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German Pages 384 Year 2016
Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz, Tino Schlinzig (Hg.) PEGIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung?
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Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz, Tino Schlinzig (Hg.)
PEGIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Zum Buch | 9
T eil I: K ontexte Dresden-Szenen Eine einleitende Situationsbeschreibung Karl-Siegbert Rehberg | 15
T eil II: A nalysen 1. Dresden-Beobachtungen – von innen »Streitet Dresden voran?« Die Avantgarde-Funktion der Stadt für gesamtgesellschaftliche Debatten seit 1989 Joachim Fischer | 53
Neun unorthodoxe Thesen zu PEGIDA Werner J. Patzelt | 69
Im Netz ist jeden Tag Montag Stefan Scharf und Clemens Pleul | 83
PEGIDA – Provinzposse oder Vorbote eines neudeutschen Rechtspopulismus? Hans Vorländer | 99
2. Dresden-Beobachtungen – von außen Everything Counts in Large Amounts Zur Problematik der Zählung von Demonstrationsteilnehmern Roger Berger, Stephan Poppe und Mathias Schuh | 113
Nach dem Hype Drei Entwicklungen von PEGIDA seit dem Winter 2014/2015 Lars Geiges | 133
Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist Piotr Kocyba | 147
Außenseiter oder Repräsentanten der Mehrheit? Selbst- und Fremdwahrnehmung der Teilnehmer von PEGIDA-Kundgebungen Karl-Heinz Reuband | 165
Inwiefern und warum ist PEGIDA erfolgreich? Dieter Rucht | 189
3. Massenmedien und Diskurse Die Medien und PEGIDA – eine dreifach prägende Beziehung Lutz M. Hagen | 207
Entfremdete Doppelgänger und epistemologische Komplizen Das Verhältnis von PEGIDA, Politik und Massenmedien als Symptom multipler Krisen Tino Heim | 223
PEGIDA im Fokus der Medien Olaf Jandura und Grit Jandura | 245
4. Rechtspopulismus und gesellschaftliche Krisenphänomene Die national-soziale Gefahr PEGIDA, Neue Rechte und der Ver teilungskonflikt – sechs Thesen Klaus Dörre | 259
PEGIDA – Populismus in Dresden und darüber hinaus Jost Halfmann | 275
Der Versuch einer sklerotischen Gesellschaft, sich die Welt vom Leibe zu halten – und ein Vorschlag zum Neuanfang Hartmut Rosa | 289
5. Bedrohte Demokratie PEGIDA, politische Gelegenheitsstrukturen und der neue Autoritarismus Oliver Nachtwey | 299
Der PEGIDA-Komplex und die politische Kultur des Landes Frank Richter | 313
Wenn der Staat versagt Pfade zum »hausgemachten« Terrorismus Britta Schellenberg | 323
T eil III: E ssays Dresden zeigt, wie’s geht? Ein Versuch über PEGIDA und die »sächsischen Verhältnisse« Michael Bittner | 339
Der Augenblick der Populisten Heinz Bude | 347
Zur Psychodynamik von Protest und Gegenprotest Hans-Joachim Maaz | 355
Dialog, 30. 11. 2015, gegen 19.30 Uhr, Tagung zu PEGIDA in der ehemaligen Kapelle des Dresdner Residenzschlosses Ingo Schulze | 367
Autorinnen und Autoren | 371
Zum Buch
Die Dresdner »Spaziergänge« von PEGIDA haben seit Oktober 2014, nachdem die Zahl der Teilnehmenden auf viele tausend Menschen gestiegen war, einen regen medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs zur Bedeutung und zum Umgang mit dieser Bewegung provoziert. Seither wurden vielfältige sozialwissenschaftliche Anstrengungen unternommen, dieses in seiner Dimension unerwartete und dynamische soziale Phänomen zu beschreiben und zu verstehen. Nach etwa zweijähriger Präsenz von PEGIDA und einer Vielzahl von Einzelpublikationen liefert das vorliegende Buch erstmals einen umfassenden und orientierenden Überblick zu aktuellen Untersuchungen und Deutungen der PEGIDA-Bewegung. Das Buch eignet sich sowohl als Einstiegslektüre für eine ganzheitliche und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema wie auch als aussagekräftige Quelle zur gezielten Beschäftigung mit einzelnen Aspekten. Den Hintergrund des vorliegenden Buches bildet das öffentliche, achtstündige Public Sociology Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie,1 das am 30. November 2015 in der Schlosskapelle des Dresdner Residenzschlosses stattfand und von der Herausgeberin und den Herausgebern initiiert und organisiert wurde. Unter dem Titel »PEGIDA: Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung?« standen Fragen nach den Ursachen, aber auch nach den Abläufen der »Spaziergänge« sowie nach unterschiedlichen Interpretationen der PEGIDA-Bewegung im Vordergrund. Namhafte Sozialwissenschaftler, darunter Hans Vorländer und Werner J. Patzelt (beide Dresden), Karl-Heinz Reuband (Düsseldorf) und Dieter Rucht (Berlin) sowie Frank Richter von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und zwei öffentliche Intellektuelle: der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz (Halle/Saale) und der Schriftsteller Ingo Schulze (Berlin) beteiligten sich am öffentlichen Austausch über
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PEGIDA – Zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung?
Forschungsergebnisse und Deutungsperspektiven. In sechs Panelrunden stellten die insgesamt 16 Referentinnen und Referenten ihre Erklärungsansätze und Überlegungen zum Verständnis von PEGIDA – zugespitzt als Thesen und mit nur zehnminütiger Redezeit – vor und diskutierten diese anschließend auf dem Podium sowie mit dem Publikum. Das Interesse an der Veranstaltung war groß: der 250 Personen fassende Veranstaltungsort war fast durchgängig voll besetzt, viele warteten geduldig auf Einlass. Das Publikum bestand – der Absicht einer Public Sociology folgend und zur Freude des Veranstaltungs-Teams –, neben mit der Universität eng verbundenen Personen (insbesondere Studierenden), zu großen Teilen aus anderen Kreisen der Dresdner Bevölkerung (darunter zahlreiche PEGIDA-Sympathisierende – vgl. S. 41 f. im vorliegenden Band) und beteiligte sich rege an den Diskussionen. Nachdem es gelungen war, zahlreiche der am öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs um PEGIDA beteiligten Expertinnen und Experten zusammenzubringen und einen über diese hinausgreifenden Dialog anzuregen, sollen die Erträge des Forums nun – ergänzt um weitere, zusätzliche Aspekte beleuchtende Texte – durch das vorliegende Buch allen Interessierten zugänglich gemacht werden. Neben den (teils aktualisierten) Beiträgen des Public Sociology Forums finden hier auch die Überlegungen und Erkenntnisse jener Autoren Berücksichtigung, die am Tag der Veranstaltung nicht zugegen sein konnten, unter ihnen Hartmut Rosa (Jena), Heinz Bude (Kassel), Oliver Nachtwey (Frankfurt a.M.) und der zumindest lokal bekannte Autor und Kolumnist der Sächsischen Zeitung Michael Bittner. Insgesamt beinhaltet das Buch 23 Beiträge von 27 Autorinnen und Autoren und bietet so – dem Buchuntertitel entsprechend – »Analysen im Überblick«. Wer die wissenschaftliche und mediale Auseinandersetzung um PEGIDA seit ihren Anfängen verfolgt hat, der erkennt, dass der Beitrag eines Wissenschaftlers im vorliegenden Buch fehlt: Die Rede ist von Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, einem international renommierten Kommunikationswissenschaftler und Gründungsdirektor des Instituts für Kommunikationswissenschaft der TU Dresden. Auch er hat empirisch zu PEGIDA geforscht und beteiligte sich an öffentlichen Diskussionen zum Thema – so etwa am 14.12.2014 als Talkgast von Günther Jauch in der Sonntagabend-Talkshow der ARD. Sein früher und für alle unerwarteter Tod am 26. Juli 2015 verhinderte leider, dass seine Forschungsergebnisse und Ansichten hier ebenfalls nachzulesen sind.
K.-S. Rehberg, F. Kunz und T. Schlinzig: Zum Buch
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Einem Blick auf die Entwicklung der »Spaziergänge« und die dadurch bewirkten öffentlichen Reaktionen (Karl-Siegbert Rehberg) folgen im zweiten und umfangreichsten Teil Beiträge, in denen die jeweiligen Inhalte pointiert in Thesenform präsentiert werden. Die Ordnung dieser Beiträge entspricht den Titeln der Panels des Public Sociology Forums und beinhaltet folgende fünf Rubriken: »Dresden-Beobachtungen von innen« (1) sowie »von außen« (2), »Massenmedien und Diskurse« (3), »Rechtspopulismus und gesellschaftliche Krisenphänomene« (4) sowie »Bedrohte Demokratie?« (5). Der dritte Teil des Buches versammelt Beobachtungen in essayistischer Form. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die mit ihrem Beitrag den Wert des vorliegenden Buches geschaffen haben sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des transcript-Verlages, insbesondere Gero Wierichs für die sorgfältige und umsichtige Herstellung des Buches. Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz und Tino Schlinzig Dresden, Juli 2016
A nmerkung 1 Zur Teilnahme eingeladen waren alle Interessierten, der Eintritt war frei. Dokumentiert ist das Forum durch Video- und Audiomitschnitte sowie einen Pressespiegel (https://tu-dresden.de/gsw/phil/iso/for schung/projekte/public-sociology-forum). Wir bedanken uns an dieser Stelle noch einmal herzlich bei allen, die diese Veranstaltung finanziell gefördert oder anderweitig unterstützt und dadurch ermöglicht haben. Das gilt vor allem für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und deren Geschäftsführerin, Dr. Sonja Schnitzler (Essen), die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (insbesondere deren damaligen Generaldirektor Prof. Hartmut Fischer, der auch ein Grußwort beisteuerte sowie Katja Berger), Dipl.-Soz. Jana Günther, Dr. Tino Heim und Stefan Wagner vom Institut für Soziologie der TU Dresden sowie für engagierte Soziologie-Studierende. Nicht zuletzt gilt unser großer Dank dem Direktor des Medienzentrums der Technischen Universität Dresden, Prof. Dr. Thomas Köhler, sowie den Mitarbeitern Dipl.-Ing. Bernd Thamm und Ilko Klyszcz, B.A., für die professionelle technische Ausstattung und Betreuung der Veranstaltung.
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T eil I: K ontexte
Dresden-Szenen Eine einleitende Situationsbeschreibung 1 Karl-Siegbert Rehberg
I. A ufstieg und S tagnation der Patriotischen E uropäer gegen die I sl amisierung des A bendl andes (PEGIDA) 1. Aus der Dunkelheit in die Helle und weltweite Medienüberblendung In der pazifizierten und hochintegrierten, gleichwohl von sozialstrukturellen Spaltungen nicht verschonten Bundesrepublik Deutschland scheint es zwar bei etwa einem Viertel der dort Lebenden unüberwindbare rassistische, dabei sozusagen als Modell ressentimentaler »Menschenfeindlichkeit« immer auch noch: antisemitische Vorurteile zu geben (vgl. u.a. Herbert-Quandt-Stiftung 2007; Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2012; Bundeszentrale für politische Bildung 2015 und für Dresden, den von Wilhelm Heitmeyer und seinem Team verfassten, im »Elbflorenz« eher geheim gehaltenen Bericht: LandesPräventionsrat Sachsen 2010). In Umfragen zeigt sich auch die Bejahung rechtspopulistischer Positionen, wie sie zunehmend in vielen europäischen Ländern zu beobachten sind. Gleichwohl kommen derartige Einstellungen nicht immer in gleichem Maße explizit an die Oberfläche, zumal rechtsradikale Parteien in der Bundesrepublik bei Wahlen bisher nur begrenzte oder temporäre Erfolge aufzuweisen hatten (obwohl die NPD im Landesparlament von Mecklenburg-Vorpommern seit fast einem Jahrzehnt vertreten ist und nach zwei Legislaturperioden im Sächsischen Landtag 2014 nur um 800 Stimmen an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte).
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I. Kontexte
Auch aus diesem Grunde war die Masse der unter dem zusammengebastelten Label »Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA) in Dresden – und schnell (jedoch außer in Leipzig nirgends in vergleichbarer Größe) auch an anderen Orten, so in Wien, Edinburgh und sogar in Sidney – an jedem Montag zusammenströmenden Menschen eine Überraschung, wurde zur »Meldung«, ja führte zu einem PresseHype, war schnell und mit ganz anderen Rezeptionszahlen auch im Internet verbreitet und ließ Dresden, dadurch einen schweren Imageschaden verursachend, sozusagen als eine neue »Hauptstadt der Bewegung« erscheinen. Als das noch junge »Aktionsbündnis« am 20. Oktober 2014 zur ersten Demonstration aufrief, fanden sich nur 350 Teilnehmer ein, zwei Monate später waren es dann schon 15.000 (Geiges/Marg/Walter 2015: 11) und im Januar 2015 kam es zu der bisher größten Demonstration: Nach einer Zählung der Polizei waren es 25.000 Teilnehmende, während ein Forschungsteam »nur« 17.000 schätzte (vgl. Durchgezählt 2016 und Rucht im vorliegenden Band, Anm. 17). Seit der Studentenrevolte meinte ich zu wissen, dass die jeweils höheren Zahlen über die Beteiligung an Demonstrationen immer von den Veranstaltern und die niedrigeren von der Polizei kämen – bei PEGIDA war es in vielen Fällen umgekehrt (vgl. den Beitrag von Berger/Poppe/Schuh im vorliegenden Band). Spätestens von diesem Zeitpunkt an wurde das Phänomen der Dresdner »Spaziergänge«2 landes-, ja weltweit wahrgenommen. Anfangs hatte es die in winterlich-geheimnisvolles Dunkel sich einhüllenden Protestmarschierer mit aggressiven Abwehrgesten gegen Pressevertreter und einer Verbindung von Schweigen und Schreien gegeben; noch konnte man an einen »Spuk« glauben, unerklärbar und mit schnell verfertigten Gegenklischees erledigbar: So sprach die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft von »Rattenfängern«, der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir von »komischer Mischpoke« oder Bundesinnenminister Heiko Maas überhaupt von einer »Schande für Deutschland« (vgl. Kraft 2014, Özdemir 2014, Maas 2014). Die Beschimpfungsformeln können dann auch höhnisch gespiegelt werden, wenn etwa der Bundespräsident Joachim Gauck beim 116. Wandertag in Sebnitz angepöbelt und mit einem von Sigmar Gabriel gewählten Begriff 3 begrüßt wurde: »Das Pack grüßt Gauck« (Sächsische Zeitung 25.6.2016). Anfangs hatte der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (2014) »Neonazis in Nadelstreifen« vermutet – Letzteres, was die ›modische‹ Ausstattung betrifft, am sichtbarsten ein Fehlgriff. Hassparolen vergifteten nicht
K.-S. Rehberg: Dresden-Szenen
nur an der Elbe die politische Atmosphäre, wie etwa auch an dem am 17. Oktober 2015 verübten Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker kurz vor deren Wahl sichtbar wurde. Fünf Tage zuvor waren in Dresden bereits die Attrappen zweier Galgen mitgeführt worden, auf denen »Reserviert Angela ›Mutti‹ Merkel« beziehungsweise »Siegmar [!] ›das Pack‹ Gabriel« zu lesen war.4 Klar hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. Dezember 2014 in ihrer Neujahrsansprache gemahnt, dass die 1989 befreiend wirkenden Worte »Wir sind das Volk« nun etwas ganz anderes meinten (vgl. Gauck 2015), nämlich: »Ihr gehört nicht dazu – wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion.« Dem folgte ein Apell, der sie (vielleicht nun auch als Verräterin an den gemeinsamen DDR-Erfahrungen erscheinen lassend) tatsächlich zum Hassobjekt bei jedem PEGIDAAuftritt machen sollte: »Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen! Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen!« Gegen alle Zuspitzungen wollte PEGIDA am 21. Dezember 2014 eine Brücke zur konsumgeleiteten Vorweihnachtsstimmung schlagen: Gemeinsam sollten Weihnachtslieder auf dem Platz zwischen der Semperoper und der Hofkirche gesungen werden. Die erwünschte Stiftung einer heimeligen Gemeinschaftlichkeit mit den nicht schon gewonnenen Teilen der Bürgerschaft stellte sich jedoch nicht ein: Fast niemand kannte die angestimmten Weisen (und für manchen strammen Rechten mochte es unter seiner Würde sein, derartiges anzustimmen). So hörte man vor allem den Vorsänger auf dem Bühnenwagen. Und es ist dies durchaus charakteristisch für die Gesamtsituation der Protestierenden, in welcher ein weitgehend stolz-atheistisches Publikum ausgerechnet das christliche, seit der Reformation vor allem römisch-katholische und auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bezogen: vielleicht das AdenauerAbendland mit seiner Süd- und Westorientierung verteidigen will (vgl. Faber 1979). Da tat man sich mit Feindsetzungsparolen ins Ungewisse doch leichter. In der Bundesrepublik lieferten übrigens Scheindebatten darum, ob »der Islam zu Deutschland gehört« genügend Verwirrung: Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble hatte diese Aussage geschickt zur atmosphärischen Verbesserung der ersten Islamkonferenz 2006 ins Spiel gebracht und vier Jahre später wurde sie wohlmeinend, aber doch ungenau genug von Bundespräsident Christian Wulff wiederholt, was ihm nach Meinung einiger mitlaufender Verschwörungs-»Theoretiker« oder Obskuranten, die bei solchen Gelegenheiten nie fehlen,
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I. Kontexte
auch sein Amt gekostet habe. Und all diese aufheizenden Leerformeln wurden auch dadurch nicht besser, dass der sächsische Ministerpräsident Stanislav Tillich (2016) glaubte beschwichtigend hinzufügen zu müssen, das gelte aber nicht für Sachsen. Auch rätselt man seither immer häufiger darüber, ob nur die Muslims und Muslimas zu unserem Land gehörten, nicht hingegen deren Religion, obwohl diese doch unter dem Schutz der Religionsfreiheit des Grundgesetzes steht. Dem schnellen Anwachsen der zu PEGIDA Laufenden folgten Ereignisse, die manchen dazu verleiteten, deren baldiges Ende vorauszusagen. Zuerst schien Lutz Bachmann als dominierende Figur des Aktionsbündnisses untragbar geworden zu sein und trat am 21. Januar 2015 zurück, nachdem sein Porträt mit Hitlerbart aufgetaucht war (Festerling [Rede 9.3.2015]: »billige Fälschung«) und die Leipziger Volkszeitung ihn mit Facebook-Einträgen aus dem September 2014 zitiert hatte, wonach Flüchtlinge und Asylbewerber »Viehzeug«, »Dreckspack« und »Gelumpe« seien (FAZ 21.2.2015) (2016 wurde er dafür vom Dresdner Amtsgericht wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt [FAZ 19.4.2016]). Nach dem Rückzug Bachmanns traf sich der sächsische Innenminister Markus Ulbig am 27. Januar mit dem Rest des Organisationsteams (Saft/Berndt 2015), woraufhin zwei Tage später die damalige Frontfrau Kathrin Oertel mit weiteren drei Mitstreitern PEGIDA verließ, um den Verein »Direkte Demokratie für Europa« zu gründen, der sein Desaster beim ersten Mobilisierungsversuch auf dem Neumarkt am 8. Februar 2015 erlebte, als nur wenige hundert, zum Teil über die neue Idee schimpfende Besucher erschienen. Bald kehrte Bachmann zurück und zog einige Prominenz daraus, dass eine terroristische Bedrohung seines Lebens zur Aufhebung des angemeldeten PEGIDA-Treffens am 19. Januar 2015 führte – all das stand unter dem Eindruck der furchtbaren, islamistisch motivierten Ermordungen der meisten Redaktionsmitglieder des Pariser Satiremagazins Charlie Hebdo. Übrigens waren es gerade Unbestimmtheit und Heterogenität der politischen Parolen und Forderungen (ebenso wie der Teilnehmenden), welche eine Anziehungskraft und zeitweise Kontinuität der Auftritte erzeugten, die länger (in einer Schrumpfstufe bis heute) währten, als es die meisten Beobachter (so auch ich) erwartet hatten. Schnell wurde auch klar, dass hier unterschiedlichste Formen des Unbehagens einen »Ausdruck« gesucht und gefunden hatten. Daraus formte sich ein unbe-
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stimmtes Gemeinschaftsgefühl für die Einen und korrespondierend ein Bedrohungsgefühl für die Anderen. Anfangs glaubte man, nur Neonazis vermuten zu dürfen, deren Aufmärsche am Gedenktag an die Zerstörung des Dresdner Stadtzentrums am 13. Februar bereits eingespielt schienen (vgl. Rehberg/Neutzner 2015). Später – als sich die bei PEGIDA Mitlaufenden im hellen Tageslicht zeigten – glaubten manche Beobachter, nur noch »ganz normale Bürger« zu sehen. Werner Patzelt etwa nannte alle nicht »rechtsnational und xenophobisch« eingestellten Demonstranten großzügig »Gutwillige«, die er ihrerseits einteilte in Menschen mit einer »empörten« beziehungsweise »besorgten Gutwilligkeit« (Patzelt 2015: 25). Immer handelte es sich eben um die angenommenen Repräsentanten jener »Mitte«, die alle Parteien politisch für sich zu reklamieren versuchen. Beides war jedoch falsch (vgl. ähnlich Kocyba; dagegen Patzelt; beide im vorliegenden Band).
2. Chronologie einer nicht nur innerstädtischen Konfrontation Bestimmend sind an jedem Montag gemeinschaftsstiftende Schlagworte wie das eines »Totalitarismus« der Regierenden gegen das eigene Volk, verschärft ausgedrückt: die »Deutschland-verrecke-Entscheidungen« im Zeitalter des »Merkelismus« (Festerling 12.10. und 9.3.2015). Dann kann die Wut sich Platz schaffen, verhöhnt man den Bundespräsidenten als »Gauckler« oder im Vergleich mit dem immer wieder gelobten tschechischen Präsidenten Miloš Zeman als bloßen »Grüß-August«. Jedenfalls bildet sich durch den gemeinsamen Zorn auf die »politische Klasse« des eigenen Landes, was Tatjana Festerling so umschrieb: »PEGIDA macht glücklich, die Spaziergänge sind eine Therapie« – man muss hinzufügen: nicht für die Politik, nicht für Dresden, wohl aber als Medium des »Aufstandes der beleidigten Massen« (Schalko 2016). Die rechtspopulistische Verachtung für Abgeordnete ist nicht neu. Schon seit Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. bis hin zu (mit etwas eleganteren Formulierungen) Carl Schmitt (1923) und zu den Nazis wurden die Parlamente gerne als »Schwatzbuden« verächtlich gemacht. Den sich betrogen Fühlenden erscheinen Politiker dann nicht mehr als Repräsentanten des »Souveräns«, eben des Volkes (hier eher als ethnos denn als demos gedacht), vielmehr als dessen »Angestellte«. Darin mischen sich unklare Forderungen nach einer »direkten Demokratie«,
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I. Kontexte
wie wir sie aus der Schweiz kennen (eine Gruppe von Demonstranten mit einer Schweizer Fahne sagte mir am 8. Januar 2014 treuherzig, sie wollten diese Volksabstimmungen nicht für die BRD, sondern nur für »unseren Freistaat« eingeführt wissen), mit der, in der Sowjetunion gerade nicht verwirklichten, Idee einer Räterepublik. Beides steht mit der auch »1968« populären Vorstellung von einer Demokratisierung politischer Entscheidungen durch das imperative Mandat in enger Beziehung, wohingegen Gewissensbindung und Unabhängigkeit der Parlamentarier abgewertet werden, zumal man diese nicht nur für »abgehoben«, sondern bei den Dresdner Spaziergängern – entgegen allen Tatsachen – vor allem für »faul« hält, weshalb man sie »auf Trab bringen« müsse. Aber die Verschmelzung im Erlebnis und auch die durch eine »Erkennungsmelodie« emotional gesteigerten Verbundenheitsgefühle lassen doch nicht übersehen, dass der Massenauftritt durchaus heterogen ist. Da gibt es die sozial durchaus nicht randständigen »mobilen Stammtische« junger Männer, deren gemeinsames Auftreten in kleinen Gruppen auf berufliche oder private Verbindungen schließen lässt, daneben aber auch leichter identifizierbare Mitglieder aus der gerade auch in Dresden oft gewaltbereiten Hooligan-Szene, deren Mitglieder hier allerdings zumeist als offizielle Ordner sozusagen nachsozialisiert werden (überhaupt heißt ja eine der Parolen am Anfang vieler Demonstrationen: »Jeder ist ein Ordner!«). Ebenso gibt es unterschiedlich rechtsorientierte, darunter auch rechtsradikale Akteure sowie Anhänger »identitärer Bewegungen«. Auch gibt es die Vertreter eines neuen, aggressiven ›Nationalismus ohne Hitler‹, die sich um die ebenfalls schwarz-rot-goldene »Wirmer-Flagge« (bzw. die des »Deutschen Widerstandes Stauffenberg«) scharen, mit einem skandinavischen (oder der deutschen Reichs-Kriegsflagge nachempfundenen) Kreuz.5 Implizit wird dabei unterstellt, dass ein erfolgreich verlaufender Aufstand der Offiziere am 20. Juli 1944 und dann vielleicht der gesamten Wehrmacht eine an die nationalen Traditionen ungebrochen anknüpfen könnende Ordnung geschaffen hätte. Übrigens sind Männer bei den Dresdner Auftritten in der Überzahl und aktionsbestimmend, vielleicht auch, weil sie sich teilweise als »Opfer« der Frauenemanzipation fühlen; wenigstens hat der AfD-Politiker und PEGIDA-Freund Björn Höcke beklagt, dass Deutschland und Europa ihre »Männlichkeit« verloren hätten und damit ihre »Wehrhaftigkeit« (www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/afd-demo-erfurt124. html [26.6.2016]), und Tatjana Festerling geißelte ihrerseits den »Gen-
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derkrampf« und »Sexualscheiß auf der Linken«, durch welche biologische Unterschiede »wegsoziologisiert« und »weggegendert« würden (vgl. Festerling 15.6.2015 und 7.9.2015). Es verweist dies auch auf ein weiteres Motiv der Entfremdung, nämlich den Druck einer political correctness, die als Reflexion über diskriminierende Ausdrücke und eingespielte Stereotype sehr notwendig ist. Gerade diejenigen jedoch, die nicht ständig als Spezialisten der Begriffsschöpfung und -verwendung tätig sind, finden sich der Dynamik einer schnellen Tabuisierung von Wörtern ausgesetzt, durch welche oft genug suggeriert wird, dass reale Probleme durch bloße Begriffsvermeidung schon bewältigt wären; es soll dies allerdings nicht die grobschlächtigen Enttabuisierungen rechtspopulistischer Diskurse entschuldigen. Gegen »PEGIDA und für Mitmenschlichkeit« veranstalteten der sächsische Ministerpräsident Stanislav Tillich und die Dresdner Oberbürgermeisterin Helma Orosz am 10. Januar 2015 eine Gegendemonstration, zu der sich (wahrscheinlich auch gefälscht) 35.000 Menschen auf dem Dresdner Neumarkt versammelt haben sollen. Die engagierteste Rede hielt dort der bekennende Dresden-Fan und Schlagerstar Roland Kaiser, wodurch er viele der Spaziergänger bitter enttäuschte, weil er von ihnen sagte, sie spiegelten »nicht das Bild einer Stadt wieder, wie ich sie kennengelernt habe. Die Zeit der Sündenböcke sollte der Vergangenheit angehören«. Ein zweites gegen PEGIDA gerichtetes Großereignis war, von privaten Spendengeldern finanziert und von Gerhard Ehninger organisiert, das Pop-Konzert »Offen und bunt – Dresden für alle« am 26. Januar 2015 auf dem Neumarkt mit Solokünstlern wie Sarah Connor, Gentleman, Wolfgang Niedecken und Herbert Grönemeyer. Einen unerwarteten Erfolg konnte PEGIDA verbuchen, als Tatjana Festerling für das Amt der Oberbürgermeisterin kandidierte und im ersten Wahlgang im Juni 2015 ohne große Wahlkampfanstrengungen – wenn auch mit einer ausgedehnten Plakatierung, die heroische »patriotische Europäer« Tag und Nacht hätten bewachen müssen (vgl. Festerling 15.6.2015) – 9,7 % der Stimmen erhielt. Wütend reagierten viele ihrer Anhänger darauf, dass sie auf eine Teilnahme am zweiten Wahlgang verzichtete. Verstärkt versuchten die sich zunehmend isoliert fühlenden Pegidisten (vgl. kritisch gegenüber diesem Ausdruck Patzelt im vorliegenden Band) sich europaweit zu vernetzen, was schon zuvor keinen rechten Erfolg hatte. Das wurde eindrücklich sichtbar auch an dem rundum miss-
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lungenen internationalen Aktionstag »Festung Europa« am 6. Februar 2016, als die Kundgebung auf dem Königsufer gegenüber der städtischen Silhouette (genau in der Perspektive, die zuvor das Time Magazin als Titelbild gewählt hatte) stattfand, die europaweite Verbindung jedoch bloßer Wunsch blieb (für Antieuropäer ist es eben nicht leicht, eine europäische Gegeneinheit zu schaffen). Die zeitgleiche »Massenveranstaltung« in Prag war so kümmerlich, dass man auf der Riesenleinwand nur die dortigen Redner zeigte, aus der Slowakei sah man nur das Video des Vorsitzenden einer dortigen Schwesterorganisation und die nach Warschau geschickte Frau Festerling brachte wohl auch nur 500 Zuhörer zusammen (vielleicht weil die Polen augenblicklich eines weiteren Rechtsrucks am wenigsten bedürfen); die kleine Demonstration in Amsterdam wurde wegen eines Bombenalarms durch die Polizei aufgelöst. Vom mächtigsten der ersehnten Bündnispartner, dem Front National, war gar nichts zu sehen oder zu hören. Scheinbar freudig gratulierte Lutz Bachmann am Montag nach den drei Landtagswahlen vom 13. März 2016 der überaus erfolgreichen Alternative für Deutschland (AfD), dabei zugleich ankündigend, dass PEGIDA nun selbst eine Partei gründen müsse, um diesen Neuparlamentariern »ein Stachel im Fleisch zu sein« und »auf die Finger zu schauen« (vgl. MOPO 24 14.3.2016). Das realisierte er im Juni 2016 durch die Gründung der »Freiheitlichen Direktdemokratischen Volkspartei (FDDV)«, welche – nicht nur des neuen Wortungetüms wegen – wenig Erfolgsaussichten haben dürfte, da ihre Basis eine medial zwar ›globalisierte‹, tatsächlich jedoch regionale und diffuse Protestmasse ist. Auch dürfte die Wirksamkeit der neuen PEGIDA-Partei als »Kraft von der Straße« (Alexe 20.7.2016) dadurch limitiert bleiben, dass PEGIDA schon bisher dem Gesetz aller radikalen Bewegungen unterlag: Nie fehlte es an Streitigkeiten, überdramatisiert werden die inneren Differenzen, Spaltungen sind an der Tagesordnung. Auch brauchten viele sich zum montäglichen Treffen nach dem ersten AfD-Erfolg nicht mehr einstellen. Die Homogenisierung des seine Montagsgewohnheiten noch nicht aufgegeben habenden PEGIDA-Restes ist also durch diesen Wahlerfolg bedingt. Die bereits vor dem Wahltag prognostizierten Erfolgsaussichten der in allen Umfragen mit Werten bis zu 20 % versehenen AfD erlaubten es den meisten der Teilgruppen in mittlerer sozialer Lage und der Mehrheit der »Wendeopfer«, von den wöchentlich stattfindenden Spaziergängen Abstand zu nehmen. Nun gab es ein anderes und die etablierten Parteien in noch größere Ratlosigkeit
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stürzendes Medium einer Verallgemeinerung ihres Zorns (vgl. Fukuyama 1992: S. 307-320, Sloterdijk 2008 sowie Nachtwey 2015 sowie dessen Beitrag im vorliegenden Band). Die als hilflos erscheinende Parteigründung mag kaum damit zusammenhängen, dass das Orga-Team ein Verbot der Demonstrationen und ihrer Basisorganisation befürchtete (Alexe 20.7.2016), sondern eher ausgelöst sein durch den Niedergang der Beteiligung. Jedenfalls lassen sich in der Mitte des Jahres 2016 nicht mehr – wie ein Jahr zuvor – ständig größer werdende Teilnehmerzahlen feststellen. Seither trifft sich in verbitterter Kontinuität der harte Kern, man könnte sagen: ein auch sozialer »Bodensatz« von PEGIDA-Begeisterten, zusammengehalten durch eine erstarrte Ritualisierung: Längst sind Rufe wie »Merkel muss weg«, »Volksverräter« oder »Widerstand« von konkreten Themen abgelöst und werden quasi automatisch zur Anheizung der Stimmung und zur Aufrechterhaltung eines Gemeinschaftsgefühls intoniert. Noch pöbelt man im Publikum einzelne Journalisten, besonders die Fernsehberichterstatter mit ihren Kameras, als Vertreter der »Lügenpresse« an – während die Organisatoren längst wissen, dass sie diesen ihre Resonanz überhaupt erst zu verdanken haben (vgl. ähnlich Hagen, Jandura/Jandura sowie Rucht im vorliegenden Band). In dieser Situation entledigte sich der Großsprecher Bachmann im Juni 2016 der rhetorisch überlegenen, sicher intelligenteren, jedoch keine verrohende Metapher scheuenden Tatjana Festerling (man denke nur an Äußerungen wie »Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln«, was zu einer Anzeige des Deutschen Journalisten Verbandes wegen Volksverhetzung führte [vgl. Tagesspiegel 15.1.2016] oder an die Kennzeichnung der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als »überkompensierender Nazi-Obsession«, welche »uns die gleiche Scheiße, nur verkleidet im Mäntelchen der Gerechtigkeit und Toleranz, wieder eingebrockt« habe: »Die neuen Nazis tragen die Farben des bunten Parteienkartells« – Festerling 12.5.2016). Schnell folgten nach dem Rausschmiss gegenseitige Beschuldigungen in den unsozialen Medien, zieh man sich wechselseitig der »Lüge« (vgl. Tatjana Festerling 16.6.2016) – ein Gebiet, auf dem PEGIDA ja ein Spezialistentum erlangt hat. Hatten Demonstrationsbesucher den Ausschluss Festerlings von der mobilen Rednerbühne auch länger schon moniert und Schilder mit der Aufschrift »Tatjana, wir
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vermissen dich« hochgehalten, gab es keinerlei Kritik, als Bachmann etwas nervös und konfus am 20. Juni 2016 die Lage erklären musste. Ohne jedes politische Argument, (nachdem Bachmann [20.6.2015] dargelegt hatte, wie er diesen »Kleinkrieg« einer »Klatschtante« sieht, verkündigte er: »Wir brauchen da nicht weiter drauf herumlatschen. Punkt, Aus, Ende!«) verstrickte er sich in einen Bericht über die Verausgabung von gespendeten Mitteln und ließ dann wie auf der germanischen Thing-Stätte oder in der Ur-Schweiz durch Handaufheben bestätigen, dass die relativ wenigen, im Schatten des Hauptbahnhofs Versammelten dem noch bestehenden OrgaTeam ihr Vertrauen aussprechen. Unerörtert blieben jegliche Gründe und politischen Motive des Konflikts, wie Festerling das schon vorweggenommen hatte, als sie das Verhalten des Vorsitzenden einen »Bachmann-Klassiker« nannte: »Jeder, der bei ihm in Ungnade fällt, wird von ihm mit dem Stigma des Verfassungsschutzes [?] gebrandmarkt. Möglicherweise um von sich selber abzulenken?« (Ebd.) Dahinter steckte wohl ein Streit über die Kooperation mit der AfD, der Bachmann vorgearbeitet hatte, weil er die Ablösung von Frauke Petry als Vorsitzender unterstützen wollte. Inzwischen hat das geschasste »Gesicht von PEGIDA« selbstverständlich wieder eine Gegenorganisation gegründet, diesmal unter dem Namen des internationalen Aktionstages: »Festung Europa«, und es wird berichtet, dass Tatjana Festerling in Begleitung von »›Ed‹ dem Holländer« im Kampfanzug irgendwo die Außengrenze der EU verteidigen, wenigstens Bildmotive für die Presse schaffen will (vgl. Sächsische Zeitung 30.6.2016). Wie auch immer, eine Sternstunde der Bewegung war das jedenfalls ebenso wenig wie eine Schubkraft für die neue Partei. Hier spürt man in der verbliebenen Menge eine fast schon verzweifelte Selbstbestätigungssucht, nehmen die vereinzelt oder in kleinen Gruppen agierenden dezentralen »Aufwiegler« zu: Wenn man im großen Chor Angela Merkel den Laufpass geben will, zischen diese Resonanzverstärker »noch heute, heute…«. Auch gibt es eine vorwegnehmende diskursive Selbstvergewisserung, wenn sich gemeinsam auf dem Platz erschienene oder zufällig beieinander stehende Männer vor dem Beginn einer Veranstaltung lamentierend darüber austauschen, dass unablässig Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch Flüchtlinge stattgefunden hätten – der einzige »Realist« unter ihnen beendete das Ganze durch die wütend herausgepresste Aussage: »Und wenn es nicht schon war, so wird es bald doch kommen«.
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II. A naly tische R efle xionen Keiner der für eine Interpretation des zeitweisen PEGIDA-Erfolges erörterten Faktoren kann allein eine hinreichende kausale Erklärung liefern. Die keineswegs erfolglose Experten- und Problemerledigungspolitik angesichts weltweiter Krisen, besonders der Finanzkrise und ihrer Folgen, darin auch das Abstraktwerden transnationaler Entscheidungsprozesse und der dadurch oft überdeckten Interessenkämpfe auf der einen und eine Verstärkung aller möglichen populistischen Gegenströmungen auf der anderen Seite erweisen sich tatsächlich als zwei Seiten derselben Medaille (Strohschneider 5.7.2016). In Ostdeutschland kommen noch die Nachwirkungen des Gesellschaftszusammenbruchs der DDR und der – nicht immer und nicht für alle schmerzfreie – Transformationsprozess seit 1990 hinzu (vgl. Rehberg 2006 u. 2016). Durch all dies, eingeschlossen vielfältig zufällige regionale Faktoren, und nicht zuletzt verstärkt durch die Allgegenwart von Nachrichten aus aller Welt und einen medialen Sensationismus wurde die bedrohliche Weltpolitik durch PEGIDA in die scheinbar beschauliche Provinz gespült und somit auch nach Dresden, das sich in der Gewissheit seiner »Schönheit« gerne als eine immer »unschuldige Stadt«, imaginiert, die jenseits alles »Politischen« liegt. So entstand eine Mobilisierung, die man als ein über sich selbst hinausweisendes Anzeichen ebenso verstehen kann wie als regionale Sonderbarkeit (vgl. zum Populismus die Beiträge von Heinz Bude und Hartmut Rosa im vorliegenden Band).
1. Schweigespirale und mittelständische Krisenerfahrungen Insgesamt zeigt sich auch bei den geschilderten rechtspopulistischen Aktionen, was Elisabeth Noelle-Neumann (1974), die Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, vor langem als »Schweigespirale« bezeichnet hat. Während die meisten Menschen – selbst die sozialwissenschaftlich Informierten unter ihnen – normalerweise glauben, sich damit beruhigen zu dürfen, dass öffentlich nicht Thematisiertes inexistent oder doch vollständig marginalisiert sei, belegen viele Studien und Umfragen auf irritierende Weise, dass es auch in Deutschland einen latenten Fremdenhass und andere Formen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« (Heitmeyer 2005: 13-34) gibt. Der damalige, jetzt mit dem Intendanten Wilfried Schulz nach Düsseldorf gegangene Chefdramaturg des Dresdner Staatsschau-
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spiels, Robert Koall (2015: 7), berichtet, wie ein Kölner Gesprächspartner ihm erzählte: »Wenn ich mit Menschen […] völlig unterschiedlicher Herkünfte, Berufe, Lebenswege und Horizonte« rede, »dann haben die meisten zu bestimmten Themen Ansichten, die sie niemals öffentlich sagen könnten, weil sie sonst als Nazis gelten könnten«. Wenn dann öffentlich scheinbar kaum tolerierbare Meinungen einmal nicht nur ausgesprochen sind, sondern sogar einige mediale Prominenz erhalten haben, kommt hervor, was ein Topos auch der PEGIDA-Treffen ist: Zunehmend wird die Selbstlegitimierung eines »Man wird es doch einmal sagen dürfen…« laut. Besser lässt sich die Sprengkraft des Verdrängten nicht ausdrücken. Die in vielen Analysen betonte Dominanz mittlerer sozialer Lagen derer, die den Thesen PEGIDAs zustimmen oder sogar an den Spaziergängen teilnehmen, hat nichts Beruhigendes: Wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts leidvoll gezeigt haben (und wie es auch durch den Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen und Parteien in allzu vielen Ländern heute wiederum bestätigt wird), war gerade die »Mitte« oftmals nicht nur verschärften Krisenerfahrungen ausgesetzt, sondern entwickelte aus der unbewältigten Spannung zwischen Aufstiegsambitionen und Abstiegsängsten eine besonders aggressive Bejahung ordnungsversprechender, oft also rechtskonservativer und sogar faschistischer (in Deutschland, diesem Lande der Sozialpolitik eben: national-sozialistischer [Aly 2005]) Krisenszenarien und Heilsversprechen. Die Zustimmungsbereitschaft für die NSDAP bei Handelsangestellten und großen Teilen des alten und neuen Mittelstandes hat der Soziologe Theodor Geiger schon 1932 sozialstrukturell verankert (vgl. auch Lepsius 1966). Auch heute gibt es eine von den Existenzproblemen her gesehen verstehbare und weit in die Wählerschichten der traditionellen bundesrepublikanischen Volksparteien hineinwirkende Bereitschaft zu ethnozentrischer Selbstabschließung gegenüber den Tatsachen und Folgen dessen, was Ulrich Beck (2007) als »Weltrisikogesellschaft« beschrieben hat (vgl. ähnlich Dörre, Heim, Nachtwey und Rosa im vorliegenden Band). Längst hat sich auch die geschlossene Sozialformation, die durch traditionell-gemütliche »Mittelstands«-Semantiken immer noch beschworen wird, aufgelöst. Aber auch in vielgestaltigen Formen sind mittlere soziale Lagen für die Leistungsfähigkeit und Integrationskraft von Gesellschaften ebenso wie für ihre Krisenwahrnehmungen und -verarbeitungen von besonderer Bedeutung – und das zeigt sich auch bei PEGIDA.
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2. Europa als Schreckgespenst? Nicht nur in Deutschland, wie nicht zuletzt am 24. Juni 2016 das englische Votum über den BREXIT bewies, gibt es die doppelte Wahrnehmung der transnationalen, aber von der Einstimmigkeit der Mitgliedsländer abhängenden Europäischen Union, deren Versorgungs- und Transferleistungen je nach Nutznießung geschätzt, deren bürokratische Struktur jedoch oft genug verteufelt wird, zumal die nationalen Politikerinnen und Politiker negative Wirkungen gerne auf »Brüssel« schieben, die Vorteile jedoch sich selbst zuschreiben. Deshalb kann man seit mehr als zwanzig Jahren beobachten, wie Bewegungen, welche der europäischen Einigung skeptisch gegenüberstehen, gerade durch das, was sie zerstören wollen, selbst erst transnational wirksam werden. Nach einer der vielen Diskussionsveranstaltungen über PEGIDA sagte mir im Dresdner Staatsschauspiel ein Holländer: »Jetzt sind die Deutschen auch normalisiert.« Gravierender für eine nicht grundlose, durch hysterische Angsterzeugung jedoch irrational steigerbare Beunruhigung angesichts der heutigen Weltlage waren allerdings die Ausbreitung des schockierend gewalttägigen »Islamischen Staates« im Irak mit seinen religiös und ethnisch konfliktträchtigen Ungleichgewichten sowie der von der laizistisch-militärgestützten Assad-Regierung zum Massenmord an der eigenen Bevölkerung gesteigerte Bürgerkrieg in Syrien. Das lieferte dem diffusen Alarmismus der rechtspopulistischen Abgrenzungspolitik einen von Ängsten geleiteten Plausibilitätshintergrund. Es war dies ein Hauptfaktor für die kaum mehr bewältigbar erscheinende Anzahl der vor diesem Grauen flüchtenden Menschen. So wurde im Jahre 2015 regierungsamtlich bestätigt, was kurz zuvor noch als PEGIDA-Übertreibung abgetan werden konnte. Das lag insbesondere an der unerwartet hohen Zahl von Migranten, sodass im Jahre 2015 die Prognosen über die Zuwanderung von den Behörden fast monatlich nach oben korrigiert werden mussten. Es zeigt sich an der Insistenz der öffentlichen Auftritte auch ein anderes Signum der Zeit. So hatte man glauben können, dass sich Aktualmassen – außer in der wöchentlichen Routine der Fußballspiele – nur noch in seltenen, zugespitzten Konfliktlagen zu einer Einheit verschmelzen könnten. An deren Stelle war eine individualisierte Massenhaftigkeit getreten (vgl. Rehberg 2005d). Neuerdings nun und in einem ganz anderen Bereich des gesellschaftlichen Lebens entflohen die Menschen temporär der perfektionierten Virtualität ihrer elektronischen Vernetzungen,
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um wieder »originäre« Gemeinschaftsgefühle erleben zu dürfen. Auch hier war es der Fußball, in Deutschland etwa das »Sommermärchen« der Weltmeisterschaft im eigenen Lande des Jahres 2006, durch den das Public Viewing zur neuen Attraktion wurde. Das mag sozusagen auch die Gewohnheiten des politischen Protestierens beeinflusst haben. Wochenend-Gewalttourismus gibt es schon länger und auch die sich von jeder körperlichen Aggressivität deutlich abgrenzenden PEGIDA-Zusammenkünfte zehren sicherlich von ihrem Event-Charakter, sind insofern auch ein Ausdruck der »Erlebnisgesellschaft« (vgl. Schulze 1992).
3. PEGIDA als Wiedergänger der Friedlichen Revolution? a) Hauptorte des Protestes damals und heute Die stärkste Selbstlegitimation der oft mit Verachtung gestraften »Spaziergänger« basiert auf der Aneignung nicht nur des Rufes der Friedlichen Revolution »Wir sind das Volk«, sondern auf der damit verbundenen Suggestion, die montäglichen Auftritte seien eine Fortsetzung der (nun wahrlich andersartigen) Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche in Zeiten der DDR. So ist es bei den PEGIDA-Zusammenkünften zum Topos geworden, dass man »1989 auf der Straße war« und dies nun wieder tun müsse, oftmals sogar, weil die heutigen politischen Verhältnisse noch weniger beeinflussbar seien als diejenigen in Zeiten autoritärer Staatlichkeit. Überraschend, dass sich dieser quasi-biographische Rückbezug auch lokalisieren lässt: Wenn man von der Hauptstadt der DDR während der verunglückten Feiern zum 40. Jahrestag ihres Bestehens (während derer der zum Perestroika-Repräsentanten gewordene Generalsekretär der KPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow die reformunwillige Honecker-Führung durch den ihm zugeschriebenen, wenigstens sinngemäßen Ausspruch schockierte: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«) einmal absieht, waren es 1989 besonders drei Städte, in denen die Zuspitzung der Auseinandersetzung mit dem schon schwankenden SED-Regime am heftigsten war: Es waren dies in schneller Folge Plauen am 7. Oktober, Dresden am 8. und dann – entscheidend – Leipzig am 9. Oktober 1989. Es sind genau diese Städte, welche seit 2015 auch zu den Orten der größten Aufmärsche von PEGIDA wurden sowie in Plauen einer, nicht sehr aussichtsreich einen ›Populismus der Mäßigung‹ verbreiten wollenden, Gruppierung »Wir sind Deutschland« (WsD). Und obwohl diese biogra-
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phisch zu behauptende Kontinuität eines aktiven Protestes damals und heute oft einer Stilisierung des Erinnerns zuzuschreiben ist (auch »1968« gab es nachträglich mehr »68er« als während der Studentenrevolte), gibt es sogar zumindest zwei prominente Akteure der Oktoberereignisse des Jahres 1989, die nun, mit dieser geschichtlichen Autorität ausgestattet, in PEGIDA ein Sprachrohr finden wollen: Zum einen engagiert sich dort ein Mitglied der Dresdner »Gruppe der 20«, die – am 8. Oktober 1989 von den Demonstranten gewählt – mit dem SED-Bezirkschef Hans Modrow und dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer erfolgreich verhandelt hatten. Aber auch ein Mitglied der einen Tag später in Leipzig konstituierten »Gruppe der 6«, welche durch Gespräche mit den SEDOberen eine gewaltsame Niederschlagung des Massenprotestes durch die schon zusammengezogenen militärischen und paramilitärischen Einheiten erreichte, tritt nun bei PEGIDA auf, wobei dieser »gewendete Wendeaktivist« sich mit hasserfüllten Reden besonders hervortut.
b) Gemeinschaftsbildung und Wendeverlierer Von der oben erwähnten Heterogenität der demonstrierenden Massen ausgehend, zeigte sich deutlich, dass die ganz großen Beteiligungszahlen der montäglichen Auftritte (vielleicht ab 6000 aufwärts) vor allem durch jene zustande kommen, die sich im Prozess der Wiedervereinigung als Verlierer fühlen und glauben, nun endlich eine gemeinschaftliche Plattform gefunden zu haben, um ihr Schicksal zeigen und ihre Enttäuschungen artikulieren zu können (vgl. ebenso Vorländer im vorliegenden Band). Hier findet man »gemeinschaftlich« Bestätigungen für ressentimentale Deutungen der Lage, werden vereinfachende Muster zum Verständnis komplizierter und ambivalenter Verhältnisse geboten. Dafür gibt es durchaus Gründe: die Massenarbeitslosigkeit als Folge einer – in so kurzer Zeit – beispiellosen Deindustrialisierung nach 1990, das Umlernenmüssen fast aller Alltagsroutinen und die Entwertung des im »früheren Leben« Geleisteten. Zwar ziehen heute die meisten ehemaligen DDR-Bürger gleichwohl eine positive Bilanz: So sind 2014 61 % der befragten Ostdeutschen der Meinung, dass die Wiedervereinigung als »Erfolgsgeschichte« zu werten sei, während das nur von 17 % verneint wird (vgl. ähnlich Reuband im vorliegenden Band). Auch Karl-Heinz Reuband fand in seinen Befragungen der Demonstrationsteilnehmer keine zugespitzte Unzufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Lage oder überhaupt mit dem »Leben« und folgerte daraus, dass durch den Vereinigungsprozess erzeugte Ent-
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täuschungen und »Entfremdungen« gering seien, wenigstens kein spezifisches Protestpotential begründeten. Wundern muss man sich dann allerdings darüber, dass alle Äußerungen von aktiven und ›mitlaufenden‹ Teilnehmern der Demonstrationen und sogar noch der »Sympathisanten« von PEGIDA subjektiv eine Wirklichkeit beschreiben, welche beherrscht zu sein scheint von Undurchsichtigkeit und Ignoranz der maßgeblichen Akteure gegenüber jenen, welche »die Suppe auszulöffeln« haben. Um also oft unbestimmte Gefühle der Benachteiligung oder Ausschließung verstehen zu können, muss die Diskrepanz berücksichtigt werden, welche die Beschreibung der eigenen Lage von der »des Systems« unterscheidet. Das ist übrigens in vielen der »reichen« Industrieländer zu beobachten, seit der Abbau von Arbeitsplätzen oder deren Prekarisierung zu einem Rezept der Gewinnsteigerung kapitalistischer Unternehmungen geworden ist. Schon unmittelbar nach 1990 ist vielfach beobachtet worden, dass eine Mehrheit von Befragten mit ihren eigenen Lebensbedingungen nicht unzufrieden war, dass die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage insgesamt, besonders aber des Wirtschaftssystems, demgegenüber weitaus negativer ausfiel. So mag das Haushaltseinkommen sogar gestiegen sein, die meisten Familienmitglieder eine Beschäftigung haben – aber gegenüber der (zuvor autoritär hergestellten) Sicherheit der Lebensbedingungen im Sozialismus ist das alles mit bis dahin ungewohnten Risiken verbunden, etwa mit den gerade bei geringer Kapitalausstattung der Firmen im Osten nicht seltenen Insolvenzen oder der Übernahme durch andere Unternehmen mit ungewissem Ausgang für den Erhalt der Arbeitsplätze (vgl. Kettenburg 2004: 12 u. 31). Kein Wunder, dass der Begriff »Menschenrechte« in den alten Bundesländern eher mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Meinungs- und anderen Freiheiten verbunden wird, im Osten hingegen mit dem »Recht auf Arbeit« (vgl. Sommer/Stellmacher 2009: 139). Andere Faktoren kommen hinzu, nicht zuletzt auch die Weltsicht derer, die sich nach der Implosion der DDR als »Sinnverlierer« fühlen, ihrer Werte und gewohnten Weltsicht, vor allem auch habitueller Eigenschaften beraubt, ohne dass dies immer mit einer verschlechterten materiellen Lage einhergehen müsste. Oft hört man von dem Verlust utopischer Ziele einer Verbesserung der Welt, vom bloßen Materialismus der Gegenwart. Es gibt also genügend sich von den neuen Verhältnissen ausgeschlossen fühlende Menschen, die eine Artikulation ihrer Stimmungslage begrüßen oder befördern können. Das ist der Grund dafür, dass in anderen Umfragen etwa nur 40 % meinen, dass sich mit der wirtschaftlich durchaus zufriedenstel-
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lenden Lage gleichermaßen ihre Hoffnungen erfüllt hätten, während 25 % dies verneinen und sich 23 % ausdrücklich als »Verlierer der Wiedervereinigung« fühlen (Allensbach 2014). Dabei verschoben sich durchaus auch die dominanten Erinnerungen an das Leben in der DDR. Der Aussage »damals waren wir alle gleich und wir hatten Arbeit. Darum war es eine schöne Zeit« stimmten Mitte der 1990er Jahre 48 % und 2004 sogar 54 % der Ostdeutschen zu (Noelle 2004). Vielen geht es so, wie Christoph Dieckmann (1993) es formuliert hat: Man verschönert sich in der Erinnerung lieber den »schmuddeligen« DDR-Staat als sein eigenes Leben »wie Knüppelholz« zu verbrennen.
c) Überlagerung als Sonderfall Es waren besonders die – den Transformationsprozess vielfältig erleichternden – »Überlagerungen«6 durch die westdeutschen Institutionen und das Begleitpersonal in funktionsbedeutsamen Stellungen sowie durch neue Eliten (vgl. Rehberg 2016), welche die nach dem Zusammenbruch der DDR gerne genossenen Vorteile mit der Hypothek eines Unterlegenheitsgefühls verbunden haben. In allen anderen ehemals staatssozialistischen Ländern vollzog sich, was in Systemumbrüchen zumeist beobachtbar ist und auch für die Zeit nach der Niederlage Hitler-Deutschlands nach 1945 galt: In solchen Situationen gibt es unhaltbar gewordene Repräsentanten der alten Ordnung und stellvertretende Sündenböcke. Im Ganzen jedoch erweist sich die Kontinuität des Personals als entscheidend (wie das für die westdeutsche Entwicklung nach 1945 für viele Mitglieder der NSDAP wie selbstverständlich galt, mit Einschränkungen und mit einem Tabu belegt auch für manche in der SBZ und DDR). Besatzungsregimes funktionieren also anders als dies im Falle der deutschen Wiedervereinigung zu beobachten war: Bei aller Bestimmungsvollmacht militärischer Sieger werden die gesellschaftlichen Positionen (etwa in politischen Institutionen, Zeitungen, Wirtschaftsunternehmen, Kultureinrichtungen und Universitäten, in Verwaltungen und Schulen) nicht von diesen selbst besetzt. Anders im deutschen Vereinigungsprozess: Nach dem Ende des SED-Regimes gab es diese andere deutsche »Zwillingsgesellschaft«, durch welche die Rekrutierung von Menschen und Wissen, von Normen und Weltdeutungen aus dem westlichen Landesteil bruchlos möglich war. Tatsächlich zeigen sich inzwischen gleichwohl auf vielen Ebenen Annäherungen zwischen Ost und West. Das belegen auch die am 2. Oktober
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2014 als Beilage in fünfzehn ostdeutschen Tageszeitungen publizierten Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage, mit welcher politischen Einheit man sich besonders identifiziere: Westdeutsche fühlten sich zu 17 % als Europäer und nur zu 7 % vor allem als Westdeutsche, während die Ostdeutschen sich nur zu 6 % als Europäer und zu 28 % vor allem als Ostdeutsche wahrnahmen (ebd.: 20). Und dabei empfinden sich viele von ihnen immer noch als »Deutsche zweiter Klasse«. Und doch scheinen sich seit etwa einem Jahrzehnt sogar »gesamtdeutsche Selbstbilder« zu entwickeln, wonach man sich kollektiv für »fleißig«, »zuverlässig« und »höflich« hält (Lehnartz 2005). Auf PEGIDA bezogen, ist zu vermuten, dass die Erfahrungen mit der »überlagernden« Einwanderung »von oben« und nun die bedrückenden Ängste vor einer erwarteten »von unten«, eine PEGIDA-Bejahung viel mehr nahelegte als alle Islamabwehr (vgl. Vorländer/ Herold/Schäller 2015: 72).
d) Die doppelte Halbdistanz Anders als viele Westdeutsche glaubten, war die DDR – trotz ihres chronischen Legitimationsdefizits – nicht ohne innere Unterstützung durch die Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Allerdings bildete sich bei den meisten eine Halbdistanz zu »ihrem« Staat, weil er allzu viele Versprechen nicht einhalten konnte und mit einem zunehmenden Kontrollverlust in den 1980er Jahren die innere Überwachung erhöhte (daher die Fixierung auf die Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit nach dem Ende der DDR); Autoritarismus und Zugeständnisse im Rahmen einer »Konsensdiktatur« mit Verhandlungen vor unbestimmter Drohkulisse unterminierten das Vertrauen in die staatlichen Instanzen, obwohl die Handlungsspielräume größer wurden (vgl. Rehberg 2010). Daraus folgte eine Gewohnheit des Rückzuges und einer inneren Abwehr den politischen Verhältnissen gegenüber. Diese Halbdistanz wurde auf das neue, parlamentarische System sehr oft übertragen – wenn auch aus anderen Gründen. Mag sein, dass in den Stammlanden der Reformation die lutherische »Zwei-Reiche-Lehre« auch im Lande des programmatischen Atheismus ihre Wirkung nicht verfehlte (Göschel 1990: 557). Einen Beleg für die Fremdheit gegenüber der selbsterwünschten und mitbewirkten Freiheit zeigt die eine Entzauberung zum Ausdruck bringende Formel der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat«.7 Laien erscheint dessen oft auf formalen Kriterien beruhende Umsetzung der Rechtsnormen nicht
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selten als »lebensfremd« oder sogar als ungerecht. Welche gedanklichen Assoziationen mit dem Begriff des rechtlich verfassten Staates verbunden sind, zeigte sich übrigens in der heftigen Debatte darüber, ob die DDR ein »Unrechtsstaat« gewesen sei. Man mag die dabei sofort aufgerufene Verdächtigung, es handele sich um eine Gleichsetzung mit den blutigen Diktaturen Stalins und Hitlers, dahingestellt sein lassen und käme doch zu dem Schluss, dass die DDR trotz ihrer Verfassung und einer auch mit Demokratien vergleichbaren Rechtsetzung und -durchsetzung doch schwerlich als »Rechtsstaat« angesehen werden kann. Was die Meisten meinen, wenn sie diesen Begriff empört für ihren untergegangenen Staat reklamieren, ist ganz zutreffend, dass es nämlich gültige Rechtsakte ebenso gegeben habe wie rechtlich einwandfreie juristische Regulierungen, Gerichtsentscheidungen etc. Die Bestreitung einer normativen »Rechtsstaatlichkeit« meint nicht, dass ein damals gekauftes Auto oder Haus nicht rechtens den Eigentümer gewechselt hätte. Vielmehr geht es darum, dass politische Interventionen in die Rechtsprechung und in die Entscheidung juristisch zu klärender Konflikte mit einem freiheitlichen Verfassungsprinzip eben nicht vereinbar sind. Selbst in den blutigsten Diktaturen, sogar in den KZs, findet sich eine merkwürdige Scheinlegalität, ein Bestehen auf einer äußerlichen Rechtsförmigkeit, welche den Staatsterrorismus verdecken und die Täter entlasten soll. Aber die deutsch-deutsche Nach-»Wende«-Debatte zeigt eben, wie viele der ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR darin eine Kränkung und Vorwurfshaltung sich selbst gegenüber vermuten. Merkwürdigerweise wurde ja viel leichter der Aussage zugestimmt: »Die DDR war eine Diktatur«, wodurch der Unrechtscharakter aus der Normalität des Alltags sozusagen der Spitzengruppe der Herrschenden zugeschoben und das mögliche Unrecht zu sich selbst in Distanz gebracht werden kann. Übrigens kann man anfügen, dass der viel diskutierte, für die bundesrepublikanische Ordnung gelten sollende »Verfassungspatriotismus« – vor allem, nachdem die im Grundgesetz in Art. 146 geforderte Verfassung für das wiedervereinigte Deutschland nicht beschlossen worden ist – durchaus für die einstigen DDR-Bürgerinnen und -Bürger (zumindest für die Minorität derer, die sich mit derartigen Fragen befasst) ebenfalls ein Kränkungspotential enthalten könnte, denn eine veritable Verfassung hatten sie ja nun wirklich nicht vorzuweisen und die Ideen der »ersten Stunde« am »Runden Tisch« waren schnell übergangen und vergessen worden (vgl. Becker 1995).
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Da seit den christlich[!]-religiösen Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts und der deshalb eine überlebenswichtige Zwangspazifizierung verkündenden Lehre des Thomas Hobbes die hauptsächliche Aufgabe des Staates – wie auch von PEGIDA besonders ins Feld geführt – darin besteht, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren, wurde der westlichen Gesellschaft gerade auch in dieser Hinsicht viel Misstrauen entgegengebracht (ganz so wie nach dem Zusammenbruch des Hitler’schen Ordnungsstaates, der ganz Europa ins Chaos gestürzt hatte, es den deutschen Frauen jedoch ermöglicht haben soll, »alleine [!] in den Wald zu gehen«). In diesem Sinne erschien manchem der Osten sicherer – jedenfalls gibt es ein auf die in Westdeutschland lebenden Ausländer bezogenes NPD-Plakat, das für die neuen Bundesländer fordert: »Keine westdeutschen Verhältnisse« (zit. in Koall 2015: 7).
4. Selbstauslegungen der PEGIDA-Gänger Der harte Kern der Demonstrierenden, aber auch viele der Mitlaufenden oder Neugierigen fanden im Schutz der kollektiven Empörung einen Artikulations- oder wenigstens einen Akklamationsraum für ihre Kritik an den Verhältnissen. Hier traf man auch auf eine Kapitalismus-, besonders Globalisierungskritik von rechts und alle möglichen Apelle, wie beispielsweise die Forderung nach einem Stopp der »Kriegstreiberei« gegen Russland, mit dem als einer Großmacht die DDR einstmals eng verbunden gewesen war. Auch gibt es groteske Angstmotive bis hin zu der verzweifelten Präferierung von Bratwürsten gegenüber Dönern und die einsame, aber die neue Weltlage spiegelnde Forderung »Ami go home«. Die unterschiedlichen Motivationen und die Entschlossenheit zu einer schon zuvor gebildeten Meinung erwiesen sich auch als ein Problem für wissenschaftliche Umfragen (vgl. Patzelt/Klose 2016 und Vorländer u.a. 2016). Auskünfte über die eigene Motivation und Lage wurden von den Aktivistengruppen zumeist (oft genug aggressiv oder höhnisch und unverschämt anzüglich besonders weiblichen Forschungsassistentinnen gegenüber) verweigert (anders Reuband im vorliegenden Band). Nach ersten Abwehrreaktionen gab es mehr oder weniger ritualisierte Versuche eines Gespräches auf Einladung des sächsischen Ministerpräsidenten, der erstmals im Januar 2015 zu Dialogforen unter dem Titel »Miteinander in Sachsen« einlud, an dem sich auch Mitglieder seines Kabinetts beteiligten; ein Jahr später wurde die regierungsamtliche An-
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zeigenkampagne »DANKE« geschaltet, die sich an die vielen Helferinnen und Helfer bei der Ankunft von Flüchtlingen in Dresden wandte.8 Auch gab es mehrere Bürgerversammlungen mit dem Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Dresden, Dirk Hilbert, in der Kreuzkirche. Am intensivsten konnte man die Selbstauslegungen von Teilnehmern an den rechtspopulistischen Demonstrationen (Kathrin Oertel stolz: »Wir sind alle rechts«, das heiße »weder radikal zu sein«, noch »Steine zu schmeißen wie die Linksextremisten« – vgl. dies. 15.12.2014) jedoch in der Sächsischen Landesszentrale für politische Bildung beobachten. Deren Direktor, Frank Richter, wurde oft dafür kritisiert, dass er den selbsternannten Patrioten immer wieder eine solche Plattform eingeräumt habe. Die FAZ nannte ihn – in einem vollständig unzutreffenden Bericht über die Anwesenheit des Vizekanzlers Sigmar Gabriel – »durch und durch mediationsgläubig« (Geyer 2015). Sicher hatte Richter auch einen ihn diskreditierenden und inzwischen von ihm selbst zugegebenen Fehler gemacht, als er dem Orga-Team unter Lutz Bachmann am Tage der wegen Terrorgefahr abgesagten Demonstration am 19. Januar 2015 die von ihm geleitete staatliche Bildungseinrichtung für dessen Pressekonferenz zur Verfügung stellte. Aber in den Fishbowl-Diskussionen, die an strenge Regeln, z.B. des Unterlassens von Beifalls- oder Ablehnungsbekundungen, gebunden waren, konnte es gar nicht um Mediation, um eine abwägende Ausgleichung der gegeneinander stehenden Interessen und Positionen gehen. Lediglich – aber das war in dieser Situation nicht wenig – wurde ›der Pfropfen aus der Flasche gezogen‹, wurden Motive und Beschwernisse hörbar und sichtbar, dabei aber auch fast durchgängig unüberwindliche Ressentiments und eine nur mühsam unterdrückte Wut (vgl. auch Frank Richters Beitrag im vorliegenden Band). Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Januar 2015 wurde in einem dieser Meinungsforen das Thema eines unüberbrückbaren Abstandes der sich bequem selbstisolierenden »politischen Klasse« zur (»realen«) Bevölkerung zum leitenden Thema. Das wurde dadurch belegt, dass man in der DDR auf eine Eingabe oder Beschwerde in neunzehn Tagen (bei Petitionen laut § 7 des Eingabengesetzes der DDR innerhalb von vier Wochen) eine Antwort erhalten sollte, während ähnliche Interventionen heute ohne jede Reaktion blieben. Dabei wurde deutlich, dass man damals – wie in den Zeiten der französischen »absoluten« Monarchie – oft an »den König«, also an den Staatsratsvorsitzenden etc. etc. Erich Honecker schrieb.9 Wenn auch nicht in Zwei-Wochen-Frist, konnte man immer mit einer Antwort rech-
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nen. Oft waren dies abschlägige Bescheide, wie mir einige der Sprecher bestätigten: »Aber man hörte wenigstens etwas!« Heute schreibe man an den Bundespräsidenten oder andere wichtige Repräsentanten des politischen Systems – und bleibe gänzlich ungehört. In den vielen Foren, in denen Ähnliches geschah, dominierten diejenigen, die Ängste und düsterste Prognosen für das eigene Land mit den bereits geschilderten Enttäuschungen der Entwicklungen seit 1990 verbanden. Dabei war durchaus auch manches plausible Argument zu hören. Und wenn man dann danach fragte, warum jemand, der nachvollziehbare Sorgen und nicht selten bildungsbürgerliche Ängste vor einem kulturellen Niedergang äußerte, ausgerechnet zu Versammlungen gehe, in denen ein aggressiver Primitivismus ungebremsten Beifall findet (wenn etwa von der »Fotze von der Linken« gesprochen wird oder von den Grünen als von einer »Kinderfickerpartei«), dann heißt die Antwort allemal: »Es gibt ja keinen anderen Ort, an dem man eine wirklich abweichende und deshalb mutige Meinung zur Wirkung bringen könne.« Die Meinungsfreiheit werde eben von der pluralistisch sich gebenden Parteienherrschaft verhindert, etwa von den Grünen, welche ihre eigene Intoleranz auf PEGIDA projizierten (Festerling 9.3.2015). Das war der Tenor auch der meisten Publikumsbeiträge von PEGIDA-Verteidigerinnen und Verteidigern im Dresdner Public Sociology Forum am 30. November 2015 (vgl. auch den abschließenden Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes). Übrigens sind die abstoßenden Beweise einer kulturellen »Primitivisierung« in einem Lande, das sich einstmals als eines der »Dichter und Denker« imaginierte, längst schon allgegenwärtig, man denke nur an die das politische Kabarett abgelöst habenden Satire- und Comedy-Shows und deren Massenpublikum, von Schlimmerem, vor allem in den privaten Fernsehanstalten, ganz zu schweigen. Bei PEGIDA sorgt man sich um die Bedrohung der ethnischen und kulturellen »Identität« der Deutschen und scheinbar auch um ein »jüdisch-christliches« oder – wie die Bundeskanzlerin lieber sagt – »christlich-jüdisches« Abendland, das zu verteidigen jedermanns Pflicht sei (vgl. ähnlich Halfmann im vorliegenden Band). Denkt man über diese Formel genauer nach, kann sie doch allenfalls bedeuten, dass schon seit frühchristlichen Zeiten, dann aber massiv nach 1492 vor allem ein Abendland gemeint sein müsste, in dem Juden diskriminiert, wenigstens unter Sonderrechte gestellt wurden. Aber die Umdeutung von Traditionen wirkt ja wohltuend identitätsstiftend. So ließ sich PEGIDA auch von
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Geert Wilders, dem Chef der niederländischen Partij voor de Vrijheid, die angemaßten Stammväter ihres Protestes nachliefern, nämlich »Kant, Schiller und Stauffenberg« [!]. Vor solchem Hintergrund polemisiert man dann gegen »linke Gutmenschen«, deren Begrüßungskultur weitgehend ja nur deren Jobs durch eine »Migrationsindustrie« sichern helfe (Festerling 9.3.2015) und die nicht sehen wollten, dass Angela Merkel (gemeinsam mit dem damaligen österreichischen Ministerpräsidenten Werner Faymann) die »schlimmsten Politiker« seien, »die wir je hatten« – so als hätte es Adolf Hitler in Deutschland oder Engelbert Dollfuß in Österreich niemals gegeben. Dann fällt es auch leicht, den von Hitler befohlenen SS»Generalplan Ost« auf die Gegenwart anzuwenden, in dem für die Zeit nach dem »Endsieg« eine »Umvolkung« in den Staaten Mitteleuropas und der Sowjetunion vorgesehen war. Genau das sei, nun von den »Hergelaufenen« verursacht, das baldige Schicksal der Deutschen, wie Akif Pirinçci (19.10.2015) das unter lautem Beifall am 19. Oktober 2015 verkündete (vgl. auch Patrick Bahners 2015). So machten die deutschen Politiker ihr eigenes Land zur »Saugglocke« (Kubitschek 15.10.2015), und es seien inzwischen die nicht abgeschobenen Flüchtlinge und die hier lebenden Muslims mit ihren »Eroberungsmoscheen«, die den Deutschen rieten, wenn ihnen das nicht passe, sie ja emigrieren könnten. Auch forderte man, »dass die Kirche im Dorf bleibt. Ich möchte Weihnachten nicht in die Moschee rennen müssen« (Huffington Post 19.12.2014). Und der in den Kirchendienst nicht übernommene, also den von ihm beschimpften »Maden im Speck« nicht angehören dürfende Theologe und (inzwischen von seinem Berufsverband gemaßregelte) Trauerredner Ernst Cran (6.2.2016) aus Nürnberg, gab das als zu erwartende Normalität aus, für diesen »Hochverrat« an der deutschen Kultur allerdings nur ein – mit Empörungspfiffen quittiertes – Beispiel anführen könnend. Es handelte sich um den von Kuwait mitfinanzierten Umbau der Hamburger Kapernaum-Kirche in eine Moschee. Und so fehlte es bei der Demonstration am 20. Juni 2016 auch nicht an einem Schild mit dem Foto der Dresdner Frauenkirche und der Unterschrift »Das wird KEINE Moschee«. Da denkt man doch lieber an die Zeiten, als im späten 17. Jahrhundert die Türken vor Wien endgültig zurückgeschlagen wurden.
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5. Warum Dresden? Weithin stellen sich die oft wiederholten Fragen: »Warum das alles in Sachsen?«, »Warum in Dresden?« (vgl. Beyer 2015 und Bundeszentrale für politische Bildung 2016). Dabei wurde in der medialen Verbreitung der Ereignisse zu selten unterschieden zwischen Dresden als Bühne und Dresden als Quelle der aggressiven Aufmärsche auf den schönsten Plätzen der Stadt. Obwohl Werner Patzelt in seiner neuesten Untersuchung die Zahl der in Dresden wohnenden Teilnehmer an den PEGIDA-Demonstrationen durchweg mit mehr als 50 % angibt (im Mai 2015 sogar mit 61 %), bin ich aus meinen – auch mit Studierenden systematisch erarbeiteten – Beobachtungen demgegenüber skeptisch und würde eher das Ergebnis von Karl-Heinz Reuband für wahrscheinlich halten, wonach die überwiegende Zahl der Teilnehmenden aus dem Umland in die Elbmetropole kommen (vgl. Patzelt: 2016: 157; Reuband 2015: 136, wo er u.a. auch auf die Annahme Vorländers verweist, der eine Teilnahme von 40 % in Dresden Wohnender veranschlagte, Dieter Rucht nur 44 % und Franz Walter sogar nur 38 %) – vor allem aus dem Erzgebirge und der Lausitz. Jedoch ist die städtische Szenerie gut gewählt, denn mit vielen anderen Orten käme man nicht in die New York Times. Die stets umjubelte Begrüßungsformel »Guten Abend Dresden«, verwendet vor allem auch von Gastrednerinnen und -rednern aus anderen Städten und seltener auch anderen Ländern, drückt fast immer auch eine Symbiose zwischen der – wie man hier gerne hört – schönen »Barockstadt« und deren Verteidigern vor aller Überfremdung »von unten« aus. So ist Dresden zwar vor allem eine Bühne, jedoch eine passende: Obwohl die Stadt und ihre Bewohner Woche für Woche darunter zu leiden haben und der Imageschaden (vgl. Bartsch 2015), vor allem auch für die Touristik, innerstädtische Geschäfte und Restaurants, längerfristig aber für viele Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kultureinrichtungen, kaum abschätzbar ist, speist sich Dresden aus der Kraft mancher rückgewandter Mythenbildung. Diese – gerade auch durch die Zerstörung ihres Zentrums im Februar 1945 unwiderlegbar gewordene – »imaginäre Stadt« (vgl. Rehberg 2002; 2005a; 2005b; 2005c) strahlt allzu oft eine Selbstzufriedenheit aus, sonnt sich in historischen Bildern ihrer ästhetischen Einzigartigkeit, die sozusagen »kein Außen« braucht. Übrigens wurde Dresden als Landeshauptstadt auch zum Symbol eines aus ganz verschiedenen Quellen gespeisten sächsischen Sonderbewusstseins, das sich selbst in
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der DDR nach der Auflösung der Länder nicht verflüchtigt hatte und an das Kurt Biedenkopf als erster Ministerpräsident nach der Vereinigung – der nicht ganz unpassend liebevoll-spöttisch als »König Kurt« bezeichnet wurde – geschickt zur Förderung für die Akzeptanz der neuen Verhältnisse anknüpfte (vgl. ähnlich Bittner und Vorländer im vorliegenden Band). Daraus konnte sich aber auch eine staatsbezogene Ordnungszentrierung entwickeln – bis hin zu einem »Sachsenchauvinismus«, der allzu lange den Angriffen auf die Demokratie von rechts eine Legitimationsgrundlage zu geben schien (vgl. Hermann 2015a, 2015b, Marg et al. 2016 sowie Thelen/Victor 2016). Dresden muss nun schon seit zwei Jahren mit den bereits erwähnten Schädigungen seines Images leben. Heute erscheint es als eine Stadt zwischen Selbstverherrlichung und Schand-Image: Überall in der Welt gibt es zwei – durchaus merkwürdig ungleiche – stereotype Assoziationen, wenn man den Namen der Elbmetropole nennt: »zerstört« und »schön«. Es wäre traurig, wenn »Neonazi-Stadt« langfristig als drittes Schlagwort hinzukäme. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Dresden – das sich im schönen Elbtal gerne jenseits aller politischen Realitäten sieht – durch die Provokation der zuerst aufregenden, inzwischen ermüdenden PEGIDASelbstdarstellungen doch in erstaunlichem Maße auch politisiert worden ist (sogar die Politiker). Besonders deutlich setzten die großen Kulturinstitutionen dem Verlangen nach Selbstabschließung Bekenntnisse zur Weltoffenheit entgegen. Koordiniert wurde das durch die Intendantenrunde und ergänzt durch das »Netzwerk Kultur Dresden«: Wie ärgerte es die auf dem Theaterplatz gegen den Verrat der Eliten ihre Parolen skandierenden »Montagsgänger«, dass die barock erscheinende, jedoch neorenaissancistische Fassade der Semperoper auf einem riesigen Screen (der nun nicht mehr nur der Popularisierung des Opernballs diente) auf den Wunsch nach einem »bunten« Dresden aufmerksam machte – nicht anders das Staatsschauspiel, dass sich den Flüchtlingen auf besondere Weise öffnete und mit seiner Bürgerbühne umstrittene Themen zum Stadtgespräch machte.10 Es gab, nebst vielen anderen, das vom Kunsthaus Dresden koordinierte »Kulturfestival in Containern« an vielen Orten in der Stadt und die eine zeitlang wöchentlich stattfindenden »Postplatzkonzerte«. Das waren wichtige Beiträge einer Gegenwehr, die aber auch deutlich werden ließen, dass die Kultureinrichtungen selbst für jene, die sich abstrakt mit deren Vorhandensein schmücken, im offenen Konflikt zu
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Feindesland werden können, dem ein nicht weniger gehässiger Hohn entgegengebracht wird als den »vier« politischen Gewalten. Das war auch bei einigen Aufführungen der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden zu spüren, als die eindrückliche Collage aus einem merkwürdigen Theaterstück von Max Frisch einerseits und aktuellen »Texten von Dresdnerinnen und Dresdnern« andererseits unter dem Titel Graf Öderland/Wir sind das Volk (Lösch/Koall/Schnabel 2015) zahlreiche Proteste aus dem Publikum provozierte. Darin mag sich auch ausdrücken, worauf selbstkritisch, aber deshalb doch auch nicht gegen ein verstärktes Engagement der »Kulturschaffenden«, wie sie in der DDR hießen, gerichtet, Koall (2015: 8) hinwies: All zu oft »predigen [wir] zu den Bekehrten, wir reden einverständig mit den Einverständigen.« Ähnliches mochte sich auch in Großbritannien ereignet haben: In seiner Klage darüber, dass die britischen Kultureliten sich nicht wirklich für einen Verbleib in Europa eingesetzt hätten, schrieb der in New York lebende britische Konzeptkünstler Liam Gillick (2016), der 2009 auch für den deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig verantwortlich war, dass man allenfalls subjektive Befindlichkeiten ins Spiel gebracht hätte (»Mir gefällt es in der Toskana« oder »In Berlin gibt es noch billige Wohnungen«) oder isoliert professionell Selbstbezogenes: »Damien Hirst setzt seine Schmetterlinge gegen den Brexit in Marsch« oder »viele von uns haben an Projekten gearbeitet, die ohne EU-Gelder nie möglich gewesen wären«. Das »war genau das Argument, das die einfachen Leute umso mehr in das Lager der BrexitBefürworter trieb.« Oft wurde auch danach gefragt, warum die »zivilgesellschaftliche« Gegenwehr, warum »NO PEGIDA« (Marg et al. 2016) in Dresden so schwach sei, während sich die Gewichte des Protestes in Leipzig doch ganz anders darstellten. Tatsächlich ist die radikale, zum Teil anarchistisch-linke Szene in der alten Bürgerstadt Leipzig viel größer und aktiver als in dem seinen einstmals höfischen Glanz genießenden Dresden. Blickt man über diesen Vergleich hinaus jedoch auf andere Städte, so ist die Antwort schnell gegeben, dass die Verteidiger des Abendlandes mit den lokal jeweils angepassten Anfangsbuchstaben fast immer nur kleine Gruppen zu mobilisieren vermochten, sodass sporadische Gegendemonstrationen es leicht hatten, in der Überzahl zu sein. Am 23. Februar 2015 standen sich in München etwa 500 Polizisten, 260 islamfeindliche »Bagida«-Spaziergänger und 360 Gegendemonstranten gegenüber (tz München 2015). Chronisch klein war auch die islamfeindliche Gruppierung KÖGIDA, de-
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ren größter Auftritt am 15. Januar 2015 (vor dem verdunkelten gotischen Dom) mit 400 Spaziergängern immerhin 2-5000 Gegendemonstranten anzog, wobei am 18. Mai desselben Jahres der geplante Protestzug abgesagt werden musste, weil sich nur sechs Kögidisten einfanden. Die Beispiele wären leicht zu vermehren.
6. Public Sociology oder »Geschwätzwissenschaft«? Ein PEGIDA-Gegenblick Der vorliegende Sammelband entstand aus den um weitere Beiträge ergänzten Vorträgen und Debatten des Public Sociology Forums der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 30. November 2015 (vgl. das Vorwort zum vorliegenden Band). Es fand eine Aufmerksamkeit auch bei vielen PEGIDA-Anhängern, wie etwa die Anwesenheit des Vaters von Lutz Bachmann oder der damaligen »Frontfrau« Tatjana Festerling (30.11.2015) sowie viele Diskussionsbeiträge aus dem Publikum bewiesen. Der gesamte Debattentag wurde auch in Festerlings kommentierendem Facebook-Dialog gespiegelt. Soziologie wurde hier durchgängig zur »Geschwätzwissenschaft« erklärt, die »hohl und nutzlos […] gruselig und völlig verzichtbar« sei. Vergleichbar der 1937 beabsichtigten Bloßstellung expressionistischer Kunstwerke durch die Angabe der Ankaufssummen aus Steuermitteln in der Münchener Ausstellung »Entartete Kunst«, wurde hier wiederholt hervorgehoben, dass diese »Soziologie-Parallelgesellschaften« mit ihren »zeitgeistlichen/linksfaschistischen Volksverhetzern« durch »Staatsknete« finanziert würden, obwohl keinerlei neue Erkenntnisse zu hören gewesen seien, stattdessen »nur Statistik, Gelaber ›über‹ die Menschen, die auf die Straße gehen, Mutmaßungen und eine krampfhafte Deutung durch die linke Brille«. Kurz gesagt: Wenn »Gesellschaftsklempner etwas ›erklären‹, kommt nichts als Scheiße dabei heraus!« Und doch wurden einige Beiträge positiver gewürdigt und einer sogar besonders gelobt. Zwar war Tatjana Festerling auch mit Werner Patzelt nicht ganz zufrieden (»Patzelt und Vorländer haben als Elfenbeintürmler ihre üblichen PEGIDA-Bewertungen abgelassen. Langweilig, nix Neues«), wobei doch von einem ihrer Chatpartner Patzelt als »Brückenbauer zwischen den ›Welten‹«, zwischen PEGIDA und dem »großen Bündnis der etablierten Parteien, der Gewerkschaften und Kirchen« gewürdigt wurde. Aus dem Publikum kam sogar der – allerdings belachte – Vorschlag, da Lutz Bachmann doch eigentlich untragbar sei, den medien-
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erfahrenen Politikwissenschaftler zum Anführer zu küren – eine Idee, die der Forscher Patzelt nun wirklich nicht verdient hat. Ein deutliches Lob erhielt demgegenüber der Hallenser Gesellschafts-Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz (berühmt geworden durch sein 1992 erschienenes Buch »Der Gefühlsstau«). Dessen »emotionaler Abschlussvortrag« habe »die Kernfragen aufgebracht« und in seiner »Brandrede« seien die »HassAbkanzelungen der Politiker gegen PEGIDA« als »Hetze« angeprangert worden. Viel akzeptabler als die »Elfenbeintürmler« und am lobenswertesten von allen Deutungen erschienen allerdings die Thesen des Dresdner Soziologen Joachim Fischer (2015a). Der habe verstanden, dass Zivilgesellschaft nicht gleichzusetzen sei mit Harmonie, sondern auch mit »Zank und Streit« und deshalb der »Tendenz, PEGIDA zu pathologisieren und zu pädagogisieren« widerstanden. Ein größeres Faszinosum für die von ihren Anhängern elektronisch vielfach ermutigte Veranstaltungsbeobachterin hätte wohl darin liegen können, dass Joachim Fischer Dresden zum Ort einer entscheidenden Überwindung eines alt-bundesrepublikanischen, links-liberalen Konsenses stilisiert hat. Damit beschrieb er durchaus treffend, dass es (allerdings in ganz Europa) einen noch minoritären, aber zuweilen schon mehrheitsfähigen Rechtsruck gibt. Besonders passend für PEGIDA-Aktivistinnen und -Aktivisten möchte doch wohl seine Behauptung eines sozusagen ›elb-zentrischen‹ Auf bruchs, der von Dresden ausgehe, sein. Er beobachtete »Herz statt Hetze« (nicht nur bei NO-PEGIDA): »Alle lieben Deutschland, nur eben sehr verschieden.« Und das gelte auch für den »dritten Liebesrausch, der Deutschland durchzieht – nämlich die in ihrer Erschöpfung seligen Einwanderer, wenn sie durch die tatsächliche Grenzüberschreitung ihr Sehnsuchtsland erreicht haben« (Fischer 2015b). Man sieht förmlich die in ungesicherten und überfüllten Booten ihr Leben riskierenden und in entsetzlich großer Anzahl im Mittelmeer ertrinkenden oder eines ihrer Kinder in den Fluten verlierenden Menschen vor sich, die all das auf sich nehmen aus »liebender Sehnsucht« nach diesem fernen Land im Norden – oder gar, um an der Elbe in die »schönste Barockstadt« zu ziehen?
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A nmerkungen 1 Sehr danke ich Martin Siebert sowie Stefan Wagner und Nicolas Schilling für ihr großes Engagement bei der Fertigstellung dieses Manuskriptes und ebenso meiner Mitherausgeberin Franziska Kunz, welche die Hauptlast der redaktionellen Arbeit auf sich genommen hat, sowie meinem Mitherausgeber Tino Schlinzig für zahlreiche Anregungen. 2 Italienisch: girotondi; das wurde 2002 in Rom der Name für nicht genehmigte Protesttreffen gegen die Regierung von Silvio Berlusconi. 3 Dies war zwar eine vereinseitigende Kennzeichnung, die man jedoch gut nachvollziehen kann, weil sie die aggressive Abwehr gegen Flüchtlinge in Heidenau meinte, der am 24.8.2015 die ebenfalls attackierten, höchsten Repräsentanten des Staates entgegentreten wollten. 4 Vgl. Die Zeit 13.10.2015. Ein Glück, dass die selbsternannten Henker kaum Max Weber gelesen haben dürften, denn sonst hätten sie noch eine seriöse Rechtfertigung dafür gefunden. Weber hatte in einem Gespräch mit dem, im I. Weltkrieg als Stellvertreter Hindenburgs und Erster Generalquartiermeister fungierenden Ludendorff sein instrumentelles Demokratieverständnis bündig so zusammengefasst: »In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Dann sagt der Gewählte: ›Nun haltet und den Mund und pariert‹. Volk und Parteien dürfen ihm nicht mehr hineinreden. […] Nachher kann das Volk richten – hat der Führer Fehler gemacht – an den Galgen mit ihm!«, zit. in: M. Weber 1926: 665. 5 Vorbild ist die von Josef Wirmer, einem zentralen, dann auch hingerichteten Mitglied des Widerstandskreises vom 20. Juli 1944, als neue Reichsflagge nach einer Ausschaltung Hitlers entworfene Fahne, die 1948/49 im Parlamentarischen Rat als mögliche Bundesflagge diskutiert, dann aber verworfen wurde und in modifizierter Form der CDU von 1953 bis etwa 1970 als Parteifahne diente; seit etwa 2010 wird sie von rechtsextremen und rechtspopulistischen Gruppierungen verwendet. (Wikipedia-Eintrag »Wirmer-Flagge« [12.6.2016]). 6 Diesen Begriff prägte der im 19. Jahrhundert in Graz gelehrt habende polnische Soziologe Ludwig Gumplowicz (1905: 28), um die Geburt von Herrschaft aus einer Überschichtung sesshafter Gruppen durch zumeist bewaffnete (Hirten-)Nomaden zu erklären.
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7 Dies ist eine verkürzte Wiedergabe einer Äußerung Bärbel Bohleys am 4.7.1991 auf der Veranstaltung »40 Jahre SED-Unrecht – Eine Herausforderung für den Rechtsstaat«; vgl. das Originalzitat in: Heitmann 1999: 3761-3763. Die von Bohley empfundene Differenz könnte – dort allerdings aus Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus überhaupt – die polnische, nationalkonservative seit 2015 allein regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) dazu gebracht haben, beide Leitwerte »Recht und Gerechtigkeit« in ihrem Namen zu verbinden. 8 Vgl. zu der Anzeige: www.so-geht-sächsisch.de. Übrigens gab es durchaus viel Hilfsbereitschaft in Dresden, über die selten berichtet wurde. Mir sagte ein Reporter des Deutschlandradios Kultur, der in die Stadt gekommen war, um die Fremdenfeindlichkeit angesichts der vielen Flüchtlinge zu dokumentieren, kaum je habe er so viel davon erfahren wie hier. 9 So sollten etwa die Cahiers de Doléances (Beschwerdehefte, von denen noch ca. 60.000 erhalten sind) es den Abgeordneten in der von Ludwig XVI. am 24. Januar 1789 einberufenen Generalversammlung der Stände ermöglichen, die Bedrängnisse und Wünsche der Bürger vorzutragen. 10 Ein Beispiel ist das den Polizeieinsatz am 13.2.2011 zum Ausgangspunkt nehmende Stück »Ein Exempel. Mutmaßungen über die sächsische Demokratie« von Lutz Hübner und Sarah Nemitz (2014), das in der Regie von Jan Gehler am 14.6.2014 im Kleinen Haus uraufgeführt wurde und dem immer kontroverse Diskussionen, etwa auch mit Staatsanwälten, folgten.
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T eil II: A nalysen
1. Dresden-Beobachtungen – von innen
»Streitet Dresden voran?« Die Avantgarde-Funktion der Stadt für gesamtgesellschaftliche Debatten seit 19891 Joachim Fischer
Zusammenfassung Die soziologische Distanzbeobachtung rückt das PEGIDA-Ereignis in eine Kette von drei anderen, nicht aufeinander rückführbaren Debatten seit 1989, in denen die Dresdner Stadtgesellschaft offensichtlich Stellvertreterdebatten für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt übernommen hat: (1) Die umstrittene Dresdner Drehung der Revolution in Richtung Wiedervereinigung 1989; (2) der umstrittene Wiederaufbau der Frauenkirche als nachhaltiger Impuls für den bundesweiten stadtarchitektonischen »Rekonstruktivismus«; (3) der Dresdner Zank um das angemessene Gedenken am 13. Februar 1945 als Stellvertreterdiskurs und -ritual für alle zerstörten deutschen (und europäischen) Städte; (4) die PEGIDA- und NO-PEGIDA-Bewegungen als offener Streit um Fragen der kollektiven Identität von Gesellschaften angesichts weltgesellschaftlicher Mobilitäten. Ist Dresden eine Avantgarde der Civil Society?
Abstract Sociology in this paper observes the PEGIDA-Phenomenon within a row of three other irreducible Dresden debates since 1989 in which the civil society of the city apparently has performed representative debates for the federal republic of Germany as a whole. (1) The controversal Dresden turn of the revolution in the former GDR 1989 towards reunification; (2) the controversial reconstruction of the Dresden »Frauenkirche« as lasting impact on recent historical reconstructivism in German modern cities like Berlin, Potsdam and Frankfurt; (3) the Dresden quarrel about the appropriate memory of the destruction of the city on 13th of February by allied bomb attacks – rethinking German victims and German offenders of the
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II.1 Dresden-Beobachtungen – von innen
Nazi-regime in Dresden in a new way; (4) the social movements of »PEGIDA« and »NO-PEGIDA« since 2014 as an open quarrel about questions of modern collective identity in view of global migration. Does the city of Dresden have the status of an avantgarde for German Civil Society as a whole?
Thesen 0 Soziologie als Distanzbeobachtung – Contra Pathologisierung, Psychiatrisierung und Pädagogisierung einer Großstadt Soziologie ist Distanzbeobachtung. Die erscheint im Fall Dresden besonders geboten. Im panischen Erschrecken angesichts des PEGIDA-Phänomens ist es zu einer denkwürdigen Pathologisierung, Psychiatrisierung und Pädagogisierung einer großen Stadt gekommen, lokal und medial. Wenn »PEGIDA« eine »Schande für Deutschland« ist, dann fällt auf Dresden ein tiefer Schatten stadtgesellschaftlichen Versagens. In der Folge der Stigmatisierung unterliegt Dresden im öffentlichen Urteil einer Pathologisierung (›hässliches Gesicht‹, ›schmutzige Seite der Zivilgesellschaft‹, ›Stadt des Ressentiments und des Hasses‹), Psychiatrisierung (›Selbstverkapselung‹ = Autismus; ›zu schöne Stadt‹ bzw. Selbstverliebtheit = Narzissmus; ›süße Krankheit gestern‹ = Nostalgie) und Pädagogisierung (permanent öffentlich ausgeflaggte Bekenntnistafeln zu den Menschenrechten auf dem Platz vor der Semperoper). In die öffentliche und intellektuelle Abscheu mischt sich ein Schuss Schadenfreude, dass das ›schöne Dresden‹ vom hohen Ross gefallen zu sein scheint, mit der erneut bestätigten Westerwartung einer steckengebliebenen Mental-Provinzialität Ostdeutschlands. Selbst ihre prominenten Stadtsänger rechnen nun endgültig mit der Stadt ab (Durs Grünbein). Hockt die Dresdner Stadtgesellschaft nach wie vor im sprichwörtlichen »Tal der Ahnungslosen«, bar jeder kognitiv-emotionalen Weitung für die Realität und für das selbstverständliche Ethos einer Weltgesellschaft? Demgegenüber könnte die Soziologie das Angebot machen, eine stadtund gesellschaftsgeschichtliche Distanz zu gewinnen. Die These ist: Bereits vor dieser plötzlichen, dann wiederkehrenden Dresdner Demonstrations-Emergenz seit 2014, die sich »PEGIDA« nennt, ist Dresden seit 1989 mehrfach Initiativpunkt von erregten Debatten gewesen, von nicht auf-
J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
einander rückführbaren, erbitterten Debatten, die die Stadtgesellschaft gespalten, durchgeschüttelt haben. Es ist nämlich durchaus nicht das erste Mal, dass Dresden in den letzten 25 Jahren auf irritierende Weise für einen unerwarteten, unabsehbaren Eklat und Elan in der deutschen Öffentlichkeit sorgt. Die Dresdner Streite sind – und das erscheint einer soziologischen Aufklärung bemerkenswert – jeweils ein gesamtgesellschaftlich je tief irritierender und zugleich äußerst relevanter und folgenreicher Zank in und für Deutschland gewesen, die jeweiligen Dresdner Debatten haben eine gesamtdeutsche, ja vielleicht eine europäische Funktion übernommen.
1 Vier Dresdner Stadtstreite seit 1989 mit gesamtgesellschaftlicher Funktion 1.1 Erste Stadtdebatte 1989: Die umstrittene Dresdner Verschiebung der Revolution in Richtung nationaler Wiedervereinigung Die neuere und neueste Funktion Dresdens für gesamtgesellschaftliche Debatten beginnt Dezember 1989, als tausende von niemandem bestellte Dresdner den westdeutschen Bundeskanzler Kohl und seine Mannschaft bereits am Flughafen und dann abends bei seiner Rede mit Deutschlandfahnen und Rufen »Deutschland, einig Vaterland« begrüßen. Es geht hier nicht um die Rede eines führenden Politikers, der die differenten Erwartungen der Dresdner, der DDR-Verantwortlichen, der europäischen Nachbarn, der Weltöffentlichkeit zu balancieren versucht, sondern um den unerwarteten Effekt des unorganisierten Auflaufs Dresdner Bürger auf ihn und andere Entscheider der weiteren Entwicklung. Eine sorgfältige Vorbereitung und sogar Inszenierung des Kohl-Auftritts einschließlich der Rede seitens des Kanzleramts ist wahrscheinlich (Driftmann 2009), aber seitens der beteiligten Dresdner selbst handelte es sich um eine spontane, von nirgendwo her von langer Hand organisierte Bürgerinitiative – einen kollektiven Akteur, der sich selbst überraschte. Diese spontane Dresdner Bürgerinitiative hat den revolutionären Umbruch in der DDR mit einem Ruck Richtung Wiedervereinigung verschoben. Das hat einen erbitterten Streit in der Dresdner Stadtgesellschaft ausgelöst: Hinsichtlich des revolutionären Umbruchs der DDR 1989 war Dresden nur ein Ort unter vielen, alles in allem wahrscheinlich nicht der
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wichtigste. Wichtig allerdings zunächst für die ›Friedlichkeit‹, weil am 8. Oktober 1989, einen Tag vor der alles entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration, nach einer Gewalteskalation am Dresdner Bahnhof die Bürgerkriegs-deeskalierende Dresdner Losung kam: »Man kann miteinander sprechen« (Dieckmann 2009). Entscheidend aber für alles Weitere: Die Initiative in Richtung Wiedervereinigung kam aus der Dresdner Stadtgesellschaft (und wurde dann auf den Leipziger Montagsdemonstrationen 89/90 in der Verwandlung des Rufes »Wir sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk« zu einem sich verstärkenden Echo) – damit ist nicht gemeint, dass diese Option etwa die einhellige Meinung der Dresdner war. Ein solches Votum für die nationale Einheit war in der Stadtgesellschaft selbst heftigst umkämpft. Für die SED-Eliten, aber auch für die Bürgerbewegungen, die auf einen erneuerten Sozialismus oder Dritten Weg setzten, war bereits dieser aus Dresden kommende Impuls eine Schande für die Stadt. »Sie haben dem Bundeskanzler die Stadt überlassen«, schrieb der Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher peinlich berührt einen Tag später vom Ausnahmeabend des 18. Dezember zuvor in sein Tagebuch: »Von diesem Tag an hört die DDR auf zu existieren« (Rosenlöcher 1990, »19.12.«). Noch in einer unmittelbar vor dem westdeutschen Besuch bekannt gewordenen (westdeutschen) Umfrage hatten 70 % der befragten DDR-Bürger für die DDR als einen eigenen deutschen Teilstaat plädiert. Wichtig ist die gesamtgesellschaftliche Funktion. Dresden hat mit dieser zivilgesellschaftlichen Initiative Ende 1989 und dem erbitterten Zank darüber eine gesamtdeutsche, ja europäische Funktion übernommen – stellvertretend für die damalige DDR und für die alte Bundesrepublik die Debatte über Möglichkeiten und Folgen der Einheit ausgelöst. Die streitende Dresdner Stadtgesellschaft war der gesamtdeutschen Debatte ein ausschlagendes Stück voraus. Die Blitzaktion dieser Bürgerinitiative für die nationale Option verriegelte nicht nur die Perspektive eines tief erneuerten sozialistischen Projektes auf dem Territorium der DDR, sondern setzte vor allem Westdeutschland unter einen erheblichen Druck. Ausgelöst von der Dresden-Schockwirkung war die bundesrepublikanische Gesellschaft auch unter ihren Intellektuellen (Walser vs. Grass) über die plötzlich neue, diskursiv längst verabschiedete Einheitsfrage tief zerrissen – das ist bekannt; auch dass es innergesellschaftlich zu einer Generationenbruchlinie zwischen den 68ern und den 89ern kam. Im Endeffekt war es nichts weiter als eine zivilgesellschaftliche Weichenstellung aus der Dresdner Stadtgesellschaft mit weltöffentlicher Ausstrahlung: »Die
J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
begeisterte Teilnahme der Bevölkerung [Dresdens] führte aller Welt den Einheitswillen der Ostdeutschen vor Augen«, erinnerte sich Condoleezza Rice, die Sowjetexpertin und Politikberaterin im Stab des damaligen Präsidenten der USA (Zelikow/Rice 1997: 214). 1.2 Zweite Stadtdebatte: Die umstrittene Initiative zum Wiederaufbau der Frauenkirche – Dresden als deutschlandweites Modell des urbanen Rekonstruktivismus mitten in der Moderne Eine ganz anders gelagerte Debatte hat Dresden mit der Initiative 1990 zum Wiederauf bau der Frauenkirche und eines ganzen innerstädtischen Stadtviertels ausgelöst, mitten in der sozialistischen Stadtmoderne, einer konsequenten Bauhausmoderne (Prager Straße, Fischer 2005), die Dresden bis 1989 durchaus eindrucksvoll verkörperte. Wieder eine spontane, nicht von oben organisierte Bürgerbewegung, der »Ruf aus Dresden«, samt einer Vereinsgründung, der Überlieferung nach die erste Vereinsgründung der neuen Civil Society. Es handelte sich ja nicht nur um die Rekonstruktion eines einzelnen (Kirchen-)Gebäudes, sondern der Schub der Initiative führte davon abgehoben zum nunmehr lange verhandelten, immer erneut konterkarierten Vorhaben, eine Vielzahl von Quartieren um den Kirchenbau in einem historisch informierten Stil wieder zu errichten, alte Straßenführungen wieder aufleben zu lassen. Anders als der Wiederauf bau der Frauenkirchenruine war dieses Rekonstruktions-Projekt noch riskanter, handelte es sich doch um leere Flächen mitten in der Stadt, die Raum für verschiedenste modernste Architekturvisionen boten. Diese Wiederauf bau-Initiative der ›europäischen Stadt‹ in Dresden hat die ganzen 1990er Jahre ebenfalls zu einem erbitterten Streit in der Stadtgesellschaft geführt, in endlosen Bürgerversammlungen und Leserbrief-Debatten, hat Familien gespalten zwischen den Anhängern eines architektonischen Rekonstruktivismus und denen der Bauhausmoderne. Das war eine Fortsetzung einer schwelenden zivilgesellschaftlichen Debatte bereits zu DDR-Zeiten, die nirgends so verbissen wie in Dresden geführt wurde – zwischen den engagierten Bewahrern des bürgerlichen »Alten Dresdens« (Fritz Löffler), also der in Konturen erkennbar europäischen Stadt, und den energischen Befürwortern der sozialistischen Bauhausmoderne à la Le Corbusier (Prager Straße): »Das sozialistische
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II.1 Dresden-Beobachtungen – von innen
Dresden braucht weder Kirchen noch Barockfassaden« (SED-Oberbürgermeister Weidauer, in Lühr 1991). Soziologisch wichtig ist, zu erkennen, dass auch mit dieser strittigen Wiederauf bauinitiative die Dresdner Stadtgesellschaft eine Stellvertretungsdebatte für die Gesamtgesellschaft geführt hat: Über die architektonische Stadtgestalt in der modernen Gesellschaft, das Gesicht der Städte, ihre Ausdrucksgestalt. Sicher hat es bereits nach 1945 in deutschen Städten Weggabelungen entweder zur ›Rekonstruktion‹ (Münster) oder zur modernen Großstadt (Hannover) gegeben, auch in den 1980er Jahren in kleineren Städten (Hildesheim) neue historische Rekonstruktionen unter Beseitigung von modernen Bauten. Aber das mitten in großen Städten Bauten der Moderne abgerissen wurden, um zentrale Teile historischer Ensembles zu rekonstruieren, hat erst nach 1989 eingesetzt – eben mit Dresden, und zwar gegen erheblichen, gerade auch westdeutschen Widerstand gegen solches bürgerschaftliches Engagement zugunsten der okzidentalen Stadtgestalt.2 Dieser seit nun zwei Jahrzehnten sich hinziehende Dresdner Stadtrekonstruktionsprozess im Zentrum ist es, der deutschland- und europaweit die Aufmerksamkeit der in die Stadt strömenden Gäste gefunden hat – und Nachahmer bundesweit. Die Bewegung zum Wiederauf bau des Berliner Schlosses (einschließlich Abriss des sozialistischen Volkspalastes) als Wiedergewinnung der europäischen Stadt (ebenso wie in Potsdam) ist nicht ohne die Dresdner Bürgerinitiative zu denken, so wenig wie der Bürgerentschluss von Frankfurt a.M., mitten in ihrer modernen Hochhausstadt den Ursprung der europäischen Stadt erneut sichtbar werden zu lassen. Ob die soziale Bewegung des »Rekonstruktivismus« (Fischer 2011) ein furchtsames nostalgisches Ausweichen vor den Herausforderungen und Formpotentialen der Moderne ist oder ein Signal, dass die europäischen Städte mitten in der dynamischen Moderne sich über ihr Ursprungsantlitz als okzidentale Städte zurückbeugen, in denen sie durch die Art der behutsamen, eventuell korrigierenden Bebauung Sichtachsen zu früheren Stadtgenerationen einrichten – das bleibt bis in die europäische Stadtgegenwart immer erneut Verhandlungssache ihrer Bürger.
J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
1.3 Dritte Stadtdebatte: Dresden und der umstrittene 13. Februar 1945 – ein Modell der Gedenkkultur an Opfer und Täter des »Brandes« in Deutschland Die dritte Debatte in Dresden hat sich seit 1998 hinsichtlich des angemessenen Gedenkens an den 13. Februar 1945 entzündet, als rechtsextreme Gruppierungen mit nächtlichen Trauermärschen die Deutungshoheit über die schlagartige kriegerische Verwandlung des sprichwörtlich schönen Dresdens in einen wüsten Ort zu erlangen suchten. Wegen der plötzlichen Zerstörung am 13./14. Februar (Taylor 2004) hatte sich seit 1946 in Dresden ein jährlicher Gedenktag angeboten, der bereits in der DDR einen Formwandel erfuhr – von der Form des sogenannten »stillen Gedenkens« der Angehörigen an die Toten (mit Glockengeläut) vor allem an der Ruine der Frauenkirche bis hin zur rituellen Verankerung der Friedensbewegung an diesem Tag seit 1982 (Neutzner 2005). Die Form des angemessenen Gedenkens wurde seit den späten 1990er Jahren in der Dresdner Stadtgesellschaft über Jahre extrem umstritten. Zunächst wurde die bereits zu Zeiten der DDR kursierende Version gestärkt: Der Luftangriff auf Dresden sei die »sinnlose Zerstörung einer der schönsten Städte Deutschlands durch amerikanische Bomber« gewesen (so Pieck) und grenze an einen alliierten ›Völkermord‹ (so der britische Sachbuchhistoriker David Irving bereits Anfang der 1960er Jahre in »Der Untergang Dresdens«). Ein schwelender Prozess setzte ein, in dem zunächst die nun traditionalen Praktiken des ›offiziellen‹ stillen (auch individuellen) Gedenkens und die 2005 auf 6500 Teilnehmer anschwellenden forcierten Nazi-Aufmärsche parallel liefen, dann Letztere durch Gegendemonstrationen (»Bündnis Nazifrei«) blockiert wurden, schließlich das ganze Gedenken die Stadt in einen polizeibewehrten Spannungszustand zwischen Lagern mit deutschlandweiter Öffentlichkeit verwandelt hat. Eine dadurch ausgelöste, vertiefende mentale Auseinandersetzung des Stadtgedächtnisses mit Dresdens realer Partizipation an nationalsozialistischer Herrschaft führte zu einer Neueinschätzung der erlittenen Stadtzerstörung. Der indirekte Gegenakzent zur Dresdner Selbstgewissheit, dass hier eine eigentlich ›unschuldige‹ Kulturstadt Opfer eines Terrorangriffes (so bereits die Losung aus Goebbels’ Propagandaministerium) geworden sei, erfolgte Mitte der 1990er Jahren durch die Veröffentlichung der Klemperer-Tagebücher. Diese Tagebücher von 1933-1945 berichteten minutiös und beklemmend über die in Dresden sich vollziehende schritt-
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weise Ausgrenzung und Repression eines deutschen Juden und kulminierten in der schlichten Feststellung, dass nur durch den schrecklichen Angriff die verbliebenen, bereits mit dem Stern markierten und zum Abtransport bestellten Dresdner Juden eine Chance des Untertauchens und Überlebens hatten: »Die Bomben fielen, die Häuser stürzten, die brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riss Jud und Christ in den Tod; wen er aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen.« (Klemperer 1980: 273) Die Klemperer-Tagebücher, die das deutschland- und weltweite Dresdner Buchereignis der Jahre nach 1990 wurden und deren Dokumentcharakter mit dem Tagebuch der Anne Frank verglichen wurde, waren der entscheidende Anstoß in Dresden, sich der Rolle Dresdens und der Dresdner im Dritten Reich historisch genau zuzuwenden. Schritt um Schritt kamen historische Fakten ans Licht: Dresden war mit frühzeitiger Bücherverbrennung (1933) und der Ausstellung »Entarteter Kunst« (1938) nicht nur maßgeblich an der NS-Kulturpolitik beteiligt, sondern als bedeutender Militärstützpunkt, Industriestandort und als Verkehrsknotenpunkt eine für die Kriegsführung bis in die Endphase wichtige Stadt. In jedem Fall verschob sich die Aufmerksamkeit merklich zu den deutschen Tätern in Dresden, das am 13./14. Februar Opfer geworden war und führte schließlich zu einer neuen rituellen Form des Gedenkens in der Gestalt einer seit 2010 von Tausenden von Dresdnern gebildeten Menschenkette um die innere Altstadt, die gleichzeitig die bürgerschaftliche Verantwortung für die komplexe Geschichte Dresdens wie eine Abwehrgeste gegen den rechtsextremen Zugriffsversuch signalisieren sollte. Andere zerstörte Städte, anders akzentuiertes Gedenken. Aber der Streit der Dresdner Stadtgesellschaft um die Form und Tendenz des Gedenkens an die Zerstörung der Stadt im Februar 1945 ist zwischen 2000 und 2010 in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eskaliert – es war auch in diesem Fall ein Stellvertreterstreit. Das traumatische Ereignis einer Flächenbombardierung haben hunderte von deutschen Städten zwischen 1940 und 1945 erfahren, kleine Städte wie Pforzheim und Hildesheim und große Städte wie Hamburg, Köln, Berlin, Hannover, Würzburg, Chemnitz, Magdeburg, Potsdam – und zuvor von den Nazis angegriffene europäische Innenstädte (Coventry, Warschau, Rotterdam, London etc.). Von Beginn hat Dresden nach dem Krieg eine stellvertretende narrative und mythisierende Funktion für die kollektive Erinnerung übernommen
J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
(z.B. in den Narrationen von Kurt Vonnegut, Walter Kempowski u.a.). Aber der ab Ende der 1990er Jahre in Dresden die ganze Stadt bewegende lokale Erinnerungskampf an Diktatur- und Kriegszeit – zwischen den Extremen des behaupteten »Bombenholocausts« und der Femen-Manifestation »Thank you Bomber-Harris« – wurde durch Einbeziehung von überlokalen Historikern und bundesweiter Ausstrahlung repräsentativ für die Auseinandersetzung mit dem »Brand«, wie der Historiker Jörg Friedrich (2002) seine minutiöse Untersuchung und anschauliche Darstellung über die Folgen des Luftkrieges der Briten und Amerikaner gegen die Städte in Nazi-Deutschland nannte. Die repräsentative Funktion Dresdens bestätigt der zweiteilige Fernsehfilm ›Dresden – das Inferno‹ (2006) als der Spielfilm über den ›Brand‹ in Deutschland und das 2015 fertiggestellte große Panoramabild des Tages danach, des »15.02.1945« von Yadegar Asisi, das in seiner präzisen Darstellung einer im Zentrum destruierten Stadt einzigartig ist. Der Fall Dresden zeigt stellvertretend die Dynamik, in der jede neue Generation sich die Geschichte des Landes und ihrer jeweiligen Stadt aneignen muss – in dem unabschließbaren Versuch des Gedenkens an die Toten und die eigenen am Unfrieden beteiligten deutschen Familien. 1.4 Vierte Stadtdebatte: Die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung« und das »bunte Dresden« – Können komplexe Gesellschaften eine affektiv-rationale Identität ausbilden? Seit Oktober 2014 versammeln sich mitten in Dresden wiederkehrend die selbsternannten »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« zu disziplinierten Demonstrationen – mit islam- und genderskeptischen Anliegen, obwohl der Islam in Dresden eigentlich nur in ›blasphemischer‹ Gestalt einer um die vorletzte Jahrhundertwende gebauten profanen »Tabakmoschee«, also einer als Moschee gebauten Tabakfabrik im Stadtbild präsent ist. Zur sozialen Bewegung erstarkte das Phänomen (vorübergehend) erst durch die bisher oder lange Stilleren im Lande, die diesen Anlass nutzen, um ihr offensichtlich aufgestautes grollendes Unbehagen mit der Politik, den Medien, auch der Kirche auszudrücken. Die konkrete Erfahrung, die schließlich den Protest nährte, war die auch in Sachsen, Dresden und vielen kleineren Orte von oben verordnete Ansiedlung einer wachsenden Zahl von Asylsuchenden.
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Das Faktum des Auftretens der ›Patriotischen Europäer‹ und ihre islam-, asylreservierten, auch genderskeptischen ›Anliegen‹ waren und sind in Dresden – wie bereits bei den drei zuvor geschilderten KonfliktKonvulsionen – extrem umstritten. Diese Initiative aus der Stadtgesellschaft (und ihrem Umland) taucht ebenso überraschend auf wie die drei anderen. Der Vorschlag ist, das PEGIDA-Phänomen in einer Reihe mit den drei anderen, ebenso umstrittenen, emotional tief aufwühlenden Dresdner Debatten als Phänomen der Civil Society zu beobachten. Eventuell eine »schmutzige Seite der Zivilgesellschaft« (Geiges/Marg/Walter 2015), aber in jedem Fall ein Basisphänomen der Civil Society. In der affektiven Dimension treffen – wie bei den anderen Dresdner Vorkommnissen – Stolz und Scham aufeinander. Stolz der Initiatoren ob ihres riskanten öffentlichen Schrittes, auch der sich hinzugesellenden Teilnehmer ob des Mutes, aus der Privatheit für biographische Momente in eine gewagte, spontan geöffnete Öffentlichkeit getreten zu sein, an einer ob und trotz des stürmischen Widerstandes zivilen Manifestation partizipiert zu haben – und auf der anderen Seite tiefe, beklommene Scham der sich zur ›NO-PEGIDA‹ formierenden Demonstranten darüber, mit solchen Mitbürgern in einer Kommune zu hausen – eine Scham, die sich nun wiederum in vielfältigsten, kreativen, mit Verve organisierten und im öffentlichen Raum druckvollen Initiativen für ein »buntes Dresden« gewitzt manifestiert. Eine Spaltung der Stadtgesellschaft auch in dieser Hinsicht ist unübersehbar: Stehen auf der einen Seite die Pegidisten, die ihrer Auffassung gemäß eine sprichwörtliche sächsische ›Helle‹ als Legitimität in Anschlag bringen, hinsichtlich gesamtdeutscher und europäischer Gefährdungen frühzeitig aufgewacht zu sein, so formieren sich auf der anderen Seite diejenigen Stadtbewohner, die für sich und die Stadt insgesamt eine Lebensführung auf der Höhe der Globalisierungsrealität in weltoffener, ja weltmännischer Haltung beanspruchen. In diesen Dresdner NO-PEGIDA-Aktionen erkannten sich auch diejenigen Citoyens erstmals, die dann im Spätsommer 2015 die spontanen, tragenden Initiativen der »Willkommenskultur« für die »Geflüchteten« bildeten – als Ehrenamtliche in einem »Liebesrausch« gleichsam eine neue bundesweite Bürgerbewegung ins Leben riefen (Fischer 2015 b). Überlagert ist das PEGIDA-Phänomen wiederum mit dem 2014 relativ überraschenden sächsischen Wahlerfolg der bundesweit antretenden »Alternative für Deutschland«, die in ihrer Protagonistin Frauke Petry als erster Politikerin den offiziellen Austausch mit der Bewegung behutsam suchte und
J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
organisierte. Unübersehbar gehören zum dramatischen Stadtkonflikt seit Anfang 2015 insgesamt inzwischen die Mediationsunternehmungen in Form von Bürgerforen und »Stadtgesprächen« (Richter 2016). Offensichtlich hat die Dresdner Stadtgesellschaft auch in diesem Fall eine gesamtgesellschaftliche Funktion übernommen – das signalisiert die enorme überlokale, ja europaweite Wahrnehmung und Diskussion des Dresdner PEGIDA- und NO-PEGIDA-Phänomens.3 Eine Stellvertreterdebatte mit offenem Ausgang. Ist ausgerechnet das PEGIDA-Phänomen in Dresden eine luftige, ferne, aber eben medial unheimlich nahe Gegenreaktion auf das zeitgleiche Phänomen eines im und vom Vorderen Orient ausgreifend auftretenden, symbolisch und praktisch auch auf Europa gerichteten »Islamischen Staates«? Für spätere Historiker könnte sich eine Konstellation der Zehner Jahre des 21. Jahrhunderts holzschnittartig so fassen lassen. Auffällig ist, dass alle von dieser Art der sozialen Bewegung überrascht scheinen – die Initiatoren selbst, die hypersensiblen Medien, die Politiker des Establishments, die sich hinzugesellenden Teilnehmer – auch die intellektuellen Beobachter der sogenannten Politik- und Parteiverdrossenheit. Der reflexartige sozioökonomistische Verdacht, es handele sich bei den PEGIDA-Teilnehmern um die bildungs- und berufsmäßig ›sozial Abgehängten‹, um »WendeEnttäuschte« und notorisch »Fremden-Ängstliche« (so auch die Verdachtshermeneutik im Titel dieses Sammelbandes), scheint bei genauerem, kontinuierlichem Nachfragen nicht aufzugehen.4 Könnte es eine Schranke bisheriger sozialwissenschaftlicher Erforschung des ›Rechtspopulismus‹ sein, immer andere Hintergrundmotive zu vermuten als die von den Protagonisten dieser sozialen Bewegung tatsächlich demonstrativ artikulierten Motive? Werden künftige Sozial- und Kulturwissenschaftler etwa in der Rückschau des Jahres 2050 von dem einen europaweit sich artikulierenden islamskeptischen Diskurs erzählen müssen, der in den Zehner Jahren des 21. Jahrhunderts in seinen vielfältigen Schattierungen von den subtilen Beschreibungen (»Der Islam wird unsere Gesellschaft aufsprengen«) des frankophonen, islamerfahrenen algerischen Intellektuellen Boualem Salem (Salem 2016) bis zu den drastischen und rüden deutschen Bedenklichkeitsschreien und -gesten der Dresdner PEGIDADemonstrationen reichte? Stecken künftige Konfliktlinien zwischen irritierter a-religiöser Lebensführung (die rigorose Marginalisierung des Christentums in der ehemaligen sozialistischen DDR) und einer als vital
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erfahrenen religiösen Lebensführung (im Islam) dahinter? (Klose/Patzelt 2015) Durch PEGIDA und NO-PEGIDA scheint eine zentrale bundesrepublikanische, ja europäische Selbstverständigungsdebatte über die Integration von Zuwanderern aus nicht-europäischen Kulturkreisen als Investition in eine ungewisse, riskante Zukunft initiiert. Etwas ›Imaginäres‹ scheint im Spiel zu sein, das von den gewohnten symbolischen Diskursen nur schwer rubriziert und diszipliniert werden kann. Eventuell handelt es sich bei dem Dresdner Protestphänomen 2014/2015 um eine für Deutschland nachgeholte Normalisierung einer europäischen Protestform – die Füllung einer typisch deutschen »Repräsentationslücke« (Patzelt 2015) wie sie in Frankreich, Italien, Dänemark, England, Schweiz längst etabliert ist? »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?« – so lautete die Frage von Jürgen Habermas vor einem Vierteljahrhundert angesichts sozialer Ungleichheiten und funktionaler Differenzierungen (Habermas 1976). Der neueste erbitterte Streit der Dresdner Stadtgesellschaft scheint die kollektive Zukunftsfrage neu zu variieren und zu justieren: Können ethnisch und religiös differenzierte und konfligierende komplexe Gesellschaften eine affektiv-rationale Identität ausbilden?
F a zit : »S treite t D resden vor an ?« – D resden als A vantgarde der C ivil S ocie t y ? Der Beitrag konzentriert sich denkökonomisch auf Deskription, inwiefern Dresden Initiativpunkt verschiedenster Debatten wurde und wird6 – er enthält sich bewusst der Explikation, warum Dresden? Warum war gerade Dresden – wenn es denn Funktionen für gesamtgesellschaftliche Debatten der letzten 25 Jahre bis heute übernommen hat – für diese vier in relativ kurzen Abständen, jeweils überlokal ausstrahlenden Initiativen gesellschaftlicher Konflikt-Konvulsionen disponiert?7 Statt eines panischen Erschreckens angesichts des PEGIDA-Phänomens mag es soziologisch zunächst genügen, einfach stadt- und gesellschaftsgeschichtliche Distanz zu gewinnen – das ist der Sinn der hier entfalteten Argumentation. Sie ist skeptisch angesichts der penetranten Pädagogisierung, Pathologisierung und Psychiatrisierung Dresdens. Gesellschaftsgeschichtlich sind ja stigmatisierende Pathologisierungen und
J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
Psychiatrisierungen sozialer Bewegungen seitens des Establishments oft Abwehrgesten gegenüber herausfordernden Avantgarden. Liegt im Fall Dresden seit 1989 vielleicht ein »spezifischer Avantgardismus« (Dieckmann) vor? Ohne »kollektive Selbstbezogenheit und Eigensinn«, die der Stadt Dresden immer erneut und auch jetzt wieder kritisch vorgehalten werden (Vorländer 2016), kommt jedenfalls keine Avantgarde aus – und sei es eine Avantgarde der Civil Society in verschiedenen relevanten Debatten. Wichtig könnte für die aufgeklärte Selbstverständigung der gegenwärtigen Stadtbewohner und ihrer überlokalen Beobachter, der Stadtfans und Stadtskeptiker sein, dass Dresden bereits vor der plötzlichen Demonstrations-Emergenz 2014/2015 mehrfach überraschender Initiativpunkt gesamtgesellschaftlich tief irritierenden und zugleich äußerst relevanten und folgenreichen Zankes in Deutschland und für Europa gewesen ist. In dieser Reihe könnte man auch einen gesamtgesellschaftlichen Effekt des zivilgesellschaftlich brisanten PEGIDA- und NO-PEGIDA-Phänomens in gespannter Aufmerksamkeit abwarten. Der »Streit«, der lebhafte Konflikt, ist eine conditio sine qua non – eine unerlässliche Voraussetzung – der Civil Society (Simmel 1968; Fischer 2014). Zumindest das lässt sich von den vier Dresdner Debatten lernen, die sich überhaupt erst seit 1989, nach einer »Gesellschaftsrevolution« in Richtung einer bürgerlichen Vergesellschaftung (Fischer 2012) entfalten konnten. Ist die Stadt in ihren innerstädtischen Konflikt-Konvulsionen ein Seismograf für vergangene und kommende Erschütterungen, ein Echolot für das sich anbahnende Imaginäre (Castoriadis 1985)? Ist Dresden seit 1989 etwa Avantgarde der Civil Society in Deutschland, in Europa?
A nmerkungen 1 Eine erste Fassung der Argumentation liegt als Essay in der Zeitschrift ›Merkur‹ 8/2015 unter dem Titel vor: »Hat Dresden Antennen? Zur Funktion der Stadt für gesamtgesellschaftliche Debatten seit 1989« (Fischer 2015a). Wiederabdruck dieses Textes im Programmheft zur Dresdner Aufführung von Shakespeares »Maß für Maß«, einer Inszenierung mit aktuellen Stadt-Bezügen in der Spielzeit 2015/16 am Schauspielhaus Dresden, S. 14-22. Auf dem Dresdner Public Sociology Forum am 30.November 2015 wurden die Überlegungen zur Frage zugespitzt: »Dresden als Avantgarde der Civil Society?«. Angesichts dieser Dres-
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den-Avantgarde-These betitelte der Journalist Rafael Barth seinen Bericht über die Veranstaltung in der Sächsischen Zeitung vom 2.12.2015 prägnant: »Streitet Dresden voran?« (Barth 2015). Der jetzige Beitrag ist inspiriert und informiert durch ausführliche Kommentare, die der Berliner Publizist (und geborene Dresdner) Friedrich Dieckmann sowie der Offenbacher Kunsthistoriker (zeitweilig Dresdner Einwohner) Christian Janecke dem Verfasser zum Merkur-Essay geschickt haben. Zum kollektiven Widerstand der westdeutschen Denkmalpfleger und Architekten gegen den Rekonstruktivismus siehe Dieckmann 2015. Zu NO-PEGIDA bzw. dem »bunten Dresden«: Marg et al. 2016. Einschlägige Studien zu PEGIDA: Geiges/Marg/Walter 2015; Vorländer/Herold/Schäller 2016. Boualem Salem erhielt 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Ein Gespräch zu seinem islamskeptischen Roman »2084. Das Ende der Welt. Übersetzt von Vincent von Wroblewsky, Merlin, Vastorf 2016«, unter dem Titel »Der Islam wird unsere Gesellschaft aufsprengen« in: DIE WELT, 04.06.2016. Inwiefern im »Dresdner Brückenstreit« von 1995 bis 2009 um den Bau der Waldschlösschenbrücke über die Elbe, die zur spektakulären Aberkennung des Weltkulturerbe-Titels führte, eine weitere bundesrepublikanische Stellvertretungsdebatte stecken könnte, sei hier nur angedeutet: Diesmal offensichtlich der Konflikt zwischen der infrastrukturellen Fortschrittsmoderne (mit einer Mehrheit in der Dresdner Stadtgesellschaft) und dem öko-ästhetischen Konservatismus der erbitterten Brückengegner. Dazu neuerdings, allerdings in dresdenskeptischer Haltung: Vorländer 2016.
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J. Fischer: »Streitet Dresden voran?«
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Neun unorthodoxe Thesen zu PEGIDA Werner J. Patzelt
Zusammenfassung Nach einem knappen Blick auf die empirischen Grundlagen der nachstehenden Thesen, werden in neun Punkten sowohl die zentralen Merkmale PEGIDAs als auch die Fehler vieler Reaktionen auf PEGIDA umrissen. Wichtig ist zu begreifen, dass PEGIDA und die AfD nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen desselben Sachverhalts sind, nämlich die deutsche Form des quer über Europa aufwachsenden Rechtspopulismus. Deshalb mussten Bekämpfungsstrategien scheitern, die PEGIDA als rein lokales Phänomen behandelten.
Abstract After a brief look at the empirical grounds of the subsequent theses, both the basic features of PEGIDA and the shortcomings of political reactions to PEGIDA are outlined in nine points. The key issue is that PEGIDA and AfD are just two distinct appearances of the same phenomenon, that is, the German form of European right-wing populism. Therefore, dealing with PEGIDA as if it was nothing but a local phenomenon, could not avoid failing.
I. E mpirische G rundl agen Meine Beschäftigung mit PEGIDA begann unscheinbar, nämlich mit einem Methodenseminar über Fallstudienforschung im Wintersemester 2014/15. Um das von mir methodenkundlich Vermittelte praktisch einzuüben, hatten sich die Studierenden je einen »Fall« zur konkreten Bearbeitung auszusuchen. Zu einem dieser Fälle wurde PEGIDA, dessen »Abendspaziergänge« kurz nach Semesterbeginn am 20. Oktober eingesetzt hatten.
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Woche für Woche berichteten dann die erst zwei, später drei diesen Fall bearbeitenden Studierenden im Seminar, was sie auf den von ihnen beobachtend aufgesuchten PEGIDA-Demonstrationen erlebt hatten. Deshalb besaß ich bald nicht nur gegenüber ferndiagnostizierenden Kollegen, sondern auch gegenüber so manchem Journalisten einen gewissen Vorsprung beim Wissen darum, was PEGIDA tatsächlich war, und beim Verstehen dessen, was da warum wie ablief. Erst recht war das so, als ich zwischen dem 8. Dezember und dem 25. Januar selbst sechs PEGIDA-Kundgebungen beobachtete. Solcher Informationsvorsprung samt rasch erfahrungsfundierter Deutungssicherheit, die nicht auf Übereinstimmung mit einer »herrschenden Meinung« angewiesen war, münzte sich bald in eine gewisse, bis heute nachwirkende Medienpräsenz um. Es ist verständlich, dass dies nicht jedem gefiel und nicht ohne Reaktionen blieb. Als die Demonstrantenzahlen binnen kurzem auf mehrere Tausend zunahmen, begriff ich die große politische Brisanz dessen, was sich da – wie mir bald schien – nur symptomartig in PEGIDA äußerte. Die wirklich zu bestehende politische Herausforderung schien mir umso größer zu sein, als ich bei meinen PEGIDA-Beobachtungen im Wesentlichen gerade nicht jene leicht auszugrenzenden und zu verscheuchenden Rechtsextremisten oder Rassisten vorfand, die viele andere in den Pegidianern1 zu erkennen meinten. Mehr und mehr lernte ich einen Großteil der Demonstrationsteilnehmer als solche Leute einschätzen, die – damals wie heute – ein wichtiges Anliegen zu haben glauben, sich von Politik und Öffentlichkeit mit diesem zurückgewiesen empfinden, sich deshalb besonders empört äußern, dabei mit ihren politischen Aussagen oft weit oberhalb der Verhältnisse ihrer tatsächlichen politischen Bildung agieren, sich aber gerade darin von den allermeisten Deutschen nicht unterscheiden. Ich begriff auch, dass man diese Leute – weit überwiegend ältere Männer mit guter, oft technischer Bildung – zwar nicht bei den Rotariern, doch täglich in der Straßenbahn treffen kann, und dass sie zwar nicht in Dresdens Villenvierteln, doch eben auch nicht nur in den Hartz-IV-Hochburgen wohnhaft sind. Und mir schien, dass man sie – offenkundig leicht erregbar, auch sich in zunehmendem Trotz verhärtend – mitsamt ihrer Sympathisantenschar nicht ins politische Abseits abirren lassen sollte, zumal etlicher Magnetismus von Rechtsaußen unübersehbar war. Vielmehr gelte es zu begreifen, was sie denn auf die Straße und zu vielerlei unübersehbarer Empörung treibe. Anschließend solle man plausible von abwegigen Gründen des Demonstrierens und Sich-Entrüstens unterscheiden; und am Ende müsse
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man versuchen, den Protest von der Straße wegzubekommen – und zwar am besten durch Beseitigung seiner abstellbaren Ursachen. Aus dieser so zufällig begonnenen Beschäftigung mit PEGIDA entstanden mehrere Demonstrantenbefragungen, weitere empirische Studien (u.a. aus einem weiteren Seminar zur Fallstudienforschung im Wintersemester 2015/16), die eine oder andere öffentliche Debatte, viele journalistische Publikationen, etliche wissenschaftliche Aufsätze sowie ein umfangreicher Band mit Kapiteln über PEGIDAs Programmatik, über die PEGIDA-Kundgebungen mitsamt den dort gehaltenen Reden, über die Zusammensetzung und die Einstellungen der Demonstranten, über PEGIDA als Internet-Phänomen, über die Diskurse zwischen Pegidianern und ihren Gegnern sowie über die Ursachen von PEGIDA – sowohl allgemein als auch speziell in Dresden (Patzelt/Klose 2016). Dort findet sich, mitsamt einschlägigen Literaturverweisen, jenes empirische Material, auf dem die folgenden Thesen gründen.
II. N eun unorthodoxe Thesen 1. PEGIDA ist nichts Homogenes, sondern eine durch Gemeinschaftserlebnisse zusammengehaltene Koalition von Leuten mit ähnlichen Ansichten in unterschiedlicher Rahmung und Akzentuierung. PEGIDA ist keine »soziale Bewegung«, sondern ein verlässlich organisiertes periodisches Demonstrationsgeschehen, das ähnlich Gesinnte, inzwischen einander vielfach auch persönlich Bekannte, zu solidarisierenden Gemeinschaftserlebnissen versammelt. Ferner sind bei PEGIDA vier »soziale Kreise« zu unterscheiden: 1) die – wechselnde, ihrerseits nicht spannungsfreie — Gruppe der Organisatoren; 2) die – um einen harten Kern herum – wechselnden Demonstrationsteilnehmer; 3) PEGIDA-Anhänger, die sich im Internet – etwa auf Facebook – äußern und von »Straßen-PEGIDA« markant unterscheiden; sowie 4) PEGIDA-Sympathisanten, die außerhalb Dresdens so gut wie keine Chance haben, öffentlich in Erscheinung zu treten, dies aber sehr wohl bundesweit als Anhänger oder Wähler der AfD tun.
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Im Übrigen gibt es unter den PEGIDA-Demonstranten fünf Gruppen: • »Kulturkonservative Xenophobe«, ca. 31 %: Das sind Leute mit der Überzeugung, dass niemand in einem Land leben solle, in das er wegen seiner Religion, seiner Kultur oder seines Verhaltens nicht passt. Grundiert wird diese Überzeugung durch deutschen Patriotismus, und eingebettet ist sie in die Ablehnung selbst eines friedlichen Islam und friedlicher Muslime in Deutschland. Damit verbindet sich eine gewisse Russophilie, doch zugleich eine Ablehnung der Präsenz von Rechtsradikalen oder Rechtsextremisten bei PEGIDA-Demonstrationen. Lob für die Arbeit der PEGIDA-Organisatoren rundet derlei Denken ab. • »Gutwillige Zuwanderungskritiker«, ca. 24 %: Das sind Pegidianer, die Gewalttätigkeit und biologischen Rassismus ablehnen und deutlich weniger weit rechts stehen als die übrigen Demonstranten. Sie meinen, dass es durchaus nicht zu viele Ausländer in Deutschland gäbe, und dass friedliche Muslime sehr wohl zu Deutschland gehören könnten. Zugleich meinen sie, dass niemand in einem Land leben solle, in das er aufgrund seines Verhaltens nicht passe, und schätzen die gegenwärtige Lage dahingehend ein, dass Deutschland zu viele Asylbewerber aufnähme. Im Übrigen verlangen sie nach einer weiterhin engen außenpolitischen Abstimmung mit den USA. • »Islamophobe Zuwanderungsgegner«, ca. 19 %: Diese Demonstranten meinen einerseits, Deutschland nähme zu viele Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge auf, zumal ohnehin schon zu viele Ausländer in Deutschland lebten. Andernteils lehnen sie selbst einen friedlichen Islam und friedliche Muslime in Deutschland ab. • Rechtsradikale, ca. 19 % (darunter rund 5 % Rechtsextremisten): Bei ihnen verbindet sich starkes Selbstverständnis als »deutscher Patriot« mit der Aussage, der Nationalsozialismus habe auch seine guten Seiten gehabt. Hinzu kommt die Akzeptanz von Rechtsradikalen und Rechtsextremisten bei PEGIDA-Demonstrationen, die Befürwortung von gelegentlicher Gewalt gegen politische Gegner, sowie eine selbst für PEGIDA-Verhältnisse klar rechtere Grundeinstellung. Abgerundet wird das durch die Überzeugung, Deutschland nähme zu viele Asylbewerber auf, sowie durch Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der deutschen Demokratie. • »Teilnehmer aus dem bundesdeutschen Mainstream«, ca. 8 %: Diese Pegidianer beteiligen sich seltener an Diskussionen im Internet, lehnen
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die Anwesenheit von Rechtsradikalen und Rechtsextremisten bei PEGIDA-Demonstrationen ab, stehen – für PEGIDA-Verhältnisse – klar weniger rechts, weisen Russophilie und Antiamerikanismus zurück und befürworten die Präsenz von friedlichen Muslimen in Deutschland. Sie sind weniger unzufrieden mit der Medienberichterstattung über PEGIDA, zufriedener mit dem Funktionieren der deutschen Demokratie und offener für Kritik von PEGIDA-Gegnern. Hat sich PEGIDA radikalisiert? Ja, soweit das die Stimmung bei den Demonstrationen betrifft, die Ablehnung weiterer Zuwanderung und des Islam, oder die Empörung über alle Leute aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft, die sich auf PEGIDAs Anliegen und Sichtweisen nicht einlassen wollen. Sind inzwischen die PEGIDA-Demonstranten im Wesentlichen Demokratiegegner? Nein, denn über drei Viertel meinen weiterhin, Demokratie sei – alles in allem – etwas Vorteilhaftes. Sind die Pegidianer überwiegend Rassisten? Nein, obwohl es unter ihnen knapp ein Zehntel Rassisten gibt. 2. PEGIDA ist kein Dresdner Lokalphänomen, sondern nur eine regional besondere Erscheinungsform jenes europäischen Rechtspopulismus, der sich bundesweit als AfD ausdrückt. Die AfD-Wählerschaft ist »PEGIDA in der Wahlkabine«. Dresdens PEGIDA-Demonstrationen hingegen sind ein »Vulkanschlot«. Dort – und in den Wählerstimmen für die AfD – tritt jenes Magma zutage, das überall unter Deutschland, ja weithin unter der Oberfläche vieler europäischer Staaten brodelt. Dessen Hitze und Wucht scheinen die folgenden Ursachen zu haben: das sich ausbreitende Gefühl, europäische Sozialstaatlichkeit werde brüchig; der soziale Druck innerstaatlicher Globalisierungsfolgen; das als fremdbestimmt empfundene Einwanderungsgeschehen; die wahrgenommene Auflösung gesellschaftlichen Zusammenhalts unter den Fliehkräften schwer einzuhegender Multiethnizität und Multikulturalität; die veränderten Strukturen der Öffentlichkeit, die neuen Empörungsbewegungen besonders viel Resonanz verschafften; der Verlust des Vertrauens in jene politischen und sozio-kulturellen Eliten, die – obwohl in Demokratien agierend – mit vielen dieser Herausforderungen ohne direkte Einbeziehung der Bürgerschaft in die anstehenden Entscheidungen auszukommen versuchen.
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Mancherorts ist diese Magmaschicht ausgedehnter und bewegter als anderswo. Im stabilen und reichen Deutschland brodelte sie lange Zeit weniger als in Ungarn, in Polen oder in französischen Vorstädten. Auch ist dieses Magma in den östlichen Bundesländern viel heißer als im Westen. Ebenfalls ist jenes Deckgebirge, das solches Magma von der Oberfläche deutschen Alltags trennt, regional unterschiedlich mächtig. Es besteht aus wechselseitigem Vertrauen, aus ganz selbstverständlich praktizierten Bürgertugenden, aus erfahrungsbewährter Zuversicht. In den neuen Bundesländern ist derlei dünner als in den alten Bundesländern, in Ostmitteleuropa noch weniger stabil als in Ostdeutschland. Deutschlands markantester Vulkanschlot, durch den jenes Magma an die Oberfläche drang und wöchentlich weiter quoll, entstand aber – aus hier nicht näher zu erläuternden Gründen (siehe dazu aber Patzelt/Klose 2016, Kapitel 7/VII und Kapitel 8) – genau in Dresden. 3. Auslöser PEGIDAs war Unzufriedenheit mit Deutschlands Einwanderungs- und Integrationspolitik, und tiefster Grund ist Unzufriedenheit mit Deutschlands Politik und Regierungssystem. Eben diese Protestmotive zeigten Umfragen unter PEGIDA-Demonstranten von Anfang an. Deshalb wird – erstens – PEGIDAs Mobilisierungskraft abklingen, sobald Deutschland seine Einwanderungsprobleme in den Griff bekommt und eine Integrationspolitik beginnt, die als nachhaltig wirkungsvoll gilt. Parlamentarische Präsenz einer seriös agierenden AfD, die sich gerade nicht »rechtsradikalisiert«, sondern als »bundesweite CSU« mit Regierungsanspruch aufstellt, dürfte – zweitens – die in PEGIDA zum Ausdruck kommende Entfremdung zu Deutschlands Regierungssystem mildern. Ob beides aber eintritt, ist derzeit nicht abzusehen. 4. PEGIDA und AfD konnten aufkommen, weil die etablierten Parteien zwischen CDU und rechtem Narrensaum eine Repräsentationslücke hatten entstehen lassen. »Repräsentationslücke« meint: Es gibt einen Bereich im politischen Spektrum der Bürgerschaft, aus dem heraus kein Vertrauen zu einer staatstragenden Partei besteht. Im linken politischen Spektrum lassen die staatstragenden Parteien Linke, Grüne und SPD so gut wie keinen Wunsch von links empfindenden Bürgern nach Repräsentation unabgedeckt; deshalb
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spielt – von Teilen der Partei »Die Linke« abgesehen – Linkspopulismus in Deutschland keine Rolle. Doch im rechten politischen Spektrum gibt es sehr wohl Bürger, die sich von der bislang am weitesten rechts stehenden, klar staatstragenden Partei – nämlich der Union – gerade nicht repräsentiert fühlen. Ausweislich der Landtagswahlergebnisse vom März 2016 sind das sogar ziemlich viele. Früher wählten sie, je nach Zeitumständen und politischer Konjunktur, wohl die Republikaner, die DVU, die NPD oder gar nicht; derzeit setzen sie – gemeinsam mit vielen ehemaligen Wählern vor allem, doch nicht nur der CDU – ihre Hoffnungen in die AfD. Deren öffentliche und parlamentarische Präsenz scheint jene Repräsentationslücke zu schließen – und zwar auf Kosten der CDU und um den Preis eines sich weiter auffächernden Parteiensystems samt drohender Instabilität fortan recht komplex zusammengesetzter parlamentarischer Koalitionsregierungen. Konkret bestanden Repräsentationslücken – und bestehen wohl weiter – auf den folgenden Politikfeldern: »Euro-Rettung«; Einwanderung; Integration einer Einwanderungsgesellschaft, zumal einer solchen mit einer wachsenden muslimischen Minderheit; und Verteilungskonflikte in einem Land, dessen soziale Ungleichheit sich aufgrund der Einwanderung noch weiter aufspreizen wird. In die letztgenannten Repräsentationslücken drang aufgrund Dresdner Besonderheiten PEGIDA, und aus der erstgenannten Repräsentationslücke entstand die AfD, die inzwischen auch die anderen Politikfelder abdeckt. Insgesamt erweist sich der AfD/ PEGIDA-Komplex als deutscher Sonderfall des überall in Europa zu beobachtenden Eindringens von Rechtspopulismus in jene Gesellschaftssegmente, in welchen die im öffentlichen Diskurs vorherrschenden sozialdemokratisch-grünen Politiküberzeugungen nicht mehr attraktiv sind 5. Mit PEGIDA kamen politisch-mediale Klasse und Zivilgesellschaft nicht zurecht, weil sie anhand von irreführenden Narrativen zu falschen Einschätzungen PEGIDAs kamen und an ihnen festhielten. Andere Gründe für das Auftreten von PEGIDA als »Hass und Kälte im Herzen«, ja als Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Latenznazismus, wollte ein Großteil der politisch-medialen Klasse sowie der Zivilgesellschaft von Anfang an nicht erkennen. Echte Zuneigung zum eigenen Land und zu dessen Leuten, verbunden mit Sorgen um Deutschlands Zukunft, wurde von Politikern, Journalisten und zivilgesellschaftlichen Eli-
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ten kaum einmal als wahrscheinliches Motiv von Pegidianern öffentlich in Erwägung gezogen. Auch übersah man, dass der Streit um den Sinn und um die möglichen Grenzen unserer Einwanderungspolitik sowie um den richtigen Kurs gegenüber dem Islam in Deutschland tatsächlich zu einer dauerhaften, tiefgehenden und künftig das Parteiensystem prägenden Konfliktlinie der Gesellschaft geführt hat. Derlei schnellfertige Deutungsmuster werden inzwischen auch auf die AfD angewandt. Vermutlich werden sie bei der Auseinandersetzung mit ihr zu ebenso wirkungslosen Strategien führen wie beim »Kampf gegen PEGIDA«. Im Hintergrund solchen Scheiterns beim Versuch, den Kern des PEGIDA-Phänomens bzw. des PEGIDA/AfD-Komplexes wirklich zu begreifen, steht die Tatsache, dass viele bislang sinnstiftende Narrative unseres Landes unter Druck geraten, ja unglaubwürdig geworden sind – etwa jenes vom alternativlos vorteilhaften Wandel einer »homogenen Volksgemeinschaft« hin zur »multiethnisch-multikulturellen Gesellschaft«. Weil diese Narrative aber weiterhin »gängige Währung« unserer politischen Diskurse sind, muss es nicht wundern, dass gerade Deutschlands Diskurseliten so hilflos auf PEGIDA reagiert haben. Die etablierten Deutungs- und Erklärungserzählungen passen nämlich nicht zum neuen Phänomenbestand. Wer an ihnen festhält, weil er keinen Wandel der Problemlagen, sondern nur eine Wiederkehr von – zumal aus Weimarer Zeiten – Bekanntem erkennen will, bleibt eben auf jene Gestaltungsaufgaben kognitiv und affektiv unvorbereitet, die sich heute in der »Welt da draußen« stellen – und nicht nur in unseren retrospektionsgeprägten Wirklichkeitsbildern. Bei der dann unvermeidlichen Frage, welches Narrativ weiterhin als selbstverständlich gelten darf, welches andere aber als gleichsam »häretisch« behandelt werden soll, geht es letztlich um die diskursive und kulturelle Hegemonie – sowie darum, wer sie besitzt bzw. gegen wen verteidigt. Tatsächlich steht das PEGIDA-Phänomen mitsamt den von ihm ausgelösten Reaktionen quer zu wichtigen Narrativen, die – anders als in weiten Teilen Ostdeutschlands – in Westdeutschland und von westdeutsch geprägten Eliten in aller Selbstverständlichkeit weiterverwendet werden. Dazu gehören die Großerzählungen von der liberalen und rundum diskursoffenen pluralistischen Demokratie, vom funktionierenden partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Religion und Staat, vom verlässlich soziale Gerechtigkeit in Aussicht stellenden Wohlfahrtsstaat. Gerade weil es mit diesen etablierten Narrativen unseres Landes nicht so recht zu fassen
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war, löste das PEGIDA-Phänomen derart heftige, den konkreten Anlass weit übersteigende Abwehrreaktionen aus. Zu ihnen gehörte bald schon der Versuch, lieber die Wirklichkeit des PEGIDA-Phänomens so aussehen zu lassen, dass es in etablierte Deutungs- und Erklärungsmuster passte, als diese ihrerseits auf den Stand dessen zu bringen, was es an neuen Entwicklungen zu verstehen gilt. Genau solcher Denkkonservatismus verhinderte es, dass mit dem PEGIDA-Phänomen politisch konstruktiv umgegangen werden konnte. Stattdessen erzeugte er – wie sozialer Strukturkonservatismus eben auch – vor allem Polarisierung und nachgerade Feindschaft. Beides ist inzwischen zum selbst errichteten Diskurshindernis beim Streit um PEGIDA und AfD geworden. Derweil schwindet jene Diskurshoheit ohnehin, die nun ausgerechnet von Linken in herablassender Konservativenmanier zu verteidigen versucht wird. Denn kaum war etwa mit dem recht einstimmig von Politik und Medien vorgetragenen Hinweis auf unseren angeblich alternativlosen Umgang mit Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen der konkrete Anlass der PEGIDA-Proteste aus dem Bereich akzeptabler Diskurse ausgegrenzt, erzwang realer Problemdruck auch schon – etwa im »Asylpaket 2« – genau solche Maßnahmen, die anzuraten zuvor politisch disqualifiziert hatte. Und neben dieser jetzt »frontbegradigten Hauptkampflinie« im Kampf um die diskursive Hegemonie zogen unterdessen weitere Infragestellungen bisheriger bundesdeutscher Deutungsselbstverständlichkeiten auf: beim Verhältnis von repräsentativer zu plebiszitärer Demokratie, beim Spannungsfeld von europäischer Einigung und demokratisch beeinflussbarer Nationalstaatspolitik, beim Interessenkonflikt zwischen westlicher Bündnispolitik und einer auf Appeasement hinauslaufenden Haltung gegenüber Russland. 6. Tatsachengetreues Verstehen PEGIDAs scheiterte am Unwillen der PEGIDA-Kritiker zum Perspektivenwechsel und zur Empathie. Ein Kerninhalt von – nicht nur politischer – Bildung besteht in der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Gemeint ist das Können (mitsamt der Bereitschaft, solches Vermögen auch zu nutzen), einen Sachverhalt auch aus der Warte eines anderen zu sehen, zumal eines Gegners. Auch jeder Offizier lernt bei der Taktikausbildung, dass es ganz unverzichtbar ist, jede Gefechtsaufgabe – Angriff, Verteidigung, Verzögerung … – so anzugehen, dass man Lage und Absicht, Gelände und verfügbare Kräfte
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nicht nur aus der eigenen Warte betrachtet, sondern ebenfalls aus der Perspektive des Gegners. Andernfalls kommt man zu Fehlbeurteilungen der Lage, die sich leicht im Scheitern eigener Absichten und im Erfolg des Gegners auswirken. Das aber sollte man zu vermeiden suchen, falls man lieber gewinnen als untergehen will – und sei es »mit wehender Flagge« und voll Bekennermut »zur guten Sache«. Falls man außerdem abschätzen möchte, mit welchem Nachdruck und mit welcher Einsatzbereitschaft sich der Gegner den eigenen Absichten wohl widersetzen wird, muss man obendrein versuchen, sich in den Gegner einzufühlen, also Empathie dem Perspektivenwechsel hinzuzufügen. Die Auseinandersetzung mit PEGIDA aber wurde ganz ohne solche Bereitschaft zum Perspektivenwechsel oder gar zur Empathie geführt. Wer sich gegen PEGIDA stellen wollte, der tat das gerade so, als ob »Gesicht zeigen« oder »Einstehen für …« auch schon ausreichen würde, um – über kurzfristige Siege auf der Straße hinaus – jener großen Woge des Rechtspopulismus Einhalt zu gebieten, von der PEGIDA und die AfD ja nur getragen werden, die von PEGIDA und AfD aber nicht ausgelöst wurden. Schon mittelfristig ist jedenfalls nichts beim »Kampf gegen den Rechtspopulismus« gewonnen, wenn zwar außerhalb Dresdens keine nennenswerten PEGIDA-Demonstrationen mehr stattfinden, doch die AfD in die Parlamente einzieht. Irgendwelche Notwendigkeit, die Lage unseres Landes auch aus der Warte von Pegidianern anzusehen, oder irgendeinen Anlass, sich in deren Emotionen einzufühlen, sah aber so gut wie niemand. Den allermeisten schien – aus welchen Gründen auch immer – klar zu sein, dass PEGIDA-Anhänger dumm sind, kenntnislos und voller Ressentiments, dass man also sie und ihre Anliegen ohnehin besser kenne als jeder von ihnen. Somit gab es keinerlei Grund, von ihnen selbst zu erfahren, was sie denn dächten und wollten. Es galt sogar als ganz ungehörig, Pegidianer verstehen zu wollen. Und weil der Umgang mit PEGIDA von gerade solchen Einstellungen geprägt wurde, muss wirklich nicht wundern, dass der Versuch, PEGIDA oder die AfD kleinzubekommen, fürs erste gescheitert ist. 7. PEGIDA wurde durch falsche Reaktionen verstetigt. So mancher reagierte auf die PEGIDA-Proteste nicht mit einer rationalen Beurteilung der Lage, sondern mit einer Art »politischer Spinnenfurcht«: Angeekelt und angstgetrieben wurde auf den Störenfried eingeschlagen
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– obwohl dieser meist nur lästig, nicht aber gefährlich war. Wieder andere meinten, eine aus Weimarer Zeiten bekannte Lage neu heraufziehen zu sehen und machten sich engagiert ans »Wehret den Anfängen«. In beiden Fällen entschied man sich nicht für Kommunikation, sondern für Ausgrenzung. Nachgerade im Wortsinn wurde es dabei zur Zwangsvorstellung gemacht, dass »die« Pegidianer nichts als Rassisten, Rechtsradikale, ja Latenznazis wären, mit denen sich kein anständiger Mensch gemein machen dürfe – und zwar auch nicht durch ergebnisoffenes Hinsehen, Zuhören oder gar Begreifen dessen, worum es bei PEGIDA wirklich gehe. Im Grunde tat man so, als ob sich eine Herausforderung gerade dann erfolgreich bestehen ließe, wenn man die Struktur des zu lösenden Problems – obendrein noch stolz auf solche Ignoranz – gerade nicht verstanden habe. Bei solchem Verhalten erweckte die Verwendung von Begriffen wie »rechtsradikal« und »rassistisch« bei der Beschreibung von PEGIDA meist eher das gute Gefühl, etwas Wichtiges – und auch bekämpfenswert Schlimmes – erkannt zu haben, als dass tatsächlich eine Analyseleistung vorgelegen hätte. Man nutzte einfach schon bereitliegende Worte, die sich obendrein gleich als Angriffswaffen anboten. Wer deren diagnostischen Wert hinterfragte, wirkte dann sofort wie jemand, der dem Gegner einen Stellungsvorteil verschaffen wolle. Kein Wunder also, dass eine wirklich zielführende Analyse unterblieb – und somit auch solches Handeln, das wirkungsvoll auf die Ursachen des PEGIDA/AfD-Komplexes gezielt hätte2 und weniger auf eine Beseitigung bloßer Symptome solcher Ursachen. Im Grunde bewirkte man durch falsche Reaktionen auf PEGIDA vielmehr genau jene Solidarisierung, Mobilisierung und auch Radikalisierung, die man doch eigentlich unterbinden wollten. Und mancher Beobachter konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, solche Radikalisierung wäre sogar politisch erwünscht: einerseits bestätigte sie, dass man es eben doch mit rassistischen Wiedergängern der Nazis zu tun habe – und andernteils ermöglichte sie es, an den eingefahrenen Routinen und Ritualen des »Kampfs gegen rechts« festzuhalten und neue politikanalytische Herausforderungen zu umgehen. Zweifellos war es ebenfalls derlei Arroganz, was PEGIDA groß werden ließ. Selbstgewisser Stolz aufs zielsichere Erkennen von Islamophobie und Ausländerhass, auch von Rassismus und Nazismus, schützte gleich die ersten Urteile über PEGIDA vor faktensuchender Neugier und vor erkundendem Hinterfragen. Hochmut hielt zumal Intellektuelle davon ab, den
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realen Motivationsgefügen unter den ihnen so unsympathischen Demonstranten nachzugehen. Und Überheblichkeit führte dazu, dass nichts als der Platz auf dem hohen Ross antifaschistischen oder antirassistischen Widerstands für Politiker und politisch Engagierte angemessen erschien. Bestünde PEGIDA wirklich vor allem aus Rassisten und Faschisten, so wäre das alles ganz in Ordnung. Doch Sorgen um die Zukunft unserer sich wandelnden Einwanderungsgesellschaft wurden allzu einfach als »Ausländerhass« verbucht; Sorgen ob der Ausbreitung einer in Deutschland recht neuen Religion bekamen kurzerhand das Etikett »Islamfeindlichkeit«; und als Rassismus galt alles, was skeptisch oder ablehnend über Zuwanderer und Zugewanderte klang. Das Selbstverständnis vieler PEGIDA-Teilnehmer verfehlend, trugen solche Verdikte viel zur Solidarisierung und Mobilisierung der Pegidianer sowie zur Verstetigung ihrer Demonstrationen bei. 8. Die richtige Reaktion auf PEGIDA und die AfD wäre gewesen, sich auf die Funktionslogik pluralistischer Demokratie zu verlassen und anhand ihrer Spielregeln zu agieren. Folgendes wäre richtig gewesen: »Ernst nehmen, was an Sorgen und Anliegen hinter den – nicht selten ungehobelten und missratenen – Aussagen von PEGIDA-Demonstranten steht. Auch politische Gegner nicht verteufeln. Keine Forderungen durchgehen lassen, die sich gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, Minderheiten, Eingewanderte oder Ausländer richten. Demonstrieren für die Werte unserer offenen Gesellschaft, auch auf der Straße. Rechtzeitig vor Ort mit den Bürgern über Unterkünfte und Integrationsmöglichkeiten für Zuwanderer sprechen. Und in einem bundesweiten, offenen Diskurs tragfähige Grundzüge einer nachhaltigen Einwanderungs- und Integrationspolitik entwickeln«.3 Heute kann man wohl noch leichter erkennen als in den Anfangsmonaten PEGIDAs, dass genau die Befolgung solcher Ratschläge unsere Demokratie gemäß ihren eigenen Regeln mit PEGIDA fertigwerden ließe. Oder uns mit PEGIDA wenigstens hätte fertigwerden lassen können, wenn sich nicht allzu viele – mehr oder minder gutwillige – PEGIDA-Gegner auf weniger zielführende Wege begeben hätten.
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9. Der tatsächliche Umgang mit PEGIDA lehrt uns Unerfreuliches über Deutschlands politische Kultur. Was aber löste derart kontraproduktive Reaktionen gerade in solchen Kreisen aus, die sonst so stolz sind auf ihre Offenheit, Empathie, Toleranz, Neigung zum kritischen Diskurs? Es ist durchaus beunruhigend, dass sich im Streit um PEGIDA gerade jene diskursschwach verhalten haben, die sonst den offenen Diskurs so gerne loben: Journalisten, zivilgesellschaftliche Eliten, Sozialwissenschaftler, auch Politiker. Selbst in einer offenen Gesellschaft mit pluralistischer Demokratie gilt offenbar, was Karl W. Deutsch einst so formulierte: »Wer Macht hat, der kann es sich leisten, nicht hinzulernen zu müssen« (Deutsch 1973: 171) – oder glaubt das zumindest solange, bis die Wirklichkeit selbst ihn eines anderen belehrt. Solches stockkonservative Verhalten aber legt einesteils jene Wandlungsprozesse lahm, die eine Gesellschaft unter veränderten Umständen nun einmal braucht. Andernteils misslingt ohne offenen, fairen Diskurs die Akzeptanzsicherung politischer Entscheidungen, ja auch gesetzlicher Regelungen. Allein auf Kommunikation beruht nämlich die Geltung von Normen – und die Legitimität einer politischen Ordnung ohnehin. Im auf PEGIDA gemünzten »Kampf gegen rechts« haben wir unsere Demokratie also nicht gestärkt, sondern den ohnehin aufkommenden Rechtspopulismus nur weiter gemästet. Und was bei der Auseinandersetzung mit PEGIDA falsch vorgezeichnet wurde, machen wir nun bei der Auseinandersetzung mit der AfD auf gleiche Weise falsch. Schade, doch wohl nicht mehr abzuwenden.
A nmerkungen 1 Um nicht schon mit der Bezeichnung der »Abendspaziergänger« eine Bewertung zu verbinden, spreche ich stets von »Pegidianern« oder »PEGIDA-Demonstranten«, verwende aber nicht die ausdrücklich zum Kampf gegen PEGIDA eingesetzten Begriffe »Peggy«, »Pegidiot« oder »Pegidist«. Der letztere Begriff ist außerdem darin irreführend, als er ein Denkgebäude wie »Pegidismus« nahelegt, das aber gar nicht existiert. 2 In Reaktion auf die offenkundige Erfolglosigkeit des Dresdner »Kampfs gegen PEGIDA« fand am 15./16. Januar 2016 in Dresden eine Strategie-
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konferenz des Bündnisses »Dresden Nazifrei« statt, die nach neuen Ansätzen für diesen Kampf suchte. Auf dieser Tagung fasste – so der Bericht auf der antifaschistischen Webseite addn.me (»Alternative Dresden News«) – die Leipziger Journalistin Jennifer Lange völlig zutreffende Einwendungen gegen die bisherigen Protestaktionen in ihrem Eingangsreferat wie folgt zusammen: »Aus der Erkenntnis heraus, dass PEGIDA nicht nur ein Dresdner Phänomen ist, sondern zum Ausdruck einer bundesweiten Bewegung wurde, fehlt es den Gegenprotesten noch immer an einer konkreten Analyse. Wortcontainer wie ›Wir sind bunt‹ dienten oftmals mehr der Selbstvergewisserung und Täuschung, als dass sie tatsächlich wichtigen Boden in der Debatte besetzen würden; auch ein Adressat des Gegenprotestes sei ihrer Ansicht nach nicht auszumachen. Stattdessen werden auf Seiten der Gegendemos teilweise auch fragwürde Bilder wie das der ›Säuberung‹ während der Kehraktionen bemüht, die fast direkt aus der NS-Zeit stammen könnten«; siehe http://dresden-nazifrei.com/strategiekonferenz [Zugriff 29.4.2016] sowie https://www.addn.me/antifa/strategiekonfe renz-gegen-PEGIDA-ein-erstes-fazit/ [Zugriff 29.4.2016]. 3 So Werner J. Patzelt in: Sächsische Zeitung v. 11. Dezember 2014, S. 15.
L iter atur Deutsch, Karl W. (1973): Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. Freiburg. Patzelt, Werner J./Klose, Joachim (2016): PEGIDA. Warnsignale aus Dresden. Dresden.
Im Netz ist jeden Tag Montag Stefan Scharf und Clemens Pleul
Zusammenfassung Dieser Beitrag stellt PEGIDAs Facebook-Fanpage basierend auf einer eigenen Untersuchung als das virtuelle Standbein der Bewegung vor. Die Seite war, abseits etablierter Massenmedien, maßgeblich für die Entwicklung einer eigenen Öffentlichkeit. Ihre Inhalte orientierten sich konsequent an bestehenden Vorstellungen und Gefühlen der Sympathisanten und potentiellen Unterstützer. Die Verantwortlichen der Fanpage mobilisierten so zum Protest in Dresden und bundesweit im Netz. Mithilfe verschiedener, teils explorativer Methoden gelang eine systematische Quantifizierung von Interesse, Zustimmung und soziodemografischen Hintergründen der Nutzer im Netz (Pleul/Scharf 2016).
Abstract Based on own research, this article portraits the Facebook-fanpage of PEGIDA as the virtual pillar of the social movement. Unattached to regular mass media it was able to establish a parallel public sphere. Picking people up by focussing on their ideas and feelings, Lutz Bachmann and his team mobilised protest activities both on the streets of Dresden as well as in the internet. Using various empirical, in part exploratory research methods, it became possible to systemically quantify interest, approval, and sociodemografic background of the followership of PEGIDA’s Facebook-fanpage (Pleul/Scharf 2016).
Die nachfolgenden Thesen und Ausführungen thematisieren vor allem das Interesse, die Zustimmung sowie die soziodemografischen Merkmale von Nutzern der PEGIDA-Facebook-Fanpage und basieren auf eigenen empirischen Untersuchungen. In diesen wiederum kamen verschiedene, teils explorative Methoden zum Einsatz (für eine ausführliche Beschreibung siehe Pleul/Scharf 2016).
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These 1: PEGIDA ist ein typisches Phänomen Sozialer Medien. Alle Medien sind sozial, aber manche sind sozialer. Jedes Buch vermittelt dem Leser einen Eindruck vom Autor. Dabei funktioniert der Kommunikationsweg gewöhnlich in eine Richtung, vom »Sender« (Autor) zum »Empfänger« (Leser). Schon Zeitungen arbeiten deutlich inklusiver. Durch Leserbriefe und darauffolgende Repliken ermöglichen sie einen Austausch zwischen Sender und Empfänger. Vergleicht man jedoch die Art und das Ausmaß dieser Interaktivität mit den Möglichkeiten Sozialer Medien, wird klar, warum erst diesen das Attribut »sozial« vorangestellt wird. Denn die Kommunikationswege im digitalen Raum heben die einseitige Rollenverteilung zwischen Urhebern und Rezipienten auf. Ein gesendeter Beitrag kann unmittelbar zum Allgemeingut aller Teilnehmer im virtuellen Raum werden. Viel deutlicher vermitteln Soziale Medien ihren Nutzern das Gefühl, gleichwertiger Teil von »Etwas« sein zu können. Es entstehen im Netz Gemeinschaften, die es in dieser Form zuvor nicht gab (Münker 2009: 9f.). Wer Inhalte im Netz erfolgreich verbreiten will, bedarf einer gewissen Reichweite. Wer Reichweite benötigt, muss wiederum Aufmerksamkeit für seine Sache generieren können. In der beschleunigten digitalen Welt eignet sich für diesen Zweck in Deutschland zur Zeit kein anderes Medium besser als Facebook.1 Die wesentliche Triebkraft der PEGIDA-Bewegung bestand in eben diesem Gut: Aufmerksamkeit. Denn kaum etwas ist motivierender als der Beifall Vieler, die Zuwendung der Anderen für die Sache und die gespannten Blicke des Publikums (Franck 1998: 10). Das Organisationsteam von PEGIDA verstand es von Beginn an, Facebook als zentrale Interaktions- und Organisationsplattform zu nutzen und vermochte somit eine dynamische Verbindung zur Anhängerschaft herzustellen. Ob intuitiv oder bewusst: Dem gelernten Werbekaufmann Lutz Bachmann und seinen Mitstreitern gelang es offenkundig, durch ein erfolgreiches Zusammenspiel von Informationsangeboten und Emotionalisierung, von Selbststilisierung und Gegnerkonstruktion ein anschlussfähiges Bild ihrer Wirklichkeit zu generieren. Sie betrieben eine zweifache Vergemeinschaftung auf der Straße und im Netz. Auf diese Weise wurde ein umfassendes Sozialisierungsangebot bereitgestellt, das dem Einzelnen den Eindruck vermittelte, Teil »des Volks« zu sein. Demgegenüber wird die althergebrachte Parteienpolitik als vor dem Volk verschlossen empfunden. Politikern wirft man vor, den Bürgern nicht zuzuhören und Entscheidungen über deren Köpfe hinweg zu fällen.
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PEGIDA dagegen tritt mittels Facebook jeden Tag – direkt und indirekt – in Kontakt mit seinen Anhängern. Die Seite steht jederzeit zum passiven Lesezugriff, zur aktiven Mitgestaltung und für die Veröffentlichung neuer Beiträge zur Verfügung. Zur Nutzung benötigt man allein ein internetfähiges Endgerät nebst passendem Zugang. Die zumeist vorhandenen Voraussetzungen ermöglichen die Vernetzung der Nutzer entlang ihrer individuellen Interessen. Sie treffen sich online und erleben dort Aufmerksamkeit, Gemeinschaft und Solidarität. In politischen Umgebungen führt dies häufig zur Entstehung von »Echokammern« (Sunstein 2001) – virtuellen Orten, in denen sich Gleichgesinnte durch wechselseitige Bestätigung ihrer Sache fortwährend (rück-)versichern können. Typischerweise entsteht dies durch emotionale, polarisierende und polemische Botschaften. Je einfacher, prägnanter und plakativer diese sind, desto größer fallen sowohl Aufmerksamkeit als auch Zuspruch aus. Es ist somit nicht verwunderlich, dass Parolen wie »Dresden zeigt wie’s geht«, »aus den Palästen jagen« oder »Merkel muss weg« im Netz besonders erfolgreich sind (Pleul/ Scharf 2016: 346). Das digitale »Überall-Medium« Facebook (Pörksen/ Detel 2012: 19) ermöglicht damit allgegenwärtig Protest und Empörung (Kneuer/Richter 2015: 202). Diese Form der Vergemeinschaftung ist laut Pörksen/Detel (2012: 14f.) charakteristisch für die Sozialen Medien.
These 2: PEGIDA nutzt Facebook als Rückzugsraum abseits der Straße. Es ist eine wichtige, wenngleich zu wenig beachtete Tatsache: PEGIDAs Erfolg beruht wesentlich auf der konsequenten Nutzung Sozialer Medien. Die enorme Attraktivität und Zugkraft des Protests bleibt ohne das Wirken von Facebook und der PEGIDA-Fanpage unzureichend beschrieben, kann ohne sie nicht verstanden werden. Besonders während der ersten Wochen des Aufstiegs und in den Sommermonaten 2015 als die Straßenproteste niedrige Teilnehmerzahlen aufwiesen, war Facebook von entscheidender Bedeutung. Schon drei Monate nach der Entstehung von PEGIDA erlebte die Stadt Dresden die größten Proteste seit der Wiedervereinigung. Doch während die Demonstrationen die Zahl von 25.000 Teilnehmern (12. Januar 2015) nie mehr überstiegen, war die Gefolgschaft im Netz längst weitaus größer. Ende Januar 2015 versammelte die Fanpage mit 160.000 »Gefällt mir!«-
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Angaben bereits sechsmal mehr PEGIDA-Anhänger im Netz als Protestteilnehmer auf der Straße. Nach den internen Verwerfungen im Organisationsteam, die zu dessen Spaltung führten, deuteten viele Beobachter aus Wissenschaft, Politik und Medien die sinkende Zahl der Demonstranten als Indiz dafür, dass PEGIDA schon bald der Vergangenheit angehören würde (Funke 2015). Doch verschwand der Protest nur aus der öffentlichen Wahrnehmung der Stadtbewohner und Medien. Tatsächlich gelang es den Verantwortlichen der Fanpage, die virtuelle PEGIDA-Öffentlichkeit im Hintergrund weiterhin zu aktivieren und die Reichweite mehr oder minder konstant zu halten. So flaute der Protest auf Facebook zu keinem Zeitpunkt ab und kehrte in Folge der Flüchtlingskrise wieder verstärkt auf die Straße und damit ins öffentliche Bewusstsein zurück (Pleul/Scharf 2016: 342). Dieser Umstand lässt sich vor allem mit der stabilisierenden Wirkung dieser virtuellen Öffentlichkeit erklären. Die Grundlage des Protests blieb fortbestehen und weiter abruf bar. Mit der Debatte über Flucht und Asyl gewann auch PEGIDA an thematischer Aktualität und wurde ab August 2015 zur neuerlichen Anlaufstelle des politischen Protests. Seit Februar 2016 konsolidieren sich die Fanzahlen knapp oberhalb von 200.000 »Gefällt mir!«-Angaben und es deutet aktuell wenig darauf hin, dass PEGIDA seine virtuelle Bedeutung kurzfristig einbüßen wird.
These 3: PEGIDA bedient sich Sozialer Medien zur Konstruktion eigener Wirklichkeiten und neuer Identitäten. Immer wieder hob man seitens der Organisatoren die Bedeutung der Bewegung hervor. Während dabei das eigene Auftreten und Handeln in den betreffenden Beiträgen regelrecht heroisiert wurde, ging man mit politischen Gegnern hart ins Gericht. Roh und zunehmend vulgär wurden diese im Netz (und nacheilend auf der Straße) verbal attackiert und offen als Feinde der Bewegung benannt. Dazu griff man wiederholt auf Bild und Ton zur erfolgreichen Verbreitung der Inhalte zurück. Häufig gilt für Menschen, dass man als wahr annimmt, was man »wahr-nimmt« (Luhmann 1995: 9). Durch die zunehmende Ablehnung konventioneller massenmedialer Berichterstattung unter PEGIDA-Anhängern kam Sozialen Medien, besonders aber Facebook, innerhalb der letzten Zeit eine entscheidende Bedeutung für das individuelle Bild der
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Wirklichkeit zu. Erst Facebook ermöglichte den täglich wiederkehrenden Wahrnehmungsrahmen für PEGIDAs Geschichte vom eigenen Untergang. Die vielfachen Gefühle Einzelner von Überforderung, Enttäuschung und Wut werden in der Weltsicht PEGIDAs zum Resultat einer fehlgeleiteten Moderne umgedeutet. Auf dieser Grundlage konnte Frustration als Protestpotential verstetigt und abrufbar gemacht werden. Darum ist im PEGIDA-Netz jeden Tag Montag. Es surrt eine reaktionäre bis apokalyptische Grundstimmung zwischen Empörung, Ohnmacht und Verzweiflung einerseits und dem Wunsch nach Veränderung, dem Drängen zur Tat andererseits durch PEGIDAs Echokammer. Blickt man auf den Kommentarbereich der PEGIDA-Fanpage, wird deutlich, dass eine konstruktive Debatte mit Andersdenkenden weder beabsichtigt war noch ist. Es verfestigt sich vielmehr der Eindruck, dass stets die immer gleiche Meinung wie ein Echo durch den virtuellen PEGIDARaum hallt. In dieser widerspruchsfreien, selbstreferenziellen Umgebung ist eine dystopische Sicht auf die Welt entstanden, die dem identitätsstiftenden Glauben folgt, dass sich lediglich PEGIDA und deren Brüder (und Schwestern) im Geiste den Irrungen der Zeit entgegenstellten. Gerungen wird allein um die Frage, ob die »Islamisierung des Abendlandes« bereits erfolgt sei oder noch bevorstünde (Patzelt 2016: 428ff.). Um die Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung zu untermauern, werden mediale Versatzstücke aus verschiedensten – oft auch unseriösen – Quellen herangezogen. Dabei selektieren die Verantwortlichen der Fanpage vor, welchen Medien zu trauen und welchen zu misstrauen sei. Indem sie jedem Beitrag eine Interpretationsvorgabe an die Anhängerschaft voranstellen, versuchen sie die parallele Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu steuern. Mithilfe der Zustimmungsfunktion (»Gefällt mir!«) binden sie ihr Publikum an sich und verpflichten es auf die gemeinsamen Ziele. Auf der interaktiven PEGIDA-Fanpage kann jeder seiner Wut und Empörung Ausdruck verleihen und im Kontakt mit anderen die eigene politische Wahrnehmung bestätigt sehen. Durch das Teilen der Beiträge finden diese im Facebook-Universum erneut weitere Verbreitung und erreichen schließlich nicht selten mehrere Millionen Nutzer.2 Sehr wahrscheinlich ist, dass die Beiträge der vielen User auf das Organisationsteam zurückwirken, indem sie Inhalte aus den Beiträgen übernehmen und zum Beispiel in öffentlichen Reden einfließen lassen. Durch derart wechselseitige Stimulation verschärft sich der Ton zunehmend. Die Ansichten wurden und werden weiterhin radikaler.
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These 4: PEGIDA ist Teil eines rechten Gesinnungsnetzwerkes. Als redaktionell Verantwortliche der Fanpage besitzen die Mitglieder des PEGIDA-Organisationsteams die initiative Agenda-Setting-Kompetenz. Die auf diese Weise entstehende Teilöffentlichkeit wird von ihnen vor etwaigen Gegnern abgeschirmt. Die Beiträge umreißen ein politisches Programm, das erst mit dem Erstarken der AfD parteipolitische Repräsentanz gefunden hat. Die Trennung von Freund und Feind war nicht nur ein wesentlicher Erfolgsfaktor für PEGIDA, sondern verhalf auch anderen Gesinnungsgenossen zu größerer Reichweite. An der Spitze der auf Facebook verwendeten Nachrichtenlinks steht die rechtspopulistische Plattform »Epoch Times«, gefolgt von den islamfeindlichen »PI-News«. Zwar findet sich in den Links auch ein Querschnitt der deutschen Medienlandschaft wieder, doch werden überwiegend inhaltlichopportune Beiträge herangezogen, geht es doch vor allem darum, im Netz entweder typische journalistische Negativbeispiele zu präsentieren oder »vereinzelte« gelungene Positivbeispiele hervorzuheben. Dabei stellt man solchen Artikeln sicherheitshalber gern auch sarkastisch voran, dass da wohl etwas »durch die Zensur gerutscht« sei. Doch nicht nur das Organisationsteam fungiert bei Facebook als Gatekeeper der PEGIDA-eigenen Öffentlichkeit. Auch die Algorithmen des sozialen Netzwerks funktionieren – vergleichbar mit denen anderer Onlineservices wie Google – in der Weise, Nutzern beständig Inhalte vorzuschlagen, die ihren vermuteten Interessen entsprechen. Während sich Nutzer umfassend informiert glauben, merken sie nicht, dass ihnen immer wieder Ähnliches angeboten wird (Pariser 2011). Folgenreich für die politischen Inhalte im Allgemeinen und die PEGIDA-Fanseite im Besonderen ist, dass diese Algorithmen zu einer virtuellen Umgebung beitragen, die zunehmend frei von Widerspruch und Widersprüchen ist (Pleul/Scharf 2016: 352). In Anbetracht dessen ist es nur logisch, dass jene, die mit der PEGIDA-Fanpage interagieren, dies auch häufig mit Seiten vergleichbarer Inhalte tun (siehe Abbildung 1). Hierbei ist der Grad der Radikalität der Inhalte jedoch auch abhängig von den jeweiligen Administratoren und den sie beobachtenden Gegenöffentlichkeiten. Während PEGIDA von Anfang an im Fokus der massenmedialen und virtuellen Öffentlichkeit stand, waren die verbalen Ausfälle kleinerer Fanpages, mit denen auch PEGIDA-Fans interagierten, oft extremer und offen hetzerisch. So finden sich auf der Fanpage von »Bautzen Steht Auf« Kommentare, die als Auf-
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forderung zum Angriff auf Asylbewerberheime gedeutet werden können (Pleul/Scharf 2016: 357 f). Mittlerweile kommt es auch auf der PEGIDAFanpage zu immer offeneren Forderungen nach Gewalt, beispielsweise gegen missliebige Politiker (Meisner 2016). Generell lassen sich die inhaltsverwandten Facebook-Seiten in drei Gruppen unterteilen. Sie kennzeichnen die Echokammer der PEGIDAAnhänger. Diese Gruppenbildung konnte mittels des Social-Media-Monitoring-Tools »Fanpage Karma« ermittelt werden. Es ermöglicht die weitreichende Analyse von Metadaten einzelner sozialer Netzwerke. Abbildung 1: Beispieldarstellung der wechselseitigen Interaktionen im Dezember 2015/Januar 2016, Visualisierung auf Grundlage der Auswertung mittels »Fanpage Karma«.
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Die erste Gruppe umfasst rechtspopulistische bis rechtsextreme Medien. Ein Hauptanlaufpunkt ist in dieser Rubrik die Facebook-Seite der AfD-freundlichen »Jungen Freiheit«. Lange trat auch die mittlerweile gelöschte Facebook-Seite »Anonymous.Kollektiv« hervor, die sich als deutschsprachige Seite von der ursprünglichen, global agierenden Anonymous-Bewegung abgesetzt hatte. Seit 2014 wurde diese Seite – mit zuletzt zwei Millionen Anhängern auf Facebook – zur beliebtesten Plattform für rechte Verschwörungstheoretiker, auf der offen gegen Flüchtlinge gehetzt wurde. Zu dieser Rubrik gehören ferner die Fanpages von »Compact«, der deutsche Ableger des russischen Nachrichtenkanals »Russia Today« sowie die Fanpage des »Kopp-Verlags« (Pleul/Scharf 2016: 356). Die zweite Gruppe besteht aus den verschiedenen Fanpages der AfD sowie bekannten Politikern der Partei, wie etwa Frauke Petry, Beatrix von Storch oder Marcus Pretzell. Sie werden im Netz quasi als parteipolitischer Arm der PEGIDA-Bewegung wahrgenommen. Man vertraut der Partei und versteht sich als deren natürlicher Verbündeter. Im Gegenzug wird PEGIDA zunehmend auch von Teilen der AfD hofiert (Debes 2016). Die dritte Gruppe setzt sich ganz mit sich selbst auseinander. Während in der Anfangszeit viele Anhänger mit den verschiedensten Ablegern der eigenen Bewegung im Netz, wie etwa Legida, interagierten, verschob sich das mit der Zeit auf die öffentlichen Fanpages der bekanntesten Organisatoren. Siegfried Daebritz, Lutz Bachmann und Tatjana Festerling waren häufige Anlaufstellen, denen PEGIDA-Anhänger bereitwillig ihre Aufmerksamkeit schenkten (Pleul/Scharf 2016: 356). Es wird deutlich, dass durch Soziale Medien ein neuer Machtfaktor der Meinungsbildung entstanden ist, der – fast unbemerkt von der herkömmlichen Berichterstattung – erheblichen Einfluss ausübt. Das Anwachsen von (rechts-)populistischen Fanpages verweist zudem darauf, dass neben einer Repräsentationslücke im politischen Spektrum auch die Möglichkeit einer Kommunikationslücke zwischen Politik und Bürger bestehen könnte.
These 5: PEGIDA ist ein ostdeutsches Phänomen mit bundesweiter Ausstrahlung. Die Herkunft der Demonstrationsteilnehmer wurde in verschiedenen Befragungen wiederholt ermittelt. Dabei zeigte sich, dass zwischen 38 und 56 Prozent der Demonstranten Dresdner waren, während ein anderer Großteil aus dem sächsischen Umland kam (Reuband 2015: 136). Für die
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PEGIDA-Anhängerschaft bei Facebook war eine vergleichbare räumliche Zuordnung erst durch die gezielte Erfassung von Nutzerdaten durch die Netzaktivistengruppe »PEGIDA-mag-Dich« und deren anschließende Auswertung möglich (Pleul/Scharf 2016: 333-339). Eine erste Auf bereitung der Daten von »PEGIDA-mag-Dich« wurde am 3. Januar 2015 online veröffentlicht und zeigt ein eindrucksvolles Bild: Zu diesem Zeitpunkt hatten von den gut 100.000 PEGIDA-Fans 89 Prozent ihren Wohnsitz in Deutschland. Von diesen 89.000 deutschen Fans wohnten wiederum 23 Prozent (20.000 Nutzer) nach eigener Angabe in Dresden oder der näheren Umgebung. In Sachsen ansässig waren insgesamt 38 Prozent (33.000 Nutzer), in Ostdeutschland 61 Prozent (53.000 Nutzer). Damit war es PEGIDA über die Sozialen Medien nach kürzester Zeit gelungen, einen – von etablierten Nachrichtenmedien unabhängigen – Informationskanal mit bundesweiter Reichweite zu realisieren, ohne den regionalen Schwerpunkt in und um Dresden zu verlieren. Aufgrund des gestiegenen medialen Interesses an PEGIDA, aber auch wegen der durch PEGIDA instrumentalisierten Anschläge auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, wuchs die Anhängerschaft der Fanpage in ungemindertem Tempo weiter. Ende Januar 2015 verzeichnete die Seite 160.000 Fans, die zu 86 Prozent (138.000 Nutzer) aus Deutschland stammten (nähere Aufschlüsselung siehe Tabelle 1). Die Zuwachsraten nahmen umso stärker zu, je weiter die betroffenen Regionen von Dresden entfernt lagen.3 Obwohl PEGIDA in ganz Deutschland neue Fans an sich binden konnte, zeigte sich eine sichtlich höhere Anschlussfähigkeit im Osten der Republik. Dies wird umso deutlicher, wenn man die Wohnortsmit den Herkunftsangaben der Nutzer vergleicht: Gegenüber 56 Prozent in Ostdeutschland wohnhafter Fans stehen insgesamt 64 Prozent, die die neuen Bundesländer als ihre Herkunft angeben. So zeigt sich, dass hinter jeder fünften »Gefällt mir!«-Angabe im Westen eine ostdeutsche Biografie steckt.
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Tabelle 1: Kumulierte Wohnorts- und Herkunftsangaben, Stand: 26. Januar 2015
Betrachtet man die absoluten Zahlen im Verhältnis zur Bevölkerung der betreffenden Regionen, offenbart sich eine achtfach höhere Affinität unter gebürtigen Ostdeutschen gegenüber Facebook-Nutzern mit westdeutscher Herkunft, PEGIDA bei Facebook zu folgen. Wäre der Zuspruch bundesweit so stark ausgeprägt wie in Ostdeutschland, hätte PEGIDA im Frühjahr 2016 schätzungsweise 800.000 statt 200.000 Anhänger gehabt. Offensichtlich ist die Dominanz der Dresdner Region bei den Wohnorts- wie Herkunftsangaben. Dies gründet sicherlich und zuallererst auf den lokalen Verbindungen (siehe Abbildungen 2 und 3). Obwohl der relative Anteil von PEGIDA-Fans unter den in Dresden wohnhaften Facebook-Nutzern am höchsten war (Abbildung 2), offenbaren die Herkunftsangaben (Abbildung 3) weitere biografische Hinweise: Viele der Anhänger stammen aus Ostsachsen oder dem Erzgebirge. Dies mag ein Hinweis auf die Wanderungsbewegungen der letzten Jahre vom Land in Richtung Stadt sein.4 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass PEGIDA im ländlichen-sächsischen Raum eine besonders starke Anschlussfähigkeit erlebt. Eine zweite Beobachtung stützt diese Vermutung: Betrachtet man die sächsischen Google-Suchanfragen nach dem Schlagwort »PEGIDA«, zeigt sich noch deutlicher eine Verschiebung in den ländlichen Raum. Die sächsischen Großstädte, mit Ausnahme von Dresden, lagen hier hinter dem durchschnittlichen Nutzer-Interesse in mittelgroßen Städten im Osten und Süden des Landes zurück (Pleul/Scharf 2016: 330 f).5 Diese Verteilung macht deutlich, dass die Wurzeln des Protests wohl weniger in den urbanen Großstadtmilieus, als vielmehr in deren Peripherie und im ländlichen Raum zu finden sind.
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Abbildung 2: Dichte der Wohnortsangaben, Stand: 26. Januar 2015
Abbildung 3: Dichte der Herkunftsangaben, Stand: 26. Januar 2015
Diese beiden Aspekte untermauern die Beobachtungen und Schlussfolgerungen Frank Richters, der diese Räume als die der »Zurückgebliebenen und Zurückgelassenen« bezeichnet (Monitor 2016). Regionen, in denen deren Bewohner den Strukturwandel der Gesellschaft, die Deindustrialisierung und den Fortzug einer halben Generation miterlebten. Besonders sie erlebten die Jahre nach »Wende« und Wiedervereinigung entbehrungsreich und als Enttäuschung ihrer Erwartungen und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Sie fühlen sich um den ihnen zustehenden Anteil gesellschaftlichen Wohlstands und die Würdigung ihrer Lebensgeschichte betrogen. Vor diesem Hintergrund erfahren sie die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung als unverhältnismäßige Solidarität gegenüber völlig fremden Menschen. Es ist das Gefühl des »Zukurzgekommenseins«, das hier zum Tragen kommt. Nikos Dimou (2014) erklärte eine solche dauerhaft-latente Kränkung als ein typisches Problem derer, die sich als Verlierer der Geschichte fühlen. Es sind Bevölkerungen, die einerseits wüssten, dass sie nicht wieder zu ihrer einstigen Stärke zurückkehren könnten und andererseits nicht in der Lage sind, die empfundene Herabsetzung zu verarbeiten (Dimou 2014: 71 u. 108).
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Abbildung 4: Räumliche Verteilung der Google-Suchanfragen in Sachsen im Zeitraum November 2014 bis Februar 2016
In dieser Ausgangslage bietet PEGIDA für viele Menschen in Sachsen und Ostdeutschland, ebenso für jene mit Ressentiments und/oder gebrochenen Biografien in Westdeutschland ein Entlastungsangebot. Die aufgestauten Frustrationen können nun tagtäglich durch Schuldprojektionen auf Regierung, Medien und Flüchtlinge bei Facebook abgeladen werden, um die eigenen Beklemmungen zu mindern.
F a zit Die Kundgebungen und Demonstrationen auf den Straßen und Plätzen Dresdens lieferten die Bilder, die PEGIDA bundesweit bekannt machten. Dessen unbeachtet propagierten Bachmann & Co. ihre Botschaften jeden Tag auf Facebook und sammelten mit ihnen die frustrierten Netzbürger ein, die sich von der Politik überwältigt und von Politikern alleingelassen fühlten. Für zehntausende Menschen wurde die Fanpage – nicht Dresden – zum Ort des Protests. Sie applaudierten den Parolen, machten dem Ärger durch ihre Kommentare Luft und bekannten sich zu PEGIDA, indem sie deren Inhalte auf ihren Seiten teilten. Sie wurden Teil einer Wutbürger-Bewegung im Netz, die sich vom politischen System der Bundesrepublik nicht mehr vertreten fühlte. Zusammenfassend offenbart PEGIDA hierin seinen hybriden Charakter, welcher zwei formal und personell überwiegend unabhängige Protestformen miteinander korrespondierend
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verbindet. Martin Fuchs brachte diese Ambivalenz frühzeitig auf den Punkt, als er im Januar 2015 erklärte: »Es würde PEGIDA ohne Facebook nicht geben. Es würde aber auch die Wahrnehmung von PEGIDA nicht geben, wenn es die Straße nicht gegeben hätte. Nur diese 160.000 Fans sind für die Politik noch kein Grund, sich Gedanken zu machen. Aber sobald 20.000 Leute auf die Straßen gehen, ist das eine wahrnehmbare physische Größe, auf die sie reagieren müssen. Aber man hätte niemals geschafft 25.000 Menschen auf die Straße zu kriegen, wenn man sich nicht über Facebook organisiert hätte.« (Fuchs 2015)
Betrachtet man allein die Facebook-Fanpage PEGIDAs, stellt man das bekannte Muster eines rechtspopulistischen Social-Media-Phänomens fest, wie es sich auch gut bei der AfD erkennen lässt (Horsch/Huber 2016). Die Seite ermöglicht die breite Integration von sich nicht verstanden und vertreten fühlenden Teilen der Gesellschaft, die zu zwei Dritteln aus Ostdeutschland stammen. In der sächsischen Landeshauptstadt fällt das soziale Netz besonders engmaschig über die Stadt: So hatte ab Ende Januar 2015 jeder 14. Facebook-Nutzer aus Dresden PEGIDA mit »Gefällt mir!« markiert. Aufgrund der überdurchschnittlichen Häufung von männlichen Nutzern zwischen 25 und 65 Jahren, lässt dies gar die Vermutung zu, dass unter diesen jeder Siebte zur virtuellen Anhängerschaft gehört (Biermann/Blickle/Venohr 2015). Für die meisten beschränkt sich der Begriff der Beteiligung ausschließlich auf Empörung und Protest. Für sie sind die gemeinsame biografische Erfahrung des tiefgreifenden Gesellschaftsumbruchs seit 1989/90 und die eigene Erwartungshaltung gegenüber der professionellen Politik die verbindenden Elemente zwischen allen offenkundigen Unterschieden. Damit bringt die Fanpage die verschiedensten Menschen bis hin zum rechten Rand zusammen. Dieser Trend wird durch die Jagd nach Wahrnehmung und Aufmerksamkeit in den Sozialen Netzwerken weiter verstärkt. So bediente man sich einer zunehmenden sprachlichen Entgrenzung, brach Tabus und förderte das Denken in Feindbildern. Diese Verrohung des politischen Miteinanders nivellierte dabei zunehmend die vormalige Unterscheidbarkeit von besorgten Bürgern und Rechtsextremisten. Gleichzeitig entlastete sie den Einzelnen sowie die Gemeinschaft als Ganzes, da niemand – aus Mangel an echten politischen Handlungsmöglichkeiten – innerhalb der Sozialen Medien in die Verlegenheit
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kommt, die eigenen Forderungen mit der politischen Wirklichkeit abgleichen zu müssen. Während Demonstrationen angemeldet, organisiert und abgesichert werden müssen, simulieren die Algorithmen von Facebook für die Anhänger PEGIDAs auf unsichtbare Weise eine Gesellschaft ohne Widerspruch und Komplexität. Zusammengenommen wurde die Fanpage sowohl zur Echokammer eigener Ressentiments als auch zum Rückzugsraum vor der Meinung der Mehrheit. Sie ist damit zugleich ein Biotop individueller Befindlichkeiten wie auch Wagenburg gegen die gemeinsam erlebte politische Isolation. Im PEGIDA-Netz ist für seine Anhänger jeden Tag Montag und daher kommen sie immer wieder.
A nmerkungen 1 Eine hilfreiche Einführung in den Themenkomplex bietet Steinschaden (2010). 2 So erreichte PEGIDAs Fanpage mit ihren Beiträgen um den Jahreswechsel 2014/15 bis zu 1,5 Mio. Facebook-Nutzer (Pleul/Scharf 2016: 296) und ähnlich der AfD einen Multiplikationsfaktor von 14 bis 15 in Relation zu eigenen Fans. So kann davon ausgegangen werden, dass heute weiterhin zwischen zwei und drei Millionen Facebook-Nutzer erreicht werden können (Steppat 2016). 3 In Dresden wuchsen die Anhängerzahlen um 11 %, in den anliegenden drei Landkreisen um 24 %, im restlichen Sachsen um 49 %, in den übrigen ostdeutschen Bundesländern um 63 % und in Westdeutschland um 66 %. 4 Diese Beobachtung der herkunftsbezogenen Nachverdichtung lässt sich außerhalb Sachsens noch besonders deutlich für die Landkreise im südlichen Mecklenburg-Vorpommern und im nördlichen Brandenburg beobachten. 5 Analysiert wurden Suchanfragen im Zeitraum November 2014 bis Februar 2016. Es bleibt aber festzuhalten, dass Google-Suchanfragen nicht mit Sympathiebekundung gleichzusetzen sind. Dennoch zeigen sie deutlich, wo das allgemeine Interesse und Informationsbedürfnis bezüglich PEGIDA am höchsten war.
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L iter atur Biermann, Kai/Blickle, Paul/Venohr, Sascha (2015): Dürfen wir vorstellen: Die Freunde von Pegida. ZEIT Online vom 02.05.2015, www.zeit. de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/wer-ist-pegida-facebook-daten; letztmalig zugegriffen am 13.06.2016. Debes, Martin (2016): Landesparteitag der AfD. Höcke wirbt für Allianz mit Pegida, FPÖ und Front National. Thüringer Allgemeine Online vom 09.04.2016, www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/politik/ detail//specific/Landesparteitag-der-AfD-Hoecke-wirbt-fuer-Allianzmit-Pegida-FPOe-und-Front-Na-903511282; letztmalig zugegriffen am 27.04.2016. Dimou, Nikos (2014): Die Deutschen sind an allem schuld, Deutsch von Maro Mariolea, München: Kunstmann. Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, Wien: Hanser. Fuchs, Martin (2015) zit. bei Link, Katharina, Ohne Facebook würde es Pegida nicht geben, Interview mit Martin Fuchs. Stern Online vom 30.01.2015, www.stern.de/politik/deutschland/Pegida-- oertel--face book--social-media-experte-martin-fuchs-im-interview-3463090. html; letztmalig zugegriffen am 11.06.2016. Funke, Hajo (2015), zit. bei dpa, Pegida droht der Zerfall, Handelsblatt Online vom 28.01.2015, www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ kathrin-oertel-tritt-ab-fuehrungskrise-muss-nicht-das-ende-bedeu ten/11293900-2.html; letztmalig zugegriffen am 18.06.2016. Homepage der Netzaktivistengruppe Pegida-mag-Dich: www.pegida-magdich.de/; letztmalig zugegriffen am 16.06.2016. Horsch, Sebastian/Huber, Til (2016): Die AfD und ihre Facebook-Armee. Merkur.de vom 12.06.2016, www.merkur.de/politik/afd-und-ihre-facebook-armee-6479596.html; letztmalig zugegriffen am 13.06.2016. Kneuer, Marianne/Richter, Saskia (2015): Soziale Medien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung? Frankfurt/New York: Campus. Luhmann, Niklas (1995): Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag. Meisner, Matthias (2016): Tweet vom 05.06.2016 auf Twitter, https://twit ter.com/matthiasmeisner/status/739570119857328128; letztmalig zugegriffen am 11.06.2016.
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Monitor (2016): Interview mit Frank Richter (SLpB). WDR Online vom 25.02.2016, http://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-interv iew-frank-richter-saechsische-landeszentrale-fuer-politische-bil dung-100.html/; letztmalig zugegriffen am 11.06.2016. Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Edition Unseld (26), Frankfurt: Suhrkamp. Pariser, Eli (2011): The Filter Bubble. What the Internet is Hiding from You, New York: Penguin. Patzelt, Werner J. (2016): Pegidianer im O-Ton. In: Werner J. Patzelt/Joachim Klose: PEGIDA. Warnsignale aus Dresden, Dresden: Thelem, S. 369-485. Pleul, Clemens/Scharf, Stefan (2016): PEGIDAs Entwicklung auf der Straße und im Netz. In: Werner J. Patzelt/Joachim Klose (Hg.): PEGIDA. Warnsignale aus Dresden, Dresden: Thelem, S. 295-368. Pörksen, Bernhard/Detel, Hanne (2012): Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, Köln: Halem. Reuband, Karl-Heinz (2015): Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen. Mitteilungen des Instituts für Parteianrecht und Parteierforschung (1/2015), S. 133-143, https://www.phil-fak.uni-duesseldorf. de/fileadmin/Redaktion/Institute/Sozialwissenschaften/Soziologie/ Dokumente/Reuband/Reuband_-_Wer_demonstriert_in_Dresden_ fuer_Pegida_-_MIP_2015_Seiten_133-143-5.pdf; letztmalig zugegriffen am 18.06.2016. Steinschaden, Jakob (2010): Phänomen Facebook. Wie eine Website unser Leben auf den Kopf stellt, Wien: Ueberreuter. Steppat, Timo (2016): Das Bauchgefühl der AfD. FAZ Online vom 11.05.2016, www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-durch-ausgekluege lte-internetstrategie-gross-geworden-14221660.html; letztmalig zugegriffen am 11.06.2016. Sunstein, Cass (2001): Echo Chambers. Bush v. Gore, Impeachment, and Beyond, Princeton/Oxford: Princeton University Press.
PEGIDA – Provinzposse oder Vorbote eines neudeutschen Rechtspopulismus? Hans Vorländer
Zusammenfassung PEGIDA ist eine rechtspopulistische Empörungsbewegung, die fremdenfeindliche und islamkritische Ressentiments mobilisiert und dabei grundsätzliche Vorbehalte gegenüber den politischen und medialen Eliten zum Ausdruck bringt. Sie speist sich aus Ost-West-Verwerfungen und findet ihren besonderen Resonanzraum in einem ausgeprägten ethnokulturellen Zentrismus Dresdens und Sachsens. PEGIDA hat zur Enthemmung und Verrohung des Diskurses und zur Formierung eines neuen deutschen national-konservativen Lagers beigetragen.
Abstract PEGIDA is a right wing populist movement of indignation. It succeeded in mobilizing xenophobic and islamophobic resentments, it represents a fundamental sense of disaffection with politics, the media, and the establishment in general. PEGIDA can also be explained by deep-rooted disappointments of East Germans with the unification process and ethnocentric attitudes among people in Dresden and Saxony. It considerably contributed to the barbarization of political discourse and must be seen as part of a new right in Germany and Europe.
Als am 20. Oktober 2014 eine Gruppe von Demonstranten durch die Dresdner Innenstadt zog, konnte nicht erwartet werden, dass daraus eine Bewegung erwachsen würde, die schnell ein hohes Maß an nationaler und internationaler Aufmerksamkeit auf sich zog. Vor allem das Momentum, mit der aus einer Truppe von rund 250 Leuten eine Ansammlung von fast 25.000 protestierenden Menschen wurde, erstaunte genauso, wie das La-
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bel der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« die Öffentlichkeit erschrecken ließ. Die Reden auf den Kundgebungen, die Äußerungen einzelner Demonstrationsteilnehmer und die mitgebrachten Spruchbänder, Schilder und Fahnen hinterließen – nicht nur – bei journalistischen Beobachtern den Eindruck, dass es sich um Islam- und Fremdenfeinde, um »Rassisten« und »Nazis in Nadelstreifen«, um »Rechtsextremisten«, um »Pack« und »Pöbel« handelte. Die abendlichen »Spaziergänge« schienen zudem an die in Dresden in vielen Jahren gepflegten Aufmärsche neo-nazistischer Gruppierungen von Kameradschaften, Skinheads und NPD anzuknüpfen, die rund um den 13. Februar, den Jahrestag der Zerstörung Dresdens 1945, stattgefunden hatten und gegen die die Stadtbürgerschaft lange Zeit kein wirksames Gegenmittel gefunden hatte. Handelt es sich bei PEGIDA um eine Dresdner Provinzposse, die es zu internationalen Schlagzeilen gebracht hat oder ist PEGIDA der Vorbote einer neu-rechten, populistischen Bewegung, die Deutschland einen Prozess nachvollziehen lässt, der in anderen europäischen Ländern, in den Niederlanden, in Österreich, Frankreich, Großbritannien schon seit langem zur Etablierung rechtspopulistischer Gruppierungen und Parteien und in Polen und Ungarn zu nationalkonservativen Regierungen geführt hat?
Rasanter Aufstieg, zweites Leben – und jetzt: in der Agonie? So kurz die Anlaufphase war, so kurz war auch die eigentliche Hochzeit von PEGIDA in der Jahreswende 2014/2015. Das mit illuminierten Kreuzen angereicherte – und so an Ku-Klux-Clan-Inszenierungen erinnernde – »Weihnachtsliedersingen« am 22. Dezember 2014 auf dem Dresdner Theaterplatz mit Zwinger, Semperoper und Hofkirche als ikonischer Rahmung, die Zusammenkunft vom 5. Januar 2015 und schließlich der zahlenmäßige Höhepunkt vom 12. Januar 2015 (nach den Pariser Anschlägen auf Charlie Hebdo) markierten den Zenit der Bewegung in Dresden. Der aufgrund terroristischer Anschlagsdrohung untersagte nachfolgende Aufzug sowie die Spaltung des Organisationsteams nach zwischenzeitlichem Rücktritt des Sprechers, Lutz Bachmann, und der Rückzug weiterer Mitglieder ließ PEGIDA in eine Phase der Orientierungssuche eintreten. Zum einen versuchte der nun wieder als Frontmann agierende Bachmann PEGIDA in eine Phalanx bereits etablierter europäischer rechtspopulistischer Bewegungen einzureihen. Er buhlte um die Unterstützung und Rednerauftritte
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u.a. von Marine Le Pen, Nigel Farage und Geert Wilders. Allein Wilders kam nach Dresden, adressierte in einer kurzen Ansprache die rund 10.000 Demonstranten, vermochte aber nicht den erhofften neuen Schwung für PEGIDA-Dresden zu erzeugen. Auch verlief die mehrmalige Ankündigung Bachmanns, PEGIDA zu einer politischen Partei machen zu wollen, im Sande. Einzig bei der Oberbürgermeisterwahl in Dresden im Juni 2016 trat eine Kandidatin von PEGIDA an. Tatjana Festerling, die sich in der Zwischenzeit als Frontfrau und die Grenze zu volksverhetzender Rede austestende Schmäh- und Hetzrednerin hervorgetan hatte, erlangte 9,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, trat aber zum zweiten Wahlgang nicht mehr an. Erst die im September und Oktober desselben Jahres einsetzende »Flüchtlingskrise« hauchte PEGIDA in Dresden ein zweites Leben ein, zum Jahrestag versammelten sich am 19. Oktober 2015 wiederum annähernd 20.000 Demonstranten. PEGIDA zeigte sich nunmehr als AntiFlüchtlings- und Anti-Islam-Bewegung. Seitdem ist PEGIDA zahlenmäßig geschrumpft. Versuche der internationalen Vernetzung scheiterten erneut, als im Februar 2016 ein sogenannter europäischer Aktionstag weit hinter den Erwartungen seiner Initiatoren zurückblieb. Seitdem treffen sich zwar weiterhin montags Demonstranten, die Organisatoren sind sich indes über die weitere Strategie uneins. Während Festerling eine internationale Allianz »Festung Europa«, vor allem mithilfe deutlich rechtsextremer Kräfte, zu etablieren versucht, hat Siegfried Däbritz den Schulterschluss mit der Partei »Alternative für Deutschland« öffentlich – bei einer Kundgebung der AfD in Erfurt – geschlossen, während Bachmann nach wie vor auf der Eigenständigkeit von PEGIDA und seinem eigenen Führungsanspruch in Dresden zu beharren scheint. Wechselseitige, über Facebook öffentlich gemachte Beschuldigungen innerhalb des PEGIDA-Vereins stellen die Organisationsfähigkeit zunehmend in Frage. So könnte PEGIDA aufgrund innerer Zerwürfnisse und der ungeklärten Strategiefrage vor einem Ende der selbständigen Existenz stehen. Der elektorale Erfolg der AfD hat ohnehin die mediale Aufmerksamkeit von PEGIDA abgezogen.
Kollektive Wut und rituelle Gemeinschaftsstiftung Wenn sich im Spätherbst 2015 der Eindruck verfestigen konnte, dass PEGIDA eine offen rassistische Bewegung geworden war, die sich aggressiv gegen Flüchtlinge und Migranten wendete und mit der immer radikaleren Rhetorik die dünnen Grenzen zwischen sprachlicher und physischer
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Enthemmung zu verschwimmen drohten, so war für die Hochphase um die Jahreswende 2014/15 festzustellen, dass PEGIDA in Dresden keine Bewegung von Rechtsextremisten sowie Islam- und Ausländerfeinden gewesen ist, wie zunächst gemutmaßt wurde. Etwa ein Drittel der Teilnehmer der Kundgebungen und »Abendspaziergänge« ließ zwar fremdenfeindliche und islamophobe Motive und Einstellungen erkennen. Die Mehrheit übte indes vor allem fundamentale Kritik an Politik, Medien und der konkreten Funktionsweise der praktizierten Demokratie in Deutschland.1 PEGIDA rekrutierte sich anfangs überwiegend aus der (klein-)bürgerlichen Mitte Dresdens und ihren fragilen Segmenten. Auffallend in der soziodemographischen Zusammensetzung war der vergleichsweise hohe Anteil von Selbständigen und Angestellten und – bezogen auf die Einkommensstruktur – ein leicht überdurchschnittlicher Verdienst. Die biographischen Hintergründe der mehrheitlich aus dem westlichen Umland Dresdens stammenden Organisatoren ließen vielfach auf ein wechselhaftes, prekäres Berufsleben als selbständige Kleinunternehmer vor allem im Dienstleistungsgewerbe schließen. Sie waren in Dresden gut vernetzt: ein Teil der Dresdner Partyszene beruflich verbunden, ein anderer den Kreisen von Fußball und Eishockey. Der Sprecher, Lutz Bachmann, hatte sich bereits anlässlich des Elbehochwassers im August 2013 als Organisator eines umfassenden Fluthilfenetzwerkes im Stadion von Dynamo Dresden hervorgetan. Für sein Engagement hatte er den Sächsischen Fluthilfeorden erhalten. Dresdens Plätze und Straßen wurden zu einem Raum kollektiver Empörung und Selbstvergewisserung. Für die Teilnehmer von PEGIDA schienen die montäglichen Zusammenkünfte auch eine kompensatorische, ›therapeutische‹ Wirkung zu besitzen. Hier wurden Verluste, Ängste und Traumatisierungen verarbeitet, die sich in den persönlichen Nah- und sozialen Umwelten durch den tiefgreifenden politischen sozialen, kulturellen und demographischen Wandel in Ostdeutschland und Sachsen eingestellt haben. Offensichtlich substituierten die zum gemeinschaftsstiftenden Ritual gewordenen montäglichen Zusammenkünfte das Gefühl verloren gegangener Identität und Tradition. Der »Stammtisch« der Straße füllte die Sinnleere in einem Umfeld auseinandergebrochener Gewissheiten und enttäuschter Erwartungen und vermittelte das Gefühl, im Kreis von Gleichen mit den diffusen Ängsten und Sorgen ›aufgehoben‹ zu sein. Zugleich wurde eine scheinbar aus den Fugen geratene Welt mit einfachen Antworten – und seien es Verschwörungstheorien – wieder begreifbar ge-
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macht. Dabei brach sich das Gefühl der Verunsicherung, des AbgehängtSeins in der Konstruktion des Fremden, Flüchtlings und Asylbewerbers genauso Bahn wie das Gefühl, von den Medien nicht gehört und der etablierten Politik nicht repräsentiert zu werden in den Schmähparolen von »Lügenpresse« und »Volksverräter« seinen Niederschlag fand. Die unverstellte, enthemmte Rhetorik der Straße spiegelte grundlegende lebensweltliche Entfremdungserfahrungen und vertieft so die Spaltung zum etablierten politischen System, schaffte aber zugleich einen neuen virtuellen, über die sozialen Medien vermittelten und realen, auf den Plätzen Dresdens konstituierten Raum wechselseitiger Anteilnahme und Bestärkung. Nur in der öffentlichen Inszenierung lag die Möglichkeit beschlossen, die eigene Ohnmacht überwinden und kommunikative Macht erringen zu können. Dabei ging es nicht um konkreten issue-gebundenen Protest, nicht um klare Lösungsvorschläge für konkrete politische Probleme, sondern um die Zurschaustellung von kollektiver Wut und Empörung. Die hohe Emotionalität, der konfrontative Gestus, der Modus zur Schau gestellter Entrüstung und der erfolgreiche Versuch, kommunikative Macht auf prominenten Plätzen und Straßen zu erzeugen, ließ PEGIDA in ihren Hochzeiten zu einer rechtspopulistischen Empörungsbewegung werden. Ursprünglich in Form von Bewegungen wie Occupy als globalisierungskritischer Protest entstanden, um der Vorherrschaft weltweit agierender finanzpolitischer Akteure entgegenzutreten, haben derartige Formen öffentlich artikulierter Empörung, sowohl nach Eigen- wie Fremdzuschreibungen, bisher ausschließlich zum eher linken politischen Lager gerechnet werden können. PEGIDA hat sich ähnlicher Mechanismen und symbolischer Formen bedient, um als Bewegung öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei spielten die sozialen Medien in der Entstehungs- wie auch in der Hochphase eine entscheidende Rolle, und zwar als virtueller Raum von Kommunikation und Organisation. PEGIDA wurde aber erst in dem Moment zu einer Bewegung, als sie den realen Raum, prominente Straßen und Plätze, öffentlichkeitswirksam zu besetzen wusste. Und weil sie es tat, fand sie zu einer breiten Teilnehmerschaft. Performativer Akt und Konstituierung von PEGIDA als Massenbewegung gingen Hand in Hand. Die öffentliche, montägliche, durch Kundgebung und »Abendspaziergang« strukturierte Veranstaltung etablierte ein Ritual, welches durch regelmäßige Wiederholung den Teilnehmern das Gefühl gab, zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter zu gehören.
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Protest gegen die »Elitendemokratie« PEGIDA kann auch als ein Reflex auf die Metamorphosen des Systems repräsentativer Demokratie beschrieben werden. Auf der einen Seite sind fortschreitende Auflösungserscheinungen des politischen Vorfeldes, der sozialen Infrastruktur der Demokratie, zu verzeichnen. Parteien, Gewerkschaften, Stammtische und Vereine verlieren immer mehr ihren politisch bindenden, organisierenden, aber auch integrierenden Charakter. Die Bereitschaft zu einem verstetigten politischen Engagement nimmt ab, während Ad-hoc-Initiativen und der anonyme Foren-Kommentar im Internet zu neuen Aktivitätsformen avancieren. In der Folge drohen die etablierten Wege und Prozeduren demokratischer Partizipation zunehmend ins Leere zu laufen. Dem gegenüber steht, auf der anderen Seite, ein ähnlich tiefgreifender Wandel der Institutionen der verfassten Demokratie – einer politischen Ordnung, in der wirtschaftliche Macht und staatlich-administrative Funktionseliten in den nationalen und transnationalen Arenen der Verhandlung und Kompromissfindung politische Entscheidungen entwerfen, sich dabei aber gleichzeitig von dem entfernen, was die Bürger wahrnehmen bzw. was sie überhaupt noch demokratisch kontrollieren können. Jene Kongruenzsuggestion eines funktionierenden Repräsentationssystems, wonach Bürger und repräsentative Politik durch ein Verhältnis des Vertrauens aneinander gebunden sind, geht damit verloren – mit kaum absehbaren Folgen für die in komplexen Strukturen, Institutionen und Prozeduren verfasste repräsentative Demokratie. Die »Flüchtlingskrise« scheint diese Wahrnehmung einer gestörten Beziehung zwischen Politik und Bürgern verschärft zu haben.
Dresden und Sachsen – Resonanzraum von Traditionalismus und Ethnozentrismus Die Frage nach den Gründen für den besonderen Erfolg von PEGIDA in Dresden ist immer wieder mit Mutmaßungen über eine besonders ausgeprägte Fremden- und Islamfeindlichkeit beantwortet worden (vgl. Nachweise bei Vorländer et al. 2016: 17-30), zumal die bei den Kundgebungen gehaltenen Reden keinen Zweifel an der pauschalen Ablehnung und Diffamierung des Islam, der Muslime und von Flüchtlingen zuließen. Doch unterschied sich das bei den Demonstranten festgestellte Ausmaß an Islam- und Fremdenfeindlichkeit nicht oder nur geringfügig von der durch-
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schnittlichen Verbreitung dieser Einstellungsmuster in der Gesamtbevölkerung – im Osten stärker als im Westen. Empirische Befunde haben zudem auch erkennen lassen, dass die sächsische Landeshauptstadt keine überdurchschnittliche Konzentration an ausländerfeindlichen Orientierungen der Bevölkerung aufweist und deshalb auch nicht argumentiert werden kann, dass in Dresden generell ein idealer Nährboden für xenophobe oder islamophobe Handlungsmotive vorliegt (vgl. Reuband 2015: 137). Dessen ungeachtet haben ausländerfeindliche Gewalttaten gerade in Sachsen stark zugenommen. PEGIDA hat hier ohne Zweifel zu einer Verrohung der Diskussionskultur auf der Straße, dem Abschleifen allgemeiner Umgangsformen, vor allem in den sozialen Netzwerken, und einer Radikalisierung im Umgang mit fremdenfeindlichen Ressentiments beigetragen. Während in Westdeutschland islamfeindliche Einstellungen oft durch Alltagswahrnehmungen geprägt zu sein scheinen, war die bei PEGIDA in Dresden artikulierte Islamfeindlichkeit anfänglich eher diffus und von abstrakten Vorstellungen einer drohenden kulturellen Überfremdung geprägt, bei denen Muslime stellvertretend als Projektionsfläche für die Ablehnung des Unbekannten, des Neuen und ganz Anderen dienen. Im Zuge der »Flüchtlingskrise« hat sich diese Befürchtung materialisiert. PEGIDA und ihre Anhänger fühlten sich nunmehr mit ihren Warnungen ins Recht gesetzt und konnten in der Pose des »wir haben es schon immer gesagt« die Früchte ihres wütenden Tuns einsammeln, weshalb Kundgebungen und »Abendspaziergänge« wieder mehr Teilnehmer verzeichneten und sich die Redner und Rednerinnen weiter radikalisierten. Das trotzige »Sachsen zeigt, wie es geht« wurde zur Maxime des Protestes gegen ungesteuerte Zuwanderung und zugleich auf der Seite besonderer ›sächsischer Weitsicht‹ stolz verbucht. Bei der Frage nach möglichen lokalen und regionalen Besonderheiten der Entstehung und Dauerhaftigkeit von PEGIDA können zwei politischkulturelle Erklärungszusammenhänge für Dresden bzw. Sachsen angeführt werden. Zum einen lässt sich für Sachsen eine politische Deutungskultur und Mentalität konstatieren, die sich durch ein starkes Selbst- und Traditionsbewusstsein auszeichnet. Ihre Orientierungspunkte werden etwa aus einer langen Geschichte politischer Eigenständigkeit, einer Tradition sächsischen »Glanzes« von Kunst und (höfischer) Prachtentfaltung sowie dem »Erfindergeist« seiner Ingenieure gewonnen. Ein auf dieser Grundlage gedeihender starker »landsmannschaftlicher Zu-
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sammenhalt« bringt eine besondere Tendenz zu kollektiver Selbstbezogenheit und Eigensinn hervor – eine Tendenz, die – bereits unter dem DDR-Regime gepflegt – in den schwierigen Jahren des sozioökonomischen Umbruchs nach 1990 durch eine (ausnahmslos CDU-geführte) Politik der sächsischen Selbstbehauptung und des bewusst zur Schau gestellten Stolzes auf die eigene Vorreiterrolle in der ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung in Ostdeutschland weiter befördert wurde. Auch die offensichtliche Bereitschaft zur kollektiven, öffentlichen Artikulation von feindlichen Einstellungen gegenüber »Fremden«, aber auch gegenüber einer als »fremd« empfundenen politischen und medialen Elite könnte in diesem Zusammenhang als Ausweis eines besonders unverhohlen gepflegten ethnokulturellen Zentrismus interpretiert werden – eine Art »sächsischer Chauvinismus«, der mit der Selbstüberhöhung der eigenen Gruppe, der Abwertung von Fremden und einer starken Setzung von Vorrechten der Alteingesessenen einhergeht. Zum anderen stellt Dresden selbst eine medial eindrucksvolle Kulisse für Demonstrationen jeglicher Art dar. Im Zuge der alljährlich, am Gedenktag des 13. Februar, rituell memorierten historischen Zerstörung der »barocken« Stadt durch »anglo-amerikanische Bomberverbände« hatte Dresden bereits vor PEGIDA regelmäßig als Bühne für die Aufmärsche einer europaweit mobilisierten Neonaziszene gedient. Zugleich hat die Stadtbürgerschaft über Jahrzehnte ein Narrativ aufrechterhalten, welches Dresden als stetes Opfer unverschuldeter Umstände beschrieb. Damit konnte einerseits die nationalsozialistische Vergangenheit der Stadt beschwiegen, zum anderen eine nostalgische Vision der Wiederherstellung vergangener städtebaulicher Schönheit und kulturellen Glanzes erdacht werden. Mit dieser sich selbst vergewissernden Erzählung wussten sich zwar verbliebene Teile des Dresdner Bildungsbürgertums, wie sie etwa in Tellkamps Roman »Der Turm« literarisch verewigt worden sind, gegen manche Zumutungen des SED-Regimes zu immunisieren, zugleich sponnen sie sich aber auch in einen, die DDR-Zeit überdauernden Kokon nostalgischer Idealisierungen ein. Aus diesen prägenden Konstellationen resultiert ein – für Dresden typischer – Konservatismus, der sich der Hervorhebung und Bewahrung eigener Kultur, Tradition und Identität verpflichtet sieht, der zugleich aber auch starke Abwehrreflexe gegen vermeintliche Gefahren oder Bedrohungen dieser »Heile-Welt-Nostalgien« produziert. Gerade die aktuellen Folgen von Globalisierung, islamistischem Terror und großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen
H. Vorländer: Provinzposse oder Vorbote eines neudeutschen Rechtspopulismus?
werden hier als unmittelbare Bedrohungsszenarien interpretiert – als Bedrohungen eines nach den tiefgreifenden erwerbsbiographischen, sozioökonomischen und demographischen Umbrüchen der vergangenen Jahrzehnte gerade erst wieder erreichten Zustandes von Normalität, Stabilität und Sekurität.
Eruption von Ost-West-Ver werfungen Damit spielten auch die Nachwirkungen jener Transformation eine besondere Rolle, die in den vergangenen Jahrzehnten bereits einmal die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen nachhaltig verändert haben. Hier sind im Zuge der Friedlichen Revolution von 1989 zum Teil stark vereinfachende Vorstellungen demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse, zum Teil aber auch Erwartungen an das neue freiheitlich-demokratische System entstanden, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und ökonomischer Deprivationserfahrungen mittlerweile ebenso starke politische Enttäuschungsmuster produziert haben. Hinzu kommen die Folgen unvollständiger Aneignungsprozesse einer gesamtdeutschen politischen Kultur, die – aus Sicht vieler PEGIDA-Demonstranten – noch immer entlang typisch westdeutscher Erinnerungsorte, Erfahrungshorizonte und Interpretationsparadigmen definiert wird und so im politisch-medialen Diskurs der »Berliner Republik« den eigenen, womöglich abweichenden Einschätzungen nur geringen Resonanzraum bietet. Die daraus hervorgehenden kollektiven Entfremdungsgefühle, insbesondere der Verlust der Deutungshoheit über das eigene Leben, wird noch heute als kulturell-kommunikative Enteignung durch eine neue Meinungs- und Politikerelite erfahren und erzeugt eine ressentimentgeladene Elitenfeindlichkeit, die bei PEGIDA in aggressiver Form artikuliert wird. Damit spiegeln sich bei PEGIDA auch Ost-West-Verwerfungen, die im Verlaufe der letzten 26 Jahre entstanden, aber so bislang kaum sichtbar gewesen waren. Empirische Befunde zeigen zwar, dass sich die politischkulturellen Einstellungsprofile der Deutschen in Ost und West kaum noch unterscheiden, was als generelle Zustimmung zur Idee der Demokratie für die Unterstützung des politischen Systems von großer Bedeutung ist. Jedoch unterscheiden sich die Auffassungen immer noch darin, ob die praktizierte Demokratie denn nun auch wirklich gut funktioniere. Unter PEGIDA-Teilnehmern trat hier eine starke Unzufriedenheit hervor,
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II.1 Dresden-Beobachtungen – von innen
die sich auch von den durchschnittlichen Einstellungen der ostdeutschen Bevölkerung noch einmal, und zwar in eklatanter Weise unterscheidet. Zum einen fühlt man sich, so die Äußerungen von PEGIDA-Teilnehmern, in der medial vermittelten Diskussionskultur der Bundesrepublik nicht heimisch und empfindet ihre politischen Institutionen nicht als die »eigenen«, sondern als »vom Westen übergestülpte« Instrumente einer »Scheindemokratie«. Die Repräsentanten und Entscheidungsfindungsprozesse dieses »Systems« gelten wahlweise als »verkrustet«, »verblendet« oder »korrupt« und werden mit verschwommenen Erinnerungen an die DDR verglichen. Zum anderen wird nach mehr direkter Demokratie gerufen, in der der »einfache Bürger« das Sagen hat und Politiker als schwache, abhängige und unmittelbare Rechenschaft schuldige »Angestellte des Volkswillens« agieren. Dieses »vulgärdemokratische« Verständnis (Fraenkel 1991: 307) leugnet die Komplexität, Zeitintensität und Kompromissbedürftigkeit politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse und sieht die Remedur im plebiszitären Stil der Unmittelbarkeit, der Durchsetzung des »unverfälschten« Volkswillens. Es identifiziert folglich das gewählte Anforderungsprofil an gewählte Verantwortungsträger mit dem simplen Schema von »unten« und »oben«, von »wir fragen und bestellen« – »ihr antwortet und liefert«. Politische Prozesse werden nach den stringenten Dualismen von »richtig oder falsch«, »Ursache und Wirkung« oder »Problem und Lösung« bewertet. »Und wer nicht liefert, wird entlassen«, so ließ sich ein Anhänger von PEGIDA ein.
Vorbote eines sich formierenden Rechtspopulismus PEGIDA hat das Ressentiment salonfähig gemacht. Fremden- und islamfeindliche Stereotype, nationale und chauvinistische Einstellungen sind schon immer vorhanden, in Ostdeutschland etwas stärker als in Westdeutschland verbreitet gewesen. Hinzu trat bei PEGIDA die große Unzufriedenheit mit, ja teilweise die Ablehnung der praktizierten Demokratie, welche sich auch aus Transitionserfahrungen, sicher auch aus überhängender DDR-Sozialisation und Ost-West-Verwerfungen speiste und ihren besonderen Resonanzraum in einem ausgeprägten ethnokulturellen Zentrismus Dresdens und Sachsens fand. Hieraus entwickelte sich eine aggressive Bewegung von Wut und Empörung, die alle Merkmale des Rechtspopulismus aufweist, vor allem die konstituierenden Leitdifferenzen von »Volk« und »Establishment«, dem politisch-medialen Sys-
H. Vorländer: Provinzposse oder Vorbote eines neudeutschen Rechtspopulismus?
tem, einerseits und »wir« und »ihr«, den Fremden, Flüchtlingen, Muslimen, andererseits. Wenngleich rechtsextremistische und neo-nazistische Gruppierungen an den Demonstrationen teilnahmen, kann PEGIDA in Dresden – im Unterschied zu den GIDA-Ablegern andernorts – mehrheitlich nicht als rechtsextrem bezeichnet werden. Hingegen hat PEGIDA als »Stammtisch« der Straße zu einer Verrohung der Diskurs- und zu einer Enthemmung der Protestkultur beigetragen. Die Grenzen zwischen rhetorischer Radikalisierung und gewalttätigen Übergriffen sind brüchig geworden. Vor allem aber konnte PEGIDA – wie auch die »Alternative für Deutschland« – den in Deutschland ortund repräsentationslosen Protest einer unzufriedenen, misstrauischen und latent fremdenfeindlichen Population bündeln und mobilisieren. Die »Flüchtlingskrise« hat das Gefühl, im politisch-medialen System nicht gehört zu werden, also nicht repräsentiert zu sein, durch die weitgehend einheitliche Haltung der »etablierten« Parteien zudem bestärkt. Die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« haben diese Vertrauenskrise auf der Straße sichtbar werden lassen, und die »Alternative für Deutschland« konnte diese Leerstelle parlamentarisch besetzen. Damit nimmt diese neudeutsche Allianz von Straße und Parlament, von Bewegung und Partei, jene Funktion ein, die in anderen europäischen Ländern schon länger von rechtspopulistischen, rechtsextremen und nationalkonservativen Bewegungen, Parteien und Regierungen wahrgenommen wird. In der Ablehnung von (ungesteuerter) Zuwanderung, dem Misstrauen gegenüber »dem« Islam, der Unzufriedenheit mit »etablierten« Eliten von Politik und Medien, der Kritik liberaler und repräsentativer Demokratie, der Angst vor »Fremdbestimmung« durch die Europäische Union kristallisiert sich ein gemeineuropäischer Rechtspopulismus heraus, der über die Neubesetzung zentraler sprachlicher Topoi, über die Behauptung kultureller und nationaler Identitäten, über die Reklamierung patriotischen und völkischen Nationalismus, die Restitution souveräner Staatlichkeit und die Etablierung direkter, plebiszitärer Demokratie die Gesellschaften in Europa radikal, im Sinne einer politisch-kulturellen Gegenrevolution, zu verändern sucht.
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II.1 Dresden-Beobachtungen – von innen
A nmerkung 1 Dem Charakter des Thesenbeitrages entsprechend wird hier und im Folgenden auf solche Befunde und Interpretationen in verdichteter, pointierter Form (und mit zum Teil wörtlichen Übernahmen) zurückgegriffen, die auf eigenen Befragungen, Beobachtungen, Mitteilungen und Gesprächen beruhen sowie ausführlich und im Rekurs auf einschlägige andere Studien sowie weitere Literatur von mir, Maik Herold und Steven Schäller diskutiert und entwickelt worden sind. Vgl. hierzu vor allem Vorländer et al. 2016; 2015 a, b sowie Vorländer 2016. Vgl. darüber hinaus auch die Befunde und Interpretationen von Geiges et al. 2015 und Zick/Küpper 2015.
L iter atur Fraenkel, Ernst (1991): Deutschland und die westlichen Demokratien. Mit einem Nachwort über Leben und Werk Ernst Fraenkels von Alexander von Brünneck. Erw. Ausgabe, Frankfurt a.M: Suhrkamp. Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz (2015): Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript. Reuband, Karl-Heinz (2015): Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen. Mitteilungen des Instituts für Parteienrecht und Parteienforschung 21, S. 133-143. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäller, Steven (2016): PEGIDA. Entwicklungen, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung. Wiesbaden: VS. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäller, Steven (2015 a): Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von Pegida-Demonstranten in Dresden. Dresden: Schriften zur Verfassungs- und Demokratieforschung. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/poltheo/ ressourcen/dateien/news/vorlaender_herold_schaeller_Pegida_stu die?lang=de. Vorländer, Hans (unter Mitarbeit von Maik Herold und Steven Schäller) (2015 b): Was ist Pegida und warum? Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Oktober 2015, www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/pro testbewegungen-was-ist-Pegida-und-warum-13863310.html
H. Vorländer: Provinzposse oder Vorbote eines neudeutschen Rechtspopulismus?
Vorländer, Hans (2016): Zerrissene Stadt: Kulturkampf in Dresden. APuZ 5-7/2016, 22-28. Zick, Andreas/Küpper, Beate (2015): Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn: Dietz.
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2. Dresden-Beobachtungen – von außen
Everything Counts in Large Amounts Zur Problematik der Zählung von Demonstrationsteilnehmern1 Roger Berger, Stephan Poppe und Mathias Schuh
Zusammenfassung Der Beitrag behandelt die Problematik der Zählung von Demonstrationsteilnehmern. Neben dem methodischen Problem der Messung besteht dabei immer auch das Problem der politischen Kontroverse. Es ist möglich, valide Teilnehmerzahlintervalle zu ermitteln. Das Beispiel von PEGIDA und ähnlichen sozialen Bewegungen zeigt, dass diese Zahlen eine hohe Relevanz besitzen und dass sich daraus verschiedene Thesen zur Mobilisierung bei PEGIDA ableiten lassen.
Abstract This paper is concerned with the problem of crowd counting at political demonstrations. Besides methodological problems there always is a controversial political dimension to these numbers. Yet it is possible to estimate valid intervals of the number of participants at demonstrations. The example of PEGIDA and similar movements demonstrates the relevance of these numbers and allows for the deduction of various theses regarding the mobilization of PEGIDA.
Thesen Ein in Deutschland – gerade in politischen Diskussionen von allen Seiten – gerne zitierter Satz lautet: »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast«. Oft werden die Worte dann auch Winston Churchill in den Mund gelegt. In Großbritannien ist das Zitat allerdings völlig unbekannt (Drösser 2002). Es widerspricht auch der angelsächsischen empirischen
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
Tradition, die davon ausgeht, dass soziale Welt real ist – inklusive ihrer sozialen Strukturen, Regelmäßigkeiten und kausalen Zusammenhänge – und ihren Gang im Wesentlichen ganz eigenständig geht. In der Tat hat Churchill diesen Satz nie gesagt. Er scheint vielmehr aus dem Reichspropagandaministerium von Goebbels zu stammen (ebd.). Tatsächlich passt der Satz auch viel besser in die idealistische deutsche Geistestradition, in der dem Wort und der Idee der Vorrang vor den realen Tatsachen eingeräumt wird. In dieser Tradition erscheint es oft wichtiger, dass – je nach politischer oder ideologischer Position – die »Dinge« gesagt werden müssen, oder gerade nicht gesagt werden dürfen, weil sie nur dann existieren. Diese erkenntnistheoretische Position hat – in Deutschland stärker als in vergleichbaren Ländern – dazu geführt, dass Fakten aus der sozialen Wirklichkeit und deren Messung als Gegenstand von Diskussionen und als eine mögliche Sichtweise unter vielen anderen gesehen werden. Dies gilt umso mehr, je mehr dabei »nur« gezählt, gerechnet und in »kalten« Zahlen ausgedrückt wird, wie z.B. bei der Zählung von Demonstranten. Wir postulieren hier – ausgehend von einem sozialen Realismus, wie er von Churchill (tatsächlich belegt!) mit den Worten »Du musst die Tatsachen anschauen, denn sie schauen dich an!« (ebd.) beschrieben wird – einige Thesen. Die Thesen 1 bis 3 beziehen sich auf die Zählung von Demonstrationsteilnehmern. In den Thesen 4 bis 6 wird auf die Mobilisierung und das Potential von PEGIDA eingegangen. These 1: Schätzungen von Teilnehmerzahlen werden kontrovers diskutiert auch wenn sie überprüfbar methodisch korrekt ermittelt und kommuniziert werden. Teilnehmerzahlen von Demonstrationen sind immer kontrovers. Den Organisatoren dienen sie als Ausweis des Erfolgs der Veranstaltung. Mit dem Bericht einer möglichst hohen Mobilisierung in der Öffentlichkeit wird eine Erhöhung der Relevanz und der Legitimation für das verfolgte Thema sowie die Aktivierung weiterer potenzieller Anhänger (vgl. Diekmann 2014). Die eigene Anhängerschaft auf der Demonstration wird in ihrer Teilnahme bestätigt und womöglich die innere Geschlossenheit erhöht. Es kann daher nicht im unmittelbaren Interesse der Organisatoren einer Demonstration liegen, dass Teilnehmerzahlen allzu verlässlich be-
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
stimmt werden, da dies einen Spielraum im Bericht dieser Zahlen verbaut. Beispiele der Forschungsgruppe »Durchgezählt« illustrieren dies: • Für eine gemeinsame Streikdemo von Verdi und GEW am 19.05.2015 wurde eine Anzahl von 1400-1700 Teilnehmern ermittelt, während die Veranstalter offiziell von 3500 Teilnehmern sprachen. • Bei einer Kundgebung des DGB am 13.06.2015 wurde zwar nur eine Untergrenze von wenigstens 600 Personen ermittelt. Der Veranstalter sprach aber von eher wenig plausiblen 2500 Teilnehmern. • Am 25.06.2014 rief der Student_innenRat der Universität Leipzig zu einer großen Demo gegen Bildungskürzungen auf. Studierende des Fachschaftsrats Soziologie, welche sich später auch der Forschungsgruppe »Durchgezählt« anschlossen, wurden vom Student_innenRat gebeten, die Teilnehmerzahlen zu ermitteln. Basierend auf zwei verschiedenen Methoden mit einem Ergebnis von 5600 bzw. 6000 Teilnehmern wurde dies den Veranstaltern direkt berichtet, welcher diese wiederum auf 8000 erhöhte und so verbreitete. Offenbar ging der Student_innenRat davon aus, dass die Teilnehmerzahlen sowieso nicht verlässlich bestimmbar waren und die initiierte Zählung mithin nur ein wissenschaftliches Feigenblatt darstellte, das legitimerweise und gefahrlos nicht beachtet werden musste. Diese Legitimation wird womöglich durch die vermutete und/oder vermittelte Unterstützung, die für das verfolgte Anliegen in der Zielpopulation besteht, gestützt. Je höher diese wahrgenommene Unterstützung ist, desto legitimer und auch gefahrloser – die Gefahr von Widerspruch ist gering – scheint es zu sein, Teilnehmerzahlen von Demonstrationen in die gewünschte Richtung anzupassen. Diese Beobachtung gilt hier und in anderen Fällen auch für staatliche Institutionen, insbesondere Polizei und Justizapparat. Diese haben durchaus auch ein Interesse an den Teilnehmerzahlen. Dieses ist jedoch nicht so klar bestimmbar wie im Falle von Demonstrationsveranstaltern. Je nach Situation kann eine Erhöhung (z.B. um ein zukünftiges Polizeiaufgebot zu rechtfertigen) oder einer Erniedrigung von Teilnehmerzahlen (z.B. um die Organisatoren von weiteren Veranstaltungen abzuhalten) interessant sein: • Für die zweite Veranstaltung des PEGIDA-Ablegers LEGIDA in Leipzig ermittelte die Forschungsgruppe »Durchgezählt« eine Anzahl von
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
maximal 5000 Personen, während die Ordnungsbehörden von 15.000 Teilnehmern sprachen (Pravemann/Poppe 2015). Zugleich wurden etwa 5000 Polizisten aufgeboten, sodass spekuliert werden kann, dass ein erhöhter Aufwand mit einem vermeintlichen erhöhten Bedarf gerechtfertigt sein muss. Somit ist eine Kontroverse über die tatsächlichen Teilnehmerzahlen von Demonstrationen fast unausweichlich. Dies gilt insbesondere für die Kontroverse mit den Veranstaltern, da diese eben ein Interesse an besonders hohen Zahlen haben. Diese Kontroverse kann eine weitere Dimension erhalten, wenn nicht nur verschiedene Zahlen in den Raum geworfen werden, sondern die Zählmethode oder sogar die Zählenden selbst diskreditiert werden, um damit auch die resultierenden Zahlen zu delegitimieren bzw. zu devalidieren. Die Delegitimation zielt darauf, den Zählenden ein Partikularinteresse zu unterstellen, das die Zählung bewusst verzerrt. Drei Beispiele dazu: • So erfährt die Forschungsgruppe »Durchgezählt« im Rahmen ihrer Zählung von Teilnehmern bei Demonstrationen von PEGIDA und LEGIDA negative Kritik von deren Anhängern: Einzelne Teammitglieder werden während ihrer Arbeit im Feld erkannt und entweder als »Lügner«, »Systemling« oder »Lügenbaron« bezeichnet. • In den sozialen Netzwerken wird das Team »Durchgezählt« als »Durchgeknallt«, »Vollverzählt« oder aber auch als »Durchgedreht« betitelt. Insgesamt wird bei einigen Anhängern gern das Bild einer »linksfaschistischen Truppe« gepflegt, welche »dauerbekifft« falsche Zahlen im Auftrag des »Systems« verbreitet. • Um eine offene Diskussion über die Zahlen und Methoden zu ermöglichen, unterhält die Forschungsgruppe eine eigene Facebook-Seite. Auf dieser erhält die Gruppe neben konstruktiven Hinweisen häufig falsche Unterstellungen und Beleidigungen unterschiedlichen Grades. Diesen wird in aller Regel neutral und sachorientiert begegnet, wobei einige Kommentatoren in der Tat ihre Werturteile ändern, andere aber auf ihrer vermeintlich fundierten Kritik beharren. Trotz der unausweichlichen Kontroverse besteht aber immer ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit an möglichst wahrheitsgemäßen (im Fachterminus: validen) Zahlen. Im Falle der PEGIDA-Bewegung dienen
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
diese z.B. einer Einschätzung des Unterstützungspotenzials in der Bevölkerung. Da sich diese Bewegung, außer zur AfD, in Opposition zu allen etablierten Parteien sieht, kann damit z.B. die qualitative These der sogenannten Repräsentationslücke (Patzelt 2015) überprüft werden. Unabhängig von diesen inhaltlichen Überlegungen liegt offensichtlich ein methodisches Problem vor. Aus diesem Grund wurde die Forschungsgruppe »Durchgezählt« gegründet, welche verschiedene Methoden zur Schätzung von Teilnehmerzahlen im öffentlichen Raum überprüft und verbessert hat. Zugleich unternahm die Gruppe den Versuch, neben den polizeilichen Behörden eine unabhängige Institution zu schaffen, welche nicht nur objektiv Zahlen ermittelt, sondern diese zugleich auch nach außen mittels sozialer Medien kommuniziert, insbesondere per Twitter und Facebook, und sich den Standards guter wissenschaftlicher Arbeit unterwirft. Dazu gehören nicht nur das häufige Berichten der verwendeten Methodik auf einem eigenen Blog, abruf bar unter http:\\durchgezählt.org, sondern auch die kritische Selbstreflexion. Dies entspricht den zwei Leitsätzen der Forschungsdoktrin »Überprüfe die Richtigkeit von Zahlen und deren Erhebung.« und »Abweichende Zahlen müssen zeitnah und allen Interessierten mitgeteilt werden.« (Pravemann/Poppe 2015), welche sich aus Überlegungen zum Problem der Konstruktion vermeintlicher historischer Fakten ergeben (Opp 2011). These 2: Es existiert nicht die eine Teilnehmerzahl für eine Veranstaltung – aber es existiert ein Teilnehmerintervall. Für diese These spricht allein schon die Tatsache, dass jede Veranstaltung einer gewissen Dynamik unterliegt, so dass sich die Teilnehmerzahl zwischen zwei verschiedenen Zeitpunkten mit hoher Sicherheit immer unterscheiden wird. So erstreckten sich insbesondere PEGIDA-Demonstrationen typischerweise über einen Zeitraum von 2 bis 3 Stunden und waren meist dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Format Auftaktkundgebung – Demomarsch (»Spaziergang«) – Abschlusskundgebung folgten. Es lässt sich aber für PEGIDA-Demonstrationen beobachten, dass die Teilnehmer in ihrer großen Gesamtheit über den gesamten Verlauf bei der Veranstaltung verbleiben – es lässt sich spekulieren, dass das traditionelle gemeinschaftliche Singen der deutschen Nationalhymne am Ende jeder Veranstaltung einen großen Anreiz zum Verbleib darstellt. Nichtsdesto-
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
trotz waren immer kleinere zwischenzeitliche Abgänge selbst bei einer solchen »teilnehmertreuen« Veranstaltung zu beobachten. Man könnte diesem Problem sicher durch die Erfassung jedes Teilnehmers und dessen konkreter Verbleibdauer begegnen – ähnlich wie Firmen die Anwesenheitszeiten ihrer Mitarbeiter erfassen. Dies würde aber einerseits einen hohen personellen und technischen Aufwand bei der Messung bedeuten und andererseits eine Identifikation bzw. dauerhafte Beobachtung jedes einzelnen Teilnehmers erfordern, was sich sowohl aus forschungsethischen Gesichtspunkten als auch schon durch eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten verbietet. Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass nach Ansicht von Experten die Aufnahme und Auswertung von Videoaufnahmen bei Demonstrationen keine Persönlichkeitsrechte verletzt, siehe dazu insbesondere § 23 KunstUrhG, solange einzelne Teilnehmer nicht allein oder besonders hervorgehoben dargestellt werden. Die Forschungsgruppe begegnet dem Problem der Dynamik der Feststellung einer Teilnehmerzahl durch die Bestimmung eines Schätzintervalls, welches sowohl das Problem der Dynamik als auch messmethodische Ungenauigkeiten bzw. Schätzfehler berücksichtigt. In der Kommunikation solcher Schätzintervalle bzw. in deren Interpretation durch andere Akteure (siehe oben These 1) tritt dabei auch das Phänomen der willentlichen oder nachlässigen Reduktion dieses Intervalls auf eine Zahl auf. So wird z.B. ein Intervall von 4000-6000 als 5000 berichtet, da dieses einen scheinbaren Mittelwert darstellt. Da aber diesem Intervall keine statistische Verteilung zugrunde liegt, ist dies statistisch so falsch. Schlimmer wiegt eher der bewusste Versuch des »Kleinredens« durch einen Bericht von 4000 Teilnehmern. Eine solche Punktschätzung wäre zwar mit dem Intervall von 4000-6000 konsistent, vermittelt aber dann den starken Eindruck, dass die Wahrheit sehr sicher bei 4000 liegt. Gleiches gilt für das »Großreden«, d.h. den Bericht von 6000 Teilnehmern. These 3: Es existieren einfache und zuverlässige Schätzmethoden für Teilnehmerzahlen. Neben dem Problem der dynamischen bzw. unsteten Teilnehmerzahl besteht allein schon aus methodischen Gründen bzw. unvermeidbaren Messungenauigkeiten die Notwendigkeit des Versuchs der Bestimmung eines Intervalls anstelle einer Zahl bzw. Punktschätzung. Dafür existieren einfache Methoden, welche sich in der Forschungspraxis als genü-
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
gend effizient und zuverlässig herausgestellt haben. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Menschenmenge stationär erfasst wird wie z.B. bei einer Kundgebung auf einem großen öffentlichen Platz oder sich aber bewegt wie bei einem Demonstrationszug entlang einer Straße. Im Falle einer stationären Menschenmenge bietet sich eine einfache Ausmessung der Standfläche der Menschenmenge an und die zeitgleiche Bestimmung der etwaigen durchschnittlichen Personendichte, d.h. Personen pro Fläche. Daraus lässt sich in aller Regel ein sicheres, wenn auch breites Schätzintervall bestimmen, da hier die Schätzfehler sowohl in Fläche als auch Personendichte zum Tragen kommen. Diese unmittelbare Methode der Schätzung, da vor Ort und mit wenig Zeitaufwand durchführbar, lässt sich mittels der nachträglichen Methode des Auszählens eines geeigneten hochauflösenden Luftbildes deutlich verbessern. Ein solches Luftbild lässt sich aus einer Sequenz von vielen Einzelbildern erstellen und benötigt für Menschenmengen bis 10.000 Personen einen eher niedrigen Zeitaufwand. Falls sich die Menschenmenge im Rahmen eines Demozuges bewegt, bietet sich die direkte Zählung dieses Menschenstromes am Rande und aus erhöhter Position heraus mittels eines Handzählers, vulgo Klicker, an. Somit kann sich der Zählende völlig auf das visuelle Erfassen der vorbeiziehenden Teilnehmer konzentrieren. Ist der Menschenstrom zu breit, bietet sich die Aufteilung in zwei Hälften und Zählungen durch zwei Zählende usw. an. Diese Methode funktioniert überraschend gut und zeigt sich immer wieder überlegen gegenüber vermeintlich methodisch raffinierten Methoden wie der Reihenzählmethode, d.h. dem Zählen von Reihen und Abschätzen der durchschnittlichen Reihenstärke mit anschließendem Hochrechnen. Diese Methode weist aber in der Praxis eher große Fehler auf. Zur Überprüfung bzw. Verbesserung dieser unmittelbaren Methode des direkten Zählens bietet sich die Videoaufzeichnung des Demozuges an, sodass dieser dann nachträglich mit wesentlich höherer Genauigkeit direkt ausgezählt werden kann. Den Umständen entsprechend lassen sich diese Methoden aber auch anpassen, sodass robuste Schätzungen möglich sind. Es sei hier auf den Blog der Forschungsgruppe »Durchgezählt« verwiesen, wo diese Modifikationen und auch weitere Methoden dargestellt sowie am Beispiel ausführlich demonstriert werden.
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
These 4: PEGIDA konnte in Dresden regelmäßig 2000 bis 12.000 Menschen für Demonstrationen mobilisieren. Seit Ende März 2015 erhebt unsere Forschungsgruppe »Durchgezählt« Teilnehmerzahlen für die PEGIDA-Demonstrationen in Dresden, siehe Tabelle 1. Für die ersten 32 Veranstaltungen berichtete die Polizei Dresden regelmäßig eigene Zahlen für die PEGIDA-Veranstaltungen, stellte diese Berichterstattung jedoch mit der 33. Veranstaltung ein. Tabelle 1: Schätzung der Teilnehmerzahlen der PEGIDA-Demonstrationen in Dresden von der Forschungsgruppe »Durchgezählt« und der Polizei Dresden* Nr.
Datum
1
20.10.2014
2
Durchgezählt
Polizei Dresden
Nr.
Datum
Durchgezählt
350
16
23.02.2015
4800
27.10.2014
500
17
02.03.2015
6200
3
03.11.2014
1000
18
09.03.2015
6500
4
10.11.2014
1700
19
16.03.2015
5
17.11.2014
3200
20
23.03.2015
5500
6
24.11.2014
5500
21
30.03.2015
2900
7
01.12.2014
7500
22
06.04.2015
7100
8
08.12.2014
10.000
23
13.04.2015
8000-12.000
9
15.12.2014
15.000
24
27.04.2015
1450-1800
10
22.12.2014
17.500
25
04.05.2015
2900-3300
11
05.01.2015
18.000
26
11.05.2015
2600-2900
3000
12
12.01.2015
25.000
27
18.05.2015
2700-2800
3000
13
25.01.2015
17.300
28
25.05.2015
2500-2800
2200
14
09.02.2015
2000
29
01.06.2015
2150-2750
2000
15
16.02.2015
4300
30
08.06.2015
1900-2100
1500
5500-7000
Polizei Dresden
7700
3000
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
31
15.06.2015
2100-2400
1600
50
30.11.2015
3600-4000
32
22.06.2015
1800-2000
900
51
07.12.2015
5500-6000
33
29.06.2015
2500-2700
52
14.12.2015
5400-5800
34
13.07.2015
2400-2600
53
21.12.2015
4300-5300
35
27.07.2015
3200-3500
54
04.01.2016
3500-4000
36
10.08.2015
2950-3300
55
18.01.2016
3500-4000
37
24.08.2015
4000-4500
56
25.01.2016
3000-4000
38
07.09.2015
4600-5000
57
06.02.2016
8300-9200
39
14.09.2015
5700-6200
58
15.02.2016
3200-4300
40
21.09.2015
6400-7000
59
22.02.2016
2500-3000
41
28.09.2015
7100-7500
60
29.02.2016
2800-3400
42
05.10.2015
8000-9000
61
14.03.2016
3500-4200
43
12.10.2015
7500-8500
62
21.03.2016
2700-3300
44
19.10.2015
15.000-20.000
63
04.04.2016
2300-2800
45
26.10.2015
9500-11.000
64
11.04.2016
2500-3000
46
02.11.2015
7000-8000
65
18.04.2016
2700-3200
47
09.11.2015
7100-8000
66
25.04.2016
3000-3600
48
16.11.2015
7000-8000
67
02.05.2016
2900-3500
49
23.11.2015
4300-5000
68
09.05.2016
2500-3000
*entnommen aus Pressemitteilungen der Polizeidirektion Dresden, abrufbar unter http://polizei.sachsen.de. Für die 23. Veranstaltung am 13.04.2015 (Auftritt von Geert Wilders bei PEGIDA) wurde nachträglich mittels fremden Bildmaterials eine Schätzung von 800012.000 Menschen ermittelt, welche in gutem Einklang mit Schätzungen der Presse von etwa 10.000 Personen steht.
121
122
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
Aus der Zahlenreihe der Forschungsgruppe »Durchgezählt«, welche ab der 24. Veranstaltung am 27.04. auf Basis von Schätzungen mittels eigenen Materials in geschlossener Form vorliegt, wird klar erkenntlich, dass die Zahlen in etwa zwischen 2000 und 9000 Teilnehmern schwanken. Bei der Betrachtung des zeitlichen Verlaufs wird auch deutlich, dass die Teilnehmerzahlen sich stetig ändern und ein zyklisches Muster ausbilden (siehe Abb. 1). Dieses Muster wird nur von besonderen Veranstaltungen, welche das übliche Format verlassen – wie dem Auftritt des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders am 13.04.2015, dem ersten Geburtstag der Bewegung am 19.10.2015 und der Europaweiten Aktion »Festung Europa« am 06.02.2016 – unterbrochen. Zu diesen Anlässen mobilisiert PEGIDA in etwa doppelt bis dreimal so viel Menschen wie im Vergleich zu zeitnahen regulären Veranstaltungen. Dies lässt sich durch die überregionale Mobilisierung für diese besonderen Versammlungen erklären. Gegen diese These der Mobilisierung eines Potenzials von 200012.000 Personen scheinen die offiziellen Zahlen der zuständigen Behörden zu sprechen. So wurde insbesondere am 25.01.2015 eine Anzahl von 25.000 Teilnehmern verlautbart. Diese Zahl ist aber wenig belastbar, da nicht bekannt ist, wie diese erhoben wurde. Vielmehr spricht vieles gegen diese hohe Zahl. So erhob ein Team um Dieter Rucht für diese Veranstaltung mittels der Methode der Reihenzählung drei verschiedene Schätzungen von 12.000, 11.800 und 18.400, aus welcher eine aggregierte
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
Abbildung 1: Zeitlicher Verlauf der Teilnehmerzahlen bei PEGIDA in Dresden.
25000
Durchgezählt (Obere Schätzung) Durchgezählt (Untere Schätzung) Polizei
Anzahl Teilnehmer
20000
15000
10000
5000
0 Oct 2014
Jan 2015
Apr 2015
Jul 2015
Oct 2015
Jan 2016
Apr 2016
Schätzung von etwa 17.000 gewonnen wurde (Rucht 2015). Bemerkenswert ist aber hierbei, dass die letztere Schätzung von 18.400 nur auf Basis einer Teilzählung des Demonstrationszuges erfolgte. Die Forschungsgruppe »Durchgezählt« hat methodisch nachgewiesen, dass eine solche partielle Zählung zu eher wenig verlässlichen Schätzungen führt. Eine nachträgliche Auswertung frei verfügbaren Videomaterials des Demonstrationszuges am 25.01.2015 ermöglichte uns aber den Versuch einer Reproduktion dieser Zahlen. Diese lässt letztlich sicher auf eine Anzahl von 10.000-12.000 Teilnehmern schließen, welche in Einklang mit den beiden ersten Schätzungen von Rucht steht. Weitere Überprüfungen vorhandenen Materials auch für vorherige Veranstaltungen zeigen eine eher systematische Überschätzung in den behördlichen Zahlen auf, sodass davon auszugehen ist, dass in dieser frühen Phase der Bewegung nie mehr als 12.000 Teilnehmer teilnahmen. These 5: PEGIDA hat in Dresden das bei weitem größte Mobilisierungspotential. Neben Dresden mobilisiert PEGIDA entweder selbst oder mittels verschiedener Ableger auch in anderen Städten. In den beiden anderen
123
124
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
sächsischen Großstädten Leipzig und Chemnitz geschieht dies zumeist mittels der beiden lokalen bzw. regionalen Protest-Bündnisse »Leipziger Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Legida) und »PEGIDA Chemnitz und Westsachsen« (Cegida). Für die Leipziger Demonstrationen erhob die Forschungsgruppe »Durchgezählt« seit der zweiten Veranstaltung am 21.01.2015 eigenes Datenmaterial. Auf dessen Basis konnten für alle nachfolgenden Veranstaltungen Schätzungen gewonnen werden (siehe Tabelle 2). Nach anfänglich hohen Teilnehmerzahlen schrumpften die Zahlen im Frühjahr 2015 recht schnell in den dreistelligen Bereich. Nur zu besonderen Anlässen, wie dem 1-jährigen Bestehen von Legida am 11.01.2016, wurden höhere Teilnehmerzahlen erreicht. Zu diesem Anlass rief die Führung von PEGIDA zur Teilnahme an den Demonstrationen in Leipzig Tabelle 2: Teilnehmerzahlen (Schätzungen der Forschungsgruppe »Durchgezählt«) für die Demonstrationen von Legida in Leipzig. Nr.
Datum
Schätzung
Nr.
Datum
Schätzung
1
12.01.2015
(2000-3000)
16
31.08.2015
370-400
2
21.01.2015
3800-5000
17
07.09.2015
400-450
3
30.01.2015
1550-1900
18
14.09.2015
600-900
4
16.02.2015
633-700
19
21.09.2015
700-900
5
23.02.2015
900-1100
20
23.09.2015
400-500
6
02.03.2015
917-1000
21
28.09.2015
700-800
7
09.03.2015
912-1000
22
05.10.2015
750-880
8
23.03.2015
874-1000
23
12.10.2015
780-830
9
30.03.2015
850-950
24
26.10.2015
700-850
10
20.04.2015
500-600
25
02.11.2015
600-700
11
27.04.2015
430-470
26
09.11.2015
450-500
12
04.05.2015
410-440
27
16.11.2015
550-600
13
15.06.2015
390-430
28
23.11.2015
370-400
14
06.07.2015
680-750
29
07.12.2015
310-350
15
03.08.2015
750-800
30
04.01.2016
270-320
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
31
11.01.2016
2500-3400
34
04.04.2016
490-500
32
01.02.2016
640-740
35
21.04.2016
100-120
33
07.03.2016
800-1000
36
02.05.2016
300-360
Für die Schätzung der ersten Veranstaltung am 12.01.2015 musste auf fremdes Fotomaterial in Form von Überblicksbildern zurückgegriffen werden.
auf und setzte dafür seine eigene Montags-Veranstaltung in Dresden aus. Dieser »Geburtstags«-Effekt wurde so aber auch in Dresden am 19.10.2015 beobachtet. Auch wenn dieser nicht lange bestand, so ist es trotzdem bemerkenswert, dass sich die Zahlen nach dem 11.01.2016 auf etwa doppelt so hohem Niveau wie zuvor bewegten, siehe Abb.2. Abbildung 2: Zeitlicher Verlauf der Teilnehmerzahlen bei LEGIDA in Leipzig.
Obere Schätzung Untere Schätzung
5000
Anzahl Teilnehmer
4000
300
2000
1000 500
Jan 2015
Apr 2015
Jul 2015
Oct 2015
Jan 2016
Apr 2016
Es lässt sich nur spekulieren, ob es hier kurzfristig zu einer Art Aufwertung der Untermarke »Legida« durch PEGIDA kam. Unbestritten bleibt aber, dass in Leipzig, das etwa dieselbe Wohnbevölkerung wie Dresden aufweist, das Mobilisierungspotential nur einen Bruchteil desjenigen von Dresden beträgt. Folgt man Medienberichten über die Teilnehmerzahlen der Cegida-Demonstrationen, so gilt diese Aussage in etwa auch für die
125
126
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
dritte sächsische Großstadt Chemnitz. Dort wurden Teilnehmerzahlen im eher niedrigen dreistelligen Bereich erreicht. These 6: PEGIDA als Phänomen kann auch in anderen Städten mobilisieren. Mit PEGIDA als Phänomen ist hier die Tatsache der Mobilisierung einer rechtspopulistischen Anhängerschaft auf die Straße in Form periodisch wiederholter Demonstrationen gemeint, welche insbesondere asyl- und systemkritische Themen aufgreift und Bürger anspricht, welche sich gegen das »Partei-Establishment« unserer parlamentarischen und indirekten Demokratie stellen. Während dieser sichtbare Rechtspopulismus in Deutschland relativ neu ist, ist der Versuch einer dauerhaften »Opposition auf der Straße« zum Erreichen politischer Veränderungen weder neu, noch ist dieser nur PEGIDA als Organisation eigen. Dies lässt sich z.B. klar durch Teilnehmerzahlen für die sogenannte Herbstoffensive 2015 der AfD Thüringen belegen, welche in Erfurt erhoben wurden, siehe Tabelle 3. Tabelle 3: Schätzungen der Forschungsgruppe »Durchgezählt«, der Polizei Erfurt und der AfD. Nr.
Datum
1
16.09.2015
2
23.09.2015
3
Durchgezählt
Polizei Erfurt
AfD
1000
2000
2000-2500
5000
5000
30.09.2015
3500-3800
5000
5000
4
07.10.2015
4500-5500
8000
800010.000
5
21.10.2015
4200-4700
4000
70009000
6
28.10.2015
2700-3200
4200
7
04.11.2015
2400-2700
2100
8
18.11.2015
2700-3100
3500
Zahlen der Polizei wurden der Presse entnommen und Zahlen der AfD von deren Demo-Blog, abrufbar unter http://afd-thueringen.de/category/demoblog/
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
Bemerkenswert ist auch hier die typische Anfangsdynamik eines logistischen Wachstums, siehe Abb. 3, welche sich so auch in der Frühphase der polizeilichen Zahlen für PEGIDA in Dresden beobachten lässt, wenn man annimmt, dass diese zwar durch die Behörden deutlich überschätzt wurden, aber in ihrer Dynamik bzw. im Trend in etwa richtig sind. Auch liegen uns für Plauen die Zahlen für die sogenannte »Wir sind Deutschland«-Bewegung (WsD) vor, welche zwar weniger radikal auftritt, aber auf ihren Sonntagsdemonstrationen ähnliche Themen mit Bezug auf Asylkritik und Politikverdrossenheit diskutierte, siehe Tabelle 4. Abbildung 3: Zeitlicher Verlauf der Teilnehmerzahlen bei den Erfurter Demonstrationen der Herbstoffensive 2015 der AfD.
FG Durchgezählt (Obere Schätzung) FG Durchgezählt (Untere Schätzung) Polizei AfD (Obere Schätzung) AfD (Untere Schätzung)
10000
Anzahl Teilnehmer
8000
6000
4000
2000
1. AfD
2. AfD
3. AfD
4. AfD
5. AfD
6. AfD
7. AfD
8. AfD
127
128
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
Tabelle 4: Schätzungen der Forschungsgruppe »Durchgezählt« und der Polizei Plauen, wobei die Zahlen der Polizei der Presse entnommen wurden. Nr.
Datum
Durchgezählt
Polizei
Nr.
Datum
400
6
25.10.2015
Durchgezählt
Polizei
1
20.09.2015
2
27.09.2015
>1600
2000
7
01.11.2015
2000-2500
4500
3
04.10.2015
2500-3000
5000
8
08.11.2015
2500-3200
4000
4
11.10.2015
3700-4200
5000
9
15.11.2015
1600-2000
2500
5
18.10.2015
3000-3500
10
22.11.2015
4500
3000
1500
Auch hier zeigen sich systematische Verzerrungen in den behördlichen Zahlen, siehe dazu auch Grafik 4. Abbildung 4: Zeitlicher Verlauf der Demonstrationen von WsD in Plauen.
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
F a zit Insgesamt kann damit allein auf Grund von Zählungen der Demonstranten auf Veranstaltungen der Bewegung PEGIDA und auf assoziierten Bewegungen Folgendes festgehalten werden: Es handelt sich um eine soziale Bewegung, deren Zentrum eindeutig in Dresden liegt. Allerdings hat sich diese Bewegung auch in anderen Städten etabliert, wenn auch typischerweise in einem weniger starken Ausmaß. Der Schwerpunkt liegt dabei in den bevölkerungsreichen Gebieten im Süden der ehemaligen DDR. Auffällig ist dabei eine räumliche Kongruenz mit denjenigen Städten, in denen auch bei der Wende 1989/90 der Schwerpunkt, insbesondere der frühen sozialen Bewegung, lag (Plauen, Leipzig und Dresden). In den alten Bundesländern hat sich die soziale Bewegung in der Form von öffentlichen und periodisch wiederholten Demonstrationen im größeren Ausmaß jedoch nicht durchgesetzt, wenn auch nach wie vor in bevölkerungsreichen Städten wie Berlin regelmäßig Veranstaltungen im kleineren Ausmaß stattfinden. Sollen das Phänomen PEGIDA und assoziierte Bewegungen und dabei insbesondere deren Start kausal erklärt werden, und wird dabei auf das bewährte Prinzip »Unterschiede durch Unterschiede erklären« zurückgegriffen, so liegt es nahe, dass PEGIDA etwas mit der Wende und Wendeerfahrungen zu tun hat. Die These der Repräsentationslücke am rechten Rande (Patzelt 2015) scheint darauf zu passen. Es handelt sich um Personen, die sich durch die üblichen Institutionen der indirekten Demokratie nicht vertreten fühlen und – evtl. auch auf Grund von schon einmal erfolgreichen Versuchen – auf das Mittel der direkten Einflussnahme von der Straße zurückgreifen. Die Tatsache, dass die PEGIDATeilnehmer – insbesondere in Dresden und insbesondere zu Beginn der Demonstrationen – eher älter waren, stützt diese Interpretation ebenso wie die Beobachtung, dass auch scheinbar ehemalige Wende-Teilnehmer bei PEGIDA vertreten sind. Überträgt man einen Befund, den ein Autor (Berger/Berger 2016) für ähnliche soziale Ideen in der Schweiz gefunden hat – nämlich dass Islamfeindlichkeit vor allem Ausdruck einer allgemeinen Religionsfeindlichkeit ist und erst in zweiter Linie Ausdruck von xenophoben Einstellungen – auf Ostdeutschland, das zu den am stärksten säkularisierten Regionen der Welt gehört (im Gegensatz zu Westdeutschland), ergibt sich das folgende Muster: PEGIDA ist eine ostdeutsche soziale Bewegung aus
129
130
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
dem ehemaligen Kernland der marxistischen Doktrin, deren allgemeine Kritik am (westdeutschen) System und am Islam als politischer Religion kondensiert ist. Diese Eigenschaften teilt PEGIDA mit anderen ähnlichen Bewegungen in ebenfalls stark säkularisierten Regionen (z.B. in den Niederlanden, der Schweiz und Skandinavien).
A nmerkung 1 Wir möchten an dieser Stelle auch allen aktiven und ehemaligen Mitgliedern der Forschungsgruppe »Durchgezählt« danken (in alphabetischer Reihenfolge): Nico van Capelle, Clara Dilger, Lasse Emcken, Daniel Herrmann, Anna Hoffmeister, Konstantin Hoffie, Hannah Johanns, Jonathan Kühn, Stephanie Müller, Christopher Pabel, Clemens Patzwald, Stephanie Pravemann, Felix Ries, Sebastian Ries, Marcel Sarközi, Stefan Schulder, Lennart Selling, Anna-Luise Schönheit.
L iter atur Berger, Roger/Berger, Joël (2016): Islamophobia or Threat to Secularization? Lost Letter Experiments on the Discrimination against Muslims in Switzerland. Aufsatz, Leipzig/Zürich. Diekmann, Andreas (2014): »Modelle sozialer Diffusion«, in: Norman Braun/Nicole J. Saam, (Hg.), Handbuch Modellbildung und Simulation in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden: Springer VS, S. 887902. Drösser, Christoph (2002): »Zahlenschwindel«, in: Die Zeit vom 25.04. 2002. Opp, Karl-Dieter (2011): »The Production of Historical ›Facts‹: How the Wrong Number of Participants in the Leipzig Monday Demonstration on October 9, 1989 Became a Convention«, in: The Journal of Mathematical Sociology 35, S. 209-234. Patzelt, Werner J. (2015): Was und wie denken PEGIDA-Demonstranten? Analyse der PEGIDA-Demonstranten am 25. Januar 2015, Dresden. Ein Forschungsbericht. Dresden.
R. Berger/St. Poppe/M. Schuh: Everything Counts in Large Amounts
Pravemann, Stephanie/Poppe, Stephan (2015): »LEGIDA gezählt«, in: Soziologie 44, S. 153-161. Rucht, Dieter (2015): Wie viele haben demonstriert? Ein Dossier aus aktuellem Anlass. https://protestinstitut.eu/2015/01/23/wie-viele-habendemonstriert/ vom 23.01.2015.
131
Nach dem Hype Drei Entwicklungen von PEGIDA seit dem Winter 2014/2015 Lars Geiges
Zusammenfassung PEGIDA zählt zu den bestausgeleuchteten Lokalprotesten überhaupt. Vor allem die Frühphase der sächsischen Straßendemonstrationen wurde gleich von mehreren Forschergruppen tiefgehend betrachtet und analysiert. Den Dynamiken, den Bewegungen der Bewegung, die ab etwa Mitte 2015 bei und um PEGIDA herum einsetzten, wurde dabei bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Der vorliegende Beitrag weist auf drei Entwicklungen hin: der zunehmend schärferen Rhetorik der PEGIDA-Frontleute, der Radikalisierung (im Umfeld) von PEGIDA sowie den zugleich zu beobachtenden Institutionalisierungsbemühungen von PEGIDA. Auch wenn sich die »Abendspaziergänger« in Dresden ausgelaufen haben dürften, steht PEGIDA nach wie vor als Ausdruck einer offenbar zunehmend polarisierten Gesellschaft insgesamt.
Abstract PEGIDA is one of the most examined regional protests (of our time). Various research groups have been studying PEGIDA, particularily focusing on its early stages. Later developments have not yet been analysed thoroughly. This contribution therefore points out three developments in the dynamics of PEGIDA and its surrounding which started in mid-2015: the increasingly harsh rhetoric of PEGIDA’s spokespeople, the radicalization of the movement and its followers, as well as the recognizably intensified efforts to advance the movement’s institutionalisation. Even though the so-called »Abendspaziergänge« (»evening walks«) seem to have come to an end, PEGIDA can still be understood as a manifestation of the increasing polarisation in German society.
134
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
Im Winter 2014/2015 standen sich Sozialwissenschaftler in Dresden mitunter buchstäblich auf den Füßen. Die Erforschung dessen, was PEGIDA kennzeichnete, die Beantwortung der Frage, wer die Demonstranten waren und aus welchen Gründen sie an den »Abendspaziergängen« teilnahmen, motivierte gleich mehrere Forschergruppen zur Reise in die sächsische Landeshauptstadt. Man rückte den Demonstranten mit Umfragen und Interviews zu Leibe, befragte und beobachtete, begab sich mit Klemmbrett und Notizblock auf die Suche nach gesprächsbereiten Pegidisten, bat um Teilnahme an (Online-)Umfragen, lud zu Fokusgruppengesprächen. Mit bemerkenswertem und beispiellosem Eifer produzierten die Feldforscher Resultate. Mehrere Studien entstanden, Anfang März 2015 erschien bereits eine erste umfassende wissenschaftliche Buchpublikation1, an die sich weitere anschlossen. Schon wenige Monate nach der erstmaligen Versammlung der »Patriotischen Europäer« in Dresden war klar: PEGIDA würde zu den wissenschaftlich bestausgeleuchteten Lokalprotesten überhaupt zählen. Das erhobene Datenmaterial der verschiedenen Forschergruppen war sich dabei – trotz unterschiedlicher methodischer Vorgehensweisen – in vielen Punkten erstaunlich ähnlich. Dass daraus verschiedene Schlüsse gezogen, offensiv interpretiert und die eigenen Deutungen schon zu einem frühen Zeitpunkt einer breiten Öffentlichkeit präsentiert und zur Diskussion gestellt wurden, ist und war nicht verwerflich, sollte – ohne medialen Aufgeregtheiten zu folgen – sozialwissenschaftliche Normalität sein. Denn erst durch diesen Prozess schleifen und schärfen sich Positionen, präzisieren sich Auslegungen und korrigieren sich Standpunkte. Vor allem aber: Es stellen sich dabei neue Fragen, denen nachzugehen ist. Überdies: Die Dynamik der Protestbewegung selbst und die sich beschleunigt wandelnden politisch-gesellschaftlichen Umgebungsstrukturen, die sich wechselseitig beeinflussen, machen Nachjustierungen in der Betrachtung des Protestphänomens PEGIDA ohnehin unabdingbar. Vereinfacht (und somit auch verkürzt): Wir wissen sehr viel über (die Frühphase von) PEGIDA, begegnen aber den übergeordneten Fragen mit Erklärungsversuchen, die zwangsläufig nachholend und stets zeitversetzt daherkommen (müssen), über die Dauer allerdings an Dichte gewinnen (sollten). Hier gibt es zweifelsohne noch Forschungsbedarf, auch weil spätestens ab Mitte 2015 die Entwicklungen um und bei PEGIDA ein enormes Tempo erfahren und neue Fragen aufgeworfen haben. Der Verfasser möchte mit den folgenden drei Entwicklungen auf veränderte Problematiken um das Protestphänomen PEGIDA hinweisen.
L. Geiges: Nach dem Hype
1. Unter populistischem Zugzwang – Bühnenredner Bachmanns Bemühungen um Resonanz Es ist ungemein schwierig, auf den Punkt – sagen wir, jeden Montag – eine neue Idee, einen klugen Gedanken, etwas Geistreiches oder zumindest ansatzweise Witziges zu formulieren und aufzuschreiben. Es verlangt ein gehöriges Maß Anstrengung und Kreativität, wieder und wieder einen alten Gedanken mit einer neuen Beobachtung oder einen neuen Gedanken mit einer alten Beobachtung so miteinander zu verknüpfen, dass sich die Rezipienten zumindest nicht langweilen, sich bestenfalls gut unterhalten fühlen. Eigentlich braucht es Auszeiten, Phasen der Ruhe, in der Neues erdacht, vorgedacht und durchdacht werden kann, andernfalls nutzt sich der Autor, Redner oder Darsteller ab. Der Zuschauer mag dann sein Gesicht nicht mehr sehen, ist seines Tonfalls überdrüssig, nimmt Gesten als affektiert und redundant wahr, die er vormals als besonders ausdrucksstark und eingängig empfand. Letztlich kennt jeder Zeitungskolumnist, jeder Redenschreiber und jeder Kabarettist diesen mitunter quälenden Schaffenszwang unter dem Druck des pünktlichen Ablieferns. Natürlich wirkte bereits all das auch auf Lutz Bachmann, den PEGIDA-Mitbegründer und Chefredner. Zwar muss man ihm zugestehen, dass der politisch ungeschulte Metzgersohn Bachmann über einen recht langen Zeitraum eine Kernzuhörerschaft an sich und damit auch an die Protestbewegung zu binden vermochte, und doch befand er sich als Bühnenredner früh in einem populistischen Dilemma. Denn der Straßenpopulist muss das Gesagte der Vorwoche regelmäßig überbieten, muss ein weiteres beziehungsweise neues Tabu brechen, muss seine Attacken gehäuft und mit ansteigender Härte fahren, um erkannt, anerkannt und bekannt zu werden und zu bleiben.2 Selbst düsterste Gesellschaftsbilder müssen sich weiter verdunkeln. Die Provokation duldet kein Innehalten,3 wie der Soziologe Rainer Paris schreibt und damit auf die zwangsläufige Rastlosigkeit des Populisten hinweist, der, will er auch weiterhin wirken, stets nachlegen, sich immer wieder übertrumpfen, neue Aufgeregtheiten inszenieren und skandalisieren muss, um öffentliches Interesse zu schaffen und Laufkundschaft zu binden. Wie im Zeitraffer war im Jahr 2015 zu beobachten, wie dieser Zugzwang arbeitete und wie das »Orga-Team« um Bachmann versuchte, die eigene Protestbewegung neu zu bewegen und Öffentlichkeit durch Provokation herzustellen. Man präsentierte beispielweise im April 2015 in Dresden als Stargast den Niederländer Geert Wilders. Bachmann
135
136
II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
hatte mindestens 30.000 Menschen angekündigt, die die Rede des Vorsitzenden der Partij voor de Vrijheid würden hören wollen; höchstens ein Drittel davon, so berichteten die Medien hinterher, kamen tatsächlich. Im dunklen Anzug und mit blauer Krawatte begrüßte Bachmann »unseren Ehrengast« überschwänglich, verbeugte sich vor ihm auffällig häufig. Doch Wilders’ Rede verpuffte. Wer an diesem Tag die Kundgebung in der Dresdner Flutrinne beobachtete, blickte während Wilders’ Auftritt zumeist in misstrauische Gesichter. Zu fremd blieb den Pegidisten der wasserstoffblonde Niederländer. Nicht vielen leuchtete – im Gegensatz zum »OrgaTeam« – offenbar ein, inwiefern der Mann aus Den Haag PEGIDA in Dresden nahestehe, wichtig sei, Bedeutendes zu sagen habe. Zudem betrachtete PEGIDA auch die Kommunalpolitik als Profilierungs- und Polarisierungsfeld. Bereits im Februar 2015 hatte Bachmann erklärt, einen eigenen PEGIDA-Kandidaten zur Dresdner Oberbürgermeisterwahl zu nominieren – eine Ankündigung, die (bundesweit) für Schlagzeilen sorgte, Aufmerksamkeit schaffte, PEGIDA ein neues Thema bot und zugleich als frühe Institutionalisierungsbestrebung betrachtet werden kann. Bis in den Juni hinein mobilisierte PEGIDA rund um die OB-Wahl, ehe Kandidatin Tatjana Festerling bekanntgab, zur zweiten Wahlrunde nicht mehr anzutreten. Im ersten Durchgang war sie auf beachtliche zehn Prozent der Stimmen gekommen. Die Anzahl der Demonstrationsteilnehmer sank indes parallel dazu. Laut der Initiative »Durchgezählt« nahmen am 22. Juni 2015 1800 Menschen am »Abendspaziergang« teil – weder zuvor noch danach waren es je weniger.4 Auch mit (der Ankündigung) der Verlegung der eigenen Demonstrationsorte in andere Stadtteile versuchte PEGIDA, zu mobilisieren und zu provozieren. So zog man zuletzt im Frühjahr 2016 beispielsweise durch das alternativ-studentisch geprägte Dresdner Stadtviertel Neustadt. »Linksextreme Gewalt bekämpfen am Ort seiner Entstehung«, lautete das Motto an diesem Tag. Am deutlichsten brach sich jedoch in den Reden selbst eine zunehmende Verschärfung des Tons, ja eine rhetorische Radikalisierung der Frontleute um Bachmann Bahn. Als Bachmann laut Anklage der Staatsanwaltschaft Dresden im September 2014 in mehreren Kommentaren auf Facebook Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber unter anderem als »Gelumpe«, »Dreckspack« und »Viehzeug« beschimpfte, so fand das seinerzeit im Internet statt. Im Verlauf des Jahres 2015 wurden dergleichen Ausfälle und Beleidigungen auch vom Rednerplatz während PEGIDA-Kundgebungen verbreitet – in einer zunehmend aufgeputschten
L. Geiges: Nach dem Hype
Stimmung. Während einer Kundgebung vor der Frauenkirche bezeichnete Bachmann Bundesjustizminister Heiko Maas beispielsweise als den »schlimmsten geistigen Brandstifter« seit Joseph Goebbels und Karl-Eduard von Schnitzler. Angela Merkel sei eine »Diktatorin« – und Dresden nunmehr »das Zentrum des Widerstandes«. Dieser Begriff – Widerstand – hat sich ohnehin mehr und mehr zur Begleithymne des Protestes entwickelt – aus hunderten Kehlen gebrüllt, von Bachmann und Co. regelmäßig intoniert. Den Höhepunkt der verbalen Ausfälle erreichte man im Oktober, als das »Orga-Team« Akif Pirinçci als Gast zu PEGIDA holte. Der Kölner Schriftsteller, der sich schon vielfach islamfeindlich geäußert hat, sagte in Dresden mit Blick auf die »Asylkrise«: »Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZ’s sind ja leider außer Betrieb.« Zusammengefasst: Zu beobachten war die Bestrebung, die eigenen Aktionsformen mit dem Ziel der erweiterten Provokationen zu modulieren, um dadurch Öffentlichkeit zu erreichen sowie die Anhängerschaft zu binden. Einher ging dies mit einer Radikalisierung in der Rhetorik der PEGIDA-Frontleute und Bühnenredner, was der deutlichste Ausdruck dieser Entwicklung war. Den vormals betont bürgerlichen Charakter legte man zusehends ab.
2. Aus Brandreden wurde Brandstiftung? Zur Radikalisierung (im Umfeld) von PEGIDA 2015, ein trauriges Rekordjahr: Durchschnittlich an jedem dritten Tag brannte eine Flüchtlingsunterkunft. 126 Brandanschläge dokumentierten die Amadeu-Antonio-Stiftung und Pro Asyl. Insgesamt erfassten sie 528 Übergriffe auf Wohnheime von Asylbewerbern. Das Bundeskriminalamt zählte sogar 924 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte – mehr als viermal so viele wie im Vorjahr. Die neue Gewalt ist ein bundesweites Phänomen. Die Zahl der Fälle liegt jedoch in Sachsen am höchsten – sowohl absolut als auch relativ gemessen an der Bevölkerung. Parallel dazu fanden in keinem Bundesland mehr asyl-, flüchtlings- und integrationskritische Demonstrationen, Aufzüge rechter Gruppierungen, die teils spontan, teils gezielt Blockaden und Platzbesetzungen initiierten, sowie pöbelnde hetzende Mobs im Umfeld von (geplanten) Flüchtlingsunterbringungen statt. Hierfür stehen u.a. die sächsischen Orte Freital, Heidenau und Clausnitz.5 Spätestens seit der Einleitung von Ermittlungen gegen die Freitaler »Bürgerwehr FTL/360« samt Festnahmen wegen
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des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung dürfte überdies klar sein, dass Rechtsextremisten Bürgerwehren als neues Mittel zur Erlangung lokaler Deutungshoheit entdeckt haben, sie als Strategie zur Errichtung »national befreiter Zonen« betrachten. Die bundesweit zunehmende Zahl an Bürgerwehren kann – je nach Perspektive – als ein Indiz für eine »Verbürgerlichung« des bewegungsförmigen Rechtsextremismus beziehungsweise als ein Anzeichen für eine Radikalisierung der bürgerlichen Mitte betrachtet werden.6 Neben PEGIDA – oder wegen PEGIDA? – haben sich zudem in Ostsachsen eine regelrechte »Nein-zum-Heim«-Bewegung sowie mehrere lokale »asylkritische« Protestgruppierungen formiert, die örtlich beachtliche Mobilisierungserfolge erzielten. Beispielhaft zu nennen ist die Gruppierung »Wir sind Deutschland« aus dem Vogtlandkreis, die zu ihren »Sonntagsdemonstrationen« bis zu 6000 Menschen auf den Plauener Marktplatz brachte. Kurzum, die Frage lautet: Inwiefern steht die zunehmend radikale Rhetorik, ausgehend von den durch Demonstrationen hochmobilisierten Aktivräumen, im Zusammenhang mit tatsächlich gewalttätigen Aktionen – löst Erstere Letztere aus, bereitet sie ihnen legitimierend den Boden? Die Antwort: Wir wissen es (noch) nicht. Es lassen sich bislang nur Hinweise zusammentragen. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat im November 2015 unter PEGIDA-Demonstranten erneut eine Umfrage durchgeführt.7 Von den 1800 verteilten Fragekatalogen kamen mehr als 600 ausgefüllte Exemplare zurück, die Einblicke in die Zusammensetzung der Demonstrantengruppe an diesem Tag sowie – verglichen mit vorangegangenen Befragungen – Erkenntnisse darüber liefern, wie sich Auffassungen und Ansichten der Befragten verändert haben. Natürlich lassen sich keine für alle PEGIDA-Anhänger repräsentativen Aussagen treffen, sondern nur über die Motive der Personen, die uns Auskunft erteilten – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Gut sechzig Prozent der Teilnehmer der PEGIDA-Versammlung Ende November 2015 – also noch vor den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht – sprachen sich für den Imperativ zur Selbstermächtigung aus. Sie stimmten der Aussage zu »Wenn der Staat uns im Stich lässt, sollten wir die Dinge selbst in die Hand nehmen.« Fast jeder zweite Befragte gab an, angesichts der Situation im Land Verständnis dafür zu haben, falls einige Bürger »die Beherrschung verlieren« sollten. Franz Walter kommentierte diese Befunde Anfang 2016 noch recht vorsichtig: »Ein gutes Stück Radikalisierung jenseits der Rechtsstaatlichkeit
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ist unverkennbar.«8 Tatsächlich erscheinen die Bereitschaft zur Selbstermächtigung, die Absicht zur »Selbstverteidigung« als vermeintlich letztes Mittel, um die heimatliche Ordnung aufrechtzuerhalten, und der Wille, im Zweifel »denen zu zeigen, wie es geht« unter PEGIDA-Unterstützern stark ausgeprägt zu sein. Von PEGIDA aufgegriffen und befeuert – oder vielleicht überhaupt erst als Leiterzählung implementiert? – machten sich so im Oktober Anhänger der Protestbewegung auf den Weg ins sächsische Sebnitz an der Grenze zu Tschechien und hatten vor, dort eine Menschenkette, eine »lebende Grenze« zu bilden, um Flüchtlinge zu stoppen, was jedoch nicht gestattet wurde. Sie zogen daher unter dem Motto »Wir helfen beim Grenzbau« durch den Ort. Von verschiedenen PEGIDA-Organisatoren ist überdies bekannt, dass sie sich in Bürgerwehren einbringen, patrouillierend durch Wohnsiedlungen ziehen. Als Ausdruck einer inneren Radikalisierung von PEGIDA kann auch der von Demonstranten auf einer Kundgebung im Oktober 2015 mitgeführte Galgen mit der Aufschrift »Reserviert Siegmar ›das Pack‹ Gabriel« sowie »Reserviert Angela ›Mutti‹ Merkel« betrachtet werden. Aus Abwertungen, Schmähungen und Diffamierungen sind öffentliche Gewaltandrohungen geworden, die von der Demonstrationsversammlung nicht sanktioniert wurden, als Aufforderung zum Vollstrecken gelesen und verstanden werden konnten, vielleicht sogar als solche intendiert worden waren. Dass den Politikernamen »Gabriel« und »Merkel« hier eine Stellvertreterfunktion zukommt, sie exemplarisch als prominenteste Repräsentanten der »Volksverräter« und der »Politikerkaste« insgesamt stehen, kommt hinzu. In keinem Jahr wurden mehr Wahlkreisbüros von Unbekannten entglast als 2015. Nochmal: Wer bei Bürgerwehren mitläuft, »aktiven Nachbarschaftsschutz« betreibt, ankommende Busse mit Schutzsuchenden blockiert, der Bundeskanzlerin auf einem Demonstrationsplakat den Tod wünscht, schmeißt nicht automatisch Brandsätze in Flüchtlingsheime. Jedoch ist zu konstatieren, dass PEGIDA die Grenze zwischen Wort und Tat gezielt aufgeweicht und Sagbarkeitsfelder stetig verschoben hat, zudem die Bereitschaft, zur Tat zu schreiten, unter ihrer Anhängerschaft zu (re-)aktivieren und zu schüren versucht sowie mittels deutungsoffener Symbolsprache zur offenen Aktion aufgerufen hat. Auffallend ist dabei auch, dass Aktionen des zivilen Ungehorsams, Demonstrationsformen, die vormals allein auf der bewegungspolitischen Linken zu finden waren, spätestens seit PEGIDA im rechten Spektrum ebenfalls einen festen Platz besitzen. Dass PEGIDA-Versammlungen auch einen Treffpunkt für
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mutmaßliche Gewalttäter und einen Rekrutierungsort für rechtsextreme Gruppierungen darstellten, darf mittlerweile als gesichert betrachtet werden. Hier geben Gerichtsverfahren interessante Einblicke. Im Juni 2016 standen beispielsweise zwei 18-jährige Dresdner vor Gericht. Ihnen wurde vorgeworfen, ein Jahr zuvor »linke Gruppen« in der sächsischen Landeshauptstadt gezielt aufgesucht und verprügelt zu haben. Zudem sollen die beiden jungen Männer, die der rechtsextremen »Freien Kameradschaft Dresden« angehörten, im August 2015 Steine und Böller auf eine Asylbewerberunterkunft im Dresdner Stadtteil Stetzsch geworfen haben.9 Die Männer berichteten während des Prozesses, dass sie am Rande der PEGIDA-Demonstrationen mit der rechten Kameradschaft in Kontakt gekommen seien. Der eine, weil er nach seinem langen Drogenentzug in der Gruppe Leute gefunden habe, die auf ihn aufpassten, wie er sagte. Der andere, weil er zweimal am Hauptbahnhof »von Ausländern« zusammengeschlagen und verletzt worden sei. Die Männer berichteten, sich im Umfeld von PEGIDA-Veranstaltungen gezielt an ihren »politischen Gegnern«, an »den Linken«, die mehrfach Autos von PEGIDA-Teilnehmern angezündet hätten, mit eigenen Aktionen hätten rächen wollen. Einer der Männer fasste zusammen: »Wir wollten provozieren.«
3.5 Alternative Freunde – 5 zur Institutionalisierung von PEGIDA Es scheint paradox: Mit der inneren Radikalisierung, dem Ruf zur Selbstermächtigung und den Aktionen auf der Straße ging zugleich eine Institutionalisierung PEGIDAs einher. Zum einen ist hier – wenn auch auf einer vorgelagerten Ebene – das Bemühen PEGIDAs zu nennen, eine Rolle im Dresdner Oberbürgermeisterwahlkampf zu spielen, wie oben bereits erwähnt. Zum anderen hat sich PEGIDA im Jahr 2015 zusehends für Teile der Partei Alternative für Deutschland (AfD) geöffnet. Betonten die PEGIDA-Akteure vormals ihre Eigenständigkeit, ihre Unabhängigkeit von allen Parteien und jedweder politischen Gruppe, war ab Ende 2015 ein beidseitiger Annäherungsprozess zu beobachten. AfD-Politiker taten vermehrt kund, in PEGIDA eine natürliche Verbündete zu sehen, eine Art Vorfeldorganisation der eigenen Partei, die man selbst vor allem als »fundamentaloppositionelle Bewegungspartei« (Björn Höcke) betrachte. Und PEGIDA öffnete sich ihrerseits (wieder) für die AfD, nachdem Partei und Protestbewegung bereits im Winter 2014/2015 Gemeinsam-
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keiten ausgelotet hatten, Bachmann sich aber mit der damaligen sächsischen Landeschefin und späteren Bundessprecherin der Partei Frauke Petry überwarf. Mit dem parteiinternen Bedeutungsgewinn des rechten AfD-Flügels um den Thüringer Parteivorsitzenden Björn Höcke im Zuge des Schismas vom Essener Bundesparteitag im Sommer 2015 nahmen auch die Kontakte von AfD und PEGIDA wieder zu. »Es gibt eine große Schnittmenge«, machte Bachmann zuletzt auf einer PEGIDA-Demonstration im März 2016 deutlich. Aus PEGIDA müsse eine Partei werden, um mit der AfD »auf Augenhöhe« über Listenverbindungen nach dem Vorbild des Zusammenschlusses der Bürgerrechtler des Bündnisses 90 und der Partei Die Grünen zu verhandeln. 10 Hier die angekündigte Parteiwerdung PEGIDAs, dort die innere Radikalisierung von Teilen der Anhängerschaft. Was auf den ersten Blick widersprüchlich scheint, gehört jedoch zusammen, bedingt sich – denn das eine befördert das andere. Positionieren sich auf der einen Seite Teile des Protestes zunehmend radikaler, fordern Strikteres, appellieren an den Gründungsimpetus, formiert sich zudem über die Dauer ein weiterer »harter Kern«, aus dem heraus stabil und lautstark nach der Einhaltung der unverfälschten, der reinen Lehre des Anfangsmomentes verlangt wird, bestärkt dies auf der anderen Seite auch diejenigen, denen an Transformation gelegen ist, die den Protest auf die nächste Ebene bringen möchten, die nicht selten das Gefühl haben, mit dem auf Dauer gestellten Widerspruch auf den Plätzen der Stadt doch nicht mehr so recht etwas bewegen zu können. Zudem sorgen der helle Scheinwerfer des Interesses, den die Medien auf größere Protestbewegungen richten – im Falle PEGIDAs war die mediale Nachfrage enorm – sowie eine personalisierende Berichterstattung, die auf die führenden Köpfe fokussiert, oft für internen Streit. Die vielbefragten Sprecher des Protestes finden nicht selten Gefallen daran, für eine gewisse Zeit eine Rolle im überregionalen politisch-medialen Aufmerksamkeitsbetrieb zu spielen. Teile der Anhängerschaft fühlen sich indes rasch von ihren Äußerungen, insbesondere zum schwierigen Thema der Parteinähe, nicht (mehr) recht vertreten, sondern bevormundet, vereinnahmt. Ein Konfliktstoff, der Protestbewegungen zersetzen kann. Das heterogene oppositionelle Sammelbecken wird dann in seine Einzelbestandteile dividiert, was eine Dynamik in Gang setzt, die es vormals noch fest miteinander verwobenen beteiligten Protestgruppen ermöglicht, radikalere Forderungen (als zuvor) zu äußern oder stärker (als zuvor) die Zusammenarbeit mit Parteien zu avisieren.
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Der Protest ist gespalten. Einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der die Gruppen disziplinieren würde, gibt es dann nicht mehr. Wobei mit dem Aufkommen der Debatte um die »Flüchtlingskrise« im Spätsommer 2015 dieses eine, den Protest neu entfachende Großthema gekommen schien. Hatten sich zuvor nur noch weniger als 3000 Menschen bei PEGIDA versammelt, nahmen die Teilnehmerzahlen in der Folge wieder zu. Mitte Oktober konnte nochmals (und bis dato letztmals) eine fünfstellige Demonstrantenzahl vermeldet werden. Doch profitierten letztlich nicht PEGIDAs Straßenproteste, sondern vor allem die AfD politisch von der »Flüchtlingskrise«. Bereits Anfang September – just auf dem Höhepunkt der Ereignisse in den Bahnhöfen in München, Frankfurt oder Dortmund, die als neue deutsche »Willkommenskultur« gedeutet und gefeiert wurden, startete die Partei mit ihrer »Herbstoffensive 2015« unter dem Motto »Asylchaos & Eurokrise stoppen« eine bundesweite Demonstrationskampagne und rief ihrerseits zu Kundgebungen und Protestmärschen auf, die vor allem in Ostdeutschland PEGIDA-ähnlich strukturiert waren und beispielsweise in Erfurt beachtliche Mobilisierungserfolge erzielten. Die AfD ist zur Repräsentantin derjenigen geworden, die mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik nicht einverstanden sind; die Partei hat dieses in PEGIDA früh angelegte und frei flottierende Potential längst absorbiert.11 Aber vielleicht haben die Annäherungen von PEGIDA an die AfD ja auch nur nachholenden Charakter. Rund neunzig Prozent der PEGIDA-Anhänger hatten schon im Januar 2015 angegeben, bei der nächsten Bundestagswahl für die AfD zu votieren.12
S tatt eines F a zits : P ol arisierte G esellschaf t und neue K onfliktlinien War’s das also? Mit Blick auf PEGIDA als Protestphänomen vermutlich ja. Die »Abendspaziergänger« dürften sich ausgelaufen haben – bis auf einen letzten kleinen Kern, der sektiererisch durchhalten wird. Die Polarisierung der Gesellschaft, zu der auch PEGIDA beitrug, dauert hingegen an, schreibt sich fort. Das Beispiel der PEGIDA-Proteste zeigt, dass wir es möglicherweise mit einem neuen Cleavage, einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie zu tun haben könnten. Auf der einen Seite stehen die »neuen Kosmopoliten«, die der Zukunft optimistisch entgegenblicken – sowohl in Bezug auf ihre eigene Entwicklung als auch auf die Richtung der
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Gesellschaft insgesamt. Diese Gruppe, zu der zweifelsohne die Aktivisten von NO-PEGIDA zu zählen sind,13 profitiert von den neuen Möglichkeiten der Internationalisierung und genießt die Globalisierung des kulturellen Lebens. Auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, die ihre eigenen Lebenschancen und Aufstiegsmöglichkeiten – und die ihrer Kinder – weit weniger optimistisch beurteilen. Diese Menschen sind besonders pessimistisch oder wütend über die in ihren Augen enormen Veränderungen, die ausländische Arbeitskräfte und Immigration auf den heimischen Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft bewirken. Und sie misstrauen Politikern und Parteien zutiefst. Dabei scheinen nicht nur die Globalisierung, sondern auch neue Technologien diese soziale, kulturelle und psychologische Kluft vertieft zu haben. Eine Spaltung, die im Übrigen genau durch die Mittelschichten – und damit genau durch einen Großteil der sozialdemokratischen und christdemokratischen Wählerschaft – verläuft, wie der niederländische Politikwissenschaftler René Cuperus schreibt.14 Auch in den Meinungseliten der Bundesrepublik hat sich eine zuvor nicht gekannte Polarisierung Bahn gebrochen. Intellektuelle wie Jörg Baberowski, Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski positionieren und polemisieren in der Flüchtlingsdebatte mit einer für die eher gemäßigte bundesdeutsche Debattenlandschaft unbekannten Vehemenz, während andere, wie beispielsweise der innenpolitische Ressortleiter der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, ihrerseits mit Verve den Konterpart spielen. Eine Befriedung, eine Einhegung der Konflikte scheint nicht in Sicht, was vor allem am Hauptgegenstand der Debatten liegt: Fragen der Zugehörigkeit lassen sich auf demokratische Weise nur schwierig lösen, denn schließlich ist die dafür vorab zu klärende Frage (Wer gehört zum demos?) ja gerade die Frage, um die gestritten wird. Wahrlich, eher düstere Aussichten.
A nmerkungen 1 2 3 4
Vgl. Geiges/Marg/Walter 2015. Vgl. Walter 2014, S. 6f. Vgl. Paris 1998, S. 57ff. Vgl. Initiative Durchgezählt: Statistiken zu PEGIDA in Dresden, https://durchgezaehlt.org/PEGIDA-dresden-statistik/ [eingesehen am 15.06.2016]. 5 Vgl. Walter 2015 a, b.
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6 Heitmeyer (2012, S. 35) spricht von einer »Entkultivierung des Bürgertums«, von der Formierung einer »rohe[n] Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle wähnt und deshalb schwache Gruppen ostentativ abwertet«. 7 Hier wie im Folgenden vgl. Finkbeiner et al. 2016. 8 Hier vgl. Walter 2016. 9 Vgl. Schneider 2016. 10 Vgl. Die Welt 2016. 11 Vgl. dazu auch Hensel et al. 2016. 12 Zu den frühen Kontakten zwischen PEGIDA und AfD vgl. Geiges/ Marg/Walter 2015, S. 151-161. 13 Vgl. Marg et al. 2015. 14 Vgl. Cuperus 2015, S. 155 f.; 2014.
L iter atur Cuperus, René (2015): Wie die Volksparteien (fast) das Volk einbüßten – Warum wir den Weckruf des Populismus erhören sollten, in: Hillebrand, Ernst (Hg.): Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie? Bonn, S. 149-158. Cuperus, René (2014): Das Versagen der selbstgerechten Etablierten. Berliner Republik 6/2014, www.b-republik.de/archiv/das-versagen-derselbstgerechten-etablierten [eingesehen am 15.06.2016]. Die Welt (2016): Pegida-Chef Bachmann sucht Schulterschluss mit AfD. Die Welt, 01.03.2016, www.welt.de/politik/deutschland/article1 5791635/Pegida-Chef-Bachmann-sucht-Schulterschluss-mit-AfD. html [eingesehen am 08.06.2016]. Finkbeiner, Florian/Schenke, Julian/Trittel, Katharina/Schmitz, Christopher und Marg, Stine (2016): PEGIDA: Aktuelle Forschungsergebnisse, 31.01.2016, www.demokratie-goettingen.de/blog/PEGIDA-2016studie [eingesehen am 08.06.2016]. Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz (2015): Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld. Heitmeyer, Wilhelm (2012): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: Ders. (Hg.), Deutsche Zustände. Band 10. Berlin, S. 15-41.
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Hensel, Alexander/Geiges, Lars/Pausch, Robert/Förster, Julika (2016): Die AfD vor den Landtagswahlen 2016. Programme, Profile und Potenziale, OBS-Arbeitspapier 20, Frankfurt a.M. Marg, Stine/Katharina Trittel/Christopher Schmitz/Julia Kopp/Franz Walter (2015): NoPegida. Die helle Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld. Paris, Rainer (1998): Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt a.M., S. 57ff. Schneider, Alexander (2016): Losgesagt von den »Freien Kameraden Dresden«. Sächsische Zeitung, 01.06.2016, http://m.sz-online.de/ nachrichten/losgesagt-von-den-freien-kameraden-dresden-3409252. html [eingesehen am 08.06.2016]. Walter, Franz (2014): Bastarde der Demokratisierung? Göttinger Themenhefte zu Zeitfragen von Politik, Gesellschaft und Sozialkultur, 1/2014, S. 6-11. Walter, Franz (2015a): Ausgerechnet Freital. Sächsische Zeitung, 08.02.2015, www.sz-online.de/sachsen/ausgerechnet-freital-3032669. html [eingesehen am 15.06.2016]. Walter, Franz (2015b): Modellstadt der SPD: Die Tragödie von Freital. Spiegel Online, 27.06.2015, www.spiegel.de/politik/deutschland/frei tal-vom-spd-modell-zur-protest-hochburg-a-1040775.html [eingesehen am 15.06.2016]. Walter, Franz (2016): Männlich, über 50, verheiratet, konfessionslos. Spiegel Online, 31.01.2016, www.spiegel.de/politik/deutschland/PEGIDA-wer-geht-zu-den-demos-und-warum-gehen-sie-auf-die-stras se-a-1074028.html [eingesehen am 08.06.2016].
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Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist Piotr Kocyba
Zusammenfassung In dem Artikel zeigt der Autor anhand der Studie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (deren Mitverfasser er war), wie sehr es sich bei PEGIDA um eine rechtspopulistische bis -extreme Bewegung handelt, deren Teilnehmer weitgehend einen antiislamischen Rassismus verinnerlicht haben. Deshalb ist Darlegungen zu widersprechen, die in PEGIDA eine harmlose Bewegung der bürgerlichen Mitte sehen.
Abstract On the basis of a study conducted by the Institut für Protest- und Bewegungsforschung its co-author Piotr Kocyba discusses in this article to what degree PEGIDA must be recognized as a right-wing populist if not extremist movement whose members largely harbor anti-Islamic racist thoughts. Accordingly, the characterization of PEGIDA as a harmless civic movement is to be contested.
These I: Eine pauschale Kritik an PEGIDA provozierte einen ›Verteidigungsreflex‹. PEGIDA hat nicht nur Empörung und Kritik hervorgerufen. Es gab auch Stimmen, die (richtigerweise) darauf verwiesen, dass PEGIDA differenziert zu betrachten ist, dass pauschale Verunglimpfungen der Demonstranten als »Schande für Deutschland« (Heiko Maas, Bundesjustizminister) oder als »Neonazis in Nadelstreifen« (Ralf Jäger, Innenminister NRW) dem Dresdner Phänomen nicht gerecht werden. Auch wenn gleichzeitig
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Versuche einer Dialogaufnahme unternommen wurden (etwa durch den Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel oder den sächsischen Innenminister Markus Ulbig), hatten polemische Reaktionen namhafter Politiker nicht nur den kritischen Hinweis auf die Heterogenität der Protestierenden zur Folge. Die PEGIDA-Schelte löste v.a. bei Dresdner Beobachtern eine Art ›Verteidigungsreflex‹ aus. Anstatt aber dem ›Nazivorwurf‹ entgegenzuhalten, dass islamfeindliche oder rassistische Einstellungen nicht ausschließlich unter ›Neonazis‹, sondern auch (leider allzu häufig) in der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft vorzufinden sind,1 wurde von verschiedenen Seiten den PEGIDA-Demonstranten attestiert, sich an einer harmlosen Bürgerbewegung ›ganz normaler Leute‹ zu beteiligen. So erklärte Frank Richter, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, öffentlichkeitswirksam bei Günther Jauch: »Meiner Wahrnehmung nach sind 90 % der dort Mitlaufenden tatsächlich besorgte Bürger, die sich viele Gedanken machen.« Inwieweit es sich bei den »vielen Gedanken« um rassistische oder islamfeindliche Vorurteile handelt, scheint hier weniger von Belang zu sein. Anders formuliert: Es genügt anscheinend Rassismus als Sorge zu etikettieren, um sich daran nicht mehr zu stoßen. Dem muss aber zweierlei entgegen gehalten werden: Erstens nimmt nicht jeder »besorgte Bürger« an islamfeindlichen Veranstaltungen Seite an Seite mit Rechtsextremen teil – um bei PEGIDA aktiv zu werden, bedarf es neben den »Sorgen« wohl auch einer rassistischen Disposition. Zudem werden die Demonstranten durch die Betonung der (angeblichen) »Sorgen« zu Opfern stilisiert: Wer sich nämlich aus »Sorgen« heraus »Gedanken« macht – so Richters Botschaft –, der sollte nicht für rassistische Parolen kritisiert, sondern angehört und mit seinen »Sorgen« ernstgenommen werden. In der Konsequenz sind es nicht die Opfer rassistischer Agitation, sondern PEGIDA-Anhänger, denen Aufmerksamkeit zukommt und für die Verständnis eingefordert wird. Aus dieser Haltung heraus hat sich die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung zunächst nicht den in Dresden wohnhaften Migranten (und solchen, die für Migranten gehalten werden), sondern den PEGIDADemonstranten zugewandt; als beispielhaft hierfür kann etwa die vielfach kritisierte Pressekonferenz PEGIDAs gelten, welche am 19.01.2015 in den Räumlichkeiten der Landeszentrale abgehalten werden durfte.
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
These II: Die Feststellung, dass sich PEGIDAs Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft rekrutieren, stellt keinen Grund für eine Verharmlosung dar. Ähnlich wie Richter argumentieren auch Hans Vorländer und Werner Patzelt, beide Politikwissenschaftler der Technischen Universität Dresden, die unabhängig voneinander Erhebungen unter den Anhängern PEGIDAs durchgeführt haben. Patzelt etwa behauptet, bei den Demonstrationen handele es sich um »normales Volk« (Patzelt 2015: 14), fänden sich mehrheitlich »besorgte, doch gutwillige Bürger« zusammen (ebd.: 22).2 Als Grund zur Entwarnung dienen auch soziodemographische Daten, denen zufolge sich die PEGIDA-Demonstranten nicht »vorrangig [vom] sozialen bzw. sozioökonomischen Rand der Gesellschaft« rekrutieren (Vorländer/Herold/Schäller 2015: 50). In der Tat haben alle bislang durchgeführten empirischen Untersuchungen bestätigt, dass die an wissenschaftlichen Erhebungen teilnehmenden Anhänger PEGIDAs über ein überdurchschnittliches Einkommen und eine überdurchschnittliche Ausbildung verfügen. Kann aus dieser Beobachtung jedoch der Rückschluss gezogen werden, PEGIDAs Unterstützer seien einfach nur »normale Leute« bzw. »gutwillige Bürger« mit harmlosen und in Teilen legitimen Anliegen? Ganz im Gegenteil: Es ist durchaus heikel, normative Zuschreibungen aufgrund etwa der Höhe des Einkommens oder des Bildungsabschlusses vorzunehmen. Wenn in empirischen Studien Argumente gegen den Vorwurf des Rechtsextremismus oder des Rassismus vorgebracht werden, dann helfen soziodemographische Daten kaum weiter. Zwar können tendenziell bei weniger gut gebildeten Personen häufiger rassistische Positionierungen ausgemacht werden, doch kann daraus nicht automatisch der Rückschluss gezogen werden, im Falle des gebildeten PEGIDA-Demonstranten habe man es deshalb nicht mit Rassismus zu tun. Vielmehr müssten hier die entsprechenden Einstellungsmerkmale erfragt und im Vergleich zu bundesweit erhobenen Studien interpretiert werden. Es kann nämlich durchaus sein, dass im Falle der PEGIDA-Demonstranten (extrem) rechtes und rassistisches Gedankengut von Personen mit höheren Bildungsabschlüssen und besseren Einkommen überproportional häufig verinnerlicht wurde. Im Folgenden wird deshalb auf Grundlage der Studie Protestforschung am Limit (deren Mitverfasser der Autor dieses Artikels war) gezeigt, wie sehr die Anhängerschaft PEGIDAs vom Bundesdurchschnitt nach rechts hin abweicht.
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These III: Die Demonstranten PEGIDAs sind nicht nur kein »normales Volk« – sie unterscheiden sich erheblich von denen anderer Protestbewegungen. Bevor auf die gerade angedeutete Affinität PEGIDAs zu rechten und rassistischen Einstellungen eingegangen wird, soll nochmals der Begriff der »Normalität« aufgegriffen werden. Mögen die soziodemographischen Daten, die auf die Positionierung der auskunftswilligen Anhängerschaft PEGIDAs in der Mitte der Gesellschaft hindeuten, für Vorländer u.a. oder Patzelt ein schlagendes Argument gegen eine (angeblich) ungerechtfertigte Abwertung PEGIDAs sein; sie zeugen weder von »Normalität« (bessergestellte Personen als »normal« zu klassifizieren ist höchst problematisch), noch stellen sie für Protestforscher eine nennenswerte Auffälligkeit dar. Während also etwa Vorländer u.a. den hohen Bildungsstand und die gute Einkommenssituation vor dem Hintergrund der medialen Darstellung PEGIDAs für »bemerkenswert« halten (Vorländer/Herold/ Schäller 2015: 46, 47), zeigt bereits ein oberflächlicher Blick auf Studien zu anderen Protestbewegungen, »dass in der Bundesrepublik v.a. diejenigen auf die Straße gehen, die durch hohe Bildungsabschlüsse und ein überdurchschnittliches Einkommen privilegiert sind.« (Daphi u.a. 2015: 11) Zwar ist das Bildungsniveau der Befragten PEGIDA-Demonstranten tatsächlich höher als bei anderen Protesten, doch gibt es andere, viel auffälligere Besonderheiten, die PEGIDAs Anhänger von anderen Protestbewegungen unterscheiden. Im Kontext der soziodemographischen Zusammensetzung ist hier v.a. auf den vergleichsweise überproportional hohen Männeranteil hinzuweisen. Auch wenn laut aller bislang durchgeführten Studien Männer weit mehr als 70 % der Demonstranten ausmachen, wurde diesem Umstand in wissenschaftlichen Beschreibungen bislang kaum Beachtung geschenkt, obschon es von substanzieller Bedeutung für den für PEGIDA typischen Habitus (sowie dessen Extremismus) ist.3 Auf jeden Fall entspricht diese Männerdominanz weder der Zusammensetzung des »normalen Volks«, noch der anderer Demonstrationen, auf denen das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ausgeglichener war (Daphi u.a. 2015: 11f.). PEGIDA divergiert v.a. aber in einem weiteren, für die Protestforschung zentralen Punkt von anderen Protestbewegungen: Und zwar in der nicht selten feindselig zum Ausdruck gebrachten Verweigerung der
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Demonstranten, an einer wissenschaftlichen Befragung teilzunehmen. Das um Dieter Rucht und das Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung versammelte Team kann (teilweise) auf eine jahrzehntelange Expertise in der Datenerhebung bei Demonstrationen zurückgreifen. Die Erfahrung bislang war, dass »Handzettel bzw. Kuverts mit Fragebogen […] fast ohne Ablehnung nach einem Zufallsprinzip verteilt werden [konnten]«. Auch »die Rücklaufquoten, d.h. der Anteil der Antwortenden unter denen, die einen Fragebogen oder Handzettel erhalten hatten, waren hoch.« (Daphi u.a. 2015: 6) Die Anhängerschaft PEGIDAs verhielt sich in beiden Punkten konträr. V.a. diejenigen Teilnehmer der Studie, die durch das Verteilen der Handzettel PEGIDA-Demonstranten ansprechen mussten, berichteten nicht selten von Feindseligkeiten. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, soll nachstehendes Zitat aus einem Protokoll zur Veranschaulichung herangezogen werden: Als wir mit der Befragung begannen, waren es auch jene, die dieser Erscheinung [eines Rechtsextremen; Ergänzung P.K.] entsprachen, die zu uns zwei bis dreimal in kürzeren Abständen gesagt haben, dass wir uns verpissen und mit dem Scheiß aufhören sollen. Dazu kam noch ein wenig Anrempeln. (Daphi u.a. 2015: 6)
Blieb es bei der Erhebung Januar 2015 meist noch bei verbalen Angriffen, so wurden bei einer strukturierten Demonstrationsbeobachtung zum ersten ›Geburtstag‹ PEGIDAs drei Forscher tätlich angegriffen. 4 Die Demonstranten auf der PEGIDA-Veranstaltung verhielten sich jedoch nicht nur ablehnend (und teilweise aggressiv); sie nahmen ungern Handzettel an und selbst diejenigen, die die Handzettel angenommen haben, beteiligten sich vergleichsweise selten an der Online-Befragung.5 Das widerspricht nicht nur der Logik einer Demonstration – schließlich protestieren Personen deshalb, weil sie öffentlichkeitswirksam ihre Meinung kundtun wollen. Diese Verweigerung divergiert auch mit der bislang beobachteten Bereitschaft zur Kooperation mit Wissenschaftlern. Lagen die Rücklaufquoten bei den Demonstrationen gegen den Irakkrieg (2003), gegen Hartz-IV (2004) und gegen Stuttgart 21 (2010) bei etwa 50 % so haben nur 18,4 % derjenigen Anhänger PEGIDAs den OnlineFragebogen ausgefüllt, die auch einen Handzettel angenommen haben (Daphi u.a. 2015: 8). PEGIDAs Anhängerschaft entspricht also nicht nur nicht dem »Normalbürger« – Demonstranten repräsentieren nie den Durchschnitt der
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Gesamtbevölkerung. Sie stellen aufgrund ihrer weitgehenden Ablehnung der »Geschwätzwissenschaften«6 ungewöhnliche Protestierende dar. Der letztgenannte Unwille zur Kooperation ist aber von zentraler Bedeutung für den Umgang mit den empirischen Befunden. Ohne an dieser Stelle die Diskussion um die Repräsentativität nachzeichnen zu wollen, soll lediglich festgehalten werden,7 dass die erhobenen Daten durch die Verweigerung derjenigen Anhänger PEGIDAs, die wohl dem harten (weil rechten) Kern der Dresdner Bewegung zuzuordnen sind, in die Mitte hin verzehrt sein werden. Anders formuliert heißt das: PEGIDAs ›typischer Demonstrant‹ wird weiter rechtsstehende und noch rassistischere Einstellungen haben, als es die gesammelten Daten ohnehin schon nahelegen. Dies bestätigen auch Vorländer u.a. als beharrlichste Verfechter der Behauptung, ihre Untersuchung PEGIDAs könne Repräsentativität beanspruchen: Durch das geschilderte Phänomen der Antwortverweigerung ist eine systematische Verzerrung unserer Stichprobe in Richtung der moderateren, gesprächsbereiteren, gebildeteren und vermutlich auch politisch weniger rechts stehenden Demonstrationsteilnehmer wahrscheinlich. (Vorländer/Herold/Schäller 2015: 42)
Festzuhalten bleibt also, dass im Folgenden nicht Aussagen über den durchschnittlichen PEGIDA-Demonstranten getroffen werden, sondern lediglich über den (sehr kleinen) Teil, der (wahrscheinlich aufgrund seines Bildungsstandes und seiner moderaten politischen Position) offen genug war, sich an einer Befragung zu beteiligen.
These IV: Selbst die in die Mitte hin verzerrten Antworten offenbaren die immense Rechtslastigkeit und Islamfeindlichkeit PEGIDAs. Ein Zwischenfazit würde also lauten, dass PEGIDAs Anhänger nicht aufgrund ihrer besseren sozioökonomischen Situation »bemerkenswert« sind. PEGIDA ist vielmehr deshalb außergewöhnlich, weil es sich um eine männerdominierte und in Teilen aggressive Protestbewegung handelt, die sich unter einem islamfeindlichen Motto regelmäßig und in einer beachtlichen Teilnehmerzahl versammelt (und sich dabei einer Befragung weitgehend verweigert).8 Deshalb lässt sich PEGIDAs Gefolgschaft erstens kaum als »normales Volk« oder als »besorgte, doch gutwillige Bürger« adäquat beschreiben. Zweitens deutet die bereits im Namen,
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
auf Plakaten wie auf Facebook, durch Redner (bspw. Udo Ulfkotte) und Unterstützer (etwa PI-News oder Identitäre Bewegung) offen zur Schau gestellte Islamfeindlichkeit PEGIDAs darauf, dass man es nicht mit einer harmlosen, sondern einer rechtspopulistischen bis -extremen und in Teilen rassistischen Bewegung zu tun hat. Einen ersten Anhaltspunkt für die Rechtslastigkeit bietet die Frage nach der politischen Selbsteinschätzung auf einer Links-Rechts-Skala, bei der sich immerhin 48,7 % mit der »Mitte« identifizierten (Daphi u.a. 2015: 11). Noch deutlicher fiel dieses Ergebnis bei Patzelt aus, in dessen Erhebungen sich zwischen 60 und 65 % der Befragten »genau in der Mitte« sahen (Patzelt 2015: 18). Diese Gruppe bezeichnet Patzelt aufgrund ihrer Selbstverortung als »gutwillige, doch besorgte Bürger« – eine solche Benennung suggeriert, dass PEGIDA politisch mehrheitlich moderat und damit von Vorwürfen des Extremismus oder Rassismus freizusprechen ist. Dagegen muss aber eingewendet werden, dass die Selbstverortung einer befragten Gruppe keine Aussagen über ihre tatsächliche Einstellung, sondern über ihr Selbstbild erlaubt. Wenn sich also PEGIDAs Anhänger mehrheitlich mit der politischen Mitte identifizieren, dann kann daraus nicht einfach gefolgert werden, dass PEGIDA eine harmlose Bürgerbewegung ist; vielmehr müsste gefragt werden, was PEGIDA-Demonstranten unter der »Mitte« verstehen. Darauf, dass es sich um eine verzerrte politische Selbsteinschätzung handelt, deutet allein der Anteil derjenigen PEGIDA-Anhänger hin, die sich rechts der Mitte positionierten: In der Studie des Protestinstituts haben sich 33,3 % als »Rechts« und 1,7 % als »Extrem rechts« bezeichnet (Daphi u.a. 2015: 11). Bereits ein flüchtiger Blick zeigt, dass das linke politische Spektrum hier völlig unterrepräsentiert ist (»Linke« und »Extrem Linke« machen zusammen weniger als 10 % der Befragten aus). Die Dominanz rechter Einstellung bestätigt auch der Vergleich der Ergebnisse mit bundesweit erhobenen Daten. Allein die 33,3 %, die sich »rechts« der Mitte sehen, fallen »im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit 13,7 % laut ALLBUS 2004 und 9,6 % laut European Social Survey 2012« etwa drei Mal so hoch aus (Daphi u.a. 2015: 21). Die Feststellung einer auffälligen Verschiebung der Selbstpositionierung nach rechts hin erlaubt aber noch keine Aussage darüber, wie rechts PEGIDAs Mitte ist. Dazu können etwa die Wahlpräferenzen der Anhänger PEGIDAs herangezogen werden. Hierbei zeigt die überragende Rolle, die die Alternative für Deutschland (AfD) für die Dresdner Demonstranten hat, wie weit rechts die »gutwil-
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
lige, doch besorgte« Mitte PEGIDAs tatsächlich steht. Das rückblickend angegebene Wahlverhalten für die letzte Bundestagswahl offenbart eine knapp 8,5-fach höhere Zustimmung zu den Rechtspopulisten – die AfD war unter den PEGIDA-Wählern mit 39,8 % die mit Abstand stärkste Partei (zweitstärkste Kraft wäre die CDU/CSU mit 25,3 % geworden). Tabelle 1: Wahlverhalten, Angaben in % (in Anlehnung an Daphi u.a. 2015: 22f.) Bundestagswahlen 2013
Landtagswahlen 2014
Sonntagsfrage
PEGIDA
PEGIDA
PEGIDA
Tatsächliches Ergebnis
Tatsächliches Ergebnis
AfD
39,8
4,7
59,8
9,7
89
CDU/ CSU
25,3
41,5
14,6
39,4
–
Linke
14,5
8,6
6,1
18,9
3
SPD
7,2
25,7
4,9
12,4
2
FDP
4,8
4,8
6,1
3,8
–
NPD
3,6
1,3
4,9
4,9
5
Grüne
1,2
8,4
1,2
5,7
–
Bei den letzten sächsischen Landtagswahlen sollen laut Selbstaussage ganze 59,8 % der an der Wahl beteiligten Anhänger PEGIDAs ihre Stimme der AfD gegeben haben – die AfD erreichte tatsächlich ein Ergebnis von 9,7 %. Die CDU war hier mit 14,6 % wieder die zweitstärkste Kraft (gewählt wurde die CDU in den sächsischen Landtag mit 39,4 %). Soweit der Blick zurück, der eindeutig auf die Vereinnahmung der Mitte PEGIDAs durch rechtspopulistische bis -radikale politische Strömungen hinweist. Besonders gravierend ist diese Nähe zu Rechtsaußen-Parteien bei der Sonntagsfrage, der zufolge ganze 89 % der PEGIDA-Demonstranten die Absicht bekundet haben, für die AfD zu stimmen. Die einzige im Bundestag vertretene Oppositionspartei wäre mit 5 % die NPD. Gewiss handelt es sich hier um eine Momentaufnahme, die aber zeigt, wie weit
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
rechts selbst diejenigen Anhänger PEGIDAs stehen, die sich in der politischen Mitte verorten. Dabei zeigen Einstellungsmerkmale, die im Zusammenhang mit Rassismus stehen, ebenso deutlich, dass nicht nur die parteipolitische Positionierung, sondern auch das entsprechende Gedankengut unter den Anhängern PEGIDAs überproportional häufig anzutreffen ist. Hierfür wurde vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung auf regelmäßig und bundesweit durchgeführte Studien zurückgegriffen – Grundlage waren bspw. Elemente des Fragebogens zur rechtsextremen Einstellung, auf dem die Leipziger Mitte-Studie basiert (Decker/Kiess/Brähler 2013: 208). Unter der Federführung von Elmar Brähler und Oliver Decker werden seit 2002 alle zwei Jahre Daten zum rechtsextremen Potenzial in Deutschland erhoben. Ein solches Vorgehen erlaubt es, PEGIDAs Einstellungen mit denen der Gesamtbevölkerung zu vergleichen. Vorweggenommen sei das wenig überraschende Ergebnis, wonach die Zustimmung selbst der moderaten, weil gesprächsbereiten PEGIDA-Anhänger zu chauvinistischen und islamfeindlichen Aussagen »im Großen und Ganzen über der in der Gesamtbevölkerung« liegt (Daphi u.a. 2015: 29). Dabei gibt es eindeutige Fälle, wie diejenigen Items, die laut der MitteStudie der Dimension des Chauvinismus zuzuordnen sind. So stimmen besonders viele ›patriotische Europäer‹ mit der Aussage überein »Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben« – mit 81 % sind es mehr als doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt (hier waren es »nur« 29,8 %). Bei der Feststellung, deutsche Interessen müssten gegenüber dem Ausland hart und energisch durchgesetzt werden, liegen die Zustimmungswerte unter den PEGIDA-Demonstranten mit 34,5 % auch deutlich über denjenigen in der Gesamtbevölkerung (21,5 %). Was beim letztgenannten Antwortverhalten aber besonders auffällt und für die Interpretation der Daten von Bedeutung ist, das sind die ausweichenden »ich stimme teils zu/teils nicht zu« Antworten – knapp die Hälfte der PEGIDA-Anhänger (und damit doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt) haben hier derart zurückhaltend reagiert.
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
Tabelle 2: Rechtsextremismus, Angaben in % (in Anlehnung an Tabelle 11 bei Daphi u.a. 2015: 30) Aussage
PEGIDA Zustimmung
Gesamtbevölkerung, Leipziger Mitte StudieI »Stimme teils zu / teils nicht zu«
Zustimmung
»Stimme teils zu / teils nicht zu«II
Chauvinismus Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben
81
15,5
29,8
28,3
Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland
34,5
46,6
21,5
28,1
Die Ausländer kommen nur hier her, um unseren Sozialstaat auszunutzen
34,2
53,8
27,2
31,5
Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet
41,4
37,1
27,5
25,3
Ausländerfeindlichkeit
Decker/Kiess/Brähler (2014) Hier sind die Angaben »Stimme ganz zu« und »Stimme überwiegend zu« zusammengefasst. I
II
Dasselbe Phänomen lässt sich auch bei anderen Fragen beobachten, die in Verbindung mit Rechtsradikalismus stehen. So etwa bei Aussagen über Ausländer: 53,8 % weichen einer Festlegung aus, ob Ausländer nur nach Deutschland kommen, um das Sozialsystem auszunutzen – in der Ge-
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
samtbevölkerung tun dies lediglich 31,5 %. V.a. die Empörung über den Vorwurf des Rassismus und Rechtsextremismus (Patzelt 2015: 40ff.) legt nahe, dass es sich hier um den Versuch handelt, den Ruf PEGIDAs durch das eigene Antwortverhalten nicht weiter zu beschädigen. Die ohnehin vergleichsweise hohen Zustimmungswerte zu der eben genannten Aussage, wonach Einwanderer »Sozialschmarotzer« seien (34,2 % bei PEGIDA vs. 27,2 % in der Gesamtbevölkerung) und v.a. zu jener, wonach »die Bundesrepublik […] durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« sei (41,4 % bei PEGIDA vs. 27,5 % im Bundesdurchschnitt), wirken vor dem Hintergrund des zurückhaltenden Antwortverhaltens mit 53,8 % bzw. 37,1 % besonders besorgniserregend. Werden die unter den befragten PEGIDA-Demonstranten häufig ausweichenden Antworten berücksichtigt, erscheint es auch nicht widersprüchlich, dass die Ablehnung von Muslimen teilweise weniger Zustimmung findet als im Bundesdurchschnitt. Die Verweigerung einer Positionierung soll wohl die eigene Ablehnung des Islam kaschieren. PEGIDAs Anhängerschaft ist sich nämlich des Verdachts der Islamfeindlichkeit bewusst – zum Zeitpunkt der Erhebung wurde u.a. von Frank Richter der Vorschlag eingebracht, PEGIDA umzubenennen und dabei gänzlich auf Anspielungen auf den Islam bzw. eine Islamisierung zu verzichten. Auf diese Weise sollten die »besorgten Bürger, die sich viele Gedanken machen«, von dem Vorwurf des antimuslimischen Rassismus befreit werden. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die befragten Demonstranten eine eindeutige Abwertung des Islam mieden – die »stimme teils zu/teils nicht zu« Reaktionen sind dementsprechend hoch: Dabei offenbart der Vergleich dieser Antworten mit anderen Positionierungen der Befragten durchaus deutlich, wie sehr es sich hier um ein strategisches Verhalten handelt. Zum einen fällt die Ablehnung von Fremden ohne den Kontext des Islam viel eindeutiger aus. Über 40 % pflichteten der Aussage bei, »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« (knapp 40 % stimmten hier »teil zu/teils nicht zu«) (vgl. Tabelle 2). Gleichzeitig haben ganze 73,3 % mit der Aussage übereingestimmt, wonach »die deutsche Kultur […] von den Ausländern bedroht« sei (Daphi u.a. 2015: 28). Vor dem Hintergrund dieser immensen Ablehnung eines unspezifizierten »Fremden« (zu dem auch der ›willkommene‹ Ausländer aus der westlichen Welt
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Tabelle 3: Islamfeindlichkeit, Angaben in % (in Anlehnung an Tabelle 12 bei Daphi u.a. 2015: 31). Aussage
PEGIDA
Gesamtbevölkerung, Leipziger Mitte StudieI
Zustimmung
»Stimme teils zu / teils nicht zu«
ZustimmungII
9,7
26,8
36,6
28,5
35
43
Islamfeindschaft Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land
zählt) wirkt die geringere Ablehnung des (als potenziell gefährlich wahrgenommenen) Moslem kaum überzeugend. Zum anderen werden islamfeindliche Einstellungen dann offen bekundet, wenn sich die Befragten »im Einklang mit relevanten Teilen der Bevölkerung wissen« (ebd.: 31f.), wenn also der eigene antimuslimische Rassismus salonfähig zu sein scheint. So findet sich eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung doppelt so hohe und damit beinahe 100-prozentige Ablehnung sowohl der muslimischen Lehrerin, die ein Kopftuch trägt, als auch der öffentlich sichtbaren Moschee:
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
Tabelle 4: Sichtbare Zeichen islamischer Kultur, Angaben in % (Daphi u.a. 2015: 32) Aussage
PEGIDA
Gesamtbevölkerung, Studie Deutschland postmigrantisch*
Eine muslimische Lehrerin sollte das Recht haben, im Schulunterricht ein Kopftuch zu tragen (Ablehnung)
98
48,6
Der Bau von öffentlich sichtbaren Moscheen sollte in Deutschland eingeschränkt werden (Zustimmung)
93
42,2
* Foroutan u.a. (2014: 35)
Die gerade dargestellte parteipolitische und weltanschauliche Position PEGIDAs weicht teilweise dramatisch vom Bundesdurchschnitt ab. Der Vergleich, wie er gerade gemacht wurde, ist aber unzutreffend, weil die Befragten Anhänger PEGIDAs in ihrer soziodemographischen Zusammensetzung nicht der Gesamtbevölkerung entsprechen. Wären die Ergebnisse der Mitte-Studie nur für den höher gebildeten und besserverdienenden Mann zum Vergleich herangezogen worden, dann würde sich die Kluft zwischen Bundesdurchschnitt und PEGIDA-Demonstrant noch deutlicher zeigen.
F a zit Insbesondere die gerade angeführte, beinahe vollständige Ablehnung vom Kopftuch im Schuldienst und von Minaretten offenbart PEGIDAs Islamfeindschaft. Neben den durch die Befragung gewonnenen empirischen Daten könnten Ergebnisse der strukturierten Demonstrationsbeobachtung, eine Auswertung der Reden und Plakate (wo bspw. »Islam = Karzinom« zu lesen war), eine Cluster-Analyse und vieles mehr herangeführt werden. Das Ergebnis wäre immer dasselbe: PEGIDA ist hauptsächlich eine islamfeindliche und rassistische Bewegung, der es v.a. um eine pauschale Abwertung von Flüchtlingen und Asylsuchenden, vom Islam und von Vielfalt geht. Die Kritik an Medien und an der Politik – beides bedeutende Mobilisierungsmomente der Demonstrationen – erscheint
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demgegenüber nachrangig. PEGIDAs Anhängerschaft ist damit eine, die mehrheitlich einen antiislamischen Rassismus verinnerlicht hat und rechtspopulistischen bis -radikalen Parteien anhängt. Sie vor diesem Hintergrund als »besorgte, doch gutwillige Bürger«, als »normales Volk« zu bezeichnen und dabei darauf zu verweisen, dass sie sich nicht vom Rand der Gesellschaft rekrutieren, sondern besserverdienend und besser gebildet sind, erscheint zumindest als verharmlosend. Dabei ist anzunehmen, dass aufgrund des spezifischen PEGIDA-Bias der ›typische‹ Anhänger der Dresdner Bewegung wohl noch weiter rechts im Parteienspektrum stehen und noch rassistischere Einstellungen haben wird. Die »besorgte« bürgerliche Mitte, die sich montäglich in Dresden bei PEGIDA am ›Spaziergang‹ beteiligt, ist damit selbst ein Grund zur Sorge; dies v.a. deshalb, weil der hier evidente parteipolitische Rechtsruck und Rassismus durch eine Reihe von Forschern und Beobachtern für »normal« erklärt wird. Wenn aber die Teilnahme an einer islamfeindlichen und rechtsradikalen Bewegung für manche Dresdner Beobachter keinen Grund für Kritik darstellt, sondern Verständnis und Aufmerksamkeit auslöst, wenn nicht PEGIDAs Islamfeindschaft, sondern die Kritik daran abgewehrt wird, dann liegt hier offensichtlich ein Verdrängungsprozess vor, dessen Konsequenzen die Zunahme gesellschaftlicher Spannungen und rassistischer Übergriffe sein werden – beides Phänomene, die zur Zeit in Sachsen besonders virulent in Erscheinung treten.
A nmerkungen 1 Wie weit rechtsextremes und rassistisches Gedankengut in der Gesamtbevölkerung verbreitet ist, zeigen mehrere Studien, die in regelmäßigen Abständen bundesweit Daten erheben. Hierzu zählen etwa die Leipziger Mitte-Studie aber auch das von 2002 bis 2012 laufende Forschungsprogramm »Gruppenbezogene (EZ) Menschenfeindlichkeit« des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Einen regionalen Schwerpunkt hat der seit 2009 herausgegebene »Thüringen-Monitor«, in dem die Bevölkerung Thüringens zur politischen Kultur mit einem Fokus auf rechtsextreme Einstellungen befragt wird.
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
2 Aussagekräftig ist allein die Tatsache, dass in der hier zitierten, zweiten PEGIDA-Studie Patzelt das Wort »normal« in verschiedenen Kontexten und Wortkombinationen 30-mal verwendet. 3 So zumindest der Konsens auf dem Fachforum »Mach Dich mal grade!« PEGIDA und Geschlecht, das im März 2016 durch die Amadeu Antonio Stiftung/Fachstelle Gender und Rechtsextremismus, die LAG Jungen- und Männerarbeit Sachsen e.V. und die Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten (AGJF) Sachsen e.V. organisiert wurde. 4 Dabei ist es nicht so, dass nur die Teilnehmer der Studie des Protestinstituts vom Aggressionspotenzial berichteten. Den bisherigen Höhepunkt stellt die Mitte Januar 2016 durch das Team Patzelts durchgeführte Befragung dar. Hier berichteten 67 % der Interviewer von Beleidigungen, ganze 22 % von physischen Angriffen (Patzelt 2016: 8). 5 In der durch das Institut für Protest- und Bewegungsforschung durchgeführten Studie wurden zwei Methoden kombiniert. Zum einen verteilten 14 Zweierteams per Zufallsprinzip an Teilnehmer der PEGIDADemonstration Handzettel, auf denen neben einer Erläuterung über die Studie ein Link und ein QR-Code abgedruckt waren – der letztgenannte Code sollte garantieren, dass jeder Demonstrant nur einmal an der Befragung teilnehmen konnte, um auf diese Weise Verzerrungen und Manipulationen auszuschließen (Daphi u.a. 2015: 7f.). Zum anderen haben 26 Helfer die Demonstration nach verschiedenen Vorgaben beobachtet (soziodemographische Zusammensetzung, Publikumsverhalten, Plakate uvm.). Diese strukturierte Demonstrationsbeobachtung wurde durchgeführt, weil die geringe Kooperationsbereitschaft der Anhänger PEGIDAs zu erwarten war (ebd.: 36). 6 So bezeichnen PEGIDAs Anhänger regelmäßig Wissenschaftler, die sie befragen wollen. Der Begriff fällt auch im offiziellen Kontext, so etwa unter dem sechsten Punkt der 10 Forderungen an die deutsche Asylpolitik, wo es heißt: »Die grünen Sozialisten benutzen die Asylanten, um hier ein rot-grünes Job-Wunder für die Bachelor-Absolventen der Geschwätzwissenschaften zu kreieren.« (PEGIDA 2015: 1) 7 Neben der medial ausgetragenen Diskussion der Frage, ob die bislang vorgelegten Studien als repräsentativ bezeichnet werden können (Rucht verneint dies, während Vorländer eben jene Repräsentativität für seine Studie beansprucht), liegt bislang nur ein Artikel vor, der die verschiedenen methodischen Zugänge reflektiert (Reuband 2015).
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8 Auch in der ersten Jahreshälfte 2016 mobilisiert PEGIDA wöchentlich zwischen 2.500 und 4.000 Demonstranten – mit der Ausnahme am 06.02.2016, als sich zum europaweiten Aktionstag zwischen 8.300 und 9.200 PEGIDA-Anhänger in Dresden versammelten. Die genauen Teilnehmerzahlen liefert die Forschungsgruppe Durchgezählt: https:// durchgezaehlt.org/PEGIDA-dresden-statistik vom 24.05.2016.
L iter atur Daphi, Priska u.a. (2015): Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida. Berlin: ipb working papers. https://protestinstitut.files.wordpress.com/2015/03/protestforschung-am-limit_ipb-wor king-paper_web.pdf [letzter Zugriff 02.06.2016]. Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2013): Rechtsextremismus der Mitte. Gießen: Psychosozial-Verlag. Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2014): Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014. Leipzig. http:// research.uni-leipzig.de/kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf [letzter Zugriff 02.06.2016]. Foroutan, Naika (2014): Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Erste Ergebnisse. Berlin. https://www.projekte.huberlin.de/de/junited/deutschland-postmigrantisch-1/ [letzter Zugriff 02.06.2016]. Patzelt, Werner (2015): Drei Monate nach dem Knall: Was wurde aus PEGIDA? Vergleichende Analyse der PEGIDA-Demonstrationen vom 25. Januar, 27. April und 4. Mai 2015 in Dresden. https://tu-dresden.de/ gsw/phil/powi/polsys/ressourcen/dateien/forschung/pegida/patzeltanalyse-pegida-2015-05.pdf?lang=de [letzter Zugriff 02.06.2016]. Patzelt, Werner (2016): Feldbericht zur anonymisierten Teilnehmerbefragung bei PEGIDA am 18.01.2016 auf dem Dresdner Neumarkt. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/polsys/ressourcen/dateien/forschung/pegida/patzelt-feldbericht-pegida-2016-02.pdf?lang=de [letzter Zugriff 02.06.2016]. PEGIDA (2015): 10 Forderungen an die deutsche Asylpolitik. www.tatja nafesterling.de/download/PEGIDA_10_Forderungen_DE.pdf [letzter Zugriff 02.06.2016].
P. Kocyba: Wieso PEGIDA keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist
Reuband, Karl-Heinz (2015): Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen, in: Mitteilungen des Instituts für Parteienrecht und Parteienforschung 21, S. 133-143. https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/ fileadmin/Redaktion/Institute/Sozialwissenschaften/Soziologie/Do kumente/Reuband/Reuband_-_Wer_demonstriert_in_Dresden_fuer_ Pegida_-_MIP_2015_Seiten_133-143-5.pdf [letzter Zugriff 02.06.2016]. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäller, Steven (2015): Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstranten in Dresden. Dresden: Schriften zur Verfassungs- und Demokratieforschung. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/poltheo/ ressourcen/dateien/news/vorlaender_herold_schaeller_pegida_stu die?lang=de [letzter Zugriff 02.06.2016].
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Außenseiter oder Repräsentanten der Mehrheit? Selbst- und Fremdwahrnehmung der Teilnehmer von PEGIDA-Kundgebungen Karl-Heinz Reuband
Zusammenfassung Im Vergleich zur Frühzeit des Protests sind die PEGIDA-Teilnehmer älter geworden. Abstiegsängste und soziale Deprivationserfahrungen sind ähnlich häufig wie in der Bevölkerung. Die Mehrheit sieht sich politisch eher in der Mitte als rechts, glaubt aber, von der Bevölkerung überwiegend rechts eingestuft zu werden. In der Bevölkerung nimmt man fälschlich ein mehrheitliches Verständnis für den PEGIDA-Protest wahr.
Abstract Compared to the early periods of protest the members of PEGIDA have become older. Feelings of social deprivation are similar to those in the general population. The majority of the participants considers themselves to be politically in the middle rather than on the right, whereas the population is seen to place them on the right side. A majority support of the PEGIDA protest is falsely perceived in the general population.
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II.2 Dresden-Beobachtungen – von außen
1. Einleitung Dresden ist zum Ort des PEGIDA-Protests geworden. Nahezu jeden Montag finden sich Tausende ein, um gegen den Islam, Flüchtlinge und die Asylpolitik zu protestieren. Für viele Beobachter und Kommentatoren ist dies kein Zufall: Sachsen gilt bei ihnen als besonders anfällig für Xenophobie und Rassismus. Und Dresden gilt als Ort, an dem sich diese Probleme in gehäufter Weise bündeln. Demokratiedefizite und fehlende Weltläufigkeit seien hier besonders ausgeprägt – nicht zuletzt auch, weil Dresden einst das »Tal der Ahnungslosen« gewesen sei, man dort zu Zeiten der DDR kein Westfernsehen empfangen konnte (vgl. u.a. Lühmann 2015, Lucke 2015, Nolte 2016). Die Wirklichkeit ist komplizierter. Dies trifft nicht nur auf Sachsen zu, das sich in den Einstellungen zu Ausländern und rechtspopulistischen Orientierungen weniger markant von den anderen Bundesländern unterscheidet als es die Zahlen zu den ausländerfeindlichen Vorfällen erwarten lassen.1 Es gilt mehr noch für Dresden: Die Einstellungen zu Ausländern in der Bevölkerung ähneln denen in westdeutschen Großstädten, wie Düsseldorf oder Hamburg. Auch gibt es keine Hinweise dafür, dass sich diese unmittelbar vor der Entstehung von PEGIDA verschlechtert hätten. Im Gegenteil: Sie waren noch nie so positiv wie in den Jahren zuvor (Reuband 2015, 2016 b). Eine im Vergleich zu den übrigen Bundesbürgern überproportional bekundete Bereitschaft, sich PEGIDA (ähnlichen) Protesten anzuschließen, findet sich in Dresden nicht – nicht einmal in der Auf bruchphase, als sich die Teilnehmerzahlen von Woche zu Woche steigerten (Reuband 2015: 138). Die Zahl derer, die PEGIDA ablehnend gegenüberstehen, ist bis heute größer als die Zahl der Befürworter.2 Und Umfragen legen nahe, dass sich im Lauf der Zeit mehr Dresdner an Anti-PEGIDA-Demonstrationen als an PEGIDA-Demonstrationen beteiligt haben (DNN 2016).3 Dresden als »Hauptstadt der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland« zu bezeichnen oder zu meinen, »Menschenverachtung« und »Rassismus« seien dort »normal geworden«, wird der Realität jedenfalls nicht gerecht.4 Dass die Stadt zum Ort des PEGIDA-Protests wurde, hat vermutlich andere Gründe als vermeintliche oder reale Besonderheiten der ortsansässigen Bevölkerung: Gründe, die etwas mit der Logik von Protestinszenierungen und mit Zufälligkeiten zu tun haben. Dresden bietet sich als Ort eines öffentlichkeitswirksamen Protests an: zum einen weil es die Landeshaupt-
K-H. Reuband: Außenseiter oder Repräsentanten der Mehrheit?
stadt ist und es deshalb naheliegt, politischen Protest in Sachsen dort vorzubringen. Und zum anderen weil Dresden als eine der schönsten Städte in Deutschland gilt, bundesweite öffentliche Aufmerksamkeit ist ihr garantiert. Hinzu kommen organisatorisch-praktische Gründe: die Gründer und Organisatoren stammen aus dem Umland von Dresden. Wären sie nahe Leipzig ansässig, wäre womöglich Leipzig zum Ort des Protests geworden. Will man den PEGIDA-Protest verstehen, reicht es nicht, die Besonderheiten Sachsens oder Dresdens zum Maßstab zu nehmen und daraus Folgerungen über die Motivlagen der Teilnehmer abzuleiten. Ebenso wenig kann man von den öffentlichen Reden auf den Veranstaltungen noch den Symbolen, die von einzelnen Teilnehmern mit sich getragen werden, auf die Masse der Demonstranten schließen. Das ist zwar immer wieder geschehen, wird der Realität aber nicht gerecht. Es bedarf eines Rekurses auf die Teilnehmer selbst. Dieser ist nur durch Befragungen möglich.
2. Zielsetzung und methodisches Vorgehen Im Folgenden soll auf der Grundlage neuerer Erhebungen unter Teilnehmern des Dresdner PEGIDA-Protests ausgewählten Fragen nachgegangen werden: nach der sozialen Zusammensetzung, dem politischen Selbstverständnis und der Wahrnehmung als Majorität oder Minorität. Die erste Befragung in der Serie wurde von uns – rund ein Jahr nach Beginn der Protestbewegung – am 15. Dezember 2015 durchgeführt. Die zweite folgte am 6. Februar 2016, die dritte am 25. April 2016.5 Durch die Einbeziehung mehrerer Kundgebungen innerhalb eines zeitlich umgrenzten Zeitraums war intendiert, mögliche kundgebungsspezifische Besonderheiten in der Zusammensetzung zu minimieren und ein breiteres Bild der Teilnehmergesamtheit zu gewinnen.6 Im Gegensatz zu den meisten anderen PEGIDA-Erhebungen erfolgten die Erhebungen schriftlich-postalisch. Gegenüber face-to-face Befragungen vor Ort hat dies den Vorteil, dass mehr Fragen gestellt werden können und sozial erwünschtes Antwortverhalten reduziert ist. Gegenüber Online Befragungen hat es den Vorteil einer höheren Teilnahmequote (Reuband 2014). Die Verteilung der Fragebögen erfolgte durch ein Team von Studenten aus Dresden und Düsseldorf. Sie alle hatten vorher eine Interviewerschulung durchlaufen und Erfahrungen mit der Kontaktaufnahme und Durchführung mündlicher Befragungen gesammelt (die
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einen im Rahmen von Face-to-face-Befragungen von PEGIDA-Teilnehmern, die anderen bei bundesweiten CATI-Telefonbefragungen).7 Verteilt wurde ein elfseitiger Fragebogen (in der dritten Erhebung ein siebenseitiger Fragebogen), jeweils in einem geschlossenen Umschlag mit Anschreiben und Rücksendumschlag. Dies geschah (ähnlich wie bei Vorländer/Herold/Schäller 2016) vor Beginn der Kundgebung an den Zugängen zur Protestveranstaltung. Dabei wurde ein systematisches Auswahlverfahren (das sich an den Teilnehmerzahlen und den zu erwartenden Ausschöpfungsquoten ausrichtete) angestrebt (Reuband 2016a). In der Praxis konnte es aufgrund des zeitweise recht hohen Andrangs von Teilnehmern nur partiell realisiert werden. Von einer systematischen Verzerrung der Befragtenauswahl ist jedoch nicht auszugehen. Die Teilnehmer der PEGIDA-Demonstrationen erwiesen sich – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – gegenüber der Befragung als weitgehend aufgeschlossen. Anders als in manchen anderen PEGIDA-Erhebungen (Daphi u.a. 2015) wurden die Interviewer nicht beschimpft oder gar aggressiv angegangen. Wenn diese Forschungsteams andere Erfahrungen machten, dann – von etwaigen Interviewereffekten abgesehen – vermutlich aufgrund des divergierenden Zugangs (wie Kontaktaufnahme auch noch nach Beginn der Veranstaltung, in der Nähe der Tribüne etc.). In unserem Fall dürfte hilfreich gewesen sein, dass die Kontaktaufnahme an den Zugängen zum Veranstaltungsort erfolgte, dies vor Beginn der Veranstaltung geschah und die endgültige Entscheidung über die Teilnahme an der Befragung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt war. Angenommen wurde der Fragebogen von rund zwei Drittel der Kontaktierten (je nach Erhebung zwischen 61 % und 69 %). Die anderen entzogen sich der Mitwirkung entweder explizit oder implizit (indem sie wortlos weitergingen). Von denen, die den Fragebogen annahmen, sandten ihn 40 % ausgefüllt zurück. Gemessen an Open-Air-Befragungen zu nicht-politischen Themen und an Demonstrationsbefragungen (meist mit linker politischer Programmatik) – ist dies ein überdurchschnittlich hoher Wert (Reuband 2016 a: 54). Insgesamt liegen aus den drei Erhebungen 1044 verwertbare Fragebögen vor. Reduziert um die Doppelbefragungen – Personen, die wiederholt in unsere Stichprobenauswahl gerieten und sich erneut beteiligten – ergibt sich eine Zahl von 993 Befragten.8
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3. Männlich, über 50 Jahre und nicht nur aus Dresden: Das Sozialprofil der PEGIDA-Anhänger Anders als oftmals in der Öffentlichkeit angenommen, stellen die Dresdner nicht generell die Mehrheit der Demonstranten. Vielmehr gibt es je nach Kundgebung Schwankungen in der Zusammensetzung. Dies gilt auch für unsere Untersuchung. Danach belief sich der Anteil der Dresdner bei der Kundgebung am 06.02.2016 auf 40 %, während er bei den anderen beiden Erhebungen bei 50 % bzw. 51 % lag. Der höchste Anteil auswärtiger Teilnehmer in unserer Serie entfällt auf eine Veranstaltung, die als europaweite Demonstration (»Fortress Europe«) geplant war und an einem sonnigen Samstagnachmittag (und nicht wie sonst an einem Montagabend) abgehalten wurde. Mit 8300 bis 9200 Personen erzielte sie eine höhere Teilnehmerzahl als in den Monaten davor und danach (lediglich das einjährige Jubiläum im September 2015 hatte eine noch höhere Zahl erbracht, vgl. Durchgezählt 2016). Ein vergleichbar hoher Anteil auswärtiger Teilnehmer war zuvor nur auf der Großveranstaltung am 12. Januar 2015 erreicht worden (damals waren es 17.000-25.000 Teilnehmer, und die Zahl der Auswärtigen lag bei ca. 40 %, vgl. Reuband 2015). Dies legt nahe, dass die Zahl der NichtDresdner in Zeiten besonders starker Mobilisierung überproportional zunimmt. Vermutlich ist dies primär der Tatsache geschuldet, dass es im Umland Dresdens (wie der Sächsischen Schweiz etc.) ein größeres Reservoir von Personen mit rechtspopulistischen Orientierungen gibt als in Dresden (worauf auch Umfragen zum Rechtspopulismus und das Wahlverhalten hindeuten, vgl. Reuband 2015). Im Vergleich zur Hochphase des Protests – im Januar 2015 – sind die Befragten unserer Erhebung älter. Sie sind Ende 50,9 und liegen damit über dem Durchschnitt der sächsischen Bevölkerung. In den frühen Erhebungen waren die PEGIDA-Anhänger im Vergleich dazu noch jünger gewesen (vgl. Reuband 2016a). Vermutlich spiegelt sich darin vor allem der in der Öffentlichkeit gesunkene Neuigkeitswert von PEGIDA-Demonstrationen wider; sie ziehen nicht mehr so sehr das Interesse auf sich wie früher. Ein nennenswerter Zustrom von neuen (jungen) Teilnehmern findet unter diesen Umständen nicht (mehr) statt. Geblieben ist im Wesentlichen ein Stammpublikum, das sich durch eine beachtliche Zahl bisher besuchter PEGIDA-Veranstaltungen auszeichnet (unter den Befragten im Dezember 2015 z.B. lag diese bei durchschnittlich 26-mal).
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Die Mehrheit der PEGIDA-Teilnehmer (75 %) besteht aus Männern. Daran hat sich seit Beginn der Protestwelle nichts geändert. Dass es sich dabei nicht um ein methodisches Artefakt handelt – Männer könnten z.B. eher geneigt sein, sich an der Befragung zu beteiligen – belegen die systematischen Beobachtungen, die seinerzeit im Januar 2015 von Dieter Rucht und seinem Team unternommen wurden (Daphi u.a. 2015). Sie erbrachten keinen Hinweis dafür, dass Männer in der Befragung stärker repräsentiert waren als in der Gesamtheit der Teilnehmer. Ähnliches dokumentierte eine Beobachtungsstudie, die wir bei einer Erhebung im Februar 2016 durchführten. Dass Männer eine so große Mehrheit der Teilnehmer stellen wie bei PEGIDA, ist nicht zwangsläufig ein Kennzeichen sozialer Bewegungen – in vielen ist der Anteil von Männern geringer oder der Anteil von Männern und Frauen gar angenähert. Aber dass Männer die Mehrheit bilden, ist andererseits auch keine Rarität. So stellten sie z.B. in den Leipziger Montagsdemonstrationen zur Zeit der »Wende« ebenfalls rund drei Viertel der Teilnehmer (vgl. Förster/Roski 1990: 161). Zwar gilt, dass Männer in rechten Bewegungen und als Wähler von Parteien – wie der AfD oder NPD – in hohem Maße überrepräsentiert sind. Dass jedoch das Merkmal Geschlecht diese Repräsentation allein nicht erklären kann, zeigen Umfragen, denen zufolge der Rechtspopulismus unter den Männern nicht größer ist als unter den Frauen. In manchen Studien ist er bei den Frauen sogar noch stärker (vgl. z.B. Küpper/Zick/Krause 2015: 41). Vermutlich ist die Überrepräsentation der Männer in rechten Bewegungen und Parteien nicht allein Folge deren martialischen Auftretens oder ihrer teilweise bestehenden Frauenfeindlichkeit – wie mitunter gemutmaßt – sondern auch des jeweiligen Grades sozialer Abweichung: je abweichender die Position, die man in der Gesellschaft kraft Zugehörigkeit und Verhalten einnimmt und je größer das Risiko, desto größer der Männeranteil. So ist es denn auch kein Zufall, dass Männer im Bereich von Delinquenz und Kriminalität im Allgemeinen überrepräsentiert sind. Im Fall der PEGIDA-Demonstrationen besteht das Risiko, in der Öffentlichkeit stigmatisiert und beschimpft zu werden, womöglich gar mit Anti-PEGIDA-Protestbewegungen aneinanderzugeraten und körperlichen Angriffen ausgesetzt zu sein.
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4. Abstiegsängste und soziale Deprivationserfahrungen als Ursachen der Teilnahme am PEGIDA-Protest? Als PEGIDA als Massenbewegung entstand, hat es in der Öffentlichkeit nicht an Deutungen gefehlt, denen zufolge sich vor allem sozial deklassierte Bürger mit niedriger Bildung bei den PEGIDA-Protesten einfänden. Doch diese Deutung wurde nach Bekanntwerden der ersten Studien schnell relativiert. Nicht die schlechter, sondern die besser Gebildeten erwiesen sich als überrepräsentiert (vgl. u.a. Vorländer et al. 2016). Diese Beziehung hat bis heute Bestand. Und sie gilt sowohl wenn man dem Faktor Alter oder auch der regionalen Rekrutierung Rechnung trägt (vgl. Reuband 2016a). Nicht wenige Autoren haben aus der Überrepräsentation besser Gebildeter den Schluss gezogen, dass PEGIDA offensichtlich eine Krise der Mittelschicht widerspiegelt, und haben bei der Interpretation auf geläufige Erklärungen für den Rechtspopulismus zurückgegriffen: PEGIDA sei die Antwort der Kleinbürger bzw. der unteren Mittelschicht auf Deklassierungssorgen und Abstiegsängste. Diese werden je nach Autor wahlweise als Folge der Modernisierung (Kiess 2015: 207) oder einer neoliberalen Wirtschaftsentwicklung (Nachtwey 2015, Decker/Kiess/Brähler 2015) verstanden. Autoritäre Tendenzen würden dadurch freigesetzt und Ressentiments aktiviert. Ausländer und Muslime wären zu Objekten der Sündenbockprojektion geworden (vgl. Kiess 2015: 207, Nachtwey 2015, Lucke 2015, Nolte 2016). Ob die These überproportionaler Abstiegsängste eine brauchbare Erklärung bietet, kann im vorliegenden Fall bezweifelt werden: gemessen an ihrer Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Lage unterscheiden sich die PEGIDA-Anhänger nicht von der Gesamtbevölkerung.10 Und dem Grad relativer Deprivation nach (ob sie im Vergleich zu anderen Menschen in Deutschland ihren gerechten Anteil erhalten oder nicht), sind die Unterschiede gering.11 Nicht viel anders verhält es sich mit den Folgen des Systemwechsels: »Nehmen wir einmal an, es hätte keine Wiedervereinigung gegeben. Würde es Ihnen persönlich heute besser, gleich gut oder schlechter gehen?« Unter den PEGIDA-Teilnehmern meinten 46 %, es wäre ihnen ohne die Wiedervereinigung schlechter gegangen. 41 % meinten, es wäre ihnen gleich gut gegangen, 7 % schätzten die jetzige Situation schlechter ein, und 6 % machten sonstige Angaben. Unter den von uns
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zuvor (im Jahr 2014) befragten Dresdnern sind die Antworten recht ähnlich. So meinten hier fast genauso viele – 50 % –, dass es ihnen ohne die Wiedervereinigung schlechter gegangen wäre.12 Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass sich die PEGIDA-Anhänger durch ein besonders hohes Maß an Unzufriedenheit und Frustrationenauszeichnen. Danach gefragt, wie sehr sie mit »sich und ihrem Leben« zufrieden seien, bekundeten 70 % Zufriedenheit. Unter den Befragtenunserer Dresdner Bevölkerungsbefragung waren es mit 74 % nahezu gleich viele. Lediglich in der Einschätzung der persönlichen Zukunftfinden sich Unterschiede: die PEGIDA-Teilnehmer äußerten sich etwas pessimistischer. Dies dürfte zum einen ihrer grundsätzlich pessimistischeren Einschätzung politischer Verhältnisse geschuldet sein, zum anderen zwischenzeitlichen, allgemeineren Veränderungen in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Bedrohungslagen (die Flüchtlingskrise spielte im Bewusstsein der Bürger zum Zeitpunkt unserer Dresdner Bevölkerungsbefragung noch keine Rolle, erst später zur Zeit unserer PEGIDA-Erhebungen). Es gibt aus unserer Befragung der Dresdner Bevölkerung keine Hinweise dafür, dass sich die besser Gebildeten wirtschaftlich in einer überproportional ungünstigen Lage sehen oder pessimistischer als andere in die Zukunft blicken und dies ihre erhöhte Repräsentanz unter den PEGIDA-Teilnehmern erklären könnte. Wenn es eine überproportionale Verunsicherung – im Sinne wirtschaftlicher Unsicherheit oder Anomie – gibt, dann eher unter den schlechter Gebildeten. Sie sind es auch, die sich eher durch ausländerfeindliche Orientierungen auszeichnen (Reuband 2015). Der Grund für die Überrepräsentation der besser Gebildeten unter den Teilnehmern des PEGIDA-Protests ist vermutlich darin zu sehen, dass sie generell eher bereit sind als schlechter Gebildete, politischen Protest auch in unkonventioneller Form – durch die Teilnahme an Demonstrationen – kundzutun. Sie sehen sich eher zu politischen Aktivitäten in der Lage, glauben eher an die Möglichkeit der Einflussnahme. Und sie haben gewöhnlich auch die kognitiven und sozialen Ressourcen, dies zu tun (vgl. dazu u.a. Barnes/Kaase et al. 1979, Lüdemann 2001).
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5. Wie politisch »rechts« sehen sich die PEGIDA- Anhänger, und wie glauben sie, werden sie von der Bevölkerung wahrgenommen? Ihrem politischen Selbstverständnis zufolge stehen die Teilnehmer des PEGIDA-Protests mehrheitlich in der Mitte. Und wenn sich jemand von ihnen auf rechts einstuft, dann eher gemäßigt rechts: auf der in der Umfrage eingesetzten Links-Rechts-Skala eher der Mitte als dem rechten Pol zugeordnet.13 Damit korrespondiert, dass die Parteisympathie mehrheitlich der AfD zukommt, nicht der NPD (Reuband 2016 a). Zwar ist davon auszugehen, dass der härtere, rechte Kern überproportional die Teilnahme an der Befragung verweigert hat. Doch dass sich die Verhältnisse grundlegend ändern, wenn man diese einbeziehen würde, ist (nach den Erfahrungen mit Ausfällen in Umfragen) fraglich. Die politische Selbsteinstufung auf dem Links-Rechts-Kontinuum entspricht der Wahrnehmung des politischen Spektrums der PEGIDA-Anhänger durch die Befragten. Sie nehmen mehr Personen in der Mitte wahr als rechts. Aus dieser Sicht sehen sie sich, wenn sie sich selbst der »Mitte« zurechnen, nicht als Einzelgänger, sondern als Teil der Mehrheit. Wie man die PEGIDA-Teilnehmer als Gesamtheit einstuft, ist von der eigenen Einstufung zwar nicht ganz unabhängig – man projiziert offenbar in gewissem Umfang die eigene Positionierung auf die Mehrheit – die Korrelation ist jedoch nicht sehr stark (r=.35, p