Haben und Nichthaben: Eine kurze Geschichte der Ungleichheit 3806234795, 9783806234794

Alle reden von Ungleichheit, seitdem der Mittelstand schrumpft und die Schere zwischen Arm und Reich größer wird. Doch s

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German Pages 264 [266] Year 2017

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Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Essay 1: Ungleiche Menschen
Ungleichheit zwischen den Einwohnern eines Landes
Skizze 1.1 Romantik und Reichtümer
Skizze 1.2 Anna Wronskaja?
Skizze 1.3 Wer war der reichste Mensch aller Zeiten?
Skizze 1.4 Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich?
Skizze 1.5 War der Sozialismus egalitär?
Skizze 1.6 In welchem Pariser Arrondissement hätte man im 13. Jahrhundert leben sollen – und in welchem sollte man heute leben?
Skizze 1.7 Wer gewinnt durch die staatliche Umverteilung?
Skizze 1.8 Können mehrere Staaten in einem existieren?
Skizze 1.9 Wird China das Jahr 2048 erleben?
Skizze 1.10 Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets
Essay II: Ungleiche Länder
Ungleichheit zwischen den Ländern der Welt
Skizze 2.1 Warum irrte sich Marx?
Skizze 2.2 Wie groß ist die Ungleichheit in der heutigen Welt?
Skizze 2.3 Wie viel von unserem Einkommen hängt davon ab, wo wir geboren werden?
Skizze 2.4 Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen?
Skizze 2.5 Wer sind die Harraga?
Skizze 2.6 Drei Generationen von Obamas
Skizze 2.7 Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welt vergrößert?
Essay III: Die ungleiche Welt
Ungleichheit zwischen den Bürgern der Welt
Skizze 3.1 Und wo ist Ihr Platz in der globalen Einkommensverteilung?
Skizze 3.2 Gibt es eine globale Mittelschicht?
Skizze 3.3 Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union?
Skizze 3.4 Warum sind Asien und Lateinamerika Spiegelbilder voneinander?
Skizze 3.5 Wollen Sie schon vor dem Anpfiff wissen, wer als Sieger vom Platz gehen wird?
Skizze 3.6 Einkommensungleichheit und die globale Finanzkrise
Skizze 3.7 Holten die Kolonialherren so viel aus den Kolonien heraus wie sie konnten?
Skizze 3.8 Warum war Rawls gleichgültig gegenüber der globalen Ungleichheit?
Skizze 3.9 Die Geopolitik im Licht der Ökonomie (oder: Eine ökonomisch aufgeklärte Geopolitik)
Anmerkungen
Weiterführende Lektüre
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Haben und Nichthaben: Eine kurze Geschichte der Ungleichheit
 3806234795, 9783806234794

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Branko Milanovic

Haben und Nichthaben Eine kurze Geschichte der Ungleichheit

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

THEISS

Für die englischsprachige Ausgabe Die Originalausgabe erschien zuerst 2011 bei Basic Books. Published by Basic Books, A Member of ehe Perseus Books Group Copyright© 2011 by Branko Milanovic Für das neue Vorwort© 2016 by Branko Milanovic Für die deutschsprachige Ausgabe Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Übersetzung: Stephan Gebauer Lektorat: Cana Nurcsch Satz: Satz & mehr, Besigheim Einbandgestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Interner: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3479-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3523-4 eBook (epub): 978-3-8062-3524-l

Für N. und G.

„Die Bestimmung der Gesetzmäßigkeiten dieser Verteilung [auf Löhne, Profite und wirtschaftliche Renten] ist das vorrangige Problem der politischen Ökonomie." David Ricardo, Grundsätze der politischen Ökonomie (1817) ,,Die verführerischste und [ ...] schädlichste unter all den Tenden­ zen, die einer vernünftigen Wirtschaftspolitik schaden, besteht darin, sich auf die Verteilungsfragen zu konzentrieren." Robert E. Lucas, ,,Tue lndustrial Revolution: Past and Future" (2004)

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe Essay 1: Ungleiche Menschen ...................... Ungleichheit zwischen den Einwohnern eines Landes ....... Skizze 1.1 Romantik und Reichtümer ................ Skizze 1.2 Anna Wronskaja? ........................ Skizze 1.3 Wer war der reichste Mensch aller Zeiten? ..... Skizze 1.4 Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich? ...................................... Skizze 1.5 War der Sozialismus egalitär? ............... Skizze 1.6 In welchem Pariser Arrondissement hätte man im 13. Jahrhundert leben sollen - und in welchem sollte man heute leben? ......................... Skizze 1.7 Wer gewinnt durch die staatliche Umverteilung? ................................ Skizze 1.8 Können mehrere Staaten in einem existieren? ... Skizze 1.9 Wird China das Jahr 20 4 8 erleben? .......... Skizze 1.10 Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets ................ Essay II: Ungleiche Länder ........................ Ungleichheit zwischen den Ländern der Welt ............. Skizze 2.1 Warum irrte sich Marx? ................... Skizze 2.2 Wie groß ist die Ungleichheit in der heutigen Welt? ....................................... Skizze 2.3 Wie viel von unserem Einkommen hängt davon ab, wo wir geboren werden? ................. Skizze 2.4 Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen? ......................... Skizze 2.5 Wer sind die Harraga? ....................

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Inhalt

Skizze 2.6 Drei Generationen von Obamas ............ 145 Skizze 2.7 Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welt vergrößert? .......................... 150 Essay III: Die ungleiche Welt ...................... 157 Ungleichheit zwischen den Bürgern der Welt ............. 157 Skizze 3.1 Und wo ist Ihr Platz in der globalen Einkommensverteilung? ......................... 1 7 3 Skizze 3.2 Gibt es eine globale Mittelschicht? ........... 1 79 Skizze 3.3 Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union? ...................... 1 84 Skizze 3.4 Warum sind Asien und Lateinamerika Spiegelbilder voneinander? ....................... 190 Skizze 3.5 Wollen Sie schon vor dem Anpfiff wissen, wer als Sieger vom Platz gehen wird? ............... 195 Skizze 3.6 Einkommensungleichheit und die globale Finanzkrise ................................... 201 Skizze 3.7 Holten die Kolonialherren so viel aus den Kolonien heraus wie sie konnten? .............. 20 6 Skizze 3.8 Warum war Rawls gleichgültig gegenüber der globalen Ungleichheit? ....................... 211 Skizze 3.9 Die Geopolitik im Licht der Ökonomie (oder: Eine ökonomisch aufgeklärte Geopolitik) 21 6 Anmerkungen .................................. 2 25 Weiterführende Lektüre

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Index ......................................... 253

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

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ieses Buch hat drei Teile, die jeweils einer der drei Arten von Ungleichheit gewidmet sind. Alle sind sie Facetten der Un­ gleichheit in der Welt, aber jede Art ist auch für sich genommen relevant. Im ersten Teil beschäftige ich mich mit der Einkommens­ ungleichheit zwischen Menschen, die im selben Land leben. Dies ist offenkundig eine Art von Ungleichheit, mit der die meisten von uns auf Anhieb etwas anfangen können. Sodann gibt es die Un­ gleichheit zwischen den Durchschnittseinkommen verschiedener Länder. Auch diese ist leicht zu verstehen, wenn wir die Lebens­ standards in reichen und armen Ländern vergleichen. Und drittens gibt es die Einkommensungleichheit zwischen allen Bewohnern der Erde. Diese wird als „globale Ungleichheit" bezeichnet. Die drei Teile des Buchs sind ähnlich aufgebaut. Am Anfang steht jeweils ein Essay, der den Leser in das Thema des Abschnitts einführt. Es folgt eine Reihe von Skizzen, in denen die Zusam­ menhänge verständlicher erklärt und mit dem alltäglichen Leben verknüpft werden. Zum Beispiel werden wir uns in diesen Skizzen ansehen, wie die Ungleichheit im europäischen Roman des 19. Jahrhunderts (Jane Austens Stolz und Vorurteil und Tolstois Anna Karenina) behandelt wurde. Wir stellen die Frage, wer wohl der reichste Mensch aller Zeiten gewesen sein mag, und untersuchen, wie groß die Ungleichheit in der Europäischen Union ist und ob sie dem Wachstum der Union natürliche Grenzen setzt. Weitere Themen sind die Ungleichheit im römischen Kaiserreich und un­ ter dem Kommunismus, die Gefahr, die von der Einkommensun­ gleichheit für die Einheit Chinas ausgeht usw. Jede Skizze kann für sich gelesen werden. Der Leser kann sich an die Ordnung des Buchs halten oder die Skizzen abhängig von seinen spezifischen Interessen auswählen. Es macht keinen großen Unterschied, wel­ chen Zugang man wählt.

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Obwohl sich die drei Möglichkeiten, die Ungleichheit zu be­ trachten, konzeptuell voneinander unterscheiden, und obwohl auch in diesem Buch oft auf diese Unterscheidung zurückgegrif­ fen wird, müssen wir auch begreifen, dass sie zusammenhängen und dass diese drei Sphären nicht strikt voneinander getrennt wer­ den können und sollen. Lassen sie mich diese wechselseitige Ab­ hängigkeit der drei Arten von Ungleichheit anhand einiger Bei­ spiele erläutern, die viele Menschen - insbesondere in Ländern wie Deutschland - heute beschäftigen. Die globale Ungleichheit, das heißt die Ungleichheit zwischen den Einkommen aller Menschen auf der Erde, ist in jüngster Zeit zum ersten Mal seit wir sie messen können, das heißt seit der in­ dustriellen Revolution, geringer geworden. Der Grund für diese bemerkenswerte Entwicklung ist ein in der Geschichte beispiello­ ser Anstieg der Einkommen von rund 1,3 Millionen Menschen in China. In den letzten Jahren hat ein kräftiges Wirtschaftswachs­ tum auch in Indien, Vietnam und Indonesien Millionen Men­ schen aus der Armut befreit und zur Verringerung der globalen Einkommensungleichheit beigetragen. Wir können diese Ent­ wicklung verstehen, indem wir uns vorstellen, dass die Ungleich­ heit geringer geworden ist, weil die Einkommen vieler sehr armer Menschen gewachsen sind, was ihnen den Aufstieg in die „globa­ le Mittelschicht" ermöglicht hat. Dieser Erfolg Asiens kann im Wesentlichen auf die Globalisierung zurückgeführt werden, das heißt auf den Freihandel und eine größere Bewegungsfreiheit für Kapital, Technologie und Ideen. Aber diese positiven Entwicklungen (geringe globale Ungleich­ heit, Freizügigkeit von Kapital und Gütern) haben auch eine Schattenseite oder führen zu weniger ermutigenden Entwicklun­ gen. Die Verringerung der Armut und Ungleichheit in der Welt infolge des Wachstums der armen und bevölkerungsreichen Län­ der Asiens ging mit einem geringeren Wachstum und zunehmen­ der Ungleichheit in den reichen Ländern einher. Zudem wurde die Ungleichheit auch in den wirtschaftlich aufstrebenden Län­ dern - in China, Indien, Vietnam usw. - größer. In einigen Fällen, 10

Vorwort zur deutschen Ausgabe

so zum Beispiel in China, nahm die Ungleichheit um mehr als das Doppelte zu. Die Verringerung der globalen Ungleichheit vergrößert also die Kluft zwischen den durchschnittlichen Wachstumsraten Asi­ ens und der reichen Welt und erhöht sowohl in der reichen Welt als auch in Asien die Ungleichheit innerhalb der Länder. Daher ist es technisch durchaus möglich, dass die Ungleichheit in praktisch allen Ländern zunimmt, während die globale Ungleichheit gerin­ ger wird - und in der gegenwärtigen Globalisierungsphase ist das tatsächlich geschehen. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass diese beiden Resultate - abnehmende Ungleichheit in der Welt und zunehmende Ungleichheit in den einzelnen Ländern das Ergebnis desselben Globalisierungsprozesses ist: Die Globali­ sierung ermöglicht den armen Ländern ein rascheres Wachstum als den reichen, vergrößert gleichzeitig jedoch die Einkommens­ kluft zwischen den Angehörigen ein und derselben Gesellschaft. Der zweite Effekt kann größeren Eindruck auf die Einwohner eines Landes machen, selbst wenn das erste Resultat für die Welt als ganze und für das Wohlergehen der Menschheit wichtiger sein dürfte. Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Globalisierung, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Die Globalisierung führt defini­ tionsgemäß zur leichteren und letzten Endes ungehinderten Be­ wegung von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Technologie und Ideen zwischen verschiedenen Weltregionen. Eine Welt ohne Grenzen ist das eigentliche Ziel der Globalisierung. Aber es gibt einen Produktionsfaktor, der sehr viel weniger mobil ist. Gemeint ist die Arbeit. Während fast 40 Prozent des globalen Finanzver­ mögens in den Ländern der Welt in ausländischer Hand sind, le­ ben nicht einmal 4 Prozent der Weltbevölkerung an einem Ort außerhalb ihres Geburtslands. Bei diesem Aspekt der Globalisie­ rung beobachten wir in jüngster Zeit eine Veränderung: Die Zahl der Migranten und Flüchtlinge ist deutlich gestiegen. Wir müssen jedoch begreifen, dass der Migrationsdruck, den Europa in diesen Tagen spürt, das Ergebnis der gewaltigen Unter11

Vorwort zur deutschen Ausgabe

schiede zwischen den Durchschnittseinkommen der verschiede­ nen Länder (eine unserer drei Arten von Ungleichheit) und ein Produkt der Globalisierung selbst ist, hat sie doch den Bevölke­ rungen der armen Länder deutlich vor Augen geführt, wie groß diese Einkommensunterschiede sind, und gleichzeitig die Bewe­ gung der Menschen von einem Land ins andere erleichtert und verbilligt. Da die Angleichung der sehr unterschiedlichen Ein­ kommen selbst dann, wenn die armen Länder auch in Zukunft schneller wachsen als die reichen, mindestens fünf bis sechs Gene­ rationen dauern wird, ist der Migrationsdruck auf Europa kein einmaliges Phänomen: Er wird mindestens ein Jahrhundert anhal­ ten. Er ist Teil der Struktur der heutigen Weltwirtschaft: Große Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder gehen mit einer erleichterten (wenn auch nicht unbedingt lega­ len) Bewegung von Land zu Land einher. Wenn wir verstehen, dass die Migration ein dauerhaftes Phänomen ist, können wir leichter Konzepte entwickeln, die dem Ideal einer grenzenlosen Welt entsprechen (welches ein impliziter Bestandteil der Globali­ sierung ist) und gleichzeitig auf die Sorgen der einheimischen Be­ völkerung eingehen und die Migration politisch möglich machen. Deutschland erlebt möglicherweise einen entscheidenden Mo­ ment in seiner Geschichte, in dem die Herausforderungen der Bewegungsfreiheit von Kapital und Arbeit in Europa durch zwei zusätzliche Herausforderungen ergänzt werden. Da ist zunächst die Herausforderung der ungehinderten weltweiten Kapitalbewe­ gungen, die den deutschen Unternehmen die Möglichkeit eröff­ net, billiger zu produzieren, indem sie ausländische Arbeitskräfte (und damit keine deutschen Arbeitskräfte) beschäftigen, und den Bürgern die Möglichkeit gibt, die Bewegungsfreiheit des Kapitals zu nutzen, um keine Steuern zu zahlen. Sodann ist das Land mit der Herausforderung der Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU konfrontiert, die ein Ergebnis der großen Einkommens­ unterschiede ist. Die Globalisierung, die der Menschheit als gan­ zer nutzt, erzeugt auf diese Art erhebliche Spannungen innerhalb der einzelnen Gesellschaften. 12

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich hoffe, dass der Leser das Buch und insbesondere die Skiz­ zen interessant und unterhaltsam finden wird. Und ich hoffe, die­ ses Buch wird dem Leser dabei helfen, die Welt und die Zeit, in der wir leben, in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten: Wir leben weder in einem goldenen Zeitalcer in einer „einzigen" ver­ netzten Welt noch an einem düsteren Ort, der kurz davor steht, in einem weiteren dunklen Zeitalter der gesellschaftlichen und nationalen Spaltung zu versinken. Branko Milanovic In New York, 23. September 2016

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ESSAY I

Ungleiche Menschen Ungleichheit zwischen den Einwohnern eines Landes

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is zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Einkommens­ ungleichheit zwischen Personen als Bestandteil der funktio­ nalen Verteilung des Nationaleinkommens betrachtet: Man sah sich an, wie das Gesamteinkommen zwischen den großen sozialen Schichten (Arbeiter und Kapitalisten) verteilt war. 1 V iele Ökono­ men betrachteten dies als das zentrale Thema ihres Forschungsge­ biets. Im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts schien die Gesell­ schaft normalerweise in mehrere klar voneinander abgegrenzte soziale Schichten unterteilt: Da waren die Arbeiter, die ihre Ar­ beitskraft verkauften, um sich einen Lohn zu verdienen, und nor­ malerweise relativ arm waren. Sodann gab es die Kapitalisten, die das Kapital besaßen und Profit damit erzielten, weshalb sie relativ reich waren. Und es gab die Grundbesitzer, die mit dem Boden wirtschaftliche Renten erzielten, weshalb sie ebenfalls reich waren. Es wurde angenommen, dass die Verteilung der Einkommen un­ ter diesen drei Klassen entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung einer Gesellschaft haben würde. Der englische Öko­ nom David Ricardo, der zu den Vätern der Disziplin der politi­ schen Ökonomie zählt, glaubte, der Einkommensanteil der Grundbesitzer werde stetig steigen, da für die wachsende Bevölke­ rung mehr Nahrung gebraucht würde, weshalb auch weniger fruchtbarer Boden für den Ackerbau genutzt werden würde folglich würden die Grundrenten steigen. Die Preise von „Lohn­ gütern" (Nahrungsmitteln) und die wirtschaftlichen Renten wür­ den explosionsartig steigen. Als Endergebnis erwartete Ricardo

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Essay I

einen stationären Zustand, in dem angesichts der steigenden Nah­ rungsmittelpreise und Grundrenten die Profite so gering ausfallen würden, dass es kaum Anreize zum Sparen und Investieren geben würde.2 Karl Marx sah eine größere Mechanisierung, die sich in einem steigenden Kapitalwert pro Arbeiter ausdrückte, was zu schrumpfenden Kapitalerträgen und zu einer langfristig gegen null sinkenden Profitrate führen würde - was die Investitionen ebenfalls abwürgen musste. Die Betrachtung der Einkommensverteilung durch das Prisma der Gesellschaftsschichten änderte sich kaum, als die Wirtschafts­ theoretiker um das Jahr 1870 einen Richtungswechsel vollzogen und die klassische politische Ökonomie in der „Marginalistischen Revolution" durch die Grenznutzentheorie ersetzten: Von nun an galt das Augenmerk nicht mehr der allgemeinen wirtschaftlichen Evolution der verschiedenen Gesellschaftsschichten, sondern der Maximierung des individuellen Nutzens. Und an dieser Betrach­ tungsweise änderte sich auch nichts, als die beiden Denkschulen (die klassische und die Grenznutzenschule) unter der Bezeich­ nung „neoklassische marshallsche Ökonomie" (benannt nach dem Cambridge-Ökonomen Alfred Marshall) zusammengeführt wurden: Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts weckte die Vertei­ lung des Einkommens zwischen den Personen (nicht zwischen Klassen) das Interesse V ilfredo Paretos, eines französisch-italieni­ schen Ökonomen, der an der Universität Lausanne unterrichtete. (Sein Beitrag ist Thema der Skizze 1.10.) Etwa zur selben Zeit wurden auch erstmals Daten zur Vertei­ lung der persönlichen Einkommen zugänglich. Die Bereitstellung dieser Daten ging Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Ent­ wicklung (mit dem wachsenden Wohlstand der Länder) und mit den zunehmenden steuerlichen Eingriffen des Staates. Die ersten statistischen Informationen über die Einkommensverteilung wur­ den gesammelt, weil die Staaten versuchten, die direkten Steuern „fairer" - das heißt dem Einkommen entsprechend- einzuheben und die Steuereinnahmen insgesamt zu erhöhen, weil sie Geld für die öffentliche Bildung, für Arbeitsunfähigkeitsrenten und vor

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Ungleiche Menschen

allem für den Krieg brauchten. Bedeutsam war auch die ideologi­ sche Umwälzung, die mit dem Grundsatz einherging, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein mussten, was bedeutete, dass die Reichen aufgrund ihres größeren Wohlstands und Ein­ kommens mehr beitragen mussten. Die Steuern mussten enger an das Einkommen gekoppelt werden, und um das zu bewerkstelli­ gen, brauchten die staatlichen Behörden bessere Informationen über die Einkommen und deren Verteilung unter den Haushal­ ten. Daher überrascht es nicht, dass die Daten, die Pareto auswer­ tete, um sich ein Bild von der Verteilung der persönlichen Ein­ kommen zu machen, allesamt aus europäischen Steuerakten aus dem späten 19. Jahrhundert stammten. Dies war die Geburts­ stunde unseres Themas. Die Ökonomen und Sozialwissenschaftler befassen sich mit drei Aspekten der Ungleichheit. Erstens fragen sie, wie die Ungleichheit zwischen den Menschen in einem Land entsteht. Gibt es regelmä­ ßige Prozesse, die bewirken, dass sich die Ungleichheit auf eine be­ stimmte Art verhält, wenn sich eine Gesellschaft entwickelt? Nimmt die Ungleichheit zu, wenn die Wirtschaft wächst - ist sie pro- oder antizyklisch? Diese Fragen behandeln die Ungleichheit als etwas, das erklärt werden sollte. Sie ist eine abhängige Variable. Bei der zweiten Art von Fragen ist die Ungleichheit eine Varia­ ble, die andere wirtschaftliche Phänomene erklärt: Wirkt sich ein hohes Maß an Ungleichheit vorteilhaft oder nachteilig auf das Wirtschaftswachstum aus? Trägt Ungleichheit zu einer besseren Governance bei, lockt sie ausländische Investitionen an, hilft sie dabei, die allgemeine Bildung auszuweiten? Hier wird die Un­ gleichheit ausschließlich instrumentell betrachtet: Wir interessie­ ren uns für die Frage, ob sie uns einem bestimmten wünschens­ werten wirtschaftlichen Ergebnis näherbringt oder nicht. Drittens betrachten die Sozialwissenschaftler die Ungleichheit unter ethischen Gesichtspunkten. Sie beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit durch ein unterschiedliches Maß an Ungleichheit gekennzeichnete gesellschaftliche Arrangements gerecht sind. Ist wachsende Ungleichheit nur akzeptabel, wenn sie die absoluten

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Essay I

Einkommen der Armen erhöht? Sollte Ungleichheit, die auf der Herkunft beruht, anders behandelt werden als Ungleichheit, die auf besseren Arbeitsleistungen und größerer Anstrengung beruht? Wie entwickelt sich die Ungleichheit abhängig vom Einkom­ mensniveau einer Gesellschaft? Pareto, der sich in seiner Analyse auf eine begrenzte Auswahl von Steuerdaten aus europäischen Län­ dern und Städten des späten 19. Jahrhunderts stützte, glaubte an das „eherne Gesetz der Ungleichheit zwischen den Personen", das seiner Meinung nach bewirkte, dass sich unterschiedliche soziale Ordnungssysteme (feudalistische, kapitalistische oder sozialistische Gesellschaft) nicht wesentlich auf die Verteilung der Einkommen auswirkten. Die Eliten konnten verschieden sein und verschiedene Methoden anwenden, um die Gesellschaft zu kontrollieren, aber auf die Verteilung des Einkommens - und damit das Maß an Un­ gleichheit - habe das keine wesentlichen Auswirkungen. Heute wird dies als „80-20-Regel" bezeichnet, denn bei manchen Phäno­ menen können wir regelmäßig dieses Verhältnis beobachten: 20 Prozent der Menschen sind verantwortlich für 80 Prozent der Er­ gebnisse und umgekehrt (die übrigen 80 Prozent der Menschen erzeugen nur 20 Prozent der Ergebnisse). Auch in der Qualitätssi­ cherung findet dieses Gesetz Anwendung (80 Prozent der Probleme werden durch 20 Prozent der Produkte verursacht), und es kann für das Marketing genutzt werden. Und wie wir sehen werden, gilt et­ was Ähnliches sogar für die globale Einkommensverteilung (siehe Essay III). Was die Einkommensverteilung innerhalb der Länder anbelangt, so war Pareto unfähig, eine Theorie der Veränderung zu entwickeln, obwohl das Wort „unfähig" nicht vollkommen zutref­ fend ist, weil Pareto glaubte (und überzeugt war, empirisch bewie­ sen zu haben), dass die Einkommensverteilung mehr oder weniger feststehen musste, weshalb es keine Gesetzmäßigkeiten ihrer „Ver­ änderung" infolge der wirtschaftlichen Entwicklung gab. Für Pare­ to gab es nur ein „Gesetz ihrer Unveränderlichkeit". Es dauerte bis zum Jahr 1955, bis der russisch-amerikanische Ökonom und Statistiker Simon Kuznets die erste Theorie zu den 18

Ungleiche Menschen

Ursachen für Veränderungen der Einkommensverteilung aufstell­ te. (Ein Profil von ihm und Pareto findet sich in der Skizze 1.10.) Kuznets, dessen Daten ähnlich beschränkt waren wie die Paretos (obwohl sie nicht aus Steuerarchiven, sondern aus Haushaltser­ hebungen stammten), gelangte zu dem Schluss, die Ungleichheit ziw schen den Einwohnern eines Landes sei nicht dieselbe, gleich welche Form eine Gesellschaft habe, sondern verändere sich, wenn sich die Gesellschaft entwickle. Und er erklärte, diese Ver­ änderung sei vorhersehbar: In sehr armen Ländern sei die Un­ gleichheit zwangsläufig gering, da das Einkommen der großen Mehrheit der Bevölkerung etwa auf dem Subsistenzniveau liege und kaum wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Menschen bestünden. Wenn sich eine Volkswirtschaft entwickle und die Arbeitskräfte von der Landwirtschaft in die Industrie wechselten, drifteten die Durchschnittseinkommen der (wohlhabenderen) Industriearbeiter und der (ärmeren) Bauern auseinander. Und Kuznets zufolge bewegen sich die Einkommen der einzelnen Ar­ beitskräfte innerhalb des Industriesektors ebenfalls deutlicher auseinander als die Einkommen der Bauern, weil die Aufgaben in der modernen Industrie vielfältiger sind als in der Landwirtschaft. Die Einkommensungleichheit nimmt also sowohl infolge der wachsenden Kluft zwischen den Durchschnittseinkommen in Industrie und Landwirtschaft als auch infolge der Differenzie­ rung zwischen den Industriearbeitern zu. Schließlich beginnt der Staat in hoch entwickelten Gesellschaften, die Einkommen um­ zuverteilen (siehe Skizze 1.7); die Bildung wird ausgeweitet und die Ungleichheit nimmt ab (siehe Skizzen 1.1 und 1.2). Hier haben wir die berühmte „Kuznets-Hypothese", in der die Verän­ derung der Ungleichheit im Verlauf der wirtschaftlichen Ent­ wicklung anhand einer auf dem Kopf stehenden U-Kurve be­ schrieben wird: Die Ungleichheit muss erst zunehmen, bevor sie abnehmen kann. Diese Idee war jedoch nicht vollkommen neu. Sie war schon rund 120 Jahre früher von dem französischen Sozialwissenschaft­ ler und Politiker Alexis de Tocqueville zu Papier gebracht worden:

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Essay I

Wenn man aufmerksam betrachtet, was seit Anbeginn der Ge­ meinschaften in der Welt geschieht, so erkennt man ohne gro­ ße Mühe, daß Gleichheit nur am Anfangs- und am Endpunkt der Kulturentwicklung steht. Die Wilden sind untereinander gleich, weil sie alle gleichermaßen schwach und unwissend sind. Die Kulturmenschen können einander gleich werden, weil ihnen allen ähnliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Wohlstand und Glück zu erreichen. Zwischen diesen beiden Extremen stößt man auf die Ungleichheit der Lebensbedingun­ gen, auf Reichtum, Wissen und Macht einiger sowie auf Ar­ mut, Unkenntnis und Schwäche aller anderen. (Memoire sur le pauperisme, 1835)' Natürlich sagte Tocqueville, der kein Ökonom war wie Kuznets, nichts über den Mechanismus, der diese umgekehrte U-Kurve hervorbringen würde. Die Kuznets-Hyp othese wurde von den Ökonomen wieder und wieder empirisch überprüft. Mittlerweile stehen umfangrei­ che nationale Haushaltserhebungen zu Einkommen und Konsum zur Verfügung, die uns aufschlussreiche Daten zur Einkommens­ verteilung liefern und die Untersuchung dieser Theorie erheblich erleichtert haben. Im Prinzip sollte die Hypothese am besten funktionieren, wenn wir die Entwicklung der Ungleichheit inner­ halb eines Landes untersuchen, das eine umwälzende Transforma­ tion von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft und schließ­ lich zu einer Dienstleistungsgesellschaft durchmacht. Aber in diesem Kontext sind die Ergebnisse durchmischt: In einigen Län­ dern ist (in einigen Zeiträumen) die umgekehrte U-Kurve zu be­ obachten, aber in anderen Ländern ist das nicht der Fall. Die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen und der Prognose­ tauglichkeit der Kuznets-Hypothese bewegte die Forscher dazu, sie durch neue Elemente zu ergänzen, die besser geeignet waren, die Entwicklung der Einkommensungleichheit zu erklären. So * Deutsch als Das Elend der Armut:

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Über den Pauperismus (2007).

Ungleiche Menschen

entstand die „verbesserte" Kuznets-Hypothese. Nun wurden ne­ ben dem Einkommensniveau zusätzliche Variablen wie die ,,finan­ zielle Tiefe" einer Volkswirtschaft, der Umfang der Staatsausgaben oder des öffentlichen Dienstes sowie die Offenheit einer Volks­ wirtschaft herangezogen, um die Entwicklung der Ungleichvertei­ lung zu erklären. Viele Ökonomen glaubten, diese zusätzlichen Elemente könnten unser Verständnis der Ungleichheit verbessern. Beispielsweise nahmen sie an, ein effizienterer und ausgeweiteter Finanzsektor werde die Armen in die Lage versetzen, Kredite auf­ zunehmen, um ihre Bildung zu bezahlen, was die Ungleichheit verringern werde, da die Aussichten auf berufliches Fortkommen durch Bildung nicht mehr auf die Reichen beschränkt sein werde. Höhere Staatsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder eine höhere Beschäftigtenzahl im öffentlichen Dienst gemes­ sen an der Größe des nationalen Arbeitsmarkts verringern dem­ nach die Ungleichheit, da sie den Armen zugutekommen und der Einkommensungleichverteilung entgegenwirken. Eine größere Offenheit für den Handel sollte in armen Ländern die Ungleich­ heit verringern, da sie die Nachfrage nach nicht qualifikationsin­ tensiven Produkten wie Textilien erhöht, auf die sich diese Länder spezialisieren können; in der Folge werden die Löhne ungelernter Arbeiter verglichen mit denen qualifizierter Arbeitskräfte oder mit den Gewinnen der Kapitalisten steigen. In reichen Ländern sollte die Öffnung für den Welthandel das Gegenteil bewirken, da diese Länder zumeist technologisch anspruchsvolle Produkte exportie­ ren, für deren Erzeugung hochqualifizierte Arbeitskräfte wie In­ formatiker und Ingenieure benötigt werden; folglich steigen die Einkommen von Hochschulabsolventen gegenüber den Einkom­ men von Arbeitskräften, die nur eine Grund- oder Sekundär­ schulausbildung haben. Die Ungleichheit nimmt zu. Um die Kuznets-Hypothese zu testen, würden die Ökonomen heute ne­ ben dem Einkommen auch all diese und einige andere Faktoren berücksichtigen, wobei sie vermutlich von Fall zu Fall Dinge wie die Altersstruktur der Bevölkerung oder die Verteilung des Grund­ besitzes ergänzen würden. Tatsächlich sind die Ergebnisse besser, 21

Essay I

wenn wir uns nicht auf das Einkommensniveau beschränken aber wirklich spektakulär sind sie auch nicht. In jüngerer Zeit hat der französische Ökonom Thomas Piketty eine Reihe empirischer Studien vorgelegt, die er gemeinsam mit anderen Forschern (Emmanuel Saez, Anthony Atkinson, Abhijit Banerjee) durchgeführt hat. Die Ergebnisse widersprechen sowohl der Kuznets-Hypothese als auch ihren „verbesserten" Varianten. Piketty zeigt, dass die Ungleichheit in den westlichen Ländern lange Zeit abnahm, im letzten Vierteljahrhundert jedoch wieder deutlich gestiegen ist. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, aber Piketty liefert eine „politische" Erklärung dafür: Die Entwicklung der Ungleichheit hänge davon ab, ob der Staat die direkten Steu­ ern auf laufende Einkommen und geerbtes Vermögen erhöhe oder senke, und werde von kriegerischen Konflikten beeinflusst (das heißt durch die Zerstörung von Sachkapital und die Verringerung der Einkommen der Kapitalisten). Dies kann man als eine politi­ sche Theorie der Einkommensverteilung betrachten, in der die gesellschaftliche Haltung (die Vorstellung davon, was gerecht und ungerecht ist) und die wirtschaftlichen Interessen, die sich im Wahlverhalten und in den Positionen der politischen Parteien nie­ derschlagen, sowie die wirtschaftlichen Erfordernisse im Krieg über den Verlauf der Ungleichheitskurve entscheiden. Um zu erklären, was die Entwicklung der Ungleichheit über einen langen Zeitraum (in diesem Fall das gesamte 20. Jahrhun­ dert) hinweg antreibt, griff Piketty wieder auf eine alte Datenquel­ le zurück, die eigentlich aus der Mode gekommen war: die Steu­ erstatistiken. Diese Statistiken, die Pareto als erster verwendet hatte, wurden durch die Haushaltserhebungen ersetzt, weil die Steuerdaten nur einen Teil - das obere Ende - der Einkommens­ verteilung abdecken, denn in den meisten Ländern zahlen die Armen keine direkten Steuern. Die Haushaltserhebungen hinge­ gen beinhalten die gesamte Bevölkerung. Die Verwendung von Steuerdaten ist problematisch, weil die daraus gezogenen Schlüsse nur gültig sind, wenn zwei Annahmen zutreffen: (1) Die zu ver­ steuernden Einkommen entsprechen weitgehend den tatsächli22

Ungleiche Menschen

chen Einkommen der Haushalte (und diejenigen, welche die höchsten Steuern zahlen, sind auch die reichsten Personen). (2) Man kann die allgemeine Entwicklung der Ungleichheit anhand der Veränderung des Einkommensanteils der reichsten Gruppen annähernd bestimmen (zum Beispiel des reichsten 1 Prozent der Steuerzahler, das auch das reichste 1 Prozent der Haushalte ist). Aber beide Annahmen sind anfechtbar. Das von Piketty und sei­ nen Coautoren verwendete zu versteuernde Einkommen wird auch als Markteinkommen (oder Einkommen vor Steuern) bezeich­ net. Es beinhaltet also weder die Steuerabzüge noch staatliche Transferleistungen. 3 Aber normalerweise interessieren wir uns für die Ungleichheit der veifügbaren Einkommen, das heißt jener Einkommen, die den Haushalten und Personen gehören, nach­ dem sie ihre Steuern bezahlt und staatliche Transferleistungen be­ zogen haben. Wenn sich Steuern oder Sozialtransfers ändern, kön­ nen sich die Ungleichheit der Markteinkommen und jene der verfügbaren Einkommen in unterschiedliche Richtungen entwi­ ckeln. Das Problem bei der zweiten Annahme ist, dass die Statis­ tiken zur Ungleichheit im Prinzip die Einkommen aller Menschen beinhalten sollten, nicht nur die der Wohlhabenden. Beispielswei­ se könnte es sein, dass nicht nur der Einkommensanteil der Reichsten, sondern auch jener der Armen steigt, während der der Mittelschicht schrumpft. In diesem Fall können wir nicht be­ haupten, dass die Ungleichheit insgesamt zugenommen hat- aber wir gelangen zwangsläufig zu diesem Schluss, wenn wir uns aus­ schließlich am wachsenden Einkommensanteil der Reichen orien­ tieren. Da Studien wie die von Piketty auf dieser Annahme beru­ hen (die, wie wir wissen, nicht auf alle Orte und zu allen Zeiten zutrifft), wird die Interpretation der Resultate problematisch. Stünden uns Erhebungen zu Einkommen oder Konsum der Be­ völkerung zur Verfügung, die weit genug in die Vergangenheit zurückreichen, so wäre das Problem natürlich gelöst. Wir müssten nicht auf die sehr viel weniger präzisen und bruchstückhaften Steuerdaten zurückgreifen. Wie wir sehen werden, liegen solche Daten in den reichen Ländern im Allgemeinen nur für die Zeit

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nach dem Zweiten Weltkrieg und für viele Entwicklungs- und Schwellenländer nur für die letzten zwanzig bis dreißig Jahre vor. Dies ist die gegenwärtige Situation in der Ungleichheitsfor­ schung. Es wäre unfair und ist vermutlich unmöglich zu sagen, welcher der verschiedenen Standpunkte überzeugender ist. Ver­ mutlich keiner. Aber wir sehen, dass wir über eine einfache Mes­ sung der Ungleichheit oder ein Verständnis ihrer Entwicklung hinausgehen und uns der wesentlichen Frage zuwenden müssen, ob Ungleichheit eine notwendige Voraussetzung für das Wachs­ tum einer Volkswirtschaft ist. Und wenn sie nötig ist: Wie groß sollte sie sein? Wie wirkt sich die Ungleichheit auf die wirtschaftliche Effizi­ enz aus? Die Ungleichheit beschäftigt uns, besser gesagt, sie be­ schäftigt uns vor allem, weil wir glauben, dass sie sich auf einige bedeutsame wirtschaftliche Phänomene auswirkt, insbesondere auf das Wirtschaftswachstum: Wachsen Länder mit größerer Un­ gleichheit schneller oder langsamer? Im Lauf der Jahre wurde die eindeutige Antwort, Ungleichheit sei gut für das Wachstum, durch eine sehr viel nuancenreichere Einschätzung ersetzt, die eher das Gegenteil besagt. Woran liegt das? Zum besseren Verständnis können wir die Wirkung der Ungleichheit auf die wirtschaftliche Effizienz mit der Wirkung des Cholesterins vergleichen: So wie es das gute und das schlechte Cholesterin gibt, gibt es auch eine „gute" und eine „schlechte" Ungleichheit.4 Die „gute" Ungleichheit ist nötig, um den Menschen Anreize zum Lernen, zu harter Arbeit oder zu un­ ternehmerischen Wagnissen zu geben. Dazu bedarf es eines gewis­ sen Maßes an Ungleichheit zwischen den Belohnungen (mehr zu den Auswirkungen einer „unvernünftigen" Nivellierung der Ein­ kommen in Skizze 1.5 über die Ungleichheit im Sozialismus). Aber an einem - schwer zu bestimmenden - Punkt, wo Ungleich­ heit keinen Ansporn zu herausragenden Leistungen mehr gibt, sondern lediglich dabei hilft, eine erworbene Position zu verteidi­ gen, verwandelt sie sich in „schlechte" Ungleichheit. Das ge-

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schieht, wenn ungleich verteilte Vermögen oder Einkommen ge­ nutzt werden, um eine wirtschaftlich wünschenswerte politische Veränderung zu verhindern (z. B. eine Landreform oder die Ab­ schaffung der Sklaverei), den Zugang zur Bildung auf die Reichen zu beschränken oder dafür zu sorgen, dass die besten Jobs Perso­ nen aus wohlhabenden Familien vorbehalten bleiben. All das be­ einträchtigt die wirtschaftliche Effizienz. Wenn die Aussicht auf eine gute Bildung vom Wohlstand der Eltern abhängt, kann die Gesellschaft die Fähigkeiten und das Wissen eines beträchtlichen Teils ihrer Mitglieder (der Armen) nicht nutzen. In diesem Sinn unterscheidet sich die Diskriminierung aufgrund fehlenden ge­ erbten Vermögens oder Einkommens nicht von jeder anderen Form von Diskriminierung, etwa aufgrund von Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit. In all diesen Fällen entscheidet die Ge­ sellschaft, dass die Fähigkeiten eines Teils ihrer Mitglieder nicht genutzt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass eine solche Gesell­ schaft wirtschaftlich erfolgreich sein wird. Abhängig davon, wel­ che Art von Ungleichheit zu einer gegebenen Zeit in einem Land vorherrscht - ,,positive", die nötig ist, um Anreize zu schaffen, oder „negative", die ein Monopol der Reichen garantiert-, kann sie als vorteilhaft oder schädlich betrachtet werden. Die Vorstellung, die Einkommensungleichheit sei vorteilhaft, weil sie den Menschen Anreize zu herausragenden Leistungen gibt, herrschte zu einer Zeit vor, als die Ökonomen glaubten, nur die sehr reichen Menschen sparten, weshalb es ohne sie keine In­ vestitionen und kein Wachstum des Wohlstands geben könne. Von den Arbeitern (oder den Armen) wurde erwartet, dass sie alles ausgaben, was sie verdienten. Würden alle dasselbe (relativ) nied­ rige Einkommen haben, so würde nicht genug gespart und inves­ tiert- die Folge wäre wirtschaftliche Stagnation. Die Reichen an sich waren nicht wichtig, aber man brauchte sie, damit sie sparten, Kapital anhäuften und den Wirtschaftsmotor ankurbelten: Sie wurden als Behälter für die Individualisierung der Ersparnisse be­ trachtet. Sie würden nicht mehr konsumieren und sich nicht mehr Vergnügungen gönnen als alle anderen, sodass überschüssi-

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ges Einkommen gespart und investiert würde. Max Weber be­ zeichnete die asketische Haltung als zentralen Bestandteil des „ka­ pitalistischen Geistes": ,,[V]or allem ist das ,summum bonum' dieser ,Ethik', der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller [ ...] hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ,Glück' oder dem ,Nutzen' des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Tran­ szendentes und schlechthin Irrationales erscheint."5 Diese ein wenig rosige Begründung für die Notwendigkeit von Einkommensunterschieden unter der Bedingung, dass hohe Ein­ kommen für Investitionen genutzt werden, findet ihren besten Ausdruck in einer Passage im Werk des berühmten englischen Ökonomen John Maynard Keynes, der als Begründer der moder­ nen Makroökonomie gilt: Trotzdem war die Gesellschaftsordnung [Europas vor 1914] so aufgebaut, daß ein großer Teil des erhöhten Einkommens in die Hände jener Klasse kam, bei welcher die Wahrscheinlich­ keit am geringsten war, daß sie es gleich wieder verbrauchen würde. Die neuen Reichen des neunzehnten Jahrhunderts wa­ ren nicht an große Ausgaben gewöhnt und zogen die Macht, welche ihnen ihre Investitionen verliehen, den Freuden des un­ mittelbaren Konsums vor. Tatsächlich war es eben die Un­ gleichheit der Verteilung des Wohlstandes, die jene großen Akkumulationen von Vermögen und Kapitalanlagen möglich machte, welche dieses Zeitalter von allen anderen unterschei­ det. Hierin lag in der Tat die hauptsächliche Berechtigung des kapitalistischen Systems. Hätten die Reichen ihren neuen Reichtum zum eigenen Vergnügen ausgegeben, hätte die Welt schon vor langer Zeit eine solche Ordnung unerträglich gefun­ den. Doch sie sparten und horteten wie die Bienen, was der gesamten Gesellschaft zugute kam - auch wenn sie selbst damit engere Ziele verfolgten.6

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Dies war das Bild des Kapitalisten als „Sparmaschine" und Entre­ preneur. Es gab jedoch auch zahlreiche Exemplare des kapitalistischen Rentiers, der wenig mehr tat als sich zurückzulehnen und ent­ spannt zuzusehen, wie das Geld für ihn „die Arbeit machte". Eine schöne Beschreibung des Rentiers finden wir in Stefan Zweigs wunderbarem Buch Die Welt von Gestern, in dem das Europa vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben ist, eine Welt, in der das be­ gehrteste Kompliment (Zweig zufolge) die Bezeichnung „solide" für den respektablen Bürger war, eine Welt, in der alles darauf hindeutete, dass sich Vernunft und Fortschritt ewig fortsetzen würden. Die Reichen hatten ein leichtes Leben: Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar Prozent an Steuern abzuknappen und ande­ rerseits die Staats- und Industriewerte hohe Verzinsung brach­ ten, für den Vermögenden das Immer-reicher-Werden eigent­ lich nur eine passive Leistung.7 In dieser Perspektive wirken die Reichen weniger wie unverzicht­ bare „respektable" Bürger, die sparen und investieren, sondern eher wie Parasiten, die gut davon leben, Dividendencoupons ab­ zuschneiden. Aber die seit einigen Jahrzehnten vorherrschende Vorstellung, die Ungleichheit sei schädlich, beruht nicht auf die­ ser ethischen Sichtweise. Sonderbarerweise gehen die Verfechter dieser Vorstellung von demselben Grundgedanken aus wie jene, die in der Ungleichheit eine vorteilhafte Kraft sehen - es sollte Personen geben, die zu investieren bereit sind -, ziehen jedoch vollkommen andere Schlüsse daraus. Die Argumentation sieht so aus8: Die Menschen (sei es, dass sie reich sind, der Mittelschicht angehören oder arm sind) stimmen bei den Wahlen darüber ab, wie hoch ihre Steuern sein sollen, wobei sie berücksichtigen, dass die mit den Steuern finanzierten Staatsausgaben in erster Linie

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den Armen zugutekommen. Von einem hohen Maß an Ungleich­ heit geprägte Gesellschaften werden für hohe Steuern stimmen, weil in solchen Gesellschaften eine Mehrheit der Bürger von So­ zialtransfers profitiert, keine oder nur geringe Steuern zahlt und die Reichen immer überstimmt (siehe Skizze 1. 7). Nun verringern derart hohe Steuern die Anreize, zu investieren und hart zu arbei­ ten, weshalb das Wirtschaftswachstum erlahmt. Der Mechanis­ mus hat Ähnlichkeit mit dem, der im 19. Jahrhundert befürchtet wurde: Wenn man den Besitzlosen die Chance zu wählen gab, würden sie die Besitzenden enteignen. Hier geschieht dasselbe, nur dass die Enteignung ein wenig sanfter verläuft: Sie wird nicht durch offene Verstaatlichung, sondern durch Besteuerung be­ werkstelligt. 9 Gleichgültig, ob man die wirtschaftliche Ungleichheit nun als vorteilhaft oder schädlich betrachtet: man braucht in jedem Fall Menschen, die bereit sind, ihr Geld zu investieren. Aber im ersten Fall braucht man ein hohes Maß an Ungleichheit, weil es sonst keine ausreichend reichen Investoren gibt. Im zweiten Fall macht die Einführung der Demokratie eine ausgeprägte Ungleichheit politisch untragbar. Selbst wenn die Reichen versprechen, dass sie ihr überschüssiges Einkommen nicht konsumieren, sondern in­ vestieren werden, und die Armen auf diese Art überzeugen, dass sie unverzichtbar für das Wachstum der Wirtschaft sind, können sie unmöglich gezwungen werden, dieses Versprechen auch zu halten. Es wäre auch nicht glaubwürdig. Daher muss das kapita­ listische System die Einkommen vor Steuern so verteilen, dass die Gesellschaft keinen Anlass dazu sieht, den Reichen erpresserische Steuern aufzuerlegen. Um das zu erreichen, muss das Vermögen relativ gleichmäßig unter den Menschen verteilt werden. Die Ver­ teilung des Finanzvermögens können wir kurz- oder mittelfristig nicht wesentlich beeinflussen, aber wir können die Verteilung der Bildung verändern (also das, was die Ökonomen als Zusammen­ setzung des „Humankapitals" bezeichnen) - daher wird einem leichteren Zugang zur Bildung für alle so große Bedeutung beige­ messen. Der Grund ist nicht einfach, dass die Bildung als an sich

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wertvoll betrachtet wird, und es geht auch nicht nur darum, dass ein höherer Bildungsstand das Wirtschaftswachstum direkt an­ kurbeln kann. Vielmehr würde eine breitere Verteilung dieses Ver­ mögenswerts auch die Einkommen vor Steuern gleichmäßiger verteilen, weshalb es sich die relativ Armen zweimal überlegen würden, bevor sie für Steuererhöhungen stimmen. Verändert eine Änderung der wirtschaftlichen Entwicklung auch unsere Einschätzung des Nutzens der Ungleichheit? Es ist wahrscheinlich. 10 In der Frühphase der Entwicklung ist das Sach­ kapital knapp. Unter diesen Bedingungen werden reiche Personen gebraucht, die bereit sind, ihr Einkommen nicht zur Gänze für den Konsum aufzuwenden, sondern zu investieren, damit mehr Maschinen und Straßen gebaut werden können. Wenn sich die Wirtschaft entwickelt, wächst das Sachkapital, womit das Hu­ mankapital (die Bildung) im Verhältnis dazu wertvoller wird. Nun wird es wichtig, die Bildung auszuweiten. Aber wenn dies dadurch verhindert wird, dass begabte Kinder aus armen Haushalten die Bildung nicht bezahlen können, gerät das Wachstum ins Stocken. So gelangen wir sogar ohne die Einführung des universellen Wahl­ rechts und der Demokratie zu einem ähnlichen Schluss: Für ein schnelles Wachstum im fortgeschrittenen Stadium der wirtschaft­ lichen Entwicklung muss die Bildung ausgeweitet werden, und eine gute Bildung für breite Bevölkerungsgruppen ist eine unver­ zichtbare Voraussetzung für geringere Ungleichheit. Die empirischen Belege für den Zusammenhang zwischen Un­ gleichheit und Wirtschaftswachstum sind widersprüchlich. Mög­ licherweise ist das unvermeidlich, denn zu bestimmten Zeiten kann die Ungleichheit an bestimmten Orten das Wachstum hem­ men (weil sie die Entstehung von Monopolen begünstigt), wäh­ rend sie es in anderen Situationen anregt (weil sie Leistungsanrei­ ze schafft). Es genügt zu sagen, dass unsere Einschätzung der positiven und negativen Auswirkungen der Ungleichheit auf die wirtschaftliche Effizienz immer davon abhängen wird, ob wir dem einen oder dem anderen Bestandteil des grundlegenden Dilem­ mas größeres Gewicht beimessen: dem gesellschaftlichen Mono-

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pol oder den Anreizen. In den Fällen, in denen wir glauben, dass das von den Reichen ausgeübte Monopol auf Macht und Wohl­ stand die gesellschaftliche Stabilität und damit auch die wirt­ schaftliche Entwicklung und sogar die Lebensfähigkeit des Staates bedroht (wie es Platon vor 2400 Jahren tat), sind Einkommens­ oder Vermögensungleichheit ein soziales Übel, das bekämpft wer­ den muss. Auf die Frage, ob seine Forderung, der ideale Staat müsse sparsam sein, nicht die Gefahr einer Eroberung durch rei­ che Nachbarn heraufbeschwöre, antwortet Platons Sprachrohr Sokrates: Einen großen Namen, antwortete [Sokrates], muss man den andern [Staaten] geben, denn jeder von ihnen bildet viele Staa­ ten, nicht aber einen Staat [ ...]. Denn zwei sind es auf jeden Fall, die einander feindlich gegenüber stehen, einer der Armen und einer der Reichen, in jedem von diesen aber sind sehr vie­ le, wenn du nun gegen diese als gegen einen einzigen auftrittst, so scheiterst du völlig, wofern aber als gegen viele, so dass du das Eigentum der einen den andern gibst, Schätze und Vermö­ gen oder auch sie selbst, so wirst du immer viele Bundesgenos­ sen haben und wenige Feinde.11 Aber in den Fällen, in denen wir glauben, dass eine übertriebene Nivellierung der Einkommen - hier fehlt sowohl das Zuckerbrot des Erfolgs als auch die Peitsche des Scheiterns - dazu führt, dass sich die Menschen nicht mehr anstrengen werden, weil wir ihnen nicht erlauben, die Früchte ihrer Arbeit oder ihrer Investitionen zu ernten, sollten wir, so sonderbar das scheinen mag, für größere Ungleichheit sorgen. Ungleichheit und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Die Einkom­ mensungleichheit ist auch deshalb ein wichtiges Thema, weil sie zwei Fragen betrifft, die oft beide im Interesse der Gesellschaft sind, aber manchmal nicht oder zumindest nicht leicht miteinan­ der in Einklang gebracht werden können. Dies sind die wirt30

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schaftliche Effizienz und die wirtschaftliche Gerechtigkeit. Bei der wirtschaftlichen Effizienz geht es um die Maximierung der Ge­ samtproduktion oder der Rate des wirtschaftlichen Fortschritts einer Gesellschaft. Bei der wirtschaftlichen Gerechtigkeit geht es um die Akzeptanz und Nachhaltigkeit einer gegebenen sozialen Ordnung. Hier spielt die wirtschaftliche Ungleichheit offenkun­ dig ebenfalls eine Rolle. Auf geerbtem Vermögen, ethnischer Zu­ gehörigkeit oder Geschlecht beruhende Ungleichheit kann selbst dann als ungerecht betrachtet werden, wenn sie der wirtschaftli­ chen Entwicklung nicht schadet, das heißt, wenn sie ihren rein instrumentellen Nutzen durchaus erfüllt. Wenn die meisten Men­ schen oder eine einflussreiche Minderheit eine gegebene soziale Ordnung als ungerecht betrachten, werden Zweifel an der Nach­ haltigkeit dieser Ordnung wach. Die Ökonomen verwenden bei der Auseinandersetzung mit der Frage, wie wünschenswert verschiedene soziale Arrangements sind, gerne die „soziale Wohlfahrtsfunktion", ein Konstrukt, das im Prin­ zip die Wohlfahrt (den Nutzen) sämtlicher Mitglieder einer Ge­ meinschaft beinhaltet. Ziel ist es, das Wohlergehen aller Mitglieder der Gemeinschaft in einer sozialen Ordnung mit dem Wohlergehen aller Mitglieder in einer anderen Ordnung zu vergleichen, um fest­ zustellen, welches der beiden Systeme besser ist. Das wird als „Wel­ farismus" bezeichnet. Eine grobe Methode des Welfarismus besteht darin, einfach den Nutzen für die einzelnen Mitglieder der Ge­ meinschaft zu addieren, sodass in einer Gesellschaft, die aus Alan, Bob und Charlie besteht, der Gesamtnutzen für die Gesellschaft dem Nutzen für Alan plus dem Nutzen für Bob plus dem Nutzen für Charlie entspricht. Die individuellen Nutzenfunktionen von Alan, Bob und Charlie sehen so aus, dass jede einzelne positiv wird, obwohl der Nutzen jedes zusätzlichen Dollars an Einkommen sinkt. Dies ist eine vernünftige und empirisch belegte Annahme: Denken wir an die Tatsache, dass wir das erste Eis an einem heißen Tag vermutlich mehr genießen als das zweite und zweifellos mehr als das dritte Eis. Technisch wird dies als „sinkender Grenznutzen des Einkommens" bezeichnet. Nehmen wir nun zusätzlich an, dass

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die Nutzenfunktionen von Alan, Bob und Charlie identisch sind. In diesem Fall wäre eine vollkommen gleiche Verteilung des Ein­ kommens optimal. Hätten wir Alan ein wenig mehr Einkommen gegeben als Bob und Charlie, so würden wir feststellen, dass der reiche Alan das zusätzliche Einkommen weniger genießt als die är­ meren Bob und Charlie (da alle drei sinkende und identische Grenznutzenfunktionen haben). Der Gesamtnutzen würde also steigen, wenn wir Alans zusätzliches Einkommen weiterhin transfe­ rieren, bis schließlich alle drei denselben Betrag erhalten. Von diesem Gedanken ging der englische Ökonom Anthony Atkinson aus, als er im Jahr 1970 einen Schlüsselbeitrag zum Wel­ farismus veröffentlichte. Atkinson stellte die Frage, wie die Un­ gleichheit so gemessen werden konnte, dass erkennbar würde, inwieweit verschiedene soziale Ordnungen wünschenswert wa­ ren.12 Atkinson berechnete die Ungleichheit in einer Gesellschaft anhand der Zeit, die unter dem Gesichtspunkt der Wohlfahrt ,,vergeudet" wird, weil dieselbe Wohlfahrt auch mit einem kleine­ ren, aber gleichmäßig unter den Mitgliedern der Gesellschaft ver­ teilten Gesamteinkommen erreicht werden könnte. Die etwas sperrige Bezeichnung dafür lautet „gleichverteiltes Äquivalenzein­ kommen". Selbst wenn der Kuchen insgesamt kleiner wird, aber die Stücke alle gleich groß sind, wäre der Gesamtgenuss aus dem Verzehr des kleineren Kuchens derselbe wie der Gesamtgenuss aus einem größeren, aber ungleich verteilten Kuchen. Nehmen wir an, Kuba und die Dominikanische Republik erzeugen die gleiche Gesamtmenge an Wohlfahrt für ihre Bürger, obwohl das domini­ kanische Gesamteinkommen höher ist. Der „überschüssige" Teil des dominikanischen Einkommens ist unter dem Gesichtspunkt des Nutzens vergeudet: Die Dominikaner können dieses Extraein­ kommen einfach beseitigen, weniger hart arbeiten und ihr gerin­ geres Einkommen wie die Kubaner gleichmäßiger verteilen. Letz­ ten Endes gäbe es keinen Wohlfahrtsverlust. Wie viel Einkommen ,,vergeudet" wird, ist also ein Maß der Ungleichheit. Wäre es möglich, den Nutzen verschiedener Personen zu addie­ ren, so wäre es natürlich einigermaßen einfach festzustellen, wel-

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ches übergeordnete System (das kubanische oder das dominikani­ sche) vorzuziehen ist. Das Problem ist, dass es keine allgemein anerkannte Methode gibt, den individuellen Nutzen verschiede­ ner Individuen sinnvoll miteinander zu kombinieren. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Grenznutzen eines Guts oder einer Dienstleistung im Allgemeinen für alle Personen sinkt, wenn sie mehr davon konsumieren. Aber wir können das Maß dieses Nutzens nicht vergleichen, denn eine Person kann ständig einen größeren Nutzen aus etwas ziehen als eine andere Person. Anders ausgedrückt: Während die Form der Nutzenfunktionen ähnlich sein kann (sinkendes Einkommen), kann ihr Niveau von Person zu Person unterschiedlich sein. Um auf unser Beispiel zu­ rückzukommen: Selbst wenn uns Bob sagt, dass er in einem Zu­ stand ständiger Glückseligkeit lebt, können wir nicht wissen, ob er wirklich glücklicher ist als der griesgrämige Charlie. V ielleicht messen sie einfach den Nutzen unterschiedlich. Und selbst wenn wir genau bestimmen könnten, welchen Nut­ zen etwas für eine Person hat, und theoretisch in der Lage wären, ihre Wohlfahrt zu erhöhen, hätten wir immer noch ein ethisches Problem, weil jene Verteilung, die in der Summe das größte Wohl­ befinden erzeugen würde, so aussähe, dass das Einkommen im Wesentlichen den Personen mit hohen Nutzenfunktionen zuge­ teilt würde, also jenen, die es am besten verstehen, ein gegebenes Einkommen in Nutzen umzuwandeln. Mit diesem Argument verteidigte der englische Ökonom Francis Edgeworth Ende des 19. Jahrhunderts die Ungleichheit: Er erklärte, reichere Personen mit einem „verfeinerten" Geschmack verdienten ein höheres Ein­ kommen, weil sie größeren Genuss an Dingen wie besserem Essen oder Wein hätten. Sollte eine Gesellschaft tatsächlich so geordnet sein, dass sie denen das meiste Einkommen zugesteht, die es am besten genießen können? Sollte die optimale Einkommensvertei­ lung so aussehen, dass einige wenige Epikureer, die sich ein Leben ohne Champagner und Kaviar nicht vorstellen können, von Men­ schen finanziert werden müssen, die nur von Brot und Wasser leben?

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Dies war der Ausgangspunkt für Amartya Sens einflussreiche Kritik, die als „Fähigkeiten-Ansatz" bekannt geworden ist: Wenn ein Behinderter aus einem Fußballspiel nicht so viel Nutzen zie­ hen kann wie eine nicht behinderte Person, sollten wir dem nicht Behinderten dann mehr und mehr Chancen eröffnen und dem Behinderten immer weniger Möglichkeiten geben, weil dieser für sich selbst und damit letzten Endes auch für die Gesellschaft nicht so viel Nutzen erzeugt? Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass dies eine abstoßende Schlussfolgerung ist. Sen erklärte, wir sollten stattdessen versuchen, die „Fähigkeit" der Menschen zum Lebensgenuss zu nivellieren. 13 Wenn es darum geht, verschiedene soziale Ordnungen danach zu beurteilen, wie sie die Wohlfahrt fördern, haben wir also drei Möglichkeiten. Erstens können wir annehmen, dass die Nutzen­ funktionen aller Mitglieder identisch sind (wir wissen jedoch, dass es im wirklichen Leben nicht so ist). Dann würde die maximale gesamte Wohlfahrt an dem Punkt erreicht, an dem das Einkom­ men exakt gleich verteilt ist. Dies ist die Idee hinter Atkinsons „gleichverteiltem Äquivalenzeinkommen". Zweitens können wir versuchen, jene Personen „auszuwählen", die „effizienter" in der Erzeugung von Nutzen sind, und ihnen höhere Einkommen zu­ gestehen. Drittens können wir den umgekehrten Weg gehen und eben denen höhere Einkommen zugestehen, denen es schwerer fällt, gegebene Güter und Dienstleistungen zu genießen. Das könnte die gesamte Wohlfahrt, gemessen anhand einer einfachen Addition des individuellen Nutzens, verringern, und wir müssten uns bei unserem Urteil nicht länger auf den Welfarismus stüt­ zen.14 Ein anspruchsvollerer welfaristischer Ansatz besteht darin, eine Wohlfahrtsfunktion zu entwickeln, die den Nutzen sämtlicher Mitglieder beinhaltet, aber ohne eine Addition des individuellen Nutzens auskommt und sich auf die Darstellung der Wohlfahrts­ zustände der einzelnen Individuen beschränkt. In diesem Fall können wir nur die Zustände als wünschenswert betrachten, in denen sich die Situation mindestens einer Person verbessert, ohne

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dass irgendeine andere Person in eine schlechtere Lage gerät. Ei­ nen solchen Zustand erfüllt das sogenannte Pareto-Kriterium: Wenn wir ihn erreichen, können wir sicher sein, dass sich nie­ mand beklagen wird. Das Problem ist, dass die Forderung nach einem solchen Zustand nicht nur ultrakonservativ, sondern in der realen Welt fast nie zu erfüllen ist. Stellen wir uns etwas vor, das das Pareto-Kriterium erfüllen würde: Wäre eine bessere medizini­ sche Versorgung nicht gut für die meisten Menschen? Ja, aber ei­ nige müssten mehr für die Krankenversicherung zahlen und wür­ den Einwände erheben. Wäre es nicht gut für viele Menschen, wenn sie wie durch ein Wunder plötzlich aufhören könnten, Dro­ gen zu konsumieren? Ja, aber die Drogenproduzenten und -händ­ ler (die schließlich ebenfalls Personen sind) würden verlieren, wes­ halb sie Widerstand leisten würden. Würde es uns nicht gefallen, niedrigere Steuern zu zahlen? Ja, aber dann müssten die staatli­ chen Sozialleistungen gekürzt werden, und die Betroffenen wür­ den sich zur Wehr setzen. Wir können die Liste unendlich fortset­ zen. So sehr wir uns auch bemühen, eine pareto-optimale Politik ist unmöglich. Und nicht nur das: Eine solche Politik ist eine Garantie für Stillstand und Untätigkeit, vor allem aber für die Aufrechterhaltung der bestehenden Machtstrukturen und Privile­ gien. Das bedeutet, dass ein höher entwickelter „Welfarismus" ge­ nauso wenig funktioniert wie seine plumpere Form. Beide schei­ tern an der Unfähigkeit, den Nutzen für die einzelnen Personen zu vergleichen. Das Ergebnis ist, dass sie von sehr begrenztem Nutzen sind, wenn wir versuchen, alternative soziale Ordnungen miteinander zu vergleichen. 15 Daher ist es schwierig, eine Theorie der Gerechtigkeit sozialer Ordnungen auf dem Utilitarismus oder dem Welfarismus aufzubauen. Jeremy Bentham und John Stuart Mill, die Väter des Utilitarismus, glaubten, eine „objektive" Me­ thode für den Vergleich verschiedener Gesellschaftsordnungen entdeckt zu haben. Aber dieses Vorhaben dürfte illusorisch sein. Auf den Ruinen des utilitaristischen Traums wurde der an­ spruchsvollste neuere Versuch unternommen, wirtschaftliche Un-

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gleichheit und Gerechtigkeit miteinander in Einklang zu bringen: John Rawls, der die politische Philosophie im 20. Jahrhundert prägte, formulierte in seinem 1971 erschienenen Buch A lheory of ]ustice' das gefeierte „Unterschiedsprinzip" und erklärte, eine Ab­ weichung von der Gleichheit sei nur zu rechtfertigen, wenn sie erforderlich sei, um das absolute Einkommen der Ärmsten zu er­ höhen. Der Ausgangspunkt ist also die vollkommene wirtschaft­ liche Gleichheit aller Bürger. Jede Ungleichheit muss gerechtfer­ tigt werden. Diese Theorie war eine radikale Abkehr vom Utilitarismus. Rawls erklärte unmissverständlich: Ohne starke und beständige altruistische Motive würde kein vernünftiger Mensch eine Grundstruktur akzeptieren, nur weil sie die Summe der Annehmlichkeiten für alle zusammenge­ nommen erhöht - ohne Rücksicht auf ihre dauernden Wirkun­ gen auf seine eigenen Grundrechte und Interessen. Das Nut­ zenprinzip scheint also unvereinbar zu sein mit der Vorstellung gesellschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Gleichen zum gegenseitigen Vorteil, mit dem Gedanken der Gegenseitigkeit, der im Begriff einer wohlgeordneten Gesellschaft enthalten ist.16 Rawls verknüpfte Ungleichheit und Ungerechtigkeit in einem brillanten Satz: ,,Ungerechtigkeit besteht demnach einfach in Un­ gleichheiten, die nicht jedermann Nutzen bringen", wobei er mit ,,jedermann" insbesondere die Armen meinte, wie er einige Absät­ ze später klarstellte. 17 Obwohl Rawls Ungleichheit und Ungerech­ tigkeit untrennbar miteinander verknüpfte und erklärte, die An­ wendung seines „Differenzprinzips" werde zu einer relativ geringen Streuung der Einkommen führen, da viele Arrange­ ments, welche die Reichen bevorzugen, keinen absoluten Vorteil für die Armen mit sich bringen, ist das Prinzip grundsätzlich mit breit gefacherten Varianten der Ungleichheit vereinbar. Es kann * Deutsch als Eine 1heorie der Gerechtigkeit (1975).

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eine einigermaßen strikte Gleichheit bedingen, wenn das Ein­ kommen der Reichen nicht steigen muss, um das Einkommen der Armen zu erhöhen. Aber es kann auch zu einer sehr ausgeprägten und wachsenden Ungleichheit führen, wobei den Reichen ein un­ verhältnismäßig hoher Anteil an den zusätzlichen Erträgen zuge­ standen wird, solange das Einkommen der Armen ebenfalls wenn auch nur geringfügig - steigt. 18 Messung der Ungleichheit. Die Faszination, die der Utilitaris­ mus auf die Ökonomen ausgeübt hat, hat sich indirekt auch auf einen weiteren Bereich ausgewirkt, der mit der wirtschaftlichen Ungleichheit zu tun hat, nämlich auf ihre Messung. Ursprünglich war die Messung der wirtschaftlichen Ungleichheit auf die einfa­ che axiomatische Aufgabe beschränkt, einen akzeptablen Maßstab zu finden, um die Ungleichverteilung mit einer einzigen Zahl aus­ zudrücken. Die Schlüsselaxiome sind leicht verständlich. Findet beispielsweise ein Einkommenstransfer von einer reicheren zu ei­ ner ärmeren Person statt und bleiben alle anderen Variablen un­ verändert, 19 so sollte das Maß der Ungleichheit sinken. Wenn zwei Personen die Positionen tauschen, sollte das Maß unverändert bleiben (das sogenannte Anonymitätsprinzip). Wenn alle Ein­ kommen mit einer Konstante multipliziert werden, sollte sich das Maß nicht ändern, und so weiter. 20 Die Messung war eine rein technische Angelegenheit, die sich nicht von der Messung der Temperatur unterschied. Aber die Verfechter des vorherrschenden welfaristischen Ansatzes zogen es vor, in diesen Maßen den Aus­ druck einer tieferen, auf der Wohlfahrt beruhenden Idee zu sehen. Die Schwierigkeiten des Welfarismus werden offenkundig, wenn wir beispielsweise das richtig definierte und sehr vernünftige An­ onymitätsprinzip betrachten. Um dieses einfache technische Er­ fordernis mit dem Welfarismus in Einklang zu bringen, muss man die vollkommen unrealistische Vorstellung akzeptieren, dass alle Personen dieselbe Nutzenfunktion haben. Ist dies nicht der Fall, so können unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von Nutzen keine zwei Personen gleich sein: Eine Person, die reichlich Nutzen

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erzeugt, kann nicht problemlos durch eine lethargischere Person ersetzt werden,der das schwerer fallt. Die Spannung zwischen einer axiomatischen Messung der Un­ gleichheit und ihrer welfaristischen Interpretation war von An­ fang an zu erkennen. Der italienische Ökonom und Statistiker Corrado Gini, der das am häufigsten verwendete Maß der Un­ gleichheit entwickelte (dazu später mehr),beschrieb dieses Dilem­ ma schon im Jahr 1921: Die Methoden der italienischen [anti-welfaristischen] Autoren [ ...] sind nicht mit der von [dem für die welfaristische Argu­ mentation bedeutsamen englischen Ökonom] Dalton zu ver­ gleichen, [ ...],da ihr Zweck darin besteht,nicht die Ungleich­ heit des wirtschaftlichen Wohlergehens, sondern die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zu schätzen, unabhängig von allen Hypothesen zu den funktionalen Bezie­ hungen zwischen den Mengen und dem wirtschaftlichen Wohlergehen oder zur Summierbarkeit des wirtschaftlichen Wohlergehens der lndividuen.21 Die welfaristische Methode,die sich lange Zeit einiger Beliebtheit unter den Ökonomen erfreute, ist in jüngster Zeit in die Kritik geraten, weil sie keine klaren und anwendbaren Schlüsse ermög­ licht (weil sie keine Antworten auf die Frage „Welcher Zustand ist vorzuziehen?" gibt) und weil ihr Fundament - der Utilitarismus philosophisch unsolide ist. Eine zentrale Frage ist, wie wir bei der Messung der Ungleich­ heit vorgehen sollen. Um die Ungleichheit zu messen, brauchen wir repräsentative und randomisierte Haushaltserhebungen. Die­ se liefern detaillierte Einkommensdaten für alle in der Studie er­ fassten Haushalte, und da davon auszugehen ist, dass die Ergeb­ nisse repräsentativ für die Situation einer großen Gemeinschaft (im Allgemeinen der gesamten Gesellschaft) sind, können sie auf das ganze Land extrapoliert werden. Wir können auch Steuerda­ ten verwenden,aber diese werden selbst in den hochentwickelten

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Ländern, in denen die meisten Leute direkte Steuern zahlen, nur eine unvollständige, weil abgeschnittene Verteilung liefern: Die Armen, die keine Steuern zahlen, werden in diesen Statistiken nicht erfasst. Die Volkszählungen, die im Prinzip die gesamte Be­ völkerung eines Landes beinhalten, können wir nicht verwenden, weil sie zu umfassend sind, um sehr tief zu gehen: Sie erfassen nur grundlegende Informationen wie Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Wohnort und dergleichen, verraten jedoch nichts über Einkommen oder Konsum. Das Problem mit den Haushaltserhebungen ist jedoch, dass selbst für die meisten entwickelten Länder erst ab dem Zweiten Weltkrieg Daten vorliegen. Es gibt einige unvollständige englische Erhebungen aus dem 19. Jahrhundert sowie im frühen 20. Jahr­ hundert erhobene Statistiken aus den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, aber von zuverlässigen und brauchbaren Daten kön­ nen wir erst ab den frühen fünfziger Jahren sprechen. (Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass Paretos Spekulationen auf Steuerda­ ten beruhten und dass sich Kuznets auf ein knappes Dutzend Er­ hebungen stützen musste - und das noch im Jahr 1955.) Noch schlechter ist die Datenlage in den Entwicklungsländern. Oft gibt es für die Zeit vor den siebziger oder sogar achtziger Jah­ ren überhaupt keine Daten. Das gilt insbesondere für die afrika­ nischen Länder, wo Haushaltserhebungen erst in den achtziger Jahren eingeführt wurden (oft mit Unterstützung internationaler Organisationen).22 Und wie sieht es in den beiden bevölkerungs­ reichsten Ländern der Welt aus? Indien begann im Jahr 1952 mit umfassenden Erhebungen und geht bis heute weitgehend nach demselben Muster vor. In China wurde die erste Erhebung nach der Kulturrevolution im Jahr 1978 durchgeführt, aber die ersten brauchbaren Daten stammen aus dem Jahr 1980. Dazu kommt, dass nicht alle Länder jährlich Erhebungen durchführen: Einige sammeln nur alle zwei Jahre, manche sogar nur alle fünf Jahre Daten. Was bedeutet das alles? Erstens: Sieht man von der Grup­ pe der hochentwickelten und reichen Länder ab, so würde es uns sehr schwer fallen, auf der Grundlage der Haushaltserhebungen

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eine jährliche Datenreihe zur Ungleichheit zusammenzustellen. Zweitens: In den meisten Ländern können wir erst ab den sechzi­ ger, siebziger oder achtziger Jahren etwas über die Entwicklung der Ungleichheit sagen, und auch dann nur mit lückenhaften Da­ tenreihen. In den Haushaltserhebungen werden zahlreiche Informationen gesammelt, aber uns interessieren hier nur die Daten zu Einkom­ men und Konsum. Jeder Haushalt wird als „Einkommenseinheit" oder „Konsumeinheit" betrachtet, und Einkommen und Konsum werden allen Mitgliedern eines Haushalts zu gleichen Teilen zuge­ rechnet. Wie können wir das Einkommen der einzelnen Haus­ haltsmitglieder bestimmen? Wir nehmen das jährliche Gesamt­ einkommen des Haushalts (indem wir die Beiträge der einzelnen Mitglieder addieren) und teilen es durch die Zahl der Personen, die in diesem Jahr in dem Haushalt lebten. So erhalten wir das Pro-Kopf-Haushaltseinkommen, das ein Schlüsselkonzept ist, weil uns sein Betrag erlaubt, die Haushalte und ihre einzelnen Mitglieder abhängig von ihrem Einkommen einzustufen und zu entscheiden, welche von ihnen als arm und welche als reich zu betrachten sind. 23 Warum wollen wir das Pro-KopfEinkommen messen? Es gibt ein philosophisches und ein praktisches Argument für diese Vor­ gehensweise. Das philosophische lautet, dass wir alle Individuen gleich behandeln sollten. Würden wir alle Haushalte gleich behan­ deln, so würden Personen in sehr großen Haushalten individuell sehr viel weniger zählen als Personen in kleinen Haushalten. Wenn das Gewicht - die Bedeutung in einer Rechnung - jedes Haushalts 1 ist, dann hat jedes Mitglied eines vierköpfigen Haus­ halts ein implizites individuelles Gewicht von ¼, während ein Mitglied eines Zwei-Personen-Haushalts ein Gewicht von ½ hat. Das praktische Argument lautet, dass Ungleichheitsmaße, die nicht auf dem Pro-Kopf-Einkommen, sondern auf dem Gesamt­ einkommen der Haushalte beruhten, irreführend wären. Der Grund dafür ist einfach. Nehmen wir an, wir hätten zwei Haus­ halte mit dem gleichen Einkommen, einen mit zwei und einen

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mit zehn Mitgliedern. Welcher der beiden ist wirtschaftlich besser gestellt? Die Antwort liegt auf der Hand. Der Einfachheit halber sprechen wir im Allgemeinen von Ein­ kommensverteilungen, selbst wenn sich die Daten auf den Kon­ sum beziehen. Aber die beiden sind nicht gleichwertig. Einkom­ mensdaten werden fast immer eine größere Ungleichheit zwischen den Haushalten in einer gegebenen Gruppe zeigen als Konsumda­ ten. Dafür gibt es zwei einfache Gründe: Erstens gibt es viele Per­ sonen mit einem Jahreseinkommen von null, die ihre laufenden Ausgaben beispielsweise aus in der Vergangenheit angehäuften Ersparnissen finanzieren. (Man denke an Studenten, die ihre Stu­ dienjahre mit Geld finanzieren, das sie in einer Berufstätigkeit verdient haben.) Offenkundig gibt es keine Personen mit einem jährlichen Konsum von null. Die Folge ist, dass die Verteilung entsprechend dem Einkommen am Boden „in die Länge gezogen" und damit ungleicher wird (die Konsumverteilung wird bei einem für das Überleben notwendigen Mindestbetrag „abgeschnitten"). Es gibt viele einkommensstarke Person, die einen Teil des verdien­ ten Geldes zurücklegen. Ihr Einkommen ist also höher als ihr Konsum. Beim Einkommen wäre das obere Ende der Verteilung ebenfalls weiter in die Länge gezogen. Wenn wir das Einkommen als Maßstab verwenden, fällt die Ungleichheit also größer aus als wenn wir den Konsum verwenden. Wie können wir nun anhand der Daten zum Haushaltsein­ kommen die Ungleichheit messen? Das ist keineswegs eine einfa­ che Frage. Stellen wir die Messung der Ungleichheit der Messung des Nationaleinkommens oder des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gegenüber. Das BIP ist eine einfache Summe der Einkommen aller Einwohner eines Landes in einem Jahr: W ir addieren alle Arbeitseinkommen, alle Profite, alle Zinserträge usw. Schließlich erhalten wir eine Gesamtzahl. Wenn wir diese Zahl durch die Ge­ samtzahl der Einwohner des Landes teilen, erhalten wir das BIP pro Kopf. Aber die Einkommensverteilung setzt sich aus den Einkommen vieler Personen zusammen, die wir nicht einfach zusammenzäh-

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Essay I

len, sondern miteinander vergleichen wollen - und diese zahlrei­ chen Vergleiche wollen wir in einer einzigen Zahl ausdrücken, welche die Vielfalt der Verteilung richtig widerspiegeln soll. Und hier beginnen die Schwierigkeiten. Eine einzelne Zahl, welche die Verschiedenheit von Einkommen wie 1, 5, 15, 2009 und 34 564 darstellen soll, wird zwangsläufig willkürlich sein. Beispielsweise können wir einfach das Verhältnis zwischen dem höchsten und niedrigsten Wert verwenden (34 564 geteilt durch 1), um die Un­ gleichheit darzustellen, aber das würde alles unberücksichtigt las­ sen, was dazwischen liegt. Würde nicht eine Verteilung zum Bei­ spiel von 1, 400, 620, 1009 und 34 564 als ausgewogener betrachtet? Wir können die Ungleichheit messen, indem wir uns nur den Einkommensanteil der Reichsten ansehen: In diesem Fall würden wir 34 564 durch die Summe aller Einkommen (1 + 5 + 15 + 2009 + 34 564 oder 1 + 400 + 620 + 1009 + 34 564) dividie­ ren. 24 Tatsächlich wird das bei einem Maß der Ungleichheit getan, nämlich beim Einkommensanteil der Reichsten. Die Zahl der Optionen ist praktisch unbegrenzt. Eine Möglichkeit, die Zahl der Optionen zu verringern, be­ steht darin, als wünschenswerte Eigenschaft festzulegen, dass das Maß der Ungleichheit Informationen über sämtliche Individuen beinhalten sollte, die Bestandteil einer gegebenen Verteilung sind. Das bedeutet, dass Information über ein Einkommen von 1 sowie über ein Einkommen von 5 bis hinauf zum höchsten Einkommen von 34 564 berücksichtigt werden sollte. Ein solches Maß der Un­ gleichheit - das obendrein das beliebte ist - ist der sogenannte Gini-Koeflizient, benannt nach dem italienischen Statistiker und Ökonomen Corrado Gini, der ihn im Jahr 1914 entwickelte (und dessen Leben sich teilweise mit dem von Pareto überschnitt). 25 Um den Gini-Koeflizienten zu ermitteln, wird das Einkommen jeder einzelnen Person mit dem aller anderen Personen verglichen, und die Summe all dieser bilateralen Einkommensunterschiede wird dann wieder durch die Zahl der Personen, deren Einkom­ men in die Berechnung einfließt, sowie durch das Durchschnitts­ einkommen der Gruppe geteilt. Das Endresultat ist ein Koeflizi42

Ungleiche Menschen

ent zwischen O (alle Personen in einer Gruppe haben dasselbe Einkommen, womit völlige Gleichheit herrscht) und 1 (das ge­ samte Einkommen einer Gruppe Aießt einer einzigen Person zu). Dies ist ein sehr angenehmes Merkmal: Der Koeffizient ist „nach oben begrenzt", denn 1 ist die maximal mögliche Ungleichheit. Hier haben wir eine zuverlässige Methode, verschiedene Niveaus der Ungleichheit miteinander zu vergleichen. Sowohl ein Gini-Koeffizient von O als auch einer von 1 ist na­ türlich vollkommen unrealistisch: Es gibt kein Land auf der Erde, in dem alle Menschen dasselbe Einkommen beziehen, und es gibt kein Land, in dem eine einzige Person das gesamte Einkommen des Landes bezieht (womit alle anderen Einwohner dieses Landes verhungern würden). Im wirklichen Leben liegt der Gini-Koeffi­ zient in den egalitärsten Ländern - Beispiele sind die skandinavi­ schen Länder, Tschechien und die Slowakei - zwischen 0,25 und 0,3 und erreicht in Ländern mit besonders ausgeprägter Ungleich­ heit - so etwa in Brasilien und Südafrika - Werte um 0,6. Manch­ mal wird der Gini-Koeffizient in Prozentpunkten ausgedrückt: Anstatt zu sagen, das Land X habe einen Gini-Koeffizienten von 0,43, können wir auch sagen, dass die Ungleichheit bei 43 Gini­ Punkten liegt. Diese Maßeinheit verwende ich auch in diesem Buch. Wo können wir die Vereinigten Staaten einordnen? Nun, sie zählen zu den entwickelten Ländern mit der höchsten Ungleich­ heit. Während die meisten Länder der Europäischen Union für sich genommen einen Gini-Koeffizienten von 30 bis 35 Punkten haben (in Skizze 3.3 werden wir sehen, dass es für die Gemein­ schaft als ganze etwas anders aussieht), kommen wir für die Verei­ nigten Staaten auf mehr als 40 Gini-Punkte. Das ist nicht immer so gewesen. Ende der siebziger Jahre sank die Ungleichheit in den USA auf einen Tiefstwert von etwa 35 Gini-Punkten.26 Von da an nahm sie in den vier Präsidentschaften vor Obama (unter Reagan, Bush senior, Clinton und Bush junior) stetig zu. Die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten wurde in dieser Zeit deutlich größer, wie jeder weiß, der in dieser Zeit dort gelebt hat. Da der Gini43

Essay I

Koeffizient ein träger Maßstab ist, sind sogar Anstiege von ein bis zwei Punkten pro Jahr bedeutsam. Normalerweise, das heißt ohne nachhaltige Zu- oder Abnahme der Ungleichheit, bewegen sich die jährlichen Bewegungen innerhalb eines Gini-Punkts. Wie sieht es in anderen Ländern aus? Schweden, das als Inbe­ griff eines egalitären Landes gilt, hat einen Gini-Koeffizienten von etwa 30, während der Wert für Russland, das sich noch nicht vom Kommunismus erholt hat und von Oligarchen beherrscht wird, über 40 liegt. Dasselbe gilt für China. Sowohl in Russland als auch in China hat die Ungleichheit-wie in den Vereinigten Staa­ ten - in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zugenom­ men. In Lateinamerika und Afrika kommen die wenigsten Länder auf weniger als 50 Gini-Punkte. In den asiatischen Gesellschaften ist der Reichtum im Allgemeinen ungleich verteilt, aber es gibt einige Ausnahmen. Japan, Südkorea und Taiwan scheinen ein we­ nig egalitärer zu sein, während die Gini-Koeffizienten für Malay­ sia und die Philippinen ähnlich hoch sind wie für die lateiname­ rikanischen Länder. Wenn wir uns die Weltregionen ansehen, stellen wir fest, dass die Ungleichheit in Lateinamerika besonders ausgeprägt ist, gefolgt von Afrika und Asien. Am geringsten ist die Ungleichheit in den reichen und in den postkommunistischen Ländern, wenn man von den beiden Ausnahmen der Vereinigten Staaten und Russlands absieht, in denen ein relativ hohes Maß an Ungleichheit herrscht. Wenn wir einen anderen Blickwinkel wählen, stellen wir fest, dass vier große ökonomisch-politische Räume - die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, Russland und China -alle etwa dasselbe Maß an Ungleichheit aufweisen: Es wirkt fast unheim­ lich, dass sie alle einen Gini-Koeffizienten von etwas über 40 ha­ ben. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind Gegenstand der Skizze 3.3, mit den Besonderheiten der russischen Einkom­ mensverteilung beschäftigen wir uns in den Skizzen 1.4, 1.5 und 1.8, und China und seine Zukunft sind Thema der Skizze 1.9. Wir können die Gini-Werte zerlegen, um festzustellen, inwie­ weit die Ungleichheit auf Unterschiede zwischen den Durch44

Ungleiche Menschen

schnittseinkommen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in einem Gebiet (dies ist die „Zwischen-Komponente") zurückzu­ führen ist und inwieweit sie mit der Veränderung der persönli­ chen Einkommen innerhalb der einzelnen Bevölkerungsgruppen (der „Innerhalb-Komponente") zu erklären ist. Nehmen wir zum Beispiel die Europäische Union oder die Vereinigten Staaten und ihre jeweiligen Bestandteile, das heißt Länder wie Spanien und Frankreich oder Staaten wie Maine und Oregon. Oder nehmen wir ein Land wie China und seine Provinzen Sichuan, Yunnan, Hunan und so weiter, oder ein kleineres Land wie Italien und seine Regionen Lombardei, Ligurien und Sizilien. Die Interpreta­ tion der Zwischen-Komponente ist einfach: Ist sie groß, so ist der Großteil der Ungleichheit auf die Tatsache zurückzuführen, dass das untersuchte Gebiet arme und reiche Teile hat. Ist der Anteil der „Innerhalb-Komponente" groß, so muss die geographische Ungleichheit zwischen den verschiedenen Teilen des Gebiets ge­ ring sein, aber jeder Teil muss aus sehr unterschiedlichen, das heißt aus reichen und armen Personen bestehen. Sehen wir uns an, was passiert, wenn wir diese Betrachtungsweise auf die globa­ le Ungleichheit anwenden: Die Zwischen-Komponente würde sich auf die Ungleichheit aufgrund der unterschiedlichen Durch­ schnittseinkommen in verschiedenen Ländern beziehen, die In­ nerhalb-Komponente auf die Ungleichheit zwischen den Ein­ kommen der Bewohner der einzelnen Länder. Wir werden die Komponenten immer wieder trennen (zum Beispiel in den Skiz­ zen 1.8, 1.9, 3.2 und 3.3), weil diese Aufgliederung sehr gut ge­ eignet ist, um einen Blick auf die Ursachen der gemessenen Un­ gleichheit zu werfen. Das ist wichtig, weil die unterschiedlichen Arten von Ungleichheit sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Politik haben.

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Skizze 1. 1

Romantik und Reichtümer

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s ist eine universell anerkannte Wahrheit, dass Jane Austens Roman Stolz und Vorurteil von der Liebe handelt. Weniger bekannt ist, dass dieser Roman auch vom Geld handelt. 27 Im Buch wird die Handlung zeitlich nicht genau eingeordnet, und in Jane Austens Welt, die absichtlich als zeitloser Mikrokos­ mos konzipiert ist, taucht kein einziger Hinweis auf Ereignisse in der Außenwelt auf, anhand dessen wir ein Datum bestimmen könnten. Vielleicht war es ihr Ziel zu zeigen, dass die Angelegen­ heiten des Herzens (und des Geldes) zeitlos sind. Allerdings deuten einige Indizien daraufhin, dass die Geschichte zur Zeit der Napoleonischen Kriege spielt, das heißt etwa in den Jahren 1810-1815. Die Hauptfigur ist die entzückende Elizabeth Bennet, die zweitälteste von fünf Töchtern des reichen Mr. Bennet (der Vorname des Familienoberhaupts wird nie genannt, und auch seine Frau nennt ihn Mr. Bennet). Elizabeth und ihre Familie führen das beschauliche Leben des englischen Landadels, eine Art von ge­ pflegter Untätigkeit, die durch Bälle und Feste unterbrochen wird, und dazu gehört natürlich der Tratsch, der bei Bällen und Festen gepflegt wird. Elizabeth ist eine schöne, intelligente und natürlich unverheiratete junge Frau. Das Jahreseinkommen ihrer Familie be­ läuft sich auf etwa 3000 Pfund; teilt man es durch sieben Familien­ mitglieder (die Eltern und ihre fünfTöchter), so ergibt sich ein Pro­ Kopf-Einkommen von 430 Pfund (wie in den übrigen Beispielen wird der imputierte Wert der Unterkunft, der im Fall der Bennets beträchtlich gewesen sein muss, nicht berücksichtigt). Mit diesem Einkommen zählen die Bennets zum reichsten 1 Prozent der engli­ schen Einkommensverteilung, wenn man Robert Colquhouns Ta­ belle zur Sozialstruktur des frühen 19. Jahrhunderts heranzieht. 28 Elizabeth hat einen reichen Verehrer namens Mr. Darcy, dessen Jahreseinkommen auf 10 000 Pfund geschätzt wird. 29 Die in gesell-

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Romantik und Reichtümer

schaftlichen Angelegenheiten bewanderte (und sehr vernünftige) Mutter von Elizabeth betrachtet ihn und seinen etwas weniger rei­ chen Freund Mr. Bingley folglich als sehr wünschenswerte Bewer­ ber um die Hand ihrer Tochter. Mit seinem gewaltigen Einkom­ men gehört Mr. Darcy mindestens zum reichsten Zehntel des reichsten Prozents der englischen Bevölkerung. Man beachte die große Kluft zwischen dem reichsten Prozent und den reichsten 10 Prozent dieses 1 Prozents oder, um George W Bushs moderne Formulierung zu verwenden, zwischen den „Habenden und den Mehr-Habenden". Obwohl diese Habenden und Mehr-Habenden gesellschaftlich miteinander verkehrten (und anscheinend auch untereinander heirateten), ist das Einkommen von Mr. Darcy mehr als dreimal so hoch wie das von Elizabeths Vater, und rechnet man es auf das Pro-Kopf-Einkommen um (Mr. Darcy muss nur sich selbst versorgen), so verdient er mehr als das Zwanzigfache. Ich gebe nicht preis, wie die Geschichte ausgeht, wenn ich verrate, dass Elizabeth Zweifel an der Eignung von Mr. Darcy hat, der unmissverständlich seine „Verehrung" für sie bekundet - eine euphemistische Umschreibung für Gefühle, die in unserer Zeit ganz anders ausgedrückt würden. Aber eine Ablehnung von Darcys Antrag hätte eine zusätzliche unangenehme Folge: Sollte Mr. Bennet ohne einen direkten männlichen Erben sterben, so sieht das englische Erbschaftsrecht vor, dass das Haus und das gut funktionierende Anwesen an seinen widerwärtigen Vetter fallen, den Pastor William Collins. Dann müsste Elizabeth von ihrem eigenen Einkommen leben, das heißt von ihrem Anteil an den 5000 Pfund, die ihre Mutter als Mitgift in die Ehe mitgebracht hat. So schätzt Pastor Collins, der übrigens ebenfalls ein aussichts­ loser Verehrer von Elizabeth ist, ihr persönliches Vermögen auf etwa 1000 Pfund. Collins geht von einer Rendite von 4 Prozent aus und schätzt ihr jährliches Einkommen auf 40 Pfund. Das wäre ein eher dürftiger Betrag, etwa das Doppelte des englischen Durchschnittseinkommens zu dieser Zeit. Er entspräche dem Einkommen der Familie eines Landvermessers oder eines See­ manns der Handelsmarine. 30

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Skizze 1.1

An diesem Punkt kommt die Abwägung zwischen Liebe und Wohlstand ins Spiel. Betrachten wir die Situation mit den Augen von Elizabeths Mutter, der das Wohl ihrer Tochter am Herzen liegt. Auf der einen Seite kann Elizabeth Mr. Darcy heiraten und von seinem jährlichen Einkommen von 5000 Pfund leben (wir können annehmen, dass sie selbst keine finanziellen Beiträge leis­ ten wird und dass Darcy sein Einkommen zu gleichen Teilen mit Elizabeth teilen wird.) Auf der anderen Seite kann sie in eine Si­ tuation geraten, in der sie in den Augen ihrer Mutter ein Leben in unausweichlicher Armut führen wird, da sie von weniger als 50 Pfund im Jahr leben müsste. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Ergebnissen ist verblüffend: Das eine Einkommen wäre mehr als hundertmal so hoch wie das andere. Angesichts dessen kommt die Alternative, nicht zu heiraten oder auf den idealen Partner zu warten, nicht in Frage. Elizabeth müsste Darcy wirk­ lich verabscheuen, um das Geschäft auszuschlagen, das er ihr still­ schweigend anbietet! Nun müssen wir uns fragen, ob die Dinge heute wirklich voll­ kommen anders liegen. Um Stolz und Vorurteil im heutigen Groß­ britannien anzusiedeln, müssen wir uns nur die gegenwärtige Einkommensverteilung ansehen. Die reichsten 0, 1 Prozent der Briten erzielten im Jahr 2004 ein jährliches Pro-Kopf-Einkom­ men von rund 400 000 Pfund nach Steuern, und das reichste 1 Prozent verdiente immer noch durchschnittlich 81 000 Pfund, während das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Briten bei 11 600 Pfund lag. Den Heiratsantrag eines modernen Gegen­ stücks von Mr. Darcy auszuschlagen, wäre immer noch sehr teuer, obwohl die Kosten heute bei weitem nicht mehr so schockierend wären wie zu Jane Austens Zeit: Das Verhältnis zwischen den Ein­ kommen der reichsten 0, 1 Prozent und denen, die das Doppelte des Durchschnittseinkommens erzielten, beträgt heute nicht mehr 100 zu 1, sondern nur noch 17 zu 1. Jane Austen beschreibt also eine allzu vertraute und zeitlose Abwägung zwischen Romantik und Reichtümern, aber aus der von ihr erzählten Geschichte können wir auch schließen, dass der

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Romantik und Reichtümer

Einsatz von Zeit zu Zeit verschieden und abhängig von der Ein­ kommensverteilung der Gesellschaft ist, in der man lebt. In Ge­ sellschaften, in denen die Einkommen gleichmäßiger verteilt sind, können wir davon ausgehen, dass in Heiratsdingen die Liebe in der Mehrheit der Fälle Vorrang vor dem Geld hat. Folglich müss­ te in sehr ungleichen Gesellschaften das Gegenteil der Fall sein. Existiert die Liebe in sehr ungleichen Gesellschaften also nur au­ ßerhalb der Ehe? Mit dieser Frage wollen wir uns in der folgenden Skizze befassen.

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Skizze 1.2

Anna Wronskaja?

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ede unglückliche Familie ist auf ihre ganz eigene Art unglück­ lich. 31 Aber sind Alexej Alexandrowitsch Karenin und Anna wirklich so einzigartig? Anna Karenina ist die Geschichte einer verheirateten Frau, die sich in einen schneidigen, eleganten und ungeheuer reichen jün­ geren Mann verliebt, den Grafen Wronskij. Auf einer bestimmten Ebene ist die Geschichte auch eine Kritik an den gesellschaftli­ chen Normen und der Heuchelei, denn ohne diese „Eigenschaf­ ten" würde Anna nicht wegen ihrer Affare mit Wronskij von der Gemeinschaft verstoßen und könnte eine Scheidung erwirken (obwohl nicht klar ist, ob sie sich wirklich scheiden lassen will, weil sie dadurch die Vormundschaft für ihren Sohn verlieren wür­ de). Hätten Anna und Wronskij geheiratet, so ist nicht auszu­ schließen, dass es eine glückliche Ehe geworden wäre - um eine Anleihe bei Tolstois berühmtem ersten Satz zu nehmen, sie hätten eine der vielen Familien werden können, die einander ähneln, weil sie glücklich sind. V ielleicht aber auch nicht. Denn Tolstois Kunst besteht darin, uns zu zeigen, dass nicht nur die Gesellschaft und ihre Normen, sondern auch die Persönlichkeiten Annas und des Grafen eine glückliche Verbindung der beiden verhindern. Die Geschichte von Anna Karenina spielt um das Jahr 1878 in Moskau, St. Petersburg und auf dem Land. Die Figuren sind also „Zeitgenossen" Tolstois (der Roman erschien 1877). Um die Handlung sehr grob zusammenzufassen: Tolstoi erzählt die Ge­ schichte von Anna Kareninas unglücklicher Ehe mit dem stren­ gen, gefühlsarmen Alexej Karenin, der ein hochrangiger Beamter ist, und von Annas Liebesaffare mit dem Grafen Wronskij. Diese Beziehung, die zuerst heimlich und dann in aller Öffentlichkeit geführt wird, ist anfangs aufregend und voller Hoffnungen, doch später wird sie von Streit, Falschheit und Verzweiflung beherrscht,

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Anna Wronskaja?

zerstört Wronskijs Karriere und endet für die Liebenden schmerz­ haft und unglücklich. Auf den ersten Blick haben Anna Karenina und Stolz und Vor­ urteil wenig gemein. Würde man „Stimmung" und „Atmosphäre" vergleichen, so fände man in Stolz und Vorurteil launenhafte eng­ lische Sommer, in denen sich strahlender Sonnenschein mit be­ drohlich dunklen Wolken abwechselt. Aber dunkle Wolken und Regenschauer verschwinden so rasch, wie sie aufgetaucht sind, und alles in allem bleibt ein Bild sommerlicher Heiterkeit in Er­ innerung. Anna Karenina hingegen beginnt mit jenen wunderba­ ren, warmen russischen Sommern, in denen die Natur vor unse­ ren Augen zu explodieren scheint. Dann geht dieser stabile kontinentale Sommer in einen melancholischen Herbst über, auf den ein langer, dunkler, harter und unnachgiebiger Winter folgt. Insgesamt bleibt uns eine Atmosphäre in Erinnerung, die nicht vom Sommer, sondern vom Winter geprägt ist: An den kalten Dezembertagen fallt es uns schwer, vor unserem inneren Auge die sorglose Heiterkeit vergangener Sommer heraufzubeschwören. Aber in einer Hinsicht, und zwar in der, für die wir uns hier interessieren - in Bezug auf die Ungleichheit von Einkommen und gesellschaftlicher Stellung -, ähneln Anna Karenina und Stolz und Vorurteil einander. Sehen wir uns den Ausgangspunkt der Heldin in beiden Romanen an: Sie lebt in der Geborgenheit einer sehr reichen und respektablen Familie. Im ersten Roman ist sie verheiratet, im zweiten ledig. Aber in beiden Fällen hängt vom nächsten Schritt - von der Wahl zwischen Liebe und Ehe - der Sprung auf eine Stufe sehr viel größeren Reichtums ab. Alexej Karenins Einkommen wird nirgendwo im Buch erwähnt. Aber in seinem Gespräch mit Annas Bruder Stepan Oblonskij verrät er uns, dass er 10 000 Rubel für ein sehr hohes Einkommen hält, denn dies ist, wie wir an anderer Stelle erfahren, das Gehalt eines Bankdirektors. 32 Wir wissen auch, dass ein hohes Beamtengehalt bei 3000 Rubeln liegt und dass Stepan Oblonskij, der ebenfalls Staatsbediensteter ist (wenn auch auf einer niedrigeren Besol­ dungsstufe alsKarenin), 6000 Rubel verdient. 33 Mit Blick aufKa-

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Skizze 1.2

renins hochrangigen Beamtenposten können wir also annehmen, dass er ein Jahresgehalt von 8000 bis 9000 Rubel hat. Und was ist mit dem reichen Grafen Wronskij? Bei ihm ist sich ähnlich wie bei Darcy „alle Welt" darin einig, dass er ein Jahreseinkommen von 100 000 Rubel hat. Später erfahren wir, dass dies zwar das Ein­ kommen ist, mit dem er normalerweise hätte rechnen dürfen aber er hat die Hälfte seines Erbes an seinen jüngeren Bruder ab­ getreten. Daher hat Wronskij, als er Anna begegnet, in Wahrheit nur ein Einkommen von nicht ganz 50 000 Rubel. 34 Später scheint er angesichts von Geldproblemen die Hälfte des Erbes, die er et­ was voreilig seinem Bruder versprochen hat, ,,zurückzugewin­ nen", weshalb sein Einkommen vermutlich wieder auf das „nor­ male" Niveau von 100 000 Rubel steigt.35 Sehen wir uns nun an, wie Annas Reichtum wüchse, würde sie Wronskij heiraten. Aus einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 3000 Rubel (das vermutliche Einkommen ihres Ehemanns, auf­ geteilt zwischen den beiden und ihrem Sohn) würde mit einem Schlag ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 30 000 Rubel (wenn wir auch hier annehmen, dass sie wie Elizabeth Bennet selbst kein Einkommen beisteuert und dass Wronskij sein Ein­ kommen gleichmäßig mit ihr und ihrem Sohn teilen wird). 36 Der Sprung von Annas bereits sehr komfortablem Leben im großen Palais der Karenins, wo sie von Dienstboten und Kindermädchen umgeben ist, in das fast königliche Leben der Wronskijs ginge also mit einer Verzehnfachung ihres Einkommens einher. Für Russland existieren keine Tabellen zur Sozialstruktur, an­ hand derer wir die Herren Wronskij und Karenin in der zeitgenös­ sischen Einkommensverteilung einordnen könnten. Aber es steht außer Zweifel, dass die Karenins auf einer der höchsten Einkom­ mensstufen stehen (vielleicht gehören sie zum reichsten 1 Pro­ zent), weshalb Wronskij genau wie Darcy Teil der Creme de 1a Creme ist und vermutlich zum reichsten Zehntelprozent der Rus­ sen zählt (wenn sein Einkommen nicht noch höher anzusiedeln ist). Auch hier fällt die gewaltige Distanz zwischen den Reichen und den extrem Reichen auf.

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Anna Wronskaja?

Aber worin liegt der potenzielle Nachteil für Anna Karenina? Können wir auch diesen (niedrigeren) Bereich der Einkommens­ verteilung sehen? Für Anna liegt die Schattenseite der Einkom­ mensverteilung in der Vergangenheit. Wir erfahren, dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt37 und dass ihre Familie wahr­ scheinlich mit einem Jahreseinkommen von wenigen hundert Ru­ beln pro Kopf auskommen musste. 38 Die Heirat mit Karenin be­ deutete einen gesellschaftlichen Aufstieg für Anna und ermöglichte es ihr, ihr Einkommen zu verfünffachen. Durch eine Heirat mit Wronskij würde sie, wie wir gerade gesehen haben, ihr Einkommen erneut verzehnfachen. Durch zwei Ehen könnte Anna ihren Lebensstandard etwa um das Einhundertfünzigfache erhöhen (I5x10). Sind die Einkommen in Russland heute gleichmäßiger verteilt? Ja. Aus einer neueren Haushaltserhebung geht hervor, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen des reichsten 1 Prozents der russischen Haushalte im Jahr 2005 bei 340 000 Rubel lag. Das war etwa das Sechseinhalbfache des Durchschnittseinkommens. Im Jahr 1875 verdiente das reichste 1 Prozent (zu dem die Kare­ nins gehörten) das Fünfzehnfache des Durchschnittseinkommens. Also ist auch die Spreizung der russischen Einkommensverteilung heute geringer als zu Anna Kareninas Zeiten. Auch eine Anna, die heute durch das Spitzensegment der russischen Einkommensver­ teilung „reisen" würde, würde sich zweifellos sehr weit von ihrem Ausgangspunkt entfernen (man nehme Roman Abramowitsch), aber obwohl die russischen Milliardäre, die so großes Aufsehen erregen, ungeheure Reichtümer angehäuft haben, würde der Ein­ kommenssprung einer heutigen Anna Karenina sehr viel geringer sein als jener der Heldin von Tolstois Roman.

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Skizze 1.3

Wer war der reichste Mensch aller Zeiten?

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s ist alles andere als leicht, vergangene mit heutigen Einkom­ men zu vergleichen. Es gibt keinen Wechselkurs für die Um­ rechnung von römischen Sesterzen oder Assen oder kastilischen Pesos aus dem 17. Jahrhundert in heutige Dollar gleicher Kauf­ kraft. Obendrein ist keineswegs klar, was mit „gleicher Kaufkraft" in diesem Fall gemeint sein soll. Gleiche Kaufkraft oder „Kauf­ kraftparität" sollte bedeuten, dass man mit einer gegebenen Men­ ge römischer Sesterzen denselben Warenkorb kaufen konnte, den man heute mit einer gegebenen Menge US-Dollar kaufen kann. Aber nicht nur die Warenkörbe haben sich geändert (es gab keine DVDs in römischer Zeit): Würden wir einen Warenkorb nur auf jene Dinge beschränken, die sowohl damals als auch heute verfüg­ bar sind, so würden wir rasch feststellen, dass sich die relativen Preise erheblich verändert haben. Dienstleistungen waren damals aufgrund der niedrigen Löhne relativ billig, während sie heute in den wohlhabenden Ländern teuer sind. Bei Grundnahrungsmit­ teln wie Brot und Olivenöl verhält es sich umgekehrt. Um Vermögen und Einkommen der Allerreichsten in verschie­ denen Epochen zu vergleichen, situiert man sie daher am besten in ihrem historischen Kontext und misst ihre wirtschaftliche Macht an ihrer Fähigkeit, zu jener Zeit und an jenem Ort durch­ schnittlich qualifizierte menschliche Arbeitskraft zu erwerben. In gewissem Sinn ist eine gegebene Menge menschlicher Arbeitskraft eine universell unveränderliche Maßeinheit, anhand derer wir den Wohlstand messen können. Wie Adam Smith vor mehr als zwei Jahrhunderten schrieb: ,,[Ein Mensch] ist arm oder reich je nach der Menge Arbeit, über die er verfügen oder deren Kauf er sich leisten kann. " 39 Zudem beinhaltet diese Menge Produktionsstei­ gerungen und eine Zunahme des Wohlstands im Lauf der Zeit, da das Einkommen von jemandem wie Bill Gates heute an den

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Wer war der reichste Mensch aller Zeiten?

Durchschnittseinkommen der Menschen gemessen wird, die ge­ genwärtig in den Vereinigten Staaten leben. Ein naheliegender Ausgangspunkt für solche Vergleiche ist das alte Rom, für das wir Daten zu extrem reichen Personen haben, die Teil einer Volkswirtschaft waren, die ausreichend „modern" und monetarisiert war, um uns sinnvolle Vergleiche mit der Ge­ genwart oder der jüngeren Vergangenheit zu ermöglichen. Sehen wir uns drei Personen aus dem alten Rom an. Der sagenhaft reiche Triumvir Marcus Crassus besaß ein Vermögen, das um das Jahr 50 v. Chr. auf etwa 200 Millionen Sesterzen geschätzt wurde.40 Das Vermögen von KaiserAugustus wurde im Jahr 14 n. Chr. auf 250 Millionen Sesterzen geschätzt.41 Und der ungeheuer reiche Freigelassene MarcusAntonius Pallas (der unter Neros Herrschaft lebte) soll im Jahr 52 n. Chr. 300 Millionen Sesterzen besessen haben.42 Sehen wir uns also Crassus an, dessen Name noch immer mit ungeheurem Reichtum verbunden wird (nicht zu verwechseln mit dem griechischen Krösus, der zum Inbegriff des reichen Mannes geworden ist). Bei einem Vermögen von 200 Millionen Sesterzen und einem durchschnittlichen jährlichen Zinssatz von 6 Prozent (der im „goldenen Zeitalter" Roms, das heißt vor der Inflation im 3.Jahrhundert, als „normaler" Zins betrachtet wurde) können wir das Jahreseinkommen von Crassus auf 12 Millionen Sesterzen schätzen. Das Durchschnittseinkommen russischer Bürger um dasJahr 14 n. Chr. (dasTodesjahr vonAugustus) wird auf etwa 380 Sesterzen im Jahr geschätzt, und wir dürfen anneh­ men, dass es sechzig Jahre früher, zu Crassus' Lebzeiten, etwa ge­ nauso hoch war.43 Crassus erzielte also dasselbe Einkommen wie rund 32 000 Menschen zusammengenommen, eine Menschen­ menge, mit der man das halbe Kolosseum hätte füllen können.44 Spulen wir in die nähere Vergangenheit vor und wenden wir dieselbe Methode auf drei amerikanische Ikonen des Reichtums an: Andrew Carnegie, John D. Rockefeller und Bill Gates. Carne­ gies Vermögen erreichte im Jahr 1901 seinen Höhepunkt, als er U.S. Steel erwarb. SeinAnteil an dem Unternehmen war 225 Mil55

Skizze 1.3

lionen Dollar wert. Wenn wir wie zuvor einen Zinssatz von 6 Prozent anwenden und von einem BIP pro Kopf der USA von 282 Dollar (zu Preisen von 1901) ausgehen, stellen wir fest, dass Carnegies Einkommen das von Crassus überstieg. Mit seinem Jahreseinkommen hätte Carnegie die Arbeit von fast 48 000 Men­ schen kaufen können, ohne sein Vermögen im Geringsten zu schmälern. (Zu beachten ist, dass wir bei all diesen Berechnungen davon ausgehen, dass das Vermögen der superreichen Person un­ angetastet bleibt: Um die Ergebnisse der Arbeit anderer zu kaufen, zehrt sie lediglich von ihrem Jahreseinkommen, das heißt vom Ertrag ihres Vermögens.) Eine entsprechende Berechnung für Rockefeller zum Zeitpunkt seines größten Reichtums im Jahr 1937 (1,4 Milliarden Dollar) 45 ergibt ein Jahreseinkommen, das dem von rund 116000 Amerika­ nern entsprach. Rockefeller war demnach fast viermal so reich wie Crassus und mehr als doppelt so reich wie Andrew Carnegie. Mit den Personen, deren Arbeitskraft er kaufen konnte, hätte man leicht das Rose Bowl-Stadium in Pasadena füllen können - und viele Leute wären draußen geblieben. Wie steht Bill Gates in einem solchen Vergleich da? Forbes be­ zifferte sein Vermögen im Jahr 2005 auf 50 Milliarden Dollar. Sein Jahreseinkommen könnte man daher auf 3 Milliarden Dollar schätzen, und da das BIP pro Kopf der USA im Jahr 2005 bei etwa 40 000 Dollar lag, hätte Bill Gates mit seinem Einkommen über die Arbeitsergebnisse von rund 75 000 Menschen verfügen können. Damit lag er irgendwo zwischen Andrew Carnegie und John D. Rockefeller, war jedoch sehr viel reicher als der „arme" Marcus Crassus. Aber diese Berechnung lässt die Frage offen, wo Milliardäre wie der Russe Michail Chodorkowski und der Mexikaner Carlos Slim einzuordnen sind, die zugleich „national" und „global" sind. Cho­ dorkowskis Vermögen wurde im Jahr 2003, als er der reichste Mann Russlands war, auf 24 Milliarden Dollar geschätzt.46 Im globalen Maßstab konnte sich sein Reichtum nicht mit dem von Bill Gates messen. Wenn wir sein Vermögen jedoch in den russi56

Wer war der reichste Mensch aller Zeiten?

sehen Kontext einordnen und dieselben Annahmen wie zuvor zugrunde legen, stellen wir fest, dass er mit seinem Einkommen die Arbeitsleistung von mehr als einer Viertelmillion Menschen in Russland kaufen konnte. Anders ausgedrückt: Setzt man Chodor­ kowskis Reichtum in Beziehung zum relativ niedrigen Durch­ schnittseinkommen seiner russischen Landsleute, dann war er reicher und potenziell mächtiger als Rockefeller in den Vereinig­ ten Staaten im Jahr 1937. Vermutlich war es diese Tatsache - die potenzielle politische Macht - die den Kreml hellhörig werden ließ. Nur aus seinem Einkommen, ohne sein Vermögen anzutasten, hätte Chodorkowski eine Armee von einer Viertelmillion Mann aufstellen können. Fast wie eine Regierung verhandelte er sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Chinesen über den Bau neuer Erdgas- und Erdölpipelines. Seine potenzielle Macht führte zu seinem Sturz und brachte ihn ins Gefängnis. Aber die Ge­ schichte hat uns gelehrt, dass man auf dem Weg zur Macht in Russland oft einen Umweg über Sibirien machen muss. Vielleicht werden wir noch von Chodorkowski hören. Der Mexikaner Carlos Slim ist noch reicher als Chodorkowski. Das Magazin Forbes schätzte sein Vermögen vor der globalen Fi­ nanzkrise im Jahr 2008 auf mehr als 53 Milliarden Dollar. Wenn wir dieselbe Berechnung wie zuvor anstellen, zeigt sich, dass Slim über die Arbeitskraft von noch mehr Menschen verfügen konnte als Chodorkowski auf dem Höhepunkt seines Reichtums: Er konnte die Arbeitsleistung von etwa 440 000 Mexikanern kaufen. Ordnet man das Vermögen also lokal ein, so scheint Slim der Reichste unter den Reichen zu sein! Keine Arena in Mexiko, nicht einmal das berühmte Aztekenstadion, könnte all die Mexikaner aufnehmen, deren Arbeitsleistung Slim mit seinem Jahreseinkom­ men kaufen könnte. Wir müssen einen weiteren Faktor berücksichtigen, der solche Vergleiche erschwert: die Größe der Bevölkerung. Als Crassus über die Arbeitsleistung von 32 000 Menschen verfügen konnte, entsprach sein Jahreseinkommen dem des 1500sten Teils aller 57

Skizze 1.3

Einwohner des Römischen Reichs. Die 116 000 Amerikaner, die zusammen ein so hohes Einkommen wie Rockefeller erzielten, stellten den 11 OOsten Teil der Einwohner des Landes, weshalb Rockefeller gemessen an beiden Maßstäben Crassus übertraf. Können wir also sagen, wer der Reichste von allen war? Da die Reichen im Zuge der Globalisierung ebenfalls dazu übergehen, ihr Vermögen mit dem von Reichen in anderen Ländern zu ver­ gleichen, war vermutlich Rockefeller der Reichste von allen, weil er im zu diesem Zeitpunkt reichsten Land der Welt über die größ­ te Zahl von Arbeitseinheiten verfügen konnte. Aber wenn sich die Superreichen entschließen, eine politische Rolle in ihrem Land zu übernehmen ( das so wie Russland und Mexiko möglicherweise nicht zu den reichsten Ländern der Welt zählt), kann ihre Macht in diesem Land sogar größer sein als die des reichsten Mannes der Welt.

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Skizze 1 .4

Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich?

E

s gibt eine unausgesprochene Theorie der Einkommensun­ gleichheit in vorindustrieller Zeit. Die für die Erforschung der Ungleichheit grundlegende Kuznets-Hypothese (siehe Essay I und Skizze 1.10) besagt, dass man, wenn man die Entwicklung der Ungleichheit von einer Agrargesellschaft zur „modernen" In­ dustriegesellschaft graphisch darstellt, eine Kurve erhält, deren Verlauf dem eines umgedrehten U entspricht. Die Ungleichheit nimmt demnach nur zu, wenn eine Gesellschaft einen langwieri­ gen Modernisierungsprozess durchläuft, was bedeutet, dass die Ungleichheit in vorindustriellen Gesellschaften - einschließlich der hoch entwickelten wie der römischen - gering sein sollte. Aber wir haben uns ein anderes Bild von den vorindustriellen Gesell­ schaften gemacht: Wir sehen Gesellschaften, in denen tiefstes Elend an der Basis der Gesellschaft mit ungeheurem Reichtum an der Spitze einherging. Besteht die Möglichkeit, dass beide Vorstel­ lungen richtig sind? Wie wir im Folgenden sehen werden, ist es tatsächlich so, und dies ist eines der Schlüsselmerkmale, welche die Ungleichheit in vormoderner Zeit von der Ungleichheit in moderner Zeit unterscheidet. Beginnen wir mit einer groben Darstellung der Sozialstruktur des frühen römischen Kaiserreiches. Gemeint sind die ersten bei­ den Jahrhunderte der christlichen Zeit, das heißt etwa vom Machtantritt Oktavians (des späteren Augustus) im Jahr 31 n. Chr. bis zur Herrschaft der „fünf guten Kaiser", die mit dem Machtan­ tritt des Commodus (des Sohns von Marcus Aurelius) im Jahr 180 beginnt. In dieser Phase beginnt auch der von Gibbon in seinem berühmten Werk beschriebene „Niedergang" Roms. An der Spitze des Staates stand im frühen Kaiserreich selbstver­ ständlich der Kaiser - und zwar sowohl politisch als auch finan-

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Skizze 1.4

ziell. Wie reich war der Kaiser, genauer gesagt: Wie reich war seine Familie? Das jährliche Einkommen des Haushalts von Augustus wird auf 15 Millionen Sesterzen geschätzt, was etwa 0,08 Prozent des Gesamteinkommens des Reichs entsprach (in dem zu jener Zeit zwischen 50 und 55 Millionen Menschen lebten).47 Das ent­ spricht etwa dem Achtfachen des Einkommensanteils des engli­ schen Königs Georg III. zu Beginn des 19. Jahrhunderts.48 (Georg III. war zufällig auch der König in der Zeit, in der Stolz und Vor­ urteil spielt; siehe Skizze 1. 1.) Die posthumen Schenkungen von Augustus an das Volk, die aus privaten und öffentlichen Mitteln bezahlt wurden, bezifferte Tacitus auf 43,5 Millionen Sesterzen,49 das heißt etwa 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Rei­ ches. Das ist etwa so, als hätte George W Bush am Ende seiner Amtszeit 30 Milliarden Dollar aus seinem Privatvermögen ge­ spendet, um sie unter den amerikanischen Bürgern zu verteilen. Augustus' Großzügigkeit war keineswegs einzigartig. Im Jahr 33 spendete sein Nachfolger Tiberius etwa 0,5 Prozent des BIP (gemessen am heutigen Einkommen der USA entspricht das 75 Milliarden Dollar), um eine Liquiditätskrise der Banken zu bewäl­ tigen - ganz ähnlich wie es das amerikanische Finanzministerium im Jahr 2009 gemeinsam mit der Federal Reserve tat. Die Schil­ derung von Tacitus wirkt verblüffend modern, wenn man davon absieht, dass hier nicht der Staat, sondern eine einzelne Person die Rettungsgelder zur Verfügung stellt: Das aber, was man als Auskunftsmittel ergriffen hatte, Verkauf und Kauf, nahm eine entgegengesetzte Wendung, weil die Ka­ pitalisten alles Geld zum Erhandeln von Ländereien zurückge­ legt hatten. Da die vielfache Aufforderung zum Verkaufe Wohl­ feilheit zur Folge hatte, so musste ein jeder, je verschuldeter er war, nur desto schlechter bei der Veräußerung fahren, und vie­ le kamen ganz zum Falle; die Zerrüttung des Vermögens aber brachte auch um Ansehen und Ruf, bis der Cäsar Hilfe schaff­ te, indem er hundert Millionen Sesterze an die Wechselbänke verteilte und davon auf drei Jahre ohne Zinsen Darlehn zu neh-

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Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich?

men erlaubte, wenn der Schuldner dem Volke für das Doppel­ te in Grundstücken Sicherheit leistete. So ward der Kredit wie­ derhergestellt, und es fanden sich allmählich auch wieder Privatleute als Gläubiger.50 Im Jahr 36 verteilte Tiberius genauso viel Geld, um die Bevölke­ rung für die Verluste zu entschädigen, die sie durch einen Groß­ brand in Rom erlitten hatte.51 In seinem früheren Werk Historiae schätzte Tacitus den Gesamtumfang der Schenkungen in Neros vierzehnjähriger Regierungszeit auf 2,32 Milliarden Sesterzen, was etwa 10 Prozent des jährlichen BIP entsprach. Woher kam all dieses Geld? Waren es private oder öffentliche Mittel? Unterschie­ den die Kaiser deutlich zwischen ihrem eigenen Geld und dem des Staates? Vermutlich nicht. Der griechisch-römische Historiker Cassius Dio beschreibt Oktavians Umgang mit öffentlichen und privaten Geldern so: ,,Denn dem Schein nach waren die Staatsgel­ der von den seinigen geschieden, im Grunde aber wurden auch diese nach seinem Willen verwendet. "52 Der Stanford-Historiker Walter Scheide!, einer der herausragenden Experten für Römische Geschichte, erklärt, das Verhalten der Kaiser sei am ehesten mit dem zu vergleichen, das die saudischen Herrscher der Gegenwart im Umgang mit privaten und öffentlichen Geldern an den Tag legen. 53 Eines steht außer Zweifel: Die Kaiser waren extrem reich. Aber sie waren nicht die einzigen reichen Männer im Römischen Reich. Viele Leute verdienten ein Vermögen in der Verwaltung und mit der Plünderung der Provinzen: ,,Die Schätze wurden nicht mit der Schaufel, sondern mit dem Schwert ausgegraben", wie es der eng­ lische Ökonom Alfred Marshall ausdrückte. 54 Wir haben bereits gesehen (in Skizze 1.3), dass der reichste Mann in der römischen Kaiserzeit wahrscheinlich kein Kaiser war. In dieser plutokrati­ schen Gesellschaft hing die Zugehörigkeit zu den herrschenden Klassen davon ab, dass man einen Titel geerbt hatte und über gewaltigen Reichtum verfügte. Um zu gewährleisten, dass beide Bedingungen erfüllt waren, gab es einen ausdrücklichen Zensus

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Skizze 1.4

(eine Vermögenseinstufung) für die obersten drei Klassen: für die Senatoren, die Ritter und die Decurionen (Stadtratsmitglieder). Die ersten beiden Klassen lebten in Rom (oder im übrigen Itali­ en), die dritte war, wie der Name verrät, über das Reich verteilt. Der erforderliche Mindestbetrag waren in der Frühzeit des Kaiser­ reichs 1 Million Sesterzen für Senatoren und 250 000 für Ritter. Um diese Zahlen einordnen zu können, müssen wir berücksichti­ gen, dass der durchschnittliche Senator wahrscheinlich ein Ver­ mögen von 3 Millionen Sesterzen hatte, das bei einem herkömm­ lichen Zinssatz von 6 Prozent ein jährliches Einkommen von etwa 180 000 Sesterzen abwarf Das war etwa das Fünfhundertfache des damaligen Durchschnittseinkommens im Römischen Reich. Wollte man das auf die Gegenwart übertragen, so würde das be­ deuten, dass amerikanische Senatoren ein Einkommen (nicht ein Vermögen!) von etwa 21 Millionen Dollar im Jahr haben müss­ ten.55 Diese sind vergleichsweise arm, liegt ihr Jahreseinkommen doch bei weniger als 200 000 Dollar und ihr geschätztes durch­ schnittliches Nettovermögen bei etwa 9 Millionen Dollar.56 Wenn man eine jährliche Rendite von 6 Prozent auf ihr Vermögen zu­ grundelegt und den Gehältern hinzurechnet, so läge ihr Durch­ schnittseinkommen immer noch unter 700 000 Dollar - ein Bruchteil des Einkommens der römischen Senatsmitglieder. Die Zahl der römischen Senatoren war jedoch gering (es waren vielleicht 600), während es wahrscheinlich mehr als 40 000 Ritter gab. Sehr viel unsicherer sind die Daten zu den Decurionen, denn die Vermögenserfordernisse waren von Stadt zu Stadt unterschied­ lich (sie hingen vom örtlichen Wohlstandsniveau ab), und für eine Berechnung, die sämtliche Stadtratsmitglieder im Römischen Reich beinhaltet, brauchen wir Schätzungen zur Zahl der Städte, zur Größe der Stadträte und so weiter. Aber um uns eine ungefäh­ re Vorstellung zu machen, können wir festhalten, dass die Zahl der Decurionen auf 130 000 bis 360 000 geschätzt wird. Egal, welche Zahl aus dieser Bandbreite man verwendet, kommt man bei einer Addition der drei reichsten Klassen auf 200 000 bis 400 000 Menschen. In Anbetracht einer Gesamtbevölkerung von 62

Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich?

50 bis 55 Millionen Menschen war die Spitze der Pyramide also eher klein. Die reichsten Klassen machten weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.57 Es kann nicht überraschen, dass die große Mehrheit der Men­ schen von einem sehr geringen Einkommen lebte: Es lag auf dem Subsistenzniveau oder knapp darüber. Der Einkommensgradient, der Aufschluss darüber gibt, wie schnell sich das Einkommen zwi­ schen den ärmeren und reicheren Klassen verändert, war damals sehr viel flacher als in modernen Gesellschaften. Die prozentualen Einkommensunterschiede innerhalb dieser Bevölkerungsmasse waren gering. Aber der Einkommensgradient war nur bis zu ei­ nem sehr hohen Punkt in der Verteilung flach. An diesem Punkt ganz in der Nähe der Spitze der Verteilung stieg der Gradient plötzlich sehr viel deutlicher an als in modernen Gesellschaften. So unterschied sich das Einkommen der Menschen in der Mitte der Verteilung in Rom nicht sehr vom Einkommen der Armen, anders als in einer modernen Gesellschaft, in der der Gradient stetig ansteigt. Die Zahl jener Menschen, die wir heute der „Mit­ telschicht" zurechnen würden, war sehr gering. Wir sehen also, warum beide Vorstellungen - sowohl die von allgemeiner Gleichheit als auch die von extremer Einkommensun­ gleichheit zwischen den Bürgern des Römischen Reichs - richtig sind. Sie beziehen sich einfach auf verschiedene Teile der Einkom­ mensverteilung. Die Vorstellung von gleichmäßig verteilter Ar­ mut wird bestätigt, wenn wir uns den Einkommensgradienten des Großteils der Verteilung ansehen oder die üblichen Maßstäbe der Einkommensungleichheit anlegen. Mit diesen summarischen Maßstäben wird das Einkommen sämtlicher Mitglieder einer Ge­ sellschaft erfasst - und da sich die Einkommen der meisten römi­ schen Bürger kaum voneinander unterschieden, kann auch das Maß der Ungleichheit nicht hoch ausfallen. Wenn wir den Gini­ Koeffizienten heranziehen, das bevorzugte Maß der Ungleichheit (siehe Essay 1), so stellen wir fest, dass der Wert für die Ungleich­ heit im Römischen Reich bei etwa 41 bis 42 Punkten lag. 58 Dieses Maß an Ungleichheit ist fast identisch mit dem der heutigen Ver-

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Skizze 1.4

einigten Staaten und der erweiterten Europäischen Union (siehe auch Skizze 3.3). Aber auch die zweite Vorstellung (gewaltiger Reichtum inmitten verbreiteter Armut) erweist sich als zutreffend, wenn wir uns die Extreme der Verteilung ansehen: Die Kluft zwi­ schen den beiden Extremen war sehr viel tiefer als in einer moder­ nen Gesellschaft vorstellbar. Es gab auch räumliche Einkommensunterschiede. In der hier untersuchten Kaiserzeit erstreckte sich das Römische Reich, das von einem einzigen Zentrum aus regiert wurde, über ein gewal­ tiges Gebiet, das sich vom heutigen Marokko und Spanien im Westen bis zum heutigen Armenien im Osten und von England im Norden bis zum Persischen Golf im Süden erstreckte (obwohl das Reich diesen Punkt nur unter Trajan [98-117] erreichte und sich später wieder vom Golf zurückzog). Es erstreckte sich über 3,4 Millionen Quadratkilometer, was etwa drei Vierteln der kon­ tinentalen Fläche der Vereinigten Staaten entspricht. Über diese riesige Fläche verteilt lebten etwa 50 bis 55 Millionen Menschen (womit die Bevölkerungsdichte nur ein Fünftel jener der heuti­ gen Vereinigten Staaten erreichte), deren Gesellschaften sehr un­ terschiedliche Entwicklungs- und Einkommensniveaus erreicht hatten. Der Wirtschaftshistoriker Angus Maddison hat Schät­ zungen zur regionalen Spreizung der Einkommen angestellt: 59 Am reichsten war die italienische Halbinsel, wo das Einkommen rund 50 Prozent höher war als im Durchschnitt des Reiches. Es folgte Ägypten (die Kornkammer des Römischen Reiches), das ebenfalls etwas wohlhabender war als der Durchschnitt des Reiches. Dann kamen Griechenland, Kleinasien, Teile Afrikas (Libyen und das heutige Tunesien), Südspanien (ein Gebiet, das sich etwa mit dem des heutigen Andalusien deckt) und der Sü­ den Galliens (die heutige Provence). Die Unterschiede zwischen den noch ärmeren Regionen waren gering: Die Inseln (Sizilien, Sardinien und Korsika) waren möglicherweise ein wenig wohl­ habender als Gallien, dann folgten Nordafrika (das heutige Al­ gerien und Marokko) und das Schlusslicht bildeten die östlichen Provinzen an der unteren Donau. Das Einkommensverhältnis

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Wie groß war die Ungleichheit im Römischen Reich?

zwischen den reichsten und ärmsten Regionen war mit etwa 2 zu 1 relativ gering. 60 Wenn man sich die heutigen Einkommen der Gebiete ansieht, die Teil des frühen römischen Kaiserreichs waren, fällt sofort auf, dass die regionalen Unterschiede heute sehr viel größer sind als damals. An der Spitze stehen heute die Schweiz, Österreich, Bel­ gien und Frankreich mit einem kaufkraftparitätischen BIP pro Kopf von rund 35 000 Dollar. 61 Am anderen Ende finden wir Tunesien und Algerien mit einem BIP pro Kopf zwischen 7000 und 8000 Dollar (nur unwesentlich besser stehen die Balkanlän­ der da). Damit ist das Einkommensverhältnis zwischen den „rö­ mischen Provinzen" auf 5 zu 1 gestiegen. Und auch die Hackord­ nung zwischen den „Provinzen" hat sich geändert. Grob gesagt war der Süden damals reicher als der Norden; heute ist es umge­ kehrt. Aber der Vorteil Westeuropas gegenüber dem Osten besteht weiter.

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Skizze 1.5 War der Sozialismus egalitär?

D

ie verkürzte Antwort auf diese Frage lautet: Ja, der Sozialis­ mus war egalitär. 62 Das können wir nicht nur daraus schlie­ ßen, dass der Übergang zur Marktwirtschaft (teilweise) zu einer gewaltigen Zunahme der Ungleichheit in den ehemals sozialisti­ schen Ländern geführt hat. Wir wissen es auch aus den verglei­ chenden Untersuchungen zur Ungleichheit im Sozialismus und im Kapitalismus zu einer Zeit, als es noch sozialistische Staaten gab. In Regressionsanalysen, in denen die Ungleichheit als Funk­ tion der Einkommensniveaus dargestellt wird (siehe Essay I und Skizze 1.10), wurde es üblich, für die sozialistischen Länder zu­ sätzlich zum Einkommen eine Dummy-Variable zu verwenden, das heißt eine spezifische Variable, die nur die Werte O oder 1 haben kann (in diesem Fall 1, wenn ein Land sozialistisch war, 0, wenn es nicht sozialistisch war), und davon auszugehen, dass der Koeffizient dieser Variable ein negatives Vorzeichen haben würde - was bedeutete, dass bei ansonsten gleichen Bedingungen die Tatsache, dass ein Land sozialistisch war, gleichbedeutend mit ei­ nem geringeren Maß an Ungleichheit war. 63 Nun stellen sich vier wichtige Fragen: In welchem Maß war die Gleichheit in sozialistischen Gesellschaften stärker ausgeprägt als in den kapitalistischen Gesellschaften? Wie wurde dieses höhere Maß an Gleichheit erreicht? Lohnte es sich? Und welche Art von Ungleichheit gab es im Sozialismus? Die Gini-Koeffizienten der sozialistischen Länder lagen bei etwa 30 Punkten (siehe Essay I für die empirischen Werte des Gini-Koeffizienten). Diese Werte zählten zu den niedrigsten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Messung der Ungleichheit in den meisten Ländern der Welt üblich wurde. Grob gesagt war die Un­ gleichheit in den sozialistischen Ländern um 6 bis 7 Gini-Punkte geringer als in den kapitalistischen, wobei westeuropäische Länder 66

War der Sozialismus egalitär?

wie die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und Dänemark in den siebziger und achtziger Jahren Gini-Koeffizienten zwischen 30 und 35 aufwiesen. Wenn wir dieses Verhältnis in Prozenten aus­ drücken, können wir sagen, dass der Sozialismus die Ungleichheit um etwa ein Viertel gegenüber dem Kapitalismus verringerte. Aber nach der Rückkehr zur freien Marktwirtschaft in den neun­ ziger Jahren nahm die Ungleichheit in den ehemals sozialistischen Ländern oft deutlicher zu: In Russland beispielsweise verdoppelte sie sich. Allerdings handelt es sich bei dieser Ungleichheit im „neuen Kapitalismus" dieser Länder wahrscheinlich um eine ,,Überreaktion": Wären sie „normale" kapitalistische Länder ge­ wesen, so wäre es nicht zu einer derart großen Zunahme der Un­ gleichheit gekommen. Die Gründe für die Entwicklung finden wir in einer von ausufernder Korruption begleiteten Privatisie­ rung, die einigen wenigen Menschen gewaltigen Reichtum und vielen anderen Armut und Arbeitslosigkeit brachte, sowie in der Tatsache, dass die neunziger Jahre anders als die siebziger und sogar die achtziger Jahre ein „Jahrzehnt der Ungleichheit" waren. In dieser Zeit nahm die Ungleichheit fast überall zu und wurde nicht mehr so negativ beurteilt wie in der Blütezeit des Wohl­ fahrtskapitalismus. Die postkommunistischen Länder „imitier­ ten" also die westlichen Länder, als sie zuließen, dass die Un­ gleichheit in den neunziger Jahren deutlich zunahm. Wie bewerkstelligte der Sozialismus größere Gleichheit? Meh­ rere Faktoren trugen zur Entwicklung bei. Erstens beseitigte die Verstaatlichung der Produktionsmittel und des Bodens (bzw. die Landreform in mehreren Ländern) die großen Vermögen, die auf Industrie und Grundbesitz beruht hatten. Das gilt insbesondere für Länder wie Russland (nach der Revolution von 1917) sowie Ungarn und Polen (nach 1947), wo es bis dahin noch weitläufige Ländereien gegeben hatte. In allen sozialistischen Ländern ver­ schwand das private Unternehmertum, die Unternehmen wurden verstaatlicht und die Börsen geschlossen. Die Bodenschätze wur­ den ebenfalls vergesellschaftet. Auf diese Art wurden die Spitzen­ einkommen erheblich verringert. Zweitens kappte die Vollbe-

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Skizze 1.5

schäftigung das untere Ende der Einkommensverteilung, so wie die Verstaatlichung die Spitze kappte. Jedermann hatte eine Arbeit und so gering der Lohn auch sein mochte (tatsächlich waren viele dieser vorgeblichen Arbeitsplätze weitgehend unproduktiv), war dies doch besser als Arbeitslosigkeit. Drittens erhöhte die kosten­ lose und verpflichtende öffentliche Bildung das Bildungsniveau der Bevölkerung und klare Regelungen zur Beschränkung der Lohnspreizung zwischen geistigen und körperlichen sowie zwi­ schen mehr und weniger qualifizierten Tätigkeiten verringerten den Bildungsbonus. In den kapitalistischen Volkswirtschaften er­ höht jedes zusätzliche Bildungsjahr im Allgemeinen das Einkom­ men um 7 bis 9 Prozent. Im Sozialismus wurde dieser Zuwachs halbiert.64 Die Folge war eine sehr viel schmalere Lohnverteilung als in den kapitalistischen Volkswirtschaften. Schließlich trug ein Netz von Sozialtransfers - von subventionierten öffentlichen Ver­ kehrsdiensten und bezuschusstem Urlaub bis zu Kinderzuschüs­ sen und Renten, die im Grunde jedem zustanden - weiter zur Nivellierung der Einkommen bei. Die geringe Differenzierung der Arbeitseinkommen sowie Sozialleistungen, die einfach abhän­ gig von demographischen Merkmalen verteilt wurden (z. B. an alle Kinder, an alle über Sechzigjährigen usw.), bewegten einige Ökonomen zu der Annahme, im Sozialismus könne man das Ein­ kommen der Haushalte allein anhand ihrer demographischen Merkmale bestimmen, das heißt abhängig davon, ob in einem Haushalt zwei oder drei Kinder lebten, wie alt die Eltern waren, ob beide Elternteile arbeiteten und so weiter.65 Wenn das der Fall ist, spielen die individuelle Bildung, die Anstrengung und die Fä­ higkeiten der Menschen offenkundig keine Rolle mehr. Diese Faktoren werden das Familieneinkommen nicht erhöhen. Und genau das war das Problem der sozialistischen Nivellie­ rung. Sie beseitigte alle oder fast alle Anreize, härter zu arbeiten und mehr zu lernen. Unternehmerisches Engagement war natür­ lich unmöglich, da es kein Privateigentum und daher keine indi­ viduellen Entrepreneure gab (wenn solche Unternehmer auf­ tauchten, wurden sie als „Spekulanten" gebrandmarkt und

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War der Sozialismus egalitär?

unverzüglich ins Gefängnis gesteckt). Aber selbst wenn wir das Unternehmertum beiseitelassen (schließlich stellen die Entrepre­ neure in fast jeder Gesellschaft nur wenige Prozent der Bevölke­ rung), beseitigte die Nivellierung der Einkommen alle Anreize für eine Erhöhung der persönlichen Produktivität. Warum sollte man sich mehr anstrengen, wenn man nichts davon hatte? Allerdings wurde zu Beginn von Stalins Herrschaft mit den Fünfjahresplänen eine extreme Form der Akkordarbeit eingeführt (extremer als die im amerikanischen Industriekapitalismus angewandte Methode), was zur Folge hatte, dass die Lohnspreizung zunahm. Aber das war eher eine Abweichung vom sozialistischen Weg. Wir konzen­ trieren uns hier auf den reifen und behäbigen Sozialismus der Jah­ re 1960 bis 1989. Es kann nicht überraschen, dass der Mangel an Anreizen dazu führte, dass die Produktivität stagnierte oder nur noch sehr lang­ sam stieg. Die Innovation kam ebenfalls zum Stillstand. Warum sollte man ein neues Produkt erfinden oder die Verfahren zur Er­ zeugung eines bestehenden Produkts verbessern, wenn man nicht dafür belohnt wurde? Es ist aufschlussreich, dass die sozialisti­ schen Volkswirtschaften in den fünfzig bis siebzig Jahren ihrer Existenz nicht ein einziges Konsumgut hervorbrachten, das ex­ porttauglich gewesen wäre und auf dem Weltmarkt Erfolg gehabt hätte. In der Sowjetunion gab es außerhalb des Komplexes der Rüstungs- und Raumfahrtindustrie keine sozialistische Marke. Das sozialistische Wirtschaftssystem brachte nie ein erfolgreiches Auto, eine Stereoanlage, eine Uhr, ein ansprechend gestaltetes Kleidungsstück hervor. Das ist ungewöhnlich, denn das „Reverse Engineering" westlicher Autos und in der Folge die Erzeugung mindestens ebenso guter Autos hätte eigentlich keine unmögliche Aufgabe für ein planwirtschaftliches System sein sollen, das jedem Vorhaben beliebig viele Ressourcen zuweisen konnte. Nicht ein­ mal die DDR (das technologisch fortschrittlichste sozialistische Land) brachte etwas Besseres zustande als den Trabant oder den Wartburg, eher bedauernswerte Versuche, westdeutsche Autos zu kopieren. Wenn der Mangel an Leistungs- und lnnovationsanrei-

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Skizze 1.5

zen also einer der Hauptgründe für den Stillstand und Zusam­ menbruch des Sozialismus war, ist die Frage legitim, ob sich das Mehr an Gleichheit lohnte. Und welche Art von Ungleichheit gab es im Sozialismus? Die Ungleichheit war in diesem System politischen Ursprungs. Jene Bürger, die wichtige politische Funktionen erfüllten, waren „glei­ cher" als die anderen. Dies waren hochrangige Funktionäre der Kommunistischen Partei oder Staatsbeamte (wobei beide Funkti­ onen austauschbar waren), Leiter großer Staatsbetriebe, regime­ treue Dichter, hochdekorierte Angehörige des Militärs oder der Polizei und so weiter. Und Voraussetzung für eine hochrangige Funktion war, dass man eine gute Position in der Kommunisti­ schen Partei einnahm, da die Spitzenjobs ausschließlich innerhalb der Gruppe der Parteifunktionäre verteilt wurden. Diese Gruppe sollte jedoch nicht als eine Art von mittelalterlicher Gesellschafts­ klasse betrachtet werden. Man kann sie sich eher als eine bürokra­ tische Meritokratie vorstellen, denn die Aufwärts- und Abwärts­ mobilität in den kommunistischen Parteien war durchaus groß. Milovan Djilas, ein jugoslawischer Kommunist, der sich später (aus freien Stücken) in einen Dissidenten verwandelte, bezeichne­ te diese Gruppe im Jahr 1953 als „neue Klasse". Die Bezeichnung setzte sich durch. 66 Wenn wir die Ungleichheit im Sozialismus verstehen wollen, müssen wir jedoch noch eine weitere Tatsache berücksichtigen. Die Vergünstigungen waren eng mit den Tätigkeiten verbunden und wurden von Amts wegen gewährt: eine große Wohnung mit lächerlich geringer Miete, kostenlose Urlaube in schönen Hotels oder V illen, eine Datscha auf dem Land und - auf sehr hoher Ebene - ein Dienstwagen mit Chauffeur und vielleicht sogar Dienstboten (obwohl das selten war). Das Einkommen hingegen stieg nicht deutlich. Es war kein Zufall, dass die Privilegien mit der Tätigkeit verknüpft waren: Dieses System gewährleistete, dass die Inhaber der Posten nicht nach Unabhängigkeit von den Par­ teioberen strebten oder allzu „freigeistig" wurden, denn wer von der Parteilinie abwich, war seinen Posten rasch wieder los, was mit

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War der Sozialismus egalitär?

einem plötzlichen Verlust aller Privilegien einherging. Und da selbst die Spitzenkader nicht viel mehr verdienten als gewöhnliche Arbeiter oder Angestellte, konnten sie kein persönliches Vermö­ gen anhäufen, von dem sie nach einem Sturz hätten zehren kön­ nen. Wie wir wissen, dient der persönliche Wohlstand als Boll­ werk gegen staatliche Willkür und gibt uns die Mittel in die Hand, um unsere persönliche Freiheit zu verwirklichen. 67 Wenn man kein Vermögen aufbauen kann und wenn alle Privilegien an eine von der Partei zugestandene Funktion gekoppelt sind, hat man beträchtliche Anreize, nicht unangenehm aufzufallen. Auch die Arbeitsplatzgarantie, ein weiteres Instrument, das die Gleichheit fördert, sollte in seinem politischen Kontext betrachtet werden. So wie die Koppelung des beruflichen Wohlergehens an die Parteitreue diente auch die garantierte und verpflichtende Vollbeschäftigung der politischen Kontrolle über die Bevölke­ rung. Ihren Ursprung hatte sie in zwei miteinander verknüpften Behauptungen: Der Sozialismus wird die Wirtschaftszyklen besei­ tigen (weshalb die Vollbeschäftigung auf Dauer garantiert werden kann), und da er ein die gesamte Gesellschaft umfassendes Projekt ist, erfordert der Sozialismus die Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft. Daher musste jedermann arbeiten und seinen Bei­ trag zum Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft leisten. Aber einige Regimes, insbesondere das sowjetische, wandten das Konzept der Vollbeschäftigung sehr kreativ an: Dissidenten verlo­ ren ihren Arbeitsplatz, erhielten keinen anderen und wurden an­ schließend wegen „Vagabundierens", ,,asozialen Verhaltens" oder „Parasitentums" eingesperrt - man warf ihnen vor, nicht bereit zu sein, zum „Aufbau des Sozialismus" beizutragen. 68 Obwohl empirische Studien durchweg ergeben, dass die Un­ gleichheit im Sozialismus gering war, hatten viele Menschen, die unter diesem Regime lebten, sowie zahlreiche westliche Beobach­ ter sehr wohl den Eindruck, dass die Ungleichheit zwischen der „neuen Klasse" und dem „Rest" gewaltig war. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens hatten die Personen an der Spitze der politischen Hierarchie (und jene, die ihnen nahestanden) besseren Zugang zu

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Skizze 1.5

knappen Gütern. Da der Großteil der Bevölkerung stundenlang Schlange stehen musste, um an ein Stück Fleisch heranzukom­ men, oder von einem Laden zum anderen laufen musste, um But­ ter und Speiseöl zu finden, wirkte ein leichter Zugang zu solchen Produkten (die teilweise sogar importiert wurden) wie ein großer Luxus, selbst wenn ihr objektiver Wert eher gering war. Zweitens bestand ein tiefer Widerspruch zwischen der Behauptung der Par­ teiführung, der Sozialismus sei dem Kapitalismus überlegen, und der Tatsache, dass die Parteiführer im Alltag hemmungslos Jagd auf die im Westen erzeugten Güter machten. Dieser Widerspruch entging der Bevölkerung nicht und führte zu Verbitterung nicht nur bei den Regimegegnern, sondern auch bei denen, die sich als ,,wahre Gläubige" betrachteten. In allen kommunistischen Län­ dern zogen die Mitglieder der politischen Elite westdeutsche Au­ tos den ostdeutschen vor. Die Angehörigen der neuen Klasse tru­ gen lieber italienische als bulgarische Schuhe, und sie kauften keine tschechischen, sondern japanische Stereoanlagen. Dieses Verhalten bewies, dass sie selbst nicht glaubten, was sie sagten, und obendrein verschärfte es die Ungleichheit, indem es sie un­ übersehbar machte - insbesondere, weil viele der importierten Güter für die Mehrheit der Bevölkerung vollkommen unerreich­ bar waren. Ich glaube, wenige Dinge trugen mehr zur Enttäuschung der Bevölkerung über den Kommunismus bei als die Konsumlaune der politischen Führung. Gewiss, der Wert jener Konsumgüter war lächerlich gering im Vergleich zu dem, was sich die heutigen Oligarchen oder die Reichen im Westen und in Lateinamerika leisten. Verglichen mit anderen Eliten war die kommunistische relativ arm. Entscheidend ist jedoch, dass ihr Verhalten besonders auffiel, weil es in so krassem Widerspruch zu der Ideologie stand, die sie predigten. Aufstieg und Fall des Kommunismus können sehr unterschied­ lich interpretiert werden. Was die Ungleichheit anbelangt, so kön­ nen wir einige bedeutsame Lehren aus der Entwicklung der sozi­ alistischen Gesellschaften ziehen. Erstens widerlegt sie Vilfredo

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War der Sozialismus egalitär?

Paretos „ehernes Gesetz" der Einkommensverteilung, denn sie zeigt, dass diese Verteilung durch verschiedene politische Eingrif­ fe verändert werden kann. Zweitens beweist sie, dass die wirt­ schaftliche Nivellierung (in Kombination mit politischem Zwang) zu Stagnation und schließlich zum Niedergang führt. Drittens zeigt sie, dass das Verhalten der Eliten nicht allzu offenkundig der ideologischen Rechtfertigung ihrer Herrschaft widersprechen soll­ te. Die Finanzelite an der Wall Street wäre gut beraten, sich diese dritte Lektion hinter die Ohren zu schreiben.

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Skizze 1.6

In welchem Pariser Arrondissement hätte man im 13. Jahrhundert leben sollen und in welchem sollte man heute leben? "\ [iele Leute sind entzückt vom 16. Pariser Arrondissement mit seinen gepflegten Häusern, seinen netten Restaurants, seinen einladenden kleinen Parks, seinen gepflegten Läden und seiner Atmosphäre des Wohlstands.69 Und tatsächlich geht aus den Steu­ erdaten für das Jahr 2007 hervor, dass der 16. Bezirk einer der reichsten der Stadt ist. Neben dem 5., 7. und 8. ist das 16. eines der Arrondissements, in denen das Pro-Kopf-Einkommen (das heißt das den Steuerbehörden gemeldete Einkommen) mehr als doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt der französischen Haupt­ stadt.70 Wie die Karte auf Seite 78 zeigt, liegen die dunkel schat­ tierten reichen Bezirke im Westen der Stadt an der Seine. Am anderen Ende des Spektrums finden wir die ärmsten Bezirke im Nordosten von Paris: das 18., 19. und 20. Arrondissement. Das versteuerte Pro-Kopf-Einkommen erreicht dort lediglich zwei Drittel des Pariser Durchschnitts. Diese wenigen Zahlen zeigen uns, wie groß die Unterschiede zwischen den Arrondissements sind: Das Einkommensverhältnis zwischen den reichsten und ärmsten Stadtbezirken beträgt etwa 4 zu 1 (2,5 geteilt durch we­ niger als 2 h). Allerdings finden wir auf dieser Karte nur jene Gebiete, die offiziell der Stadt Paris zugerechnet werden, das heißt die zwanzig Arrondissements, die innerhalb der Gemeindegrenze liegen (le peripherique). Das Stadtgebiet ist seit fast zwei Jahrhunderten un­ verändert. Die Vororte sind teils reicher und teils sehr viel ärmer. Das beschauliche Neuilly im Westen der Stadt ist ein Beispiel für einen reicheren Vorort; die von vorwiegend arabischen und afri­ kanischen Immigranten bewohnten Vororte, in denen im Jahr 2005 Unruhen ausbrachen, sind Beispiele für die ärmeren Rand-

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In welchem Pariser Arrondissement sollte man heute leben?

gebiete. Würden wir den gesamten Ballungsraum mit seinen 12 Millionen Einwohnern (statt der rund 2,5 Millionen Bewohner der eigentlichen Stadt) berücksichtigen, so wäre die Einkommens­ kluft zwischen den reichsten und ärmsten Teilen von Paris sehr viel größer. In den reichsten Arrondissements herrscht auch die größte Un­ gleichheit, während die Einkommen in den ärmsten Bezirken am gleichmäßigsten verteilt sind. Der Zusammenhang ist fast überall zu beobachten: Je reicher das Arrondissement, desto größer die Ungleichheit zwischen seinen Einwohnern. Das bedeutet, dass in den reichsten Stadtbezirken auch relativ arme Menschen leben die Einkommensverteilung in diesen Arrondissements ist also ei­ nigermaßen heterogen. Wenn wir uns die niedrigste Einkom­ mensgruppe ansehen (die Familien werden einer von zwölf Steuerklassen zugeordnet),7 1 stellen wir fest, dass sie ein Fünftel aller Familien im 16. Arrondissement stellen, was weitgehend dem Anteil derselben Einkommensgruppe in den armen Stadtbe­ zirken entspricht. Unterschiedlich ist vielmehr der Anteil reicher Familien. Etwa ein Fünftel der Familien in den reichen Arrondis­ sements gehören der höchsten (zwölften) Steuerklasse an, wäh­ rend es derart reiche Familien in den armen Arrondissements praktisch nicht gibt. Daher können wir feststellen, dass im heuti­ gen Paris die armen Familien einigermaßen gleichmäßig über die Stadt verteilt sind, während die reichen Familien in einigen weni­ gen Bezirken leben, insbesondere im 16. Arrondissement, wo mehr als 20 Prozent aller reichen Pariser wohnen, womit ihr An­ teil dort viermal höher ist als im Durchschnitt. Es ist nicht leicht, den Wandel der wirtschaftlichen Geographie von Städten über einen langen Zeitraum hinweg zu verfolgen, denn für die „ferne Vergangenheit" liegen keine Daten vor. Paris ist da keine Ausnahme. Es gibt für diese Stadt Steuerdaten aus dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert. Der Wirtschaftshis­ toriker Nathan Sussman von der Universität Jerusalem hat sie di­ gitalisiert und ausgewertet. 72 So wie die Daten aus dem Jahr 2007 wurden auch die früheren Daten für steuerliche Zwecke erhoben.

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Skizze 1.6

Sie geben Aufschluss über die durchschnittliche Vermögenssteuer, die von den Pariser Haushalten entrichtet wurde, genauer gesagt von den einzelnen „Herden" (foyers). Ausgehend von den Steuer­ sätzen kann man das Gesamtvermögen der Haushalte schätzen. Allerdings sind die Steuerdaten aus jener Zeit sehr viel weniger zuverlässig als heute. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung wur­ de nicht erfasst, nämlich die sehr Reichen (Adel und Klerus), die keine Steuern zahlen mussten, sowie die Ärmsten, die kein Ver­ mögen hatten und daher keine Steuern zahlen konnten. Außer­ dem haben wir es hier eher mit einer Vermögensverteilung als mit einer Einkommensverteilung zu tun, und wie wir aus zahlreichen Studien wissen, ist das Vermögen sehr viel ungleicher verteilt als das Einkommen. Dennoch können wir einen sorgfältigen Ver­ gleich anstellen, insbesondere anhand der Steuerdaten aus dem Jahr 1292, die vollständiger sind als jene für die anderen Jahre: Erfasst sind fast 15 000 Haushalte, das heißt etwa 70 000 der gut 100 000 Einwohner von Paris. 73 Paris war damals sehr viel kleiner als heute und in 24 Pfarrbe­ zirke unterteilt. Die Karee zeigt das relative Einkommen dieser Bezirke (wie bei den Arrondissements sind auch die reicheren Pfarrbezirke dunkler eingefärbt). Das Einkommensverhältnis zwischen dem reichsten Pfarrbezirk St. Jacques, der mittlerweile im 1. Arrondissement aufgegangen ist, und der ärmsten Pfarrei St. Marcel, die im Gebiet des heutigen 5. Arrondissements lag, betrug etwa 6 zu 1. Allem Anschein nach war das Einkommens­ verhältnis zwischen Reich und Arm sehr viel höher als heute, obwohl wir sehr vorsichtig sein müssen, weil wir hier mit zwei Verzerrungen konfrontiert sind, die sich (zum Glück) mögli­ cherweise einfach gegenseitig aufheben: Auf der einen Seite be­ ziehen sich die Daten für das Jahr 1292 auf die Vermögen, die stets ungleichmäßiger verteilt sind als die Einkommen. Auf der anderen Seite sind in diesen Daten die beiden Enden der Ein­ kommensverteilung (die adligen Reichen und die armen Tage­ löhner) nicht berücksichtigt, und diese Verzerrung verringert die gemessene Ungleichheit.

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In welchem Pariser Arrondissement sollte man heute leben?

Die reichsten Stadtteile lagen damals am Ostufer der Seine und auf der Insel La Cite, während die Gegend westlich der Seine är­ mer war. Das Gebiet des heutigen 16. Arrondissements war im 13. Jahrhundert kein Teil von Paris. Aber schon ein oberflächli­ cher Vergleich der beiden Karten zeigt, wie sich die Geographie von Wohlstand und Armut gewandelt hat: Die reichsten Stadttei­ le „wanderten" aus dem Zentrum und vom rechten Ufer der Seine sehr viel weiter nach Westen und überquerten den Fluss, wobei sie einen Teil des linken Seineufers nach Norden „mitnahmen". Die damals ärmsten Stadtteile (vorwiegend im Westen der Seine) lie­ gen heute in der Mitte der Pariser Einkommensverteilung und darüber, während sich jene Gebiete, die am Nordostrand der Stadt relativ weit vom Zentrum entfernt liegen und im Jahr 1292 nicht einmal zu Paris gehörten, in die ärmsten Arrondissements verwandelt haben. Welches sind die Gründe für diese geographische Migration? Die Stadtforscher Monique Pirn;:on-Charlot und Michel Pirn;:on vom Conseil National de la Recherche Scientifique erklären die Entwicklung damit, dass der Westen von Paris relativ spät, nämlich im 19. Jahrhundert, in die Stadt integriert und urbanisiert wurde.74 Dies war die wirtschaftliche Blütezeit unter Napoleon III., in der sich die haute bourgeoisie herausbildete. Diese gutsituierten Bürger wollten mehr Wohnraum und komfortablere Häuser, und der re­ lativ unterentwickelte Westen der Stadt bot ihnen entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten. Sie wollten sich auch ihre eigenen Häu­ ser bauen, anstatt sich auf eine teure Renovierung der oft herunter­ gekommenen Häuser in den überfüllten Innenstadtvierteln einzu­ lassen. Verstärkt wurde die „Westverschiebung" dadurch, dass der Osten von Paris, Faubourg Saint-Antoine, nach der Befreiung vom Gängelband der Gilden die traditionelle Heimat der Industriebe­ triebe war, was seine Attraktivität als Wohngegend deutlich schmä­ lerte. Die wohlhabenden Bürger wanderten langsam in die westli­ chen Stadtteile ab, wo sie bis heute geblieben sind. Welchen Reim können wir uns auf die offenbar seit Langem bestehende Trennung zwischen dem linken und rechten Ufer der

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Skizze 1.6

Verteilung von Vermögen oder Einkommen

D D D

Reich Durchschnittlich Arm

Quelle: Steuerdaten für 1292 und 2007

Vermögensverteilung

Paris Ende des 13.Jahrhunderts (nach Pfarrbezirken)

Einkommensverteilung

Paris im 21.Jahrhundert (nach Arrondisements)

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In welchem Pariser Arrondissement sollte man heute leben?

Seine machen? Östlich des Flusses befindet sich das Verwaltungs­ zentrum mit dem Louvre, den Ministerien, den schicken Ge­ schäftsstraßen und der Börse, während das Gebiet am Westufer von den Studenten und den Religionsgemeinschaften geprägt wird. Dieses Bild wird von der Steuererfassung aus dem späten 13. Jahrhundert vermittelt, und es ist das traditionelle Bild von Paris, von einer Stadt, die von der Seine in zwei Teile mit unter­ schiedlichen Funktionen geteilt war: Am rechten Ufer finden wir das Macht-, Handels- und Verwaltungszentrum, am linken das Zentrum des spirituellen und Geisteslebens. Aber ist das immer so gewesen? Nicht wirklich. Im römischen Lutetia existierte diese Trennung nicht. Der Palast und der Tempel standen auf der Ile de la Cite (Notre Dame befindet sich unweit des Standorts des alten römischen Palastes), aber andere wichtige Bauwerke wie die Arena, das Theater, die Bäder und das Forum lagen links der Sei­ ne.75 Kein wichtiger Bestandteil der Stadt lag am rechten Ufer. Das zeigt die Beschreibung, die der römische Kaiser Julian, der Großneffe Konstantins des Großen, im Jahr 362 von Paris gab. Julian war jener Kaiser, der die Christianisierung des Reiches bremsen und möglicherweise zur griechisch-römischen Religion zurückkehren wollte. Er, der als Caesar (Unterkaiser) mehrere Jahre in Paris verbrachte und großen Gefallen an der Stadt fand, erinnerte sich so an sie: Ich hielt mich damals im Winterquartier in meinem lieben Lutetia auf: So nennen die Kelten den Hauptort der Parisier. Die Zitadelle liegt auf einer kleinen Insel mitten im Fluß, rings von einer Mauer umgeben, hölzerne Brücken führen von beiden Ufern hinüber. Selten steigt oder sinkt der Was­ serstand des Flusses, meist ist der im Sommer so tief wie im Winter. [ ...] Weil es eine Insel ist, müssen die Bewohner ihr Wasser ja zum großen Teil aus dem Fluss nehmen. Der Win­ ter ist recht mild hier, vielleicht wegen der Wärme des Oze­ ans. [ ...] Es wächst auch ein guter Wein bei ihnen, und es gibt sogar Feigen dort, die sie kultivieren, indem sie sie im

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Skizze 1.6

Winter mit Weizenstroh und Ähnlichem wie mit einer Decke zudecken. 76 Tatsächlich war das linke Ufer damals die bessere Wahl, da dort das Risiko von Überschwemmungen geringer war. Rechts der Sei­ ne war das Gelände sumpfiger, wie uns auch der Name des be­ rühmten Viertels Le Marais (die Marschen) verrät. Dieses Gebiet musste im 12. Jahrhundert trockengelegt werden, bevor dort Häuser errichtet werden konnten. Die Wohlstandsgeographie von Paris scheint sich also seit rö­ mischer Zeit, als das Zentrum der Stadt auf der Seine-Insel (dies war vielleicht der naheliegende Ort für eine erste Siedlung, weil die Insel natürlichen Schutz bot) und am linken Flussufer lag, im Mittelalter zum rechten Ufer verschoben zu haben, um schließlich an den gegenwärtigen Ort zu wandern, sodass man sich - wenn man unter wohlhabenden Menschen leben möchte - heute im Westen der Stadt niederlassen sollte.

80

Skizze 1 .7

Wer gewinnt durch die staatliche Umverteilung?

W

enn wir von der Einkommensverteilung sprechen, haben wir fast immer die Verteilung dessen im Sinn, was in der Wirtschaftswissenschaft als „verfügbares Einkommen" bezeichnet wird. Wie die Bezeichnung sagt, handelt sich dabei um das Ein­ kommen, das den Haushalten zum Sparen oder Ausgeben zur Verfügung steht, nachdem sie die direkten Steuern bezahlt und vom Staat Transfers wie Sozialleistungen und Arbeitslosengeld er­ halten haben. Aber manchmal ist auch ein anderes Einkommens­ konzept nützlich. Gemeint ist das „Markteinkommen", das heißt das Einkommen aus Löhnen und Gehältern, Gewinnen, Zinser­ trägen, Mieten und so weiter, bevor der Fiskus seinen Teil bean­ sprucht (das heißt bevor wir Steuern entrichten oder staatliche Transferleistungen beziehen). Offenkundig handelt es sich bei Personen mit einem sehr niedrigen Markteinkommen um Perso­ nen, die entweder nicht imstande oder nicht bereit sind, ihre Ar­ beitskraft zu verkaufen, und kein Vermögen besitzen, das Erträge abwirft. In den entwickelten Ländern sind dies oft die Arbeitslo­ sen. Die staatlichen oder privaten Renten werden übrigens mit den Erwerbseinkommen gleichgesetzt (nur dass diese Einkom­ men mit Verzögerung bezogen werden) und daher als Teil des Markteinkommens betrachtet. 77 Nachdem wir dies geklärt haben, können wir uns einer häufig gestellten Frage zuwenden: Welche Einkommensgruppen profitie­ ren am meisten von der staatlichen Umverteilung (Steuern und Sozialleistungen)? Eine Theorie besagt, dass in Demokratien, in denen die Bevölkerung über die Umverteilungspolitik abstimmt, die Hauptnutznießer die Menschen in der Mitte der (Markt-) Einkommensverteilung sein sollten. Hier die Begründung dafür: Nehmen wir an, über die Steuer- und Ausgabenpolitik stimmen drei Personen ab, von denen die erste ein hohes, die zweite ein 81

Skizze 1.7

mittleres und die dritte ein niedriges Markteinkommen bezieht. (Es muss das Markteinkommen sein, weil die Menschen abhängig von diesem Einkommen entscheiden, welche Steuer- und Ausga­ benpolitik sie bevorzugen.) Die arme Person wird hohe Steuern und hohe Staatsausgaben bevorzugen, weil sie vermutlich davon profitieren wird. Die reiche Person wird niedrige Steuern vorzie­ hen, weil sie nicht davon profitiert. Den Ausschlag in der Abstim­ mung gibt also die Person mit dem mittleren Einkommen. Die Seite, der sie sich anschließt, wird die Abstimmung mit 2 zu 1 Stimmen für sich entscheiden. Entscheidend ist die Stimme des Medianwählers, den wir auch als „Mittelschichtwähler" bezeich­ nen können. Im Prinzip sollte man annehmen, dass er von der Umverteilung profitiert. Vielleicht profitiert er nicht mehr davon als die arme Person, weil die Steuersätze im Allgemeinen progres­ siv sind - sie steigen mit dem Markteinkommen -, aber wir kön­ nen zweifellos annehmen, dass der Mittelschichtwähler von der Umverteilung profitieren wird, weil er über den Steuersatz und die damit verbundenen Leistungen entscheidet. Das bedeutet, dass es ihm gemessen am verfügbaren Einkommen besser gehen würde als am gemessenen Markteinkommen. Ist das tatsächlich der Fall? Wie sich herausstellt, ist es nicht genauso, und die Ergebnisse sind widersprüchlich.78 Erstens stel­ len wir fest, dass die Armen am meisten von der Umverteilung profitieren. Ihr Einkommensanteil, der gemessen am Marktein­ kommen im Allgemeinen verschwindend gering ist, steigt nach den staatlichen Umverteilungsmaßnahmen auf ein immer noch geringes, aber akzeptables Maß. Beispielsweise hatte das ärmste Dezil der Einkommensverteilung (die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung) im Zeitraum 1980-2000 in den großen Demokra­ tien einen sehr geringen Anteil von nur 1,2 Prozent am gesamten Markteinkommen. Infolge der staatlichen Umverteilung stieg der Einkommensanteil derselben Gruppe im Durchschnitt der unter­ suchten Länder auf 4, 1 Prozent. Das ärmste Dezil gewann also fast 3 Prozentpunkte dazu. Die entsprechenden Werte für das zweitärmste Dezil liegen bei 3,6 und 5 Prozent, der Zugewinn 82

Wer gewinnt durch die staatliche Umverteilung?

beträgt in diesem Fall also 1,4 Prozent. Bei jedem weiteren (rei­ cheren) Dezil nimmt der Zugewinn ab, und das fünfte und sechs­ te Dezil müssen bereits geringfügige Einbußen hinnehmen, die selbstverständlich immer größer werden, je weiter wir uns durch die Einkommensverteilung hinaufbewegen. Wie Schaubild 1 am Beispiel der Vereinigten Staaten und Deutschlands verdeutlicht, fallen die Zugewinne nicht in allen Ländern gleich aus. In den USA gewinnt das unterste Dezil etwa 4 Prozentpunkte dazu (was, wie wir gesehen haben, der Durchschnittswert für die in der Ana­ lyse berücksichtigten Länder ist), aber in Deutschland fallt der Zugewinn dieser Einkommensgruppe mit 7 Prozentpunkten deutlich höher aus. Zwei Schlüsse drängen sich auf Anhieb auf. Erstens kommt die Umverteilung in den entwickelten Ländern vor allem denen zu­ gute, die ursprünglich am ärmsten sind, das heißt den Personen

Gewinn des untersten Dezils durch Umverteilung 10

fv

8

.--·

6

4







• Deutschland



2 1970

1980

1990

2000

Jahr

2010

SCHAUBILD 1 Gewinn des untersten Dezils durch die Umvertei­ lung in den Vereinigten Staaten und Deutschland. Erläuterung: Berechnet wird der Zugewinn durch den Übergang vom Markt­ einkommen zum verfügbaren Einkommen.

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Skizze 1.7

mit den geringsten Markteinkommen. Das kann nicht überra­ schen. Überraschend ist hingegen, dass unsere Annahme, die Mit­ telschichtdezile (das fünfte und sechste) würden durch die Umver­ teilung gewinnen, nicht zutrifft. Ihr Einkommensanteil schrumpft sogar geringfügig. Und das gilt nicht nur für die entwickelten Län­ der als Gruppe, sondern für jedes einzelne von ihnen: Das Ausmaß des Verlusts der Mittelschicht ist von Land zu Land und von Jahr zu Jahr unterschiedlich, aber diese Gruppe verliert immer. Somit stehen wir vor einer Frage, auf die wir keine gute Ant­ wort haben: Warum stimmen die ausschlaggebenden Mittel­ schichtwähler für einen Prozess, der ihren Anteil am Nationalein­ kommen verringert? Es gibt zwei mögliche Antworten, die wir beide weder definitiv verifizieren noch falsifizieren können. Ers­ tens besteht die Möglichkeit, dass der Mittelschichtwähler für ein gewisses Maß an Umverteilung stimmt, weil er selbst abgesichert sein möchte, sollte sich seine wirtschaftliche Lage verschlechtern. Obwohl er zu dem Zeitpunkt, da wir unseren Schnappschuss von der Umverteilungssituation machen, nichts davon hat, stimmt er ,,für alle Fälle" dafür. Ein Beispiel: Die Angehörigen der Mittel­ schicht können eine höhere Besteuerung der laufenden Einkom­ men zur Finanzierung der Arbeitslosenunterstützung in der Er­ wartung akzeptieren, dass sie ebenfalls in den Genuss dieser Unterstützung kommen werden, sollten sie ihre Arbeit verlieren. Das ist eine plausible Hypothese, aber in Ermangelung von Längs­ schnittdaten, die es ermöglichen, die Entwicklung einer Perso­ nengruppe über Jahre hinweg zu beobachten (um festzustellen, ob sie am Ende tatsächlich von diesen Sozialtransfers profitiert), ist es schwierig herauszufinden, ob sie zutrifft. Und nehmen wir an, wir fanden bei einer lebenslangen Beobachtung von Mittelschichtfa­ milien heraus, dass sie insgesamt trotzdem verlieren. Auch das können wir erklären: Selbst wenn diese Personen nie Arbeitslosen­ unterstützung erhalten, lohnt es sich für sie, bei den Wahlen für eine solche Unterstützung zu stimmen, da diese eine Versicherung für schlechte Zeiten ist. Wenn wir eine Vollkaskoversicherung für unser Auto abschließen, hoffen wir nicht, dass wir einen Unfall

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Wer gewinnt durch die staatliche Umverteilung?

verursachen und von der Versicherung entschädigt werden. Wir kaufen uns Sicherheit. Dasselbe dürfte auch hier gelten. Die zweite Möglichkeit ist, dass unser Konzept des verfügbaren Einkommens bestimmte Sozialtransfers nicht erfasst, die in erster Linie der Mittelschicht zugutekommen. Das gilt insbesondere für die europäischen Wohlfahrtsstaaten mit ihren öffentlichen Ge­ sundheits- und Bildungssystemen. Die Leistungen dieser Systeme werden nicht dem verfügbaren Einkommen zugerechnet. (Dieses Einkommen beinhaltet ausschließlich das Bareinkommen, das wir ausgeben oder sparen können; die kostenlose medizinische Ver­ sorgung oder Bildung sind Sachleistungen, die kein Teil des ver­ fügbaren Einkommens sind.) Aber das „kostenlose" öffentliche Gesundheitswesen und die öffentliche Bildung werden mit den direkten Steuern der Bürger bezahlt. Während wir also die von der Mittelschicht entrichteten Steuern vermutlich richtig einschätzen, unterschätzen wir die Vergünstigungen, die diese Gruppe genießt, weil sie einen Teil davon als Sachleistungen bezieht. Könnten wir den Geldwert dieser Leistungen richtig einschätzen, so würde sich möglicherweise herausstellen, dass die Mittelschicht sehr wohl einen Nutzen aus der staatlichen Umverteilung zieht. Beide Erklärungen könnten zutreffen, aber leider mangelt es uns an Daten, um sie zweifelsfrei zu belegen. Es gibt jedoch noch eine weitere interessante Frage. Wenden wir uns erneut den Ärms­ ten zu, die, wie wir gesehen haben, die größten Nutznießer der staatlichen Umverteilung sind. Nehmen wir an, die Lage dieser ärmsten Gruppe würde sich weiter verschlechtern, das heißt ihr ohnehin geringer Anteil am Markteinkommen würde weiter schrumpfen. Was würde geschehen? Wird die Verringerung ihres Einkommensanteils die Umverteilungsmaschine ankurbeln? Wie sich herausstellt, ist die Antwort ein klares Ja. In den fortschrittli­ chen Demokratien wird ein sinkender Anteil der Ärmsten am Markteinkommen durch eine verstärkte Umverteilungspolitik ausgeglichen. Das ist insbesondere in Krisenzeiten eine beruhi­ gende Erkenntnis. Wenn die Menschen auf der untersten Sprosse der Einkommensleiter noch mehr verlieren, da sie ihre Arbeits-

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Skizze 1.7

kraft nicht oder nur sehr billig verkaufen können und keinerlei Vermögenswerte besitzen, wird das Steuer- und Transfersystem diese zusätzlichen Einbußen vollkommen ausgleichen. Obwohl die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen in den letzten fünfundzwanzig bis dreißig Jahren sehr viel größer gewor­ den ist und obwohl die Steuer- und Transfersysteme der einzelnen Länder sehr unterschiedlich sind, stellen wir also fest, dass diese Systeme wie beabsichtigt funktionieren: Sie helfen den Menschen, die aus der schlechtesten Position starten, am meisten, und verrin­ gern den Einkommensanteil der Reichsten. Ein wenig verwirrend ist lediglich, dass nicht klar festzustellen ist, ob die Mittelschicht - die großen Einfluss auf den Umfang der Umverteilung hat von diesen Systemen profitiert. Das könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass die ökonomische Analyse hier an ihre Grenzen stößt, denn unser Wahlverhalten wird manchmal noch stärker von ideologischen Grundhaltungen oder von Wertvorstellungen beeinflusst. Wir leben nicht vom Brot allein.

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Skizze 1 .8

Können mehrere Staaten in einem existieren?

E

s ist viel Papier bedruckt worden, um den plötzlichen Zerfall der kommunistisch regierten, ethnisch uneinheitlichen Staa­ ten der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei zu erklären. Es wurden ethnische, historische, politische, religiöse und rein kontextuelle Erklärungen für das Scheitern dieser Staats­ gebilde angeboten. Wenig Beachtung fand jedoch eine Tatsache, die sowohl auf die Sowjetunion als auch auf Jugoslawien (nicht jedoch auf die Tschechoslowakei) zutrifft: In beiden Ländern war die Einkommensverteilung zwischen ihren nationalen Bestandtei­ len (die unter dem Kommunismus als „Republiken" bezeichnet wurden) extrem heterogen. So haben wir es bei jedem einzelnen dieser Staaten in Wahrheit mit mehreren Ländern zu tun, die un­ terschiedliche Entwicklungsniveaus erreicht hatten. Und zu dieser Einkommenskluft kam eine ethnische und manchmal religiöse Kluft. Die Ursache für den Zerfall dieser Staaten ist in diesem Wechselspiel von Einkommen und Religion oder Einkommen und Ethnizität zu suchen. Wenn wir von regionalen Einkommensunterschieden in der Sowjetunion und Jugoslawien sprechen, müssen wir erklären, warum dies kein Widerspruch zu Skizze 1.5 ist, wo ich festgestellt habe, dass die Einkommensungleichheit im Kommunismus gene­ rell wenig ausgeprägt war. In dem einen Fall sprechen wir von den unterschiedlichen Durchschnittseinkommen in den verschiede­ nen Republiken, im anderen von den geringen Unterschieden zwischen den interpersonalen Einkommen. Es fallt auf, dass eine insgesamt so geringe interpersonale Un­ gleichheit mit großen Unterschieden zwischen den Durchschnitts­ einkommen in den verschiedenen Republiken einherging. Das bedeutet, dass die Einkommensungleichheit innerhalb der einzel­ nen Republiken extrem gering gewesen sein muss. Warum? Weil

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Skizze 1.8

die gesamte Ungleichheit zwischen den Individuen in einem Land - wir wollen sie als (A) bezeichnen - in zwei Teile zerlegt werden kann: Dies sind (B) die interregionale Ungleichheit, das heißt die Ungleichheit infolge regional unterschiedlicher Durchschnittsein­ kommen, und (C) die interpersonale Ungleichheit innerhalb der einzelnen Regionen (siehe Essay 1). Wenn A in der Sowjetunion relativ gering war und B relativ hoch, muss C folglich sehr, sehr gering gewesen sein. Die Sowjetunion setzte sich aus fünfzehn Republiken zusam­ men. Als sie im Jahr 1991 auseinanderbrach, war das BIP pro Kopf der reichsten Republik (Russland) etwa sechsmal so hoch wie das der ärmsten (Tadschikistan). Wie wir noch sehen werden (Skizze 3.3), beträgt das Verhältnis zwischen dem reichsten und ärmsten Bundesstaat der Vereinigten Staaten lediglich 1,5 zu 1. Sehen wir uns zum Vergleich weitere Beispiele an: In Italien, wo die Ungleichheit zwischen den Regionen bekanntlich groß ist, beträgt die Einkommenskluft zwischen der reichsten Region (Val­ le D'Aosta an der Grenze zur Schweiz) und der ärmsten Region (Kalabrien im Südosten) 3 zu 1. In Spanien, einem Land mit aus­ geprägten regionalen Spannungen, beträgt das Einkommensver­ hältnis zwischen der reichsten Region Madrid und der ärmsten Region Extremadura 1,7 zu 1. In Frankreich beträgt die maxima­ le Kluft 1,6 zu 1 (Ile-de-France gegenüber Nord-Pas-de-Calais), in Deutschland 1,4 zu 1 (Berlin gegenüber Thüringen in der ehema­ ligen DDR). In der Sowjetunion war die regionale Ungleichheit also sehr viel ausgeprägter als in all diesen Ländern. In den drei baltischen Republiken und Russland waren die Ein­ kommen sehr viel höher als im Durchschnitt der Sowjetunion. Wie viel höher, erkennt man daran, dass die übrigen elf Republi­ ken allesamt ärmer als der Durchschnitt waren.79 Und die Kluft wurde im Lauf der Zeit nicht geringer. Obwohl wir bei dem Ver­ such, einheitliche Datenreihen für die Sowjetrepubliken zu erstel­ len, auf eine Vielzahl von Schwierigkeiten stoßen und sehr vor­ sichtig sein müssen, wenn wir Schlüsse aus diesen Daten ziehen, stellen wir anhand der frühesten verfügbaren Daten aus dem Jahr

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Können mehrere Staaten in einem existieren?

1958 fest, dass das Einkommensverhältnis zwischen Russland, das auch zu diesem Zeitpunkt die reichste Republik war, und den ärmsten zentralasiatischen Republiken nur bei 4 zu 1 lag. Die Einkommenskluft zwischen den Republiken war also nicht nur groß, sondern wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich weiter. Zum Zeitpunkt ihrer Auflösung war die Sowjetunion ein Kon­ glomerat, das Länder mit Einkommensniveaus beinhaltete, die so unterschiedlich waren wie diejenigen Südkoreas und der Elfen­ beinküste. Konnte ein solches Gebilde ohne eine massive Umver­ teilung zugunsten der ärmeren Regionen überleben? Wohl kaum. Aber war eine solche Umverteilung möglich? Würden sich die reicheren Länder, die dafür bezahlen mussten, nicht irgendwann gegen die Transfers auflehnen? Genau das geschah in Russland, das damals noch der Sowjetunion angehörte, als Boris Jelzin zum Präsidenten gewählt wurde. Er setzte sich an die Spitze derer, die eine weitere Subventionierung der ärmeren Provinzen ablehnten. So wurde Russland in gewisser Hinsicht neben den baltischen Ländern die sezessionistischste Sowjetrepublik. Die reichen Repu­ bliken wollten aus der Union aussteigen. Den armen blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Noch dramatischer war das Beispiel Jugoslawiens, und zwar nicht nur wegen der Art und Weise, wie es implodierte, sondern auch, weil die Einkommensunterschiede zwischen seinen Repub­ liken noch größer und sehr viel auffälliger waren, denn sein Terri­ torium entsprach nur einem Bruchteil des sowjetischen. Man kann sich vorstellen, dass auf einem riesigen Gebiet wie dem der Sowjetunion - die zweieinhalb mal so groß wie die Vereinigten Staaten und das größte Land der Welt war - große Einkommens­ unterschiede zwischen verschiedenen Regionen bestanden. Aber dass in Jugoslawien, einem Land von der Größe Michigans, das Einkommensverhältnis zwischen den reichsten und ärmsten Re­ publiken 8 zu 1 betrug, war tatsächlich außergewöhnlich. 80 In keinem anderen europäischen Land war die Ungleichheit zwi­ schen den Regionen derart ausgeprägt. Die am höchsten entwi89

Skizze 1.8

ekelte Republik Slowenien hatte zum Zeitpunkt des Zerfalls von Jugoslawien im Jahr 1991 dasselbe Pro-Kopf-Einkommen wie Spanien. Am anderen Ende des Spektrums finden wir das Kosovo, dessen Pro-Kopf-Einkommen dem von Honduras entsprach. In einem Land von der Größe Michigans musste die Zentralregie­ rung also dafür sorgen, dass Menschen mit dem Wohlstand Spa­ niens und Menschen mit dem Wohlstand von Honduras zufrie­ den waren. Das war eine unmögliche Aufgabe. Und trotz einer beschränkten Umverteilung durch mit Bundesgeldern finanzierte Behörden wuchs das Einkommensgefälle zwischen den jugoslawi­ schen Republiken weiter. Im Jahr 1952 (dem ersten Jahr, aus dem Daten für das kommunistische Nachkriegs-Jugoslawien vorlie­ gen) war Slowenien gemessen am BIP pro Kopf nur viermal so reich wie das Kosovo. V ierzig Jahre später hatte sich die Kluft verdoppelt. Wir sehen also, dass einer der Hauptgründe für den Zerfall der sozialistischen Föderationen darin zu suchen ist, dass die Regimes zwar die interpersonale Ungleichheit eindämmen und verringern konnten, jedoch unfähig waren, die gewaltigen, historisch ge­ wachsenen Einkommensunterschiede zwischen den Regionen un­ ter Kontrolle zu bringen. Um zur Ausgangsfrage dieser Skizze zurückzukehren, können wir feststellen, dass dieses Problem viele andere Länder weiterhin plagen wird. Wird China, das mit deut­ lich wachsenden Unterschieden zwischen den wirtschaftlich ge­ deihenden Küstenregionen und den armen Gebieten im Landes­ inneren kämpft, seine Einheit bewahren können (siehe die folgende Skizze)? Kann die Europäische Union weiter ärmere Mitglieder aufnehmen, ohne ihre Einheit und Lebensfähigkeit aufs Spiel zu setzen (Skizze 3.3)? Wird Nigeria die Verteilung der Erdöleinnahmen zwischen seinen ethnisch und religiös verschie­ denen Staaten bewältigen, von denen einige viermal so reich sind wie andere?

90

Skizze 1 .9

Wird China das Jahr 2048 erleben?

I

m Jahr 1970, auf dem Höhepunkt der militärischen und politi­ schen Macht der Sowjetunion, veröffentlichte der Dissident An­ drej Amalrik eine Samisdat-Schrift mit dem Titel Wird die Sowjet­ union das Jahr 1984 erleben!' 1 Die Frage war nicht einfach nur provokant - sie klang vollkommen abwegig. Das sozialistische Re­ gime besaß Tausende Raketen, kontrollierte klare und funktionie­ rende Befehls- und Kommunikationsstrukturen, besaß über die Grenzen der Sowjetunion hinaus ideologische Anziehungskraft und konnte sich auf eine Einheitspartei mit 20 Millionen Mitgliedern stützen, die teils überzeugte Kommunisten, teils pragmatische Par­ teigänger waren, die an der Erhaltung des Regimes interessiert wa­ ren, weil ihnen die Partei den sozialen Aufstieg ermöglichte. Dieses Regime übte rund um den Erdball ideologische und militärische Macht aus und behauptete, Armut und Arbeitslosigkeit überwun­ den und einen einheitlichen „Sowjetmenschen" geschaffen zu ha­ ben, dessen ethnische Zugehörigkeit keine Rolle mehr spielte. Aber Amalrik sollte Recht behalten. Obendrein sagte er den Zeitpunkt des Zusammenbruchs ziemlich genau voraus. Am 25. Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst. Der Titel von Amalriks Schrift war offenkundig als Hommage an Orwells 1984 gedacht. Aber während Orwell auf dem Höhe­ punkt des Stalinismus die Verwirklichung einer weltumspannen­ den kommunistischen Dystopie fürchtete, sah Amalrik auf dem Höhepunkt einer etwas milderen Form der kommunistischen Herrschaft deren Ende voraus. Der Titel dieser Skizze ist also eine Hommage an einen isolierten Dissidenten, der Anfang der siebzi­ ger Jahre die Kühnheit hatte, eine zu jener Zeit für die meisten Leute undenkbare Frage zu stellen. Die größte Bedrohung für die Einheit Chinas ist die wachsende Ungleichheit. Nicht nur, dass sich die Ungleichheit in China seit 91

Skizze 1.9

Anfang der achtziger Jahre fast verdoppelt hat - der Gini-Koeffi­ zient ist von weniger als 30 zu Beginn der Reformzeit auf 45 im Jahr 2005 gestiegen -, sondern es ist eine besonders problemati­ sche Ungleichheit. Der Grund dafür ist ihre Zusammensetzung. Zur Vereinfachung können wir die Ungleichheit zwei Typen zu­ ordnen (siehe Skizze 3.3): Da ist zum einen der „amerikanische" Typ, das heißt eine ausgeprägte Ungleichheit, bei der Reiche und Arme mehr oder weniger gleichmäßig über das Land verteilt sind und keine geographische Konzentration armer oder reicher Men­ schen in bestimmten Staaten zu beobachten ist. Natürlich leben Reiche und Arme nicht in denselben Stadtvierteln, aber es gibt keine „Einkommenssegregation" auf der Ebene der übergeordne­ ten Verwaltungseinheiten (der Staaten). Im Grunde gibt es zwar arme und reiche Leute, aber keine armen und reichen Bundesstaa­ ten. In der erweiterten Europäischen Union liegen die Dinge an­ ders, denn die wichtigste Quelle der Ungleichheit sind dort große Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Mit­ gliedsstaaten, weshalb Reiche und Arme geographisch konzen­ triert sind. Die Entwicklung in China hat seit Anfang der neunzi­ ger Jahre, als sich die Wachstumsanstrengungen zunehmend auf die städtischen Gebiete konzentrierten, die zweite Art von Un­ gleichheit zwischen reichen und armen Provinzen hervorgebracht, und diese Ungleichheit wirkt politisch sehr viel destabilisierender (siehe vorhergehende Skizze). In China konzentriert sich das W irtschaftswachstum auf die fünf Küstenprovinzen, die auch die reichsten der 35 Verwaltungs­ regionen Chinas sind, 82 wenn man die drei Städte Shanghai, Peking und Tianjin ausnimmt, die das höchste BIP pro Kopf ha­ ben. Diese fünf reichen und schnell wachsenden Provinzen, die sich von Norden nach Süden aneinanderreihen (siehe Karte auf Seite 94), sind Shandong, dessen BIP pro Kopf im Verhältnis zum übrigen China von 1 im Jahr 1990 (es entsprach dem chinesi­ schen Durchschnitt) auf 1,3 im Jahr 2006 stieg, Jiangsu mit ei­ nem Anstieg von 1,3 auf 1,6, Zhejiang mit einem Anstieg von 1,3 auf fast 1,8, Fujian mit einem Zuwachs von 1 auf 1,2 und ganz im

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Wird China das Jahr 2048 erleben?

Süden Guangdong mit einem Anstieg von 1,5 auf 1,6. Das Durchschnittseinkommen ist in diesen fünf Provinzen in den letz­ ten 15 Jahren jeweils um etwa 20 Prozent gegenüber dem chine­ sischen Durchschnitt gestiegen. Zusammen haben sie eine Bevöl­ kerung von etwa 340 Millionen Menschen, was einem Viertel der Bevölkerung Chinas entspricht, aber sie erwirtschaften mehr als 40 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. 83 Wenn wir die vier reichen städtischen Provinzen Peking, Tian­ jin, Shanghai und Chongqing hinzuzählen, haben wir Gebiete, die mehr als 50 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Reichs der Mitte erwirtschaften. 84 Die Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao können wir als noch extremere Beispiele für dasselbe Phänomen betrachten, womit wir eine Gruppe von fünf plus sechs geographisch verbundenen Provinzen und Städten erhalten, die sich auf den Handel spezialisiert haben, ihren Wohl­ stand im Verhältnis zum chinesischen Kernland stetig erhöhen und beginnen, ein Eigenleben zu führen. Am anderen Ende des Spektrums finden wir die drei ärmsten Provinzen Guizhou, Gansu und Yunnan, deren relative Position sich seit den neunziger Jahren verschlechtert hat. Das BIP pro Kopf der beiden zuletzt genannten Provinzen lag damals bei 70 Prozent des chinesischen Durchschnitts; mittlerweile ist es auf 50 Prozent gesunken. Guizhou, die ärmste Provinz, war einmal halb so reich wie der Durchschnitt Chinas; mittlerweile macht ihr BIP nur noch ein Drittel des Durchschnitts aus. Wie nicht anders zu erwarten, führte ein überdurchschnittliches Wachstum in den rei­ chen Provinzen in Kombination mit einem unterdurchschnittli­ chen Wachstum in den ärmsten Provinzen zu einer dramatischen Vergrößerung der Einkommenskluft zwischen diesen Gebieten. Zu Beginn der großen Industriereformen im Jahr 1990 betrug das Verhältnis 7 zu 1. Bis 2006 erhöhte es sich auf 10 zu 1. Und das Einkommen der vermutlich ärmsten Provinz, welches das Gefalle zwischen reichen und armen Regionen noch vergrößern würde, ist dabei noch gar nicht berücksichtigt: China veröffentlicht keine Statistiken über Tibet.

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Skizze 1.9

Einkommensniveau BIP pro Kopfder chinesischen Provinzen im ]ahr2006

D D D D

Reich: 130% oder mehr des nationalen Durchschnitts Durchschnittlich: Zwischen 70% u. 130% d. nationalen Durchschnitts Arm: Weniger als 70% des nationalen Durchschnitts

HainanO

Fehlende oder irrelevante Daten

Quelle: Chinas statistisches Jahrbuch

Dieses Einkommensverhältnis von mindestens 10 zu 1 zwischen reichen und armen Provinzen ist deutlich höher als jenes, das in der Endphase der Sowjetunion beobachtet wurde (6 zu 1, siehe vorhergehende Skizze). Aber natürlich gibt es bedeutsame Unter­ schiede zwischen der sowjetischen und der chinesischen Situation: Die Sowjetunion war offiziell eine Föderation verschiedener Nati­ onalitäten, und zu den wirtschaftlichen Unterschieden kamen ethnische, sprachliche und oft auch religiöse Unterschiede. Die Harr-Chinesen kann man als ein Volk bezeichnen, auch wenn sie verschiedene Sprachen sprechen. Sie haben auch länger unter ei­ ner gemeinsamen Regierung gelebt als dies bei Balten und Russen

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Wird China das Jahr 2048 erleben?

oder Tadschiken und Russen der Fall war. 85 Aber die wirtschaft­ lich-ethnischen Differenzen gibt es auch in China, zumindest was die fünf autonomen Regionen Guangxi, Innere Mongolei, Ning­ xia, Xinjiang und Tibet anbelangt, wo die nicht den Han angehö­ rende Bevölkerung eine große Minderheit oder sogar eine Mehr­ heit stellt. Und die fünf autonomen Regionen gehören allesamt zu den ärmsten Provinzen. Dazu kommt, dass Han-China historisch zur inneren Aufsplitterung neigt: Man denke nur an die Zeit der Streitenden Reiche (5. bis 3. Jahrhundert v. Chr.), an die Zeit der Drei Reiche im dritten Jahrhundert und an die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als Japan seinen Vasallenstaat in Nord­ china errichtete, während mehrere Parteien um die Kontrolle über das übrige Land kämpften, darunter insbesondere die von Mao Tse-tung geführten Kommunisten und die Kuomintang von Tschiang Kai Schek. Und selbst heute gibt es zwei Chinas, die jeweils die Herrschaft übereinander beanspruchen. Die Gefahren, die durch die graduelle wirtschaftliche Entfrem­ dung zwischen der wohlhabenden „Elferbande" der Küstenpro­ vinzen und -städte und dem restlichen China sowie durch die unterschiedliche Beziehung der Regionen zur übrigen Welt her­ aufbeschworen werden, dürfen also nicht unterschätzt oder igno­ riert werden. Wenn es etwas gibt, das die nationale Einheit Chinas bedroht, so ist es die wirtschaftliche Spaltung des Landes.

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Skizze 1.10

Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets

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öglicherweise überrascht es den Leser zu erfahren, dass es nur wenige Theorien oder theoretische Erkenntnisse über die Entstehung und Entwicklung von Einkommensunterschieden gibt. 86 Das verwundert um so mehr, als David Ricardo, einer der Pioniere der modernen Wirtschaftstheorie, in seinem 1817 veröf­ fentlichten, ungemein einflussreichen Werk Grundsätze der Politi­ schen Ökonomie und der Besteuerung die Verteilung der Einkom­ men in den Mittelpunkt der Ökonomie rückte. Wie kam es dazu? Es dürfte mindestens zwei Gründe geben. Erstens beschäftigte sich Ricardo mit der sogenannten funktio­ nalen Einkommensverteilung, das heißt mit der Frage, wie das Nationaleinkommen in die Einkommen der großen Gesellschafts­ klassen unterteilt war, das heißt in Profite der Kapitalisten, wirtschaftliche Renten der Grundherren, Löhne der Arbeiter. Aber wir interessieren uns für die interpersonale Einkommens­ verteilung, das heißt für die Frage, wie das Nationaleinkommen zwischen den Individuen verteilt ist, ungeachtet der Frage, ob die Hauptquelle ihres Einkommens ein Vermögen oder eine Er­ werbstätigkeit ist. Solange alle (oder die meisten) Eigentümer von Vermögen reich und alle (oder die meisten) Arbeiter arm waren, waren funktionale und interpersonale Einkommensver­ teilung weitgehend identisch. Wenn ein größerer Teil des Ku­ chens an die Kapitalisten ging, war es sehr wahrscheinlich, dass die Ungleichheit zwischen den Personen zunahm. Umgekehrt galt dasselbe für die Löhne. Daher drängte die Beschäftigung mit der funktionalen Einkommensverteilung die Auseinanderset­ zung mit der interpersonalen Einkommensverteilung in den Hintergrund. Oder um es genauer zu sagen: Die zweite Frage ging in der ersten auf.

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Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets

Als eine Mittelschicht entstand, deren wichtigste Einkom­ mensquelle die Arbeit war, konnten funktionale und persönliche Einkommensverteilungen nicht länger gleichgesetzt werden. Nun konnten sich die Ökonomen nicht mehr auf die Frage beschrän­ ken, welcher Prozentsatz des Einkommens auf Kapitalisten oder Arbeiter entfiel, sondern sie mussten herausfinden, wie die Ein­ kommen unter den Mitgliedern der Gesellschaft verteilt waren. An diesem Punkt tritt der erste Held dieser Geschichte auf: Vil­ fredo Pareto. Bevor wir uns ihm zuwenden, lohnt es sich, den zweiten (selten ausdrücklich genannten) Grund dafür zu erwähnen, dass die Un­ tersuchung der interpersonalen Ungleichheit nicht allzu beliebt ist. Es ist ein eher einfacher, klugerweise jedoch oft außer Acht gelassener Grund: Die Reichen haben nicht viel für Ungleich­ heitsstudien übrig. Einmal erklärte mir der Leiter einer angesehe­ nen Washingtoner Denkfabrik, der Vorstand seiner Einrichtung werde kaum eine Studie finanzieren, in deren Titel die Worte Ein­ kommensungleichheit oder Vermögensungleichheit vorkämen. Er werde bereitwillig alles finanzieren, was mit Armutsbekämpfung zu tun habe, aber die Ungleichheit sei etwas vollkommen anderes. Warum? Weil es „mich" in ein vorteilhaftes Licht rückt, dass ich mich mit der Armut anderer Menschen beschäftigte. Ich bin wil­ lens, mein Geld zu verwenden, um ihnen zu helfen. Die Wohltä­ tigkeit ist etwas Gutes; ich fühle mich bestätigt und kann viele ethische Pluspunkte sammeln, indem ich ein wenig Geld für die Armen spende. Die Ungleichheit ist etwas anderes: Ihre bloße Erwähnung wirft die Frage auf, ob mein Einkommen angemessen oder legitim ist. Vielleicht sieht meine Hilfsbereitschaft nicht mehr ganz so vorteilhaft aus, wenn jemand behauptet, mein Ein­ kommen sei unangemessen oder illegitim. Daher ist es besser, den Mantel des Schweigens über die Ungleichheit zu breiten. 87 Das dürfte auch eine Erklärung dafür sein, dass sich die Weltbank wei­ gerte, ihren wichtigsten Bericht zu diesem Thema als Studie zur Ungleichheit auszuweisen: Die Organisation zog es vor, ihn als Bericht über die „Fairness" zu bezeichnen. Der englische Histori-

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Skizze 1.10

ker David Kynaston hat den Widerspruch zwischen der offen zur Schau getragenen Sorge über die Armut und dem mangelnden Interesse an der Ungleichheit auf den Punkt gebracht: ,,Alle Welt spricht gerne über die Beseitigung der Armut, denn dies sieht aus wie eine bewundernswerte und ethische Reaktion auf das Problem der Ungleichheit, ohne dass die Machtstrukturen angetastet wer­ den müssten. "88 Dieser Widerwillen gegen eine Auseinandersetzung mit der Ungleichheit ist keineswegs auf die kapitalistischen Gesellschaften beschränkt. Als ich begann, mich mit der Ungleichheit zu be­ schäftigen, lebte und arbeitete ich in einer sozialistischen Gesell­ schaft. Im Sozialismus war die Ungleichheit ein „sensibles" The­ ma, und die Gründe dafür waren vordergründig andere, im Grunde aber dieselben wie in den kapitalistischen Gesellschaften. Jede empirische Studie zur Einkommensverteilung im Sozialismus zeigte, dass es Einkommensunterschiede gab. Für ein Regime, das seine ideologische Rechtfertigung in der Behauptung fand, eine klassenlose Gesellschaft mit völliger Gleichheit errichtet zu haben, war diese Erkenntnis unangenehm. An der Behauptung festzuhal­ ten war einfacher, als sie allzu genau zu untersuchen. Kehren wir zurück zu Vilfredo Pareto. Er war ein eigenwilliger Charakter. Er wurde im Revolutionsjahr 1848 als Sohn eines ita­ lienischen Vaters und einer französischen Mutter in Paris geboren und wuchs als Marquis in der liberalen Atmosphäre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Er schrieb und unterrichtete in Italienisch und Französisch (er war der Nachfolger von Leon Wal­ ras, einem der Väter der modernen Grenznutzenschule, auf dem Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der Universität Lausanne). Er hatte eine aristokratische Geisteshaltung und war ein erklärter Antisozialist. 89 Pareto war und ist ein umstrittener Denker. Wie Raymond Aron schreibt, weckte Pareto sowohl bei Lehrern als auch bei Studenten gleichermaßen eine „gewisses Unbehagen". 90 Er hegte eine ausgeprägte Geringschätzung für die Volksmassen und war überzeugt, dass alle religiösen und ethischen Vorstellun­ gen vollkommen unlogisch und nicht mit der logisch-experimen98

Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets

tellen wissenschaftlichen Methode vereinbar seien - hielt es je­ doch für nötig, diese Vorstellungen zu erhalten und zu vermitteln, um dem Volk etwas zu geben, an das es glauben konnte, da es sonst in den Naturzustand zurückkehren würde. Nachdem er die kühne Behauptung aufgestellt hatte, er untersuche lediglich „die Einförmigkeit der Phänomene" und versuche niemanden zu über­ zeugen, wagte er den in der Geschichte der Sozialwissenschaften möglicherweise einzigartigen Schritt, potenzielle Leser mit folgen­ der Warnung abzuschrecken: ,,Jene, die ein anderes Ziel verfolgen, werden keine Mühe haben, ungezählte Arbeiten zu finden, die sie vollkommen zufriedenstellen werden, und müssen diese hier nicht lesen. " 91 Aron sieht die Ursache für die verbreitete Abneigung ge­ gen Pareto in dessen Grundhaltung, die im Grunde besage, dass alles, was die Professoren lehrten, falsch sei. Aber die Professoren, so Pareto, müssten an den falschen Lehren festhalten, denn dies seien die einzigen, die das Volk je verstehen könne: Die Wahrheit hätte verheerende Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ord­ nung. Um es mit Paretos Worten zu sagen: Das soziale Gleichge­ wicht erfordert den Glauben an unlogische Vorstellungen. 92 Joseph Schumpeter charakterisierte Pareto in seiner monumen­ talen Geschichte der ökonomischen Analyse so: Er war ein Mann von großer Leidenschaft, Leidenschaft von der Art, die einen Mann daran hindert, mehr als eine Seite ei­ ner politischen Frage oder einer Zivilisation zu sehen. Diese Neigung wurde durch seine klassische Bildung eher verstärkt als abgemildert, denn die antike Welt war ihm so vertraut wie Italien und Frankreich - die übrige Welt existierte [kaum] für ihn. 93 Pareto schrieb zwei einflussreiche ökonomische (Lehr-) Bücher, und in der Volkswirtschaftslehre sind vor allem zwei Beiträge die­ ses Denkers in Erinnerung geblieben: das Pareto-Optimum und sein „Gesetz" der Einkommensverteilung. Das Konzept des Pare­ to-Optimums verwenden die Volkswirte fast täglich, denn es ist

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Skizze 1.10

ein mittlerweile unverzichtbares Instrument der ökonomischen Analyse. Es besagt einfach, dass eine Veränderung nur gesell­ schaftlich akzeptabel ist, wenn sie die wirtschaftliche Situation aller Personen verbessert oder unverändert lässt. Im Grunde muss also jemand etwas gewinnen, ohne dass irgendein anderer etwas verliert. Es ist fast unmöglich, solche wirtschaftlichen Eingriffe (Veränderungen) zu finden, da fast immer jemand etwas verliert. Das Erfordernis des Pareto-Optimums ist also schwer zu erfüllen. In Wahrheit ist es ein Plädoyer für die Erhaltung des Status quo (siehe Essay 1). Paretos „Gesetz" der Einkommensverteilung beruht auf empi­ rischen Beobachtungen. Pareto, der eigentlich Ingenieurwissen­ schaften studiert hatte und ein hervorragender Mathematiker war, beobachtete die folgende statistische Regelmäßigkeit: Nehmen wir ein Einkommensniveau von Y an und fragen wir, wie viele Menschen ein höheres Einkommen als Y haben. Nehmen wir an, die Zahl dieser Personen ist N. Wenn wir nun die Einkommens­ schwelle Y um 10 Prozent erhöhen, wie viele Personen werden dann ein Einkommensniveau von mehr als Y plus 10 Prozent ha­ ben? Offensichtlich wird die Zahl geringer als N sein. Pareto glaubte, hier eine Regelmäßigkeit entdeckt zu haben - ein Gesetz: Jedes Mal, wenn man die Einkommensschwelle um 10 Prozent erhöhte, sank die Zahl der Personen, die ein Einkommen ober­ halb dieser Schwelle hatten, um 14 bis 15 Prozent. Daher die Pareto-Konstante (die „Guillotine") von 1,4 bis 1,5. 94 Er verwen­ dete um die Jahrhundertwende erhobene Steuerdaten aus einem Dutzend europäischen Ländern und Städten, und bei dieser Stichprobe erwies sich die Pareto-Konstante tatsächlich als zuver­ lässig. Diese Erkenntnis war ideologisch sehr beruhigend für Pareto. In seinen soziologischen Studien erklärte er, kennzeichnend für die menschliche Gesellschaft sei die Zirkulation der Eliten. In ei­ ner vermutlich gezielt provokanten Anspielung auf Marx, der im Kommunistischen Manifest behauptet hatte, die Geschichte der Gesellschaft sei eine Geschichte des Klassenkampfes, erklärte Pa100

Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets

reto, die Geschichte der menschlichen Gesellschaften sei „die Ge­ schichte einer Abfolge von Aristokratien". 95 Natürlich glaubte er im Gegensatz zu Marx, dass es auch so bleiben sollte. Jeder Ver­ such einer sozialistischen „Nivellierung", die ein großes politi­ sches Thema jener Zeit war, musste in seinen Augen scheitern. Stattdessen würden einige wenige Bürokraten oder Arbeiterführer an die Stelle der Kapitalisten treten. So würde zwar eine neue Elite entstehen, aber es würde eine Elite sein. Es würde nicht mehr Gleichheit als unter dem vorhergehenden Regime herrschen. Und die empirischen Belege schienen ihm Recht zu geben: Egal wel­ ches Land oder welche Stadt er wählte, die Einkommensvertei­ lung sah überall gleich aus, und wenn man sich in der Einkom­ menshierarchie aufwärts bewegte, war fast derselbe Prozentsatz von Personen zu „guillotinieren". Pareto glaubte, ein „ehernes Gesetz" der Einkommensverteilung entdeckt zu haben.96 Simon Kuznets, der zweite Apostel der Erforschung der Ein­ kommensverteilung, war von einem ganz anderen Schlag. Er wur­ de im Jahr 1901 auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland im Russischen Reich geboren, floh vor den Kommunisten, wanderte im Jahr 1922 in die Vereinigten Staaten aus und studierte und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten, unter an­ derem auch in Harvard. Er zählte zu den Gründern des National Bureau of Economic Research, das sich Anfang der vierziger Jahre im Wesentlichen mit der Untersuchung der Konjunkturzyklen befasste. Kuznets betrieb vor allem empirische Forschung und wertete die eher spärlichen Daten aus, die zu jener Zeit verfügbar waren, um sie in verschiedenen Formaten darzustellen und auszu­ werten. Er gehört zu den wenigen Ökonomen, deren Schriften (relativ) unterhaltsam sind. Sie sind interessant und stecken voller Erkenntnisse, obwohl sie schon einige Jahre alt sind. Gleichzeitig ist Kuznets jedoch ein Autor, den man kaum zitieren kann: Die mit Einschränkungen, Relativsätzen und Ellipsen gespickten Sät­ ze kann man eigentlich nicht wörtlich zitieren und nur schwer zusammenfassen. Will man eine kurze, prägnante Aussage zitie­ ren, so muss man zwei Drittel des Satzes streichen. Während Pa101

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reto pointiert und bestimmt argumentierte und teilweise absicht­ lich provokant und polemisch schrieb, war Kuznets fast übermäßig vorsichtig und behandelte jede Zahl mit Skepsis. Der eine genoss seinen Status als gelehrter aristokratischer Außenseiter, während der andere der prototypische Professor war. Aus dem spärlichen Material, das ihm zur Verfügung stand, leitete Simon Kuznets im Jahr 1955 eine Methode ab, die bis heu­ te das Arbeitspferd der modernen Theorie der Einkommensvertei­ lung ist. Seine Hypothese besagt, dass die Ungleichheit in der Frühphase der wirtschaftlichen Entwicklung, in der die Gesell­ schaften agrarisch geprägt sind, gering ist, da die meisten Bauern auf dem Subsistenzniveau oder nur knapp darüber leben. Wenn sich die Industrie entwickelt und die Menschen beginnen, in die Städte abzuwandern, nimmt die Ungleichheit zu, was daran liegt, dass Produktivität und Einkommen im Nicht-Agrarsektor höher sind und dass es auch innerhalb der Städte größere Einkommens­ unterschiede gibt (es gibt mehr Berufe und breiter gefächerte Fä­ higkeiten). Mit fortschreitender Entwicklung ermöglicht der wachsende Wohlstand den Gesellschaften eine Ausweitung der Bildung, womit sich der Vorteil der wenigen, die sich bis dahin eine höhere Bildung leisten konnten, verringert. Der wachsende Wohlstand ermöglicht auch eine Umverteilung zwischen den Ge­ sellschaftsschichten mittels Sozial- und Rentenversicherung, Ar­ beitslosenversicherung usw. Kuznets erklärte, dass die Entwick­ lung der Ungleichheit einer Gesellschaft in der graphischen Darstellung die Form eines umgedrehten U habe: Die Ungleich­ heit sei anfangs gering, nehme dann zu und verringere sich dann wieder. Die Kuznets-Hypothese unterschied sich deutlich von Paretos ehernem Gesetz der Einkommensverteilung. Nach Ansicht von Pareto ändert sich die Verteilung der Einkommen ungeachtet aller Entwicklung und unabhängig davon, ob eine Gesellschaft kapita­ listisch oder sozialistisch ist, nicht wesentlich. Es setzen sich un­ terschiedliche Eliten durch, aber die Verteilung bleibt dieselbe. In den Augen von Kuznets hingegen gehen verschiedene Entwick102

Zwei Studenten der Ungleichheit: Vilfredo Pareto und Simon Kuznets

lungsstadien mit unterschiedlich ausgeprägter Ungleichheit ein­ her. Welche Theorie hat sich als richtig erwiesen? Nun, beide treffen teilweise zu, wobei ein wenig mehr für die von Kuznets spricht. Pareto beobachtete richtig, dass bei den Spitzeneinkommen tat­ sächlich eine gewisse Gesetzmäßigkeit zu beobachten ist. Der Wert mag nicht immer bei 1,4 oder 1,5 liegen, aber die „Guillo­ tine" der Einkommen ist tatsächlich scharf und sie funktioniert. Aber das gilt nur für die höchsten Einkommen (für die reichsten 1 bis 2 Prozent der Einkommensbezieher), während Paretos Ge­ setz für alle anderen einfach nicht existiert. Und selbstverständlich ist die Ungleichheit in verschiedenen Ländern und Sozialsystemen unterschiedlich groß, und sie verändert sich im Lauf der Zeit. Die von Pareto vermutete Unbeweglichkeit der Einkommensun­ gleichheit gibt es nicht. Und wie sieht es mit der umgekehrten U-Kurve von Kuznets aus? Sie ist das Thema Hunderter wissenschaftlicher Arbeiten, und die Gruppe der Ökonomen, die seiner Hypothese zustim­ men, ist etwa genauso groß wie die der W issenschaftler, die sie ablehnen. Wenn wir an einem gegebenen Zeitpunkt den Gini­ Koeffizienten eines Landes in Beziehung zu seinem Einkom­ mensniveau setzen, sehen wir eine Kurve, die wie ein umgekehr­ tes U aussieht - aber wir müssen uns sehr anstrengen, um sie zu finden, denn auf den ersten Blick sehen wir nur ein formloses Streudiagramm. Es wurde behauptet, dass sogar diese vage an ein umgekehrtes U erinnernde Kurve ein Datenfehler ist, der darauf zurückzuführen ist, dass die lateinamerikanischen Länder aus Gründen, die weniger mit der Kuznets-Gesetzmäßigkeit als viel­ mehr mit ihrem kolonialen Erbe zu tun haben, mittlere Einkom­ mensniveaus haben und sehr ungleich sind. Sie allein erzeugen demnach den Eindruck einer Kurve. Aber die Hypothese sollte so verwendet werden, wie Kuznets sie ursprünglich konzipiert hat: Sie sollte auf die Entwicklung einzelner Länder angewandt wer­ den. Verhielten sie sich so, wie von ihm erwartet? Bis vor Kurzem mangelte es uns an Langzeitdaten, die es uns ermöglicht hätten, 103

Skizze 1.10

die Kuznets-Hypothese einer solchen Prüfung zu unterziehen. Mittlerweile liegen solche Daten für einige Länder vor, und die Ergebnisse sind uneinheitlich. In der industriellen Revolution verhielt sich die Ungleichheit in den westeuropäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten wie von Kuznets erwartet: Sie nahm deutlich zu, erreichte um das Jahr 1860 in England und etwa 1920 in den Vereinigten Staaten einen Höhepunkt und be­ gann anschließend abzunehmen.97 Soweit so gut. Aber in letzter Zeit, das heißt in den vergangenen 25 Jahren, kehrte sich dieser Trend zur Angleichung der Einkommen um, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, sondern fast überall: Die Einkommen sind heute in China, Russland und In­ dien ungleichmäßiger verteilt als noch vor einem V ierteljahrhun­ dert. Im Fall dieser drei Länder könnte man die Entwicklung da­ mit erklären, dass sie sich noch im Entwicklungsstadium befinden. Aber für die westeuropäischen Länder und die Vereinigten Staaten kann diese Erklärung nicht gelten. Dort ging die sinkende Phase der Kurve ab der Thatcher-Reagan-Zeit wieder in einen Anstieg über. So erhalten wir eine Kurve, die Ähnlichkeit mit einem um­ gekippten und gespiegelten S hat und etwa so aussieht: rv Es fehlt uns eine klare Theorie dazu, warum sich die Ungleich­ heit so entwickeln sollte: sie nimmt zu, um anschließend abzu­ nehmen und dann wieder zuzunehmen ... Wird auf den gegen­ wärtigen Anstieg ein weiterer Rückgang folgen? Wer weiß. In Anlehnung an Dostojewskis berühmtes Bonmot, die gesamte russische Literatur des 19. Jahrhunderts habe ihren Ursprung in Gogols Der Mantel, könnte man sagen, dass fast die gesamte heu­ tige Ungleichheitsforschung ihren Ursprung in dem Artikel hat, den Simon Kuznets vor 55 Jahren schrieb.

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ESSAY II

Ungleiche Länder Ungleichheit zwischen den Ländern der Welt

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enn wir von Ungleichheit zwischen Ländern sprechen, meinen wir die Ungleichheit ihrer Durchschnittseinkom­ men oder des BIP pro Kopf. 98 Obwohl es solche Ungleichheit immer gegeben hat - das Römische Reich war gemessen am Pro­ Kopf-Einkommen reicher als die Goten, die es zu Fall brachten-, waren die Unterschiede zwischen den Ländern in der Vergangen­ heit sehr viel geringer als heute. Und es konnte kaum anders sein, denn vor dem 19. Jahrhundert lebte die Bevölkerung der meisten Länder auf dem Subsistenzniveau. Die großen Unterschiede zwi­ schen den Durchschnittseinkommen verschiedener Länder sind das Ergebnis der industriellen Revolution, die Ähnlichkeit mit einem Urknall hatte: Sie schleuderte einige Länder auf eine Flug­ bahn zu höheren Einkommen, während andere an dem Punkt verharrten, an dem sie sich seit Jahrtausenden befanden. Erst jetzt erwachte das Interesse für die Ungleichheit zwischen Ländern oder die Erkenntnis, dass dies ein wichtiges Thema war. Nachdem die Durchschnittseinkommen der Länder in der industriellen Revolution auseinanderzudriften begonnen hatten, nahm die Ungleichheit zwischen den Ländern bis zur Mitte des 20. Jahr­ hunderts mehr oder weniger kontinuierlich zu. In einigen außer­ gewöhnlichen Zeiten - zum Beispiel zwischen den beiden Welt­ kriegen (siehe Skizze 2. 7) - wurde die Kluft zwischen den Ländern nicht größer, aber dies waren Ausnahmen. Wir können die Einkommensunterschiede zwischen Ländern auf zweierlei Arten betrachten: Wir können die Ungleichheit aus­ gehend von der Annahme berechnen, dass alle Länder gleich viel 105

Essay II

zählen, oder wir können jedes Land abhängig von seiner Bevölke­ rungszahl gewichten. Noch vor wenigen Jahren ergaben die bei­ den Methoden mehr oder weniger identische Resultate, aber dann begannen sie sich auseinanderzuentwickeln. Seit etwa drei Jahr­ zehnten müssen wir sorgfaltig zwischen beiden Betrachtungswei­ sen unterscheiden. Wir sollten noch zwei weitere Punkte klären, bevor wir fortfah­ ren. Zunächst müssen wir berücksichtigen, dass die Zahl der Staa­ ten gestiegen ist. Wenn es auf der Erde mehr Länder gibt, wird die allgemeine Ungleichheit größer scheinen, gleichgültig wie wir die Einkommensunterschiede zwischen ihnen messen. (Wenn man ein großes Land in immer kleinere Einheiten zerlegt, werden wahrscheinlich Einkommensunterschiede zutage treten, die zuvor im Gesamteinkommen dieses Landes verborgen waren, denn ei­ nige der neuen Länder werden reicher und andere ärmer sein.) Das ist tatsächlich ein Problem, wenn wir die gegenwärtigen Ein­ kommensverhältnisse zum Beispiel mit denen im frühen 19. Jahr­ hundert vergleichen, als die Zahl der Länder geringer war und weniger Daten zum Einkommen gesammelt wurden. Die Zahl der Länder mit BIP pro Kopf-Daten in den historischen Statisti­ ken, die Angus Maddison, einer der herausragenden Wirtschafts­ historiker des 20. Jahrhunderts (der die wichtigste Quelle für un­ sere Vergleiche zwischen Ländern ist), zusammenstellte, stieg von etwa 50 im Jahr 1820, als die ersten vollständigen Datensätze vorlagen, auf 160 zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aber solange China, Indien und die Länder der reichen Welt Teil unserer Stich­ probe sind, können wir uns darauf verlassen, dass der Großteil der Menschheit und des globalen Einkommens in den Vergleichen erfasst wird, selbst wenn die Zahl der Länder begrenzt ist. Nach­ dem die Entkolonialisierung der Welt in den fünfziger und sech­ ziger Jahren die Zahl der Länder, für die Daten zum Bruttoin­ landsprodukt vorliegen, abrupt erhöhte, verschwand das Problem der wechselnden Zahl von Ländern, denn selbst wenn Länder zerfallen (ein Beispiel ist die Sowjetunion), können wir die Statis­ tiken anpassen und auch für die Jahre vor der Aufspaltung die 106

Ungleiche Länder

Daten zum BIP pro Kopf der neuen Länder (z.B. der Ukraine und Russlands) verwenden, anstatt die zu jener Zeit existierenden Länder (in diesem Fall die Sowjetunion) zu betrachten. So kön­ nen wir die Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder über eine im Großen und Ganzen unveränderte Zahl von Einheiten hinweg messen. Das zweite Problem betrifft die Frage, wie wir das BIP pro Kopf in Einheiten ausdrücken können, die zwischen den Ländern und über längere Zeiträume hinweg vergleichbar sind. Gelingt uns das nicht, so werden wir offenkundig vollkommen im Dunkeln tap­ pen: Wie können wir das Pro-Kopf-Einkommen Chinas im Jahr 1850 mit dem Frankreichs im Jahr 2000 vergleichen? Um diese Herausforderung zu bewältigen, wurde in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein kompliziertes Projekt für inter­ nationale Preisvergleiche eingeleitet. Zu jener Zeit war das Projekt auf die reichen Länder beschränkt, aber mittlerweile wurde es auf die ganze Welt ausgeweitet. In den massiven Vergleichsprojekten (das jüngste, das im Jahr 2005 abgeschlossen wurde, war das größ­ te weltweite Wirtschaftsprojekt der Geschichte) erheben Spezialis­ ten der nationalen Statistikämter die örtlichen Preise für mehr als 1000 Güter und Dienstleistungen. Anhand eines sehr komplexen Systems übereinstimmender Warenkörbe verschiedener Länder gelangen die Statistiker zu einer Schätzung der relativen Preisni­ veaus in diesen Ländern. Im Grunde wird einer Sache, die jedem bekannt ist, der ein wenig in der Welt herumgekommen ist, ein Wert zugewiesen. Wir wissen beispielsweise, dass Lebensmittel und Restaurantbesuche in armen Ländern billiger sind: Ein sehr gutes Essen im ägyptischen Alexandria kostet weniger als ein Drit­ tel eines vergleichbaren Essens in Alexandria in Virginia. Auch viele andere Dinge - von Taxifahrten über Reinigungsdienste bis zu Maniküren und Haarschnitten - sind in armen Ländern billi­ ger. Und wenn wir Länder wie Norwegen und Japan besuchen, scheinen uns die Preise sehr hoch. Das Ergebnis des Prozesses ist ein Gesamtwert, der Aufschluss über das allgemeine Preisniveau jedes einzelnen Landes gibt. So 107

Essay II

kann das Preisniveau der Vereinigten Staaten als Einheit mit den Preisniveaus anderer Länder verglichen werden. In der letzten Ver­ gleichsrunde stellte sich heraus, dass das Preisniveau in China 42 Prozent des amerikanischen entsprach. Das indische Preisniveau entsprach 33 Prozent, das brasilianische 58 Prozent und das nor­ wegische 137 Prozent des amerikanischen Preisniveaus. Grob ge­ sagt bedeutet das, dass etwas, das in den USA 1 Dollar kostet, in China 0,42 Dollar, in Indien 0,33 Dollar, in Brasilien 0,58 Dollar und in Norwegen 1,37 Dollar kostet. Offenkundig steigt das Preisniveau mit dem Durchschnittseinkommen eines Landes, ob­ wohl es einige Ausnahmen gibt - beispielsweise sind die Preise in Inselstaaten aufgrund der hohen Transportkosten im Allgemeinen höher als in kontinentalen Ländern mit demselben Einkommens­ niveau. So sind die Preise in Japan höher als in den Vereinigten Staaten, obwohl das japanische Pro-Kopf-Einkommen geringer ist. Diese internationalen Vergleiche versetzen uns in die Lage, bei­ spielsweise das BIP pro Kopf Chinas in Einheiten zu konvertieren, die mit den BIPs anderer Länder in anderen Jahren vergleichbar sind. So erhalten wir Vergleichbarkeit in Raum (zwischen Län­ dern) und Zeit (innerhalb eines Landes oder zwischen zwei Län­ dern zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte). Nehmen wir beispielsweise das Einkommensverhältnis zwi­ schen China und den Vereinigten Staaten. Wenn das Preisniveau Chinas 42 Prozent des Preisniveaus der USA entspricht, stellen wir fest, dass eine Person in China, die 100 Dollar verdient, mehr als die doppelte Kaufkraft einer Person mit demselben Einkom­ men in den Vereinigten Staaten hat. Um einen sinnvollen Ver­ gleich zwischen dem Wert von in China produzierten und konsu­ mierten Gütern und Dienstleistungen und dem Wert von Gütern und Dienstleistungen in den Vereinigten Staaten anstellen zu kön­ nen, müssen wir daher die chinesischen Einkommen fast um das Zweieinhalbfache (100/42) ,,aufblasen". Das ist dasselbe, als wür­ den wir sagen, dass wir jedem Haarschnitt in China und jeder in einer Cafeteria in Hunan verzehrten Mahlzeit nicht ihren tatsäch108

Ungleiche Länder

liehen Preis, sondern ihren internationalen Preis zuordnen, womit wir einem Haarschnitt in China denselben Wert zuordnen wie einem entsprechenden Haarschnitt in den Vereinigten Staaten. Das Ergebnis ist, dass die BIPs pro Kopf von China und den Ver­ einigten Staaten nun nicht mehr in Yuan bzw. Dollar ausgedrückt werden, sondern in KKP (Kaufkraftparität), einer imaginären Währung, die im Prinzip dieselbe Kaufkraft in beiden Ländern repräsentiert. Dieselbe Berechnung wird auch für alle anderen Länder angestellt, die am International Comparison Program (ICP) teilnehmen. Wenn wir von einer KKP von 1 Dollar spre­ chen, meinen wir damit, dass man mit einer Einheit dieser imagi­ nären kaufkraftparitätischen Währung in Indien, China, Frank­ reich, Argentinien oder Sambia denselben Warenkorb kaufen kann. Wir werden diese KKP-Dollar immer wieder verwenden, weil sie unsere einzige Möglichkeit sind, die Realeinkommen verschie­ dener Länder miteinander zu vergleichen. Und sobald wir das BIP pro Kopf in kaufkraftparitätischen Dollar für ein gegebenes Jahr „fixiert" haben, können wir die Raten des BIP-Wachstums der einzelnen Länder verwenden, um auf ihr kaufkraftparitätisches BIP pro Kopf zu schließen. Damit haben wir die zweite notwen­ dige Dimension: die Vergleichbarkeit über Zeiträume hinweg. Hier ein kleines Beispiel dazu, wie das funktioniert: Nehmen wir an, wir stellen bei einem Vergleich fest, dass das reale Pro­ Kopf-Einkommen der USA im Jahr 2005 bei 40 000 KKP und das Einkommen Chinas bei 4000 KKP lag. Um das BIP pro Kopf im Jahr 2004 zu ermitteln, nehmen wir das Pro-Kopf-Wachstum der Vereinigten Staaten und Chinas in diesem Jahr - 2 bzw. 8 Prozent - und teilen für die Vereinigten Staaten 40 000 KKP­ Dollar durch 1,02 (womit wir 39 216 kaufkraftparitätische Dollar erhalten), während wir die chinesischen 4000 KKP durch 1,08 teilen (und 3704 KKP erhalten). Dieselbe Berechnung können wir auch für alle vorhergehenden Jahre anstellen: Je „älter" die Wachstumsraten, desto weiter können wir den Vergleich auf die Vergangenheit ausdehnen. Auf diese Art können wir schließlich 109

Essay II

die Frage beantworten, die wir uns am Anfang gestellt haben: Wie hoch war das Durchschnittseinkommen Chinas im Jahr 1850 ver­ glichen mit dem Einkommen Frankreichs im Jahr 2000 - oder mit dem Einkommen von beliebig vielen Ländern zu beliebigen Zeitpunkten, für die wir die erforderlichen Daten haben? Nun, da wir wissen, wie wir die Einkommen der Länder mit­ einander vergleichen können, können wir uns wieder einigen auf­ schlussreichen Berechnungen zuwenden, um uns ein Bild davon zu machen, wie sehr sich das BIP pro Kopf verschiedener Länder Anfang des 19. Jahrhunderts (für diese Zeit liegen die frühesten Daten vor) unterschied und wie groß die Unterschiede heute sind. Beispielsweise waren Großbritannien und die Niederlande um das Jahr 1920 die reichsten Länder der Welt, aber sie waren nur drei­ mal so reich wie die beiden bevölkerungsreichsten Länder Indien und China, die zu den ärmsten Ländern zählten. Seit damals ist das Einkommensverhältnis zwischen den reichsten und ärmsten Ländern auf mehr als 100 zu 1 gestiegen! Selbst das Verhältnis zwischen Großbritannien, das nicht länger das reichste Land der Welt ist, und China ist trotz des spektakulären Wachstums des asiatischen Landes in den vergangenen dreißig Jahren heute mit 6 zu 1 immer noch doppelt so hoch wie vor zwei Jahrhunderten. Wir können eine V ielzahl ähnlicher Vergleiche und Maße her­ anziehen - sie führen alle zu demselben Ergebnis. Die Einkom­ mensunterschiede zwischen den Ländern sind heure deutlich grö­ ßer als früher. Deshalb ist die Analogie des Urknalls zutreffend: Am Anfang befanden sich die Einkommen der Länder am selben Punkt, aber in der industriellen Revolution explodierten die Un­ terschiede und die Länder entfernten sich immer weiter vonein­ ander. Dies wird als „Einkommensdivergenz" bezeichnet. Seit den späten siebziger und frühen achtziger Jahren müssen wir die zwei Dimensionen der Einkommensunterschiede zwi­ schen den Ländern voneinander trennen. Wenn alle Länder gleich viel zählen, setzte sich der Prozess der Divergenz fort. Die Länder drifteten sogar noch schneller auseinander, da sich das Pro-Kopf­ Wachstum der reichen Länder fortsetzte, während die lateiname110

Ungleiche Länder

rikanischen und osteuropäischen Länder mit mittlerem Einkom­ men entweder stagnierten (in Lateinamerika spricht man von einem „verlorenen Jahrzehnt") oder nach dem Ende des Kommu­ nismus wirtschaftlich zusammenbrachen. Dazu kam, dass der mit Abstand ärmste Kontinent - es überrascht niemanden, dass dies Afrika ist - eine schwere Krise durchlebte und weitere Einkom­ menseinbußen hinnehmen musste, sodass mehrere Länder (Kon­ go, Äthiopien, Sudan) fast auf das Subsistenzniveau zurückfielen. Diese Entwicklung - je ärmer ein Land, desto schlechter seine Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts - erklärt die andauernde weltweite Einkommensdivergenz. Ein ganz anderes Bild sehen wir, wenn wir uns die bevölkerungs­ gewichteten Einkommensunterschiede zwischen den Ländern an­ sehen. In diesem Fall haben die Länder mit großer Bevölkerung größeres Gewicht als die mit geringer Bevölkerung. Insbesondere zwei Länder, die zugleich arm und besonders bevölkerungsreich sind, werden sich erheblich auf das Ergebnis auswirken, sehr viel mehr als Dutzende kleine Länder. Diese beiden Länder sind Indi­ en und China - die beide ein beeindruckendes Wachstum erlebt haben. Da diese Länder zu Beginn des fraglichen Zeitraums sehr arm waren, führte ihr starkes Wachstum zu einer globalen Nivel­ lierung: Das Einkommensniveau vieler ihrer Bürger näherte sich dem der Europäer und Amerikaner an. Dies ist eine Entwicklung von allergrößter Bedeutung. Darüber hinaus verfügt die Welt dank der jüngsten Beschleunigung des Wachstums in Indien nun­ mehr über zwei starke „Motoren" (China und Indien), welche die bevölkerungsgewichtete Ungleichheit zwischen den Ländern ver­ ringern. Bei der Lektüre der Skizzen zur Ungleichheit zwischen den Ländern müssen wir mehrere bedeutsame Dinge im Hinterkopf behalten: Erstens ist diese Ungleichheit heute sehr viel größer als im 19. und über weite Strecken des 20. Jahrhunderts (siehe Skizze 2.1). Zweitens herrscht extreme Ungleichheit in der Welt, eine Ungleichheit, die im Wesentlichen vom Wohnort abhängt, was eben daran liegt, dass die Durchschnittseinkommen der Länder so 111

Essay II

unterschiedlich sind (Skizzen 2.2 und 2.3). Aber wir müssen auch zwei widersprüchliche Entwicklungen in den vergangenen dreißig Jahren berücksichtigen: Zunächst einmal haben wir es mit der beunruhigenden Tatsache zu tun, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern weiter zunimmt, wenn wir sie betrachten, ohne die Größe ihrer Bevölkerung zu berücksichtigen. Diese großen Ein­ kommensunterschiede erhöhen den Migrationsdruck und wecken bei den Einwohnern armer Länder den Wunsch, in die reichen Länder auszuwandern (Skizzen 2.4-2.6). Zweitens ist da die er­ mutigende Tatsache, dass China und Indien in der Lage sind, die Kluft zu verringern, die sie von der reichen Welt trennt. Da diese beiden Länder so bevölkerungsreich sind, trägt ihr wirtschaftli­ cher Erfolg erheblich zur Verringerung der globalen Ungleichheit bei. Aber wir sollten auch die Daten für sich selbst sprechen lassen und uns nicht vom unbestreitbaren Erfolg Chinas und Indiens blenden lassen. Obwohl diese beiden Länder außergewöhnliche Fortschritte gemacht haben, ist die Kluft zwischen ihnen und der reichen Welt immer noch gewaltig- und wächst in mancher Hin­ sicht sogar weiter. Sehen wir uns zunächst die positive Seite an. Es ist jetzt dreißig Jahre her, dass Chinas bemerkenswerter wirt­ schaftlicher Aufstieg begann. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ist das Einkommen so vieler Menschen über einen derart langen Zeitraum hinweg so deutlich gestiegen. Um uns eine Vorstellung davon machen zu können, was China erreicht hat, können wir die folgende Rechnung anstellen: Wir können eine zusätzliche Einheit menschlichen Wohlergehens (eine „Nut­ zeneinheit") als die Verdopplung des Realeinkommens von 100 Millionen Menschen definieren. Das ist eine gewaltige Men­ ge: Für eine zusätzliche Nutzeneinheit müssten die Vereinigten Staaten dafür sorgen, dass sich das Einkommen eines Drittels ih­ rer Bevölkerung verdoppelt. Wie viele solche Nutzeneinheiten hat China in den letzten dreißig Jahren „erzeugt"? Bei einer durch­ schnittlichen Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen ist das BIP pro Kopf des Landes um das Zwölffache gestiegen, 112

Ungleiche Länder

womit China 38 Nutzeneinheiten „erzeugt" hat. Die Vereinigten Staaten, deren BIP pro Kopf sich seit 1950 verdreifacht hat und die von damals bis heute eine durchschnittliche Bevölkerung von 220 Millionen Menschen gehabt haben, haben weniger als vier solcher Nutzeneinheiten produziert. Japan kommt zwischen 1945 und der Gegenwart auf 18 zusätzliche Nutzeneinheiten. Das be­ deutet, dass der chinesische Erfolg gemessen an der Erhöhung des menschlichen Wohlergehens alle Grenzen sprengt: Er übertrifft die Leistung der Vereinigten Staaten fast um das Zehnfache. Das ist die positive Seite. Um diese Entwicklung richtig einordnen zu können, müssen wir jedoch die absoluten Einkommensniveaus betrachten. Im Jahr 2007 lag das BIP pro Kopf Indiens bei 2600 KKP-Dollar, das Chinas bei 5050 KKP-Dollar und das der Vereinigten Staaten bei 43 200 KKP-Dollar. Die absoluten Unterschiede sind riesig. Da­ her sollte es nicht überraschen, dass trotz des rasanten Wachstums der beiden asiatischen Länder nur ein sehr geringer Prozentsatz der Inder und Chinesen ein Realeinkommen erzielt, das mit dem amerikanischer oder westeuropäischer Angehöriger der Mittel­ schicht vergleichbar ist (Skizze 2.2). Ein Blick auf diese absoluten Unterschiede sollte genügen, um das Gerede über die Entstehung einer „globalen Mittelschicht" zu widerlegen (Skizze 3.2). Aus diesen Unterschieden ergibt sich noch eine weitere verblüf­ fende Tatsache: Wenn das BIP pro Kopf der Vereinigten Staaten um 1 Prozent wächst, muss das indische um eigentlich unmögli­ che 17 Prozent und das chinesische um 8,6 Prozent steigen, damit die absoluten Einkommensunterschiede nicht weiter wachsen. China und Indien müssten sehr, sehr schnell laufen, nur um auf der Stelle zu treten. Daher überrascht es nicht, dass die absoluten Einkommensunterschiede zwischen den reichen und armen Län­ dern trotz des bemerkenswerten Erfolgs Chinas (und Indiens) sogar größer geworden sind. Im Jahr 1980 lag das amerikanische Pro-Kopf-Einkommen bei 25 500 kaufkraftparitätischen Dollar, während das Chinas bei 525 KKP-Dollar lag. Die absolute Diffe­ renz betrug also etwa 25 000 KKP-Dollar pro Person. Heute be113

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trägt der absolute Unterschied 37 000 KKP-Dollar. Da diese ab­ soluten Unterschiede zwischen den Realeinkommen auch Aufschluss über die Produktivitätsunterschiede geben, können wir feststellen, dass die absolute Produktivitätslücke zwischen den Vereinigten Staaten und China (trotz Chinas phänomenalem Er­ folg) deutlich größer geworden ist.99 Und dasselbe gilt natürlich für die absolute Wohlfahrtskluft zwischen dem durchschnittli­ chen US-Amerikaner und dem durchschnittlichen Chinesen. Wenn die chinesische Führung darauf beharrt, ihr Land sei immer noch arm, tut sie das möglicherweise aus politischen Gründen, aber die Behauptung hat dennoch einiges für sich. Die Einkommensdivergenz zwischen den Ländern ist für meh­ rere Fragen bedeutsam, darunter Migration, globale Ungleichheit und das Schicksal der kulturellen Vielfalt (mit diesen Fragen wer­ den wir uns in den folgenden zwei Kapiteln befassen). Aber sie ist auch für eine Frage wichtig, die kein direktes Thema dieses Buches ist; gemeint ist die Frage, wie sich die Vorstellung der Ökonomen von der Entstehung des Reichtums von Ländern verändert hat. Gemäß der früheren (neoklassischen) Wirtschaftstheorie sollte die Globalisierung, wenn sie wie die gegenwärtige Globalisierung 2.0 keine großen Migrationsbewegungen, sondern nur eine Bewe­ gung von Kapital, Gütern und Technologie bedingt, zu einer Konvergenz der Einkommen führen, da die armen Länder schnel­ ler wachsen werden als die reichen. Warum? Zunächst einmal soll­ ten diese Länder dank der Globalisierung die wichtigsten Emp­ fänger ausländischer Direktinvestitionen aus der reichen Welt sein. Niedrige Löhne und hohe Kapitalerträge sollten Kapitalisten aus den reichen Ländern anlocken. Die Folge sollte ein kräftigeres Wachstum der armen Länder sein. Zweitens haben die armen Länder zu relativ geringen Kosten Zugang zur in der reichen Welt entwickelten Technologie, die sie gegebenenfalls durch Reverse Engineering nutzen können, um eine technologische Aufholjagd zu beginnen. Im Gegensatz dazu können sich die reichen Länder nur technologisch weiterentwickeln, indem sie die gegenwärtigen technologischen Grenzen durchbrechen. Etwas bereits Vorhande114

Ungleiche Länder

nes zu kopieren ist leichter als etwas Neues zu erfinden. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die Wachstumsrate der armen Länder höher sein sollte als die der reichen Länder. Drittens sollte auch eine Spezialisierung auf die Erzeugung von Gütern, bei denen die armen Länder komparative Vorteile haben, das Wachstum dieser Länder beschleunigen. Anstatt ihre Ressourcen für den Bau von Fabriken zu vergeuden, die Güter zu nicht wettbewerbsfähigen Preisen erzeugen, sind die armen Länder der Theorie zufolge bes­ ser beraten, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die sie gut kön­ nen, und andere Güter zu importieren. Daher sollte ihnen der Freihandel dabei helfen, sich auf die Erzeugung wirklich nützli­ cher Dinge zu spezialisieren. Viertens können die armen Länder dank der ungehinderten Bewegung der Ideen von den reichen Ländern auch Institutionen und politische Maßnahmen überneh­ men, die den Aufbau von Wohlstand ermöglichen. Ohne Globa­ lisierung wäre nichts von alledem leicht zugänglich für die weni­ ger entwickelten Länder. So sollte die Entwicklung verlaufen, wenn es nach der neoklas­ sischen Theorie ging. Aber es ist anders gekommen. Wie wir gese­ hen haben, hat sich die Einkommensschere zwischen den Ländern in der gegenwärtigen Globalisierungsphase nur noch weiter geöff­ net, was den Ökonomen einiges Kopfzerbrechen bereitet. Man kann die ökonomischen Theorien problemlos anhand der Fakten überprüfen. Floss Kapital von den reichen in die armen Länder? Eigentlich nicht. Es floss vor allem von reichen in andere reiche Länder. Im Jahr 2007 beliefen sich die ausländischen Direktinves­ titionen in den Vereinigten Staaten auf mehr als 240 Milliarden Dollar, während China (trotz aller medialen Aufmerksamkeit) nur 138 Milliarden Dollar anlockte. Nach China fließen etwa so hohe ausländische Investitionen wie in die Niederlande und weniger als nach Frankreich oder Großbritannien. Dabei nimmt China eine Ausnahmestellung unter den armen Ländern ein: Andere erhalten noch sehr viel weniger. Nehmen wir nur die ausländischen Direkt­ investitionen in Indien: Im Jahr 2007 flossen mehr ausländische Investitionen als je zuvor nach Indien, nämlich 23 Milliarden 115

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Dollar; das war die Hälfte dessen, was Österreich erhielt. Bis zu diesem außergewöhnlichen Jahr hatte Indien jedes Jahr zwischen 4 und 6 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen angelockt - etwa so viel wie die Vereinigten Staaten in einer Wo­ che erhalten. So kam es, dass sich die ausländischen Investitionen in der Phase der größten Expansion zwischen 2000 und 2008 im Durchschnitt auf etwa 20 Dollar pro Einwohner in Afrika, auf 6 Dollar pro Kopf in Indien, auf 45 Dollar pro Person in China und auf etwa 800 Dollar pro Einwohner in den reichen Ländern beliefen.100 In den Jahren 2000 bis 2007 flossen nicht weniger als drei Viertel der gesamten ausländischen Direktinvestitionen (fast 9 Billionen Dollar) in die reichen Länder.101 Wir hatten die um­ gekehrte Entwicklung erwartet. Die Tatsache, dass sich das Kapi­ tal vor allem zwischen den reichen Ländern bewegt und in jüngs­ ter Zeit sogar „aufwärts" von den armen in die reichen Länder fließt, da die Reichen in den armen Ländern aus Angst um ihr Geld und ihr Leben lieber im Ausland investieren, wird auch als „Lucas-Paradox" bezeichnet.102 Das Lucas-Paradox ist auf die gegenwärtige Globalisierung 2.0 beschränkt. In der von Großbritannien angeführten Globalisie­ rung 1.0, die von den Wirtschaftshistorikern normalerweise zwi­ schen 1870 und 1914 angesiedelt wird, verhielt sich die Weltwirt­ schaft eher der Theorie entsprechend: Damals floss das Kapital tatsächlich von den reichen in die armen Länder. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, in den Jahren 1910 bis 1913, flossen fast zwei Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen in die Dritte Welt.103 Man kann es auch aus einem anderen Blickwinkel be­ trachten: Ende des 20. Jahrhunderts wurden nur 5 Prozent des gesamten transnationalen Kapitals in Ländern investiert, die als arm bezeichnet werden konnten, weil ihr Einkommensniveau höchstens ein Fünftel des amerikanischen erreichte. Im Jahr 1913 hatte dieser Anteil noch bei 25 Prozent gelegen.104 Auch die Technologietransfers sind ein Rätsel. Früher betrach­ tete die Theorie des Wirtschaftswachstums die Technologie als Gut, das für jedermann zugänglich ist, weshalb seine Nutzung 116

Ungleiche Länder

durch eine Person die für andere Personen verfügbare Menge nicht verringert (so wie mein Konsum einer Fernsehsendung oder meine Nutzung eines Computerprogramms ihre Fähigkeit nicht einschränkt, dieselbe Sendung anzuschauen oder dieselbe Soft­ ware zu verwenden). Demnach haben die armen Länder leichten und kostenlosen Zugang zur neuesten Technologie, sofern sie sich entscheiden, diese Technologie zu nutzen. Aber in der neuen Vor­ stellung vom Wirtschaftswachstum ist die Technologie „aus­ schließlich": Man kann von den Leuten verlangen, für ihre Nut­ zung zu bezahlen, und man kann jemanden von der Nutzung einer Technologie „ausschließen". Die Technologie ist also nicht kostenlos. Arme Länder müssen für die Softwarelizenzen von Mi­ crosoft und für die Medikamentenlizenzen der Pharmaunterneh­ men bezahlen, obwohl die Grenzkosten der Produktion zusätzli­ cher Software oder eines Medikaments minimal sind. 105 Wenn das der Fall ist, können wir nicht länger an der Vorstel­ lung festhalten, dass die armen Länder in der Globalisierung ei­ nen Vorsprung vor den reichen haben. Das Gegenteil ist richtig: Jetzt haben die reichen Länder die Asse im Ärmel. Deshalb sind die geistigen Eigentumsrechte heute so bedeutsam: Die reichen Länder wollen sicherstellen, dass sie das Geld für ihre Erfindun­ gen bekommen. Wie widersprüchlich das ist, zeigt sich zum Bei­ spiel daran, dass Disney lautstark nach Schutz vor „Raubkopien" seiner Filme ruft, obwohl einige seiner erfolgreichsten Filme auf Geschichten beruhen, die eben in den Ländern spielen, denen Disney „Piraterie" vorwirft. Aber die geistigen Eigentumsrechte an Tausend und eine Nacht sind längst verfallen (besser gesagt, sie haben nie existiert), während Disneys Rechte sehr aktuell sind. Die armen Länder scheinen also sowohl in Bezug auf die Kapi­ talströme als auch in Bezug auf den Zugang zur Technologie we­ niger von der Globalisierung 2.0 zu profitieren als die Ökonomen ursprünglich angenommen hatten. Wir beginnen zu verstehen, wie es zur Einkommensdivergenz kommen konnte. Um die Divergenz zu erklären, haben die Ökonomen zusätzli­ che Elemente berücksichtigt. Vielleicht, so erklären sie, kann man 117

Essay II

die Produktion überproportional zum Kapital- und Arbeitseinsatz erhöhen, indem man hochqualifizierte Arbeitskräfte und hoch­ entwickeltes Kapital einsetzt - beides ist in den reichen Ländern reichlich vorhanden. 106 Auch das würde den reichen Ländern mehr helfen als den armen: Die reichen Länder würden von stei­ genden Skalenerträgen profitieren (zwei Arbeitskräfte plus zwei Computer produzieren mehr als das Doppelte dessen, was eine Arbeitskraft und ein Computer produzieren), während die armen, technologisch weniger entwickelten Länder die üblichen konstan­ ten Skalenerträge erzielen: Zwei Arbeiter und zwei Textilmaschi­ nen produzieren genau doppelt so viel wie ein Arbeiter und eine Textilmaschine. Auch der Produktion neuer Technologien und Ideen wird heu­ te größere Aufmerksamkeit geschenkt. Anstatt die Entstehung neuer Technologien wie eine Karikatur eines „Newtonschen Ge­ setzes" der technologischen Entwicklung (einem sehr, sehr klugen Mann, der unter dem Baum schläft, fallt ein Apfel auf den Kopf ) von der ökonomischen Analyse auszunehmen, gehen die Ökono­ men mittlerweile davon aus, dass die technologische Entwicklung in eine gegebene institutionelle und kulturelle Struktur „eingebet­ tet" ist und davon abhängt, dass den lnnovatoren geeignete An­ reize gegeben werden. Sie wird also als „endogenes" Element eines Wirtschaftssystems gesehen, anstatt streng genommen als von der Ökonomie unabhängig betrachtet zu werden (als etwas, das ein­ fach geschieht oder eben nicht). Das bedeutet, dass die reichen Länder, die Institutionen entwickelt haben, welche die Erfor­ schung und Entwicklung neuer Technologien begünstigen, eine unverhältnismäßig große Zahl von Erfindungen hervorbringen werden. Diese Erfindungen und Innovationen wiederum regen das Wirtschaftswachstum an - eine weitere Erklärung für die Ein­ kommensdivergenz zwischen reichen und armen Ländern. Die empirischen Belege für die Einkommensdivergenz in den vergangenen dreißig Jahren hat uns also dazu bewegt, (1) einen genaueren Blick auf die empirischen Daten zu Wirtschaftswachs­ tum, Kapitalströmen und Zugang zur Technologie zu werfen, die 118

Ungleiche Länder

dem widersprachen, was die Ökonomen vor der Globalisierung 2.0 von einem solchen Prozess erwarteten, und (2) die Theorie des Wirtschaftswachstums zu revidieren, sodass sie mittlerweile eine andere Vorstellung von den Technologietransfers, eine neue Be­ trachtung des technologischen Fortschritts als von spezifischen Institutionen und kulturellen Bedingungen ermöglichten „endo­ genen" Prozess und eine Betonung der wachsenden Skalenerträge beinhaltet. Die unangenehmen Auswirkungen der Globalisierung 2.0 haben die Ökonomen dazu bewegt, die Theorie zu überarbei­ ten, um sie diesen Tatsachen besser anzupassen (es muss sich noch weisen, ob diese Bemühungen ausreichend gewesen sind).

119

Skizze 2.1

Warum irrte sich Marx?

E

in wiederkehrendes Thema in den Schriften von Marx - vom Kommunistischen Manifest bis zu Das Kapital - ist die zuneh­ mende Polarisierung einer Gesellschaft, in der kein Interessenaus­ gleich zwischen Arbeitern und Kapitalisten möglich ist. Wie zu jener Zeit üblich, nahm Marx an, dass die Arbeiter immer auf dem Subsistenzniveau oder knapp darüber leben würden, wäh­ rend die Vermögenden schrittweise immer größere Reichtümer anhäufen würden. Die unablässig zunehmende Polarisierung, so Marx, würde schließlich zwangsläufig in eine proletarische Revo­ lution münden. Marx beschrieb die Realität seiner Zeit nicht vollkommen falsch. In der britischen Gesellschaft, einer prototypischen kapita­ listischen Gesellschaft, aus deren Beobachtung Marx die meisten seiner Schlüsse zog, nahm die Ungleichheit im gesamten 18. und vermutlich auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig zu. 107 Auch in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern, etwa in den Niederlanden und in Deutschland, nahm die Un­ gleichheit zu. 108 Obendrein wirkte die Ungleichheit polarisierend: Auf der einen Seite stand die Masse armer Arbeiter, auf der ande­ ren Seite die stetig schrumpfende Zahl immer reicherer Kapitalis­ ten. Kombinieren wir (a) eine ausgeprägte Ungleichheit in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern und eine etwa ebenso große Ungleichheit in anderen Weltregionen (Indien, China, Russland, Lateinamerika) mit (b) den relativ geringen Unterschie­ den zwischen dem BIP pro Kopf der Länder (im Jahr 1820 war das BIP pro Kopf der Niederlande - des reichsten Landes der Welt - nur dreimal höher als das BIP pro Kopf Chinas, eines der ärms­ ten Länder der Welt) 109, so gewinnen wir (c) ein Bild der globalen Ungleichheit, das von den Einkommensunterschieden innerhalb 120

Warum irrte sich Marx?

der Länder geprägt wird. Wenn wir die Unterschiede innerhalb der Länder (unser Punkt a) als „Klassenunterschiede" und die Un­ terschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder (unser Punkt b) als „ortsabhängige Unterschiede" bezeichnen, stellen wir fest, dass die Klassenzugehörigkeit im 19. Jahrhundert sehr viel mehr zur globalen Ungleichheit beitrug als der Wohnort. Bis hier passt alles sehr schön ins marxistische Schema: Aufgrund unablässig wachsender Klassenunterschiede innerhalb der Länder und relativ geringer Unterschiede zwischen den durchschnittli­ chen Lebensstandards der verschiedenen Länder ist mit einer na­ tionalen und Welcrevolution zu rechnen. Aber eine Ironie der Geschichte wollte es, dass sich die Dinge gerade zu der Zeit zu wandeln begannen, als der erste Band von Das Kapital erschien (1867, dies war der einzige Band, der zu Marx' Lebzeiten veröffentlicht wurde). Eine von Gregory Clark vorgelegte neue Datenreihe zur Entwicklung der englischen Real­ löhne zeigt, dass diese zwischen 1867 und 1870 zu steigen began­ nen, und abgesehen von gelegentlichen kleinen Einbrüchen hat sich dieses Lohnwachstum bis heute fortgesetzt. 110 Gegen Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts explodierten die Einkommensunterschiede zwischen den reichen Ländern Westeuropas, Nordamerikas und Ozeaniens und der übrigen Welt (Afrika, Asien und Lateinamerika). In dieser Zeit entstand das, was wir heute als „dritte Welt" bezeichnen. So kam es, dass das marxistische Weltbild, das wenige Jahr­ zehnte früher noch realistisch gewirkt hatte, um das Jahr 1900 seine Gültigkeit verlor. Die Welt war nicht länger in überall glei­ chermaßen arme Proletarier und überall gleichermaßen reiche Kapitalisten unterteilt. Im Gegenteil: Die Arbeiter in den entwi­ ckelten kapitalistischen Ländern wurden reicher. Die Kluft zwi­ schen ihnen und den weniger glücklichen Arbeitern in den ärme­ ren Ländern, seien es Muschiks in Russland oder Kulis in Indien, begann zu wachsen. Die von den Marxisten vorausgesetzte Soli­ darität zwischen den Proletariern der Welt, ausgedrückt im be­ rühmten Schlachtruf der Kommunistischen Internationale 121

Skizze 2.1

„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" - begann zu bröckeln und löste sich schließlich in Nichts auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere in den letzten Lebensjahren von Marx' Coautor Friedrich Engels (er starb 1895) setzte sich das Konzept der „Arbeiteraristokratie" durch. Engels selbst verwendete den Begriff wiederholt. 111 Die Arbeiter in den entwickelten kapitalistischen Ländern begriffen, dass sie nicht nur ihre Ketten zu verlieren hatten, wie Marx im Kommunistischen Manifest behauptet hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg rügte Trotzki die SPD, die bis 1914 die mächtigste so­ zialistische Partei war und weltweit als Hüter der marxistischen Lehre betrachtet wurde, und schrieb geringschätzig, die deutschen Sozialdemokraten würden sich nicht an die Spitze der proletari­ schen Revolution setzen, weil sie davor zurückschreckten, die sorgfältig gepflegten deutschen Rasenflächen zu ruinieren. 112 Aus sozialistischer Perspektive veränderte sich die Welt, zu­ nächst langsam, dann immer schneller. Das Proletariat, jene Klasse, welche die Weltrevolution durchführen sollte, ver­ schwand in einigen Ländern. Es wurde immer schwieriger, die Interessen der relativ wohlhabenden Arbeiter Westeuropas und Nordamerikas mit denen der Arbeitssklaven in den Ländern in Einklang zu bringen, die von der Bourgeoisie der reichen Länder kolonisiert worden waren (von einer Bourgeoisie, die einen Teil der Beute mit der heimischen Arbeiterklasse teilte und die Arbei­ ter auf diese Art einander entfremdete). Der revolutionäre Dis­ kurs wandelte sich, und der klarste Ausdruck dieses Wandels war Mao Tse-tungs Behauptung, die Dritte Welt sei das neue Prole­ tariat, das die wohlhabenden Klassen der reichen Länder stürzen müsse, womit er implizit die gut situierten Arbeiter und die Ka­ pitalisten der Ersten Welt in einen Topf warf. Die universelle proletarische Bruderschaft und die „permanente Revolution" wurden aufgegeben. 113 Die von Marx beschriebene Welt war innerhalb von 150 Jahren auf den Kopf gestellt worden. Woran lag das? Die globale Vertei­ lung der Einkommen hatte sich verändert. Um das Jahr 1870 war 122

Warum irrte sich Marx?

Gini-Koefizient

100 �----------------------�

80 ····--....-.....-...............-·····-······--··--·---

1870

2000

SCHAUBILD 2 Ausmaß und Zusammensetzung der globalen Ungleichheit 1870 und 2000 (Aufgliederung des Gini-Koeffizienten). Erläuterung: Die Höhe der Balken gibt Aufschluss über das Ausmaß der globalen Ungleichheit. Quellen: Franrois Bourguignon und Christian Morrisson, ,, The Size Distribution ofIncome Among World Citizens, 1820-1990''. in: American Economic Review (September 2002): 727-744; Branko Milanovic, Worlds Apart: Measuring International and Global Inequality (Princeton: Princeton University Press, 2005), Abb. 11.3.

die globale Ungleichheit zwischen den Erdbewohnern geringer als heute (siehe Schaubild 2). Das Auffälligste ist jedoch nicht das ge­ samte Ausmaß der Ungleichheit, sondern der Wandel ihrer Zusam­ mensetzung: Hing sie ursprünglich in erster Linie von der Klassen­ zugehörigkeit ab, so wird sie mittlerweile fast ausschließlich (nämlich zu 80 Prozent) vom Wohnort bestimmt. Ob man das Glück hat, in einem reichen Land zur Welt zu kommen, ist heute im globalen Maßstab sehr viel wichtiger als die Frage, ob man in einem reichen Land der Ober-, Mittel- oder Unterschicht angehört. Die Einkommensdivergenz zwischen den Ländern hat den marxistischen Traum von der Solidarität zwischen den ausgebeu­ teten Klassen zerstört. Aber könnte Solidarität zwischen den ar123

Skizze 2.1

men Ländern der Welt entstehen? Nach der Entkolonialisierung in den sechziger Jahren und während Maos Herrschaft in China schien sie angesichts der Bewegung der Blockfreien Staaten und des Strebens nach einer „neuen internationalen Wirtschaftsord­ nung" in den siebziger Jahren möglich. Aber diese Solidarität wur­ de von mehreren Entwicklungen im letzten V ierteljahrhundert untergraben: China und Indien sind rasant gewachsen, und eine Reihe von Ländern, darunter Taiwan, Südkorea, Malaysia und Chile, machen eine stetige „Verbürgerlichung" durch. Heute ha­ ben Südkorea und Chile (sowie zunehmend auch China und In­ dien) sehr viel größere Ähnlichkeit mit Frankreich und den Verei­ nigten Staaten als mit Angola und Kambodscha. Obendrein wäre die „Solidarität" der Dritten Welt wahrscheinlich zusehends vom Nationalismus getrübt worden; man denke nur an die Ideologie der „großostasiatischen Wohlstandssphäre", die Japan seinen un­ glücklichen asiatischen Nachbarländern im Zweiten Weltkrieg aufzwang. Aber die nationalistischen Bestrebungen annullieren einander: Auf dem Rücken verschiedener Nationalismen kann keine wirkliche Solidarität entstehen. Zusammenfassend können wir feststellen, dass heute weder eine globale Klassenidentität noch eine länderübergreifende Solidarität möglich scheint, da die materielle Lage der Menschen in den verschiedenen Ländern ein­ fach zu unterschiedlich ist. Freunde und Feinde sind zu hetero­ gen, um in ein binäres Schema zu passen, geschweige denn in ein binäres Schema, das auf dem Einkommen allein beruht. 114 Die Tatsache, dass der Großteil der globalen Ungleichheit ge­ genwärtig auf die unterschiedlichen Durchschnittseinkommen der Länder zurückzuführen und damit „ortsabhängig" ist, hat er­ hebliche Auswirkungen. Nachdem wir uns die gegenwärtige Un­ gleichheit in der folgenden Skizze genauer angesehen haben, wer­ den wir uns zwei dieser Auswirkungen zuwenden: Inwieweit schafft die Ungleichheit einen Anreiz, hart zu arbeiten und unser eigenes Los zu verbessern? Und welche Auswirkungen hat sie auf die Migration? 124

Skizze 2.2

Wie groß ist die Ungleichheit in der heutigen Welt?

W

enn wir uns ein Bild von der wirtschaftlichen Situation ei­ nes Landes und damit seiner Bevölkerung machen, sind wir daran gewöhnt, in Durchschnittswerten zu denken. Fast täg­ lich hören oder sprechen wir über das Pro-Kopf-Bruttoinlandspro­ dukt dieses und jenes Landes. Wir sind so an diese Kennzahlen gewöhnt, dass wir fast vergessen haben, was sie bedeuten. Das BIP pro Kopf ist selbstverständlich ein Durchschnittswert: Um diesen Durchschnitt zu ermitteln, wird der Wert aller in einem Land (oder einem Wirtschaftsraum) erzeugten Güter und Dienstleistun­ gen zusammengefasst und durch die Zahl der Einwohner geteilt. Es handelt sich nicht um das tatsächliche Einkommen irgendwel­ cher Personen, sondern einfach um das arithmetische Mittel. Um uns ein Bild von der Wirklichkeit der Einkommen zu ma­ chen, müssen wir die nationalen Durchschnittswerte (zum Bei­ spiel das BIP pro Kopf ) in die tatsächlichen Einkommen auf­ schlüsseln, welche die Menschen in einem Land beziehen. Dieses ,,wahre" Bild der Welt ist, wie wir sehen werden, zugleich beruhi­ gender und alarmierender als die gewohnten Pro-Kopf-Daten. Beruhigender ist es, weil wir feststellen, dass es in den ärmeren Ländern Menschen gibt, die reicher sind als manche Menschen, die in den reicheren Ländern leben (etwas, das wir anhand der Durchschnittswerte natürlich nicht erkennen können). Alarmie­ render ist es, weil wir entdecken, dass in einigen Fällen praktisch alle Einwohner eines reicheren Landes wohlhabender sind als alle Einwohner eines ärmeren Landes. Um uns ein zutreffendes Bild von der Verteilung der Einkom­ men in der Welt zu machen, müssen wir daher diese beiden As­ pekte der nationalen und internationalen Verteilungen miteinan­ der kombinieren. Das geschieht in Schaubild 3. Sehen wir uns an, 125

Skizze 2.2

wie es aufgebaut ist. Nehmen wir als Beispiel die Vereinigten Staa­ ten, die hier als Repräsentant der reichen Welt dienen, obwohl wir auch jedes andere ähnlich reiche Land nehmen könnten. Wir nehmen die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten und unterteilen sie abhängig von ihrem Pro-Kopf-Haushaltseinkom­ men in zwanzig Einkommensgruppen, von den ärmsten bis zu den reichsten. Jede dieser Gruppen wird als Zwanzigstel bezeich­ net: Es gibt zwanzig solche Gruppen, die jeweils 5 Prozent der amerikanischen Bevölkerung beinhalten. Dieselbe Unterteilung wenden wir auf die Bevölkerungen aller Länder an. Jedes Zwan­ zigstel wird also mit seinem spezifischen Durchschnittseinkom­ men erfasst, das in der nationalen Währung ausgedrückt wird. Dieses Einkommen wird in internationale (kaufkraftparitätische) Perzentil der globalen Einkommensverteilung 100 90 80 70 60

so 40 30 20 10 0 5

10

15

Zwanzigstel des Landes

20

SCHAUBILD 3 Ungleichheit in der Welt, nach Ländern und Einkommensgruppe. Erläuterung: Die Graphik zeigt, dass sich die ärmsten 5 Prozent der Amerikaner (J. Zwanzigstel des Landes aufder horizontalen Achse) mit ihrem Einkommen im 68. Perzentil der globalen Einkommensverteilung befinden (siehe die horizontale ge­ strichelte Linie bei diesem Perzenti/). Alle anderen Punkte sind genauso zu interpretieren.

126

Wie groß ist die Ungleichheit in der heutigen Welt?

Dollar umgerechnet, weshalb man im Prinzip mit einem solchen Dollar in Indien dieselbe Menge an Gütern kaufen kann wie in den Vereinigten Staaten und an jedem anderen Ort der Welt. So können wir die Einkommen weltweit vergleichen. Sobald wir die Verteilungen in den nationalen Zwanzigsteln haben und ihr jeweiliges Einkommen in KKP-Dollar kennen, können wir die Position jedes Zwanzigstels in der globalen Ein­ kommensverteilung feststellen. Sehen wir uns erneut die Verei­ nigten Staaten an: Da sie ein reiches Land sind, findet sich der Großteil ihrer Bevölkerung im oberen Teil der globalen Einkom­ mensverteilung. Wie aus dem Schaubild ersichtlich, befindet sich das ärmste Zwanzigstel der Einwohner der Vereinigten Staaten im 68. Perzentil der globalen Einkommensverteilung (vgl. die gestrichelte horiwntale Linie bei Y = 68). Das bedeutet, dass die ärmsten Amerikaner wohlhabender sind als mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung. Selbstverständlich geht es den Menschen in allen anderen (höheren) Zwanzigsteln der amerikanischen Ein­ kommensverteilung noch besser und die reichsten Amerikaner gehören zum obersten Perzentil der Weltbevölkerung. Dasselbe gilt für andere reiche Länder. Nun sind die Vereinigten Staaten nicht nur im Durchschnitt ein reiches Land (weshalb alle ihre Zwanzigstel einen Platz weit oben in der globalen Einkommensverteilung einnehmen), son­ dern auch ein Land mit moderater Ungleichheit im Vergleich zu den anderen in dieser Graphik gezeigten Ländern (wenn auch nicht verglichen mit den westeuropäischen Ländern). Die Kluft zwischen dem reichsten und ärmsten Zwanzigstel der amerikani­ schen Bevölkerung beträgt 32 globale Perzentile (zwischen dem 68. und 100. Perzentil). In China hingegen spreizt sich die Vertei­ lung über einen sehr viel größeren Bereich: vom 3. bis zum 85. Perzentil. Brasilien mit seinen extrem ungleich verteilten Einkom­ men deckt praktisch das gesamte globale Spektrum vom ärmsten bis zum reichsten Perzentil ab. Dieses Land kann also als Mikro­ kosmos der Welt betrachtet werden, da die globale Einkommens­ verteilung eine Linie sein wird, die in einem Winkel von 45 Grad 127

Skizze 2.2

stetig vom 1. bis zum 100. Perzentil ansteigt. In Brasilien leben einige der ärmsten und einige der reichsten Menschen der Welt. Jetzt verstehen wir, warum die Länderdurchschnitte irrefüh­ rend sein können. Beispielsweise geht es nur etwa der Hälfte der brasilianischen Bevölkerung wirtschaftlich besser als den ärmsten 5 Prozent der US-Amerikaner. Anders liegen die Dinge im Fall Indiens, das insgesamt arm ist, wobei das ärmste Zwanzigstel seiner Bevölkerung zum viertärms­ ten Perzentil der Weltbevölkerung und das reichste Zwanzigstel nur zum 68. Perzentil der Weltbevölkerung zählt. Dieser letzte Wert zeigt, dass die reichsten Inder (als Gruppe, die zugegebener­ maßen groß ist, da sie mehr als 50 Millionen Menschen umfasst) dasselbe Pro-Kopf-Einkommen wie die ärmsten Personen (als Gruppe) in den Vereinigten Staaten haben. Dies ist eine nicht nur verblüffende, sondern auch alarmierende Tatsache. Es gibt viele Länder in der Welt, deren einkommensstärkste Bevölkerungs­ gruppen ärmer sind als die ärmsten Gruppen in den reichen Län­ dern. Wollten wir die nationalen Verteilungen in kleinere Einhei­ ten aufspalten und statt den Zwanzigsteln, die jeweils 5 Prozent der Bevölkerung beinhalten, Perzentile (also jeweils 1 Prozent) betrachten, so würden wir Überschneidungen finden. Diese sind jedoch weiterhin gering: Wenn wir Indien und die Vereinigten Staaten nehmen, so stellen wir fest, dass nur etwa 3 Prozent der indischen Bevölkerung ein Einkommen haben, das höher ist als das des untersten (ärmsten) Perzentils der US-Bevölkerung. Wir könnten zahlreiche solche Beispiele aneinanderreihen. Statt Indien und den Vereinigten Staaten könnten wir Kamerun und Deutschland vergleichen: Nur 5 Prozent der Kameruner ha­ ben ein höheres Einkommen als die ärmsten Deutschen. Ein Ver­ gleich der Elfenbeinküste mit Frankreich ergibt eine Überschnei­ dung von 12 Prozent, bei Simbabwe und Großbritannien sind es 8 Prozent, beim Kongo und Belgien 5 Prozent usw. In vielen Fäl­ len sehen wir nur minimale Überschneidungen: Die Staatsange­ hörigkeit ist unser Schicksal, denn sie ist untrennbar mit einem hohen oder geringen Einkommen verbunden. Wie wir in den 128

Wie groß ist die Ungleichheit in der heutigen Welt?

folgenden drei Skizzen sehen werden, hat dies gewaltige wirt­ schaftliche Auswirkungen. Aber an dieser Stelle wollen wir uns nur auf eine Auswirkung einer Situation konzentrieren, in der die Einkommenskluft zwischen den Bevölkerungen der reichen und armen Länder gering ist. Nehmen wir an, die Vereinigten Staaten müssten entscheiden, ob sie einem Land wie Brasilien oder einem Land wie Indien Entwicklungshilfe gewähren sollen. Wir wissen nicht, wie die Hilfsgelder verwendet werden oder wer die Begüns­ tigten in diesen Ländern sein werden. Für eine Unterstützung Indiens spricht nicht nur die Tatsache, dass sein Durchschnitts­ einkommen niedriger ist, sondern auch - was vielleicht noch wichtiger ist - die Tatsache, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Hilfe einen „regressiven" Transfer darstellen wird, das heißt einen, der von einem relativ armen amerikanischen Steuerzahler an einen reicheren indischen Hilfsempfänger fließen wird. Bei Ländern wie Indien sind regressive Transfers praktisch ausge­ schlossen. Wenn das Einkommen des durchschnittlichen ameri­ kanischen Steuerzahlers etwa beim 90. Perzentil der Welt liegt, gibt es in Indien fast keine Menschen (jedenfalls nicht in statis­ tisch signifikanter Zahl), die dasselbe oder ein höheres Einkom­ men erzielen. Anders ist die Situation in Brasilien: Rund 5 Pro­ zent der brasilianischen Bevölkerung haben ein Einkommen, dass höher ist als das unseres fiktiven amerikanischen Steuerzahlers. Das bedeutet, dass zwischen den Vereinigten Staaten und Brasili­ en regressive Einkommenstransfers wahrscheinlicher sind als zwi­ schen den Vereinigten Staaten und Indien. Das Bild der „wahren" globalen Einkommensverteilung sollte uns auch helfen, ,,alltägliche" Probleme wie die Aufteilung der Hilfsgel­ der der reichen Länder zu lösen. Ähnlich wie auf nationaler Ebene, wo es nicht gut ankommt, wenn die mit Steuergeldern finanzierte Arbeitslosenunterstützung Personen zugutekommt, die wohlhaben­ der sind als die Steuerzahler, sollten wir auf internationaler Ebene ,,regressive" Transfers nach Möglichkeit vermeiden. Das bedeutet, dass wir nicht nur das Durchschnittseinkommen eines Landes, son­ dern auch seine Einkommensverteilung berücksichtigen sollten. 129

Skizze 2.3

Wie viel von unserem Einkommen hängt davon ab, wo wir geboren werden? "\V,lir haben nicht nur gesehen, dass der Reichtum sehr un­ gleich in der Welt verteilt ist, sondern auch, dass diese Un­ gleichheit einen eigentümlichen Charakter hat: Der Großteil der Ungleichheit in der Welt beruht heute auf den sehr unterschied­ lichen Durchschnittseinkommen der Länder. Das bedeutet, dass unsere Staatsangehörigkeit großen Einfluss auf unser Einkommen hat - was wiederum bedeutet, dass unser Wohlstand in einer Welt, in der die internationale Migration eher begrenzt ist, vor allem davon abhängt, wo wir geboren werden. Wer in einem reichen Land zur Welt kommt, erhält einen „Ortsbonus", der im Grunde eine ortsabhängige wirtschaftliche Rente ist. Wer in einem armen Land zur Welt kommt, erhält eine Ortsstrafe. Es ist unschwer zu erkennen, dass in einer solchen Welt der Großteil unseres Lebenseinkommens bei unserer Geburt fest­ steht. Genauer gesagt: Wenn wir in einer Regressionsanalyse die tatsächlichen Einkommen aller Menschen auf der Erde (die wir natürlich nur im Prinzip kennen, weil die Daten auf den natio­ nalen Haushaltserhebungen beruhen, in denen nur Stichproben der Bevölkerungen der einzelnen Länder erfasst werden) in Bezie­ hung zum Durchschnittseinkommen der jeweiligen Länder stel­ len, stellt sich heraus, dass mehr als 60 Prozent der Variabilität der globalen Einkommen vom Geburtsort abhängt. Obendrein er­ höht jeder Anstieg des Durchschnittseinkommens (BIP pro Kopf ) unseres Geburtslandes um 10 Prozent unser persönliches Einkommen ebenfalls um 10 Prozent. Die Einkommensun­ gleichheit innerhalb eines Landes wirkt sich also kaum auf die globale Einkommensverteilung aus (weil mehr oder weniger alle Einwohner eines Landes von der landesweiten „Welle" getragen werden). Aber die Einkommensniveaus in den verschiedenen

W

130

Wie viel von unserem Einkommen hängt davon ab, wo wir geboren werden?

Ländern sind sehr unterschiedlich, und sie sind ausschlaggebend für die globale Ungleichheit. Wir können jedoch noch einen Schritt weitergehen und versu­ chen herauszufinden, wie viel es wert ist, nicht nur in einem rei­ chen Land, sondern auch noch als Kind reicher Eltern zur Welt zu kommen. Wir verwenden die Daten zur intergenerationalen Ein­ kommensmobilität der einzelnen Länder (das heißt die Korrelati­ on zwischen den Einkommen von Eltern und Kindern) und be­ stimmen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich die Eltern von Personen, die sich gegenwärtig in einer gegebenen Einkommens­ gruppe der Vereinigten Staaten, Kanadas oder Marokkos befin­ den, in bestimmten Einkommensgruppen bewegten. Um zu ver­ stehen, wie das funktioniert, können wir annehmen, dass die intergenerationale Einkommensmobilität in einem Land - sagen wir in Pakistan - gering ist. In diesem Fall stammen die Personen, die sich gegenwärtig in der höchsten Einkommensgruppe Pakis­ tans befinden, fast alle von Eltern ab, die ebenfalls einer hohen Einkommensgruppe angehörten. Wenn die soziale Mobilität groß ist, ist das Gegenteil der Fall: Dann stammen die Personen, die wir gegenwärtig in der höchsten (oder niedrigsten) Einkommens­ gruppe finden, von Eltern ab, die willkürlich über die Einkom­ mensverteilung verstreut sind. Im wirklichen Leben ist die Ein­ kommensmobilität in einem breiten Spektrum zwischen diesen beiden Extremen verteilt. Wenn wir die Daten zum Geburtsort (genauer gesagt zur Staatsbürgerschaft) durch diese Informationen ergänzen, können wir das Einkommen jeder Person in der Welt anhand von nur zwei Faktoren erklären, die beide bei der Geburt feststehen: Staatsbürgerschaft und Einkommensgruppe der Eltern. Von die­ sen beiden Faktoren hängen mehr als 80 Prozent des Einkom­ mens eines Menschen ab. Die übrigen 20 Prozent (oder weniger) werden von Faktoren, auf die ein Mensch keinen Einfluss hat (Ge­ schlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Glück), sowie von den Faktoren bestimmt, die man beeinflussen kann (Anstrengung oder harte Arbeit). 131

Skizze 2.3

Eine Aufschlüsselung der Faktoren, die unser Einkommen be­ stimmen, zeigt also, dass der Anteil, den wir unserer Bemühung verdanken, sehr klein sein muss. Wir können uns durchaus sehr anstrengen, um unsere Position in einem gegebenen Land zu ver­ bessern (sofern es dort eine akzeptable Einkommensmobilität zwi­ schen den Generationen gibt), aber auf unsere Einkommensposi­ tion in der Welt wirken sich diese Bemühungen zumeist kaum aus. Die folgende Metapher hilft uns, das zu verstehen. Stellen Sie sich die globale Einkommensverteilung als eine lange Stange vor, auf der die Einkommensniveaus vom niedrigsten Einkommen dem Existenzminimum - bis zum höchsten Pro-Kopf-Haushalts­ einkommen in der Welt markiert sind. Nun stellen Sie sich vor, dass die Einkommensverteilung jedes einzelnen Landes anhand einer Plakette gekennzeichnet wird, die vom niedrigsten zum höchsten Einkommen in diesem Land entlang der Stange verläuft: So wird beispielsweise die Plakette für Indien einen Bereich zwi­ schen relativ niedrigen Werten, die Koreas einen Bereich zwischen mittleren und hohen Werten und die für die Vereinigten Staaten nur hohe Werte abdecken. Bei seiner Geburt wird jeder Mensch an einem Punkt auf der Plakette seines Landes fixiert, der seine Position nicht nur in der nationalen Einkommensverteilung, son­ dern auch in der globalen Verteilung angibt. Wie kann dieser Mensch seine Position verbessern? Harte Ar­ beit oder Glück können ihn auf der nationalen Plakette nach oben katapultieren, sofern seine Gesellschaft Einkommensmobi­ lität zulässt. Aber im globalen Maßstab wird sich nicht viel än­ dern, weil mehr als 80 Prozent der globalen Schwankungsbreite des Einkommens von der Situation abhängen, in die ein Mensch hineingeboren wird. Also werden Anstrengung und Glück nur sehr bescheidene Resultate bringen. Dieser Mensch kann hoffen, dass sich sein Land gut entwickelt: Dann wird sich die Plakette des Landes auf der globalen Stange nach oben bewegen und die gesamte Bevölkerung mitziehen. Wenn er das Glück hat, dass sei­ ne eigene Anstrengung und der damit verbundene Aufstieg in 132

Wie viel von unserem Einkommen hängt davon ab, wo wir geboren werden?

seinem Land mit einem Anstieg des nationalen Durchschnittsein­ kommens einhergehen, kann er möglicherweise seine Position in der globalen Einkommensverteilung deutlich verbessern. Diese Erfahrung machen gegenwärtig viele junge Chinesen. Eine letzte Möglichkeit besteht darin, auszuwandern und sich von einer der unteren Plaketten (aus einem ärmeren Land) zu einer höheren Plakette (in ein reicheres Land) zu begeben. Selbst wenn der Mensch keine hohe Position in der Einkommensverteilung des neuen Landes erreicht, kann er seinen Wohlstand auf diese Art deutlich erhöhen. Ob ein Mensch seine Einkommensposition in der Welt verbes­ sern kann, hängt also von seiner eigenen Anstrengung, von einer günstigen Entwicklung seines Heimatlandes oder von der Migra­ tion ab. Aber der Einfluss seiner eigenen Bemühung ist gering, und er kann die Wachstumsrate seines Landes nicht beeinflussen. Die einzige Alternative ist also die Auswanderung. Diese ist das Thema der nächsten Skizze.

133

Skizze 2.4

Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen?

I

n einer ungleichen Welt, in der die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern groß und die Menschen überall gut über diese Unterschiede informiert sind, ist die Migration keine vorü­ bergehende Mode, kein Zufall, keine Anomalie und keine Kurio­ sität. Sie ist einfach eine vernünftige Reaktion darauf, dass die Lebensstandards in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind. Die Migrationsströme wären um ein Vielfaches größer, wenn sich die Arbeitskräfte ungehindert über die Grenzen hinweg be­ wegen könnten. Gegenwärtig machen die Menschen, die von ar­ men in reiche Länder auswandern (der zweiten Gruppe werden normalerweise die OECD-Länder zugerechnet, die Mitglieder der Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung), etwa ein Zwanzigstel eines Prozents der Weltbevölkerung aus. Grob gesagt, bedeutet das, dass es zwei Jahrhunderte dauern wür­ de, um 10 Prozent der Bevölkerung der armen Länder in die rei­ che Welt umzusiedeln. 115 Der Migrationsdruck ist sehr viel höher als diese Zahlen verra­ ten. Wo ist er am höchsten? Offenkundig hängt die Migration von zahlreichen Elementen ab - darunter kulturelle Affinität (gemein­ same Sprache oder Geschichte), Erfahrungen mit früheren Migra­ tionsbewegungen usw. -, aber die beiden Elemente, mit denen wir uns hier befassen wollen, sind sehr unterschiedliche durchschnitt­ liche Lebensstandards und geographische Nähe. Sind diese beiden Bedingungen gegeben, so ist auch dann mit einem hohen Migra­ tionsdruck zu rechnen, wenn andere Bedingungen wie eine ge­ meinsame Sprache fehlen. Ein Blick auf die Weltkarte zeigt uns vier solche „Druckpunkte": Nordafrika und Spanien sind durch die Meerenge von Gibraltar getrennt, die an ihrer engsten Stelle

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Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen?

nur 13 Kilometer breit ist. Mexiko und die Vereinigten Staaten haben eine lange gemeinsame Landgrenze. Albanien, Mazedoni­ en, Griechenland und Italien grenzen ebenfalls direkt aneinander oder sind im Fall von Albanien und Italien nur durch die Adria voneinander getrennt. Indonesien und Malaysia sind nur durch die Straße von Malakka voneinander getrennt, eine gerade einmal 2,8 Kilometer breite Meerenge. Bemerkenswert ist, dass nur am zuletzt genannten „Druckpunkt" die Menschen auf beiden Seiten der Grenze dieselbe Sprache sprechen (die malaiische und indone­ sische Version von Bahasa). In den übrigen Fällen sind sowohl die Sprachen als auch die vorherrschenden Religionen verschieden. Das bedeutet, dass die Migration dort keine kulturellen, sondern ausschließlich wirtschaftliche Gründe hat. In allen vier Fällen sind die Durchschnittseinkommen in den Aufnahmeländern mindestens dreimal so hoch wie in den Her­ kunftsländern - und zwar nach Berücksichtigung des niedrigeren Preisniveaus in den ärmeren Ländern. (Würden wir den Markt­ wechselkurs der Währungen verwenden, so wäre die Einkom­ menskluft noch größer.) Das bedeutet, dass die Menschen in den armen Ländern durch Auswanderung ihren Lebensstandard ver­ dreifachen können. Und die Kluft ist nicht nur riesig, sondern sie wächst weiter. Im Jahr 1960 betrug das Verhältnis zwischen dem kaufkraftparitätischen BIP pro Kopf Mexikos und dem der Verei­ nigten Staaten 1 zu 2,5; bis 2005 erhöhte sich das Verhältnis auf 1 zu 3,6. In den sechziger Jahren war Spanien etwa viermal so reich wie Marokko; heute ist es siebenmal reicher. In Schaubild 4 sehen wir, wie viel Prozent des BIP pro Kopf des (relevanten) rei­ cheren Landes das BIP pro Kopf des ärmeren Landes ausmacht. Man beachte die generelle Verringerung dieses Anteils im letzten Vierteljahrhundert. Angesichts dessen sollten wir uns nicht darü­ ber wundern, dass der Migrationsdruck steigt. Wenn wir uns die fünf Aufnahmeländer ansehen, stellen wir fest, dass der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in all diesen Län­ dern hoch ist. In den Vereinigten Staaten stellen Ausländer ein­ schließlich illegaler Einwanderer schätzungsweise 15 Prozent der 135

Skizze 2.4

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SCHAUBILD 4 Pro-KopfEinkommen des Herkunftslandes in Prozent des Pro-KopfEinkommens des Aufaahmelandes, 1950-2007. Arbeitskräfte. In Spanien liegt der entsprechende Anteil bei etwa 17 Prozent, in Malaysia bei mindestens 14 Prozent, in Griechen­ land bei 9 Prozent und in Italien bei 7,5 Prozent. 116 Und erwar­ tungsgemäß wird der größte Teil der ausländischen Arbeitskräfte in den Vereinigten Staaten von Mexikanern, in Spanien von Ma­ rokkanern, in Griechenland von Albanern und in Malaysia von Indonesiern gestellt. Im Rahmen einer Weltbank-Studie wurden Einwohner von sieben Ländern gefragt, ob sie in ein anderes Land gehen würden, wenn dies legal möglich wäre (sei es, um auf Dauer oder zeitweilig dort zu leben oder „es nur auszuprobieren"). 117 Verblüffende 62 Prozent der befragten Albaner antworteten, sie würden ihr Land dauerhaft oder zeitweilig verlassen. In Rumänien waren 79 Pro­ zent der Männer und 69 Prozent der Frauen auswanderungswillig. In Bangladesch waren 73 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen bereit, ihrem Heimatland den Rücken zu kehren. Diese 136

Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen?

kleine Stichprobe zeigt, dass Länder, die sich wirtschaftlich schlecht entwickelt haben, nach einer Aufhebung aller Beschrän­ kungen für die Migration die Hälfte ihrer Bevölkerung oder mehr verlieren könnten. Würden alle Grenzen geöffnet, so würden ge­ waltige Migrationsbewegungen beginnen, die Teile der Welt fast leeren würden. Es gibt kaum Zweifel daran, dass ein großer Teil der Bevölkerung Afrikas, insbesondere die jungen Menschen, Westeuropa überßuten würde - in einigen kongolesischen Spra­ chen wird dieser Teil der Welt nur als „der Himmel" bezeichnet. Aber die Migration hat zwei Seiten. Es genügt nicht, dass die Armen in die reichen Länder auswandern möchten, sondern in diesen Ländern muss es auch genug Arbeitsplätze für sie geben. Tatsächlich ist die Migration von Arbeitskräften möglich, weil es auch Nachfrage gibt, obwohl diese oft auf den informellen Sektor oder auf die Schwarzarbeit beschränkt ist. Aber obwohl es be­ stimmte Unternehmen und Sektoren gibt, die Arbeitskräfte brau­ chen, löst der Zustrom von Einwanderern eine Gegenreaktion aus, denn die Gesellschaft der Aufnahmeländer hat den Eindruck, dass die Immigranten den Einheimischen Arbeitsplätze wegneh­ men, das Lohnniveau drücken und vor allem fremde kulturelle Normen einführen. (Teilweise geschieht all das tatsächlich.) Die Integration der Zuwanderer ist nicht überall gleich proble­ matisch. Länder wie die Vereinigten Staaten oder Kanada, die von Einwanderern aufgebaut wurden, gelten als aufnahmefähiger. Den europäischen Ländern, die lange Zeit selbst Auswanderer nach Amerika schickten, fallt es sehr viel schwerer, mit der kultu­ rellen Andersartigkeit der Einwanderer zurechtzukommen. Das gilt sogar dann, wenn die „kulturell Andersartigen" ihre eigenen Bürger sind, das heißt in westeuropäischen Ländern geboren wur­ den. In Deutschland geborene Türken konnten bis 2000 erst ab dem 15. Lebensjahr die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, sofern nicht ein Elternteil bereits die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. (Es galt das Blutrecht: Ein Elternteil musste Deutscher sein.) In Frankreich wird ein nicht allzu subtiler Unterschied zwi­ schen den Franrais de souche (denen mit französischen Wurzeln)

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Skizze 2.4

und den Bürgern aus den ehemaligen Kolonien gemacht. Bis zu den Unruhen im Sommer 2005, in denen vor allem Jugendliche nordafrikanischer Herkunft ihrer Frustration Luft machten, er­ kannte die französische Politik das Problem nicht einmal offiziell an. Nach dem Gesetz waren alle Bürger Franzosen. In den Augen der politischen Elite spielte es keine Rolle, dass schwarze oder ara­ bischstämmige Franzosen praktisch keinen Zugang zu guten Schulen oder gut bezahlten Berufen hatten. Im öffentlichen Fern­ sehen gab es keinen einzigen schwarzen Moderator. Ob es nun am Druck der heimischen Arbeitskräfte oder an der Furcht vor kultureller Heterogenität liegt: die reiche Welt hat be­ gonnen, sich abzuschotten und de facto geschlossene Wohnanla­ gen auf globaler Ebene zu errichten. Das spektakulärste derartige Vorhaben ist der Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko, der gut tausend Kilometer lang werden soll. An manchen Stellen ist er eine sieben Meter hohe Zementmauer, die zusätzlich mit Sta­ cheldraht gesichert und mit Kameras und Bewegungsmeldern ausgestattet ist. Dennoch wandern jedes Jahr mehr als 200 000 Mexi­ kaner illegal in die Vereinigten Staaten ein, 118 und etwa 400 bis 500 sterben beim Versuch, die Grenze zu überwinden. Die Europäische Union kann keinen Zaun quer durch das Mittelmeer ziehen, aber sie setzt hunderte Schnellboote ein, um verzweifelte Afrikaner und Araber aus dem Maghreb daran zu hindern, ihre Küsten zu erreichen. Jedes Jahr riskieren mehrere Hunderttausend Menschen ihr Leben und versuchen nachts in überladenen Booten das Meer zu überqueren. Hunderte finden den Tod. 119 An beiden Ufern des Meeres wird der Mantel des Schweigens über das Sterben gebreitet. Die Europäer, die sich als Verteidiger der Menschenrechte betrachten, sprechen nicht gern über das Ausmaß dieser Katastrophe. Den afrikanischen Ländern ist das Schicksal ihrer Bürger gleichgültig, oder sie betrachten die illegale Auswanderung als Verbrechen (für das in Tunesien eine Haftstrafe zwischen drei und zwanzig Jahren und eine Geldbuße drohen). Selbst die Familien der Toten sind nicht erpicht darauf, die Öffentlichkeit auf das traurige Schicksal ihrer Lieben aufmerk138

Sollte die ganze Welt aus geschlossenen Wohnanlagen bestehen?

sam zu machen. So sterben täglich Menschen, die niemand kennt und die alle vergessen wollen. Ihre Leichen verwesen im Meer oder in der Wüste Neumexikos, und niemand möchte sie zählen oder auch nur zugeben, dass sie gelebt haben und gestorben sind. Eine dieser Gruppen wird als harraga bezeichnet, als „Papier­ verbrenner". Wer sind sie?

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Skizze 2.5 Wer sind die Harraga?

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ie harraga sind „die, die verbrennen". Sie werden „Verbren­ ner der Papiere" genannt, obwohl man sie auch als „Ver­ brenner von Grenzen" bezeichnen könnte. Bevor sie nach Europa übersetzen, verbrennen sie ihre Ausweise, um es den Behörden zu erschweren, sie in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken: So können die Beamten nicht wissen, ob ein harga (Singular von harraga) aus Algerien, Marokko oder Tunesien kommt. So ver­ wirrt man den Feind! Fast alle Harraga sind junge Männer zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren aus dem Maghreb. Aber wenn man die Probleme an der durchlässigen Grenze zwischen dem Maghreb und Südeuropa verstehen möchte, muss man wissen, dass dieses Migrationsdrama drei Protagonisten hat. Da sind zunächst die Armen aus Schwarzafrika, die verzweifelt versuchen, in den euro­ päischen „Himmel" zu gelangen. Entweder versuchen sie, von der Westküste des afrikanischen Kontinents direkt per Schiff die Ka­ narischen Inseln zu erreichen (dies ist das nächstgelegene europä­ ische Hoheitsgebiet), oder sie wählen die Route über Libyen, Ma­ rokko, Algerien oder Tunesien. Viele überleben die gefährliche Reise nicht. Aus Frantz Fanons damnes de la terre sind die damnes de la mer geworden. Sodann sind da die illegalen Auswanderer aus dem Maghreb, unsere Harraga. Sie leben näher an Europa und können direkt das Mittelmeer überqueren. Aber das gelobte Land jenseits der „me­ diterranen Mauer", wenn ich mir diese Anspielung auf den Kalten Krieg erlauben darf, ist von verschiedenen Orten an der nordafri­ kanischen Küste unterschiedlich weit entfernt und nicht von überall gleich zugänglich. Daher sammeln sich viele Harraga im Norden Libyens und Tunesiens. Die bekanntesten Häfen, in de­ nen sie vorwiegend nachts in überladenen, unbeleuchteten und 140

Wer sind die Harraga?

nur mit rudimentären Navigationsgeräten ausgerüsteten Booten aufbrechen, sind Suwara und Tripolis in Libyen. Libyen ist ein wichtiges Transitland nicht nur für die Afrikaner, deren Zahl auf mehr als eine Million geschätzt wird (womit sie ein Sechstel der libyschen Bevölkerung stellen), sondern auch für die arabischen Auswanderer. Sie halten sich illegal in Libyen auf, wo sie sich als Bauarbeiter, Fischer oder mit Reparaturarbeiten über Wasser hal­ ten. Sie sind brutaler Behandlung ausgesetzt, 120 während sie ver­ suchen, die 1000 bis 1500 Euro zu verdienen, welche die Men­ schenschmuggler für die Überfahrt verlangen (Kinder zahlen die Hälfte), oder auf den geeigneten Augenblick in einer mondlosen, windstillen Nacht warten. Der dritte Akteur in diesem Drama sind die europäischen Ge­ sellschaften. Je stärker der Strom der Einwanderer anschwillt, des­ to mehr bemüht sich Europa, seine Grenzen dichtzumachen. Fast kriegerisch wirkende, mit Infrarotkameras ausgerüstete Schnell­ boote und Flugzeuge machen Jagd auf die Einwanderer, um sie nach Afrika zurückzubringen, bevor sie europäischen Boden errei­ chen. Elektronische Zäune sollen sie am Eindringen in die spani­ schen Enklaven in Nordafrika hindern. Der als Frontex bezeich­ nete Grenzschutzeinsatz kostet die EU 40 Millionen Euro im Jahr. Etwa genauso viel bezahlten rund 40 000 afrikanische Einwande­ rer, die im Jahr 2008 die italienische Küste erreichten, an die Schlepper (das war ein Anstieg von 75 Prozent gegenüber dem Vorjahr). 121 Wenn es gelingt, die Einwanderer abzufangen, besteht der nächste Schritt in der europäischen „Abschreckungsstrategie" darin, die Migranten in die Entsendeländer zurückzuschicken. Zu diesem Zweck wurden bilaterale Vereinbarungen mit diesen Län­ dern geschlossen, die sich verpflichtet haben, die von ihrem Terri­ torium aus aufgebrochenen Menschen zurückzunehmen und mit den Europäern gemeinsame Patrouillen zur See durchzuführen. Libyen, das kooperativste afrikanische Land, hat sogar auf seinem Territorium Flüchtlingslager für die potenziellen Auswanderer eingerichtet. Dort müssen jene, die nach Europa wollen, aushar­ ren, bis entschieden wird, ob sie Asyl erhalten oder ausgewiesen 141

Skizze 2.5

werden. So versucht Europa, seine virtuelle Grenze immer weiter nach Süden zu verschieben, um dafür zu sorgen, dass es möglichst wenige Zuwanderer schaffen, sein Territorium zu erreichen. Hat ein Migrant einmal den Fuß auf europäischen Boden ge­ setzt, so werden die Probleme komplexer. Der Einwanderer kann nicht augenblicklich abgeschoben werden, denn nun muss das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren eingehalten werden. Es be­ ginnt ein langes Warten, und in dieser Zeit muss der Immigrant untergebracht und ernährt werden. Am Ende des Prozesses fällt die Entscheidung darüber, ob eine Person politisches Asyl, den Flüchtlingsstatus oder eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhält oder ob sie zwangsweise repatriiert wird. Hier stellt sich folgende Frage: Wo sollen die vielen Tausend Menschen unterge­ bracht werden, die die Reise durch die Wüste überlebt, durch das Netz der europäischen Schnellboote geschlüpft sind und das ge­ lobte Land erreicht haben? Auch hier versucht Europa, die Ein­ wanderer möglichst weit von seinem „Herzen" fernzuhalten: Dies ist die Funktion der winzigen Insel Lampedusa, die näher an Tu­ nesien als an Sizilien liegt. Dort waren mehr als tausend Immig­ ranten in einem Lager „inhaftiert", das ursprünglich für sieben­ hundert Menschen errichtet wurde. Ihre Lebensbedingungen waren unerträglich. Das Lager, das ursprünglich die Bezeichnung „Aufnahme- und Nothilfezentrum" trug, wurde im Januar 2009 von der Regierung Berlusconi in „Erkennungs- und Ausweisungs­ lager" umbenannt. Die Namensänderung sagt alles. Im Februar 2009 brach eine Rebellion unter den Flüchtlingen aus, die an den unmenschlichen Bedingungen im Lager verzweifelten. Im Verlauf der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Wärtern und zukünftigen Bürgern wurde ein Teil des Auffanglagers niederge­ brannt. Ein ähnliches Lager gibt es auf Malta. In Hai Far mussten afri­ kanische Flüchtlinge ein großes Spruchband mit der Aufschrift „Wir sind Menschen!" aufhängen, um die Aufmerksamkeit der Passanten auf das Schicksal derer zu lenken, die hinter dem Sta­ cheldraht leben. 122 In Spanien, wo jedes Jahr etwa 100 000 illega142

Wer sind die Harraga?

le Einwanderer ausgewiesen werden, muss sich die Regierung mit einem besonders makabren Problem auseinandersetzen: Wie soll man mit den Leichen der Harraga verfahren, die an den Stränden Andalusiens angeschwemmt werden und im Sommer die Touris­ ten verschrecken, die dort eigentlich ihre Alltagssorgen vergessen wollten? Die spanische Regierung hat kürzlich Algerien aufgefor­ dert, die Ertrunkenen zurückzunehmen, die bisher gefunden wur­ den. Aber die Algerier weigerten sich mit folgender Begründung: Erstens könnten die Toten nicht identifiziert werden, zweitens sei nicht sicher, dass es sich tatsächlich um Algerier und nicht um Marokkaner oder Tunesier handle. 123 Aber vielleicht gibt es einen tieferen Grund für die Weigerung der algerischen Regierung: Sie will die Botschaft nicht hören, die ihr die Harraga schicken. Denn die Massenflucht ihrer Bürger ist ein Beleg für das Scheitern der nordafrikanischen Gesellschaften, die nicht in der Lage sind, den jungen Menschen Hoffnung auf ein normales Leben mit einem akzeptablen Wohlstand zu geben. Dieses Problem kehren nicht nur die Europäer, sondern vor allem die nordafrikanischen Regierungen unter den Teppich. Noch vor Kurzem wurde offiziell nichts über diese Menschen gesagt oder geschrieben. Selbst die Angehörigen dieser Auswanderer fürchten sich davor zuzugeben, dass sie einen Harraga in der Familie haben. Sie sind eine Schande für ihr Land und für ihre Familien, und man tut am besten so, als gäbe es sie nicht. Die Menschen, die ihr Geburtsland mit der ungewissen Hoff­ nung auf ein besseres Leben in Europa verlassen, sind nicht nur arm, sondern sie sehen in ihrer eigenen Gesellschaft keine Zu­ kunft und keinen Platz für sich. Ihre verzweifelten Versuche, Eu­ ropa zu erreichen, sind eine schweigende Anklage gegen ihre Re­ gierungen, die nicht imstande sind, der wachsenden Zahl junger Bürger eine wirtschaftliche Perspektive zu geben. Und sie sind ein klarer Hinweis auf das wirtschaftliche Versagen der arabischen Welt und Schwarzafrikas und ein Beleg für die wachsende Ein­ kommenskluft zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers. Wie der französisch-algerische Soziologe Ali Bensaad sagt: ,,Man muss

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Skizze 2.5

die Hartnäckigkeit und den Mut der Harraga bewundern. Diese jungen Menschen, die keinerlei Möglichkeit zur politischen Wil­ lensäußerung haben, bedienen sich der Elemente, die sie in einem verwüsteten kulturellen und politischen Raum, den ihre Regie­ rungen jedes Sinns beraubt haben, konstruiert haben." 124 Ist diese komplexe Gleichung lösbar? Kann eine globalisierte Welt, in der Kapital, Güter, Ideen und Informationen ungehin­ dert über die Grenzen fließen, neben einer Welt existieren, in der sich die Menschen nicht frei bewegen können? Können diese ge­ trennten und ungleichen Welten koexistieren, wenn die Einkom­ mensunterschiede zwischen den Ländern gewaltig sind und im­ mer größer werden? Wir werden nicht nur viele Jahre mit den Harraga aus den armen Ländern zu tun haben, sondern sie wer­ den immer zahlreicher werden. Und damit werden auch das Leid und die Zahl der Toten steigen.

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Skizze 2.6

Drei Generationen von Obamas

A

m Beispiel des Lebens von drei Generationen der Familie Obama lassen sich einige Schlüsselthemen dieses Buches gut veranschaulichen. Die Hauptrolle in Barack Hussein Obamas wunderbarem klei­ nen Buch Dreams from My Father' spielt sein kenianischer Groß­ vater, obwohl auch sein Vater ein bemerkenswerter Mann war. Der Großvater, Hussein Onyango Obama, wurde im Jahr 1895 geboren, verließ sein Elternhaus in jungen Jahren und machte sich selbstständig. Er widersetzte sich der Tradition, die von ihm ver­ langte, zu heiraten und eine Familie zu gründen, und erhielt nach Jahren harter Arbeit schließlich dank seiner Fähigkeiten als Land­ wirt mit einiger Verspätung widerwillige Anerkennung der Ge­ meinde.125 Onyango führte ein ungewöhnliches Leben. Nachdem er das Haus seiner Familie verlassen hatte, begann er sich westlich zu kleiden und ging nach Nairobi, um dort Arbeit zu finden. Aber die beste Arbeit, die dieser fleißige, sture und beeindruckende Mann finden konnte, war eine T ätigkeit als Diener von Briten. Das Kolonialregime hatte eine unübersehbare, unüberwindliche Grenze für die Bestrebungen eines Schwarzen gezogen, so ehrgei­ zig oder intelligent dieser auch sein mochte. Alle höheren Positi­ onen waren den Briten vorbehalten. Onyango fand sich anschei­ nend mit dieser Ordnung ab: Er lehnte sich nie offen dagegen auf, sprach sich gegen die Unabhängigkeit Kenias aus und war sehr enttäuscht, als sein Sohn eine Weiße heiratete. Aber wahrschein­ lich litt er unter der Ungleichbehandlung; zumindest war ihm bewusst, wie ungerecht sie war.

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Deutsch als Ein amerikanischer Traum: Die Geschichte meiner Familie.

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Skizze 2.6

Im Kenia der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhun­ derts herrschte eine tatsächlich absolute Trennung der gesellschaft­ lichen Positionen und Einkommen. So wie es keine höheren Pos­ ten für Schwarze gab, gab es auch keine niedrigeren Positionen für Weiße. Das wird in der Ungleichheitsökonomie technisch als ,,Nichtüberschneidung" zwischen den zwei Verteilungen bezeich­ net: Es ging allen Weißen besser als allen Schwarzen. (In Skizze 2.2 haben wir gesehen, dass heute oft Ähnliches für die Verhält­ nisse zwischen reichen und armen Ländern gilt.) Aber wir können diese riesige Kluft sogar in Zahlen ausdrü­ cken. Barack Obama zitiert aus dem Arbeitsbuch seines Großva­ ters, das die Bezeichnung Domestic Servant Pocket Register trug. Alle kenianischen Arbeitskräfte mussten am Arbeitsplatz oder auf Arbeitssuche ein solches Register bei sich tragen, in dem alle Ar­ beitgeber ihre Beobachtungen über den Beschäftigten festhielten. Einer von Onyangos Arbeitgebern schrieb in einer der wenigen negativen Bewertungen, die Obamas Großvater erhielt, dieser Ar­ beiter sei „ungeeignet" und „ganz gewiss nicht 60 Schilling pro Monat wert". 126 Der Eintrag stammt aus den frühen dreißiger Jahren (Onyangos Arbeitsbuch wurde ihm im Jahr 1930 ausge­ stellt). Wenn wir davon ausgehen, dass Onyangos normaler Lohn bei 60 Schilling im Monat lag, bezog er also ein Jahreseinkommen von 720 Schilling.127 Da seine Familie zu jener Zeit aus ihm, sei­ ner Frau und einem Kind bestand, belief sich das jährliche Pro­ Kopf-Einkommen der Haushaltsmitglieder also auf 240 Schil­ ling.12s Dank der Studien zur Wirtschaftsgeschichte Kenias verfügen wir über eine Schätzung zur Einkommensverteilung des Landes im Jahr 1927.129 Die ärmste und mit Abstand größte Gesell­ schaftsgruppe, die 82 Prozent der Gesamtbevölkerung stellte, war die der einheimischen Kleinbauern, deren Jahreseinkommen auf 137 Schilling geschätzt wurde. Dieser Betrag entsprach etwa dem Existenzminimum. Dann kamen die schwarzen Landarbeiter (7 Prozent) und Selbstständigen (1,2 Prozent) mit einem geschätzten Pro-Kopf-Haushaltseinkommen von 211 beziehungsweise 271

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Drei Generationen von Obamas

Schilling. Zu dieser Gruppe gehörte Onyangos Familie: Sie war wohlhabender als rund 90 Prozent der kenianischen Gesamtbe­ völkerung (und sogar als ein noch etwas höherer Prozentsatz der schwarzen Kenianer). Aber wie weit war sie vom Einkommensniveau der Asiaten und Europäer entfernt, die in Kenia lebten! Das geschätzte Pro-Kopf­ Einkommen der Asiaten war mit 3300 Schilling im Jahr rund 14-mal höher als das von Onyangos Familie. Und das Durch­ schnittseinkommen der Europäer (die laut Zensus rund 0,3 Pro­ zent der Bevölkerung Kenias stellten) lag bei fast unglaublichen 16000 Schilling. Der Großvater des gegenwärtigen US-Präsiden­ ten arbeitete also als Diener oder Koch im Haushalt von Personen, deren Einkommen sechsundsechzigmal so hoch wie seines war. Onyango hätte ein ganzes Jahr lang arbeiten müssen, um so viel zu verdienen wie sein britischer Arbeitgeber in weniger als einer Woche. Und dies war keine Anomalie, sondern eine typische Ver­ teilung der Einkommen in den Kolonien. Wie wir in Skizze 3.7 sehen werden, überstiegen die Einkommen des Großteils der ein­ heimischen Bevölkerung in fast allen Kolonien kaum das Subsis­ tenzniveau, und die Einkommensunterschiede zwischen den Ein­ heimischen waren minimal. Obamas Großvater zählte nominell zu den einkommensstärksten 10 Prozent der Bevölkerung, aber er verdiente kaum mehr als die Bauern, die von der Subsistenzland­ wirtschaft lebten. Doch ganz an der Spitze, bei den reichsten 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung, die zur Gänze oder fast zur Gänze aus dem kolonialen Mutterland stammten, schossen die Einkommen in fast unvorstellbare Höhen. Obwohl Obama in Dreams from My Father in erster Linie das Leben seines Vaters schildert, erfahren wir über diesen in mancher Hinsicht weniger als über den Großvater. Aber was wir über den Vater lesen, genügt, um zu erkennen, dass die Unabhängigkeit den Kenianern neue Möglichkeiten eröffnete. Die Obergrenze für die Einkommen und den gesellschaftlichen Rang der einheimi­ schen Bevölkerung wurde aufgehoben: Nun konnten die Kenia­ ner die bestbezahlten Arbeitsplätze anstreben und Unternehmens147

Skizze 2.6

leiter, hochrangige Staatsbeamte oder reiche Händler werden. Es ist kaum vorstellbar, dass Obamas Vater unter dem Kolonialre­ gime die Chance auf ein Studium in den Vereinigten Staaten er­ halten hätte. Die Anregung dazu gaben ihm zwei amerikanische Frauen, denen seine Intelligenz und Gewissenhaftigkeit auffielen. Und auch unter dem Kolonialregime hatten einige Afrikaner eine höhere Bildung erhalten. Aber das Ende der Kolonialzeit beseitig­ te sowohl eine tatsächliche als auch eine psychologische Barriere für das Streben der nativen Bevölkerung nach höheren Positionen. Was konnte ein Afrikaner mit Hochschulbildung mit seinem Stu­ dienabschluss anfangen, wenn die Geschicke seines Landes von Ausländern gelenkt wurden: einen Posten als subalterner Beamter anstreben? Im Jahr 1960 wurden die Hindernisse weggerissen. Barack Obamas Vater kehrte mit einem Harvard-Diplom nach Kenia zurück. Er teilte die allgemeine Zuversicht, die Afrika nach dem Abzug der Kolonialmächte erfasst hatte. Die im Ausland aus­ gebildeten Kenianer waren überzeugt, dass ihr Platz in ihrem Hei­ matland war. Mit dem Wissen, das sie an den besten Universitäten im Ausland erworben hatten, wollten sie ihrem Land helfen, seine Rückständigkeit zu überwinden und Anschluss an die moderne Welt zu finden. Zweifellos herrschte damals sehr viel größere Zu­ versicht unter den jungen Kenianern als heute. Und das nicht nur, weil sie nicht länger unterdrückt wurden und plötzlich vor schein­ bar unbegrenzten Möglichkeiten standen. Es lag auch daran, dass die Einkommenskluft zwischen Kenia und der entwickelten Welt damals sehr viel geringer war als heute. Paradox ist, dass die Unabhängigkeit die Probleme Afrikas nicht gelöst hat. Im Gegenteil: Seit dem Rückzug der Kolonial­ mächte hat sich der Rückstand des Kontinents auf die entwickel­ te Welt deutlich vergrößert. Die afrikanischen Länder sind entwe­ der noch ärmer geworden als sie vor der Unabhängigkeit waren, oder sie haben es nicht geschafft, sich mit derselben Geschwindig­ keit weiterzuentwickeln wie die reiche Welt. Das Einkommens­ verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Kenia, das 13 zu 1 betrug, als Barack Hussein Obama von seinem Studium in 148

Drei Generationen von Obamas

den USA heimkehrte, stieg bis zu dem Zeitpunkt, als sein Sohn sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten antrat, auf 30 zu 1. Ich frage mich, welche Vorstellung Obamas Vater abwegiger erschienen wäre, als er im Jahr 1960 seine ungewöhnliche Reise nach Amerika antrat: dass sein Sohn eines Tages das Land regieren würde, das er selbst noch nicht kannte, oder dass sich der Wohl­ stand seines unabhängig gewordenen Landes verglichen mit dem der Vereinigten Staaten in den kommenden fünfzig Jahren halbie­ ren würde? Und was ist mit dem Sohn Barack Obama, dem Präsidenten? Seine Lebensgeschichte verdeutlicht so viele Dinge, über die so viel geschrieben worden ist, dass man kaum noch etwas hinzufü­ gen kann. Aber was unser Thema des wachsenden „Ortsbonus" anbelangt, von dem all jene profitieren, die das Glück haben, in der reichen Welt geboren zu werden (siehe Skizze 2.3), sollten wir die Erklärung am besten Barack Obama überlassen. Als sich seine Mutter entschloss, ihn im Alter von nur elfJahren aus Indonesien nach Hawaii zu schicken, wo er bei seinen Großeltern leben und die Schule besuchen sollte, hatte sie folgende Gründe: Sie hatte mich stets ermutigt, mich in Indonesien zu integrie­ ren. Dadurch war ich relativ selbständig geworden, ich war ma­ teriell anspruchslos und verglichen mit anderen amerikani­ schen Kindern ausgesprochen gut erzogen. Von meiner Mutter hatte ich gelernt, anders als viele Amerikaner im Ausland nicht mit Ignoranz und Überheblichkeit aufzutreten. Doch sie wuss­ te mittlerweile, [ ...] welche Kluft Amerikaner und Indonesier trennte. Sie wusste, wo ihr Kind stehen sollte. Ich war Ameri­ kaner, und mein wahres Leben lag [nicht in Indonesien] .130

149

Skizze 2.7

Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welt vergrößert?

E

ine der Binsenweisheiten der einfachen neoklassischen Wirt­ schaftstheorie besagt, dass die Freizügigkeit von Arbeit, Kapi­ tal und Gütern - also die Globalisierung - nicht nur allen betei­ ligten Ländern zugutekommen sollte, sondern dass die armen besonders davon profitieren werden. 131 Diese Vorstellung beruht im Wesentlichen auf drei Annahmen. Erstens ist der Grenzertrag jedes zusätzlichen Kapitaleinsatzes in armen Ländern höher als in reichen. Und da die Profitrate in den armen Ländern höher ist als in den reichen, wird mehr Kapital in die arme Welt fließen. Zwei­ tens kann sich die Technologie, die eine unverzichtbare Vorausset­ zung für die wirtschaftliche Entwicklung ist, leichter ausbreiten, wenn die Grenzen offen sind. Und auch vom Technologietransfer profitieren in erster Linie die armen Länder: Sie müssen wenig oder gar nichts für die Entwicklung bezahlen, sondern können die in der reichen Welt entwickelte Technologie einfach übernehmen. Während die entwickelten Länder viel Geld in technologische Neuerungen und Erfindungen investieren müssen, können die armen Länder diese zu geringen Kosten kopieren. Auf diese Art können sie Entwicklungsschritte überspringen. Nigeria muss we­ der in den langwierigen Aufbau eines Telefonfestnetzes investieren noch die Mobilfunktechnologie erfinden. Es kann die alte Tech­ nologie überspringen und einfach eine Fabrik bauen, in der Han­ dys produziert werden. Der dritte, neuere Grund hat mit den Institutionen zu tun. Wenn die Länder dank der Globalisierung zusammenwachsen, finden sie auch heraus, welche Institutionen am besten funktionieren. Nehmen wir an, die globale wirtschaft­ liche Integration erfordert einen guten Schutz der geistigen Eigen­ tumsrechte und eine Deregulierung der Finanzmärkte. Auch da­ von werden die armen Länder, deren Institutionen im Allgemeinen 150

Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welc vergrößere?

weniger „effizient" sind, mehr profitieren, weil sie die besseren Institutionen der reichen Länder nachahmen können. In Essay II haben wir gesehen, dass sich diese vereinfachenden Annahmen als ungeeignet erwiesen haben, das Wachstum der Welt im Verlauf der Globalisierung 2.0 zu prognostizieren. Diese Tatsache wird mittlerweile allgemein anerkannt und es wurden alternative Theorien des Wirtschaftswachstums entwickelt, um ihr Rechnung zu traten. Auch besteht Einigkeit darüber, dass sich die Durchschnittseinkommen der Länder seit der industriellen Revolution auseinanderentwickeln (siehe Skizze 2.1). Aber was geschah in der Phase der Deglobalisierung, als die Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern hätten wachsen müssen, wenn die Theorie richtig ist? Die Deglobalisierung, die normalerweise zwischen den beiden Weltkriegen angesetzt wird, gehört zu den Entwicklungen, denen die Ökonomen am wenigsten Aufmerksamkeit geschenkt haben. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht besteht das Problem darin, dass dies eine „politische Zeit" par excellence war. Die Oktoberre­ volution im Jahr 1917 löste eine Großmacht, das Land mit dem größten Territorium, aus der kapitalistischen Welt. Die Geburt des italienischen Faschismus im Jahr 1922, der zahlreiche Nachahmer in Mittel- und Osteuropa fand, verringerte die Bedeutung der frei­ en Wirtschaft weiter, weil die faschistischen Staaten zwar insofern kapitalistisch waren, als sie das Privateigentum noch besser schütz­ ten als die von ihnen gestürzten liberalen Systeme, die wirtschaftli­ che Rolle des Staates festigten und den Handel merkantilistisch betrachteten: In ihren Augen war er nicht für beide Seiten vorteil­ haft, sondern einfach ein Nullsummenspiel. Das Chaos des Bürger­ kriegs in China und die brutale Kolonisierung Afrikas (die ebenfalls ein nichtökonomischer Prozess war) begrenzten den Spielraum für den freien Markt weiter. Und den letzten Nagel in den Sarg der Marktwirtschaft trieb der Nationalsozialismus. Daher glauben die Ökonomen, dass uns die Zwischenkriegszeit, sofern sie uns über­ haupt etwas lehren kann, lediglich zeigt, dass Politik a l' outrance nicht gut für die wirtschaftliche Entwicklung sein kann. 151

Skizze 2.7

Tatsächlich ist das richtig. Aber eine interessante Frage ist, ob diese negativen Entwicklungen die erwartete Auswirkung auf das Wachstum von armen und reichen Ländern hatten. Selbstver­ ständlich war die Welt damals sehr viel „kleiner": Es gab nicht nur weniger unabhängige Staaten als heute, sondern für viele Länder (die meisten davon Kolonien) stehen keine Daten zur Verfügung. Daher müssen wir mit einer Stichprobe von etwa 45 Staaten ar­ beiten, zu der arme Länder wie China, Nepal und Indien auf der einen und reiche Länder wie die Vereinigten Staaten, Australien und Neuseeland auf der anderen Seite gehören. Obwohl wir für Afrika praktisch keine Daten haben, sind in unserer Stichprobe etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung erfasst, denn damals stellte Afrika einen geringeren Teil der globalen Bevölkerung als heute. 132 Wenn wir verschiedene Ungleichheitsmaße für diese Länder­ gruppe ermitteln, stellt sich heraus, dass die Ungleichheit im ge­ samten Zeitraum weder zu- noch abnahm - gleichgültig, ob wir den Beginn des Untersuchungszeitraums kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1913 oder nach seinem Ende im Jahr 1919 ansetzen. So betrug beispielsweise das Verhältnis zwischen dem Einkommen der reichsten und ärmsten Länder (Vereinigten Staaten und China) im Jahr 1913 knapp 10 zu 1. Bis zum Vor­ abend der Weltwirtschaftskrise stieg es auf 12 zu 1, und im Jahr 1938 lag es bei 11 zu 1 (wobei die Niederlande die Stelle der Vereinigten Staaten als reichstes Land der Welt eingenommen hat­ te und China immer noch das ärmste war). Daraus können wir schließen, dass sich all die Erschütterungen und die Deglobalisierung in den Jahren zwischen 1913 und 1938 nicht auf die Ungleichheit zwischen den Ländern auswirkten. Wie wir gesehen haben, sollte man ein anderes Ergebnis erwarten, wenn man sich an die neoklassische Ökonomie hält. Aber wir können uns zwei interessante Teilperioden ansehen. Erstens: Wie wirkte sich die Weltwirtschaftskrise aus? Und Zweitens: Wie wirk­ te sich der Zweite Weltkrieg aus? Beginnen wir mit dem zweiten Zeitraum, denn hier sind die Ergebnisse eindeutig. Der Zweite Weltkrieg verschob selbst in 152

Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welc vergrößere?

dieser unvollständigen Probe das Gleichgewicht deutlich. Die ,,Hauptnutznießer" des Krieges waren die ohnehin schon beson­ ders reichen Länder - die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Neu­ seeland, Australien und Kanada. Das BIP pro Kopf der Vereinig­ ten Staaten stieg zwischen 1939 und 1945 um verblüffende 80 Prozent (wie die chinesische Wirtschaft in den letzten Jahren wuchs die amerikanische in jener Zeit um 10 Prozent im Jahr). Kanada wuchs um fast 60 Prozent, Australien und die Schweiz um 20 Prozent, Argentinien um 10 Prozent usw. Auf der anderen Seite verlor Deutschland mehr als 20 Prozent seiner Wirtschafts­ leistung, die Sowjetunion büßte zwischen 10 und 18 Prozent ein, 133 Frankreich fast 40 Prozent und Griechenland sowie Japan mehr als die Hälfte, während für die am schlimmsten verwüste­ ten Länder Osteuropas (Polen und Jugoslawien) überhaupt keine Zahlen verfügbar sind. Aus anderen Quellen können wir schlie­ ßen, dass sie mehr als 50 Prozent verloren. Auch China, das in den dreißiger Jahren bereits zu den einkommensschwächsten Ländern zählte, glitt gemessen an den absoluten Zahlen noch weiter ab, da zum Chaos des Bürgerkriegs die Katastrophe der japanischen Besatzung und der Befreiungskrieg kamen. Der Zweite Weltkrieg führte dazu, dass sich die Einkommen in den reichen westlichen Ländern aber auch in der Welt insgesamt deutlich auseinanderentwickelten. Die Gewinner waren die rei­ chen Länder, auf deren Territorium nicht gekämpft wurde, wäh­ rend die Kriegsteilnehmer, auf deren Gebiet gekämpft wurde, gewaltige Mengen an Sachkapital verloren. Wenn wir die Regio­ nen betrachten, so gewannen die westliche Hemisphäre und Oze­ anien, während alle anderen verloren (siehe Schaubild 5). Die Weltwirtschaftskrise hatte ganz andere Auswirkungen. In der reichen Welt waren Kanada, die USA und Deutschland die drei Länder, die am meisten darunter litten. Zwischen 1929 und 1933 büßten die Vereinigten Staaten und Kanada jeweils 30 Pro­ zent ihres Pro-Kopf-Einkommens ein. Deutschland verlor etwa 20 Prozent, erholte sich jedoch 1933 nach Hitlers Machtergrei­ fung. Frankreich, Spanien und die Niederlande büßten jeweils 153

Skizze 2.7

80 ,------------,--,-------------,

60

------------t

40 +--------------l 20

+-----------� II.Weltkrieg

Weltwirt­ schaftskrise -40 ,_________________________. SüdOst- Westliche Latein- Asien Welt europa europa „Ableger" amerika SCHAUBILD 5 Gewinn oder Verlust von BIP pro Kopfzwischen 1929 und 1933 und zwischen 1939 und 1945 (in Prozent). Erläuterung: Die regionalen Durchschnittswerte sind bevölkerungsgewichtet. Die Daten for den Zeitraum 1929-1933 beinhalten 43 Länder mit einer Bevölkerung von 1,3 Mrd. Menschen im fahr 1933 (rund 90 Prozent der gesamten Weltbevöl­ kerung); die Daten for den Zeitraum 1938-1945 beinhalten 43 Länder mit einer Bevölkerung von rund 1,2 Mrd. Menschen (60 Prozent der Weltbevölkerung). China ist in den Gesamtzahlen for den II. Weltkrieg nicht enthalten. China ein­ gerechnet, würde das globale BIP statt geringfagig positiv (wie im Schaubild oben) geringfagig negativ ausfallen. Quelle: Berechnet anhand von Daten aus Angus Maddison, Gontours ofthe World Economy: Essays in Macroeconomic History, 1-2030 AD (Oxford: Oxford Uni­ versity Press, 2004).

mehr als 10 Prozent ein, Großbritannien rund 5 Prozent und so weiter. Aber eine Reihe ärmerer Länder überstand die Weltwirt­ schaftskrise relativ unbeschadet: Japan und das japanisch besetzte Korea wuchsen auch in dieser Zeit und dasselbe gilt für China (das, wie wir gesehen haben, in den dreißiger Jahren das ärmste Land der Welt war). Die Sowjetunion, deren erster Fünfjahresplan im Jahr 1928 eingeleitet wurde, wuchs um mindestens 20 Pro-

154

Hat die Globalisierung die Ungleichheit in der Welc vergrößere?

zent, dasselbe gilt für mehrere andere Länder, darunter Portugal, Norwegen und die Türkei. Wenn wir uns die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Regionen ansehen, stellen wir fest, dass die „westlichen Ableger" - die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland (die dann am meisten vom Zweiten Weltkrieg profitierten) - am schwersten getroffen wurden, wäh­ rend Osteuropa (dank des Wachstums der Sowjetunion), Südeu­ ropa und Asien (siehe Schaubild 5) am wenigsten litten. Insge­ samt schrumpfte das globale Pro-Kopf-Einkommen in der Weltwirtschaftskrise um 4 Prozent. Ganz anders die Entwicklung im Zweiten Weltkrieg: Er kostete mehr als 50 Millionen Men­ schen das Leben, aber das globale BIP pro Kopf sank nur um 0,5 bis 1 Prozentpunkte (allerdings nur, wenn wir den Wert all der Kampffiugzeuge, U-Boote, Munitionen und Panzer berücksichti­ gen, die neben den Konsumgütern produziert wurden).

155

ESSAY III

Die ungleiche Welt Ungleichheit zwischen den Bürgern der Welt

M

an sollte meinen, es wäre ein Leichtes, die Ungleichheit zwischen den Einwohnern eines Landes mit der Ungleich­ heit zwischen den Ländern zu kombinieren und das Ausmaß der Ungleichheit zwischen allen Erdenbürgern zu schätzen. Leider ist es nicht so. Erstens fehlen uns die erforderlichen Daten. Die für die Be­ rechnung der Ungleichheit zwischen den Ländern benötigten Da­ ten zum BIP pro Kopf können ab dem frühen 19. Jahrhundert (und sogar bis zum Römischen Reich zurück, wie wir gesehen haben) einigermaßen zuverlässig geschätzt werden, aber Daten zu den Einkommensverteilungen innerhalb der Länder liegen erst seit jüngerer Zeit vor. Um die Einkommensunterschiede zwischen den Einwohnern eines Landes einzuschätzen, genügt es nicht, ein­ fach den Wert der in diesem Land produzierten Güter und Dienstleistungen zu addieren. Dazu brauchen wir die Haushalts­ erhebungen. Um etwas zu berechnen, das Ähnlichkeit mit einer globalen Einkommensverteilung hat, brauchen wir obendrein Haushaltserhebungen aus allen wichtigen Ländern der Welt (sei es gemessen an der Bevölkerung oder am Gesamteinkommen). Diese Daten müssen mindestens 90 Prozent der Weltbevölkerung und des globalen Einkommens beinhalten. Und diese Schwelle wurde erst Mitte der achtziger Jahre erreicht, als sich die drei gro­ ßen Gebiete, für die bis dahin keine Daten zur Einkommensver­ teilung vorlagen oder zugänglich waren, der übrigen Welt an­ schlossen. Diese Gebiete waren China, dessen erste umfassende nationale Erhebungen der Haushaltseinkommen Anfang der

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Essay III

achtziger Jahre verfügbar wurden, die Sowjetunion, die seit Ende der zwanziger Jahre sehr rudimentäre, aber durchaus nützliche Erhebungen durchführte, die jedoch erst Mitte der achtziger Jah­ re dank der Glasnost (Transparenz) zugänglich gemacht wurden, sowie die afrikanischen Länder, die aus unterschiedlichsten Grün­ den - von leistungsschwachen Statistikämtern bis zu Ressourcen­ mangel - überhaupt keine Haushaltserhebungen durchführten. Auch das änderte sich um das Jahr 1980, als internationale Orga­ nisationen, darunter insbesondere die Weltbank, den Statistikbe­ hörden dieser Länder zu helfen begannen. Das glückliche Zusam­ mentreffen dieser drei Entwicklungen machte die ersten exakten Schätzungen zur globalen Ungleichheit möglich, die zur Gänze auf direkten Schätzungen der individuellen Einkommen anstatt auf Vermutungen zur Form der nationalen Einkommensvertei­ lungen beruhten. Abgesehen von den Problemen mit den Daten wurde die Ein­ kommensverteilung bis vor Kurzem nicht als globale, sondern als rein nationale Frage betrachtet. Es war nicht nötig, über anschei­ nend irrelevante Konzepte wie die globale Ungleichheit nachzu­ denken oder Berechnungen dazu anzustellen. Erst mit der Globa­ lisierung, die immer mehr Menschen in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten in Kontakt miteinander brachte, und mit dem Auftauchen von dem, was man als „embry­ onale Institutionen der globalen Governance" bezeichnen könnte, wurde es sinnvoll, unsere Einkommen mit denen weit entfernter Menschen zu vergleichen - und zwar nicht nur die nationalen Durchschnittseinkommen, sondern die Einkommen der einzel­ nen Menschen. In der globalisierten Welt ist die Zahl unserer Peers um ein Vielfaches gestiegen. Wir können eine historische Parallele zwischen dem gleichzei­ tigen Aufstieg des Nationalstaates und der nationalen Zentralre­ gierung einerseits und dem wachsenden Interesse an den nationa­ len Einkommensverteilungen andererseits herstellen. Vor dem Aufstieg des Nationalstaats, als die Länder aus oft isolierten Städ­ ten, Dörfern und Weilern bestanden, deren Einwohner wenig 158

Die ungleiche Welt

Kontakt miteinander hatten und unter Umständen nicht einmal wussten, welchen neuen Herrscher ihnen die letzte Änderung der politischen Karte gebracht hatte, hatten die Gesellschaften weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit, die individuellen Einkommen in einem Land zu messen. Als V ilfredo Paretos Interesse an der Empirie der nationalen Einkommensverteilungen erwachte (siehe Essay I und Skizze 1.10), war sich die Öffentlichkeit bereits des Problems bewusst, und es lagen Daten vor, so fragmentiert sie auch sein mochten. Es ist auch kein Zufall, dass die Daten, die eine Untersuchung der globalen Einkommensverteilung ermög­ lichten, etwa zur selben Zeit verfügbar wurden, als diese Frage intellektuell interessant und herausfordernd wurde. Wie Marx schrieb, ,,stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingun­ gen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß des Werdens begriffen sind." 134 In diesem Fall tauchte das Problem der globalen Ungleichheit tatsächlich etwa zur selben Zeit auf, als die für ihr Studium erforderlichen Daten verfügbar wurden. Als das Interesse und die Daten erst einmal vorhanden waren, war es relativ einfach, die einzelstaatlichen Einkommensverteilun­ gen zu einer riesigen globalen Verteilung zusammenzustellen und zum ersten Mal die globale Ungleichheit zu berechnen - wobei die Welt so behandelt wurde, als sei sie ein einziges Land. Für die Benchmark-Jahre zwischen 1988 und 2005 wurde in groben Fünfjahresabständen eine Reihe von Resultaten ermittelt. 135 Wie nicht anders zu erwarten, zeigt sich, dass die globale Un­ gleichheit extrem groß ist. Der Gini-Koeffizient liegt bei 70 Punk­ ten; das ist mehr als in jedem einzelnen Land in der Welt, selbst in Ländern wie Südafrika und Brasilien, die mit Gini-Koeffizien­ ten von rund 60 als Inbegriffe der Ungleichheit betrachtet wer­ den. 136 Auf einen Gini-Wert von 70 kommen wir, wenn die indi­ viduellen Einkommen der Einwohner armer Länder um die niedrigeren Preise in diesen Ländern bereinigt werden. Ziehen wir stattdessen ihre tatsächlichen Einkommen in Dollar heran, so 159

Essay III

kommen wir auf ein noch höheres Maß an Ungleichheit: Der Gini-Koeffizient steigt auf 80. Aber was bedeutet ein Wert von 70 (oder 80)? Hat die globale Ungleichheit seit dem Zeitpunkt, an dem wir sie erstmals messen konnten, zu- oder abgenommen? Was können wir über die Kausalbeziehung zwischen Globalisie­ rung und globaler Ungleichheit sagen? Heute sind die Einkommen in der Welt so verteilt, dass 56 Prozent des globalen Einkommens den reichsten 10 Prozent der Menschheit zufließen, während die ärmsten 10 Prozent der Men­ schen nur 0,7 Prozent des globalen Einkommens erhalten. Das Verhältnis zwischen den Dezilen - also das Verhältnis zwischen dem Durchschnittseinkommen der reichsten 10 Prozent und der ärmsten 10 Prozent - beträgt etwa 80 zu 1. Es wird uns klar, was das bedeutet, wenn wir uns vor Augen halten, dass dieses Verhält­ nis in einem „normalen" entwickelten Land selten mehr als 10 zu 1 beträgt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, uns den Anteil der reichsten 5 Prozent anzusehen: Diesen Menschen fließen 37 Prozent des globalen Einkommens zu. Auf der anderen Seite ha­ ben die ärmsten 5 Prozent einen Einkommensanteil von weniger als 0,2 Prozent. Das Verhältnis zwischen der Spitze und der Basis der globalen Einkommenspyramide beträgt daher fast 200 zu 1: Um ein Jahreseinkommen der Reichsten zu erzielen, müssten die Ärmsten also 200 Jahre arbeiten. Wir können die Beispiele fort­ setzen - und die Kluft wird noch gewaltiger, je näher wir der Spitze (bzw. der Basis) der Pyramide kommen. Die Kluft wirkt deutlich größer, wenn wir die Einkommen in Dollar zu Marktwechselkursen betrachten (das heißt, wenn wir ihre Kaufkraft nicht an die niedrigeren Preise in den armen Län­ dern anpassen). In diesem Fall fließen den reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung mehr als zwei Drittel des globalen Einkom­ mens zu, und die reichsten 5 Prozent erhalten 45 Prozent. Hinge­ gen sind die Anteile der untersten 5 und 10 Prozent verschwin­ dend gering. Sind die Einkommen heute ungleichmäßiger verteilt als in den späten achtziger Jahren? Die besonnenste Antwort auf diese Frage 160

Die ungleiche Welt

lautet vermutlich nein. Selbstverständlich werfen die für die Be­ rechnung der Verteilungen verwendeten Daten zu den Haushal­ ten eigene Probleme auf, und zwar zahlreiche Probleme. Da ist zunächst das, was die Statistiker als hohes Signal-Rausch-Verhält­ nis bezeichnen: In den Erhebungen wirken sich idiosynkratische Methoden der Datensammlung, Unterschiede in der Definition der Einkommenskomponenten (Welcher Wert ist für ein Eigen­ heim zu unterstellen? Wie sind selbst erzeugte und konsumierte Güter zu bewerten? Wie kann bei Selbstständigen zwischen Un­ ternehmens- und Haushaltseinkommen unterschieden werden?) sowie eine unterschiedliche Bereitschaft der Reichen zur Beteili­ gung an den Erhebungen aus. Unsere Gini-Schätzungen weisen also einigermaßen große Standardfehler auf. Seit im Jahr 1988 die ersten Berechnungen zur globalen Ungleichheit angestellt wur­ den, verharrt der Gini-Koeffizient im Großen und Ganzen bei einem Wert von 70; jede „Ablesung" liegt innerhalb der Standard­ abweichung von den zeitlich benachbarten Werten. Aber das ist nur der technische Teil der Erklärung. Ein bedeut­ sameres Problem ist, dass die globale Einkommensverteilung in den letzten dreißig Jahren von drei Kräften abhing: Zwei dieser Kräfte erhöhten die Ungleichheit, während die dritte - starke Kraft sie verringerte. Die Kräfte, die zu wachsender Ungleichheit beitrugen, waren die steigenden Einkommensunterschiede inner­ halb der meisten wichtigen (sowie einiger kleinerer) Länder (da­ mit haben wir uns in Essay I beschäftigt). Rufen wir uns in Erin­ nerung, dass wir zur Berechnung der globalen Ungleichheit der Ungleichverteilung zwischen den Ländern jene innerhalb der ein­ zelnen Länder hinzurechnen müssen. Eine Zunahme dieser inter­ nen Ungleichheit wird die globale Ungleichheit erhöhen. Die zweite Kraft, die zu einem Anstieg der globalen Ungleichheit führte, war das Auseinanderdriften der Durchschnittseinkommen der einzelnen Länder. Die armen Länder wuchsen langsamer als die reichen (wie wir in Essay II gesehen haben). Aber die dritte Kraft, die sich auf die globale Einkommensverteilung auswirkte, hatte eine nivellierende Wirkung: Gemeint ist das rasante Wachs161

Essay III

turn Chinas und Indiens (ebenfalls in Essay II behandelt). Als sich das Wachstum dieser beiden Länder beschleunigte, waren sie rela­ tiv arm (und sie sind es immer noch): Wenn die armen Länder schneller als die reichen wachsen, nimmt die Ungleichheit ab. Wenn wir uns ein Bild von der globalen Ungleichheit machen wollen- die schwer zu fassen sein kann, da wir mit vielen Bällen gleichzeitig jonglieren müssen-, können wir die Aufgabe verein­ fachen, indem wir drei Schlüsselfragen stellen: 1. Nimmt die Ungleichheit innerhalb der Länder im Allgemeinen zu oder nicht? 2. Wachsen die armen oder die reichen Länder im Durchschnitt schneller? 3. Wachsen China und Indien schneller als die reichen Länder? Seit Mitte der achtziger Jahre wiegt die zuletzt genannte Kraft die beiden anderen im Großen und Ganzen auf. Das Wachstum Chi­ nas und Indiens ist auch die wichtigste Kraft, weil die globale Ungleichheit in erster Linie von den Unterschieden zwischen den Ländern abhängt, und würde eine der beiden anderen - bisher einer Nivellierung entgegenwirkenden- Kräfte die Richtung än­ dern, so würden wir vermutlich eine deutliche Verringerung der globalen Ungleichheit beobachten. Geriete das Wachstum Chinas und Indiens hingegen ins Stocken und fiele auf den globalen Durchschnitt oder sogar darunter, während sich die beiden ersten Kräfte weiter ungehindert entfalteten, so würde die globale Un­ gleichheit zweifellos wieder steigen. Globalisierung und globale Ungleichheit. Können wir einen Kausalzusammenhang zwischen der Globalisierung und der Ent­ wicklung der globalen Ungleichheit herstellen? Die Antwort ist schwierig und hängt vom Kontext ab. Die Auswirkungen der Glo­ balisierung auf die globale Ungleichheit sind ausgesprochen kom­ plex. Zunächst einmal wirkt sich die Globalisierung auf die nati­ onalen Einkommensverteilungen der armen und reichen Länder 162

Die ungleiche Welt

aus, und diese Wirkungen können durchaus gegensätzlich sein zum Beispiel kann die Ungleichheit in den reichen Ländern zu­ nehmen, während sie in den armen abnimmt. Zweitens hat die Globalisierung unterschiedliche Auswirkungen auf die Wachs­ tumsraten von armen und reichen Ländern. Drittens kann sie die Wachstumsraten sehr großer, mittelgroßer und kleiner Länder unterschiedlich beeinflussen. Es ist praktisch unmöglich, all diese Effekte zu entwirren. Zu jedem einzelnen finden wir umfangrei­ che wissenschaftliche Literatur, und die empirischen Resultate decken oft das gesamte Spektrum der Möglichkeiten ab. Es be­ steht kein Konsens bezüglich der Auswirkungen der Globalisie­ rung auf die drei Faktoren, die sich auf die globale Ungleichheit auswirken. Es gibt jedoch noch einen tieferen Grund dafür, dass diese Fra­ ge nur im spezifischen historischen Kontext beantwortet werden kann. Nehmen wir an, wir wären uns plötzlich alle in den Fragen einig, über die in der wissenschaftlichen Gemeinde so intensiv debattiert wird: Nehmen wir an, dass sich die Globalisierung nicht im geringsten auf die Einkommensverteilung innerhalb der Länder auswirkt und das Wachstum der armen und bevölkerungs­ reichen Länder im Vergleich zu dem der reichen Länder beschleu­ nigt. Wäre das nicht schön? Da die erste Wirkung neutral ist und die zweite und dritte die Gleichheit fördern, muss die Globalisie­ rung insgesamt gut für die Gleichheit in der Welt sein. Aber die Antwort hängt immer noch davon ab, welchen Platz die bevölke­ rungsreichen Länder in der globalen Einkommensverteilung ein­ nehmen. Wenn die meisten bevölkerungsreichen Länder arm sind - was heute der Fall ist und implizit angenommen wird -, wäre die vorhergehende Schlussfolgerung gültig: Die Globalisierung wird die Gleichheit fördern. Aber wenn wir die armen von den bevölkerungsreichen Ländern abkoppeln - schließlich gibt es kei­ ne wirtschaftliche Bedingung, die bevölkerungsreiche Länder au­ tomatisch immer zur Armut verurteilt (schließlich sind die Verei­ nigten Staaten das Land mit der drittgrößten Bevölkerung der Welt und zugleich eines der reichsten Länder) -, sieht das Bild

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Essay III

anders aus: Die Konvergenz der nationalen Durchschnittsein­ kommen ist immer noch positiv, die Tatsache, dass die Ungleich­ heit innerhalb der Länder nicht beeinflusst wird, ist neutral, aber wenn die Globalisierung gut für bevölkerungsreiche Länder ist und diese reich sind -, kann die globale Ungleichheit leicht zu­ nehmen. Dieses Beispiel verdeutlicht eine einfache Tatsache: Selbst wenn wir uns darüber einig werden, wie die Globalisierung in den ein­ zelnen Kanälen wirkt, über die sie die globale Ungleichheit beein­ flusst, wird die Antwort schließlich von der kontextuellen, histo­ risch gewachsenen Situation abhängen (das heißt davon, wo sich die bevölkerungsreichen Länder in der Einkommensverteilung der Länder befinden). Es kann keine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben, wie sich die Globalisierung auf die globale Ungleichheit auswirkt. Es kann höchstens kontextbezogene Ant­ worten geben. Und in den letzten dreißig Jahren können wir nur die kontextuelle Antwort geben, dass sie eine ambivalente Rolle gespielt hat: Es gab Kräfte, welche die Ungleichheit erhöhten, und andere, die sie verringerten (vor allem das Wachstum Chinas und Indiens). Die Wale, die die Welt auf dem Rücken tragen. Wenn wir die globale Ungleichheit besser verstehen wollen, genügt es nicht, ein­ fach die Einkommen am oberen und unteren Ende der Verteilung zu vergleichen. V ielmehr müssen wir herausfinden, wer oben be­ ziehungsweise unten steht. An anderer Stelle (siehe Skizzen 2.12.4) haben wir gesehen, wie groß die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern sind. Daher kann es nicht überraschen, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Geburtsort und der Position der Menschen in den oberen und unteren Berei­ chen der globalen Einkommensverteilung gibt. Nehmen wir das reichste 1 Prozent, das heißt die 60 Millionen reichsten Menschen auf der Erde. Fast 50 Millionen von ihnen leben in Westeuropa, Nordamerika und Ozeanien (siehe Skizze 3.1). Als nächstes kön­ nen wir uns das reichste Dezil ansehen. Hier ist die Situation ganz

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Die ungleiche Welt

ähnlich: Mehr als 70 Prozent der Personen im reichsten Dezil le­ ben in den reichen westlichen Ländern; die asiatischen Länder haben einen Anteil von 20 Prozent, Lateinamerika stellt weniger als 5 Prozent dieser Personen, und Osteuropa, die Länder der ehe­ maligen Sowjetunion und Afrika haben nur einen sehr geringen Anteil. Im reichsten Dezil der Welt gibt es keine nennenswerte Zahl von Chinesen oder Indern, aber mehr als 2 Millionen Süd­ afrikaner und 7 Millionen Russen. Im ärmsten Dezil ist die Situ­ ation selbstverständlich ganz anders. 70 Prozent dieser Menschen leben in Asien, etwa 25 Prozent in Afrika und rund 5 Prozent in Lateinamerika. Im ärmsten globalen Dezil finden wir keine Ost­ europäer und selbstverständlich keine Bürger der reichen westli­ chen Länder. Aber die beste und graphisch vermutlich ansprechendste Dar­ stellung der globalen Einkommensverteilung finden wir in einer Pyramide. Nachdem wir die Menschen nach ihrem Einkommen eingestuft haben, müssen wir die folgende Frage fünfmal wieder­ holen: Wie viele der ärmsten Menschen (der weniger armen, der Menschen mit mittlerem Einkommen, der reicheren und der reichsten Menschen) sind nötig, um die nächsten 20 Prozent des globalen Einkommens zusammenzubekommen? Es liegt auf der Hand, dass wir auf eine sehr große Zahl von Menschen kommen werden, wenn wir die Frage zum ersten Mal stellen. Wir brauchen 77 Prozent der Weltbevölkerung für die ersten 20 Prozent des globalen Einkommens. Das ist die unterste Ebene unserer Pyra­ mide. Nun fragen wir: Wie viele (offenkundig etwas weniger arme) Menschen brauchen wir, um die nächsten 20 Prozent des globalen Einkommens zusammenzubekommen? Die Antwort: Wir brauchen 12 Prozent der Weltbevölkerung dafür. Wir wieder­ holen die Übung solange, bis wir bei den letzten 20 Prozent des globalen Einkommens ankommen. Um diesen Betrag zusammen­ zubekommen, brauchen wir nur 1,75 Prozent der Weltbevölke­ rung. Gemessen an der Zahl der Menschen ist die Spitze unserer Pyramide extrem schmal, während ihre Basis extrem breit ist. Das Ergebnis sehen Sie in Schaubild 6. Die Pyramide steigt nicht nur

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Essay III

steil an, sondern das Bild erinnert uns an die alte Vorstellung von einer Welt, die eine Scheibe ist und von mehreren Walen auf dem Rücken getragen wird. In unserem Bild sind die Armen der Welt die Wale.

1,75% (reichste Menschen) 3,6% 5,6% 12% 77% (ärmste Menschen)

SCHAUBILD 6 Die globale Einkommenspyramide: Wze viel Prozent der Menschen in der Welt braucht man, um jeweils 20 % des globa­ len Einkommens zu er zielen? Erläuterung: Die Breite der einzelnen Blöcke ist proportional zum Prozentsatz der Menschen. Alle Blöcke sind gleich hoch (da sie alle den gleichen Anteil von 20 Prozent am globalen Einkommen haben).

Die langfristige Entwicklung der globalen Ungleichheit. W ir verfügen über einigermaßen zuverlässige Daten zur globalen Un­ gleichheit für unseren Untersuchungszeitraum, da ab 1980 Haus­ haltserhebungen für die meisten Länder der Welt vorliegen, aber die Entwicklung vor diesem Zeitpunkt ist sehr viel schwieriger einzuschätzen. Gestützt auf einige neuere Arbeiten, auf die Bereit­ schaft, einige gewagte Annahmen zum möglichen Aussehen der nationalen Einkommensverteilungen in der Vergangenheit an­ zustellen, 137 und auf die Tatsache, dass die sehr unterschiedliche Entwicklung des BIP pro Kopf in verschiedenen Ländern der Hauptgrund für die Zunahme der globalen Ungleichheit ist (dies­ bezüglich ist die Datenlage besser), können wir etwas über die

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Die ungleiche Welt

globale Ungleichheit in der Vergangenheit sagen. Franc;:ois Bour­ guignon, einer der führenden Experten für Einkommensvertei­ lungen, und Christian Morrisson, ein französischer Wirtschafts­ historiker, haben die globale Ungleichheit im Jahr 1820 auf 50 Gini-Punkte geschätzt; bis 1910 stieg sie auf 61 und bis 1950 auf 64 Punkte, um im Jahr 1992 (an diesem Punkt endet ihr Unter­ suchungszeitraum) schließlich den Wert von 66 Gini-Punkten zu erreichen. 138 Eine graphische Darstellung der Entwicklung der globalen Ungleichheit seit der industriellen Revolution zeigt einen stetigen, aber verflachenden Anstieg: Die Kurve steigt, aber in den letzten zwanzig Jahren hat sie ein sehr hohes Plateau erreicht. Es ist schwierig, Prognosen zur zukünftigen Entwicklung anzu­ stellen. Nach Ansicht des bekannten amerikanischen Soziologen Glenn Firebaugh und des nicht weniger bekannten Ökonomen und Nobelpreisträgers Robert Lucas haben wir eine gigantische „Ungleichheitstransition" erlebt und die schlimmste Ungleichheit liegt hinter uns - oder wir sehen gerade ihren Höhepunkt. In Zukunft wird demnach das rasche Wachstum Chinas und Indiens die globale Ungleichheit verringern. 139 Das ist durchaus möglich, aber wir müssen uns vor der übereilten Annahme hüten, ein un­ unterbrochener wirtschaftlicher Fortschritt dieser beiden Länder sei unvermeidlich. Es gibt viele unvorhersehbare Umstände, die sie vom Wachstumspfad abbringen können (siehe Skizze 1.9 zu den möglichen Entiw cklungen in China). Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass diese Voraussage von spezifischen Entwick­ lungen in einem oder zwei Ländern abhängt und nicht von einem allgemeinen Trend, bei dem die Entwicklung in zahlreichen Län­ dern eine Bewegung in eine gegebene Richtung gewährleisten würde, selbst wenn einzelne Länder „die Freiheit" haben, vom allgemeinen Trend abzuweichen. Eine gleichmäßige Verringerung der globalen Ungleichheit ist selbst dann nicht garantiert, wenn China und Indien weiterhin wie derzeit wachsen, denn dann werden sie in zwanzig Jahren das Niveau der Länder mit mittlerem Einkommen erreichen, wes­ halb ihr Wachstum beginnen wird, zur Vergrößerung der globa167

Essay III

len Ungleichheit beizutragen, sollten andere große Länder wie Indonesien, Bangladesch, Nigeria und Pakistan deutlich zurück­ bleiben.140 Die Ungleichheit zwischen den Bewohnern der Erde ist heute wahrscheinlich so groß wie nie, auch wenn sich dieser Höhepunkt auf einem Plateau ausgeprägter Ungleichheit befindet, anstatt ei­ nen herausragenden Gipfel darzustellen. Die globale Ungleichheit nimmt seit der industriellen Revolution fast ununterbrochen zu, wobei sich diese Zunahme im Lauf der Zeit verlangsamt hat. Be­ deutsam ist, dass sich die Zusammensetzung der globalen Un­ gleichheit - die Kräfte, die ihr Wachstum vorantreiben - im Lauf der Zeit verändert hat: Beruhte sie in der industriellen Revolution auf der Ungleichheit innerhalb der Länder, so wird sie mittlerwei­ le im Wesentlichen von der Einkommensungleichheit zwischen den Ländern geprägt (siehe Skizze 2.1). Die relativen Einkom­ menspositionen Chinas, Indiens und der Vereinigten Staaten ha­ ben entscheidenden Einfluss auf das Maß und die Entwicklung der Ungleichheit.

Ist die globale Ungleichheit wichtig? Jagdish Bhagwati, W irt­ schaftsprofessor an der Columbia University, hat in seinem Buch Verteidigung der Globalisierung jeden Versuch, die globale Un­ gleichheit statistisch zu erfassen, in Bausch und Bogen als „Ver­ rücktheit" abgetan.141 Ähnlicher Ansicht sind auch andere Auto­ ren, selbst wenn sie weniger harte Begriffe wählen, denn es gibt keinen „Adressaten", an den man Beschwerden über eine zu große Ungleichheit in der Welt richten könnte. Innerhalb eines Landes gibt es eine Regierung, und wenn die Bürger den Eindruck gewin­ nen, die Ungleichheit sei zu groß oder die Gesellschaft zu unge­ recht, können sie ihre Kritik durch einen politischen Mechanis­ mus zum Ausdruck bringen: in einer Demokratie durch Wahlen, in einer Autokratie durch eine Revolte. Um ihre Macht zu erhal­ ten, müssen die Herrscher, seien sie nun demokratisch gewählt oder nicht, bei ihren Entscheidungen die Wünsche der Bevölke­ rung berücksichtigen. 168

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Aber solange es keine Weltregierung gibt, kann Unzufrieden­ heit über das Ausmaß der Ungleichheit auf globaler Ebene nicht sinnvoll zum Ausdruck gebracht oder in politisches Handeln umgemünzt werden. Die Meinungen über die Ungleichheit können niemandem mitgeteilt werden, aber vor allem gibt es niemanden, der auf Kritik reagieren könnte. Um aus der Un­ gleichheit ein gesellschaftlich relevantes Thema zu machen- um zu erreichen, dass sich die Gesellschaft Gedanken darüber macht und die Bereitschaft entwickelt, etwas gegen die Ungleichheit zu unternehmen-, sind nach Ansicht mancher Gelehrter politische Verbindungen zwischen den Menschen erforderlich, die es auf globaler Ebene nicht gibt. Dies wird als „politisches Konzept der Verteilungsgerechtigkeit" bezeichnet. Thomas Nagel, einer der wichtigsten Vertreter dieses Konzepts, erklärt: ,,Gerechtigkeit ist etwas, das wir durch unsere gemeinsamen Institutionen nur de­ nen schulden, zu denen wir eine enge politische Beziehung ha­ ben. Sie ist eine assoziative Verpflichtung." 142 Das politische Konzept der Verteilungsgerechtigkeit schließt die humanitäre Verpflichtung zur Unterstützung von Ausländern nicht aus, aber es legt reichen Menschen und reichen Ländern auch keine darü­ ber hinausgehende Pflicht auf Der Philosoph John Rawls bietet eine andere Erklärung dafür an, dass die globale Ungleichheit keine Rolle spielt. Für Rawls ist die beste globale Regelung jene, in der die Bedingungen aus seiner Theorie der Gerechtigkeit in jedem einzelnen Land gegeben sind (siehe Essay 1), während auf der globalen Ebene andere Regeln gelten, und die P8icht reicher Länder, ärmere zu unterstützen, ist zeitlich und in ihrem Umfang begrenzt (siehe Skizze 3.8). Mit anderen Worten, eine gerechte Welt ist eine Welt voller gerechter Länder. Punktum. Für Rawls ist das globale Optimum erreicht, sobald auf Ebene der einzelnen Länder das Optimum erreicht ist. Das Gefühl sagt uns, dass das nicht richtig sein kann. Die Tat­ sache, dass die reichsten 1,75 Prozent der Weltbevölkerung ein genauso hohes Einkommen haben wie die ärmsten 77 Prozent der Menschheit, scheint uns weder gut noch optimal zu sein, und wir

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Essay III

sind nicht der Meinung, dass es keinen Sinn hat, sich Gedanken darüber zu machen. Es gibt mindestens zwei gute Gründe dafür, dass diese Frage sehr wohl wichtig ist. Wir können die Ungleich­ heit instrumentell betrachten: Große Einkommensunterschiede zwischen Ländern lösen gesellschaftlich untragbare internationale Migrationsströme aus. Auf nationaler Ebene geht eine ausgepräg­ te Ungleichheit zwischen Gemeinschaften und Individuen mit politischer Instabilität einher. Diese politische Instabilität inner­ halb der Länder greift leicht auf die Nachbarländer und sogar auf die übrige Welt über. Und Instabilität kann man auch durch Cha­ os ersetzen: So unterschiedliche Entwicklungen wie die Piraterie vor der Küste Somalias, die Schweinegrippepandemie im Jahr 2009 und die Flüchtlingswelle, die im Jahr 2015 über Europa und insbesondere Deutschland hereinbrach, verdeutlichen, dass sich Armut in einzelnen Ländern und Regionen (die gleichbedeutend mit globaler Ungleichheit ist) leicht auf die übrige Welt auswirken kann. In einem Fall drohten Armut und Anarchie in Somalia den Seeweg für die internationalen Erdöltransporte zu unterbrechen, im anderen führen Armut und schlechte sanitäre Bedingungen in Mexiko zu einem großen Ausbruch der Schweinegrippe, die sich rasch in aller Welt verbreitete, auf Tausende Menschen übergriff und mehrere Hundert tötete. In einem weiteren Fall drohte die Kombination der Flüchtlingswelle aus Syrien mit einem massiven Zustrom von Armutsflüchtlingen aus Ost- und Südosteuropa Westeuropa politisch zu destabilisieren. Mit anderen Worten, ein hohes Maß an globaler Ungleichheit erhöht die Gefahr von glo­ balem Chaos. Zweitens gibt es auch ethische Argumente für eine Verringe­ rung der globalen Ungleichheit. Wir müssen unsere Sorge um Gerechtigkeit und unsere Pflicht zur Hilfeleistung nicht auf die Menschen beschränken, mit denen wir politische Institutionen teilen (also auf die Menschen, die im selben Land wie wir leben). Dieselben Überlegungen tauchen auf, sobald zwischen den Men­ schen „folgenschwere Beziehungen" entstehen, wie es der politi­ sche Philosoph Charles Beitz ausdrückt, 143 das heißt bedeutsame 170

Die ungleiche Welt

Beziehungen - und dabei ist es unerheblich, wo auf der Erde sich diese Personen befinden. Dies können Beziehungen sein, die durch Handel, Migration und Investitionen entstehen oder von internationalen Organisationen wie der Weltbank, dem Interna­ tionalen Währungsfonds, der Welthandelsorganisation oder dem Klimaschutzgipfel vermittelt werden, die Regeln aufstellen und erheblichen (positiven oder negativen) Einfluss auf das Verhalten von Personen in verschiedenen Ländern haben. Sobald solche in­ ternationalen Organisationen entstehen und Regeln festlegen und sobald die Wirtschaftsbeziehungen eine ausreichende „Dichte" erreichen (das heißt, sobald eine ausreichende Zahl von Menschen miteinander interagieren oder Handel treiben oder sobald sich die Aktionen oder Regeln dieser Institutionen auf genug Menschen auswirken), entsteht die Verpflichtung zur Gerechtigkeit, womit wir beginnen müssen, uns Gedanken über die globale Ungleich­ heit und Umverteilung zu machen. 144 Eine noch klarere Position nehmen die sogenannten Kosmopo­ liten ein. Sie gehen davon aus, dass die Menschheit aus Personen besteht, die alle denselben moralischen Wert haben und dieselben moralischen Ansprüche an jeden von uns richten können. In die­ ser Vorstellung begründen weder familiäre Beziehungen noch geographische Nähe oder gemeinsame Institutionen Vorrechte einer Personengruppe gegenüber einer anderen. Wir sollten alle Menschen einfach als Individuen betrachten, die denselben An­ spruch auf unsere Aufmerksamkeit und unsere Fürsorge haben. 145 In diesem Fall kann es keinen Unterschied zwischen der Ungleich­ heit auf nationaler und jener auf globaler Ebene geben. Beide sind gleich wichtig. Alles, was für eine Verringerung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder gilt (siehe Essay I), muss auch auf globaler Ebene gelten. Das Trilemma der Globalisierung. Das Trilemma der Globali­ sierung (um einen Ausdruck zu entlehnen, den der Harvard-Öko­ nom Dani Rodrik in einem etwas anderen Kontext geprägt hat) besteht darin, dass wir klären müssen, wie wir (1) die Globalisie171

Essay III

rung fortsetzen können, obwohl (2) die Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder gewaltig sind und wei­ ter wachsen und (3) die internationale Mobilität der Arbeitskräfte weiterhin sehr beschränkt ist. Diese drei Merkmale der bisherigen Globalisierung 2.0 können nicht endlos aufrechterhalten werden. Die Globalisierung führt automatisch zu einer wachsenden Kenntnis der Lebensbedingungen rund um den Erdball, was die Migration anregt, wenn die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern groß sind. Aber wie wir gesehen haben (Skizzen 2.4 und 2.5), ist eine Zuwanderung in großem Maße für die reichen Länder politisch inakzeptabel, weshalb sie immer neue Hindernis­ se für die Migration errichten. Wenn die Globalisierung weitergeht, ist der Kampf gegen die Migration langfristig nicht zu gewinnen. Eine sehr viel bessere Alternative bestünde darin, die durchschnittlichen Einkommens­ unterschiede zwischen den Ländern zu verringern. Gelänge dies, so würde der Migrationsdruck nachlassen und die Welt würde gemessen an den Lebensstandards sehr viel homogener werden, weshalb die Fortsetzung der Globalisierung nicht gefährdet wäre. Sollten hingegen die großen Einkommensunterschiede zwischen den Ländern weiterbestehen und sollten die reichen Länder die Zuwanderung begrenzen oder unterbinden, so müsste die Globa­ lisierung zurückgefahren werden. Die Tatsache, dass diese drei zentralen Entwicklungen voneinander abhängen, wird nicht aus­ reichend gewürdigt. Aber die Optionen sind relativ klar - und dramatische Folgen sind unausweichlich: Damit die Volkswirt­ schaften und Völker weiter zusammenwachsen können, müssen entweder die Einkommen der armen Völker in ihren Heimatlän­ dern erhöht werden - oder sie werden in immer größerer Zahl in die reichen Länder strömen.

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Skizze 3.1

Und wo ist Ihr Platz in der globalen Einkommensverteilung? "'\ 7iele Leute kennen die Websites, auf denen man seine Posi­ tion in der globalen Einkommensverteilung bestimmen kann. Vielleicht haben Sie auch schon einmal eine solche Seite besucht: Sie wurden aufgefordert, eine einzige Zahl - die Ihres Einkommens - einzugeben, und im Handumdrehen kannten Sie Ihre Position in der Welteinkommensverteilung. (Die Offen­ legungspfücht verlangt von mir, darauf hinzuweisen, dass einige dieser Seiten behaupten, für ihre Verteilungen die Daten aus meinem Buch Worlds Apart heranzuziehen. Ich habe nichts mit ihrer Tätigkeit zu tun und weiß nicht, wie sie ihre Berechnungen anstellen.) Aber jetzt schlage ich vor, dass wir hier etwas Ähnliches tun. Die Angaben der Websites sind vermutlich falsch, was nicht unbedingt daran liegt, dass ihre Betreiber nicht die besten Daten haben (was natürlich auch der Fall sein kann), sondern daran, dass sie sich nicht die Mühe machen, die Information zu erklären, die man eingeben muss, wenn man die eigene Position in globalen (oder nationalen) Einkommensverteilungen sinnvoll bestimmen möchte. Daher müssen wir zunächst unsere Hausaufgaben machen. Möglicherweise höre ich mich an wie das Finanzamt, aber Sie müssen jetzt drei Dinge tun: Erstens müssen sie herausfinden, wie viele Mitglieder Ihr Haushalt hat. Zweitens müssen sie das gesam­ te Jahreseinkommen Ihres Haushalts berechnen, und drittens müssen Sie klären, wie Sie mit der kniffligsten Frage umgehen wollen, nämlich mit den Kosten Ihrer Unterkunft oder der An­ rechnung der Erträge aus Wohneigentum. Beginnen wir mit der Größe des Haushalts. Die Mitglieder Ihres Haushalts sind die Personen, die im Allgemeinen am selben

V

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Skizze 3.1

Tisch wie Sie sitzen und unter demselben Dach wie Sie schlafen. Das schließt Verwandte und Freunde ein, die sich längere Zeit in Ihrem Haus aufhalten, nicht jedoch Haushaltshilfen oder Mieter (die unter demselben Dach wie Sie leben können). Auch Ihre Kin­ der zählen nicht zu Ihrem Haushalt, wenn sie nicht im selben Haus wie Sie wohnen, selbst wenn Sie für den Großteil ihrer Le­ benshaltungskosten aufkommen (das gilt z. B. für Kinder, die auf die Universität gehen). V ielleicht klingt das sonderbar und will­ kürlich, aber das ist es nicht. Von den Mitgliedern eines Haushalts wird angenommen, dass sie alles gleichmäßig teilen. Ein Ver­ wandter, der sich für längere Zeit in Ihrem Haushalt aufhält, nimmt einen Teil der Nahrung und die Annehmlichkeiten der Wohnung in Anspruch, muss jedoch auch mit seinem Einkom­ men zum Haushalt beitragen. Aber Ihre Kinder, die außer Haus leben, sind bereits separate Haushaltseinheiten. Mag sein, dass Sie für den Unterhalt Ihrer Sprösslinge aufkommen, aber das wird als freiwilliger privater Transfer betrachtet. Es ist Ihre Entscheidung, Ihre Kinder zu unterstützen. Technisch hätten Sie das Geld auch verwenden können, um ein neues Auto zu kaufen oder in Urlaub zu fahren, aber Sie ziehen es eben vor, Ihren Kindern zu helfen. Nun kommen wir zu dem Teil der Hausaufgaben, der uns an die Steuererklärung erinnert: Sie müssen feststellen, wie hoch Ihr Haushaltseinkommen ist. Dazu müssen Sie die Erwerbseinkünfte und Renten aller Familienmitglieder, das Einkommen aus ver­ schiedenen Vermögenswerten dieser Personen (z. B. Mieteinnah­ men, Zinserträge auf Bankeinlagen, Gewinne aus unternehmeri­ scher Aktivität, Dividenden und Anleiheerträge und dergleichen) zusammenrechnen. Da wir es immer mit jährlichen Daten zu tun haben, sollten Sie sich das Jahreseinkommen aus all diesen Quellen ansehen. Das gewerbliche oder freiberufliche Einkom­ men ist oft schwer zu definieren, aber wir nehmen an, dass Sie das in diesem Fall kaum schlechter tun werden als beim Ausfül­ len Ihrer Steuererklärung (obwohl die steuerlich absetzbaren Ausgaben im Allgemeinen nicht akzeptiert werden, wenn wir das Haushaltseinkommen für statistische Zwecke definieren). Selbst

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Und wo ist Ihr Platz in der globalen Einkommensverteilung?

Kapitalerträge sind als Teil des Einkommens zu betrachten. 146 Anschließend müssen Sie die von den Haushaltsmitgliedern ab­ geführten direkten Steuern abziehen. In Ländern, in denen die Steuern an der Quelle abgezogen werden (so wie die verpflich­ tenden Rentenbeiträge in den Vereinigten Staaten an der Quelle abgezogen werden), liegen die Dinge einfacher: Man muss sich nicht die Mühe machen, sie abzuziehen, da das Einkommen, das jemand nach Hause bringt, die direkten Steuern bereits nicht mehr enthält. Und damit sind wir bei einer sehr verzwickten Angelegenheit: der Wohnung. Aus einer Vielzahl komplizierter Gründe müssen wir sie zumeist ignorieren, aber es sollte erklärt werden, warum das so ist. Nehmen wir beispielsweise zwei Personen, die beide ein Einkommen von 100 Dollar haben - aber die eine besitzt ihre Wohnung, während die andere sie mietet. Der gesunde Men­ schenverstand sagt uns, dass die erste Person wohlhabender sein muss. Daher müssen wir ihrem Einkommen von 100 Dollar den unterstellten Wert ihrer Unterkunft hinzurechnen, das heißt die Miete, die diese Person bezahlen würde, wenn es eine Mietwoh­ nung wäre. Aber das ist sehr kompliziert, denn die meisten Leute können nicht eindeutig einer der beiden Kategorien zugeordnet werden: Sie sind weder zu 100 Prozent Eigentümer noch zur Gän­ ze Mieter. Vielleicht haben sie einen Teil (sagen wir, die Hälfte) ihrer Hypothek abgezahlt. In diesem Fall sollten wir nur die Hälf­ te der geschätzten Miete unterstellen. Dies ist der Teil der Woh­ nung, die sie „kostenlos" nutzen. Aber aus praktischen Gründen und weil wir an einer konservativen Schätzung des Einkommens interessiert sind, wäre es am besten, die Anrechnung der Unter­ kunft vollkommen beiseitezulassen und dem Einkommen nichts hinzuzufügen, es sei denn, Sie besitzen Ihr Haus oder Ihre Woh­ nung zur Gänze. Nur in diesem Fall sollten Sie eine geschätzte Miete zu Ihrem Einkommen hinzufügen. Nun bleibt uns nur noch eines zu tun, aber auch das können wir leider nur annäherungsweise: Wir müssen das ermittelte Ein­ kommen um das Preisniveau des Landes bereinigen, in dem Sie

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Skizze 3.1

leben. Wir vergleichen das Wohlergehen von Personen, die in ver­ schiedenen Ländern leben, und müssen die Tatsache berücksich­ tigen, dass die Preisniveaus von Land zu Land verschieden sind: In Indien brauchen Sie weniger Dollar, um so gut zu leben wie in den Vereinigten Staaten (siehe Essay II). Allgemein können wir sagen: Je ärmer (im Durchschnitt) das Land, in dem Sie leben, desto niedriger das Preisniveau und desto mehr müssen Sie Ihr Einkommen nach oben korrigieren. Wenn Sie in den Vereinigten Staaten leben, ist keine Anpassung erforderlich, da die internatio­ nalen Berechnungen so angestellt werden, dass das Preisniveau der USA dem internationalen Preisniveau entspricht. (Aber wenn Sie wollen, können Sie das Einkommen, das sie ermittelt haben, in diesem Fall einfach mit 1 multiplizieren). Eine grobe Faustregel besagt, dass Sie, wenn Sie in Westeuropa, Australien oder Neusee­ land leben, das ermittelte Einkommen um etwa 10 bis 20 Prozent verringern sollten, weil die Preise dort höher sind. Wenn Sie in ,,billigeren" südeuropäischen Ländern wie der Türkei, Griechen­ land oder Portugal leben, sollten Sie es um 10 bis 20 Prozent er­ höhen. Wenn Sie in Osteuropa (einschließlich Russlands) oder in Lateinamerika leben, multiplizieren Sie es mit 2, und in China, Afrika oder Indonesien sollten sie es mit 2,5 multiplizieren. Wenn Sie in Indien leben, sollten Sie es mit dem Faktor 3 multiplizieren. Nur wenn Sie in Ägypten, Bolivien oder Äthiopien leben, können Sie es mit 4 multiplizieren. Jetzt haben wir alle Bestandteile für unsere Rechnung. Nehmen Sie also das Ergebnis Ihrer Einkommensberechnungen, addieren Sie gegebenenfalls das unterstellte Mieteinkommen, teilen Sie den Betrag durch die Zahl der Haushaltsmitglieder und passen Sie das Resultat dem Preisniveau in Ihrem Land an. 147 Schreiben Sie die­ se Zahl auf ein Stück Papier. Wenn Ihr Jahreseinkommen bei mehr als 1225 kaufkraftpari­ tätischen Dollar liegt, befinden Sie sich in der oberen Hälfte der globalen Einkommensverteilung. 148 Bewegen wir uns in der Ver­ teilung nach oben: Um zu den reichsten 40 Prozent der Weltbe­ völkerung zu gehören, müssen Sie ein jährliches Einkommen von

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Und wo ist Ihr Platz in der globalen Einkommensverteilung?

etwa 1770 KKP-Dollar erzielen, und für die Zugehörigkeit zu den reichsten 30 Prozent brauchen Sie 2720 KKP-Dollar. Ab einem bestimmten Niveau erhöht sich die Schwelle, die man überschreiten muss, um einige weitere Prozentpunkte hin­ aufzuklettern, sehr schnell: Um zum reichsten Quintil (zu den reichsten 20 Prozent) der Menschheit zu zählen, müssen Sie schon 5000 KKP-Dollar im Jahr verdienen, und um Aufnahme ins reichste Dezil zu finden, müssen Sie mindestens 12 000 KKP­ Dollar verdienen. Um zu den reichsten 5 Prozent der Menschheit zu gehören, brauchen Sie ein Jahreseinkommen von 18 500 KKP­ Dollar. Und die Schwelle für den Zutritt zum Klub des reichsten 1 Prozent der Menschheit liegt bei 34000 KKP-Dollar. Wer sind diese 60 Millionen Menschen, die pro Kopf mehr als 34000 KKP-Dollar im Jahr verdienen? 149 Wo leben sie? Es über­ rascht nicht, dass fast die Hälfte von ihnen (genau gesagt 29 Mil­ lionen) Amerikaner sind. Es folgen etwa 4 Millionen Deutsche, 3 Millionen Franzosen, Italiener und Briten, rund 2 Millionen Ka­ nadier, Koreaner, Japaner und Brasilianer, ungefähr 1 Million Schweizer, Spanier, Australier, Niederländer, Taiwanesen, Chile­ nen und Singapurer. Hingegen gehört keine statistisch relevante Zahl von Afrikanern, Chinesen, Indern, Osteuropäern oder Rus­ sen dem reichsten 1 Prozent an. Können wir auch das Einkommen schätzen, das man braucht, um zum reichsten Zehntel des reichsten 1 Prozent der Weltbevöl­ kerung zu gehören? Hier begeben wir uns auf gefährliches Terrain: Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir die Beträge unterschätzen wer­ den, die man braucht, um sich für die Aufnahme in diesen illust­ ren Klub zu qualifizieren. Das liegt daran, dass die meisten wirk­ lich reichen Leute einfach nicht an Haushaltserhebungen teilnehmen oder absichtlich ein zu geringes Einkommen angeben. Aber wenn wir diese Einschränkung im Hinterkopf behalten, können wir annehmen, dass man etwa 70 000 KKP-Dollar im Jahr verdienen muss, um zu den 6 Millionen reichsten Menschen der Welt zu zählen. 150 Dies ist eine einfache Eselsbrücke: Um zu den reichsten 6 bis 7 Millionen Menschen auf der Erde zu gehö177

Skizze 3.1

ren, muss jedes Mitglied Ihres Haushalts ein Jahreseinkommen von 70 000 KKP-Dollar nach Steuern erzielen. Sehen wir uns an, was geschieht, wenn wir die in Skizze 1.10 beschriebene Pareto-Regel auf diese Spitze der globalen Wohl­ standspyramide anwenden. Wenn wir uns vom reichsten 1 Pro­ zent zum reichsten 0, 1 Prozent bewegen, sinkt die Zahl der Men­ schen, die das erforderliche Einkommen erzielen, von 60 Millionen auf 6 Millionen, während die Einkommensschwelle auf den dop­ pelten Wert steigt (von 34 000 KKP-Dollar auf 70 000 KKP­ Dollar). Damit erhalten wir die Pareto-"Guillotine" von etwa 3,2.151 Dieser Wert ist sehr viel höher als der, den Pareto in seiner Stichprobe europäischer Länder aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ermittelte (die „Pareto-Konstante" lag zwischen 1,4 und 1,5). Daraus können wir schließen, dass die „Einkom­ mensguillotine" an der Spitze der globalen Einkommensvertei­ lung sehr viel schärfer wird: Schon eine geringfügige Erhöhung der „erforderlichen" Einkommensschwelle genügt, um einen ho­ hen Prozentsatz von Personen zu „disqualifizieren". Dort oben ist das Terrain sehr abschüssig ...

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Skizze 3.2

Gibt es eine globale Mittelschicht?

E

s ist heute oft von der „globalen Mittelschicht" die Rede. 152 Beeindruckt von den hohen Wachstumsraten Chinas und In­ diens, ihrer großen Bevölkerung und der daraus folgenden großen Zahl von Personen, die mit ihrem Einkommen zur Mittelschicht ihres Landes gehören, gelangen viele Beobachter zu dem Schluss, dass so etwas wie eine globale Mittelschicht entstanden ist. Aber wie wir sehen werden, kann man bestenfalls davon sprechen, dass eine solche Mittelschicht gerade zu entstehen beginnt. Wenn wir von einer globalen Mittelschicht sprechen wollen, müssen wir eine solche Gruppe in globalem Maßstab anhand der­ selben Regeln definieren, die wir angewandt haben, um herauszu­ finden, ob es diese Gruppe innerhalb einzelner Länder gibt (und wie groß sie ist). Eine Methode, die sich seit einiger Zeit großer Beliebtheit erfreut, besteht darin, all jene der Mittelschicht zuzu­ rechnen, deren Einkommen sich innerhalb einer Bandbreite von 25 Prozent um das nationale Medianeinkommen bewegt. 153 (Das Medianeinkommen ist das Einkommen, dass eine gegebene Gruppe in zwei gleiche Hälften unterteilt: 50 Prozent der Bevöl­ kerung erzielen weniger und 50 Prozent mehr als dieses Einkom­ men.) In Ländern mit ausgeprägter Ungleichheit, in denen die Mittelschicht klein ist - dazu zählen die meisten Länder Latein­ amerikas -, befinden sich nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung innerhalb dieser Bandbreite. In entwickelten Ländern gehören etwa 40 Prozent der Bevölkerung einer so definierten Mittel­ schicht an. Dazu kommt, dass diese beiden Mittelschichten nicht gleichermaßen wohlhabend sind (im Verhältnis zum Durch­ schnittseinkommen ihres Landes). In den lateinamerikanischen Ländern liegt das durchschnittliche Einkommen der Mittelschicht bei etwa 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens. In Westeuropa, den Vereinigten Staaten und Kanada macht das

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Skizze 3.2

Durchschnittseinkommen der Mittelschicht etwa 85 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens aus. 154 Diese beiden Werte (der Anteil der Mittelschicht und ihr relatives Einkommen) lie­ fern uns empirische Anhaltspunkte dazu, wann wir von einer Ge­ sellschaft mit kleiner (und vermutlich schwacher) Mittelschicht und wann wir von einer Mittelschichtgesellschaft sprechen soll­ ten. Wie sieht es also aus, wenn wir diese Daten auf die Welt übertragen? Nicht sehr gut. Im Jahr 2005 bestand die globale Mittelschicht aus 850 Millionen Menschen. Das waren knapp 15 Prozent der Weltbevölkerung, und das Durchschnittseinkommen dieser Gruppe entsprach nur 29 Prozent des globalen Durchschnittsein­ kommens. Es ist jedoch ein wenig irreführend, in diesem Zusam­ menhang von einer „Mittelschicht" zu sprechen. Der Grund ist die gewaltige Ungleichheit in der Welt, die zur Folge hat, dass das Medianeinkommen im Jahr 2005 (wie wir in der vorhergehen­ den Skizze gesehen haben) bei nur 1225 KKP-Dollar lag. Das sind nur etwa 3,3 KKP-Dollar pro Kopf und Tag, was weit unter­ halb der offiziellen Armutsgrenze in den reichen Ländern liegt. Wir sollten diese Gruppe daher besser als globale Medianschicht bezeichnen. Sie umfasst all jene Personen, deren Pro-Kopf-Ein­ kommen zwischen 2,5 und 4 KKP-Dollar am Tag liegt. Mit an­ deren Worten, wir müssen uns vor Augen halten, dass die Ange­ hörigen der globalen Medianschicht gemessen an den Standards der reichen Welt tatsächlich sehr arm sind. Und trotzdem ist die­ se globale Medianschicht sehr viel kleiner und wirtschaftlich sehr viel schwächer als die Mittelschicht in Ländern wie Panama und Brasilien. Sie hat nur einen Anteil von etwa 4 Prozent am globa­ len Einkommen, während die Mittelschicht in den entwickelten Ländern gut 30 Prozent des nationalen Einkommens bezieht. Wir können also sagen, dass die Berichte über den Aufstieg der globalen Medianschicht, ganz zu schweigen von den Berichten über eine globale Mittelschicht, ebenso übertrieben sind wie die Nachricht, die zu Mark Twains Lebzeiten über seinen Tod ver­ breitet wurde. 180

Gibt es eine globale Mittelschicht?

Man kann jedoch die Frage stellen, ob diese trostlose Situation möglicherweise immer noch eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit ist. Wir können nicht weit in die Vergangenheit zurückblicken, weil wir für solche Berechnungen Daten aus Haus­ haltserhebungen in fast allen Ländern der Welt brauchen, und solche Daten gibt es nicht für die Zeit vor 1988. Wenn wir diesel­ ben Definitionen wie zuvor verwenden, stellen wir fest, dass die globale Medianschicht im Jahr 1988 13 Prozent der Weltbevölke­ rung umfasste (deren Durchschnittseinkommen 23 Prozent des globalen Durchschnitts entsprach). Bis 1993 wuchs diese Gruppe auf 14 Prozent der Weltbevölkerung (mit einem Durchschnitts­ einkommen von 26 Prozent des globalen Durchschnitts) und bis 1998 auf 17 Prozent (mit einem Einkommen von 27 Prozent des globalen Durchschnitts). Im Jahr 2002 war sie wieder auf 15 Pro­ zent geschrumpft (mit einem Einkommen von 25 Prozent des globalen Durchschnitts). Bis 2005 war also kein klarer Trend in der Entwicklung des Prozentsatzes an Personen zu erkennen, die der globalen Medianschicht zugerechnet werden könnten: Er schwankte zwischen 13 und 17 Prozent, und diese Gruppe bezog durchweg weniger als 5 Prozent des globalen Gesamteinkommens - sie war also weit von dem entfernt, was wir als bescheidene Mit­ telschichtgesellschaft bezeichnen würden. Wie wir gesehen haben, kann die globale Medianschicht in absoluten Zahlen auf 850 Millionen Menschen geschätzt werden. Das ist eine sehr große Zahl, aber die globale Kaufkraft dieser Gruppe ist gering: Sie verdient nur 4 bis 5 Prozent des globalen Einkommens (und gibt es aus). Zum Vergleich: Das reichste 1 Prozent der Menschen erzielt mehr als 13 Prozent des globalen Einkommens. Wenn man versucht, etwas zu vermarkten, ist die Spitzengruppe ein lohnenderes Ziel, denn ihre Kaufkraft über­ steigt die der „globalen Medianschicht" um etwa das Dreifache. Die meisten Mitglieder unserer globalen Medianschicht, etwas weniger als 600 Millionen Menschen, leben in Asien. Rund 90 Millionen ihrer Angehörigen leben in Lateinamerika und 100 Millionen in Afrika (einschließlich der arabischen Welt). Diese 181

Skizze 3.2

globale Medianschicht setzt sich überwiegend aus Bewohnern der Weltregionen zusammen, die früher als Dritte Welt bezeichnet wurden. Aufschlussreich ist, dass dieser Gruppe fast niemand aus den entwickelten Ländern angehört: Insgesamt gehören nur etwa 15 Millionen Einwohner der reichen Länder der globalen Medi­ anschicht an. Woran liegt das? Daran, dass keiner von ihnen der­ art arm ist - was deutlich aus der Tatsache hervorgeht, dass die obere Einkommensgrenze der globalen Medianschicht deutlich unter der offiziellen Armutsgrenze in den reichen Ländern liegt. Tatsächlich leben die Menschen in der reichen Welt, die zur glo­ balen Medianschicht gezählt werden können, allesamt in der Tür­ kei, dem ärmsten aller westlichen Länder. 155 Wenn die globale Median- oder Mittelschicht also so klein ist, warum wird dann so viel über sie geredet? Ich glaube, es gibt zwei Gründe dafür. Erstens ist die Welt mit Recht von den wirtschaft­ lichen Fortschritten Chinas und Indiens beeindruckt. Daher wer­ den in der Diskussion über die globale Mittelschicht in den rei­ chen Ländern eher unüberlegt die von den armen Ländern verwendeten Maßstäbe für die Definition der Mittelschicht über­ nommen. Wer das tut, lässt außer Acht, dass es keinen Sinn hat, eine globale Mittelschicht anhand der Maßstäbe zu definieren, die in Ländern verwendet werden, deren Durchschnittseinkommen nur ein Zehntel (China) beziehungsweise ein Siebzehntel des amerikanischen ausmachen. Dieser ursprünglich in den Massen­ medien verwendete falsche Ansatz wurde von der wissenschaftli­ chen Gemeinde übernommen. Vor Kurzem wurde die globale Mittelschicht tatsächlich als eine Gruppe definiert, der jedermann mit einem täglichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen 2 und 10 KKP-Dollar angehört. 156 Die Untergrenze des Einkommens einer so definierten globalen Mittelschicht entspricht weniger als einem Fünftel dessen, was in den westlichen Ländern als Armutsgrenze gilt, und auch die Obergrenze liegt noch unter der Armutsgrenze in den Vereinigten Staaten. Ist es sinnvoll, jemanden, der an west­ lichen Maßstäben gemessen fast im Elend lebt, einer „globalen Mittelschicht" zuzurechnen? 182

Gibt es eine globale Mittelschicht?

Der zweite Grund ist, dass sich die Beobachter von der wach­ senden Verbreitung langlebiger Konsumgüter - zum Beispiel Fernseher und Mobiltelefone - in den armen Ländern blenden lassen. Infolge der technologischen Revolution (vor zwei Jahr­ zehnten gab es noch keine Mobiltelefone) und des Rückgangs der relativen Preise haben mittlerweile sehr viele Menschen Zugang zu Konsumgütern. Es liegt mir fern, den Wert und die Bedeutung dieser Güter zu bestreiten, aber ein Handy macht noch keinen Mittelschichtbürger. Wenn ein Mensch unter ungesunden Bedin­ gungen in einer Wellblechhütte lebt und ein unsicheres Einkom­ men bezieht, das nur knapp über dem Existenzminimum liegt, wenn er seine Kinder nicht in die Schule schicken und keine an­ gemessene medizinische Versorgung für seine Familie bezahlen kann, dann hat es keinen Sinn, ihn als Mitglied einer imaginären ,,globalen Mittelschicht" zu bezeichnen, weil in seiner Hosenta­ sche ein Handy steckt. 157

183

Skizze 3.3

Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union?

E

s ist bemerkenswert, dass die Ungleichheit in den aus fünfzig Staaten bestehenden Vereinigten Staaten und in der Europäi­ schen Union nach der Erweiterungsrunde im Jahr 2007, als Bul­ garien und Rumänien aufgenommen wurden, etwa gleich ausge­ prägt ist. Der Gini-Koeffizient liegt in beiden Fällen knapp über 40 Punkten. Die Ungleichheit ist in den Vereinigten Staaten grö­ ßer als in einzelnen europäischen Ländern wie Frankreich, Spani­ en oder Deutschland, aber sie ist etwa genauso groß wie in der EU insgesamt. Aber die Ungleichheitsstruktur ist sehr verschieden. In der Eu­ ropäischen Union sind 23 von insgesamt 40 Gini-Punkten auf die Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten, das heißt auf die un­ gleichen Durchschnittseinkommen in den einzelnen Ländern zu­ rückzuführen. In den Vereinigten Staaten hingegen sind weniger als 5 dieser 40 Gini-Punkte auf die Ungleichheit zwischen den Durchschnittseinkommen der Bundesstaaten zurückzuführen. Einfach ausgedrückt, bedeutet das, dass der Hauptgrund für die Ungleichheit in der EU die Unterschiede zwischen den Mit­ gliedsstaaten sind: Die Länder sind entweder reich oder arm. In den Vereinigten Staaten ist der Hauptgrund für die Ungleichheit, dass es innerhalb der Bundesstaaten, die einander sehr ähnlich sind, reiche und arme Menschen gibt. Die Armen und Reichen sind anders als in Europa nicht in bestimmten Staaten geogra­ phisch konzentriert, sondern einigermaßen gleichmäßig auf die fünfzig Bundesstaaten verteilt. Das Spektrum der EU-Mitgliedsstaaten reicht von Luxemburg, das mit einem BIP pro Kopf von mehr als 70 000 KKP-Dollar das reichste Land der Welt ist, bis zu Rumänien, dessen BIP pro Kopf bei nur 10 000 KKP-Dollar liegt. Das Verhältnis zwischen den 184

Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union?

Durchschnittseinkommen dieser beiden Länder beträgt also 7 zu 1. Da die Spreizung der Einkommensverteilungen in den europä­ ischen Ländern relativ gering ist, überrascht es nicht, dass, wenn wir die Bevölkerungen Luxemburgs und Rumäniens in Gruppen von jeweils 5 Prozent der Bevölkerung unterteilen, das ärmste Zwanzigstel der Luxemburger ein sehr viel höheres Einkommen hat als das reichste Zwanzigstel der Rumänen. Es gibt also keiner­ lei Überschneidung zwischen den Einkommensverteilungen Lu­ xemburgs und Rumäniens. Das bedeutet, dass praktisch jeder Luxemburger reicher ist als alle Rumänen. Nicht ganz so drama­ tisch, aber sehr ähnlich fällt ein Vergleich zwischen Dänemark oder Finnland (deren ärmste 5 Prozent der Bevölkerung gemein­ sam mit dem ärmsten Zwanzigstel Luxemburgs in der EU am besten dastehen) auf der einen und Ländern wie Litauen und Bul­ garien auf der anderen Seite aus. Beispielsweise sind die ärmsten 5 Prozent der Dänen immer noch reicher als 85 Prozent der Bul­ garen. Das Bild der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten sieht voll­ kommen anders aus. Das Verhältnis zwischen den Pro-Kopf-Ein­ kommen des reichsten Staates (New Hampshire) und des ärmsten Staates (Arkansas) beträgt lediglich 1,5 zu 1. 158 Die Durchschnitts­ einkommen der Staaten liegen sehr nahe beieinander: Das sehen wir an der fast uniformen Schattierung der Vereinigten Staaten auf der Karte (Seite 187), die Aufschluss über das relative BIP pro Kopf der Bundesstaaten gibt und der sehr viel größeren Streuung der Durchschnittseinkommen in den verschiedenen EU-Mit­ gliedsstaaten gegenübergestellt werden muss. Die als „Einkom­ menskonvergenz" bezeichnete Annäherung der Durchschnittsein­ kommen der amerikanischen Bundesstaaten ist ein Vorgang, der seit einem halben Jahrhundert andauert. 159 Aber innerhalb der einzelnen Staaten sind die Einkommen sehr ungleich verteilt. Die einzelstaatlichen Gini-Koeffizienten liegen zwischen 33 Prozent in South Dakota und Wisconsin (den Staaten mit der gleichmäßigs­ ten Einkommensverteilung) und rund 45 Punkten in Texas und Tennessee, wo die Ungleichverteilung fast so ausgeprägt ist wie in 185

Skizze 3.3

Lateinamerika. Demgegenüber bewegt sich die Ungleichheit in der EU zwischen sehr niedrigen Gini-Koeffizienten von 24 bis 25 Punkten in Ungarn und Dänemark auf der einen und einem Höchstwert von 37 Punkten, der in Großbritannien und Estland gemessen wird. Betrachtet man also die Staaten für sich, so wirkt ein Land wie Großbritannien, das in Europa aufgrund seiner ausgeprägten Un­ gleichheit herausragt, im Vergleich zu den Vereinigten Staaten beinahe egalitär. Wäre Großbritannien Mitglied der amerikani­ schen Union, so nähme es unter den egalitären Bundesstaaten den sechzehnten Rang ein. In der Karte auf Seite 188, die Aufschluss über das Maß der Ungleichheit auf den beiden Kontinenten gibt, sehen wir erneut eine fast uniform dunkle Schattierung, die auf eine ausgeprägte Ungleichheit in den gesamten Vereinigten Staa­ ten hindeutet, sowie eine sehr viel größere Streuung, jedoch gene­ rell niedrigere Gini-Koeffizienten in den EU-Mitgliedsstaaten. In den Vereinigten Staaten sehen wir Ungleichheit zwischen Personen, während wir in der Europäischen Union Ungleichheit zwischen Ländern beobachten. Daher müssen unterschiedliche Maßnahmen zur Verringerung von Ungleichheit und Armut er­ griffen werden. In den Vereinigten Staaten muss die Sozialpolitik unabhängig vom Wohnort auf die armen Bürger zielen, während die politischen Eingriffe in der Europäischen Union (die als „Ko­ häsionspolitik" bezeichnet werden) auf die armen Mitgliedsstaa­ ten (oder auf Regionen wie den italienischen Mezzogiorno) zie­ len müssen, in denen eine unverhältnismäßig große Zahl von Armen lebt. Welche Situation ist vorzuziehen? Ist es besser, wenn die Men­ schen mit geringen Einkommen geographisch konzentriert sind oder wenn sie verstreut leben? Natürlich sind große Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen kaum ein Rezept für eine erfolgreiche Union (siehe Skizze 1.8), insbesondere, wenn sie eth­ nische, sprachliche, kulturelle und historische Unterschiede zwi­ schen verschiedenen Bevölkerungsgruppen vertiefen. Die Ein­ kommenskluft und eine Kluft in anderen Bereichen verstärken 186

Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union?

Einkommensniveau BIP pro Kopfin den Vereinigten Staaten und in der Europäischen Union, 2008

,o

Niveau des BIP pro Kopf

Reich: 125% des USoder EU-Duchschnitts Durchschnitt: Zwischen 75% und 125% des US- oder EU-Durchschnitts Arm: Unter 75% des USoder EU-Durchschnitts Fehlende oder irrelevante Daten

i

'-Malta

187

Skizze 3.3

Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten und in der Eu­ ropäischen Union, 2005

NH

,o

Gini-Koeffizient (in %) Ausgeprägte Ungleichheit: Gini-Koeffizient über 35 Durchschnittlich: Gini-Koeffizient zwischen 30 und 35 Geringe Ungleichheit: Gini-Koeffizient unter 30

II

Fehlende oder irrelevante Daten

r

"Malta

188

Wie verschieden sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union?

einander gegenseitig. Auf den amerikanischen Kontext übertragen wäre dies so, als wäre das Einkommensgefalle, das gegenwärtig die Kluft zwischen den ethnischen Gruppen vertieft, obendrein geo­ graphisch konzentriert, sodass die Bevölkerung armer Staaten überwiegend afroamerikanisch und die der reicheren Staaten fast ausschließlich europäischer Herkunft wäre. Die Gründer der Europäischen Union waren sich der Tatsache bewusst, dass eine wirtschaftlich sehr ungleiche Union langfristig nicht überlebensfähig sein würde, weshalb seit Jahren große Sum­ men in Maßnahmen fließen, die das Wachstum der ärmeren Mit­ gliedsstaaten ankurbeln sollen. Tatsächlich ist es der EU gelungen, die Einkommen der bei ihrem Beitritt ärmeren Länder zu erhöhen. Spanien, Portugal, Griechenland und Irland waren bei ihrem Bei­ tritt gemessen am EU-Durchschnitt arm. Im Jahr 1986, als Portu­ gal in die Gemeinschaft aufgenommen wurde, lag sein BIP pro Kopf um 45 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Zwanzig Jahre später ist es nur noch ein Drittel geringer als das der EU insgesamt (genauer gesagt, als das Durchschnittseinkommen der westeuropä­ ischen Länder, die im Jahr des portugiesischen Beitritts EU-Mit­ glieder waren). Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die neuen osteuropäischen Mitgliedsländer nicht innerhalb der nächs­ ten zwei Generationen den Rückstand auf die anderen EU-Staaten aufholen werden. Die Freizügigkeit von Menschen, Kapital und Gütern wird dazu beitragen, genauso wie die ungehinderte Mobi­ lität von Menschen, Kapital und Gütern zur Angleichung der Durchschnittseinkommen in den amerikanischen Bundesstaaten zwischen 1950 und der Gegenwart beigetragen hat.

189

Skizze 3.4

Warum sind Asien und Lateinamerika Spiegelbilder voneinander?

L

ateinamerika besteht aus Ländern, in denen die Ungleichheit sehr ausgeprägt ist. Aber die Einkommensunterschiede zwi­ schen den Ländern sind eher gering. Asien besteht aus im Inneren relativ egalitären Ländern, aber die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern sind gewaltig.160 Grob gesagt ist dies der Kontrast zwischen den beiden Kontinenten. Im Jahr 2007 lag das BIP pro Kopf in Lateinamerika zwischen 2400 KKP-Dollar im ärmsten Land (Nicaragua) und mehr als 13 000 KKP-Dollar im reichsten Land (Chile). Das Einkom­ mensverhältnis betrug also 5,4 zu 1. In Asien reichte die Band­ breite der Einkommen von etwa 1000 KKP-Dollar in Nepal und Bangladesch bis zu 40 000 KKP-Dollar in Hongkong und 47000 KKP-Dollar in Singapur. Selbst wenn wir diese beiden Stadtstaaten161 beiseitelassen und stattdessen das drittreichste asi­ atische Land Japan mit seinem BIP pro Kopf von 32 000 KKP­ Dollar heranziehen, beträgt das Verhältnis immer noch 32 zu 1. In beiden Fällen wurden die Relationen zwischen den kaufkraft­ paritätischen Einkommen ermittelt, da diese die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Lebensstandards der Einwohner ver­ schiedener Länder ausdrücken. Andere, anspruchsvollere Maße der Ungleichheit erzählen die­ selbe Geschichte. Kurz gesagt, ist Asien der heterogenste Konti­ nent. Er umfasst sehr bevölkerungsreiche Länder wie Bangladesch (160 Millionen Einwohner) und Nepal (fast 30 Millionen), deren Einkommensniveaus nicht wesentlich über dem liegen, das für das Römische Kaiserreich geschätzt wird (siehe Skizze 1.3). Auch riesige oder sehr große Länder wie Indien (1, 1 Milliarden Ein­ wohner), Pakistan (162 Millionen), Vietnam (85 Millionen) oder Burma (48 Millionen) geht es nicht viel besser. Ihr Einkommens190

Warum sind Asien und Lateinamerika Spiegelbilder voneinander?

niveau entspricht gerade einmal dem des ärmsten lateinamerika­ nischen Landes Nicaragua. Was für ein Kontrast zu den reichsten asiatischen Ländern: In Malaysia ist das Einkommensniveau so hoch wie im reichsten la­ teinamerikanischen Land Chile, aber in Asien gibt es fünf Länder, die noch reicher sind: die beiden genannten Stadtstaaten Hong­ kong und Singapur, Japan (127 Millionen Einwohner), Südkorea (48 Millionen) und Taiwan (23 Millionen). Wir sehen also, dass die Spitze in Asien über jene in Lateinamerika hinausragt, wäh­ rend die einkommensschwächsten asiatischen Länder sehr viel ärmer und sehr viel „fetter" sind als die ärmsten lateinamerikani­ schen (mit ,,fett" ist gemeint, dass sie einen Großteil der Bevölke­ rung Asiens beherbergen). Selbst das Einkommensniveau des „Wirtschaftswunderlands" China liegt geringfügig unter dem El Salvadors, und in Lateinamerika würde China nur den sechzehn­ ten Rang unter zweiundzwanzig Ländern einnehmen. Wechseln wir jetzt die Perspektive und sehen wir uns die Un­ gleichheit innerhalb der Länder auf den beiden Kontinenten an. In Lateinamerika ist Uruguay mit einem Gini-Koeflizienten von 45 das Land mit der geringsten Ungleichheit. Besonders ausge­ prägt ist die Ungleichverteilung in Brasilien und Bolivien, deren Gini-Koeflizienten jeweils nur knapp unter 60 liegen. In Asien sind die egalitärsten Länder Japan und Bangladesch mit Gini­ Koeflizienten von knapp unter 30, und am stärksten ausgeprägt ist die Ungleichheit in Hongkong (50 Gini-Punkte). Es fällt auf, dass das egalitärste lateinamerikanische Land - das kleine Urugu­ ay- in Asien den dritten Rang unter den Ländern mit der größten Ungleichheit einnehmen würde. In den egalitärsten lateinamerika­ nischen Ländern ist die Ungleichverteilung so ausgeprägt wie in den asiatischen Ländern, in denen die Einkommen besonders un­ gleichmäßig verteilt sind! Die Bandbreiten der Gini-Koeflizienten Asiens (30-50) und Lateinamerikas (45-60) überschneiden sich kaum. In Kombination miteinander führen diese beiden Gegebenhei­ ten - (1) die gewaltigen Unterschiede zwischen den Durchschnitts191

Skizze 3.4

einkommen der asiatischen Länder und die geringen Unterschiede zwischen den lateinamerikanischen Ländern sowie (2) die gewalti­ ge Einkommensungleichheit innerhalb der lateinamerikanischen Länder und die relativ gering ausgeprägte Ungleichverteilung in den asiatischen Ländern - dazu, dass das Maß der Ungleichheit zwischen allen Menschen in Asien und der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas sehr ähnlich ist. Während Faktor (1) für größere Gleichheit in Lateinamerika sorgt, bewirkt Faktor (2) das Gegen­ teil. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Asien. Der Gini-Koeffizient für Lateinamerika insgesamt liegt bei 56 Punkten, der Gini-Koef­ fizient für Asien insgesamt bei 60 Punkten. Aber in Lateinamerika ist das Maß der Ungleichheit für die einzelnen Länder ähnlich hoch wie für den Kontinent insgesamt - mit anderen Worten, es ergibt sich weitgehend dasselbe Bild, wenn wir Lateinamerika aus seinen nationalen Bestandteilen „zusammensetzen" und wenn wir irgendeines dieser Länder herausgreifen und seinen Gini-Koeffizi­ enten einfach auf den gesamten Kontinent umlegen. Sowohl Peru als auch Argentinien oder Bolivien sind repräsentativ für Latein­ amerika als Ganzes, sei es für das Durchschnittseinkommen oder für die Einkommensverteilung. Für Asien gilt das nicht. In Asien insgesamt ist die Ungleichheit sehr viel größer als in jedem einzel­ nen Land des Kontinents, und seien die Einkommen national noch so ungleich verteilt. Der Grund: Wenn wir die asiatischen Länder, deren Einkommensniveaus extrem unterschiedlich sind, zusammenrechnen, wird die Ungleichheit insgesamt größer. Wenn wir hier ein beliebiges Land herausgreifen, erhalten wir ein sehr irreführendes Ergebnis: Weder Bangladesch noch Südkorea sind repräsentativ für Asien als Ganzes. Da die Durchschnittseinkom­ men in den einzelnen asiatischen Ländern derart unterschiedlich sind, ist keines von ihnen „repräsentativ" für Asien. Die Ungleichheit auf diesen beiden Kontinenten ist also ganz unterschiedlichen Ursprungs: In Asien beruht die Ungleichheit im Wesentlichen auf den unterschiedlichen Durchschnittsein­ kommen der Länder oder - was dasselbe ist - auf ihrem unter­ schiedlichen Entwicklungsstand. In Lateinamerika hat die Un192

Warum sind Asien und Lateinamerika Spiegelbilder voneinander?

gleichheit ihren Ursprung in erster Linie in der Ungleichheit zwischen den Einwohnern der einzelnen Länder. Wenn wir die zuvor (siehe Skizze 2.3) verwendete Terminologie übernehmen, können wir sagen, dass die Ungleichheit in Asien „ortsabhängig" ist. In Lateinamerika können wir noch erkennen, wie die Welt vor zwei Jahrhunderten aussah, als die Einkommen der obersten Klas­ sen sehr ähnlich waren (und diese Gruppen leicht miteinander interagierten und einander als Gleichgestellte anerkannten). Asien ist ein Beispiel für die heutige Welt, in der gewaltige Gräben zwi­ schen den Ländern klaffen und die Staatsangehörigkeit über das Lebenseinkommen entscheidet: Es hängt fast alles davon ab, ob man in Japan oder in Nepal zur Welt kommt. Wird die Entfernung zwischen diesen beiden Spiegelbildern geringer werden? Die Möglichkeit besteht, aber es wird nicht über Nacht geschehen. Möglicherweise wird sich das Wachstum der armen Länder Asiens beschleunigen und das der reichen Länder des Kontinents übersteigen. So würde Asien zu einem homogene­ ren Kontinent werden. Auf der anderen Seite könnten in Latein­ amerika südamerikanische „Pumastaaten" auftauchen, die sich vom übrigen Kontinent absetzen können, der dadurch heteroge­ ner werden würde. Würde gleichzeitig die Einkommensungleich­ heit innerhalb der einzelnen Länder deutlich verringert, so könn­ te Lateinamerika dem heutigen Asien (und der heutigen Welt) ähnlich werden. Aber eine solche Entwicklung scheint sehr un­ wahrscheinlich: Die lateinamerikanischen Länder wachsen histo­ risch mit sehr ähnlicher Geschwindigkeit, es sind keine „Pu­ mastaaten" in Sicht, und die Verringerung der Ungleichheit wirkt wie eine Sisyphusarbeit, die schon viele lateinamerikanische Staa­ ten mit sehr geringem Erfolg in Angriff genommen haben. Fest verwurzelte Sonderinteressen, ein großes Bildungsgefälle und eth­ nische Trennlinien sorgen dafür, dass eine solche Verringerung der Ungleichheit in der nahen Zukunft und mittelfristig kaum vor­ stellbar ist. Wenden wir uns abschließend noch einer interessanten Auswir­ kung der Heterogenität Asiens zu: Sie erschwert eine engere poli-

193

Skizze 3.4

tische Union des Kontinents erheblich (wenn sie sie nicht unmög­ lich macht). Selbst wenn wir die beiden Riesen China und Indien, die kaum in eine politische Architektur integriert werden können, beiseitelassen, wird eine engere politische Union wie jene, die Eu­ ropa bewerkstelligt hat, durch den sehr unterschiedlichen wirt­ schaftlichen Entwicklungsstand der asiatischen Länder erschwert. Wie wir zuvor (Skizzen 1.8 und 3.3) gesehen haben, kann eine solche Union nur funktionieren, wenn die Lebensbedingungen in den Mitgliedsstaaten ähnlich sind. Dazu wird es in Asien in ab­ sehbarer Zukunft nicht kommen, und jeder Schritt in dieser Rich­ tung würde voraussetzen, dass die reichen Länder den armen um­ fassende Wirtschaftshilfe gewähren. Selbst wenn sie ein politisches Interesse daran hätten, würden die reichen Länder - Japan, Süd­ korea und Mal ays ia - vor den hohen Kosten einer solchen Unter­ stützung zurückschrecken. Es besteht also keine große Hoffnung auf eine Asiatische Union in naher Zukunft.

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Skizze 3.5 Wollen Sie schon vor dem Anpfiff wissen, wer als Sieger vom Platz gehen wird?

D

er europäische Vereinsfußball ist wie das idealtypische kapi­ talistische Monopol organisiert. 162 Im amerikanischen Pro­ fisport regulieren die Franchises (Ligen) die Tätigkeit der Klubs, um den Wettbewerb in der Liga zu gewährleisten. Im europäi­ schen Fußball gibt es keine solchen Regeln. Jeder Verein ist ein finanziell und sportlich eigenständiges Unternehmen. Ist er reich, so kann er die besten Spieler kaufen, was ihm eine beherrschende Rolle in der heimischen Meisterschaft und im kontinentalen Wettbewerb - der Champions League - sichert. Ist er arm, so hat er keine Chance, auf diesem Niveau mitzuspielen, und beschränkt sich am besten darauf, talentierte Nachwuchsspieler aufzuspüren, die er später mit Gewinn an reichere Klubs verkaufen kann. Das war nicht immer so. Früher wurde der ungezügelte Kapi­ talismus durch die Vorschrift eingeschränkt, dass jeder Verein ma­ ximal zwei ausländische Spieler - also Spieler, die keine Staatsbür­ ger des Landes waren, in dem der Verein eingetragen war - in einem Spiel aufstellen durfte. Der AC Mailand durfte höchstens zwei Nicht-Italiener aufstellen, für Bayern München durften nur zwei Spieler auflaufen, die nicht die deutsche Nationalität hatten, und so weiter. Aber das sogenannte „Bosman-Urteil" machte die­ se Einschränkung über Nacht hinfällig. Jean-Marc Bosman war ein belgischer Spieler, der im Jahr 1995 die Zwei-Ausländer-Regel vor dem Europäischen Gerichtshof anfocht. Und dieser stellte fest, dass die Regel dem Prinzip der Freizügigkeit der Arbeiter in der EU widersprach. Warum durften deutsche Informatiker, nicht jedoch deutsche Fußballer in unbegrenzter Zahl in Spanien arbei­ ten? Mit der Entscheidung des Gerichtshofs wurden alle Be­ schränkungen für die Zahl ausländischer Fußballer aus anderen EU-Mitgliedsstaaten beseitigt. Außerdem wurden die Regeln für 195

Skizze 3.5

Fußballspieler aus Nicht-EU-Ländern (vor allem aus Lateiname­ rika und Afrika) gelockert, und die nationalen Ligen weichten der Reihe nach die Beschränkungen auf oder beseitigten sie vollkom­ men. So wurden die Bedingungen für einen ungezügelten Kapita­ lismus geschaffen, in dem sich Arbeit (Spieler und Trainer) und Kapital frei bewegen können. Das Ergebnis waren einige Über­ nahmen, die Schlagzeilen machten: Der italienische Ministerprä­ sident und Medienzar Silvio Berlusconi kaufte den Traditionsver­ ein AC Milan, der russische Oligarch Roman Abramowitsch übernahm den FC Chelsea, der ehemalige thailändische Minister­ präsident Thanksin Shriniwatra investierte in Manchester City (das später von einer Gruppe arabischer Investoren übernommen wurde), die amerikanischen Milliardäre George Gillet und Tom Hicks kauften den FC Liverpool und der indische Stahlmagnat Lakshmi Mittel den bulgarischen Verein Levski Sofia. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Die „Globalisierung" oder „Entlokalisierung", das heißt der graduelle Verlust des nationalen und lokalen Charakters von Ver­ einen, die sich aufgrund der Zusammensetzung ihrer Mannschaf­ ten und ihres Kapitals, aber auch ihrer Anhängerschaft in globale Unternehmen verwandeln, ist weit fortgeschritten. Bei Arsenal London oder Inter Mailand steht heute oft kein einziger Spieler englischer beziehungsweise italienischer Herkunft auf dem Platz, und auch auf der Ersatzbank sucht man vergeblich nach Einhei­ mischen. Auch die Trainer sind oft Ausländer. 163 Und mittlerwei­ le ist es so normal, dass acht oder neun Ausländer auf dem Platz stehen, dass diese Tatsache kaum noch jemandem auffällt (was in mancher Hinsicht zu begrüßen ist). Die Fußballvereine haben sich in globale Marken verwandelt. Die bekannteste ist Manchester United, das eine große Fange­ meinde in Asien (einschließlich des Mittleren Ostens) und eine etwas kleinere in Nordamerika hat. Der Verein absolviert jeden Sommer in der Vorbereitungszeit eine Reihe von gut bezahlten Freundschaftsspielen, die kaum sportlichen Wert haben, sondern die weltweite Anhängerschaft vergrößern sollen. Die Spiele der

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Wollen Sie schon vor dem Anpfiff wissen, wer als Sieger vom Platz gehen wird?

stärksten europäischen Ligen (der spanischen, deutschen, engli­ schen und italienischen) werden in Malaysia, Syrien oder Lettland von zahlreichen Zuschauern verfolgt, die diesen ausländischen Vereinen sehr viel größeres Interesse entgegenbringen als den hei­ mischen Ligen. Um ihre ausländischen Fans bei der Stange zu halten, betreiben alle Großklubs aufwändig gestaltete englisch­ sprachige Websites. Mittlerweile brauchen die Fans keine geographische Nähe mehr zu ihrem Lieblingsverein. V iele Anhänger leben sehr weit von dem Ort entfernt, an dem „ihr Verein" seine Heimspiele aus­ trägt. Das hat durchaus sein Gutes, verringert es doch die natio­ nalistischen, religiösen oder Klassengegensätze, die früher die Ri­ valität zwischen den Anhängern bestimmter Vereine prägten. Negativ ist der Verlust der innigen Beziehung zwischen Fans und Spielern, die einander früher in der Stadt begegneten und das Ge­ fühl hatten, derselben Gemeinde anzugehören. Heute kann ein tunesischer Fußballfan, wenn sein Lieblingsteam nicht das heimi­ sche Esperance, sondern der FC Barcelona ist, nicht darauf hof­ fen, Lionel Messi jemals in Person auf dem Feld zu sehen oder ihm in einer Bar in der Stadt zu begegnen - es sei denn, er reist dafür nach Barcelona. Aber er kann jedes Dribbling und jeden Pass sei­ nes Lieblingsspielers in Echtzeit verfolgen. An dieser Stelle geht es uns jedoch um etwas anderes. Die Ver­ mögensungleichheit zwischen den Vereinen hat in Kombination mit der Beseitigung der Grenzen für den Kauf ausländischer Spie­ ler dazu geführt, dass sich die besten Spieler und Vereine in den reichsten Ländern (selbstverständlich bereinigt um die Fußballlei­ denschaft ihrer Bevölkerung) konzentrieren. So ist es dazu gekom­ men, dass vier Länder - Spanien, Deutschland, England und Ita­ lien - den europäischen Vereinsfußball vollkommen beherrschen, und in jedem dieser Länder haben wiederum drei oder vier Verei­ ne eine Vormachtstellung errungen. Da sich die reichsten Vereine die besten Spieler leisten können, haben sie auch den meisten sportlichen Erfolg. Um den wahr­ scheinlichen Sieger in einem Spiel erraten zu können, muss man

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Skizze 3.5

eigentlich nur das Vermögen der beiden Vereine kennen, die ge­ geneinander antreten. Man muss sich nicht die Mühe machen herauszufinden, welche Spieler für den reicheren und welche für den ärmeren Verein spielen, wie gut diese Spieler sind und in wel­ cher körperlichen Verfassung sie sich befinden. Die ökonomi­ schen Gesetze werden mit großer Wahrscheinlichkeit dafür sor­ gen, dass der reichere Verein bessere Spieler oder eine besser besetzte Ersatzbank hat (sodass er aus dem Vollen schöpfen kann, wenn sich ein Spitzenspieler verletzt) oder dass er einen Coach haben wird, der sein Team taktisch besser einstellen kann. Die Spitzenklubs spielen also in einer eigenen Liga und heim­ sen alle - oder zumindest fast alle - Titel ein. Der wichtigste eu­ ropäische Vereinswettbewerb ist die Champions League. Sie exis­ tiert seit mehr als einem halben Jahrhundert, obwohl sie früher - als Europapokal der Landesmeister - als Pokalwettbewerb aus­ getragen wurde. Aufgrund der Konzentration der Qualität verrin­ gert sich die Zahl der Vereine, die eine realistische Chance auf den Viertelfinaleinzug haben, von Jahr zu Jahr und wird immer vor­ hersehbarer. Wirkliche Kandidaten sind eigentlich nur die fünf­ zehn bis zwanzig reichsten Klubs; alle anderen haben nur geringe Chancen, es unter die besten Acht zu schaffen. Wenn wir uns die Zusammensetzung seit Einführung der Champions League über Fünfjahreszeiträume ansehen, stellen wir tatsächlich fest, dass die Elite in hohem Maß konzentriert ist. Würden jedes Jahr andere acht Vereine das V iertelfinale erreichen, so kämen wir in fünf Jahren theoretisch auf vierzig verschiedene Vereine. Das entspräche der maximalen Streuung der Qualität und der größten Ungewissheit bezüglich des Siegers. Das andere Extrem wäre, dass wir Jahr für Jahr dieselben acht Vereine im Viertelfinale sehen würden. Wenn wir diese Werte berechnen, stellen wir fest, dass zwischen dem ersten Fünfjahreszeitraum (1958-1962) 1 64 und dem achten Fünfjahreszeitraum (19931997), das heißt in 40 Jahren, die Zahl der Vereine, die innerhalb von fünf Jahren das Achtelfinale erreichten, jeweils zwischen 26 und 30 lag. Die Qualität war also einigermaßen breit gestreut: Die 198

Wollen Sie schon vor dem Anpfiff wissen, wer als Sieger vom Platz gehen wird?

Streuung erreichte fast drei Viertel des Höchstwerts. Nach dem Bosman-Urteil stürzte die Zahl der erfolgreichen Vereine ab: Im Zeitraum 1982-2002 erreichten nur noch 22 Vereine das Viertel­ finale, und im Zeitraum 2003-2007 sank die Zahl auf21 Vereine. Eine ähnliche Konzentration ist in den nationalen Ligen zu beobachten. In den letzten fünfzehn Jahren wurden mit einer ein­ zigen Ausnahme alle englischen Fußballmeisterschaften von ei­ nem der „Big Four" gewonnen: Manchester United, Chelsea, Ar­ senal und Liverpool. Noch größer ist die Konzentration in Italien. In den letzten zwanzig Jahren (Stand 2009) hat nur zweimal ein Verein, der nicht zu den reichsten vier zählt (das sind AC Mai­ land, Juventus, Inter oder AS Rom), den Scudetto gewonnen. Es erübrigt sich fast zu sagen, dass die vier führenden italienischen Vereine so wie die vier dominierenden englischen Klubs auf der Liste der zwanzig reichsten europäischen Vereine zu finden sind.165 In Spanien gingen sechzehn der letzten zwanzig Meistertitel ent­ weder an Real Madrid oder an den FC Barcelona. In Deutschland wurden dreizehn der letzten siebzehn Meisterschaften von nur zwei Vereinen beherrscht: Bayern München und Borussia Dort­ mund. Im Jahr 2010, mehr als ein Jahr nach der Fertigstellung dieses Textes, wurden die nationalen Meisterschaften in diesen vier Ländern - anhand der zuvor genannten Daten haben Sie gute Chancen, es zu erraten - von den folgenden Vereinen gewonnen: von Chelsea in England, von Inter Mailand in Italien, vom FC Barcelona in Spanien und von Bayern München in Deutschland. Obwohl die Qualität des Fußballs nach Einschätzung der meis­ ten Experten und Fans heute besser ist als je zuvor - die techni­ schen Fähigkeiten und die Fitness der heutigen Spieler gehen deutlich über die der Spieler vor zwanzig oder dreißig Jahren hin­ aus und die Taktik hat sich erheblich weiterentwickelt - hat die Konzentration von Reichtum und Talent, die diese Entwicklung vermutlich ermöglicht hat, die Spannung erheblich verringert. Und der Reiz des Fußballs hängt in erster Linie von der Unvor­ hersehbarkeit des Ergebnisses ab: Der Fußball ist wie das Leben, 166 eine Kombination von erwünschten Siegen der „besseren" Mann199

Skizze 3.5

schaft mit Begegnungen, in denen zufällig ein offenkundig schwä­ cheres Team dank eines Glücksschusses oder einer überraschen­ den Eingebung den übermächtigen Goliath bezwingt. Heute, da die Überlegenheit der Goliaths gegenüber den Davids größer ist als je zuvor, sind Überraschungen sehr viel unwahrscheinlicher als in der Vergangenheit. Die Goliaths gewinnen immer. Mehr noch: Oft lassen sie sich nicht einmal dazu herab, mit den Davids zu spielen.

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Skizze 3.6

Einkommensungleichheit und die globale Finanzkrise

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enn es nach der breiten Öffentlichkeit geht, dann sind die unfähigen Bankiers, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Vetternwirtschaft des Finanzkapitals und dergleichen für die gegenwärtige Finanzkrise verantwortlich. 167 Tatsächlich dürften all diese Elemente zur Krise beigetragen haben, aber diese rein fi­ nanzielle Erklärung der Krise lässt ihre fundamentalen Ursachen außer Acht. Die eigentlichen Gründe sind in der Realwirtschaft zu suchen, genauer gesagt in der Verteilung des Einkommens zwi­ schen den Personen und Gesellschaftsschichten. Die Deregulie­ rung erleichterte unverantwortliches Verhalten und verschärfte damit die Krise, aber sie erzeugte sie nicht. Um die Ursprünge der Krise zu verstehen, muss man sich die wachsende Einkommensungleichheit in fast allen Ländern der Welt und insbesondere in den Vereinigten Staaten in den letzten dreißig Jahren ansehen. In den Vereinigten Staaten verdoppelte das reichste 1 Prozent der Bevölkerung sein Einkommen von etwa 8 Prozent Mitte der siebziger Jahre auf fast 16 Prozent zu Beginn des 21. Jahrhunderts. 168 Das ist eine gespenstische Parallele zur Situation am Vorabend des Crashs von 1929, als der Einkom­ mensanteil des reichsten 1 Prozent seinen letzten Höchststand er­ reichte. Stellt man die Entwicklung der Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten in den vergangenen hundert Jahren graphisch dar, so erhält man ein großes U: Nach dem Höhepunkt im Jahr 1929 nahm die Ungleichheit bis Ende der siebziger Jahre ab, um in den folgenden dreißig Jahren wieder zuzunehmen. Was bewirkte dieser Anstieg? Die Reichen konnten ihr wach­ sendes Einkommen nicht zur Gänze in den Konsum stecken: Man kann nur eine begrenzte Zahl von Dom Perignons trinken, und man kann nicht unendlich viele Armani-Anzüge tragen. Und 201

Skizze 3.6

selbstverständlich war es auch nicht vernünftig, ausschließlich in auffälligen Konsum zu „investieren", wenn man sein Vermögen stattdessen mit umsichtigen Investitionen mehren konnte. So wuchs ein riesiges Reservoir an Finanzkapital - das Produkt der wachsenden Einkommensungleichheit -, das auf der Suche nach einträglichen Investments war. Aber die reichsten Menschen und Hunderttausende etwas we­ niger reiche konnten das Geld nicht selbst investieren. Sie brauch­ ten Mittelsmänner - den Finanzsektor. Von der Menge an Geldern überwältigt und mit einem Mangel an guten Investitionsmöglich­ keiten konfrontiert, wurden die Finanzintermediäre, die oben­ drein von den hohen Transaktionsgebühren verlockt wurden, im­ mer verwegener und warfen das Geld jedem nach, der bereit war, es anzunehmen. Es ist nicht zu beweisen, dass das investierbare Kapital schließlich die Zahl der sicheren und rentablen Invest­ ments überstieg (da niemand weiß, wie viele gute Möglichkeiten zur Geldanlage es gibt), aber die Tatsache, dass sich die Finanzin­ termediäre zu immer riskanteren Investments gezwungen sahen, deutet darauf hin. Das ist allerdings nur ein Teil der Gleichung: Wie und warum machten sich große Mengen investierbaren Geldes auf die Suche nach Renditen? Der zweite Teil der Gleichung waren die Perso­ nen, die sich dieses Geld liehen. Und hier landen wir wieder bei der wachsenden Ungleichheit. Das Wachstum der Vermögen an der Spitze ging mit einem Mangel an realem Wirtschaftswachs­ tum in der Mitte einher. Der reale Medianlohn in den Vereinig­ ten Staaten stagniert seit 25 Jahren, obwohl sich das BIP pro Kopf im selben Zeitraum fast verdoppelt hat. Etwa die Hälfte aller Realeinkommenszuwächse zwischen 1976 und 2006 kamen den reichsten 5 Prozent der amerikanischen Haushalte zugute. 169 Die Mittelschicht, deren Kaufkraft jahrelang nicht wuchs, war verständlicherweise nicht unbedingt begeistert von diesem neuen ,,goldenen Zeitalter". Die Stagnation der Mittelschichteinkom­ men nahm einen festen Platz in der öffentlichen Debatte in den Vereinigten Staaten ein und wurde zu einem unlösbaren politi202

Einkommensungleichheit und die globale Finanzkrise

sehen Problem für beide Großparteien. Natürlich waren die Po­ litiker darauf angewiesen, dass ihre Wähler zufrieden waren, da ihnen andernfalls die Abwahl drohte. Aber sie konnten nicht ein­ fach die Löhne erhöhen. Um der Mittelschicht die Illusion wach­ senden Wohlstands zu vermitteln, konnte man ihre Kaufkraft erhöhen, indem man ihr den Zugang zu Krediten erleichterte. Die Leute begannen, wachsende Kreditkartenschulden anzuhäu­ fen, Autos auf Pump zu kaufen und Eigenheimhypotheken auf­ zunehmen. Präsident George W. Bush versprach, jede amerikani­ sche Familie werde sich ungeachtet der Höhe ihres Einkommens ein eigenes Haus leisten können. So begann die große amerikani­ sche Konsumparty, in deren Verlauf die Schulden der Haushalte von 48 Prozent des BIP Anfang der achtziger Jahre auf 100 Pro­ zent des BIP am Vorabend der Finanzkrise anschwollen. Hier kamen die Interessen mehrerer großer Gesellschaftsgrup­ pen zur Deckung: Wie wir gesehen haben, suchten Personen mit hohem Nettovermögen und der Finanzsektor verzweifelt nach neuen Investitionen, die Zinserträge versprachen. Die Politiker wollten das irritierende Problem der stagnierenden Mittelschicht­ einkommen „lösen". Die Mittelschicht und die einkommens­ schwächeren Amerikaner freuten sich darüber, dass ihre budgetä­ ren Beschränkungen wie durch Zauberei verschwanden, denn nun konnten sie sich all die schönen Dinge leisten, die zuvor den Reichen vorbehalten gewesen waren. Da die Mittelschicht auf die­ se Art an der längsten wirtschaftlichen Expansionsphase der Ver­ einigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg teilhaben konnte, hatte sie das Gefühl, zu den Gewinnern zu gehören. Genau darüber hatte sich mehr als zwei Jahrhunderte früher der große französische Philosoph Montesquieu lustig gemacht, als er den von den Schöpfern des Papiergelds angewandten Mecha­ nismus beschrieb (ein Experiment, das mit einem spektakulären Fehlschlag endete): ,,Leute von Baetica", schrieb Montesquieu, „wollt ihr reich sein? Bildet euch ein, ich wäre sehr reich und ihr wäret es auch. Stellt euch jeden Morgen vor, dass sich euer Vermö­ gen über Nacht verdoppelt hat! Dann steht ihr auf, und wenn ihr 203

Skizze 3.6

Gläubiger habt, geht zu ihnen und bezahlt mit dem, was ihr euch vorgestellt habt, und sagt ihnen, sie sollen [es] sich ihrerseits vor­ stellen. " 170 Erleichtert wurde das Funktionieren des kreditfinanzierten Sys­ tems dadurch, dass die Vereinigten Staaten hohe Handelsbilanz­ defizite anhäufen konnten, was im Grunde bedeutete, dass meh­ rere Prozentpunkte ihres Konsums von Ausländern finanziert wurden. Der Konsumrausch entschärfte auch die Klassenkonflik­ te und hielt den amerikanischen Traum von der steigenden Flut aufrecht, die alle Boote anhebt. Aber auf Dauer war dieses System nicht überlebensfähig. Als immer mehr Kreditnehmer aus der Mittelschicht zahlungsunfähig wurden, endete der Traum abrupt. Wir sollten uns nicht von oberflächlichen Merkmalen der Kri­ se ablenken lassen, etwa von der geheimnisvollen Funktionsweise der „Derivate". Wenn es „Derivate" waren, so „Derivate" des im vergangenen V ierteljahrhundert angewandten Wachstumsmo­ dells. Die Krise wurde nicht von Hedgefonds und Bankiers verur­ sacht, die einfach ihre gewohnte Gier an den Tag legten (die von den Ökonomen normalerweise gepriesen wird). Die wahre Ursa­ che der Krise war die sehr ungleiche Verteilung der Einkommen, die zur Anhäufung gewaltiger Mengen an Geld führten, das nicht mehr rentabel investiert werden konnte. Man ,,löste" das politi­ sche Problem des unzureichenden Wachstums der Einkommen der Mittelschicht, indem man die Wirtschaft mit billigem Kredit überschwemmte. Und die Kreditschwemme zur Beschwichtigung der Mittelschicht war nötig, weil in einer Demokratie ein Ent­ wicklungsmodell, das mit einer übermäßigen Ungleichverteilung der Einkommen einhergeht, die politische Stabilität gefährdet. Hätte es anders kommen können? Ja. Hätte die Ungleichheit nicht dreißig Jahre lang zugenommen, so wäre das Einkommen der Mittelschicht bei unverändertem Nationaleinkommen gestie­ gen. Menschen mit mittlerem Einkommen müssen viele vorran­ gige Bedürfnisse befriedigen, bevor sie sich Gedanken darüber machen können, wie sie überschüssiges Geld am besten investie­ ren sollten. Die Struktur des Konsums hätte sich bei geringerer

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Einkommensungleichheit und die globale Finanzkrise

Ungleichheit anders entwickelt: Vermutlich hätte die Mittel­ schicht ihr Geld eher für selbst gekochtes Essen als für Restau­ rants, eher für Ferien in der Nähe des Wohnorts als für Fernreisen, eher für Kinderkleidung als für Designermode ausgegeben. Wäre die Entwicklung gleichmäßiger verlaufen, so hätten die Politiker nicht nach Wegen suchen müssen, um ihre frustrierten Mittel­ schichtwähler zu beschwichtigen. Mit anderen Worten: Eine ge­ rechter verteilte und stabilere Entwicklung hätte den Vereinigten Staaten und der Welt eine unnötige Krise erspart.

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Skizze 3.7 Holten die Kolonialherren so viel aus den Kolonien heraus wie sie konnten? "\Vfie wir gesehen haben, ist der171Gini-Koeffizient das wichtigs­

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te Maß der Ungleichheit. Er bewegt sich theoretisch zwischen einem Wert von 0, der bedeutet, dass das Gesamtein­ kommen einer beliebigen Untersuchungsgruppe (einer Gemein­ de, eines Landes, eines Kontinents oder der Welt) vollkommen gleichmäßig zwischen ihren Mitgliedern aufgeteilt ist, und einem Wert von 100, der bedeutet, dass das gesamte Einkommen einem einzigen Mitglied der Untersuchungsgruppe zufließt, während alle anderen keinerlei Einkommen haben. Aber offenkundig kann kein Mensch mit einem Einkommen (oder einem Konsum) von 0 leben, schon gar nicht ein Jahr lang, und dies ist die Zeiteinheit, in der die Ungleichheit und der Gini-Koeffizient normalerweise gemessen werden. Führen wir daher die einschränkende Bedin­ gung ein, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft mindestens ein Einkommen haben, das genügt, um ihre physische Existenz auf­ rechtzuerhalten, denn andernfalls würden sie offenkundig ster­ ben, weshalb die Gesellschaft schrumpfen und schließlich ver­ schwinden würde. Nun können wir das Höchstmaß an Ungleichheit berechnen, das unter dieser Bedingung in einer Ge­ sellschaft herrschen kann. Die Ableitung des maximalen Gini­ Koeffizienten beruht auf der Annahme, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft mit Ausnahme einer winzigen Elite vom Subsis­ tenzeinkommen leben und dass diese winzige Elite (die im Ex­ tremfall aus einer einzigen Person bestehen kann) die gesamte Differenz zwischen dem Gesamteinkommen und dem erhält, was alle übrigen Mitglieder der Gesellschaft zum Lebenserhalt brau­ chen. Wenn wir ein wenig darüber nachdenken, stellen wir fest, dass die gemessene Ungleichheit in einer Gesellschaft mit einem sehr

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Holten die Kolonialherren so viel aus den Kolonien heraus wie sie konnten?

niedrigen Durchschnittseinkommen nicht sehr groß sein kann, gleichgültig wie winzig die herrschende Elite ist. Um das zu ver­ deutlichen, können wir annehmen, dass das Durchschnittsein­ kommen einer Gesellschaft nur geringfügig über dem Subsistenz­ niveau liegt. Das Einkommen, das für die Elite übrig bleibt, wird ebenfalls extrem niedrig sein, und die Ungleichheitsmaße, die im Prinzip die Einkommensunterschiede zwischen sämtlichen Indi­ viduen (siehe Essay I) ausdrücken, können einfach deshalb nicht hoch sein, weil in 99,99 Prozent der Fälle (bei all diesen Personen, deren Einkommen nahe beim Subsistenzniveau liegt) die Ein­ kommensunterschiede zwischen den Paaren von Personen null betragen werden. Mit steigendem Durchschnittseinkommen wird diese Beschränkung der Ungleichheit gelockert und der maximale Gini-Koeffizient kann steigen. Wenn wir eine Kurve zeichnen (die durchgezogene Linie in Schaubild 7 unten), welche die maximal möglichen Gini-Koeffizienten mit verschiedenen Durchschnitts­ einkommen verknüpft, erhalten wir eine aufsteigende konkave Kurve, die sich dem maximalen Gini-Wert von 100 Punkten nä­ hert, wenn das Durchschnittseinkommen das Subsistenzniveau um ein Vielfaches übersteigt. Diese Kurve wird als Möglichkeits­ grenze der Ungleichheit bezeichnet. 172 Um dies zu konkretisieren: Übersteigt das Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft das Subsistenzeinkommen um das Doppelte, so beträgt der maximale Gini-Koeffizient (die „Grenze") 50 Punkte. Wenn das Durch­ schnittseinkommen das Subsistenzeinkommen um das Dreifache übersteigt, liegt die mögliche „Grenze" des Gini-Koeffizienten bei 66 Punkten. Und so weiter. Übersteigt das Durchschnittseinkom­ men das zum Überleben erforderliche Einkommen um das Hun­ dertfache (was in den reichen Ländern heute der Fall ist), so liegt der maximale mögliche Gini-Koeffizient bei 99 Punkten. Dieses Konzept ist wichtig, weil es zeigt, dass Gesellschaften relativ reich sein müssen, damit sich eine ausgeprägte Ungleich­ heit entwickeln kann. W ir können die Möglichkeitsgrenze der Ungleichheit heranziehen, um die tatsächliche Ungleichheit in verschiedenen vorindustriellen (sowie modernen) Gesellschaften

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Skizze 3.7

ihrer „Grenzungleichheit" gegenüberzustellen. Wenn sich eine Gesellschaft nahe an der Grenze der maximal möglichen Un­ gleichheit befindet, können wir den Schluss ziehen, dass die Elite sehr gierig und ausbeuterisch ist und sich durch Gewalt oder List das gesamte über das Existenzminimum hinausgehende Einkom­ men aneignen kann. Wenn die tatsächliche Ungleichheit weit von der Möglichkeitsgrenze entfernt ist, bedeutet dies, dass sich die Elite mäßigt oder dass sie daran gehindert wird, sich einen größe­ ren Teil des Überschusses anzueignen. Offenkundig wird dieser Zugang besonders gute Ergebnisse liefern, wenn wir vorindustriGini-Koeffizient 100

80



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1500 2000 2500 3000 BIP pro Kopf in KKP-Dollar (1990)

SCHAUBILD 7 Tatsächlicher und „ Grenz"-Gini-Koeffizientfür Kolonien und andere vorindustrielle Gesellschaften. Erläuterung: Die Möglichkeitsgrenze der Ungleichheit entspricht der maximalen Ungleichheit (in Gini-Punkten, vertikale Achse), die theoretisch bei einem gege­ benen Durchschnittseinkommen (horizontale Achse) unter der Bedingung erreicht werden kann, dass das Einkommen keines einzelnen Mitglieds der Gesellschaft unterhalb des Subsistenzminimums liegt. Kolonien sind durch ausgefallte Punkte, andere vorindustrielle Gesellschaften durch leere Punkte gekennzeichnet. KEN = Kenia, BIH = Bihar, JND = Indien, ]AV = Java, DZA = Maghreb, NES = Nueva Espafza (Mexiko und Südwesten der Vereinigten Staaten). Quelle: Milanovif, Lindert und Williamson, Measuring Ancient Jnequality.

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Holten die Kolonialherren so viel aus den Kolonien heraus wie sie konnten?

elle Gesellschaften studieren, was nicht nur daran liegt, dass davon auszugehen ist, dass ihre Eliten räuberischer waren, sondern auch daran, dass die Ungleichheitsgrenze aufgrund ihrer (niedrigen) Einkommensniveaus sehr viel verbindlicher war. Das Verhältnis zwischen tatsächlicher und „Grenz"-Ungleichheit wird als „Ex­ traktionsrate" bezeichnet. Je näher am Wert von 100 Prozent, des­ to „effizienter" sind die Bemühungen der Elite, den gesamten Einkommensüberschuss abzuschöpfen. In einer Studie über dreißig vorindustrielle Gesellschaften (der Untersuchungszeitraum reichte vom Jahr 14 n. Chr. bis zum Jahr 1947, und beinhaltete unter anderem das frühe römische Kaiser­ reich, Indien im Jahr seiner Unabhängigkeit sowie England in den Jahren 1209, 1688, 1759 und 1801-1803) stellten Milanovic, Lin­ dert und Williamson fest, dass die durchschnittliche Extraktionsra­ te bei etwa 75 Prozent lag. Damit war sie in diesen Gesellschaften etwa doppelt so hoch wie in den gegenwärtigen Vereinigten Staaten, wo der Gini-Koeffizient bei 40 und die Möglichkeitsgrenze der Un­ gleichheit bei nahezu 100 liegen. Interessant ist jedoch, dass es in der Stichprobe von dreißig Gesellschaften sechs mit einer Extrakti­ onsrate von etwa 100 Prozent gab. Dies waren das indische Mogul­ reich im Jahr 1750, Nueva Espafia (Mexiko) im Jahr 1790, das Maghreb im Jahr 1880, Kenia in den Jahren 1914 und 1927 sowie Indien im Jahr 1947. Diese sechs Gesellschaften hatten ein gemein­ sames Merkmal: Sie waren allesamt Kolonien. Die Gruppe der un­ tersuchten Gesellschaften enthielt neun Kolonien, aber die drei anderen (Bihar im Jahr 1807 und Java in den Jahren 1880 und 1924) wiesen Extraktionsraten von etwa 70 Prozent auf (siehe Schaubild 7). 173 Daraus können wir schließen, dass die „Kunst der Ausbeutung" in sechs dieser neun Kolonien perfektioniert worden war und dass alle Gesellschaften, in denen derart hohe Extraktions­ raten zu beobachten waren, Kolonien waren. Die Nationalität der Kolonialherren scheint keine große Rolle gespielt zu haben, denn unter den sechs Gesellschaften, in denen die Ausbeutung auf die Spitze getrieben wurde, finden wir solche, die von Briten, Franzo­ sen, Moguln oder Spaniern ausgebeutet wurden. 209

Skizze 3.7

Es ist keine Überraschung, dass die Kolonialherren bemüht und offenkundig (zumindest eine Zeitlang) imstande waren, den maxi­ malen Überschuss aus der nativen Bevölkerung herauszuholen. Schockierender ist, wie hoch die geschätzten Einkommen der kolo­ nialen Eliten sogar gemessen an heutigen Maßstäben waren. In Java erzielten die reichsten Europäer (dies waren überwiegend Niederlän­ der) im Jahr 1880 ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 200 000 KKP-Dollar im Jahr. 174 Damit würden sie heute problem­ los einen Platz im reichsten Zehntel des reichsten 1 Prozent der Weltbevölkerung einnehmen (siehe Skizze 3.1). Im Kenia des Jahres 1914 hatten die reichsten Briten, die 0,04 Prozent der Bevölkerung stellten, einen Anteil von 1,4 Prozent am gesamten Nationalein­ kommen, das heißt rund 100 000 KKP-Dollar pro Kopf und Jahr. Auch sie würden heute zum obersten Zehntel des obersten 1 Prozent der globalen Einkommensverteilung gehören. Darüber hinaus wür­ den sie auch zum obersten 1 Prozent der gegenwärtigen britischen Einkommensverteilung gehören. 175 Kaum weniger reich war die bri­ tische Elite, die im Jahr 1927 in Kenia lebte: Ihre Mitglieder erziel­ ten ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von rund 74000 KKP­ Dollar (siehe auch Skizze 2.6). Auch diese Gruppe würde heute dem obersten Einkommensperzentil in Großbritannien angehören. Die Kolonialherren waren also ungeheuer reich, und zwar nicht nur zu ihrer Zeit und in den Kolonien, sondern auch gemessen an den heutigen Einkommensverteilungen ihrer Heimatländer. Sie eigneten sich so viel vom über das Existenzminimum hinausgehen­ den Einkommensüberschuss der Kolonien an wie nur irgend mög­ lich, aber ihr „Genuss" konnte nicht ewig dauern. Ihre Herrschaft endete schließlich. Aber wenn wir ihr Verhalten nüchterner be­ trachten, stellen wir fest, dass die einheimischen Eliten, die ihren Platz einnahmen, oft dieselbe oder eine ähnliche Politik der maxi­ malen Ausbeutung betrieben. In einer Reihe von afrikanischen Ländern, darunter Niger, Mosambik und Guinea-Bissau, liegen die Gini-Koeffizienten heute in der Nähe der Möglichkeitsgrenze der Ungleichheit. An einigen Orten blieb die Extraktionsrate un­ verändert, obwohl sich die Nationalität der Herrscher änderte. 210

Skizze 3.8

Warum war Rawls gleichgültig gegenüber der globalen Ungleichheit?

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ene, die John Rawls' Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit ken­ nen, werden vom Titel dieser Skizze möglicherweise überrascht sein. Schließlich wird Rawls mit Recht als Verfechter einer ent­ schieden egalitären Position betrachtet. Diese Haltung kommt in seinem berühmten „Unterschiedsprinzip" zum Ausdruck, das be­ sagt, dass eine Abweichung von der Gleichheit nur zu rechtfertigen ist, wenn Ungleichheit nötig ist, um die absolute (Einkommens) Position der Ärmsten zu verbessern. Aber das Unterschiedsprinzip gilt nur für die einzelnen Länder. In Eine Theorie der Gerechtigkeit versuchte Rawls die Frage zu beantworten, wie innerhalb eines Landes für Fairness gesorgt werden kann. Aber in einer späteren Arbeit, Das Recht der Völker, ging Rawls weiter und wandte sich der globalen Governance und der globalen Gerechtigkeit zu. In diesem Buch behandelte Rawls teils explizit und teils implizit die globale Einkommensungleichheit und die globale Einkommensumvertei­ lung - und lehnte eine globale Anwendung des Unterschiedsprin­ zips ab. Auf globaler Ebene angewandt, würde das Unter­ schiedsprinzip natürlich bedeuten, dass jede Zunahme der globalen Ungleichheit nur dann gerechtfertigt wäre, wenn sie die Lage der ärmsten Menschen in der Welt verbessern würde. Bevor wir uns der eigentlichen Frage der globalen Einkom­ mensverteilung zuwenden, sollten wir uns ansehen, was Rawls über die Migration dachte. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn an anderer Stelle haben wir gesehen, dass die Migration ihren Ur­ sprung in den großen Einkommensunterschieden zwischen den Ländern hat - über die die Menschen in den armen Ländern dank der Globalisierung heute sehr viel besser informiert sind. Und ebenfalls dank der Globalisierung kostet die Auswanderung heute sehr viel weniger als in der Vergangenheit (siehe Skizzen 2.3 bis 211

Skizze 3.8

2.5). Rawls will das Recht zur Migration auf Menschen beschrän­ ken, die vor politischer oder religiöser Verfolgung fliehen. Den Hauptgrund für die Migration, nämlich der Wunsch nach einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage - der so viele Bürger der Vereinigten Staaten (und vermutlich auch Rawls' Vorfahren) an­ gelockt hat - lehnt er ausdrücklich ab: Im vorliegenden Fall ist das fragliche Besitztum das Territorium eines Volkes und das in diesem gelegene Potenzial, das Volk dauerhaft zu unterhalten, und der Akteur ist das Volk selbst als eine politisch organisierte Einheit. [Ein Volk muss] anerken­ nen, dass ein unverantwortlicher Umgang mit dem eigenen Land und seinen natürlichen Ressourcen nicht durch kriegeri­ sche Eroberungen oder durch Migration in das Territorium eines anderen Volkes ohne dessen Zustimmung ausgeglichen werden kann. 176 Daraus darf man schließen, dass Rawls es für gerechtfertigt hält, dass die reichen Länder Hindernisse für Zuwanderer errichten. Wie diese Textstelle zeigt, betrachtet er jedes Volk als Hüter seiner eigenen Kultur, seiner Traditionen und seines Territoriums. Daher hat jedes Volk das Recht, Angehörige anderer Völker aufzuneh­ men oder an der Ansiedlung auf seinem Territorium zu hindern. Auf diese Art würde, wenn es nach Rawls geht, eines der wichtig­ sten Instrumente zur Angleichung der Lebensbedingungen in der Welt dauerhaft beseitigt. Aber Rawls Desinteresse an der globalen Ungleichheit geht noch weiter. Auslandshilfe heißt er nur dann gut, wenn sie nötig ist, um „belasteten Gesellschaften" zu helfen, sich in „wohlgeord­ nete Gesellschaften" zu verwandeln. Wir wollen diese beiden Be­ griffe kurz erläutern. ,,Belastete Gesellschaften" sind solche, die aus historischen Gründen ein niedriges Einkommensniveau ha­ ben, was sie daran hindert, Regeln für legitime politische Einrich­ tungen und Respekt für die grundlegenden Menschenrechte zu entwickeln. Diese beiden Elemente sowie die Friedfertigkeit ge212

Warum war Rawls gleichgülcig gegenüber der globalen Ungleichheit?

genüber anderen Völkern kennzeichnen eine „wohlgeordnete Ge­ sellschaft". Nur in Fällen, in denen die Entwicklung zu einer ,,wohlgeordneten Gesellschaft" durch verbreitete Armut unmög­ lich gemacht wird, haben liberale Gesellschaften die Pflicht, ,,durch ungünstige Umstände belasteten Gesellschaften" zu hel­ fen. Die Hilfe wird nur so lange fortgesetzt, bis eine „belastete Gesellschaft" nicht länger durch materielle Armut daran gehin­ dert wird, sich eine legitime Regierung zu geben und die Men­ schenrechte zu schützen.177 Ist das erreicht, so erlischt die Pflicht zur Hilfeleistung. Hat sich eine belastete Gesellschaft einmal in eine wohlgeord­ nete verwandelt, so spielen die Einkommensunterschiede zwi­ schen den Ländern keine Rolle mehr: ,,Sobald [ ...] alle Völker eine arbeitsfähige liberale oder achtbare Regierung haben, gibt es keinen Grund, den Abstand zwischen dem durchschnittlichen Wohlstand verschiedener Völker zu verringern."178 Rawls ist über­ zeugt, dass die Einkommensunterschiede das Ergebnis kollektiver Präferenzen sind: Manche wohlgeordnete Gesellschaften ziehen es vor zu sparen, anstatt ihr Geld auszugeben, andere ziehen es vor, härter zu arbeiten, anstatt mehr Freizeit zu genießen. Das führt zu unterschiedlichen Ergebnissen: Manche Gesellschaften werden wohlhabender als andere. Im Grunde sind diese Unterschiede un­ erheblich, da der Wohlstand einer Gesellschaft einfach ihre Ent­ scheidungen widerspiegelt.179 Eine zunehmende Ungleichheit der Durchschnittseinkommen in verschiedenen Ländern (Einkommensdivergenz), mit der wir uns in den Skizzen 2.1 und 2.2 beschäftigt haben, wäre demnach durchaus akzeptabel - solange die Länder „wohlgeordnet" sind. Vielleicht hätte Rawls der Einschätzung zugestimmt, dass viele der ärmsten Länder der Welt tatsächlich „belastet" sind, weshalb die reiche Welt ihnen helfen sollte (insofern hätte ihn die Einkom­ mensdivergenz also durchaus interessiert), aber die Einkommens­ divergenz zwischen wohlgeordneten Gesellschaften hätte er zwei­ fellos nicht als Problem betrachtet. Sowohl Indien als auch die Vereinigten Staaten sind wohlgeordnete Länder. Damit erübrigt 2 13

Skizze 3.8

sich Rawls zufolge jegliche Unterstützung für Indien, da sich die materielle Armut dieses Landes einfach aus den Entscheidungen der indischen Gesellschaft ergibt. Ganz klar sagt dies Joshua Co­ hen, einer der einflussreichsten Rawls-Schüler: ,,Wenn wir einmal den Wert der kollektiven Selbstregierung akzeptieren, gibt es kei­ nen Grund mehr, auf eine Konvergenz der Lebensstandards zu hoffen - die ausbleibende Konvergenz ist kein Mangel, der beho­ ben werden müsste." 180 Die Position, die Rawls vertritt, wurzelt in zwei miteinander verknüpften Annahmen: (1) Ausschlaggebend sind die politischen Institutionen (einer „funktionierenden liberalen Regierung", das heißt politische Institutionen, welche die Interessen aller Bürger berücksichtigen) und der Respekt für die grundlegenden Men­ schenrechte. (2) Der Vermögenserwerb wird als individuelles oder gesellschaftliches Ziel abgelehnt. Mit der zweiten Annahme weicht Rawls offenkundig von den meisten Ökonomen und der vorherrschenden Ansicht ab. Wenn keine massive Migration zugelassen werden soll und wenn die Durchschnittseinkommen der Länder auseinanderdrif­ ten dürfen, wird die Ungleichheit in der Welt selbst dann, wenn sie sich strikt an jene Regeln hält, die Rawls in Das Recht der Völker aufstellt, in Zukunft nicht sehr viel anders aussehen als jetzt. Än­ dern kann sich nur die Einkommensungleichheit innerhalb der Länder. Für diese gelten die in Eine Theorie der Gerechtigkeit auf­ gestellten Regeln, die besagen, dass Ungleichheit nur gerechtfer­ tigt ist, wenn sie nötig ist, um das absolute Einkommen der ärms­ ten Mitglieder der Gesellschaft zu erhöhen. Wir könnten beispielsweise argumentieren, dass es für die gegenwärtig existie­ rende Ungleichheit in den Vereinigten Staaten, Frankreich, China oder Russland keine solche Rechtfertigung mehr gibt, weshalb die Einkommensunterschiede in diesen Ländern in einer Welt, die sich an die rawlsschen Regeln hält, verringert werden müssten. Nehmen wir also an, dass die Ungleichheit innerhalb der Länder überall verringert wird. Aber in unserer früheren Auseinanderset­ zung mit der globalen Ungleichheit haben wir gesehen, dass die 214

Warum war Rawls gleichgülcig gegenüber der globalen Ungleichheit?

Ungleichheit innerhalb der Länder nur einen kleinen Teil der glo­ balen interpersonalen Ungleichheit erklärt (10 bis 20 Prozent ab­ hängig vom verwendeten Maß). Selbst wenn die Ungleichheit in den einzelnen Ländern der Welt auf das geringste je registrierte Maß verringert würde, würde die globale Ungleichheit daher nur um wenige Prozentpunkte sinken. Wir können noch einen Schritt weitergehen und von der beinahe absurden Annahme ausgehen, die Ungleichheit innerhalb aller Länder der Welt wäre null: Jeder Mensch auf der Erde hätte das Durchschnittseinkommen seines Landes. Wir wissen genau, wie groß die globale „rawlssche Un­ gleichheit" in diesem Fall wäre (rufen wir uns in Erinnerung, dass die Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der Länder unberührt blieben): Das Ausmaß der globalen Ungleich­ heit würde nicht bei 70, sondern bei 63 Gini-Punkten liegen. Selbst in diesem vollkommen unglaubwürdigen Szenario würde die globale Ungleichheit also lediglich um 10 Prozent verringert. Der Grund dafür ist selbstverständlich, dass die globale Ungleich­ heit heute vor allem von den Einkommensunterschieden zwischen den Ländern geprägt wird, und dieser Ungleichheit setzt Rawls keine Grenzen. Aus diesem Grund würde Rawls weder an der Einkommensdi­ vergenz noch an einer sehr ausgeprägten globalen Ungleichheit Anstoß nehmen. Möglicherweise ist unsere Interpretation zu ka­ tegorisch, und vielleicht hätte Rawls angesichts der Fakten zur globalen Ungleichheit, die zu der Zeit, als er Das Recht der Völker schrieb, nicht allgemein bekannt waren, seinen Standpunkt noch einmal überdacht. Aber seine Schriften lassen keinen solchen Schluss zu.

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Skizze 3.9

Die Geopolitik im Licht der Ökonomie (oder: Eine ökonomisch aufgeklärte Geopolitik)

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wischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Berliner Mauer herrschte eine durchaus annehmliche intel­ lektuelle Spaltung der Welt. Wir wussten alle, dass es auf diesem Planeten drei Welten gab. Da war zunächst die Erste Welt der reichen kapitalistischen Volkswirtschaften. Nicht alle von ihnen waren zu jener Zeit Demokratien, aber im Lauf der Zeit wurden sie es (zum Beispiel Griechenland, Spanien und Portugal); nicht alle waren westliche Länder (Japan wirkte wie eine permanente große Ausnahme). Sodann gab es eine Zweite Welt, obwohl der Begriff sonderba­ rerweise nur selten verwendet wurde. Dies war eher eine implizite Bezeichnung: Da es eine erste und eine dritte Welt gab, musste es auch eine zweite geben. Die Zweite Welt war die Welt der sozia­ listischen Länder mit ihren Einparteienregimes. Selbstverständ­ lich bezeichneten sich diese Länder selbst nie als Zweite Welt, da sie sich als Avantgarde des gesellschaftlichen Wandels in der Welt betrachteten und glaubten, weiter als die anderen Länder entwi­ ckelt zu sein - obwohl sie nicht behaupten konnten, reicher als die kapitalistischen Länder des Westens zu sein. Und dann gab es noch die Dritte Welt. Anders als die ersten beiden war sie sehr heterogen. Zu dieser Welt gehörten Riesenrei­ che wie Indien und winzige Länder wie der Tschad. Sie umfasste einigermaßen entwickelte Länder wie Brasilien und arme wie Ne­ pal. Sie beinhaltete uralte Zivilisationen wie Ägypten und erst vor relativ kurzer Zeit entdeckte wie Papua-Neuguinea. Im Prinzip war sie deckungsgleich mit den drei „südlichen" Kontinenten: Lateinamerika, Asien und Afrika. Die Dritte Welt wurde im We­ sentlichen negativ definiert, das heißt als das, was sie nicht war: Sie war nicht Europa, sie war nicht die Vereinigten Staaten und sie 216

Die Geopolitik im Licht der Ökonomie

war nicht die Sowjetunion. Eine Gemeinsamkeit vieler Länder der Dritten Welt war, dass sie ein Jahrhundert oder länger von Euro­ päern beherrscht worden waren und ihre Unabhängigkeit erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlangt hatten. Aber auch das traf nicht auf alle zu: Die lateinamerikanischen Länder waren fast 150 Jahre früher unabhängig geworden, und einige Länder der Dritten Welt, zum Beispiel Thailand, waren nie kolonisiert worden. China nahm damals wie heute eine Sonderstellung ein. Ob­ wohl sich das Land unter Mao zumindest verbal hinter die Länder der Dritten Welt stellte, schloss es sich offiziell nie einer ihrer Or­ ganisationen wie der Bewegung der Blockfreien oder der Gruppe der 77 an. V ielleicht wurde China durch den Wettbewerb mit der Sowjetunion um die Führungsposition im sozialistischen Lager abgelenkt, vielleicht lag es an seiner Größe, die China paradoxer­ weise davon abhielt, eine allzu aktive Rolle zu übernehmen, weil es sich nicht dem Verdacht aussetzen wollte, eine Hegemonialstel­ lung in der Dritten Welt anzustreben. V ielleicht entschloss sich China auch einfach aus historischen Gründen, auf eine globale Rolle zu verzichten. Diese Vorstellung von einer „dreigeteilten" Welt - so unange­ messen sie in bestimmten Fällen auch sein mag181 - war im Gro­ ßen und Ganzen durchaus vernünftig und erlaubte uns, die Welt zumindest im Geist einigermaßen klar zu sortieren. Und sie ent­ sprach in groben Zügen der wirtschaftspolitischen Aufteilung der Welt. Die Erste Welt war kapitalistisch, aber nicht monolithisch. Da gab es die wohlfahrtsstaatlichen Länder Mittel- und Nordeu­ ropas und die eher privatwirtschaftlich ausgerichteten Vereinigten Staaten. Das herausragende Merkmal der Zweiten Welt war das Staatseigentum an den Produktionsmitteln, aber auch dort gab es Heterogenität, denn neben dem planwirtschaftlichen System der Sowjetunion existierte das jugoslawische System, das den Markt­ kräften einen gewissen Spielraum ließ. Man könnte durchaus sa­ gen, dass die Dritte Welt von einer „developmentalistischen" Po­ litik geprägt wurde: Der Staat griff nicht nur (wie in vielen westlichen Ländern) mit der Steuer- und Ausgabenpolitik in die 217

Skizze 3.9

Volkswirtschaft ein, sondern spielte auch eine aktive Rolle in der Produktion. Die staatlich gelenkte Entwicklung und die Import­ substitution waren Leitprinzipien in so unterschiedlichen Län­ dern wie Brasilien, der Türkei, Indien, Tansania und Ghana. Möglicherweise entscheidend war, dass diese Unterteilung auch den Einkommensniveaus der Länder in den drei Welten ent­ sprach. Im Jahr 1975, als die Dreiteilung der Welt so klar wie zu keinem anderen Zeitpunkt war (kurz vor der zweiten Ölkrise, vor der Schuldenkrise der achtziger Jahre und vor Chinas wirtschaft­ lichem Aufbruch), bestand die Erste Welt aus Ländern mit einem BIP pro Kopf zwischen weniger als 10 000 KKP-Dollar (Portugal) und 27 000 KKP-Dollar (Schweiz). 182 Die Zweite Welt war deut­ lich ärmer: Die höchsten Einkommen in diesen Ländern über­ schritten kaum die niedrigsten in der Ersten Welt. Die Spanne der Einkommen in der Zweiten Welt reichte von unter 2000 KKP­ Dollar in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion bis zu 14 000 KKP-Dollar in Slowenien und der Tschechischen Re­ publik. Die Dritte Welt bestand aus einer Reihe von Ländern, deren Einkommen in der Nähe des Subsistenzniveaus lagen, das heißt unter 500 KKP-Dollar (das galt für China und viele Länder in Subsahara-Afrika), während Länder wie Algerien und Südkorea 4000 KKP-Dollar erreichten und etwas wohlhabendere Länder wie Mexiko und Brasilien auf ein BIP pro Kopf von etwa 7000 KKP-Dollar kamen. 183 Daraus ergibt sich die folgende Ver­ teilung des BIP pro Kopf: In der Ersten Welt lag es zwischen 10 000 und 27 000 KKP-Dollar, in der Zweiten Welt zwischen 2000 und 14 000 KKP-Dollar und in der Dritten Welt zwischen 400 und 7000 KKP-Dollar. Trotz einiger offenkundiger Über­ schneidungen war es eine einigermaßen saubere Aufteilung, die heute nicht mehr möglich wäre. In den neunziger Jahren wurde diese Ordnung gesprengt. Die Zweite Welt hörte auf zu existieren, da viele ihrer Mitglieder den Anschluss an die Erste Welt fanden - zehn ehemals kommunisti­ sche Länder wurden in die Europäische Union aufgenommen, andere schlossen sich der NATO an, der Einrichtung der Ersten 218

Die Geopolitik im Licht der Ökonomie

Welt par excellence -, und auch die Dritte Welt löste sich auf. Der Wirtschaftsaufschwung der asiatischen Pazifikregion, der nach Ja­ pan auch Singapur, Südkorea und Taiwan und schließlich Malay­ sia erfasste, hob den Wohlstand dieser Region auf das Niveau der hochentwickelten westlichen Länder. Diese asiatischen Staaten wurden durch ihren wachsenden Reichtum praktisch Teil der Ers­ ten Welt und entwickelten auch demokratische Institutionen, die Ähnlichkeit mit denen der Ersten Welt hatten. Gleichzeitig tru­ gen der Wirtschaftsaufschwung Chinas und der Aufstieg Deng Xiaopings und seiner konservativen Nachfolger, die sehr geringes Interesse an „typischen" Dritte Welt-Themen zeigten, dazu bei, den Zusammenhalt der Dritten Welt zu schwächen. Auch Indien löste sich von der Ideologie und wandte sich der wirtschaftlichen Entwicklung zu. Es war nicht mehr klar, was die Länder der Drit­ ten Welt gemein hatten, und die in der Vergangenheit so aktive Bewegung der Blockfreien Länder verschwand in der Versenkung. Die stets eher vorgeschützte als reale Solidarität der Dritten Welt löste sich auf, und die wirtschaftliche Entwicklung (oder die man­ gelnde Entwicklung), die religiösen Konflikte und die regionalen Spannungen traten wieder in den Vordergrund. In welche Kategorien können wir die Welt des 21. Jahrhunderts unterteilen? Offensichtlich gibt es noch immer eine Erste Welt. Sie ist durch die Aufnahme einiger ehemaliger Mitglieder der Zweiten und Dritten Welt deutlich gewachsen. Die Zweite Welt gibt es nicht mehr, aber es gibt Russland, dessen Ziel eine Vormachtstel­ lung im eurasischen Raum ist, wo es Einfluss auf die Entwicklung der nicht in die Erste Welt aufgestiegenen Länder nehmen will, so wie Frankreich die Entwicklung seiner ehemaligen afrikanischen Kolonien beeinflusst. Sodann sind da die arabischen Länder, die untereinander in Besitzende und Habenichtse gespalten sind (wo­ bei die Zugehörigkeit eines Landes zur einen oder anderen Gruppe ausschließlich davon abhängt, ob es zufällig auf Ölvorkommen sitzt) und kaum als Block betrachtet werden können. Lateinamerika ist die einzige Region, von der wir sagen kön­ nen, dass sie noch die typischen Merkmale der ehemaligen Drit219

Skizze 3.9

ten Welt aufweist. Als einzige versucht diese Region, wie die Drit­ te Welt der sechziger und siebziger Jahre einen anderen wirtschaftspolitischen Weg zu gehen als die westlichen Länder. Es ist bezeichnend, dass Politiker wie Nestor Kirchner, Lula de Silva, Evo Morales und Hugo Chivez fast zur selben Zeit auf der Bild­ fläche erschienen. Es überrascht nicht, dass Lateinamerika, das so wenig von der Globalisierung 2.0 profitiert hat, der einzige Teil der Welt ist, der mit einer alternativen Politik experimentiert. In Anbetracht ihrer Wirkung in der Vergangenheit ist von diesen Alternativen eher wenig zu erwarten, denn die Unterschiede sind nicht substanziell, sondern bestehen eher in Details. Aber da die Welt wirtschaftspolitisch sehr viel homogener geworden ist, we­ cken sogar geringe Abweichungen von der Orthodoxie des Wa­ shington Consensus Aufmerksamkeit. Afrika gehört selbstverständlich weiterhin zur Dritten Welt, aber in Anbetracht dessen, dass seine Armut kaum verringert wur­ de und dass viele afrikanische Länder im letzten Viertel des 20. Jahrhundert weiter zurückgefallen sind, könnte man auf weite Teile dieses Kontinents sogar die unerfreuliche Bezeichnung einer ,,Vierten Welt" anwenden. China ist nach wie vor eine Welt für sich. Sein Einkommen ist heute offenkundig sehr viel höher als früher, aber seine Bestrebun­ gen sind so undurchschaubar wie eh und je, und es ist unverän­ dert ambivalent bezüglich der internationalen Rolle, die es spielen will, und bezüglich der Frage, ob es überhaupt eine Rolle spielen will. Eines der auffälligsten Merkmale Chinas ist, dass sein un­ glaublicher Wirtschaftsaufschwung, der mit einer neuartigen Mi­ schung von Rezepten erreicht wurde, die sich deutlich von einer Wirtschaftspolitik im Sinne des Washington Consensus unter­ scheidet, keinerlei „kodifizierte" Regeln für das wirtschaftspoliti­ sche Verhalten hervorgebracht hat. Es wird nicht versucht, diese politischen Maßnahmen „zu einem Paket zu schnüren" und zu erklären, wie sie anderswo funktionieren könnten; mit anderen Worten, China versucht nicht, ein bestimmtes Entwicklungsmo­ dell oder eine wirtschaftliche Ideologie zu „verkaufen". Stellen wir 220

Die Geopolitik im Licht der Ökonomie

dies der Tatsache gegenüber, dass die Welt im Jahr 1776, als die industrielle Revolution gerade einmal so alt war wie das chinesi­ sche „Wirtschaftswunder" heute ist, in Adam Smiths Wealth of Nations bereits klar definierte Regeln für den wirtschaftlichen Er­ folg besaß. Rufen wir uns seine unsterblichen Worte in Erinne­ rung: ,,Um einen Staat auf die höchste Ebene des Wohlstands zu heben, braucht man lediglich Frieden, niedrige Steuern und eine erträgliche Anwendung des Rechts." 184 Aus China oder von den nicht chinesischen Gelehrten, die in China arbeiten oder glauben, das chinesische Wirtschaftswunder zu verstehen, hören wir nichts Derartiges - genauer gesagt, wir hören fast überhaupt nichts. Es hat den Anschein, als sei die Entwicklung des Landes das Ergebnis einer Reihe einzigartiger und nicht wiederholbarer glücklicher Fü­ gungen und Umstände, die nicht durch irgendein großes Konzept verknüpft sind. Nur ein wenig Herantasten, einige Experimente und ein paar Glückstreffer. Vielleicht war es tatsächlich so. Aber wenn ein Land vorgibt, weltweiten Einfluss auszuüben (oder ihn anstrebt), muss es nicht nur Spielzeug und Videorekorder verkau­ fen, sondern der Welt auch eine Ideologie anbieten, eine Vorge­ hensweise. Dazu ist China bisher nicht in der Lage oder nicht willens. Wenn es ihm nicht gelingt, nachvollziehbare Lehren aus seinem Erfolg anzubieten, wird sein ideologischer Einfluss be­ schränkt bleiben. Dass es gegenwärtig schwierig ist, eine Klassifizierung vorzu­ nehmen, liegt in erster Linie an der Heterogenität Asiens (damit haben wir uns in Skizze 3.4 beschäftigt). Asien besteht aus meh­ reren Ländern der Ersten Welt (Japan, Südkorea, Taiwan, Singa­ pur), zwei immer noch sehr armen Riesenreichen, die nicht klar eingeordnet werden können (Indien und China), zahlreichen ex­ trem armen Ländern, die teilweise versuchen, die Erfolgsrezepte Japans und Südkoreas anzuwenden (Thailand und Indonesien), sowie einigen Ländern, die aufgrund ihres Einkommens und ihrer wirtschaftlichen Trägheit der Vierten Welt anzugehören scheinen (Burma, Kambodscha, Laos). Würden wir eine wirtschaftliche Klassifizierung versuchen, so müssten wir einige Teile Asiens der 221

Skizze 3.9

reichen Welt und andere der V ierten Welt zuschlagen. Allerdings haben die armen Länder Asiens offenkundig wenig mit den armen Ländern Afrikas gemein: Anders als die Dritte Welt der Vergan­ genheit haben sie nie versucht, gemeinsame Interessen zu verfol­ gen oder eine gemeinsame Politik zu betreiben, geschweige denn einen Block armer Länder zu bilden. Andere Kontinente sind leichter einzustufen. Ganz Europa (mit Ausnahme Russlands) dürfte letzten Endes Teil der Europäi­ schen Union werden und damit wieder in die Erste Welt integriert werden. Die größte Herausforderung in diesem Jahrhundert wird darin bestehen, den wirtschaftlichen Fortschritt Afrikas in Gang zu bringen, da der Kontinent andernfalls in fast allen Bereichen zurückfallen dürfte und nicht mehr „absorbiert" werden kann. Europa sollte aufgrund der geographischen Nähe, der historischen Beziehungen und der Erfahrungen mit einer erfolgreichen Inte­ gration ärmerer Länder in die Europäische Union eine Führungs­ rolle bei der Entwicklung Afrikas übernehmen. Natürlich sind die Unterschiede zwischen den afrikanischen Ländern und den in die Union integrierten europäischen Ländern gewaltig. Aber es könn­ te eine weiterentwickelte politische und wirtschaftliche Partner­ schaft zwischen der EU und Subsahara-Afrika angestrebt werden, wären da nicht die wachsende Abneigung gegen Erweiterungen der Union, der Mangel an politischer V ision und die Zweifel der Europäer an ihrer Fähigkeit, sich in einer globalisierten Welt be­ haupten zu können, in der sich nicht nur Kapital und Güter, son­ dern auch Menschen ungehindert bewegen werden (siehe Skizzen 2.4 und 2.5). Daher wird sich Afrika aus eigener Kraft aus der Armut befrei­ en müssen. Es wäre zweifellos zu begrüßen, würde der Kontinent selbst auf die Beine kommen, denn ein Erfolg, den man eigen­ ständig erreicht, ist wahrscheinlich dauerhafter. Aber die Verfech­ ter der These, Afrika werde durch die Entwicklungshilfe und durch eine übertriebene Zuwendung von außen gebremst und werde sich besser entwickeln, wenn man es sich selbst überlasse, müssen die Tatsache anerkennen, dass Westeuropa, Ostasien und 222

Die Geopolitik im Licht der Ökonomie

Südeuropa ihren Erfolg der politischen Bereitschaft anderer Län­ der verdankten, ihnen unter die Arme zu greifen. 185 In den beiden ersten Fällen halfen die Vereinigten Staaten, die eine Ausbreitung des Kommunismus verhindern wollten, Westeuropa und Ländern wie Japan und Südkorea durch die Unterstützung des wirtschaft­ lichen Wiederaufbaus und durch den Freihandel, neuen Wohl­ stand zu schaffen. 186 Südeuropa profitierte von der Integration in die reiche Europäische Union (in der vermutlich auch Osteuropa wirtschaftlich gesunden wird). Wenn wir diese Analogie heranzie­ hen, ist klar, dass auch Afrika anfangs mitgeschleppt werden müsste. Und das könnte eigentlich nur Europa bewältigen, denn obwohl Chinas Investitionen in Afrika in letzter Zeit für großes Aufsehen gesorgt haben, dürfte seine Rolle auf diesem Kontinent aus den zuvor genannten ideologischen Gründen und aufgrund der Tatsache, dass es immer noch vergleichsweise arm ist, be­ schränkt bleiben. Die wichtigsten Herausforderungen im 21. Jahrhundert kön­ nen wir wie folgt zusammenfassen: Afrika muss wirtschaftlich aufgebaut werden. China muss friedlich in die Welt integriert werden. Lateinamerika muss aus seiner Selbstfixierung gerissen und in die reale Welt geholt werden. Und all diese Aufgaben müs­ sen wir bewältigen, ohne den Frieden zu gefährden und ideologi­ sche Kreuzzüge zu führen. Vor einem Jahrhundert schrieb Konstantinos Kavafis: 187 Menschen kennen nur das heutige Geschehen. Was in der Zukunft wird, die Götter kennen's, die allein begabt sind mit Allwissenslicht.

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Anmerkungen

Ich danke Francisco Ferreira für seine hilfreichen Kommentare zu diesem Essay. 2 Alle Grundbesitzer, deren Land besser war als die Böden mit Grenznutzen, würden dann höhere Grundrenten erzielen. 3 V gl. ,,Response by Thomas Piketty and Emmanuel Saez to: ,Tue Top 1% ... ofWhat' by Alan Reynolds", zugänglich unter: http://www.econ.berkeley. edu/ �saez/answer-WSJreynolds.pdf Diese Analogie stellte Francisco Ferreira erstmals her; vgl. Ferreira. Juni 4 2007. ,,Inequality as Cholesterol". In: Poverty in Focus. Brasilia: Internatio­ nal Poverty Center. 5 Max Weber. 1986. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1: 35. 6 J.M. Keynes. 2014. Krieg und Frieden: Die wirtschaftlichen Folgen des Ver­ trags von Versailles. Berlin: Berenberg: 51. 7 Stefan Zweig. 1942. Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers. http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-welt-von-gestern-6858/3. 8 Dies ist die sogenannte Medianwählerhyp othese, entwickelt von Kevin Ro­ berts. 1977. ,,Voting over Income Tax Schedules". In:Journal ofPublic Eco­ nomics 8: 329-340, sowie Allan Meltzer und Scott Richard. 1981. ,,A Rati­ onal Theory of the Size of Government". In: Journal ofPolitical Economy 89: 914-927. Es ist möglich, dass die Wachstumseffekte sogar ohne reale Umverteilung 9 negativ bleiben. Beispielsweise können sich die Reichen, um eine politische Vormachtstellung der Armen zu verhindern, zusammentun und mit Lob­ bying Stimmen und für sie vorteilhafre Gesetze kaufen, clie eine Umvertei­ lung verhindern. Aber dieses Lobbying, das ein klassisches Beispiel für eine k unproduktive Ativität ist (weil es ein Nullsummenspiel ist, in dem es nicht um die Schaffung von Wohlstand, sondern nur um die Umverteilung geht), ist mit Blick auf das Wirtschaftswachstum reine Verschwendung und führt zu langsamerem Wachstum. 10 V gl. Oded Galor. 2002. ,,Income Distribution and the Process of Develop­ ment". In: European Economic Review 44: 706-712; sowie Oded Galor und Omer Moav. 2004. ,,From Physical to Human Capital Accumulation: In­ equality and the Process of Development". In: Review ofEconomic Studies 71: 1001-1026. 11 Platon. Der Staat. Teil. IV. http://www.opera-platonis.de/Politeia4.pdf. 12 „On the Measurement of Inequaliry". In: Journal of Economic 7heory 2, 1970.

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Anmerkungen 13 Amartya Sen. ,,Equality ofWhat?" Tanner Lecture on Human Values, ge­ halten an der StanfordUniversity, 22. Mai 1979, zugänglich unter: http:// www.tannerlectures.utah.edu/lectures/sen80.pdf V gl. auch Amartya Sen. 2000. ,,Social Justice and the Distribution of Income", in: A. B. Atkinson und F. Bourguignon (Hrsg.). Handbook ofIncome Distribution. Bd. 1. Ams­ terdam: Elvesier. 14 Genau das sagt Sen: Er definiert das Erfordernis der Gleichheit für alle nicht länger in Bezug auf den Nutzen, sondern in Bezug auf die Fähigkeiten. 15 Einige Ökonomen glauben, dass man internationale Vergleiche des Nutzens anstellen kann, indem man annimmt, dass die Menschen neben ihren eige­ nen Maßstäben für den Nutzen auch empachische Maßstäbe haben, an denen sie den von anderen gezogenen Nutzen „messen" können. Die präzisen Werte, die anhand von empachischen und individuellen Maß­ stäben des Nutzens ermittele werden, könnten unterschiedlich sein, aber sie wären „transitiv" (wenn man den einen kennt, kennt man auch den ande­ ren), so wie beispielsweise die Celsius- und Fahrenheit-Skalen. Die Idee gehe zurück auf John Harsanyi. 1955. ,,Cardinal Welfare, Individualiscic Echics, and ehe Inter-personal Comparisons ofUcilicy". In: Journal ofPoli­ tical Economy 63: 309-321. 16 John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. 14. Aufl. Berlin: Suhrkamp: 31. 17 Ebd.: 83. 18 Rawls schloss die Situation, in der die absoluten Verbesserungen sowohl den Reichen als auch den Armen zugutekommen (was demUnterschiedsprinzip entspricht), während jene in der Mitte der Einkommensverteilung verlie­ ren, indirekt aus. Er glaubte, die Einkommensverteilung werde sich wie eine einzige fest verbundene Kette verhalten (vgl. die Definition der „Kopplung" in Kap. 2, Abschnitt 13). 19 Das beinhaltet die Tatsache, dass die reiche Person immer noch reicher ist, weil die beiden andernfalls den Platz tauschen könnten, und dann wäre es unfair zu sagen, dass dieUngleichheit abgenommen hat. 20 Das letzte Axiom ist jedoch nicht so offenkundig und harmlos. Es bedeutet, dass der Wert selbst dann unverändert bleibe, wenn die absoluten Einkom­ mensunterschiede zwischen den Personen wachsen.Ungleichheitsmaße, die diesem Axiom gehorchen, werden als „relativ" bezeichnet und in den meis­ ten Fällen werden nur solche Maße verwendet. Aber absolute Maße (die steigen würden, wenn die absoluten Einkommensunterschiede wachsen) können nicht vollkommen herausgerechnec werden. 21 Corrado Gini. März 1921. ,,Measurement ofinequality ofincomes", In: Economic Journal: 124. 22 Lateinamerika und Osteuropa sind in einer besseren Lage. Dort wurden ab den sechziger Jahren zuverlässige Erhebungen durchgeführt. Leider sind viele von ihnen verloren gegangen und es sind nur noch einige allgemeine statistische Maße erhalten. Die alten und verlorenen lateinamerikanischen Erhebungen erinnern uns an die Orrschafc Macondo in Hundert Jahre Ein-

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Anmerkungen

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samkeit, wo die Vergangenheit langsam im Nebel verschwindet, bis sie sich in einen Mythos verwandelt. Zurück bleiben nur einige Artefakte (ein oder zwei Überblicksstatistiken). Dasselbe kann man statt mit dem Einkommen auch mit dem Konsum der Haushalte tun. Dann sagen wir, dass wir uns statt für das Einkommen der Haushalte - also dafür, wie viel sie hätten konsumieren können - für die „Wohlfahrt" der Haushalte interessieren - dafür, was die Haushalte wirklich konsumiert haben. Die beiden Summen sind identisch. Nach Aussage von Michele Zenga [1987. ,,II contribuco degli icaliani allo studio della concentrazione: Prima parte: Dal 1895 al 1915". In: M. Zenga (Hrsg.). La distribuzione personale de! reddito: Probfemi di formazione, di ripartizione e di misurazione. Mailand: Vita e Pensiero: 307-328], beschrieb Gini die Konzentrationsrate, die später in Gini-Koeflizient umbenannt wurde, erstmals in einem 1914 erschienenen Artikel: ,,Sulla misura della concentrazione e della variabilita dei caratteri". In: Atti de! Reale Istituto Veneto di Scienze, Lettere edArti. Venedig: Premiate Oflicine Grafiche Carlo Ferrari. 1914. Bd. 73. Teil 2a: 1203-1248. Ich danke Andrea Brandolini für diese Information. Auf der GrundJage von Daten des Bureau of the Census zum verfügbaren Gesamteinkommen aus Andrea Brandolini und Tim M. Smeeding. 2008. „Inequality Patterns in Western Democracies: Cross-Country Differences and Changes over Time". In: Pablo Beramendi und Christopher J. Ander­ son (Hrsg.). Democracy, Inequality, and Representation: A Comparative Per­ spective. New York: Russell Sage Foundation. Abb. 2.5. Vgl. auch eine de­ taillierte Studie von Richard V. Burkhauser et al. August 2008. Estimating Trends in US. Income Inequality Using the Current Population Survey: The Importance of Controllingfor Censoring. Working Paper 14247. Cambridge,

MA: National Bureau of Economic Research. 27 Ich danke Michele de Nevers, Carol Leonard und Blanca Sanchez Alonso für ihre erhellenden Kommentare. 28 Ein moderner Kommentator definiert, was dieses Einkommen in Jane Aus­ tens Büchern bedeutet: ,,Bei 2000 Pfund pro Jahr (dem Einkommen von Mr. Bennet, einem Angehörigen des Landadels in Stolz und Vorurteil und von Oberst Brandon in Verstand und Gejuhl) muss der Haushalt noch streng geführt werden, insbesondere in Stolz und Vorurteil, da die Familie fünf Töchter hat, die eine Aussteuer brauchen. [ ...] Mrs. Jennings in Ver­ stand und Gefiihl macht deutlich, dass die Familie mit 2000 Pfund im Jal1r ein angenehmes, ruhiges Leben genießen kann, als sie Oberst Brandons Pfründe in Delaford als ,schuldenfrei und ohne Nachteile' beschreibt: Die­ ser Ort hat ,alles, was man sich wünschen kann ... Oh, es ist ein hübscher Ort."' (Edward Copeland. 1997. ,,Money". In: Edward Copeland und Ju­ liet McMaster (Hrsg.). The Cambridge Companion to ]ane Austen. Cam­ bridge: Cambridge Universiry Press: 156).

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Anmerkungen 29 Ausgehend von einer jährlichen Rendite von 4 bis 5 Prozent auf ein Vermö­ gen von 200 000 Pfund. 30 Auf der Grundlage von Robert Colquhouns Tabellen zur Sozialstatistik. 31 Ich danke Natalia Drozdova Petrova für ihre ausführlichen und sehr hilfreichen Kommentare. 32 Leo Tolstoi. 1985. Anna Karenina. Zürich: Diogenes: 1090. 33 Ebd.: 28. 34 Ebd.: 465 f. 35 Dies beruht auf der Interpretation des Gesprächs zwischen Wronskij und seinem Bruder (Teil. 5, Kapitel 13) und der anschließenden Erhöhung sei­ ner Ausgaben. 36 Unter der Annahme, dass Annas Sohn bei seinem Vater Alexej Karenin bleibt, während die Tochter, die sie mit Wronskij hat, bei ihr und ihrem neuen Partner bleibt. 37 Das erfahren wir indirekt: Erstens lebt sie mit ihrer reichen Tante (die ver­ mutlich sehr viel reicher als ihre Eltern ist) und zweitens war ihre Heirat mit Karenin gesellschaftlich ein großer Schritt nach vorn für sie. 38 Von Tolstoi erfahren wir nicht viel über die Einkommen von Angehörigen der Mittelschicht. Im ganzen Buch wird nur ein einziges „Erwerbseinkom­ men" erwähnt, nämlich das eines deutschen Buchhalters, der 500 Rubel im Jahr verdient. Aus der Tatsache, dass Tolstoi hervorhebt, dass es sich um einen Deutschen handelt, dürfen wir schließen, dass er mehr verdien­ te als ein russischer Buchhalter, und wenn wir annehmen, dass er eine vierköpfige Familie zu ernähren hatte, können wir das Pro-Kopf-Einkom­ men einer solchen „Mittelschichtfamilie" auf etwas mehr als 100 Rubel schätzen. 39 Adam Smitl1. 2013. Der Wohlstand der Nationen. München: dtv. I. Buch, Kap. 5: 28. 40 Aldo Schiavone. 2000. The End of the Fast: Ancient Rome and the Modern West. Cambridge: Harvard University Press: 71. Sestercius bedeutet „der dritte halb", was bedeutet, dass sie den Wert von zweieinhalb As (eine wei­ tere römische Münze) hatte. 41 Raymond Goldsmith. September 1984. ,,An Estimare of me Size and Struc­ rure of ehe National Product of ehe Early Roman Empire". In: Review of Jncome and Wealth 30, schätzt das Jahreseinkommen von Augustus auf 15 Mio. Sesterzen, was beim herkömmlichen Zinssatz von 6 Prozent pro Jal1r ein Vermögen von 250 Mio. Sesterzen ergibt. 42 Bötticher Wilhelm (Hrsg.). 2013. Die Annalen des Cornelius Tacitus. Ham­ burg: SEVERUS. Buch 12, Kapitel 53. Pallas stand Nero bei vielen seiner Übeltaten zur Seite, wurde schließlich jedoch ebenfalls auf Neros Befehl vergiftet (Buch 14, Kapitel 65). 43 Goldsmim, ,,Estimate of the Size and Structure" und Branko Milanovic, Peter Lindert und Jeffrey Williamson, ,,Preindustrial Inequality" (Economic Journal, noch nicht erschienen; frühere Version veröffentlicht als Measuring

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Anmerkungen Ancient Inequality, National Bureau ofEconomic Research Working Paper

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13 550 [National Bureau of Economic Research, October 2007]) schätzen dies auf ein kaufkraftparitätisches BIP pro Kopf von 633 USD zu interna­ tionalen Preisen von 1990 (mehr zur Kaufkraftparität im Essay II). Angus Maddisons Schätzung fallt mit einem kaufkraftparitätischen BIP pro Kopf von 570 USD etwas niedriger aus (2007. Contours of the World Economy, 1-2003 AD. Oxford: Oxford University Press. Kap. 1). Dies nur zur Veranschaulichung. Das Kolosseum wurde mehr als hundert Jahre nach dem Tod von Crassus unter Titus erbaut. Laut Nachruf in der New York Times aus dem Jahr 1937 sowie Wikipedia. Alan Nevins erklärt, dass sich der Betrag auf höchstens 900 Mio. USD be­ lief (1953. Study in Power: John D. Rockefeller, Industrialist and Philanthro­ pist. 2 Bde. New York: Charles Scribner's Sons: 404 f.). Fortune-Liste der Milliardäre von 2004. Goldsmith, ,,An Estimate of the Size and Structure" (vgl. Anm. 41). Ebd., auf der Grundlage von Colquhouns Tabellen zur Sozialstruktur und Lee Soltows Berechnungen, vgl. Soltow. 1968. ,,Long-run changes in Bri­ tish income inequality". In: Economic History Review, 29: 7-29. Die Annalen des Cornelius Tacitus: 15. Ebd.: 248. Daten aus den Anna/es. Cassius Dio. 2012. Römische Geschichte. Wiesbaden: marixverlag: 580. Persönliche Mitteilung. Marshalls Antwort auf die Kritik von William Cunningham, vgl. Alfred Marshall. 1961. Principles ofEconomics. Bd. 2. London: McMillan: 745. Das Fünfbundertfache des BIP pro Kopf der Vereinigten Staaten (das im Jahr 2008 bei etwa 42 000 USD lag). Vgl. Jessica Holzer. ,,Meet Senator Millionaire". In: Forbesvom 20. Novem­ ber 2006, zugänglich unter: http://www.forbes.com/2006/11/17/senate­ politics-washington-biz-wash_cx_jh_ l 120senate.html. Milanovic, Lindert und Williamson. ,,Preindustrial Inequality". Anhang (vgl. Anm. 43). Vgl. ebd. sowie Walter Scheide! und Steven J. Friesen. 2009. ,,Tbe Size of the Economy and the Distribution of Income in the Roman Empire". In: Journal ofRoman Studies 99: 61-91. Die Schätzung von Milanovic, Lindert und Williamson bezieht sich auf das Jahr 14, die von Scheide! und Friesen auf das Jahr 150. Maddison. Contours ofthe World Economy: 53 ff. (vgl. Anm. 43). Das Einkommensniveau der reichsten Region (der italienischen Halbinsel) lag 50 Prozent über dem Durchschnitt, das der ärmsten (der Provinzen an der unteren Donau) 25 Prozent darunter. Für eine Definition der Kaufkraftparität (KKP) vgl. Essay II. Ich danke Vladimir Popov für seine sehr hilfreichen Kommentare.

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Anmerkungen 63 Erstmals angewandt wurde diese Methode von Montek Ahluwalia. 1976. ,,Inequality, Poverty, and Development". In: Journal ofDevelopment Econo­ mics 3: 307-342. 64 V gl. George Psacharopoulos und Harry Patrinos. September 2002. Returns to Investments in Education: A Further Update. WorldBank Policy Research Working Paper 2881. Washington, DC: Weltbank. 65 Das galt insbesondere für die sehr egalitäre Tschechoslowakei. Das Konzept der demographischenBestimmung des Einkommens wurde von dem tsche­ chischen Soziologen Jifi Vecernik eingeführt (vgl. z.B. April 2001. From Needs to the Market: Changing Inequality of Household Income in the Czech Transition. William Davidson Institute Working Paper 370. Arm Arbor:

William Davidson Institute). 66 Mitte der achtziger Jahre erzählte mir ein chinesischer Freund, der in Wa­ shington lebte, ihm seien ideologisch die Augen geöffnet worden, als er nach seinem Freiwilligendienst als Rotgardist in einer trostlosen Gegend in der Inneren Mongolei die vom Staat in Auftrag gegebene und streng geheim gehaltene Übersetzung von Djilas' Die neue Klasse las. Das Chaos der Kul­ turrevolution hatte sogar die spezialisierten Parteibibliotheken erfasst, in denen die „geheimenBücher" aufbewahre wurden. So kam es, dass sich ein junger Maoist in einen heimlichen Dissidenten verwandelte. 67 Für eine sehr anregende historische Auseinandersetzung mit diesem Punkt vgl. Albere Hirschman. 1980. Leidenschaften und Interessen. Politische Be­ gründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 140 ff. 68 Ein berühmtesBeispiel für einen Sowjetbürger, der wegen „Parasicencums" vor Gericht gescellc wurde, war der russische Dichter Joseph Brodsky, der zu Zwangsarbeit verurteilt wurde, nach seiner Entlassung in die Vereinigten Staaten emigrierte und 1987 den Literaturnobelpreis erhielt. 69 Ich danke Guillaume Daudin für zahlreiche ausgezeichnete Anregungen und Kommentare, die den Text erheblich verbessert haben. Des Weiteren danke ich Nachan Sussman für die Daten und die Karte zur Vermögensver­ teilung in Paris im 13. Jahrhundert und Thomas Piketcy für die Daten zu den steuerlich erfassten Einkommen im Jahr 2007. 70 Tatsächlich ist das 16. Arrondissement das zweicreichsce nach dem 7., aber das 16. hat sehr viel mehr Einwohner. 71 In die unterste Steuerklasse (foyer jiscab fallen Familien mit einem Einkom­ men von weniger als 9400 Euro pro Jahr. In der höchsten Steuerklasse fin­ den wir Familien mit einem Jahreseinkommen von 97 500 Euro und darü­ ber. 72 Die Auswertung der Daten aus dem 13. Jahrhundert beruhe auf Nachan Sussman. ,,Income Inequality in Paris in the Heyday of the Commercial Revolution". Unveröffentlichtes Manuskript. 73 Vgl. ebd.: 3. 74 V gl. http://www2.cnrs.fr/presse/tl1ema/592.htm.

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Anmerkungen 75 http://www.inshea.fr/RessourceProductions/SDADV/Tactimage_6e/Pages/ PlanLutece.htm. 76 Julian Apostata. 1999. Der Barthasser. Stuttgart: Reclam: 10. 77 Die Begründung lautet, dass die Rente, die eine Person bezieht, im Prinzip bereits durch die Lohnabzüge bezahlt wurde, die im Lauf ihres Erwerbsle­ bens vorgenommen wurden, weshalb sie einfach ein zeitlich „umstruktu­ riertes" Arbeitseinkommen ist. Eine Ausnahme sind die sogenannten Grundrenten, die beitragsfrei sind und mittellosen alten Menschen gewährt werden, die beispielsweise nie gearbeitet haben (und folglich keinen Ren­ tenanspruch erworben haben). 78 Branko Milanovic. 2000. ,,Tue Median Vater Hypothesis, Income Inequa­ lity, and Income Redistribution: An Empirical Test with the Required Data". In: EuropeanJournal ofPolitical Economy 16, Nr. 3: 367-410. 79 Die Position Weißrusslands ist nicht klar. In einigen Statistiken lag es über, in anderen unter dem Durchschnitt der Sowjetunion. 80 Ich habe neben den sechs Republiken auch die zwei Provinzen berücksich­ tigt (die Provinz ist eine der Republik untergeordnete Verwaltungseinheit). 81 Ich danke Vladimir Popov für seine hilfreichen Kommentare. 82 Sie werden nicht alle offiziell als Provinzen bezeichnet, aber auf 23 von ih­ nen trifft die Bezeichnung zu, und der Einfachheit halber werde ich sie alle als „Provinzen" bezeichnen. 83 Sämtliche Daten stammen aus amtlichen chinesischen Quellen und zwar überwiegend aus dem Chinas Statistical Yearbook (für verschiedene Jahre). 84 Chongqing erhielt den Status einer eigenen Gebietseinheit (Stadtprovinz) erst im Jahr 1997. 85 Wobei wir nicht vergessen sollten, dass sich das zaristische Russland die baltischen Staaten im 18. Jahrhundert einverleibte (grob gesagt, Estland und Lettland nach dem Krieg mit Schweden im Jahr 1721 sowie Litauen nach der Teilung Polens im Jahr 1772). 86 Ich danke Peter Lindert für seine sehr hilfreichen Kommentare und Anre­ gungen. Vgl. auch Essay I für die Theorien von Pareco und Kuznets zur Einkommensverteilung. 87 Vgl. Branko Milanovic. 2007. ,,Why WeAil Do Care About Inequality (but Are Loathe eo Admit lt)" In: Challenge 50, Nr. 6: 109-120. 88 David Kynascon. Rezension von Family Britain, 1951-57. Von Nicholas Spiee. London Review ofBooks. 8. April 2010: 14. 89 Es ist faszinierend, dass Pareto im Alter von weniger als einem Jahr weniger als einen Kilometer von zwei illustren Nachbarn entfernt lebte: Dies waren Karl Marx, der mit seiner Familie wie die Paretos am linken Ufer der Seine wohnte, und Alexis de Tocqueville, der zu jener Zeit Außenminister war und am rechten Seineufer unweit der Place de la Madeleine lebte. Für Pa­ reco, geboren in der Rue Guy-de-la Brasse 10 im 5. Arrondissement, vgl. Pier Carlo Ferrera, ,,Appunti e precisazioni su alcuni aspetti della biografia di Vilfredo Pareco". In: Paretiana, Nr. 160. Für Marx, der zwischen dem 3.

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Juni und dem 24. August 1849 in der Rue de Lille 45 im 7. Arrondissement wohnte, vgl. Saul K. Padover. 1980. Karl Marx: An Intimate Biography. New York: Meridian: 359 f. Für Tocqueville vgl. 1999. Souvenirs. Paris: Galli­ mard. 239. Ich danke Andrea Brandolini für den Hinweis zu Pareto. Raymond Aron. 1979. Hauptströmungen des modernen soziologischen Den­ kens. Reinbek: Rowoh!t: 159. Vilfredo Pareto. 1971. Manual ofPolitical Economy. New York: Augustus M. Kelley: 2. ,,[Die Grundgedanken Paretos] machen verständlich, weshalb er unter den Professoren und Soziologen stets ein Einzelgänger bleiben wird. Es ist für den menschlichen Geist fast unerträglich, zugeben zu müssen, daß die Wahrheit als solche schädlich sein könne." (Aron. Hauptströmungen des modernen soziologischen Denkens: 160). Joseph Schumpeter. 1980. A History ofEconomic Analysis. New York: Ox­ ford University Press: 860. Die Formel ist allerdings ein wenig komplizierter. Nehmen wir an, die „Guillotine" ist 1,45. Wenn n Personen ein Einkommen haben, das höher als y ist, würde die Anhebung der Schwelle auf 1, 1y die Zahl der Personen mit einem so hohen Einkommen auf n(l, 1)1,45 = n/1, 148 verringern. Pareto. Manual ofPolitical Economy: 312. Pareto starb im Jahr 1923, ein Jahr nach Mussolinis Machtergreifung. Es wurde ihm ein gewisser Einfluss auf den italienischen Faschismus zuge­ schrieben, aber wie Aron schreibt, gibt es kaum Belege für eine solche Ver­ bindung (Aron. Hauptströmungen des modernen soziologischen Denkens: 155.). Vgl. Peter H. Lindert. ,,Three Centuries of Inequalicy in Britain and ehe United States". In: Atkinson und Bourguignon (Hrsg.). Handbook of In­ come Distribution (vgl. Anm. 13) sowie Peter H. Lindert und Jeffrey G. Williamson. 1983. ,,Reinterpreting Britain's Social Tables, 1688-1913". In: Explorations in Economic History 20, Nr. 1: 94-109. Ich verwende die Termini Durchschnittseinkommen und BIP pro Kopf als Synonyme. Noch verblüffender fällt ein Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten und Indien aus. Im Jahr 1980 betrug die absolute Kluft weniger als 25 000 KKP-Dollar; heute sind es mehr als 40 000 KKP-Dollar. Im vorangegangenen Zeitraum 1990-2000 war die Klufi: noch größer (vgl. Branko Milanovic. September 2005. Why Did the Poorest Countries Fail to Catch Up?Carnegie Working Paper 62. Washington, DC: Carnegie Endow­ ment for International Peace. Vgl. auch UNCTAD, 2007Worldlnvestment Report. Genf: Vereinte Natio­ nen. Robert Lucas. 1990. ,,Wby Doesn't Capital Flow from Rich to Poor Coun­ tries?" In: American Economic Review Papers and Proceeding 80, Nr. 2: 9296. Das Lucas-Paradox kann auch auf die Arbeit angewandt werden: Men-

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sehen mit Fähigkeiten neigen dazu, in Länder auszuwandern, in denen diese Fähigkeiten im Überfluss vorhanden sind (in die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder), anstatt in ihren Ländern zu bleiben, wo die Fähigkeiten knapp sind. Nicholas Crafrs. März 2000. Globalization and c;rowth in the Twentieth Century, IMF Working Paper 2000/44. Washington, DC: Internationaler Währungsfonds: 26 f., 30. Vgl. auch Richard Baldwin und Philippe Martin. Januar 1999. Two Wtwes o/Globalisation: Superficial Similarities, Fundamen­ tal Differences. National Bureau of Economic Research Working Paper 6904. Cambridge: National Bureau ofEconomic Research. Daten aus Maurice Obsfeld und Alan Taylor. 2003. ,,Globalization and Capital Markers". In: Michael D. Bordo, Alan M. Taylor und Jeffrey G. Williamson (Hrsg.). Globalization in Historical Perspective. Chicago: Uni­ versity of Chicago Press: 121-187. Zitiert in: Niall Ferguson und Moritz Schularick. Juni 2006. ,,Tue Empire Effect: Tue Determinants of Country Risk in the First Age ofGlobalization, 1880-1913". In:]ournal ofEconomic History. 285. Paul Romer. 1994. ,,Tue Origins of Endogenous Growth" In: Journal of Economic Perspectives 8, Nr. 1: 3-22. Paul Romer. 1990. ,,Are Non-convexities Important for Understanding Growth?" In: American Economic Review [Papers and Proceedings of the American Economic Association] 80, Nr. 2: 97-103. Vgl. Peter H. Lindert und Jeffrey G. Williamson. 1982. ,,Revising England's Social Tables, 1688-1812" In: Explorations in Economic History 19, Nr. 4: 385-408; Lindert und Williamson, ,,Reinterpreting Britain's Social Tables" (vgl. Anm. 97); sowie Lindere, ,,Three Cenruries oflnequality" (vgl. Anm. 97). Vgl. Jan Luicen van Zanden. 1995. ,,Tracing ehe Beginning of ehe Kuznecs Curve: Western Europe During ehe Early Modem Period". In: Economic History Review 48, Nr. 4: 643-664. Für Deutschland vgl. Rolf Dumke. 1991. ,,Income Inequality and Induscrialization in Germany, 1850-1913: Tue Kuznets Hypochesis Revisiced". In: Y. S. Brenner, Harmut Kaeble und Mark Thomas (Hrsg.). Income Distribution in Historical Perspective. Cam­ bridge: Cambridge University Press. Daten von Angus Maddison. Für das frühe 19. Jahrhundert hat der bel­ gisch-schweizerische Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch eine noch geringere Kluft von etwa 2 zu 1 zwischen den reichsten und ärmsten Ländern ermit­ telt (1997. Victoires et deboires: Histoire economique et sociale du monde du )(Vfe siede a nos Jours. Bd. 1. Paris: Gallimard: 111). Heute beträgt die Kluft zwischen den Niederlanden und China trotz des beeindruckenden Wachs­ tums Chinas im letzten Vierteljahrhundert 8 zu 1. Oder nehmen wir das folgende Beispiel: Um das Jahr 1760 betrug die Kluft zwischen Großbritan­ nien und Indien weniger als 1,5 zu 1 (Bairoch. Bd. 2: 845). Heute ist das Verhältnis 13 zu 1.

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Anmerkungen 110 Gregory Clark. 2005. ,,Tue Condition of the Working Class in England, 1209-2004". In: Journal ofPolitical Economy 115, Nr. 6: 1307-1340. 111 In einem Brief an Marx im Jahr 1858 schrieb er, ,,daß das englische Prole­ tariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besit­ zen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings ge­ wissermaßen gerechtfertigt". (1978. Karl Marx Friedrichs Engels Werke [MEW]. Bd. 29. Ost-Berlin: Dietz: 358). 112 Leo Trotzki. 1920. Terrorismus und Kommunismus -Anti-Kautsky. Moskau. 113 Das von Trotzki und Lenin entwickelte Konzept der „permanenten Revo­ lution" besagte, dass die proletarische Revolution, nachdem sie im relativ rückständigen Russland erfolgreich gewesen war, rasch auf die entwickelten Länder übergreifen würde, womit dieErwartung von Marx erfüllt und der Kommunismus in aller Welt errichtet würde. 114 Auf der Religion beruhende Solidarität ist etwas vollkommen anderes. 115 Im Jahr 2006 lebten schätzungsweise 191 Mio. Menschen (3 Prozent der Weltbevölkerung) in einem Land, in dem sie nicht geboren waren (Richard Freeman. 2006. People Flows in Globalization. National Bureau of Econo­ mic Research Working Paper 12 315. Cambridge: National Bureau ofEco­ nomic Research). Zu beachten ist, dass dies eine Bestandsgröße, das heißt die im Lauf mehrerer Jahre „akkumulierte" Zahl von Auswanderern ist. Die Flussgrößen (die jährliche Zunahme des Bestands) ist natürlich sehr viel geringer und liegt bei etwa 3 Mio. Menschen pro Jal1r (vgl. http://www. oecd.org/dataoecd/l 7/39/23664717.gif ). 116 Im Jahr 2008 waren 15,6 Prozent der amerikanischen Arbeitskräfte nicht in den USA geboren (vgl. Bureau of Labor Statistics, News Release, 26. März 2009, zugänglich unter: http://www.bls.gov/cps/). Für Spanien vgl. Institu­ to Nacional deEstatistica. 2008. Labor Force Survey. Madrid: Instituto Na­ cional deEstatistica. Für Griechenland vgl. Employment in OECD Countries (Jahr 2002), zugänglich unter: http://www.childpolicyintl.org/contexttab­ lesemploymem/Ta ble%202.3 l %20Ern ployment%20in%200ECD%20 countries.pdf. Für Italien vgl. Banca d'Italia. 29. Mai 2009. Relazione annu­ ale sul 2008. Kap. 11, Tabelle 11.4: 128, zugänglich unter: http://www. bancaditalia.it/pubblicazioni/relann/rel08/rel08it/. 117 Vgl. David Blanchflower und Chris Shadforth. Februar 2009. ,,Fear, Unem­ ployment, and Migration". In: Economic Journal: Tabelle 17, F157. 118 U.S. Department ofHomeland Security, auf der Grundlage der geschätzten Zunahme der illegalenEinwanderer aus Mexiko zwischen 2000 und 2005 (1,3 Mio.). 119 BBC, 2. Juli 2007, http://news.bbc.eo.uk/2/hi/europe/6228236.stm. 120 Es wird angenommen, dass mehrereHunden Algerier und Tunesier in liby­ schen Gefängnissen festgehalten werden. 121 BBC, 31. März 2009; Radio France Inter, 16. März 2009.

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Anmerkungen 122 Es wirkt wie ein Hohn, dass im 19. Jahrhundert viele Malteser, Sizilianer und Korsen ungehindert das Mittelmeer in der entgegengesetzten Richtung überqueren und sich in Tunesien ansiedeln konnten. 123 Die algerische Tageszeitung El Watan, 5. März 2009. 124 Agence France Presse, 31. März 2009. 125 1. Der Großvater wurde 1895 geboren (und starb im Jahr 1979), der Vater wurde im Jal1r 1936 geboren (und starb im Jahr 1982). Barack Obama wurde 1961 geboren. Onyangos erstes Kind (Sarah) wurde 1933 geboren; in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war ein Mann in Kenia mit 38 Jahren in einem eher fortgeschrittenen Alter, um sein erstes Kind zu haben. 126 Barack Obama. 2010. Ein amerikanischer Traum: Die Geschichte meiner Familie. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag: 427. 127 Unter der Annahme, dass er keinen Urlaub hatte, der Arbeit nicht wegen Krankheit fernblieb usw. 128 Am Ende umfasste Onyangos Familie ihn, zwei Frauen und fünf Kinder. 129 Arne Bigston. 1987. Income Distribution and Growth in a Dual Economy: Kenya, 1914-1976. Memorandum 101. Gothenburg: Gothenburg Univer­ sity, Department of Economics. 130 Barack Obama. Ein amerikanischer Traum: 63. 131 Ich danke V ladimir Popov und Michael Ellman für ihre Hilfe bei der Aus­ wertung der sowjetischen Wachstumsdaten. 132 Sofern nicht ausdrücklich eine andere Quelle genutzt wird, stütze ich mich in der gesamten Skizze auf Angus MaddisonsDaten aus demJahr 2004 zur Entwicklung vonBevölkerung und BIP pro Kopf. 133 Die zweite Zahl stammt aus Mark Harrison. 1998. The Economics o/World War II: Six Great Powers in International Comparison. Cambridge: Cam­ bridge University Press: 95. 134 Karl Marx. 1858. Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In: 1961. Marx Engels Werke 13. Ost-Berlin: Dietz: 9. 135 V gl. Branko Milanovic. 2005. Worl.ds Apart: Measuring International and Global Inequality. Princeron: Princeron Universicy Press. Benchmark-Jahre müssen wir verwenden, weil nicht in jedem Jahr Haushaltserhebungen für alle Länder vorhanden sind. Wir müssen daher ein relativ großes „Fenster" von fünfJahren öffnen, in dem für praktisch alle Länder der Welt Erhebun­ gen vorliegen. Anschließend wählen wir aus diesem Zeitfenster einJahr aus und verwenden für die Länder, die in diesem Jahr keine Erhebung durch­ geführt haben, Daten aus den „benachbarten Jahren". 136 Berechnet anhand von KKP-Daten aus dem Jahr 2005 (vgl. Essay II für Details). 137 In der wichtigsten Arbeit über die historischen Muster der globalen Un­ gleichheit (der wir uns im Folgenden zuwenden) geben Bourguignon und Morrisson selbstverständlich keinerlei Schätzung zu den Einkommensver­ teilungen in den meisten Ländern der Welt ab. Sie unterteilen die Welt in

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Anmerkungen 33 Regionen und schreiben jedem Land in einer Region dieselbe Verteilung zu, die sie für ein Land dieser Region haben. Das führt natürlich zu einigen groben - und falschen - Verallgemeinerungen: Zum Beispiel werden die Einkommensverteilungen in Ländern wie dem zaristischen Russland, wo der Grundbesitz sehr ungleich verteilt war, aufdie Balkanländer übertragen, wo die Kleinbauern zumeist kleine Parzellen besaßen. Angesichts des Man­ gels an Daten ist jedoch keine bessere Lösung möglich. 138 Franc;:ois Bourguignon und Christian Morrisson. September 2002. ,,Tue Size Distribution oflncome Among World Citizens, 1820-1990". In: Ame­ rican Economic Review: 727-744 (vgl. Tabelle aufS. 731 f). 139 Vgl. Glenn Firebaugh. 2003. 1he New Geography of Global Income Inequa­ lity. Cambridge: Harvard University Press sowie Robert Lucas. 1998. ,,Tue Industrial Revolution: Past and Future". Vervielfältigung, University of Chicago. 140 V gl. Branko Milanovic. 2002. ,,True World Income Distribution, 1988 and 1993: First Calculations Based on Household Surveys Alone". In: Economic Journal 112, Nr. 476: 81. 141 Jagdish Bhagwati. 2008. Verteidigung der Globalisierung. Berlin: Pantheon: 121. 142 Thomas Nagel. 2005. ,,Tue Problem of Global Justice". In: Philosophy and Public Affeirs 33, Nr. 2: 121. 143 Vgl. Charles Beitz. 1977. Political 7heory and International Relations. Nach­ druck, Princeton: Princeton University Press, 1999: 164-169. 144 V gl. Charles Beitz. 2000. ,,Rawls' Law of Peoples". In: Ethics 110, Nr. 4: 669-696 sowie Joshua Cohen und Charles Sabel. 2005. ,,Extra Rempubli­ cam Nulla Justitia". In: Philosophy and Public Affeirs 34, Nr. 2. 145 Das wird als „Monismus" bezeichnet: Alle ethisch bedeutsamen Beziehun­ gen sind Beziehungen zwischen Personen (sie werden nicht vom Staat ver­ mittelt), und es gibt keine verschiedenen „Affinitätszirkel", sodass wir den wirtschaftlichen Entbehrungen unserer Familienmitglieder oder Landsleute größeres Gewicht beimessen würden als der Armut von Menschen, die wir persönlich nicht kennen (vgl. z. B. Thomas Pogge. 1994. ,,An Egalitarian Law of Peoples". In: Philosophy and Public Affeirs 23, Nr. 3: 195-224 sowie Peter Singer. 2002. One World: 7he Ethics ofGlobalization. New Haven: Yale University Press). 146 Sind die Kapitalerträge „zu hoch", so runden die Statistiker sie normaler­ weise auf einen niedrigeren, wenn auch hohen Wert (eine „Decke"). Dies wird als „Top-Coding" bezeichnet. In den Vereinigten Staaten kann das Top-Coding von Zinserträgen, Dividenden und anderen Kapitaleinkünften nach Ansicht mancher Autoren die gemessene Ungleichheit deutlich verrin­ gern (vgl. Burkhauser et al., Estimating Trends in US. Income Inequality [vgl. Anm. 26]). 147 Die Zahl der Haushaltsmitglieder kann zum Beispiel bei 3,5 Personen lie­ gen, wenn Ihr Kind nur ein halbes Jahr in Ihrem Haus gelebt hat.

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Anmerkungen 148 Ich erwarte nicht, dass Personen, deren Einkommen unterhalb des globalen Medianwerts liegt, mein Buch kaufen werden - eine traurige, aber wahr­ scheinliche Situation. Dieses Buch kostet erwa 25 Dollar. Personen mit ei­ nem Einkommen unterhalb des globalen Medianwerts müssten ein Viertel ihres Monatseinkommens für das Buch ausgeben. Würden Sie das tun? Würde ich es tun? 149 Die Gesamtzahl der Menschen, die in den Erhebungen im Jahr 2005 erfasst wurde, lag bei knapp 6 Milliarden. Erwa 5 Prozent der Weltbevölkerung, die in den ärmsten und am schlimmsten von Konflikten heimgesuchten Ländern leben - darunter der Sudan, Afghanistan, Nordkorea, Somalia und der Irak -, werden nicht berücksichtigt, da in diesen Ländern keine natio­ nalen Haushaltserhebungen durchgeführt werden. Daher liegen alle hier ausgewiesenen Schätzungen zur Ungleichheit (geringfügig) unter den „rea­ len" Werten. 150 Man braucht ein Pro-Kopf-Nettoeinkommen von 90 000 Dollar, um in der Einkommensverteilung der USA zum reichsten 1 Prozent zu gehören. 151 Wir wissen, dass 60/ (2,06)a = 6 sein muss. Folglich isc a = 3,2. 152 Ein Beispiel ist Thomas Friedman. 2006. Die Welt ist flach: Eine kurze Ge­ schichte des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 153 Dieser Ansatz, dessen Pionier Lescer Timrow ist (1987. ,,A Surge in Inequa­ lity". In: Scientific American 256), wurde übernommen von Carol Graham, Nancy Birdsall und Scefano Petcinaro. August 2000. Stuck in the Tunnel: Is Globalization Muddling the Middle? Brookings Institution Center Working Paper 14. Washington, DC: Brookings Institution sowie Steven Pressman. 2007. ,,The Dedine of the Middle Class: An International Perspeccive". In: Journal ofEconomic Issues 40, Nr. 1: 181-200 (eine Studie über die Mittel­ schicht in elf entwickelten Ländern). In den Einkommensverteilungen ist das Durchschnittseinkommen normalerweise höher als das Medianeinkom­ men, weil diese Verteilungen nicht symmetrisch sind: Das untere Ende wird abgeschnitten (man kann nicht von einem Einkommen von O leben), wäh­ rend die Spitzeneinkommen sehr hohe (fase unbegrenzte) Beträge erreichen. 154 Anhand dieser Werte können wir den Anteil der Mittelschicht am Gesamt­ einkommen des Landes berechnen. In Lateinamerika hat diese Gruppe nur einen Einkommensanteil von 12 Prozenc (20 Prozenc der Bevölkerung mul­ tipliziert mit 0,6 des Durchschnittseinkommens), während ihr Anteil in den entwickelten Volkswirtschaften bei 34 Prozent liege (40 Prozent der Bevölkerung multipliziert mit 0,85 des Durchschnittseinkommens). 155 Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob die Türkei wirklich als Teil der westlichen Welc zu betrachten ist. Aber da sie ein Kandidat für den EU­ Betritt ist und nicht zu den postkommunistischen Ländern zähle, kann man durchaus argumentieren, dass sie (so wie Israel) Teil der wesclichen Welt ist. 156 Abhijic Banerjee und Escher Duflo. 2008. ,,Whac Is Middle About Middle Classes Around ehe World". In: Journal ofEconomic Perspectives 22, Nr. 2: 3-28, auf der Grundlage einer Stichprobe von 13 Entwicklungsländern.

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Anmerkungen 157 Das Mobiltelefon ist soziologisch sehr interessant. Aufgrund seiner relativ niedrigen Kosten und der geringen Differenzierung zwischen den Modellen ist es ein sozialer Gleichmacher. Es ist sonderbar, dass es immer noch das Gefühl der Exklusivität vermittelt, aber ich vermute, das liegt daran, dass sie eine „Botschaft" der Vernetzung vermitteln. Ich erinnere mich an Teen­ ager im usbekischen Taschkent, die Anfang des Jahrtausends Handyimitate mit sich herumtrugen, die nicht funktionierten, aber schick aussahen. 158 Die Streuung des BIP pro Kopf nach Staaten, die in der Karte auf Seite 187 zwecks Einheitlichkeit mit der Europäischen Union gezeigt wird, ist gering­ fügig größer: das Verhältnis beträgt 2 zu 1. 159 V gl. Rati Ram. 1992. ,,Interstate Income Inequality in the United States: Measurement, Modelling, and Some Characteristics". In: Review ofIncome and Wealth 38: 39-49. 160 Lateinamerika umfasst Süd- und Zentralamerika (die spanischsprachigen Länder sowie Brasilien und Guyana), nicht jedoch die Karibik. Das ärmste Land der westlichen Hemisphäre ist Haiti. Bei Asien fehlen Daten für Nordkorea (das extrem arm ist), und die sehr ölreichen Länder Westasiens (des Mittleren Ostens) werden nicht dazugerechnet. 161 Der zweite gehört natürlich zu China. 162 Ich danke Georgie Milanovic für seine Kommentare. 163 Vor einigen Jahren schlug der FC Liverpool in einem Champions League­ Spiel Real Madrid mit 4:0. Aber in beiden Mannschaften spielten jeweils vier Spanier, und obendrein war der Trainer von Liverpool ein Spanier. Der Klub aus der spanischen Hauptstadt verlor, aber sonderbarerweise musste er sich einer Gruppe spanischer Spieler geschlagen geben! 164 Die beiden ersten Europapokalwettbewerbe waren Einladungsturniere. Von da an qualifizierten sich die Landesmeister sowie der amtierende Europapo­ kalsieger. 165 Die Liste der zwanzig reichsten europäischen Fußballklubs im Jahr 2008 wurde von der Deloitte Sports Business Group erstellt (veröffentlicht im Februar 2009). Die Liste findet man unter http://www.theoffside.com/ world-football/the-20-richest-teams-in-the-world-in-2008.html. 166 Natürlich würden viele Fußballfans das Gegenteil behaupten: Das Leben ist wie der Fußball. 167 Praktisch derselbe Text wurde aufYale Global Online veröffentlicht (4. Mai 2009). Ich bedanke mich für die Erlaubnis, ihn hier erneut abzudrucken. 168 Vgl. Thomas Piketty und Emmanuel Saez. Mai 2005. ,,Income Inequality in the United States, 1913-2002". Abb. 2. Zugänglich unter: http://elsa. berkeley.edu/ � saez/piketry-saezOU PO 5US.pdf 169 Thomas Piketty und Emmanuel Saez. 2006. ,,Tue evolution of top incomes: a historical and international perspective". In: American Economic Review. Bd. 96, Nr: 200-205. 170 Montesquieu. 1991. Persische Briefe. Stuttgart: Reclam. 142. Brief: 274. 171 Auf der Grundlage einer gemeinsamen Arbeit mit Peter Lindert und Jeffrey Williamson.

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Anmerkungen 172 Definiert von Branko Milanovic. 2006. ,,An Estimate of Average Income and Inequality in Byzantium Around Year 1000". In: Review ofJncome and Wealth 52, Nr. 3: 449-470 sowie Milanovic, Lindert und Williamson, Measuring Ancient Inequality (vgl. Anm. 43). 173 Die Stichprobe beinhaltet auch zwei osmanische Kolonien (Südserbien im Jahr 1455 und die Levante im Jahr 1596), aber die Daten enthalten keine Schätzungen zu den Einkommen der Kolonialherren. 174 Annäherungsweise in aktuellen KKP-Dollar. 175 Einkommensverteilung Großbritanniens im Jahr 2004. 176 John Rawls. 1999. Das Recht der Völker. Berlin: De Gruyter: 43. 177 „Völker haben die Pflicht, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen Bedingungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare politische und soziale Ordnung haben." (Ebd.: 41). 178 Ebd.: 142. Liberale und achtbare Gesellschaften sind die beiden Arten von ,,wohlgeordneten Völkern". Grob gesagt, sind liberale Gesellschaften voll­ kommen demokratisch, aber auch „konsultative hierarchische Gesellschaf­ ten" können achtbar sein. Beide Arten von Gesellschaften respektieren die Entscheidungen anderer Gesellschaften und sind bereit, in Frieden neben­ einander zu leben. 179 Ebd.: 181. 180 Joshua Cohen. ,,Comments on Rodrik". Unveröffentlichtes Manuskript: 5. 181 Beispielsweise schien Argentinien der Dritten Welt anzugehören, weil es in Lateinamerika lag. Aber die meisten Einwohner dieses Landes betrachteten es als eine Erweiterung Europas. 182 In KKP-Dollar für das Jahr 2005. 183 Argentinien war mit einem Einkommen von 10 000 KKP-Dollar wohlha­ bender, aber wir haben gesehen, dass die Position dieses Landes zwiespältig war. Venezuela war ebenfalls reicher, was es jedoch im Wesentlichen seinen Erdölvorkommen verdankte. 184 Dieses Zitat ist etwa zehn Jahre älter als Wealth ofNatiom. Angesichts dieser Tatsache ist der Weitblick von Adam Smith noch bemerkenswerter. 185 Sonderbar ist, dass sowohl die Befürworter von mehr Hilfe für Afrika als auch die Gegner jeglicher Hilfe den Westen kritisieren - die einen werfen ihm vor, nicht genug zu helfen, die anderen sind der Meinung, er helfe zu viel. Gibt es eine optimale Menge an Entwicklungshilfe? 186 Vgl. Giovanni Arrighi. Mai-Juni 2002. ,,The African Crisis: World Syste­ mic and Regional Aspects". In: New Left Review. 187 Die erste Strophe des Gedichts „Weise aber das Nahende" entstand zwi­ schen 1905 und 1915. Der Sinnspruch stammt von Philostratus, der im 3. Jahrhundert schrieb: ,,Die Götter sehen die zukünftigen Geschehnisse, die Sterblichen die gegenwärtigen, und die Weisen sehen, was unmittelbar be­ vorsteht. " (Konstantinos Kavafis. 1997. Brichst du aufgen Ithaka ... Sämt­ liche Gedichte. Köln: Romiosini: 11.

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Kuznets-Hypothese und ihre Erweiterungen Anand, Sudhir, und Ravi Kanbur. 1993. ,,Tue Kuznets Process and the Inequa­ lity-Development Relationship". In: Journal ofDevelopment Economics: 2552. [Eine detaillierte Analyse der Kuznets-Hyp othese.J Li, Hongyi, Lyn Squire und Heng-fou Zou. 1998. ,,Explaining International and Intertemporal Variations in Income Inequality". In: Economic Journal 108: 26-43. [Ablehnung der Kuznets-Hypothese auf der Grundlage der relativen langfristigen Unveränderlichkeit der Gini-Koeffizienten der Länder.] Milanovic, Branko. 1994. Determinants of Cross-country Income lnequality: An ,,Augmented" Kuznets' Hypothesis, World Bank Policy Research Paper 1246, Washington, DC: Weltbank. [Kuznets' Hyp othese trifft zu, wenn wir den Anteil von Staatsausgaben und Beschäfrigung im öffentlichen Dienst berück­ sichtigen.] Snowdon, Brian. 2008. ,,Towards a Unified Theory of Economic Growth: Oded Galor on ehe Transition from Malthusian Stagnation to Modem Economic Growth". In: World Economics 9, Nr. 2: 97-151. [Warum sich die Bedeutung des „Gleichseins" im Lauf der wirtschafrlichen Entwicklung ändert.]

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Weiterführende Lektüre

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Weiterführende Lektüre Ravallion, Martin und Shaohua Chen. 2006. ,,Chinas (Uneven) Progress Against Poverty". In: Journal ofDevelopment Economics 82: 1-42. [Ungleichheit und Armut in China seit den Reformen der frühen achtziger Jahre.]

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Skizze 1.1 Allen, Robert C. Juni 2005. Capita/Accumulation, Technological Change, and the Distribution of Income During the British Industrial Revolution. Department ofEconomics Discussion Paper 239, Oxford University. Lindert, Peter H. 2000. ,,Three Centuries ofinequality in Britain and ehe United Stares". In: A. Atkinson und F. Bourguignon (Hrsg.). Handbook of Income Distribution. Amsterdam: Elvesier. Lindert, Peter H., und Jeffrey G. Williamson. 1983. ,,Reincerpreting Britain's Social Tables, 1688-1913". In: Explorations in Economic History 20, Nr. 1: 94-109.

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Skizze 1.3 Baker, Peter und Susan Glasser. 2005. Krem/in Rising: Vladimir Putin's Russia and the End ofRevolution. New York: Scribner's. [Insbesondere Kapitel 14.] Chernov, Ron. 2005. John D. Rockefeller: Die Karriere des Wirtschaftstitanen. Rosenheim: Tm Börsenverlag. Freeland, Chryscia. 2000. Safe ofthe Century: Russia's Wil.dRidefrom Communism to Capitalism. New York: Random House. Nasaw, David. 2006. Andrew Carnegie. New York: Penguin. Wrighc, Lawrence. 1. Juni 2009. ,,Slim's Time". In: New Yorker. 58.

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Skizze 2.1 Bairach, Paul. 1993. Economics and World History: Myths and Paradoxes. Chicago: Universicy ofChicago Press. Ders. 1997. Victoires et deboires: Histoire economique et socia/,e du monde du XVIe siede a nos Jours. Paris: Gallimard. [Ein maßgebliches dreibändiges Werk zur Wirtschaftsgeschichte von der Eroberung Amerikas bis zu Gorbatschow.] Bourguignon, Franyois und Christian Morrisson. September 2002. ,,The Size Distribution ofIncome Among World Citizens, 1820-1990". In: American Economic Review: 727-744. [Erste empirische Untersuchung der globalen Ungleichheit in ihrem historischen Kontext.] Hobsbawm, Eric. 1980. Die Blütezeit des Kapitals: Eine Kulturgeschichte der Jah­ re 1848-1875. Frankf. a.M: S. Fischer. [Eine brillante „Vulgarisierung", wie Hobsbawm die für Laien nachvollziehbare Synthese historischer Zusammen­ hänge nennt. Zweiter Teil eines dreibändigen Werks, das mit Europäische Revolutionen: 1789-1848 beginnt.J ders. 1989. Das imperiale Zeitalter 1875-1914. Frankf. a.M.: Campus. [Dritter Band.] Maddison, Angus. 2001. lhe World Economy: A Millennial Perspective. Paris: OECD Development Centre Studies. [Brillante Darstellung der globalen Wirtschaftsgeschichte. Die einzige Quelle für historische BIP-Daten für mehr als hundert Länder.] ders. 2003. lhe World Economy: Historical Statistics. Paris: OECD Development Centre Studies. [Unverzichtbare historische Statistiken.] Marx, Karl. Das kommunistische Manifest. Milanovic, Branko. 2005. Worlds Apart: Measuring International and Global In­ equality. Princeton: Princeton University Press. [Einführung von drei Kon­ zepten der globalen Ungleichheit und Analyse ihrer Entwicklung seit 1950.J

Skizze 2.2 Freeman, Richard. 2006. People Flows in Globalization. National Bureau ofEco­ nomic Research Working Paper 12315. Cambridge: National Bureau ofEco­ nomic Research. Milanovic, Branko. 2005. Worlds Apart: Measuring International and Global In­ equality. Princeton: Princeton Universicy Press. ders. 2008. ,,Rules of Redistribution and Foreign Aid: A Proposal for a Change in the Rules Governing Eligibility for Foreign Aid". In: Interventions 5, Nr. 1: 197-214.

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Weiterführende Lektüre

Skizze 2.3 Milanovic, Branko. Januar 2008. Global Inequality of Opportunity. World Bank Working Paper 4493. Washington, DC: World Bank. Shachar, Ayelec. 2009. The Birthright Lottery: Citizenship and Global Inequality. Cambridge: Harvard University Press.

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Weiterführende Lektüre Singer, Peter. 2002. One World· lhe Ethics of Globalization. New Haven: Yale University Press. [Das klarste Bekenntnis zu kosmopolitischen Prinzipien.)

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Weiterführende Lektüre

Skizze3.5 Milanovic, Branko. 2005. ,,Globalizacion and Goals: Does Soccer Show ehe Way?" In: Review ofInternational Political Economy 12, Nr. 5: 829-850.

Skizze3.6 Atkinson, Tony. Dezember 2003. ,,Top Incomes in ehe United Kingdom over ehe Twentieth Century". Unveröffendichtes Manuskript. Guriev, Sergei und Andrei Rachinsky. 2008. ,,Tue Evolution of Personal Wealth in the Former Soviet Union and Cemral and Eastern Europe". In: James B. Davies (Hrsg.). Personal Wealthfrom a Global Perspective. UNUWIDER Stu­ dies in Development Economics. Oxford: Oxford University Press. Piketty, Thomas und Emmanuel Saez. 2003. ,,lncome Inequality in the United States, 1913-1998". In: Quarterly Journal ofEconomics 118, Nr. 1: 1-39. Piketty, Thomas und Emmanuel Saez. 2006. ,,Tue Evolution ofTop Incomes: A Historical and International Perspective". In: American Economic Review 96, Nr. 2: 200-205.

Skizze3.7 Milanovic, Branko, Peter H. Lindert und Jeffrey G. Williamson. Noch nicht erschienen. ,,Preindustrial Inequality". In: Economic Journal. Frühere Version veröffentlicht als MeasuringAncient Inequality. National Bureau ofEconomic Research Working Paper 13550. Cambridge: National Bureau of Economic Research. 2009.

Skizze3.8 Cohen, Joshua. ,,Comments on Rodrik". Unveröffendichtes Manuskript. Pogge, Thomas. 1994. ,,An Egalitarian Law of Peoples". In: Philosophy and Public Affeirs 23, Nr. 3: 195-224. Rawls, John. 1999. Das Recht der Völker. Berlin: De Gruyrer. Rawls, John. 2014. Eine Theorie der Gerechtigkeit. 14. Aufl. Berlin: Suhrkamp. Risse, Machias. 2005. ,,How Does Global Order Harm ehe Poor?" In: Philosophy and Public Affeirs 33, Nr. 4: 349-376. Singer, Peter. 2002. One World: The Ethics of Globalization. New Haven: Yale University Press. Wenar, Leif. 2006. ,,Why Rawls Is Not a Cosmopolitan Egalicarian". In: R. Marein und D. Ready (Hrsg.). Rawls' ,,Law of Peoples''.· A Realistic Utopia? Malden: Blackwell.

251

Index A Abramowitsch,Roman 53,196 AC Mailand 195-196,199 „80-20-Regel" 18 Afrika 39,64,138,176-177,196, 216,220,222-223 - ausländische Direktinvestitionen in 116 - Einkommensunterschiede in 111 - Gini-Koeffizient in 44 - globale Mittelklasse und 181 - globale Ungleichheit und 165 - Haushaltserhebungen in 158 - Migration und 137-139 - Ungleichheit innerhalb der Länder und 44,111,121,140-144,145149 - Wirtschaft in 151-152 Afroamerikaner 189 Ä gypten 64,176,216 Albanien 135 Algerien 64-65,140,143,218 Amalrik,Andrej 91 Andalusien 64,143 Angola 124 Anna Karenina (Tolstoi) 9,50-53 Anonymitätsprinzip 37 Araber 138 Arbeit 11-12,15,24,54,68,84,97, 132,145,150,196 Beschäftigung im öffentlichen Dienst und 21 - Migration von 137 Arbeiter 16,96,101,118,121,195 - -aristokratie 122 Besteuerung und 17 - Einkommensverteilung und 15,97 - Handel und 21 - Investitionen und 25 - Sozialismus und 120,122 Arbeitslosigkeit 67-68,91

Argentinien 109,153,192 Aristokratie 101 Arkansas,USA 185 Arme 18,23,30,63,92,97,140, 184,186 - Besteuerung und 22,29,39,82 - Bildung und 21,29 - globale Ungleichheit und 164-166 - Investitionen und 25 soziale Arrangements und 36-37 - Staatsausgaben und 27-28 - Umverteilung und 82,89 Arme Länder 19,107,113,121,125, 129,146,159-163,182-183, 189,193,216,221-222 - Globalisierung und 114-118, 130-133,150-152,211 - Handel und 21 - Migration aus 112, 134-135, 137, 144 - Technologie und 114,116-117 Armenien 64 Armut 10,20,48,63-64,67,77,91, 98,163,170,186,213-214,220, 222 - Bekämpfung von 97 Aron,Raymond 98-99 Arsenal London 196,199 Asien 10-11, 121,154-155,181, 196,216 - Gini-Koeffizienc in 44 - globale Ungleichheit und 165, 190-194 - Heterogenität von 190-194,221222 - Lateinamerika als ein Spiegelbild von 190-194 Asketismus 26 Äthiopien 111,176 Atkinson,Anthony 22,32,34 Aufnahme- und Nothilfezentrum,Italien 142

253

Index Aurelius,Marcus 59 Ausländische Investitionen 17,115116 Austen,Jane 9,46-49 Australien 152-153,155,176 Auswanderung - ,,Abschreckungsstrategie" und 141 - aus dem Maghreb 138,140 - Einkommensunterschiede und 12, 112,114 - Globale Ungleichheit und 114,211, 214 - Globalisierung und 211 - Integration und 137-138 - Lebensstandard und 135,172 - Migration von Arbeit 135-138,172 - Rawls,John und 211-212 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 124,133,134-139, 140-144

B Balkan 65 Banerjee,Abhijit 22 Bangladesch 136,168,190-192 B ayern München 195,199 Beitz,Charles 170 Belgien 65,128 Bennet,Elizabeth 46-49 Bennet,Mr. 46-49 Bennet,Mrs. 46,48 Bensaad,Ali 143 Bentham,Jeremy 35 Berlusconi,Silvio 142,196 Beschäftigung 21,67 - im öffentlichen Dienst 21 - Sozialismus und 71 Besteuerung Arbeiter und 16 Arme und 27,39 - Bildung und 16 - direkte 16 - Einkommensverteilung und 16,48 - imerpersonale Ungleichheit und 22-23,27 - Investitionen und 27 - Kapitalismus und 28 - Staatsausgaben und 27

254

- verfügbares Einkommen und 81 - wählen und 27 - Wirrschafcswachstum und 27-28 Bewegung der Blockfreien 124,217, 219 Bhagwati,Jagdish 168 Bildung Arme und 21 Besteuerung und 16 - interpersonale Ungleichheit und 16-17,19,21 - Sozialismus und 68 wirtschaftliche Entwicklung und 29 Wohlstand und 25 Bingley, Mr. 47 BIP. Siehe Bruttoinlandsprodukt Bolivien 176,191-192 Borussia Dortmund 199 Bosman-Urteil 195,199 Bourgeoisie 77,122 Bourguignon,Franc;:ois 167 Brasilien 108,126-129,180,191, 216,218 - Preisniveau in 108, - Ungleichheit in 43,159 Bruttoinlandsprodukt (BIP) - von China 92-94,108-110,112113,153 - EU und 65,187-189 - globale Ungleichheit und 157 - von Indien 113 - von Japan 113,190 - Lateinamerika und 190 - Messung von 41 - von Mexiko 135 - der Niederlande 120 - pro Kopf 41,125 - Römisches Reich und 60-61,105 - der Sowjetunion 88,153 - Staatsausgaben und 21 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 90,105-106,109110,125 - der Vereinigten Staaten 56,109, 113-114,135,153,187 Bulgarien 184-185,187-188

Index Burma 190,221 Bush,George H. W 43 Bush,George W. 43, 47,60,203

C Cambridge, Universität von 16 Carnegie,Andrew 55-56 Cassius Dio 61 Chavez, Hugo 220 Chile 124,177,190-191 China 39,45,90-95,151-154,176, 179,217-220 - ausländische Direktinvestitionen in 115 - Bevölkerung in 179 - BIP pro Kopf in 92-94,113 - Einkommensverteilung in 110, 191,214 - Gini-Koeffizient in 44,92-93 - globale Ungleichheit und 164, 167-168 - Haushaltserhebungen in 39,157158 - interpersonale Ungleichheit und 44,90-91,104 - Preisniveau in 108,176 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 106-116,120, 126-127 - Wachstumsrate in 111,179 - Wirtschaftswachstum in 92,111, 162,164,167,182,219-222 Chodorkowski,Michail 56-57 Chongqing, China 93 Christianisierung 79 Clark,Gregory 121 Clinton, Bill 43 Cohen, Joshua 214 Collins, William 47 Colquhoun, Robert 46 Commodus 59 Conseil National de la Recherche Scientifique 77 Crassus, Marcus 55-58

D Dalton, Hugh 38 Dänemark 67, 185-188

Darcy,Mr. 46-48 Das Kapital (Marx) 120-121 Das kommunistische Manifest (Marx) 100,120,122 Das Recht der Völker (Rawls) 211, 214-215 DDR 69,88 De Silva, Lula 220 Deglobalisierung 151-152 - Siehe auch Globalisierung Demokratie 28-29,81-82,85,168, 204,216 Demokratische Partei,Demokraten 203 Deng Xiaoping 219 Der Mantel (Gogol) 104 Deutsche Sozialdemokraten 122 Deutschland 88,128,137,153, 170, 184,187-188 Fußballklubs in 195,197,199 - Umverteilung in 83 Ungleichheit zwischen den Län­ dern und 120 Diskriminierung 25 Disney 117 Djilas,Milovan 70 Domestic Servant Pocket Register 146 Dominikanische Republik 32-33 Dostojewski, Fjodor 104 Dreamsfrom My Father (Obama) 145, 147 Dritte Welt 116, 121-122,182, 216220,222

E Edgeworth, Francis 33 Eine Theorie der Gerechtigkeit (Rawls) 36,169,211,214 Einkommen - absolute Unterschiede von 114 - gleichverteiltes Äquivalenz- 32,34 - verfügbares 81-82,85-86 Einkommensdivergenz 110-118,123, 213,215 Einkommensungleichheit. Siehe auch globale Ungleichheit; interpersona­ le Ungleichheit; Ungleichheit zwi-

255

Index sehen den Ländern Einkommens­ verteilung - Arbeiter und 15 - Besteuerung und 16-18,48 - ,,ehernes Gesetz" der 73 - funktionale 96-97 - Gesellschaft und 18 - globale 127,130,173-178 - in Großbritannien 46-49 - Haushaltserhebungen und 20 - Kapitalismus und 15,28 - Klasse und 15-16 - Marke 82 - Pareto,Vilfredo und 96-104 Pariser 74-80 politische Ökonomie und 16 in Russland 50-53 Sozialismus und 98 - Staat und 15-16 staatliche Verteilung und 81-86 - Theorie der 96-104 - Ungleichheit und 15-16 - Unveränderlichkeit von 18 - wirtschaftliche Entwicklung und 15-17 El Salvador 191 Elfenbeinküste 89,128 Eliten 72-73,100-102,138,198, 206-210 - Einkommensverteilung und 18 - interpersonale Ungleichheit und 18 - kommunistische 72-73 Engels, Friedrich 122 England. Siehe Großbritannien Entwickelte Länder 81,160,179180, 182,216,219 - Haushaltserhebungen und 39 - interpersonale Ungleichheit und 43 - Technologie und 150 Epikureismus,Epikureer 33 Erbschaft 22, 25, 31,47, 52, 61 Erkennungs- und Ausweisungslager, Italien 142 Ersparnisse 25,41 Erste Welt 216-219,222 Erster Weltkrieg 27,105, 116, 122, 151-152

256

Estland 186 Ethik 26 EU. Siehe Europäische Union Europa 18,176 - Einkommensunterschiede in 111 - Fußballklubs in 195 - globale Ungleichheit und 170 - Kommunismus,Ende des und 111 - Ungleichheit zwischen den Ländern in 111,121 Europäische Union (EU) 90,92,138 - BIP pro Kopf in 187,189 - Einkommensunterschiede in 187188 - Fußballklubs und 195-199 - Gini-Koeflizienr in 43,64,188 - globale Ungleichheit und 184-189 - interpersonale Ungleichheit und 43-44 - Vereinigte Staaten vs. 184-189 Europäischer Gerichtshof 195

F Fähigkeiten-Ansatz 34 Fanon, Frantz 140 Faschismus 151 FC Chelsea 196,199 FC Liverpool 196,199 Feudalismus, Feudalisten 18 Finnland 185,187-188 Firebaugh, Glenn 167 Forbes Magazin 56-57 Frankreich 45,65,67,88,99,124, 128,137,153-154,184,187188,214,219 - ausländische Direktinvestitionen in 115 - BIP pro Kopf in 153 - Pariser Arrondissement in 74-80 - Preisniveau in 109 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 107,110,124 Frontex 141 Fujian,China 92,94 Fußballvereine 195-200

G Gallien 64

Index Gansu, China 93-94 Gates, Bill 54-56 Geburtsort. Siehe Sraarsbürgerschafr Gegenseitigkeit 36 Geistige Eigentumsrechte 117 Geopolitik 216-223 Georg III., König 60 Gerechtigkeit 22 - globale Ungleichheit und 169171,211 - interpersonale Ungleichheit und 17-18,30-37 - soziale Arrangemenrs und 30-37 - Umverteilung und 170-171 - Verteilungs- 169,205 Geschichte der ökonomischen Ana/,yse

(Schumpeter) 99 Gesellschaft 26,28,30-36,38,44, 49-50,59,61,63-64,66,69,7172,97,102,120,132,137,141, 143,159,168-169,180,206209,212-214 - Kapitalismus und 18,98 - Klasse und 100-101 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 18-25 Gesundheitswesen 35,85 Ghana 218 Gibbon, Edward 59 Gillet, George 196 Gini, Corrado 38,42 Gini-Koeffiziem 42--44,63,66-67, 92,103,123,159-161,167,184186,188,191-192,206-210,215 Gleichverteiltes Äquivalenzeinkommen 32,34 Globale Finanzkrise 201-205 Globale Mittelschicht 113,179-183 Globale Ungleichheit 123,126 - Arme und 164-166 - Asien und 190-194 - BIP pro Kopf und 155 - dreigeteilte Welt und 216-223 - Einkommensunterschiede und 161-162 - Entstehung der 166-168 - Fußballklubs und 195-200

-

Geopolitik und 216-223 Gerechtigkeit und 169-171 Gini-Koeffiziem und 159,161 globale Einkommensverteilung und 173-178 - globale Mittelschicht und 179183 - Globalisierung und 160, 162-164 - interpersonale Ungleichheit und 157 - Lateinamerika und 190-194 - Messung von 157-158,173-178, 206-210 - Migration und 124,214 - Rawls,John und 211-215 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 120-124,125-129, 157-159,162 - Verteilungen in den Zwanzigsteln und 126-128 - Wichtigkeit der 168-171 Globalisierung - arme Länder und 114-117,150151 - De- 150-155 - Einkommensunterschiede und 160,162-164 - Fußballklubs und 195 - globale Ungleichheit und 162-164 - Lucas-Paradox und 116 - Migration und 214 - Technologie und 116-118,150 - Trilemma der 171-172 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 150-155 - Vorteile von 150 Globalisierung 2.0 114, 116-117, 119,151,172 - Siehe auch Globalisierung Gogol,Nikolai 104 Goldenes Zeitalter 55,202 Goten 105 Grenznutzen 16,31-33,98 Griechenland 64,135-136,153,176, 187-189,216 Großbritannien 48,115,154,186188,210

257

Index - ausländische Direktinvestitionen in 115 - Einkommensverteilung in 48-49, 104 - Erbschaftsrecht in 47 - Fußballklubs in 196-197 - Globalisierung und 116 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 110,115,128 Großostasiatische Wohlstandssphäre 124 Grundbesitzer 15,96 Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung (Ricardo) 6,96

Gruppe der 77 217 Guangdong, China 93-94 Guinea-Bissau 210 Guizhou, China 93-94

H Handel 21,93,151,171 Haushaltserhebungen 19-20, 22,3840,53,13� 157-158, 166,17� 181 Hicks,Tom 196 Historiae (Tacicus) 61 Hitler,Adolf 153 Honduras 90 Hongkong, China 93,190-191 Humanität 169 Humankapital 28-29 Hunan, China 45,94,108

I Indien 10,39,104,115-116,124, 132,152,219 - Bevölkerung in 179 - BIP pro Kopf in 113,208 - Einkommensuncerschiede in 110, 213-214 - globale Ungleichheit und 167-168, 176,190,209,216,218,221 - Preisniveau in 108-109 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 106,108-112,120,124, 126-129 - Wachstumsrate in 110,179

258

- Wirtschaftswachstum in 161-162, 164,182,221 Indonesien 135,-136,149,168,176, 221 Industrie 19,59,67,102 Industrielle Revolution 104-105, 110, 151, 167-168, 221 Innovation 69,118 Integration 137-138,150,222-223 Inter Mailand 196,199 Internationaler Wahrungsfond 171 lnterpersonale Ungleichheit - Anna Karenina (Tolstoi) und 5053 - Besteuerung und 22-23,27 - Bildung und 17,19,21,25,28 - Entstehung von 17,96 - Ethik undl7-18 - Gerechtigkeit und 17-18 - Geschichte der 54-58 - Gesellschaft, Einkommensniveau von und 18-24 - hohes Maß an 17,28,92 - Investitionen und 26-30 - Kapitalismus und 66-67 - Klasse und 26 - Kommunismus und 72-73 - Kuznets, Simon und 101-104 - Kuznets-Hypothese und 19-22 - Messung von 37-45,66-67 - Ökonomie und 17 - Pareto,Vilfredo und 96-104 - Pariser Arrondissements und 7480 - positive vs. negative 24-25,29-30 - Römisches Reich und 59-65 Soziale Arrangements und 31-37 Sozialismus und 66-73,100-101 Staatsbürgerschaft und 111-112 - Stolz und Vorurteil (Austen) und 46-49,51-53 - Theorie der 96-104 - Umverteilung und 81-86 - wirtschaftliche Entwicklung und 17,19-20,24-30 - wirtschaftliche Gerechtigkeit 3037

Index Investitionen 16,171,202-203,223 - Arbeiter und 25 - Arme und 25 - ausländische 17,114-116 - Besteuerung und 27 - interpersonale Ungleichheit und 25-26 - Löhne und 114 Irland 187-189 Italien 45,62,64,67,88,99,135136,141,177,186-188, 197, 199,

J

Japan 95,154,177,191,193-194, 216,219,221,223 - BIP pro Kopf in 113,153,190 - Gini-Koeflizient in 44 - Preisniveau in 107-108 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 107,124,154 Jelzin, Boris 89 Jerusalem, Universität von 75 Jiangsu,China 92,94 Jugoslawien 87,89-90,153 Julian,Kaiser 79

K Kambodscha 124,221 Kamerun 128 Kanada 131,137,153,155,179 Kanarische Inseln 140 Kapitalismus,Kapitalisten 18,96-98, 120-122,216-217 - Asketismus und 26 - Besteuerung und 28 - Einkommensverteilung und 15,28 - Ersparnisse und 27 - Gesellschaft und 15 - interpersonale Ungleichheit und 66-67 - Lohn und 69 - Sozialismus vs. 66 - Wohlfahrts- 67 Karenin,Alexej Alexandrowitsch 5053 Karenina,Anna 50-53 Kaufkraftparität 54,65,109,135

Kaufkraftparität-Dollar (KKP-Dollar) 109,113-114,126-127,176178,180,182,184,190,208, 210,218 Kavafis,Konstancinos 223 Kenia 145-149 Keynes,John M aynard 26 Kirchner,Nestor 220 KKP-Dollar. Siehe Kaufkraftparität­ Dollar Klasse 61-63,71-72,122 - Einkommensverteilung und 1516,193 - Gesellschafts- 70,96 - interpersonale Ungleichheit und 15-16,26 Solidarität und 123-124 Kleinasien 64 Kommunismus 44,91,223 interpersonale Ungleichheit und 72,87 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 111 Kommunistische Partei,70 Kongo 111,128 Konstantin der Große 79 Korea 132,154,177 Korsika,Italien 64 Kosmopoliten (in der politischen Philosophie) 171 Kosovo 90 Krieg 17, 22,151,153,212 Krösus 55 Kuba 32-33 Kulturrevolution (China) 39 Kuznets, Simon 18-22,39,59,96, 101-104 Kuznets-Hypothese 20-22,59,102, 104 Kynaston, David 98

L Lampedusa 142 Landreform 25,67 Landwirtschaft 19 Laos 221 Lateinamerika 72,176,186,196, 216-217,219-220,223

259

Index - Asien als Spiegelbild von 190-194 - BIP pro Kopf in 154,190 - Einkommensunterschiede in 120121 - Gini-Koeffizient in 44 - globale Mittelklasse und 179,181 - globale Ungleichheit und 165 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 103,110-111,120121,190-194 Lausanne,Universität von 16,98 Lebensstandard 53,121,190,214 - Migration und 134-135,172 Levski Sofia 196 Libyen 64,140-141 Ligurien,Italien 45 Litauen 185,187-188 Löhne 15,21,41,54,81,96,121, 146,208 - Investitionen und 114 - Kapitalismus und 68 - Sozialismus und 68-70 Lombardei,Italien 45 Lucas, Robert 6,167 Lucas-Paradox 116 Luxemburg 184-185,187-188

M Macao,China 93 Maddison,Angus 64,106,154 Maine, USA 45 Malaysia 44,124,135-136, 191,194, 197,219 Manchester United 196,199 Mao Tse-cung 95,122,124,217 Marginalistische Revolution 16 Marokko 64,131,135-136,140 Marshall,Alfred 16,61 Marx,Karl 16,100-101,120-124, 159 Mazedonien 135-136 Mechanisierung 16 Menschenrechte 138,212-214 Merkantilismus 151 Messi,Lionel 197 Messung - BIP und 41 - Gini-Koeffizient und 42-44

260

- der globalen Ungleichheit 157158,173-178,206-210 - Haushaltserhebungen und 22-23, 38-40 - Innerhalb-Komponenre der Un­ gleichheit und 45 - der interpersonalen Ungleichheit 37-45 - Konsum und 39-41 - Steuerdaten und 17,38-39 - der Ungleichheit zwischen den Ländern 106-109 - Zwischen-Komponente der Ungleichheit und 45 Mexiko 138,170,209,218 - BIP pro Kopf in 135-136,208 - Geschichte des Wohlstands in 5758 - Migration und 135 Microsoft 117 Migranten aus dem Maghreb 138, 140-144 Mill,John Stuart 35 Mittel,Lakshmi 196 Mittelschicht 23,27,97 - globale Finanzkrise und 201-205 - globale 113,179-183 - Römisches Reich und 63 - Umverteilung und 84-86 Möglichkeitsgrenze der Ungleichheit 207-210 Montesquieu,Charles de 203 Morales,Evo 220 Morrisson,Christian 123,167 Mosambik 210

N Nagel,Thomas 169 Napoleon III. 77 Napoleonische Kriege 46 National Bureau of Economic Research 101 Nationalismus 124 Nationalsozialismus 151 NATO. Siehe North Atlantic Treaty Organization Nepal 152,190,193,216 Nero 55,61

Index Neue internationale Wirtschaftsordnung 124 1984 (Orwell) 91 Neuseeland 152-153, 155,176 New Hampshire,USA 185 Nicaragua 190-191 Niederlande 152-153,177,210 - ausländische Direktinvestitionen in 115 - BIP pro Kopf in 120 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 110,120 Niger 210 Nigeria 90,150,168 Nordafrika 64,134,138,140-143 North Adantic Treaty Organization (NATO) 218 Norwegen 107-108,155 Nutzen 26,29,31-38, 85,112-113

0 Obama, Barack 43,145-149 Obama, Barack,Sr. 145-149 Obama, Hussein Onyango 145-147 Oblonskij,Stepan 51 OECD. Siehe Organization for Eco­ nomic Cooperation and Develop­ ment Ökonomie 96 - Einkommensverteilung und 15-16 - Geopolitik und 216-223 - neoklassische 16,114-115,150, 152 Oktavian,Augustus 59,61 Oregon,USA 45 Organization for Economic Coopera­ tion and Development (OECD) 134 Ortsabhängig 121,124,130,193 Orwell,George 91 Österreich 65,116,187-188 Ozeanien 121,153,164

p Pakistan 131,168,190 Pallas,Marcus Antonius 55 Panama 180 Papua-Neuguinea 216

Pareto,Vilfredo 16-19,22, 35,39, 42,73,96-104,159,178 - Einkommensverteilung und 72-73 - ,,Gesetz" der Einkommensverteilung von 73,100-103 - Hintergrund von 98-99 - Pareto-Optimum und 99-100 Paris,Frankreich - Einkommensverteilung in 74-80 - Vermögensverteilung in 76,78 Pariser Arrondissements 74-80 Peking,China 92-94 Persischer Golf 64 Peru 192 Pharmaunternehmen 117 Philippinen 44 Piketty,Thomas 22-23 Pinc;on, Michel 77 Pinc;on-Charlot,Monique 77 Platon 30 Polen 67,153,187-188 Politische Parteien 22,203 Portugal 155,176,187-189,216, 218 Preise 15-16,54,56,107-108,115, 159-160,176,183 Privateigentum 68,151 Produktion 31,54,117-118,218 Projekt für internationale Preisvergleiche 107 Proletariat 122 Provence 64

R Rawls,John 36,169,211-215 Reagan, Ronald 43,104 Reiche 17,21,23,28,52,54-58,72, 76,92,97,161,203 - Ersparnisse und 25,27 - Investitionen und 25-26,116,201 soziale Arrangemenrs und 30-31, 36-39 Renrier 27 Republikanische Partei, Republikaner 203 Revolution (1848) 98 Ricardo, David 6,15,96 Reiche Länder,Migrarion in 134-139

261

Index Rockefeller,John D. 55-58 Rodrik, Dani 171 Römisches Reich 54,58,59-65,157, 190,209 - BIP pro Kopf im 105 - Christianisierung des 79 - Gini-Koeffizient im 63 - Mittelklasse und 63 - Senatoren des 62-63 - soziale Struktur des 59-60 Rumänien 136,184-185, 187-188 Russische Revolution (1917) 67,151 Russland 67,219,222 - Geschichte des Wohlstands in 5658 - Gini-Koeffiziem in 44 - interpersonale Ungleichheit und 44,52-53,214 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 88-89,104,107,120 - Siehe auch Sowjetunion

s

Saez, Emmanuel 22 Sambia 109 Sardinien,Italien 64 Saudi Arabien 61 Scheide!,Walter 61 Schumpeter,Joseph 99 Schweden 44,187-188 Schweinegrippe 170 Schweiz 65,88, 153,177,218 Sen,Amartya 34 Shandong,China 92,94 Shanghai,China 92-94 Shriniwatra,Thanksin 196 Sichuan,China 45,94 Simbabwe 128 Singapur 177,190-191,219,221 Sizilien,Italien 45, 64,142 Slim, Carlos 56-57 Slowakei 43,187-188 Slowenien 90,218 Smith,Adam 54,221 Sokrates 30 Solidarität 121, 123-124, 219 Somalia 170 South Dakota, USA 185

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Sowjetunion 69,91,94, 154-155, 217-218 - BIP pro Kopf in 153 - globale Ungleichheit und 165 - Haushaltserhebungen in 39,158 interpersonale Ungleichheit und 87-89 Kommunismus,Ende des und 111 Ungleichheit zwischen den Län­ dern und 106-107 - Ungleichheit zwischen den Repub­ liken in 87-90 - Zusammenbruch der 87, 106-107 Siehe auch Russland Soziale Arrangements Arme und 36-37 Erwünschtheit von 30-37 - Gegenseitigkeit und 36 Gerechtigkeit von 30-37 - Reiche und 30-31,36-37 Utilitarismus und 35-38 - Welfarismus und 30-36,38 Soziale Wohlfahrtsfunktion 31,34 Sozialismus 18 - Arbeiter und 120 - Beschäftigung und 71 - Bildung und 68 - Einkommensverceilung im 98 - Gini-Koeflizient für 66-67 - Innovation und 69-70 - interpersonale Ungleichheit und 24,66-73, 100-101 - Kapitalismus vs. 66 - Kommunistische Partei und 70 - Löhne und 68-71 - proletarische Revolution und 120 - Wirtschaftszyklen und 71 Spanien 45,64,88,90,153,184,216 - Fußballklubs in 195-199 - globale Ungleichheit und 177, 187-189 - Migration und 134-136, 142-143 Staatliche Sozialleistungen 35, 68,81, 174 Staatsausgaben 21,27,82 Staatsbürgerschaft 131,137,195 Stalinismus 91

Index Stolz und Vorurteil (Austen) 46-48, 51,60 Südafrika 43,159,165 Sudan 111 Südkorea 44, 89,124,191-192,194, 218-219,221,223 Sussman,Nathan 75 Suwara 141

T Tacitus,Cornelius 60-61 Tadschikistan 88 Taiwan 44,124,177,191,219,221 Tansania 218 Tausend und eine Nacht 117 Technologie arme Länder und 114,116 ausschließliche 117 - entwickelte Länder und 150 - Globalisierung und 116-118 - Newtonsches Gesetz und 118 - wirtschaftliche Entwicklung und 150 - Wirtschaftswachstum und 116117 Tennessee,USA 185 Texas,USA 185 Thailand 217,221 Thatcher,Margaret 104 Tianjin, China 92-93 Tiberius 60-61 Tibet,China 93-95 Tocqueville,Alexis de 19-20 Tolstoi, Leo 9,50, 53 Trajan 64 Tripolis 141 Trotzki,Leo 122 Tschad 216 Tschechische Republik 187-188,218 Tschechoslowakei 87 Tschiang Kai Schek 95 Tunesien 64-65,138,140,142 Türkei 155,176,182,218 Twain,Mark 180

u

Ukraine 107 Umverteilung 90,211

- Arme und 82, 89 - Gerechtigkeit und 170-171 - interpersonale Ungleichheit und 81-86,102 - Mittelklasse und 82, 84-86 - Profiteure der 81-86 - staatliche 81-86 - wählen und 82,84 Ungarn 67,186-188 Ungleichheit - Begründung der 26 - Einkommensverteilung und 15 große 120,208 - Klasse und 15-16 - Sozialismus und 24 - tatsächliche vs. Grenz- 207-208 - Siehe auch Globale Ungleichheit; Imerpersonale Ungleichheit; Un­ gleichheit zwischen den Ländern Ungleichheit der Individuen innerhalb eines Staates. Siehe lnterpersonale Ungleichheit Ungleichheit der Individuen verschie­ dener Länder. Siehe Ungleichheit zwischen den Ländern Ungleichheit zwischen den Ländern - absolutes Einkommen und 113114 - BIP pro Kopfund 105,107-113, 120,125,130,135, 153-155, 157,166,184-185,187-189, 208,218 - Einkommensunterschiede und 114-119 - globale Ungleichheit und 120124,125-129, 158-159, 160-164 - Globalisierung und 114-119, 150-155 - Kommunismus und 111 - Marx, Karl und 120-124 - Messung von 106,108-110 - Migration und 114,124,133, 134-139,140-144 - Obama, Barack, Familie und 145149 - ortsabhängig und 124 - Staatsangehörigkeit und 130-133

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Index - Vergleichsprojekte und 107-110 U.S. Steel 55 Urknall-Analogie 105,110 Uruguay 191 Utilitarismus 35-38

V

Vereinigtes Königreich. Siehe Großbri­ tannien Vereinigte Staaten 39,55,57, 64, 83, 124,127,132,148-149,152153,155,175,182,213,217,223 - ausländische Direktinvestitionen in 115-116 - BIP pro Kopf in 56,108-109, 112-113,135,152,187,202 - Einkommensungleichheit in 187, 201,208-209,214 - Einkommensverteilung in 104 - EU vs. 184-189 - Gini-Koeffizient für die 43-44, 188 - globale Finanzkrise und 201-202 - globale Mittelklasse und 179 - globale Ungleichheit und 168, 184-189 - interpersonale Ungleichheit und 43-44 - Migration und 135-138,212 - Mittelschicht in 202-205 - Preisniveau in 108 - Sport in 195 - Umverteilung in 83 - Ungleichheit zwischen den Ländern und 45,88,108-109,112114,125-126,128-129,131, 163,176 Verstaatlichung 28,67-68 Verteidigung der Globalisierung (Bhagwati) 168 Vierte Welt 220-222 Vietnam 10,190

w

Wahl 22, 27,84,86,168,203 Wahlrecht 29 Wall Street 73

264

Walras, Leon 98 Weber,Max 26 Welfarismus 31-32, 34-35, 37-38 Weltbank 97,136,158,171,188 Welthandelsorganisation 171 Weltwirtschaftskrise 152-155 Wird die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? (Amalrik) 91 Wirtschaftliche Entwicklung - Besteuerung und 28 - Bildung und 29 - in China 161-162,167,218-219 Einkommensverteilung und 15-16 - gesellschaftliches Monopol und 29-30 - in Indien 161-162,167 interpersonale Ungleichheit und 17,24-26,28 Technologie und 114,150 Wisconsin,USA 185 Wohlstand 17, 20,26, 30,71,90, 93, 130,133,143,149,203,213, 219,221 Bildung und 25 Geschichte des 54-58 - Liebe und 48-49 in Paris,Frankreich 74-80 - vererbter 22, 25,31,46-49 Wachstum von 16, 25,102,115, 223 Wohlstand der Nationen (Smith) 221 Wohltätigkeit 97 World, Apart (Milanovic) 123,173 Wronskij, Graf 50-53

y Yunnan, China 45,93-94

z

Zhejiang, China 92, 94 Zweig,Stefan 27 Zweite Welt 216,218-219 Zweiter Weltkrieg 24, 39,66,89, 105,124,151-153,155,203, 216-217 Zwischen-Komponente der Ungleich­ heit 45

Über den Inhalt Alle reden von Ungleichheit, seitdem der Mittelstand schrumpft und die Schere zwischen Arm und Reich größer wird. Stimmt das wirklich: Führt Kapitalismus zwangsläufig zu Ungleichheit? Wie müssen wir dann die Wohlstandsphase nach dem Zweiten Weltkrieg verstehen? Und bedeutet höheres Wachstum besseres Einkommen für jeden? Branko Milanovic´ zählt zu den weltweit führenden Experten zur Einkommensverteilung und war lange Jahre leitender Ökonom innerhalb der Weltbank. Seine These: Im Kapitalismus kann es beides geben, Phasen von Ungleichheit wie von Gleichheit. Und doch müssen wir heute dringend etwas tun. Nur: Was sind zeitgemäße Mittel? Um Ungleichheit zu verstehen, wählt Milanovic´ einen erfrischend anderen Blick als seine Fachkollegen. Der Wirtschaftsstatistiker schaut auf die internationalen und historischen Daten und fragt, wo wir selbst stehen. Wie stark ist unsere Kaufkraft im Vergleich mit derjenigen der reichen Mittelschichten in China oder der armen Mittelschichten in Afrika? Was können wir uns im Vergleich zu anderen leisten? Und wie war das früher: Wo steht Bill Gates im Vergleich zu Nero? Branko Milanovic´ erklärt die ökonomischen Hintergründe der Diskussion über die Zukunft unserer Gesellschaft – ohne ideologische Scheuklappen und mit einer Prise Humor.

Über den Autor Branko Milanovic´ ist Professor an der City University of New York und einer der weltweit angesehensten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Bevor er in den Universitätsdienst eintrat, war er lange Jahre leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er hat zahlreiche Bücher und mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut veröffentlicht. Allein dieses Buch wurde in elf Sprachen übersetzt.