Fugenelemente diachron: Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita 9783110517682, 9783110515572

Drawing on a historical text corpus (1500–1710), this study shows how linked N+N-compounds develop and alter existing wo

197 34 6MB

German Pages 485 [486] Year 2018

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Table of contents :
Dank+es+worte
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Gegenstandsbereich
3. Korpora und Belegquellen
4. Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente
5. Paradigmatizität
6. Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase
7. Was ist ein Kompositum?
8. Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps
9. Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900
10. Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster
11. Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster
12. Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge
13. Schreibung als Indikator morphologischer Integration
14. Funktionalisierung der Fugenelemente?
15. Fazit
16. Anhang
Literatur- und Quellenverzeichnis
Index
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Fugenelemente diachron: Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita
 9783110517682, 9783110515572

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Kristin Kopf Fugenelemente diachron

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger

Band 133

Kristin Kopf

Fugenelemente diachron Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita

ISBN 978-3-11-051557-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051768-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051578-7 ISSN 1861-5651 Library of Congress Control Number: 2018936208. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank+es+worte Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner 2016 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereichten Dissertation „Von der Syntax in die Wortbildung. Zur Diachronie der verfugenden N+N-Komposition“. Entstanden wäre sie nicht ohne meine Doktormutter Damaris Nübling, die mir über die Jahre die ideale Mischung aus Unterstützung und Freiräumen gewährt hat. Ihr gilt mein größter Dank! Für zahlreiche inhaltliche und methodische Anregungen und Tipps möchte ich zudem insbesondere Andreas Klein und Susanne Flach danken, sowie allen Mitgliedern des Mainzer germanistisch-anglistischen Kolloquiums. Für Korrekturlesen, Feedback, kluge Ratschläge, Mensabegleitung, Ablenkung, Nahrungslieferungen und Gesellschaft danke ich, neben den bereits Genannten: Mehmet Aydın, Claus Brucher, Antje Dammel, Florian Dolberg, Maike Edelhoff, Matthias Eitelmann, Stefan Hartmann, Rita Heuser, Julian Jarosch, Luise Kempf, Veronika, Helmut und Matthias Kopf, Felix Lorenz, Sven Müller, Laura Neuhaus, Jessica Nowak, Miriam Schmidt-Jüngst, Mirjam Schmuck, Ulrike Schneider, Horst Simon, Renata Szczepaniak, den TeilnehmerInnen und MitorganisatorInnen der STaPs, der Statistikselbsthilfegruppe, dem Linguistikstammtisch, der Mittwochsspielerunde und der Techniktagebuchredaktion. Ursula Götz verdanke ich den schnellen und unkomplizierten Zugang zur Textbasis meines Korpus. Ohne die Unterstützung durch die Hilfskräfte Betty Richter und Jan Böhm hätte die Korpusdigitalisierung bedeutend länger gedauert. Greta Nußhart war eine große Hilfe bei der Literaturbeschaffung, Philipp Dondrup hat bei der Beispielformatierung geholfen. Der Universität Mainz danke ich für die großzügige Übernahme meines Druckkostenanteils. Daniel Gietz hat die Zusammenarbeit mit dem Verlag so unkompliziert wie möglich gemacht. Christopher Bergmann hat schließlich nach der ersten Überarbeitung die komplette Arbeit genaustens korrekturgelesen – alle vorhandenen Tipfpehler muss ich später eingebaut haben. Münster, den 5.5.2018

https://doi.org/10.1515/9783110517682-201

Kristin Kopf

Inhalt 1

Einleitung | 1

2 Gegenstandsbereich | 4 2.1 Typen der NN-Komposition | 5 2.1.1 Semantik | 5 2.1.1.1 Endozentrische Komposita | 5 2.1.1.2 Exozentrische Komposita | 7 2.1.2 Form | 8 2.1.2.1 Fugenelemente | 8 2.1.2.2 Scheinkomposita | 9 2.1.3 Kompositum vs. Komposition | 10 2.2 Wortbildungsprodukte und syntaktische Strukturen | 11 2.3 Terminologie | 13 2.4 Entstehung der Kompositionstypen | 14 2.4.1 Indogermanischer Kompositionstyp („eigentliche Komposition“) | 14 2.4.2 Frühneuhochdeutscher Kompositionstyp („uneigentliche Komposition“) | 15 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2

Korpora und Belegquellen | 18 Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus (1500–1710) | 18 Weitere historische Korpora | 21 GerManC | 21 Mannheimer historische Zeitungen und Zeitschriften | 22 Deutsches Textarchiv | 23 MiGraKo | 23 Gegenwartssprachliche Korpora | 23 Canoo.net | 24 Wortwarte | 24

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente | 26 Flexionsklassen | 27 s-Fuge | 28 es-Fuge | 32 (e)n-Fuge | 34 (e)ns-Fuge | 35 e-Fuge, er-Fuge und Stammformen mit Umlaut | 37

VIII | Inhalt

4.7 4.8 4.9 4.10

Nichtverfugung | 38 Variation | 40 Zusammenfassung | 42 Exkurs: Die verbale Schwa-Fuge | 44

5 Paradigmatizität | 48 5.1 Unparadigmische Fugen | 49 5.1.1 Unparadigmisch durch Fossilierung | 49 5.1.2 Unparadigmisch durch Innovation | 51 5.1.2.1 s-Fuge bei gemischten Feminina | 51 5.1.2.2 en-Fuge bei entlehnten Maskulina und Neutra | 51 5.2 Paradigmische Fugen | 53 5.2.1 Paradigmische Fugen ohne Semantik (Fugenelemente i.e.S.) | 54 5.2.1.1 Nullfuge | 54 5.2.1.2 s-Fuge | 54 5.2.1.3 (e)n-Fuge bei gemischten Feminina und Neutra | 55 5.2.2 Paradigmische Fugen mit Semantik: Pluralkomposition | 58 5.2.2.1 Bankenkrise: Die pluralische en-Fuge | 60 5.2.2.2 Getränkemarkt: e-, er- und Umlautfuge | 66 5.2.2.3 Gameszeitschrift: s-Fuge und Plural | 70 5.2.2.4 Semantische Fugen: Zusammenfassung | 71 6 Die frühneuhochdeutsche Nominalphrase | 73 6.1 Artikelgebrauch | 74 6.1.1 Artikelgebrauch generell | 74 6.1.2 Artikel in Genitivkonstruktionen | 76 6.2 Positionen in der Nominalphrase | 79 6.2.1 Pränominales Genitivattribut | 80 6.2.1.1 Sonderfälle | 82 6.2.1.2 Pränominale Strukturen im Mainzer Korpus | 83 6.2.2 Postnominales Genitivattribut | 85 6.3 Stellung des attributiven Genitivs | 85 6.3.1 Zeitpunkt des Stellungswandels | 86 6.3.1.1 Bestehende Untersuchungen | 86 6.3.1.2 Stellungswandel im Mainzer Korpus | 88 6.3.2 Gründe des Stellungswandels | 89 6.3.3 Regularitäten des Stellungswandels | 93 6.3.3.1 Semantik des Genitivattributs | 93 6.3.3.2 Komplexität | 99

Inhalt | IX

6.3.3.3 6.3.3.4 6.3.4 6.3.4.1 6.3.4.2

Semantische Relation zwischen Attribut und Bezugsnomen | 104 Zusammenfassung | 107 Ausblick: Genitivkonstruktionen im Gegenwartsdeutschen | 107 Flexiv oder Klitikon? | 108 Umgangssprachlicher und dialektaler Status | 109

7 Was ist ein Kompositum? | 110 7.1 Komposita im Neuhochdeutschen | 111 7.1.1 Phonetik/Phonologie | 112 7.1.2 Morphologie/Syntax | 112 7.1.2.1 Kognitive Zugänglichkeit und anaphorische (Halb-)Inseln | 113 7.1.2.2 Zusammenrückungen (Paradoxe Klammern) | 116 7.1.2.3 Relationale Erstglieder | 117 7.1.3 Schreibung | 118 7.1.4 Zusammenfassung | 123 7.2 Komposita im Frühneuhochdeutschen | 123 7.2.1 Bisherige Ansätze | 124 7.2.1.1 Pavlov (1983) | 125 7.2.1.2 Nitta (1987) | 126 7.2.1.3 Reagan (1981) | 128 7.2.1.4 Solling (2012) | 129 7.2.1.5 Zusammenfassende Einschätzung | 130 7.2.2 Flexion | 130 7.2.2.1 Endungslosigkeit im Genitiv Singular | 132 7.2.2.2 Endungslosigkeit im Plural | 135 7.2.2.3 Sonderfall Umlaut + Schwa | 138 7.2.2.4 Semantische „Paradigmatizität“ | 139 7.2.2.5 Rolle des Flexivs | 140 7.2.3 Modifikation und Determination | 143 7.2.3.1 Zweitgliedbezug als Indikator für Komposition? | 143 7.2.3.2 Erstgliedbezug als Indikator für Genitiv? | 146 7.2.4 Schreibung | 151 7.2.5 Weitere Faktoren | 156 7.2.5.1 Etymologie | 156 7.2.5.2 Synchrone Variation | 157 7.2.6 Abgrenzung von anderen Wortarten | 158 Adjektive | 158 7.2.6.1 7.2.6.2 Affixe und Affixoide | 161 7.2.6.3 Verben | 162

X | Inhalt

7.2.6.4 7.2.7 7.2.8 7.3

Sonstiges | 164 Ermittlung der Konstruktionstypen und Stadien der Unklarheit | 165 Korpusuntersuchung: Verteilung der Konstruktionstypen | 167 Exkurs: Komposita im Alt- und Mittelhochdeutschen | 168

8

Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps | 171 8.1 Grammatische Voraussetzungen | 171 8.2 Semantische Voraussetzungen | 172 8.2.1 Spezifische und nicht-spezifische Referenz | 173 8.2.2 Kompositafähigkeit referentieller Sonderfälle | 176 8.2.3 Semantische Grundrelationen | 178 Genitivrelationen | 178 8.2.3.1 8.2.3.2 Kompositumsrelationen | 180 8.3 Exkurs: Phonologische Voraussetzungen | 185 8.4 Korpusuntersuchung: Reanalyse | 188 8.5 Exkurs: Weitere mögliche Einflussfaktoren | 192 8.5.1 Von der Genitivkonstruktion zu semantisch äquvalenten Konstruktionen | 194 8.5.2 Vom Simplex zum Kompositum | 195 8.6 Erklärungsansätze für die Entstehung des neuen Kompositionstyps | 198 8.6.1 Die Entstehung der Kategorie D (Demske 2001)  | 199 8.6.2 Der Artikel als Mittel der Zwangsdisambiguierung (Pavlov 1983) | 202 8.6.3 Der Ausbau der Nominalklammer (Ronneberger-Sibold 1991 u.a.) | 204 8.7 Fazit zur Entstehung des neuen Kompositionstyps | 207 9 Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900 | 210 9.1 Kompositionsmuster im Alt- und Mittelhochdeutschen | 210 9.2 Bisherige Studien zum Frühneuhochdeutschen | 214 9.3 Mainzer Korpus | 216 9.3.1 s- und es-Fuge | 217 9.3.1.1 Subtraktive s-Fuge | 218 9.3.1.2 s vs. es: Differenzierung der phonologischen Formen | 219 9.3.2 (e)n-Fuge | 222 9.3.2.1 Sonderfall Stammformflexion | 224

Inhalt | XI

9.3.3 9.3.3.1 9.3.4 9.3.5 9.3.6 10

(e)ns-Fuge | 225 Verfugungs- und Wechselstadium gemischter Maskulina und Neutra | 225 e-Fuge (mit und ohne Umlaut), Umlautfuge und er-Fuge | 227 Nichtverfugung | 229 Zusammenfassung | 232

Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster | 233 10.1 Produktivität von Komposita | 233 10.2 Produktivität und Fugenelemente | 238 10.2.1 Entwicklung vor Untersuchungsbeginn: Univerbierung und Inputerweiterung | 238 10.2.2 Methodik: Typen und Tokens bei Komposita | 239 10.3 Tokens | 241 10.4 Realisierte Produktivität | 243 10.4.1 Generelle Überlegungen | 243 10.4.2 Korpusbefund | 244 10.5 Potenzielle Produktivität | 247 10.5.1 Generelle Überlegungen | 247 10.5.2 Korpusbefund | 250 10.6 Variationsbreite der Kompositionsstammformen | 253 10.7 Restriktionsabbau | 254 10.7.1 Germanisch bis Mittelhochdeutsch | 255 10.7.2 Suffigierte Erstglieder | 259 10.7.3 Infinitivkonversionen | 263 10.7.4 Verbstammkonversionen | 266 10.7.5 Dreigliedrige Komposita | 269 10.7.5.1 Verhältnis zu verschachtelten Genitiven | 271 10.7.5.2 Dialektraum und Textsorte | 272 10.7.6 Loslösung vom Paradigma: Die unparadigmische s-Fuge | 273 10.7.7 Produktivität paradigmisch verfugender Muster | 274 10.7.7.1 Exkurs: Zum Status von Pluralformen | 277 10.8 Überprüfung weiterer potenzieller Restriktionen | 279 10.9 Gegenwartssprachliche Produktivität verfugender Muster | 280 10.9.1 Schwankungsfälle | 282 10.9.2 Neologismen | 282 10.10 Zusammenfassung | 286

XII | Inhalt

11 Exkurs: Weitere verfugende Wortbildungsmuster | 288 11.1 NA-Komposita | 288 Gegenwartssprache: Neologismen | 288 11.1.1 11.1.2 Mainzer Korpus | 290 11.1.3 Sonderfall -los | 292 11.2 Derivate | 293 11.2.1 Intern stark verfugende Derivate | 293 11.2.1.1 -halb, halber, halben | 294 11.2.1.2 -weise | 296 11.2.2 Intern wenig verfugende Derivate | 301 11.3 Zusammenfassung | 303 12 Entstehung und Ausbreitung der unparadigmischen s-Fuge | 304 12.1 Gegenwartssprachliche Situation | 304 12.2 (Früh-)Neuhochdeutsch | 308 Bisherige Forschung | 308 12.2.1 12.2.2 1500–1710 (Mainzer Korpus) | 310 12.2.3 1650–1900 (GerManC & Mannheimer Zeitschriften) | 314 12.2.4 Unparadigmische Fugen in anderen Konstruktionen | 316 12.2.5 Zusammenfassung | 317 12.3 Erklärungsansätze zur Entstehung | 318 Unparadigmischer s-Genitiv | 319 12.3.1 12.3.2 Genusschwankung und -wechsel | 321 12.3.2.1 Suffixe | 322 12.3.2.2 Nicht-suffigierte Feminina | 324 12.3.3 Lateinischer Einfluss | 326 12.3.4 Niederdeutscher Einfluss | 328 12.3.5 Klassenwechsel und sonstige Faktoren | 330 12.3.6 Funktionalisierung der s-Fuge | 330 12.3.7 Zusammenfassende Beurteilung | 333 13 Schreibung als Indikator morphologischer Integration | 335 13.1 Forschungsstand | 335 13.1.1 Schreibung im Alt- und Mittelhochdeutschen | 335 13.1.2 Schreibung im Frühneuhochdeutschen | 338 13.1.3 Schreibung im 18./19. Jh. | 341 13.2 Mainzer Korpus | 342 13.2.1 Schreibung verfugter und unverfugter Komposita  | 342 13.2.2 Zusammenschreibung und Wortstatus | 344

Inhalt | XIII

13.2.3 13.2.3.1 13.2.3.2 13.2.3.3 13.3

Segmentierung durch Bindestrichschreibung | 344 Der Bindestrich als Hierarchisierungszeichen | 345 Der Bindestrich als Markiertheitsanzeiger | 347 Alter und Ausbreitung des Bindestrichs | 352 Zusammenfassung | 354

14 Funktionalisierung der Fugenelemente? | 355 14.1 Mögliche Funktionalisierungskandidaten und -zeitpunkte | 355 14.2 Phonologie: Silben- und Wortstruktur | 357 14.2.1 Trochäenbildung als Funktion der (e)n- und en-Fuge? | 358 Die s-Fuge als Marker des phonologischen Wortes? | 359 14.2.2 14.2.2.1 Gegenwartssprachliche Situation | 361 14.2.2.2 Diachronie | 369 14.2.2.3 Gesamtbewertung | 371 14.3 Von atypischen zu komplexen Erstgliedern | 371 14.3.1 1500–1900 | 372 14.3.1.1 Entstehung eines Komplexitätsmarkers | 372 14.3.1.2 Komplexität im frühen Nhd. | 375 14.3.2 Gegenwartssprachliche Situation | 377 14.3.2.1 Bestandswortschatz | 377 14.3.2.2 Produktivität? | 380 14.4 Theoretische Einordnung des neuen Kompositionstyps | 380 14.4.1 Grammatikalisierung | 381 14.4.1.1 Szenario 1: Das Fugenelement grammatikalisiert | 382 14.4.1.2 Szenario 2: Komposita grammatikalisieren | 385 14.4.2 Degrammatikalisierung | 388 14.4.3 Exaptation | 389 14.5 Zusammenfassung | 391

15.3 15.4 15.5

Fazit | 393 Gegenwartssprachliche Komposita und ihre Verfugung | 393 Genitivkonstruktionen und Komposita im Frühneuhochdeutschen | 396 Methodische und terminologische Erkenntnisse | 397 Entstehung des neuen Kompositionstyps | 398 Einordnung in Sprachwandeltendenzen und -theorien | 401

16 16.1

Anhang | 403 Mainzer (F)Nhd.-Korpus: Zusammensetzung | 403

15 15.1 15.2

XIV | Inhalt

16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.3.1 16.2.3.2 16.2.3.3 16.2.4 16.2.5 16.2.6 16.2.7 16.2.8 16.2.8.1 16.2.8.2 16.2.9 16.2.9.1 16.2.9.2 16.2.9.3 16.2.10 16.2.11 16.2.12 16.2.13 16.2.13.1 16.2.13.2 16.2.13.3 16.2.13.4 16.2.14 16.2.15 16.2.16

Ergänzende Datensätze | 410 (n)s-Genitiv bei ehemals schwachen Maskulina | 410 Flexionslosigkeit starker/gemischter Maskulina/Neutra | 411 Korpusrecherche verbale e-Fuge | 411 Genutzte Abfragemuster | 411 Detailergebnisse nach Erstgliedtype | 411 Schwankungsfälle (Gesamttypen) | 413 Substantive in neuhochdeutschen Texten | 413 Solms (1999) | 414 Koordinationsellipse mit Bindestrich (Mainzer Korpus) | 414 Verfugung von simplizischen/präfigierten Feminina (GerManC, MhZ) | 417 Feminine Erstglieder mit unparadigmischer s-Fuge | 418 Suffixe | 419 Simplizia und präfigierte Feminina | 420 Genusschwankende Suffixe nach Canoo.net | 427 -nis | 427 -sal | 427 -tum | 427 Schwankungsfälle in DWDS und DTA | 428 Brückenkonstruktionen vs. Genitive | 431 Dreigliedrige nominale Strukturen | 432 Nübling/Szczepaniak (2008) | 433 Suffigierte Erstglieder | 433 Präfigierte Erstglieder | 435 Komponierte Erstglieder | 437 um-präfigierte Erstglieder im Vergleich | 439 Eigene DeReKo-Untersuchung zu betont präfigierten Erstgliedern | 440 es-Fuge | 441 NA-Komposita | 441

Literatur- und Quellenverzeichnis | 443 Index | 463

Abkürzungsverzeichnis A Ae. Ahd. Akk. CH D/Dtl. Dat. Det. Dt. Engl. F./Fem. Fnhd. Fränk. Frz. gem. Gen. Germ. Hd. Idg. Lat. M./Mask. Md. Mhd. Mnd. Mod. N./Neutr. Nd. Ndl. Nhd. Nom. Pl. schw./sw. Schwäb. Sg. skand. st. stbe.

Österreich Altenglisch Althochdeutsch (500–1050) Akkusativ Schweiz Deutschland Dativ Determinierer Deutsch Englisch Feminin(um) Frühneuhochdeutsch (1350–1650) Fränkisch Französisch gemischt Genitiv Germanisch (1. Jt. v. Chr.–200 n. Chr.) Hochdeutsch Indogermanisch (5.–1. Jt. v. Chr.) Lateinisch Maskulin(um) Mitteldeutsch Mittelhochdeutsch (1050–1350) Mittelniederdeutsch (1200–1600) Modifikator Neutrum/neutral Niederdeutsch Niederländisch Neuhochdeutsch Nominativ Plural schwach Schwäbisch Singular skandinavisch stark stammbildendes Element

https://doi.org/10.1515/9783110517682-202

1

Einleitung

Die Forschungsliteratur zu Komposita, insbesondere zu Fugenelementen ist so umfangreich, dass die Befürchtung naheliegt, das Thema sei schon lange „leergeforscht“. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird sich zeigen, dass dem mitnichten so ist: Auf diachroner Ebene hat man sich lange Zeit mit Einzelbelegen oder kleineren Untersuchungen begnügt, die es unmöglich machten, Entwicklungslinien zu erkennen. Das Deutsche gilt als „kompositionsfreudig“ (Schlücker 2012) und die Komposition als „springlebendig“ (Meineke 1991: 27). Dass das zu einem großen Teil dem Kompositionsmuster mit Fugenelementen zu verdanken ist, das sich im Frühneuhochdeutschen herausbildete, kann im Folgenden erstmals systematisch gezeigt werden. Hauptziel der korpuslinguistischen Untersuchung ist es, die Entstehung des verfugenden Kompositionsmusters aus pränominalen Genitivkonstruktionen im Fmhd. zu beschreiben: Ausgangs- und Zielkonstruktionen sind zwar bekannt, welche Einflussfaktoren die Entwicklung prägen und welche relative Chronologie sie aufweist, ist bisher allerdings weitgehend ungeklärt. Beschreibungen wie die folgende von Wegera & Prell (2000: 1597) werden sich als teilweise unzutreffend erweisen: Der Prozeß der ‚Univerbierung‘ verläuft häufig von der bloßen Kontaktstellung usueller, aber nicht fester Verbindungen (vgl. Okrajek 1966, passim) über lose (durch Doppelbindestrich) verbundene Zusammenschreibungen zu echten Komposita. Solange umfassende Untersuchungen hierzu ausstehen, kann keine Aussage zum jeweiligen Verständnis der zugrundeliegenden Einheit (Zusammenschreibung, Kompositum) gemacht werden (ansatzweise Pavlov 1983; Nitta 1987).

Ansätze zu einer konsequenten Anwendung morphologischer Produktivitätsmaße und -kriterien gab es im Bereich der Komposition bisher nicht. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf dem späten Fnhd. und dem frühen Nhd. (1500–1710), wobei häufige Bezüge auf die gegenwartssprachliche Situation und damit verbundene kleinere Erhebungen unabdinglich sind. In Kap. 2 wird der Gegenstandbereich zunächst grob abgesteckt, die verwendete Terminologie und das damit verbundene Wortbildungsverständnis skizziert, bevor in Kap. 3 die verwendeten Korpora und Belegsammlungen vorstellt werden. Es folgen zwei Kapitel zum Nhd., wobei stets diachrone Bezüge geschaffen werden: Kap. 4 gibt eine steckbriefartige Übersicht über die nhd. Fugenelemente, ihre Frequenz und ihre Distributionseigenschaften. Hier wird bereits deutlich, wie stark sie von historischen Flexionsklassenzugehörigkeiten geprägt sind. Im Anschluss daran (Kap. 5) wird das Konzept der Paradigmatizität disku-

https://doi.org/10.1515/9783110517682-001

2 | Einleitung

tiert: Ein verfugendes Muster ist dann paradigmisch, wenn das Fugenelement formgleich mit einer Genitivform oder dem Nominativ Singular des Erstglieds ist. Paradigmatizität ist zum Verständnis des verfugenden Kompositionsmusters unentbehrlich: Zum einen zeigt sie die historischen Verhältnisse auf, denen es entstammt, zum anderen dient sie als Maß für die Eigenständigkeit und Produktivität der Fugenelemente. Es wird sich zudem zeigen, dass nicht nur die Unterscheidung nach paradigmisch/unparadigmisch relevant ist, sondern auch die nach semantisch gefüllt/semantisch leer: Zur Verankerung der Fugenelemente in der Wortbildung wird häufig herangezogen, dass sie, selbst wenn sie formal dem Flexionsparadigma entsprechen, semantisch keine Flexion anzeigen (z.B. Brille-n-etui *‚Etui für Brillen‘). Dabei muss jedoch nach Form differenziert werden: Obwohl Fugenelemente in den meisten Komposita tatsächlich keine semantische Funktion haben, lassen sich systematische Ausnahmen finden, abgrenzen und erklären. Die nächsten Kapitel lassen sich drei Leitthemen unterordnen: Zunächst geht es darum, die für die Herausbildung des verfugenden Kompositionsmusters relevanten Phänomene und Konstruktionen zu beschreiben oder – im Falle der Komposita – überhaupt erst zu definieren und schließlich im Korpus zu analysieren. Dabei gilt es, die Eigenschaften und Veränderungen der fnhd. Nominalphrase herauszuarbeiten. Hier steht der Stellungswandel des attributiven Genitivs im Zentrum, dessen fnhd. Eigenschaften auch gegenüber dem Nhd. abgegrenzt werden müssen (Kap. 6). Kap. 7 widmet sich der Frage, was ein Kompositum ist. Was für das Nhd. nur an den Rändern strittig ist, erfordert im Fnhd. sorgfältiges Abwägen zahlreicher Faktoren, primär der Morphosyntax und Schreibung. Am Ende steht eine Arbeitsdefinition, mittels derer eindeutige Genitivkonstruktionen, eindeutige Komposita und uneindeutige Brückenkonstruktionen voneinander getrennt werden können. Kap. 8 schließt daran nahtlos an, hier wird danach gefragt, welche Typen von Genitiv- bzw. Brückenkonstruktionen sich funktional, d.h. semantisch, dazu eignen, als komplexe Wörter reanalysiert zu werden. Im Zentrum steht dabei die Referenz des ersten Substantivs. Die so ermittelten Konstruktionen werden schließlich mit den Daten des Mainzer Korpus in Bezug zueinander gesetzt. Dem folgt eine Abwägung weiterer möglicher Einflussfaktoren. Schließlich wird die Frage danach erörtert, warum der neue Kompositionstyp überhaupt entsteht: Dabei werden drei gängige Theorien (Auflösung von Ambiguitäten, Enstehung einer funktionalen Kategorie D, Ausbau der Nominalklammer) vergleichend bewertet. Der zweite große Teil widmet sich der Verbreitung, der Produktivwerdung und dem Status des neuen Kompositionsmusters im Wortbildungssystem: In Kap. 9 werden zunächst die Fugenelemente des Fnhd. mit ihren Distributions-

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eigenschaften beschrieben, wobei ein direkter Bezug zum nhd. System in Kap. 4 möglich ist. Darauf folgt eine ausführliche Einordnung der Produktivität (Kap. 10): Zunächst werden die Hauptmuster verfugender und nichtverfugender Komposita im Fnhd. quantitativ ausgewertet (realisierte und potenzielle Produktivität), dann folgt eine datengestützte qualitative Analyse, die Produktivitätszuwachs als Verlust morphologischer Restriktionen fasst. Dem schließt sich ein kurzer Ausblick auf das Nhd. an. In einem Exkurs (Kap. 11) wird die morphologische Struktur von NA-Komposita und Derivaten beleuchtet, in denen sich teilweise ebenfalls Fugenelemente finden, die sich aber gut gegenüber ihrer Hauptdomäne, den NN-Komposita, abgrenzen lassen. Auch sie verschaffen neue Erkenntnisse über die Produktivität. Schließlich wird in Kap. 12 die unparadigmische s-Fuge herausgegriffen, die als Produktivitätsindikator dient und im Nhd. sehr verbreitet ist. Details zu ihrer Entstehung und Ausbreitung sind dagegen bisher nicht bekannt. Insbesondere die Gründe für die Übertragung der s-Fuge auf Erstglieder, deren Paradigma sie nicht entspricht, sind bisher nicht zufriedenstellend geklärt. Hauptanliegen dieses Kapitels ist es, plausiblere von weniger plausiblen Ansätzen zu trennen und schließlich einen eigenen Vorschlag zu machen. Der Status fnhd. Komposita lässt sich nicht nur mit Produktivität und Paradigmatizität erfassen, sondern spiegelt sich auch im Schriftsystem: In Kap. 13 zeigt sich, dass mit Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibungen im Fnhd. und frühen Nhd. drei Verfahren der Kompositaschreibung genutzt werden, die zu unterschiedlichen Zeiten für verschiedene Muster unterschiedlich stark präferiert werden, und dass sie Zeugnis von der jeweiligen morphologischen Markiertheit der entsprechenden Muster ablegen. Im letzten Teil (Kap. 14) wird mit der möglichen Funktionalisierung von Fugenelementen, insbesondere der s-Fuge, ein Aspekt thematisiert, der vor allem für das Nhd. auf reges Forschungsinteresse stößt, der jedoch von den nun endlich vorhandenen historischen Daten stark profitiert. Entsprechend werden auf Basis der zuvor gewonnenen Erkenntnisse zwei größere Vorschläge diskutiert: Die Funktionalisierung als Marker schlechter phonologischer Wörter und die Markierung zunächst generell atypischer, dann morphologisch komplexer Erstglieder. Nachdem eine potenzielle Funktion der Fugenelemente identifiziert wird, wird überprüft, ob der Prozess sich in gängige Modelle morphologischen Wandels wie Grammatikalisierung, Degrammatikalisierung oder Exaptation fassen lässt. Literatur wird i.d.R. an Ort und Stelle referiert, um die einzelnen Kapitel auch eigenständig lesbar zu machen. Wo erforderlich, wurden getrennte Literaturteilkapitel vorgeschaltet, mitunter bot sich auch direkte Einbeziehung in die Analysen an.

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Gegenstandsbereich

Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Entstehung, Struktur und Produktivität von Typen der NN-Komposition, d.h. der Komposition zweier frei auftretender Substantive. Die NN-Komposition ist der weitaus häufigste Kompositionstyp im Nhd. (77,9% der Typen im Korpus von Ortner et al. 1991: 6) und, auch vor der Derivation, das am häufigsten angewandte produktive Wortbildungsmuster (vgl. Kap. 10). NN-Komposita stehen damit im Zentrum der Komposition, an der auch andere Wortarten Anteile haben – allerdings in wesentlich geringerem Umfang. Neben NN-Komposita werden nur AN-, NA- und AA-Komposita (Altbestand, handzahm, hellblau) in nennenswerter Menge gebildet und gebraucht, alle anderen Fälle sind vernachlässigbar – bei ihnen ist oft zweifelhaft, ob tatsächlich von einem Wortbildungsmuster gesprochen werden kann, oder ob nicht nur vereinzelte Univerbierungen vorliegen (z.B. A+P: vollauf, vgl. auch Becker 1992). Da im Folgenden primär das Verfugungsverhalten von Kompositumserstgliedern analysiert wird, sind NA-Komposita prinzipiell ebenfalls relevant (nennen-s-wert, bär-en-stark, art-∅-spezifisch) – für sie muss aber teilweise eine andere Genese angenommen werden, was zu Verfugungsbesonderheiten führt. Entsprechend ist eine gemeinsame Behandlung mit den NN-Komposita nicht angebracht, NA-Komposita werden in einem gesonderten Exkurs behandelt (Kap. 11.1), der außerdem auch Fälle von Verfugung vor Derivationssuffix (versuch-s-weise, frühling-s-haft) berücksichtigt. Neben Substantiven können auch Verbstämme verfugen (Les-e-studie), wobei sich nur marginale Berührungspunkte mit substantivischen Erstgliedern ergeben. VN-Komposita sind aber untersuchungsrelevant, weil ihre Abgrenzung gegenüber NN-Komposita nicht immer zweifelsfrei möglich ist (Beichtvater, Erntezeit, Kap. 4.10 zur Verfugung, Kap. 7.2.6 zur Abgrenzung im Fnhd.). In diesem Kapitel sollen zunächst die NN-Komposita nach Semantik und Form eingegrenzt werden (Kap. 2.1). So lässt sich später bestimmen, welche Komposita Untersuchungsgegenstand sein können und für welche Gruppen getrennte Analysen durchgeführt werden müssen. Im Anschluss wird das Wortbildungsverständnis der vorliegenden Untersuchung und ihr Bezug zur Syntax geklärt (Kap. 2.2), in diesem Zusammenhang erfolgt auch eine kurze Auflistung und Begründung der gewählten Terminologie (Kap. 2.3). Schließlich wird die formale Geschichte der NN-Komposition, d.h. der Aufbau „eigentlicher“ und die Entstehung „uneigentlicher“ Komposita, die später im Detail untersucht wird, kurz skizziert (Kap. 2.4).

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2.1 Typen der NN-Komposition Unter NN-Komposita werden für meine Zwecke nur komplexe Wörter gefasst, die aus zwei frei auftretenden Substantiven bestehen (NN-Kompositum). Der Sondertyp der Konfixkomposita und das vokalische Verfugungsverhalten der (primär) griechischstämmigen Konfixe (Disk-o-thek, Wahl-o-mat) bleibt damit von vorne herein ausgeschlossen. Ebenso werden Phrasenkomposita (SchönesWochenende-Ticket) und Komposita mit unverbundenen Reihungen (MutterKind-Kur, Ost-West-Konflikt) nicht berücksichtigt.

2.1.1 Semantik Der semantische Kern eines NN-Kompositums kann entweder endozentrisch sein, dann liegt er im Dt. entweder auf seinem Zweitglied (Determinativkompositum) oder gleichmaßen auf Erst- wie Zweitglied (Kopulativkompositum), oder er kann exozentrisch sein, dann ist die Grundsemantik in keinem der beiden Glieder enthalten. Den verschiedenen Typen liegen unterschiedliche Bildungsmuster zugrunde. 2.1.1.1 Endozentrische Komposita Der Großteil der NN-Komposita (ca. 88% im Korpus von Ortner et al. 1991: 112) besteht aus Determinativkomposita, bei denen das Erstglied (Determinans, Bestimmungswort) das Zweitglied (Determinatum, Grundwort) näher bestimmt.1

|| 1 Komposita mit umgekehrtem Determinationsverhältnis bilden einen seltenen Ausnahmefall. Ortner et al. (1991: 112, 285) führen Vierteljahr ‚Viertel eines Jahrs‘ an, eventuell gestärkt vom AN-Kompositum Halbjahr. Bei Lammlachs‚ Schweinelachs, Kalbslachs, die ein Fleischstück aus dem Kernmuskel des Rückens von Lämmern, Schweinen oder Kälbern bezeichnen (s. auch Klos 2011: 163), erscheint eine metaphorische Interpretation des Zweitglieds, wie unten bei Tischbein, Fleischwolf, zielführender: Das Fleisch ähnelt farblich einem Lachs, das Erstglied spezifiziert seine Herkunft. Entsprechend wird auch der Simplex Lachs gebraucht, vgl. Duden online: 1. großer, im Meer lebender, räuberischer Fisch mit rötlichem Fleisch, der zum Laichen die Flüsse aufsucht 2. (Kochkunst) Kernmuskel des Rückens von Schlachttieren (besonders Schwein, Rind und Schaf)

Ebenfalls nur scheinbar widersprüchlich ist Muttergottes/Mutter Gottes (neben gleichbedeutendem Gottesmutter), das aufgrund der verbreiteten Zusammenschreibung wie Univerbierung mit postnominaler Genitivkonstruktion wirkt – hier ist allerdings der Wortstatus zweifelhaft, es dürfte sich eher um ein Nennsyntagma handeln (s. Kap. 2.2, vgl. auch Meineke 1991: 67), also

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Das semantische Verhältnis ist dabei meist sehr vage, kann jedoch zumeist mit „[Kompositum] ist eine Art von [Grundwort]“ umschreiben werden (Kürschner 1974: 33). Bei unbekannten Komposita wird die Lesart primär durch Kontext und Zweitgliedsemantik gesteuert. So führt Klos (2011: 288–289) an, dass ein Zweitglied wie -skandal wahrscheinlich hinsichtlich seines Themas, seiner Beteiligten oder seines Auslösers spezifiziert wird (s. auch Flach et al. 2018), da diese kommunikativ von Interesse sind. Eine noch stärkere Eingrenzung des Interpretationsspielraums liegt vor, wenn das Zweitglied eine Ergänzung fordert. Entspricht das Erstglied seinen Anforderungen, so wird es entsprechend interpretiert. Hierunter fallen Rektionskomposita (Hausbesichtigung), bei denen das Erstglied als Subjekt oder Objekt der verbalen Derivationsbasis (besichtig-) verstanden wird, sowie Komposita mit einem relationalen Zweitglied (Fortschrittsfan), bei dem die Semantik eine Präzisierung verlangt (Fan wovon?). Kann das Erstglied nicht besichtigt werden (Montagsbesichtigung) oder ist es unwahrscheinlich, dass man Fan davon ist (Problemfan), wird eine nichtrektionale Interpretation gewählt (z.B. ‚Besichtigung, die am Montag stattfindet‘, ‚Fan, der zum Problem wird‘). Zu den Determinativkomposita zählen aber auch Bildungen, bei denen eine Umschreibung als ‚Art von‘ nicht adäquat ist: Ein Fleischwolf, Stiefelknecht, Seepferdchen, Stubentiger, d.h. ein Kompositum, bei dem das Zweitglied metaphorisch verwendet wird, kann kaum als ‚eine Art von Wolf/Knecht/Pferd/Tiger‘ gelten. Derartige Fälle unterscheiden sich von Lexikalisierungen2 insofern, als kein semantischer Wandel nach Bildung des Kompositums stattgefunden hat (anders z.B. Klos 2011: 66–68): Schon bei der Erstbenennung bezeichnete Seepferchen keine ‚Art von kleinem Pferd‘, sondern ein optisch pferdeähnliches Tier. Dennoch schränkt auch hier das Erstglied das Zweitglied hinsichtlich seines Anwendungsbereichs ein, es gibt keinen Grund, sie unberücksichtigt zu lassen (anders Kienpointner 1985: 9–10, die bei analogen VN-Komposita von „Substitutionsbildungen“ spricht, die sie getrennt ausweist. Zu Kompositumsmetaphern s. auch Skirl 2010.)

|| analog zu Sohn Gottes, Haus Gottes etc. sein. (Für einen frühen Fall von Zusammenschreibung mit postnominalem Gottes vgl. 71a). 2 Unter Lexikalisierung wird hier nicht das Anlegen eines mentalen Lexikoneintrags verstanden (wie z.B. bei Eisenberg 2006: 215), sondern der diachrone Prozess und sein Resultat, bei dem durch semantischen Wandel Intransparenz/Demotivation vormals transparenter(er) Strukturen entsteht, d.h. Idiomatisierung (ähnlich Bauer 1983: 48, Huddleston & Pullum 2002: 1692). Die terminologische Festlegung stellt keine Positionierung dazu dar, welche Einheiten wie im Lexikon gespeichert werden (oder gar ob es sinnvoll ist, ein „Lexikon“ anzunehmen).

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Kopulativkomposita, bei denen beide Bestandteile gleichermaßen zur Semantik beitragen, treten öfter bei den Adjektiven auf (wissenschaftlich-technisch, süßsauer). Bei den Substantiven (Spieler-Trainer, Hosenrock, Fürstbischof) ist der Übergang zum Determinativkompositum oft fließend (Radiowecker ‚Gerät, das Wecker und Radio gleichermaßen ist‘ vs. ‚Wecker, der mittels Radio weckt‘). Für eine weitere semantische Differenzierung s. z.B. Henzen (1965: 77) oder Ortner et al. (1991: 146–156). Gelegentlich werden in der Literatur auch Hyponym-Hyperonym-Relationen als Kopulativkomposita aufgefasst (Bauersmann, Katzentier, Hirschkuh, Kieselstein, Eichenbaum), z.B. von Demske (2001: 311). Hier bestimmt das Erstglied das Zweitglied zwar näher, gleichzeitig beziehen sich aber beide Substantive auf dasselbe Objekt. Henzen (1965: 38) betrachtet derartige Bildungen als Bindeglied zwischen Determinativ- und Kopulativkomposita, Ortner et al. (1991), denen ich mich anschließe, sprechen von verdeutlichenden Zusammensetzungen, die sie als Teil der Determinativkomposita ansehen (vgl. Kap. 8.2.3). Meineke (1991: 42) begründet die verhältnismäßige Seltenheit von Kopulativkomposita damit, dass Referenten, die zwei Aspekte gleichermaßen in sich vereinen, selten seien und entsprechend auch selten versprachlicht werden. Da es sich beim Herausgreifen zweier gleichrangiger Aspekte aber um einen kognitiven Vorgang aus SprecherInnenperspektive handelt, ist zudem der geringere Bedarf ausschlaggebend, ein Denotat aus zwei Perspektiven zu beschreiben – ein Smartphone ließe sich durchaus als Telefoncomputer (und umgekehrt) bezeichnen, ein Spezi als Colafanta, ein Maultier als Pferdeesel; derartige Bildungen finden sich aber meist nur bei einem besonderen Wunsch nach Verdeutlichung, z.B.: (1)

Ich hatte eines dieser neuen, angesagten Handys, die irgendwann auch wieder out sein werden. So einen kleinen, flachen Telefoncomputer, hinter dessen Bildschirm die Verlockungen des Multimedia auf mich warteten: Spiele, Musik und Internet. (Die Zeit, 25.6.2009)

2.1.1.2 Exozentrische Komposita Bei exozentrischen Komposita, auch als Bahuvrīhi bezeichnet, ist keines der beiden Glieder der semantische Kern. Sie speisen sich aus zwei Quellen:3 Direkte Bildungen enthalten i.d.R. ein metonymisches Zweitglied (Lockenkopf

|| 3 Zu den exozentrischen Komposita gehört auch eine große Gruppe, die nicht aus zwei Substantiven besteht, z.B. AN-Komposita wie Grünschnabel, Rotkehlchen, Langfinger, genauso Univerbierungen wie Stelldichein, Vergissmeinnicht.

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‚Mensch mit Locken‘). Hierzu zählt auch, was Henzen (1965: 82) „umgekehrte Bahuvrīhi“ nennt (Rückenauge ‚Wurm mit Auge auf dem Rücken‘, Nashorn ‚Tier mit Horn auf der Nase‘). Die zweite Quelle stellen bestehende Determinativkomposita dar, die insgesamt metonymisch verwendet werden (Pappnase ‚Nase aus Pappe‘ > ‚alberner Mensch‘, Handball ‚Ball, der mit der Hand gespielt wird‘ > ‚Sportart, die mit einem Ball und den Händen betrieben wird‘).

2.1.2 Form 2.1.2.1 Fugenelemente Im Gegenwartsdt. gibt es zwei formal unterschiedliche NN-Kompositionsmuster, eines, bei dem Substantive direkt verbunden werden (Computer+∅+bildschirm) und eines, bei dem weiteres Material in Form von Fugenelmenten an das Erstglied tritt (Aktion+s+theke). Bei beiden kann ein auslautendes Schwa getilgt werden (Woll__+∅+waschgang, Hilf__+s+sheriff), was auch als „subtraktive Fuge“ bezeichnet wird. Aus semantischer Perspektive bezeichnet Schlücker (2012: 6) die NN-Komposition als „ein einheitliches Wortbildungsmuster […], das durch die Fugenelemente ein gewisses Maß an formaler Variation aufweist“, aus formaler Perspektive wird im Folgenden dennoch von zwei „Typen“ die Rede sein, dem verfugenden und dem nicht-verfugenden. Um den Unterschied zum verfugenden Typ zu verdeutlichen, wird die Wortfuge des nichtverfugenden Typs mit ∅ gekennzeichnet und gelegentlich als „Nullfuge“ bezeichnet, dahinter verbirgt sich jedoch keine Annahme eines irgendwie gearteten leeren Elements analog zu den in der generativen Literatur oft angenommenen Nullmorphemen. Alle semantischen Typen können unverfugt und verfugt auftreten.4 In der Literatur werden Fugenelemente teilweise auch als „Fugenmorpheme“ bezeichnet, so bei Harlass & Vater (1974), Augst (1975), Fanselow (1981) und Gallmann (1999). Der Terminus ist unpräzise, da Fugenelemente, im Gegensatz zu Morphemen, nicht bedeutungstragend sind. Dressler et al. (2001), Wegener (2003) und Werner (2012, 2016) sprechen von „Interfixen“, womit sie mit Malkiel (1958) bedeutungslose Affixe meinen – auch diese Bezeichnung ist unglücklich gewählt, sind Affixe doch gebundene Morpheme und damit per Definition bedeutungstragend. Dressler et al. (2001) gehen sogar so weit, das Auftreten von Fugenelementen als Derivation zu bezeichnen, dies scheint aber vor al|| 4 Vgl. aber Altmann & Kemmerling (2005: 32, 101), die Fugenelemente tendenziell als Indikatoren für ein Determinativverhältnis betrachten.

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lem dadurch bedingt, dass unbedingt eine Zuordnung zu entweder Flexion oder Derivation erfolgen soll. In der älteren Literatur findet sich „Fugenzeichen“, die Anbindung an entweder die Graphematik (Schriftzeichen) oder die Bedeutung (Zeichen als Signifiant) macht das Wort ebenfalls ungeeignet. Der Begriff „Fugenelement“ ist dagegen bewusst vage gehalten, er suggeriert keine Funktion oder Bedeutung und wird in der aktuellen Forschung präferiert (z.B. Neef & Borgwaldt 2012, Nübling & Szczepaniak 2013, Fuhrhop & Kürschner 2015). 2.1.2.2 Scheinkomposita Da die vorliegende Arbeit diachron angelegt ist, wird unter Kompositum nur das gefasst, was durch direkte Reanalyse syntaktischer Strukturen oder Komposition entstanden ist. Das bedeutet, dass Volksetymologien, bei denen aus intransparenten Strukturen (wieder) scheinbar motivierte Komposita werden, unberücksichtigt bleiben. Es ist zwar gut möglich, dass die neue Form sich nach produktiven Wortbildungsprozessen der jeweiligen Sprachstufe richtet (Maulwurf wie Maulkorb), genauso kann jedoch bestehendes Lautmaterial einwirken und atypische Formen schaffen (z.B. Sündflut, alle echten Sünde-Komposita aber mit der Kompositionsstammform Sünden-). Es ist zwar nicht auszuschließen, dass Volksetymologien wiederum Basen für weitere analogisch gebildete Komposita darstellen, das bleibt aber unüberprüfbar. (Anders Solling 2012: 47, der nur marginal an der Verfugung interessiert ist und derartige Fälle daher als normale NN-Komposita bucht.) Hinzu kommt, dass Bildungen, die (teilweise) intransparent geworden sind, nicht zum Kompositumsinventar eines bestimmten Untersuchungszeitraums gezählt werden: Ehemals komplexe Wörter wie Wimper (< mhd. wintbrā(we)) werden als Simplizia behandelt. Teiltransparente Strukturen wie Notdurft, Himbeere haben im Fnhd. und Nhd. aufgrund des gebundenen Bestandteils höchstens marginalen Kompositumsstatus. Das mhd. nōtdurft war hingegen völlig transparent, das Substantiv durft ‚Bedürfnis‘ existierte noch – in eine Beschreibung mhd. Komposita würde es also einbezogen. Bei Formen wie Drogenabhängige, Klavierspielen handelt es sich eigentlich um Konversionsprodukte adjektivischer Komposita (drogenabhängig) bzw. inkorporierender Verben (klavierspielen). Wo möglich, wurden sie ausgeschlossen, die Unterscheidung ist jedoch teilweise problematisch. Schließlich gilt es auch, Präfixoide abzugrenzen (Lieblingsessen, Hauptstadt, dazu Kap. 7.2.6).

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2.1.3 Kompositum vs. Komposition Je nach Untersuchungsziel gilt es zu unterscheiden zwischen 1. strukturellen NN-Komposita, also komplexen Wörtern, die zum Untersuchungszeitraum in mindestens zwei substantivische Bestandteile (plus eventuelles Fugenelement) zerlegbar sind. Hierunter fallen neben den regulären Komposita insbesondere einige der eben behandelten „Scheinkomposita“, 2. dem Gesamt-NN-Kompositumsinventar, also Formen, die im relevanten Untersuchungszeitraum oder in vorangehender Zeit durch den produktiven Wortbildungsprozess der Komposition gebildet wurden und noch strukturell transparent sind, und 3. den neugebildeten NN-Komposita, also Formen, die nur im relevanten Untersuchungszeitraum durch den produktiven Wortbildungsprozess der Komposition gebildet werden.

2. NN-Kompositumsinventar

Schein-NN-Komposita

Sonne-n-schein (mhd. sunnenschîn) Nacht-∅-zeit (mhd. nahtzît)

Droge-n-abhängige Erz-∅-feind

Him-∅-beere Not-∅-durft

3. Neugebildete NN-Komposita Nummer-n-schild Camping-∅-kocher

1. strukturelle NN-Komposita

Abb. 1: Strukturelle vs. prozessuale Einteilung von Komposita des Nhd.

Will man den potenziellen Input erfassen, aus dem Sprecherinnen und Sprecher Regeln zur Komposition ableiten, so betrachtet man Gruppe 1 oder 2. (Zu den Gründen für die Beschränkung auf Gruppe 2 s.o.) Will man dagegen erfassen, was zu einer bestimmten Zeit tatsächlich gebildet wird, so ist Gruppe 3 relevant. Dabei spielt es keine Rolle, ob man sich Okkasionalismen oder Neologismen ansieht – ob das eine zum anderen werden kann, hängt von Kommunikationsabsichten und Bezeichnungsbedarf ab, einen strukturellen Unterschied gibt es hier nicht.

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In der Wortbildungsliteratur werden die verschiedenen Ebenen häufig nicht getrennt, sodass vermeintlich aktuelle Komposition oft an fest etablierten Komposita illustriert wird. Das kann im schlimmsten Fall zu einem ahistorischen Urteil führen, wenn z.B. das Erstglied in Zwerg-en-haus als Dativ Plural aufgefasst wird (so Dressler et al. 2001: 188), oder wenn komplexe Wörter wie Schriftsteller, Grundsteinlegung als Zusammenbildungen von ternärer Struktur analysiert werden (so Leser 1990), obwohl sie durch einen regulären Kompositionsprozess mit heute nicht mehr gebräuchlichen Zweitgliedern entstanden sind.5

2.2 Wortbildungsprodukte und syntaktische Strukturen Je nach theoretischem Ansatz werden die Prinzipien, nach denen neue Wörter gebildet werden, z.B. als „Regeln“, „Muster“, „Modelle“ oder „Schemata“ gefasst (für eine knappe Diskussion vgl. z.B. Hartmann 2016: 134, ausführlicher Kempf 2016). Dahinter steht die Frage, ob man Wortbildung als Prozess betrachtet, bei dem mechanisch ein Set von Regeln abgearbeitet wird, an dessen Ende ein komplexes Wort steht, oder ob man derartige Regularitäten lediglich zur Deskription formuliert, ohne ihnen eine psychologische Realität zuzuschreiben. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Wortbildung über eine Generalisierung vorhandener komplexer Wörter stattfindet, d.h. dass „Wortbildungsregeln“ Formen besonders starker Analogie sind. Analogie wird häufig nur als Erklärung für Wortbildung herangezogen, wenn konkrete Vorlagen benannt werden können, wie es z.B. Meibauer et al. (2015: 39) tun (ebenso Becker 1992: 9): Allerdings kann man beobachten, dass nicht alle Wörter nur aufgrund der Anwendung einer Regel zustande kommen: (47) Hausmann (Hausfrau), Braunzone (Grauzone), Fußwerker (Handwerker), […] In diesen Fällen scheint die neue Bildung nicht aufgrund einer Regel zustande zu kommen, sondern durch Bezug auf eine schon existierende Wortbildung […].

Solche Fälle sind jedoch nur Extreme des allgemeinen Prinzips: Hier ist die Vorlage ein konkretes Wort, genauso kann aber eine große Gruppe von Wörtern als Vorbild dienen. Der Unterschied zu Fällen wie Hausmann ist rein quantitativ. Dass Komposita mit dem Erstglied Bund- ‚Bündnis; Vereinigung; Gesamtstaat‘ bei aktuellen Neubildungen immer das Fugenelement -es- nehmen (Bund-es-

|| 5 Vgl. noch Grimm & Grimm (1854–1961: Lemma „Legung“): „LEGUNG, f. das legen: positio legunge. Dief. 449a; die legung des grundsteins; legung der balken“.

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energiesparlampenverordnung, Bund-es-blödler)6 lässt sich auf das feste Muster etablierter Komposita wie Bund-es-ministerium, Bund-es-anstalt zurückzuführen, das sich analogisch ausdehnt. Ebenso verhält es sich mit der konsequenten s-Verfugung von ung-Nominalisierungen (Vergreisung-s-beschleuniger). Dagegen wirken auf Komposita mit dem Erstglied Wort- mehrere verschiedene Gruppen ein: Wort-∅-charts wie z.B. Wort-∅-atlas, Wort-∅-bestand, Wort-∅-familie, dagegen Wört-er-schlenderei wie Wört-er-buch. Es können dabei auch Dubletten entstehen, z.B. Wort-∅-liste/Wört-er-liste, in denen sich die konkurrierenden Muster spiegeln. Komposita und syntaktische Strukturen unterscheiden sich zwar formal, eine analoge funktionale Abgrenzung entspricht aber nicht der Gebrauchswirklichkeit. Phrasen werden in der Literatur meist als beschreibend, Komposita als benennend eingeordnet. Komposita greifen demnach einen „Gegenstand als eine Art oder Sondertyp eines allgemeineren Kreises von Gegenständen“ heraus (Pavlov 1972: 66), wirken begriffskonsolidierend, kategorisierend, während Syntagmen charakterisieren und differenzieren (Fleischer 1984, Barz 1996: 143, Meineke 1991: 63). Phrasen können jedoch ebenso eine Bennungsfunktion ausüben wie Komposita (sog. Nennsyntagmen). So zeigen zwar Verbindungen aus Adjektiv und Substantiv wie weißer Schal keine besonders enge Verbindung – die Farbe dient dazu, den Schal genauer zu beschreiben. Bei einer Konstruktion wie weißer Hai handelt es sich aber um eine feste Gattungsbezeichnung, bei der die weiße Farbe zwar einmal Benennungsanlass war, aber keine Rolle bei der Verwendung des Nennsyntagmas spielt – genau wie beim Kompositum Blauwal (vgl. Klos 2011: 295–296). Nennsyntagmen sind, wie Komposita, untrennbar verbunden, nur die direkte AN-Verbindung hat eine Benennungsfunktion (d.h. nicht *weißer großer Hai, *der Hai ist weiß, so auch Meineke 1991: 36–37).7 Die funktionale Überschneidung wird auch an bedeutungsgleichen Konstruktionen wie grüner Tee/Grüntee deutlich.8 Es ist

|| 6 Diese und die folgenden Erstbelege aus dem Jahr 2010 entstammen den von mir erhobenen Wortwartedaten, einer Sammlung von Okkasionalismen und Neologismen. Zur Korpusbeschreibung s. Kap. 3.3.2. 7 Der einzige Unterschied zwischen Syntagma und Kompositum bei AN-Verbindungen besteht darin, dass das das Syntagma leichter remotiviert werden kann – mit weißer Hai kann prinzipiell auch ein anderer Hai bezeichnet werden, der weiß ist. In der Orthografie können Nennsyntagmen durch Adjektivgroßschreibung gekennzeichnet werden, insbesondere fachsprachlich wird dies häufig genutzt. 8 Vereinzelt erhält sich die adjektivische Flexion in einer Konstruktion, die sich durch ihre Prosodie als Kompositum ausweist, z.B. bei Hohepriester, Langeweile. Es handelt sich aber nicht um ein produktives Muster.

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also unangebracht, aus der formalen Grenze zwischen Wort und Syntagma auch eine funktionale abzuleiten – zwar übt das Kompositum sofort eine Benennungsfunktion aus, die Phrase kann dies aber ebenso (s. auch Ortner & Ortner 1984: 15, Meineke 1991: 32–33, Hüning & Schlücker 2010). Auch bei Konstruktionen mit zwei Substantiven gibt es im Nhd. benennende Syntagmen, so die metaphorischen Bildungen Keim der Hoffnung, Stein der Weisen, Stein des Anstoßes, Zahn der Zeit, aber auch nicht-metaphorische Konstruktionen wie Haus Gottes ‚Kirche‘, Passion Christi sind als Nennsyntagmen zu betrachten, hinzu kommen Eigennamen wie Ministerium des Inneren (neben Innenministerium), Kap der guten Hoffnung. In manchen Fällen bestehen Syntagma und Kompositum semantisch unterschiedslos nebeneinander (Lauf der Welt, Weltenlauf).

2.3 Terminologie Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, dass Syntax und Morphologie im Untersuchungszeitraum Pole eines Kontinuums sind, keine binären Kategorien. Es gibt Konstruktionen, die über eine große Stellungsfreiheit verfügen, deren Bestandteile getrennt determiniert und modifiziert werden können und deren morphologische Form (insbesondere das Flexiv) funktional gesteuert wird – sie sind prototypisch syntaktisch. Auf der anderen Seite gibt es Konstruktionen, deren interne Struktur invariant ist, die nur als Ganzes determiniert und modifiziert werden können und deren morphologische Form (d.h. deren Verfugung), weitgehend analogisch gesteuert wird – sie sind prototypisch morphologisch. Dazwischen gibt es Konstruktionen, die Merkmale beider Pole in sich vereinen. Für die beiden Pole werden die Termini „Syntax“, „Syntagma“ und „Wortbildung“, „Kompositum“, „komplexes Wort“ verwendet. Ist der Status einer Struktur irrelevant oder nicht bestimmbar, so wird von „Konstruktion“ gesprochen. Der Terminus wird in einem allgemeinen Sinn für zusammengehörige Elemente genutzt. Eine Genitivkonstruktion teilt sich in das Bezugsnomen/Kopfnomen und das Genitivattribut. In der Literatur ist auch häufig synonym von „adnominalem Genitiv“ die Rede. Ein „Kompositum“ ist ein komplexes Wort aus zwei freien Morphemen, ungeachtet seines Zustandekommens, „Komposition“ bezeichnet das Wirken eines Wortbildungsmusters oder Schemas, das direkt Komposita hervorbringt (so auch Kienpointner 1985: 20). Beinhaltet ein Kompositum ein Fugenelement, so bezeichne ich es als „verfugt“ oder „verfugend“, andernfalls als „unverfugt“, „nichtverfugt“. Ist nicht von einzelnen Komposita die Rede, sondern von strukturell gleichartigen Gruppen, wird von „Kompositumstyp“ ge-

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sprochen. Geht es um Gruppen, die durch starke Analogie weiteren Zuwachs erfahren, wird der Terminus „Wortbildungsmuster“ oder „Kompositionsmuster“ verwendet.

2.4 Entstehung der Kompositionstypen 2.4.1 Indogermanischer Kompositionstyp („eigentliche Komposition“) Der indogermanische Kompositionstyp, mit Grimm (1826: 407) häufig als „eigentliche Komposition“ bezeichnet, verfügt schon im Germ. über zwei Muster, deren Nutzung abhängig von der Flexionsklassenzugehörigkeit des Erstglieds ist. Nutzt die entsprechende Flexionsklasse ein stammbildendes Element, so tritt dies auch in der Komposition auf (vgl. 2a). Nutzt sie es nicht (sog. Wurzelnomina), so wird oft der bloße Stamm kombiniert (2b) – es kommt hier jedoch auch zur Übernahme des Themavokals -o- und zur sonstigen (teilweise systematischen) Nutzung abweichender Elemente (Krahe & Meid 1967: 19, vgl. 2c). Damit bestehen bereits früh zwei Muster für die Komposition: N+X+N und N+∅+N. (2) a. got. mar-i-saiws ‚See (Meer-STBE-See)‘ germ. mar-i-z ‚Meer NOM.SG‘ b. got. man-leika ‚Menschenbild‘ got./ahd. man ‚Mann NOM.SG‘ c. ahd. man-a-līhho Im Ahd. verlieren die germ. Kompositionsvokale a, ō, i, u, die Szczepaniak (2016: 318) als „first layer of linking elements“ bezeichnet, durch analogischen Ausgleich und Lautwandel schließlich ihre Anbindung an die Flexionsklassen.9 Qualität und Quantität des Vokals verändern sich: Formen wie spil-o-man ‚Spielmann‘ zeigen den altem Themavokal während spil-i-hus ‚Ringplatz‘ von vokalharmonischer Angleichung zeugt (vgl. Demske 2001: 297). In der Folge setzt lautliche Reduktion zu -e- ein, in langsilbigen Stämmen kommt es zum völligen Schwund. Der Prozess setzt sich im Mhd. fort, somit wird das ursprünglich seltene Muster N+N gestärkt. (Vgl. Gröger 1911, Nübling & Szczepaniak 2013: 69–70.) Daneben existieren im Germ. auch stammbildende Elemente, die zusätzlich Konsonanten beinhalteten. Dazu gehören die n-Stämme, deren Reflexe jedoch

|| 9 Es handelte sich i.d.R. um die a-, ō- und i-Deklination (Braune 2004: 183). Die u-Deklination ist schon früh weitgehend zur i-oder a-Deklination übergegangen (Braune 2004: 205), die verbliebenen Mitglieder nutzen den Vokal jedoch im Ahd. teilweise noch.

Entstehung der Kompositionstypen | 15

in germanischen Komposita nicht nachweisbar sind. Sie greifen auf ihren vokalisch auslautenden Nominativ Singular zurück (got. guma-kunds ‚Mann + Geschlecht‘, Genitiv gumins) (vgl. Krahe & Meid 1967: 20). Die s-Stämme, im Ahd. zur a-Deklination übergegangen, weisen als ehemaliges stammbildendes Element -ir- (< germ. -iz-) auf. Es wird noch im Ahd. zum Pluralmarker grammatikalisiert (Braune 2004: 188), ist jedoch erst in Komposita zu finden, nachdem bereits zahlreiche eindeutige Fälle uneigentlicher Komposition belegt sind. Hier liegt also wahrscheinlich der Genitiv Plural zugrunde (Nübling & Szczepaniak 2013: 70–71, Szczepaniak 2016: 328). In der Fuge eigentlicher Komposita treten somit nur Vokale aus ehemaligen stammbildenden Elementen auf, eine gleiche Herkunft konsonantischer Fugenelemente, wie sie Wegener (2008) für -(e)nund -er- vorschlägt, ist unplausibel (Details bei Nübling & Szczepaniak 2013 und Szczepaniak 2016). Das heute noch verbliebene Schwa in der Kompositionsfuge stimmt fast ausnahmslos mit dem Pluralmarker überein. Geht das verfugende Erstglied auf einen kurzsilbigen Stamm zurück (wie Tag-e-lohn, ahd. tag), so kann die Fuge ein ehemaliges stammbildendes Element sein. War der ahd. Stamm dagegen langsilbig (wie Schwein-e-futter, ahd. swīn; Pferd-e-stall, ahd. pherit; Hund-e-hütte, ahd. hunt), muss es sich um eine spätere Herkunft aus dem (Genitiv) Plural handeln, da stammbildende Elemente in dieser Position vollständig getilgt wurden (Szczepaniak 2016: 329).

2.4.2 Frühneuhochdeutscher Kompositionstyp („uneigentliche Komposition“) Der neue, „uneigentliche“ Kompositionstyp entsteht erst wesentlich später durch Univerbierung syntaktischer Konstruktionen. Solche Univerbierungsprozesse finden sich zwar bereits früh in verschiedenen idg. Sprachen, allerdings handelt es sich dabei um vereinzelte Fälle, die weit entfernt von einer Systematik sind (Krahe & Meid 1967: 17–18): (3) a. b. c. d.

griech. diós-kouroi ‚Zeus.GEN-söhne‘ lat. aquae-ductus ‚Wasser.GEN-zug‘10 altind. jā́s-pati- ‚Geschlecht.GEN-herr‘ got. baurgs-waddjus ‚Stadt.GEN-mauer‘

|| 10 Dem gegenüber steht z.B. lat. pater familias mit nachgestelltem Genitiv. Die Flexion (-as statt -ae) weist darauf hin, dass auch diese Konstruktion als feste Fügung betrachtet wird.

16 | Gegenstandsbereich

In den germ. Sprachen ist got. baurgs-waddjus der älteste Beleg. In den westund nordgerm. Sprachen sind häufiger univerbierte Komposita zu finden, so die lehnübersetzten Wochentagsbezeichnungen (ahd. sunnūn-tag) und eine Reihe weiterer Bildungen (Krahe & Meid 1967: 18, Nübling & Szczepaniak 2013: 72, Szczepaniak 2016: 330): (4) a. ahd. phaffen-wīb, ōheimes-sun, hanen-zunga ‚Hahnenzunge (Pflanze)‘, ohsen-wurz, storches-snabel, calpes-hūt, rindes-zunga, rindro-stal ‚Rinderstall‘ b. ae. landes-mann, oxan-hyrde ‚Rinderhirte‘, nunnan-mynster ‚Nonnenkloster‘ Ein produktives Kompositionsmuster des Schemas N+X+N entsteht jedoch wesentlich später erst, und zwar in unterschiedlichem Ausmaß in fast allen germ. Sprachen. Das Material für die nativen Fugenelemente des Dt. stammt also aus zwei Quellen: Zum einen handelt es sich um ehemalige stammbildende Elemente (Typ tag-a-lon, Tag-e-lohn), zum anderen um Flexive aus dem Genitiv Singular (des fürst-en hof > der Fürst-en-hof, des land-es sitten > die Land-es-sitten) oder Plural (der ohr-en schmaus > der Ohr-en-schmaus) (vgl. z.B. Augst 1975: 81, Demske 1999, Wegener 2003: 429), vereinzelt sind auch Nominativ und Akkusativ in Rektionskomposita denkbar (die Kind-er lachen > das Kind-er-lachen, aber ebenso möglich: der kinder lachen > das Kinderlachen). Beide Bildungstypen bringen neben dem verfugten auch ein unverfugtes Kompositionsmuster hervor, sodass sich heute N+FE+N und N+∅+N gegenüberstehen (Tab. 1): Immer dort, wo in der Syntax kein Flexiv vorhanden ist, ist das Univerbierungsresultat nicht von den „eigentlichen“ Komposita ohne Themavokal zu unterscheiden. Tab. 1: Überschneidungen bei Form und Genese von NN-Komposita.

idg. Typ („eigentliche Komposition“)

verfugender Typ N+FE+N

nicht-verfugender Typ N+∅+N

Tag-e-lohn

Burg-∅-graf

fnhd. Typ („uneigentliche Komposition“) Krieg-s-heer Apparat-e-medizin

Stadt-∅-mauer

Entstehung der Kompositionstypen | 17

So listet Pavlov (1983: 16) eine Reihe von Bildungen mit starkem (und damit im Fnhd. endungslosem) Femininum als Erstglied auf (z.B. burgtor, stadtmauer, tohtermann), denen semantisch eine Genitivreanalyse zugrunde liegen kann, bei denen es sich aber genauso um Bildungen nach dem älteren Muster handeln könnte. Eine terminologische Unterscheidung in „eigentliche“ und „uneigentliche“ Komposita (häufig auch „altes“ und „neues Muster“) ist daher nur in Bezug auf die Genese der Muster relevant. Geht es jedoch um ihre Produktivität und Ausbreitungsregularitäten, so muss eine rein synchrone Betrachtung der Bildungsmuster als Ausgangsbasis dienen: Für die SprecherInnen des Fnhd. war ein altes, „eigentliches“ Kompositum mit dem Muster N+∅+N formal und semantisch nicht von einem neuen, „uneigentlichen“ unterscheidbar, das kein Genitivflexiv hatte. Das Muster N+FE+N ist heterogener. Beim Muster mit alter e-Fuge aus stammbildendem Element wie beim neuen Muster mit ehemaligem Flexiv tritt Material zwischen die nominalen Stämme – allerdings unterscheidet es sich phonologisch. Ob eine alte e-Fuge von den Sprecherinnen und Sprechern kognitiv mit einer neuen s- oder (e)n-Fuge gleichgesetzt wurde, also ein gemeinsames abstraktes Schema entstand, lässt sich nicht klären. Eine direkte Überlagerung alter und neuer verfugter Komposita ist maximal für starke Maskulina und Neutra mit e-Plural und nicht umlautfähigem Stamm anzunehmen; hier hat eine Reanalyse zu identischen Formen geführt, vgl. altes Tag-e-lohn und neues Apparat-e-medizin (s. Kap. 5.2.2.2) – letzteres ist aber gerade ein Fall, bei dem noch zu diskutieren ist, ob er sich wirklich den Fugenelementen zuschlagen lässt. Nach der Reanalysephase besteht also eine Durchmischung alten und neuen Materials, im Falle nichtverfugter Komposita ist dies für die Sprecherinnen und Sprecher nicht erkennbar, im Falle verfugter Komposita besteht möglicherweise zunächst noch eine gewisse Transparenz, da die e-Fuge das alte Muster fortsetzt. Spätestens mit der Reanalyse von Genitiv-Plural-Formen auf -e verwischen die Grenzen jedoch zunehmend. Gröger (1911: 42) vermutet zudem, dass auch bereits etablierte univerbierte Komposita mit Genitivform durch Analogiewirkung der e-verfugenden Musters die scheinbar ältere, e-verfugte Form annahmen.

3

Korpora und Belegquellen

Die Präsenz eines Musters in einem Korpus als Abbild der sprachlichen Wirklichkeit festigt seine kognitive Verankerung (Entrenchment) und erhöht so seine Verfügbarkeit für Analogiebildungen (auch als „‚corpus-as-input‘ view“ bezeichnet, vgl. z.B. Stefanowitsch & Flach 2017). Voraussetzung dafür ist, dass es sich beim verwendeten Korpus um ein realistisches Sample des Inputs handelt, dem die SprecherInnen ausgesetzt sind. Das ist für historische Sprachstufen kaum erreichbar, entsprechend können textsortenbedingt häufige Vorkommen eines Musters aufgrund der hohen Frequenz eines seiner Mitglieder (z.B. Ratsversammlung, Gottesdienst) verzerrend wirken. Selbst für die dt. Gegenwartssprache ist ein repräsentatives Korpus, inklusive gesprochener Sprache, nach wie vor ein Desiderat. Die verwendeten historischen Korpora wurden zwar sorgfältig zusammengestellt, können jedoch nicht als realitätsgetreues Abbild der Sprache zur jeweiligen Zeit verstanden werden. Dies ist umso unproblematischer, je abstrakter die Untersuchungsebene wird: Geht es um konkrete Lexeme, so lässt sich analogische Ausbreitung bestenfalls erahnen, geht es jedoch um Kompositionsmuster, so wird die Aussagekraft bedeutend höher. Korpusspezifische Einschränkungen werden im Rahmen der jeweiligen Untersuchungen thematisiert. Die primäre diachrone Datenquelle stellt das Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus dar (Kap. 3.1). Ergänzend wurden drei Teilkorpora des GerManC (Kap. 3.2.1) und historische Zeitschriften des DeReKo herangezogen (Kap. 3.2.2), Einzelbelege entstammen dem Deutschen Textarchiv (Kap. 3.2.3), eine Recherche greift auf das Korpus der mittelhochdeutschen Grammatik zurück (Kap. 3.2.4). Für das Nhd. wurden neben gängigen Korpora (DeReKo und DWDS) auch Wörterbuchdaten (3.3.1) und eine Neologismensammlung genutzt (3.3.2). Für eine Kurzübersicht s. Literaturverzeichnis.

3.1 Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus (1500–1710) Mit dem Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (Diel et al. 2002) existiert zwar bereits ein umfassendes und genau annotiertes elektronisches Korpus mit exzellenten Suchmöglichkeiten (480.000 Textwörter). Für die vorliegende Untersuchung war es jedoch aus mehreren Gründen nicht geeignet: Zunächst einmal wird zwar ein recht großer Zeitraum (1350–1700) abgedeckt, allerdings mit lediglich vier Zeitschnitten (1350–1400, 1450–1500, 1550–1600, 1650–1700), was zu sehr großen Abständen führt. Der für mich relevante Untersuchungszeitraum

https://doi.org/10.1515/9783110517682-003

Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus (1500–1710) | 19

(1500–1700) – d.h. der, in dem die Entstehung des verfugenden Wortbildungsmusters vermutet wird – ist nur durch zwei Zeitschnitte vertreten, Entwicklungen könnten also kaum sichtbar gemacht werden. Eine Anpassung des Bonner Korpus erwies sich als unpraktikabel: Durch die recht große Wortzahl pro Einzeltext (12.000) und die kleinräumige dialektale Gliederung (10 Dialekte) wäre es nicht ohne erheblichen zeitlichen und finanziellen Aufwand möglich gewesen, zusätzliche Zeitschnitte einzufügen, außerdem ist das Korpus nicht ausgewogen nach Textsorten zusammengestellt und enthält Übersetzungstexte. Für das 16. und 17. Jh. bot sich eine Verwendung des Großschreibungskorpus von Bergmann & Nerius (1998) an, das allerdings so stark modifiziert wurde, dass es im Folgenden als Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus (oder auch einfach „Mainzer Korpus“) bezeichnet wird.11 Das Korpus von Bergmann & Nerius wurde für eine Untersuchung zur Entstehung der Substantivgroßschreibung erstellt (im Rahmen eines DFG-Projekts 1990–1995). Es enthält 145 Texte à 4.000 Wörter, die 8 Zeitschnitte in Dreißigjahresabständen (1500–1710) und 6 Sprachräume abdecken (576.000 Textwörter). Die Textsortenunterscheidung erfolgt aus praktischen Gründen sehr grob in kirchlich-theologische Texte, Sachtexte und Unterhaltungstexte, wobei letztere deutlich unterrepräsentiert sind. Das Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus enthält 80 Texte à 4.000 Wörter, die auf 5 Dialekträume (Ostoberdt., Westoberdt., Nordoberdt., Ostmitteldt. und Westmitteldt.), 8 Zeitschnitte in Dreißigjahresabständen (1500–1710)12 und 2 Textsorten (Sachtexte, religiöse Texte) aufgeteilt sind, vgl. Abb. 2. Damit ist das Mainzer Korpus im Umfang gegenüber Bergmann & Nerius (1998) etwas reduziert: Die 16 Texte des nd. Raums blieben unberücksichtigt13 und die Unterhaltungstexte fielen weg, da sie im Großschreibungskorpus nur lückenhaft enthalten waren. Fehlten sie dort, so nahmen Bergmann & Nerius einen zusätzlichen Sach- oder religiösen Text auf. Es blieben also 40 Texte unberücksichtigt, die z.T. Unterhaltungstexte waren, z.T. Dopplungen einer bereits in Dialektraum und Zeitschnitt vorhandenen Textsorte.

|| 11 Die Korpustexte wurden im DFG-Projekt als Papierkopien bearbeitet und wurden mir freundlicherweise von Ursula Götz (Rostock) zur Digitalisierung zur Verfügung gestellt. 12 Bei Bergmann & Nerius (1998) wurde von Kernjahren ausgegangen, wobei die Texte aus den umgebenden zehn Jahren stammen sollten, d.h. für 1500 z.B. von 1495 bis 1505. Sieben Texte weichen davon leicht ab, vier bereits bei Bergmann & Nerius (Nr. 2, 7, 48, 64) und drei Ersatztexte (Nr. 4, 28, 47). 13 Da das Korpus Großschreibung untersucht, wurde die genaue Varietät als unwichtig erachtet, weshalb in der ersten Hälfte des Zeitraums nd. Texte enthalten sind, in der zweiten dann hd. Für eine Untersuchung wie die vorliegende ist eine derartige Mischung ungeeignet, die Texte wurden daher ausgeschlossen.

20 | Korpora und Belegquellen

OOBD 1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710

Sachtexte

WOBD

NOBD

rel. Texte

OMD x

x x

x

x

x 64.000

20.000 x

x

x x

WMD

x

x

x x

x x x

x x x x

x x 320.000

Abb. 2: Zusammensetzung des Mainzer (Früh-)Neuhochdeutschkorpus nach Zeitschnitten (8), Dialekträumen (5) und Textsorten (2). Jede Zelle steht für einen Text von 4.000 Textwörtern. Pro Zeitschnitt sind demnach 20.000 Textwörter vorhanden, pro Dialektraum 64.000, pro Textsorte 160.000. Mit x gekennzeichnete Texte sind Ersatztexte.

Außerdem erwiesen sich einzelne Texte als ungeeignet: Zitierte Passagen (i.d.R. aus der Bibel) wurden von der Analyse ausgeschlossen, wodurch einige Texte zu kurz wurden. Wo möglich, wurden diese Texte ausfindig gemacht und entsprechend zusätzliches Wortmaterial daraus aufgenommen, in vielen Fällen war eine Beschaffung jedoch nicht realistisch oder der Text war insgesamt zu kurz, dann wurde er ersetzt. (Einzelne Texte waren auch schon im Originalkorpus zu kurz.) Bei einigen Texten handelte es sich um Übersetzungen. Aus der Befürchtung heraus, die Wortstellung des Originals könne z.B. die Position des attributiven Genitivs beeinflussen, wurden sie ebenfalls ersetzt.14 Vereinzelte Texte stellten sich als Neuausgaben älterer Drucke heraus; da hier zu befürchten war, dass sie einen älteren Sprachstand widerspiegeln, wurden auch sie ersetzt. Die Ersatztexte wurden in VD 16 bis 18 sowie bei den Digitalisaten von GoogleBooks recherchiert, einige wenige waren bereits digitalisiert. Es handelt sich bei den Ersatztexten durchweg um Scans der Originaldrucke oder um textgetreue Abschriften.15 In Abb. 2 sind die ersetzten Texte mit „x“ gekennzeichnet, es handelt sich um 23 Texte von 80.

|| 14 So weist Solling (2012: 9–10) darauf hin, dass in Predigtübersetzungen lateinischer Vorlagen insgesamt weniger Komposita auftreten als in originär deutschsprachigen Texten, wahrscheinlich, weil im Lateinischen, das kaum Komposita aufweist, adjektivische Konstruktionen (oder attributive Genitive) dominieren. 15 Zwei Texte entstammen dem Bonner Fnhd.-Korpus (Nr. 17, 27), zwei sind der Textsammlung von Thomas Gloning entnommen (Nr. 14, 28; http://www.staff.uni-giessen.de/gloning).

Weitere historische Korpora | 21

Die Korpustexte wurden digitalisiert, sodass sie in maschinenlesbarer, allerdings nicht lemmatisierter oder annotierter Form vorliegen. Jeder Text wurde zunächst abgetippt und dann von einer zweiten Person korrekturgelesen, die zudem Überschriften und Zitate auszeichnete, Umbrüche entfernte16 sowie die Textwortzahl überprüfte.17 Die untersuchungsrelevanten Konstruktionen wurden zunächst mit dem UAM Corpus Tool (O’Donnell 2008) erfasst und vorannotiert, dafür wurden die Texte komplett durchgelesen. Im Anschluss erfolgte ein xml-Import in Excel, wo Detailannotationen und Auswertungen durchgeführt wurden.18 Eine Auflistung aller erfassten Texte ist im Anhang (Kap. 16.1) zu finden. Jedem Text wurde eine Nummer zugewiesen, Einzelnachweise im Text erfolgen im Format „Textnummer; Jahreszahl“, also z.B. „(23; 1524)“.

3.2 Weitere historische Korpora 3.2.1 GerManC Für das frühe Nhd. wurden drei Subkorpora des GerManC-Korpus von Durrell et al. (2007) herangezogen (3 Zeitschnitte: 1650–1700, 1701–1750, 1751–1800). Es handelt sich dabei um wissenschaftliche Texte (SCIE), Predigten (SERM) und Zeitungstexte (NEWS). Die SCIE- und SERM-Teilkorpora wurden gewählt, um eine Textsortenkontinuität zum Mainzer Korpus zu gewährleisten. So kann sichergestellt werden, dass eventuelle Unterschiede nicht durch Textsortenspezifik bedingt sind. Das NEWS-Teilkorpus wurde gewählt, um einen Vergleich mit späteren und gegenwartssprachlichen Korpora zu ermöglichen, die in den meisten Fällen auf Zeitungstexten basieren.

|| 16 Durch Umbruch getrennte Wörter wurden an der Umbruchstelle mit „#“ markiert und zusammengefügt, sodass die Wortzählung nicht durch Texte mit besonders vielen Umbrüchen verfälscht wird. Eventuelle Trennstriche wurden belassen. Waren keine Trennstriche vorhanden, so wurde der Umbruch nur zusammengefügt, wenn es sich ganz klar um ein Wort handelt, bei Komposita an der Kompositionsgrenze nie, da nicht entschieden werden konnte, ob es sich um Getrennt- oder Zusammenschreibung handelte. 17 Für ihre Hilfe bei der Texterfassung danke ich den damaligen Mainzer Hilfskräften Betty Richter und Jan Böhm. Am Korrekturlesen und Aufbereiten der Texte war außerdem Stefan Hartmann maßgeblich beteiligt, auch ihm herzlichen Dank. 18 Eine der Kategorien (Modifikatoren/Determinierer der NP bei Genitivkonstruktionen) wurde von Andreas Klein annotiert, herzlichen Dank.

22 | Korpora und Belegquellen

Insgesamt umfasst das Teilkorpus 270.000 Textwörter. Genitivkonstruktionen wurden hier, im Gegensatz zum Mainzer Korpus, nicht berücksichtigt. Über das POS-Tagging wurden alle Substantive (ohne Eigennamen) extrahiert und dann nach Zeichenzahl sortiert. Substantive mit weniger als 5 Zeichen wurden direkt aussortiert, aus den verbleibenden 37.574 Belegen wurden 4.439 NNKomposita manuell ermittelt. Getrennt geschriebene Komposita blieben so unberücksichtigt, ihr Anteil ist aber 1650 mit ca. 3–8% (abhängig von der Kompositumsdefinition) bereits so gering, dass das unproblematisch erscheint (vgl. Kap. 13.2).

3.2.2 Mannheimer historische Zeitungen und Zeitschriften Um auch über den an GerManC anschließenden Zeitraum Aussagen treffen zu können, wurden aus dem Mannheimer Korpus historischer Zeitungen und Zeitschriften des Instituts für Deutsche Sprache zusätzlich für zwei Jahre (1843 und 1905) Ausschnitte aus zwei Zeitschriften mit je 30.000 Tokens analysiert, sie schließen sich also grob in Fünfzigjahresschritten an die GerManC-Daten an.

GerManC NEWS (90.000) GerManC SCIE (90.000) GerManC SERM (90.000) DeReKo HIST, Zeitungen (60.000)

Mainzer (F)Nhd.-Korpus, Sachtexte (160.000) Mainzer (F)Nhd.-Korpus, religiöse Texte, (160.000) 1500

1550

1600

1650

1700

1750

1800

1850

1900

Abb. 3: Systematisch ausgewertete diachrone Korpora nach Umfang in Textwörtern, Zeitraum und Textsorte.

Die Ausschnitte wurden so gewählt, dass sie im Umfang pro Zeitschnitt der gleichen Textsorte aus GerManC (NEWS) entsprechen. Das Korpus besitzt kein POS-Tagging, sodass hier auf Basis der online verfügbaren Volltexte sämtliche Textwörter in Listenform gebracht wurden. Von der Annahme ausgehend, dass sich die Substantivgroßschreibung 1843 bereits weitgehend durchgesetzt hat, blieben kleingeschriebene Wörter unberücksichtigt, ebenso Wörter mit weniger als 5 Zeichen. Aus den verbleibenden 12.664 Wörtern wurden 2.097 Komposita

Gegenwartssprachliche Korpora | 23

ermittelt. Alle Komposita wurden manuell in Erst- und Zweitglied aufgeteilt und nach untersuchungsrelevanten Faktoren annotiert.

3.2.3 Deutsches Textarchiv Für Einzelbelege wurde auch das Material des Deutschen Textarchivs (DTA) genutzt (ca. 1500–1900). Da sich das Korpus noch im Aufbau befand und während dem Hauptteil der Untersuchung erst 1650 begann, konnten hier zumeist keine systematischen Auswertungen durchgeführt werden. Es eignet sich aber aufgrund der umfangreichen Annotation gut für die Suche nach konkreten Beispielen. Für einzelne Kapitel, die erst spät entstanden, konnte auf einen erweiterten Textumfang (beginnend ca. 1500) zugegriffen werden, insbesondere für Kap. 11. Quellenangaben erfolgen in den Endnoten, die mit kleinen, hochgestellten Buchstaben angezeigt werden.

3.2.4 MiGraKo Für die mhd. Verfugungsanteile wurden Daten aus dem Korpus der mhd. Grammatik (MiGraKo) herangezogen. Das Korpus unterteilt die mhd. Periode in fünf Zeitschnitte (1050–1150, 1150–1200, 1200–1250, 1250–1300, 1300–1350) und enthält 1.268.994 Tokens, die detailliert annotiert sind. Für meine Zwecke war es ausreichend, das Korpus als Ganzes zu analysieren, wobei auf die Wortartund teilweise auch Kasustags zurückgegriffen wurde. Das Korpus ist Teil des Referenzkorpus Mittelhochdeutsch (ReM) und kann über eine ANNIS-Schnittstelle abgefragt werden.

3.3 Gegenwartssprachliche Korpora Verschiedene kleinere Recherchen wurden mit dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) des Instituts für deutsche Sprache oder mit Teilkorpora daraus durchgeführt, Detailangaben zur verwendeten Version finden sich an Ort und Stelle. Dasselbe gilt für das DWDS-Kernkorpus/ZEIT-Korpus; Quellenangaben zu Einzelbelegen erfolgen in den Endnoten, die mit kleinen, hochgestellten Buchstaben angezeigt werden. Außerdem wurden in größerem Umfang Wörterbuchdaten und Neubildungen von Canoo.net und der Wortwarte ausgewertet.

24 | Korpora und Belegquellen

3.3.1 Canoo.net War ein schneller Überblick über die Typen eines Verfugungsmusters notwendig, so wurde das Onlinewörterbuch von Canoo.net herangezogen. Es unterliegt allen Einschränkungen, die für ein Wörterbuch gelten, d.h. insbesondere, dass es keine neuen oder seltenen Komposita enthält. Das Wörterbuch enthält einen ausführlichen Grammatikteil, über den konkrete Einträge listenweise abgerufen werden können – so findet sich beispielsweise im Wortbildungsteil unter Komposition die Seite „Nomen+er+Nomen (N+er+N)“ mit dem Link „Alle Komposita dieser Klasse“. Darüber hinaus stellte mir Stephan Bopp dankenswerterweise einige nicht direkt abrufbare Listen zusammen, z.B. aller unparadigmisch verfugenden Feminina. Die Listen weisen in geringem Umfang Fehler auf, die darauf beruhen, dass sie nicht manuell erstellt wurden. So ist z.B. in der er-Liste auch das Erstglied Ausländer- enthalten, vermutlich, weil beim automatischen Abgleich anderswo im Wörterbuch die Form Ausland festgestellt wurde. Derartige Fehler wurden bei der sowieso immer nötigen Nachbearbeitung (z.B. zur Trennung in Erst- und Zweitglied) berichtigt – es besteht aber umgekehrt die Möglichkeit, dass aufgrund ähnlicher technischer Fehler einzelne Erstglieder in den jeweiligen Listen fehlen (z.B. enthält die N+e+N-Liste das Kompositum Warmbadetag, das entsprechend in der V+e+N-Liste nicht vorhanden ist). Insgesamt entstand beim Arbeiten mit den Listen aber der Eindruck einer geringen Fehlerquote.

3.3.2 Wortwarte Die Wortwarte (Lemnitzer 2000–) ist eine seit 2000 kontinuierlich ergänzte, korpusbasierte Neologismen- und Okkasionalismensammlung: Das Onlineangebot überregionaler Zeitungen und zweier Onlineportale wird in regelmäßigen Abständen mit Wortlisten des DeReKo abgeglichen, die darin nicht belegten Wörter werden manuell auf Fehlschreibungen etc. überprüft und aus den tatsächlich neuen Wörtern wird schließlich eine Auswahl interessant scheinender Wörter aufgenommen. Da sich die subjektive Auswahl primär an der Bedeutung orientiert, ist sie für die später daran durchgeführte Produktivitätsanalyse verschiedener Verfugungsmuster unproblematisch.19 Im Rahmen der vorliegenden

|| 19 Es werden insgesamt sehr viele Kontaminationen und direkte Analogiebildungen (mit genau einem Vorbild) in die Sammlung aufgenommen. Da diese jedoch nicht in die untersuchte Datenbasis einfließen, entsteht hier keine Schieflage.

Gegenwartssprachliche Korpora | 25

Arbeit wurden alle zwischen September 2009 und August 2010 aufgenommenen Substantive aus den wochenweise gegliederten Listen extrahiert und manuell auf ihre interne Struktur überprüft, es verblieben 2.415 neugebildete NN-Komposita.20 Für einen größeren Zeitraum (Juli 2006 bis August 2010) wurden die insgesamt weniger frequenten NA-Komposita in einem Umfang von 398 Typen erhoben.

|| 20 Berücksichtigt wurden ausschließlich NN-Komposita. Ausgeschlossen wurden Komposita wie in (I), deren Fugenverhalten sich eindeutig auf bereits existierende Komposita bezieht, so Kontaminationen (a) und dreigliedrige Komposita, deren Konstituenten als AB+C und A+BC analysierbar sind (b), wobei sowohl AB als auch BC bereits etabliert sind. Hier ist nicht mit einer produktiven Fugenzuweisung zu rechnen. Des Weiteren ausgeschlossen wurden Fälle von Infigierung (c), als Ganzes entlehnte Formen (d), Komposita mit ternären Strukturen (e) und wenige komplexe Komposita, deren interne Struktur nicht zu erhellen war (f). (I)

a.

b. c. d. e. f.

Bundesbildungslückenministerin (Bundesbildungsministerin + Bildungslücke) Milchmedaillenrechnung (Milchmädchenrechnung + Medaille) Steuerzangenbowle (Steuer + Feuerzangenbowle) Adventsshoppingwochenende (Adventsshopping + Wochenende vs. Advents + Shoppingwochenende) Finanzdingsbumssteuer engl. Tabnabbing ‚Kidnapping von Browsertabs‘ Einkindsystem, Ganzworterkennung Hotelierwachstumssteuervergünstigungsgesetz

4

Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente

Um die fnhd. Verhältnisse zu erhellen, werden die erhobenen Daten, wo immer möglich, mit dem nhd. Zustand kontrastiert. Zunächst folgt daher eine steckbriefartige Abhandlung der gegenwartssprachlichen Fugenelemente. Im Zentrum steht ihr Anteil an der Komposition (vgl. Grube 1976, Wellmann et al. 1974, Kürschner 2003, Krott et al. 2007 und Donalies & Bubenhofer 2011) und Distributionsregularitäten der einzelnen Elemente (vgl. z.B. Žepić 1970, Augst 1975, Fuhrhop 1996, Kürschner 2010). Die Beschreibung des nhd. Systems erfasst den bestehenden Wortschatz. Er bildet die Grundlage für die analogische Übertragung eines Musters auf neue Komposita, sollte jedoch nicht selbst als modern verstanden werden: Die enthaltenen Komposita sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und reflektieren daher auch häufig ältere Sprachzustände. Details zur Entstehung der entsprechenden Muster folgen in Kap. 5, wo es um die Anbindung der Fugenelemente ans Flexionssystem geht, und bei der Analyse des Fnhd. (Kap. 9).

Types Tokens 0%

20%

40%

60%

80%

Tokens

Types

Ø

111.557.704

1480

s

26.282.952

593

n

9.489.702

206

en

246.645

69

es

6.144.943

8

Sonstige

2.204.452

59

100%

Abb. 4: Gegenwartssprachliche Verfugungsanteile nach Tokens (Donalies & Bubenhofer 2011: 28) und Typen (eigene Erhebung, Wortwarte).

Abb. 4 zeigt die Musterverteilung nach Tokens und Typen in gegenwartssprachlichen Korpora, die primär aus Zeitungstexten bestehen. Dabei wird zunächst https://doi.org/10.1515/9783110517682-004

Flexionsklassen | 27

ersichtlich, dass das unverfugte Muster der Normalfall ist. Große Anteile an den Komposita haben außerdem die s- und n-verfugenden Muster. Unverfugte Komposita haben eine höhere Token- als Typenfrequenz, d.h. sie werden überdurchschnittlich häufig gebraucht. Da sie das ältere Muster fortsetzen, dürften hier viele Komposita des Grundwortschatzes enthalten sein, die bereits früh gebildet wurden.

4.1 Flexionsklassen Nhd. Fugenelemente sind keine Flexive – dennoch ist ihr Auftreten teilweise eng an die Flexionsklassenzugehörigkeit des Erstglieds gebunden. Da sich die vorgeschlagenen Einteilungen stark unterscheiden (vgl. z. B. Augst 1975, Mugdan 1977, Jørgensen 1980, Carstairs 1986, Bornschein & Butt 1987, Durrell 1990, Pavlov 1995), wird hier eine knappe Übersicht über das verwendete System gegeben, das sich weitgehend nach Kopf (2010, 2014) richtet. Dabei erfolgt eine grundlegende Unterscheidung von schwacher, gemischter und starker Flexion, als deren Leitformen Genitiv Singular und Nominativ Plural dienen. Die schwache Flexion beinhaltet ausschließlich Maskulina und weist als Flexiv in allen Formen außer dem Nominativ Singular -(e)n auf. Die Klasse hat einen Prototyp herausgebildet, der belebte Mehrsilbler bevorzugt (Kunde, Journalist) (vgl. Köpcke 1993, 1995). Die gemischte Flexion weist das Flexiv -(e)n nur im Plural auf. Das GenitivSingular-Flexiv ist genusabhängig und stimmt mit dem der starken Flexion überein: Kein Flexiv haben die Feminina, von denen auch die allermeisten zu dieser Klasse gehören (Tante), die Maskulina und Neutra nutzen -(e)s (Staat, Auge). Bei vielen der Maskulina handelt es sich um ehemals schwachflektierende Substantive, die nicht dem Prototyp entsprechen. Sie wechselten während des Konditionierungsprozesses zur gemischten oder starken Flexion. Entsprechend sind sie häufig unbelebt. Zur gemischten Flexion lassen sich auch Substantive rechnen, die Stammflexion aufweisen, z.B. der Basis – die Basen, des Mediums – die Medien. Die starke Flexion umfasst insgesamt vier verschiedene Pluralbildungsverfahren, an denen -(e)n nicht beteiligt ist: Eine kleine, geschlossene Gruppe von Feminina (35, vollständige Liste bei Kopf 2010: xxiii) bildet ihren Plural mit Umlaut und Schwa (Kraft – Kräfte). Starke Maskulina und Neutra nutzen im Genitiv

28 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente

immer -(e)s, im Plural meist -e/∅21 (57,7% aller Maskulina, 71,2% aller Neutra, Werte nach Pavlov 1995: 45–48) und in geringerem Maße -er. Den Maskulina steht zudem -e/∅ mit Umlaut des Stammvokals zur Verfügung. Sämtliche Mitglieder dieser Gruppen lauten konsonantisch aus, sie sind einsilbig oder finalbetont oder haben eine finale Reduktionssilbe bzw. ein Derivationssuffix.22 Im Gegensatz dazu sind die Basen des s-Plurals, der an Feminina (endungsloser Genitiv Singular) und Maskulina/Neutra (s-Genitiv) tritt, phonologisch wesentlich heterogener, hier sind auch Vollvokale und andere Betonungsstrukturen möglich (die Kiwis).

4.2 s-Fuge Lässt man die Nichtverfugung unberücksichtigt, so dominiert das Kompositionsmuster mit s-Fuge in allen vorliegenden Erhebungen mit Anteilen zwischen ca. 14% und 25,1% – trotz unterschiedlicher Materialgrundlagen und Korpusgrößen (Tab. 2). So wurden teils bestehende Wortschatztypen analysiert (Kürschner 2003, Wellmann et al. 1974, Grube 1976), teils Tokens (Donalies & Bubenhofer 2011) und teils Neubildungen (Harlass & Vater 1974, eigene Wortwarte-Daten). Aus diesem Grund wird das Muster gemeinhin als hochproduktiv gehandelt. Die s-Fuge ist bei 54,4% der Tokens und sogar 74,5% der Wortwarte-Typen unparadigmisch, d.h. sie tritt an ein feminines Erstglied, das keinen s-Genitiv in seinem Paradigma aufweist. (Auf schwachflektierende Maskulina, die einzige nichtfeminine Gruppe ohne s-Genitiv, greift das s-verfugende Muster nicht zu.) Hierbei ist es eng an die Suffixe und typischen Wortausgänge -schaft, -heit/keit, -ung, -ion, -sal, -(i)tät gekoppelt (Augst 1975: 82, Fuhrhop 1996: 537).23 Nichtverfugung kommt nur in wenigen, oft fachsprachlich bedingten Ausnahmefällen vor (z.B. Kommunionkleid), auf die semantisch bedingte Schwankung mit der en-Fuge (Generation-s-probleme, Generation-en-haus) wird in Kap. 5.2.2 eingegangen. Daneben gibt es eine Kerngruppe von ca. 90 weiteren femininen Erstgliedern, die stets oder sehr häufig s-verfugen (Daten von Canoo.net, s. Kap. 16.2.8). Fuhrhop (1996: 537) macht bei der unparadigmischen Gruppe den Aus|| 21 Schwa bei einsilbiger/finalbetonter Basis, endungsloser Plural bei zweisilbiger Basis auf Reduktionssilbe. 22 Die einzige vokalisch auslautende Ausnahme bildet die Entlehnung Ski. 23 Der Suffixstatus von -(i)tät und -ion ist im Deutschen diskutabel. Im Folgenden werden sie der Einfachheit halber jedoch meist mit unter den Terminus gefasst. Für eine knappe Einordnung s. Kap. 10.7.2.

s-Fuge | 29

laut -t als besonders frequent aus. Das bestätigt sich auch innerhalb der Gruppe (72 von 93 suffixlosen Erstgliedern mit t-Auslaut im Wörterbuch von Canoo.net weisen eine s-Fuge auf), was aber noch wenig Aussagekraft besitzt, da es auch eine generell hohe Frequenz des t-Auslauts widerspiegeln kann. Tab. 2: Anteil der s-Fuge in der Gegenwartssprache. %

Anmerkungen

Korpus

[14,8%]

Typen;24 keine Trennung zwischen es- und s-Fuge.

„Corpus I“ (gemischt, Parlamentsprotokolle, wiss. Fachaufsätze, …), ident. bei Ortner et al. (1991) n=3.303

Krott et al. (2007: 17,0% 29)

Typen

Celex

Grube (1976)

18,5%

Typen

Zeitungen, Zeitschriften, wissenschaftliche und belletristische Werke n=5.332

Kürschner (2003) 25,1%

Typen

Zeitungen n=500

Harlass & Vater (1974)

Typen (Neubildungen); keine Trennung zwischen es-, (e)ns- und sFuge.

Zeitungen und Zeitschriften n=4.412

Typen (Neubildungen)

Wortlisten aus Zeitungen und Onlinemedien (Beschreibung s. Kap. 3.3.2) n=2.415

Wellmann et al. (1974: 365)

20,8%

Wortwarte (2010) 24,6%

Bei paradigmischem Auftreten ist die s-Fuge nur bei drei Suffixen obligatorisch, -tum, -sal und -ling, daneben tritt sie regulär an Substantive aus Infinitivkonversion (Schlafen-s-zeit) und häufig an implizite Ableitungen komplexer Verben (Umbruch-s-phase) bzw. morphologische Konversionen (Anruf-s-vermittlung) (vgl. Augst 1975: 113-120, 129, Fuhrhop 1996: 535–537). Darüber hinaus verbindet sie sich mit einer Reihe von meist einsilbigen Maskulina und Neutra, Fuhrhops (1996: 537) Liste mit 25 Fällen ist allerdings noch erweiterbar (z.B. || 24 Aus der Datenbeschreibung geht nicht zweifelsfrei hervor, dass es sich um Typen handelt, Lorelies Ortner hat mir das allerdings bestätigt.

30 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente

Diebs-, Drecks-, Schweins-). Bei den paradigmischen Erstgliedern zeigen Wörterbuchdaten eine deutliche Verfugungsaffinität zu Plosivauslauten: Im Schnitt tritt bei 17,2% der Erstglieder (Typen) auf Plosiv eine s-Fuge auf,25 bei Nasalen, Liquiden und Vollvokalen sind es nur 3% (Wegener 2005: 181).26 Ausgewertet wurden ausschließlich monomorphematische Erstglieder der starken Flexion, damit bleibt die große Gruppe der impliziten Derivate bzw. morphologischen Konversionen unberücksichtigt.27 Eine eigene Analyse bezieht alle Erstglieder der Wortwarte-Daten ein, die entweder s- oder nullverfugen, wobei suffigierte Wörter mit regelhafter s-Fuge unberücksichtigt bleiben. Eine Trennung nach Paradigmatizität erfolgt nicht. Zunächst zeigen sich recht hohe Verfugungsanteile für alle Konsonanten mit Ausnahme der Sibilanten. Trennt man die Lautgruppen jedoch danach, ob das Erstglied präfigiert ist oder nicht (Abb. 5), so zeigt sich, dass bei Präfigierung sowieso eine sehr starke Verfugungstendenz herrscht (s.o.). Aufschlussreicher für die Präferenz bestimmter Lautgruppen ist daher die Analyse der nicht-präfigierten Gruppe. Hier ist der s-Verfugungsanteil insgesamt sehr gering, wobei die

|| 25 -/k/: 21,2%, -/b/: 21%, -/d/: 18%, -/t/: 17,39%, -/g/: 5%, für -/p/ liegt nur ein Erstglied (nicht verfugendes Sirup) vor. Die Daten zu -/t/ schließen Konsonantencluster mit extrasilbischem Element (-/st, tst, kst/) aus, hier finden sich 26 nichtverfugende Erstglieder. Würde man sie mit einberechnen, sänke der Wert für den t-Auslaut auf 12,6% und der Gesamtplosivwert auf 15%. 26 Dabei fehlen Erstglieder mit Frikativauslauten völlig. Für Sibilanten ist dies nachvollziehbar, da hier schon lautlich keine Verfugung möglich ist, aber entsprechende Erstglieder auf -/f/ und -/x, ç/ gibt es durchaus und sie verfugen auch (Schiff-s-arzt, Reich-s-tag). 27 Für Tokens liegen Zahlen von Donalies & Bubenhofer (2011: 39–40) vor, die sich jedoch nur mit Einschränkungen verwenden lassen: Es wird kein Unterschied bezüglich der Paradigmatizität gemacht und sämtliche Erstglieder, auch schwache Maskulina/Neutra, die nicht für die Verfugung zur Verfügung stehen, fließen ein. Hinzu kommt, dass die Auslautdefinition rein orthografisch ist, nur bestimmte Auslaute überhaupt Berücksichtigung finden (-t, -g, -r, -n, -d, -l, -f) und suffigierte Erstglieder voll mit eingehen. Letztere wurden für -heit/keit im Text angegeben, sodass der Anteil ohne Suffixe neu berechnet werden konnte, die (wahrscheinlich selteneren) Erstglieder auf -schaft und -(i)tät sind jedoch weiterhin enthalten. Die Fehlkategorisierung von ung-Derivaten konnte nur grob korrigiert werden. (Eine exakte Neuberechnung war nicht möglich, da nicht angegeben wurde, wie viele ung-Derivate nicht s-verfugen, ich bin davon ausgegangen, dass es sich nicht um eine nennenswerte Menge handelt, da es bei -heit/ keit nur 0,7% sind.) Damit weisen 31,8% aller t-auslautenden Erstglieder eine s-Fuge auf, bei den g-Auslauten sind es 38,2%, bei -d 7,5%. Die n-Auslaute erreichen einen Anteil von 23,6%, dieser dürfte Erstgliedern auf Reduktionssilbe, darunter die Infinitivkonversionen, geschuldet sein (das ist insbesondere plausibel, wenn man die Zahl mit den 4,7% bei Wegener 2005: 181 vergleicht, die derartige Erstglieder nicht berücksichtigt). Der f-Auslaut liegt bei 20,1%, Vergleichsdaten bei Wegener fehlen hierfür leider.

s-Fuge | 31

Plosive mit 9,2% noch am stärksten verfugen (Frikative/Affrikaten 2,4%, Nasale/Liquide 3,3%, bei den Vokalen nur Hotelier).

100% 80% 60% 40% 20% 0% Plosive

Frikative/

Nasale/

Affrikaten

Liquide

Vokale

Sibilanten

Plosive

Frikative/

Nasale/

Affrikaten

Liquide

präfigiert

Vokale

Sibilanten

nicht präfigiert

Ø

11,5

0

9,5

14

20

201,5

20,5

332,5

138

104

s

38,5

11

14,5

0

0

20,5

0,5

11,5

1

0

Abb. 5: s- vs. Nichtverfugung nach Erstgliedauslaut, Wortwarte (n=949). (Bei Erstgliedschwankung wurde aufgeteilt und jedem Fugentyp 0,5 zugerechet.)

Auf sibilantischen Auslaut folgt die s-Fuge nie, hier ist keine oder keine hinreichende lautliche Unterscheidbarkeit gegeben. Entsprechende Lexeme (z.B. N: Maß, Fleisch, M: Kurs, Preis, F: Erkenntnis, Basis) verfugen nicht (Maß-∅-band) oder folgen, je nach Paradigma, einem anderen Verfugungsmuster (Spatz-enfutter); gelegentlich kann die es-Fuge genutzt werden (Fleisch-es-lust), es handelt sich aber nicht um eine systematische Alternative (s.u.). Ebenso erfolgt keine Kombination mit vokalischen Auslauten. Dies hängt primär mit der Beschaffenheit der entsprechenden Flexionsklassen zusammen: Traditionell stark flektierende Substantive weisen ausschließlich konsonantische Auslaute auf. Dass s-Fugen hier aber auch phonologisch nicht erwünscht sind, zeigt sich an Erstgliedern anderer Flexionsklassen: Bei der gemischten Flexion führen vokalische Auslaute (die bei Nichtfeminina nur selten auftreten, vgl. Kopf 2010: xxiv–xxix) fast immer zu (e)n-Verfugung (Papagei-en-feder, Auge-n-tropfen) und nie28 zu einer s-Fuge, während konsonantische Auslaute s-Verfugung dem Paradigma entsprechend prinzipiell zulassen (Nachbar-s-hund, Hemd-s-ärmel, Staat-s-bankett). || 28 Einzige Ausnahme ist Liebes-, hier sind wahrscheinlich bereits mhd. vorhandene Genusschwankungen ursächlich (Grimm 1826, Kehrein 1854–1856: 259).

32 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente

Erstglieder mit s-Plural nehmen nur selten eine s-Fuge, vgl. die *Autosbahn bei Wegener (2003). Ausnahmen finden sich allerdings bei den Eigennamenkomposita (Evastochter, Evaskostüm, vgl. Fn. 275, S. 320), Wegener (2003: 433– 434) führt außerdem Kuckuck-s-insel, Leutnant-s-uniform an, die Liste lässt sich noch ergänzen (z.B. Training-s-hose, vgl. Kap. 10.9.2). Sie weist die Annahme, der s-Plural blockiere die s-Fuge, zurück und erklärt das Phänomen damit, dass viele Mitglieder der Klasse vokalisch auslauten – diese These wird auch in Kap. 5.2.2 gestützt. Als einziges s-verfugendes Kompositum mit vokalischem Auslaut macht Wegener Uhu-s-nest aus, wobei die Quelle unklar bleibt, eine entsprechende Google-Recherche lässt sich nicht replizieren und in Korpora (DWDS, DeReKo) sind keine Belege zu finden. Grimm & Grimm (1854–1961) führen allerdings Uhusblick ‚wachsamer Blick‘.29 Durch die Präferenz von Plosivauslauten und die Meidung vokalischer Auslaute erzielt die s-Fuge beim Erstglied eine Maximierung der Kodakomplexität. Hieraus leitet sich z.B. der phonologische Funktionalisierungsvorschlag von Nübling & Szczepaniak (2008) ab (s. Kap. 14.2).

4.3 es-Fuge Während s- und es-Genitiv, die die flexivische Quelle der s- und es-Fuge darstellen, bis heute in einem Überschneidungsbereich Variation aufweisen (zur Distribution vgl. z.B. Szczepaniak 2014: 38–39), gilt das für die Fugenelemente nicht mehr (vgl. Nübling & Szczepaniak 2013: 81–82), obwohl in der Literatur immer wieder ein gemeinsames Fugenelement -(e)s- angenommen wird (Wellmann et al. 1974, Wegener 2008: 334–335).30 So tritt der s-Genitiv, wie die s-Fuge, nicht an sibilantische Auslaute – nutzt dann jedoch im nativen Wortschatz konsequent das Allomorph -es (des Maßes). Er unterscheidet sich außerdem im Umgang mit vokalischen Auslauten: Während derartige Erstglieder nie s-verfugen (Bau-∅-stopp, See-n-landschaft, Auge-n-tropfen), nehmen sie bei freiem Vorkommen sehr wohl den s-Genitiv, gelegentlich auch das -es (des Bau(e)s, des Sees, des Auges). Ist beim Genitiv starker und gemischter Maskulina und Neutra also maßgeblich, dass eine der beiden Flexivvarianten vorhanden ist, so handelt es sich bei s- und es-Fuge um zwei getrennt zu behandelnde Phänomene, die nur selten miteinander konkurrieren. So weisen z.B. nur 1,9% der

|| 29 Vgl. auch historisches Echosweiß (DTA; Johann Conrad Dannhauer: Catechismus-Milch. Bd. 9. Straßburg, 1672). 30 Zum diachronen Verhältnis zwischen beiden Fugen vgl. Kap. 9.3.1.2.

es-Fuge | 33

s-verfugenden DeReKo-Typen, die Donalies & Bubenhofer (2011: 60) analysieren, auch Formen mit es-Fuge auf. Die Loslösung der Fugendistribution von der des Genitivs hat im Fnhd. noch nicht stattgefunden, vgl. Kap. 9.3.1.2. Die es-Fuge ist stark an eine kleine Gruppe von 54 maskulinen und neutralen Erstgliedern gekoppelt (Daten von Canoo.net, s. Liste im Anhang, Kap. 16.2.15), die fast alle auch unverfugt auftreten können. Einige besitzen konkurrierende Kompositionsstammformen mit anderen Fugenelementen, die dann i.d.R. ihrem Pluralparadigma entsprechen (Manneskraft – Männerbund, Kindeswohl – Kinderwagen) (Nübling & Szczepaniak 2013: 81–82). Mit zwei Ausnahmen (Verstand, Gesetz) sind alle es-verfugenden Erstglieder einsilbig, die Gruppe überschneidet sich also mit den s-verfugenden Einsilbern, eine direkte Konkurrenz um ein Erstglied ist jedoch selten (Mannsperson, Kindskopf, vgl. Fuhrhop 1996: 538), die um ein Gesamtkompositum noch seltener (Dieb-(es|s)gesindel). Im Gegensatz zur s-Fuge hat sich die es-Fuge nicht analogisch auf Erstglieder ausgedehnt, für die sie unparadigmisch ist. Tab. 3: Anteil der es-Fuge in der Gegenwartssprache. %

Anmerkungen

Wellmann et al. (1974: 365)

NA

Typen; keine Trennung zwischen es- und s-Fuge.

Krott et al. (2007: 29)

1,5%

Typen

Grube (1976)

1,6%

Typen

Kürschner (2003)

1,6%

Typen

Harlass & Vater (1974)

NA

Typen (Neubildungen); mit s-Fuge zusammen angegeben.

Wortwarte (2010)

0,3%

Typen (Neubildungen)

Donalies & Bubenhofer (2011: 32)

3,5%

Tokens

Die Menge der es-verfugenden Erstglieder ist zwar gering, aber doch bedeutend größer als Fuhrhop (1996: 528) und Nübling & Szczepaniak (2013: 81–82) es mit ca. 30 annehmen. Grund für die Einschätzung dürfte sein, dass viele ihrer Mitglieder so niederfrequent sind, dass sie in Korpora gar nicht nachweisbar sind: Bei 15 der ermittelten Erstglieder ist die es-Fuge an ein einzelnes Gesamtkompositum gekoppelt, das häufig einer höheren oder literarischen Stilebene angehört (Armeslänge, Eiseskälte, Haaresbreite, Zinseszins). Lediglich 27 Erstglieder wie-

34 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente

sen mehr als fünf im Wörterbuch verzeichnete Komposita auf, die häufigsten Erstglieder sind Jahres- (85 Typen), Tages- (83), Bundes- (61), Landes- (58) und Todes- (52). In der Wortwarte finden sich nur acht Neubildungen (Bundesblödler, -knöchel, -mama, -pullover, -schwafler, -energiesparlampenverordnung; Geistesprekariat, Zornesekstase). Verglichen mit der geringen Typenzahl ist die Gebrauchshäufigkeit es-verfugter Komposita dennoch überdurchschnittlich. Hier dürfte es sich um ein textsortenbedingtes Phänomen handeln, gerade die Erstglieder Bundes- und Landes- bilden zahlreiche Bezeichnungen für Gesetze, Veranstaltungen und Institutionen, auch Jahres- und Tages- modifizieren oft berichtenswerte Konzepte (Jahrestagung, Tagesbilanz).

4.4 (e)n-Fuge Die (e)n-Fuge ist auf Basis der Flexionsklasse fast vollständig vorhersagbar. Sie erscheint – regulär bei schwachen Maskulina (Chinese-n-viertel, Fink-en-nest) – mitunter bei gemischten Maskulina und Neutra (Buchstabe-n-folge, Ohr-enkrankheit) sowie – meist bei gemischten Feminina (Dame-n-schuh, Frau-en-schuh). Tab. 4: Anteil der n- und en-Fuge in der Gegenwartssprache. (Keine Unterscheidung nach Paradigmatizität.) %n

% en

Anmerkungen

Wellmann et al. (1974: 365)

9,7%

Typen; keine Trennung zwischen enund n-Fuge.

Krott et al. (2007: 29)

15%

Typen; keine Trennung zwischen enund n-Fuge.

Grube (1976)

7,8%

2,3%

Typen

Kürschner (2003)

8,9%

4,2%

Typen

Harlass & Vater (1974) Wortwarte (2010)

12,4% 8,53% 2,9%

Donalies & Bubenhofer (2011: 32) 6,2%

1,6%

Typen (Neubildungen); keine Trennung zwischen en- und n-Fuge. Typen (Neubildungen) Tokens

(e)ns-Fuge | 35

Letztere können aber, i.d.R. bei konsonantischem Auslaut, auch unparadigmisch s-verfugen (Geburt-s-tag) und vereinzelt ohne Fuge auftreten (Stärke-∅gehalt, Ziffer-∅-blatt, s. bei der Nullfuge). Gemischte Feminina mit -en- (Banken-krise) gehören in fast allen Fällen zur Subgruppe mit Pluralkomposition (s. Kap. 5.2.2) und damit nicht zu den Fugenelementen im engeren Sinne, sind jedoch in den folgenden Zahlen enthalten. Die (e)n-Fuge variiert phonologisch bedingt: Bei Schwa-Auslaut und bei Reduktionssilbe auf -er tritt die n-Fuge ein (Dame-n-schuh; Kaper-n-sauce, Bauern-quartett), sonst die en-Fuge (Frau-en-schuh). Der Output besitzt eine finale Reduktionssilbe auf -n und ist meist zweisilbig. Gegenwartssprachlich fällt das Fugenelement in der Form mit dem Plural (für die gemischtflektierenden Substantive, 5b–d) bzw. Singular und Plural (für die schwachen Maskulina, 5a) zusammen, in vereinzelten Fällen ist es unparadigmisch (5e): (5) a. b. c. d. e.

SCHW.M GEM.M GEM.N GEM.F ST.M

n-Fuge Chinese-n-viertel Buchstabe-n-folge Auge-n-krankheit Dame-n-schuh –

en-Fuge Fink-en-nest Pfau-en-feder Ohr-en-kranheit Frau-en-schuh Hahn-en-feder

GEN.SG./PL. Fink-en/Fink-en Pfau-s/Pfau-en Ohr-s/Ohr-en Frau/Frau-en Hahn-s/Hähn-e

Neben der schwachen Flexion der Substantive kann auch die schwache Flexion der Adjektive Fugenelemente bereitstellen: Alte-n-heim, Angestellte-n-verband, Kranke-n-haus. Ein Sonderfall der (e)n-Fuge liegt bei Fremdwörtern mit lateinischem Wortausgang vor (vgl. für das Flexion Eisenberg 2012: 223–224), die Stammflexion aufwiesen: Medium/Medien – Medi__-en-skandal, Skala/Skalen – Skal__-en-niveau. Die Integration fremden Materials in bestehende Substantivklassen über die Stammformflexion ist bereits in fnhd. Zeit zu beobachten, wobei sie sich zunächst nur selten in Komposita niederschlägt (z.B. Evangelien= Buch, vgl. Kap. 9.3.2.1).

4.5 (e)ns-Fuge Komposita mit ens- oder ns-Fuge haben nur einen marginalen Anteil am gegenwartssprachlichen Verfugungsverhalten (vgl. Tab. 5), weshalb sie in den meisten Untersuchungen unberücksichtigt bleiben. So fassen z.B. Nübling & Szczepaniak (2013: 82) beide Fugen zusammen und bezeichnen sie als wenig relevant. Da sich die verfugten Erstglieder jedoch in der Outputstruktur mit der

36 | Gegenwartssprachliche Distribution der Fugenelemente

der s-Fuge überschneiden, ist der Typ nicht völlig unwichtig. Historisch, nicht aber synchron (wie das Wiese 1996: 147 vertritt), handelt es sich bei diesen Fugenelementen um zwei kombinierte Genitivsuffixe (vgl. Kap. 5.1.1). Tab. 5: Anteil der (e)ns-Fuge in der Gegenwartssprache.

%

Anmerkungen

Wellmann et al. (1974: 365)

[0,7%]

Typen; kein gesonderter Ausweis, Wert ist „Sonstige“

Krott et al. (2007: 29)

0,2%

Typen; Angabe nur für ens, unklar ob ns auch enthalten

Grube (1976)

ns: 0,1% ens: 0,02%

Typen

Kürschner (2003)

0,0%

Typen; keine Belege

Harlass & Vater (1974)

NA

Typen (Neubildungen); mit s-Fuge zusammen angegeben.

Wortwarte (2010)

ns: 0,3% ens: 0,01%

Typen (Neubildungen)

Donalies & Bubenhofer (2011: 32)

der Sonne Licht). Bei den starken Maskulina und Neutra der Klasse 7 liegt im Fnhd. häufig SchwaApokope vor, weshalb die Pluralform endungslos sein kann (die Hund, die Jahr), dazu gleich mehr. Die Zuordnung eines Substantivs zu einer Flexionsklasse ist im Fnhd. nicht immer zweifelsfrei möglich, insbesondere bei den Pluralen der starken Maskulina und Neutra herrscht relativ viel Variation, die sich auch bis heute dialektal gehalten hat (z.B. die Beiner, die Ärme), zahlreiche Formen eignen sich erst einen Pluralmarker an. Bei Einordnungsproblemen wurde Wegera (1987) für den entsprechenden Dialektraum und ergänzend Grimm & Grimm (1854–1961) herangezogen. Im Zweifelsfall muss eine endungslose Form angenommen werden, d.h. unklarer Status statt eindeutigem Kompositum. 7.2.2.1 Endungslosigkeit im Genitiv Singular Steht ein pränominaler Genitiv im Singular, so ist im Fnhd. in den meisten Fällen ein Flexiv zu erwarten (-(e)s, -(e)n), lediglich bei den Feminina treten auch endungslose Formen auf (vgl. Tab. 27). Für das Fnhd. ist allerdings gut dokumentiert, dass das Genitiv-Singular-Flexiv -(e)s unterdrückt werden kann (vgl. Wegera 1987: 126–131 und Shapiro 1941, auch zu möglichen Gründen; Pavlov 1983: 46, Nitta 1987: 404–405, Nitta 1993, Wegera & Solms 2000: 1543): (54) a. in aines Engel__ gestalt (15; 1529) b. an seines abgestorbnen Roß__ khopf (26; 1557) Pavlov (1983: 46) bezeichnet das Phänomen als „häufige Erscheinung“, sodass das Fehlen von -(e)s- nicht als Indikator für Kompositumsstatus herangezogen werden könne, Konstruktionen wie in Engel gestalt könnten demnach auch Syntagmen sein. Auch Wegera (1987: 126) spricht davon, dass das Flexiv „häu-

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 133

fig getilgt“ werde.121 Diese Behauptung stellt sich jedoch schnell als Irrtum heraus: An ausgewählten Texten des Bonner Fnhd.-Korpus wird sichtbar, dass die s-Flexionslosigkeit bereits zu Beginn der fnhd. Zeit selten ist, im Untersuchungszeitraum stark zurückgeht und postnominal stärker verbreitet scheint als pränominal (Nitta 1993: 94–95):122 Tab. 28: Anteil der Flexionslosigkeit bei erwartetem s-Flexiv im Bonner Fnhd.-Korpus, Zahlen nach Nitta (1993: 94–95)(n=363).123

pränominal ohne s-Flexiv

postnominal ohne s-Flexiv

1350–1400

17% (8/46)

37% (49/134)

1651–1700

0% (0/36)

3% (4/147)

Die Zahlen lassen vermuten, dass das s-Flexiv auch in den hier relevanten, pränominalen Mainzer Korpusdaten fast immer vorhanden ist. Da das Korpus erst hundert Jahre nach dem ersten Bonner Messzeitpunkt einsetzt, könnte der Anteil nicht-overter Flexive sogar noch weiter gesunken sein. Tatsächlich ergibt eine systematische Analyse von Genitiven mit den Artikelwörtern keines, eines, meines, deines, seines einen insgesamt sehr geringen Anteil unflektierter Formen: Bei den 50 Substantiven der schwachen Flexion, also denen, deren Genitiv Singular auf -(e)n gebildet wird, sind keine unflektierten Fälle (*eines Poet) belegt. Von den 390 stark oder gemischt flektierenden Maskulina und Neutra der Gruppen 2 sowie 5 bis 8 weisen dagegen 4,9% (19) kein Flexiv auf (vgl. Abb.

|| 121 Wegera (1987) Daten aus dem Bonner Fnhd.-Korpus belaufen sich auf 217 Tilgungsfälle, wovon 86 auf einen einzigen mittelbairischen Text entfallen – auf genau den, der auch die Daten von Nitta (1987) massiv beeinflusst (s. Fn 122). 122 Für die hohen Nachstellungswerte im ersten Zeitraum ist allerdings ein einziger Text verantwortlich (Durandusʼ Rationale, Mittelbairisch, 1350–1400), in dem 45 von 88 nachgestellte Genitive mit erwartetem s-Flexiv flexionslos sind. 123 Untersucht wurden acht kirchlich-theologische oder erbauliche Texte aus verschiedenen Dialekträumen. Jede dialektale Varietät ist nur einmal vertreten, sodass sich keine diesbezüglichen Unterschiede untersuchen lassen. Einer der Texte stammt abweichend aus dem Zeitraum 1551–1600, die Zahlen wurden hier nicht miteinbezogen. Das führt dazu, dass für 1450–1500 vier, für 1651–1700 dagegen nur drei Texte berücksichtigt werden. Eine Auswertung einsilbiger Simplizia von Szczepaniak (2014: 40) für vier Dialektgebiete (Obersächsisch, Ostfränkisch, Hessisch, Ripuarisch) im Bonner Fnhd.-Korpus ergibt für alle vier Zeiträume minimale flexionslose Anteile (1350–1400: 2%, danach 1%).

134 | Was ist ein Kompositum?

21).124 Diese Fälle konzentrieren sich mit zwei Ausnahmen auf die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums, wobei es sich bei den Ausnahmefällen um Substantive handelt, die auf -s auslauten. Hier unterbleibt das Flexiv wahrscheinlich aus lautlichen Gründen, auch in den Daten von Wegera (1987: 128–129) handelt es sich um einen wohl häufigen Tilgungskontext.125 100% 80% 60% 40% 20% 0%

1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

overter (e)s-Genitiv

34

31

51

45

58

43

66

43

endungsloser Genitiv -

4

5

1

2

endungsloser Genitv Genitivmit - sendungsloser Auslaut s-Auslaut

1

2

2

1

1

Abb. 21: Genitivmarkierung starker/gemischter Maskulina/Neutra nach ausgewählten Artikelwörtern (n=390).126

|| 124 In beiden Gruppen unberücksichtigt blieb das Wort Gulden, das lange Zeit generell unflektiert bleibt (Grimm & Grimm 1854–1961: Lemma „Gulden“), im ersten Untersuchungszeitraum aber textsortenbedingt so frequent ist (29 Belege), dass es einen viel zu großen generellen Anteil der Flexionslosigkeit suggeriert. (Es tritt in einer Kleiderordnung auf, bei der für jeden Verstoß das erforderliche Bußgeld in der Formel bei pein eins reinischen gulden genannt wird.) 125 Leider fehlen Angaben dazu, wie häufig die einzelnen Auslaute überhaupt vorkommen (d.h. auch mit Flexiv), eine sichere Aussage lässt sich also nicht treffen. Unter den flexionslosen Fällen machen diejenigen auf Sibilant 51 von 217 aus. 126 Systematisch gesucht wurde nach allen Vorkommen der genannten Lexeme, gefolgt von einem Leerzeichen. Im Fall von eines wurden Fälle ausgeschlossen, bei denen dem Wort weitere Buchstaben vorangehen. (Genaue reguläre Ausdrücke: „[ksmd][e|a][i|y]ne?[s|ß|z] “ und „[^az][e|a][i|y]ne?[s|ß|z] “.) Nicht erfasst wurden die vernachlässigbar wenigen Fälle, bei denen die Lexeme von Worttrennung am Zeilen- oder Seitenende betroffen sind (jm gehorsam ist/ sei||nes

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 135

Mit 10 dieser 19 unflektierten Fälle entfällt der größte Anteil auf das Ostoberdt., das bereits von Wegera & Solms (2000: 1543) als Kerngebiet des s-Schwunds ausgemacht wird. (Aufschlüsselung nach Dialekträumen im Anhang, Tab. 70.) Auch im frühen Nhd. unterbleibt das s-Flexiv gelegentlich. Scott (2014: 228– 232) stellt für GerManC-Daten und ein Briefkorpus flexionslose Anteile von 4% bis 10,5% aller Genitive fest. Dabei entfallen über zwei Drittel der flexionslosen Fälle auf die hier nicht berücksichtigten Eigennamen (47 von 68), dies lässt die verglichen mit dem Mainzer Korpus etwas höheren Werte plausibel erscheinen.127 Insgesamt kann also sowohl für das Mainzer Korpus als auch für das frühe Nhd. davon ausgegangen werden, dass der Genitiv Singular bei starken/gemischten Maskulina und Neutra overt markiert wird. Die Abwesenheit eines Flexivs ist damit ein Indikator für Kompositionsstatus, wobei bis 1590 die Gefahr besteht, dass vereinzelte nicht-overt markierte Genitive miteinbezogen werden. 7.2.2.2 Endungslosigkeit im Plural Im Plural ist nur bei starken Maskulina und Neutra mit einem Nullflexiv zu rechnen – immer, wenn eine Reduktionssilbe wie bei die Engel vorhanden ist128 und gelegentlich bei Einsilbern wie die Wort durch die in fnhd. Zeit stärker verbreitete Schwa-Apokope bzw. die noch weiterbestehende mhd. Numerusuntüchtigkeit (Wegera 1987: 166–167, 244-245, Nitta 1987: 405): (55) a. daß er alle deine Wort__ erwögt (58; 1645) b. Es gehen aber seine Worte bloß dahin (71; 1709) Ob das Phänomen im Korpus nennenswert auftritt, wurden mit starken Maskulina und Neutra erhoben, die prinzipiell einen Schwa-Plural erlauben. Gesucht wurde dazu nach den Artikelwörtern keine, meine, deine und seine (gefolgt von || willēs foret). Fälle, bei denen direkt Satzzeichen folgen, wurden bewusst ausgeschlossen, da nur mit einer geringen Zahl relevanter Ergebnisse gerechnet werden kann (dafür aber mit vielen irrelevanten Belegen vom Typ so kan auch derer keines/ ob man das (e) schon wegwürfe/ hienein kommen). Alle Ergebnisse wurden manuell darauf überprüft, ob es sich tatsächlich um Artikelwörter handelt und wenn ja, ob ein Genitivflexiv am Bezugsnomen vorhanden ist. Dabei wurden alle Vorkommen von keines wegs und eins mals aufgrund der fortgeschrittenen Univerbierung ausgeschlossen. 127 Scott (2014) liefert leider keine Angaben dazu, wie viele Genitive insgesamt Eigennamen sind, sodass sich der Anteil flexionsloser Appellative nicht berechnen lässt. 128 Zu einer Gruppe eigentlich starker Maskulina und Neutra, die vereinzelt n-Plurale aufweist (die Aposteln), s. Kap. 10.7.7.1.

136 | Was ist ein Kompositum?

einem Leerzeichen), alle 183 relevanten Belege wurden analysiert.129 Sie zeigen, dass Endungslosigkeit eine ernstzunehmende Rolle spielt (Abb. 22): Bis 1650 dominiert sie, erst dann überwiegen Schwa-haltige Formen leicht. 100% 80% 60% 40% 20% 0%

1500-1530

1560-1590

1620-1650

1680-1710

-e

13

6

7

18

Apokope

62

27

33

17

Abb. 22: Pluralmarkierung starker Maskulina/Neutra der Klasse 7 (e-Plural) nach ausgewählten Artikelwörtern (n=183).130

Der Befund stimmt mit bisherigen Feststellungen zum Fnhd. überein (Wegera & Solms 2000: 1544): Für das Mitteldt. erfolgt im 13./14. Jh. zunächst eine Ausbreitung des e-Plurals auf numerusuntüchtige Maskulina und Neutra, sodass die Kategorie Numerus profiliert wird, während sich im Oberdt. die Apokope durchsetzt, die den Pluralausdruck zunächst verhindert. Viele der betroffenen Lexeme wechseln die Klasse, z.B. zum er-Plural (Stücker) oder Umlautplural (Täg). Die Apokope hat im 14. Jh. den ostoberdt. Raum bereits vollständig erfasst, bis

|| 129 Die Artikelwörter unterliegen selbst auch der Apokope, Konstruktionen wie sein Wort sind dürften daher wesentlich frequenter sein. 130 Es wurden jeweils zwei aufeinanderfolgende Zeitschnitte zusammengefasst, da insgesamt nur wenige Daten vorlagen. Der regulären Ausdrücke waren „[ksmd][e|a][i|y]ne “ und „[^az]alle? “. Bei vielen Substantiven der Klasse 8 besteht im Fnhd. daneben noch die Möglichkeit zum Schwa-Plural, in einigen Fällen hat sich das bis heute gehalten (Worte/Wörter, Lande/Länder). In diesen Fällen wurden die Belege Klasse 7 zugeschlagen, wenn sie, wie in (55), Schwa- oder Nullplural aufwiesen (deine aptgott, seine jrrthumm, deine Kindes Kind), wenn sie er-Plural aufwiesen, blieben sie dagegen unberücksichtigt. Historisch gehen die meisten Mitglieder der Klasse 8 auf ahd./mhd. Nullplurale zurück. Es ist daher denkbar, dass es sich bei den hier ausgewerteten endungslosen Fällen auch teilweise um alte Nullplurale handelt, nicht um Apokopefälle. Für die Frage danach, ob Formen des Genitiv Plural identisch mit denen des Nominativ Singular sein können, ist eine Unterscheidung allerdings nicht relevant.

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 137

zum 16. Jh. hat sie sich auch im Westmitteldt. durchgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt setzt das Mainzer Korpus ein, in dem über 80% der (heutigen) SchwaPlurale endungslos auftreten. Ausgehend vom Ostmitteldt. werden jedoch in der 2. Hälfte des 16. Jh. auch im Westmitteldt. und in Teilen des Oberdt. SchwaPlurale restituiert bzw. eingeführt, im letzten Zeitschnitt des Mainzer Korpus zeigt sich entsprechend ein Rückgang auf 50% Pluralapokope bei den starken Maskulina und Neutra.131 Zu den apokopierten Pluralen kommen Formen, die eine finale Reduktionssilbe oder ein unbetontes Suffix besitzen und daher schon früh apokopiert werden (Richter, Engel, Schäflein). Um zu zeigen, dass apokopierte Formen tatsächlich Reanalyse- oder Kompositionsinput bilden können, wurden alle durch Zusammenschreibung eindeutigen Komposita erhoben, deren Erstglied Klasse 4 oder 6 angehören (Umlaut kombiniert mit Schwa). Bei ihnen ist, im Gegensatz zu den umlautlosen Fällen, aufgrund des verbliebenen Umlauts offensichtlich, dass apokopiert wurde. Das Muster ist erwartbar selten (im Korpus sind maximal 14 Fälle belegt), es finden sich jedoch 11 apokopierte Formen:132 (56) a. Ohne Apokope: Böckeblut, Hände=ringen, küheschwäntzen b. Mit Apokope: Böckbüchsen, Füßküsser, Läußkraut, Pfründheuser, Räuchopfer, Seubrot, Säuhirten, Städtmeister, stülge̅ge,133 Zähnknirschen, Zäunwerck

|| 131 Dabei kommt es zu einem Wechselspiel mit den Umlautpluralen: Die Maskulina der ahd. starken a-Deklination wurden durch die Apokope numerusuntüchtig und wechselten in Folge häufig zum Umlautplural (die Bäum, Vögel, Ärm). Bei der Restitution des Suffixes legten viele von ihnen den Umlaut zum Nhd. hin wieder ab (die Arme), allerdings nur in Dialektgebieten bzw. Varietäten, in denen die Restitution auch stattfand. In Apokope-Dialekten wie dem Alem. halten sich die Umlautplurale bis heute (d’Ärm). (Wegera 1987: 244–245) 132 Das Erstglied der im Korpus belegten Komposita sprüchleut, Sprüchwort, Sprüchwörteren ist auf den ersten Blick ebenfalls ein apokopierter Plural, allerdings handelt es sich bei der Form mit ü um eine erst fnhd. Analogie zu Spruch (Pfeifer 1993). Die mhd. Form lautete sprichwort. Der Bezug zu sprechen ist zwar klar, die genauen Verhältnisse sind jedoch ungeklärt. Pfeifer (1993) zieht das mhd. nur selten auftretende spriche ‚Wort, Rede‘ in Betracht. Bei Fueßstapffen wird davon ausgegangen, dass die Graphie einen nicht monophthongierten Diphthong in der Singularform darstellt. Das Wort tritt in dieser Schreibung auch in eindeutigem Singular in oberdt. Texten auf (mit seinem fueß). 133 Möglicherweise handelt es sich hier auch um eine Singularform, so vermerken Grimm & Grimm (1854–1961): „vereinzelt erscheint anorganische (oder nur graphische) umlautbezeichnung auch im singular: auff ein stül bei Steinhausen privatbr. 1, 157 (1476).“

138 | Was ist ein Kompositum?

Die Daten zur Verbreitung der Apokope des Schwa-Plurals in Abb. 22 und die Daten zu umgelauteten apokopierten Erstgliedern in (56) zeigen also, dass die Apokope im Untersuchungszeitraum als Normalfall gelten kann und dass apokopierte Formen entsprechend auch als Kompositionserstglieder möglich sind. Für starke Maskulina und Neutra der Klasse 7 ist also eine Interpretation als Genitiv Plural prinzipiell möglich. 7.2.2.3 Sonderfall Umlaut + Schwa Die Belege in (54) legen eine pluralische Herkunft des Erstglieds nahe. Für eine Teilmenge daraus, nämlich die starken Feminina, ist allerdings auch ein Genitiv Singular denkbar (vgl. auch Fuhrhop 1996: 526): Die ahd. starke i-Deklination der Feminina, auf die sie zurückgehen, wies auch im Genitiv und Dativ Singular eine umlautauslösende Endung auf (Braune 2004: 203–204). Der analogische Ausgleich, der schon in ahd. Zeit den Umlaut aus Singularkasus bei den Maskulina und Neutra der i- und n-Deklination sowie der iz/az-Stämme tilgte (Sonderegger 1979: 300), griff auch auf die starken i-Feminina über (Sonderegger 1979: 309), allerdings erst ab dem Mhd. Bis ins Fnhd. hinein lassen sich hier noch häufig Umlaute im Singular beobachten, Wegera (1987: 147–148) datiert den Abschluss des Ausgleichsprozesses schließlich auf ca. 1500. Die betroffenen Komposita könnten also, sofern sie durch Reanalyse gebildet wurden, sowohl auf Singular- als auch auf Pluralformen zurückgehen – bei küheschwäntzen, Städtmeister liegt der Singular semantisch nahe, bei Läußkraut, Säuhirten eher der Plural. Das Phänomen ist relevant, wenn das erste Substantiv einer bis dahin unklaren Konstruktion daraufhin überprüft wird, ob es nicht nur formal paradigmisch ist, sondern auch semantisch Teil einer Genitivkonstruktion sein könnte. Im Fall von (konstruiertem) der städt meister lässt sich der erste nominale Bestandteil kaum pluralisch interpretieren, entsprechend müsste angenommen werden, dass es sich um ein Kompositum handelt. Bezöge man aber die alten Singularformen als potenziellen Input mit ein, wie das Nitta (1987) tut, so würde eine Genitivkonstruktion wieder denkbar und der Fall würde den Brückenkonstruktionen zugeordnet. Umgelautete Feminina in pränominalen Strukturen, die sich nicht eindeutig als Komposita identifizieren lassen, sind im Korpus sehr selten: 5 Belege sind Brückenkonstruktionen (Gens kot, Kühe galle, leus kraut, leuse kraut, der meuse dreck), einmal handelt es sich um einen eindeutigen Genitiv Plural (aller Früchte miszrahtung). Aufgrund des um 1500 weitgehend abgeschlossenen Übergangs zu umlautlosen Genitiv-Singular-Formen habe ich für die vorliegende Studie entschieden, nur Konstruktionen mit Plurallesart des Erstglieds als potenziell

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 139

genitivisch anzusehen. Entsprechend wurde Kühe galle als Kompositum eingeordnet, die übrigen Fälle als unklar. 7.2.2.4 Semantische „Paradigmatizität“ Wie bereits mehrfach angesprochen, ist für die Entscheidung über den Status einer Konstruktion nicht nur die formale Übereinstimmung mit einem Genitivflexiv des Singulars oder Plurals ausschlaggebend, sondern auch dessen „semantische Paradigmatizität“: Liegt eine Genitiv-Singular-Form vor, so muss das erste Substantiv auch singularisch interpretierbar sein, um ein Genitivattribut sein zu können. Liegt ein Mismatch zwischen Semantik und Form vor, so muss davon ausgegangen werden, dass es sich um ein Kompositum handelt (graue Felder in Tab. 29). Tab. 29: Zusammenwirken von semantischem und formalem Numerus. formal

Singular

Plural

Singular

① muter leib, kalbs verse

② kühe galle

Plural

③ *bischofs konferenz

④ engel schar

semantisch

Ein derartiges Mismatch kann für ③ (formaler Singular, semantischer Plural) durch die Ausbreitung der (e)s-Fuge (vgl. nhd. Freundeskreis, Bischofskonferenz) bedingt sein. Fnhd. Beispiele, die aufgrund dessen als Kompositum eingeordnet würden, finden sich im Korpus allerdings nicht. Die Fälle sind auch heute noch selten, es verwundert wenig, dass sie nicht auftreten (vgl. aber Kap. 10.8). Eine kleine Gruppe von Feminina wie holder beer safft könnte ebenfalls hier einzuordnen sein, da Saft nie aus einer einzigen Holderbeere gemacht wird. Allerdings ist der Gebrauch eines generischen Singulars in Genitivkonstruktionen, insbesondere bei Pflanzen- und Tierbezeichnungen, weit verbreitet; derartige Zuordnungen sollten also nur sehr vorsichtig geschehen (vgl. auch Pavlov 1983: 48). Für ② (formaler Plural, semantischer Singular) ist ein alter Genitiv Singular als Input denkbar (kühe galle), wie eben erläutert dürfte eine solche Form um 1500 jedoch pluralisch interpretiert werden. Das spricht dafür, dass ein Kompositum vorliegt, da in einer Genitivkonstruktion angepasst worden wäre. Problematisch sind Fälle, bei denen die Erstgliedlesart vom Numerus des Zweitglieds abhängt, z.B. Krebsschalen, Gänsefedern. In der Gegenwartssprache tritt i.d.R. keine Fugenschwankung in Abhängigkeit vom Numerus des Zweitglieds auf,

140 | Was ist ein Kompositum?

d.h. es steht nicht Gansfeder vs. Gänsefedern (vgl. aber Kap. 5.2.2.2). Es erscheint daher fraglich, wie sinnvoll es ist, mit Krebs Schalen als unklar einzuordnen (Schalen kann Sg. und Pl. sein), mit Krebs Schale dagegen als Kompositum – ganz zu schweigen davon, dass eine generische Lesart auch Pluralformen erlauben kann (Die Krebse sind Wassertiere, die …). Bei den (wenigen) betroffenen Belegen wurde in Ermangelung einer besseren Alternative dennoch so verfahren. Vgl. auch zur Reanalyse von Genitiv-Plural-Formen Kap. 10.7.7.1. 7.2.2.5 Rolle des Flexivs Damit ist nun klar, dass fehlende Genitivflexive als Hinweis auf Komposition betrachtet werden, bei fehlenden Pluralflexiven jedoch Vorsicht geboten ist. In einer Konstruktion wie mit schaf woll würde das fehlende Genitivflexiv zwar auf ein Kompositum verweisen, allerdings muss ohne weiteren Kontext auch in Betracht gezogen werden, dass es sich um eine apokopierte Pluralform handeln könnte, in diesem Fall käme auch eine Genitivphrase infrage. Problemfälle sind damit solche Getrenntschreibungen, deren erstes Element kein Flexiv oder Fugenelement aufweist und nicht durch Determinierer oder Modifikatoren als Genitiv identifiziert werden können (dagegen eindeutig genitivisch: mit eines schaf woll). In Abb. 23 wird gezeigt, wie bei ihnen eine Zuordnung zu „Kompositum“ bzw. „unsicherer Status“ (also Brückenkonstruktionen) erfolgen kann: 1. Zunächst einmal wird die Flexionsklassenzugehörigkeit des ersten Substantivs bestimmt (Kasten „schwache Flexion?“). Flektiert es schwach (z.B. des fürsten), so verweist das fehlende Flexiv unmissverständlich auf den Kompositionsstatus (von fürst bischof).134

|| 134 Seit der fnhd. Zeit gibt es eine größere Gruppe von Klassenwechslern von der schwachen zur gemischten bzw. weiter zur starken Flexion bei (vorrangig unbelebten) Maskulina (Kap. 5.1). Für die betroffenen Substantive müsste eigentlich textspezifisch bestimmt werden, wie sie zum entsprechenden Zeitpunkt flektieren, dazu ist der jeweilige Textumfang allerdings zu gering. Beim Übergang zur starken Flexion lassen sich vier Stadien beobachten, wobei nicht jeder Klassenwechsler sie bis zum Ende durchläuft:

schwach gemischt stark (Nullplural) stark (Umlautplural)

NOM SG

GEN SG

GEN PL

der schade der schade der schaden der schaden

des schaden des schadens/des schades des schadens des schadens

der schaden der schaden der schaden der schäden

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 141

2.

Flektiert es nicht schwach, so ist das weitere Vorgehen genusabhängig: a. Gemischte und starke Feminina besitzen kein Genitivflexiv im Singular (z.B. der mutter) und müssen daher anders behandelt werden als Maskulina und Neutra. Für sie muss überprüft werden, ob das Erstglied singularisch lesbar ist. i. Ist dies der Fall (in muter leib), so kann nicht zwischen Genitivkonstruktion und Kompositum entschieden werden. ii. Kann das Femininum dagegen nicht singularisch gelesen werden (mit feder kleid), so muss es sich, da kein Pluralflexiv vorhanden ist (der federn), um ein Kompositum handeln. b. Gemischte und starke Maskulina/Neutra erfordern immer ein GenitivSingular-Flexiv. Entsprechend ist es nicht möglich, dass es sich bei einem Fall wie mit rind fleisch um eine Genitiv-Singular-Konstruktion handelt. Hier gilt es, zu überprüfen, ob die Pluralformen Ambiguitäten erlauben, dies ist nur möglich, wenn das erste Substantiv e- oder Nullplural besitzt. i. Besitzt das Substantiv keinen Schwa- oder Nullplural (der rinder), so stimmt es weder mit Genitiv Singular noch mit Genitiv Plural überein, es muss sich also um ein Kompositum handeln (mit rind fleisch). ii. Besitzt es einen Schwa- oder Nullplural (die Engel, die Berge), so muss überprüft werden, ob eine Genitiv-Plural-Lesart möglich wäre. I. Ist sie nicht möglich (auf berg spitze saß ein vogel), so handelt es sich um ein Kompositum. II. Ist sie möglich (mit Engel gesang wurde sie empfangen), so ist eine eindeutige Zuordnung nicht möglich.

|| Relativ unproblematisch sind Fälle wie durch schadens ersetzung, hier liegt eindeutig eine Übereinstimmung mit dem Genitiv vor, eine Entscheidung über den Status ist also, wie bei allen Konstruktionen mit paradigmischem -(e/n)s, nicht möglich. Findet sich dagegen eine Konstruktion wie mit schaden freude, so kann es sich, wenn schade(n) noch schwach flektiert, um eine Genitivkonstruktion handeln, wenn es bereits stark flektiert, nur um ein Kompositum. Da nicht zu bestimmen ist, in welchem Wechselstadium sich das entsprechende Substantiv befindet, werden hier alle möglichen Formen einbezogen, d.h. es wird davon ausgegangen, dass es sich bei schaden um einen Genitiv Singular oder Plural handeln kann und damit eine Entscheidung über den Status nicht möglich ist.

142 | Was ist ein Kompositum?

mit feder kleid

Kompositum

ja

von fürst bischof

schwache mit rind fleisch

auf berg spitze

Flexion?

nein

nein

Femininum?

ja

möglich?

ja

nein

nein

Singularlesart

e- oder Nullplural? (Kl. 7)

ja

nein

Plurallesart möglich?

ja

Status unklar

mit Engel gesang

in muter leib

Abb. 23: Analyse fnhd. adjazenter NN-Konstruktionen, deren erster Bestandteil unflektiert/unverfugt ist: Ausgehend von der Frage nach der schwachen Flexion wird dargestellt, welche Bedingungen zutreffen müssen, um die Konstruktion als Kompositium zu identifizieren bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Zuordnung nicht möglich ist.

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 143

Liegen Strukturen vor, bei denen das unparadigmische Verfugungsverhalten (Religions) darauf hindeutet, dass es sich um ein Kompositum handelt, so kann direkt eine eindeutige Zuordnung erfolgen: 135 (57)

[…] der Römischen Kirche/ als der Maisterinne in Religions vnd Glaubens sachen […] (39; 1588)

Solche Fälle treten im Untersuchungszeitraum allerdings erst spät und in geringer Menge auf.

7.2.3 Modifikation und Determination Unterschiedliche, häufig nicht explizit gemachte Abgrenzungskriterien von Komposita gegenüber pränominalen Genitivkonstruktionen können bei empirischen Studien zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen. So behandelt z.B. Lanouette (1998: 76) in ihrer Untersuchung zur Genitivstellung Konstruktionen wie der Widwen Son und Ir Mutter bruder kommentarlos als Genitive und äußert zu Zusammensetzungen mit Gottes ohne weitere Begründung: “Also, I include such examples as Gottes Wort and Gottes Name, which Ebert considers to be compounds.“ 7.2.3.1 Zweitgliedbezug als Indikator für Komposition? In Studien, die Genitivkonstruktionen fokussieren, herrscht häufig ein sehr weites Genitivverständnis: Liegt Getrenntschreibung vor, werden auch Konstruktionen wie daz gotes wort eingeschlossen, die im heutigen System eindeutig Komposita wären. Hauptgrund dafür ist, dass bis ins Fnhd. Determinierer und Modifikatoren in ihrer Stellung wenig eingeschränkt waren. In Kap. 6.2 wurden bereits fnhd. Strukturen wie in (58) diskutiert, bei denen beide nominalen Bestandteile vor dem Genitivattribut modifiziert oder determiniert werden. Daneben denkbar (und im Korpus mit anderen Lexemen auch 251 Mal belegt) sind aber auch Fälle wie in (59), bei denen nur ein Determinierer oder Modifikator vorhanden ist, der auf das Bezugsnomen verweist.

|| 135 Von den 14 eindeutig genitivischen Verwendungen des Lexems Religion im Mainzer Korpus sind alle, wie es ihr Femininum erwarten lässt, unflektiert. Formen mit -s werden also den Komposita zugeordnet.

144 | Was ist ein Kompositum?

(58) a. Der Vndereinnemer Truhe/ sol auch vier guter Schloß/ vnd darzu vier vnderschiedliche schlüssel haben/ darvon jeder [deß Fürstenthumbs] Obereinnemer einen Schlüssel haben sol. (38; 1595) b. […] sintemahlen alles [der Menschen] Absehen/ mit diesem Ring versiegelt wird / außgenommen das Sterben/ […] (56; 1680) c. Dise [deß Teufels] Macht/ ist auch vmb so vil desto kräfftiger vnnd mächtiger (49; 1617) (59) a. jeder Fürstentumbs Obereinnehmer b. alles Menschen Absehen c. diese Teufels Macht Hier nimmt der Determinierer bzw. Modifikator zwar eindeutig Bezug auf Obereinnehmer, Absehen und Macht, seine Position vor den beiden Substantiven allein vermag jedoch – im Gegensatz zu oberflächlich identischen Strukturen im Gegenwartsdt. – den Status von Fürstenthumbs, Menschen und Teufels nicht anzuzeigen. Es ist denkbar, dass hier nur aus pragmatischen Gründen kein Determinierer verwendet wird, ohne dass eine Interpretation als Kompositum erfolgt. So bemerkt Nitta (1987: 404): Wenn im Frnhd. der sogenannte Null-Artikel noch im großen Umfang üblich sein sollte, dann wäre es wohl berechtigt anzunehmen, daß es unter den Belegen, die man aus dem Sprachgefühl des Nhd. als Zusammensetzung klassifizieren könnte, manche Belege geben wird, die im Frnhd. wohl noch als Wortgruppe empfunden worden sind.

Damit stellt sich die Frage, wie derartig uneindeutige Strukturen aus (59) zu behandeln sind: Sind sie eher den Genitivkonstruktionen zuzuschlagen, und erst die Zusammenschreibung zeigt an, dass sie Kompositionsstatus erreicht haben? (So z.B. Pavlov 1983.) Oder handelt es sich bereits bei den getrennt geschriebenen Konstruktionen um Komposita? (So bei Reagan 1981, Solling 2012, Kopf 2018a.) Für die vorliegende Studie muss zunächst festgestellt werden, ob derartige Strukturen im Korpus auftreten und wenn ja, bis zu welchem Zeitpunkt. Erst dann lässt sich entscheiden, ob Determinierer oder Modifikatoren in Konstruktionen wie das Königs Reich zur Entscheidung über den Status herangezogen werden können. Tatsächlich sind im Mainzer Korpus bis 1710 16 Fälle belegt, in denen beide Substantive in pränominalen Konstruktionen näher bestimmt werden. Das Phänomen ist also nicht frequent, es muss aber davon ausgegangen werden, dass auch Strukturen wie (60b) im Fnhd. und frühen Nhd. möglich waren.

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 145

Genitiv (60) a.

jeder

b. jeder c.

jeder

d. jeder

Bezugsnomen/Kompositum

deß

Fürstenthumbs

Obereinnemer



Fürstenthumbs

Obereinnemer Fürstenthumbs Obereinnemer Fürstenthumbs=Obereinnemer

Abb. 24: Ambige Strukturen zwischen Genitivkonstruktion und Kompositum im Fnhd.

Ist ein initialer Determinierer oder Modifikator vorhanden, der sich ausschließlich auf das Zweitglied bezieht, ist die Konstruktion getrennt geschrieben und weist das Erstglied keine Form auf, die mit seinem Paradigma unvereinbar ist, so kann keine Entscheidung darüber getroffen werden, ob es sich um eine Genitivkonstruktion oder ein verfugtes Kompositum handelt. Auf der anderen Seite ist aber klar, dass derartige Konstruktionen heute auch bei Getrenntschreibung als Komposita gelesen werden, z.B. eine Senioren Residenz, das kinder geld. In Abb. 25 wird ersichtlich, dass der rahmende Typus (das Königs Schloss) im Untersuchungszeitraum auf niedrigem Niveau schwankt und schließlich deutlich zurückgeht, 1710 finden sich nur noch sechs derartige Belege. Es erscheint daher am zielführendsten, davon auszugehen, dass solche Konstruktionen zu Beginn der nhd. Zeit durch das Zusammenwirken von sich ausbreitender Zusammenschreibung für Fälle, die als Komposita empfunden wurden (s. Kap. 9), einerseits, und Nachstellung des Genitivattributs andererseits (s. Kap. 6.3) nahezu verschwanden. Die Genitivattribute, die vorangestellt blieben (Eigennamen inklusive Verwandtschaftsnamen) sind inhärent definit (s. Kap. 8.2.2) und daher i.d.R. nicht modifiziert oder determiniert. Der Typus hört also auf zu existieren. Pavlov (1983: 56) zieht außerdem die Tatsache, dass in Rahmenkonstruktionen auch Erstglieder auftreten können, die auf einen konkreten Vertreter Bezug nehmen (z.B. deser Salomons tempel, die Bapsts boßheit) heran um zu zeigen, dass Konstruktionen von Typ III (das Königs Schloss) im Fnhd. nicht zwingend als Komposita aufzufassen sind. Das ist für einige seiner Beispiele problematisch, weil sie Eigennamen oder Unika enthalten, die prinzipiell reana-

146 | Was ist ein Kompositum?

lysefähig sind (Salomonstempel). Bei die Bapsts boßheit lässt sich das Argument aber halten: Es geht hier um den Charakter oder das Verhalten eines spezifischen Papstes, nicht des Amts (wie es z.B. bei die Papstaudienz der Fall wäre), eine derartige Lesart spricht für den Genitiv (Details zur Semantik s. Kap. 8.2).

160 140 120 100 80 60 40 20 0

1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

das Königs Schloss

63

54

18

39

45

48

22

6

des Königs Schlosses

13

16

25

16

12

11

9

6

Königs Schloss

79

147

41

74

39

45

32

15

Abb. 25: Anzahl und Verteilung unklarer Konstruktionen im Mainzer Korpus; die drei Typen sind jeweils mit einer Beispielkonstruktion bezeichnet (n=875). (Der Einordnung als unklare Konstruktion liegt Kap. 7.2.7 zugrunde.)

7.2.3.2 Erstgliedbezug als Indikator für Genitiv? Ein eindeutiges Genitivattribut liegt vor, wenn das erste Substantiv grammatisch eindeutig modifiziert oder determiniert wird (vgl. Pavlov 1983: 35–62, Nitta 1987), d.h. sich Artikelwörter oder Adjektive ausschließlich auf das erste Substantiv beziehen können und mit diesem in Kasus, Genus und Numerus kongruieren. Relativpronomen attributiver Relativsätze können zwar ebenfalls mit dem ersten Substantiv kongruieren (allerdings nur in Genus und Numerus, nicht in Kasus). Sie können allerdings nicht zur Disambiguierung von Kompositum und Genitivkonstruktion genutzt werden, wie im Folgenden gezeigt wird. Fälle ohne Kongruenzbeziehung (z.B. weitere Genitivattribute) und/oder Fälle mit rein semantischem Bezug auf das erste Substantiv sprechen ebenfalls nicht gegen Kompositionsstatus. Auch sie werden in den folgenden Unterkapiteln kurz erläutert.

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Anaphorischer Erstgliedbezug In Kap. 7.1.2 wurde argumentiert, dass im Nhd. Relativsätze (d.h. Attribute) und anaphorische Pronomina wie in (48) unter sehr eng gesteckten Bedingungen – wenn nämlich grammatisch und semantisch kein anderes Antezedens möglich ist – Erstgliedbezug herstellen können und dass dieselben Bedingungen auch gelten, wenn ein Bezug zu einem pränominalen Genitivattribut hergestellt werden soll (50). (48)' a. b. c. d.

*der Apfelibaum, deni ich gerne esse Nebelibildung, deri sich am Tag zögernd auflöst (Wunderlich 1986: 218) Schmidti-Anhänger waren von ihmi enttäuscht (Coulmas 1988: 323) Peter hat den Hühneristall offengelassen. Im Nu waren siei alle fortgeflogen. (Rössler 2014) (50)' a. *Das ist [Luises i Tasche], diei dort steht. b. Das ist [Luisesi Sache], diei sich damit besser auskennt. Im Fnhd. scheinen derartige Bezüge häufiger vorzukommen, und zwar insbesondere bei Brückenkonstruktionen wie (61) (Pavlov 1983: 59–60):136 (61) a. Nun wißt der wirt, das sy zu nacht [ain groß kertzeni liecht] liessen brynnen, diei sy in sunderhait hetten machen lassen b. an eynde der stat bij der portzen lijcht [eyn schoyn jonfferi kloister], diei edel sijnt c. der Graff von Widenmund, der wolt auch erb sein, wan̅ er [des Hertzogn̅ schwesteri sun] was, syi was aber des hertzogen tochter von Lottringen In allen Fällen wird von außen auf das Erstglied/Genitivattribut zugegriffen. Da schon für das Nhd. gezeigt wurde, dass die Vorstellung von anaphorischen Inseln nicht zu halten ist, sollten entsprechend fnhd. Fälle wie in (61) nicht auf dieser Basis disambiguiert werden. Hinter der formalen Zugänglichkeit von Kompositumserstgliedern verbirgt sich die Vorstellung, dass Erstglieder nicht spezifisch referieren können. Die Sonderfälle dieses Unterkapitels zeigen aber, dass die Erstglieder durchaus spezifisch, oder zumindest spezifischer gemacht werden können. Zu diesem Komplex s. auch noch einmal Kap. 8.2.

|| 136 Die Bezugnahme kann verschiedene Strukturen aufweisen, neben Relativsätzen und Pronomen in Folgesätzen sind z.B. auch Präpositionalphrasen und attributive Partizipialgruppen (der pawern tantz, versammelt aus mancherley dorffern, Pavlov 1983: 60) möglich.

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Relationale Erstglieder Relationale Erstglieder, die phrasal modifiziert werden, treten bereits im Fnhd. auf, wobei Behaghel (1932: 1) das Phänomen als selten bezeichnet. Es handelt sich, ähnlich wie bei den Zusammenrückungen, um ein Verfahren, das im Nhd. insbesondere in wissenschaftlichen Texten genutzt wird (Behaghel 1932: 1). Die Komprimierungsvorteile sind vergleichbar und die Konstruktion macht Substantive zum Kern der NP, deren Wiederaufnahme damit erleichtert oder erst ermöglicht wird. Bei den Belegen in (62) handelt es sich um einschlägige Fälle, während in (63) ein eindeutiger pränominaler Genitiv modifiziert wird, in (64) eine Brückenkonstruktion. (62) a. vor dem uffartitag [unsers herreni] (1453, Behaghel 1932: 1) b. in dem Lobigeticht [edes Weingottesi] (1624, Behaghel 1932: 1) c. Wohlan! es ist geschehen/ was meiner lieben Eltern seel. Wuntsch vnd Vorsatz/ vnd nachmahls [des Herrn Vettern]i Vormundschafftsi Zweck gewesen. (51; 1646) (63) und des künigsi ret [i von Ungern] waren auch da (Pavlov 1983: 59–60) (64) dese koeche kochen ouch gemeynlich kameyls fleysch, dat gar suess is zo essen ind ouch vil [schaeffi fleysch] imit langen breyden swentzen ind ihauen gar lange oren (Pavlov 1983: 59–60) Das Auftreten in fnhd. Brückenkonstruktionen kann also nicht als Indikator für einen Genitivstatus dienen. Zusammenrückungen und ähnliche Phänomene Bezieht sich ein Modifikator semantisch auf das Erstglied, grammatisch jedoch auf das Zweitglied, so liegt eine Zusammenrückung im Sinne Bergmanns (1980) vor: Die semantische Modifizierbarkeit des Erstglieds spricht hier nicht gegen den generellen Kompositumsstatus der Konstruktion. Derartige Fälle treten in meinem Korpus und bei Pavlov (1983) vereinzelt auf: (65) a. daß sich die Schlesische Evangelische Religions-Freyheit auf denselben gründe. (72; 1710) b. zum Behuff der Augspurgischen Confessions-Ubung (72; 1710) c. den gantzen Verlauff der grossen FränckischenReichs=||theilung (76; 1708) Für (65b) existiert im selben Text auch eine parallele Genitivkonstruktion:

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(66) allezeit gültige Confirmation der Ubung der Augspurgischen Confession (72; 1710) Durch unparadigmische Verfugung des Erstglieds oder Zusammenschreibung der Konstruktion lassen sich solche Fälle i.d.R. als Komposita einordnen. Ist dies nicht der Fall, wie in (67), erfolgt eine Zuordnung zu den Brückenkonstruktionen. (67) bey den geystlichen stands personen (Pavlov 1983: 57) Pavlov (1983: 57–58) führt noch eine zweite Gruppe an, bei der sich das Adjektiv auf das Erstglied bezieht, die sich aber in eine andere Richtung entwickelt hat: (68) a. b. c. d.

an einen schwartzen kirsen baum vff samstag nach dem newen jars tag an dem hayligē kreütz abent sij [die struyse] legen ouch gar groisse eyer die so dick sijnt as junge kyntz houffder ‚sie [die Straußen] legen auch gar große Eier, die so dick sind wie junge Kinder Häupter‘137

Im Mainzer Korpus finden sich mit vergleichbarer Struktur z.B. pitter mandel kern öl, weyß lilgewurcz (16; 1533), weis Brotschnitten (28; 1566), und am Newen Jahrstag (33; 1590).138 Hier liegen aber, anders als bei den Fällen aus (68), bereits eindeutige NN-Komposita vor,139 lediglich der Status des Adjektivs ist unklar: Es kann sich um eine Zusammenrückung handeln (bitter(es) Mandelkernöl, wie evangelische Religions-Freyheit), diese Konstruktionen sind allerdings auch direkte Vorläufer dreigliedriger Komposita der Struktur [[AN]N] (Pavlov 1983: 57): (69) a. der Schwarzkirschenbaum, ein Bäumchen, dessen Anblick dem Auge gefällt (1804)m || 137 Bei kyntz handelt es sich nach Pavlov (1983: 57) um einen Plural. 138 Etwas anders verhält es sich mit ein gut armer Leut speis (28; 1566), hier kongruiert das zweite Adjektiv mit dem Genitivattribut, die Konstruktion ist also eine des Typs der des Fürstentumbs Obereinnehmner (s. Kap. 7.2.3.1). Statt eines dreigliedrigen Kompositums wird hier heute ein Phrasenkompositum genutzt (Armeleuteessen). 139 Je nach Beispiel erkennbar an flexionslosem Erstglied und/oder der Zusammenschreibung, ich greife hier kurz vor.

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b. Neujahrstag c. das erst auf Heiligkreuz-Abend – 2. Mai – den Bündnern zukommt (1884)n Dieser Typ, den Bergmann (1980: 254) aus synchroner Perspektive mit den Zusammenrückungen vergleicht, ist ihnen also nicht nur strukturell ähnlich, beide Konstruktionen haben höchstwahrscheinlich einen gemeinsamen Ursprung. Die formale Fügungsenge hat sich dabei in unterschiedlichem Maß erhöht (Abb. 26).140 Liegt also eine semantisch enge Fügung aus Adjektiv und Substantiv vor (i.d.R. ein Nennsyntagma), so kann die ganze Phrase Teil eines Kompositums mit substantivischem Kopf werden. Derartige Zusammenrückungen können sich zu dreigliedrigen Komposita weiterentwickeln, wenn die Bestandteile ein gemeinsames Konzept benennen. Dabei entfällt das adjektivische Flexiv (das auch schon vorher unterbleiben kann: weiß lilien wurzel) und es setzt sich langfristig vollständige Zusammenschreibung durch. Ist die semantische Verbindung zwischen Adjektiv und Genitivattribut nur lose, wie bei anderer Leute Probleme, so gibt es auch keinen Grund, die formale Enge zu erhöhen, es bleibt zunächst beim Syntagma bis der Stellungswandel einsetzt. Sowohl die Zusammenrückung als auch die dreigliedrigen Komposita stehen heute als direkt zugängliche Wortbildungsmuster zur Verfügung, vgl. entsprechende Neubildungen (embryonaler Zellkern, Kaltschaummatratze).

1. adjektivisch modifiziertes

2. Zusammenrückung

Genitivattribut

3. dreigliedriges Kompositum

[weißer Lilien] Wurzel

[weiß(e) Lilienwurzel]

[evangelischer Religion] Freiheit

[evangelische Religionsfreiheit]

[Weißlilienwurzel]

[anderer Leute] Probleme Abb. 26: Erhöhung der formalen Fügungsenge bei adjektivisch modifizierten Genitivattributen, Zusammenrückungen und ANN-Komposita.

Für den Umgang mit den fnhd. Daten erzeugt dies einen gewissen Unsicherheitsfaktor: Bei adjektivischem Erstgliedbezug würde normalerweise davon ausgegangen, dass das Erstglied spezifisch ist und sich damit nicht für eine Reana-

|| 140 Die Beispiele sind nach dem Vorbild der tatsächlichen Belege konstruiert.

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lyse oder funktionale Ersetzung durch ein Kompositum eignet (z.B. wegen fressender Hunde Gefährlichkeit ↛ wegen fressender Hundegefährlichkeit). Ist das Zweitglied jedoch hinreichend allgemein und das Adjektiv von relationalem Charakter, so sind Übergänge denkbar. Dabei lässt sich für das Fnhd. nicht entscheiden, wo die Grenze war. Es ist gut möglich, dass auch Strukturen, die heute nicht in Zusammenrückungen ausgedrückt werden, als kompositumsäquivalent wahrgenommen wurden. Da keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, wurden schließlich die Konstruktionen, die a) im Mainzer Korpus auch als Zusammenrückungen belegt sind oder b) heute als solche vorstellbar sind, als Brückenkonstruktionen klassifiziert.

7.2.4 Schreibung Die Getrenntschreibung kann im Fnhd., anders als in standardorientierten nhd. Texten, nicht als Unterscheidungskriterium zwischen Genitivkonstruktion und Kompositum herangezogen werden: Was getrennt geschrieben wird, kann dennoch den Status eines Kompositums haben.141 Umgekehrt dient die Zusammenschreibung jedoch als sehr sicherer Indikator dafür, dass ein Kompositum vorliegt (vgl. Pavlov 1983: 140, Nitta 1987: 406, Solms 1999: 233).142 Beide Annahmen werden im Folgenden anhand der Mainzer Daten illustriert. Da Zusammenschreibung für syntaktische Einheiten auch in anderen Fällen nicht auftritt, kann davon ausgegangen werden, dass sie morphologische Einheiten, in meinem Fall Komposita, markiert. Zusammenschreibung von Komposita ist bereits im Ahd. zu beobachten, im Verlauf des Mhd. breitet sie sich insbesondere bei unverfugten Komposita erheblich aus (mehr dazu in Kap. 13.1.1). Reagan (1981: 90) geht davon aus, dass die Zusammenschreibung im Fnhd. von SchreiberInnen wie LeserInnen als Indikator für „unitary expressions“ gelesen wird und damit „an important psychological effect“ hat. Die Zusammenschreibung erzeugt kein Kompositum, aber sie hebt einen wesentlichen Aspekt von Komposita als Ausdruckseinheit hervor. Dieses Streben nach Ver|| 141 Darin gleicht das Fnhd. engl. Komposita, allerdings nur solchen mit nicht-nominalem Erstglied (inklusive Gerundien). Sie können durch Zusammen- oder Bindestrichschreibung eindeutig markiert sein (z.B. blackboard ‚Tafel‘), Getrenntschreibung kann jedoch die Unterscheidung zwischen Phrase und Kompositum erschweren (black box ‚Flugschreiber‘ vs. ‚schwarze Schachtel‘). Hier wirkt die Position des Hauptakzents disambiguierend: Finalbetonte Konstruktionen haben phrasalen Status, initialbetonte sind hingegen als Komposita zu betrachten. Zu engl. Komposita mit nominalem Erstglied s. Kap. 8.3. 142 Anders Reagan (1981: 90) und Okrajek (1966: 41).

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deutlichung konzeptueller Einheitlichkeit kann auch gegen syntaktisch gesteuerte Eigenschaften wirken, so bei der Hohepriester, den Hohenpriester mit binnenflektiertem Adjektiv. Solche Fälle ordnet Reagan nicht als Komposita ein, dennoch gesteht er ihnen eine größere Kohäsion zu als der Getrenntschreibung (der hohe Priester). Für paradigmisch verfugte NN-Komposita lässt sich dagegen nicht testen, ob nicht eher ein Nennsyntagma mit Binnenflexion vorliegt, da das Genitivattribut nie einen Kasuswechsel mitmacht. Im Mainzer Korpus kommen 14 Fälle vor, bei denen ein grammatisch eindeutiger pränominaler Genitiv mit seinem Bezugsnomen zusammengeschrieben wird. Hier kann von Fehlern bei der Erstellung des Manuskripts oder beim Setzen ausgegangen werden. Entweder wurde ein Kongruenzfehler gemacht und das Wort sollte ein Kompositum sein (Analysefehler in Tab. 30), oder es wurde ein Zusammenschreibungsfehler gemacht und es sollte eine Genitivkonstruktion sein (Satzfehler in Tab. 30; vgl. auch Pavlov 1983: 111). Die Zusammenschreibungen machen für die Gruppe der näher bestimmten pränominalen Genitivattribute insgesamt nur 2,5% aus. Tab. 30: Zusammenschreibung von Genitivattribut und Bezugsnomen im Mainzer Korpus. Es wurden nur Fälle ausgewertet, bei denen das erste Substantiv näher bestimmt wird (Typ [des reichs] rat). (Kopf eingereicht,a) pränominaler Genitiv Getrenntschreibung Zusammenschreibung

542 14

davon wahrscheinlich Satzfehler

7

davon wahrscheinlich Analysefehler

4

Fehlertyp unklar

3

Satzfehler liegen nach Kopf (eingereicht,a) vor, wenn das zweite Substantiv großgeschrieben ist, wie in (72). Hier wurde lediglich ein Leerzeichen vergessen oder aus Platzgründen bewusst unterdrückt. Um Analysefehler handelt es sich wahrscheinlich in (70c–g). Ganz eindeutig ist das in (70f–g), wo Bindestrichschreibung vorliegt. Plausibel ist es aber auch in den übrigen Fällen: In den jeweiligen Texten ist die Substantivgroßschreibung so weit durchgesetzt, dass bei einem Satzfehler mit Großschreibung des zweiten Substantivs gerechnet werden müsste. Nicht entscheidbar sind Fälle wie (70a–b), da die Substantivgroßschreibung nicht so weit durchgesetzt ist, dass Großschreibung des zweiten Substantivs zu erwarten wäre.

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(70) a. Des gleichen sollen sie auch keynerley von rauchwerck/ den allein ein harschlecht gebreme doch nicht vber eyns fingersbreyth/ Auch keine brustletz noch keyn geteylte farbe ader gewand vorbremen auß wendig. (4; 1506) b. Wie viel mehr wird vnd muß er sorgen für das Häuptgut vnnd der Seelenspeiß/ darinnen er ja seinen Gläubigen allerwenigst mangeln zu lassen gemeinet ist. (35; 1592) c. Aber zur geistlichen volligen reynigung der Sünden/ da ist aller Vögel/ aller Ochsen vnd Böckeblut/ auch all andere spreng vnd Weyhwasser zugering/ Sondern Menschenblut must es sein/ wann die reynigung der Sünden solte gemachet werden. (45; 1623) d. Hingegen seynd schädlich alle Sümpff=See=Morast= und stillstehende Wasser/ welche durch der Sonnenhitze den Jnwohnern der anliegenden Gebäu auff vielerley Weise schädlich sind (62; 1678) e. […] noch auch Prandthwein verkaufft/ oder sonsten Nächtlicher weil das Zechen vnnd Leuthgeben lang gestattet/ sondern deß Sommerszeit umb Neun Vhr/ Winterszeit aber vmb Acht Vhr/ alle Keller gespört werden: (56; 1654) f. und gezeugt einen Sohn/ welcher genennt ward Martinus de la Tour, mit dem Zunahmen Gigas, der Ries/ wegen seines Gemüths= und Leibs=Grösse/ welche er in dem gegen die Saracener geführten Krieg gezeigt hat (77; 1714) g. wie sonderlich zu der Rede=Schluß beschihet (52; 1653) Meist tritt die Zusammenschreibung bei pränominalen Konstruktionen auf (70),143 in einem Korpustext sind jedoch auch zwei postnominale Konstruktionen betroffen (71). Hier erstaunt es wenig, dass es sich um das Genitivattribut Gottes und um einen partitiven Genitiv (oder möglicherweise um eine Apposition) handelt – zwei der seltenen Fälle, bei denen postnominal artikelloses Auftreten möglich ist.

|| 143 Alle Stellen wurden noch einmal an den Drucken verifiziert. Es scheint fnhd. Texte zu geben, bei denen eine Zusammenschreibung von Genitivattribut und Bezugsnomen, insbes. mit Bindestrich, häufiger vorkommt, so führt Kehrein (1854–1856: 129) exemplarisch deines Grimmes=Loh, der blöden Augen=Liecht, deß Feindes=Spiel aus Flemings Teütsche Poemata an und verweist auf zahlreiche weitere Beispiele in dieser Quelle. In Sollings (2012) Korpus finden sich 49 Belege (41 zusammen geschrieben, 8 mit Bindestrich). Pavlov (1983: 111) findet entsprechende Fälle „ziemlich oft“, Reagan (1981: 90) bezeichnet sie dagegen für die Lutherbibel als „relatively uncommon“. Texte mit einer derartigen Schreibpraxis liegen aber, wie die geringe Belegzahl in (70) zeigt, im Mainzer Korpus nicht vor.

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(71) a. in der Ruckkehr nach Hauß von der Hand=GOttes berührt worden (65; 1680) b. gehe zur heissen Sommers=Zeit/ da die Landstrassen aller Safftloß mit Staub gantz verhült/ vnd folge einer Herd=Ochsen nach/ die man etwan in der Menge auß Ungarn treibt/ (65; 1680) Betrachtet man die Fälle in (70) und (71) eingehender, so zeigt sich, dass die meisten dieser zusammengeschriebenen Syntagmen auch konzeptuelle Einheiten darstellen, d.h. mit Reagans (1981) Hohepriester vergleichbar sind – es ist kein Zufall, dass ausgerechnet sie zusammengeschrieben werden. Hier fügt sich auch würcklicher Geheimder= und Appellation-Rath (73; 1709) ein: Die enge konzeptuelle Verbindung des Adjektivs mit Rath wird durch seine Koordination mit dem Erstglied eines NN-Kompositums gestärkt, was so weit geht, dass ein Bindestrich gesetzt wird. Die Fälle in (72) unterscheiden sich aufgrund der Großschreibung des zweiten substantivischen Elements von der obigen Gruppe und sie sind durch Possessiva und Demonstrativa meist nicht als Nennsyntagmen auffassbar, es besteht keine begriffliche Einheit. Hier ist sehr wahrscheinlich, dass die Wörter lediglich aus Platzgründen eng aneinandergerückt wurden. (72) a. Jtzo hat Jesus Christus ihre und ihres SöhnleinsSeele in seiner Hand in jenem ewigen Leben. (53; 1651) b. den nicht die Noth/ sein Beruff/ seiner EltternWill/ Ehr vnd Redligkeit fort treibt (41; 1617) c. Christo/ als eines ZimmermansSohn (43; 1621) d. daß du nichts mehr wünschest und sehnest/ als deines frommen VatersTodt? (63; 1685) e. daß ihre gantze Lebens=Zeit sich nichts erignen[sic!] möge/ dadurch dieses EhebandesNatur verletzet/ und also zu einiger Tren̅ ung Ursach gegeben werden könte. (68; 1683) f. des H. Röm. ReichsStadt= und Bann Richters (61; 1684) g. Das ist nun nicht ein schlechtes Menschenblut/ sondern deß ewigen vnd allerheyligsten SohnsGOttesblut (45; 1623) Da Zusammenschreibung von Genitivattribut und Bezugsnomen nur sehr selten und nur in bestimmten Konstellationen auftritt, kann sie als seltene Ausnahme aufgefasst werden. Was zusammengeschrieben wird, kann damit, sofern grammatische Bezüge nicht dagegen sprechen, als Kompositum aufgefasst werden.

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Kompositionsstatus bei Getrenntschreibung ist überall dort direkt erkennbar, wo unparadigmisch verfugt wird (Appellations sachen, Nitta 1987: 406) oder das erste Substantiv seinem Stamm entspricht, obwohl es overte Genitiv- oder Pluralmarker im Flexionsparadigma aufweist – seine Endungslosigkeit zeigt, dass es hier nicht im Genitiv stehen kann (vgl. auch Nitta 1987: 406). Eine Konstruktion wie spricht demnach für das getrennt geschriebene Kompositum Hemdkragen, da im Falle einer Genitivkonstruktion zu erwarten stünde. Eine Entscheidung darüber, ob eine getrennt geschriebene Konstruktion Genitivphrase oder Kompositum ist, ist allerdings nicht immer möglich: Eine Konstruktion wie lässt keine Zuordnung zu, da Mutter auch im Genitiv endungslos ist,144 ebenso verhält es sich bei , da Gott auch das Genitivflexiv -es nutzt, beide verhalten sich also paradigmisch: Hemd-s|-en

an hemd-∅ kragen

Appellation-∅|-en

in Appellation-s sachen

N1 ≠ Genitiv → Kompositum

Mutter-∅|"

in muter-∅ leib

Gott-es|-"er

in got-es haus

N1 = Genitiv → ??

Abb. 27: Eindeutige und uneindeutige Fälle von Komposition bei Getrenntschreibung.

Im Mainzer Korpus finden sich 218 getrennt geschriebene Belege, die als Komposita identifizierbar sind, Getrenntschreibung ist also bei Komposita generell möglich. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass auch die Gruppe, bei der keine Abweichung zwischen Flexionsparadigma und Erstgliedform besteht, Komposita beinhaltet, sie lassen sich nur nicht als solche identifizieren. Entsprechend soll bei der Klassifizierung der Mainzer Daten Zusammenschreibung als Evidenz für Kompositumsstatus herangezogen werden, bei Getrenntschreibung kann jedoch ohne weitere Indikatoren keine sichere Aussage getroffen werden.

|| 144 Die possessive s-Markierung in pränominaler Position bildet sich wohl erst spät heraus: In GerManC findet Scott (2014: 236–241) 3 (1650–1700), 9 (1701–1750) und 19 Belege (1751–1800), darunter nur ein einziger Fall mit einem Femininum (Frau Christinen Nunckes todt, 1662). Auch Brandstetter (1904: 35) unparadigmisch erscheinende s-Belege in Partitivkonstruktionen wie etwz bütts ‚etwas Beute (F.SG)‘ (um 1600) und öppis wahres ‚etwas von den Waren (F.PL)‘ (1771) fallen in diese Zeit.

156 | Was ist ein Kompositum?

7.2.5 Weitere Faktoren 7.2.5.1 Etymologie Das Heranziehen ahd. und mhd. Belege erscheint zunächst reizvoll, um getrennt geschriebene Konstruktionen eindeutig als Kompositum zu identifizieren: Wenn ein älteres belegt ist, so handelt es sich bei fnhd. wahrscheinlich um genau dieses Kompositum, obwohl es getrennt geschrieben ist und -es sowohl Genitivflexiv als auch Fugenelement sein könnte. Eine solche Annahme bringt allerdings zwei Probleme mit sich: Zum einen können zwei miteinander auftretende Substantive, die in früheren Sprachstufen als Kompositum belegt sind, natürlich weiterhin auch in einem Genitivverhältnis zueinander stehen. Ein mhd. gotzhus macht ein (unseres) Gottes Haus im Fnhd. nicht unmöglich. Alle getrennt geschriebenen Vorkommen von direkt den Komposita zuzuschlagen, erscheint entsprechend nicht zielführend. Mhd. Zusammenschreibungen sind höchstens in den eben erwähnten (wenigen) Fällen ernstzunehmen, in denen ein erwartbares overtes Genitivoder Pluralflexiv nicht auftritt: Hier zeigt bereits die Tatsache, dass das erste Element ein bloßer Stamm ist, den Kompositionsstatus an. Die mhd. Zusammenschreibung verweist dann auf das Alter des Kompositums. In (73) bis (75) wird jeweils exemplarisch ein getrennt geschriebener Beleg aus dem Mainzer Korpus und ein zusammengeschriebener Beleg des gleichen Kompositums aus mhd. Zeit (oder kurz später) gegenübergestellt, Ausschnitte aus den Handschriften folgen danach: (73) a. Fnhd., Mainzer Korpus: vnd das hertz jmer am himel reich behallte (13; 1532) b. Mhd., Würzburg 1333 (Cod. Pal. germ. 368, 83r): Got vo̅ himelriche | d̕ da geschuf dee sunne̅ (74) a. Fnhd., Mainzer Korpus: Nym die blawen korn bluͦ men die noch nit gar vffgangen sein (18; 1532) b. Frühes Fnhd., 1407 (Hs. 180, 175r): NIgella haiset roteu cho- | renplüm vnd ist […] (75) a. Fnhd., Mainzer Korpus: wie sich der weyn stein ynwendigk in die weyn vesser pflegt zu lege̅ (14; 1530) b. Mhd., 1. Viertel 14. Jh. (Cod. R 291, 74v): Winstein | ist herr vn̅ trucke̅. der | uon dem wizen wine wirt | d̕ ist der beste. […]

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(73) b.'

(74) b.'

(75) b.'

Abb. 28: Zusammenschreibungen aus den Beispielen (73b)–(75b).

Die Komposita wurden hier absichtlich so gewählt, dass (aufgrund der NichtVerfugung) auch an ihrem fnhd. Kompositumsstatus kein Zweifel bestehen kann. Es ist damit zu rechnen, dass ähnliche Belege für mhd. verfugte Komposita vorhanden sind, aus diesen lässt sich aber eben nicht ableiten, dass es sich auch bei den fnhd. Konstruktionen um Komposita handelt. Hinzu kommt, dass die Quellenlage für das Ahd. und Mhd. denkbar schlecht ist. Zwar existieren zahlreiche mhd. Wörterbücher, deren Lemmata speisen sich aber häufig aus Texten, die erst in fnhd. Zeit geschrieben wurden und Quellengrundlage sind in vielen Fällen unzuverlässige (da z.B. normalisierte) Editionen. Wird eine Form im Wörterbuch als Kompositum ausgewiesen, so kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie tatsächlich so und tatsächlich vor 1350 vorkam. Im Gegenteil entstand bei der stichprobenartigen Überprüfung von Zusammenschreibungen des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs (Gärtner et al. 2006–heute) der Eindruck, dass in den zugrunde liegenden Handschriften in den seltensten Fällen tatsächlich Zusammenschreibung vorliegt. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass mhd. (oder ältere) Schreibungen oder Wörterbucheinträge für den fnhd. Kompositumsstatus nicht aufschlussreich sind, sodass sie im Folgenden nicht als Kriterium für Kompositumsstatus herangezogen werden. 7.2.5.2 Synchrone Variation Nitta (1987) argumentiert oft aus dem grammatischen System des Einzeltexts heraus: Ist der Status von plutes tropfen für sich genommen zwar unklar, so

158 | Was ist ein Kompositum?

könnte es doch als Kompositum eingeordnet werden, wenn im gleichen Text auch plucztropffen zu finden ist. Er ist sich der damit einhergehenden Probleme allerdings bewusst: Es ist aber auch möglich, anzunehmen, daß eine zunächst in zwei Teilen aufgefaßte Vorstellung, die man in Form einer Wortgruppe wiedergab, später noch einmal als eine bekannte ganze Vorstellung angesehen hat und in Form von einer Zusammensetzung wiedergibt. (Nitta 1987: 411)

Das Problem ähnelt also dem etymologischen: Ist ein Kompositum belegt, heißt das nicht, dass die beiden Substantive nur als Kompositum miteinander auftreten können. Hinzu kommt, dass die Textausschnitte im Mainzer Korpus so kurz sind, dass sich Variation innerhalb eines Einzeltexts höchstens zufällig oder bei hochfrequenten Konstruktionen beobachten lässt. Auf eine systematische Analyse auf Einzeltextebene wird daher verzichtet, die Perspektive soll nur in ausgewählten Einzelfällen eingenommen werden.

7.2.6 Abgrenzung von anderen Wortarten „[D]as sprachliche Massiv der reinen substantivischen Komposita [ist] von einer Übergangszone grammatischer Gebilde nicht eindeutiger Natur umgeben.“ (Pavlov 1983: 26)

Nicht nur die Abgrenzung der Komposita gegenüber syntaktischen Konstruktionen ist im Fnhd. eine Herausforderung: In einzelnen Fällen besteht Unklarheit darüber, ob es sich bei einem Erstglied statt eines Substantivs um ein Adjektiv (Christenvolk) oder einen Verbalstamm handelt (Kaufleute), außerdem gilt es den Umgang mit Affixoiden zu klären (Hauptstadt, Militärwesen). 7.2.6.1 Adjektive Einige unflektierte Adjektive können zu fnhd. Zeit isoliert, gelegentlich aber auch im Kontext nicht von Substantiven unterschieden werden, z.B. kain cristen mensch (Nitta 1987: 411, 405-406). Die größte Gruppe unklarer Konstruktionen machen Stoff- und Materialbezeichnungen aus (leinen ‚leinern, Leinen‘, eisen ‚eisern, Eisen‘),145 die wegen Haplologievermeidung besonders häufig unflek-

|| 145 Das Suffix -rn (eisern), in Analogie zu r-haltigen Basen entstanden (silbern), bildet sich erst im Verlauf des Fnhd. als eindeutig derivationsmorphologisches Suffix heraus, die älteren Formen auf -en/-in bleiben jedoch während der ganzen fnhd. Zeit daneben bestehen (Wegera & Prell 2000: 1598, Moser 1909: 218). Während nhd. SprecherInnen in Komposita wie Eisenstab

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tiert auftreten (vgl. Sattler 1992: 234, Reichmann & Wegera 1993: 191).146 Eine lautliche Abgrenzung der beiden Wortarten, z.B. über den Umlaut bei Adjektiven (Dornen/dörnen), ist aufgrund der hohen Variation, der teilweise erst späten Verschriftung und parallelen Entwicklungen in vielen Substantivparadigmen kaum möglich (Pavlov 1983: 68–69). Fälle wie (76), bei denen die Endung die Form -in hat, können aufgrund der graphischen Variation im Fnhd. zwar nicht zweifelsfrei den Adjektiven zugeordnet werden, es ist jedoch wahrscheinlicher, dass es sich bei vollvokalischer Nebensilbe um ein adjektivisches Derivationssuffix als um ein substantivisches Pluralflexiv handelt (Reichmann & Wegera 1993: 78). Sie wurden in der vorliegenden Untersuchung den Adjektiven zugerechnet. (76) seyg es durch ein leinin důch in eyn sauber gefeß ‚seihe es durch ein leinernes Tuch in ein sauberes Gefäß‘ (18; 1532) Zweifelsfälle mit Stoffbezeichnungen finden sich insgesamt nur selten – bei Sattler (1992) machen sie Anfang des 16. Jh. 9,7%, Anfang des 17. Jh. 7% aus, in allen übrigen Konstruktionen lassen sich eindeutig Adjektive bzw. Substantive erkennen. Neben den Stoffbezeichnungen erscheinen auch ambige Personenbezeichnungen, z.B. christen ‚christlich, Christen‘, heiden ‚heidnisch, Heiden‘, menschen ‚menschlich, Menschen‘. Pavlov (1983: 62–68) widmet sich diesen Fällen sehr ausführlich: In seinem Material werden um 1500 ambige Konstruktionen mit christen und menschen (den christen haubtmann) durchgehend getrennt geschrieben. Er argumentiert, dass sich daran die für die Schreiberinnen und Schreiber unklare Wortartenzugehörigkeit zeigt. Selbst für Konstruktionen mit menschen, das in seinem Korpus nie als eindeutiges Adjektiv auftritt, nimmt er an, es spiegle darin ein älterer, mhd. Zustand wider. Warum die Getrenntschreibung für die Wortartbestimmung relevant sein soll, bleibt hier allerdings unklar – auch bei Zusammenschreibung kann ein Erstglied ja als adjektivisch aufgefasst werden (Grünspan, Rotstift), AN-Komposita sind schon seit dem Ahd. belegt (vgl. z.B. Paul 1920b: 233).

|| substantivische Erstglieder ausmachen, da das Adjektiv in dieser Form nicht mehr existiert, ist der Status im Fnhd. häufig unklar. 146 Die flektierten Formen setzen sich im 16./17. Jh. gegenüber der unflektierten durch. Bei Sattler (1992) steigt ihr Anteil von 59,9% (1570–1630) auf 86,3% (1670–1730), was eine klarere Wortartendifferenzierung zur Folge hat. Es zeigen sich darüber dialektale und textsortenbedingte Unterschiede (Sattler 1992: 267–268).

160 | Was ist ein Kompositum?

Über die Brückenfälle mit christen, menschen, die er als „halbadjektivisch“ bezeichnet, spricht Pavlov (1983: 67) dann auch weiteren, generisch verwendeten Elementen eine adjektivische Lesart zu, die formal keine Adjektive sein können (frauen, propheten). Letztlich bleibt unklar, welchen Gewinn eine solche Analyse bringt: Ein Nachweis dafür lässt sich nicht führen und die genannten Beispiele können semantisch problemlos als die Substantive aufgefasst werden, die sie auch formal sind. Entsprechend werden im Folgenden nur Personenbezeichnungen als ambig gehandelt, die ein entsprechendes Adjektiv tatsächlich aufweisen. Für die Entscheidung darüber wurden Lexer (1872–1878) und Grimm & Grimm (1854–1961) herangezogen. Pavlov (1983: 70) weist auch darauf hin, dass das adjektivische Muster auf Basis zahlreicher Tier- und Pflanzenbezeichnungen im Fnhd. wesentlich verbreiteter war als heute (schweinen, gänsen, gersten, linsen) und semantisch weit über die Stoffbezeichnungen hinausreichte (eine gänsene feder ‚Feder einer Gans‘, nicht ‚Feder aus einer Gans‘), während es sich heute auf diese konzentriert und andere Beziehungen in Komposita ausgedrückt werden (Gänsefeder). Im Mainzer Korpus finden sich insgesamt 85 Konstruktionen mit 25 prinzipiell ambigen Elementen, die Komposita sein könnten oder sind:147 (77) Birken (1), Buchen (1), Christen (14), doernē (1), Eichen (4), Erden (3), erlen (1), eschen (1), gersten (14), heiden (1), Heimbuchen (1), Corallen (2), Christallen (1), Leinen (1),148 Linden (1), Perlen (2), rosen (14), schelmen (2), Schweinen (1), seyden (13), Dännen ‚Tannen‘ (1), Weyden (2), wüllen ‚wollen‘ (2), zinnen (1), cipressen (1) Die meisten Belege entfallen auf 1500 (30) und 1530 (30), die verbleibenden 25 verteilen sich auf die übrigen Zeiträume. Es steht allerdings zu befürchten, dass in (77) nicht die ganze Breite potenziell ambiger Fälle erfasst wird: Das Mainzer Korpus weist 85 weitere Konstruktionen mit (e)n-Flexiv/Fuge auf, die Tier-, Pflanzen oder Stoffbezeichnungen beinhalten, welche nicht in einem Wörterbuch als Adjektiv verzeichnet sind (z.B. dinten, oliven, schlangen, schwanen). Gerade wenn das Muster aber so verbreitet war, wie Pavlov (1983: 70) annimmt,

|| 147 Eindeutig adjektivische Konstruktionen wurden nicht erfasst (z.B. das leinene Tuch). 148 Hier überschneiden sich das Adjektiv leinen (< (der) lein) und das Substantiv (das) Leinen. Im Gegensatz zu den übrigen Fällen wird hier also für das NN-Kompositum eine Nullfuge angenommen. Tatsächlich tritt der Fall im Korpus nur einmal auf, die übrigen Belege sind eindeutige Komposita (Lein-∅-tuch).

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 161

ist die Wahrscheinlichkeit, dass die entsprechenden Adjektive vollständig lexikographisch erfasst wurden, gering. Die Größenordnung des Phänomens lässt sich grob abschätzen, wenn man die substantivischen Flexionsklassen heranzieht: Treten Mitglieder dieser semantischen Klassen tatsächlich häufig als Adjektive auf, so müssten sich auch dort (e)n-verfugende Belege finden, wo das Substantiv eigentlich stark flektiert, d.h. schafen wolle statt schaf(s) wolle. Im Mainzer Korpus ist das aber bei 373 Konstruktionen mit stark flektierender Tier-, Pflanzen- oder Stoffbezeichnung nur siebenmal der Fall: (78) a. Bierbeumen wurtzelen/ bletter vnd frücht; Gesotten Bierbaumen bletter (28; 1566) b. Eichen/ Birn=und Nußbäumenholtz (62; 1678) c. in warmen hünner gensen ader enthē veth getunckt (14; 1530) d. Schweinenschmeer (34; 1592) e. thus dā in ein zinnen hörnlin (18; 1532) f. von Dauch=Tufft=Schwamm=Pimbsenstein und andern groben rauhen Steinen (62; 1678) Die Dunkelziffer nicht erfasster Adjektive unter Konstruktionen, in denen das entsprechende Substantiv gemischt und schwach flektiert, d.h. auf jeden Fall auf -(e)n endet, dürfte somit überschaubar sein. Somit kann eine differenzierte Entscheidung für den Umgang mit den Korpusbelegen getroffen werden: Die eindeutig adjektivischen Konstruktionen aus (78) bleiben bei der Analyse der NN-Komposita unberücksichtigt. Die als ambig erkannten Fälle aus (77) werden dagegen unterschiedslos mitanalysiert. Dies scheint insbesondere dadurch gerechtfertigt, dass die Wortartenunterscheidung in pränominaler Position für Sprecherinnen und Sprecher des Fnhd. nicht stark ausgeprägt gewesen sein dürfte. 7.2.6.2 Affixe und Affixoide Komplexe Wörter mit Affixoiden bilden einen Sonderfall, für den es jeweils abzuschätzen gilt, in welchem Stadium sich das Affixoid gerade befindet. Bereits klar vom Affixoid- zum Affixstatus übergegangen sind im Untersuchungszeitraum -heit, -schaft und -tum (Wegera & Prell 2000: 1596). Ihre Wortbildungsprodukte werden daher im Mainzer Korpus nicht als NN-Komposita erfasst (genauso Reagan 1981: 75, Solling 2012: 45).

162 | Was ist ein Kompositum?

Im 16. Jh. bildet -werk Affixoidstatus aus. Erst im 17. Jh. (Erben 1959: 227), bildet sich -wesen heraus.149 Die entsprechenden Bildungen unterscheiden sich im Verfugungsverhalten nicht von den NN-Komposita und wurden im Mainzer Korpus als Substantive analysiert (Mauerwerk, Orgelwerk; Kriegswesen, Religionswesen, Schulwesen). Anders verhält es sich mit dem Präfixoid Haupt-: Hier geht mit dem bereits früh erfolgten Übergang zum Affixoid (z.B. Müller 1993: 122–123) auch eine Festlegung auf die Nullfuge einher, die das Gesamtbild für die Tokens verzerrt, weshalb die entsprechenden Fälle nicht berücksichtigt wurden (Hauptmann, Hauptstadt) (anders dagegen Solling 2012: 46–47). 7.2.6.3 Verben Bei zahlreichen Erstgliedern ist die Entscheidung zwischen Verb und Substantiv schwierig bis unmöglich. Im Mainzer Korpus finden sich z.B. Danklied, Erntezeit, Jammertal, Klagspruch, Strafgedicht, Hagelgeschütz.150 Kienpointner (1985: 3–4) arbeitet für solche Fälle drei semantische Unterscheidungskriterien heraus: Ist das Kompositum mit Substantiv und Verb sinnvoll paraphrasierbar, so liegen sogenannte „Doppelmotivationen“ vor, die sie in ihrer Untersuchung gesondert ausweist (Abreisetag ‚Tag, an dem x abreist/an dem die Abreise erfolgt‘). Eine Zuordnung zu den Verben kann dadurch eindeutig erfolgen, dass kein semantischer Bezug auf das Substantiv möglich ist (Schlachtmesser kann nicht auf Schlacht basieren). Hier sind zusätzlich Fälle zu ergänzen, bei denen die verbale Semantik zwar nicht allein möglich, aber doch wesentlich sinnvoller ist als die substantivische. So dürfte Ruhebett zu ruhen, nicht zu Ruhe gehören, bei Weihwasser liegt ‚geweihtes Wasser‘ näher als ‚Wasser, das eine Weihe erfahren hat‘ und bei Raubvogel ist ‚Vogel, der raubt‘ plausibler als ‚Vogel, der Raub begeht/von Raub lebt‘ – die substantivische Paraphrase ist bei näherer Betrachtung lediglich ein Funktionsverbgefüge.151 Hinzu kommen Belege, bei denen gar kein entsprechendes Substantiv existierte (Back|| 149 Das gilt ebenso für -gut und -zeug, für die im Mainzer Korpus aber keine entsprechenden Abstrakta (Typ Ideengut) bzw. Kollektiva (Typ Sattelzeug) vorkommen. 150 Solche Unsicherheiten können auch in mehrsilbigen Komposita entstehen, die wegen der vermeintlich größeren formalen Nähe häufig eher als Substantiv wahrgenommen werden: Bei Fällen wie Regenwetter ist ein Bezug auf Regen ebenso wie auf regn- denkbar (Fleischer & Barz 2012: cxci), als Verb würde es dem Muster von Rechenschieber, Trockenluft, Zeichenkurs folgen. Bei ihnen ist der Verbstatus durch Abwesenheit eines substantivischen Pendants unstrittig. Im Mainzer Korpus tritt eine derartige Unsicherheit tatsächlich nur bei Regen-Komposita auf (6x Regenwasser, 3x Regenwetter, 1x Regenbogen, bei Regenwurm ist ein Bezug auf das Verb semantisch nicht sinnvoll). 151 Anders Kienpointner (1985), die auch solche Fälle als Doppelmotivationen wertet.

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 163

∅-ofen, *Back). Kienpointner (1985) geht auf diese nicht ein, wohl weil die Verbalität hier selbstverständlich ist. In einer diachronen Studie ist es jedoch wichtig, sicherzustellen, dass es sich nicht auch um einen möglicherweise ausgestorbenen substantivischen Stamm handeln kann. Hierzu wurden für das Mainzer Korpus entsprechende Wörterbücher herangezogen. Auch ein formaler Aspekt kann zur Einordnung beitragen: Die verbale Schwa-Fuge (s. Kap. 4.10) kann, wenn auch nur sehr eingeschränkt, als Indikator für Verbstatus dienen, z.B. bei Bade-, das substantivisch die Kompositionsstammformen Bäder- oder Bad- nutzen würde.152 Meist ist sie jedoch nicht sicher vom substantivischen Schwa-Auslaut (Klag-e-lied oder Klage-∅-lied) oder, in einzelnen Fällen, von der substantivischen Fuge zu unterscheiden (Spiel-eabend). Für die Zuordnung zu den Substantiven überprüft Kienpointner (1985: 4) die Kompositumssemantik daraufhin, ob sie eine verbale Lesart verbietet, so z.B. bei Lehrmädchen ‚Mädchen, das sich in der Lehre befindet‘. Das ist nur dann möglich, wenn die Nominalisierung, wie hier, eine semantische Verschiebung oder Einengung gegenüber dem Verb erfahren hat. Als Substantive qualifizieren sich Erstglieder jedoch auch, wenn sie Teil eines Rektionskompositums sind, dessen Zweitglied ein Objekt fordert (Rat-∅-geberin, Besitz-∅-nehmung). Liegt eine substantivische Fuge vor (Anfang-s-wort, Lüge-n-schrift) oder ist das Erstglied ein nominalisierter Infinitiv (Reden-∅-art), werden die Belege ungeachtet ihrer Semantik als NN-Komposita eingeordnet.153 Für dieses Vorgehen erweisen sich Komposita wie Schnittlauch, Sprüchwörter, Fuhrwerk, Brantwein, Schubkarren (alle im Mainzer Korpus belegt) als problematisch: Sie weichen formal vom Verbstamm ab und haben eine substantivische Entsprechung (Schnitt, Spruch, Fuhre, Brand, Schub), weshalb eine Zuord-

|| 152 Hier besteht Zirkularitätsgefahr, wenn man einfach alle schwa-verfugenden Erstglieder als verbal definiert – das Kriterium ist jedoch insofern sinnvoll, als zunächst einmal die eindeutig verbalen und die eindeutig substantivischen Fälle identifiziert und auf ihr Verfugungsverhalten hin untersucht werden. Zeigt sich hier bei den Substantiven keine Schwa-Fuge, bei den Verben hingegen schon, so scheint es gerechtfertigt, auch die uneindeutigen Fälle mit Schwa-Fuge den Verben zuzuweisen. 153 Dabei stellt sich die Frage, inwiefern späteres Verfugungsverhalten die Einordnung früherer Belege beeinflussen sollte. So sind im Mainzer Korpus alle Komposita mit Kauf- unverfugt, es finden sich jedoch spätere Belege mit s-Fuge (Kauf-s-mann, DTA, 1717), die darauf hindeuten, dass die Wortart für die Sprecherinnen und Sprecher nicht so eindeutig ist oder aber dass die s-Fuge auch auf Verben übergreift – vgl. hierzu auch Kap. 11.2.1.2. Da sich im Mainzer Korpus jedoch noch keine Hinweise hierauf finden, wurden die Stämme bei Kaufleute (9x), Kaufmann (2x) als verbal eingeordnet.

164 | Was ist ein Kompositum?

nung zu den NN-Komposita erfolgen müsste – semantisch erscheint es aber aus heutiger Perspektive wesentlich plausibler, einen direkten Bezug zum Verb herzustellen. In einigen Fällen kann eine verbale Herkunft auch durch Belege gestützt werden, so bei Brantwein, der auch als brannten wein und brantewein belegt ist (Grimm & Grimm 1854–1961: Lemma „Brantwein“), hier handelt es sich also um Univerbierung mit einem präfixlosen Partizip. In den übrigen Fällen wird davon ausgegangen, dass ein Substantiv vorliegt, dessen Semantik zur Bildungszeit noch verbaler war. Im Mainzer Korpus sind 159 Typen zu finden, deren Erstglied formal Verb und Substantiv sein könnte. In 81 Fällen lässt sich eine recht wahrscheinliche Zuordnung auf Basis der Semantik treffen (13 Substantive mit 11 verschiedenen Erstgliedern, 68 Verben mit 29 verschiedenen Erstgliedern), die übrigen 78 Typen (mit 39 verschiedenen Erstgliedern) bleiben weiterhin unklar. Ihre Tokens verteilen sich über alle Zeiträume, wobei sie in den ersten vier Zeitschnitten wesentlich seltener sind als in den letzten vier (34 vs. 97). Es ist davon auszugehen, dass bei den meisten unklaren Fällen auch die Sprecherinnen und Sprecher des Untersuchungszeitraums keine klare Intuition hatten, d.h. die Komposita potenziell sowohl für Analogie zu verbalen als auch zu substantivisches Verfugungsmustern zur Verfügung standen. Insgesamt machen diese unklaren Fälle jedoch nur ca. 3% aller Komposita im Korpus aus. Da entsprechend bei Fehlkategorisierung – d.h. eine Einordnung als unklar, wo für die Sprecherinnen und Sprecher Eindeutigkeit bestand – keine große Verzerrungsgefahr besteht, erscheint es unproblematisch, sie den Substantiven zuzuordnen (was auch Pavlov 1983: 26 „ohne weiteres“ tut). 7.2.6.4 Sonstiges Im Untersuchungszeitraum entwickelt sich die komplexe Präposition anstatt aus der Präpositionalphrase an statt + Genitiv. Pfeifer (1993: Lemma „Statt“) datiert sie auf das 15. Jh. und weist für das 16. Jh. schon Konstruktionen nach, die nicht mehr lokal lesbar sind (ziecht frische Hembder an, das ist anstatt viel Badens). Die Weiterentwicklung zur Konjunktion setzt er für das 17. Jh. an. Die Konstruktionen im Mainzer Korpus (79) schwanken zwischen prä- (79a) und postnominal (79b,c, 30 Belege) und sind, mit Ausnahme von (79c), immer getrennt geschrieben. (79) a. vn̅ schickent in an des esels stat (9; 1502) b. Oder an Stat des puluers so Nimb ain quintlen guts Tiriacks (16; 1533) c. Der mag anstat des puluers sich gebrauchn des Edln vnd bewärts Aqua vite (16; 1533)

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 165

Aufgrund des hohen Konventionalisierungsgrads und weil kein stellungsbedingter Funktionsunterschied feststellbar war, wurden sämtliche Belege, auch die pränominalen, ausgeschlossen.

7.2.7 Ermittlung der Konstruktionstypen und Stadien der Unklarheit Die Klassifikation der vorliegenden Daten erfolgt also anhand der Stellung (prävs. postnominal und Adjazenz), der Modifikation oder Determination des ersten Elements sowie seiner semantischen und formalen Übereinstimmung mit einer Genitivform und der Schreibung. Die zu berücksichtigenden Faktoren werden hier noch einmal dargestellt. Für die Konstruktionen mit unklarem Status, d.h. Typen I, II und III aus der Einteilung nach Pavlov (1983) in Kap. 7.2.1, erscheint zudem eine genauere Gewichtung angebracht. Zwar wurde gezeigt, dass Konstruktionen des Typs ein des Königs Schloss auftreten können, was es unmöglich macht, ein Königs Schloss eindeutig zu klassifizieren. Allerdings treten die eindeutig syntaktischen Konstruktionen nur sehr selten auf, während rahmende Komposita des Typs ein Königreich sehr häufig sind, also ebenfalls Einfluss ausüben (Abb. 29). Ich gehe daher im Folgenden davon aus, dass Konstruktionen mit semantischem und grammatischem Zweitgliedbezug den Komposita näherstehen als Konstruktionen mit ambigem oder gar keinem Bezug (Königs Schloss, eines Königs Schloss).

externer Einfluss

interner Einfluss

Kasusflexiv

paradigmische Fuge unparadigmische Fuge

ein Schloss des Königs des Königs ein Schloss

ein des Königs Schloss

ein Königs Schloss

ein Königreich

Königs Schloss eines Königs Schloss eines Königs Schlosses

ein(es) Königsschloss(es)

Abb. 29: Einflüsse aus Syntax und Wortbildung auf fnhd. Brückenkonstruktionen.

166 | Was ist ein Kompositum?

N1 = pränominal?

nein

Genitiv zeichen der gnaden

ja

Adjazent? (Ausnahme: Koordina-

der gnaden sichres zeichen nein

tionsellipse)

ja

N1 alleine

der mütterlichen gnaden zeichen

modifiziert/

ja

determiniert?

ja

nein

Status unklar mit gnaden zeichen

Flexiv/Fuge formal Zusammengeschrieben?

nein

und semantisch paradigmisch? (vgl. Abb. 23)

ja

nein mit gnadenzeichen

Kompositum

mit religions puncten

Abb. 30: Klassifikation von Konstruktionen mit zwei Substantiven.

Komposita im Frühneuhochdeutschen | 167

7.2.8 Korpusuntersuchung: Verteilung der Konstruktionstypen Das bis hierher erarbeitete Instrumentarium wurde an den 9.500 Datensätzen des Mainzer Korpus erprobt. Sie setzen sich aus prä- und postnominalen Genitivkonstruktionen, Komposita und unklaren Fällen zwischen Phrase und Kompositum zusammen. Die Kombination der in Abb. 30 dargestellten Kriterien ermöglicht eine eindeutige Zuordnung von 90,8% der Daten. Sie werden in Abb. 31 nach Jahren aufgeschlüsselt. Dass zu Beginn des Untersuchungszeitraums anteilsmäßig mehr Konstruktionen mit unklarem Status vorliegen, ist auf die zunehmende Zusammenschreibung zurückzuführen (vgl. Kap. 13). Sie steht in den ersten Zeitschnitten noch in wesentlich geringerem Umfang als Unterscheidungsmerkmal zur Verfügung. Konstruktionen von unklarem Status werden hier auch als „Brückenkonstruktionen“ bezeichnet, Pavlov (1983: 47) nennt sie „Halbkomposita“ und spricht von „zusammensetzungsähnlichen Gebilden“ (Pavlov 1983: 28). Der Anteil der Komposita steigt im Untersuchungszeitraum von 22,8% auf 44,4% an, mit einem deutlichen Sprung 1590. 100% 80% 60% 40% 20% 0%

1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

Genitiv - post

569

467

477

484

551

401

643

618

Genitiv - prä

131

59

103

115

101

70

95

58

unklar

155

213

89

135

106

94

67

28

Kompositum

254

299

291

550

564

428

696

558

Abb. 31: Verteilung der Konstruktionstypen im Mainzer Korpus nach den Kriterien aus Abb. 30 (n=9.500).

Unter den pränominalen Konstruktionen (Genitiv – prä, Brücke, Kompositum, Abb. 32) macht das Kompositum 1500 fast die Hälfte aus (46,6%) aus, 1710 ist es der dominante Typ geworden (87,0%). Der Anteil der Brückenkonstruktionen ist

168 | Was ist ein Kompositum?

die ganze Zeit verhältnismäßig gering und geht auch weiter zurück (für absolute Zahlen und eine Einteilung in die drei Typen s. Abb. 25, Kap. 7.2.3.1).

100% 80% 60% 40% Genitiv - prä Brücke Kompositum

20% 0% 1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

Abb. 32: Nur die pränominalen Konstruktionen aus Abb. 31.

Die relativen Daten werden an dieser Stelle nur genutzt, um zu zeigen, in welchem Umfang das Instrumentarium verschiedene Konstruktionstypen voneinander abzugrenzen vermag. Die absoluten Daten zeigen außerdem eine deutliche Zunahme von eindeutigen Komposita gegen Ende des 16. Jh. Interpretationen zum Verhältnis der einzelnen Gruppen sind hier noch nicht angebracht. Hierzu muss erst geklärt werden, welche Konstruktionstypen als funktional verwandt oder gar äquivalent betrachtet werden können, was in Kap. 8.5 geschieht.

7.3 Exkurs: Komposita im Alt- und Mittelhochdeutschen Alle hier angeführten Zweifelsfälle bei der Abgrenzung von Komposita gegenüber Genitivkonstruktionen bestehen so auch für das Ahd. und Mhd. – durch die wesentlich geringere Artikelverwendung und den weniger vorangeschrittenen Stellungswandel des Genitivs sogar in weitaus größerem Maße. Das bedeutet auch, dass Untersuchungen zu ahd. und mhd. Komposita skeptisch betrachtet werden müssen: Erfolgt die Einteilung ohne größere Reflexion, wie z.B. bei Weidman (1941a, 1941b), so werden Konstruktionen zu den Komposita gezählt, die strukturell nicht von Genitivkonstruktionen unterscheidbar waren (diese Gefahr besteht ebenso bei Wörterbüchern, vgl. auch Kap. 7.2.5). So bucht Weidman (1941a: 350–352) die Rahmenkonstruktionen in (80) zweifelsfrei als Komposita und leitet daraus weiter ab, dass auch Konstruktionen ohne Rahmen, wie in (81), als Komposita zu betrachten seien, da hier kein Unterschied „in the fun-

Exkurs: Komposita im Alt- und Mittelhochdeutschen | 169

damental notion expressed“ bestehe. Grundvoraussetzung ist, dass keine spezifische Referenz des Erstglieds vorliegt.154 (80) a. wir haben in einem iare der lúte vil verlorn, an den man siht den gotes zorn (604, 35) b. von ir mvnde ein minneklicher frundes grvos (783, 35) (81) a. din missetat ist manigvalt; da mit verdienst dv gotes zorn (10, 3) b. sit ir lachen noch ir ǒgen weder offenlich noch tǒgen mir nie gaben frúndes gruos (377, 30) Weidman (1941a) definiert damit als Kompositum, was auch Solling (2012) für das Fnhd. darunter fasst – hat aber durch den geringeren Verbreitungsgrad des Artikels wesentlich mehr Brückenkonstruktionen. Die Dunkelziffer der fälschlicherweise erfassten Genitivkonstruktionen, d.h. der Konstruktionen, die im Fnhd. durch Artikelverwendung disambiguiert werden (vgl. Kap. 8.6.2) ist für das Mhd. viel zu groß um tatsächlich von einer Untersuchung von Komposita sprechen zu können. Umgekehrt fasst Behaghel (1932: 180) ahd. rahmende Belege wie then liohtes kindon ‚den [Lichtes] Kindern‘ (Tatian, 108, 4) als Genitive. Hier wird also klar, dass ein und derselbe Konstruktionstyp in unterschiedlichen Sprachstufen, aber auch bei unterschiedlichen Autorinnen und Autoren völlig gegensätzlich eingeordnet werden kann. Behaghel (1932: 180) ist sich der zweifelhaften Einschätzung prinzipiell auch bewusst, er bemerkt dazu: Bei einzelnen dieser Beispiele kann man zweifelhaft sein, ob vielleicht bereits Komposition des Genitivs mit dem regierenden Substantiv vorliegt […]

Von einer systematischen Klassifizierung ahd. und mhd. Belege ist das aber noch immer sehr weit entfernt, und auch in den seither vergangenen Jahrzehnten gab es für die früheren Sprachstufen keine Ansätze in diese Richtung. Die fnhd. Verhältnisse lassen sich nicht einfach auf das Ahd. und Mhd. übertragen, aber die vorherigen Sprachstufen gänzlich anders zu behandeln, indem man von Unmengen an Komposita (Weidman 1941a) oder Genitivkonstruktionen (Behaghel 1932) ausgeht, führt zu einem rein methodisch bedingten Bruch, der eine graduelle Entwicklung wie eine abrupte Veränderung aussehen lässt. Ent|| 154 „[In (80b)] frunt or frundes does not refer to a particular person, but is general, indefinite, and is used in an attributive rather than an anaphorical sense. If this is true of frunt or frundes in [(81b)], and such seems to me to be clearly the case, then [(81b)] must also be a compound“ (Weidman 1941a: 350).

170 | Was ist ein Kompositum?

sprechend sind alle Vergleiche mit älteren Sprachstufen, die hier durchaus erfolgen, mit Vorsicht zu behandeln.

8

Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps

Für den diachronen Übergang von Genitivkonstruktion zu Kompositum müssen die Genitivkonstruktionen, die den Reanalyseinput bilden, eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen. Aufbauend auf der Kategorienbildung des vorherigen Kapitels wird nun herausgearbeitet, wie und mit welchen Konstruktionen der Reanalyseprozess abgelaufen sein muss. Neben den grammatischen Bedingungen, die im vorherigen Kapitel erläutert wurden (s. noch einmal kurz 8.1), gilt es nun auch semantische Bedingungen zu prüfen und auf die Belege des Mainzer Korpus anzuwenden, sodass das Verhältnis zwischen Genitivkonstruktionen und Komposita im Fnhd. sichtbar wird (Kap. 8.2). In einem kurzen Exkurs wird das Problem thematisiert, dass fnhd. Genitivkonstruktionen und Komposita möglicherweise phonologische Unterschiede aufweisen (Kap. 8.3). Schließlich kommen die erarbeiteten Abgrenzungskriterien zur Anwendung, um erstmals den Übergang von Genitivkonstruktionen zu Komposita im Untersuchungszeitraum sichtbar zu machen und zu beschreiben (Kap. 8.4–8.5). Diesem ersten, korpusbasierten Teil folgt ein Kapitel, das drei prominente Erklärungsansätze dazu evaluiert, warum der neue Kompositionstyp überhaupt entsteht und produktiv wird – durch die nun mögliche Rückbindung an Korpusdaten kann dabei vieles plausibel gemacht oder zurückgewiesen werden (Kap. 8.6). Ein Fazit bringt die Ergebnisse dieses und des letzten Kapitels zusammen (Kap. 8.7).

8.1 Grammatische Voraussetzungen Der vorangestellte attributive Genitiv der Gattungsnamen wirkt zusammen mit den im Frühneuhochdeutschen herrschenden Verhältnissen im Bereich der Artikelfunktion als Nährboden für grammatische Ambivalenzen bei der substantivischen Zusammensetzung. (Pavlov 1983: 46)

Für eine Reanalyse kommt eine Konstruktion nur dann infrage, wenn das Genitivattribut pränominal steht und eventuelle Modifikatoren oder Determinierer prinzipiell auch auf das Bezugsnomen bezogen werden können, d.h. wenn es sich um Kategorie 2 bis 7 nach Nitta (1987) bzw. die Typen I bis III nach Pavlov (1983) handelt (vgl. Kap. 7.2.1.1, 7.2.1.2). (82) a. kein Modifikator/Determinierer: in[[mutter] leib] > in [mutter leib]

https://doi.org/10.1515/9783110517682-008

172 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps

b. ambige Bezugnahme: [der mutter] leib > der [mutter leib] wegen [des gottes] sons > wegen des [gottes sons] das [fürsten] haus > das [fürsten haus] Es handelt sich hierbei also um die Konstruktionen, die nach dem Vorgehen aus Kap. 7.2.7 unklaren Status besitzen.

8.2 Semantische Voraussetzungen Nicht jede grammatisch ambige Konstruktion ist schon denkbarer Reanalyseinput, sie muss sich darüber hinaus auch semantisch als Kompositum eignen. Genitivkonstruktionen und Komposita sind im Gegenwartsdt. zwar nicht frei austauschbar, besitzen jedoch einen funktionalen Überschneidungsbereich: (83) a. Die große Bucht, in der der Seefahrer am 1. Januar 1502 ankerte, hielt er für die Mündung eines Flusses.o b. Zwischen dem Lager und dem Rest der Welt liegt eine Flussmündung, die sich nicht anders überwinden lässt.p Die Austauschbarkeit solcher Konstruktionen wird in der Wortbildungsliteratur immer wieder thematisiert (z.B. Motsch 2004: 396–415, Fleischer & Barz 2012, Pavlov 1983: 14–15, vgl. für einen Forschungsüberblick auch Klos 2011: 23–27). Es zeigt sich jedoch schnell, dass sich selbst bei nicht-lexikalisierten Formen weder alle Komposita genitivisch paraphrasieren lassen (Papierkorb – *Korb des Papiers), noch dass alle Genitivkonstruktionen durch Komposita ersetzbar sind (das andere Buch der Autorin ≠ das andere Autorinnenbuch, eine Tüte Mehls ≠ eine Mehltüte).155 Als Grundvoraussetzung für die Austauschbarkeit wird oft gesehen, dass Genitivattribute eine generische (im Folgenden: nicht-spezifische) Semantik haben können. In solchen Verwendungskontexten gleichen sie dem Gros der Kompositionserstglieder, die i.d.R. nicht auf ein spezifisches Objekt referieren (z.B. Ortner & Ortner 1984: 37–38; zu Ausnahmen bei Eigennamen und Unika s. gleich). So ließe sich zwar in (83b) durch Recherche herausfinden, um welchen

|| 155 Lexikalisierte Komposita sind an dieser Stelle insofern uninteressant, als sie bei ihrer Bildung ebenfalls noch transparent waren, es im Folgenden aber darum gehen soll, welche syntaktischen Konstruktionen zur Reanalyse geeignet waren.

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Fluss es sich handelt, das spielt aber im Verwendungskontext keine Rolle. Genauso wird in (83a) kein Bezug auf einen individuellen Fluss genommen, der Kontext zeigt sogar, dass die Existenz eines Flusses irrtümlicherweise angenommen wurde. Denkbar sind in beiden Kontexten damit jeweils beide Varianten.156 Bei das andere Buch der Autorin wird hingegen eine spezifische Lesart nahegelegt, es geht um eine konkrete Autorin – im anderen Autorinnenbuch wäre dies nicht mehr der Fall. Solche Fälle werden im folgenden Teilkapitel behandelt. Eine weitere semantische Voraussetzung zeigt sich bei Papierkorb ‚Korb für Papier‘ und der Tüte Mehls ‚Mehlmenge, die in eine Tüte passt‘: Nicht jede semantische Relation zwischen beiden Bestandteilen lässt sich sowohl in einem Kompositum als auch in einer Genitivkonstruktion ausdrücken. Daher muss bestimmt werden, welche semantischen Grundrelationen wir für die beiden Typen jeweils annehmen können und wie sich dieses Verhältnis historisch gestaltete.

8.2.1 Spezifische und nicht-spezifische Referenz Kompositumerstglieder werden oft als generisch referierend angesehen: Statt auf spezifische Denotate nehmen sie auf typische oder häufige Vertreter Bezug (so Pavlov 1983: 44–45, Kürschner 1974: 97–98). Daraus leitet z.B. Pavlov (1983: 44–45) ab, dass spezifische Referenz des ersten Substantivs zur eindeutigen Einordnung als Genitivkonstruktion führen (Kap. 7.2.1.1). Im Nhd. ist aber, vor allem bei Okkasionalismen, oft eine spezifische Erstgliedlesart denkbar oder sogar angezeigt (Ortner & Ortner 1984: 83, Shaw 1979: 62–63). So setzen Ortner & Ortner (1984: 83) hier nicht die Bedeutung ‚Anklage irgendeiner Illustrierten‘ sondern ‚Anklage dieser speziellen Illustrierten‘ an: „Er gab mir eine Illustrierte, die nicht eigentlich berichtete, immerhin Bilder zeigte, so daß man vermuten mußte: Mißhandlungen in Schlesien, KZ-Zustände. „Fragen Sie überall, ob das stimmt!“ verlangte Brecht und ich konnte mir nicht vorstellen, daß Leute von der Regierung beispielsweise bei einem Bankett sich einlassen auf diese Illustrierten-Anklage“ (Frisch, Tagebuch 37). Generische Referenz ist zwar eine häufige Eigenschaft von Erstgliedern, aber keine notwendige Bedingung für Kompositumsstatus. Nichts spricht dafür, dass sich das im Fnhd. grundsätzlich anders verhält – insbesondere deshalb || 156 Alternative Ausdrucksverfahren wie von-Phrasen bleiben hier unberücksichtigt, da sie für die Herausbildung verfugender Komposita keine Rolle spielen.

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nicht, weil hier auch anaphorische Erstgliedreferenz, Zusammenrückungen und relationale Erstglieder auftreten (Kap. 7.2.3.2). In allen drei Fällen handelt es sich um genauere Spezifikation des ersten Substantivs. Dennoch ist die Referenz des ersten Elements für die vorliegende Untersuchung relevant: Beim Übergang von Genitivkonstruktion zu Kompositum ist davon auszugehen, dass insbesondere Konstruktionen mit nicht-spezifischen Genitivattributen betroffen sind. Sie entsprechen den prototypischen Eigenschaften von Komposita, insbesondere von usualisierten. Es erscheint daher gerechtfertigt, spezifische Erstgliedreferenz dann als Ausschlusskriterium heranzuziehen, wenn Komposita und Genitivkonstruktionen direkt verglichen werden sollen, um Verschiebungen im System der Ausdrucksmittel zu untersuchen. Als nicht-spezifisch werden im Folgenden substantivische Elemente gefasst, die nicht auf individuierte Personen und Objekte und nicht auf eine näher definierte Teilmenge von Personen oder Objekten Bezug nehmen. Miterfasst werden auch Abstrakta, sofern sie nicht näher charakterisiert werden (nichtspezifisch: Liebe vs. spezifisch: elterliche Liebe). Im Rahmen dieser Arbeit betrifft das Genitivattribute und Erstglieder von Komposita gleichermaßen. Steht das nicht-spezifische Genitivattribut im Singular, so bezeichnet es oft einen typischen Vertreter einer Gruppe (vgl. 84a), im Plural ihre Gesamtheit (84b) (vgl. auch Pavlov 1983: 48). (84) a. Früchte einer Sache sind die Erzeugnisse der Sache, z. B. das Ei des Huhnes, die Wolle des Schafes und die sonstige Ausbeute, die aus der Sache ihrer Bestimmung gemäß gewonnen wird, z. B. die Kohlen des Bergwerks.q b. Die Hypothese wird dadurch gestützt, daß die Wolle der Schafe, die überschüssige Milch bei Kühen, die große Menge der Eier des Geflügels Folgen der Domestikation sind, also nicht Gründe für sie gewesen sein können.r Darüber hinaus können aber auch, wie zuvor in (83a), ein oder mehrere nicht identifizierte Vertreter vorliegen. Sie müssen dann nur so weit typisch sein, dass sie als solche erkannt werden können. Aus diesem Grund erscheint der Terminus „nicht-spezifisch“ hier sinnvoller als das z.B. von Ortner et al. (1991: 28–38) verwendete „generisch“.

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Als spezifisch gelten im Folgenden Genitivattribute, die im Extremfall auf bestimmte Individuen oder Objekte Bezug nehmen, aber auch nur den Referentenkreis einschränken können (85).157 Bei Abstrakta ist eine Individuierung zwar häufig nicht möglich, sie können jedoch ebenfalls auf Teilmengen eingegrenzt werden (86) – dabei muss in elterlich kein Bezug auf ein konkretes Elternpaar bestehen. Ausschlaggebend ist, dass die Art der Liebe genauer eingegrenzt wird, infolgedessen kann eine Univerbierung nur noch sehr eingeschränkt stattfinden. Die Referenz des Genitivattributs ergibt sich entweder aus dem Kontext der Nominalphrase (z.B. dem Adjektiv elterlichen) oder aus übergeordneten Einheiten. (85) a. „Das war alles?“, dachte ich, während die Bewegungen des Huhns schwächer wurden.s b. Dort wurden unter anderem Vergleiche mit den Zauberhüten bei Harry Potter gezogen und dutzende Bilder des Huts sowie Fotomontagen gepostet.t c. Microsoft hat noch eine Reihe weiterer Spiele gezeigt.u (86) Geld sei dann die Währung der elterlichen Liebe.v Die Funktionsüberschneidung zwischen Kompositum und Genitivkonstruktion bei nicht-spezifischer Referenz wird als hochrelevant für die Reanalyse pränominaler Genitive im Fnhd. betrachtet. So bezeichnet Pavlov (1983: 48–78), der von „generalisierte[r] ‚Klassen‘-Bedeutung“ spricht, Fälle wie der barfüßer regel und die barfüßerregel als „grammatische Synonyme“. Demske (2001: 315–316) geht indirekt ebenfalls von derartigen Verhältnissen aus, indem sie argumentiert, dass im Verlauf des Fnhd. Genitive „mit einer generischen Interpretation“ entweder als Erstglied eines Kompositums reanalysiert werden oder in die postnominale Position wechseln. In der pränominalen Position können sich nur possessive Genitivattribute halten. Wie am Gegenwartsdt. zu sehen ist, sind dies fast ausschließlich (inhärent spezifische) Eigennamen. Weitere Verweise auf eine generelle, typische Erstgliedsemantik im Fnhd. finden sich bei Ebert (1988: 35). Genitivkonstruktionen weisen also primär dann eine semantische Überschneidung mit Komposita auf, wenn das Genitivattribut nicht näher vom Kon-

|| 157 Adjektive wie typisch, normal oder, für das Frühneuhochdeutsche, gemein, sehen zwar auf der Oberfläche aus wie spezifizierende Adjektive, stärken aber die nicht-spezifische Lesart. Als Reanalyseinput kommen ihre Konstruktionen jedoch nur dann infrage, wenn eine potenzielle Zusammenbildung nach Bergmann (1980) vorliegt.

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text spezifiziert wird. Dies war bereits im Fnhd. so. Entsprechend sind nicht-spezifische Genitivattribute typische Reanalysekandidaten für Kompositumserstglieder. Pavlov (1983: 52) geht davon aus, dass nicht-spezifische Referenz durch eine Singularform (weibß kleider) Brückenkonstruktionen kompositumsähnlicher macht als eine (potenzielle) Pluralform (menschen werk), da beim Singular „systematischer von den Einzelträgern der Eigenschaften der Gegenstandsklasse, die das attributive Glied bezeichnet, abstrahiert“ werde, wobei „der Singularform des attributiven Substantivs in der Wirklichkeit eine Vielzahl von Gegenständen zugeordnet werden kann, ja oft zugeordnet werden muß“. Mit letzterem sind Fälle von „falschem Numerus“ wie mönchs orden gemeint, die bei mir aufgrund der Form bereits als Komposita eingeordnet werden.

8.2.2 Kompositafähigkeit referentieller Sonderfälle Dass ein spezifisches Genitivattribut potenzielle Grundlage einer Reanalyse ist, kommt in einigen Bereichen verstärkt vor. Dazu zählen zum einen Konstruktionen, bei denen Modifikation oder Determinierung sich zwar grammatisch zweifelsfrei auf das Erstglied bezieht, semantisch aber auch das Bezugsnomen beschreiben kann. Dies ist insbesondere bei Possessivartikeln wie in (87a) und Indefinitartikeln wie in (87b) der Fall: (87) a. Vnnd er schalt jhren vnglauben/ vnd jres hertzen hertigkeyt. (21; 1564) b. Der Bauersmann siehet auch/ daß aus stinckendem Fleisch Maden wachsen/ in Menschen/ Roß/ und anderer Thiere Leiber/ […] (80; 1711) Hier besteht kein referenzsemantischer Unterschied zwischen der Härte ihres Herzens und ihrer Härte des Herzens – als unveräußerliches Possessum handelt es sich in beiden Fällen um das Herz der Possessoren. Der Unterschied zwischen den Leibern anderer Tiere und anderen Tierleibern ist ebenfalls minimal. Solche „ambigen“ Fälle wurden bei der Annotation ebenfalls als Reanalysekandidaten betrachtet (so auch Pavlov 1983: 46). Zum Zweiten treten inhärent spezifische Substantive auf, so Unika wie Erde, Sonne, Himmel und namengleich gebrauchtes Gott, Herr (vgl. auch Pavlov 1983: 16). Dennoch sind sie nachweislich reanalysierbar. Solche Erstglieder können zwar nicht spezifiziert, aber charakterisiert werden, und diese Charakterisierung kann ebenso reanalysehindernd wirken: des lieben Gottes Haus unterscheidet sich deutlich von *das liebe Gotteshaus. Vgl. auch für das Mhd. Weidman (1941a: 352):

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The next question […] is: can the notion got or gotes be non-anaphorical? One might think not, for there is but one got, and any reference to him is to a definite being, hence must be anaphorical. Nevertheless, one need only point to gotes kraft and gotes zorn […], and to the great number of compounds in NHG like Gottesacker, Gotteskinder etc., to demonstrate that the notion got may as a matter of fact be used in an attributive, non-anaphorical sense, just as any other substantive may be used.

Einen häufig auftretenden Grenzfall bilden Konstruktionen mit dem Bestandteil Reich, wenn damit das deutsche Reich gemeint ist (in Reichs Rat): Das Substantiv steht verkürzt für den Eigennamen und wird damit als inhärent spezifisch gewertet. Derartige Fälle wurden behandelt wie andere Appellative auch: Werden sie näher charakterisiert, gelten sie als spezifisch, ist das nicht der Fall, werden sie als „inhärent spezifisch“ markiert und mit den nicht-spezifischen Fällen zusammengefasst. Eindeutige Eigennamen würden sich hier logisch eingliedern. Sie sind ebenfalls inhärent spezifisch und können ebenfalls dennoch Kompositumserstglieder sein (vgl. z.B. Schlücker 2018, erwähnt auch bei Pavlov 1983: 18–19). Eigennamen wurden in der vorliegenden Studie aus praktischen Gründen nicht erhoben: Sie treten permanent in Genitivkonstruktionen, aber vergleichsweise selten in Komposita auf. Die Datenerhebung hätte den Aufwand um ein Vielfaches erhöht, während der zusätzliche Erkenntnisgewinn zweifelhaft bleibt.158 Zum Dritten gibt es mit den Zahlwörtern Modifikatoren, die ohne weitere Individuierung häufig nicht spezifizierend wirken. So dient die Angabe drijer ‚dreier‘ in (88a) nicht dazu, spezielle Tage hervorzuheben, sondern bezieht sich im Gegenteil auf drei durchschnittliche (Reise-)Tage. Anders ist das in (88b), wo aus dem Kontext hervorgeht, dass es sich um drei bestimmte Brüder handelt und wo es außerdem durch das Substantiv selbst bedingt höchst unwahrscheinlich ist, dass generische Brüder mit einem Zahlwort kombiniert würden. Hier wurde einzelfallbezogen entschieden. (88) a. Der konynck Ninus buwede die groisse Stat Niniue ind macht sij drijer dagen reysen wijt […] (8; 1499)

|| 158 Eigennamenkomposita wurden dennoch unsystematisch erhoben, einige beispielhafte Belege: die Marien=Kirche (72; 1710), die Donau=Brücke (74; 1705); für unklaren Status: das schöne Davids Sprüchlein (53; 1651). In Solling (2012: 197–200) Daten finden sich unter über 6.000 Komposita nur 62 Eigennamenkomposita, verteilt auf 58 Anthroponyme und 4 Toponyme (die 17 Belege, die Volksgruppenbezeichnungen wie Römer umfassen wurden herausgerechnet, hier handelt es sich, anders als Solling annimmt, nicht um Namen, vgl. Nübling et al. 2012: 36).

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b. Diser dreyer gebrüeder eingang gen Reissen/ sol nach jren schrifften beschehen sein im Jar von anfang der welt 6370. (26; 1557)

8.2.3 Semantische Grundrelationen In der Literatur wird eine Vielzahl von semantischen Relationen zwischen Erstund Zweitglied von nominalen Determinativkomposita postuliert, die sich teilweise deutlich unterscheiden. Oft sind sie so feingliedrig, dass sie zwar alle Fälle detailliert erfassen können, damit aber eher von lexikologischem Nutzen sind, denn als Grundlage empirischer Untersuchungen dienen können. Mit Ortner et al. (1991) für das Nhd. und Klein et al. (2009) für das Mhd. liegen sehr umfassende, kleinteilige Systeme auf Korpusbasis vor. Ähnliche Einteilungen werden auch immer wieder für attributive Genitive unternommen (z.B. Bassola 1985, Ebert 1993: 330–335, Scott 2014: 40–41 für ältere Sprachstufen, Eisenberg 2004: 248–250 für das Nhd.). Die semantische Überschneidung von Genitivkonstruktionen und Komposita liegt trotz der unterschiedlichen Bezeichnungssysteme auf der Hand (vgl. z.B. Schlücker 2018 für nhd. Komposita mit onymischem Erstglied). 8.2.3.1 Genitivrelationen Für das Fnhd. ist es sinnvoll zu erfassen, welche semantischen Genitivtypen möglich waren, um bestimmen zu können, welche Komposita auf Genitive zurückgehen können und welche nicht. Wie sich zeigen wird, machen die Genitivkonstruktionen, die kein semantisches Äquivalent bei den Komposita haben, und die Komposita, die kein Äquivalent bei den fnhd. Genitivkonstruktionen haben, allerdings nur einen sehr kleinen Teil der Daten aus. Durch die weitgehende Einschränkung des Genitivs auf possessive Relationen im Nhd. wird verfugten Komposita oft irrtümlicherweise eine mögliche syntaktische Herkunft abgesprochen, so bei Fuhrhop (1996: 538), die den Objektsgenitiv nicht gelten lassen will: „Das Genitivverhältnis ist hier auch nicht durchgängig zu finden (Gottesfurcht ist nicht die Furcht Gottes) – es ist also offenbar keine notwendige Bedingung“ (ähnlich Werner 2016: 298). Die semantische Klassifikation von Genitiven inklusive der Beispiele in Tab. 31 entspricht Ebert (1993: 330–335), in der letzten Spalte wurden entsprechende Komposita aus dem Mainzer Korpus ergänzt, so weit vorhanden. Von diesen Genitiven lässt sich der partitive Genitiv als Reanalysevorlage ausschließen, entsprechende Konstruktionen wie viertel Weins, ein Brösemlin weiß Brots, zuͦ eyner halben maß wassers wurden im Korpus überhaupt nicht erfasst.

ein Müller=Esel das grüne Jägers=Kleid

ettlicher edelleut schlösser die macht der Thürcken

Besitzverhältnis

Genitiv gibt Stoff oder Art an, deren Maß oder Menge vom Bezugsnomen bezeichnet wird

Possessiver Genitiv

Partitiver Genitiv

von jedem fúder weins

der Kirchendiener Baurn=Gericht

Konstruktion aus zwei identischen ein kunig der kunig Substantiven zum Ausdruck des höchstens Grads

Genitiv von steigender Bedeutung die sytten, recht vnd gewonheit der lande abt des gotshaus Weingarten ein chunigynne allez lasters

am trei vnnd zwentzigsten tage des Augstmonats

die loblich kunst der Truckerei

Genitiv verdeutlicht Inhalt des Bezugsnomens

Genitivus definitivus/ explicativus

Genitiv der Verwandtschaft, Zugehörigkeit, der Ursache

Augsburgische ConfessionPersonen

menschen ains verstoͤ rten gemüets

AKK: die schmertzliche Kindergeburt GEN: Ministeranklage (DTA 1845) DAT: ein Götzendiener PP: mit der Bauchsorge

Deverbales Bezugsnomen, Genitiv AKK: dem waren erkenner aller bezeichnet ein Objekt des Verbs herzen GEN: Mit beger seiner geschriebenen antwort DAT: in demutigem vertrawen gottis PP: mit sorge der Narunge

Objektsgenitiv

Genitiv der Beschaffenheit

zur […] Unterhaltung des PfaffenGesangs

äquivalente Komposita

Deverbales Bezugsnomen, Genitiv bis zuͦ des turkischen kaissers bezeichnet das Subjekt des Verbs ankunft

Subjektsgenitiv

fnhd. Beispiele

Beschreibung

Genitivtyp

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Tab. 31: Fnhd. Genitivtypen und Beispiele nach Ebert (1993:330–335), äquivalente Komposita aus dem Mainzer Korpus.

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Er unterscheidet sich formal durch die frühe Nachstellung (vgl. Kap. 6.3), die Univerbierungen unwahrscheinlich macht. Nhd. Komposita, die Maßeinheiten beinhalten, die nicht Teil des Gemessenen sind, haben das Maß zum semantischen Kopf, nicht die gemessene Einheit – vgl. Milchflasche ‚Flasche für Milch‘ vs. eine Flasche Milch, Weinfass ‚Fass für Wein‘ vs. ein Fass Wein(s). Anders verhält es sich, wenn das Bezugsnomen Teilmenge des Genitivattributs ist, wie bei Brotkrümel, Kuchenstück – hier existieren zwar semantisch äquivalente Komposita, diese gehen jedoch nicht aus partitiven Genitivkonstruktionen hervor, sie sind stets unverfugt. Der Genitiv der Beschaffenheit ist insofern ein zweifelhafter Reanalysekandidat, als er immer ein Adjektiv erfordert – allerdings sind genau das häufig die Fälle, die zu Zusammenrückungen nach Bergmann (1980) führen können: Personen Augsburgischer Confession – Augsburgische Confession-Personen. Derartige Fälle wurden entsprechend als potenzielle Reanlaysevorlagen einbezogen. 8.2.3.2 Kompositumsrelationen Umgekehrt gibt es auch Relationen, die sich nur bei den Komposita ausmachen lassen – bedingt durch das freie Verhältnis des idg. Kompositionstyps, der somit weit über Genitivrelationen hinausgehen kann (vgl. auch Meineke 1991: 81). Sie sind zum einen nützlich dazu, das Wirken eines eigenständigen Kompositionsmusters zu bezeugen, da sie keine Genitivreanalysen sein können. Zum anderen können sie genutzt werden, um eine ältere Kompositumsschicht von einer neueren zu trennen: Es handelt sich bei ihnen um die Fortsetzung des idg. Typs, die entsprechenden Relationen sind bereits im Mhd. belegt (Klein et al. 2009: 164–169). Eine strukturelle wie semantische Besonderheit stellen die Rektionskomposita dar: Bei ihnen ist neben Univerbierung und idg. Kompositionstyp auch eine Genese durch Inkorporation denkbar. Kopulativkomposita Relationen, die kompositionsexklusiv sind, betreffen insbesondere Kopulativkomposita (Schalcksnarren, SturmWind, essen speis). Problematischerweise werden hierzu häufig auch Fälle gezählt, bei denen die beiden Bestandteile zwar nicht gleichrangig sind, aber auf dasselbe Objekt Bezug nehmen (so z.B. Demske 2001: 311, vgl. Kap. 2.1.1), wie Ahnfrau, Bauersmann, KebßWeiber, Rittersmann, Weibes Person, Mannes Person, Juden Person. Bei Gleichrangigkeit der beiden Bestandteile ist tatsächlich keine Herkunft aus einer Genitivkonstruktion, die ja per se unterordnend wirkt, möglich. Die Fälle mit Hyponym-

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Hyperonym-Beziehung entsprechen dagegen einem Genitivus explicativus – die Kunst der Druckerei ist insofern nichts Anderes als *die Person des Weibes. Zwar treten derartige Fälle für belebte Erstglieder im Mainzer Korpus nicht auf, es finden sich aber anderswo im weitesten Sinne vergleichbare Genitivstrukturen wie seine eigene und seines Weibes Person (DTA 1779,w mit der Bedeutung ‚Ehefrau‘). Auch oft übersehene Fälle mit unbelebtem Erstglied wie Augstmonat zeigen einen klaren funktionalen Bezug zu Genitivkonstruktionen: (89) a. Diese 3. te Manier/ den Calcedonier zu machen/ habe ich zu Antorff versucht/ 1609. im Monat des Jenners (DTA, 1679)x b. Die Laichzeit des Barsches fällt in die Monate des März, April und Mai. (DTA 1863)y (90) am trei vnnd zwentzigsten tage des Augstmonats (39; 1588; insgesamt dreimal belegt) Es scheint also vorschnell, derartige hierarchische „Kopulativkomposita“ zwingend als Resultat eines morphologischen Prozesses zu betrachten. Sie werden in den vorliegenden Daten nicht anders behandelt als andere Strukturen. Lediglich bei echten Kopulativkomposita vom Typ Sturmwind kann davon ausgegangen werden, dass sie nicht Resultat einer Univerbierung sind. Rektionskomposita Unter den Determinativkomposita findet sich mit den Rektionskomposita eine semantische Sondergruppe, deren Entstehung sich möglicherweise von der der ehemals genitivischen NN-Komposita unterscheidet. Die Lesart von Rektionskomposita wird dadurch bestimmt, dass das Zweitglied eine syntaktische Ergänzung fordert, die, wo semantisch und kontextuell sinnvoll, im Erstglied gesehen wird. So kauft ein Hauskäufer ein Haus (aber ein Problemkäufer eher kein Problem). Substantivische Rektionskomposita transportieren also „ererbte“ Verbvalenzen, sie „kondensieren“ (Eichinger 2000: 128) im Gegensatz zu syntaktischen Strukturen. Dabei kann das Erstglied prinzipiell für alle Argumente des Verbs stehen:159

|| 159 Welche Komposita genau als Rektionskomposita gefasst werden, ist umstritten. Eichinger (2000) vertritt z.B. einen sehr weiten Begriff, bei dem auch gar nicht vom zugrunde liegenden Verb geforderte adverbiale Bestimmungen (Lautlesen, Sozialverhalten) und Fälle wie Ertragszuwachs, die sich nicht in syntaktische Strukturen überführen lassen (*dass der Ertrag zuwächst), miterfasst werden.

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(91) a. b. c. d. e.

Subjekt: Akkusativobjekt: Genitivobjekt: Dativobjekt:160 Präpositionalobjekt:

Kollegenverhalten Hausverkäufer Kooperationsbedürfnis Arzthelfer Erntehelfer

die Kollegen verhalten sich ein Haus verkaufen der Kooperation bedürfen dem Arzt helfen bei der Ernte helfen

Bei den meisten Rektionskomposita liegt allerdings eine Objektlesart vor. Als möglichen Grund führt Eichinger (2000: 131) eine Parallele zu rhematischen Strukturen auf Satzebene an: Häufig wird das Rhema in Nebensätzen mit Verbletztstellung ausgedrückt, sodass das Objekt dem Verb direkt vorausgeht und eine engere semantische Verbindung mit ihm eingeht. Auch die Tatsache, dass viele Rektionskomposita Nomina Agentis beinhalten, das Subjekt also schon im Zweitglied enthalten ist, 161 dürfte die hohe Objektdichte beeinflussen. Gaeta & Zeldes (2012) stellen fest, dass für 86% der Rektionskomposita mit er-Derivaten im deWaC-Korpus auch Objekt-Verb-Paare belegt sind. Das zeigt, dass von einer engen Beziehung zwischen Syntagma und Wortbildungsprodukt ausgegangen werden kann. (Dazu, welcher Art die Beziehung ist, gibt es verschiedene Vorschläge, z.B. Lieber 1983, Olsen 1986, Rivet 1999, Scherer 2005: 115–116.) Die nicht als Objekt-Verb-Paar belegten Fälle sind häufig stark reihenbildend (-vertreter, -leiter) oder lexikalisiert (Schriftsteller), beides deutet auf die diachrone Tiefe des Musters hin. Auch Rektionskomposita können Fugenelemente aufweisen. Paradigmische Erstglieder wie Bär-en-jäger, Zähn-e-putzen stimmen u.a. mit dem Akkusativ Singular und/oder Plural überein. Dabei ist die Fuge, genau wie bei normalen Determinativkomposita, für den s-Plural nicht zugänglich – auch da nicht, wo in der Syntax das Objekt eher im Plural erwartbar wäre als im Singular (*CDsVerkäufer, *Smartphonesproduktion). Bei der Bildung neuer Rektionskomposita werden also nur Akkusativformen genutzt, die auch formgleich mit einem Nominativ oder Genitiv sind. Einzelne Rektionskomposita verfugen zwar unparadigmisch, hier ist aber häufiger Schwankung mit unverfugten Formen zu beobachten. So findet sich neben dem frequenteren Zeitung-s-lesen auch die Form Zeitung-∅-lesen. Die || 160 Dativobjekte scheinen nur möglich, wenn der Dativ der einzige Objektskasus ist, d.h. wenn der Dativ auch syntaktisch adjazent zum Verb sein kann. 161 Ist dagegen ein Objekt im Erstglied enthalten ist, muss dies nicht per se zu einer Blockierung für den weiteren Ausdruck des Objekts führen. So führt Fabricius-Hansen (1987: 194) seltene Belege wie Volker Braun, der Preisträger des »Berliner Preises für deutschsprachige Literatur« an, die das Objekt sowohl im Rektionskompositum (generisch) als auch im Genitivattribut (spezifisch) realisieren.

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Nullfuge nach eigentlich konsequent s-verfugendem -ung weist darauf hin, dass eine Interpretation als Akkusativobjekt für die Sprecherinnen und Sprecher möglich ist.162 Nübling & Szczepaniak (2011: 57–58) führen auch Arbeit-∅-geber und die Schwankungsfälle Gewicht(-s-)heber, Krieg(-s-)führung und Stellung(-s-) nahme an. Fuhrhop (2000: 211) sieht die s-Verfugung in solchen Fällen als Indikator der morphologischen Integration, die das komplexe Wort weiter von der Syntax entfernt.163 Sie argumentiert außerdem anhand von Adjektivkomposita wie fugenlosem achtunggebietend aber schwankendem richtungweisend/richtungsweisend,164 dass das unparadigmische Fugenelement bei zunehmender Lexikalisierung auftritt. Für historische Daten ist das dagegen nicht anzunehmen: Da NN-Rektionskomposita sich im Fnhd. auch als Konstruktionen mit Objektsgenitiv ausdrücken lassen, kann eine s-Fuge nicht als Entsyntaktisierungssignal wirken. Die Kompositionsstammform lässt sich weiterhin syntaktisch motivieren.165 Für die gegenwartssprachlichen Verhältnisse sind zwei Erklärungen denkbar: Zum einen kann die Fuge in Analogie zur Syntax unterbleiben, die hier viel stärker hindernd wirken kann als bei den nicht mehr genutzten pränominalen Genitivphrasen. Zum anderen können Rektionskomposita nicht nur strukturell syntaktischen Phrasen ähneln, sondern auch darin ihren Ursprung genommen haben oder gar weiterhin nehmen. Die fehlenden Fugen würden sich dann aus einem Reanalyseprozess erklären, der auf Objekt-Verb-Verbindungen zurückgeht. Vor diesem Hintergrund ist ihr Verfugungsverhalten interessant: Im Mainzer Korpus finden sich 86 Komposita und Brückenkonstruktionen, deren Erstglied ein Akkusativobjekt, nicht aber ein Genitivattribut des Zweitglieds sein kann (92). Sie s-verfugen zu 16,3% (14 Belege) und damit deutlich weniger als die Vergleichsgruppe der Nicht-Rektionskomposita (44,3% s-Fu-

|| 162 Im ZEIT-Archiv des DWDS finden sich z.B. für die Abfrage Zeitungles* 114 Treffer, für verfugtes Zeitungsles* dagegen 672, das entspricht einem Verfugungsanteil von nur 85%. Dem stehen 1.192 verfugte Zeitungsartikel aber keinem einzigen unverfugten Zeitungartikel gegenüber (19.1.2016). 163 Bei normgerecht unverfugtem Schaden-∅-ersatz, Stellung-∅-nahme wirkt neben dem Rektionsverhältnis auch die fachsprachliche Konservativität fugenhindernd. 164 Das ZEIT-Archiv bestätigt die von Fuhrhop (2000: 211) angenommene Tendenz, das Verhältnis unverfugt:verfugt ist für achtung(s)gebietend 52:2, für richtung(s)weisend 630:787 (20.1.2016). 165 Rektionskomposita sind bereits für das Ahd. belegt, für einen historischen Überblick s. z.B. Werner (2017).

184 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps

ge).166 Im ganzen Korpus sind 6 Fälle potenzieller Rektionskomposita mit unparadigmischer Fuge belegt (93). (92) a. unverfugt: Blutuergiessen, Landpfleger, Rathgeberin, Urtheilsprecher, zu ihrer wolfahrt Befürderung b. s-verfugt: Gemüths=forcirung, zur Leybes vnderhaltung, Unglücksstiffterin, Zweifelslehrer (93) Religions-Veränderung, Religions=Ubung, Confessions-Ubung Der Gesamtanteil potenzieller Rektionskomposita an Komposita und Brückenkonstruktionen im Mainzer Korpus liegt mit 341 bei nur 7,6% aller Komposita. Daher wurde die Entscheidung getroffen, Rektionskomposita im Mainzer Korpus mit den übrigen Komposita gemeinsam zu analysieren. Das ist auch deshalb angebracht, weil die Grenze zwischen Rektionskompositum und gewöhnlichem Determinativkompositum kaum verlässlich zu ziehen ist. In der Beispielanalyse wurden nur Erstglieder aus konvertierten Infinitiven und deverbale erbzw. ung-Derivate berücksichtigt, während ältere Schichten deverbaler Bildungen wie z.B. t-Abstrakta und Fälle von impliziter Derivation ausgeklammert wurden. Die gemeinsame Behandlung hat eine Konsequenz für die Beurteilung der Kompositionsstammform: Bei Rektionsverhältnis mit konvertiertem Infinitiv werden Erstglieder als paradigmisch betrachtet, die das bei Genitivkonstruktionen nicht wären, wie Bier in (94). (94) Nur ist dieses absonderlich zu mercken/ daß das Eichenholtz wohl hitzet/ und wird gemeiniglich zu dem Bier sieden genommen. (62; 1678) Das Wort ist endungslos und stimmt damit nicht mit dem Genitiv Singular überein, denkbar wäre lediglich ein apokopierter (Genitiv) Plural, der aber semantisch nicht angezeigt ist. Nach dem vorgeschlagenen Vorgehen aus Kap. 7.2 würde Bier sieden daher als eindeutiges Kompositum eingeordnet. Da es hier jedoch auch ein (inkorporiertes) Akkusativobjekt sein kann, wird die endungslose Form trotzdem als potenzieller Teil einer syntaktischen Struktur gewertet. Im Fall von (94) führt das dazu, dass die Konstruktion unklaren Status erhält, statt als Kompositum gewertet zu werden.

|| 166 Einbezogen wurden bei beiden Gruppen nur Erstglieder, die zweifelsfrei s-Genitive bilden, potenzielle Klassenwechsler blieben unberücksichtigt. Zu den Rektionskomposita wurden nur solche mit Infinitivkonversionen, deverbalen er- und ung-Derivaten als Erstglieder gerechnet.

Exkurs: Phonologische Voraussetzungen | 185

8.3 Exkurs: Phonologische Voraussetzungen Während sich grammatische und semantische Voraussetzungen gut an Korpustexten herausarbeiten lassen, fehlen Informationen zu den fnhd. Akzentverhältnissen bei den fraglichen Konstruktionen völlig. Im Folgenden kann daher nur spekuliert werden. Im Gegenwartsdt. herrschen klare Akzentunterschiede zwischen Phrase und Kompositum, die eine Verwechslung undenkbar machen: Die Hauptbetonung des Kompositums liegt auf dem Erstglied (Vátertàg), die Genitivphrase hat hingegen zwei Hauptbetonungen, von denen die phrasenfinale stärker ist (Mútters Tág). Aus heutiger Perspektive besteht damit eine Erklärungslücke in der allgemein anerkannten Reanalysetheorie zur Entstehung des verfugenden Kompositionstyps: Wie kann es, wenn keine phonologische Ambiguität zwischen syntaktischer Phrase und Wortbildungsprodukt besteht, zu einem unklaren Status kommen, der dann zu einer Fehlzuordnung führt (vgl. Demske 2001: 303)? Bleibt das Problem in der Literatur unberücksichtigt, so scheint der Grund i.d.R. zu sein, dass die Autorinnen und Autoren rein schriftbasiert arbeiten und die Phonologie nicht im Blick haben, wie z.B. Pavlov (1983: 22). Er geht davon aus, dass allein die Zusammenschreibung eine Differenzierung zwischen Genitivphrase und Kompositum ermöglicht: Wenn die Literatursprache mit ihrem Mittel der Zusammen- und der Getrenntschreibung wesentliche Beziehungen in einem grammatischen Bereich, dem der attributiven substantivischen Komplexe, ordnet, so verdankt dieser die Systematisierung der für ihn maßgebenden Oppositionen und die Normierung des betreffenden Systems in der deutschen Sprache in einem bedeutenden Maße der geschriebenen literatursprachlichen Existenzform.

Ein derartiger Ansatz, der eine Veränderung als durch Eigenschaften der geschriebene Modalität verursacht betrachtet, greift in jedem Fall zu kurz. Um die Reanalyse phonologisch plausibel zu machen, ist ein kontrastiver Vergleich mit dem Engl. aufschlussreich. Dort wird die Abgrenzung von Phrase und Kompositum seit langem diskutiert. Besteht eine Konstruktion aus zwei Substantiven, so wird – wie bei den AN- bzw. VN-Komposita aus Fn. 141 (S. 151) – häufig auf die Position des Hauptakzents verwiesen: Während sie bei Komposita i.d.R. auf dem Erstglied liegt („compound stress rule“), weisen Phrasen Finalbetonung167 auf („nuclear stress rule“; Chomsky & Halle 1968: 89–94).

|| 167 Unter „finalbetont“ werden hier Konstruktionen verstanden, bei denen beide Bestandteile einen Hauptakzent erhalten, der zweite Bestandteil jedoch in isolierter Aussprache stärker

186 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps

Phrase

Kompositum

finalbetont a.

aunt Ánne

initialbetont b.

‚Tante Anne‘

ice créam

d.

‚(Speise-)Eis’ c.

apple píe ‚Apfelkuchen‘

íce cream ‚(Speise-)Eis’

e.

ápple cake ‚Apfelkuchen‘

Abb. 33: Hauptakzentposition (bei Listenaussprache) und Kompositionsstatus im Englischen.

Bereits Lees (1960: 120) macht jedoch auf Problemfälle aufmerksam (illustriert in Abb. 32 b, c vs. d, e): Während z.B. ápple cake der phonologischen Struktur eines Kompositums folgt, weicht apple píe davon ab und müsste entsprechend der Syntax zugewiesen werden, was Lees (1960: 120) als „rather awkward“ bezeichnet. Ähnliches konstatieren Chomsky & Halle (1968: 156) und Payne & Huddleston (2002: 448–451), dennoch tendieren generative Ansätze insgesamt dazu, den beiden Gruppen einen unterschiedlichen Status zuzusprechen.168 Für eine einheitliche Analyse als Komposita, wie sie z.B. Bauer (1983) und Plag (2003: 127–139, 2010) vertreten, spricht dagegen, dass die Akzentposition auch bei einzelnen Lexemen schwankt, obwohl unabhängig von der Betonung das-

|| betont wird (vgl. Bauer 1983: 104–105). Der Einfachheit halber wird nur dieser Akzent in den Beispielen markiert. 168 Payne & Huddleston (2002: 448–451) geben syntaktischen Tests zur Unterscheidung von Phrase und Kompositum den Vorzug, da sie die Akzentposition als unzuverlässig betrachten. Sie gehen davon aus, dass Koordination (two London colleges → various London and Oxford colleges) und Modifikation nur eines der beiden Elemente (two London theological colleges) nur in Phrasen, nicht aber in Komposita möglich ist (*a swim and sportswear shop). Das würde jedoch zu einer bis dato nicht in der Literatur postulierten Gruppe führen, die zwar initiale Betonung aufweist, aber Phrase ist, da sich z.B. Konstruktionen wie die folgenden (die gemeinhin als Komposita aufgefasst werden) durchaus koordinieren lassen: (VI)

(VII)

Forget fizzy pop, the list of approved drinks includes diluted apple or orange juice, whole milk or water. (Daily Mail, http://www.dailymail.co.uk/health/article-2087802/80-pageguide-feed-toddlers-includes-actual-size-diagram-perfect-PLATE.html#ixzz3uVhopUri, abgerufen am 16.12.2015) Made with FRESH Apples / Apple Pie or Cake – take your choice of these two favorites – fresh from our ovens, mingling with the flavour of freshly-baked apples is the fragrance of cinnamon – seven cuts to a pie or cake – EACH ……… 19c (The Pittsburgh Press – 14.3. 1933, Seite 4, https://news.google.com/newspapers?nid=1144&dat=19330314&id=nXAb AAAAIBAJ&sjid=ZksEAAAAIBAJ&pg=4492,938467)

Exkurs: Phonologische Voraussetzungen | 187

selbe Denotat bezeichnet wird (ice cream) und dass sich beide Betonungstypen syntaktisch gleich verhalten, d.h. z.B. nur miteinander verschoben werden und nicht durch beliebiges Material unterbrochen werden können (Bauer 1983: 104– 112, 1978: 103). Zwar gibt es mit den stets finalbetonten Kopulativkomposita (scholaráctivist) und den initialbetonten Rektionskomposita (wátch-maker, fóx-hunting) zwei Gruppen, deren Akzentposition vorhersagbar ist (vgl. Plag 2003: 138–139, Giegerich 2004: 2–3), bei Determinativkomposita lassen sich jedoch nur isolierte Tendenzen zur Finalbetonung ausmachen, so wenn Stoffbezeichnungen als Erstglied auftreten (chocolate fróg, cherry brándy) oder bestimmte Zweitglieder reihenbildend wirken (Finalbetonung bei -avenue, -pie, -administration, -prayer, -wall; Bauer 1983: 108–109, vgl. auch Plag 2010 für eine korpusbasierte Analyse verschiedener Einflussfaktoren). Insgesamt handelt es sich hier jedoch um ein lexikalisch bedingtes Phänomen. Bauer (1983: 109) hält daher fest: All this suggests that the difference between single and double stressed collocations is not a distinction between two very different syntactic structures, but an accidental surface structure division in a unitary group of compounds, and that it makes more sense to talk of single and double stressed compounds than of compounds as opposed to noun + noun syntactic phrases.

Die Akzentverhältnisse des Engl. zeigen also, dass Komposita zwei Betonungsmuster aufweisen können, von denen eines dem von Phrasen gleicht. Zwar konstatiert auch Bauer (1983: 101): „I know of no other language where precisely this problem is relevant.“ – diese engl. Verhältnisse können aber für das Verständnis der fnhd. Konstruktionen fruchtbar gemacht werden, die durchaus Ähnlichkeiten aufweisen. Es ist nicht undenkbar, dass die Verhältnisse im Fnhd. insofern mit denen des Engl. vergleichbar waren, als keine scharfe phonologische Grenze zwischen Syntax und Wortbildung bestand. Dass es im Dt. irgendwann zu einer Akzentfestlegung gekommen sein muss, zeigt der heutige Zustand. Eine derartige gerichtete Verschiebung hätte ebenfalls eine Parallele im Engl.: Das Betonungsmuster in engl. NN-Komposita kann wechseln, und zwar tendenziell (aber nicht ausschließlich) von Final- zu Initialbetonung (Bauer 1983: 109).169

|| 169 Die hier verglichenen Konstruktionen sind allerdings nicht völlig parallel strukturiert: Während die engl. Komposita sich auch durch die Abwesenheit zusätzlichen Materials von Phrasen unterscheiden (dog-ear ‚Eselsohr‘ vs. dog’s ear ‚Ohr eines Hundes‘) und eben das unverbundene Auftreten zweier Substantive als Hinweis auf den Kompositumsstatus gewertet wird, gilt es im Deutschen Fälle zu erklären, bei denen das Erstglied (sofern vom Paradigma

188 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps

8.4 Korpusuntersuchung: Reanalyse Komposita und pränominale Genitivkonstruktionen weisen also einen grammatischen und semantischen Überschneidungsbereich auf und es ist davon auszugehen, dass für Konstruktionen dieses Bereichs ein Übergang möglich ist. Bisherige empirische Studien konzentrieren sich allerdings immer nur auf einen der beiden Bereiche: Pavlov (1983) betrachtet Komposita und Brückenkonstruktionen, Demske (2001) wertet nur Genitivkonstruktionen quantitativ aus. Im Folgenden soll erstmals eine umfassende, gemeinsame Analyse funktionsähnlicher Konstruktionen durchgeführt werden. Ich treffe dafür die folgenden, empirisch zu überprüfenden Voraussagen (so auch in Kopf 2018a): 1. Der Anteil der (semantischen wie grammatischen) Brückenkonstruktionen („unklarer Status“) sollte zu Beginn des Ausdruckswandels hoch sein, da sie ideale Reanalysekandidaten darstellen. 2. Der Anteil pränominaler Genitivkonstruktionen mit nicht-spezifischem Attribut sollte abnehmen, während die Komposita zunehmen, da erstere durch Reanalyse zu Komposita werden. 3. Der Anteil pränominaler Genitivkonstruktionen mit spezifischem Attribut sollte gleich bleiben, da spezifische Attribute nicht semantisch äquivalent mit Kompositionserstgliedern sind, oder aber zurückgehen, da durch Stellungswandel ihre zunehmende Nachstellung zu erwarten ist. 4. Die postnominalen Genitive sollten konstant bleiben, da ihre Stellung keine Reanalse erlaubt, oder aber zunehmen, da sie Zuwachs durch die spezifischen pränominalen Konstruktionen erfahren. Die Voraussagen bestätigen sich weitgehend, zeigen jedoch auch äußerst interessante Ausnahmen (vgl. Abb. 34): Wie erwartet, sinkt die (auch schon zu Beginn des Untersuchungszeitraums kleine) Anzahl nicht-spezifischer pränominaler Genitivattribute, während die Komposita massiv zunehmen. Man könnte nun einwenden, hier sei lediglich der fnhd. Stellungswandel des Genitivattri-

|| angezeigt) ein Fugenelement aufweist. Das verweist auf die unterschiedliche Diachronie: Die engl. Komposita folgen weiterhin dem ererbten idg. Kompositionsmuster, bei dem das Erstglied durch Lautwandel bloßer Stamm ist. Dennoch haben sich zwei verschiedene Betonungsmuster herausgebildet. Im Fnhd. hat sich dagegen das verfugte Muster aus Phrasen herausgebildet, entsprechend ist es gut möglich, dass es zunächst noch Phrasenbetonung aufwies. Über das Betonungsmuster unverfugter Komposita im Fnhd. lässt sich nichts sagen: Es könnte, wie im Gegenwartsengl., variabel gewesen sein, es könnte jedoch auch bereits dem einheitlichen Muster des Gegenwartsdt. entsprochen haben. Ab wann sich die heutigen Betonungsverhältnisse beobachten lassen, ist unklar.

Korpusuntersuchung: Reanalyse | 189

buts zu beobachten:170 Die pränominalen Genitivattribute werden zunehmend nachgestellt, entsprechend gehen sie zahlenmäßig zurück. Diese Erklärung kann jedoch verworfen werden, da nicht nur die prä-, sondern auch die postnominalen Genitivkonstruktionen abnehmen, wenn sie nicht-spezifisch sind. Nicht-spezifische Genitivattribute werden also seltener, egal wo sie stehen. 600 500 400 300 200 100 0

1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

Kompositum

257

286

462

554

Brückenkonstruktionen

155

84

103

27

49

54

40

18

288

286

255

274

nicht-spezifischer Genitiv pränominal nicht-spezifischer Genitiv postnominal

Abb. 34: Entwicklung von Konstruktionen mit funktionaler Überschneidung im Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus171 (n=3.192, χ²=240,56, df = 9, p < 0,001, Cramérs V: 0,159). (Die Grafik orientiert sich an Kopf 2018a, legt aber im Gegensatz dazu die hier vorgestellten Einteilungskriterien zugrunde, nicht bisher in der Literatur gängige. Entsprechend weichen die Zahlen auch ab.)

Damit wird dem traditionellen Verständnis, Komposita entstünden aus pränominalen Fällen, wo eine Reanalyse des Genitivattributs aus semantischen und formalen Gründen möglich ist, eine wichtige Komponente hinzugefügt: Neben der Reanalyse kommt es möglicherweise ungeachtet der Position zu einer Ersetzung von Genitivkonstruktionen durch Komposita. Dabei ist davon auszugehen, dass die Etablierung des neuen Musters durch Reanalyse seiner Ausbreitung in || 170 Die geringen Zahlen 1500 verweisen darauf, dass der Stellungswandel bereits zu Beginn des Untersuchungszeitraums weit vorangeschritten ist. 171 Komposita ohne Fugenelement wurden ausgeschlossen, wenn die erste Konstituente in freiem Gebrauch ein Genitivflexiv aufweist (z.B. Abend-essen, aber des Abends), weil davon auszugehen ist, dass es sich in diesem Fall um den alten Kompositionstyp handelt.

190 | Voraussetzungen und Gründe für die Entstehung des neuen Kompositionstyps

vormaligen Genitivkontexten vorausgeht. Auffällig ist der recht große Anteil der Brückenkonstruktionen um 1500. Sie leisten möglicherweise der nun einsetzenden Reanalyse Vorschub. Eine funktionale Ersetzung hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden: Zwischen 1500 und 1560 nehmen Brückenkonstruktionen ab, während Komposita und postnominalen Genitive im Verhältnis geringfügig zunehmen, noch werden pränominale Genitive also nicht durch Komposita ersetzt. Bis 1650 sind jedoch sowohl prä- als auch postnominale Genitive zugunsten der Komposita deutlich zurückgegangen. Während sich beim Schwund pränominaler Genitivkonstruktionen zumindest teilweise Reanalyse vermuten lässt, dürfte es sich beim Rückgang der postnominalen Fälle um funktionale Ersetzungen durch semantisch äquivalente Komposita handeln. Eine statistische Überprüfung der Daten mittels Chi-Quadrat-Test zeigt, dass die beobachteten Unterschiede hochsignifikant sind (p Tragödie-n, Privileg-ium/ien > Privileg-ien. 197 Z.B. Anglizismenjäger, Themenfabrik, Forenimplikatur, aber Traumahotline, Virusfessel (alle Belege aus der Wortwarte).

Mainzer Korpus | 225

9.3.3 (e)ns-Fuge Die (e)ns-Fuge entsteht während der Konditionierung der schwachen Maskulina: Nicht prototypengerechte Mitglieder werden ausgeschieden und nehmen Merkmale der starken Flexion an, wobei der alte Nominativ sich häufig noch länger hält, während der neue Genitiv bereits genutzt wird, der damit die Form -(e)ns hat (vgl. Kap. 4.5). Entsprechend ist eine Erfassung korrespondierend verfugender Komposita schwierig: So lange nicht bekannt ist, in welchem Wechselstadium sich das Erstglied befindet, kann nicht entschieden werden, ob es sich um eine s- oder eine ns-Fuge handelt (Glaube-ns/Glauben-s) – genauso wie die Entscheidung über Null- oder n-Fuge nicht getroffen werden kann (Wage-n/Wagen). Alle schwachen Maskulina, die bis heute gewechselt haben oder im Korpus als temporäre Wechsler belegt sind, wurden entsprechend annotiert. Die (e)ns-Fuge findet sich erstmals 1620 in Komposita, in einer Brückenkonstruktion ist sie schon 1530 belegt. Tab. 39: Token- und Typenfrequenzen der (e)ns-Fuge im Mainzer Korpus.

Token

Typen

1620

0,7%

(4)

1,1%

(3)

Glaubensgenossen, -bekandnuß, -augen

1650

0,4%

(2)

0,6%

(2)

Schmertzens= mann, Glaubensbekantnussen

1680

1,2%

(8)

1,8%

(8)

Glaubens=Satz, Hertzens=Wechsel, -Seufftzer, -Christen, -besserung, Menschens=Leben, Nahmenswörter, -tag

1710

2,5%

(14)

1,9%

(7)

Friedens=Zeiten, -Schlussens, -Handlung, glaubens=sachen, -Genossen, -Bekänntnuß, HerzensOrgel

9.3.3.1 Verfugungs- und Wechselstadium gemischter Maskulina und Neutra An dieser Stelle ist es sinnvoll, die konkurrierenden Verfugungsmuster der Klassenwechsler, -n- und -ns-, im Vergleich zu betrachten. (Die Nullfuge bleibt unberücksichtigt, da sie das alte Muster darstellt.) Das Verfugungsverhalten verspricht hier Aufschluss darüber, wie eng das Muster im Untersuchungszeitraum an die Flexion gebunden ist.

226 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900

Tab. 40: Verfugungsverhalten klassenwechselnder, ehemals schwacher Maskulina (und Herz) im Mainzer Korpus. Angaben mit * weisen s-, nicht ns-Fuge auf (Monds-, Bauers-).

Gruppe 1

Gruppe 2

Gruppe 3

Gruppe 4

-n- vs. -(en)s-

heute

Brunne

8:0

∅ (< n)

Schatte

1:0

∅ (< n)

Schlitte

1:0

∅ (< n)

Bauer

4:5*

n

Drache

9:0

n

Mensch

5:1

en

Pfau

1:0

en

Schwan

1:0

en

Friede

3:7

ns

Glaube

0:12

ns

Herz

5:5

ens

Name

0:2

ns

März

1:0



Mond

0:3*



Schmerz

0:1



Sinn

1:0



Stern

1:0



Die Daten lassen sich in vier Gruppen einteilen: Die erste Gruppe hat heute einen n-erweiterten Stamm und weist damit kein Fugenelement auf. Die drei Mitglieder weisen im Korpus keine Schwankung mit der ns-Fuge auf. Hier lässt sich – insbesondere für Brunne(n) – ziemlich sicher sagen, dass die entsprechenden Komposita bereits vor dem Klassenwechsel gebildet wurden. Der Klassenwechsel selbst ist allerdings nicht ohne weiteres datierbar. Im Anhang (Kap. 16.2.1) wurde der Genitivstand für verschiedene Klassenwechsler erhoben. Für alle drei Substantive zeigt sich schon Anfang des 17. Jhs. dominierende (n)s-Flexion, ihre Komposita müssen also schon früher gebildet worden sein. Wünschenswert wä-

Mainzer Korpus | 227

ren aber ältere Daten. (Das Bonner Fnhd.-Korpus hat einen zu geringen Umfang, um hierfür sinnvoll ausgewertet zu werden.) Bei Gruppe 2 verhält es sich wie bei Gruppe 1, nur dass der Stamm nicht nerweitert wurde, weshalb -(e)n- noch immer als Fugenelement erkennbar ist. Gruppe 3 weist dagegen das neue Flexiv auch in der Fuge auf, wobei Friede und Herz schwanken, Glaube und Name nicht. Außer Herz weisen alle Mitglieder bereits im 14./15. Jh. ns-Flexive auf, können also schon früh durch Univerbierung ns-verfugen. Gruppe 4 verfugt heute in Neubildungen nicht mehr. Der Unterschied zwischen Gruppe 1/2 und Gruppe 3 kann also durch verschiedene Übertrittszeitpunkte des Erstglieds bedingt sein: Liegt dieser bei der einen Gruppe noch vor, bei der anderen erst nach der Entstehung des Kompositionstyps, so kann das zum Univerbierungszeitpunkt gebräuchliche Flexiv zur Fuge werden. Das ist plausibler als die alternative Annahme, dass die neue Fuge erst nach dem Klassenwechsel anstatt einer vorherigen, s-losen auftritt: In diesem Szenario bliebe unerklärt, warum sich die eine Gruppe mit dem Fugenwechsel an die neue Flexion „anpasst“, die andere jedoch nicht. Entsprechend zeugt die Beibehaltung der alten, s-losen Fuge bei Gruppe 2 wahrscheinlich davon, dass bereits im Untersuchungszeitraum fossiliert unparadigmische Fugen auftreten, die Ablösung vom Flexionssystem also schon begonnen hat.

9.3.4 e-Fuge (mit und ohne Umlaut), Umlautfuge und er-Fuge Fugenelemente, die nur mit Pluralformen bzw. alten stammbildenden Elementen übereinstimmen, sind so selten, dass keine prozentuale Auswertung erfolgt. Im Folgenden werden alle Formen zusammengefasst, die das Fugenelement -ehaben (alleine oder in Kombination mit Umlaut) oder deren Erstglied sich durch Umlaut im Wortstamm verändert. Bei zwei Belegen ist zweifelhaft, ob wirklich Umlaut bezeichnet wird (reüchöpffer, Fueßstapffen).198 Zwei Typen gehen auf das stammbildende Element zurück (Hertzeleid, Tagelöhner). In den übrigen Fällen stimmt das Erstglied formal mit der (apokopierten) Pluralform überein. Ein Sonderfall ist Lüfftenspringer mit Umlaut und -en-. Hier entsteht zunächst der Eindruck, die Form gehe auf einen Dativ Plural zurück. Es scheint sich um eine Wortschöpfung von Opitz zu handeln, bei dem sich neben der Erstverwendung des Kompositums (1624) auch die einzige entsprechende Pluralform von Luft findet (DTA, 4.1. || 198 Vgl. Fn. 132, auch zum hier unberücksichtigen Erstglied sprüch-, und Fn. 133 zum hier unberücksichtigten Erstglied stühl-.

228 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900

2018). Sie tritt allerdings in einem Reimbeleg auf. An anderer Stelle nutzt Opitz dagegen den Plural Lüfte.199 Auch die Form des Kompositums selbst kann der gewünschten Ähnlichkeit mit Löwenzwinger geschuldet sein (108).200 (108)

Nacht-läuffer/ Hüffte-sohn/ Hochschreyer/ Lüfftenspringer/ Gut-geber/ Liebes-freünd/ Haupt-brecher/ Löwen-zwingerz

Tab. 41: Token- und Typenfrequenzen der e-Fugen im Mainzer Korpus.

Tokens

Typen

e | UL-e | UL

e | UL -e | UL

1500

0|0|1

0|0|1

stülgēge

1530

1|0|3

1|0|3

hertzeleid | reüchöpffer, dermgegicht, beyfüß safft

1560

0

0

1590

1|1|6

1|1|6

Pferdehaar | Kühe galle | Städtmeister, Seubrot, Pfründheuser, Füßküsser, Brüderhoff, Böckbüchsen

1620

0|1|2

0|1|2

Böckeblut | Läußkraut, Fueßstapffen

1650

2|1|1

2|1|1

Schweinefleisch, Hertzeleid | küheschwäntzen | Zähnknirschen

1680

7|1|3

3|1|3

Versemachen, Tagelöhner (4x), Hertzeleid (2x) | Hände=ringen | Zäunwerck, Säuhirten, Mäußköpff | [Lüfftenspringer]

Bei Füßküsser, Zähnknirschen, Versemachen und Hände=Ringen liegen Rektionskomposita vor, die auf einen semantischen Plural als Objekt zugreifen, das Muster ist auch heute noch produktiv. Ebenso verhält es sich mit Lieder-dichter und Bilder-Verehrung bei der er-Fuge. Auch sie tritt nur selten auf:

|| 199 „Gleich als auch Etna scheußt auß seinen tieffen klüfften / Ein' vngegründte See der flammen in die lüfften“, aber: „Wer will / mag in die Lüffte fliegen / […] Ich lasse mich an dem begnügen […]“ (Opitz, Martin: Teutsche Pöemata und: Aristarchvs Wieder die verachtung Teutscher Sprach. Straßburg, 1624. Via DTA.) 200 Die Passage ist übersetzt aus Daniël Heinsius’ Nederduytsche poemata (1616), sie lautet im Original: „Nachtlooper, heupe-soon, hoochschreeuvver, grooten springer / Goetgever, minnevriendt, hooftbreker, leeuvvendvvinger“.

Mainzer Korpus | 229

Tab. 42: Token- und Typenfrequenzen der er-Fuge im Mainzer Korpus.

Tokens

Typen

1500

0

0

1530

20

1560

2

2 Kindermus, Hünerbrüh

1590

0

0

1620

0

0

1650

2

2 Lieder-dichter, Kindergeburt

1680

4

4 Hüner=Trögen, Kleider=Schäncke, Kinderspiel, Kinder=Mutter

1710

6

4 Länder=Begierde (2x), Ländersucht, Kinderwercken (2x), BilderVerehrung

6 kindertauffs (3x), hüner ey, eyer weyß (6x), eier schalen (4x), eyer klar, eyer dotter (5x)

Semantisch entspricht der Befund der in Kap. 5.2.2 dargestellten älteren Schicht. Abgesehen von den Rektionskomposita – die hier möglicherweise wegbereitend wirken – zeichnen sich bei der e-Fuge noch keine neuen, pluralisch zu lesenden Erstglieder ab.

9.3.5 Nichtverfugung Die Nichtverfugung dominiert im ganzen Untersuchungszeitraum – mit dem Aufkommen des verfugenden Kompositionsmusters verliert sie allerdings anteilig stark: Während um 1500 fast 90% der Typen und Tokens nicht verfugen, sind es 1710 nur noch etwas über die Hälfte.201

|| 201 Die nichtverfugende Gruppe beinhaltet auch Erstglieder, die zwar als substantivisch gewertet wurden, bei denen aber auch ein Verbalstamm möglich wäre (vgl. Kap. 4.10, Kap. 7.2.6.3). Bei den Komposita mit subtraktivem Erstglied sind 47 Tokens mit 17 Erstgliedern betroffen (z.B. Beicht(e), Erb(e), Klag(e), Straf(e)), hier läge bei einer VN-Analyse unverfugter Verbalstamm vor. Bei den übrigen nichtverfugten Komposita finden sich 33 Erstglieder (z.B. Ernte, Ruhe; Schlaf, Streit) bei 91 Tokens, als Verben wären sie schwa- oder unverfugt. Die Fälle machen zusammen 5,9% der nicht-verfugten Tokens aus, die Verhältnisse ändern sich bei einer Berechnung ohne sie kaum.

230 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900

Tab. 43: Token- und Typenfrequenzen des nichtverfugenden Musters im Mainzer Korpus.

-∅-

-x- (subtraktive Nullfuge)

Tokens

Typen

Tokens

Typen

1500

75,4% (193)

75,0% (105)

12,5% (32)

12,1% (17)

1530

75,6% (223)

74,9% (136)

7,1%

(21)

7,7%

1560

78,0% (223)

70,1% (103)

8,0%

(23)

10,9% (16)

1590

65,1% (354)

66,1% (207)

5,7%

(31)

7,0%

(22)

1620

73,6% (412)

60,6% (163)

5,7%

(32)

8,9%

(24)

1650

61,8% (286)

61,3% (195)

10,2% (47)

10,1% (32)

1680

57,4% (394)

53,4% (233)

15,5% (106)

14,0% (61)

1710

42,9% (237)

44,1% (163)

9,2%

8,6%

(51)

(14)

(32)

100% Ø (Token)

Ø (Typen)

x (Token)

x (Typen)

80% 60% 40% 20% 0% 1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

Abb. 47: Visualisierung der Daten aus Tab. 43. Die subtraktive Fuge wird als „x“ notiert.

Tab. 43 führt subtraktive Fugen gesondert auf, das Vorgehen ist, wie bei der sFuge, ahistorisch. Es dient dazu, zu bestimmen, welche und wie viele Substantive das Muster auch nach der Restitution des Schwa-Auslauts bewahrt haben.

Mainzer Korpus | 231

Nichtverfugende Komposita können sowohl auf den idg. Kompositionstyp zurückgehen als auch, bei den Feminina, auf das neue Muster mit genitivischer Basis (vor der Stadt Mauer). Bei den Maskulina und Neutra handelt es sich also zweifelsfrei um den alten Typ, bei den Feminina kann auch der neue vorliegen. Entsprechend zeigt sich in Abb. 48, dass Maskulina und Neutra ab 1650 deutlich Anteile verlieren, und zwar zugunsten der verfugenden Muster. Der Anteil der Feminina schwankt zwar stark, zeigt aber keine Abnahme über die Zeit hinweg. Sie haben also am Rückgang des fugenlosen Musters so gut wie gar nicht teil. Grund dafür ist, dass Nichtverfugung bei den starken Feminina der i- und, vor dem Klassenzusammenfall, der ō-Deklination die einzige paradigmische Option darstellt, sofern Herkunft aus dem Singularparadigma angenommen wird. Unter bestimmten Bedingungen können sie zwar auch unparadigmisch s-verfugen (Kap. 12), es handelt sich jedoch im Untersuchungszeitraum um keine vielgenutzte Alternative. 100%

Maskulina/Neutra

Feminina

80% 60% 40% 20% 0% 1500

1530

1560

1590

1620

1650

1680

1710

Abb. 48: Nichtverfugung nach Erstgliedgenus im Mainzer Korpus.

Treten Feminina der schwachen n-Deklination unverfugt auf, so handelt es sich um apokopierte Formen (z.B. Birn-, Sonn-) oder um Formen mit finaler Reduktionssilbe (Kelter, Mandel, Orgel, Oster, Otter, Tafel), die auch heute noch nicht (-el) bzw. nicht immer (-er) verfugen (vgl. Kap. 4.7). Gegenwartssprachlich weisen Erstglieder mit vollvokalischem Auslaut nie ein Fugenelement auf, das mit dem Genitiv Singular übereinstimmt (Ausnahme: Frau, vgl. Kap. 5.2.2.1). Das ist auch im Mainzer Korpus schon so (Ammeisame, Artzneybüchlein, Bauherr, Bleyfarb, Heumonat, Strohhütte, Viehfutter).

232 | Distribution der Kompositionsmuster 1500–1900

9.3.6 Zusammenfassung Die Fugendistribution im Mainzer Korpus weist einige Abweichungen gegenüber dem Gegenwartsdt. auf. So ist die unparadigmische s-Fuge noch nicht weit verbreitet, sodass der Anteil der s-Fuge insgesamt sehr niedrig liegt. Die (e)nFuge weist bereits weitgehend heutige Verhältnisse auf. Die (e)ns-Fuge hat noch nicht das heutige Niveau erreicht. Dort, wo sie trotz entsprechendem Flexiv nicht auftritt, finden sich Hinweise auf eine Ablösung des Wortbildungsmusters vom Flexionssystem. Fugen, die (nur) mit Pluralformen übereinstimmen, sind sehr selten und weisen, außer in Rektionskomposita, keine systematische Pluralsemantik auf. Die Nichtverfugung macht auch im Fnhd. den größten Anteil an den Kompositionsmustern aus, wobei sie stetig zurückgeht. Auffällig sind hier die Feminina: Durch die Apokope ist die Gruppe der Erstglieder, die ohne Fuge auftreten können, wesentlich größer als heute. Weisen Feminina dagegen ein finales Schwa auf, so greift bereits im Mainzer Korpus der n-Verfugungsmechanismus.

10 Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster Produzieren Sprecherinnen und Sprecher Neubildungen nach einem bestimmten Wortbildungsmuster oder sind dazu prinzipiell in der Lage, so wird es als in dieser Zeit produktiv bezeichnet. Für Komposita stellt die Untersuchung der morphologischen Produktivität eine Herausforderung dar: Viele derivationsmorphologisch wichtige Konzepte (z.B. Outputsemantik, Konkurrenz) können hier nur eingeschränkt angewandt werden; NN-Komposita sind im Gegenwartsdt. so verbreitet, dass eine Produktivitätsermittlung gemeinhin als unnötig betrachtet wird. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, welche spezifischen Besonderheiten die Untersuchung von Kompositionsmustern mit sich bringt, um dann etablierte Frequenz- (Tokens) und Produktivitätsmaße (realisierte und potenzielle Produktivität) auf die Daten des Mainzer Korpus anzuwenden. Auch die diachrone Reduktion von Restriktionen muss in diesem Rahmen berücksichtigt werden. So lassen sich sowohl über die Komposition als Wortbildungsprozess als auch über spezifische Kompositionsmuster (Verfugung vs. Nichtverfugung) wichtige Erkenntnisse gewinnen. Für das Nhd., das nicht im Mittelpunkt der Untersuchung steht, liegen keine geeigneten Daten vor, weshalb zwei Näherungsmethoden erprobt werden: Die Analyse von Schwankungsfällen und von Neubildungen.

10.1 Produktivität von Komposita Komposition wird in Produktivitätsuntersuchungen i.d.R. bei der Behandlung von Derivationsmorphologie „mitgemeint“. So z.B. stellt Bauer (2005: 316) unter der Annahme, dass Komposition ein Teil der Wortbildung (und nicht der Syntax) ist, fest: „[A]ll the discussion here should equally apply to compounds.“ Spezifische Problemstellungen, die Komposita betreffen, bleiben in Ermangelung entsprechender Literatur unerwähnt (Bauer 2005: 316). Für die Derivationsmorphologie wurde Produktivität dagegen mittlerweile ausführlich theoretisch beschrieben und zur korpuslinguistischen Messung operationalisiert (vgl. die Handbuchartikel von Bauer 2005, Baayen 2009). Über die Produktivität eines Wortbildungsmusters bestimmt eine Kombination aus Faktoren, die seinen Input (z.B. Wortart, morphologische Komplexität, native oder fremde Basis, Prosodie, Basisauslaut) und seinen Output (morphologische Komplexität, Prosodie, phonologische Struktur, denotierte Konzepte) betreffen können (vgl. z.B. Scherer 2005 für er-Derivate, allgemein Rainer 2005); https://doi.org/10.1515/9783110517682-010

234 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster

in vielen Fällen lässt sich eine Restriktion sowohl input- als auch outputbezogen formulieren. Formale Restriktionen sind allerdings häufig eine Folge semantischer Beschränkungen und damit ein Epiphänomen – so kann eine vermeintlich morphologische Beschränkung eines Derivationsmusters auf komplexe verbale Basen in Wirklichkeit dadurch bedingt sein, dass nur Verben einer bestimmten Semantik genutzt werden und diese häufig durch Derivation gebildet werden (vgl. z.B. Hartmann 2016: 147–148). Die Komposition ist ein gegenwartssprachlich quantitativ wie qualitativ hochproduktives Muster. Sie unterliegt kaum Restriktionen: Beide Bestandteile können hochgradig derivationell oder kompositionell komplex sein (Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz).202 Die Grenze bildet, ähnlich wie bei der Einbettung in der Syntax, die kognitive Verarbeitbarkeit. Bei Derivationsmustern gibt es nichts Vergleichbares. Meist ist stark eingeschränkt, welche Suffixe in welcher Reihenfolge miteinander kombinierbar sind (Monosuffix Constraint, z.B. Aronoff & Fuhrhop 2002, Eisenberg 2006: 282– 284), ein komplexes Derivat wie Unvereinbarkeit stellt mit vier Derivationsprozessen bereits eine Seltenheit dar. Die Kombination von fremdem und nativem Material ist bei Komposita problemlos möglich (Faketelefon, Unterhaltungsgag). Munske (2009: 227) bezeichnet sie sogar als „das größte Labor der ‚Integration‘ lexikalischer Elemente verschiedener Herkunft in neuen Wortkonstruktionen.“ Die Lautstruktur der beiden Bestandteile spielt keine Rolle für ihre Kombinierbarkeit. Die semantische Relation zwischen Erst- und Zweitglied ist nicht durch das Muster eingeschränkt (abgesehen von ‚hat nichts zu tun mit‘), das spezifische Zweitglied macht lediglich bestimmte Erstglieder plausibler (z.B. Stall die darin lebende Tierart, s. Fn. 216). Meineke (1991: 41) weist darauf hin, dass die Grenzen der Komposition durch ihre Denotate bestimmt werden (auch „sachlogische[…] Kompatibilität“, Meineke 1991: 69): Ein morphologisch und lexikalisch mögliches Kompositum kommt dann nicht zustande, wenn der Begriff vom Sprachträger als unsinnig empfunden wird. Morphologisch ist die

|| 202 Werner (2016: 293) verweist darauf, dass deverbale Zirkumfigierungen vom Typ Geschreie, Gelache nicht als Erstglieder auftreten. Hier dürfte weitgehend Blockierung durch eine morphologisch einfachere, verbale Alternative bestehen (Schreikrampf, Lachanfall). Ähnliche Fälle finden sich bei Eisenberg (2006: 227), der in AN-Komposita derivierte adjektivische Erstglieder vom Typ *Trinkbarwasser ausschließt. Grund dürfte hier nicht die von ihm angenommene Komplexität oder Adjektivsemantik sein, sondern die einfachere VN-Alternative Trinkwasser. Korpusdaten zeigen aber dennoch vereinzelte Bildungen (in der schwalosen Variante), z.B. Geschrei-Dossier (Die Zeit, 06.06.2002), Geschreigeschütz (Brockhaus 1906).

Produktivität von Komposita | 235

Bildung *Küchenziegel nicht weniger ‚korrekt‘ als Dachziegel. Aber die sprachliche Existenzmöglichkeit des erstgenannten Kompositums ist aufgrund des Nichtvorhandenseins der Sache nicht gegeben.

Experimentell wurde allerdings wiederholt nachgewiesen, dass Sprecherinnen und Sprecher dazu bereit sind, auch sehr abwegige Sinnrelationen zu akzeptieren oder einer Neubildung selbst zuzuschreiben (z.B. Günther 1981 für Komposita wie Brückenbrücke, Klos 2011 stellt eine generelle „Existenzpräsupposition“ fest). Komposita stehen außerdem nicht in systematischer Konkurrenz zu anderen Wortbildungsmustern – eine Analyse konkurrierender Muster, wie sie Kempf (2016) für Adjektivsuffixe durchführt, erübrigt sich damit (vereinzelte Benennungsalternativen wie Lehrer – Lehrkraft existieren natürlich dennoch, vgl. auch Wellmann et al. 1975).

Abb. 49: Typenfrequenz von Komposita nach Erst- (1=) und Zweitgliedwortarten (2=) bei Ortner et al. (1991: 37). Blöcke gleicher Farbe gehören zur gleichen Zweitgliedwortart, die Größe jedes Blocks zeigt den relativen Anteil der konkreten Erst- und Zweitgliedwortartkombination (z.B. NN, NA, …). Die unbeschrifteten kleinen weißen Blöcke sind v.l.n.r. die mit den Erstgliedwortarten N/V (217), Rest (168) und V (139).

Unterschiede zeigen sich bei den beteiligten Wortarten, wobei hierzu keine Produktivitätsdaten vorliegen. Bei den Typenfrequenzen der Innsbrucker Forschungsstelle (vgl. Abb. 49) hat der Hauptteil der Komposita ein substantivi-

236 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster

sches Zweitglied, Komposita mit adjektivischem Zweitglied machen einen bedeutend geringeren Anteil aus (16,3% der substantivischen und adjektivischen Komposita). Für weitere Wortarten werden keine Zahlen referiert, es muss sich jedoch um geringe Anteile handeln.203 Bei den Substantivkomposita ist die NNKomposition der häufigste Typ (77,9%) (Ortner et al. 1991: 37–38), bei den Adjektivkomposita ist die Kombination mit substantivischem Erstglied ebenfalls am häufigsten (55,1%), AA-Komposita sind aber auch frequent (38,1%) (PümpelMader et al. 1992: 19). Mit Harlass & Vater (1974) liegt eine Analyse von (potenziellen) Neubildungstypen204 in Zeitungen und Zeitschriften der 1960er-Jahre vor. Neben Wörtern wurden auch feste Wortgruppen erfasst,205 was die Interpretation der Zahlen etwas erschwert. Bleiben sie unberücksichtigt, so sind 83% der erfassten Neubildungen Komposita (Harlass & Vater 1974: 91). Entsprechend konstatieren Harlass & Vater: „Eine Erweiterung des Wortbestandes findet also vor allem durch Komposition statt.“ Dabei dominieren Substantivkomposita deutlich (90%), Adjektivkomposita machen 8% aus, die übrigen Zweitgliedwortarten sind vernachlässigbar (Harlass & Vater 1974: 92). Bei Wellmann et al. (1974: 363) machen Komposita 25% der Typen im „Corpus I“ aus, es wird somit deutlich, dass Komposita auch verglichen mit dem Bestandswortschatz überdurchschnittlich häufig bei Neubildungen auftreten. Die Komposition ist also das häufigste Muster zur Neubildung komplexer Wörter, Komposita mit substantivischem Zweitglied überwiegen bei weitem, das Muster NN hat die größte Typenfrequenz und es bestehen bei NN-Komposita keine morphologischen, phonologischen oder semantischen Restriktionen. Die uneingeschränkte Produktivität der NN-Komposition ist vermutlich der Hauptgrund dafür, dass zu ihrer Produktivität so wenig geforscht wird – es verwundert allerdings, dass andere Bereiche, z.B. die Verbalkomposition, zwar immer wieder als kaum produktiv eingeordnet, jedoch nicht quantitativ analysiert werden. Eine korpusbasierte Produktivitätsbestimmung wurde bisher meines Wissens weder für die Komposition allgemein noch für einzelne Muster durchgeführt.

|| 203 Für die Berechnung der Adjektive wurden partizipiale Zweitglieder ebenfalls miteinbezogen (Zahlen bei Pümpel-Mader et al. 1992: 19), anders als bei Ortner et al. (1991: 37). 204 Als Neubildung gilt hier, was in Wörterbüchern nicht belegt ist oder Konzepte bezeichnet, die es vor 1945 noch nicht gab. 205 Bei den meisten Wortgruppen scheint es sich um Eigennamen wie sowjetische Besatzungszone zu handeln, es sind aber auch andere Nennsyntagmen enthalten. Insgesamt sind 85% davon Nominalphrasen (Harlass & Vater 1974: 92).

Produktivität von Komposita | 237

Besonders, wenn man Fugenelemente mitberücksichtigt, wird der Produktivitätsbegriff für NN-Komposita synchron wie diachron fruchtbar: Das verfugende Kompositionsmuster hat durch die Reanalyse massiv an Material (d.h. andere Fugenelemente als -e-) und Mitgliedern gewonnen und wurde darüber hinaus für neue, nicht direkt aus syntaktischen Konstruktionen hervorgegangene Kombinationen produktiv. In den meisten Untersuchungen zu Fugenelementen werden die Elemente selbst als „produktiv“ und „unproduktiv“ bezeichnet (Fuhrhop 1998: 194–196, Dressler et al. 2001: 191, Kürschner 2003: 45, Nübling & Szczepaniak 2008). Es handelt sich dabei um eine verkürzte Formulierung, in Wirklichkeit ist nicht das Fugenelement produktiv, sondern das Kompositionsmuster, das es beinhaltet: Sprecherinnen und Sprecher bilden neue Komposita aus bestehendem Material, dessen Erstglied oder dessen spezifische Kombination beider Bestandteile eine Verfugung erforderlich macht oder nicht. Eine ähnliche Debatte wird in der Derivationsmorphologie darüber geführt, ob die Basis ihr Affix auswählt oder das Affix seine Basis (Bauer 2005: 319–320) – im Gegensatz zur Derivation ist das Fugenelement allerdings nicht bedeutungs- oder funktionstragend, was die Anwendung des Produktivitätsbegriffs auf das ganze Muster zwingend macht. In den folgenden Untersuchungen wird also zwischen einem Kompositionsmuster mit Fugenelement und einem Muster ohne Fugenelement unterschieden, wobei sich das Muster mit Fugenelement weiter danach differenzieren lässt, mit welchem konkreten phonologischen Material es befüllt wird. Dennoch wird aus Gründen der sprachlichen Kürze gelegentlich metonymisch die Rede davon sein, dass ein Fugenelement produktiv sei. Da die Zunahme verfugter Komposita graduell vor sich geht, ist es unmöglich den Zeitpunkt in ihrer Entwicklung herauszugreifen, ab dem man von Produktivität sprechen kann – wie sich zeigen wird, gibt es jedoch einige markante Entwicklungsstadien. Insbesondere s-verfugenden Komposita wird in der Literatur eine hohe Produktivität zugesprochen. Demske (2001: 299) geht davon aus, dass ihre Produktivität im 16. Jh. schon zunimmt, aber erst im 17. Jh. wirklich bedeutsam ansteigt.206 Eine empirische Untersuchung des Phänomens fehlt

|| 206 Solling (2012) schließt sich dem an und argumentiert mit einem großen Einfluss der lutherschen Bibelübersetzung – so sind hier rund 30% mehr Komposita vorhanden als in anderen Übersetzungen des 15./16. Jh. und es lassen sich in späteren Auflagen Komposita beobachten, wo in früheren noch Genitivkonstruktionen gebraucht wurden. Diese Zahl muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden, sie stammt von Reagan (1981: 119) und beinhaltet neben (verfugenden wie unverfugenden) NN-Komposita auch andere Komposita sowie Derivate und Konversionsprodukte mit (ehemals) verbaler Partikel. Es bleibt außerdem fraglich, ob daraus ein Vorbildcharakter Luthers abgeleitet werden kann, eventuell spiegelt sich hier auch umge-

238 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster

jedoch bisher. Dabei stellt sich die Frage, wann und wie das verfugte Kompositionsmuster produktiv wurde, welche Rolle es für die NN-Komposition spielt und ob verfugte und unverfugte Muster unterschiedlich produktiv waren oder sind. Gegenwartssprachlich ist es von großem Interesse zu zeigen, welche verfugten Typen noch neue Mitglieder aufnehmen, in welchem Umfang das passiert und ob Unterschiede in der Produktivität durch den Erstgliedinput vollständig erklärt werden können.207

10.2 Produktivität und Fugenelemente Im Folgenden soll kurz die Entwicklung verfugter Komposita im Germ. und Ahd. skizziert werden, darauf folgt ein terminologisch ausgerichtetes Teilkapitel zur Bezeichnung von Typen und Tokens.

10.2.1 Entwicklung vor Untersuchungsbeginn: Univerbierung und Inputerweiterung Die wenigsten Daten liegen zur Frühphase verfugter Komposita vor: In vorahd. Zeit sind vornehmlich Bildungen nach dem alten Muster belegt, das erste univerbierte Kompositum ist got. báurgs-waddjus ‚Stadtmauer‘ (Carr 1939: 311). Da der neue Kompositionstyp in mehreren germ. Sprachen bereits früh in Ortsnamen (Kelbiresbach, Pletirsbach) und Pflanzenbezeichnungen auftritt (Grimm 1826: 409), geht Carr davon aus, dass er bereits vor dem got. Erstbeleg üblich geworden war, nicht jedoch im Urgerm. (Carr 1939: 268). Im Ahd. treten Brückenkonstruktionen und Univerbierungen208 von Anfang an auf, wobei sowohl || kehrt ein sich sowieso ausbreitendes Muster und Luthers progressiver Umgang mit Sprache macht dies nur früher sichtbar als andere Texte. 207 Eine Produktivitätsbestimmung nach einzelnen semantischen Grundrelationen könnte ebenfalls interessante Erkenntnisse erbringen. 208 In den meisten Fällen sind Kontext und Schreibung in der Literatur nicht nachgewiesen (und es ist unklar, ob Originalhandschriften bzw. originalgetreue Editionen herangezogen wurden), sodass zahlreiche der als Komposita bezeichneten Konstruktionen eventuell mit dem Wissen über spätere Entwicklungen kategorisiert wurden, Angaben dazu finden sich i.d.R. nicht. Carr (1939: 317) erwähnt für das Engl., dass er eine Reihe getrennt geschriebener Konstruktionen „on account of the isolation of meaning“ als Komposita betrachtet, auch unter den ahd. Belegen finden sich vereinzelt getrennt geschriebene. Gröger (1911: 35) merkt an, dass „die Grenze zwischen Genitivcompositum und syntaktischem Gefüge oft kaum gezogen werden kann“.

Produktivität und Fugenelemente | 239

ihre Konstituenten als auch die Denotate bis ins 11. Jh. vornehmlich der unmittelbaren Lebenswelt entstammen; typischerweise werden so Bezeichnungen für Pflanzen, Wohnstätten, Wochentage, Tageszeiten, Körperteile, Verwandtschaftsverhältnisse, Kleidung und Gerätschaften gebildet (Grimm 1826: 599– 602, Gröger 1911: 40–41, Szczepaniak 2016: 330). Daneben finden sich für fast alle belegten Brückenkonstruktionen bzw. univerbierten Komposita auch Komposita des idg. Typs (Szczepaniak 2016: 331). Ab dem 12. Jh. sind wesentlich mehr Brückenkonstruktionen bzw. Univerbierungen zu finden, die nun auch semantisch nicht mehr eingeschränkt sind (Gröger 1911: 42). Szczepaniak (2016: 331) argumentiert dafür, dass das verfugende Muster in ahd. Zeit bereits wesentlich weiter entwickelt war als gemeinhin angenommen: In many cases, the inflectional vowels in the first part of improper compounds were influenced by the quality of the corresponding linking vowel in proper compounds (Gröger 1911: 35–37). This also strongly suggests that the reanalysis of the improper compounds was very advanced and that they were perceived as units of word formation.

Da die alten Fugenvokale, die aus stammbildenden Elementen stammen, im Ahd. bereits massive lautliche Reduktion und Zusammenfall zeigen (Kap. 2.4.1), fragt sich allerdings, wie datengestützt Grögers Feststellung ist, eine Gegenüberstellung der entsprechenden Belege wäre wünschenswert. Szczepaniak verweist darauf, dass der angenommene Wortbildungsstatus mit der Herausbildung der Artikel teilweise sichtbar werde. Hier gelten jedoch die Einschränkungen für die Rahmenkonstruktionen: Auch ein Artikel mit Zweitgliedbezug vermag keine zweifelsfreie Identifikation zu leisten.

10.2.2 Methodik: Typen und Tokens bei Komposita Die gängigen Methoden zur quantitativen Ermittlung morphologischer Produktivität gehen insbesondere auf Baayen (z.B. 2009) zurück. Die Messgrößen sind dabei Typen, Tokens und Hapax legomena. Während sich Typen in der Derivationsmorphologie leicht ausmachen lassen (z.B. sind Typen des Musters X-lich die Adjektive freundlich, gründlich, weißlich), ergeben sich bei Komposita Komplikationen, sobald Fugenelemente miteinbezogen werden: Das Muster setzt sich nun nicht aus zwei, sondern aus drei Bestandteilen zusammen, die nur teilweise unabhängig voneinander sind. Im Folgenden muss daher zunächst geklärt werden, was Typen und Tokens im Rahmen dieser Untersuchung sind. Schwankt ein Kompositum innerhalb eines Zeitraums oder im Gesamtkorpus im Verfugungsverhalten, so kann es je nach Erkenntnisinteresse als ein oder zwei

240 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster

Typen betrachtet werden. Das Problem wird in der Literatur jedoch gemeinhin nicht erwähnt (die einzige Ausnahme bildet Weidman 1941a, vgl. Kap. 9.1), häufig bleibt daher unklar, wie die gelieferten Zahlen zustandekommen. Im Folgenden schlage ich ein Kategorisierungssystem vor, das alle unterschiedlichen Einteilungen differenziert: Ein Kompositum inklusive seiner spezifischen Fuge wird als „Gesamtfugentyp“ bezeichnet und ein Kompositum, bei dem das Verfugungsverhalten unberücksichtigt bleibt, als „Gesamt(kompositums)typ“. So machen die fünf in Tab. 44 oben angegebenen Belege vier Gesamtfugentypen, aber nur drei Gesamttypen aus. In beiden Fällen ist es herausfordernd, Schwankungsfällen gerecht zu werden: Nutzt man den Gesamttyp, so lassen sie sich gar nicht erfassen; beim Gesamtfugentyp erhält das entsprechende Kompositum dagegen ein größeres Gewicht in den Daten als ein Gesamttyp, der nicht schwankt, weil es zweimal gezählt wird. Tab. 44: Definition verschiedener Typen bei Komposita.

Bezeichnung

Definition

Amt-s-stube, Amt-s-stube, Amt-∅stube, Amt-∅-mann, Ämt-ermissbrauch = [Anzahl]

Token

jedes auftretende Kompositum

5

(Amt-s-stube, Amt-s-stube, Amt-∅stube, Amt-∅-mann, Ämt-ermissbrauch)

Gesamttyp

jedes Kompositum mit identischem N1 und N2, Fuge unberücksichtigt

3

(Amt-…-stube, Amt-…-mann, Amt…-missbrauch)

Gesamtfugentyp

jedes Kompositum mit identischem N1 und N2 und identischer Fuge

4

(Amt-s-stube, Amt-∅-stube, Amt∅-mann, Ämt-er-missbrauch)

Erstgliedtyp

jedes Kompositum mit identischem Erstglied

1

(Amt-)

Kompositionsstammformtyp

jedes Kompositum mit identischem Erstglied und identischer Fuge

3

(Amt-s, Amt-∅, Ämt-er-)

Um beiden Problemen gerecht zu werden, wäre es denkbar, die Ebenen miteinander zu verrechnen, z.B. so wie Weidman (1941a), oder noch feiner, nach dem genauen prozentualen Anteil der verfugten Muster. Letztlich wurde auf eine

Tokens | 241

solche Berechnung allerdings aus zwei Gründen verzichtet: Zum einen treten insgesamt nicht sehr viele Schwankungsfälle auf, sodass sich die zum anderen sehr aufwändige Berechnung kaum lohnt. Insbesondere für die Produktivitätsmaße muss schließlich sowieso mit ganzen Zahlen gerechnet werden. Ein Typ kann jedoch nicht nur ein Kompositum sein, das zwei gleiche Substantive beinhaltet: Mitunter ist es sinnvoll, „Erstgliedtypen“ zu ermitteln, d.h. alle Komposita mit demselben Erstglied zu einem Typ zusammenzufassen, z.B. um zu ermitteln, ob ein verfugendes Muster noch neue Erstglieder aufnimmt. Auch hier muss eine Unterscheidung danach getroffen werden, ob die Fuge miteinbezogen wird oder nicht: Bleibt sie unberücksichtigt, so spreche ich im Folgenden von „Erstgliedtypen“, geht sie mit ein, so wähle ich „Kompositionsstammformtyp“ (nach Fuhrhop 1998). Ein weiteres methodisches Problem stellt die Verschachtelung von Komposita innerhalb von Wortbildungsprodukten dar (vgl. auch Plag 1999: 29). Fälle, in denen ein Kompositum als Derivationsbasis dient (landesfürst-lich), werden ausgeschlossen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass in Derivaten enthaltene Komposita meist ältere, stark lexikalisierte oder zumindest usualisierte Bildungen enthalten sind (das stellt auch Hartmann 2016: 160 für ung-Derivate als Kompositionserstglieder fest). Bei Trikomposita (Landesfürsten-hof) werden dagegen beide Kompositionsebenen getrennt berücksichtigt. (So verfahren z.B. auch Donalies & Bubenhofer 2011 in ihrer „Schnittstellenanalyse“.) Zuletzt kommt die Frage hinzu, was als Kompositum analysiert werden darf. Schränkt man sich auf „echte“ Komposita ein und lässt ihre syntaktischen Vorformen, insbesondere die Rahmenkonstruktionen, unberücksichtigt, so besteht die Gefahr, bei der Anwendung von Produktivitätsmaßen letztlich nur die zunehmende Zusammenschreibung zu messen. Aus diesem Grund wurden einige Analysen doppelt durchgeführt: Zunächst nur für eindeutige Komposita, dann für eindeutige Komposita und Rahmenkonstruktionen, als den kompositumsähnlichsten Brückenkonstruktionen, zusammen. Das ermöglicht auch einen besseren Vergleich mit anderen Studien, die Rahmenkonstruktionen häufig als Komposita betrachten (s. Kap. 7.2.1). Für beide Gruppen mussten also Typen und Hapaxe getrennt bestimmt werden.

10.3 Tokens Die Tokenfrequenz liefert nur Informationen darüber, wie häufig existierende Komposita gebraucht werden. Entsprechend ist hier viel historischer „Ballast“ enthalten und einzelne Lexeme können das Bild stark prägen. (Letzteres scheint in den vorliegenden Daten allerdings nicht der Fall zu sein, die 28 tokenstärks-

242 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster

ten Gesamttypen machen gerade einmal 17,7% aller Tokens aus.) Dennoch ist sie von Interesse, zeigt sie doch, auf welches Inventar Sprecherinnen und Sprecher für analogische Neubildungen zurückgreifen können. Im Mainzer Korpus sind die Verfugungsanteile nach Tokens zu Beginn äußerst gering: Alle Fugen zusammen machen 1500 nur 12,1% aus (vgl. Abb. 50, linke Seite), also nur etwas mehr als die Hälfte des Anteils bei Pavlov (1983) (s. Kap. 9.2). Um 1590 nehmen verfugte Komposita leicht zu und wahren länger Anteile um die 20%, 1710 lässt sich ein erneuter Sprung auf 48% Verfugung beobachten, womit die – schon allein aufgrund der unterschiedlichen Textsorten nur bedingt vergleichbaren – gegenwartssprachlichen Tokenwerte von Donalies & Bubenhofer (2011) weit übertroffen werden. Die Diskrepanz zu Pavlov erklärt sich aus den hier nicht einbezogenen Brückenkonstruktionen: Rechts in Abb. 50 ist zu sehen, dass sie sehr häufig ein Flexiv bzw. Fugenelement aufweisen, denn sie sind ja nicht von Genitivkonstruktionen unterscheidbar. Dabei zeigen sich lediglich unsystematische Schwankungen, eine Entwicklung ist nicht erkennbar.209 Eine gemeinsame Berechnung beider Gruppen ergäbe für 1500 einen Verfugungsanteil von 40,6% (d.h. 7 Prozentpunkte über Pavlovs Werten). Außerdem bleibt der Anteil verfugender Komposita auf ungefähr gleichem Niveau anstatt, wie bei der Berechnung für eindeutige Komposita, zuzunehmen. Das spricht dafür, dass es sich bei der zunächst beschriebenen Entwicklung stark um einen Effekt der zunehmenden Zusammenschreibung handelt, die eine Disambiguierung ermöglicht. Berücksichtigt man statt relativer absolute Werte, so fällt der deutliche Anstieg aller Typen ab 1590 auf – selbst wenn verfugte Komposita (bei gemeinsamer Analyse mit den Brückenkonstruktionen) im Verhältnis zu unverfugten nicht zunehmen sollten, so nimmt doch die Komposition generell zu. Alle Typen erhöhen ihre Tokenzahlen und damit ihre Präsenz im Sprachgebrauch. Damit lässt sich festhalten, dass den Sprecherinnen und Sprechern im ganzen Untersuchungszeitraum eine verhältnismäßig große Tokenmenge verfugter Komposita bzw. Brückenkonstruktionen zur Verfügung steht – je nach Berechnung hat sie einen unterschiedlichen Anteil, übersteigt aber zumindest 1710 die eingangs referierten Werte für gegenwartssprachliche Tokens klar. Ob der verfugende Tokenanteil zunimmt, ist zwar nicht bestimmbar, aber schon sein deutliches Vorhandensein und die absolute Zunahme der Tokens verankert das verfugende Muster kognitiv und ermöglicht daraus abgeleitete Generalisierungen.

|| 209 Die Brückenkonstruktionen zeigen damit erwartbarerweise weitgehend gleiches Verhalten wie die pränominalen Genitive, vgl. Anhang Kap. 16.2.11.

Realisierte Produktivität | 243

100% 80% 60% 40% 20% 0%

1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710 1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710 Komposita

0

Brücke

225 244 246 386 444 333 500 288

19

69

26

14

13

23

16

6

Sonstige

1

24

2

10

7

8

25

22

1

8

2

4

2

12

4

(e)n

16

25

20

57

40

49

63

90

54

74

30

34

26

17

6

7

(e)s

14

1

18

90

69

73

98

153

81

63

26

76

56

51

35

14

Abb. 50: Verfugungsanteile nach Tokens im Mainzer Korpus für Komposita (n=3.645) und Brückenkonstruktionen (n=874).

10.4 Realisierte Produktivität 10.4.1 Generelle Überlegungen Während die Tokenfrequenz den sprachlichen In- und Output gleichermaßen erfasst, versuchen Produktivitätsmaße fassbar zu machen, wie viele Neubildungen ein Muster hervorgebracht hat oder hervorbringen kann. Die realisierte Produktivität eines Wortbildungsmusters ist seine Typenfrequenz: Bei einer großen Anzahl von Typen war das Muster in der Vergangenheit sehr produktiv und die entstandenen Wortbildungsprodukte konnten sich bis zum Untersuchungszeitpunkt halten (Baayen 2009: 901–902). Das Maß vermittelt eine Vorstellung davon, welcher Bandbreite verschiedener Bildungen Sprecherinnen und Sprecher zum Untersuchungszeitpunkt ausgesetzt sind. Über die aktuelle Produktivität des Musters sagt es zwar alleine nichts aus, eine diachrone Veränderung der Typenanzahl kann allerdings darauf verweisen, zu welchem Zeitpunkt Produktivitätsveränderungen anzusetzen sind. Die Typenmenge kann aber auch nur wenig oder gar keine diachrone Veränderung zeigen, obwohl ein Muster mehr Neubildungen produziert. Das zeigen

244 | Produktivität verfugender und nichtverfugender Kompositionsmuster

Flach et al. (2018) am Konfix -gate: Die onymischen Konfixkomposita werden permanent neu gebildet, und zwar umso häufiger, je weiter die semantische Verschiebung zu Skandalen von geringer gesellschaftlicher Relevanz voranschreitet, da dadurch die Menge möglicher Referenten steigt. Je irrelevanter das bezeichnete Ereignis, desto schneller gerät seine Bezeichnung jedoch auch wieder in Vergessenheit, die steigende Zahl der Neubildungen schlägt sich also nicht dauerhaft nieder. Die realisierte Produktivität kann also insbesondere in diachronen Korpora wichtige Anhaltspunkte liefern, wenn man bereits generelle Eigenschaften des untersuchten Wortbildungsmusters kennt, und sie wurde bereits implizit bei der Analyse der einzelnen Fugenelemente im vorherigen Kapitel eingesetzt.

10.4.2 Korpusbefund Für die realisierte Produktivität wurde bei jedem Muster die Anzahl der Typen pro Zeitraum ermittelt. Komposita, die in einem Zeitraum mehrfach auftreten, gehen also nur als ein Typ ein; Komposita, die in mehreren Zeiträumen auftreten, gehen in jedem Zeitraum einmal ein. Tritt ein Kompositum mit und ohne Fugenelement auf, so wird es für beide Gruppen je einmal gezählt (vgl. 10.2.2). Visuell scheinen die drei Haupttypen, (e)s-, (e)n- und Nullfuge, zuzunehmen (Abb. 51, links), die Zunahme ist jedoch nur für die verfugenden Muster statistisch hochsignifikant (jeweils τ=0,929; T=27; p