilfsverbverteilung hinzugekommen ist (näher in 10.3).

Hilfsverbwahl und funktionale Unterschiede: sein + V-PP kein Resultativ | 315

10.2 Hilfsverbwahl und funktionale Unterschiede: sein + V-PP kein Resultativ Die Frage, ob die Perfektkonstruktionen mit HABEN und SEIN unterschiedliche Funktionen erfüllen, lässt sich auf Grundlage der erhobenen Daten sowohl für das historische als auch für das gegenwärtige Dt. verneinen. In keiner der untersuchten Altsprachen erfüllt SEIN + V-PP allein resultative Funktion. M.a.W. ist die Konstruktion seit den frühesten dt. Belegen (schwach) grammatikalisiert und, wie HABEN + V-PP, durch Mehrdeutigkeit charakterisiert. Auffälligerweise tendiert SEIN + V-PP dennoch stärker zur resultativen Funktion als die Schwesterkonstruktion mit HABEN. Diese Tendenz geht so weit, dass der Wechsel der Hilfsverbkonstruktion sogar zur aspektuellen Differenzierung genutzt wird (vgl. ist getrocknet vs. hat getrocknet). Für diese unterschiedliche Tendenz der Konstruktionen zur Resultativität wurden mehrschichtige, miteinander verwobene Gründe angeführt. 1) Das resultative HABEN + V-PP ist auf wenige sehr spezifische Kontexte beschränkt. Diese Kontexte enthalten u.a. ein direktes Objekt, das in einer Teil-Ganzes-Relation zum Subjekt steht, und ein Zielzustands- oder Zustandsverb (vgl. Das Pferd hat die Fesseln bandagiert). Dagegen stellt sich Resultativität bei sein + V-PP in vergleichsweise mehr Kontexten ein und erreicht infolgedessen eine höhere Typen- und gleichzeitig auch Tokenfrequenz. Aufgrund dieser höheren Frequenz ist die resultative Funktion bei der Konstruktion insgesamt stärker aktiviert. 2) Betrachtet man hingegen die Gesamtzahl der Perfektvorkommen im Dt., ist sein + V-PP deutlich typeninfrequenter, d.h. mehr und unterschiedlichere Verben bilden ein haben-Perfekt. Sein + V-PP hat lediglich eine leichte Ausbreitung über den ursprünglichen Anwendungsbereich hinaus erfahren. Die ursprünglichen Kontexte, d.h. telische Intransitive, tendieren aber relativ stark zum Resultatsbezug. 3) Die schwache Extension von sein + V-PP ist durch das umgebende Konstruktionsnetzwerk erklärbar: Die Konstruktion steht in Konkurrenz zum funktionsverwandten haben-Perfekt, das relativ früh die Mehrheit der Kontexte besetzt hält und damit eine stärkere Ausbreitung von sein + V-PP verhindert. Zusätzlich wird die Situation durch das Zustandspassiv verschärft. Die formidentische Konstruktion verhindert eine Extension auf transitive Verben und trägt damit indirekt

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dazu bei, dass sich die haben/sein-Prototypen herausbilden. Gleichzeitig verstärkt das obligatorisch resultative Zustandspassiv die resultative Lesart auch der aktiven Variante (z.B. Die Wände sind seit zwei Jahren/immer noch gestrichen.).

10.3 Semantisch konditionierte Schemata der Hilfsverbwahl im Deutschen 10.3.1 Telizität In den untersuchten altgerm. Sprachen konzentriert sich uuesan + V-PP fast ausnahmslos auf telische Intransitive, womit sich Shannons universeller SEIN-Prototyp bestätigt. Im Heliand und der Genesis wird dieser Prototyp durch einzelne Fälle von HABEN + V-PP unterwandert. Damit zeigt das As., das in einem Dialektkontinuum zum Ae. steht, Züge einer Sprache, die HABEN + V-PP generalisiert. Gleichzeitig bilden die as. Belege von uuesan + V-PP bereits die graduelle Stufung ab, die Soraces ASH innerhalb der telischen Intransitive vornimmt: Zahlenmäßig überwiegen Ortswechselverben, die nach Sorace den Kernbereich der SEIN-Selektion ausmachen, gegenüber anderen Zustandswechselverben. Dass Ortswechselverben am konsistentesten SEIN + V-PP wählen, könnte durch die hohe Gebrauchsfrequenz der Form gekommen sein, die in allen untersuchten Quellen zu den häufigsten Types zählt, begründet sein. Aufgrund ihres hohen Vorkommens besitzt die Form eine eigene mentale Repräsentation und ist leicht aktivierbar. Dadurch zieht sie bedeutungsverwandte Ortswechselverben analogisch an und das Ortwechselschema verfestigt sich allmählich zum Kernbereich der SEIN-Selektion. Dass telische Intransitive sprachübergreifend den SEIN-Prototypen bilden, ist durch Persistenz erklärbar: Aufgrund des engen Resultatsbezugs war die Konstruktion ursprünglich auf telische Verben beschränkt. Da die diachrone Ausbreitung auf neue Kontexte analogisch verläuft, zeichnen sich neu in der Konstruktion auftretende Formen durch relative Ähnlichkeit zum Ursprungsbereich aus. Auf diese Weise bleiben Merkmale, die zunächst funktional konditioniert sind, auch nach der funktionalen Uminterpretation erhalten. Die Ergebnisse bekräftigen damit Bybees Beobachtung, dass universelle Kategorien historisch auf ähnliche Spenderkonstruktionen zurückgehen (vgl. Kap. 2.8). Sprachübergreifende Übereinstimmungen sind demnach v.a. bei schwachem Grammatikalisierungsgrad zu erwarten.

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Auch wenn es sich um kein uneingeschränkt produktives Schema handelt, zeigen telische Intransitive im Gegenwartsdt. eine Tendenz zu sein + V-PP. So bilden telische Bewegungsverben ausnahmslos ein sein-Perfekt und auch die Degree Achievements wählen die Mikrokonstruktion in eindeutig telischen Sätzen. Bei Letzteren beeinflusst die Wahl der Hilfsverbkonstruktion umgekehrt auch die aktionale Lesart des Ereignisses: In Minimalpaarsätzen, die sich allein durch das Hilfsverb unterscheiden, tritt mit sein + V-PP stärker der Abschluss, mit haben + V-PP der Verlauf des Ereignisses in den Vordergrund (vgl. Das Geländer ist gerostet vs. Das Geländer hat gerostet). Es wird deutlich, dass die Mikrokonstruktionen selbst mit aktionalen Bedeutungsmerkmalen verbunden sind.

10.3.2 Bewegungssemantik Bei der Hilfsverbwahl der Bewegungsverben im Nhd. spielt Telizität keine oder nur mehr eine nachgeordnete Rolle. Das ursprüngliche aktionale Schema wird von einem sich neu herausbildenden Bewegungsschema überlagert: Intransitive Bewegungsverben bilden unabhängig von der Aktionsart ein sein-Perfekt. Die Korpusuntersuchung im Nhd. zeigt, dass bei der Herausbildung dieses Bewegungsschemas Tokenfrequenz eine wichtige Rolle spielt. Das geht daraus hervor, dass sein + V-PP umso konsequenter gewählt wird, je token-frequenter das Bewegungsverb ist. D.h. das Hilfsverb verfestigt sich zunächst bei gebrauchshäufigen Verben wie gehen und laufen. Durch das wiederholte Vorkommen bei diesen Verben bildet sich allmählich ein semantisch konditioniertes Schema heraus, in dem sein + V-PP mit Bewegungssemantik verbunden ist und das zur produktiven sein-Selektion bei Bewegungsverben führt. Vermutlich verstärken die semantisch verwandten Ortswechselverben (z.B. ankommen, verschwinden), die nach Sorace den Kernbereich der sein-Selektion bilden, das Bewegungsschema zusätzlich. Bei der sein-Selektion der Bewegungsverben handelt es sich um einen Fall bedingter Produktivität, wie er in Kap. (2.5) bereits anhand der starken Verben der Ablautreihe 3a beschrieben wurde: Basierend auf einer gewissen Typenfrequenz und hoher Ähnlichkeit (d.h. geringer Schematizität) bildet sich ein bedingt produktives Muster heraus. Anders als bei den starken Verben handelt es sich hier aber nicht um formale, sondern um semantische Ähnlichkeit. Die Produktivität des Bewegungsschemas wurde an neu entlehnten Anglizismen nachgewiesen: Verben wie bouldern oder walken bilden nicht nur bei telischer, sondern auch bei atelischer Bewegung ein sein-Perfekt. Wird die Bewegung als (sportliche) Aktivität konzeptualisiert, können Bewegungsverben zu

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haben + V-PP wechseln. Interessanterweise ist auch dieser semantisch bedingte Wechsel an Tokenfrequenz gekoppelt: Die infrequenten Anglizismen nehmen häufiger haben + V-PP als die mittelfrequenten Verben schwimmen oder reiten. Hochfrequente Verben behalten dagegen sein + V-PP unabhängig von der Bedeutung bei. Laufen, fahren und fliegen bilden nicht einmal dann ein haben-Perfekt, wenn sie in einer idiomatisierten Wendung vorkommen, die sich vollkommen von der Bewegungssemantik gelöst hat (z.B. Das ist gut gelaufen, Damit sind wir gut gefahren). Dies ist ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass sich das Hilfsverb bei hoher Tokenfrequenz verfestigt hat.

10.3.3 Semantische Transitivität Dass hochtransitive Sätze den universell HABEN-Prototyp bilden (vgl. Abschnitt 5.1.3.2), ist ursprünglich funktional motiviert und diachron durch Persistenz erklärbar. In den untersuchten altgerm. Quellen konzentriert sich HABEN + V-PP auf hochtransitive Sätze, im As. geht die Konstruktion aber bereits relativ weit über diesen Prototypen hinaus. Sie tritt nicht nur bei unprototypischem direktem Objekt wie Genitiven und Komplementsätzen, sondern auch in intransitiven Sätzen auf. Noch heute ist semantische Transitivität ein produktives Determinans der haben-Selektion, das sogar das Bewegungsschema außer Kraft setzt. Bewegungsverben wählen im hochtransitiven Satz obligatorisch haben + V-PP. Dabei wird das haben-Perfekt umso konsistenter gebildet, je transitiver der Satz ist. Bei abnehmender Transitivität – und damit zunehmender Ähnlichkeit zu intransitiven Sätzen – steigt hingegen der Anteil an sein + V-PP. Dabei hängt der Transitivitätsgrad wesentlich von der Patienshaftigkeit der zweiten Argumentstelle ab. Diese Patienshaftigkeit wird durch Individuiertheit erhöht, da sich ein individuiertes Objekt deutlicher von der Verbalhandlung abhebt und den Satz damit besser von intransitiven abgrenzt. Sätze mit belebtem und konkretem Objekt, das eindeutig die semantische Rolle Patiens trägt, bilden obligatorisch ein haben-Perfekt. Dasselbe gilt für Fortbewegungsmittel in Kombination mit Direktionalergänzungen: Das Direktional erhöht die Transitivität, indem es die Bewegung telisiert und deutlich macht, dass die Position des Objekts zu einem Zielpunkt hin bewegt wird (z.B. das Auto in die Garage fahren). Überdies verhindert es eine Adjazenz von Objekt und Verb, sodass beide leichter als getrennte Einheiten konzeptualisiert werden. Fortbewegungsmittel ohne Direktional sind dagegen mit Blick auf die semantische Rolle unterspezifiziert: Das Objekt ist entweder ein Patiens, das durch die

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Handlung selbst bewegt wird, oder ein Instrument für die Bewegung des Subjekts (z.B. das Auto fahren). Entsprechend schwankt das Perfekthilfs-verb bei einer leichten Tendenz zu haben + V-PP. Abstrakte Akkusative tendieren dagegen zum sein-Perfekt: I.d.R. sind Abstrakta Adverbiale oder sogar in die Verbalhandlung inkorporiert (z.B. Rennen fahren), d.h. es handelt sich um intransitive Sätze. Der Anteil der haben-Belege nimmt hier mit steigender Individuiertheit und, damit einhergehend, steigender Patienshaftigkeit des Abstraktums zu: Ein definites Abstraktum führt signifikant häufiger zum haben-Perfekt als ein indefinites. Ähnlich tritt haben + V-PP signifikant häufiger bei Abstrakta auf, die ein im Wettkampf erreichtes Ergebnis bezeichnen (z.B. Weltrekord laufen). Aufgrund ihrer superlativartigen Semantik sind sie individuierter als die übrigen Abstrakta. Bei Pfad-Akkusativen wird sein + V-PP am konsequentesten gewählt. Haben + V-PP kann hier die Semantik des Gesamtsatzes so modifizieren, dass der Pfad als im Wettkampf erreichtes Ergebnis konzeptualisiert wird. Es wird deutlich, dass die Hilfsverbwal im Bereich der Bewegungsverben vom Transitivitätsgrad des Satzes abhängt: Im hochtransitiven Satz ist haben + V-PP obligatorisch, je ähnlicher der Satz einer Intransitivkonstruktion wird, desto häufiger wird sein + V-PP gewählt. Insgesamt zeigen die frühen Perfektkonstruktionen eindrücklich, wie temporal-aspektuelle Funktion mit Argumentstruktur interagiert. Diachron tragen sowohl Type- als auch Tokenfrequenz dazu bei, die ursprünglichen Prototypen zu reorganisieren. Größer angelegte empirische Untersuchungen zur Reorgansiation der Hilfsverbselektion im Mittel- und Frühneuhochdeutschen sind bisher aber noch ein Forschungsdesiderat.

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